Krieg und Zivilgesellschaft [1 ed.] 9783428532063, 9783428132065

Krieg und Zivilgesellschaft scheinen zwei unvereinbaren Wirklichkeiten zuzugehören: In der einen herrscht die Unordnung

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Krieg und Zivilgesellschaft [1 ed.]
 9783428532063, 9783428132065

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Soziologische Schriften Band 84

Krieg und Zivilgesellschaft Herausgegeben von

Dierk Spreen und Trutz von Trotha

Duncker & Humblot · Berlin

DIERK SPREEN/TRUTZ VON TROTHA (Hrsg.)

Krieg und Zivilgesellschaft

Soziologische Schriften

Band 84

Krieg und Zivilgesellschaft

Herausgegeben von

Dierk Spreen und Trutz von Trotha

Duncker & Humblot · Berlin

Der Druck wurde durch Mittel der Universität Paderborn untersützt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0584-6064 ISBN 978-3-428-13206-5 (Print) ISBN 978-3-428-53206-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-83206-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Dierk Spreen und Trutz von Trotha Krieg und Zivilgesellschaft. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   7 Dierk Spreen Weltzivilgesellschaft und Gewalt. Ordnungskonstitutive Gewalt im Zeitalter des globalen Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  33 Hans Joas Friede durch Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  97 Martin Kutz Umbruchszeiten: Militär und Gesellschaft 1945–2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Herfried Münkler Heroische und postheroische Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Gerhard Kümmel Tod, wo ist dein Stachel? Die Deutschen, die Bundeswehr und militärische Einsätze in postheroischen Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Maja Apelt Das Gewaltdilemma moderner Streitkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Volker Heins Bombenkrieg und Zivilgesellschaft. Der Wandel der Erinnerung an die alliierte Bombardierung Deutschlands im Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . 239 Volker Kruse Mobilisierung und kriegsgesellschaftliches Dilemma. Beobachtungen zur kriegsgesellschaftlichen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Matthias Häußler und Trutz von Trotha Koloniale Zivilgesellschaft? Von der „kolonialen Gesellschaft“ zur kolonialen Gewaltgemeinschaft in Deutsch-Südwestafrika . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Marcel M. Baumann Society First. Von ‚freiwilliger Apartheid‘ oder den gesellschaftlichen Barrieren gegen die nachhaltige Konsolidierung von Post-KonfliktGesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

6 Inhaltsverzeichnis Henner Papendieck Mali-Nord – Ein Programm für den Frieden. Ein Bericht zu den Chancen (und Grenzen) von Entwicklungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Artur Bogner und Dieter Neubert Die Komplexität der Akteursfigurationen bei „Konflikttransformation“ und „Postkonflikt“-Prozessen. Beobachtungen am Beispiel Nordghanas und Nordugandas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Trutz von Trotha Auf der Suche nach Frieden. Geschichte, Jugend und der Aufstieg lokaler Akteure oder die Zukunft liegt im Dorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Drucknachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435

Krieg und Zivilgesellschaft Einleitung Von Dierk Spreen und Trutz von Trotha I. Zivilgesellschaft In seinem Werk zum Prozess der Zivilisation beschreibt Norbert Elias einen langwierigen und fundamentalen kulturellen Wandel, den er auch als „Pazifizierung“1 bezeichnet. Zwei Prozesse stehen dabei im Vordergrund seiner historischen Soziologie: Erstens wird der „Gebrauch der Waffe mehr und mehr eingeschränkt“2, was nichts anderes heißt, als dass die Erfahrung physischer Verletzung aus den alltäglichen Erwartungshorizonten zunehmend verschwindet und als Ausnahmeerscheinung wahrgenommen wird. Zweitens setzt mit der Verhöflichung der Krieger ein gesamtgesellschaftlicher Prozess ein, der spontane Affekte, Wallungen und Leidenschaften aus dem alltäglichen sozialen Verkehr verbannt. An ihre Stelle treten Höflichkeitsnormen, Benimmregeln und rationale Kommunikationsformen. Starke Gefühlsregungen werden dagegen in solche sozialen Bereiche ausgelagert, die einer gewissen Außeralltäglichkeit einen kontrollierten Raum bieten können, ohne die Normalität des Alltäglichen zu gefährden. Beispiele hierfür wären Religion, Liebe, Kino, Sport.3 Verantwortlich für diesen doppelten Prozess der Zivilisierung ist einerseits die Monopolisierung der Gewalt durch stabile Herrschaftsorgane und andererseits eine generalisierte Disziplinierung und Selbstkontrolle, die auf der Herausbildung einer psychischen Selbstzwang-Apparatur beruht. Beide Prozesse greifen dabei ineinander, insofern sich erst mit der Ausbildung stabiler Monopolinstitute der Gewalt „jene gesellschaftliche Prägeapparatur“ herstellt, „die den Einzelnen von klein auf an ein beständiges und genau 1  Elias,

S. 408. S. 407. 3  Elias arbeitet heraus, dass die Selbstdisziplinierung zu einer „inneren Spannung im Kampf des einzelnen mit sich selbst“ führt (ebd., S. 406). Vor diesem psychologischen Hintergrund stellen solche sozialen Bereiche Kompensationsmöglichkeiten bereit. 2  Ebd.,

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geregeltes An-sich-Halten gewöhnt.“4 Beide Prozesse bedingen, dass der gesellschaftliche Verkehr aufhört, „eine Gefahrenzone zu sein“.5 Sie sind damit Bedingungen der Möglichkeit für die Ausweitung gesellschaft­licher Handlungsketten und Interdependenzen und damit Voraussetzung für den Aufbau komplexer und differenzierter gesellschaftlicher Funktionsgefüge und -systeme.6 Eine Gesellschaft, die historisch auf dem Erfolg dieses ‚Zivilisationsprozesses‘ aufruht, ist im Wortsinne eine ‚Zivilgesellschaft‘. In ihr sind gewaltfreie Umgangsformen normal, Aggressionen beschränken sich zumindest im öffentlichen Raum in der Regel auf verbale Ausdrucksformen. Insgesamt herrscht eine gewisse Sicherheit vor physischer Gewalt und starken Erregungen, die leicht in Gewalt umschlagen können. Diese Reduktion alltäg­ licher Gewalt ist das Ergebnis eines langwierigen historischen Prozesses, der sich in dieser Form nur im okzidentalen Europa vollzogen hat und geht zurück auf das Zusammenspiel von Staatsbildung, Gewaltmonopolisierung und Selbstführung. Das aber heißt, dass ‚das Zivile‘ an der Gesellschaft als eine abgeleitete Variable zu betrachten ist, d. h. als Ergebnis einer soziohistorischen und soziokulturellen Entwicklung. Dass Gewalt und starke Affekte aus dem Alltag verbannt erscheinen, ist keine ‚natürliche‘ Eigenschaft von Vergesellschaftung, sondern eine artifizielle. Im Sinne der historisch-soziologischen Perspektive von Elias wird in einigen Beiträgen dieses Buches unter ‚Zivilgesellschaft‘ diese konstruierte gesellschaftliche Realität verstanden, in der Gewalterfahrungen und Gewalt­ erwartungen Ausnahmen im alltäglichen sozialen Verkehr sind. Diese Verwendungsweise kann Bezüge zum Diskurs der ‚Bürgergesellschaft‘ bzw. des ‚zivilgesellschaftlichen‘ Engagements einschließen – und mancher Beitrag nutzt explizit diesen bürgergesellschaftlichen Diskurskontext als Analyserahmen. Allerdings sind in diesem bürgergesellschaftlichen Zusammenhang und seiner normativen und legitimatorischen Aufladung von ‚Zivilgesellschaft‘ zahlreiche Missverständnisse anzutreffen. Um über sie aufzuklären, ist das Konzept der Civil Society von Edward Shils hilfreich.7 Nach Shils betont die Civil Society den Gemeinsinn und die Verantwortung für das Gemeinwesen. Die Zivilgesellschaft ist vom Wohl der Gesamtgesellschaft bestimmt und beachtet und unterstützt die Einrichtungen, welche die Gesamtgesellschaft repräsentieren. Dementsprechend hat die Zivilgesellschaft die Aufgabe, die Interessen und Partikularismen zu bändigen. Selbstorganisation und Vielfalt der gesellschaftlichen Akteure sind aus diesem Grund 4  Ebd.,

S. 320. S. 406. 6  Ebd., S. 319. 7  Shils; siehe auch den Beitrag von Trothas in diesem Band. 5  Ebd.,



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nicht automatisch Erscheinungen der Civil Society. Radikalisierter Indivi­ dualismus, ungezügelte Interessenspolitik oder die Vielfalt „ursprünglicher Gemeinschaften“, also von „Gemeinschaften lokaler, verwandtschaftlicher, ethnischer und religiöser Art“, machen noch keine Zivilgesellschaft aus.8 Um so wichtiger ist auf den unterschiedlichen Gebrauch von ‚Zivilgesellschaft‘ aufmerksam zu machen: In unserem ersten Fall wird ‚Zivilgesellschaft‘ als eine soziologisch-beschreibende Kategorie verwendet, welche die alltägliche Gewaltferne insbesondere moderner Gesellschaften festhält. Sie steht dabei im Kontrast zu empirischen Konzepten wie der „Ordnung der vervielfältigten Gewalt“9, des „militant type of society“10 oder der „Kriegs­ gesellschaft“11, die soziale Vergesellschaftungsformen bezeichnen sollen, in denen Gewaltbezüge stärker ins Auge fallen bzw. die normative Ächtung physischer Gewalt weit weniger durchgesetzt worden ist. Im zweiten Fall, im bürgergesellschaftlichen Diskurskontext, zielt ‚Zivilgesellschaft‘ auf ‚kommunikative‘ Formen der Verhandlung von Konflikten, wobei sich die bürgergesellschaftlichen Akteure staats- und marktfern organisieren. Die analytisch-deskriptive Verwendung des Wortes ‚Zivilgesellschaft‘ beinhaltet nicht die Vorstellung, dass Gewalt in modernen Zivilgesellschaften funktionslos geworden sei. Ausgangspunkt dieser Begriffsverwendung ist vielmehr die zentrale, von Heinrich Popitz formulierte Feststellung, dass soziale Ordnung ohne gewaltsame Formen der Gewaltbewältigung nicht möglich ist.12 Zivilgesellschaften im ersten Sinne beruhen deshalb auch auf Sicherheitsordnungen, in denen Gewalt und der Drohung mit Gewalt konstitutive Funktionen zukommen. Auch Zivilgesellschaften sind daher „Ordnungsformen der Gewalt“.13 Im ‚zivilgesellschaftlichen‘ Engagement, das seinen diskursiven Ort in der zweiten Verwendungsweise des Begriffs der Zivilgesellschaft hat, kommt indessen eine Distanzierung von Gewalt als Mittel des politischen oder sozialen Konflikts zum Tragen.14 Nichtsdestoweniger beinhalten beide Redeweisen über die ‚Zivilgesellschaft‘ ein Verhältnis zu körperlicher Gewalt, wobei die Zivilgesellschaft in der bürgergesellschaftlichen Vorstellung auf gewaltfreier Kommunikation beruht und damit immer voraussetzt, dass Gewalt domestiziert und bewältigt ist. Die bürgergesellschaftliche Vorstellung von Zivilgesellschaft setzt den Vorgang der Gewaltdomesti8  Ebd., 9  Zu

S. 22. den Ordnungsformen der Gewalt Hanser / Trotha, S. 315–363 und Trotha

2010. 10  Spencer, S. 568–602. 11  Vgl. Kruse 2009; Spreen, S. 160–225. 12  Popitz, S. 66. 13  Trotha 2010, S. 493 f. 14  Shils.

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kation, den Elias postuliert, oder einen Prozess, der auf das Elias’sche Ergebnis hinausläuft, schon immer voraus – weshalb es auch fragwürdig ist, den Begriff der Zivilgesellschaft so unbekümmert zu verwenden, wie es vor allem im entwicklungspolitischen Diskurs üblich geworden ist.15 II. Gewaltvergessenheit Zusammenhänge zwischen der Institutionalisierung von Herrschaft, der Monopolisierung der Gewalt und der Disziplinierung bilden einen klassischen Forschungsbereich der politischen Soziologie und sind vielfach beschrieben worden. Stellvertretend hierfür seien Max Weber, Michel Foucault und Niklas Luhmann erwähnt: Das zentrale Thema der Machtsoziologie Webers ist der Zusammenhang zwischen der Monopolisierung der Gewalt im modernen Staatswesen, rationaler bürokratischer Herrschaft und disziplinierter Lebensführung. Auch Weber stellt dabei fest, dass die Eigenart der Bürokratie sich umso vollkommener verwirklicht, als „die Ausschaltung von Liebe, Hass und allen rein persönlichen, überhaupt allen irrationalen, dem Kalkül sich entziehenden, Empfindungselementen aus der Erledigung der Amtsgeschäfte gelingt.“16 Bei Foucault steht der Zusammenhang zwischen Fremdführung und Selbstführung im Mittelpunkt des Interesses, wohin­ gegen staatliche Herrschaft aus dem Fokus rückt. Foucault beschreibt die Vervielfältigung von Disziplinarinstitutionen und analysiert deren Funk­ tionsweise. Dabei zeigt er, wie Disziplinierung und Subjektivierung zusammen laufen. Die Techniken der Disziplinarmacht konstituieren das Individuum als beschreibbaren und analysierbaren Gegenstand und situieren es gleichzeitig in einem Vergleichssystem, das es immer auf kollektive Tatbestände bezieht. Qua Bewertungen aller Art wird dem Individuum seine Position unmittelbar angezeigt, so dass es sich selbst als besonderes im Vergleich zu anderen erfährt.17 In der Machtsoziologie Luhmanns wiederum erscheint die weitgehende Ausschaltung der Gewalt im Raum des Politischen als zentrale Voraussetzung der Ausdifferenzierung eines komplexen politischen Teilsystems, das im Modus demokratischer Herrschaft operiert und kollektiv bindende Entscheidungen generiert: „Im genetischen Sinne und im Sinne von nichtnegierbaren Minimalbedingungen beruht das System auf Gewalt, aber es ist durch Gewalt nicht mehr zu kontrollieren.“18 Erstaunlich ist allerdings, dass die hiermit angezeigte Tatsache, dass eine gewaltferne Normalität keineswegs den ‚Naturzustand‘ des Sozialen bildet, 15  Trotha

2011, S. 68 f. S. 563. 17  Foucault, S. 238, 245. 18  Luhmann, S. 67. 16  Weber,



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im sozialwissenschaftlichen Alltagsgeschäft in der Regel keine Reflexion wert ist. Gewalt, aggressives Verhalten oder mangelnde Selbstkontrolle erscheinen vielmehr zumeist als Formen ‚abweichenden Verhaltens‘. Diese Formen werden als abhängige Variablen begriffen, die vor dem Hintergrund der zivilen Normalität besonders erklärungsbedürftig erscheinen. Damit wird der Blick auf Modalitäten, Funktionsweisen und Funktionen von Gewalt aber verstellt, weil lediglich ‚Gewaltursachen‘ interessieren.19 Solcherart ‚Ätiologie der Gewalt‘ ist daher keine Soziologie der Gewalt – also der Modalitäten, Formen und Funktionen leiblicher Schadenszufügung –, sondern eine Soziologie der ‚sozialen Probleme‘. Es ist eine Soziologie von all dem, was in unseren Gesellschaften nicht ‚in Ordnung‘ erscheint, von der Arbeitslosigkeit bis zum Medienkonsum. Sie geht dabei von der normativ aufgeladenen Vorstellung aus, dass Gewalt das Ergebnis von Pathologien sei, die nach den wechselnden Moden der akademischen Diskurse und politischen Großwetterlagen mal in Gesellschaft, Kultur, Ökonomie oder Psychologie gesucht werden. Die Konzentration auf die Anomieproblematik kann dabei leicht vergessen lassen, dass es nicht selbstverständlich, sondern viel eher ein erstaunlicher Sachverhalt ist, dass die alltäglichen Interaktionen in Zivilgesellschaften in der Regel unbelastet von der Erwartung physischer Gewalt ablaufen.20 Der Mainstream der Soziologie verstand und versteht sich noch immer als Wissenschaft der modernen Gesellschaft, die zugleich als eine friedliche gedacht ist. Er hat die Schlüsselfrage der Gewalt der Soziologie der Abweichung und der Kriminalität zugewiesen. Dort fristen die Fragen der Gewalt das eingemauerte Dasein, das Spezialdisziplinen eigen ist. Erst Recht gilt der Befund der ‚Gewaltvergessenheit‘ für den Krieg als eine Form der Makrogewalt. Deshalb ist es gerade die spannungsreiche Beziehung moderner Zivilgesellschaften zum Krieg, die das Thema des hier vorgestellten Bandes ist. Es geht also um einen Spezialfall des Verhältnisses ‚zivile Sicherheitsordnung‘ / ‚Gewalt‘. III. Eine Soziologie ohne Kriege? Krieg ist ein kollektiver, gewaltsamer und strategischer Konflikt. In einem solchen Konflikt treten zwei oder mehr kollektive Parteien in eine feindliche und destruktive Beziehung untereinander von zunächst unbestimmter Dauer ein. Die Kombattanten des Konflikts zielen in ihrem Han19  Trotha

1997b, S. 16–20. zu bezeichnen, dass das Vertrauen auf Gewaltfreiheit in alltäglichen Begegnungen keine Selbstverständlichkeit darstellt, charakterisiert Jan Philipp Reemtsma sie an einer Stelle als „extrem vertrauensselige Gesellschaften“ (Reemtsma, S. 35). 20  Um

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deln jeweils auf Schädigung, Verletzung oder Tötung ihrer Gegner, d. h. sie nehmen mit Mitteln der Gewalt den Kampf gegeneinander auf. Die Gewalt endet erst, wenn eine Partei die andere besiegt hat, ein übermächtiger Dritter den Kampf unterbindet oder beide Seiten so erschöpft sind, dass sie einfach aufhören weiterzukämpfen. Der Krieg als Institution spielt in der Geschichte der menschlichen Zivilisation an jedem Ort und zu jeder Zeit eine kaum zu überschätzende Rolle. Umso erstaunlicher ist, dass er in Soziologie und Sozialtheorie praktisch keine Rolle spielt. Nicht nur wird wenig zu dieser Frage geforscht,21 sondern der Krieg hat in den Grundbegriffen der Allgemeinen Soziologie keinen Ort. Das war nicht immer so: Für eine ganze Reihe soziologischer Klassiker „war Krieg […] noch ein konstitutiver Faktor sozialer Evolution schlechthin“. Krieg wurde „als ein grundlegender Faktor menschlicher Vergesellschaftung begriffen.“22 Heute wirksame soziologische Großtheorien sparen die Kriegsproblematik hingegen aus, so dass diesbezüglich von einem Prozess des ‚Vergessens‘ gesprochen werden kann. Zum Beispiel findet man in dem über 750 Seiten starken Lexikon zur Soziologie zum Thema „Kriegssoziologie“ den Eintrag, dass diese in den 1920er Jahren „zum Erliegen“ gekommen sei, da moderne Industriegesellschaften aufgrund der „finalen Qualität“ der Massenvernichtungswaffen zur „Kriegsuntauglichkeit“ verdammt wären.23 Das wird hingeschrieben, als hätte es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben und als wären nach 1945 nicht zahlreiche Kriege geführt worden.24 Einige dieser Kriege – wie Koreaund Vietnamkrieg oder die Kriege zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn – waren zudem von erheblicher politischer und kultureller Bedeutung. „Kriegssoziologie“, so wird dagegen behauptet, würde „das in der Soziologie ungewohnte Durchdenken gesellschaftlicher Verhältnisse von ihrem Ende her bedeuten.“25 Wieso das? Markiert eine Kriegsniederlage das Ende einer Gesellschaft? Müsste nicht soziologisch interessant sein, wie sich der Krieg auf die Gesellschaft der Sieger und Verlierer auswirkt? Kann im Zeitalter der neuen Kriege und des globalen Kleinkrieges überhaupt noch klar zwischen „Sieg“ und „Niederlage“ unterschieden werden? Bei solch unbeirrbarer Wirklichkeitsferne fällt in der überarbeiteten Neuauflage von 2007 das Stichwort „Kriegssoziologie“ folgerichtig ganz weg. 21  Erst jüngst erscheinen Artikel und Publikationen, die möglicherweise die Tür zu einer neuen Soziologie des Krieges aufstoßen. 22  Kruse 2010, S. 45. 23  Fuchs-Heinritz et al., S. 375. 24  Die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung an der Universität Hamburg (AKUF) zählt 238 Kriege in der Zeit zwischen 1945 und 2007. 25  Fuchs-Heinritz et al., S. 375.



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Auch zeugt die in dem knappen Lexikonbeitrag vertretene Annahme, dass der Niedergang der Fragestellung ein quasi zwangsläufiges Ergebnis der atomaren Abschreckung gewesen sei, von bemerkenswerter kulturgeschichtlicher Unkenntnis. Eher dürfte der frühe Abbruch der kriegssoziologischen Forschungstradition in Deutschland mit der Vorherrschaft kriegsapologetischer Diskurse in der Kriegs- und Zwischenkriegszeit und mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten zu tun haben, vor denen der Begründer dieses Forschungszweigs – Emil Lederer – aufgrund seiner jüdischen Herkunft fliehen musste. Lederer veröffentlichte noch während des ersten Weltkrieges den Grundlagenaufsatz Zur Soziologie des Weltkrieges, dessen nüchterne Analyse den Kriegsapologien ganz und gar nicht entsprach, die während des Krieges und in der Zwischenkriegszeit vertreten wurden.26 Für die Ausklammerung dieses Wirklichkeitsbereichs gibt es Ursachen. Diese muss man kennen, um zu verstehen, wieso viele Soziologinnen und Soziologen es ganz selbstverständlich finden, die gesellschaftliche Bedeutung der Institution des kollektiven, gewaltsamen und strategischen Konflikts ignorieren zu können. Diese Auffassung beruht dabei nicht auf einer durchdachten analytischen Reflexion, sondern markiert eher eine Haltung oder ein Weltbild. Wichtige Gründe für die Abspaltung des Krieges resultieren aus dem Einfluss liberaler und modernisierungstheoretischer Annahmen in den westlichen Sozialwissenschaften. Kriegerische Gewalt gilt demnach als ein Überrest vormoderner Epochen. Krieg und marktförmige Ökonomie erscheinen als unvereinbar, weshalb Kriege im Rahmen der Moderne als zivilisatorische Rückfälle interpretiert werden. Insbesondere in der einflussreichen evolutionistischen Modernisierungstheorie hat dieses Weltbild seine Spuren hinterlassen.27 Die Moderne erscheint als Ergebnis mehr oder weniger linearer sozialer Entwicklungs-, Ausdifferenzierungs- und Rationalisierungsprozesse, „ganz so, als ob der soziale Wandel stets ein friedliches, geradezu harmonisches Fortschreiten gewesen wäre und es in der Moderne nicht immer wieder Phasen massiver zwischenstaatlicher Gewalt gegeben hätte.“28 Ein klassisches Beispiel für diesen modernisierungstheoretischen Einfluss ist etwa die Evolutionstheorie von Herbert Spencer. Er unterscheidet zwischen einem militärischen und einem industriellen Gesellschaftstypus und bringt am Ende beide in eine evolutionäre Abfolge. Demnach wird der Krieg im Gefolge zunehmender Industrialisierung und Modernisierung aus 26  Lederer;

vgl. Huebner. Zudem war Lederer Mitglied der SPD. S. 49–86; Reemtsma, S. 458–467. 28  Joas / Knöbl, S. 11. 27  Joas,

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der Gesellschaft verschwinden.29 Ähnlich argumentierten vor Spencer schon andere Sozialevolutionisten des 19. Jahrhunderts wie Claude Henri de Saint-Simon oder dessen späterer Sekretär und weiterer Gründungsvater der Soziologie Auguste Comte. Saint-Simon ging davon aus, dass die Menschheit sich durch den Einfluss von Wissenschaft und Industrie aus dem „Stadium des Antagonismus“ löst und zu dem der „Vergesellschaftung“ fortschreitet, welches schließlich in das der „Weltgemeinschaft“ führt.30 Auch Comtes Dreistadiengesetz sieht vor, dass der Krieg durch den Geist des Industrialismus und Positivismus verdrängt wird.31 Moderne Gesellschaft wird strukturell als pazifistische Zivilgesellschaft vorgestellt. Antagonismus, Krieg und Gewalt erscheinen als Rückfälle in die Barbarei. Solche modernisierungstheoretischen Einflüsse verstärken zudem eine weitgehend von Fragen und Zweifeln freie und mindestens implizit wertende Tendenz in den Sozialwissenschaften. Diese Tendenz besteht darin, die ‚Gesellschaft‘, das ‚Soziale‘ oder ‚Sozialsysteme‘ als wesentlich zivile und auf sprachlicher Kommunikation beruhende soziale Zusammenhänge zu fassen. Diese normative Gesellschaftsvorstellung lässt sich historisch verstehen. Die Wissenschaft von der Gesellschaft entsteht in der Mitte des 19. Jahrhunderts und damit zu einer Zeit, in der sich das Prinzip der modernen Staatlichkeit in Europa bereits durchgesetzt hat. Das Problem, das sich der herausbildenden Soziologie stellt, ist nicht die politische Konstitution der gesellschaftlichen Einheit. Stattdessen geht es um die Integration der Gesellschaft im Kontext ihrer ökonomischen Eigendynamik und der zunehmenden Arbeitsteilung und funktionalen Differenzierung. Wie kann der soziale Zusammenhalt vor anomischen Effekten, die aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung resultieren, geschützt werden? Aus diesem historischen Entstehungs- und Problematisierungskontext ergibt sich die Neigung zu einer normativ-wertenden Aufladung der soziologischen Gesellschaftsvorstellung: Die moderne Gesellschaft wird als ein Verkehr unter Menschen betrachtet, dem politische Machtwirkungen in Gestalt von Gewaltphänomenen wesenhaft fremd sind.32 Für den sozialtheoretischen Ort des Krieges gilt damit Ähnliches wie für den der Gewalt: Er erscheint als eine Art ‚Makroanomie‘, deren Ursachen spezifisch erklärt werden müsse, weshalb man sich in der Politischen Wis29  Vgl. ebd., S. 134–136. Kruse (2010, S. 39) stimmt dieser Lektüre nicht zu: Spencer verstehe den militärischen und den industriellen Gesellschaftstypus als „polar entgegengesetzte, idealtypisch gedachte Zustände […], zwischen denen sich historische Gesellschaften bewegen“. 30  Saint-Simon. 31  Vgl. Kruse 2010, S. 28–30. 32  Vgl. Spreen, S. 11–16.



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senschaft auf Kriegsursachenforschung und Friedensforschung konzentriert. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber schnell, dass Kriege nicht einfach nur ‚vorkommen‘, sondern dass sie erhebliche Bedeutung für die Verfassung und Veränderung von Gesellschaften – und zwar insbesondere auch moderner Gesellschaften – haben. IV. Ein neues Fragen nach dem Krieg Wie stets stellen pauschale Feststellungen zur Unterrepräsentanz eines Themas Vereinfachungen und Verkürzungen dar. Gerade bezüglich der Frage nach Krieg und Makrogewalt hat sich in den letzten 20 Jahren in den Kultur- und Sozialwissenschaften einiges getan – auch und besonders in Deutschland. Stellvertretend dafür seien hier einige neuere Forschungen angeführt.33 In der deutschen Soziologie begann die neuere Diskussion mit der Kritik an der häufig implizit vorgenommenen Unterstellung, dass die Konstitution sozialer Ordnung ohne Gewalt auskomme. Dies stellte vor allem Heinrich Popitz kritisch heraus, in dem er darauf verwies, dass jede Gesellschaftsordnung mit der Verletzungsmächtigkeit und Verletzungsoffenheit des Menschen „gewaltbewältigend“ umgehen muss.34 Demnach kommt der Gewalt bei der Konstitution politischer Ordnung auch eine ‚positive‘ soziale Funktion zu, nämlich die der Gewaltbewältigung. Durch die damit gesetzte Differenzierung in legitim-öffentliche und illegitim-private Gewalt (‚potestas‘ versus ‚violentia‘) erlischt allerdings noch nicht das Problem, wie die gewaltbewältigende Gewalt wiederum kontrolliert werden kann. Dieses Problem kann nicht abschließend gelöst, sondern nur durch die Einführung von Gegenmächten und Gegengewalten neu gestellt und beantwortet werden. Hier greifen die Mechanismen des Rechtsstaats, der Gewaltenteilung, der freien politischen Meinungsbildung im Konkurrenzkampf der Parteien usw. Aber „eine prinzipiell gewaltfreie Methode ist ein frommer Traum. Der Teufelskreis der Gewaltbewältigung bildet sich zwangsläufig immer von neuem.“35 Die Gewaltbewältigung beruht wiederum auf Gewalt. Entsprechend können auch die sozialen Ordnungsformen moderner Zivilgesellschaften nicht als frei von Gewalt begriffen werden. Aufgegriffen wurde diese Perspektive zunächst in der Gewaltforschung, in deren Rahmen eine 33  Eine umfassende Rekonstruktion der aktuellen Forschung zu Gewalt und Krieg würde den Rahmen dieser Einleitung sprengen: Vor dem Hintergrund der Diagnose einer „Gewalt- und Kriegsvergessenheit“ in den Sozialwissenschaften ist das ein gutes Zeichen. 34  Popitz, S. 43–78. 35  Ebd., S. 66.

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Gruppe von „Innovateuren“ eine neue Soziologie der Gewalt einforderte und zugleich hierfür die ersten Grundsteine legte.36 Mit diesem Perspektivenwechsel wird auch die Frage möglich, ob militärischer Gewalt und Kriegführung gewaltbewältigende Funktionen zukommen können. In diesem Kontext ist weiterhin die umfassende Forschung zu Gewalt und Krieg hervorzuheben, die im Rahmen des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS) und unter der Führung und dem Mäzenatentum von Jan Philipp Reemtsma stattfindet. Reemtsma selbst rekonstruiert in seinem aktuellen Buch Vertrauen und Gewalt mittels einer Verbindung soziologischer Begriffsbildung mit literaturwissenschaftlichen Deutungen drei Arten der Gewalt: Er unterscheidet „lozierende Gewalt“ – die instrumentelle Gewalt, die den Körper aus dem Weg schaffen will –, „raptive Gewalt“ – die Gewalt, die den Körper in Besitz nehmen und ihn benutzen will – und „autotelische Gewalt“ – die Gewalt, die körperliche Integrität zerstören will und auf Vernichtung um der Gewalt und Vernichtung willen aus ist. Kritisch gegenüber der instrumentellen Gewaltauffassung, die in der Macht- und Herrschaftssoziologie in der Tat vorherrschend ist, arbeitet Reemtsma heraus, dass die Moderne – und mit ihr die moderne Soziologie – die autotelische Dimension von Gewalt mittels verschiedener Copingstrategien aktiv „verleugnet“37. Insbesondere negiert sie den kommunikativen Sinn autotelischer Gewalt bis hin zur Grausamkeit. Dieser Sinn liegt nämlich weniger in dem, was sich zwischen Täter und Opfer abspielt, sondern in der Botschaft, die einem Publikum („dem Dritten“) zugestellt wird: Verbreitet werden Angst, Schrecken und Verzweiflung, d. h. die „Drohung mit Zerstörung“.38 Diese Dimension der Gewalt hat aufgrund ihres ‚überschießenden‘ Charakters in der großen Erzählung der Moderne keinen Platz. Vielmehr wird sie als „irrationale, pathologische, rätselhafte“ Form der Gewalt wahrgenommen, „für die sich weder Sozialwissenschaften noch Politik interessieren müssen.“39 Im Krieg ist nach dieser Dreiteilung in erster Linie lozierende Gewalt vorherrschend.40 Allerdings ergeben sich im Krieg auch vielfältige Möghierzu insbesondere den Sammelband Trotha 1997a. S. 481 und folgende Kapitel. 38  Ebd., S. 476. Autotelische Gewalt hat also auch ihre instrumentellen Bezüge und der Graben zwischen instrumenteller Gewaltauffassung und autotelischer Gewalt ist weniger tief, als Reemtsma nahelegt. Beispielhaft für instrumentelle Zusammenhänge der autotelischen Gewalt sind die ‚primitiven‘ Despotien, die autotelische Gewalt einsetzen, um die Peripherie des Reiches zu ‚pazifizieren‘, d. h. um Formen der gewaltsamen Selbsthilfe im Streit zwischen Stämmen, Clans oder Familien zu unterbinden. In der modernen Kolonialherrschaft wurde das Massaker ebenfalls ausgiebig als Machtinstrument eingesetzt (Trotha 1994, S. 37–44). 39  Reemtsma, S. 476. 40  Ebd., S. 108 f., 122. 36  Vgl.

37  Reemtsma,



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lichkeiten dafür, dass die instrumentelle lozierende Gewalt ihren Charakter ändert und in autotelische umschlägt.41 Dieser Gewaltüberschuss ist nicht ‚sinnlos‘, sondern dient dazu, einen Dritten kommunikativ anzuschließen: „Jede, zumal mit Bravour gewonnene Schlacht sendet dem Gegner die Botschaft ‚Versuch es kein zweites Mal!‘ Die durch Bombenangriffe Getöteten sollen den Überlebenden sagen: ‚Versag deiner Regierung die Gefolgschaft!‘ Als Hannibal nach dem Sieg am Trasimenischen See die gefangenen Römer hinrichten, die gefangenen Verbündeten Roms aber ziehen lässt, möchte er den Krieg öffentlich definieren als einen, der ausschließlich gegen Rom und damit auch gegen die Herrschaft Roms über das nichtrömische Italien gerichtet ist – mit dem Ziel, Roms Bundesgenossen zum Abfall zu bewegen. Umgekehrt war die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen und das unterschiedslose Ausplündern aller besetzten Territorien, auch derer, in denen die deutschen Soldaten zunächst als Befreier von der Herrschaft Moskaus begrüßt worden waren, ein deutlicher kommunikativer Akt, der klarmachte, welche Art von Krieg hier geführt wurde und welche nicht.“42 Das, was in der zivilgesellschaftlichen Moderne an der Gewalt als ‚irrational‘, ‚überschießend‘ oder ‚sinnlos‘ wahrgenommen wird, ist Reemtsma zufolge genau diese kommunikative Dimension. Schrecken und Angst werden verbreitet, die Drohung der Zerstörung ‚kommuniziert‘. Wenn aber autotelische Gewalt nicht in die moderne Selbstsicht passt, sie im Krieg aber eine erhebliche Rolle spielt, so gibt dies einen weiteren Hinweis, warum der Krieg ein Stiefkind der modernen Sozialwissenschaften geblieben ist. Gleichzeitig verweist dieser Sachverhalt darauf, wie wichtig es ist, sich mit dem Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Krieg zu befassen. Weitere innovative Impulse für den Forschungsbereich des Krieges kommen aus der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Geschichtswissenschaft. Zuerst zu nennen ist hier die sogenannte „Neue Militärgeschichte“, unter deren Autoren John Keegan zu den bekanntesten gehört – vermutlich wegen seiner Verbindung von Militärgeschichte und pazifistischer Hoffnung.43 Sie hat gleichfalls im „Arbeitskreis Militärgeschichte“ mit den Historikern Stig Förster und Gerd Krumeich und in denjenigen, die bis vor kurzem in der Forschergruppe „Krieg im Mittelalter“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft vereint waren, kraftvolle Protagonisten.44 Unter letzteren hat der Regensburger Historiker Hans-Henning Kortüm jüngst eine packende und 41  Ebd.,

S.  132 f. S. 473. 43  Keegan. 44  Vgl. den Sammelband Kortüm 2001. 42  Ebd.,

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radikal entmythologisierende Studie über tausend Jahre Kriege und Krieger veröffentlicht.45 Nicht zu vergessen sind auch Ute Freverts Beiträge zum Verhältnis von Zivilgesellschaft, Militärdienst und Heroismus. Ihre Studie Die kasernierte Nation untersucht die Rolle der Wehrpflicht in Deutschland und bezieht konstitutiv die Geschlechterverhältnisse mit ein. Wenn die Wehrpflicht eine „zentrale staatsbürgerliche Pflicht darstellt“, gleichzeitig aber eine Verpflichtung der Männer ist, sind Frauen (und Zivildienstleistende) dann „Bürger zweiter Klasse“?46 Frevert rekonstruiert unter anderem den diskursiven Kampf um den Zivildienst in der Bundesrepublik und kommt dabei zu höchst interessanten Schlussfolgerungen: Insbesondere im Zivildienst verkörpert sich demnach der Wandel des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger. Die Möglichkeit, den Wehrdienst zu verweigern und einen zivilen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten, bedeutet nichts anderes, als dass das Bürgerrecht der individuellen Gewissensentscheidung der Bürgerpflicht zum heroischen Opfer für die Gemeinschaft vorrangig ist.47 Dieser Vorrang ist ein ganz zentrales Kriterium des zivilgesellschaftlichen Republikanismus; im totalen Staat und in Kriegsgesellschaften gilt das Gegenteil.48 Die politischen Versuche in den 1950er und frühen 1960er Jahren, den Zivildienst als ‚Ersatzdienst‘ abzuwerten und Zivildienstleistende als ‚Feiglinge‘ darzustellen offenbaren daher eine aus heutiger Sicht problematische Haltung zum Verhältnis Staat / Bürger, die nicht zufällig mit ‚klassischen‘ Geschlechterbildern einhergeht. Alles Nachdenken über den Krieg kommt nicht an dem israelischen Historiker Martin van Creveld vorbei. Creveld war einer der ersten, die nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes auf die zentrale Bedeutung ‚kleiner‘ Konfliktformen hingewiesen haben. Die in der modernen politischen Theorie vertretene Trinität von Staat, Regierung und Volk löst sich Creveld zufolge im low intensity conflict zunehmend auf. Nationale Souveränität und Staatlichkeit werden nicht nur durch die Globalisierung aufgeweicht, sondern auch durch eine neue Form die Kriegführung ausgehöhlt.49 Die neue ungebändigte und wilde Form des Krieges folgt nicht mehr der instrumentalistischen Annahme, wonach die Anwendung militärischer Gewalt politischen Zwecken und strategischen Rationalitätskalkülen unterliege: „Es wird ein Krieg der Abhörgeräte und der Autobomben sein, Männer werden sich aus nächster Nähe gegenseitig umbringen, und Frauen werden in ihren Handtaschen Sprengstoffe mit sich herumtragen mitsamt 45  Kortüm

2010. S. 344, 346. 47  Ebd., S. 345. 48  Vgl. ebd., S. 352. 49  Creveld 1998 und Creveld 2009, Kapitel 6. 46  Frevert,



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den nötigen Drogen, um sie zu bezahlen. Der Krieg wird langwierig, blutig und grauenvoll sein.“50 Heute schließt hieran in der Politikwissenschaft eine breite Forschung über „neue“ bzw. „neo-hobbessche“ Kriege und Terrorismus an.51 Aufgenommen wurde diese Forschung insbesondere in der Militärsoziologie, wo sie zu Untersuchungen über die veränderte Auftragslage, den militärischen Strukturwandel, die zivil-militärischen Beziehungen, die Rolle von Frauen im Militär und den Wandel des Soldatenbildes geführt hat.52 Nach einem frühen Beginn53 hat die Ethnologie die Empirie und Theorie des Krieges zu einem heute beachtlichen Faden gesponnen. Davon erzählt jüngst die große Studie des Ethnologen Helbling über Tribale Kriege.54 Allerdings macht noch der Titel gegenwärtig, dass der rote Faden in der Ethnologie des Krieges die Frage nach dem Ursprung des Krieges ist – übrigens mit vertrackten Verkehrungen der modernisierungstheoretischen Erzählung.55 Anders als die Gewalt gehören danach Kriege nicht ‚dem‘ Menschen, sondern der Gesellschaft zu. Nach Helbling entstehen sie zusammen mit Sesshaftigkeit, Territorialität und Abhängigkeit von lokal konzentrierten Ressourcen. Allerdings ist die Debatte über die Grundlagen des Krieges erst eröffnet und die Paleoanthropologie der Gewalt und des Krieges wird in ihr eine gewichtige Stimme sein.56 Wie die Studie von Helbling dokumentiert, befriedigen die Einsichten der Ethnologie des Krieges nicht nur historische und anthropologische Neugier, sondern sind mit dem Aufstieg des ‚kleinen Krieges‘ unmittelbar für die Debatten um Krieg und Frieden in der Gegenwart relevant.57 Darüber hinaus schlagen sie den Bogen zur reichen rechtsanthropolo50  Creveld

1998, S. 310. Beispiel Daase; Kaldor; Münkler und Waldmann. Zur soziologischen Kategorie des „neo-hobbesschen Krieges“ Trotha 1999. 52  Vgl. u. a. den Überblicksband Leonhard / Werkner. 53  Datumsgebend ist hier das Jahr 1907, in dem der holländische Ethnologe und Soziologe Rudolf Steinmetz seine Studie über die „Philosophie des Krieges“ veröffentlicht hat. Für die zweite, überarbeitete Auflage von 1929 wurde ein neuer Titel – „Soziologie des Krieges“ – gewählt. Dem Buch von 1907 war im Jahr 1899 schon eine knapp 60-seitige Schrift mit dem Titel „Der Krieg als sociologisches Problem“ vorausgegangen. 54  Helbling. 55  In Umkehrung des modernisierungstheoretischen Friedenspathos zeichnet sich ‚Primitivität‘ bei Turney-High gerade dadurch aus, dass sie zur kollektiven Gewalt in der Form des Krieges nicht fähig ist. Krieg ist für Turney-High ein Ausweis evolutionären Fortschritts. 56  Die Kontroverse um den gesellschaftlichen Ursprung des Krieges ist heute so lebendig wie selten zuvor. Für die Gegenthese zum gesellschaftlichen Ursprung des Krieges, s. Keeley; siehe auch Guilaine / Zammit. 57  Helbling, insbes. S. 446–447, 597–609. 51  Zum

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gischen Forschung, die in Fragen der Konfliktregelung und der Suche nach Frieden heute nicht mehr außer Acht gelassen werden sollte.58 In der neueren Historischen Soziologie befasst sich der ‚staatszentrierte Ansatz‘ mit der Bedeutung des Krieges. Charles Tilly und Theda Skocpol untersuchen Staatsbildungsprozesse und beschreiben hierbei auch die Rolle des Krieges und der zunehmenden Komplexität und Verteuerung der Militärtechnik.59 Um stehende Heere, deren Kern aus Berufssoldaten bestand und die immer größer wurden, zu unterhalten und teure Kriegstechnologien zu finanzieren, bedurfte es eines effizienten bürokratischen Apparates, der das Steuermonopol durchsetzt. Ebenfalls kommen die Zusammenhänge zwischen militärischen Erfordernissen, der Entwicklung der Demokratie und der Ausdehnung sozialer Rechte ins Blickfeld. Skocpol widmet sich insbesondere den Beziehungen zwischen den erweiterten Partizipationsmöglichkeiten der Bürger und der militärischen Massenmobilisierung im Kontext sozialrevolutionärer Umwälzungen.60 Ohne Bezugnahme auf die politische und gewaltsame Dimension der Beziehungen zwischen den Staaten sind jedenfalls zentrale makrosoziale Wandlungsprozesse nicht im erforderlichen Umfang zu verstehen. Ein ähnlicher Gedankengang findet sich bereits bei Norbert Elias. Ihm zufolge vollzieht sich die Soziogenese des neuzeitlichen Staates als gewalthaltiger Prozess der Konkurrenz, der zur außerordent­ lichen Stärkung der Zentralfunktion führt.61 Im Zusammenhang mit der neuen sozialwissenschaftlichen Thematisierung des Krieges sind weiterhin die sorgfältigen Untersuchungen von Hans Joas zu nennen.62 Zusammen mit Wolfgang Knöbl hat Joas jüngst eine instruktive Studie zur Kriegsverdrängung vorgelegt, in der die beiden Autoren die Verweigerungshaltung gegenüber dem Problem des Krieges in der modernen Sozialtheorie umfassend rekonstruieren. Sie sehen dabei jenen psychologischen Mechanismus am Werk, wonach „als negativ empfundene, ängstigende und bedrohliche Erfahrungen vom Bewusstsein ausgeschlossen [werden], ohne dadurch ihre Wirksamkeit zu verlieren“.63 Deshalb kann eine Wissenschaft, der es um die begrifflich-strukturelle Darstellung der sozialen Wirklichkeit geht, die konstitutiv existenziellen Erfahrungen, die mit Kriegen und ihrer Gewalt verbunden sind, sowenig außen vor lassen 58  Freeman / Napier;

Lespinay / Le Roy und Foblets / Trotha. ausführliche Würdigung dieses Ansatzes findet sich bei Joas / Knöbl, S. 263–278. 60  Skocpol. 61  Elias, S. 123–311. 62  Diese sind zusammengeführt in Joas. Vgl. auch seinen Beitrag zum vorliegenden Band. 63  Joas / Knöbl, S. 9. 59  Eine



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wie ihre Wirkungen. Wenn sie sie aber außen vor lässt, gibt sie damit umgekehrt den Anspruch auf, soziale Wirklichkeit und sozialen Wandel umfassend zu verstehen. Dies gilt erst recht, wenn im Zuge der Herausbildung der Weltgesellschaft die Kriegs- und Gewaltzonen der Weltperipherie den modernen, westlichen Zivilgesellschaften wieder näher rücken. Auch in der soziologischen Systemtheorie hat sich einiges getan. Konnte man es vor noch nicht allzu langer Zeit bei der Bemerkung bewenden lassen, dass Krieg weder bei Parsons noch bei Luhmann „als Faktor sozialer Evolution in Erscheinung“ trete,64 so ist damit heute längst nicht mehr alles gesagt: Instruktiv sind etwa die Untersuchungen zum Terrorismus, die Klaus P. Japp und Peter Fuchs vorgelegt haben.65 Armin Nassehi hat Überlegungen zum „Funktionssinn des Krieges“ formuliert.66 Beiträge von Tobias Kohl und Peter Hoeres beschreiben das Militär theoretisch präzise und historisch fundiert als soziales Teilsystem.67 Ebenfalls aus systemtheoretischer Perspektive hat Volker Kruse den Begriff der „Kriegsgesellschaft“ in die Diskussion gebracht.68 Nicht vergessen werden soll in dieser Liste ein wichtiger, interdisziplinär wirksamer Stichwortgeber der neueren sozialwissenschaftlichen Diskussion zum Krieg: Mit seinem international breit wahrgenommenen Buch Grammophon Film Typewriter hat der Germanist und Medienwissenschaftler Friedrich Kittler den Blick früher als andere auf das Phänomen des Krieges gelenkt und damit den Weg für ein Forschungsfeld gebahnt, das sich zunehmend differenziert. Für Kittler sind militärstrategische Programme der treibende Motor der Technik- und Medienentwicklung. Im zivilen Alltag sei lediglich ein „Missbrauch von Heeresgerät“69 möglich; letztendlich könne das Gerät aber weder pazifiziert noch humanisiert werden. Die Menschen richten sich quasi in einem Luftschutzkeller ein, den sie bei Bedarf ‚Zivilgesellschaft‘ nennen. Dieses zwischenzeitliche Leben im Bunker lassen sie sich von der Medienindustrie unterhaltsam ausgestalten.70 Dabei ordnen sie sich den technisch-medialen Aufschreibesystemen unter: „Medien bestimmen unsere Lage“.71 64  Kruse

2010, S. 45. 2003; 2006; Fuchs. 66  Nassehi, S. 361. 67  Kohl; Hoeres. 68  Kruse 2009 (leicht verändert wiederabgedruckt in diesem Band). Der Beitrag von Spreen in diesem Band geht ausführlich auf diese Diskussion ein, weshalb eine vertiefende Darstellung an dieser Stelle unterbleibt. 69  Kittler 1986, S. 186. 70  Kittler 2002, S. 123 f. 71  Kittler 1986, S. 3. 65  Japp

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Kittlers Medientheorie passte wie keine zweite in das posthumanistische Jahrzehnt, das die Zeit zwischen dem Ende der Entspannungspolitik und dem Untergang des Warschauer Paktes ausfüllte. Diese Diskursordnung brach mit dem Fall der Berliner Mauer schlagartig zusammen. Statt dessen: Ende des weltpolitischen Dualismus und ‚neue Weltordnung‘, ökonomische Globalisierung, Weltgesellschaft, kulturelle Vielfalt, Migration und mediale Vernetzung. In der grenzenlosen Weltzivilgesellschaft geht es um Kontakt und Konflikte zwischen Kulturen, um die Steuerung von Strömen aller Art, um Emergenz und Kontrolle von Netzwerken und nicht zuletzt um die Überwachung von Risikozonen und Eindämmung kontingenter Gewalt. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass durch diesen Epochenbruch das Thema ‚Krieg‘ für die Sozialwissenschaften wieder zu einem drängenden Problem wird. Denn erst diesseits des Overkills und im Rahmen einer globalen Sicherheitsordnung macht es Sinn, manifeste militärische Gewalt im Kontext der Gewaltbewältigung zu denken. Die Persistenz neo-hobbesscher Kriege und jener Ordnungsformen der Gewalt, in denen das staatliche Gewaltmonopol entweder nie wirksam durchgesetzt wurde oder in denen es zerfällt, die Bedrohung durch einen globalen und fundamentalistischen Terrorismus, die Führung mehrerer Sicherheitskriege und einer ganzen Reihe langanhaltender Out-of-Area-Missionen machen die Notwendigkeit deutlich, sich mit der Thematik zu befassen. Die Medientheorie Kittlers hat die Tür für Untersuchungen aufgestoßen, die nach Funktion und Rolle des Krieges und der technischen Möglichkeiten der Gewaltanwendung in Gesellschaft und Kultur fragen. V. Konzept des Bandes und die Beiträge Obwohl sich in Hinblick auf die Problematik Krieg / Militär in den letzten beiden Jahrzehnen einiges getan hat, kann nicht behauptet werden, dass über die Frage nach dem Verhältnis von Krieg und Gesellschaft in der Moderne ausreichend nachgedacht und geforscht wird. Vor allem fehlt es an einer Reflexion im Rahmen der Gesellschaftstheorie, der Allgemeinen Soziologie und über das in den Sozialwissenschaften zugrunde gelegte Vorverständnis von ‚Zivilgesellschaft‘. Mit der neuen historischen Konstellation ist gerade das Verhältnis der Zivilgesellschaft zum Krieg ein ungelöstes Problem. Mittels historischer Folien ist es nur schwer beschreibbar, eher lassen diese Folien eine neuartige Konstellation hervortreten. Thema des vorliegenden Bandes sind daher Bedeutung und Funktion von militärischer Gewalt und Krieg in einem zivilgesellschaftlichen Kontext. Ausgangspunkt ist die These, dass von einem gegenseitigen Ausschließungsverhältnis nicht ausgegangen werden kann. Die häufig mehr oder weniger implizite Annahme, dass Krieg den Ausnahmezustand darstelle und demo-



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kratische Spielregeln, Bürgerrechte und insgesamt zivilgesellschaftliche Verkehrsformen zumindest begrenzt außer Kraft setze, erscheint uns zu vereinfachend. Die beiden Herausgeber konnten zum Thema dieses Bandes eine Reihe von Autoren verpflichten, substantielle Beiträge entweder neu zu verfassen oder verstreut erschienene, aber maßgebliche Aufsätze dem Band zur Verfügung zu stellen. Für die interessierte (Fach-)Öffentlichkeit hat dies den Vorteil, dass ein schneller Einstieg in den Themenkreis möglich wird, bei dem aber nicht vergessen werden darf, dass trotzdem nur ein kleiner Ausschnitt erschlossen wird. Nach Beiträgen, die sich mit Zusammenhängen zwischen Krieg, dem Politischen und der Zivilgesellschaft befassen (Spreen, Joas), richtet sich der Blick auf die Beziehung zwischen Militär und ‚umgebender‘ Gesellschaft (Kutz, Münkler, Kümmel, Apelt). Anschließend wird das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und ‚großen Kriegen‘ thematisiert (Heins, Kruse). Abgeschlossen wird der Band mit Beiträgen zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure und Institutionen im Kontext ‚kleiner Kriege‘ (Häußler / Trotha, Baumann, Papendieck, Bogner / Neubert, Trotha). Der Band beginnt mit einem Beitrag von Dierk Spreen, der die globale Problemlage in den Blick nimmt. Dabei wird die Beobachterperspektive der soziologischen Systemtheorie systematisch mit der der innovativen Gewaltforschung und der Soziologie der Gewalt verknüpft. Die Weltgesellschaft wird als eine Weltzivilgesellschaft beschrieben, in der sich ‚Orte der Gewalt‘ systematisch identifizieren lassen. Die Rolle der Gewaltbewältigung übernimmt in dieser Weltgesellschaft die Politik der ‚globalen Sicherheit‘, die institutionell mit dem UN-System nicht deckungsgleich ist, sondern eine sehr vielschichtige weltpolitische Ordnung darstellt. In dieser Ordnung globaler Sicherheit erweist sich das politische System der Weltgesellschaft in der Lage, militärische Mittel der Gewaltbewältigung hervorzubringen und so einzusetzen, dass die zivilen Kommunikationsbedingungen der funktional differenzierten Weltgesellschaft von Risiken, die von physischer Gewalt ausgehen, ausreichend frei gehalten werden. Spreen diskutiert in diesem Zusammenhang die Frage, inwiefern von einer „politischen Konstitution der Weltgesellschaft“ gesprochen werden kann. Auch Hans Joas behandelt Zusammenhänge zwischen internationalen Beziehungen und demokratischer Verfasstheit von Gesellschaften, indem er systematisch das Verhältnis von Demokratien (bzw. mit Kant der Republiken) zum Krieg befragt. Er diskutiert vier Problemfelder: die Auswirkungen von Kriegen auf Demokratien, die militärische Konkurrenzfähigkeit verglichen mit Nicht-Demokratien, die Friedensfähigkeit von Demokratien und schließlich die Kriegführung von Demokratien. Eine einfache und beruhigende Botschaft ergibt sich aus dieser Diskussion nicht, vielmehr tritt Joas

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einer „falschen Gewissheit hinsichtlich der Bedingungen dauerhaften Friedens“ entschieden entgegen und hebt „die Kontingenz der Demokratie (und des Friedens)“ hervor. Frieden will gestiftet sein und ergibt sich im Kontext der Modernisierung und Demokratisierung nicht quasi von selbst. Mit dem Beitrag von Martin Kutz verlagert sich die Perspektive des Bandes hin zur Frage nach dem Verhältnis von Militär und Zivilgesellschaft. Kutz rekonstruiert die folgenreichen Strukturveränderungen im deutschen Militär von 1945 bis heute. Er zeigt eindrücklich, dass die häufig implizite Annahme einer kontinuierlichen Entwicklung nicht zutrifft. Vielmehr lassen sich tiefe Umbrüche markieren: Ausgangspunkt war eine Armee, die um die Weltherrschaft kämpfte. Nach dem Zusammenbruch kam es zur totalen Abrüstung, dann zur Gründung der Bundeswehr und der NVA, denen jeweils divergierende Vorstellungen über das Verhältnis von Militär und Gesellschaft und über das Bild des Soldaten zu Grunde lagen. Hinzu kommen Brüche und Konflikte im Traditionsbezug. Nach der Wiedervereinigung erfolgte zunächst die Zusammenführung, dann kam der Umbau zur Interventionsarmee und schließlich wurde die Wehrpflicht ‚ausgesetzt‘ und die Landesverteidigung hintangestellt. Aber mit der Professionalisierung der Interventionstruppen entsteht das Risiko subkultureller Abkopplungstendenzen, die durch zivilgesellschaftliche Uninteressiertheit ganz sicher noch verstärkt werden dürfte. Alle diese Veränderungen stehen im Zusammenhang mit dem politischen, sozialen und kulturellen Wandel und machen erkennbar, wie stark sich die Beziehungen zwischen militärischem Teilsystem, Politik und Zivilgesellschaft ändern können und wie sehr diese Veränderungen sich im Militär widerspiegeln. Herfried Münkler entwirft in seinem Beitrag einen viel beachteten theoretischen Rahmen, der es erlaubt, das Verhältnis Militär / Zivilgesellschaft zu beschreiben. Er diskutiert die Frage nach dem Ort heroischer Gemeinschaften bzw. des heroischen Opfers in „postheroischen“ Gesellschaften. Heroische Kriegsgesellschaften stellen für Münkler dabei zivilisatorische Ausnahmeerscheinungen dar. Nur unter bestimmten Voraussetzungen – darunter vor allem demographische youth bulges, d. h. einem überdurchschnittlich hohen Anteil von Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung – kann das Heroische die ganze Gesellschaft ergreifen und das Großopfer verlangen. „Kriege sind dann nicht mehr Auseinandersetzungen heroischer Gemeinschaften, für welche die Gesellschaften finanziell aufkommen müssen, sondern es sind Kriege unter den Bedingungen einer totalen Mobilisierung, die sämtliche materiellen wie psychischen Ressourcen erfasst.“ Heroische Kriegsgesellschaften folgen somit völlig anderen Wertvorstellungen als postheroische Zivilgesellschaften. Ein zentrales Problem besteht daher in der Gleichzeitigkeit post­ heroischer und heroischer Gesellschaften, die unter Globalisierungsbedingungen miteinander in Kontakt und Konflikt geraten.



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Gerhard Kümmel schließt an diesen theoretischen Rahmen an und diskutiert die empirisch wichtige Frage: Ist die deutsche Gesellschaft der Gegenwart eine postheroische Gesellschaft? Für die Beantwortung der Frage reicht ein Blick auf das nationale Geschehen nicht aus. Vielmehr müssen Entwicklungen in Gesellschaft, Politik und Militär sowie in der „Weltrisikogesellschaft“ berücksichtigt werden. Dass die deutsche Gesellschaft tatsächlich als eine „postheroische“ gefasst werden kann, heißt allerdings nicht, dass keine Lernprozesse stattfinden. Vielmehr werden die weltordnungspolitische Verantwortung Deutschlands und die damit verbundene militärische Seite zunehmend anerkannt. Insgesamt kann man für die Gegenwart von einem hohen gesellschaftlichen Vertrauen in die Institution Bundeswehr ausgehen, wenngleich das Verhältnis zum Militär in Deutschland verglichen mit anderen NATO-Staaten – bedingt durch die historische Erfahrung – weit weniger „selbstverständlich“ ist. Damit erweist sich das Postheroische als transna­ tionales Phänomen, das nicht national isoliert verstanden werden kann, allerdings national doch verschieden akzentuiert und ausgeformt wird. Maja Apelt greift zurück auf aktuelle Forschungsergebnisse und untersucht in Anlehnung an Herfried Münkler und Niklas Luhmann das Gewaltdilemma moderner Streitkräfte am Beispiel der Bundeswehr. Dieses Dilemma hat zwei Seiten: einerseits die „Opferscheu“ von Zivilgesellschaften, andererseits die Ambivalenz gegenüber der „Täterschaft“. Interessanterweise wird die Kritik an militärischen Missionen in der Öffentlichkeit besonders laut, wenn die eigenen Soldaten den Tod ziviler Opfer verantworten müssen. Es scheint, dass die Täterschaft unter postheroischen Voraussetzungen noch problematischer ist als das Opfer. Im Rückgriff auf empirische Untersuchungen rekonstruiert Apelt die soldatische Sicht auf diese Problematik. Volker Heins nimmt die Beziehungen zwischen Gewalterfahrung und Zivilgesellschaft in den Blick. Heins befasst sich mit der Repräsentation des Bombenkrieges gegen das Deutsche Reich im kollektiven Gedächtnis. Er geht davon aus, dass dieses Gedächtnis durch ein spezifisch zivilgesellschaftliches Ensemble kommunikativer Institutionen erzeugt und reproduziert wird. Die verbreitete Auffassung, dass ‚der Bombenkrieg‘ einem Thematisierungstabu unterliege, erweist sich dabei als zu kurz gefasst. Vielmehr lässt sich am Beispiel von Erinnerungspraktiken und -narrativen in Hamburg und Dresden zeigen, dass es in deutschen Erinnerungsdiskursen zwar „eine Menge Inkohärenzen, falsche Abstraktionen und schiefe Analogien gibt, jedoch nichts, das die Diagnose einer pathologischen Verdrängung rechtfertigen würde“. Insbesondere erscheint die Verwirklichung des von rechtsradikalen Kreisen im Dresdner Fall verfolgten Gegenprojektes unwahrscheinlich, in der Zivilgesellschaft eine Zentrierung der Weltkriegserinnerung auf den Bombenkrieg zu erwirken. So lange die Frage nach der

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Bedeutung des Bombenkrieges mit der Frage verknüpft bleibt, „was die Verbrechen der deutschen Wehrmacht und der SS-Einsatzgruppen bedeuten“, so lange sind die Hürden für eine solche Neuordnung der Weltkriegserinnerung zu hoch. Ausgehend von einer systemtheoretischen und soziologisch-historischen Perspektive befasst sich Volker Kruse mit der Möglichkeit „Zivilgesellschaft“ und „Kriegsgesellschaft“ als moderne Vergesellschaftungsmodi zu differenzieren. Eine Kriegsgesellschaft liegt demnach dann vor, wenn eine spezifische gesellschaftliche Transformation hervorgerufen wird, die entweder durch einen großen Krieg oder durch die Erwartung eines großen Krieges motiviert ist. Kruses Überlegungen zu einer „kriegsgesellschaftlichen Moderne“ greifen insbesondere Herbert Spencers Ausführungen zum „militärischen Gesellschaftypus“ auf und untersuchen zwei zentrale Dynamiken: erstens, die „Mobilisierungskonkurrenz“ im Falle eines großen Konfliktes, die zentrale Steuerung und hierarchische Differenzierung hervorbringt, und, zweitens, das „kriegsgesellschaftliche Dilemma“, das darin besteht, entweder die militärische Kraft nicht voll zu entfalten und damit die Niederlage zu riskieren oder aber elementare Grundbedürfnisse zu vernachlässigen und damit innere Widerstände und Friktionen hervorzubringen. Die Pointe von Kruses Überlegungen ist, dass die Umwandlung in eine Kriegsgesellschaft selbst im Falle der zivilgesellschaftlichen Retransformation dauerhafte Spuren im institutionellen Gefüge und in den Sozialstrukturen hinterlässt, die über das hinausgehen, was unter den Stichworten ‚kollektives Gedächtnis‘ und ‚Gewalterfahrung‘ diskutiert wird.72 Damit schließt er sich der These von der konstitutiven Bedeutung großer Kriege in der Moderne an. Die Überlegungen von Matthias Häußler und Trutz von Trotha leiten zum letzten Themenkomplex des Bandes über, nämlich der Rolle zivilgesellschaftlicher Institutionen und Akteure in solchen Ordnungsformen der Gewalt, in denen staatliche Herrschaftsinstanzen nur schwach wirksam sind und von einer Monopolisierung der Gewalt kaum die Rede sein kann. Die Autoren richten in ihrem gemeinsamen Artikel den Blick auf die koloniale Situation. Sie knüpfen an Edward Shils Begriff der Zivilgesellschaft an, der diese auf bürgerschaftlich orientierte Gruppen und Akteure beschränkt, die sich am Gemeinwohl orientieren. Im Rahmen eines historischen Rückblicks auf Deutsch-Südwestafrika identifizieren sie die begrenzten zivilgesellschaftlichen Momente an der Siedlergesellschaft. Aber selbst diese Anteile werden letztlich durch die strukturellen Bedingungen der kolonialen Situation zerrieben. Letztere finden im rassistischen Antagonismus zusammen und waren durch die ‚selbstverständliche‘ Gewaltausübung der ‚Weißen‘ gegen die ‚Schwarzen‘ gekennzeichnet, welche sich in Deutsch-Südwest­ 72  Vgl.

Kruse 2011.



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afrika bis zum „genozidalen Pazifizierungskrieg“73 steigerte. Der Artikel wirft nicht nur ein Schlaglicht auf die Debatte um die genozidale Gewalttätigkeit von Siedlergesellschaften,74 sondern auch ein neues Licht auf den an den Hereros verübten Genozid: Der Blick „von der kolonialen Gesellschaft und insbesondere von der ihr zugehörigen Siedlerschaft aus, [dokumentiert], dass es die Dynamik ‚von unten‘ […] ist, die […] den genozidalen Flächenbrand zum Lodern bringt und all das zerstört, was an zivilgesellschaftlichen Sicherungen in der kolonialen Gesellschaft bestanden haben mag.“ Marcel Baumann befasst sich anhand der Beispiele Nordirlands und Südafrikas mit den Verhältnissen in Post-Konflikt-Gesellschaften. Diese sind durch eine „freiwillige Apartheit“ gekennzeichnet. Dieser Typ von Apartheid sichert zwar einerseits den Frieden, weil er konflikthaltige Kontaktmöglichkeiten minimiert; andererseits zementiert er die gegnerischen Fronten und unterbindet damit die Möglichkeit, die Auseinandersetzung in institutionelle und friedliche Austragungsformen zu überführen. Somit wurde der bewaffnete Streit zwar beendet, doch von einem friedlichen Zusammenleben der Gemeinschaften kann nicht gesprochen werden. Stattdessen lodern die Konflikte fortwährend wieder auf: „Es existiert weder gesellschaftliche Interaktionsbereitschaft noch kommt es zu sozialer Integration; die Koexistenz in der Post-Konflikt-Gesellschaft besteht auf einer fragilen Grundlage.“ Der Titel des Beitrags – society first – weist dabei auf die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Lösungsstrategien. Staatsbildung allein löst diese Konflikte nicht, wenn die Bürgerkriegsparteien und ihre Akteure nicht einen gemeinsamen Weg aus dem Konflikt finden. In dem anschließenden, detaillierten Bericht über das Programm MaliNord beschreibt Henner Papendieck die Erfolge und Schwierigkeiten, die sich im Laufe des Programms zur Errichtung ziviler Sozialformen, Konfliktregulierungen und politischer Institutionen ergeben haben. Am Anfang des Programms stand eine Geschichte von gewalttätigen Auseinandersetzungen und eines Bürgerkriegs, in denen die Tuareg im Norden Malis gegen die malische Zentralregierung rebellierten. Das deutsch-malische Programm wurde 1993 ins Leben gerufen und unterscheidet sich von so vielen aus den Medien bekannten Konfliktvermittlungen dadurch, dass es auf solche Akteure setzt, die keine Möglichkeit haben, sich bewaffnet durchzusetzen. Es handelt sich also um einen Ansatz, der von zivilgesellschaftlichen Akteuren ausgeht und diese zu unterstützen versucht. Anders, als es so oft geschieht, prämiert er nicht diejenigen, die lauthals ihre Ansprüche anmelden und mit dem Finger am Abzug die Einlösung dieser Ansprüche einfordern. Die Zwi73  Zum 74  Vgl.

Begriff Trotha 1999, S. 79–87. Kreienbaum 2010.

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schenbilanz Papendiecks fällt dabei vorsichtig optimistisch aus – wobei die Vorsicht dieses Optimismus umso nachdenklicher stimmen muss, wenn man die jüngsten kriegerischen Entwicklungen im Norden Malis, insbesondere die der ersten Hälfte des Jahres 2012 verfolgt.75 Das Beispiel Nordghanas und Nordugandas nutzen Artur Bogner und Dieter Neubert, um sich mit der Frage zu befassen, ob der Staatsbegriff wie auch der Begriff der Zivilgesellschaft ausreichen, gesellschaftliche Selbstorganisation angemessen zu erfassen. Um sich dieser Problematik anzunähern, untersuchen die Autoren Prozesse der Konfliktschlichtung und Friedenskonsolidierung. Aus dem Vergleich erhoffen sie sich Schlussfolgerungen über die Kräfte und die Dynamik von Nachkriegssituationen und lokalen De­ eskalationsprozessen. Sie kommen zu dem Schluss, dass man nicht pauschal von einem Niedergang des Staates in Afrika sprechen kann. Gelungene Konfliktregulierung stärkt vielmehr den Staat. Die neuen politischen Arrangements erweisen sich dabei als „weitaus komplexer, als dies ein einfaches Verständnis von ‚Staat‘ und ‚Zivilgesellschaft‘ suggeriert.“ Der Band schließt mit einem Beitrag von Trutz von Trotha, der zugleich eine Klammer für die Beiträge zu Postkonfliktkonstellationen darstellt. Trotha geht von der Beobachtung aus, dass kleine Kriege eher schlecht als recht zu Ende zu bringen sind und der nachfolgende Frieden wenig belastungsfähig ist. Nachkriegsgesellschaften stellen eher „Waffenstillstandsgesellschaften“ dar, „in denen selbst der Waffenstillstand mehr Fiktion als Tatsache ist.“ Drei Sachverhalte sind wesentlich verantwortlich dafür, dass der „Hürdenlauf zum Frieden“ gelingt: Erstens muss eine neue Basiserzählung erfunden werden, die eine legitimatorische Konstruktion der Vergangenheit enthält. Zweitens ist die männliche Jugend für den Frieden zu gewinnen, denn jeder kleine Krieg ist zugleich ein „antifeministisches Manifest“, das auf einer radikalen Inszenierung von Männlichkeit beruht – eine Inszenierung, die vor allem männliche Jugendliche anspricht und ihnen Chancen offeriert. Die üblichen Routinen zum Gender Mainstreaming, die aus dem westlich-okzidentalen Ideenhaushalt stammen, zielen an diesem Problem in der Regel vorbei. Drittens ist der Aufstieg der lokalen Akteure zu beachten. Dies erschwert den Weg zum Frieden besonders unter weltgesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Paradoxerweise erweist sich gerade in diesem Kontext das Dorf im wachsenden Maße als „ein Ort, der die Welt bewegt.“ 75  Während wir diese Einleitung schreiben, ist die dritte große Tuareg-Rebellion mit noch größeren Gewaltmitteln als die vorangegangenen ausgebrochen und hat mit der erfolgreichen Eroberung der wichtigsten Städte von Mali nördlich des Niger die rebellierenden Tuareg dazu geführt, die Loslösung von Mali zu verkünden und einen eigenen Staat auf bislang malischem Gebiet nördlich des Niger auszurufen.



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Deutlich machen diese Beiträge, dass sowohl Gewaltordnungen als auch ‚große‘ und ‚kleine‘ Kriege keine sozialen Randphänomene sind. Auch muss das Verhältnis von Modernität und Krieg / Gewalt als wechselseitig inklusiv bestimmt werden. Krieg und Gewalt sind nicht die ‚dunklen‘ Seiten der ­Moderne, die im Laufe fortschreitender Aufklärung einfach verschwinden werden. Kriege und ihre politische Möglichkeit sind vielmehr auch in der Moderne ein wichtiger Faktor in Prozessen sozialen Wandels, sozialer Strukturierung und der Konstitution gesellschaftlicher Ordnung – und nicht nur in Deutschland. Zudem stehen weder die Sozialwissenschaften außerhalb des Krieges noch bleiben Gesellschaftsmodelle von Kriegsmetaphorik unberührt. Kann die Allgemeine Soziologie daher weiter darauf verzichten, die Problematik des Krieges systematisch zu erforschen? Die Einsicht, dass die Allgemeine Soziologie das Verhältnis von Gesellschaft und Krieg und insbesondere von Zivilgesellschaft und Krieg als eines ihrer zentralen Forschungsfelder begreifen muss, hat die Herausgeber zu diesem Band veranlasst. Literatur Creveld, Martin van: Die Zukunft des Krieges, München 1998 (engl. 1991). – Gesichter des Krieges. Der Wandel bewaffneter Konflikte von 1900 bis heute, Berlin 2009. Daase, Christopher: Kleine Kriege – große Wirkung. Wie unkonventionelle Kriegführung die internationale Politik verändert, Baden-Baden 1999. Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Zweiter Band: Wandlungen der Gesellschaft, Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt am Main 1976. Foblets, Marie-Claire / Trotha, Trutz von (Hg.): Healing the Wounds. Essays on the Reconstruction of Societies after War, Oxford / Portland 2004. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976. Freeman, Michael D. A. / Napier, A. David (Hg.): Law and Anthropology, Oxford 2009. Frevert, Ute: Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001. Fuchs, Peter: Das System „Terror“. Versuch über eine kommunikative Eskalation der Moderne, Bielefeld 2004. Fuchs-Heinritz, Werner / Lautmann, Rüdiger / Rammstedt, Otthein / Wienold, Hanns (Hg.): Lexikon zur Soziologie. 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Opladen 1994. Guilaine, Jean / Zammit, Jean: Le sentier de la guerre. Visages de la violence préhistorique, Paris 2001.

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Dierk Spreen und Trutz von Trotha

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Weltzivilgesellschaft und Gewalt Ordnungskonstitutive Gewalt im Zeitalter des globalen Politischen Von Dierk Spreen I. Einführung Welche Bedeutung haben Sicherheitsstrukturen für die globale zivilgesellschaftliche Gesellschaftsordnung? Wie kann das Verhältnis zwischen weltumspannender Ordnungskonstitution, der Herausbildung globaler sozialer Bezüge und einer weitgehend ‚zivilen‘ Verfasstheit sozialer Weltsysteme im Rahmen der soziologischen Theoriebildung gefasst werden? Im Mittelpunkt einer solchen Fragestellung steht das Problem der globalen Gewaltbewältigung. Wenngleich eine Untersuchung zur ‚Weltzivilgesellschaft‘ nicht ausschließlich auf die Problematik der Gewaltbewältigung reduziert werden kann, so ist doch unübersehbar, dass eine einigermaßen friedliche und stabile soziale Ordnung ein wichtiges Merkmal zivilgesellschaftlicher Strukturen ist, denn „angesichts der Offenheit und Legitimität von Partikularinteressen in einer civil society muss die Seltenheit von gewaltsamen Auseinandersetzungen als eine besondere Leistung gewertet werden.“1 Die Abwesenheit von Gewalt und Zwang erweist sich dabei als wesentliches Bezugsproblem des Begriffs der Zivilgesellschaft, das in der Regel ungesehen bleibt,2 im Folgenden aber – im weltgesellschaftlichen Kontext – zum zentralen Thema gemacht wird. Schnell fällt dabei ins Auge, dass sich das Problem ‚Zivilgesellschaft‘ auf globaler Ebene gänzlich neu stellt: Üblicherweise wird eine Zivilgesellschaft durch Teilhabe der Bürger an staats- und marktfernen Gruppen oder Institutionen definiert, die sich für das Gemeinwohl interessieren. Dass dabei ein staatsorientierter Gesellschaftsbegriff mitläuft – im 18. Jahrhundert sprach man von der Zivilgesellschaft sogar als „Staatsgesellschaft“ –, ist offensichtlich.3 Im Rahmen einer globalen Betrachtung kann dieser Begriff nicht 1  Shils,

S. 19. 2002, S. 53 f. und Nassehi 2000. 3  Vgl. auch Luhmann 1989, S. 139. 2  Heins

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einfach übernommen werden. Um die soziologische Fragestellung nach der Konstitution von ‚Weltzivilität‘ in einem überschaubaren Rahmen zu halten, knüpfen die folgenden Überlegungen an eine von Niklas Luhmann inspirierte Minimalbestimmung des Begriffs der Zivilgesellschaft an, insofern das Luhmann’sche Theorem funktionaler Differenzierung weltgesellschaftliche Kommunikationsverhältnisse unterstellt, in denen Erwartungen möglicher physischer Gewalt deutlich eingeschränkt erscheinen. Gestrichen werden die von Luhmann etwas polemisch als „alteuropäisch“ titulierten, gemeinwohlorientierten Konnotationen, die im Diskurs über die Civil Society enthalten sind.4 Mitgenommen werden dagegen die im engeren Sinne ‚zivilen‘ Momente, nämlich die Entlastung von den Risiken gewaltsamer Selbsthilfe und die Denormalisierung der Gewalt in alltäglichen Erfahrungskontexten. Damit wird ein semantisch ‚abgekühlter‘ Begriff der zivilen Gesellschaft eingeführt. Die konstitutiven Bedingungen dieser ‚Weltzivilität‘, nicht aber die Funktionen privater Akteure und NGOs sind im Folgenden Thema. Die genauere Analyse des Verhältnisses von Weltgesellschaft und Gewalt wird allerdings auch zeigen, dass keineswegs eine globale Gewaltfreiheit unterstellt werden darf, sondern dass diese Weltzivilgesellschaft recht ‚tolerant‘ gegen physische Gewaltphänomene aller Art ist und sich dies in einem gewissen Rahmen auch ‚leisten‘ kann. Dieses globale Gewaltrisiko5 wirft die Probleme der Gewaltkontrolle und der gewaltfreien Regulierung von Konflikten auf. Aber die Organisation gewaltbewältigender Gewalt stellt sich im Weltmaßstab anders dar als auf nationalgesellschaftlicher Ebene, da die Institution Staat hier nur im Rahmen einer segmentär differenzierten und pluralen Struktur verfügbar ist, die sich bei näherer Betrachtung als hochgradig komplex und konflikthaltig herausstellt. Wie aber kann unter solchen komplexen Bedingungen die Aufgabe einer globalen Gewaltbewältigung, die die Mindestbedingung für die Rede von einer globalen Zivilgesellschaft darstellt, erfüllt werden? Argumentativ wird die Problemstellung – d. h. die Frage nach der Gewaltbewältigung in der Weltgesellschaft – in einer dualen Perspektivierung angegangen. Einerseits wird die Perspektive der innovativen Gewaltforschung eingenommen – das heißt jener „Soziologie der Gewalt“, wie sie von Trutz von Trotha und anderen im Anschluss an Heinrich Popitz theoretisch skizziert und in empirische Forschung übersetzt wurde.6 Zentrales Problem dieser Soziologie sind Ordnungskonstitution, Gewaltbewältigung durch Gewalt und die damit wiederum verbundenen Risiken. Aus dieser 4  Luhmann

2000, S. 10–13; 221. Beck spricht treffend von einer „Weltrisikogesellschaft“. 6  Nedelmann; Trotha 1997; vgl. auch den Überblick von Endreß. 5  Ulrich



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Perspektive stellt sich die Frage, wie es im globalen Rahmen gelingt, Zivilität abzusichern. Andererseits wird auf das systemtheoretische Konzept der Weltgesellschaft Bezug genommen, wie es Luhmann entwickelt hat. Hierbei handelt es sich um ein theoretisches Modell, das ‚Gesellschaft‘ nicht mehr an territoriale Raumgrenzen gebunden sieht, sondern von der funktionalen Differenzierung ausgeht und die differenzierten Funktionssysteme an operative Sinngrenzen bindet, die „keinen territorialen Index“7 tragen und daher eine Tendenz zur Globalisierung aufweisen. Unter Bezug auf diese Theorie wird ein Modell der Weltzivilgesellschaft entworfen, dass es erlaubt, Orte und Funktionen der Gewalt mitzudenken. In dieser doppelten Perspektivierung wird die Antwort auf die Frage nach einer über den Raum des Staates hinaus wirksamen und letztlich globalen Gewaltbewältigung gesucht. Es wird die These entfaltet, dass diese Gewaltbewältigung durch das globale Sicherheitsdispositiv geleistet wird. Globale Sicherheit wird dabei als eine politische Ordnungsform angesehen, die auch militärische Handlungsoptionen beinhaltet. Im Einzelnen wird zunächst ausführlich der Fokus der Soziologie der Gewalt rekonstruiert. Dieser liegt einerseits auf der anthropologischen Grundthese der Unhintergehbarkeit der Gewalt und andererseits in der Untersuchung der Mittel und Möglichkeiten der Gewaltbewältigung. Insofern diese Bewältigung nicht ohne Gewalt auskommt, handelt es sich um eine konstitutionstheoretische Sichtweise (Kapitel II). Im Anschluss an diese Rekonstruktion wird ein Verständnis von Zivilgesellschaft vorbereitet, das diesen Begriff als beschreibende soziologische Kategorie verwendet. Anhand des Verhältnisses von Militär und Zivilgesellschaft wird illustriert, dass Zivilität eine gesellschaftliche Verfassung bezeichnet, die das Militär auf eine bestimmte Weise funktional inkludiert. In einer Zivilgesellschaft erweist sich das Militär als untergeordnetes Subsystem der Politik, wobei es eine zwar eigenständige, aber dennoch zivilgesellschaftskonforme Subkultur entwickelt (Kapitel III). Anschließend an diese Überlegungen wird der Bezugsrahmen verschoben. In der Regel wird der Begriff der Zivilgesellschaft auf einen nationalen Rahmen bezogen und damit eine globale Perspektive von vornherein erschwert. Im Anschluss an Luhmann wird dagegen der Versuch unternommen, einen soziologisch beschreibenden Begriff der Welt-Zivilgesellschaft einzuführen. Funktionale Ausdifferenzierung im globalen Maßstab (= Weltgesellschaft) impliziert demnach, dass innerhalb der Funktionssysteme die Kommunikationsoption ‚Gewalt‘ denormalisiert wird (Kapitel IV). Dass diese Weltzivilgesellschaft allerdings 7  Stichweh

2000, S. 18.

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keine globale Gewaltfreiheit impliziert, sondern vielfältige Orte und Gelegenheiten der Gewalt beinhaltet, sollen die darauffolgenden Überlegungen zeigen (Kapitel V). In Folge dieser Perspektivenverschiebung erscheint die Herstellung der globalen Sicherheitsordnung als eine zentrale Leistung der Weltpolitik für die Weltgesellschaft, denn sie stellt eine wesentliche Voraussetzung für die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme dar (Kapitel VI). Weil die gewaltsoziologische Perspektive insbesondere nach der ‚Gewaltbewältigung durch Gewalt‘ fragt, wird anschließend die Funktion des Weltmilitärs untersucht (Kapitel VII). Abgeschlossen wird der Beitrag mit Überlegungen zur Bedeutung des Politischen in der Weltgesellschaft, womit postpolitische Sichtweisen herausgefordert werden sollen (Kapitel VIII). II. Gewalt und Gesellschaft in der soziologischen Theorie Am soziologischen und sozialwissenschaftlichen Umgang mit Gewaltphänomenen werden fundamental unterschiedliche, aber zumeist unthematisch bleibende Voraussetzungen des wissenschaftlichen Zugangs zu sozialen und politischen Problemen deutlich. Im Wesentlichen lassen sich zwei verschiedene Herangehensweisen unterscheiden. Auf der einen Seite stehen ätiologische Forschungsansätze, die sich auf die Ursachen und Gründe von Gewalt in sozialen und politischen Verhältnissen konzentrieren. Diese Sichtweise fasst Gewalt letztlich als ein anomisches Problem: Gewalt erscheint als Ausdruck einer sozialen Störung oder Dysfunktion, als Folge und Phänomen gesellschaftlicher Desintegration oder eines strukturellen Ungleichgewichts in den sozialen Beziehungen. Allenfalls gilt die statistisch ermittelte Rate des abweichenden Verhaltens als ‚normal‘.8 Gewalt wird somit als sozialtechnisches ‚Problem‘ und als eine Art ‚Friktion‘ in sozialen Prozessen betrachtet. Eine solche Sicht auf die Gewalt teilen so unterschied­ liche Ansätze wie die Desintegrationstheorie Wilhelm Heitmeyers, die Friedensforschung Johan Galtungs, das Kommunikationsparadigma Niklas Luhmanns oder die ätiologische Kriegsforschung, wie sie Klaus Jürgen Ganzel vertritt. Diese Perspektive enthält drei mehr oder weniger stark ausgeprägte Voraussetzungen. Erstens eine normative – ‚Gewalt ist böse‘ –, zweitens eine sozialanthropologische – ‚menschliches Zusammenleben ist von Natur aus friedlich‘ – und drittens eine sozialtheoretische – ‚die moderne Gesellschaft ist an sich frei von ungeregelter Gewalt und somit eigentlich immer schon Zivilgesellschaft‘. Gewalt sei dagegen in allen Formen sozialwissenschaftlich ableitungsbedürftig. Sie wird somit als abhängige Größe begriffen, was auch zur Folge hat, dass sie anderen Formen sozialer Anomie 8  Vgl.

Durkheim, S. 292.



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beigeordnet oder mit Machtphänomenen gleichgesetzt wird.9 Ihren spezifischen Qualitäten kommt in der wissenschaftlichen Analyse daher in der Regel nur eine sekundäre Bedeutung zu. Das Erkenntnisinteresse dieser Ansätze ist immer auch ein konstruktivistisch-sozialpolitisches Interesse, nämlich einen Beitrag dazu zu leisten, Gewalt und soziale Störungen auszumerzen oder zumindest zu reduzieren. Gerade im Kontext der Friedensforschung legt die Ätiologie sehr viel Wert auf die Ermittlung nicht nur von Konfliktursachen und Konflikttypen, sondern auch auf die Mittel ihrer Auflösung. Damit steht sie natürlich selbst im Kontext der Macht, d. h. sie generiert Wissen, das Ordnung und Sicherheit stabilisieren soll. Aufgrund dieses praktisch orientierten Erkenntnisinteresses eigenen sich ätiologische Perspektiven sehr gut, um die Ölfelder der Forschungsförderung anzubohren. Die theoretischen Risiken dieser Perspektive allerdings liegen, erstens, in naheliegenden kulturkritischen Reflexen: Wenn nämlich Individualisierung, Wertediffusion, Ausdifferenzierung und Abweichung als prinzipielles Problem der Moderne erscheinen.10 Zweitens neigen ätiologische Ansätze dazu, die Bedeutung der Gewalt für soziale Konstitutionsprozesse zu unterschätzen. Auf der anderen Seite stehen Forschungsansätze, die primär nach der Rolle der Gewalt bei der Konstitution sozialer Ordnung und sozialer Subjektivität fragen. Die immer gegebene Möglichkeit sozialer Gewalt erscheint in den konstitutionstheoretischen Ansätzen nicht nur als ein Element sozialer Ordnung, sondern zudem als Auslöser und Motiv für die Herausbildung gesellschaftlicher Ordnungsformen. Gewalt wirft demnach immer auch die Frage nach ihrer Kontrolle auf. Jede soziale Ordnungsform muss, so oder so, eine Antwort auf diese Frage finden. Zugleich bleibt die Möglichkeit der Gewaltausübung aber immer gegenwärtig, weshalb sich auch die Frage stellt, in welcher Form und in welchen Strukturen sie in die Herausbildung kollektiver Ordnungen eingeht. Diese Theorien gehen somit von dem Problem der Normalität der Gewalt aus. Dieses erscheint in doppelter Form: Einerseits ist die Möglichkeit gewaltsamen Handelns der körperlichen Verfassung des Menschen mitgegeben; andererseits ist die Gewalt notwendiges Moment sozialer Ordnungsinstitutionen. Konstitutionstheoretisch liegen eine Reihe disparater Ansätze vor. Heinrich Popitz hebt die Bedeutung der Gewalt für die Gewaltbewältigung hervor. Ähnlich thematisiert Luhmann die Funktion der Gewalt im politischen System. Trutz von Trotha untersucht die Diversität der Ordnungsformen der Gewalt, während Hans Joas’ Handlungstheorie sich auf die Rolle ist beim Begriff der „strukturellen Gewalt“ (Johan Galtung) der Fall. Nassehi 1997, insbes. S. 126.

9  Letzteres 10  Dazu

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der Gewalterfahrung für die Herausbildung kollektiver Werte konzentriert. Der Systemtheoretiker Armin Nassehi provoziert, indem er nach dem Funktionssinn des Krieges fragt.11 Andere Wissenschaftler betonen den Zusammenhang zwischen Gewalt und Subjektkonstitution, indem sie entweder, wie Norbert Elias, auf die Bedeutung der Selbstdisziplinierung für die Zivilisierung des gesellschaftlichen Binnenraums und damit für die Entstehung komplexer Handlungsketten, funktionaler Ausdifferenzierung und moderner Individualisierung hinweisen oder indem sie, wie Michel Wieviorka oder François Dubet, den Identitätssinn von Gewalt unter hypermodernen Individualisierungsbedingungen thematisieren.12 Konstitutionstheoretischen Ansätzen liegen ebenfalls normative, anthropologische und sozialtheoretische Prämissen zu Grunde; allerdings werden sie von den Autoren häufiger explizit thematisiert. Das theoretische Risiko der konstitutionstheoretischen Sicht stellen Gewaltapologien dar, für die Autoren wie George Sorel, Ernst Jünger oder Carl Schmitt stehen. Jenseits dieser Ansätze aber orientieren sich die Konstitutionstheorien an der ethischen Prämisse, Gewalt und Machtwillkür möglichst zu begrenzen. An der Beurteilung des Rechts zeigt sich der Unterschied zwischen bejahender Gewalt­ apologie und kritischer Konstitutionstheorie im hier gemeinten Sinne: Gilt Recht als bloßes Machtinstrument oder wird es als Gewalt und Macht einschränkende Institution wahrgenommen?13 Ein weiteres, hiermit eng verbundenes Differenzierungsmerkmal ist der Begriff des Politischen. Reduziert sich Politik auf Machterhalt und -ausdehnung oder liegt ihr Sinn im Erhalt des Friedens und der Orientierung an verallgemeinerbaren Werten? Hat der Recht, der auch die Macht hat oder ist von einem Spannungsverhältnis zwischen Macht und Norm auszugehen?14 11  Hauke Brunkhorst etwa bezichtigte Nassehi aufgrund seiner Analyse der Funktion des Krieges, eine „jungkonservative Botschaft“ zu verbreiten. 12  Vgl. Popitz 1992; Luhmann 1988; Hanser / Trotha; Joas 2000; 2011, S. 108 f.; Nassehi 2006, S. 359–366; Elias, Wieviorka; Dubet. 13  Vgl. Spreen 2010b. 14  Dies weiter auszudiskutieren, ist hier nicht der Ort. Vgl. dazu die ausführliche Diskussion der Position Carl Schmitts in Spreen 2008a. Hinzuzufügen ist hier jedoch, dass Schmitt seine Pointe bereits in der Frühschrift zum „Wert des Staates“ vorbereitet. Hier gilt das Recht als „abstrakter Gedanke“ und der Staat als „Medium“, der es zu verwirklichen sucht (Schmitt 2004, S. 42, 75). Diese scheinbar starke Entgegenstellung von „Macht“ und „Recht“ läuft darauf hinaus, das Recht zahnlos zu machen und die Faktizität der Macht zu rechtfertigen. Und so heißt es dann auch doppelbödig: „Das Recht ist nicht im Staat, sondern der Staat ist im Recht.“ (S. 52) An anderer Stelle schreibt er: Der „absolute Herrscher ist über alle Relativitäten des Zeitlichen erhaben […], er hat keine Launen und Ergötzungen mehr, er ist eben ganz ‚Gesetz‘.“ (S. 95). Dass Macht- und Gewaltapologien darüber hinaus keineswegs ein Monopol der radikalen politischen Rechten darstellen, kann bereits ein Hinweis auf



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Insofern konstitutionstheoretische Ansätze die Einschränkung der Gewalt an ausweisbare normative Orientierungen und historische Erfahrungen binden, halten sie weder den Menschen für an sich gut noch die Gesellschaft für einen natürlicherweise gewaltarmen Raum. Das Verhältnis des Menschen zur Gewalt erscheint vielmehr als ausgesprochen ambivalent. Da er zugleich verletzungsmächtig und verletzungsoffen ist, kann er als individuelles wie als kollektives Subjekt sich immer der Gewalt bedienen oder sich von ihr bedroht fühlen, sie zurückweisen oder sie legitimieren. Letztlich, so lässt sich dies zusammenfassen, ist soziologisch mit Gewalt schlicht und ergreifend zu rechnen. Sie ist eine unabhängige Variable, deren spezifische Phänomenalität ins Auge zu fassen ist. Erklärungsbedürftig sind daher nicht zuerst ihre Ursachen, sondern ihre Funktionen und Formen. Zudem ist zu klären, warum das soziale Beieinander und das gesellschaftliche Sein vielen Beobachtern so erscheint, als seien Gewalt, Konflikt und Krieg nur anomische Randphänomene. Dies ist explizit die Perspektive der sog. „innovativen Gewaltforschung“ bzw. der „Soziologie der Gewalt“.15 So unterschiedlich konstruktivistisch-anomietheoretische und kritischkonstitutionstheoretische Herangehensweisen auch erscheinen mögen – es ist natürlich nicht unmöglich, hier Brücken zu bauen. Erstens ist das Forschungsmotiv ähnlich, nämlich Gewalt und Willkür zu begrenzen. Und zweitens gehen auch konstitutionstheoretische Herangehensweisen in der Regel von einem gesellschaftlichen Zivilisierungsprozess aus, der dazu führt, dass Gewalt an den Rand gedrängt wird, welche damit im sozialen Alltag zur anomischen Erscheinung und in der politischen Welt zum Ausnahmezustand wird.16 Vor diesem Hintergrund macht die Untersuchung der spezifischen Bedingungen ‚abweichender‘ Gewalt natürlich Sinn, wennden Syndikalisten Georges Sorel verdeutlichen. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass neuere postkritisch-linke Theorieansätze stark auf Schmitt Bezug nehmen und hierbei einen nur als ‚unkritisch‘ zu bezeichnenden Umgang mit Schmitts politischer Theorie pflegen (zum Beispiel Giorgio Agamben oder Chantal Mouffe). Schmitts Position läuft darauf hinaus, die Selbstbegrenzung von staatlicher Macht und Gewalt qua Recht und Gesetz im modernen Verfassungsstaat zu denunzieren. 15  Trotha 1997. 16  Allerdings wird diese Zivilisierung als brüchiges und gefährdetes Ergebnis eines Prozesses der Institutionalisierung von Macht angesehen. Solche Institutionalisierungsprozesse sind keine Selbstläufer der ‚sozialen Evolution‘, sondern sie können ebenso gut ‚rückwärts‘ (also als Deinstitutionalisierung) ablaufen. Zudem sind sie auf individuelle und kollektive Akteure verwiesen, die eben – da frei und autonom – so oder so handeln können. Zivilisationsbildung ist keine Selbstverständlichkeit (Trotha 1994, insbes. S. 2 f., 6 ff., 15 ff.; vgl. Mann, S. 65–125). Vor dem leichtfertigen Umgang mit Gewaltbeschränkungen etwa im Kontext der Privatisierung von Sicherheit oder der Veränderung des Strafrechts seitens der Politik wird daher vernehmlich gewarnt (so u. a. Trotha 2000).

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gleich zu verlangen ist, dass sie kritisch auf ihre impliziten politischen und machtsoziologischen Voraussetzungen reflektiert und begriffliche Unschärfen eliminiert. Im Zentrum der Soziologie der Gewalt steht die Erforschung von Gewalterfahrungen, von sozialen Folgen und Funktionen von Gewalt sowie die Analyse der Bedingungen der Gewaltbegrenzung. Diese Aspekte hängen eng miteinander zusammen, da die Erfahrung und die Antizipation von Gewalt und Machtwillkür wesentlich die Genese gesellschaftlicher Institutionen der Gewaltbeschränkung motivieren, diese Institutionen aber selbst wiederum auf der Möglichkeit der Gewaltausübung beruhen. In der deutschen Gegenwartssoziologie wird dieser Problemkomplex vor allem durch Heinrich Popitz und die an ihn anschließende Forschungstradition thematisiert. Popitz stellt die Analyse von Machtprozessen in den Mittelpunkt seiner Soziologie und spricht der Gewalt als körperlich verletzender Aktionsmacht dabei eine erhebliche Bedeutung zu. Auf der einen Seite ist es die Möglichkeit der Gewaltanwendung, die die Geltung von Normen sicherstellt.17 Auf der anderen Seite sind es spezifische Erfahrungen mit der Normalität von Machtwillkür und Gewalt, die zu ihrer Eingrenzung führen. Institutionen wie Herrschaft des Gesetzes, Grund- und Menschenrechte, Gewaltenteilung, Demokratie und soziale Sicherheit beschränken die Möglichkeiten der Not und der Ohnmacht. Sie fesseln Macht und Gewalt, bleiben aber zugleich unhintergehbar im „Teufelskreis der Gewaltbewältigung“18 gefangen. Dieser besteht darin, dass jede Eingrenzung der Gewalt wiederum auf Gewaltmitteln beruht. Soziologisch gesehen fällt der macht- und gewaltbegrenzende Normen- und Wertekontext moderner Zivilgesellschaften also nicht vom Himmel, sondern ist das Ergebnis eines historischen Prozesses der Institutionalisierung von Herrschaft und der gleichzeitigen Einhegung der Gewalt. Dabei erweist er sich als ein Prozess, der mit Gewalt- und Unrechtserfahrungen konstitutiv vermittelt ist.19 In Anlehnung an Richard Thurnwald lässt sich hier auch von einem Prozess der „Selbstdo17  Ein Gedankengang, der auf Immanuel Kant zurückgeht. Kant verweist darauf, dass das Recht der Durchsetzungsmacht bedarf, um in der sozialen Realität Geltung beanspruchen zu können. 18  Popitz 1992, S. 66. 19  Ebd., S. 61–62. Ebenso sind die Menschenrechte nicht als Resultat einer gradlinigen ideengeschichtlichen Entwicklungsgeschichte, sondern „als das Ergebnis von konflikthaft verlaufenden gesellschaftlichen Lernprozessen“ beziehungsweise als „Antworten auf Unrechtserfahrungen“ zu verstehen (Bielefeldt, S.  137 f.). Vergleichbar argumentieren auch Hans Joas und Axel Honneth. Joas begreift Menschenrechte als Werte, die im Kontext einer tendenziell globalen Öffentlichkeit aus diskursivdeutend transformierten Gewalterfahrungen resultieren (Joas 2011, S. 108–146). Honneth sieht in Missachtungserfahrungen – das umfasst Erfahrungen physischer Verletzung, des sozialen Ausschlusses und der sozialen Degradierung – Anlässe, an



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mestikation, der wachsenden Vergesellschaftung des Menschengeschlechts“ sprechen.20 Mit der Akzentuierung der Gewaltbewältigung votiert Popitz, und mit ihm die Soziologie der Gewalt, für einen Begriff des Politischen, der nicht in der bloßen Faktizität von Herrschaft, Zwang und Gewalt aufgeht, sondern der die soziale Ordnungsleistung auf einen normativen Anspruch bezogen sieht, der auf die Einschränkung der Gewalt und die Herstellung von Sicherheit, Frieden und Recht abzielt. Sicherheit umfasst dabei am Ende auch den Schutz der Bürger vor dem machtüberlegenen Staat – ein Schutz, der durch Rechtstaatlichkeit und deren Bezug auf Grund- und Menschenrechte, Gewaltenteilung und demokratische Kontrolle einigermaßen belastungsfest gemacht werden kann.21 Grundsätzlich ist „Macht“ – d. i. nach Luhmann das ‚Medium‘ des Politischen – für Popitz „rechtfertigungsbedürftig“, weil sie immer eine „Freiheitsbegrenzung“ darstellt.22 Macht kann sich also nicht aus überlegener Stärke rechtfertigen; selbst der „Ordnungswert der Ordnung“23, d. h. die Tatsache, dass eine berechenbare soziale Ordnung immer schon eine Sicherheit darstellt, stellt eben einen ‚Wert‘ dar und verweist damit auf eine stabilisierende Selbstbindung der Macht, die über Willkür und Überlegenheit hinausweist. Popitz’ Soziologie der Macht präferiert damit einen Begriff des Politischen, der diesen in einem Spannungsverhältnis zwischen Machtwirklichkeit und normativen Ansprüchen bzw. Bindungen situiert.24 Reformuliert man das im Diskurs der politischen Theorie, so votiert Popitz damit gegen Carl Schmitt und mit Dolf Sternberdenen sich soziale Anerkennungskonflikte entzünden können, die zu institutionellen Garantien sozialer Achtung führen können (Honneth 1992, S. 212–225). Methodologisch heißt das, dass Gewalterfahrungen im Kontext ihrer gesellschaftlichen Thematisierungen zu analysieren sind. Man kann erstens nicht von einem Automatismus der ‚Wirkung‘ ausgehen. Denn Formen der institutionellen Absicherung sind keine selbstverständliche Folge von Gewalt- und Missachtungserfahrungen, sondern mögliche Ergebnisse sozialer Konflikte und entsprechender Diskurse, die aus diesen Erfahrungen resultieren können. Zweitens kann die Thematisierung von Gewalt nicht angemessen als ‚Effekt‘ einer ‚diskursiven Konstruktion‘ verstanden werden. Denn ihre sinnlich-leibliche Erfahrung bildet den motivationalen Anlass für einen Gegendiskurs. Das führt auf einen Ansatz, der Gewalterfahrungen und sie auslegende Diskurse aufeinander bezieht, also auf einen „diskurs- und erfahrungsorientierten Zugang“ (Spreen 2008a, S. 54–75; 2010a, S. 73–82). 20  Thurnwald, S. 15; vgl. ebd., S. 188. 21  Popitz 1992, S. 65. 22  Ebd., S. 17. 23  Ebd., S. 221–227. 24  Dass das Politische nicht schlicht einen Raum der Machtfaktizität darstellt, sondern vielmehr als ein „Spannungsverhältnis“ zwischen Macht- und Norminstitutionen zu verstehen ist, zeigt Thomas Kater in seiner bislang (leider) unveröffentlichten Habilitationsschrift (Kater 2003).

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ger für einen Begriff des Politischen, der besagt, dass in das Politische immer schon der Anspruch auf eine friedliche und stabile soziale Ordnung eingelassen ist.25 An diesen Begriff des Politischen – der allerdings mit dem Schmitts zumindest noch die Ähnlichkeit aufweist, dass er nicht auf die Form des Staates zu begrenzen ist26 – wird auch im Weiteren angeschlossen. Er spielt bei der Diskussion nichtstaatlicher Formen der Gewaltbewältigung ebenso eine Rolle, wie bei der begrifflichen Beschreibung der globalen Sicherheitsordnung der Gegenwart.27 Eine grundsätzliche Erweiterung erfährt Popitz’ Machtsoziologie im Rahmen der Analyse alternativer „Ordnungsformen der Gewalt“ durch Trutz von Trotha. In Anlehnung an Ergebnisse und Theorien der Ethnologie entwirft Trotha zunächst ein sozialtheoretisches Panorama, in dem drei Formen der Gewaltbegrenzung beherrschend erscheinen. Erstens die ‚primitive‘ Ordnung im Schatten der gewaltsamen Selbsthilfe, zweitens die ‚primitive‘ Ordnung im Schatten des ‚rohen‘ Despotismus und drittens die fast vollständige Zurückdrängung der Gewalterwartung aus dem gesellschaftlichen Alltag im Rahmen der wohlfahrtsstaatlichen Ordnung und veralltäglichten Herrschaft. Der erste Ordnungstyp basiert auf der „Allgegenwärtigkeit des Abgrundes, der Drohung, das Recht der gewaltsamen Selbsthilfe in Anspruch zu nehmen.“28 In akephalen Gesellschaften „herrscht ‚Warre‘ “. Diese ‚Herrschaft‘ meint nicht, dass dieser Krieg aller gegen alle manifest werden muss, sondern nur, dass er den Horizont allen sozialen Handelns in der ‚primitiven‘ Ordnung bildet. „ ‚Warre‘ ist der unterschwellige Boden der ‚primitiven‘ Ordnung. Und damit es nicht zum offenen gewaltsamen Konflikt kommt, wird eine Ordnung errichtet, die in allen ihren vielfältigen Arrangements von dem Prinzip geleitet wird, Vorkehrungen gegen das Hereinbrechen der Gewalt zu treffen.“29 In der ‚primitiven‘ Gesellschaft erweist sich die Gabe als das zentrale Mittel, um den Frieden herzustellen. „Der Handel mit Tontöpfen, das Angebot der Blutgeldzahlung in Vieh sind immer zugleich politische Verträge“, d. h. das Politische kommt „im Kleid des Gesellschaftlichen“ daher.30 Die Reziprozität der Gabe ist für Trotha daher nicht das ‚friedliche Urprinzip‘ des Sozialen, sondern ein spezifischer Ordnungsmechanismus, der dem Sog gewaltsamen Streits entgegen steht.31 Sternberger. Schmitt 1963, S. 20–24. 27  Siehe unten. 28  Trotha 1987, S. 107. 29  Ebd. 30  Trotha 1986, S. 10. 31  Trotha schließt damit an Überlegungen von Popitz an, die dieser schon in seiner Freiburger Einführungsvorlesung entfaltet hat. Siehe insbes. Popitz 2010, S. 175. 25  Vgl. 26  Vgl.



Weltzivilgesellschaft und Gewalt43

Der zweite Ordnungstyp basiert auf der Gewaltdrohung durch einen distanzierten, ungelenken und rohen Despotismus. Dessen Drohung führt dazu, dass die gewaltsame Selbsthilfe zurückgedrängt wird. Denn wer gewaltsam streitet und hadert, muss mit dem brutalen Eingriff eines übermächtigen Dritten – zum Beispiel eines despotischen Agrarstaates oder eines kolonialen Regimes – rechnen. Erst unter dieser Bedingung gelingt die Verdrängung der gewaltsamen Selbsthilfe und damit die Implementierung von kommunikativen Streitlösungsverfahren wie Verhandlung oder einfache gerichtliche Verfahren.32 Der Despotismus erhebt also Anspruch auf das Gewaltmonopol und dieses „enthält die Grundform des Rechts.“33 Erst durch die Möglichkeit, mit übermächtiger, roher Gewalt zu drohen, entsteht – so auch schon Thurnwald – die Idee der Gerechtigkeit: „Günstig für die Ausgestaltung des Rechtslebens waren die Despotien […]. Hier war eine Autorität entstanden, die von der Bindung an Klan und Sippe, an ethnische Gruppen oder Berufsstand prinzipiell losgelöst war, die sich an die Streitenden persönlich nicht gebunden fühlte und daher die auf die Waagschalen gehäuften Argumente jeder Partei ausbalancieren lassen konnte. Nur so vermochte der Gedanke einer ‚Gerechtigkeit‘ Platz zu greifen, den die ‚autoritätslosen‘ Gesellschaften in solcher Losgelöstheit von der Persönlichkeit oder Partei überhaupt nicht kannten.“34 Der dritte Ordnungstyp meint das staatliche Gewaltmonopol und die Selbstbindung staatlicher Gewalt im modernen demokratischen Verfassungsund Wohlfahrtsstaat. Er bezeichnet, was Popitz die „Veralltäglichung zentrierter Herrschaft“ nennt, d. h. die Tatsache, dass die politische Gewalt nicht mehr fern des Alltags steht, sondern dessen Rahmenbedingungen durch und durch strukturiert.35 Erst unter diesen Bedingungen kommt es zur Konstitution einer im Kern ‚zivilen‘ Gesellschaft, d. h. einer Gesellschaft, in der Kommunikation und friedliche Verkehrsformen normal und ‚natürlich‘ erscheinen. Dass diese Konstitution eng mit einer entsprechenden Selbstdomestikation des Subjekts einhergeht, liegt auf der Hand. Heroische Subjektivität wird an den Rand verwiesen, d. h. in militärische oder aristokratische Subkulturen und Gemeinschaften abgeschoben oder als anomische Erscheinung wahrgenommen.36 Trotz dieser weitreichenden Gewalteinhegung bleibt Gewalt allerdings ein wirkmächtiger Vorstellungsgehalt. Denn es kommt zu einer „Emanzipation des Gewaltverdachts“. Damit meint Trotha, „erstens, die Entgrenzung des Verdachts, Gewalt zu erfahren, aus bestimmten BezieTrotha 1986, S. 16–27; Trotha 1987, S. 110–115. 1994, S. 35. Zu den Einschränkungen dieser Aussage ebda. 34  Thurnwald, S. 3 f.; vgl. Trotha 1987, S. 78 f. 35  Popitz 1992, S. 258–260. 36  Münkler. Der Text ist ebenfalls in diesem Band enthalten. 32  Vgl.

33  Trotha

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hungen und, zweitens, die Entgrenzung des Gewaltbegriffs selbst.“37 Das bedeutet, dass in allen möglichen Beziehungen auf Anzeichen geachtet wird, in denen sich ‚Aggressionen‘ ausdrücken könnten. Die Generalisierung des Verdachts bewirkt, dass Gewalt eine Wirklichkeit der Symbole und Zeichen wird, „die leibhaftige Erfahrung der Gewalt ist ‚anderswo‘.“38 In den Sicherheitsräumen des Rechts- und Wohlfahrtsstaates wird ‚Gewalt‘ damit auch zu einem Diskursphänomen. Diese Entgrenzung des Gewaltverdachts wird von einer Konjunktur diffuser, unscharfer und erweiterter Gewaltbegriffe in den Sozialwissenschaften – wie etwa dem Begriff der „strukturellen“ oder „kulturellen Gewalt“39 –, von einer generellen Tendenz zur Skandalisierung sozialer Missstände als ‚Gewalt‘ in der Öffentlichkeit40 und von einer systematischen Verwechselung fiktionaler und faktionaler Gewalt in einer pädagogisch inspirierten Medienkritik begleitet.41 Dass die leibhaftige Gewalt ‚woanders‘ stattzufinden scheint, verweist auch darauf, dass körperliche Gewalt in den gegenwärtigen Industrie- und Dienstleitungsgesellschaften nicht mehr als Kernproblem der Vergesellschaftung wahrgenommen wird. Die Gesellschaft versteht sich als eine zivile Gesellschaft, in der die rohe Verletzung jenseits des alltäglichen Erwartungshorizonts der Menschen liegt. Insofern hat die Gesellschaft der Gegenwart zwar „die Gewalt gezähmt“, allerdings lässt sie sich den „Schein der Gewalt“ nicht nehmen.42 Der „Schrecken der Gewalt“ (Trotha) bleibt dabei erhalten, d. h. Gewaltvorstellungen bleiben auf das Wissen um die Folgen leiblicher Versehrung verwiesen. Damit weist Trotha (wie auch schon Popitz) darauf hin, dass das soziologische Verständnis moderner Zivilgesellschaften weiterhin auf das Problem der Möglichkeit von Gewalt bezogen bleiben muss. Auch diese Gesellschaften ‚kreisen‘ um das Problem, die Gewalt im Alltag möglichst latent zu halten. Zu diesem Zweck setzten sie allerdings andere und deutlich erfolgreichere Mittel ein, als die ‚primitiven‘ gesellschaftlichen Ordnungsformen. In diesem Kontext muss auch die gesellschaftliche Funktion medialer Gewalt (also fiktiver Gewalt als Spannungsmittel in medialen Konsumangeboten) verortet werden. Im Kino und vor den Bildschirmen wird Gewalt zu einer ästhetisch-zweckfreien Erfahrung, die realweltliche und gewaltaffirmative Bezüge durch künstlerische Artifizialität und in der Regel am Gewaltverbot orientierte werkimmanente Bewertungen gerade ausschließt und da37  Trotha 38  Ebd.

1986, S. 31.

Galtung. Cremer-Schäfer. 41  Vgl. Spreen 2012. 42  Trotha 1986, S. 48.

39  So

40  Dazu



Weltzivilgesellschaft und Gewalt45

her, wie Thomas Hausmanninger betont, eine Domestikationsfunktion erfüllt. Der gewalthaltige Film „hält bewusst, dass es auch in einer gewaltdomestizierenden Kultur und Gesellschaft nicht gelingt, Gewalt einfach auszugrenzen. Auf diese Weise vermag er die Sensibilität für Gewaltphänomene bzw. für gewaltanaloge Erscheinungen zu schärfen […].“43 Die Ubiquität me­ dialer Gewalt müsse daher ebenfalls als gewaltdomestizierendes Element im Teufelskreis der Gewaltbewältigung durch Gewalt gesehen werden – als ein Element, das das staatliche Gewaltmonopol und die Zivilisierung der zentrierten Herrschaft auf der kulturellen Ebene ergänzt.44 In späteren Studien ergänzt Trotha das skizzierte dreistufige sozialtheoretische Panorama durch weitere Untersuchungen zu Ordnungsformen der Gewalt. Untersucht werden dabei auch Ordnungsformen, die sich im Zuge des Zerfalls kolonialer und staatlicher Herrschaft herausbilden. Auch wenn sich die Fragestellung damit in Hinblick auf neue und gegenwärtige Formen der Gewaltordnung verschiebt, ändert sich die grundsätzliche soziologische Perspektive nicht, nämlich die konstitutionstheoretische Fragestellung, die von dem Normalitätsproblem der Gewalt ausgeht.45 Das Kernproblem der „Soziologie der Gewalt“ ist daher die Einfriedung der Gewalt im Kontext zivilisatorischer Domestikationsprozesse. Aufgrund der fundamentalen Verletzungsmächtigkeit und Verletzungsoffenheit des Menschen bleibt dieses Problem immer virulent und erweist sich als wesentlicher Funktionsbereich sozialer Ordnung – auch und gerade ‚ziviler‘ Vergesellschaftungsformen, die bei aller Diskursivierung und Fiktionalisierung zuletzt auch dem Schrecken der Gewalt verhaftet bleiben. Im Unterschied zu ätiologischen Ansätzen geht die Gewaltsoziologie daher davon aus, dass die Konzeption von Gewalt als Devianz, Abweichung, Kriminalität oder Anomie zu kurz greift. Vielmehr erscheint soziale Friedfertigkeit als Ergebnis eines Prozesses der Selbstzivilisierung, der soziologisch als ein Prozess der Institutionalisierung 43  Hausmanninger

2002b, S. 276. warnt vor „media deinstitutionalization of cruelty“ (Trotha 2011a; ähnlich Hüppauf 2010, S. 246 in einem Beitrag zum Töten im Krieg). Die Möglichkeit, dass Unterhaltungsangebote gewaltentgrenzend rezipiert werden können, ist nicht zu bestreiten, wohl aber die Annahme, dass sie notwendig so ‚wirken‘ müssen. Entscheidend ist hierbei – soziologisch gesehen – die Einbindung des Medienkonsums in ein gewaltdistanziertes und konsumistisch-erlebnisorientiertes Rollenhandeln, welches im Rahmen der Mediensozialisation unter zivilgesellschaftlichen Bedingungen allen Untergangsmeldungen zum Trotz in der Regel erworben wird (Spreen 2012). Im Rahmen von „Kulturen der Gewalt“ etwa in Gebieten des Staatszerfalls, dürfte ein solcher Rollenerwerb allerdings eher die Ausnahme darstellen. Hier ist vielmehr – worauf von Trotha zu Recht hinweist – eine Homologie zwischen medialem Gewaltkonsum und Gewalthandeln und damit in der Tat eine Deinstitutionalisierung zu erwarten. 45  Hanser / Trotha, insbes. S. 321–363; vgl. dazu Spreen 2010a, S. 57–65. 44  Trotha

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von Macht beschrieben werden muss. Aus dieser soziologischen Theorieperspektive heraus, kann Gewalt allerhöchstens domestiziert, also eingehegt, werden. Unhintergehbar angewiesen ist diese Domestizierung auf gewaltfähige Institutionen. Gewalt erscheint daher nicht lediglich als ein Phänomen der Normüberschreitung oder der sozialen Desintegration, sondern wird zugleich als Bedingung der Rechtsgeltung wahrgenommen. Im Rahmen des Teufelskreises der Gewaltbewältigung durch Gewalt – und das heißt der Ordnungs- und Sicherheitsproblematik – kommt ihr auch in zivilen Gesellschaften eine konstitutive Funktion zu. Diese Funktion ist allein mit den Begriffen der Anomie- und Desintegrationstheorie nicht zu erfassen. Wenn allerdings zivile Gesellschaft jenseits der Abweichungsproblematik in ein Verhältnis zu Formen der Gewalt gebracht werden muss, dann stellt sich die Frage, was aus der konstitutionstheoretisch-gewaltsoziologischen Perspektive der Begriff der ‚Zivilgesellschaft‘ genauer meint. Der schillernde Begriff der ‚modernen‘ Zivilgesellschaft ist daher im Zusammenhang mit der Normalitätsproblematik der Gewalt im Weiteren zu präzisieren. III. Zivilgesellschaft und die Ausdifferenzierung des Militärs Im frühen Liberalismus galten Gewalt und mit ihr verbundene Habitusformen wie aristokratische Herrenmoral oder militaristischer Heroismus als „Überbleibsel primitiver Entwicklungsphasen der Menschheit; das zivilisierte Leben sollte auch ein ziviles sein, in dem kriegerische Eigenschaften und Bedürfnisse nicht durch Religion und Moral bloß untersagt, sondern gemildert und auf sportlichem oder wirtschaftlichem Wettstreit […] umgeleitet werden können.“46 Diese Annahme ist im Prinzip auch heute noch für modernisierungtheoretische Ansätze innerhalb der Sozialwissenschaften gültig. Demnach gilt die Moderne als ein Weg in die Gewaltfreiheit. Der „Übergang vom gewalttätigen Austrag innergesellschaftlicher Konflikte zu gewaltfreien Prozeduren der Konfliktregelung“ gehöre, so Hans Joas kritisch, „zu den definitorischen Bestandteilen moderner Gesellschaften.“47 Moderne Gesellschaften sind demnach gewaltfreie und zivile Gesellschaften, die Konflikte nicht durch Gewalt, sondern durch deliberative Verfahren lösen. Zu Recht weist Joas darauf hin, dass mit dem modernisierungstheoretischen Weltbild eine Bagatellisierung der Gewalt einhergeht. „Ein nach vorne gerichteter, zukunftsoptimistischer Blick betrachtet das aussterbende schlechte Alte mit Ungeduld und ohne echtes Interesse.“48 An anderer Stel46  Joas

47  Ebd.

48  Ebd.,

1996, S. 350. S. 351.



Weltzivilgesellschaft und Gewalt47

le spitzen Joas und Hans Knöbl das Argument zu und werfen der Modernisierungstheorie vor, wesentlich dazu beigetragen zu haben, Krieg und Gewalt als historisch wirkmächtige Faktoren sozialen und politischen Wandels aus Sozialtheorie und Sozialwissenschaften „verdrängt“ zu haben.49 Aus dieser Kritik ist die methodische Forderung abzuleiten, dass bei der Analyse von modernen Zivilgesellschaften und Demokratien das ihnen innewohnende Verhältnis zu Gewalt und Krieg berücksichtigt werden muss.50 Gerade konstitutionstheoretische Ansätze können zeigen, dass es sich dabei keineswegs um ein ‚reines‘ Ausschließungsverhältnis handelt. Auch die aus der Kritischen Theorie stammende Denkfigur, dass Gewaltphänomene nur die ‚dunkle Seite‘ der Moderne bzw. der ‚Dialektik der Aufklärung‘ repräsentieren würden, kann einem zweiten Blick nicht standhalten, da letztlich Gewaltinstitutionen (nämlich Polizei und Militär) einen erheblichen Teil dazu beitragen, Zivilität abzusichern und zu schützen.51 Weiterhin wendet Joas gegen die Modernisierungstheorie ein, dass gerade der Blick auf den modernen Krieg anschaulich mache, „wie wenig Modernisierung als ein homogenes Ganzes mit gleichläufigen Entwicklungen der Kultur, der Wirtschaft und der Politik zu denken ist.“52 Das führt auf die zweite, aus dieser Kritik ableitbare methodische Forderung: Nicht nur muss das Verhältnis zwischen Zivilität und Gewaltinstitutionen grundsätzlich berücksichtigt werden, sondern auch die unterkomplexe sozialtheoretische Assoziation von Moderne und Zivilität muss in Frage gestellt werden.53 Diese beiden methodischen Forderungen führen dazu, explizit zu machen, wie sich das spezifisch zivilgesellschaftliche Verhältnis zu Gewaltinstitutionen und zur Anwendung von Gewalt gestaltet bzw. wandelt. Dabei sind zugleich unterschiedliche Modernisierungspfade im Auge zu behalten und weder kriegerische Momente der Moderne noch kriegsgesellschaftliche Transformationen auszuschließen. Dies deckt sich mit der Perspektive der Gewaltsoziologie, die das Verhältnis zwischen Normalität der Gewalt und Zivilität thematisiert und damit ebenfalls fordert, die Funktionsmechanismen 49  Joas / Knöbl.

dazu den Beitrag von Hans Joas in diesem Band. es mit dem bloßen Dasein von gewaltmächtigen Schutzinstitutionen noch nicht getan ist, sondern ganz wesentlich auf die Integration dieser Institutionen in zivile gesellschaftliche Beziehungen ankommt, zeigt Marcel Baumann in seinem Beitrag zu diesem Band (ausführlich Baumann 2008). Hinzufügen lässt sich außerdem, dass dies wiederum nur gelingen kann, wenn wenigstens im Ansatz funktionierende zivilpolitische und demokratische Strukturen vorliegen, denn eine „demokratische Armee setzt eine ‚lebendige‘ Demokratie voraus, verstanden als verhaltensrelevante, affektiv internalisierte Norm allen sozialen und politischen Handelns.“ (Wildenmann, S. 87) 52  Joas, S. 351. 53  Joas / Knöbl, S.  14 f.; Kruse und Spreen 2008a, S. 19–22. 50  Vgl.

51  Dass

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der Gewaltdomestizierung an zentraler theoretischer Stelle zu berücksichtigen. Für alternative Ordnungsformen und Kulturen der Gewalt interessiert sie sich ebenfalls. Der Hinweis auf die Modernisierungstheorie und das liberale Weltbild lenkt somit den Blick auf den schillernden und mehrdeutigen Begriff der modernen Zivilgesellschaft und die in diesem Begriff mitgeführten Bedeutungsimplikationen. Unter der Zivil- oder Bürgergesellschaft wird in der Regel ein heterogenes Gefüge von Foren, Institutionen, Assoziationen, Vereinen, Interessenverbänden, NGOs, sozialen Bewegungen usw. im pazifizierten öffentlichen Raum verstanden, deren Institutionalisierungs- und Organisationsgrad sehr verschieden sein kann, die jedoch alle in mehr oder minder relevanter Weise an öffentlichen Diskursen teilhaben, auf die Politik Einfluss nehmen, die politische Kultur einer Gesellschaft prägen und sich für das Gemeinwohl einsetzen. Als wesentliche Kriterien zivilgesellschaft­ licher Akteure gelten zudem eine gewisse Unabhängigkeit von staatlichen Institutionen und ökonomischen Interessen. ‚Zivilität‘ erscheint daher auch als eine Norm des Verhaltens bzw. des sozialen Verkehrs: Konflikte sollen gewaltfrei und im Dialog ausgetragen werden. Politisch ist der Andere nicht als ‚Feind‘, sondern als ‚Partner‘54 zu betrachten. Dabei soll nach dem Kompromiss und nicht nach der Eskalation gestrebt werden.55 Auffällig ist, dass das im Diskurs über die Zivil- und Bürgergesellschaft zum Ausdruck gebrachte Ideal einer gewaltfreien und kompromissbereiten öffentlich-politischen Diskussion, die zwischen einander in ihrer Differenz sich gegenseitig Anerkennenden geführt wird, in modernisierungstheoretischen und liberalen Weltbildern zugleich, wie Joas und Knöbl überzeugend darlegen, als Wesenskern ‚der‘ modernen Gesellschaft überhaupt herhalten muss.56 Dies schließt es in der Regel aus, Gewalt und Krieg im Rahmen von Formen der Gewaltbewältigung als Konstituentien von Zivilität zu verstehen. Der Diskurs über die Zivilgesellschaft fällt damit hinter die methodischen Kriterien der Soziologie der Gewalt zurück.57 Dagegen werden in der modernisierungstheoretisch-bürgergesellschaftlichen Perspektive Gewalt und Krieg, wenn überhaupt, in ein lediglich äußerliches Verhältnis zur Zivilgesellschaft gestellt. Dieser Perspektive erliegen leicht auch Untersuchungen, die das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Militär thematisieren, also etwa nach dem Verhältnis der Bundeswehr oder der Wehrpflicht zur Zivil54  Beziehungsweise, so der Vorschlag von Mouffe (S. 70), als ‚Gegner‘: „Die Gegner bekämpfen sich – sogar erbittert –, aber sie halten sich dabei an einen gemeinsamen Regelkanon.“ 55  Schmidt, S. 13–19; vgl. Adloff und kritisch Heins 2002. 56  Joas / Knöbl. 57  Edward Shils (S. 19) hat diesen Zusammenhang allerdings durchaus gesehen.



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gesellschaft fragen und dabei ‚Militär‘ und ‚Zivilgesellschaft‘ wie zwei einander gegenüberstehende Größen behandeln. Gewaltsoziologisch ist somit eine Sichtweise zu fordern, die Militär, Gewalt und Krieg in den Begriff der modernen Zivilgesellschaft einschließt. Dabei dürfen weder die Spezifika ziviler Gesellschaftlichkeit, nämlich die weitgehende Aussperrung der Gewalt aus dem Erwartungshorizonten in Öffentlichkeit, Alltag und funktionssystemspezifischen Kommunikationsstrukturen, noch die die zivile Normalität absichernde und schützende – d. h. ordnungskonstitutive – Funktionalität der gesellschaftlichen Gewaltinstitutionen vergessen werden. Im Kontext solcher – auch hier verfolgter – Überlegungen wird der Begriff der Zivilgesellschaft aus dem engeren Kontext der Debatten um bürgerschaftliches Engagement herausgenommen und zu einer soziologischen Beobachtungsfolie, die bestimmte Merkmale moderner Gesellschaften akzentuiert, ohne diese allerdings geschichtsphilosophisch zum Wesenskern ‚der‘ modernen Gesellschaft zu erklären. Einen Vorschlag in dieser Richtung hat erst kürzlich Volker Kruse gemacht, indem er zwischen modernen Kriegsgesellschaften und Zivilgesellschaften typologisch unterscheidet. Kruses Grundthese besagt, dass idealtypisch „zwei Modernen mit unterschiedlichen Vergesellschaftungsmodi“ differenziert werden können.58 Demnach sind moderne Zivilgesellschaften „primär funktional differenziert mit autonomen, sich selbst steuernden Funktionssystemen. Moderne Kriegsgesellschaften sind primär hierarchisch differenziert und werden zentral gesteuert.“59 Kruse weist darauf hin, dass „in realen Gesellschaften immer Elemente beider Vergesellschaftungsmodi enthalten sind.“60 ‚Zivilgesellschaft‘ wird bei Kruse als eine soziologische Kategorie verwendet, die einen beschreibenden Charakter hat. Mit einem Appell an ‚gemeinsame Werte‘ hat diese Verwendungsweise wenig zu tun. Sie markiert vielmehr den Unterschied zu einer Gesellschaft, die primär auf die Anwendung kollektiver Gewalt hin ausgerichtet ist und eine entsprechende Binnenstruktur und -dynamik – zentrale Steuerung, Mobilisierung und kriegsgesellschaftliches Dilemma – aufweist.61 Kruses Typologie greift damit auf einen ‚abgekühlten‘ Begriff der Zivilgesellschaft zurück, der sich im Anschluss an Luhmann formulieren lässt und der nicht auf Gemeinwohldebatten und entsprechende Bürgeraktivierung abzielt, sondern die (nur scheinbar) selbstverständliche Normalität gewaltferner Kommunikationsverhältnisse in der funktional differenzierten 58  Kruse, 59  Ebd., 60  Ebd. 61  Vgl.

S. 199. S. 200.

dazu Kruses Beitrag in diesem Band.

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Gesellschaft akzentuiert. In der Tat ist es nach Luhmann konstitutiv für die funktionale Differenzierung, „ein allzu direktes und folgenreiches Durchschlagen organischer Prozesse“ auszuschließen und die „Irritierbarkeit der Kommunikation“ abzuschwächen, „die mit aller Präsenz von Organismen verbunden ist“.62 Dies impliziert auch einen weitgehenden Ausschluss physischer Gewalt aus funktional ausdifferenzierten Kommunikationsabläufen. Erreicht wird dies durch die „ ‚Domestikation‘ symbiotischer Prozesse“.63 Die Domestikation physischer Gewalt erfolgt dabei durch die „Stabilisierung eines ‚staatlichen‘ Monopols auf Entscheidung über die Anwendung physischer Gewalt […] – mit anderen Worten: die Sicherung des Friedens“.64 Die Gefahr einer typologischen Unterscheidung zwischen Zivil- und Kriegsgesellschaft besteht darin, den Begriff der Zivilgesellschaft von den für zivile moderne Gesellschaften konstitutiven Gewaltmomenten – inklusive der Fähigkeit zur Kriegführung – abzuschneiden.65 Aber wenn Zivilgesellschaften sich mittels militärischer Gewalt verteidigen und in diesem Zusammenhang partiell kriegsgesellschaftliche Züge annehmen, dann handelt es sich nicht um eine ‚Vermischung‘, sondern um einen vorübergehenden Ausnahmezustand, der eben der Sicherheit und Aufrechterhaltung der zivilgesellschaftlichen Strukturen dient. In genau diese Richtung argumentiert Kruse aber, wenn er sagt, dass „auch eine Zivilgesellschaft Krieg führen und eine Kriegsgesellschaft, zumindest zeitweise, in einem Zustand ohne Krieg leben“ kann.66 Im hiesigen Zusammenhang soll Kruses Vorschlag aufgenommen und ‚Zivilgesellschaft‘ als eine beschreibende soziologische Kategorie verwendet werden. In diesem Sinne inkludiert Zivilgesellschaft Privatsphäre, Markt und Staat – und damit auch die staatlichen Gewaltinstitutionen Militär und Polizei. In dieser Verwendung dient der Begriff somit zur Charakterisierung einer bestimmten modernen Gesellschaftsform. Im Folgenden sollen Zivilgesellschaften durch das zentrale Kennzeichen der Denormalisierung der Gewalt in den sozialen, ökonomischen und politischen Verkehrsverhältnissen definiert werden. Das heißt, Zivilgesellschaften zeichnen sich durch eine weitreichende Garantie zwang- und gewaltfreier Interaktion, Kommunikation und Mobilität aus.67 Diese spezifisch zivilgesellschaftliche Garantie auf Sicherheit, Ruhe und Ordnung aber muss 62  Luhmann 63  Ebd.

64  Ebd.,

1974, S. 124.

S.  124 f. Tyrell 1999, S. 274. 66  Vgl. Kruses Vorbemerkung zu seinem Beitrag in diesem Band. 67  Zur engeren Definition „moderner Zivilgesellschaften“ vgl. Spreen 2008a, S.  21 f. 65  Vgl.



Weltzivilgesellschaft und Gewalt51

gewalt- und herrschaftssoziologisch als die Kernaufgabe des staatlichen Gewaltmonopols und des politischen Systems angesehen werden. Moderne Zivilgesellschaften sind darüber hinaus durch funktionale Ausdifferenzierung in selbstreferenzielle Teilsysteme – darunter auch die Politik – gekennzeichnet. Wenn also Militär und Krieg als Mittel der Sicherheitspolitik im Begriff der modernen Zivilgesellschaft ihre Berücksichtigung finden müssen, wie ist dann der spezifisch zivilgesellschaftliche Ort militärischer Gewaltkompetenz zu bestimmen? Wie lassen sich die zivile Denormalisierung der Gewalt und die Organisation professioneller Gewaltfähigkeit ins Verhältnis setzen? – Als wesentlicher Aspekt der Denormalisierung der Gewalt im gesellschaftlichen und intersubjektiven Verkehr durch die Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols wird in der Literatur die Ausdifferenzierung bewaffneter Gewaltinstitutionen und heroischer Gemeinschaften genannt. Der Handlungskontext von Militär und Polizei, so etwa M. Rainer Lepsius, „ist aus der zivilen Gesellschaft ausgegrenzt, die für ihr Handeln maßgebenden Rationalitätskriterien sind eigenständig und folgen spezifischen Leit­ ideen. Sie sind stark institutionalisiert, d. h. sie folgen präzisierten und eigenen Verhaltensregeln mit allgemeiner Geltung. Dies ist schon deswegen nötig, weil sie über Waffen verfügen und auf Personen physische Macht ausüben, im Grenzfall mit Todesfolgen.“68 Die Mitglieder dieser Institutionen „sind durch Uniformen gekennzeichnet, in Teilen kaserniert und einer strikten Befehlsordnung und Gehorsamspflicht unterworfen. Ihre Tätigkeit ist deutlich aus der Normstruktur der zivilen Gesellschaft ausgegliedert.“69 Es kommt somit zu einer Ausdifferenzierung von Polizei und Militär als eigenständigen Teilsystemen.70 Bei Lepsius’ Ausführungen fällt allerdings auf, dass der Autor die ‚zivile Gesellschaft‘ sprachlich in einen Gegensatz zum Militärischen bringt und damit das Risiko eingeht, das Militär als einen der Zivilgesellschaft äußerlichen Sozialverband zu beschreiben. Im Laufe seiner Argumentation wird aber deutlich, dass Lepsius das so nicht meint: Vielmehr geht es ihm um die Bedingungen eines zivilgesellschaftskonformen Militärwesens, d. h. eines Militärs, das integraler Bestandteil der Zivilgesellschaft ist und dazu dient, ‚Zivi68  Lepsius, S. 359. Stig Förster weist am Beispiel der Geschichte des amerikanischen Militärwesens darauf hin, dass unter den modernen Kriegsbedingungen für „amateurhafte militärische Organisationsformen als Ausdruck einer zivil orientierten libertären Gesellschaft […] auf die Dauer kein Platz“ ist (Förster, S. 118). Der amerikanische Mythos der Volksmiliz wird gerne als Alternativmodell zur europäischen Tradition genannt, die durch Mischformen aus Berufs- und Wehrpflichtarmee gekennzeichnet ist. 69  Lepsius, S. 359. 70  Zur Frage des Weltmilitärs als Funktionssystem siehe unten.

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lität‘ effektiv zu schützen. Lepsius markiert drei Problembereiche, an denen sich die Integration des Militärs in die Zivilgesellschaft feststellen lässt: Erstens geht es um die Gewaltmonopolisierung durch den Staat und der Institutionalisierung dieser Gewalt in Polizei und Militär. Gelingt es, die in der Gesellschaft verteilte Gewalt ausreichend in staatlichen Institutionen zu konzentrieren? Und: Gelingt es, diese konzentrierte Gewalt als Mittel der Gewaltbewältigung zu nutzen? – Insbesondere die zweite Frage ist dabei von erheblicher Bedeutung, denn nicht die Herausbildung von Gewaltinstitutionen an sich ‚domestiziert‘ bereits Gewalt. Gewaltinstitutionen dienen vielmehr dazu, gewaltsame Handlungsoptionen für sowohl individuelle als auch kollektive Akteure so riskant werden zu lassen, dass sie allgemein vermieden wird. Es geht also nicht um einen ‚Einschluss‘ der Gewalt in spezifischen Institutionen, sondern um die Funktion dieser Institutionen, d. h. Unterdrückung von Gewaltpotenzialen durch Androhung von Gegengewalt. Erst als Folge dieser Unterdrückung verlieren gewaltaffine Rationalitätskriterien außerhalb von Militär und Polizei ihre Relevanz. Zweitens, und eng damit zusammenhängend, stellt sich die Frage, ob und wie die Gewaltinstitutionen gesellschaftlich eingebettet und seitens der ­Politik kontrolliert werden bzw. inwiefern sie selbst wiederum Politik und Gesellschaft beeinflussen. Von besonderer Bedeutung für die Zivilgesellschaft ist nach Lepsius, dass die Funktionsbereiche von Militär und Polizei möglichst klar voneinander getrennt sind, d. h., dass das Militär „innenpolitisch neutralisiert“ wird und „in Friedenszeiten nach Aufgabenstellung und Funktionsweise neben die zivile Gesellschaft“ tritt.71 Die Motive für diese Neutralisierung rühren nicht zuletzt aus wiederholten historischen Erfahrungen mit den innen- und außenpolitischen Ambitionen von Militärs. Die Institutionen des Gewaltmonopols erweisen sich soziologisch somit als funktionale Subsysteme der Politik der modernen Zivilgesellschaft. Drittens sind die Wertestrukturen der militärischen Teilkultur und ihr Verhältnis zur umgebenden Gesellschaft zu beachten. Handelt es sich um eine heroische und traditionsorientierte Gemeinschaft mit elitärem Anspruch oder versteht sie sich als Sicherheitsgarant der Zivilgesellschaft und der De­ mokratie? Strahlen militärische Werte, Rationalitätskriterien und Leit­ ideen in Bereiche der zivilen Kultur aus und führen so zu einer Militarisierung der Gesellschaft oder lassen sich Tendenzen zu einer Zivilisierung des Militärs finden? Mit Bezug auf die deutsche Bundeswehr stellt Lepsius heraus, dass hier insbesondere die Professionalisierung der Offiziere durch ein Hochschulstudium und die damit einhergehende Bedeutung des Leistungsprinzips für die berufliche Laufbahn, die Qualifizierung der Zeitsolda71  Lepsius,

S. 360.



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ten für zivile Berufe während der Dienstzeit und das Loyalitätsverhältnis der Offizierselite zur Republik (m. a. W. die politische Bildung und das Prinzip der Inneren Führung) von Bedeutung sind. Insgesamt kann konstatiert werden, dass in den westlichen Gesellschaften eine Ausweitung heroischer und militärischer Werte in die zivilen Bereiche unterbleibt, so dass von einer „postheroischen“ Formierung des Wertehorizonts im Sinne Herfried Münklers ausgegangen werden muss.72 Entgegen immer wieder in der Politik kolportierten Behauptungen, spielt die Wehrpflicht für das ‚Treueverhältnis‘ einer Armee zu Zivilgesellschaft und demokratischem Verfassungsstaat keine eindeutige Rolle. Eine prinzipielle Zivilisierungswirkung der Wehrpflicht auf das Militär ist ebenso wenig feststellbar, wie das Gegenteil, nämlich die Militarisierung der Gesellschaft.73 Damit kann festgehalten werden, dass für die Herausbildung der modernen nationalen Zivilgesellschaften neben der Entstehung des staatlichen Gewaltmonopols und – damit einhergehend – der Ausdifferenzierung der Fähigkeit zu einer professionalisierten Selbstverteidigung, die binnenpolitische Neutralisierung des Militärs, seine Kontrolle durch die Politik und das Verhältnis der militärischen Teilkultur zu den Werten und Leitideen der Zivilgesellschaft von zentraler Bedeutung sind.74 Das Militär und die Fähigkeit zur Kriegführung stehen somit keineswegs in einem notwendigen Ge72  Vgl. Münkler. Selbst innerhalb des Militärs wird der heroisch-kriegerische Habitus zurück gedrängt. In der Bundesrepublik erkennt man das an der seit der Gründung der Bundeswehr geführten Auseinandersetzung zwischen Traditionalisten und Reformkräften. Erstere orientierten sich am Leitbild einer „modernisierten und logistisch durch die Amerikaner besser versorgten Wehrmacht“, letztere an dem von Graf von Baudissin unter dem Schlagwort „Innere Führung“ entwickelten Konzept des „Bürgers in Uniform“ (Kutz, S. 282 f.). Während die Traditionalisten den heroischen Habitus propagierten, verpflichtet das Konzept Baudissins letztlich jeden einzelnen Soldaten auf die Gewissensprüfung und „Demokratie als Lebensform“. Auch im Militär kommt es also zu einer Zurückdrängung des Heroischen, allerdings mit der Einschränkung, dass eine vollständige Überwindung dieses Habitus weder möglich noch wünschenswert erscheint, weil die institutionen- oder systemspezifischen Werte und Rationalitätskriterien des Militärs dem Ziel gelten, die Fähigkeit zur koordinierten Gewaltausübung zu reproduzieren. Militärisch-heroische Werte sind unerlässlich, um die Tötungs- und Todesbereitschaft der Soldaten, die für die Erfüllung ihres Auftrags ‚unter Feuer‘ zwingend notwendig sind, aufrecht zu erhalten. „Das bildet eine systematische Trennlinie, die auch Baudissins Formel vom ‚Staatsbürger in Uniform‘ nicht überwinden konnte.“ (Frevert 2008, S. 148) Kurz: Der Militärdienst ist allen neueren Illusionen zum Trotz kein erweiterter Zivildienst. 73  Lepsius, S. 362; vgl. Joas, S. 348 f. und Frevert 2001, S. 11 f., 303. 74  Anschließend an diese Feststellung wäre etwa kultursoziologisch die Fragestellung zu verfolgen, inwieweit neben oder innerhalb des zivilgesellschaftlichen Militärs doch Truppeneinheiten denkbar sind, die ein elitäres Selbstkonzept entwickeln und sich dabei klassisch als „heroische Gemeinschaften“ konstituieren (vgl. Münkler).

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gensatz zur modernen Zivilgesellschaft. Durch die Ausdifferenzierung der Gewaltinstitutionen Militär (und Polizei75) kann die Gewalt im Binnenraum der Gesellschaft vielmehr effektiv kontrolliert und damit Zivilität gesichert werden. Das Problem der Gewaltnormalität verschwindet also auch nicht in modernen Zivilgesellschaften, sondern die Gewalt wird – im Rahmen des staatlichen Gewaltmonopols und der Kontrolle der gewaltfähigen Institutionen durch das politische System – durch Gewalt bewältigt. Es ist klar, dass dieses Bewältigungsmodell nicht ohne politische Risiken ist, und die Moderne hat ihre Erfahrungen mit diesen Risiken gemacht. Zum Beispiel kann es zur Militarisierung der Gesellschaft oder sogar zur Transformation in eine Kriegsgesellschaft kommen.76 Zudem besteht das Risiko der Einflussnahme durch ein ‚starkes‘ militärisches Funktionssystem auf die Innen- und Außenpolitik. Diese Risiken können als die klassischen Problembereiche im Verhältnis zwischen ziviler Regierung und Gesellschaft einerseits und ihren Gewaltinstitutionen andererseits gelten. Im Zusammenhang mit der globalen Sicherheitsproblematik und der rapiden Entfaltung weltgesellschaftlicher Handlungs- und Systembezüge nach dem Epochenbruch 1989 (‚Globalisierung‘) zeichnet sich im Bereich der ­zivil-militärischen Beziehungen eine fundamental neue Problemlage ab. Ausgehend von der gewaltsoziologischen Perspektive soll daher im Folgenden nach der Bedeutung von Militär und Kriegführung für die Weltzivilgesellschaft gefragt werden. Der damit ins Spiel gebrachte Vorschlag, die gegenwärtigen Globalisierungstendenzen sozialer Bezüge durch den Begriff der ‚Weltgesellschaft‘ als ‚Zivilgesellschaft‘ zu fassen, erscheint dabei durchaus nicht selbstevident und bedarf daher im Folgenden näherer Erörterung. IV. Zum Begriff der Weltzivilgesellschaft Die bisher entfaltete Sicht auf das Militär in der Zivilgesellschaft bezieht sich auf nationalstaatliche Verhältnisse: Das Militär dient dabei nicht nur dem Schutz der zivilen Nationalgesellschaft, sondern auch der Behauptung politischer Souveränität im Konzert der Mächte77 und ist – im Gegensatz zu 75  Vgl. zur begrifflichen Differenz zwischen Militär und Polizei in aller Kürze Kohl, S. 173–175. 76  Eine moderne Kriegsgesellschaft ist als eine Gesellschaft zu definieren, die sich erstens im permanenten Ausnahmezustand (dem „totalen Staat“ nach Carl Schmitt) befindet und in der dieser Zustand zweitens zu einer totalen sozialen Tatsache („totale Mobilmachung“ nach Ernst Jünger) wird. Insgesamt kann der „kriegsgesellschaftliche Diskurs“ im Deutschland der Zwischenkriegszeit als ein Modernisierungsdiskurs beschreiben werden (Spreen 2008a, insbes. S. 221–225). 77  Münkler, S. 749.



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Söldnerheeren – national verfasst. Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Ost-West-Konflikts verschieben sich allerdings gravierend die Koordinaten sowohl internationaler als auch nationaler Sicherheit: Schon während des Ost-West-Konfliktes waren Weltfrieden und Weltsicherheit das zentrale global-politische Problem, aber nach dem Ende dieses Konflikts erscheint dieses Problem in einem ganz neuen Gewand. Es geht nicht mehr darum, ein globales Megakonfliktsystem so zu regulieren, dass es unterhalb der ‚heißen‘ Ebene bleibt. Vielmehr zeichnet sich erstmalig eine globale zivilgesellschaftliche Ordnungsstruktur ab. Der global-gesellschaftliche Wandel nach 1989 soll daher mit der These eingefangen werden, dass sich die globale Ordnungsproblematik hin zur ‚Sicherheit der Weltzivilgesellschaft‘ verschiebt. In Anbetracht zahlreicher gewaltsamer Konflikte, neuer Kriege, bewaffneter Piraterie und des globalen Krieges gegen den Terror fällt es allerdings schwer, von einer Weltzivilgesellschaft zu sprechen.78 Offensichtlich kann aber auch nicht von einer „Gesellschaft im Weltkrieg“ gesprochen werden.79 Es bedarf also einer genaueren Begründung, was damit gemeint ist. Es bietet sich diesbezüglich an, auf jene explizit soziologische Theorie der Weltgesellschaft zurückzugreifen, die Niklas Luhmann entwickelt hat. Diese Theorie ist nicht etwa nur deshalb von besonderem Interesse, weil sie eine globale Perspektive einnimmt und soziologisch beobachtet, sondern auch, weil sie die Weltgesellschaft als eine zivile Gesellschaft konzipiert. Luhmann entfaltet seine Theorie der Weltgesellschaft erstmals ausführlich in einem Artikel von 1971 – zu einer Zeit also, als der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Paktes in keiner Weise absehbar erschien. Dennoch lassen sich dafür politische Anlässe finden: Erstens zeichnete sich in der Entspannungspolitik ein neuer Modus politischen Lernens ab, der nach Luhmann der Emergenz einer modernen Weltgesellschaft entspricht. Zentraler politischer Grundgedanke der Entspannung ist es, auf einen ein Lernprozess zu setzen, der trotz einander antagonistisch gegenüberstehender Werteuniversen die Entwicklung eines gemeinsamen – also globalen – Horizonts erlaubt, in dessen Rahmen die Perspektive des jeweils anderen mitreflektiert und nicht länger die unbedingte Durchsetzung der eigenen Werte angestrebt wird. Man kann hier von einem Umstellen auf kognitives Erwarten sprechen: „Kognitives Erwarten sucht sich selbst, normatives Erwarten sucht sein Objekt zu ändern. Lernen oder Nichtlernen – das ist der den Überblick von Jung / Schlichte / Siegelberg. zu klären bliebe, ob eine „Gesellschaft im Weltkrieg noch eine Weltgesellschaft wäre, und wenn ja, in welchem Sinne“ (Kruse, S. 204). Kruse lässt diese Frage offen. Stichweh (2009, S. 19) bezeichnet den Weltkrieg als eine Form der globalen Strukturbildung. Vgl. auch Spreen 2010a, S. 52–55. 78  Vgl.

79  Wobei

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Unterschied.“80 Zweitens entwickelte sich im Rahmen des Nordatlantikpaktes und der Organization for Economic Cooperation and Development „das neuartige gesellschaftliche Phänomen eines transnationalen Verbundes bürgerlicher Gesellschaften“81, der eine wichtige historische Grundlage für die soziologische Beobachtbarkeit der sich bildenden Weltgesellschaft darstellte. Es handelte sich dabei – etwas paradox formuliert – um eine ‚halbe Weltgesellschaft‘. NATO und OECD bildeten „den Realraum einer ökonomischen Weltvergesellschaftung, also die Basis all der Tendenzen, die sich dann – zeitversetzt – der Beobachtung als ‚Globalisierung‘ und Organisa­ tionen der Weltwirtschaft aufdrängten.“82 Luhmann betont kognitive Erwartungen aber auch, weil seine Theorie der Weltgesellschaft von der Annahme der funktionalen Differenzierung ausgeht. Demnach bildet ‚die Gesellschaft‘ keine sozialmoralisch und im Rahmen der Grenzen des Nationalstaats konstituierte Makrogemeinschaft (‚Wertegemeinschaft‘) mehr, sondern die ausdifferenzierten Systeme – wie Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Erziehung – konstituieren ihre je eigenen Sinngrenzen. Ihr Verhältnis zueinander kann sich nicht mehr auf gemeinsame Werte, Vorschriften oder Zwecke verlassen, sondern orientiert sich am Primat „lernender Anpassung“.83 Da die Sinngrenzen der Teilsysteme von Territorien unabhängig sind und sie sich vielmehr auf Kommunikationsoperationen und ihre spezifische Codierung (z. B. Stärke / Schwäche, Recht / Unrecht, Zahlen / Nichtzahlen, wahr / unwahr, gut / schlecht) beziehen, entfällt für Luhmann die Kopplung zwischen Nationalstaat und Gesellschaft. Luhmann meint daher auch, dass nicht länger von einer Vielzahl von (nationalen) Gesellschaften, sondern nur noch von einer Gesellschaft, eben der Weltgesellschaft, gesprochen werden könne.84 In der Rezeption wird diese Sichtweise gelegentlich als eine Entpolitisierung des Gesellschaftsbegriffs bewertet85 – eine Interpretation, der die hier angestellten Überlegungen allerdings nicht folgen können. Auch die These, es gäbe nur noch ‚die eine‘ Weltgesellschaft, ist umstritten. Eine bemerkenswerte Kritik formuliert etwa Klaus Holz. Er argumentiert, dass die Moderne nicht durch das Primat funktionaler Ausdifferenzierung allein gekennzeichnet sei, „sondern dass die funktionale Differenzierungsform nicht mehr unter dem Primat einer anderen Differenzierungsform 80  Luhmann 1975, S. 55. Vgl. Nassehi 2004, S. 100–106; Rehbein / Schwengel, S.  130 f. 81  Fischer, S. 76. 82  Ebd. 83  Luhmann 1975, S. 63. 84  Insbes. Luhmann 1998, S. 150. 85  Kieserling, S.  420 f.



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steht.“86 Vielmehr sei von einer „wandelbaren Gemengelage an Differenzierungsformen in der modernen Gesellschaft auszugehen.“87 Gerade aber das Primat der funktionalen Differenzierungsform ist eine der starken Begründungen für Luhmanns Rede von einer atopisch-deterritorialisierten Weltgesellschaft, da die Systemgrenzen keine Raum-, sondern Sinngrenzen sind. Diesbezüglich thematisiert Holz die politische Segmentierung der Weltgesellschaft in Staaten und ihre Territorien. Vermittelt durch die staatliche Aufteilung des politischen Weltsystems sind Staaten „Segmente der Gesellschaft“.88 Diesen Segmenten komme die Eigenschaft der Schließung sozialer Beziehungen im Sinne Max Webers zu; sie verweisen also auf Nationalgesellschaften. Ein ähnliches Argument verwendet Uwe Schimank. Er schreibt: „Als relative Interdependenzunterbrechung aller teilsystemischen Zusammenhänge der Weltgesellschaft konstituieren Staatsgrenzen nicht nur Nationalstaaten, sondern uno actu Nationalgesellschaften.“89 Auch Popitz weist darauf hin, dass ‚Gesellschaft‘ als „umgrenzbares soziales Gebilde“ aufzufassen ist, welches sich durch einen „gewissen Intensitätsgrad sozialer Interdependenzen“ auszeichnet.90 Er nennt Gesellschaften auch „intensive soziale Zusammenschlüsse von vitaler Bedeutung“.91 In seiner anthropologischen Perspektive gelten als Gesellschaften „nicht nur familienund sippenartige Gebilde, sondern auch die überformenden Zusammenschlüsse von Stämmen und Verbänden, einschließlich politischer Verbände.“92 Solche kritischen Überlegungen entwerten allerdings nicht die Rede von einer Weltgesellschaft, sondern zielen lediglich auf den Singularitätsanspruch des Weltgesellschaftstheorems.93 Unabhängig von diesem Anspruch verweist der Begriff der Weltgesellschaft auf die unabweisbare Bedeutung zwischen- und überstaatlicher gesellschaftlicher Bezüge, deren Beachtung bereits Friedrich H. Tenbruck der deutschen Soziologie ins Aufgabenheft notiert hat.94 Gewalt- und machtsoziologisch bedeutet das, dass ‚die Welt‘ als eine eigenständige gesellschaftliche Dimension betrachtet wird, in der wiederum gewaltbewältigende Institutionalisierungsprozesse von Macht zustande kommen können. Klassische Beispiele dafür sind Völkerbund und Vereinte Nationen, aber auch das neue System globaler Sicherheit insge86  Holz,

S. 38. S. 47. 88  Ebd., S. 42. 89  Schimank, S. 398. 90  Popitz 2006, S. 94. 91  Popitz 1995, S. 127. 92  Ebd. 93  Vgl. Tyrell 2005. 94  Tenbruck. 87  Ebd.,

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samt, das sich allerdings nicht einfach auf das UN-System abbilden lässt.95 Dabei markiert der Begriff der Weltgesellschaft – nicht zuletzt durch solche Institutionalisierungsprozesse bedingte – gravierende Verschiebungen in dem weltpolitischen Ordnungssystem. Es handelt sich um strukturelle Veränderungen, die sich durch den Rückgriff auf ein Modell, das sich die soziale und politische Welt als Summe von Nationalgesellschaften und -staaten vorstellt, nicht mehr fassen lässt.96 Inwiefern aber kann man die ‚Weltgesellschaft‘ als eine ‚zivile‘ Gesellschaft im hier gemeinten Sinn verstehen? – Folgt man Luhmann, dann handelt es sich bei der Weltgesellschaft um eine primär funktional differenzierte Gesellschaft mit autonomen Funktionssystemen, die sich selbst durch eine je spezifisch codierte sinnhafte Kommunikation steuern. Und, wie bereits gezeigt, wird genau dieser Aspekt der funktionalen Ausdifferenzierung in selbststeuernde Teilsysteme von Volker Kruse als Kennzeichen von ‚Zivilgesellschaften‘ benannt.97 Plausibilisieren lässt sich dies, wenn man Luhmanns Beschreibung sinnhafter Kommunikation rekonstruiert und dabei die Gewaltproblematik im Blick behält: Luhmann beschwört die „Normalitätshypothese“, um die Kommunikationsprozesse der Weltgesellschaft zu beschreiben: „Fast überall“ könne man Kontakte unter der Voraussetzung einleiten, „dass es nur um spezifische Intentionen geht und nichts weiter los ist.“98 In der Weltgesellschaft werde vielmehr „in jeder Interaktion ein ‚Und so weiter‘ anderer Kontakte der Partner konstituiert.“99 Wie auch immer im einzelnen Fall angeschlossen wird, es gibt „keine letzte Unbestimmbarkeit“, sondern vielmehr gibt es, „immer einen Horizont des Und-so-weiter-und-so-weiter.“100 Typischerweise wird ein solches kommunikativ-sinnhaftes Und-so-weiter aber behindert, wenn Gewalt ins Spiel kommt. Phänomenologisch gesehen ist Gewalt der „Inbegriff sinnlicher Erfahrung schlechthin“.101 Der Körper und räumliche Beziehungen stehen beim Antun und Erleiden von Gewalt im Mittelpunkt. Das heißt auch, dass in unmittelbaren Gewaltkontexten Diskurs und Kommunikation zurücktreten. Gewalt ist ein „Geschehen, das von Gebrüll und Schreien erfüllt sein 95  Zu berücksichtigen ist zum Beispiel der Sonderrolle der USA. Dies kann in diesem Beitrag nicht vertieft werden. Hinweise dazu finden sich aber in den kurzen Ausführungen in Kapitel VIII zum Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral. 96  Siehe unten. 97  Vgl. Kapitel III dieses Beitrags. 98  Luhmann 1975, S. 54 (Hervorhebung D.S.). 99  Ebd. 100  Luhmann 2005, S. 43. 101  Trotha 1997, S. 26.



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kann, in dem Menschen und Dinge sich schnell bewegen, selbst und oftmals gerade die Unbeweglichkeit nichts anderes als die ‚Ruhe vor dem Sturm‘ oder die Wachsamkeit ist, in der die ‚Nerven bis zum Zerreißen gespannt sind‘, und in dem noch die Stille ‚furchtbar‘ sein kann, wenn sie zur Stimme der Folter und des gewaltsamen Todes wird.“102 Der Schmerz, der mit dem Erleiden von Gewalt einhergeht, ist ein Vorgang der Verleiblichung und Vereinsamung; er „widersetzt sich der Kommunikation. […] Der Schmerz hat kein Objekt. Er ist nur er selbst.“103 In der leidenden Gewalterfahrung kann der Welthorizont des subjektiven Sinnerlebens vollständig kollabieren. Konflikttheoretisch gesehen ist Gewalt eine physische und / oder kommunikative Machtaktion und eine „Überwältigung im Sinne eines Sich-Hinwegsetzens über den Willen und Widerstand des je anderen“.104 Solche Überwältigungsversuche erfolgen typischerweise im Kontext einer zunehmend eskalierenden Konflikt- und Machtkommunikation. Der „Abbruch der Kommunikation“ ist dabei „die logische Konsequenz in einer sich zuspitzenden Konfliktsituation, in der man Verhalten primär unter Feindseligkeitsgesichtspunkten interpretiert. […] Aus Warnungen werden Drohungen, aus diesen Ultimaten und schließlich kommt Gewalt mit ins Spiel.“105 Im Übergang zur Gewalt materialisiert sich demnach der „Endpunkt“ einer Konfliktentwicklung.106 Fasst man diese beiden Sichtweisen zusammen, so ergibt sich, dass ‚Gewalt‘ und ‚Kommunikation‘ im Luhmann’schen Sinne in einem merklichen Spannungsverhältnis stehen: Hautnahes Schmerzerleben lässt sich schwerlich als ein ‚Verstehen‘ beschreiben und eine ungebremste Konfliktentwicklung bis hin zur Gewalt kann „basale Mechanismen der gesellschaftlichen Reproduktion des Sozialen“ in Frage stellen, weshalb Gesellschaften über verschiedene Mechanismen zur „Abfederung destruktiver Konfliktfolgen“ verfügen.107 Notorisch irritiert Gewalt kommunikative Anschlüsse im Sinne eines ‚normalen‘ Und-so-weiter. Es verwundert daher nicht, dass Luhmann darauf verweist, dass die Irritierbarkeit von gesellschaftlicher Kommunikation durch Gewalt mittels Domestikation weitgehend ausgeschlossen werden müsse, so dass „relativ gewaltfrei gearbeitet werden kann.“108 102  Ebd.

103  Sofsky,

S. 79. S. 269. 105  Ebd., S. 266. 106  Ebd., S. 271. 107  Ebd., S. 315. 108  Luhmann 2000, S. 56. Das heißt natürlich nicht, dass an Gewalterfahrungen nicht kommunikativ angeschlossen werden kann: Zum Beispiel übernehmen in der 104  Messmer,

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Weiterhin vertragen sich Luhmanns Annahmen, dass Kommunikation einen Welthorizont mitführe und normative zugunsten lernbereiter Erwartungen zurückträten, schlecht mit der Ausschließlichkeit von Wertperspektiven, die potenziell im Anderen einen Feind erblicken. Kennzeichen der Weltgesellschaft ist vielmehr eine Entgrenzung der Kommunikation, d. h. eine generelle kommunikative Erreichbarkeit, in der Unterbrechungen durch ­ Freund / Feind-Differenzen und Gewalt nicht unmöglich sind, aber doch die Ausnahme bleiben.109 Luhmanns theoretisches Konzept unterstellt damit einen ‚relativ gewaltfreien‘ globalen Kommunikationskontext als Normalzustand in der Weltgesellschaft. Diese ‚relative‘ Gewaltfreiheit ist eine Möglichkeitsbedingung für funktionale Ausdifferenzierung.110 Wenn ‚Zivilgesellschaft‘ also meint, dass Gewalt als Ausnahme, Störung oder Anomie beobachtet wird, und damit vordergründig aus sozialen Erwartungshorizonten verschwindet, dann wird man Kruses Einschätzung zustimmen müssen, dass Luhmanns Theorie der funktional ausdifferenzierten Weltgesellschaft im Kern das Bild einer ‚Weltzivilgesellschaft‘ zeichnet, da er sie durch eine entgrenzte, anschlussfähige und ausdifferenzierte sinnhafte Kommunikation gekennzeichnet sieht. V. Gewalt in der Weltzivilgesellschaft Aus der Perspektive der Soziologie der Gewalt betrachtet, wirft die Konzipierung der Weltgesellschaft als Zivilgesellschaft natürlich die Frage nach den theoretischen Orten der Gewalt in diesem Konzept auf. Denn die Soziologie der Gewalt beobachtet Gewalt ja nicht primär unter dem Aspekt der ‚Anomie‘, sondern thematisiert die Normalitätsproblematik der Gewalt. Aus systemtheoretischer Perspektive erscheinen folgende Möglichkeiten denkbar, der Gewalt auf der Ebene der Gesamtgesellschaft111 einen Ort Folge kollektiver Gewalt (Kriege etc.) politische Deutungsdiskurse die Aufgabe, Gewalterfahrungen zu ‚verwinden‘ und diesbezüglich ‚Sinn‘ zu generieren. Hieraus können sehr wirksame (und u. U. gefährliche) Diskurse entstehen (vgl. Spreen 2008a, S. 62 und als empirischer Fall, Kapitel E). Ebenso wenig ist damit ausgeschlossen, dass Gewalt eine Botschaft an Dritte enthalten kann. Dies ist etwa der Fall, wenn autotelische Gewalt die Drohung mit Zerstörung auch an alle die adressiert, die nicht unmittelbar betroffen sind, sich aber als mögliche Betroffene imaginieren sollen (Reemtsma, S. 476 f.). Wohl aber ist ausgeschlossen, dass Gewalt eine Form ‚normaler‘ Kommunikation im Sinne des Luhmann’schen Und-so-weiter darstellt. 109  Zu den Orten der Gewalt in diesem Konzept vgl. das folgende Kapitel. 110  „Wo Anarchie herrscht, kann Gesellschaft im Luhmann’schen Sinne schlicht nicht stattfinden.“ (Lange, S. 271) 111  D. h. der Funktionssysteme im Unterschied zu Interaktionssystemen oder Organisationen.



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zuzuweisen: Gewalt als System (1), Gewalt im System (2), Gewalt außerhalb der Systeme (3) und Gewalt im Kontext der Systemgenese (4). Grundsätzlich schließen diese Möglichkeiten einander nicht aus. Im Einzelnen: (1)  Gewalt als System lässt sich aus systemtheoretischer Sicht in zweierlei Hinsicht fassen. Luhmann selbst schlägt den Begriff des Konfliktsystems vor. Konflikte entstehen bei Ablehnung eine Kommunikationsofferte. Dies kann durchaus mit Gewalt verbunden sein kann, etwa wenn im Rahmen des Politischen auf eine militärische Aggression mit militärischen Mitteln geantwortet wird. Der Krieg, so schon Clausewitz, beginnt mit der Verteidigung.112 Nach Luhmann können sich Konflikte in hoch integrative Sozialsysteme transformieren, die dann die funktionale Ausdifferenzierung gefährden. Es besteht „die Tendenz, alles Handeln im Kontext einer Gegnerschaft unter diesen Gesichtspunkt der Gegnerschaft zu bringen. Hat man sich einmal auf einen Konflikt eingelassen, gibt es kaum noch Schranken für den Integrationssog dieses Systems“.113 Konflikte werden dysfunktional, wenn es „zur Absorption des gastgebenden Systems“ kommt, weil alle Ressourcen und alle Aufmerksamkeit in den Streitkontext gestellt werden. Aufgrund dieser destruktiven Eigendynamik bezeichnet Luhmann Konflikte auch als „parasitäre soziale Systeme“.114 Aus dieser Sichtweise können mit Gewalt einhergehende Konflikte als grobe Funktionsstörungen verbucht werden: Sie entfalten dann eine „destruktive Kraft“115 oder werden sogar als „Abfallprodukt der politischen und wirtschaftlichen Evolution“ verstanden.116 Aus dem Kontext der Friedens- und Konfliktforschung heraus hat Thorsten Bonacker darauf hingewiesen, dass „Rollen- und Identitätskonflikte, Zielkonflikte, Normenkonflikte oder Rangordnungskonflikte“ gerade zu den „erwartbaren Begleiterscheinungen und Folgen“ funktionaler Differenzierung zählen.117 Er weist darauf hin, dass sich damit verstärkt die Frage ihrer 112  Clausewitz, S. 532. Eine bemerkenswerte Rekonstruktion der Konflikteskalation hin zum Krieg findet sich bei Messmer (S. 252–266). Als Fallbeispiel dienen ihm dabei die Vorgänge, die nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers und seiner Frau am 28. Juni 1914 in den ersten Weltkrieg führten. 113  Luhmann 1984, S. 532. 114  Ebd., S. 531. „Wie ein Parasit“, so erläutert Dirk Baecker diese Dynamik, „schraubt sich der Konflikt in die Familie, in die Organisation oder die ganze Gesellschaft hinein und unterwirft das Gastsystem seinen eigenen Zwecken, bis nichts anderes mehr stattfindet als das Austragen des Konflikts.“ (Baecker, S. 205) 115  Ebd., S. 532. Luhmann verweist auch auf die Funktionalität von Konflikten: Sie müssen auch als ein „Immunsystem“ gesehen werden. Ohne die Möglichkeit des Widersprechens könnte die moderne Zivilgesellschaft nicht funktionieren (vgl. ebd., S. 537; Messmer, S.  311 ff.; Albert et al., S. 62–65). 116  Matuszek, S. 108. 117  Bonacker, S. 78.

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Institutionalisierung und Regulierung stellt, da die Transformation in parasitäre Konfliktsysteme – und natürlich insbesondere auch in solche gewaltsamer Art – weitgehend vermieden werden muss. Weiterhin können Formen der Gewalt als Funktionssystem verstanden werden. So spricht Peter Fuchs in Bezug auf den islamistischen Terrorismus von einem „Terrorsystem“, das sich über eine eigene System-Umwelt-Differenz entlang des Codes Schuld / Unschuld reproduziert. Diese Sichtweise ist unorthodox, weil der Terror als parasitäres ‚Funktionssystem‘ beschrieben wird. Terror tritt demnach „im Maße zunehmender Durchsetzung funktionaler Differenzierung immer massiver auf – ohne dass ein Ende abzusehen wäre.“118 „Terror“, so Fuchs deshalb, ist „gesellschaftlich, er ist nicht a-sozial, kein Feind, der von draußen kommt und an eine Grenze stößt […]. Er setzt das Spiel des Sozialen fort.“119 Sicherlich nicht zuletzt aufgrund der paradoxen Eigenschaft von Gewalt, eine „Kommunikation verunmöglichende Kommunikation“120 darzustellen – weshalb sie im Rahmen funktionaler Differenzierung zu domestizieren ist –, wird Fuchs’ Überlegung skeptisch kommentiert.121 (2) Von Gewalt im System muss insbesondere in Bezug auf das politische Funktionssystem gesprochen werden.122 Dieses System wird als ein segmentär in Staaten differenziertes begriffen, wobei dem Staat die Aufgabe zukommt, kollektiv bindende Entscheidungen zu generieren. In diesem Zusammenhang setzt das politische System Macht als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium ein, d. h. durch Macht werden Handlungsselektionen vom Machthaber auf Machtunterworfene „übertragen“.123 Die Funktion der Macht liegt also in der „Regulierung von Kontingenz“.124 118  Fuchs,

S. 107. S. 16. 120  Kohl, S. 177. 121  Japp konstatiert diesbezüglich eine Neigung, „Funktionssysteme zu erfinden“ (Japp 2010, S. 329). Er selbst schlägt dagegen vor, den fundamentalistischen Terrorismus im Rahmen des Konfliktsystem-Theorems zu analysieren (Japp 2006). Peter Imbusch (2002, 35) interpretiert Luhmann ebenfalls so, „dass der Terror zum System gehört und als Kommunikation das System reproduziert.“ Insgesamt hält er den Erklärungswert dieser These für sehr allgemein. 122  Auch bezüglich anderer Funktionssysteme kann von systemimmanenter Gewalt gesprochen werden: Sport und Medien fallen hier ins Auge. Die Funktion der Gewalt wäre dabei natürlich systemspezifisch – und in beiden genannten Fällen vermutlich recht ähnlich – zu fassen, nämlich als symbiotischer Mechanismus, der leiblich-sinnliche Aufmerksamkeit dadurch bindet, dass er ‚Spannung‘ erzeugt (vgl. für die leiblich-sinnlichen Aspekte von Unterhaltung Hausmanninger 2002a und daran anschließend Spreen 2012). 123  Luhmann 1988, S. 19. 124  Ebd., S. 12. 119  Ebd.,



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Physische Gewalt begreift Luhmann als der Macht zugeordneten „symbiotischen Mechanismus“. Mit diesem Begriff bezeichnet er allgemein erst einmal Einrichtungen sozialer Systeme, die es diesen möglich machen, „organische Ressourcen zu aktivieren und zu dirigieren sowie Störungen aus dem organischen Bereich in sozial behandelbare Form zu bringen.“125 Als ein solcher dem politischen System zugeordneter ‚Mechanismus‘ wirkt physische Gewalt in der Regel schon als Drohung, d. h. in symbolischer Form. Bei der Drohung erscheint sie als die Alternative, die der Machtunterworfene, der aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols zugleich der klar Gewaltunterlegene ist, stärker zu vermeiden sucht als der Machthaber. Die Anwendung physischer Gewalt bleibt dabei allerdings die Ausnahme, da sie auch in der Perspektive des Machthabers eine Vermeidungsalternative darstellt.126 Luhmann sieht in der Logik organisierter Macht daher bereits einen Mechanismus der Gewaltbegrenzung am Werk. „Macht ist […] schon strukturell (und nicht erst: rechtlich!) aufgebaut auf Kontrolle des Ausnahmefalles. Sie bricht zusammen, wenn es zur Verwirklichung der Vermeidungs­ alternativen kommt.“127 Insofern „beruht das System auf Gewalt, aber es ist durch Gewalt nicht mehr zu kontrollieren.“128 Die Monopolisierung der Gewalt im Rahmen des Funktionssystems der Politik führt also dazu, dass die staatliche Anwendung physischer Gewalt zum Ausnahmefall wird. Als Mittel der Drohung wird sie zum Symbol. Normal werden dagegen gewaltferne Formen der Kontingenzregulierung. Luhmanns Konstruktion, die Macht als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium der Politik begreift, reflektiert dabei den hier zugrunde gelegten Begriff des Politischen, der das Spannungsverhältnis zwischen Macht und Norm ins Zentrum stellt.129 Institutionalisierte Macht lässt sich nicht auf Gewalt reduzieren, sondern zielt auf soziale Ordnung und Frieden. Deutlich wird dies in drei Punkten: Erstens, indem Gewalt auch für die Machinhaber eine Vermeidungsalternative darstellt. Das ist deshalb der Fall, weil der Rückgriff auf Ordnungsgewalt immer Störungen und Konflikte hervorruft und damit den Ordnungswert der Ordnung gefährdet.130 Zweitens markiert Luhmann dieses Spannungsverhältnis, indem er das Recht als Zweit-Codierung der Politik beschreibt. Er spricht von der „Dop125  Luhmann

1974, S. 110. S. 118 f.; vgl. Luhmann 2000, S. 46. 127  Luhmann 1988, S. 23. Diese These korrespondiert mit Popitz’ und Thurnwalds Hinweis auf den Ordnungswert despotischer Regimes (siehe oben: Zweiter Ordnungstyp). 128  Ebd., S. 67. 129  Siehe oben. 130  Luhmann 1988, insbes. S. 23, 64  f. Am Beispiel der Strafe illustriert dies ­Trotha 1982, S. 12–19. 126  Ebd.,

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pelnatur des Macht-Codes, bestehend aus Stärke  /  Schwäche und Recht  /  Unrecht“.131 Dies legt „eine normative, rechtliche und moralische Bindung des Machthabers an seine Macht nahe“.132 Eine dritte Bindung der Gewalt im Rahmen der Macht ist in dem aufgehoben, was Luhmann etwas ironisch das „Selbstbefriedigungsverbot“ der Gewalt nennt.133 Damit ist gemeint, dass die gesellschaftliche Verteilung der Gewalt, also das Recht zur gewaltsamen Selbsthilfe, aufgehoben und die Gewalt institutionell zentralisiert wird. Dieses Selbstbefriedigungsverbot kennzeichnet also die Aufhebung des bellum omnium contra omnes und beschreibt damit den Gesellschaftsvertrag des politischen Leviathan.134 Dass hier bei Luhmann von einem „Verbot“ die Rede ist, markiert ein normatives Moment an diesem Vorgang. Einen Spezialfall der im Politischen aufgehobenen Gewalt stellt das militärische Funktionssystem dar. In Luhmanns Werk wird es zwar nicht behandelt – wie überhaupt Krieg und Militär eine „systemtheoretische Terra incognita“135 darstellen –, allerdings lässt es sich sehr gut als ausdifferenziertes Funktionssystem der Politik begreifen. Seine Funktion liegt dann vor allem darin, dass „Gewalt anschlussfähig gehalten wird und dabei an politische Entscheidungen gekoppelt ist.“136 Das meint, dass die Politik mittels eines effizient kontrollierten Militärs auf gewaltförmige und destruktive Bedrohungen kalkuliert reagieren und dabei die Vermeidung von Gegen­ gewalt vermeiden kann, ohne ‚zusammenzubrechen‘. Das „Militär der Politik“137 trägt dadurch wesentlich dazu bei, die Sicherheit anderer Funktionssysteme zu gewährleisten. (3)  Gewalt außerhalb der Funktionssysteme ist Gewalt, die im ‚Exklu­ sionsbereich‘ der Gesellschaft ihren Ort hat: In Anlehnung an Luhmann geht Armin Nassehi davon aus, dass Personen immer nur partiell in Funk131  Luhmann

1988, S. 65. S. 47. 133  Ebd., S. 63; vgl. Kuchler. 134  Hobbes. 135  Hoeres, S. 350. 136  Kohl, S. 184. 137  Kohl. Denkbar ist auch die Konzipierung des Militärsystems als Funktionssystem der Gesellschaft. Das aber ist nur dann der Fall, wenn es sich von der Politik abkoppelt. Hoeres rekonstruiert dies historisch in Bezug auf das Militärsystem Deutschlands während des Ersten Weltkrieges, als das Deutsche Reich de facto von einer Militärdiktatur – der dritten OHL – geführt wurde. Im Falle einer modernen Kriegsgesellschaft im Sinne Kruses muss dagegen von einer gesellschaftlichen Entdifferenzierung gesprochen werden, da die ganze Gesellschaft nach militärischem Vorbild geformt wird. Weitere Überlegungen zum Militär als Funktionssystem finden sich bei Bahrdt, S. 11–17. 132  Ebd.,



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tionssysteme inkludiert sind. Die „Teilsystemgrenzen in der funktional differenzierten Gesellschaft gehen durch die Individuen hindurch“ und betreffen daher „lediglich rollen- bzw. inklusionsspezifische Teilaspekte der Person, die dann aus den jeweiligen teilsystemspezifischen Perspektiven als Dividuum erscheint.“138 Außerhalb des Inklusionsbereichs der gesellschaftlichen Funktionssysteme – d. h. in ihrem Exklusionsbereich – entsteht damit ein Raum, in dem sich Personen als unteilbare Individuen konstituieren können. Erst der „selektive Zugriff der Gesellschaft auf den Menschen [bringt] jene Form moderner Individualität hervor, die durch Begleitsemantiken der Individualität, der Menschen- und Bürgerrechte und der Gesellschafts- und Staatsferne einer privaten Sphäre kulturell gestützt wird.“139 Die Systemtheorie beschreibt daher, wie auch schon Durkheim, die Individualisierung als komplementäres Ergebnis der funktionalen Ausdifferenzierung. In diesen Exklusionsbereich fallen auch neue Formen gemeinschaftlicher Solidarisierung bzw. des bürgerschaftlichen Engagements. Ebenfalls in diesen Bereich fallen aber auch die strukturellen Nebenfolgen der Risikogesellschaft, also Folgeeffekte sozialer Ungleichheit und der Destabilisierung von Lebenslagen. Die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft der Moderne zeigt sich dabei in der Lage, „extreme soziale Ungleichheiten – sowohl im regionalen als auch im globalen Maßstab zu tolerieren, gerade weil diese das primäre Differenzierungsprinzip kaum tangieren.“140 Zu den Struktureffekten starker sozialer Ungleichheit und Desintegration zählen aber notorisch Gewalt, Kriminalität, Korruption und die Ethnisierung von Konflikten. Für die westlichen Wohlstandsgesellschaften lässt sich eine erhöhte Belastung der Individuen und eine Destabilisierung von Lebenslagen (nicht zuletzt bedingt durch den politisch gewollten Rückbau der sozialen Sicherheit) diagnostizieren. Dies kann sich leicht in Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (etwa Rassismus oder Antisemitismus) niederschlagen.141 Werden dagegen sogar ganze Bevölkerungsteile bzw. Sozialräume von der Partizipation an den Funktionssystemen ferngehalten, gedeihen jene „Ordnungen der gewalttätigen Selbsthilfe“, die Trotha in seinen neueren Untersuchungen ausführlich thematisiert. Kandidaten für solche Gewaltordnungen, die sich vor allem, aber nicht ausschließlich in den peripheren Exklusionsbereichen der Weltgesellschaft finden, sind insbesondere die neo-despotische Ordnung und die Ordnung der vervielfältigten Gewalt. Gemeinsame Kennzeichen dieser Ordnungen der gewalttätigen Selbsthilfe sind ein schwacher Staat, Klientelismus, Korrup138  Nassehi 139  Ebd.

140  Ebd.,

1997, S. 125.

S. 142. insbes. S. 44–48.

141  Heitmeyer,

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tion und eine Kultur der Gewalt. Erstere neigen dabei zudem zu ethnischen Konflikten, außerdem liegt ihnen eine kleinbäuerliche Sozialstruktur zugrunde. Letztere basieren auf einem hohen Urbanisierungsgrad. Hier treten Ungleichheitskonflikte hervor.142 Aus systemtheoretischer Perspektive betrachtet kommt es hierbei gerade nicht zur Entwicklung einer „Exklu­ sionsindividualität“ (Nassehi), sondern vielmehr zu einer Desintegration im Inklusionsbereich einerseits und zur Entwicklung hochintegrativer und parasitärer Sozialformationen im Exklusionsbereich andererseits.143 Sowohl gewalttätige Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, als auch Ordnungsformen der Gewalt im Exklusionsbereich erweisen sich dabei – bis zu einem gewissen Grad – als durchaus mit der funktionalen Differenzierung vereinbar.144 (4)  Gewalt im Kontext der Systemgenese thematisiert etwa Nassehi, wenn er dem Staatenkrieg des 19. Jahrhunderts ausdrücklich eine gesellschaftskonstitutive Wirkung zuspricht. Der „Funktionssinn des Krieges – zumindest des Krieges der europäischen Staaten nach 1648, noch mehr aber der des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – [scheint] auch darin zu liegen, Gesellschaften zu mobilisieren, d. h. ihre Differenziertheit im geradezu hegelschen Sinne aufzuheben.“145 Dabei erwägt Nassehi, ob nicht gerade diese integrative Kraft des Krieges „für die Entstehung moderner gesellschaftlicher Ordnungen“ verantwortlich gemacht werden müsse.146 Muss nicht der Krieg als „Ordnungsfaktor“ und Katalysator für Friedensordnungen, das Böse als Bedingung normativer Zivilisiertheit des Alltags und die Gewalt als Voraussetzung konsensorientierter Handlungskoordination betrachtet werden?147 Insbesondere erwachse aus dem Krieg auch jene – nicht zuletzt traditionell soziologische – Vorstellung moderner Gesellschaftlichkeit, die ‚Gesellschaft‘ als über gemeinsame Werte integriertes Ganzes begreift. Diese komplexe Theorielage lässt sofort erkennen, dass dem Problem der Gewalt systemtheoretisch in mehrfacher Hinsicht Raum gegeben wird. Sowohl das Theorem des Konfliktsystems als auch der Gewalt im Exklusions142  Hanser / Trotha,

S. 322–335. 1995, S. 242 f.; 2005, S. 79–82. Stichweh illustriert die integrative Verdichtung gewalthaltiger Exklusionszonen durch eine Metapher aus der Physik: Demnach könnte man sich die Welt als „eine Art von Universum“ vorstellen, „das von ‚schwarzen Löchern‘ durchzogen ist. In diese fällt gelegentlich etwas hinein. Wenn man sich ihnen annähert, wächst die Gefahr, dass man sich ihrer Anziehungskraft nicht mehr entziehen kann.“ (Stichweh 2005, S. 59) 144  Zu den Grenzen dieser Vereinbarkeit vgl. Nassehi 1997, S. 134 f. und Luhmann 1995, S. 234 f. 145  Nassehi 2006, S. 361. 146  Ebd., S. 364. 147  Ebd., S. 360 f., 368. 143  Luhmann



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bereich orientieren sich dabei an der Anomieproblematik: Konfliktsysteme und insbesondere Kriege werden als weltgesellschaftlich dysfunktional markiert und Gewaltordnungen im Exklusionsbereich als potenzielle „Selbstgefährdung der Gesellschaft“148 wahrgenommen, gerade weil sie intern durch Gewalt konstituiert und integriert werden. Dagegen betonen die Darlegungen zur Rolle der Gewalt im Politischen und insbesondere die Konzipierung des Militärs als Subsystem der Politik und auch die historischen Überlegungen zum Funktionssinn des Krieges, des Bösen und der Gewalt eindeutig eine konstitutionstheoretische Perspektive. Dabei wird deutlich, dass das systemtheoretische Konzept funktionaler Differenzierung der Weltgesellschaft eine erhebliche ‚Gewalttoleranz‘ unterstellt. Gewalt spielt eine Rolle bei der Genese funktionaler Ausdifferenzierung und bei ihrer Absicherung gegen gewalthaltige Gefährdungen. Ohne zusammenzubrechen, ja ohne überhaupt nennenswert ‚zu stolpern‘, erträgt das Weltsystem zudem die Abkopplung ganzer Zonen der Gewaltnormalisierung, mit der sozialen Entsicherung einhergehende subjektivierende Gewaltpraxen, periodische Wellen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und andere Formen gewalthaltiger Anomie. Luhmann selbst hatte schon früh darauf hingewiesen, dass die „Prämisse einer Weltgesellschaft […] auch für abweichendes Verhalten – so […] etwa für Flugzeugentführungen“ gilt.149 Wenn die Weltgesellschaft mit Bezug auf systemtheoretische Vorgaben als Weltzivilgesellschaft gefasst werden kann, dann bedeutet das also nicht, dass damit ein global durchpazifizierter Raum vorausgesetzt werden darf. Zwar enthält der soziologische Diskurs über die Weltgesellschaft durchaus idealisierende Elemente, insofern manche Vertreter der Theorie die Entortung der Weltsysteme als Irrelevanz des Raums interpretieren und daraus schließen, dass Krieg, Gewalt und Chauvinismus verschwinden würden, weil der Kampf der Nationalstaaten um Territorien sein Ende finde.150 Für die Utopie eines sich quasi von selbst einstellenden ‚ewigen Systemfriedens‘ gibt das Konzept der Weltgesellschaft bei Lichte betrachtet allerdings wenig Anlass. Das Verständnis der funktional differenzierten Gesellschaft als Weltzivilgesellschaft impliziert also nicht, sie sich als eine planetarische ‚Friedensgesellschaft‘ vorzustellen. Vielmehr erweist sie sich nicht nur als sehr tolerant gegen anomische Formen der Gewalt, sondern basiert zugleich auf konstitutiver Gewalt, die im Rahmen des politisches Systems und des Militärsystems zum Ausdruck kommt. Die Persistenz von Gewalt, sei es in Form ‚neuer Kriege‘, des Terrorismus, spezifischer Gewaltordnungen in Exklusionszonen oder ‚sichernder‘ 148  Nassehi

1997, S. 142. 1975, S. 54. 150  So Willke 2001, S. 221. Dazu kritisch Werber. 149  Luhmann

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Gegengewalt wie dem sog. ‚Krieg gegen den Terror‘, verschiedener nach 1989 geführter Sicherheitskriege und einer ganzen Reihe langandauernder Out-of-Area-Einsätze, spricht daher keineswegs gegen die Normalitätshypothese Luhmanns. Vielmehr ist soziologisch auch in Bezug auf die Weltzivilgesellschaft mit einer bestimmten ‚Gewaltnormalität‘ zu rechnen – und zwar sowohl im Durkheim’schen Sinne normaler Devianzraten als auch im Popitz’schen Sinne gewaltbewältigender Gewalt. Allerdings gilt zugleich, dass, obwohl unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung Konflikte erwartbar sind, Gewalt in den Handlungs- und Kommunikationskontexten ausdifferenzierter Funktionssysteme nicht Teil des alltäglichen Erwartungshorizonts ist. Erwartet wird vielmehr eine ‚sichere‘ Normalität. VI. Globalisierung von Sicherheit Die Persistenz von Konflikten und Gewalt in der Weltzivilgesellschaft wirft aus gewaltsoziologischer Perspektive die Frage auf, wie Zivilität global gewährleistet werden kann, d. h. wie Gewalt ausreichende denormalisiert werden kann. Dabei geht diese Sicht davon aus, dass die Gewaltbewältigung entsprechender Institutionen und Mittel bedarf. Im Unterschied zur inneren Sicherheit von Nationalgesellschaften kann dabei allerdings nicht umstandslos auf das staatliche Gewaltmonopol zurückgegriffen werden und zwar deshalb, weil es keinen Weltstaat gibt. Zudem erweist sich ein politischsoziologisches Modell, das sich die soziale und politische Welt als Summe der Nationalgesellschaften bzw. -staaten vorstellt, als unzureichend. Gerade auch das System der Weltsicherheit lässt sich nicht länger allein im klassischen Rahmen der ‚internationalen Politik‘, d. h. als System der Nationalstaaten begreifen. Dazu einige Hinweise: •• Im Zusammenhang mit der neueren Globalisierung nach 1989 tritt zunehmend die weltumspannende Risikovernetzung ins öffentliche Bewusstsein. Beispiele für diese Risikovernetzung sind nicht nur ‚harte‘ Sicherheitsbedrohungen, wie internationaler Terrorismus, organisierte Kriminalität, destabilisierende Konfliktzonen oder die Verbreitung von Atomwaffentechnologie, sondern auch ‚sanfte‘ Risiken, die im Zusammenhang mit dem Begriff „erweiterter Sicherheit“151 aufscheinen, also ökologische Gefahren, Klimawandel oder neuerdings das globale Finanzsystem. •• Die Diagnose globaler Gefahrenlagen verweist darauf, dass staatliche Grenzen dramatisch an Wehrwert einbüßen. Entsprechend erscheinen 151

151  Der Begriff „erweiterte Sicherheit“ reflektiert sowohl die Ausdehnung der Sicherheitsthematik über den klassischen Bereich politischer und militärischer Sicherheit hinaus (Menschenrechte, Klimaschutz, soziale Sicherheit etc.) als auch die Mehrdimensionalität von Sicherheitsinterventionen (Prävention / Reaktion, Verkopp-



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ganze Zivilgesellschaften als eine Gefahrenzone, in der zum Beispiel die Terrorgefahr ein „permanentes Hintergrundrisiko“152 darstellt. In diesem Zusammenhang kann von einem „Hineinfalten der Grenzen in die Gesellschaften“153 gesprochen werden. Diese (partielle) Entwertung von Staatsgrenzen154 läuft auf bemerkbare Veränderungen in Sicherheitspolitik und Rechtslage hinaus und findet nicht nur in Debatten über den Einsatz militärischer Mittel im Innern oder der Militarisierung von Teilen der Polizei seinen Ausdruck, sondern manifestiert sich auch in der Vergesellschaftung von Sicherheit, d. h. in der Ubiquität technischer Kontrolle, der Vervielfältigung und Privatisierung von Sicherheitsakteuren, einer Kultur des Verdachts bzw. der Prävention und dementsprechend der Spezifizierung von ‚Risikogruppen‘.155 •• Eng damit zusammen hängt die Globalisierung des Rahmens von Sicherheitsinterventionen. Wenn äußere Bedrohungen nicht mehr allein an der Grenze abgehalten werden können, dann liegt es nahe, den Gefahrenherd selbst aufzusuchen. Im Rahmen globaler Sicherheit geht es nicht länger nur darum, Gewaltbedrohungen ausschließlich an der Grenze des Nationalstaats abzuwehren. •• Damit korrespondiert, dass Sicherheit sowohl dem Anspruch (z. B. laut der Charta der Vereinten Nationen) als auch der Problemlage nach heute nicht länger die selbstbezogene Sache einzelner Staaten ist, sondern eine multilaterale politische Verpflichtung.156 Die Verantwortung für die Sicherheit der Welt ist eine Verantwortung, die Staaten ‚gemeinsam‘ tragen sollen. Dadurch erhält das Politische einen übernationalen Charakter, trotzdem Staatlichkeit eines seiner Strukturmerkmale bleibt. Um die Kontrolle von Gewalt und die Herstellung von Sicherheit im Globalitätskontext zu verstehen, ist Sicherheit als eine eigenständige Ebene sozialer Ordnungskonstitution zu betrachten. Die politische Funktion globaler Sicherheit liegt in der weltgesellschaftlichen Gewaltbewältigung, das heißt in der Absicherung der sozialen und kommunikativen Bezüge der lung von Sicherheit und Entwicklung, CIMIC, Militär als Weltgendarmerie etc.). Vgl. zum Begriff u. a. Buzan et al. und Brock 2005. 152  Enzensberger, S. 183. 153  Spreen 2008a, S. 267. 154  Hinzuweisen ist in diesem Rahmen aber auch auf Prozesse des Reborderings. Die Wohlstandszone West- und Mitteleuropa zum Beispiel umgibt sich mit einem gut überwachten Grenzraum, bei der sogar weltraumgestützte Kontrolltechnologie eingesetzt wird. Vgl. Bonacker; Kaufmann. 155  Vgl. u. a. Garland; Hanser / Trotha, S. 345–363; Legrano; Trotha 2010. 156  Dies reflektiert auch die amerikanische Sicherheitspolitik, die der Sicherheitsdoktrin der Bush-Administration nachfolgt (vgl. Gray).

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tendenziell weltweit ausgedehnten Funktionssysteme. Das heißt auch, dass die grenzüberschreitende Dehnung der ausdifferenzierten Funktionssysteme nur in sozialen Umgebungen möglich ist, in denen das gesellschaftliche Gewaltpotenzial mindestens bis zu einem gewissen Grad denormalisiert ist.157 Erreicht wird die Denormalisierung der Gewalt mittels verschiedener politischer Institutionen und Mittel, die sich auf unterschiedliche Probleme beziehen. Zu nennen sind insbesondere die Veralltäglichung zentrierter Herrschaft auf dem Territorium des Nationalstaats, die Verrechtlichung internationaler Beziehungen, die Einrichtung globaler politischer Foren und Institutionen und neuerdings die Möglichkeit militärischer Interventionen in jenen kritischen Exklusionsräumen und Zonen des Staatszerfalls, in denen die ‚neuen Kriege‘ gedeihen. Zudem zielt Sicherheit auf Prävention. In staatlich kontrollierten Räumen wird die Entschärfung des anthropologisch unhintergehbaren Gewaltpotenzials mittels der „Veralltäglichung zentrierter Herrschaft“158 erreicht. Es ist daher auch wenig verwunderlich, dass diese mit politischer Integration einhergehende Beruhigung des Sozialen zugleich ein wesentlicher Rahmen für die moderne Ausdifferenzierung von sozialen Funktionssystemen ist – ein Rahmen, aus dem diese dann im Zuge der Globalisierung „ausbrechen“.159 Nach wie vor stellen staatliche Strukturen aber eine wirkungsvolle Versicherung gegen das Prinzip der gewaltsamen Selbsthilfe dar, die jenseits des staatlichen Gewalt- und Rechtsmonopols lauert. Solange das weltpolitische Funktionssystem intern in Nationalstaaten ausdifferenziert ist, darf die Rolle der Veralltäglichung zentrierter Herrschaft für die weltgesellschaftliche Gewaltbewältigung nicht unterschätzt werden.160 157  Interessant wäre es, im Einzelnen zu untersuchen, wie weit funktionsspezifische Kommunikation gewalthaltige Umgebungen tolerieren kann und ob es diesbezüglich Unterschiede in den Toleranzgrenzen der verschiedenen Funktionssysteme gibt. 158  Popitz 1992, S. 259. Vgl. zur integrativen Funktion des modernen Nationalstaates auch Bonacker, S. 80–83. 159  So eine Formulierung von Willke (2006, S. 37). Vgl. auch Willke 2001, S.  136 f. 160  Rechtsstaatlich verfasste Nationalgesellschaften sind jene unverzichtbaren „lokalen Anerkennungsgemeinschaften des Rechts“ (Kater 2004), die es ermöglichen, die für eine zivile Sozialordnung notwendige Rechtsgeltung überhaupt durchzusetzen. Auch „globale Zivilverfassungen“ (Gunther Teubner), wie zum Beispiel die Selbstregulierung des Cyberspace, können, da – wie am Beispiel der globalen Digitalverfassung zugleich besonders deutlich wird – „das Verhalten der Netzteilnehmer nicht von sanktionsgestützten Verhaltensappellen der Rechtsnormen […], sondern von den elektronischen Zwängen der Netzwerkkontrolle“ reguliert wird (Teubner, S. 23), die Sanktions- und Regulierungsgewalt staatlichen Rechts funktional nicht ersetzen.



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Da Nationalstaaten allerdings untereinander in Konflikt geraten können – und wie man weiß, auch Weltkriege oder Weltkonflikte heraufbeschwören können – ist im zwischenstaatlichen Verhältnis Gewalt zu denormalisieren. Dazu dienen die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen und die Einrichtung von globalen politischen Foren und Institutionen, die die internationale Sicherheit und die Wahrung des Weltfriedens auf die Agenda gesetzt haben.161 Da allerdings der gegenseitige Wertungsverzicht bezüglich ‚innerer Angelegenheiten‘ in der staatlich segmentierten Weltgesellschaft weiterhin eine wichtige Rolle spielt, ergibt sich dennoch vielfach eine „faktische Duldung von Inhumanität“ und gewaltsamer staatlicher Übergriffe auf die eigenen Bürger.162 Deshalb werden staatliche Souveräne inzwischen vermehrt darauf verpflichtet, die grundlegenden Menschenrechte der ihrer Gewalt unterworfenen Personen zu achten. Grobe Verstöße dagegen können als Bedrohung der internationalen Sicherheit gewertet werden. Insgesamt ist eine deutliche Tendenz zur „Normierung von Staatlichkeit“ erkennbar.163 Luhmann fasst diese Entwicklung als Abhängigkeit einzelner Staaten vom politischen System der Weltgesellschaft. Der Begriff der Souveränität verliert seine Funktion des Schutzes gegen Übermacht und „driftet“ in Richtung auf regionale bzw. letztlich sogar globale Ordnungsverantwortung.164 Die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen und die Normierung von Souveränität verdeutlichen bereits, dass Sicherheit heute eine strukturell überstaatliche und globale Ordnungsform darstellt. Deutlich wird dies darüber hinaus im Hinblick auf deterritorialisierte Sicherheitsbedrohungen, wie zum Beispiel ortsunabhängige Netzwerke ideologisch-radikaler, terroristischer oder krimineller Art. Allerdings bleiben Terroristen und organisierte Kriminelle auf verortete Infrastrukturen verwiesen, an denen sie zum Beispiel Ressourcen generieren oder Rekruten anwerben und ausbilden können. Im Unterschied zu den territorial gebundenen Institutionen, können solche Netzstrukturen aber global verstreut sein, weshalb sich „punktuelle polizeiliche, geheimdienstliche oder militärische Interventionen“ am ehesten zu ihrer unmittelbaren Bekämpfung eignen.165 Es ist allerdings zu erwarten, dass sich kriminelle und terroristische Netzwerke in Räumen des Staatszerfalls einnisten oder bei geächteten Regimes Unterschlupf finden – und 161  In der Friedensforschung werden Verrechtlichung und Völkerbund  / Vereinte Nationen als zentrale Strukturmomente einer „Entgrenzung des Friedens“ (Bonacker, S. 87) diskutiert. Carl Schmitt (1963, S. 88–95) fasst diese Entwicklung polemisch als „Neutralisierung und Entpolitisierung“. 162  Stichweh 2000, S. 26. 163  Spreen 2008a, S. 277. 164  Luhmann 2000, S. 221. 165  Stichweh 2001.

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spätestens dann richtet sich das Auge des Adlers auf solche Territorien.166 Somit sind sowohl die Exklusionszonen, in denen die Denormalisierung der Gewalt nicht gelingen will, als auch ‚Schurkenstaaten‘ originäre Interven­ tionsfelder im Rahmen globaler Sicherheit. Die Sicherheitsmittel reichen dabei bis hin zu militärischen Interventionen (Sicherheitskriege und Out-ofArea-Einsätze). Die Absicherung von ‚Normalität‘ manifestiert sich auch in dem präventiven Charakter globaler Sicherheit. Bereits im Vorfeld sollen Konflikte möglichst gelöst oder zumindest soweit in der Latenz gehalten werden, dass es gar nicht erst zu Krieg und Gewalt kommt. Globale Sicherheitspolitik meint mehr als Friedenswiederherstellung, denn sie bekommt eine vorbeugende Ausrichtung. Damit folgt die internationale Politik jenem Paradigmenwechsel, in dessen Rahmen Sicherheitsdiskurse und Strategien der ‚Versicherheitlichung‘ (‚Securitization‘) ordnungspolitische Felder markieren, in denen Sicherheitspolitik als aktives und eingreifendes risk management betrieben wird.167 Es zeigt sich somit, dass globale Sicherheit zwar einerseits mit den Sicherheitsordnungen der Staaten verschränkt bleibt, dass sie andererseits aber über den Raum des Staates hinaus und in den staatlichen Raum hinein greift. Zwischenstaatliche Konflikte, hochdeviante überregionale Netzwerke und Zonen des Staatszerfalls einerseits, Sicherung grundlegender Menschenrechte, Einschränkungen der souveränen Selbstbestimmung und intervenierende Gewaltprävention andererseits markieren die globale Sicherheitsebene als eine eigenständige Struktur der Ordnungsherstellung und der Gewaltbewältigung. Dabei ist die Verwendung von Macht- und Gewaltmitteln eingelassen in normative Legitimitätsgründe, die auf eine allgemeine Zustimmungsfähigkeit abzielen (insbes. Frieden und Menschenrechte). Der Begriff der globalen Sicherheit ist somit nicht auf die Aufrechterhaltung einer wie auch immer verfassten gesellschaftlichen Ordnung ausgerichtet, sondern er bezieht sich auf die zivilgesellschaftliche Ordnungsform und einen entsprechenden Werterahmen.168 Das Problem der Ordnungskonstitution ist gewaltsoziologisch aber nur dann befriedigend behandelt, wenn die Funktion von gewaltbewältigender 166  Wie oft bemerkt und kritisiert wurde, ist die Einstufung von groben Menschenrechtsverstößen als einer Gefährdung von Sicherheit, die Handlungsbedarf evoziert, seitens westlicher Zivilgesellschaften und des Weltsicherheitsrates politisch hoch selektiv. 167  Spreen 2008a, S. 231 f. Vgl. zum Begriff präventiver Sicherheit auch Foucault; Hanser / Trotha, S. 345–363; Trotha 2010. 168  Zur Problematik der Umsetzung dieser Ordnungsform in den Krisengebieten siehe die Hinweise in Kapitel IX.



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Gewalt angemessen analysiert wird. Im internationalen und globalen Kontext gerät hier natürlich die Gewaltinstitution ins Auge, die in Zivilgesellschaften und Rechtssaaten primär mit ‚äußeren‘ Bedrohungen befasst ist – nämlich das Militär. Es ist daher notwendig, die Frage nach der gewaltbewältigenden Gewalt in Bezug auf die funktionale Rolle von Militär und Krieg für globale Sicherheit zuzuspitzen. Diese Verengung der Fragestellung darf allerdings nicht so verstanden werden, dass die Generierung globaler Sicherheit in erster Linie ein militärisches Problem sei. Militärische Kompetenz gilt vielmehr nur als ‚letztes Mittel‘ im Falle von Sicherheitsbedrohungen. Unverzichtbar ist sie nur insofern, als eine Gewaltbewältigung eben der Möglichkeit zur Gewalt bedarf. VII. Militärische Gewaltbewältigung in der Weltgesellschaft Die Funktionen von Militär und Krieg können nicht mehr allein in Bezug auf die Sicherung von Nationalgesellschaften betrachtet werden. Das diesbezügliche Spektrum militärischer Aufgaben differenziert sich erheblich aus.169 Es umfasst Sicherheitskriege, Out-of-Area-Einsätze zu Land und zu Wasser und die Territorialverteidigung. Diskutiert werden zudem Einsätze des Militärs im Staatsinnern: •• Sicherheitskriege: Sicherheitskriege werden in der Regel auf einer Seite durch eine multinational verzahnte Truppe geführt. Dabei dienen solche Kriege nicht dazu, einem als prinzipiell gleich anerkannten Gegner seinen Willen aufzuzwingen, sondern sie stehen vor dem Hintergrund einer rechtlichen und / oder moralischen Legitimation im Dienste der globalen Sicherheit. Der Sicherheitskrieg ist in zweierlei Hinsicht asymmetrisch: Erstens kommt sowohl eine überlegene Technologie als auch die überlegene Fähigkeit zu operativer Komplexität zum Einsatz, so dass ‚im Felde‘ Asymmetrie herrscht. Die Sicherheitsstreitkräfte haben im Gegensatz zu ihren Gegnern sehr geringe Verluste.170 Zweitens wird der Gegner, handelt es sich nun um terroristische Netzwerke, verbrecherische Warlords oder um ‚Schurkenstaaten‘, moralisch abgewertet. Beispiele für solche Sicherheitskriege sind der Golfkrieg 1991, der Kosovokrieg 1999, der Afghanistankrieg 2001 oder der Irakkrieg 2003. Diese Kriege entziehen sich sowohl ihrem politischen Rahmen als auch der Form ihrer Kriegführung nach dem klassischen Modell des Staatenkrieges. •• Out-of-Area-Einsätze: Mit Out-of-Area-Einsätzen sind die militärischen Komponenten anhaltender Sicherheitsinterventionen in Krisengebieten ge169  Kümmel. 170  Biddle,

S. 132–149.

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meint. In der Regel folgen diese Einsätze auf einen erfolgreich abgeschlossenen Sicherheitskrieg. Im Rahmen solcher ‚Missionen‘ wird nicht lediglich ein Feind bekämpft, sondern auch zivile Aufbauarbeit abgesichert bzw. seitens des Militärs selbst geleistet.171 Dabei kommt es erstens zu einer Verzahnung zwischen zivilen und militärischen Strukturen – dies zeigt sich nicht zuletzt in der Einbindung der Entwicklungshilfe in sicherheitspolitische Rahmenkonzepte. Zweitens konstituieren sich in der Wechselwirkung zwischen den militärischen und zivilen Institutionen der intervenierenden Staatengemeinschaft, privaten Organisationen aller Art (insbes. Hilfsorganisationen, NGOs, Sicherheitsfirmen) und den lokalen Machtstrukturen (schwacher Staat, Warlords, Aufständische, lokale Häuptlingstümer u. dergl.) Strukturen einer undurchsichtigen „kontingenten Souveränität“172, die in der Form ein interventionistisches Ausnahmezustandsregime darstellt. Dieses weist Parallelen zur kolonialen Herrschaft auf, unterscheidet sich aber davon insofern, als sie herrschaftslegitimatorisch nicht auf Dauer angelegt ist, wenngleich sie es faktisch durchaus werden könnte.173 Drittens verändert sich durch die zunehmende sicherheitspolitische Bedeutung von Outof-Area-Einsätzen die Auftragslage des Militärs. Im Kontext globaler Sicherheit übernimmt das Militär die neue Rolle einer „globalen Gen­dar­ merie“.174 Der Soldat als Gendarm „ist nicht mehr durch die Bereitschaft zum Töten, sondern durch die Bereitschaft bestimmt, den Aufbau des Gewaltmonopols und der staatlichen und öffentlichen Ordnung insgesamt zu bewerkstelligen“.175 Er wird „militärischer Ordnungshüter“.176 •• Einsätze im Innern: Die Abnahme des Wehrwerts von Staatsgrenzen und das Hineinfalten der Grenzen in die Gesellschaften hat zur notwendigen Konsequenz, dass entweder über die Möglichkeit des Einsatzes militärischer Mittel im Innern oder über die Militarisierung von Einheiten der Polizei nachgedacht wird. Der Einsatz bewaffneter Truppen im Innern wird allerdings in der Öffentlichkeit (zu Recht) als hochproblematisch bewertet, vor allem, weil die innenpolitische Neutralisierung des Militärs eine erhebliche Bedeutung für die Konstitution von Zivilgesellschaften hat. Dennoch greifen die Diskussionen in Deutschland, solange sie nur diesen Aspekt im Auge haben – den sie in der Regel durch historische Referenzen an den Nationalsozialismus dramatisieren – zu kurz, weil sie 171  Hierunter fallen aber auch Anti-Piraten-Einsätze zur See. Auf den Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen muss dabei naturgemäß verzichtet werden. 172  Duffield, S. 27–29 und S. 51–54. 173  Vgl. Trotha 2011b, S. 59–61; Spreen 2010c, S. 217–220. 174  Janowitz (S. 419) spricht von „constabulary force“. Hagen (S. 84) schlägt vor, dies als „globale Gendarmerie“ zu übersetzen. 175  Trotha 2010, S. 225. 176  Haltiner.



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die Globalisierung von Sicherheit nicht berücksichtigen und in einer national-historischen Perspektive verharren. •• Territorialverteidigung: Nicht zuletzt in der aktuellen Debatte um die Einstellung der Wehrpflicht kommt eine weitere fundamentale Verschiebung in den Blick. Natürlich bleibt die Territorialverteidigung ein Aufgabenfeld von Militärs. Der politische Verzicht auf die Möglichkeit, schnell und organisiert ein Massenheer aufzustellen, bedeutet aber nichts geringeres als den Verzicht auf die Möglichkeit der Verteidigungsautonomie. Deutschland wird sich in Zukunft in Verteidigungsfragen auf seine Nachbarn und Bündnispartner verlassen müssen und vice versa. Dieses Aufgabenspektrum macht erstens deutlich, dass der militärischen Gewaltkompetenz und auch dem Krieg eine wesentliche Funktion bei der Herstellung globaler Sicherheit zukommt. Im Rahmen ‚erweiterter Sicherheit‘ verbinden sich militärisch-polizeiliche Aufgaben mit zivilen Maßnahmen sowohl staatlicher als auch nichtstaatlicher Unterstützung und Hilfe, darunter nicht zuletzt der Entwicklungshilfe. In diesem Zusammenhang kommt der organisierten Kompetenz zur militärischen Gewalt und dem Sicherheitskrieg eine konstitutive Funktion für die Sicherheit der Welt und damit für die Weltzivilgesellschaft zu. Zweitens wird sichtbar, dass nationale Sicherheit auf sie übergreifende Sicherheitsstrukturen bezogen werden muss. Die Zeit der nationalstaatlichen Verteidigungssautonomie ist vorbei.177 Im Hinblick auf die oben vorgenommenen systemtheoretischen Überlegungen scheint es auch zunehmend plausibler, von der Genese eines globalen Militärsystems zu sprechen: Dieses Weltmilitär ist dabei ebenso wenig wie die Weltpolitik einem Nationalstaat zuzurechnen. Der Feind des multilateral organisierten Weltmilitärs kann nicht mehr ein Gleichgestellter sein. Seine Gegner sind ‚Schurken‘, ‚Kriminelle‘ oder ‚Terroristen‘, die symbolisch zunehmend als Weltfeinde konzipiert werden.178 Im Anschluss an systemtheoretische Überlegungen ist dieses Militär als ausdifferenziertes „Funktionssystem der Politik“ zu bestimmen.179 Das Weltmilitär des globalen Politischen trägt dazu bei, die Sicherheitsbedingungen anderer Funk­ tionssysteme zu gewährleisten, indem es ein global verfügbares gewaltbewältigendes Gewaltpotenzial offeriert. In dieser Sicht korrespondieren die Herausbildung eines Weltmilitärs als globale Gendarmerie und die Globali177  Vgl. auch Naumann 2008, S. 40–47; 2011. Historisch gesehen war die „Verteidigungsautonomie“ nie so eigenständig, wie es der Begriff suggeriert, sondern immer schon in umfassende Sicherheitskonzepte eingebettet (Howard). Einigermaßen neu ist allerdings, dass ‚globale Sicherheit‘ zu einem Wert wird, der wiederum militärische Operationen legitimieren kann. 178  Vgl. Take. 179  Kohl.

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sierung von Sicherheit. Dabei fällt zugleich das Zusammenspiel globaler und staatlicher Sicherheitsstrukturen ins Auge, denn das Weltmilitär löst sich nicht einfach vom Nationalstaat ab. Vielmehr wird es weiterhin von ihm finanziert und mit professionellem Personal ausgestattet. Auch verbleibt die letzte Entscheidung über den Einsatz militärischer Mittel beim staatlichen Souverän. Dennoch kommt es zu einer deutlich sichtbaren Lockerung der Bindung des Militärs an das rein ‚nationale Interesse‘. VIII. Das Politische in der Weltzivilgesellschaft Ist globale Sicherheit als eine weltumspannende Ordnungsform des Politischen im hier gemeinten Sinne anzusprechen? Luhmann zufolge ist die „Erfordernis der Bindung von Gewalt“ die „natürliche Grundlage der politisch konstituierten Gesellschaft“.180 Aus gewaltsoziologischer Sicht ist diese Bindung in erster Linie eine Leistung von gewaltbewältigender Gewalt. Sie generiert ‚Sicherheit‘. In Bezug auf die Weltgesellschaft wird Gewalt im Rahmen des Systems globaler Sicherheit gebunden, wobei dem Weltmilitär eine wichtige Rolle zukommt. Dabei stellt sich die Frage, ob die globale Sicherheitsordnung als ein primär militärisches oder als ein konstitutiv politisches System zu verstehen ist. Die Antwort auf diese Frage ist oben schon vorweggenommen worden, insofern das Weltmilitär im Anschluss an Luhmann als Funktionssystem der Politik konzipiert wurde. Allerdings ist es dennoch wichtig, die Frage explizit aufzuwerfen und die Antwort kritisch zu prüfen, denn dass das Militär der Politik untergeordnet bleibt, ist kein soziologisches ‚Naturgesetz‘, sondern ein ganz zentrales Kennzeichen von Zivilgesellschaft.181 Bezogen auf den Begriff des Politischen lautet die Fragestellung: Unterscheidet sich die globale Sicherheitsordnung von einem rein faktischen Machtsystem? Ist sie durch das Spannungsverhältnis zwischen Macht und Norm bestimmt? – Empirisch lässt sich schnell feststellen, dass sich globale Sicherheitspolitik auf zivilgesellschaftliche Ordnungsvorstellungen und einen entsprechenden Werterahmen bezieht, der auf eine „Zivilisierung der Weltpolitik“ zuläuft.182 Es geht nicht um bloße ‚Machtpolitik‘. Zu politischen Kernproblemen globaler Ordnung wurden in den letzten zwanzig Jahren vielmehr Themen wie Geltung fundamentaler Menschenrechte, Beruhigung notorischer Konfliktzonen und Sicherung des Friedens, demokratische Staatenbildung in Krisengebieten und Förderung guter Regierungsführung (good governance). Das Verhältnis zwischen Macht und Norm lässt 180  Luhmann

1974, S. 119. Kruse; Lepsius. 182  So Brock 2003. 181  Hoeres;



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sich zudem aufgliedern. Dadurch wird einerseits der zivilgesellschaftliche Bezugsrahmen globaler Sicherheit deutlicher; andererseits zeichnen sich auch die damit verbundenen strukturellen Problemlagen ab183: 1. Spannung zwischen inneren und äußeren Verpflichtungen: Die globale Sicherheitsordnung bleibt auf die politische Form des Nationalstaats – das heißt der Veralltäglichung zentrierter Herrschaft – verwiesen und überschreitet diese Form zugleich. Dies macht sich durch eine antinomische Bindung einerseits an grundlegende Prinzipien staatlicher Souveränität (wie Volkssouveränität und Verfassung) und andererseits an universale Normierungen der Souveränität bemerkbar. Für die globale Ordnungsstruktur ist eine deutliche Tendenz zur Verrechtlichung der internationalen Beziehungen konstatierbar. 2. Spannung zwischen Gewaltverbot und Menschenrechten: ‚Krieg‘ und ‚Frieden‘ schließen sich gegenseitig aus, ‚Krieg‘ und ‚Sicherheit‘ dagegen nicht. Dies liegt an dem Normenkonflikt zwischen dem Verbot, den Krieg als Mittel der Politik zu nutzen und dem Gebot, die Menschenrechte zu verteidigen. Friedenssicherung bezieht sich nicht länger auf die Wahrung des Friedens zwischen den Staaten, sondern auch auf andere Umstände wie die Rechte von Minderheiten, den Erhalt innerstaatlicher Ordnung oder die ordnungsgemäße Durchführung von Wahlen, woraus sich eine Rechtfertigung militärischer Gewalt ergeben kann.184 3. Spannung zwischen Moral und Recht: Subjektive moralische Gewissheit, das heißt das Wissen, im Namen einer höheren Gerechtigkeit zu handeln, hat die Eigenschaft, sich über geltendes Recht hinwegsetzen zu können. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Moral und Recht hat es zum Beispiel der US-Regierung ermöglicht, im Irak einen Sicherheitskrieg zu führen. Auch der Kosovokrieg lässt sich auf dieses Spannungsverhältnis zurückführen, insofern er als „Vorgriff“ auf eine kosmopolitische Rechtsordnung verstanden werden kann.185 Es erscheint daher angebracht, von einem legitimatorischen Kontinuum zwischen Legalität und Moral auszugehen: Legales Mandat, Vorgriff, moralische Gewissheit. Diese drei Aspekte markieren mögliche Akteurs- und Diskurspositionen innerhalb der globalen Sicherheitsordnung.186 Folgenden ausführlich Spreen 2008a, S. 269–283; 2010c, S. 209–216. Brock 2003; 2005. 185  So Habermas. 186  Die politische Sonderrolle USA in der globalen Sicherheitsordnung ist im Rahmen dieses Kontinuums möglicher Akteurspositionen zu verorten: Die USA treten einerseits als globaler Sheriff und andererseits als moralische Instanz in Erscheinung. Mittels ihrer global wirksamen Sicherheitsdoktrin können sie sich als normgebener Souverän und Weltpolizist inszenieren. Dabei untergraben sie das klassische Souveränitätsprinzip ebenso wie die Tendenzen zur Verrechtlichung der internatio183  Zum 184  Vgl.

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4. Legitimationsproblem militärischer Gegengewalt: Die westlichen Zivilgesellschaften kommen um die Erfahrung der Gewalt des Krieges nicht herum, auch wenn sie sie wesentlich als Medienereignis wahrnehmen. Aber anders als in Kriegsgesellschaften wird der Krieg von der Diskurs­ ordnung des Ausnahmezustands getrennt. Dadurch wird die Möglichkeit heroischer und kriegsgesellschaftlicher Deutungen verstellt. Militärische Sicherheitsmittel gelten daher als problematisch, obwohl sie Zivilität nicht bedrohen, sondern schützen. Dass dabei Spannungen in der öffentlichen Diskussion und Meinungsbildung nicht ausbleiben, ist daher zu erwarten.187 In diesen systematisierbaren Problemfeldern sind jeweils Spannungsverhältnisse zwischen Machtoptionen und Legitimationsmustern sichtbar, die spezifisch für eine moderne zivilgesellschaftliche Ordnung sind. ‚Weltsicherheit‘ ist daher solange kein weltumspannendes ‚imperialistisch-militaristisches‘ Herrschaftssystem, wie ihre Gewaltmittel durch die Politik der Zivilgesellschaft gebunden bleiben – das heißt, solange sie sich nicht in ein System schierer Aktionsmacht und Stärke verkehren. Im Rahmen der Globalisierung von Sicherheit trägt zwar ein ‚Weltmilitär‘ zum Schutz vor gewaltsamen Störungen bei. Dieses Militär agiert aber nicht aus sich heraus, sondern bleibt an das politische System und seine Gewalthegungsformen gebunden. Das heißt, die Verwendung sowohl von militärischen als auch von anderen Mitteln (etwa entwicklungspolitischen oder diplomatischen) im Rahmen globaler Sicherheit ist eingelassen in das Spannungsverhältnis zwischen den Macht­ realitäten der ‚internationalen Politik‘ und den normativen Rahmenstrukturen der ‚Weltgemeinschaft‘. Militärische Gewaltoptionen stellen dabei auch für die globalen Sicherheitsakteure zuerst eine Vermeidungsalternative dar. Sichernde Gewaltausübung wird nicht glorifiziert, sondern als ‚letztes Mittel‘ und ‚kleineres Übel‘ angesehen. Prominent institutionalisiert ist diese Beobachtungsweise in der Charta der Vereinten Nationen, die den Krieg als Instrument der Politik „diskriminiert“.188 Vor diesem Hintergrund konstituiert sich globale Sicherheit als ein zivilgesellschaftlicher Weltnomos und nicht ein ‚Weltkrieg light‘, wie dies neokritische Autoren im Fahrwasser Giorgio Agambens schnellschüssig suggerieren.189 Damit macht es inzwischen eindeutig Sinn, ‚Welt‘ als sicherheitspolitische Ebene zu untersuchen. Ende der neunziger Jahre sah das für manche nalen Beziehungen. Vgl. dazu den Annäherungsversuch an dieses Problem in Spreen 2008a, Kap. F. 187  Vgl. insbesondere in Bezug auf das Verhältnis von Public Relations und Sicherheitskriegen Spreen 2011a; Zowislo-Grünewald / Schulz. 188  So die Formulierung von Schmitt 1988. 189  Dazu Heins 2005; Spreen 2008b.



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Analytiker noch anders aus. Zum Beispiel schätzte die Kopenhagener Schule der Security Studies die Bedeutung globaler Sicherheit gering ein und beurteilte auch ihre zukünftige Relevanz skeptisch.190 Die Möglichkeit einer wachsenden Bedeutung globaler Sicherheit wurde in dem maßgebenden Buch von Buzan, Wæver und Wilde zwar schon angedeutet, aber nicht weiter ausgeführt. Interessant ist ihre Sichtweise, weil sie deutlich werden lässt, dass sich im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wichtige strukturelle Verschiebungen in der internationalen Politik ereignet haben. Es liegt nahe, die sich nach 1989 herauskristallisierende globale Sicherheitsordnung als den politischen Rahmen zu betrachten, der in der Weltgesellschaft Zivilität ermöglicht, denn dieser Ordnungstyp bindet die in der Weltgesellschaft flottierende Gewalt zumindest soweit, dass eine zunehmende funktionale Ausdifferenzierung im globalen Maßstab sichtbar werden kann. Mit dieser Sichtweise wird ein klassisches Argument Luhmanns aufgegriffen, wonach es ein wichtiges Ergebnis der Ausdifferenzierung der Politik und des modernen Staates ist, „dass andere Gesellschaftsbereiche damit die Möglichkeit von Systembildungen gewinnen, die mit eigenen, selbstkonstituierten Medien arbeiten und daran nicht durch ständig konkret intervenierende physische Gewalt gehindert sind.“191 Wenn aber funktionale Ausdifferenzierung globalen Charakter annimmt, dann muss es auch für die Weltgesellschaft einen politischen Mechanismus der Gewaltdomestikation geben und dieser kann nicht allein der Staat sein. Denn erstens kann aufgrund der Möglichkeit zwischenstaatlicher Kriege der Staat die Kontrolle der physischen Gewalt nicht allein aus sich heraus leisten, sondern es bedarf dazu internationaler Sicherheitsstrukturen.192 Zweitens erwächst aus der globalen Risikovernetzung und der korrespondierenden Abnahme des Wehrwerts von Grenzen in der Weltordnung nach 1989 eine weitere Notwendigkeit zur Etablierung einer die territorialen Gesellschaftssegmente übergreifenden Sicherheitsordnung. Das gegenwärtige globale Sicherheitsdispositiv antwortet durch die Verrechtlichung der internationalen Politik einerseits und die Öffnung des globalen Raums für Interventionen aller Art im Rahmen ‚erweiterter Sicherheit‘ andererseits auf beide Problemlagen. Kurz: Wenn also einerseits die Weltgesellschaft eine funktional differenzierte und damit strukturell ‚zivile‘ ist und andererseits eine spezifische globale Sicherheitsordnung die notwendigen gesellschaftlichen Bedingungen hierzu schafft, dann liegt es nahe, von einer politischen Konstitution der Weltgesellschaft auszugehen, in der eine nicht bloß ‚staatliche‘ oder ‚zwischenstaatliche‘ Ordnungsherstellung wirksam ist. Buzan et al. 1998, S. 36. 2000, S. 57 f. 192  Dazu empirisch Howard. 190  Vgl.

191  Luhmann

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Damit wird aber die Bedeutung überstaatlicher politischer Formen der Strukturbildung und Problembehandlung – also die eigentlich ‚welt‘-gesellschaftliche Dimension des Politischen – hervorgehoben und die begriffliche Bindung zwischen politischem System und Staatlichkeit aufgeweicht. Diese Bindung findet ihren Ausdruck in der Schwierigkeit, „über die Annahme eines primär segmentär [in Nationalstaaten, D.S.] differenzierten politischen Systems hinauszukommen.“193 Die Analyse der globalen Sicherheitsordnung und ihrer gewaltbewältigenden Funktion interessiert sich dagegen für eine weltpolitische Ordnungsstruktur, die nicht allein auf Staatlichkeit zurückgeführt werden kann.194 Sie fokussiert dabei – gewaltsoziologisch – auf das Problem der physischen Irritierbarkeit von Kommunikation. Zonen normalisierter Gewalt ‚irritieren‘ demnach die funktional ausdifferenzierte Kommunikation der Weltzivilgesellschaft, weil sie ihre Sicherheitsvoraussetzung in Frage stellen. Aber kann es vor dem Hintergrund von Diagnosen, die einen Trend zur Entpolitisierung in der neueren soziologischen und politischen Theorie ausmachen, überhaupt noch en vogue sein, den Gedanken einer politischen Konstitution von Gesellschaft – und das gar bezogen auf einen globalen Kontext – ins Spiel zu bringen? Gibt es in den Theorien zur Globalisierung eine Neigung zu postpolitischen Visionen, die eine solche Fragestellung ausschließen? Mit dem Vorwurf einer postpolitischen Haltung meint Chantal Mouffe, dass unter dem Mantel von Modernisierungstheorien die politischen, leidenschaftlichen und gewaltförmigen Faktoren aus der Gesellschaftstheorie heraus gedrängt werden sollen.195 Absicht der hier ausgefalteten Überlegungen zur Bedeutung des Politischen ist zu zeigen, dass dieser Verdacht kein notwendiger sein muss, dass also die Perspektive auf die Weltgesellschaft nicht in eine ‚postpolitische‘ sozialwissenschaftliche Perspektive münden muss. Ein pauschaler ‚Verdacht‘ gegen das Politische wäre in der Tat ungerechtfertigt, denn das Politische ermöglicht überhaupt erst die Ausdifferenzierung beständiger gesellschaftlicher Strukturen. Das Politische transformiert die anthropologisch gegebene Normalität der Gewaltmöglichkeit in die Normalität eines weitgehend gewaltfreien Alltags. Zudem ist es nicht auf die Form 193  Albert, S. 229. Etwa bezeichnet Rudolf Stichweh die „Institutionalisierung des souveränen Nationalstaates“ als „die grundlegende Prämisse des politischen Systems der Welt“ (Stichweh 2000, S. 60). Vgl. kritisch Holz, S.  40 f. 194  Luhmann wies bereits Anfang der 1990er Jahre darauf hin, „dass die Form ‚Staat‘ […], heute nicht mehr die Kreuzfigur […] im politischen Geschehen sein kann“ (Luhmann 2005, S. 73). Die Strukturebene ‚internationale Politik‘ wird inzwischen als eigenständiger Problembereich wahrgenommen (vgl. u. a. die Sammelbände Albert / Stichweh oder Stetter). 195  Mouffe.



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des Staates festgelegt, so dass es durchaus möglich ist, das Politische als globales System zu betrachten. Auf die genuin politische Frage nach sozialer Ordnungsverbindlichkeit in der Weltgesellschaft gibt es dabei nur wenige mögliche Antworten: Entweder es gibt keine Ordnung. Das läuft auf die Behauptung hinaus, dass globale Sozialsysteme nicht existieren, folglich auch keine Weltgesellschaft. Oder es gibt eine globale Ordnung, aber die politische Ordnungsleistung wird durch die Funktionssysteme der Weltgesellschaft quasi by the way miterbracht. Diese Annahme widerspricht dem Theorem der funktionalen Ausdifferenzierung also der ‚Spezialisierung‘ der Teilsysteme.196 Oder die Generierung globaler Ordnung ist eine politische Leistung und wird vom politischen System erbracht. Die ersten beiden Antwortmöglichkeiten sind empirisch und theoretisch unbefriedigend – schon daher ist es sinnvoll, von einer ‚politischen Konstitution‘ auch der Weltgesellschaft auszugehen und diese zu rekonstruieren. Daran anschließend muss allerdings aus mindestens drei Gründen von einem Formwandel der politischen Konstitution von Gesellschaft im Zusammenhang mit globaler Sicherheit gesprochen werden: •• Erstens basiert die politische Konstitution von Gesellschaft im globalen Kontext nicht auf einer absoluten staatlichen Souveränität. Die Annahme der Entstehung eines Weltstaates ist „offensichtlich unrealistisch“.197 Und die Staaten wiederum sind in strukturelle Spannungsverhältnisse zwischen inneren Bezügen (im Idealfall: demokratische Legitimation) und äußeren Bindungen (Normierung von Staatlichkeit) eingebettet. In Bezug auf die ‚Welt‘ schlüpft vielmehr das globale Sicherheitsdispositiv in die ordnungskonstitutive Rolle des Staates. Globale Sicherheit bleibt aber in vielfacher Hinsicht auf Staaten als Akteure angewiesen. •• Zweitens kann nicht von einer ‚starken‘ inneren kulturellen Homogenität und Werteintegration des globalen politischen Raums ausgegangen werden. Dieser ist vielmehr auf die Wertekontexte verschiedener nationaler, ethnischer oder religiöser Gemeinschaften, auf die unterschiedlichen Sinngrenzen der Funktionssysteme und auf soziale Exklusionsmechanismen 196  Dies meint, dass ein Funktionssystem eben eine spezifische soziale Funktion übernimmt und daraufhin sich selbst und seine Umwelt beobachtet. Das schließt Zweitcodierungen nicht aus; diese müssen aber auf die Funktion und den primären Code bezogen sein. Im Falle des politischen Systems sind dies insbesondere die zur primären Codierung Stärke / Schwäche hinzutretenden Codes Recht / Unrecht und progressiv / konservativ bzw. links / rechts (Luhmann 1988, S. 31–59; 2000, S. 88–102). Die innerhalb der Systemtheorie vor allem von Helmut Willke vertretene These, dass die Exterritorialisierung der Gesellschaft sich als „funktionssystemlose Leistung der dezentralen Koordination unterschiedlicher Akteure“ vollziehen könnte (Willke 2001, S. 75), berücksichtigt nicht die genuine Funktionsleitung des Politischen, nämlich die Aufgabe der Gewaltbewältigung. 197  Stichweh 2007, S. 35.

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verwiesen. Eingewandt werden könnte gegen dieses Argument, dass sich das Sicherheitsdispositiv an zivilgesellschaftlichen Werten und den Menschenrechten orientiert und zudem ja auch von ‚kollektiver‘ Sicherheit oder internationaler ‚Gemeinschaft‘ gesprochen werde. Das ist zwar richtig, aber dennoch weit von dem gemeinschaftlichen ‚Wir‘ entfernt, das nationale soziale Einheiten kennzeichnet.198 •• Drittens kann nicht länger von einer „Domestikation der anderen Funk­ tionssysteme“ durch eine „radikale Optionssteigerung des Politischen“199 wie im Nationalstaat die Rede sein, sondern lediglich von einer politischflexiblen Bereitstellung von ‚Sicherheit‘ als Operationsbedingung funk­ tionaler Ausdifferenzierung. Die Rückkehr zur Vorstellung der Zivilgesellschaft als ‚Staatsgesellschaft‘ ist damit verstellt, denn Wirtschaft bleibt Wirtschaft, Wissenschaft Wissenschaft und Politik Politik. Von der politischen Konstitution der Weltgesellschaft zu sprechen, erscheint also insoweit plausibel, als das politische System im Rahmen des Dispositivs globaler Sicherheit grundlegende Kommunikations-, Interaktions- und Operationsbedingungen der Weltzivilgesellschaft ‚sichert‘. Diese Konstitution unterscheidet sich aber erheblich von der klassisch-modernen politischen Gesellschaftsformierung im Rahmen von Nationalstaaten und markiert daher einen Formwandel. Zusammengefasst konstituiert sich globale Sicherheit als ein politischer Weltnomos der Zivilgesellschaft, der die Friedensverpflichtung des Völkerrechts und die Geltung der Menschenrechte in den Vordergrund schiebt. Diese Sicherheitsordnung bezieht sich auf Frieden und Sicherheit als politische Aufgabe und distanziert sich damit sowohl von der schieren Interessendurchsetzung als legitimer Grund politischen Handelns als auch von Krieg und Gewalt als fraglos legitimen politischen Mitteln. Um diese Ansprüche zumindest in groben Zügen zu verwirklichen, wird versucht, Risiken und Gefahren einzudämmen und Gewalt einzuhegen. Dabei zeigt sich die ‚Weltgemeinschaft‘ durchaus in der Lage, im großen Maßstab gewaltbewältigende Gewalt einzusetzen. In Anbetracht der Persistenz von Gewalt in der Weltgesellschaft ist ‚globale Sicherheit‘ als eine Ordnungsform zu betrachten, die einen zivilen Erwartungshorizont in Bezug auf globale soziale Bezüge absichert und dadurch ermöglicht.

198  Vgl.

Wæver et al. 1993, S. 17–23. 2006, S. 363.

199  Nassehi



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IX. Problemausblick In dem hier entwickelten soziologischen Rahmen meint die Rede von der Sicherheit der Weltzivilgesellschaft, dass eine globale politische Sicherheitsordnung soweit zur Gewaltbewältigung in der Lage ist, dass sich die Funktionssysteme der Gesellschaft tendenziell weltweit ausdehnen können. Somit kann von einer politischen Konstitution der Weltgesellschaft gesprochen werden. Da aber die Politik selbst ein Funktionssystem der Weltgesellschaft ist, kann diese Rede nicht mehr in dem Sinne verstanden werden, dass das staatliche Gewaltmonopol die Gewalt der Gesellschaft domestiziert. Aus gewaltsoziologischer Perspektive betrachtet, handelt es sich vielmehr um einen spezifischen Ordnungstyp, nämlich eine supranationale und weltumspannende Ordnungsstruktur der Gewaltbewältigung, in der Staaten allerdings wichtige Akteure darstellen. Im Rahmen dieser Form der Gewaltbewältigung ändern sich die Aufgaben des Militärs: Dieses wird tendenziell ein ‚Weltmilitär‘, welches als globale Gendarmerie Gewalt gegen ‚Weltfeinde‘ ausübt. Dass dieses Militär im Rahmen des Politischen verbleibt, schlägt sich nicht zuletzt in der starken normativen Rahmung militärischer Einsätze und Sicherheitskriege nieder. Anschließend an diese Analyse ergeben sich eine Reihe neuer Problembereiche und Fragen. Erstens rücken kriegssoziologische Fragen nach Funktion und Funktionsverschiebung des Krieges in den Blick. Traditionellerweise wird der Krieg als politisch-gesellschaftlicher Ausnahmezustand wahrgenommen, der fundamentale Verschiebungen in den politischen und sozialen Strukturen zur Folge hat. Diese können bis zu einer Militärdiktatur oder sogar bis zur Transformation der Gesellschaft in eine Kriegsgesellschaft reichen. Offensichtlich ist das im Rahmen der globalen Sicherheitsordnung nicht der Fall, vielmehr begleiten militärische Missionen nicht nur einfach den zivilgesellschaftlichen Alltag, sondern sie helfen, den gewaltfreien Alltag aufrecht zu erhalten. Damit ergeben sich zunächst einmal typologische Fragen, die in eine Unterscheidung verschiedener Kriegsdiskurse münden (vgl. Abb. 1). Gegenwärtig bildet der Diskurs der totalen Mobilmachung, der auf den Zweiten Weltkrieg referiert, die historische Folie der Kriegswahrnehmung in der deutschen Öffentlichkeit. Aus historisch-vergleichender Perspektive wird damit die Problemstellung klar verfehlt; dies ist aber nicht belanglos, weil solche Bilder Einfluss auf strategische Konzepte, ihre Anerkennung und Legitimation haben.200 Eine realitätsgerechte Wahrnehmung der militärischen Seite globaler Sicherheit erfordert es daher umso mehr, Fragen nach Wechselwirkungen 200  Vgl.

die Beiträge in Spreen / Galling-Stiehler.

Quelle: Spreen 2010a, S. 80

Abb.1: Beispiel eines Bezugsschemas von Kriegsdiskursen (für Deutschland)

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zwischen Krieg und Zivilgesellschaft aufzuwerfen. Diese Wechselwirkungen sollten nicht theoretisch deduziert, sondern müssen im Detail rekonstruiert werden. Ein Beispiel für eine solche Fragestellung ergibt sich, wenn man globale Sicherheit ‚vor Ort‘ genauer in den Blick nimmt. Wie verhält es sich mit dem Wandel der Macht- und Sozialstrukturen im Kontext langanhaltender Out-ofArea-Missionen in der Weltperipherie? Entsteht im Rahmen einer hybriden Herrschaftsordnung aus Interventions- und Schutztruppen, zivilen Hilfsorganisationen, Kriegs- und Friedensunternehmern und lokalen Akteuren aller Art eine neo-koloniale Situation? Welche Risiken würden sich daraus im Hinblick auf die eigentlich angestrebten Zwecke ergeben? Welche Rückwirkungen hat das für die Zivilgesellschaften im Zentrum der Weltgesellschaft? Untersuchungen konstatieren, dass sich in Krisengebieten leicht ein interventionistisches Ausnahmezustands-Regime etabliert. Aus der Vielzahl der wirkungsfähigen Akteurszentren ergibt sich eine zerbrechliche, aber dennoch spezifische Herrschaftsstruktur, in der legislative oder juridische Kontrollen de facto schwach bleiben. Zudem sind dieser Herrschaft paternalistische Züge eigen, die in erzieherischen Konzepten und normativer Überhöhung des Regierens ihren Ausdruck finden.201 Diese Form des Regierens ähnelt auffällig den kolonialen Herrschaftsstrukturen des Liberalismus, d. h. der „indirect rule“ oder der „native administration“.202 In den konkreten Risikoräumen der Weltgesellschaft steht ‚Sicherheit‘ damit im Kontext deutlich anderer sozialer und politischer Strukturen als in den Wohlstandsgesellschaften ‚des Nordens‘. Das allerdings provoziert auch die Frage, ob Elemente dieser Strukturen als Kippfiguren normalisierender Sicherheit in die Zivilgesellschaft importiert werden.203 Welche sozialen, politischen und rechtlichen Folgen und Begleiterscheinungen hat dieser Import? Was bedeutet er? Wird die Sicherheitspraxis damit partiell zu einer Art ‚innerer‘ Out-of-Area-Mission? – Für die Beantwortung solcher Fragen ist es nicht nur methodisch, sondern auch inhaltlich wichtig, die „Wege der Sicherheitsgesellschaft“204 nicht nur aus 201  Duffield;

Cunliffe. S. 39–42. Zur Problematik des „liberalen Friedens“ vgl. Richmond. 203  Spreen 2010c, S. 197–200; vgl. Trotha 2000. 204  Axel Groenemeyer fragt zu Recht, „ob es denn die vorgelegten Analysen eines Transformationsprozesses tatsächlich rechtfertigen, von einem grundlegenden Epochenbruch und damit von einem neuen Etikett Sicherheitsgesellschaft zu sprechen.“ (S. 17) Alternativ zum Transformations-Topos schlägt er vor, Funktionsweise und Funktionen von alten und neuen Sicherheitsmechanismen in der Zivilgesellschaft zu untersuchen, d. h. die „Wege“ der Sicherheit empirisch zu konturieren und sich mit großangelegten Gesellschaftsdiagnosen zurück zu halten. Diese Herangehensweise bringt auch die Motivation zu der hier vorgelegten explorativen Analyse globaler Sicherheit gut auf den Punkt. 202  Duffield,

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einer binnenstaatlichen Perspektive zu beschreiben, sondern sowohl globale Sicherheit als auch die Geschichte der Kolonialherrschaft einzubeziehen. Hinzu kommt die Frage nach Erfahrungen und Enttäuschungen. So dürften aus den Erfahrungen mit den zahlreichen Out-of-Area-Missionen und Interventionen in Nachkriegs- und Postkonflikt-Konstellationen, die samt und sonders zu einem stetigen Herabschrauben der angestrebten politischen Ziele geführt haben, Veränderungen resultieren. Welchen Einfluss werden diese Erfahrungen auf politisch-strategische und militärisch-taktische Konzepte haben? Wird ‚Libyen‘ zum Paradigma oder ‚Afghanistan‘? Oder bilden sich neue Konzepte heraus? Wie wird sich die Kommunikation über ‚Krieg‘ verändern? Inwiefern werden dabei Gewalterfahrungen thematisiert und berücksichtigt? Sowohl machtsoziologisch als auch unter normativen Aspekten zentral sind Fragen nach der institutionellen Binnenstruktur globaler Sicherheit und ihren Wandlungen. Die institutionelle Struktur globaler Sicherheit darf man sich nicht nach dem Vorbild eines staatlichen Gewaltmonopols vorstellen. Mittels welcher Institutionen wird eine Gewaltbewältigung erreicht? Welche Rolle kommt internationalen Verträgen und Organisationen sowie überre­ gionalen Gerichtshöfen zu? Dabei stellt sich insbesondere die Frage nach der Gewalt der Gewaltbewältigung. Kann diese Gewalt wirksam kontrolliert werden? Lassen sich Entgrenzungspotenziale eindämmen, die sich aus einer „prozedurenlosen Moralisierung der internationalen Politik“205 ergeben können? Welche Risiken folgen aus der Privatisierung von Sicherheit und Frieden durch military firms und Warlords einerseits sowie Friedensunternehmer und NGOs andererseits? Welche Transformationen resultieren aus globaler Sicherheit für die staatlichen militärischen Organisationen? Diese Fragen sind nur ein Ausschnitt aus den sich abzeichnenden Problemen. Sie ergeben sich aber nicht nur aus der gewaltsoziologisch motivierten Analyse der globalen Sicherheitsordnung, sondern sie verweisen auch auf die Rolle, die Militär und Krieg als gewaltsame Mittel der Gewaltbewältigung bei der Ordnungskonstitution spielen. Diese Bedeutung kommt ihnen objektiv zu, auch wenn viele sozialwissenschaftliche Ansätze und Paradigmen die Thematik schlicht übergehen.

205  Joas

in diesem Band.



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Friede durch Demokratie?1 Von Hans Joas Der jüngst verstorbene amerikanische Philosoph Richard Rorty, der vielleicht mehr als jeder andere Zeitgenosse dazu beigetragen hat, die Philosophie des amerikanischen Pragmatismus wieder salonfähig zu machen, hat neben seiner fachphilosophischen Arbeit immer wieder auch in langen Aufsätzen zu politischen Gegenwartsfragen Stellung genommen. Eines seiner brillantesten Stücke in diesem Genre erschien 1996 und trägt den Titel Fraternity Reigns, Brüderlichkeit regiert, die Herrschaft der Brüderlichkeit. Es stockte mir bei der Lektüre des Textes im Sonntagsmagazin der New York Times seinerzeit fast der Atem. Rortys Text ist nämlich geschrieben als Rückblick auf das vergangene Jahrhundert – vom Jahr 2096 aus. In einer negativ-utopischen Fiktion unterstellt Rorty, dass es im Jahr 2014 zu einem völligen Zusammenbruch der demokratischen Institutionen in den USA gekommen sei und dass es dreißig „dunkler Jahre“2 bedurft habe, um 2044 die Demokratie wiederherzustellen. Einer Koalition von Gewerkschaften und Kirchen sei es nach langen Bemühungen endlich gelungen, die Militärdiktatur, die während der dunklen Jahre herrschte, zu stürzen und die Kontrolle über den willfährigen Kongress wiederzuerringen, „indem sie die Wähler erfolgreich davon überzeugte, dass ihre Gegner die Parteien der Selbstsucht“3 darstellten. Diese neue, wiederhergestellte demokratische Ordnung sei aber keine einfache Rückkehr zu den politischen Strukturen, die am Anfang des 21. Jahrhunderts geherrscht haben und durch die es zum Zusammenbruch der Demokratie ja erst gekommen war. Das ganze politische Vokabular habe sich radikal verändert ebenso wie das „Verständnis vom Zusammenhang zwischen moralischer Ordnung und

1  Dieser Beitrag basiert zu Teilen auf einem Buch, das ich mit Wolfgang Knöbl (Göttingen) verfasst habe (vgl. Joas / Knöbl). Insofern ist Wolfgang Knöbl ein virtueller Koautor auch dieses Textes, da ich sicher bin, dass in meine Ausführungen Gedankengänge von ihm eingegangen sind. Für Fehler und Unplausibilitäten muss ich dennoch allein die Verantwortung übernehmen. – Mein Dank gilt außerdem Paul Starr (Princeton), dessen Arbeiten, die er mir freundlicherweise zugesandt hat, ich besonders wichtige Anregungen entnommen habe. Vgl. Starr 2007; 2010. 2  Rorty, S. 1. 3  Ebd., S. 7.

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Wirtschaftsordnung“4. Wie Menschen des 20. Jahrhunderts es kaum mehr begreifen könnten, dass sich ihre Vorfahren vor dem amerikanischen Bürgerkrieg mit der Tatsache der Sklaverei arrangiert hatten, so „fällt es nun“ – schreibt Rorty – „am Ende des 21. Jahrhunderts schwer zu begreifen, wie unsere Urgroßeltern es für zulässig und rechtens halten konnten, dass ein leitender Angestellter zwanzigmal soviel verdiente wie der schlechtest bezahlte Lohnabhängige. Wir können nicht verstehen, warum Amerikaner noch vor hundert Jahren den empörenden Unterschied zwischen einer in den Wohlstandsinseln der Suburbs und einer in den Ghettos verbrachten Kindheit tolerierten. Für uns sind solche Ungleichheiten offensichtliche moralische Scheußlichkeiten, doch die große Mehrheit unserer Vorfahren nahm sie als bedauerliche Notwendigkeit hin.“5

Als literarischen Kunstgriff, um die Aufmerksamkeit auf das demokratiebedrohende Potenzial extremer sozialer Ungleichheit zu richten, werden viele diese fiktive Rückschau vermutlich akzeptieren. Aber die Idee eines amerikanischen Militärputsches dürfte den meisten doch als abwegig erscheinen, vielleicht als typische Ausgeburt des gesellschaftlich isolierten Campus-Radikalismus, wie es ihn in den USA gewiss gibt, oder als eine der Verschwörungstheorien, die schon Präsident Kennedys Ermordung und Präsident Nixons Rücktritt auf Machenschaften der Geheimdienste und des Pentagon zurückführten und die heute vornehmlich im Internet zirkulieren. Es wäre aber m. E. falsch, die negative Utopie Rortys zu rasch beiseite zu wischen. Rorty war kein Freund von Verschwörungstheorien und gewiss auch kein Teil des Campus-Radikalismus, sondern dessen polemischer Kritiker – eine Art Sozialdemokrat eher als ein akademischer Linksradikaler. Auch ich selbst fühle mich gut gesichert gegen die Unterstellung des AntiAmerikanismus, da ich mir in den Jahrzehnten seit meiner Doktorarbeit wohl eher ein Zertifikat für Amerikanophilie erworben habe. Ganz besonders stutzig machen müsste auch die Skeptiker unter den Lesern die Tatsache, dass Rorty gar nicht der eigentliche Urheber dieser Idee zu sein scheint. Schon 1992 erschien nämlich, was Rorty nicht erwähnte, in der Zeitschrift Parameters, dem offiziellen Organ des U.S. Army War College, ein Aufsatz von Charles Dunlap Jr. The Origins of the American Military Coup of 2012. Hier ist das Putschjahr also 2012, nicht 2014, der Name des Comman­derin-Chief Thomas E.T. Brutus, seine Herrschaft durch ein nationales Referendum legitimiert, Widerstand wird durch Militärgerichte unterbunden. Der Coup wird auf Entwicklungen zurückgeführt, die spätestens in den 1990er Jahren einsetzten – wie weitverbreitete politische Apathie, ungelöste Sicherheitsprobleme aller Art, der Einsatz des Militärs für nichtmilitärische Zwecke und völlige soziale Unrepräsentativität des Militärs. Selbst wer diese 4  Ebd., 5  Ebd.

S. 1.



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Szenarien für gänzlich verfehlt hält, kann sie als Gedankenexperimente nützlich finden, die aufdecken, welche stillschweigenden Annahmen uns dazu bringen, eine solche verheerende Entwicklung für undenkbar zu halten. Auch wenn vieles bei genauerer Betrachtung für diese Annahmen sprechen sollte, dürfte es nützlich sein, die Annahmen ins Licht zu rücken und zu überprüfen. Wie Deutschlands bedeutendster Friedensforscher, Dieter Senghaas, immer wieder hervorgehoben hat, sollte neben der Kriegsursachenforschung immer auch eine Friedensursachenforschung stehen: Warum halten wir heute einen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich oder zwischen Schweden und Norwegen für undenkbar? Warum halten wir manche Demokratien für nicht gefährdet? Wie haben wir uns die Zusammenhänge zwischen Demokratie und Krieg eigentlich näher vorzustellen? Wie verhält sich das Horrorszenario eines Zusammenbruchs der amerikanischen Demokratie zur sozialwissenschaftlichen Debatte über einen demokratischen Frieden, eine spezifisch höhere Friedensfähigkeit von Demokratien zumindest im Wechselverhältnis zu anderen Demokratien?6 Fächert man die in der Beziehung von Krieg und Demokratie sich stellenden Fragen zunächst einmal schematisch auf, dann gibt es zwei mögliche Richtungen der Kausalität zu bedenken: Wie wirken sich Kriege auf Demokratien aus – und welche Wirkung hat die demokratische Verfasstheit eines Staats auf sein Verhalten in puncto Krieg? Nimmt man zu diesen geläufigen Fragen die in der Soziologie seit der Darwin-Rezeption im 19. Jahrhundert verbreitete und vor allem von Parsons in The Social System von 1951 auf den Begriff gebrachte Unterscheidung zweier möglicher Wirkungstypen hinzu – ‚Sozialisation‘ und ‚Selektion‘, d. h. die innere Umformung und die unterschiedlich hohe Überlebenswahrscheinlichkeit in bestimmten Umwelten –, dann ergeben sich vier Fragestellungen: 1. Wie wirken sich Kriege auf das Innere von Demokratien aus? Befördern sie interne Demokratisierungsprozesse oder gefährden sie diese und bestehende demokratische Strukturen? 2. Ist es in einer kriegerischen Umwelt wahrscheinlicher, dass Demokratien überleben, weil sie über eigene Stärken verfügen, oder ist es wahrscheinlicher, dass Demokratien unter diesen Bedingungen ihren weniger demokratischen Gegnern unterliegen? 3. Sind Demokratien friedensfähiger als andere politisch-soziale Ordnungen oder gibt es spezifische friedensgefährdende Potenziale gerade demokratischer Gesellschaften? 4. Haben Demokratien spezifische Wirkungen auf die Art kriegerischer Auseinandersetzung, wenn sie an dieser beteiligt sind? 6  Vgl.

Senghaas.

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Noch komplexer wird das Bild, wenn wir uns bewusst machen, dass der Begriff Krieg nicht einfach so verwendet werden darf, als sei mit der Ausein­ andersetzung zwischen klar umgrenzten und einander im Prinzip wechsel­ seitig anerkennenden Staaten das ganze Spektrum von Makrogewalt abgedeckt. Nimmt man auch Bürgerkriege oder die staatliche Unterdrückung oder Ermordung von Teilen der eigenen Bevölkerung hinzu, dann stellt sich des Weiteren die Frage, ob Demokratien eine Sicherung gegen solche Gewalt darstellen oder ob umgekehrt etwa ethnische Säuberungen gerade, wie Michael Mann argumentiert, die „dunkle Seite der Demokratie“ darstellen.7 Zu all diesen Fragen enthält die Geschichte der Sozialtheorie eine Fülle von Antworten. Das heißt nicht, dass wir durchgehend über gut empirisch gesichertes Wissen verfügten – im Gegenteil! Meine Absicht ist es, einige wichtige Überlegungen zu diesen Fragen aus der Geschichte der Soziologie zusammenzustellen und sie auf gegenwärtige Realitäten so zu beziehen, dass dabei ein einigermaßen klares Bild entsteht. Das ist eine sehr vorsichtige Formulierung, die anstelle des voller klingenden Ausdrucks empirische Überprüfung tritt. Der Grund dafür liegt in meiner Überzeugung, dass bei Fragen solch hohen historischen Komplexitätsgrades die typischen Verfahren einer hypothesenprüfenden empirischen Sozialwissenschaft rasch an ihre Grenzen stoßen, uns dies aber nicht dazu verdammt, nur Meinungen und ungedeckte Vermutungen auszutauschen. Der begriffliche Differenzierungsreichtum der Philosophie und die Sensibilität für die historische Va­ riabilität des Gegenstandes dürfen nicht einfach schnittigen Operationalisierungen geopfert werden. Sie erlauben auch durchaus argumentativ gut abgesicherte Schlussfolgerungen. Am einfachsten ist nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wohl die zweite der genannten Fragen zu beantworten, die nämlich, ob Demokratien in der militärischen Konkurrenz mit Nicht-Demokratien notwendig unterliegen müssen. Lange Zeit hatte diese Annahme im Denken über den Krieg, gerade in Deutschland, große Plausibilität. Im Kontrast zu eindeutigen Befehlshierarchien bei starker Zentralisierung der Macht musste es so scheinen, als seien Gewaltenteilung und ein vielschichtiger, notwendig kontroverser, Zeit beanspruchender demokratischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozess niemals wirklich konkurrenzfähig. Wenn etwa der große soziologisch interessierte Historiker Otto Hintze in der Zeit des Ersten Weltkriegs argumentierte, dass Deutschland aufgrund seiner geografischen Lage in der Mitte des Kontinents es sich nicht leisten könne, eine demokratische Republik zu werden, dann war der Hintergedanke der, dass nur Staaten mit besonders geschützter geopolitischer Lage wie England und die USA auf ein stehendes Heer im 7  Mann.



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Prinzip verzichten könnten. Da stehende Heere aber immer auch zentrale staatliche Verwaltungen erforderten und leicht zu Repressionswerkzeugen in den Händen von Monarchen werden konnten, gäbe es eine Affinität zwischen Absolutismus und außenpolitischer Gefährdung einerseits, Parlamentarisierung und ungefährdeter Lage andererseits. In der anti-englischen Polemik wurde dieser Gedanke dann banalisiert. Für Faschismus und Nationalsozialismus war so sehr das Phantasma des Führerstaats leitend, dass dies mit einer – etwa in Hitlers Amerikabild – selbstmörderischen Unterschätzung der USA einherging. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es mit der Unterschätzung der Mobilisierungs- und Durchhaltefähigkeit der angelsächsischen Demokratien definitiv vorbei. Der Gedanke einer prinzipiellen Unterlegenheit der Demokratien wurde im Kalten Krieg nur von einzelnen besorgten Liberalen (wie Samuel Huntington8) geäußert, nicht aber von deren Gegnern. Die kommunistischen Führer erwarteten eher ein Scheitern des Kapitalismus durch ökonomische Krisen und ihren eigenen Erfolg in der technologischen Konkurrenz. Zudem nahmen sie die demokratische Idee ja für ihre eigenen Volksdemokratien legitimatorisch in Anspruch. Versuche zur empirischen Klärung der Frage nach der Widerstandsfähigkeit von Demokratien im Krieg – am wichtigsten die Studie Democracies at War von Dan Reiter und Allan Stam9 – kommen zu dem Ergebnis, dass seit 1816 Demokratien drei Viertel der Kriege gewonnen haben, in die sie verwickelt waren. Diese Erfolgsrate nimmt den Autoren zufolge sogar noch zu, wenn man nur die Kriege betrachtet, die Demokratien selbst begonnen haben; dann sind sie – nach diesen Zahlen – sogar zu 93 Prozent erfolgreich. Diktaturen hätten dagegen vier von zehn der von ihnen begonnenen Kriege verloren. Auch als Angegriffene waren Demokratien häufiger erfolgreich als Diktaturen (63 gegenüber 34 Prozent). Sowohl über diese Zahlen wie über ihre Interpretation gibt es Kontroversen. Wenn die demokratischen Gesellschaften zugleich auch die wirtschaftlich und militärisch überlegenen sind, dann muss ihr Erfolg ja nicht direkt auf ihre demokratische Verfasstheit zurückgehen. Insbesondere wegen der enormen Macht und Rolle der USA ist es schwierig, hier überhaupt Daten zu finden, die es erlauben, von dieser zu abstrahieren. Die Verteidiger der These, dass Demokratien in Kriegen erfolgreicher sind, weisen die genannte Kritik mit dem Argument zurück, dass ihre Interpretation der Befunde durch diesen Verweis eher gestärkt als widerlegt werde. Sie nehmen nämlich an, dass Demokratien nur dann von sich aus in einen Krieg eintreten, wenn ihnen der Sieg als gesichert erscheint. Eben deshalb schlage sich ein Missverhältnis zwischen den Gegnern in Hinsicht auf militärische und wirtschaftliche Macht in den Daten nieder. Nach dieser Interpretation sind demokratische Verhält8  Huntington.

9  Reiter / Stam.

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nisse nicht nur kein Nachteil im Krieg, sondern sogar ein Vorteil. Einer Demokratie fallen die öffentliche Prüfung von Pro und Contra eines Krieges und die lernende Reaktion auf seinen Verlauf grundsätzlich leichter, als dies bei anderen Formen politischer Ordnung der Fall ist. Doch gilt dies natürlich nur unter idealisierten Bedingungen. Demokratien sind nicht immun gegen Versuche, eben die demokratietypischen Formen der öffentlichen kritischen Überprüfung von Kriegsgründen und Strategien von innen heraus auszuhebeln. In dieser Hinsicht bot die amerikanische Demokratie in der Vorphase des Irak-Krieges ein erschreckendes Bild. Die politische Führung des Landes changierte bewusst ständig hinsichtlich des Kriegsziels (Massenvernichtungswaffen, Terrorismus, Demokratie, Friede im Nahen Osten). Der Kongress war nur in geringem Ausmaß, auch im Vergleich zu Großbritannien, ein Ort argumentativer Auseinandersetzung. Die wichtigsten Medien, insbesondere das Fernsehen, aber auch die Presse einschließlich der New York Times, die nachträglich geradezu um Vergebung bat, übernahmen an Fälschung grenzende offizielle Verlautbarungen und engten das Spektrum vernünftig möglicher Handlungsweisen auf die Frage des Wie ein, wodurch das Ob des Krieges gegen Saddam Hussein der Diskussion entzogen wurde. Die Organisation der Medienarbeit der BushRegierung war auf die Durchsetzung eines von den Tatsachen weitgehend unabhängigen Narrativs gerichtet: „the greatest story ever sold“.10 Und die öffentliche Atmosphäre in den USA schlug, wie schon häufiger in ihrer Geschichte, schlagartig so um, dass Konformismus, auch an den Universitäten, ein Für und Wider fast ausschloss. Der Verlauf des Krieges hat zwar die Brüchigkeit der Begründung und die Inkompetenz der Planung dieses Krieges sichtbar gemacht; treibend für den Umschwung in der öffentlichen Stimmung war aber insbesondere der ausbleibende Erfolg. Seit Weber weiß die Soziologie, dass alle politischen Ordnungen durch militärische Erfolge an Legitimität gewinnen. Das galt bekanntlich auch, solange Hitler Siege einfuhr, und sogar für Stalin brachte das Ende des Zweiten Weltkriegs enormen Loyalitätszuwachs. Demokratien haben ebenfalls durch militärischen Erfolg an Stabilität gewonnen. Was aber passiert, wenn eine Demokratie durch weitgehenden Verzicht auf demokratische Mechanismen Kriege beginnt und diese nicht erfolgreich zu Ende führt? Wird dies zur Reintensivierung der Demokratie oder zur weiter verbesserten Umgehung demokratischer Prinzipien führen? Bevor dieser Frage nach den möglichen Wirkungen des Krieges auf Demokratien näher nachgegangen werden soll, will ich mich kurz der vierten oben genannten Frage zuwenden, nämlich ob Demokratien spezifische Wir10  Rich.



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kungen auf die Art kriegerischer Auseinandersetzung haben, wenn sie an dieser beteiligt sind. Hier gibt es von Rousseau bis zur gegenwärtigen Publizistik das Argument, dass Demokraten in Kriegen nicht nur genauso grausam seien wie ihre Gegner, sondern sogar noch grausamer. Bei Rousseau ergab sich das Argument interessanterweise aus einer Moralisierung der Kriegsführung. Da für seinen radikalen Individualismus Staaten künstliche Körper sind und der Krieg somit eine Auseinandersetzung zwischen solchen künstlichen Körpern, dürfe im Krieg nur der gegnerische Staat bekämpft werden, nicht aber dessen Bürger. Man habe zwar das Recht, die Verteidiger des feindlichen Staates „zu töten, solange sie die Waffe in der Hand führen; sobald sie sie aber niederlegen und sich ergeben, sind sie nicht länger Feinde – oder eher: Instrumente des Feindes –, und man hat kein Recht mehr über ihr Leben“.11 Freilich ist fraglich, ob Rousseau diese Trennung zwischen Staat und Bevölkerung konsequent aufrechterhalten kann. Vor allem bei Kriegen zwischen wohlgeordneten Republiken, in denen jeweils der Allgemeine Wille regiert, wäre ja die Differenz zwischen Staat und Bevölkerung eingezogen, so dass man in diesem Fall legitimerweise auch die gegnerische Bevölkerung vernichten dürfte, um den Krieg zu gewinnen. Damit aber wäre die von Rousseau angestrebte Humanisierung des Krieges gerade im Falle von sich bekriegenden Republiken nicht möglich. Jeder Bürger würde zum Kombattanten, was die Abgrenzung von Verteidigern und Unbeteiligten unmöglich mache. In einer wenig beachteten Anmerkung zu seinem Erziehungsroman Émile zeigte Rousseau, dass er sich dieser Konsequenz bewusst war.12 Er äußerte darin die Annahme, dass die Kriege einer Republik wegen der patriotischen Identifikation der Bürger mit ihrem Staat grausamer geführt würden als die Kriege einer Monarchie. Eine interessante neue Wendung hat diesem Gedanken Tocqueville in seiner genialen Amerika-Analyse gegeben. Die demokratische Öffnung des Heerwesens, d. h. der Abbau aristokratischer Vorrechte in der Gesellschaft insgesamt, aber eben auch in der Armee, kann ihm zufolge zu einer erhöhten Aggressivität des Militärs nach außen führen. Denn militärische Leistung lasse sich am besten im Krieg demonstrieren, so dass es innerhalb einer nach dem Leistungsprinzip strukturierten Armee wahrscheinlich eine erhöhte Bereitschaft zu militärischen Abenteuern geben werde. Insofern glaubte Tocqueville, eine Kluft zwischen einer in gesteigertem Maße kriegsbereiten und -willigen Armee und einem eher friedlich gestimmten demokratischen Gemeinwesen zu erkennen: „Wir gelangen damit zu dieser merkwürdigen Schlussfolgerung, dass von allen Armeen die demokratischen Heere den Krieg am brennendsten ersehnen und dass von allen Völkern die demokra11  Rousseau

12  Rousseau

1964, S. 345 f. 1998, S. 112.

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tischen Völker den Frieden am meisten lieben.“13 Die These Tocquevilles ist sicher zu simpel, da sie die Fragen der sozialen Repräsentativität des Militärs und seiner eingebauten Leistungsstandards nur aufwirft, aber nicht wirklich erschließt. Das Argument, das darin steckt, ist aber auch nicht von der Hand zu weisen. Die Problematik gewann an Schärfe, als die USA 1917 in den Weltkrieg eintraten und diesen Schritt mit universalistischen Moralund Rechtsargumenten begründeten. Schmitt sprach daraufhin von der „Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff“ und schrieb dieser eine kriegsverschärfende Wirkung zu.14 Schenkt man ihm Glauben, sind Kriege, wenn sie illusionslos ausschließlich für Interessen geführt werden, am ehesten einzuhegen. Wenn sie aber mit moralischem Überlegenheitsgefühl und im Bewusstsein einer Mission für eine moralisch bessere Sache geführt würden, dann fielen alle Hemmungen fort, da es jetzt nicht mehr um den Kampf gleichberechtigter Gegner ginge, sondern um den Kampf der Guten mit den oder dem Bösen, der Ordnungswahrer gegen die Ordnungsstörer. Dieses Argument Schmitts hat sich wie viele andere Bestandteile seiner oft waghalsigen Argumentationen als erstaunlich zählebig erwiesen und wird auch in der Gegenwart, vor allem in der Polemik gegen eine missionarische Aufladung von Außenpolitik, immer wieder bemüht. Dabei gibt es keine empirische Bestätigung dafür. Es trifft natürlich zu, dass immer die Gefahr einer bloßen moralischen Bemäntelung von Interessen besteht und auch beim Gefühl moralischer Berechtigung die Abwägung der angemessenen Mittel und der antizipierbaren Handlungsfolgen nicht unterbleiben darf. Aber empirisch zeigt die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts gewiss nicht, dass die Tendenz zur Entgrenzung der Gewalt vornehmlich auf Seiten der moralisch-universalistisch argumentierenden westlichen Kriegsparteien lag – im Gegenteil! Grausamkeiten verübten die amerikanischen Truppen im Zweiten Weltkrieg eher an der japanischen als an der deutschen Front, ebenso dann im Vietnam-Krieg. Neben der Eigendynamik der entgrenzten Gewalt, die bestimmte Massaker erklärt, sofern wir diese nicht für Teil einer Strategie halten15, spielte hierfür ein rassistisches, nicht ein universalistisches Überlegenheitsgefühl die entscheidende Rolle. Gleiches gilt für die Gewaltexzesse der Kolonialmächte, etwa bei der Niederschlagung des Aufstandes der Mahdisten im Sudan 1898 durch die Briten. Wir werden dadurch aufmerksam auf die Durchsetzung des westlichen Universalismus mit einer Ideologie zivilisatorischer oder sogar rassischer Überlegenheit. Mazower und andere haben in den letzten Jahren herausgearbeitet16, wie stark die 13  Tocqueville, 14  Schmitt.

15  Greiner.

16  Mazower.

S. 391.



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Geschichte des internationalen Rechts von einer ausgrenzenden Verwendung des Zivilisationsbegriffs durchzogen ist, demzufolge die Rechtsnormen nur für den Umgang unter Zivilisierten, aber nicht mit den ‚Barbaren‘ zu gelten haben. Da diesen angeblich jedes Mittel recht ist, sei auch im Kampf mit ihnen jedes Mittel gerechtfertigt. Diese Denkweise kann sich – etwa im Kolonialismus – zu einem dauerhaften Rassismus verfestigen. Sie droht aber auch immer neu als Resultat spontaner oder aktiv betriebener Prozesse der Dehumanisierung des Gegners. Bei der Rechtfertigung der Rechtlosigkeit von Guantanamo, bei der Weigerung, die Motive so genannter Terroristen überhaupt für verstehbar zu halten, bei der Dynamik, die zu den Sadismen von Abu Ghraib führte – überall ist eine solche Dehumanisierungsdynamik am Werk. Aber in den moralischen Universalismus ist eine Gegenkraft eingebaut, die mitgeschleppte oder neu produzierte Partikularismen angreift, während umgekehrt Schmitts Anti-Universalismus von vornherein keine solche Gegenkraft kannte, weshalb er die angeblich eingehegten Kriege der europäischen Vergangenheit idealisierte und sich der nationalsozialistischen Europapolitik auslieferte. Hinzu kommt, dass auch in normativer Hinsicht der Gedanke einer moralisch motivierten Entgrenzung der Gewalt auf einem Denkfehler beruht. Gefährlich in diesem Sinne wäre ja nur eine institutionen- und prozedurenlose Moralisierung der internationalen Politik. Den Befürwortern einer universalistischen Moral geht es aber doch nicht um diese, sondern um die Schaffung von Rechtsnormen und Organen der Durchsetzung dieses Rechts auf internationaler Ebene. Die Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit soll ja gerade in rechtlicher Weise geschehen. Charakteristisch für die nicht wirklich universalistische Orientierung der amerikanischen Außenpolitik im Vorfeld des Irak-Krieges war deshalb gerade die arrogante Abwertung existierender Formen internationaler Konfliktregelung. Als Zwischenresultat lässt sich also festhalten, dass Demokratien bisher in Kriegen spezifische Stärken gezeigt haben und keineswegs aufgrund ihres demokratischen Charakters grausamer agieren als andere Staaten. Aber sind sie als solche friedensfähiger? So lautete die dritte Frage oben. Über diese Frage wurde in den späten 1980er und 1990er Jahren eine intensive sozialwissenschaftliche Debatte geführt, allerdings nicht so sehr in der Soziologie, sondern vor allem in der politikwissenschaftlichen Subdisziplin Internationale Beziehungen. Der Dialog zwischen diesen Disziplinen findet leider nur ausnahmsweise statt. Eine Zeitlang sah es so aus, als sei hier ein wirklicher Durchbruch gelungen. Die Theorie wurde auf einen unbestrittenen Klassiker, nämlich Kant, zurückgeführt; sie schien sich zudem empirisch so sehr zu bestätigen, dass man meinte, von einem der raren empirischen Gesetze in den Sozialwissenschaften sprechen zu können. Heute, zwanzig Jahre nach dem Höhepunkt dieser Entwicklung, ist das Selbstbe-

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wusstsein der Vertreter dieser Theorie merklich geschrumpft und es kann von einem Konsens hinsichtlich der empirischen Bestätigung keine Rede mehr sein. Auch hierzu will ich einige theoriegeschichtliche, einige systematische und einige empirische Argumente vortragen, die allerdings den Reichtum dieser Debatte nicht wirklich ausschöpfen können. Bezugspunkt der Debatte war Kants Text von 1795 Zum ewigen Frieden. Er argumentiert darin, dass dem Krieg selbst eine treibende Kraft innewohne, die letztlich zum Frieden führe. Die Hauptbegründung dafür war, dass alle Staaten der Gegenwart zur Form der Republik tendierten, weil nur so eine breite Legitimität von Herrschaft und damit die Voraussetzungen dafür geschaffen würden, dass sich Staaten in Zeiten des Volkskrieges militärisch behaupten könnten. Wenn aber Republiken aufgrund ihres Erfolgs in Kriegen zunähmen, dann ändere sich das außenpolitische Verhalten entsprechend, da Republiken vom Volk kontrolliert werden, also kein Interesse hätten, sich in aggressive außenpolitische Abenteuer zu stürzen. Schließlich habe das Volk selbst den Blutzoll eines jeden Krieges zu entrichten. Kant behauptete nicht, dass Republiken prinzipiell friedensbereiter seien als andere Regimes. Ihre höhere Friedensbereitschaft bezieht sich nur auf andere republikanische Staaten. Der Grund dafür ist für Kant ein kultureller. Mit der friedlichen und geregelten Konfliktbeilegung im Inneren entstehe eine Kultur des Friedens, die auch auf das Außenverhältnis übertragen werde. Damit erwachse allmählich eine Zone des Friedens, zunehmender zwischenstaatlicher Kooperation und des wechselseitigen Vertrauens. Ein weltweiter Staatenbund rücke damit in die Nähe des Möglichen, ein Bund, in dem rechtliche Regeln und nicht mehr Gewalt die Beziehungen der Staaten untereinander ordnen. Kants Schrift löste zwar in den ersten Jahren nach ihrer Veröffentlichung ein enormes Echo aus, dann aber wurde es eher still um sie. Oft erinnerte man sich an Kants Schrift, als sei sie Ausdruck weltferner Träumerei: „Durchs Höllentor des Heute und Hienieden vertrauend träumt er hin zum ewigen Frieden. […] Bis an die Sterne reichte einst ein Zwerg. Sein irdisch Reich war nur ein Königsberg.“

– so spottete Karl Kraus 1920.17 Das war allerdings äußerst ungerecht. Kant war kein Träumer, und selbst die literarische Form seiner Schrift hätte vor dieser Fehldeutung bewahren können, da sie ja die eines Vertragsentwurfes war, den prinzipiell die Staatenlenker nur zu unterzeichnen brauchten. Zwar trugen einige Kriegsforscher während des Kalten Krieges Befunde vor, die in diese Richtung wiesen, aber diese fanden keine große Aufmerksamkeit, 17  Kraus,

S.  70 f.



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da sie für die Überwindung des Kalten Krieges nicht hilfreich erschienen. Wer glaubte damals schon an eine bevorstehende Demokratisierung oder gar Implosion der Sowjetunion? Mit dem Ende des Kalten Krieges und einer Welle von Demokratisierungen in verschiedenen Teilen der Welt aber wurde die Vision einer neuen demokratischen und damit dauerhaft friedlichen Weltordnung plötzlich zum Zielpunkt etwa des ersten Präsidenten Bush, aber auch seines Nachfolgers Clinton und auch linker Friedensforscher. Die Kritiker der These waren in der Regel machtpolitische Realisten, die vor den Gefahren einer Moralisierung der Außenpolitik warnten. Doch wäre es schief, in der These vom demokratischen Frieden die einzige Alternative zum machtpolitischen Realismus zu sehen. Viel ergiebiger ist es, Schlussfolgerungen aus den inneren Schwierigkeiten bei der Begründung dieser These zu ziehen. Die Mehrzahl der Vertreter dieser These ist sich mit den Realisten und gegen eine Minderheit im eigenen Lager einig, dass Demokratien – wenn überhaupt – nur gegenüber anderen Demokratien und nicht generell friedensfähiger seien. Dies ist eine keineswegs harmlose Einschränkung der These. Sie öffnet die Augen für eine Gefahr, die sich schon im unmittelbaren Anschluss an Kants Schrift gezeigt hatte. Der junge Schlegel hatte schon 1796 darauf hingewiesen, dass „noch Kriegsstoff übrigbleibe“18, solange es noch despotische Staaten gebe. Und Görres, der in seiner Jugend Jakobiner war, spitzte dies 1798 dahingehend zu, dass er auch eine gewaltsame „Republikanisierung so vieler despotischer (Regu­ lativ-)Staaten, als nur immer die Umstände der Zeit und des Ortes es erlauben“19, propagierte. Solcher gewaltgeneigte ‚messianische Interventionismus‘ war nicht auf deutsche Denker nach Kant beschränkt, sondern findet sich auch bei anderen, etwa Thomas Paine. Selbst Tocqueville, der in Amerika die demokratische Gesellschaft als eine hochgradig expansive Lebensform kennengelernt hatte, leitete daraus die Vermutung ab, dass Demokratien nur durch Expansionsdynamik stabil gehalten werden könnten. Dies stellt zwar keinen messianischen Interventionismus dar, aber doch einen demokratiespezifischen Expansionismus. Die Kolonialisierung Algeriens durch Frankreich wurde von ihm mit diesem Argument einschränkungslos und in brutalem Ton befürwortet. Aber zurück zur eingeschränkten Version der These vom demokratischen Frieden. Die Glaubwürdigkeit des Anspruchs, hier ein empirisch gestütztes sozialwissenschaftliches Gesetz gefunden zu haben, nahm bei näherer Betrachtung der vorgenommenen Operationalisierungen ab.20 Welche Staaten sollten im 19. Jahrhundert als demokratisch klassifiziert werden – angesichts 18  Schlegel,

S. 106. S. 168. 20  Zu empirischen Belegen und Literaturhinweisen vgl. Joas / Knoebl, S. 296–306. 19  Görres,

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der Tatsache, dass es kaum irgendwo ein allgemeines und gleiches Wahlrecht der Männer gab, von dem der Frauen ganz zu schweigen? Selbst die Definition von Krieg und Kriegsbeteiligung stellte ein kaum zu lösendes Problem dar. Deutlich war die Tendenz, bei jedem Gegenbeispiel die beteiligten Länder aus dem Kreis der Demokratien herauszudefinieren oder zu bestreiten, dass der betreffende Konflikt überhaupt einen Krieg darstellte. Die Einsicht, dass die ständige Reduktion der Fallzahl eine argumentative Sackgasse darstellte, hatte bald eine theoretische und eine methodische Konsequenz. Theoretisch wurde der Anspruch von einer absoluten zu einer relativen These reduziert: Die Behauptung lautete also nicht mehr, dass Demokratien nie gegeneinander Krieg führten, sondern nur, dass sie dies selten und weniger als andere Regimes täten. Methodisch nahm man Abschied von der umfassenden quantitativen Erhebung aller Kriege und aller Demokratien und wandte sich Fallstudien zu. Deren Vorteil ist ja zudem, dass sie eine Aufdeckung der kausalen Mechanismen erleichtern, die (angeblich) zur Friedensfähigkeit von Demokratien führen. In Kants Begründung lässt sich ein strukturelles Argument (die Kontrolle der Regierung durch das kriegsunwillige Volk) von einem kulturellen (gewaltlose Verhandlungen) unterscheiden. Das strukturelle Argument hatte aber eine Schwäche, die ihm in der Zeit nach Kant seine Plausibilität rasch nahm. Es basierte nämlich auf der Vorstellung, dass das gemeine Volk friedliebend sei und nicht von aggressiven Stimmungen oder Ideologien bewegt werde. Das Zeitalter des Nationalismus und der großen politischen Ideologien demonstrierte sattsam das Gegenteil. Doch auch das kulturelle Argument, auf das sich entsprechend die Begründungshoffnung nun richten musste, litt an einem Geburtsfehler. Es hätte eher die starke These unbedingter Friedensfähigkeit, die aber empirisch nicht haltbar ist, theoretisch gestützt, als die eingeschränkte These relativer Friedensfähigkeit von Demokratien gegenüber anderen Demokratien. Zwei Schlussfolgerungen wurden daher in der Diskussion gezogen. Zum einen wurde erkannt, dass für das Verhalten die wechselseitige Perzeption als demokratisch entscheidend ist, und zum anderen, dass Kants Rede von Republik nicht identisch ist mit der Rede von Demokratien und von liberaler Kultur. Für das Perzeptionsargument spricht empirisch viel, da es die Unterstellung der Vertrauenswürdigkeit ist, die hier wie überall Vertrauen ermöglicht. Gegen das Argument spricht, dass auch die Perzeption nicht einfach objektiv gegeben ist, sondern durch Defini­ tionsprozesse gesteuert werden kann. Machtpolitische Rivalen werden von der Führung demokratischer Staaten im Bedarfsfall leicht als undemokratisch abgestempelt, nützliche Verbündete werden ebenso leicht zu ‚lupenreinen Demokraten‘ erklärt. Der klassische Fall eines solchen Umdefinierungsprozesses spielte sich im Zusammenhang mit dem amerikanischen Eingreifen in den Ersten Weltkrieg ab. Randall Collins, Ido Oren und ich selbst



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haben in verschiedenen Arbeiten nachzuweisen versucht, dass vor 1914 das Deutsche Kaiserreich sowohl in den USA wie in Großbritannien als kulturell führend und durchaus nicht als undemokratisch wahrgenommen wurde.21 Erst im Laufe der Eskalation wurden dann die autoritären Züge Deutschlands herausgestrichen und selbst Kant, Goethe, Beethoven und Wagner zu pathologischen Gestalten erklärt. Um den Krieg als Kampf zwischen Demokratie und Autokratie darstellen zu können, musste Russland spätestens seit der Februarrevolution 1917 zur Demokratie stilisiert werden und Deutschland zum Sonderfall eines abweichenden Modernisierungsprozesses. Auch unter unseren Augen spielen sich solche rapiden Definitionsprozesse ab, 2008 etwa im Kaukasuskrieg, als plötzlich das zutiefst klientelistische und korrupte Georgien zum Leuchtturm der Demokratie erklärt wurde. Allert hat in seiner glänzenden Soziologie Georgiens dazu das Notwendige gesagt; für die Soziologie ist der Begriff Demokratie in solchen Zusammenhängen zu pauschal.22 Ihre Aufgabe liegt darin, der gesellschaftlichen Wirklichkeit jenseits der bloßen Kennzeichnung einer politischen Ordnung näherzukommen und zugleich die Rolle des Begriffs der Demokratie in der Konstruktion von Feindbildern zu untersuchen. Das andere Argument, die Unterscheidung liberaler und nicht-liberaler Demokratien nämlich, schränkt den Anspruch der These vom demokratischen Frieden noch weiter ein. Wenn es nicht die demokratischen Kontrollmöglichkeiten sind, die die Friedensfähigkeit erzeugen, sondern eine liberale Kultur der Toleranz und des Individualismus, dann hängt die Kantsche Hoffnung auf ewigen Frieden ja nicht an der Demokratisierung der Welt, sondern an der Ausbreitung dieser liberalen Kultur. Dann ist zumindest bis zur Gegenwart der Geltungsbereich dieser Theorie auf den westlichen Kulturkreis und im Wesentlichen auf die Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begrenzt. Könnten dann aber nicht ganz andere Faktoren – wie der enorme Wohlstand, die Hegemonie der USA, die Ermüdung Europas nach zwei Weltkriegen – für die Entstehung einer Zone relativen Friedens verantwortlich sein? Könnte nicht sogar umgekehrt der lange Friede die Ursache des Siegeszuges einer liberalen Kultur sein? Die Schlussfolgerung aus diesen Überlegungen ist in negativer Hinsicht klar. Von einer eindeutigen Überlegenheit der Demokratien in Hinsicht auf Friedensfähigkeit kann nicht gesprochen werden. Dieser Befund ergibt sich schon, bevor neue Tendenzen zum Abbau der demokratischen Kontrollmöglichkeiten über das Militär – etwa durch das Outsourcing militärischer Leistungen in Gestalt so genannter Privater Militärischer Unternehmen – in den Blick gerückt werden. Positiv folgt, dass – so der Friedensforscher Harald Müller zu Recht – „die Kon21  Vgl.

Collins, Oren und Joas 2000.

22  Allert.

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textbedingungen herauszuarbeiten [sind], unter denen Demokratie tatsächlich die behauptenden [sic!] friedenserhaltenden Effekte […] hervorbringt“.23 Damit öffnet sich die Debatte in den internationalen Beziehungen in empirischer Hinsicht der Historischen Soziologie und in normativer Hinsicht einem Friedenskonzept, das nicht auf eine einzige Ursachendimension gegründet ist. Kant war, was in der Debatte über den demokratischen Frieden wenig bemerkt wurde, an beiden Kausalrichtungen zwischen Krieg und Demokratie (oder Republik) interessiert. Er musste dies sein, weil für ihn die Möglichkeit der Stabilisierung einer „bürgerlichen Verfassung“24 von der Erreichung „eines gesetzmäßigen äußeren Staatenverhältnisses abhängig“ ist. Damit sind wir bei der ersten der aufgeworfenen Fragen, nämlich der nach den – förderlichen oder schädlichen – Wirkungen von Kriegen auf Demokratien. In der Soziologie wurde, beginnend schon im 19. Jahrhundert, eine Fülle von Theoremen entwickelt, die einen spiralförmigen Mechanismus unterstellten. Es gab optimistische und pessimistische Varianten. Optimistisch war etwa Herbert Spencers Gedanke, dass industrielle Gesellschaften friedlicher seien als militärische und die von ihnen ausgeprägte Dissoziation von Militärpflicht und Bürgerstatus, die Professionalisierung des Militärs also, den Individualismus wiederum verstärke.25 Gar nicht so viel anders ist Friedrich Engels’ „Dialektik des Militarismus“ konstruiert, der zufolge die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und die hochtechnologische Rüstung die europäischen Staaten in den finanziellen Ruin trieben und zugleich die Arbeiter und Bauern bewaffnen: auch hier wird ein sich selbst verstärkender Mechanismus unterstellt, der zu einer friedlicheren Welt führt.26 Die pessimistische Variante einer solchen Theorie findet sich interessanterweise in vielen Ausprägungen besonders in der Geschichte der amerikanischen Sozialwissenschaft. Der als Sozialdarwinist verschriene William Graham Sumner etwa warnte 1898 davor, dass der Imperialismus der USA Militarismus und Plutokratie fördere und die amerikanische politische Kultur gefährde. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs entfaltete Harold Lasswell das Horrorszenario des heraufziehenden „Kasernenstaats“ („garrison state“), in dem das Volk den „specialists on violence“ mehr oder minder schutzlos ausgeliefert sei.27 Und am spektakulärsten vertrat C. Wright Mills in den 1950er Jahren den Gedanken, dass die USA im 20. Jahrhundert mit ihrer anti-militaristischen Tradition gebrochen hätten und ein Bündnis von Mono23  Müller,

S. 46. S. 41. 25  Spencer, S.  557 ff. 26  Engels, S. 361. 27  Lasswell. 24  Kant,



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polwirtschaft und Militärbürokratie entstanden sei, das bis in die Deutung der Wirklichkeit hinein Dominanz gewonnen habe. Er befürchtete, dass dieses Denken und diese Machtkonstellation die Verhinderung eines Nuklearkriegs unmöglich machten.28 Doch sind, das lässt sich im Rückblick sagen, weder die optimistischen noch die pessimistischen Prognosen auf der Basis dieser Theorien eingetroffen. Beide Varianten der Behauptung eines sich selbst verstärkenden Mechanismus haben sich als zu mechanistisch erwiesen. Empirisch sind im 19. und 20. Jahrhundert, das mag erstaunlich klingen, die optimistischen Vorher­ sagen auf diesem Gebiet durchaus häufiger eingetroffen als die pessimis­ tischen. Was Parsons „Inklusion“ nannte, d. h. die Ausdehnung der Bürgerrechte auf bisher ausgeschlossene Bevölkerungsteile (Schwarze, Frauen, Jugendliche),29 trat häufig als Folge von Kriegen ein, ebenso eine Vertiefung sozialer Rechte. Umgekehrt, so argumentiert Paul Starr, wurden die in Kriegen üblichen Einschränkungen von Freiheitsrechten oft nach den Kriegen weitgehend wieder zurückgenommen.30 Aber aus zwei Gründen stellen diese Tatsachen keine wirkliche Stützung der optimistischen Variante dar. Zum einen nämlich sind die Ursachen erfolgreicher Demokratisierungsprozesse ganz offensichtlich wesentlich komplexer, als es in dem einfachen Bild spiralförmiger Verstärkung erscheint. Selbst Spencer und Engels revidierten ihre entsprechenden Gedankengänge, und wir haben allen Grund, die Kontingenz des Erfolges von Demokratie ernst zu nehmen. Von den pessimistischen Varianten lässt sich zumindest lernen, dass Kriege nicht bloße Unterbrechungen zivilisatorischen Fortschritts sind, sondern konstitutiv sein können für ganze Epochen, für neue soziale und politische Strukturen. Dies gilt im Fall erfolgter Demokratisierungsschritte, aber erst recht dort, wo Niederlagen und Destabilisierungen es Diktatoren oder totalitären Bewegungen erlauben, die Macht zu ergreifen. Zum anderen gibt es keine Garantie dafür, dass die bisher häufig förderlichen Wirkungen von Kriegen auf Demokratien anhalten werden. Die optimistischen Deutungen haben nämlich zwei stillschweigende Voraussetzungen: dass Kriege zeitlich begrenzte Ereignisse sind, nach denen etwa die Freiheitsrechte wieder erweitert werden können, und dass sie auf die Loyalität großer Teile der Bevölkerung, ihre Bereitschaft, die kriegerischen Anstrengungen durch Konsumverzicht, Arbeitsanstrengung und vielleicht sogar den Einsatz des eigenen Lebens zu tragen, angewiesen sind. Aber diese Voraussetzungen müssen nicht gegeben sein. Es kann Versuche geben, sie systematisch außer Kraft zu setzen. Mills fürchtete schon im Kalten Krieg, 28  Mills.

29  Parsons. 30  Starr

2007.

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dass Einschränkungen gerechtfertigt würden, deren Beendigung nicht absehbar ist. Der heute so genannte Krieg gegen den Terror erscheint geradezu als das Musterbeispiel eines Krieges, dessen Beendigung nie erklärt werden kann. The Forever War heißt entsprechend der Titel eines amerikanischen Buches.31 Und der Irak-Krieg war, wenn ich recht sehe, auch in Hinsicht auf Finanzierung und Mobilisierung weitgehend ein Novum. Trotz enormer Kosten wurde er von gigantischen Steuersenkungen begleitet, und die militärische Strategie dort und in Afghanistan war auf eine Minimierung eigener Verluste durch technologische Überlegenheit und ein sozial äußerst selektiv zusammengesetztes militärisches Personal ausgerichtet. Damit sind die früher eintretenden Inklusionswirkungen des Krieges unwahrscheinlich ge­ worden. Gleichzeitig mit systematischer Desinformation wurde eine Stärkung der Stellung des Präsidentenamts, die dieses über das Recht zu erheben versucht, angestrebt. Angesichts der offensichtlichen Inkompetenz des Amtsinhabers sollte man aber dennoch nicht von imperial presidency, vielleicht eher von imperial vice presidency sprechen. Deren Ende bedeutet nicht, dass die institutionellen Verschleifungen der letzten Jahre selbstverständlich rückgängig gemacht werden. Mit Rortys fiktivem Militärputsch hat das natürlich keine Ähnlichkeit, mit einer Bedrohung zentraler Prinzi­ pien von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie aber sehr wohl. Soweit mein Versuch, die vier sich im Spannungsfeld von Demokratie und Krieg stellenden Fragen zu beantworten. Mit zwei bekenntnishaften Bemerkungen will ich schließen. Die erste ist normativ gerichtet. Es ist offensichtlich, dass meine Ausführungen nicht wertfrei in einem simplen Sinne waren, sondern von einer Orientierung an den Werten Demokratie und Frieden geleitet. Entsprechend war die Kritik an der Vorstellung vom demokratischen Frieden nicht als Argument für den machtpolitischen Realismus gemeint. Es ging mir vielmehr darum, einer falschen Gewissheit hinsichtlich der Bedingungen dauerhaften Friedens entgegenzutreten und die Kontingenz der Demokratie (und des Friedens) hervorzuheben. Das geschah nicht aus fröhlichem, eher aus skeptisch-tragischem Kontingenzbewusstsein, d. h. aus dem Gefühl für Bedrohungen von Demokratie und Frieden heraus. Dieter Senghaas verdanken wir die Idee einer sechsfachen Verursachung stabilen Friedens, das so genannte zivilisatorische Hexagon. In diesem sind Demokratie und Konfliktkultur nur zwei Voraussetzungen, zu denen die Entprivatisierung von Gewalt, Rechtsstaatlichkeit, Affektkontrolle und soziale Gerechtigkeit hinzukommen. Ich halte diese Idee für normativ überzeugend und explanatorisch vielversprechend. Ihre explanatorische Nutzbarmachung hat meines Erachtens noch gar nicht richtig begonnen. 31  Filkins.



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Die zweite Bemerkung richtet sich auf das Verständnis von Soziologie, das in meinen Ausführungen vermutlich spürbar wurde. Soziologie, so glaube ich, soll die Gegenwart verstehen, aber nicht durch Beschränkung auf Gegenwart. Von modischen Begriffen wie neue Kriege und Weltgesellschaft war keine Rede. Asymmetrische Kriege sind nicht so neu, und ob wir in einer Weltgesellschaft leben und leben werden, ist höchst fraglich. Ich leide unter der Neigung in meinem Fach, die Gegenwart aus einem Punkt erklären zu wollen und dabei die Geschichte nur flächig wahrzunehmen. Dagegen plädiere ich für eine starke Verknüpfung der Soziologie mit den anderen Sozialwissenschaften, insbesondere aber mit Philosophie und Geschichte. Man wird nicht besser, wenn man die Vorläufer der eigenen Fragestellung ignoriert, und man übertreibt leicht das Neue der Gegenwart, wenn man das Alte gar nicht kennt. Die Soziologie sollte, das wäre mein Ideal, große historische Tiefe haben, einen weltumspannenden Horizont, und normative Fragen von empirischen zwar unterscheiden, aber nicht abspalten. In dieser Hinsicht war natürlich Max Weber unser aller unübertroffener Meister. Das heißt freilich nicht, dass er immer nur Recht hatte. Gerade unter Bezug auf Demokratie und Krieg war dies gewiss nicht der Fall. Es hat auch keinen Sinn, so denke ich, seine Synthese einfach durch punktuelle Modifikationen zu revitalisieren. Wir müssen sie neu erstehen lassen, aber das geht nur arbeitsteilig. Eine wissenschaftliche Disziplin ist eine Form arbeitsteiliger Kooperation. Deshalb finde ich wechselseitige Abwertungen innerhalb der Disziplin von Theoretikern und Empirikern, qualitativ oder quantitativ Forschenden, Vertretern der einen gegen Vertreter der anderen Bindestrich­ soziologie deplaziert. Wir sollten unsere Energie nicht für solche Prestigekämpfe verschwenden, sondern für unsere jeweiligen Programme und ihre intellektuelle und institutionelle Verknüpfung einsetzen. Literatur Allert, Tilmann: Soziologie Georgiens, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.09.2008, S. 37. Collins, Randall: German-Bashing and the Theory of Democratic Modernization, in: Zeitschrift für Soziologie, Heft 1, 1995, S. 3–21. Dunlap Jr., Charles: The Origins of the American Military Coup of 2012, in: Parameters, Winter 1992 / 93, S.  2–20. Engels, Friedrich: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft [1878], in: MEGA I / 27, Berlin 1988, S. 217–483. Filkins, Dexter: The Forever War. New York 2007. Görres, Joseph: Der allgemeine Friede, ein Ideal [1798], in: Zwi Batscha, Richard Saage (Hg.): Friedensutopien, Frankfurt am Main 1979, S. 111–172.

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Umbruchszeiten: Militär und Gesellschaft 1945–20101 Von Martin Kutz Die Jahre seit 1945 werden normalerweise wahrgenommen als eine kontinuierliche Entwicklung vom Zusammenbruch 1945 bis zur Gegenwart. Aufs Militär bezogen sind aber massive, kaum als selbstverständlich zu bezeichnende Veränderungen zu verzeichnen: von einer Armee, die um die Weltherrschaft kämpfte, zur totalen Abrüstung, von der Heldenverehrung zur Soldatenverachtung; dann kam der Aufbau einer Armee, die demokratischen Strukturen unterworfen war. Parallel dazu wird die NVA aufgebaut und damit die Bürgerkriegssituation vom Ende der Weimarer Republik in politische Systeme gegossen. Mit dem Zusammenbruch der DDR wird diese Armee aufgelöst und Teile von ihr vom „Klassenfeind“ in seine Armee integriert. Danach beginnt die Abrüstung der Bundeswehr und ihre Umstrukturierung zur Interventionsarmee. Schlusspunkt ist die Aussetzung der Wehrpflicht 2010. Das alles hat nicht im luftleeren Raum stattgefunden sondern war verkoppelt mit ebenso gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen. Vor diesem Hintergrund ist es schon bemerkenswert, dass Militär, Militär und Gesellschaft, Militärgeschichte und Sicherheitspolitik in den ersten vier Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkrieges in der universitären Wissenschaft nur eine marginale Rolle spielten. Erst die Nachrüstungsdebatte um 1980 weckte in breiten Teilen wenigstens für die Sicherheitspolitik Interesse. Ursache für die Abstinenz war die Ablehnung alles Militärischen aus historischen und linksideologischen Gründen. Dadurch gelang es der politischen Elite, den Arkanbereich von Militär und Sicherheitspolitik widerstandsfrei weit auszudehnen, und beides wurde Gegenstand eines spezia­ listischen Elitendiskurses. Der Ost-West-Konflikt und die latente Bürgerkriegssituation zwischen Bundesrepublik und DDR verschärfte das Syndrom. Deshalb sind in der Öffentlichkeit auch gravierende strukturelle Entwicklungen kaum wahrgenommen worden. Ausnahme war alles das, was skandalisierbar war. So kam es, dass auch das, was wahrgenommen wurde, in seiner Bedeutung meist unterschätzt, ja als selbstverständlich eingestuft wurde. 1  Diese Studie ist eine wesentlich erweiterte und überarbeitete Fassung der Überlegungen in Kutz 1997. Umfassender als es hier möglich ist, ist die Entwicklung dargestellt in Kutz 2006a.

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Als Folge davon ist bis in die 90er Jahre die wissenschaftliche Analyse von Militärgeschichte, Bundeswehr, NVA, deren Geschichte, Strukturen und Entwicklung nach Umfang und Qualität überwiegend von den wissenschaftlichen Institutionen der Bundeswehr vorangetrieben worden ist. Es gab zwar hin und wieder Einschränkungen, die Wissenschaftsfreiheit wurde aber im Kern nie angetastet. Die wichtigsten Institutionen waren und sind das Militärgeschichtliche Forschungsamt(MGFA), das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr (SOWI) und der Fachbereich Sozialwissenschaften der Führungsakademie der Bundeswehr. Die Bundeswehr­ universitäten spielen dagegen in diesem Feld eine untergeordnete Rolle. Die Balkankriege der 90er Jahre und die Interventionskriege, an denen die Bundeswehr mehr oder weniger stark beteiligt ist, haben auch die Universitäten wieder in diesen Diskurs eingeschleust, auch wenn die Masse der Arbeiten von Diplomanden und Doktoranden stammt. Dieser Generationswechsel hat neue Neugierde und einen weitgehend unideologischen Blick auf die Verhältnisse zur Folge gehabt. Der Zusammenbruch der DDR und die Auflösung der NVA, die Sicherung von deren Archivbeständen zur uneingeschränkten wissenschaftlichen Forschung machen nun auch einen Vergleich beider deutscher Armeen möglich. Eine solche vergleichende Studie über das Verhältnis von Militär und Gesellschaft in beiden deutschen Staaten lässt bei allem Trennenden, das durch die unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systeme bedingt ist, viel Gemeinsames zutage treten. Zugleich aber wird deutlich, wie eng aufeinander bezogen im Anderssein manches in der Entwicklung war, wie sehr die bewusste Abgrenzung – oder auch Abschottung – zu einer indirekten Verflechtung der Bezugssysteme geführt hat. Dies im Einzelnen auszuführen ist mittlerweile in vielen Bereichen möglich. Die zeithistorische Forschung in Ost und West hat bis in die 90er Jahre allerdings die Perspektive der gemeinsamen, nationalen Geschichte weitgehend vernachlässigt; ein gewisser Systemautismus ist unübersehbar.2 Auch die Forschung zur Geschichte des Militärs der DDR und dessen Beziehung zu seiner Gesellschaft war davon betroffen, da das Militär wegen der pathologisch radikalisierten Geheimhaltung zu den unbekanntesten Teilen der DDR-Gesellschaft gehörte.3 Diese Studie will deshalb nun den Versuch Kleßmann. Februar 1990 habe ich regelmäßig mit Vertretern der NVA und nach ihrer Auflösung mit den in die Bundeswehr übernommenen Offizieren zu tun gehabt. Meine Urteile über das Sozialsystem NVA und über die militärische Subkultur der NVA sind davon geprägt. Ich bin mir der Gefahr bewusst, Primärerfahrungen unzulässig zu verallgemeinern, hoffe aber, die notwendige Distanz zum Gegenstand gewahrt zu haben und die Vorteile dieser Nähe (Kenntnis der Interna, des Lebensstils 2  Vgl. 3  Seit



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wagen, gestützt auf neuere Forschungen zur DDR sowie zu den neuen Entwicklungen in der Welt ein Gesamtbild zu entwerfen. I. Politische und sozioökonomische Rahmenbedingungen Die beiden deutscher Armeen wurden Spiegelbilder der politischen und Paktsysteme, in die sie integriert waren.4 Trotzdem hatten sie gemeinsame Problemfelder, die daher rührten, dass sie mit jeweils gegensätzlichen politischen und ideologischen Vorzeichen auf die prinzipiell gleiche Situation reagieren mussten. Beide Armeen mussten wenigstens zu größeren Teilen von ehemaligen Wehrmachtssoldaten aufgebaut werden, beide waren in ihren jeweiligen Paktsystemen so fest organisatorisch und politisch integriert, dass sie weder eine nationale operative Führungsstruktur hatten noch überhaupt Instrumente nationaler Politik sein konnten. Beide Armeen mussten gegen den Willen der breiten Mehrheit der deutschen Bevölkerung aufgestellt werden und unterlagen den Konsequenzen eines starken und schnellen sozialen Wandels mit teilweise erstaunlich gleichlaufenden innermilitärischen sozialen Veränderungen. Zusätzlich verstärkt wurden Letztere durch die gleichgerichtete militärtechnologische Entwicklung in Ost und West und die auf beiden Seiten ziemlich ähnlichen militärfachlichen Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges: Beide Armeen waren – oder wurden – Wehrpflicht-Massenarmeen für den großen, industrialisierten Krieg, ausgerüstet mit bis dahin nicht bekannten Mengen an militärischer Spitzentechnologie. Trotzdem fehlte beiden das Instrumentarium, das sie als Armeen von Großmächten ausgewiesen hätte: weittragende Raketensysteme und das dazugehörige nukleare Potential. All diese Faktoren sind in erster Linie Rahmenbedingungen für die innermilitärische Organisation und soziale Differenzierung gewesen. Sie haben zudem eine große Bedeutung für das Verhältnis von Militär und Gesellschaft in beiden deutschen Staaten gehabt. Die konkreten Ausformungen des Militärs wie seines Verhältnisses zu den jeweiligen Gesellschaften lagen aber trotz der vielen aufgeführten gleichen oder ähnlichen Rahmenbedingungen so weit auseinander, dass kaum zwei Armeen unterschiedlicher sein konnten als die deutschen Nachkriegsstreitkräfte. Auch das sichtbare Beziehungsgeflecht zwischen Militär und Gesellschaft entsprach dieser Tatsache. Man kann dies symbolisch festmachen an äußerlichen, der Öffentlichkeit sichtbaren Erscheinungen.

und Lebensgefühls der Akteure) zu nutzen. Im Übrigen hat die neue Forschung zur NVA diese Wahrnehmungen weitgehend bestätigt. 4  Zur NVA siehe Bechheim.

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Die NVA war die immer wieder vorgezeigte Armee. Sie hatte am 1. Mai und zum Tag der Gründung der DDR zu paradieren, es gab Wachaufzüge mit klingendem Spiel, Paradeschritt und Paradeuniform auf öffentlichen Plätzen und vor der gesamten politischen und gesellschaftlichen Führung der DDR, die Bundeswehr kannte keinen Paradeschritt und kein formales Exerzieren. Ihre Zur-Schau-Stellung erfolgte auf militärischem Gelände, eher in Manöverparaden und Kampfanzug. Sie war in der Öffentlichkeit kaum sichtbar, und als sie den Versuch unternahm, ihre Rekrutenvereidigungen demonstrativ öffentlich und jedermann zugänglich durchzuführen, endete der Versuch im großen Bremer Krawall. Über das Verhältnis von Militär und Gesellschaft zu reflektieren setzt voraus, dass einige Basisdaten zur sozio-ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft berücksichtigt werden. In der ersten Nachkriegszeit kann man davon ausgehen, dass die Gesellschaften beider Teilstaaten sich noch sehr ähnelten. Auch die ökonomischen Voraussetzungen waren noch nicht fundamental verschieden. Beide Ökonomien waren industrielle Produktionsökonomien im Wiederaufbau, wobei die ostdeutsche besonders unter den hohen Reparationen und einer überproportionalen Besatzungsarmee gelitten hat, die aus dem Lande versorgt und bezahlt werden musste. Dafür war aber dort bis in die frühen 40er Jahre die Produktivität der Industrie um ca. 30 % höher als auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik. „Mitteldeutschland“ war damals das High-Tech-Land Deutschlands, allerdings auch vielfach verflochten mit anderen Regionen. Die späteren Enteignungen in Industrie und Landwirtschaft der DDR hatten noch keinen entscheidenden Einfluss auf die Wirtschaftsstruktur.5 Wichtiger war die Abschnürung von westdeutschen und internationalen Märkten, die die unausgeglichene Wirtschaftsstruktur der späteren DDR besonders fühlbar machte. Die deutsche Gesellschaft, damals noch weitgehend eine industrielle Klassengesellschaft, war am Wiederaufbau orientiert. Sie hatte den politischen Schock des Zusammenbruchs des NS-Regimes in politische Apathie umgemünzt. Die Ohne-mich-Haltung beherrschte die Szene. Kulturelle Standards der 20er und 30er Jahre waren weitgehend verloren. Eine neue Orientierung an der westlichen oder sowjetischen Entwicklung steckte noch in den Anfängen. Außerdem mussten die Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen integriert werden, was in Ost und West unter sehr unterschiedlichen politischen Bedingungen geschah. Die Etablierung des stalinistischen SED-Regimes in der DDR hatte zwei wichtige Folgen. Zunächst setzte sie eine massive Fluchtbewegung in Gang, durch die die bürgerlichen Bildungs- und Wirtschaftseliten der DDR verlo5  Vgl.

Roesler.



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ren gingen und eine kulturelle Homogenisierung der DDR-Gesellschaft auf dem Niveau unter- und kleinbürgerlicher Schichten zustande kam. Die sozio-ökonomische Dynamik wurde massiv abgebremst. Diese Gesellschaft wurde aus politisch-ideologischen Gründen zum Museum der anderweitig überwundenen Klassengesellschaft, wobei die politische Elite die Position der traditionellen herrschenden Klasse übernahm. Zugleich entstanden Mi­ lieuorientierungen, die sich deutlich von denen der Bundesrepublik unterschieden und zum Teil bis heute fortwirken. In der Bundesrepublik dagegen setzte schon vor der Währungsreform eine ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Dynamik ein, die die Unterschiede zur DDR von Jahr zu Jahr gravierender werden ließ. Ökonomisch entwickelte sich die Bundesrepublik von der industriellen zur Dienstleistungsökonomie mit der Folge einer erheblichen Veränderung der Sozialstruktur und der lebensweltlichen Sozialmilieus.6 Im Vergleich zur DDRGesellschaft ist dabei vor allem von Bedeutung, dass sich in Westdeutschland 1991 nur noch ca. 22 % der Bevölkerung als Arbeiter verstanden, obwohl deren realer Anteil an der Erwerbsbevölkerung bei ca. 37 % lag. In der ehemaligen DDR dagegen rechneten sich selbst 1991 noch ca. 40 % dem Arbeitermilieu zu, wenngleich ein beachtlicher Teil faktisch eher mittleren Positionen der sozialen Hierarchie zuzuordnen war. Hierin drückten sich das besondere gesellschaftliche Ethos des „Arbeiter- und Bauernstaates“ und die Idealisierung der „Arbeiterklasse“ aus. Diese allgemeinen Feststellungen sind deshalb von Bedeutung, weil sie sich auch in Sozialstruktur und Verhaltensmustern des jeweiligen Militärs wiederfinden lassen: die relative Stagnation der NVA-Entwicklung ebenso wie die unbeachtete, aber dennoch starke Dynamik in der Bundeswehr. II. Strukturmerkmale und Strukturdefekte in der Planungsund Gründungszeit der Bundeswehr (1951–1964) Dass die Bundeswehr bei ihrer Gründung auf das Personal der Wehrmacht zurückgreifen musste, war weniger problematisch als die Tatsache, dass dieser Rückgriff nicht hinreichend im Sinn demokratischer Vorstellungen abgesichert war. Zusätzliches Problem war, dass diese Soldaten nicht nur zehn Jahre militärischer Entwicklung nicht mitbekommen hatten, sondern auch, dass ihre Ausbildung schon während des Krieges nicht hinreichend war. Zugleich war darunter ein hoher Prozentsatz von Tapferkeits­ offizieren aus dem Unteroffiziersstand mit unzureichendem Bildungsstand. Die Bundeswehr war also nicht nur in zeitlicher Hinsicht eine verspätete 6  Vgl.

Vester et al. sowie Geissler 1992 und neuere Auflagen.

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Armee7, die trotzdem eine Armee wurde, die vom demokratischen Geist beherrscht und nie eine Gefahr für das demokratische politische System geworden ist. Dieses Paradox wird noch im historischen Zusammenhang zu erklären sein. Von Konrad Adenauer weiß man, dass ihm das Militär fremd war und blieb, dass er sehr konventionelle Vorstellungen von seiner Struktur, Wirkungs- und Arbeitsweise hatte. Ihn interessierten daran nur zwei Dinge: dass man es brauchte, um Souveränitätsrechte zurück zu erlangen, und dass man es politisch so kontrollieren müsse, dass es keine Gefahr für den demokratischen Staat werden könne. Militärische Binnenverhältnisse und professionelle Fachfragen waren ihm dagegen gleichgültig.8 Das Parlament hatte in erster Linie Sorge, dass das Militär ein politisches Eigenleben wie in der Weimarer Republik entwickeln könne. Sein Interesse galt deshalb der Wehrverfassung und den Wehrgesetzen sowie der personellen Zusammensetzung des Führungspersonals. Nur ein Teil, allerdings ein wichtiger, interessierte sich für die Demokratisierung der Binnenstrukturen des Militärs: Die SPD-Opposition machte sich deshalb das Konzept der Inneren Führung zu eigen und erhob es zur Bedingung ihrer Zustimmung zum „Wehrbeitrag“.9 Die Öffentlichkeit war und blieb der Wiederbewaffnung gegenüber strikt ablehnend. Erst im Frühsommer 1955 überflügelte die Gruppe der Zustimmenden die der erklärten Gegner. Die Zustimmung kam aber nie über 45 % der Befragten hinaus.10 Die Zustimmung zur Allgemeinen Wehrpflicht erreichte sogar erst 1960 die 50 %-Marke. Die Ablehnung der Wehrpflicht teilten 1949 / 50 noch ungefähr 75 % der Bevölkerung. Dagegen wurde die Bündnispolitik Adenauers von deutlich größeren Teilen der Bevölkerung akzeptiert. Die Akzeptanz lag 1951 schon bei 47 % und steigerte sich 1955 / 56 auf ca. 65 % der Befragten. Das hatte eine erhebliche Bedeutung für die Art von Armee, die unter solchen Bedingungen aufgestellt werden sollte. Sie musste eine Kompromissarmee werden, die nur den (labilen) Konsens dieser an ihr interessierten Verhandlungspartner widerspiegeln konnte.11 Die Interessen von Parlament und Regierung stimmten darin überein, dass die politische Kontrolle des 7  Kutz

2007.

8  Meier-Dörnberg,

S. 730. Siehe auch den Diskussionsbeitrag des Staatssekretärs a. D. Karl Gumbel in Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), S. 113 ff. 9  Löwke; Schubert; Wilker. 10  Bald 1994, S. 125 ff. 11  Es handelte sich dabei um die kompromisswilligen Teile der Kirchen, Gewerkschaften, einzelner Jugendverbände, der Parteien, Militärs und Soldatenverbände. Die Lage wurde noch komplizierter durch die Ansprüche und Interventionen der Westmächte.



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Militärs gesichert werden müsse, und zwar besser als in der Weimarer Republik. So wurde die Befehls- und Kommandogewalt im Frieden dem Verteidigungsminister und im Krieg dem Kanzler zugesprochen. Das Parlament erhielt größeren Einfluss über das Budgetrecht, da jede einzelne Soldatenstelle vom Parlament ausdrücklich genehmigt werden musste. Der Verteidigungsausschuss konnte sich selber jederzeit als Untersuchungsausschuss etablieren, und für die demokratische Binnenkultur wurde der Wehrbeauftragte als parlamentarisches Kontrollorgan eingesetzt.12 Innerhalb des Verteidigungsministeriums gab es keine nationale militärische Kommandobehörde oberhalb der Divisions- und Korpsebene. Die Führung der Armee im Krieg war auf die integrierten NATO-Stäbe verlagert. Die Inspekteure der Teilstreitkräfte hatten zwar Befehlsgewalt über ihre eigene Teilstreitkraft; wie der Generalinspekteur waren sie aber auch ministerielle Instanzen, keine Truppenführer im Einsatz. Sie unterlagen der Geschäftsordnung der Bundesregierung und waren zivilen Staatssekretären unterstellt. Die Verwaltungsaufgaben der Streitkräfte wurden von einer selbständigen zivilen Administration wahrgenommen. Die Personalpolitik lag zunächst in ziviler Hand, und zwar bei einem sehr konservativen, aber politisch unbelasteten Vertreter der katholischen Jugendbewegung.13 Die Dominanz protestantischer Spitzenmilitärs früherer Jahrzehnte wurde so gebrochen und Gesinnungsreste aus der Wehrmachtszeit neutralisiert. Intellektueller und planerischer Motor in allen Entscheidungszusammenhängen, die eine prinzipielle Neuordnung des Militärsystems anstrebten, war der spätere Generalleutnant Wolf Graf von Baudissin.14 Seit Mai 1951 war er im Amt Blank tätig und für das innere Gefüge der aufzustellenden Armee zuständig. Bezugsgrößen seiner militärpolitischen Vorstellungen waren der systematische Denkansatz in Fragen von Krieg und Frieden, wie ihn Carl von Clausewitz entwickelt hatte, und die Stein-Hardenbergschen preußischen Reformen nach 1807.15 Aus ihnen leitete er zwei Prinzipien ab: Für die Wehrverfassung galt es, Scharnhorsts Maxime der Einheit von Staat, Volk und Armee auf die neue demokratische Verfassungsstruktur zu übertragen. Das ließ nur den Einbau des Militärs in die zivile Staats- und Gesellschaftsordnung zu und erzwang geradezu die Festlegung auf die allgemeine Wehrpflicht. Was die Konsequenzen für das Individuum im Militär betraf, bezog sich Baudissin auf Gneisenaus Aufsatz von der „Freiheit der Rolle des Wehrbeauftragten siehe Vogt und Schlaffer. Chef der Zentralabteilung im Amt Blank war Ernst Wirmer auch für Personalangelegenheiten zuständig. Wirmer war Bruder des im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 zum Tode verurteilten Josef Wirmer, der als Justizminister im Kabinett Gördeler vorgesehen war. 14  Baudissin 1969; 1982. Vgl. auch Genschel. 15  Vgl. Kutz 1995. 12  Zur 13  Als

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Rücken“ und übersetzte das Prinzip, dass der Verteidiger der Freiheit auch im Militär die Freiheit erleben müsse, die er verteidigen solle, wieder auf das demokratische System. Damit entwarf Baudissin ein demokratisches Verhaltenssystem für die Streitkräfte, das erst in den 70er Jahren in der öffentlichen Diskussion auftauchte und mit dem Schlagwort „Demokratie als Lebensform“ die politischen Gemüter bewegte. Dass diese Vorstellungen Eingang in die Wehrverfassung und die Wehrgesetze einschließlich Wehrbeschwerdeordnung und Wehrdisziplinarordnung fanden, erreichte Baudissin mithilfe der Rechtsabteilung des Amtes Blank bzw. des Verteidigungsministeriums und mit dem Parlament gegen die erklärten Interessen der überwiegend traditionalistischen Militärs.16 Den Reformkräften der 50er Jahre gelang es demnach, die Traditionalisten im Militär in allen Verfassungs- und Rechtsfragen auszumanövrieren. Umgekehrt aber schafften sie es nicht, auf die Binnenstruktur der neuen Armee entscheidenden Einfluss zu nehmen. Das begann schon bei der Personalauswahl. Der Personalgutachterausschuss lehnte zwar nur weniger als 10 % der Bewerber für Spitzenpositionen in der Bundeswehr ab. Seine Wirkung war aber trotzdem nachhaltig, weil die meisten problematischen Offiziere sich wegen dieser Befragung gar nicht erst bewarben.17 Viel schwieriger war die Situation aber schon bei den Stabs- und Subalternoffizieren. Hier wurde nach anfänglicher Sorgfalt bald die Kontrolle aufgegeben, und 1961 wurden sogar solche Offiziere zum Eintritt in die Armee aufgefordert, die man zuvor mit gutem Grund abgelehnt hatte. So war die personelle Basis der Reformkräfte in der neuen Armee zunächst denkbar gering. Da die politische Führung sich kaum um die innere Entwicklung der Armee kümmerte, konnten die Traditionalisten sie nach ihrem Bild formen. Vorbild blieb eine modernisierte und logistisch durch die Amerikaner besser versorgte Wehrmacht. „Der Russe“ war der Angstgegner, „Osterfahrung“ Voraussetzung zum Karriereerfolg und zugleich Denkkategorie, nach der die Truppe formiert werden sollte.18 Vorstellungen, wie sie Baudissin entworfen hatte, hatten dort keinen Platz. Sie prägten lediglich das offizielle Bild der Bundeswehr, wie es in den Schriften des Amtes Blank geschildert und von der Öffentlichkeit rezipiert wurde.19 Gespannte Beziehungen zwischen Armee und Öffentlichkeit waren damit vorprogrammiert20 und spiegelten den Kompromisscharakter der Armee deutlich wider. 16  Bald

1995; Genschel; Kutz 1989. zu Schweinsberg, S.  137 ff. 18  Kutz 1982, S. 43; vgl. Meier-Dörnberg. 19  Bundesministerium für Verteidigung 1957; Dienststelle Blank. 20  Vgl. Klausenitzer. 17  Schenck



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Der Kompromiss lässt sich auf vier Ebenen systematisieren: 1. Auf politischer Ebene bestand er darin, mit Hilfe der traditionellen Wehrpflicht eine hochgerüstete, voll mechanisierte Armee zur Landesverteidigung nach Erfahrungen des II. Weltkrieges mit maßgeblicher Beteiligung von Wehrmachtssoldaten aufzubauen. Dafür musste sich diese Armee der demokratischen Verfassung unterwerfen, sich eine rigide Kontrolle durch Parlament, Regierung und Verwaltung gefallen lassen und auf eigene Kommandostrukturen oberhalb der Divisions- und Korpsebene zugunsten der NATO-Integration verzichten.21 2. Innermilitärisch konnten die Traditionalisten überlieferte Strukturen, Wehrmachtspersonal, Traditionalismen im Alltagsbetrieb und ihre moralische Lebenslüge von der Ehrenhaftigkeit des Verhaltens und Kämpfens der Wehrmacht im Krieg aufrechterhalten.22 Dafür mussten sie die Regularien demokratischer Rechtsstaatlichkeit, die prinzipielle und formelle Akzeptanz der Inneren Führung, die Kontrolle durch den Wehrbeauftragten und einen begrenzten Zugriff auf die Soldaten, nämlich nur im Dienst und auf militärischem Gelände, akzeptieren. 3. Personalpolitisch konnte man sich zunächst an den Reformern für diesen Kompromiss rächen. Man konnte ihre Karriere zwar nicht verhindern, wohl aber ihren Zugriff auf die Truppe. So wurden die für das Verständnis der Traditionalisten Unzuverlässigen, allen voran Graf Baudissin, Graf Kielmannsegg und Speidel, auf die „Strafliste West“ gesetzt. Sie kamen in NATO-Spitzenpositionen und konnten dort den aufgeschlossenen Offizier, den deutschen militärischen Demokraten repräsentieren. Daheim machten die „Zuverlässigen“ Karriere: Heusinger, de Maiziere, Schnez, Grashey, Röttiger. Unausgesprochen galt als Maßstab der Zuverlässigkeit das loyale Verhalten in der Wehrmacht, insbesondere im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944.23 Langfristig musste man sich aber 21  Dies

noch stärker in der Phase der EVG-Verhandlungen. Vgl. Maier. wird diese Vorstellungswelt deutlicher bei der Agitation der Soldatenverbände in den 50er Jahren. Vgl. Schenck zu Schweinsberg. 23  Dieser Zusammenhang wurde nicht offen und öffentlich artikuliert. Er ist eher an der Besetzungspolitik für die Spitzenpositionen erkennbar als in Dokumenten nachlesbar. Indiz für die zentrale Bedeutung der Einstellung zum 20. Juli 1944 ist die heftige, emotionalisierte Diskussion bis Mitte der 1960er Jahre in der Bundeswehr. So wird in der bis in die Kompanien verteilten „Information für die Truppe“ in den Jahren bis 1964 zum 20. Juli nur wenig veröffentlicht. Von insgesamt 60 Beiträgen zwischen 1957 und 1993 beschäftigen sich nur 10 mit dem militärischen Widerstand, meist Nachdrucke offizieller Reden zum 20. Juli. Im Gegensatz dazu hatte der Personalgutachterausschuss für die Besetzung der Spitzenpositionen in der neuen Armee den 20. Juli bei der Prüfung der Bewerber zur Gretchenfrage gemacht. Zur internen Diskussion vgl. Abenheirn, S.  153 ff. 22  Inhaltlich

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der strukturellen Kontrolle auch in personalpolitischen Fragen beugen. Zivil, katholisch-konservativ, aber demokratisch gesinnt, hat diese Kontrolle die protestantische Dominanz im Spitzenmilitär nachhaltig gebrochen. Damit war auch ein personalpolitischer Kompromiss etabliert. 4. Auf der Ebene militärisch-professioneller Orientierungen fand der letzte Kompromiss statt. Deutsches Militär lebte bis dahin vom Offensiv-Gedanken. Man konnte sich militärischen Erfolg nur vorstellen, wenn man die Initiative in der Hand behielt, und man hatte diese Vorstellungswelt von der unteren Truppenführung bis ins strategische Kalkül fest etabliert. Im Verteidigungsbündnis der NATO war für diese Ansichten seit der Änderung der amerikanischen Strategie 1953 – der Reduzierung konventioneller Streitkräfte aus Kostengründen zugunsten strategischer und taktischer Atomwaffen – kein Platz. Deutsches Militär musste eine Defensivstrategie, ja eine Abschreckungsstrategie anstelle einer Kriegführungsstrategie akzeptieren. Trotzdem stellte es Truppen auf, die auch für den operativen Bewegungskrieg geeignet waren, und pflegte – wenn auch mit Unterbrechungen – traditionelles operatives Denken, das in „Führerreisen“, „Generalstabsreisen“ für Spitzenmilitärs wachgehalten werden sollte.24 III. Der verdeckte Aufbau von Streitkräften in der SBZ und DDR (1947–1955) Im Osten Deutschlands entstand das bewusste Gegenmodell zur deutschen militärischen Tradition und später zur westdeutschen Wiederbewaffnung. Entgegen weitverbreiteter Ansichten ist aus den neu zugänglichen Akten der Prozess der Wiederbewaffnung aber nicht vor dem Frühjahr 1948 nachweisbar, obwohl die Entscheidungen dazu schon Ende 1947 gefallen sein können.25 Bis dahin hatte die SMAD26 und unter ihrer Anleitung die SED eine völlige Entmilitarisierungspolitik betrieben. Die einzigen bewaffneten deutschen Staatsorgane waren die Länderpolizeiformationen, die erkenn- und nachweisbar keine militärischen oder militärähnlichen Aufgaben hatten. Sie wurden gleich zu Beginn nach den Prinzipien politischer Zuverlässigkeit im Sinn der KPD / SED aufgestellt. Ihr Zweck war eindeutig die innenpolitische Herrschaftssicherung. Sie waren nach sowjetischem Vorbild organisiert, was ihr Erscheinungsbild, verglichen mit westlichen Polizeieinheiten, militärischer machte. Im Dezember 1946 gab es ca. 34.000 Polizisten, von denen 24  Greiner;

Habel; Meier-Dörnberg. den Sammelband von Thoß. hier vor allem die Beiträge Wenzke 1994 und Diedrich 1994. 26  Grenzberger. 25  Vgl



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ca. 85 % der „Arbeiter- und Bauernklasse“ angehörten; ca. 95 % hatten nur die Volksschule besucht, viele nicht einmal acht Jahre lang. Weniger als 5 % waren schon vor 1945 Polizisten, nur l bis 4 % (je nach Land) Berufssoldaten gewesen. 88 bis 93 % gehörten der SED als Mitglieder (oder Kandidaten) an.27 Am 30. Juli 1946 wurde durch SMAD-Befehl die Zentralisierung der Polizeikräfte angeordnet. In der Zentrale (DVdl)28, in der der Anteil qualifizierter Führungskräfte größer war, lagen der Anteil von SED-Mitgliedern nur bei 81 %, der Anteil der Volksschüler bei 75 % und der Anteil der Arbeiter bei 74 %. Erich Mielke, damals bereits in leitender Stellung, erläuterte die Personalpolitik mit den Worten: „Es ist besser, eine Zeitlang mit weniger guten Fachkräften zu arbeiten, aber dafür die Sicherheit zu haben, dass die demokratische Entwicklung konsequent weitergeführt wird.“ „Absolute Reinheit“ war das personalpolitische Ziel. Dies galt in noch höherem Maß für die Grenzpolizei29, die, wieder auf SMAD-Befehl, seit November 1946 aufgestellt wurde, indem man aus den allgemeinen Polizeikräften die zuverlässigeren und qualifizierteren Teile abzuwerben begann. Schon Ende Dezember 1946 gab es 2.500 Grenzpolizisten. Sie unterstanden den sowjetischen Grenzsoldaten als Hilfskräfte, insbesondere an der innerdeutschen Grenze. Im Oktober 1947 gehörten 97 % der SED an. Die Zahl der Grenzpolizisten stieg rasch an und erreichte im Juni 1948 ca. 9.000. Vorausgegangen waren im April 1948 eine massive Aufstockung und die Einleitung der versteckten Militarisierung. Man holte die Masse der Grenzer aus den Schutzpolizeiformationen, achtete aber peinlich genau auf Klassenherkunft und politische Zuverlässigkeit. So waren jetzt 85 % Angehörige der Arbeiterklasse, 93 % hatten nur Volksschulbildung, 7 % waren Polizisten vor 1945, aber 94,3 % SED-Mitglieder. Diese Grenzpolizei wurde nun seit April 1948 Rekrutierungsbasis kasernierter Volkspolizeieinheiten, der sogenannten Bereitschaften. Sie sollten ca. 10.000 Mann umfassen und den Kern neuer Streitkräfte bilden. Dazu wurde die DVdI umorganisiert, eine Hauptabteilung Politik-Kultur (PK) und eine weitere Grenzpolizei / Bereitschaften gebildet. Ein Wehrmachtsoffizier und Mitglied des Nationalkomitees Freies Deutschland, Oberleutnant Rentzsch, wurde zum Abteilungsleiter ernannt. Zwar wurde die grundsätzliche Festlegung der Personalpolitik nicht geändert, aber unter Berufung auf Friedrich 27  Wenzke

1994, S. 209. = Deutsche Verwaltung des Inneren. Sie war die Keimzelle des Machtapparats der DDR. Aus ihr gingen die Ministerien des Inneren, der Verteidigung und der Staatssicherheit hervor. Vgl. Wenzke 1994, S. 211. Dort auch die Zitate des folgenden Abschnitts. 29  Ebd., S.  212 f., 217 ff. 28  DVdl

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Engels die Aufnahme militärischer Spezialisten aus der Wehrmacht beschlossen: „… auch Offiziere und sogar ganz hohe Offiziere; denn wir haben in der Arbeiterklasse und auch in unserer Partei solche Spezialisten nicht“.30 Außerdem war die Mitgliedschaft in einer NS-Organisation kein prinzipieller Hinderungsgrund zum Eintritt in die Volkspolizeibereitschaften, sofern man keine Führungsaufgaben wahrgenommen hatte. Diese „Toleranz“ war notwendig, weil bei Weitem nicht so viele Bewerber für die neuen Formationen zur Verfügung standen, wie gebraucht wurden. Trotz mancher Vergünstigungen im Bereich der Ernährung und Bekleidung musste man die Werbemethode des Pressens benutzen, da das Soll nicht erreicht wurde. In sowjetischen Kriegsgefangenenlagern lockte man mit schneller Entlassung, wenn der Gefangene bereit war, sich zum Dienst in der Polizei zu verpflichten. Anfang 1948 entließ die Sowjetunion 5.000 solcher Kriegsgefangenen in die SBZ, von denen alle bis auf ca. 150 Männer in die Bereitschaften eintraten. Im Sommer 1948 wurden außerdem 150 Offiziere der Wehrmacht in der Nähe von Moskau zusammengezogen und auf einen solchen Dienst vorbereitet. Nach einem Erholungsurlaub in Ostdeutschland nahmen 5 Generale und 100 andere Offiziere ihren Dienst in den Bereitschaften zum 1. Oktober 1948 auf. Im gleichen Jahr wurde für alle Polizeiformationen eine eigene Parteiorganisation der SED eingerichtet und damit die politische Kontrolle verstärkt. Der erste Stellvertreter eines kommandierenden Offiziers aller Stufen war seither immer der Vertreter der PK-Abteilung. Die Aufstellung ging in hohem Tempo voran, sodass im März 1949, ein Jahr nach Beginn der Militarisierung, schon über 74.000 Bereitschaftspolizisten mit militärischem Auftrag existierten. Mit Reichswehr- bzw. Wehrmachtsvergangenheit hatte man 92 Offiziere, 12.048 Unteroffiziere und 40.000 Mannschaften übernommen. Politisch zuverlässig war dieses „Militär“ trotzdem. So lag die SED-Mitgliedschaft31 im höheren Dienst bei 100 %, im mittleren Dienst bei 89,4 %, im einfachen Dienst bei 58,4 % und im Bereich Politische Kultur bei 97,8 %. Trotzdem gab es Desertionen und unerlaubte Entfernungen von der Truppe. So begann im Frühjahr eine systematische politische Säuberung: Ca. ein Drittel des Personals wurde ausgewechselt, die meisten zur allgemeinen Polizei versetzt. Laut Befehl Nr. 2 vom 14. Januar 1949 durfte in der Grenzpolizei / Bereitschaften nicht tätig sein, wer32 30  So DVdl-Präsident Fischer am 10.10.1948 auf der Konferenz der Ministerpräsidenten in Potsdam, zitiert ebd., S. 223. 31  Ebd., S. 226, 228. 32  Ebd., S. 232. Diese Kriterien blieben für die Sicherheitskräfte der DDR bis zum Schluss gültig.



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•• Verwandte in gerader Linie in Westdeutschland hatte, •• in westlicher Kriegsgefangenschaft gewesen war, •• mehrere Disziplinarstrafen erhalten hatte, •• moralisch, charakterlich unzuverlässig und •• „Umsiedler“ aus den deutschen Ostgebieten war und nicht als politisch zuverlässig erschien. Von September 1949 bis Oktober 1950 wurden daraufhin ca. 10.000 Mann aus den Bereitschaften entlassen. Trotz dieser Entlassungswelle gab es weiterhin viele Desertionen.33 Die wichtigsten Gründe dafür waren falsche Versprechungen bei der Einstellung, ein extrem niedriges Lebensniveau als Kasernenbewohner, miserable Ausbildung, ein extremer „Kommissbetrieb“ und der nicht immer ganz freiwillige Übertritt in die bewaffneten Kräfte. Im Frühjahr 1949 war mit SMAD-Befehl die Aufstellung regulärer Truppen und deren eigenständige Führungsorganisation veranlasst worden. Unter strenger Geheimhaltung wurden die schon erwähnten ca. 150 ausgesuchte Offiziere im russischen Vol’sk an der Wolga für die Führungszentrale in russischer Sprache und in russischen Uniformen ohne Dienstgradabzeichen in den „Militärwissenschaften“ ausgebildet. Sie stellten die Führungskräfte für die ab Oktober 1949 sogenannte Hauptverwaltung für Ausbildung (HVA), die zunächst dem Innenminister unterstand und später das Ministerium für Nationale Verteidigung wurde. Seit April 1950 leitete der Altkommunist Heinz Hoffmann die HVA als Generalinspekteur und avancierte 1960 zum Minister für nationale Verteidigung. Im Herbst 1951 hatten die Bereitschaften einen Personalbestand von 10.900 Offizieren, 24.700 Unteroffizieren und 19.000 Mannschaften. 91,5 % dieser Soldaten kamen aus Arbeiterfamilien und über 75 % waren unter 26 Jahre alt. Nur 12 % hatten eine Schulbildung, die über die Volksschule hinausging. Das allgemeine Bildungsniveau auch des Offizierkorps war katastrophal, die fachlichen Kenntnisse erschreckend gering. Erst 1955 hatten über 50 % der Spitzenmilitärs eine hinreichende Ausbildung in Vol’sk erhalten. Die Karriere dieser Offiziere war aber weitgehend unabhängig von Bildungsstand und Fachwissen.34 Am 1. April 1952 war die Entscheidung in Moskau gefallen, eine Berufsarmee aus den Bereitschaften aufzubauen. Bis zum Sommer 1953 wurde die Truppe ziemlich exakt verdoppelt. Dies war ein ökonomischer und sozialer 33  Nach Wenzke 1994, S. 242 waren es 1950 ca. 600, 1951 ca. 400, 1952 aber 1200 Desertionen. 34  Ebd., S. 241; Zahlen ebd., S. 251.

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Gewaltakt, der nicht unerheblich zum Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 beitrug und auch darüber hinaus tiefe Spuren in der DDR-Gesellschaft hinterließ. Den Beginn dieser Entwicklung kann man mit der offiziellen Gründung der kasernierten Volkspolizei (KVP) am 1. Juli 1952 ansetzen. Die Verdoppelung des Personalbestandes machte große Schwierigkeiten. Auch in der DDR gab es eine durchgehende „Ohne-mich-Einstellung“ zur Wiederbewaffnung. Man inszenierte deshalb massive Werbekampagnen. Es gab den sogenannten Verbands- oder Parteiauftrag, was nichts anderes hieß, als dass die FDJ oder die SED aus ihren Reihen eine bestimmte Zahl von Soldaten stellen mussten. Man kann also in dieser Zeit von einer versteckten Wehrpflicht sprechen. Die Zahl der Desertionen verdreifachte sich deshalb 1952 gegenüber 1951 auf 1.200 und stieg 1953 auf fast 2.000. Zugleich setzte eine Fluchtwelle bei jungen Männern der Altersgruppe von 18 bis 25 Jahren ein. Über 22.000 gingen in den Westen, fast 15 % dieser Altersstufe. Auch die Privilegien, die die KVP bieten konnte, zogen nicht hinreichend. Ein Oberstleutnant – dieser Dienstgrad war im Alter von 30 Jahren erreichbar – verdiente dreimal soviel wie ein Normalbürger, doppelt soviel wie ein vollausgebildeter Ingenieur.35 Nun musste man endgültig die Reserven gegenüber ehemaligen Wehrmachtssoldaten fallen lassen.36 1951 waren ca. 33 % der KVP-Offiziere Wehrmachtssoldaten gewesen. Bis 1956 sank dieser Anteil zwar auf 27 %, allerdings in einem deutlich größeren Offizierkorps. Diese „Offiziere“ brachten neben ihren subalternen militärischen Kenntnissen vor allem den Wehrmachtskommiss in die DDR-Kasernen. Wehrmachtsoffiziere waren nur in geringem Umfang vertreten. 1953 waren es 461, 1956 nach offizieller Gründung der NVA 494. Sie stellten von 4,2 % (1951) über 3,5 % (1953) bis 2,8 % (1956) des Offizierkorps, besetzten aber Schlüsselpositionen in Fachfragen von Ausbildung, Taktik, Organisation und Logistik. Sie wurden scharf kontrolliert, hatten mit wenigen Ausnahmen keine politischen Schlüsselpositionen inne und wurden in den 1960er Jahren nach und nach auf repräsentative Positionen in den verschiedenen „gesellschaftlichen Organisationen“ abgeschoben. Fluchtbewegung und Desertion waren deutliche Hinweise darauf, dass die Remilitarisierung, wie in der Bundesrepublik, auf massive Ablehnung in der Bevölkerung stieß. Die DDR-Wirtschaft hatte damals relativ höhere Lasten zu tragen als die der Bundesrepublik. Trotzdem verdoppelte die DDR von 1951 auf 1952 die Militärausgaben.37 Der ökonomische Wiederaufbau hatte 35  Ebd.,

S.  262 ff. S. 271. Vgl. Wenzke 1995. 37  Vgl. Diedrich 1994, S. 304. Dort weitere detaillierte Angaben zu den Militärausgaben. Außerdem Karlsch. 36  Ebd.,



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sich durch diese Bedingungen sehr verzögert und war durch die Enteignungen und die beginnende Planwirtschaft nach sowjetischem Muster zusätzlich belastet. In dieser Situation wurden erhebliche Mittel in solche Investitionen gesteckt, die die Grundlagen für die Aufrüstung darstellten: Statt Wohnungen wurden Kasernen gebaut; die Konsumgüterindustrie wurde zugunsten der Schwerindustrie, die Produktion für den zivilen Bereich, z. B. bei Schuhen, Kleidung und Nahrungsmitteln, zugunsten des wachsenden Armeebedarfs vernachlässigt. Dies alles geschah in einer im Vergleich zu Westdeutschland als Mangelwirtschaft zu bezeichnenden Wirtschaft. Kostenlose Mehrarbeit der Arbeiterschaft sollte die Situation retten, die Erhöhung der Normen wurde angeordnet. Die Rebellion vorn 17, Juni 1953 bekam so von dieser Seite her einen zusätzlichen und wohl auch entscheidenden Antrieb. Die Konsequenz des 17. Juni war eine deutliche Zurücknahme des militärischen Personalbestandes38 und die Aufgabe von Aufrüstungsplänen, die Größenordnungen im Auge hatten, die die Bundeswehr erst Mitte der 1960er Jahre unter weitaus günstigeren ökonomischen Bedingungen und der dreifachen Bevölkerungszahl erreichte. Der Militarisierungsschub von 1952  /  53 hatte außerdem längerfristige Folgen für die Gesellschaft. In der DDR waren qualifizierte Arbeitskräfte allein schon wegen des ständigen Aderlasses der „Republikflucht“ außerordentlich knapp. Die Aufstockung des Militärpersonals zielte aber gerade auf den Teil der Bevölkerung, der in der Aufbauzeit besonders wichtig war, die qualifizierte Arbeiterschaft. Wie unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft in den Weltkriegen griff man deshalb auf Frauenarbeit zurück. Frauen waren aber nur dann zu mobilisieren, wenn man ihnen ihre besondere Situa­tion als Mütter erleichterte. So entstand das System der Kinderbetreuung von der Krippe bis zur Schulverpflegung und Ganztagsschule seit 1952 / 53. Sozialpolitik wurde damit zur psychologischen und materiellen Flankierung der Aufrüstung. In dieser Zeit entstanden ebenfalls Organisationen, die offen der Stabilisierung militärisch gestützter Herrschaft dienten. Die „Gesellschaft für Sport und Technik“ übernahm die vormilitärische Ausbildung, und für besondere, militärrelevante Arbeiten entstand der „Dienst für Deutschland“, eine weitgehende Kopie des Reichsarbeitsdienstes der NS-Zeit.39 Allerdings lernte die SED-Führung aus dem Desaster des 17. Juni. Als nach der Gründung der Bundeswehr die KVP in NVA umgetauft wurde, das Ministerium für Nationale Verteidigung aus dem Innenministerium ausge38  In der zweiten Jahreshälfte wurden ca. 4000 Soldaten, davon etwa 3500 Offiziere, entlassen. Vgl. Wenzke 1994, S. 267. 39  Eltze. Zum DfD einige Hinweise bei Diedrich 1994, S. 309. Zur vormilitärischen Ausbildung in der DDR Hartwig / Wimmel.

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gliedert war und eine zweite Phase forcierter Aufrüstung begann, konnte man den Unmut in der Bevölkerung durch neue und erweiterte Sozialleistungen kanalisieren. Die Zahl jugendlicher Flüchtlinge verdreifachte sich 1955 aber trotzdem und ging auch 1956 nicht wieder auf die Zahlen vor 1955 zurück. Die Drohung der allgemeinen Wehrpflicht löste 1960 / 61 wiederum eine Fluchtwelle unter jungen Männern aus und beschleunigte so indirekt die Entscheidung zum Mauerbau. IV. Gründungskompromiss als Strukturdefekt: die Bundeswehr in der Krise (1965–1969) Der Gründungskompromiss der Bundeswehr beruhte im Wesentlichen auf den eigentlich unvereinbaren Prinzipien preußisch-deutscher militärischer Tradition sowie des traditionellen Verständnisses von Militär, Politik und Gesellschaft einerseits und den demokratischen Prinzipien, wie sie durch das Grundgesetz rechtlich etabliert und praktisch in Anlehnung an west­ europäische und nordamerikanische Erfahrungen gewachsen waren. Diese Differenz blieb nicht auf die „Väter“ der Bundeswehr beschränkt. In der Truppe gab es heftige Diskussionen z. B. um Tradition, den Widerstand der Offiziere des 20. Juli 1944, das Verhältnis zur neuen Verfassungsstruktur.40 Man fühlte sich von den Zivilisten in Politik und Verwaltung mit Misstrauen beäugt, ja in geradezu ehrenrühriger Form kontrolliert. Da Baudissin in all diesen Fragen auf der anderen Seite des Grabens stand, hatte sein Konzept der Inneren Führung innermilitärisch keine Chance, genauso wenig seine Vorstellung einer berufsspezifischen akademischen Ausbildung des Offizierkorps, die für ihn die Bedingung einer Verankerung demokratischer Potentiale in den Streitkräften war.41 Ihn ließ man überwiegend deshalb gewähren, weil er als Propagandist der Wiederbewaffnung die kritischen Teile der Bevölkerung, insbesondere der jungen Generation von Wehrpflichtigen beruhigen sollte und die Armee als Ganzes damit legitimieren konnte. Für einen großen Teil des Offizierkorps war die Innere Führung, das Konzept Baudissins, nur die Maske, die sich die Armee vor das wahre Gesicht hielt, um die Zustimmung insbesondere der SPD im Parlament zum Wehrbeitrag zu erreichen. Das konnte noch 1969 der stellvertretende Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Grashey, vor Generalstabsoffizieren an der Hamburger Führungsakademie der Bundeswehr feststellen.42 Zwar war das Bild der Bundeswehr in den frühen Jahren nicht einheitlich, doch doAbenheim, S.  111 ff. Kutz 1982, S. 30 ff. 42  Eine genaue Schilderung des Vorgangs findet sich bei Abenheim, S.  176 ff. Die Rede wurde am 19.3.1969 gehalten. 40  Vgl. 41  Vgl.



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minierte der alte Kommissgeist insbesondere dort, wo sogenannte Kampftruppen sich selbst mit elitärem Korpsgeist identifizierten. Das Iller-Unglück, die Nagold-Affäre und die Verstöße gegen die Prinzipien der Inneren Führung, die der damalige Wehrbeauftragte Heye in die Öffentlichkeit trug,43 waren nur Symptome dieser Haltungen. Die Auseinandersetzungen um militärische Tradition und um die Offiziere des 20. Juli eskalierten innerhalb des Offizierkorps Mitte der 1960er Jahre so, dass sich das Verteidigungsministerium genötigt sah, den ersten Traditionserlass herauszugeben.44 Er verpflichtete das Offizierkorps ideologisch auf den Widerstand gegen Hitler und auf demokratische Traditionen, die zur Not auch im zivilen Bereich gesucht werden sollten. Gleichzeitig erlaubte er es, Kameradschaftstreffen und Traditionsbeziehungen zu alten Wehrmachtskameraden, -verbänden und -truppenteilen zu pflegen. Einzige Bedingung war, dass der verantwortliche Offizier einen Eklat in der Öffentlichkeit vermied. Auch in der Traditionsfrage gab es die typische Kompromisskonstruktion. Politisch brisant wurde die traditionalistische Grundhaltung der meisten Führungskräfte der Armee in der Generalskrise 1966. Sie entzündete sich an der Forderung der ÖTV, als Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes ungestört in den Kasernen tätig werden zu können. Für die in Reichswehr und Wehrmacht groß gewordenen Spitzenmilitärs war das eine ungeheuerliche Provokation. Eine rechtliche Prüfung hatte aber eindeutig ergeben, dass der Forderung stattgegeben werden müsse. Verteidigungsminister von Hassel verabschiedete deshalb am 1.8.1966 den Gewerkschaftserlass, bevor es zu gerichtlichen Auseinandersetzungen um diese Frage kommen konnte. Drei Generale, unter ihnen der damalige Generalinspekteur und der Inspekteur der Luftwaffe, reichten daraufhin ihren Rücktritt ein. Zuvor hatte in Düsseldorf eine Generalsversammlung stattgefunden, auf der weit mehr Generale ihre demonstrativen Rücktrittsabsichten bekundet hatten, dann aber doch einen Rückzieher machten. Der politische Dissens zwischen Öffentlichkeit, Parlament und Minister einerseits und wichtigen Führungskräften der Armee andererseits war schlagartig deutlich geworden. In der Öffentlichkeit wurde eine andere Krise heftiger diskutiert: die Starfighter Krise. Der Starfighter war ein Kampfflugzeug mit einer damals 43  Ebd., S. 144. Die von Heye angeführten Missstände waren nicht neu. Nach Abenheim gab es schon im September 1961 einen internen Bericht des Ministeriums, in dem von gleichen Entwicklungen gesprochen wurde. Eine ausführliche Würdigung des Falls Heye bei Bredow. 44  Abgedruckt bei Abenheim, Anhang. Aus Abenheims Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte werden die massiven Vorbehalte der Wehrmachtsgeneration gegenüber der Militärreform der 1950er Jahre deutlich.

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extrem komplexen Technologie. Es bedurfte eines entsprechenden Wartungs-, Führungs- und Managementsystems und eines Personals, das nicht in erster Linie militärisch, sondern technisch dachte und arbeitete. All dies hatte die Bundeswehr nicht oder nicht dort, wo es tatsächlich, gebraucht wurde. Hatte bereits das Offizierkorps der Wehrmachtsluftwaffe seine technisch-führungsmäßigen Aufgaben nicht bewältigt,45 musste das gleiche Personal in der Bundeswehr an den noch moderneren Anforderungen, die mit dem Betrieb und Einsatz moderner Strahltriebflugzeuge verbunden waren, erst recht scheitern. Ein anderes Feld krisenhafter Entwicklung war die Personalsituation, insbesondere beim Offiziernachwuchs. Der schnelle Aufbau der Bundeswehr, der nur vergleichbar war mit der Aufrüstung der Wehrmacht zwischen 1934 und 1941, traf auf eine Gesellschaft, die kaum Interesse am Militär hatte und aus ökonomischen Gründen nicht mehr gezwungen war, sich wie in der Weltwirtschaftskrise mit der Armee als Berufsfeld einzulassen. Anfang der 1960er Jahre kam die Personalrekrutierung mit dem Tempo der Aufstellung nicht mehr mit. Das etablierte Offizierkorps musste deshalb als Offizieranwärter und Offizier jeden akzeptieren, der Offizier werden wollte. So gelangten auch diejenigen Wehrmachtsoffiziere in die Bundeswehr, die aufgrund ihres Herkommens und Bildungsstandes erst in der Endphase des Krieges befördert worden waren. Die traditionellen Rekrutierungsmuster aus der wilhelminischen Zeit, die unausgesprochen für das Berufsoffizierkorps noch bis 1943 weitergegolten hatten,46 waren damit ausgehebelt. Ungediente Offizierbewerber fehlten ebenso. Der Abiturient aus „staatsnahen Familien“47 hatte andere Karrierechancen außerhalb der Streitkräfte entdeckt. So war die Bundeswehr schon vor 1965 gezwungen, jeden Bewerber, der tauglich gemustert war und Offizier werden wollte, tatsächlich zum Offizier auszubilden. Es genügten nunmehr die Mittlere Reife als Schulabschluss und eine abgeschlossene praktische Berufsausbildung als Einstellungsvoraussetzung. Für diese Personengruppe war die Bundeswehr noch ökonomisch attraktiv. Dort konnte man bis in Positionen aufsteigen, die nach den Regeln des Öffentlichen Dienstes Akademikern vorbehalten waren.48 Problem der Technikbewältigung im II. Weltkrieg vgl. Boog sowie Kutz. Bald 1982. Nach 1943 sind mangels Offizieren alte erfahrene Feldwebeldienstgrade zu Oberleutnanten befördert und als Kompanieführer eingesetzt worden. 47  Diese Formulierung findet sich in Untersuchungen Kölner Soziologen, die nach dem Regierungswechsel 1969 im Auftrag des BMVg erfolgten und 1970 / 71 herausgegeben wurden. Vgl. dazu Warnke / Mosmann. 48  Später gab man diesem Offiziertyp noch Gelegenheit zu einem Fachhochschulstudium, vor allem in den Fachrichtungen Ingenieurwissenschaften und Betriebswirtschaft. 45  Zum 46  Vgl.



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So begann eine personalpolitische Strukturveränderung in der Bundeswehr, die sozialhistorisch den tiefsten Einbruch in traditionelle Rekrutierungsmuster seit den preußischen Reformen darstellte.49 Die alte Vormachtstellung des Adels, der Kavallerie und der preußischen Gardeoffiziere innerhalb der Karrierepyramide, der Söhne des Adels, der höheren Beamtenschaft, der Akademiker, Gutsbesitzer und des Besitzbürgertums im Offizierberuf allgemein, ging rapide zu Ende, soweit sich die Restbestände dieses Systems über die Endphase des Zweiten Weltkrieges in die Bundeswehr hinein gerettet hatten. Außerdem hörte die erdrückende Übermacht der protestantischen Offiziere und die Benachteiligung von Katholiken in der Karriere auf. Dieser Vorgang beschränkte sich zunächst nur auf die Subalternoffiziere. Soweit diese Offiziere später zu Stabsoffizieren avancierten, wurden sie jedoch aus dem Korps der Generalstabsoffiziere noch weitgehend ausgeschlossen. Anfang der 1970er Jahre dominierte dort immer noch das traditionelle, aus der Kaiserzeit überkommene Rekrutierungsschema, allerdings mit deutlichem Rückgang der Selbstrekrutierung und des Adelsanteils. „Staatsnahe Kreise“ behielten hier aber bis Anfang der 1980er Jahre ihre Dominanz.50 Trotz dieser sozialen Öffnung des Offizierkorps verschärfte sich die Personalkrise Ende der 1960er Jahre zu einer Existenzkrise für die Bundeswehr. Beeinflusst war diese Entwicklung durch innen- und außenpolitische Entwicklungen, die letztlich zu einer Legitimationskrise der Bundeswehr führten. Große Koalition, Studentenbewegung und außerparlamentarische Opposition führten zu einer immer deutlicheren Infragestellung bestehender Politikmuster und politischer Institutionen. Die junge Generation, durch den Wehrdienst direkt betroffen, nahm auch die Bundeswehr als eine fragwürdige Institution wahr. Die objektiven Probleme der Armee, die Unfähigkeit ihrer traditionalistischen Führungselite, mit diesen Problemen fertig zu werden, und die Erfahrung mit dem „Kommiss“ steigerten die Ablehnung. Zugleich zeigte als außenpolitisches Argument die Entspannungspolitik Perspektiven auf, die den traditionellen, abendländisch verbrämten Antikommunismus als reaktionären Restbestand der insgesamt infrage gestellten Ordnung definierte.51 1968 eskalierten die Zahlen der Kriegsdienstgegner von wenigen Tausend auf erstmals mehr als 10.000 Wehrpflichtige.52 Bald 1982, S. 71 ff. wurden vom Kölner Soziologischen Institut unter René König Auftragsforschungen für das Verteidigungsministerium durchgeführt. Sie wurden in der neu eingerichteten (und bald wieder eingestellten) Reihe Führungshilfen der Schriftenreihe Innere Führung veröffentlicht. Autoren waren Rudolf Warnke, Helmut Mosmann und andere. Einschlägig: Der Offizier der Bundeswehr, Teile I–III, Bonn 1971 / 72. 51  Zu den Praktiken und Zielvorstellungen innermilitärischer politischer Bildungsarbeit der 1960er Jahre vgl. Balke. 52  Bald 1994, S. 123. 49  Vgl.

50  1970 / 71

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Die Bundeswehr wurde in diesen unruhigen Jahren erstmals mit einer Jugend konfrontiert, die vollständig im demokratischen System sozialisiert war, die die Ideale der Demokratie an der politischen und sozialen Realität maß und die Realisierung ihrer Ideale einforderte. Eine Armee, die als CDU-Armee galt, deren Traditionalismen und praktische Rückständigkeit offenkundig waren und die noch weniger Bildungschancen bot als der zivile Bereich, konnte für diese Jugend nicht attraktiv sein. Dass die Unruhe der Gesellschaft auf die Bundeswehr überging und in ihr der Ruf nach Reformen und Veränderung lauter wurde, konnte und wollte man in der Zivilgesellschaft kaum wahrnehmen. V. Krisenbewältigung durch Reform: die Bundeswehr 1969–1975 Drei Publikationen kennzeichneten den inneren Zustand der Bundeswehr auf den Kommandoebenen. 1964 entwarf Oberst Heinz Karst mit seinem Buch „Das Bild des Soldaten“ das konservative Gegenbild zu Baudissins Vorstellungen. Vor allem deshalb wurde er unter Verteidigungsminister Schröder zum Inspekteur für Erziehung und Bildung im Heer befördert und spielte 1968 bis zu seiner Entlassung 1970 eine Schlüsselrolle. Hans-Georg von Studnitz’ Buch „Rettet die Bundeswehr“, das 1967 erschien und insbesondere unter Berufsoffizieren auf große Akzeptanz stieß, fasste die Argumentation des vordemokratischen militärischen Traditionalismus gegen die Aspekte von Modernität und demokratischer Orientierung zusammen, die bereits in der Bundeswehr Fuß gefasst hatten. Studnitz’ Polemik nahm alle Probleme des militärischen Alltags auf und verquickte sie mit einer grundsätzlichen Ablehnung der Reformansätze der 1950er Jahre.53 Der dritte, 1969 publizierte Text ist mit dem Namen des damaligen Inspekteurs des Heeres, General Schnez, verknüpft, obwohl der Autor der öffentlich inkriminierten Passagen wohl General Karst war und der damalige Generalinspekteur de Maizière eine undurchsichtige Rolle dabei spielte.54 Besondere Brisanz erhielt die „Schnez-Studie“ dadurch, dass Schnez als Exponent der Rechten in der Bundeswehr galt und man ihm gerichtsnotorisch nachsagen durfte, er habe Offizierskameraden noch 1945 der Gestapo ans Messer geliefert und sei ein 150prozentiger Nazi gewesen.55 In der Studie wurden innermilitärische Probleme, insbesondere der Autoritätsverlust des Militärs nach innen und außen, auf Entwicklungen in der Gesellschaft zurückgeführt, die man nur durch eine „Reform an Haupt und Gliedern“ sowohl der Armee als auch der Gesellschaft überwinden könne. Innermilitärische Forderungen 53  Karst. 54  Die

55  Vgl.

„Schnez-Studie“ ist abgedruckt bei Heßler. Hammerstein, S. 137–146.



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(bis hin zur Einrichtung von Strafbataillonen) und Forderungen an Gesellschaft und Politik zur Verbesserung der Position des Militärs bis hin zu Verfassungsänderungen und Grundrechtsbeschränkungen stießen allerdings auf heftigen Widerstand von Sozialdemokratie und kritischer Öffentlichkeit. In diesen Kontext gehört die schon referierte Äußerung General Grasheys 1969, dass die Innere Führung nur eine Maske gewesen sei, die man sich vors Gesicht habe halten müssen, um die Zustimmung zum Wehrbeitrag zu erhalten. Die traditionalistische Führung der Armee konnte sich damals durchaus auf Zustimmung stützen. Selbst Bundeskanzler Kiesinger machte im Wahlkampf 1969 höchst despektierliche Äußerungen über die Militärreform der 1950er Jahre.56 Militär und CDU-Führung rechneten fest mit einer absoluten CDU-Mehrheit bei der Bundestagswahl und mit einem Freibrief für die militärpolitische Wende gegen die Reformen der Aufstellungszeit. Völlig überraschend für diese politischen Kräfte kamen der Wahlsieg der SPD und die Bildung der sozialliberalen Koalition. Neuer Verteidigungsminister wurde Helmut Schmidt, der seit Jahren als kompetenter verteidigungspolitischer Sprecher seiner Partei sein Programm einer Fortsetzung der Militärreform der 1950er Jahre Punkt für Punkt von den Parteigremien der SPD und von der Bundestagsfraktion hatte absegnen lassen.57 Er konnte auf dieser Basis die Reformierung und Modernisierung der Bundeswehr mit breiter Zustimmung als Teil der allgemeinen Reformpolitik der sozialliberalen Koalition einleiten. Schmidt begann seine Tätigkeit mit einer Bestandsaufnahme auf großen Konferenzen. Dort konnten Offiziere vom Einheitsführer aufwärts ihre Sicht der Probleme äußern. Dabei kristallisierten sich vier wesentliche Problembereiche heraus: •• die Wehrstruktur, insbesondere Umfang, Dienstzeiten und Dienstverhältnisse; •• Planungs-, Organisations- und Beschaffungsprobleme militärischer Rüstung; •• eine aus der Aufbauzeit geerbte schlechte Personalstruktur und •• die völlig unzureichenden Bildungs- und Ausbildungsverhältnisse. In allen vier Bereichen wurden Kommissionen eingerichtet, mit zivilem Sachverstand und militärischen Vertretern besetzt, die die aktuelle Situation untersuchen und Vorschläge für die Überwindung der Modernitätskrise erarbeiten sollten. Ihre 1971 vorgelegten Berichte und Empfehlungen58 bilde56  Abenheim,

S. 178. Hofmann; Wilker. Zu Helmut Schmidts Position vgl. Schmidt 1965; 1969. 58  Folgende Kommissionsberichte wurden veröffentlicht: Wehrstruktur-Kommis­ sion der Bundesregierung 1971; 1972 / 73; Neuordnung des Rüstungsbereichs 1971; 57  Vgl.

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ten die Grundlage der über hundert Einzelmaßnahmen, mit denen der Minister die Modernisierung der Bundeswehr in Angriff nahm.59 Zu den frühen Maßnahmen gehörte der Blankeneser Erlass vom 6. April 1970, der innerhalb des Ministeriums die Kompetenzen zwischen politischziviler Leitung, Generalinspekteur und Teilstreitkraftinspekteuren neu verteilte und die militärische Führung deutlich aufwertete.60 Zugleich wurde eine Umstrukturierung des Verteidigungsministeriums vorgenommen, die sich weniger an den phobischen Kontrollvorstellungen der Adenauerzeit, sondern überwiegend an Effizienzkriterien orientierte. Das galt vor allem für den Rüstungsbereich, wobei man sich weitgehend an den Ergebnissen und Vorschlägen der Rüstungskommission orientierte.61 Für die öffentliche Debatte jedoch war die Militär Bildungsreform von zentraler Bedeutung. An ihr ließen sich – wie auch im zivilen Bereich – alle ideologischen Streitfragen festmachen. Die Ausgangslage in der Bundeswehr sah folgendermaßen aus: •• Es gab kein schlüssiges Gesamtkonzept für die militärische Ausbildung. Jede Teilstreitkraft, jede Truppengattung und dort wieder getrennt nach Mannschaften, Unteroffizieren und Offizieren, versuchte durch Lehrgänge verschiedener Art für verschiedenste Funktionen das militärfachliche Wissen an den Mann zu bringen. Doppelausbildung und große Defizite standen nebeneinander. Ein Profil war nicht erkennbar.62 •• Die Personalnot der Bundeswehr war bei Unteroffizieren und Zeitoffizieren am drückendsten. 20 % der Unteroffiziersstellen waren nicht besetzt, und bei einem Bedarf von ca. 650 Berufsoffizieren pro Jahrgang konnte das Heer 1968 weniger als 20 Männer zu dieser Berufswahl direkt von Personalstrukturkommission des Bundesministers der Verteidigung 1971; Bildungskommission beim Bundesminister der Verteidigung 1971. Bereits 1970 hatte das Ministerium ein Weißbuch vorgelegt, in dem die Ergebnisse der Lageanalyse referiert und bewertet wurden (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1970). 59  Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1971, S. 175. Von 124 angekündigten Maßnahmen waren 88 durch Rechtsverordnung oder Erlass zu bewirken, 36 bedurften der Gesetzesänderung oder eines neuen Gesetzes. Zum 1.11.1971 waren von den 124 Maßnahmen 103 abschließend entschieden. 60  Die Inspekteure wurden truppendienstliche Vorgesetzte und ministerielle Abteilungsleiter, der Generalinspekteur erhielt das Inspektionsrecht im eigenen Namen, wurde Vorsitzender des Militärischen Führungsrates, ministerieller Hauptabteilungsleiter und damit weisungsberechtigt gegenüber den Inspekteuren und auf der Arbeitsebene den drei Staatssekretären gleichgestellt (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1970, S. 171). 61  Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1971, S. 138 ff. 62  Kutz 1982, S. 96 ff.



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der Schulbank weg überreden.63 Das Reservoir für Offizieranwärter in der Gesellschaft, die Abiturienten, wollte zu ca. 95 % studieren. Um die restlichen 5 % zankten sich Post, Bahn und öffentliche Verwaltung für die Inspektorenlaufbahn. Das fachliche Defizit der Armee lag nach Ansicht der Bildungskommis­ sion vor allem bei technischen, betriebswirtschaftlichen und sozialen Qualifikationen.64 Mit dieser an zivilen Berufsbildern orientierten Bedarfsanalyse war eine neue Sicht des Soldaten, insbesondere des Offiziers als technisch und managementmäßig qualifiziertem Fachmann verbunden. Die traditionalistische Version des Soldatischen ging dagegen von romantisierenden Vorstellungen vom Kämpfer aus. So wurde eine gespenstische Diskussion um das Gegensatzpaar Kämpfer oder Denker65 geführt und vor allem der wissenschaftlichen Ausbildung von Offizieren unterstellt, sie unterminiere soldatische Leistungsanforderungen und zerstöre durch die Intellektualisierung des Offizierberufs den Kampfwillen und damit die Kampfbereitschaft der Armee. •• Die Konzepte einer Bildungsreform im Militär, insbesondere für die wissenschaftliche Ausbildung der Offiziere, hatten von Anfang an einen zwar parteipolitisch neutralen, aber deutlichen Demokratisierungszweck.66 Indem er als Chance zur Pluralisierung beschrieben wurde, bot man zugleich den in die Defensive gedrängten Traditionalisten einen Platz in der reformierten Armee an. Dies erlaubte später vielen von ihnen, die Reformen ernsthaft zu akzeptieren. Politisch kontraproduktiv für eine Demokratisierung der Armee war aber die Reaktion ziviler wissenschaftlicher Institutionen, allen voran der Universitäten.67 Die Ablehnung wurde höchst emotional mit der Furcht vor einer Militarisierung der Hochschulen und der Wissenschaft begründet. In den offiziellen Verhandlungen über ein Studium der Offizieranwärter an zivilen Universitäten wurden dann aber überwiegend formale, juristische und kapazitätspolitische Argumente für die Ablehnung eines Offizierstudiums angeführt. Die Entschlossenheit Schmidts, über ein Studienangebot das Reservoir 63  Der eigentliche Mangel bestand bei den lang dienenden Zeitoffizieren für Subalternfunktionen (Leutnant bis Hauptmann). Dort fehlten der Bundeswehr ca. 40% (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1970, S. 90). 64  Vorwort des Bundesministers der Verteidigung zum Bericht der Bildungskommission (Bonn, 6. Juni 1971). 65  So der Journalist Weinstein in der FAZ vom 28.1.1971; vgl. Karst, S.  3 ff.; Kutz 1982, S. 103 ff. 66  Vgl. Bildungskommission beim Bundesminister der Verteidigung. Eine Analyse bei Jopp, S.  65 ff. 67  Kutz 1982, S. l14 ff.

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der 95 % studierwilligen Abiturienten für die Bundeswehr zu erschließen, führte unter diesen Bedingungen zur Gründung der Hochschulen der Bundeswehr. Vorgesehen war hier ein reformiertes, entfrachtetes Fachstudium, das durch ein sozialwissenschaftliches und pädagogisches Anleitstudium ergänzt werden sollte.68 Realisiert wurde statt des Anleitstudiums aber nur ein Nebenfachstudium in Pädagogik und Sozialwissenschaften, das seiner eigent­ lichen Funktion als Reflexionsinstanz für das eigene Lernen wie für die Berufssituation des Offiziers entkleidet wurde.69 Aus Sicht militärischer Traditionalisten war das Offizierstudium ohnehin überflüssig. Gute Studienabschlüsse und wissenschaftliche Qualifikationen galten wenig. Gefördert wurde, wer schnell sein Diplom machte, nicht wer ein gutes Diplom vorweisen70 konnte, dafür aber über die Regelstudienzeit hinaus studiert hatte. Zusätzlich sorgte man für eine besondere Förderung von Studienabbrechern und nicht studierten Offizieren über das militärische Beurteilungswesen. Die langfristige Folge war ein deutlicher Rückgang des Anteils der Offiziere mit Diplom am Korps der Berufsoffiziere. Mitte der 1990er Jahre waren auch wegen der Übernahme ehemaliger NVA-Offiziere, erheblich weniger als 50 % der Berufsoffiziere bestimmter Jahrgänge diplomiert.71 In den anderen Bereichen militärischer Ausbildung sollte ebenfalls nach den Prinzipien ziviler Qualifikation verfahren werden. Mannschaftsdienstgrade als Zeitsoldaten sollten bei der Bundeswehr eine Gesellenprüfung, Unteroffiziere eine Meisterprüfung ablegen. Alle diese Prüfungen, von zivilen Instanzen als gleichwertig anerkannt, sollten es vor allem Zeitsoldaten erleichtern, nach ihrer Dienstzeit in einen zivilen Beruf überzuwechseln. Neben der Verbesserung der militärischen, beruflichen Qualifikation durch zivile Ausbildung bestand der wichtigste Beitrag der Bildungsreform für die Bundeswehr darin, die einseitige Personalstruktur durch die Erhöhung der Flexibilität und der beruflichen Mobilität zwischen ziviler Wirtschaft und Bundeswehr wieder bedarfsgerecht umzustrukturieren. Die Bildungsreform hat beide Ziele weitgehend erreicht. Darüber hinaus hat sie, in sozialhistorischer Perspektive, eine weitreichende Umstrukturierung der Armee selber und des Beziehungssystems von Anleitstudium vgl. Fröchling / Gessenharter / Nacken. 1982, S. 144 ff. 70  Kutz 1985. 71  An der Führungsakademie der Bundeswehr müssen alle Hauptleute der Bundeswehr einen sogenannten Stabsoffiziergrundlehrgang als Laufbahnlehrgang absolvieren. Hier waren noch ca. 40% der Absolventen diplomiert. 68  Zum 69  Kutz



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Militär und Gesellschaft zur Folge gehabt. Der von Helmut Schmidt eingeleitete und von Georg Leber in vielen Bereichen erst praktisch durchgesetzte Modernisierungsschub hatte für die Bundeswehr langfristige strukturelle Folgen. Die Wichtigste davon war, dass über das neue Ausbildungssystem die Ende der 1960er Jahre eingeleitete soziale Demokratisierung festgeschrieben und stabilisiert wurde. Für die Militärelite war die Beendigung der Rekrutierungskrise akzeptiert, die demokratisierenden Nebenfolgen wurden dagegen mit großer Skepsis beobachtet. Besonders deutlich wurde dies bei der Rekrutierung des Offiziernachwuchses.72 Stammten in der Weimarer Republik zwischen 75 und 80 % aus den sogenannten sozial erwünschten Kreisen, so hatte die Bundeswehr im ersten Jahrzehnt noch ca. 30 % der Offiziere aus diesem Sozialmilieu, überwiegend die kriegsgediente Generation. Nach der Öffnung der Bundeswehrhochschulen stabilisierte sich eine neue Rekrutierungsstruktur. 17 bis 18 % der Offiziere kamen aus Arbeiterfamilien, um 40 % aus Angestelltenfami­ lien, ca. 15 % aus Familien, in denen der Vater selbständiger Handwerker war. Am signifikantesten änderte sich die neue Rekrutierungsstruktur aus dem Beamtenmilieu. Waren es bis 1945 die Söhne der höheren akademisch gebildeten Beamten sowie Offizierssöhne, so sank einerseits der Anteil der Beamtensöhne insgesamt von ca. 45 % (1962) auf ca. 27 % (1980). Andererseits hat sich innerhalb dieses reduzierten Anteils die Rekrutierung völlig verschoben. Söhne von Beamten aus dem einfachen, mittleren und gehobenen Dienst von öffentlicher Verwaltung, Post und Bahn dominierten jetzt. Die traditionell hohe Selbstrekrutierungsrate in deutschen Armeen vor 1945, die „Vererbung“ des Offizierberufs, brach völlig ab. Ist der Vater eines Offiziers der neuen Generation Soldat gewesen, so war er in der Regel nicht Offizier, sondern Unteroffizier, der Sohn also sozialer Aufsteiger. Ca. 75 % des Offizierkorps, das seit 1973 eingestellt wurde, kommen demnach aus sozialen Schichten, die vor 1943 keinen Zugang zum Offizierberuf hatten. Es sind junge Männer, die ihren Aufstieg über das reformierte zivile Bildungssystem bis zum Abitur geschafft haben und das Offizierstudium wählten, weil sie damit den erwünschten akademischen Abschluss finanziell abgesichert erwerben konnten. Für diese jungen Männer ist der Offizierberuf ein sozialer Aufstieg in eine Schicht, in die sie ohne diese materielle Absicherung des bezahlten Studiums nicht hätten aufsteigen können. Mit einer solchen sozialen Herkunft sind aber neue soziale und politische Erfahrungen verknüpft, die das soziale Klima in der Bundeswehr nachhaltig in Richtung einer Binnendemokratisierung verändert haben. Zwar sind Offiziere heute noch strukturell konservativer als sozial vergleichbare 72  Bald

1982, S. 83, sowie Tabelle 3.

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Schichten, aber dieser Konservatismus ist zweifelsfrei demokratisch. Er war auch bis Ende der 1990er Jahre westdeutsch geprägt, was insbesondere zu einer Dominanz des katholischen Religionsbekenntnisses geführt hat. Die neue Sozialstruktur des Offizierkorps steht in enger Beziehung zur Entwicklung der westdeutschen Gesellschaft. Die Bildungsreformen der 1960er und 1970er Jahre haben in der Zivilgesellschaft Kindern bisher bildungsferner Schichten – Arbeiterschaft, selbständige Gewerbetreibende, „kleine“ Angestellte und Beamte – den Zugang zum Gymnasium und zur Universität geöffnet. In Berufen, die früher dem Bildungs- und Besitzbürgertum vorbehalten waren, ist so eine neue Akademikerschicht mit eher „progressiven“ Einstellungen entstanden. Der soziale Aufstieg wurde emotional und rational als Ergebnis der Demokratisierung erlebt. Demokratie als Lebensform, als Alltagserfahrung war gekoppelt mit der Freiheit, neue Lebensstile auszuprobieren. Wertewandel und Individualisierung73 wurden bejaht und praktiziert, Pluralismus politischer Orientierungen als selbstverständlich angesehen. Durch diese soziale Veränderung und die neuen sozialen und politischen Erfahrungen der jungen Offiziergeneration bekam nun unvorhergesehen und nicht intendiert das Baudissinsche Konzept der Inneren Führung erheblichen Auftrieb.74 Nicht, dass eine bewusste Auseinandersetzung damit stattgefunden hätte. Vielmehr sind neues Lebensgefühl, soziale Verhaltensmuster und wachsender politischer Pluralismus in der Armee eher zufällige Nebenwirkungen der Militärbildungsreform als Auslöser bzw. Stabilisator neuer Rekrutierungsmuster. Das erklärt auch, warum zwar Innere Führung in deutlich größerem Umfang praktiziert wurde, die intellektuelle Verarbeitung des Konzepts aber peripher blieb. Die Ergebnisse der Militärreform der frühen 1970er Jahre konnten sich sehen lassen: Die Personalsituation der Bundeswehr war entschärft, die Qualifikation des Führungspersonals vom Unteroffizier bis zum Stabsoffizier deutlich angehoben, die Ausrüstung großzügig auf den besten Stand gebracht und eine, wenn auch labile, Verbesserung der Legitimationsbasis der Streitkräfte erreicht. Doch nach den ersten Jahren, die von Ratlosigkeit unter den Traditionalisten der Armee geprägt waren, begann eine zunächst vorsichtige, halbwegs getarnte Rückorientierung an den alten Ideologiemustern der 1950er und 1960er Jahre.

73  Beck, S. 2; Inglehart 1977; 1989; Klages; Schulze. Die Autoren untersuchen mit völlig heterogener Begrifflichkeit unterschiedliche Faktoren von Wertewandel und Industrialisierung. 74  Kutz 1989, S. 31 f.



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VI. Die personelle und ideologische Vorbereitung der konservativen Reaktion in der Bundeswehr (1976–1982) Erleichtert wurde diese Rückorientierung durch eine eigentümliche Scheu des Verteidigungsministeriums, bei der Personalauswahl der Generalstabsoffiziere substantiell veränderte Kriterien anzulegen. Zwar war der Generalstabslehrgang, der 1970 begann, in Erwartung politischer Kontrolle der erste der Bundeswehr, der ausschließlich nach den Leistungsergebnissen einer Auswahlprüfung beschickt wurde. Als jedoch keine politische Intervention erfolgte, wurde schon der nächste Lehrgang wieder so zusammengesetzt, dass die traditionalistischen Auswahlkriterien von Haltung und Einstellungen durchschlugen. Drei Jahre später wurde der alte Auswahllehrgang abgeschafft und ein neuer Prüfungslehrgang mit wissenschaftlichem Charakter eingerichtet. Wieder vermutete die Personalführung, es bestehe der politische Wille, Generalstabsoffiziere nach Leistungsgesichtspunkten auszuwählen. Wieder wurde nach Prüfungsergebnissen ausgewählt und eine breite Pluralität der Auffassungen zugelassen. Die politische Kontrolle aber blieb zum zweiten Mal aus, und wieder wurde das traditionalistische Schema etabliert, mit der Nebenfolge, dass Leistung noch weniger fassbar wurde als beim Auswahlverfahren vor der Reform. In der Luftwaffe allerdings musste wegen der Starfighterkrise sofort die Modernisierung eingeleitet werden. Der neue Inspekteur der Luftwaffe, General Steinhoff, verfügte, dass die Masse der Generalstabsoffiziere der Luftwaffe aus dem Reservoir an Düsenflugzeugpiloten und Raketenoffizieren beschickt werden sollte. Das bedeutete eine schnelle Veränderung der Zusammensetzung in Richtung auf technokratische und modernitätsoffene Offiziere. Beim Heer hingegen blieb man bei der traditionellen Auswahl. In den Ende der 1970er Jahre geführten Auseinandersetzungen um die Struktur der Führungsakademie und die Ausbildung zum Generalstabsoffizier setzten sich die Traditionalisten eindeutig durch. Erst ab 1983, als die erste Mannschaft, die geschlossen an den Hochschulen der Bundeswehr studiert hatte, zum Generalstabslehrgang anstand, wurden die eingefahrenen Selektionsmuster hinfällig und der Prozess der Pluralisierung, der bei den Truppenoffizieren schon abgeschlossen war, griff auf das Korps der Generalstabsoffiziere über.75 Das alte Rekrutierungsschema ist seither für die militärische Elitenbildung Geschichte. Auch die ideologische Neuformierung des Traditionalismus blieb problematisch. Zunächst war noch immer ein relativ wachsames Auge der politischen Führung auf den zunehmend kritisierten Kernbestand der Reformen 75  Kutz

1988; 1990b.

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gerichtet. Offen konnte man schlecht dagegen opponieren. Auf den bürokratischen Wegen aber formierte sich der neue Traditionalismus. Erste Ansätze zeigten sich im Wahlkampf 1976, als die informelle Zusammenarbeit zwischen Soldaten der Hardthöhe und der CDU-Zentrale bekannt wurde. Ein Jahr davor hatte die CDU auf Betreiben ihres verteidigungspolitischen Sprechers Manfred Wörner die Gemeinsamkeiten in der Militärbildungs­ politik aufgekündigt.76 Weiteren Auftrieb für traditionelle Konzepte gab der 1979 stattfindende Kongress „Mut zur Erziehung“.77 Die dort diskutierten Thesen zur Tugenderziehung waren schwer zu politisieren, da auch prominente Vertreter der Regierungspartei ihnen zustimmten. Bald waren die Begriffe Erziehung, Tugenden (als Soldatentugenden), und Bildung militärisch traditionalistisch besetzt und wurden Gegenbegriffe zu Qualifikation und Ausbildung. Der Bildungsbegriff wurde dann noch militärisch verengt auf die sogenannte berufsbezogene Bildung.78 Ihr unausgesprochenes Ziel war die Herstellung personen- anstatt sachbezogener Loyalität. Dazu bot sich vor allem der Rückgriff auf Traditionen an. Letztere schloss alle vorausgegangenen Armeen der preußisch-deutschen Geschichte ein, was dazu zwang, die mit demokratischen Prinzipien unvereinbaren Aspekte dieses historischen Militärs entweder zu leugnen79 oder für unwichtig zu erklären. Das erklärt das Aufflammen der Traditionsdebatte 1978 / 79 und ihre Fortführung bis weit in die 1980er Jahre. Die Traditionsdebatte war in doppeltem Sinn eine Scheindebatte. Militärische Protagonisten benutzten sie als Test, um die Durchsetzungsfähigkeit sozialdemokratischer Minister auszuloten. Die militärkritische Öffentlichkeit benutzte sie zum Teil dazu, ihre Kritik an der politischen Amtsführung zu artikulieren. Deshalb wurde die Debatte zwischen diesem Teil der Öffentlichkeit und dem Militär weder in der Gesellschaft noch in der Truppe wahr- oder ernst genommen. Die Traditionalismen der höheren Führung wurden selbst im militärischen Alltag belächelt oder als Ideologie abgetan.80 Ihre Bedeutung wurde damit aber weder in der Gesellschaft noch in der Armee richtig eingeschätzt.81 76  Wörner.

77  Direkt im Anschluss an die Veröffentlichung der Kongresspapiere begann die Diskussion um „Militärische Erziehung“ in der Bundeswehr. Vgl. Gisbert Hoffmann; Kutz 1980; 1986 / 1987. 78  Kutz 1982, S. 124 ff.; Wiesendahl. 79  Vgl. Elble; Hereth; systematisch aufgearbeitet für die Zeit bis 1985 bei Kutz 1986. 80  Daraus ergibt sich das eher diffuse Bild des Traditionsverständnisses in der empirischen Untersuchung von Esser. 81  Auf dem Höhepunkt der Diskussion fand eine zweitägige Tagung im BMVg statt. Vgl. Bundesministerium der Verteidigung et al. 1981.



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VII. Die NVA, eine „normale“ Armee des Warschauer Pakts Mit dem Mauerbau begann die Konsolidierungsphase der DDR. Da die Flucht nur noch unter Lebensgefahr möglich war, arrangierte sich die ostdeutsche Bevölkerung mit dem SED-Regime. Beides, das Ende der Fluchtmöglichkeiten und die politische Beruhigung, führte zunächst zu einem ökonomischen Aufschwung und damit zu größerer Akzeptanz des Systems. Da der augenscheinliche Vergleich der Lebensverhältnisse nur noch mit den ökonomisch schlechter gestellten Volksdemokratien möglich war, entwickelte sich auch ein gewisser Stolz auf die Leistungsfähigkeit der DDR-Gesellschaft. Das kam der NVA zugute. Die Wehrpflicht wurde bald als selbstverständlich akzeptiert. Es gehörte zu den unhinterfragten Initiationsriten des jungen Mannes, Soldat gewesen zu sein, und auch junge Frauen erwarteten, dass Männer Soldaten wurden, was nicht hieß, dass sie das gut fanden. Die Art und Weise, wie das Soldatenleben organisiert war, hat massive persönliche Probleme produziert. Wochenlang kamen die jungen Wehrpflichtigen – aber auch die jungen Unteroffiziere und Offiziersanwärter – nicht aus den Kasernen heraus. Der Kontakt zu Familie und Freundin musste per Brief aufrecht erhalten werden. Aussprache am zumeist einzigen Telefon der Kaserne war so gut wie unmöglich, wenn hinter dem telefonierenden Soldaten eine lange Schlange von Kameraden stand, die ebenfalls telefonieren wollten. Die meisten Beziehungen junger Soldaten zerbrachen daran. Eine heimatnahe Einberufung als Erleichterung hat das Regime trotzdem nie auch nur ins Auge gefasst.82 Bei der älteren Generation war der Militarismus der kleinen Leute, der sich in fragloser Akzeptanz des Militärs und des traditionellen Kommiss äußerte, leicht wiederzubeleben. So musste die junge Generation den Kommissbetrieb der NVA mit ihren inhumanen Gründzügen als Selbstverständlichkeit hinnehmen. Zugleich wusste man über die NVA nur „Offizielles“83 und das, was aus der Perspektive des Wehrpflichtigen zu erfahren war. Diese Auskünfte waren allerdings niederschmetternd und wurden nach der Wiedervereinigung durch Augenschein bestätigt.84 Militärtechnisches Material war in beheizten 82  Mit zum Teil sehr detaillierten Schilderungen Müller. Daraus die folgenden Einzelaspekte des Innenlebens der NVA. 83  Eine für DDR-Verhältnisse im Sicherheitsbereich instruktive Selbstdarstellung der NVA und ihrer Geschichte: Brühl et al. 1985. Außerdem Meissner. Dagegen die „amtlichen“ Ergebnisse: Deutscher Bundestag 1995. 84  Der Autor hat 1990 Kasernen der NVA in Dresden, bei Schwerin und andere Anlagen in Berlin besucht. Die hygienischen Zustände waren extrem schlecht. Der Küchenbetrieb in der Kaserne bei Schwerin musste wegen Seuchengefahr auf Feldküchen der Bundeswehr umgestellt werden.

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Hallen untergebracht und auf eine Weise gepflegt, dass der Eindruck entstehen musste, dafür habe es hygienische Vorschriften gegeben. Die Soldatenunterkünfte dagegen ließen es an nahezu allem fehlen. Duschen, wenn überhaupt vorhanden, waren notdürftig selbst installiert, die Stuben völlig überbelegt, das Essen nicht nur phantasie- und lieblos zusammengekocht, sondern oft, besonders im Außendienst, auch noch kalt. Dazu kam ein rigoroser und oft aggressiver Umgangston, eine enorme Distanz zwischen unten und oben innerhalb der Hierarchie. So gab es an der Militärakademie Friedrich Engels in Dresden nicht nur unterschiedliche Speisesäle für Mannschaften, Unteroffiziere, Offiziere und höhere Stabsoffiziere, sondern auch unterschiedliches Essen. Selbst innerhalb der Generalität wurde gebrüllt und gedemütigt.85 Viele Verbände waren nach sowjetischem Vorbild in regelrechten Soldatenstädtchen isoliert. Neubaukasernen und Soldatenwohnungen lagen oft außerhalb größerer Siedlungen und hatten eine gemeinsame, nur für sie gebaute Infrastruktur. Die durch überzogene Geheimhaltung und die Dienstverhältnisse erzeugte gesellschaftliche Isolierung der Berufssoldaten machten die NVA zum Gegenstand von Spekulationen. Besonders über die Privilegien des Offizierkorps – aus westdeutscher Sicht nicht gerade bedeutsame Vorteile – gab es deshalb übertriebene Vorstellungen in der Bevölkerung, während die extremen dienstlichen Belastungen kaum wahrgenommen wurden. Dienstzeiten von 70 bis zu 100 Stunden pro Woche, regelmäßige Versetzungen mit den Konsequenzen für die Familien, schlechte Wohnungsfürsorge, miserable Einkaufsmöglichkeiten wegen der Isolation in den Einödstandorten waren Belastungen, die in Umfragen immer wieder bestätigt wurden, zu deren Beseitigung oder auch nur Milderung seitens der SEDFührung so gut wie nichts unternommen wurde.86 Die herausgestellten Kompensationen standen mehr auf dem Papier als dass sie realisierbar gewesen wären. Der billige Urlaub im Soldatenheim war statistisch allenfalls alle sechs Jahre möglich, ein Urlaub mit der Familie scheiterte oft schon daran, dass das System nicht in der Lage war, die berufstätige Ehefrau des Soldaten zur gleichen Zeit zu beurlauben wie ihren Mann. Das politische Profil der NVA blieb bis in den Herbst 1989 geprägt von den Aufbaujahren. Die Offiziere waren weiterhin nahezu geschlossen Mitglieder der SED. Die politische Kontrolle war lückenlos. Die Armee galt in 85  Als der Autor auf einer Tagung mit der entlassenen NVA-Führung 1991 seine These von der „Kommissigkeit“ der NVA und ihren menschenunwürdigen Umgang mit Untergebenen thematisierte, wurden die Verteidiger des Systems schnell aus den eigenen Reihen zurechtgewiesen. „Wir haben uns doch gegenseitig wie Schweine behandelt!“ war die Extremäußerung eines Generalleutnants. 86  Vgl. Rogg sowie Wenzke 2004.



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den 1970er und 1980er-Jahren nach der sowjetischen als die zuverlässigste des ganzen Warschauer Paktes. Ausbildung und Erziehung des Offizierkorps wie aller anderen Soldaten waren überlagert durch marxistisch-leninistische Indoktrination, im Volksmund „Rotlichtbestrahlung“ genannt. Das niedrige Niveau der Ausbildung der 1950er und 1960er-Jahre wurde angehoben, ein professioneller Standard in militärtechnischer Hinsicht erreicht. Der Bildungsstand wurde auch formell gebessert. So wurde das Abitur die Regelvoraussetzung für die Offizierlaufbahn.87 Andererseits waren die Führungspositionen und das Klima vom Typ Arbeiter- und Bauernoffizier beherrscht. Die alte Riege aus den 1950er-Jahren hatte nur mit Mühe ihre Qualifikation – meist in der UDSSR – für die herausgehobenen Dienstposten erworben, ihre Bildungsinteressen blieben oft vordergründig oder waren gar nicht vorhanden. Dieser Typus NVA-Offizier blieb seiner sozialen Herkunft verhaftet und seine Professionalität war die eines eng begrenzten Spezialisten. Eine idealtypische Generalskarriere dieser Generation konnte folgendermaßen aussehen: Ein politisch motivierter Facharbeiter tritt in die KVP ein, wird in kürzester Zeit ausgebildet, identifiziert sich mit dem Beruf und der SED und wird mit knapp 20 Jahren Offizier. Nach einer Bewährungszeit als Truppenoffizier bekommt er eine Stabsfunktion. Bei Bewährung wird er in die Sowjetunion geschickt, „studiert“ dort „Militärwissenschaften“, wird mit dreißig Jahren Chef des Stabes einer Division. Hat er sich dort bewährt, wird er mit 35 Jahren Chef des Stabes einer Kommandobehörde der NVA und bleibt dann ca. zehn Jahre auf diesem Dienstposten. Ohne weitere Veränderung der Tätigkeit wird er dort General. Eine Karriere vom Leutnant zum Obersten in zwölf Dienstjahren war durchaus möglich. Solche Karriereoffiziere hatten allen Grund, der Partei und dem Staat ergeben zu dienen. Sie bestimmten bis 1989 / 90 das politische und gesellschaftliche Klima der Armee. Da sie sich mit Recht als Gegentyp des Offiziers deutscher Militärtradition sahen, sahen sie auch keinen Grund, ihre Beschränktheiten und ihre kulturellen Bindungen an das Arbeitermilieu als Mangel zu verstehen.88 So ist das Offizierkorps trotz formaler höherer Bildung nur in Teilen bürgerlichen Bildungsstandards gerecht geworden. Der Habitus blieb der 87  Wer rechtzeitig seine Bereitschaft zu erkennen gab, Offizier zu werden, wurde schon in den letzten zwei Schuljahren von der NVA betreut. Sein Abitur war von diesem Zeitpunkt ab nie mehr in Frage gestellt. Dass über eine solche Mechanik nicht immer die besten Schüler Offizier wurden, dürfte einleuchten. Über die Ausbildung in den 1950er und 1960er-Jahren bis 1973 vgl. Rühmland 1974. Dazu detailliert Haffner. 88  Das zeigte sich vor allem bei der Generation der über 40-jährigen nach der Wiedervereinigung und deren Übernahme in die Bundeswehr.

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sozialen wie historischen Herkunft verhaftet. Die grundsätzliche bildungspolitische Entscheidung der DDR, eine naturwissenschaftlich-technische Standardbildung durchzusetzen – natürlich überhöht durch marxistisch-leninistische Gesellschaftswissenschaften – ließ die Kluft zur westlichen, an den Sozial- und Geisteswissenschaften orientierten Grundbildung besonders deutlich werden. Hinzu kam eine doppelte Erziehung zur Unselbständigkeit. Unselbständigkeit ist im Militär strukturell schon vorhanden, weil die hierarchischen Beziehungen oft Vorrang gegenüber den sachlichen haben. In der NVA kam noch der Zwang zu politischer Linientreue hinzu. Abweichungen von den offiziellen Auffassungen wurden zum Teil scharf sanktioniert, vor allem dann, wenn sie Widerständigkeit erkennen ließen. So war das Grundprinzip des militärischen Verhaltens, sich für die kleinsten Entscheidungen offizielle Anweisungen einzuholen.89 Ein gebildeter Offizier der Bundeswehr und die „allseits gebildete sozialistische Persönlichkeit“ des NVAOffiziers waren deshalb ein kaum größer zu denkender Gegensatz. Da der Typ des Offiziers sich wegen der technischen Modernisierung ändern musste, wandelte sich auch die sozialstrukturelle Zusammensetzung des Offizierkorps. Der Offizier kam offiziell weiterhin aus der Arbeiterklasse, denn zur ‚Arbeiterklasse‘ gehörte auch die SED-Mitgliedschaft per Defini­ tionem. In Staats- und Wirtschaftsverwaltung waren höhere Positionen aber meist an diese SED-Mitgliedschaft gebunden. So vergrößerte sich vor allem in den 1970er-Jahren der Anteil der Offiziere aus diesen Angestellten- und ‚Intelligenzler‘-Familien.90 Die Veränderung findet von 1971 zu 1978 statt. Hier zeichnet sich im Ergebnis eine zwar begrenzte, aber doch erstaunliche Angleichung an die Bundeswehr ab. Dort kommen Arbeiter- und Angestelltensöhne aus niederen sozialen Schichten aufgrund des sozialen Wandels in das Offizierkorps, in der NVA werden höhere soziale Schichten in die Arbeiter- und Bauernarmee integriert. Der Anteil Arbeitersöhne geht von 78,6 Prozent auf 67,9 Prozent zurück. 1988 stellten „Intelligenzler“ 20,2 Prozent und Angestellte leicht rückläufig 13 Prozent. Diese jüngere Generation war aber nur über ein besseres Bildungsangebot in die NVA zu locken. Auch deshalb wurden 1971 die Offizierschulen in Hochschulen mit Fachhochschulstatus umgewandelt und entsprechende Zertifikate bei Abschluss der dreijährigen Ausbildung verliehen. An der Ausbildung selber änderte 89  Der Autor hat Anfang der 1990er Jahre viele ältere NVA-Offiziere in Fortbildungskursen mit den Prinzipien der Inneren Führung vertraut machen müssen. Nach mehrstündiger Debatte über Selbständigkeit und selbständiges Denken, über die Freiheit der Meinungsäußerung kam zum Schluss die Frage: „Herr Doktor, nun sagen Sie mal, was sollen wir denn denken?“ Das ist keine Ausnahme gewesen und wird nicht zur Belustigung berichtet. Die mangelnde Selbständigkeit ehemaliger NVA-Soldaten war in der Bundeswehr ein großes Problem. 90  Zu den Daten vgl. Markus und Fingerle.



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sich aber nicht viel. Diese ‚Hochschulen‘ erhielten am 1. September 1983 sogar den Status wissenschaftlicher Hochschulen mit Promotions- und Habilitationsrecht und die Ausbildung wurde um ein Jahr verlängert. Auf das Ausbildungsniveau hatten diese Maßnahmen aber nur eine begrenzte Wirkung.91 Diese Statusverbesserung des Bildungsangebotes ohne substanzielle Hebung des Niveaus hat die unterbürgerlichen und kleinbürgerlichen Standards der DDR-Gesellschaft,92 die in der NVA selbstverständlich waren, weiter verfestigt. Viel stärker als Traditionsorientierung in der Bundeswehr machte sich in der NVA ein veränderungsfeindlicher sozialistisch verbrämter Traditionalismus breit. Seit Mitte der 1970er-Jahre bekam die ‚antiimperialistische‘ ideologische Hasserziehung eine neue Komponente in den Bemühungen um eine eigenständige militärische Traditionspflege.93 In den Anfangsjahren war die „revolutionäre“ Tradition Maßstab aller Dinge gewesen. Soldatenräte und Spartakus 1919, Spanienkämpfer und antifaschistische Widerstandskämpfer der Arbeiterklasse standen dafür Pate. Die neue Orientierung aber zielte auf eine einseitige Inanspruchnahme „fortschrittlicher“ Traditionen der deutschen Geschichte für die Konstituierung einer sozialistischen deutschen Nation, die sich als eigenständiges Gebilde von der Gesellschaft der Bundesrepublik abheben sollte. Bewusst wurde ein Bruch mit der Vorstellung vollzogen, dass Volk (also deutsches Volk) und Nation Synonyme seien. Der Begriff Nation wurde an den Sozialismus gebunden. Damit wurde auch in der NVA der Weg frei für eine Traditionspflege, die, orientiert an den Bauernkriegen, den preußischen Reformen nach 1807 und der 48er Revolution die Verlängerung der Traditionslinien bis in die frühe Neuzeit zuließ. In eben diesem Sinne nahm Erich Honecker schon 1973 alle fortschrittlichen Traditionen der deutschen Geschichte für die DDR in Anspruch.94 Damit 91  Der größte Teil der Dissertations- und Habilschriften (nach DDR-Terminologie Dissertation A und Dissertation B) aus den Militärhochschulen hat ein so niedriges Niveau, dass die Regelung, akademische Grade dieser Hochschulen im vereinigten Deutschland nicht anzuerkennen, durchweg berechtigt erscheint. Sie haben Diplome verliehen, die den zivilen gleichgestellt waren: Diplomingenieur, -ökonom und -gesellschaftswissenschaftler. 92  Die Vertreibung und Marginalisierung bürgerlicher Schichten aus dem Gebiet der DDR ist noch jahrelang in deren Massenkultur spürbar geblieben. Zu den Differenzen in den kulturellen Orientierungen in West- und Ostdeutschland vgl. Statistisches Bundesamt, S. 544–551. Neuere Daten, die auch die langsame Anpassung der ostdeutschen Gesellschaft erfassen, bei Geissler 2002. 93  Vgl. zur Traditionspflege aus DDR-Sicht: Schirrmeister. Hübner / Effenberger. Koszuszeck und Doehler / Haufe. Populär aufgemacht: Schmitter / Förster et al. Außerdem: Baron. 94  Erich Honecker sagt 1973: „Die DDR ist heute die staatliche Verkörperung der besten Traditionen der deutschen Geschichte – der Bauernerhebungen des Mit-

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blockierte er indirekt eine an solchen Traditionen orientierte Traditionspflege in der Bundeswehr, unabhängig davon, ob eine solche überhaupt gewollt war, da es undenkbar schien, mit der NVA gleiche Traditionen zu pflegen. Auch in Fragen der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ging die DDR andere Weg als die Bundesrepublik. In der DDR gab es keinen zivilen Ersatzdienst, sondern seit 1964 sogenannte Bausoldaten.95 Sie dienten waffenlos in der NVA und hatten ausdrücklich den Auftrag, „durch gute Arbeitsleistungen aktiv dazu bei(zu)tragen, dass die NVA an der Seite der Sowjetarmee den sozialistischen Staat gegen alle Feinde verteidigen und den Sieg erringen kann.“96 Die Zahl der Verweigerer blieb im Vergleich zur Bundesrepublik außerordentlich gering, denn die Bedingungen dieses Dienstes waren noch abschreckender als die des Wehrdienstes. Eine neuere Untersuchung zu widerständigem Verhalten und politischer Verfolgung in der NVA97 zeigt, dass selbst im Innern des SED-Machtapparates nicht alle Mitglieder linientreu waren. Dass bei einer Wehrpflichtarmee mit politischem Nonkonformismus zu rechnen ist, dürfte unstrittig sein. Aber selbst unter Berufssoldaten und in der Zeit vor der Wehrpflicht gab es in der DDR nicht nur Einzelfälle von Abweichung. Deshalb wurde für die NVA ein Kontroll- und Repressionssystem entwickelt. Das Ministerium für Staatssicherheit und die Militärjustiz waren die Säulen dieses Apparates. Mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht wurde vor allem das Spitzelsystem ausgebaut.98 Auf ca. 75 Militärangehörige (inklusive zivile Mitarbeiter) kam 1962 schon ein Informant. Die Akten sprechen für 1987 von 12.585 IM in den DDR-Streitkräften, was bedeuten würde, dass auf 16 bis 17 Soldaten, Grenzer oder zivile Mitarbeiter, ein Spitzel kam.99 Dass es trotz dieser Überwachung in der NVA auch rechtsextremistische Vorfälle gab, ist umso erstaunlicher. In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre gab es etwa hundert Vorfälle dieser Art pro Jahr. Als 1988 Soldaten für eine sozialstatistische Untersuchung befragt wurden, gab sich etwa ein Drittel der Soldaten als Anhänger oder Sympathisanten der Skinheads zu erkennen. Natelalters, des Kampfes der revolutionären Demokraten von 1848, der von Marx, Engels, Bebel und Liebknecht begründeten deutschen Arbeiterbewegung, der Heldentaten im antifaschistischen Widerstand.“ 95  Vgl. Janning et al. 96  Aus dem Gelöbnis der Bausoldaten laut „Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR über die Aufstellung von Baueinheiten im Bereich des Ministeriums für Nationale Verteidigung von 07.09.1964“. Abgedruckt in: Rühmland 1983. 97  Vgl. Wenzke 2005b. 98  Diedrich 2005, S. 156. 99  Wenzke 2005, S. 322 f.



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ziparolen oder Hakenkreuzschmierereien waren ebenso möglich wie Verherrlichung des NS-Regimes, der Wehrmacht oder Antisemitismus. In den aufgedeckten Fällen hat die Militärjustiz mit aller Härte zugeschlagen.100 Nicht nur die Bausoldaten hatten eine ökonomische Funktion durch Arbeitsleistung. Seit in den 1980er-Jahren die DDR-Ökonomie immer heftiger ins Trudeln kam, wurden große Teile der NVA in der Wirtschaft des Landes eingesetzt. In strengen Wintern war bis zu einem Drittel der Armee damit beschäftigt, die Braunkohlekraftwerke oder die Eisenbahnlinien in Gang zu halten. Dabei konnte den technisch versierten Fachkräften der Armee der marode Zustand großer Teile der Infrastruktur und der Produktionsanlagen nicht verborgen bleiben. Hinzu kam Ende des Jahrzehnts die Reformpolitik Gorbatschows. Zwar blieb die NVA äußerlich ein stabiler Fels in der gärenden DDR-Gesellschaft, der politisch-ideologische Erosionsprozess machte vor ihr aber nicht halt. Die Reformdiskussion und die Reformversuche 1989 / 90 wären ohne diesen Prozess nicht erklärbar. Der Zustand der NVA entsprach nach heutiger Kenntnis wohl zu keiner Zeit dem Bild, das über die offiziellen Informationen verbreitet wurde. Da interne soziologische Untersuchungen seit den 1970er Jahren zwar einen bedeutsamen Teil der Binnenverhältnisse kritisch darstellten, faktisch an den Bedingungen aber nichts geändert wurde, waren nur elf Prozent der Berufssoldaten bereit, ihrem Sohn den Soldatenberuf zu empfehlen. Auch für die Wehrpflichtigen sah die Welt nicht besser aus. VIII. Reaktion und Krise in der Bundeswehr (1982–1989) Die regierungspolitische „Wende“ 1982 führte im Bereich der Militär­ politik weniger zu organisatorisch-institutionellen Veränderungen als zu einer ideologischen Neubelebung des militärischen Traditionalismus. Obwohl sich die Anzeichen ihrer militärinternen und gesellschaftlichen Isolation mehrten,101 propagierten die Traditionalisten eine militärspezifische Berufsauffassung, die sich bewusst von der pluralistischen Gesellschaft und ihrer Wertorientierung abwenden sollte.102 Der Soldatenberuf sei ein Beruf sui generis mit notwendigerweise eigener Gesetzmäßigkeit. Militär und demokratische Gesellschaft seien nicht miteinander kompatibel. Der Widerspruch blieb nicht aus. Es begannen eine bewusste Rezeption der Baudissinschen Konzepte und eine zähe Auseinandersetzung zwischen den Protagonisten 100  Ebd.,

S.  305 ff. Richter sowie Klein. 102  Kutz 1986; dort die Aussagen zu Zimmer, Stockfisch, Hubatscheck, Farwick, Hammel. Vgl. Hammel. 101  Vgl.

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beider Denkrichtungen. Die Politisierung des militärischen Traditionalismus führte zu einer generellen Politisierung der Armee, die durch die öffent­ lichen Debatten um diese Themen wie um die rüstungspolitischen Streitpunkte gefördert wurde. Dabei kristallisierten sich vier idealtypische Berufsauffassungen heraus.103 Die progressive Auffassung setzt an einem realistischen Bild des zukünftigen Krieges an. Danach werden die theoretischen Anforderungen an zukunftsorientierte Streitkräfte definiert. Der zweite, damit eng verknüpfte Ausgangspunkt ist die Entwicklung der Militärtechnologie und deren Auswirkungen auf das Kriegsbild, die daraus abgeleiteten Qualifika­ tionsforderungen an den Soldaten und deren Einfluss auf das Führungsverhalten und Führungssystem. Theoretisch und praktisch gleichgewichtig und gleich bedeutsam werden die Wirkung des politischen Systems auf die Streitkräfte analysiert und die politische Zuverlässigkeit im demokratischen System mit seinen Forderungen an das Militär, sein Verhältnis zur politischen Führung, zur Gesellschaft und die Anforderungen an das Binnensystem des Militärs zum Maßstab der Überlegungen gemacht. Militärpolitik, Strategie, operative Konzepte und taktische Regeln müssen auf alle geschilderten Aspekte ausgerichtet sein. Insbesondere wird militärische Effizienz begriffen als unlösbare Einheit von praktisch-fachlicher Effizienz und politischer Zuverlässigkeit.104 Dagegen wird das traditionalistische Berufsbild historisch hergeleitet. Nach dieser Sicht der Dinge gewinnt man ein realistisches Berufsbild und Bild vom zukünftigen Krieg, wenn man alle Kriege der Geschichte analysiert und das allen Gemeinsame herausarbeitet. Das sind die Soldatentugenden, also Tapferkeit, Disziplin, Opferbereitschaft, Loyalität usw., die aus dem Kontext christlicher oder aufklärerischer Tugendlehren herausgelöst und verabsolutiert werden. Die Masse der Offiziere allerdings denkt technokratisch und siedelt sich auf halber Strecke zwischen Progressiven und Traditionalisten an. Bei ihnen steht praktisch-professionelle Geschicklichkeit in der Handhabung der militärischen Maschinerie im Vordergrund. Im Krieg sind sie auf eben diese qualifikatorisch definierte Beherrschung der Gefechtsfeldaufgaben ihrer Truppengattung im Zusammenwirken mit dem Ganzen fixiert. Gesamtgesellschaftliche, politische Zusammenhänge spielen nur am Rand eine Rolle. 103  Zur Diskussion um das Berufsbild vgl. Vierteljahresschriften für Sicherheit und Frieden, Heft 2, 1987: Themenheft „Kriegsbild und Soldatenberuf“. Dort findet sich eine sehr kleinteilige Analyse von Berufsbildern im Militär. 104  Zum Zusammenhang der Einzelaspekte des Baudissin’ schen Entwurfs vgl. Kutz 1986 / 1987.



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Die letzte, marginale Gruppe repräsentiert den Restbestand männerbündischer Kriegermentalität. Bewährung im Kampf Mann gegen Mann ist das Ziel, kriegsentscheidend die Tapferkeit jedes einzelnen Soldaten. Dieses Berufsbild ist für Stoßtrupps und Himmelfahrtskommandos brauchbar, verliert aber den Zusammenhang aller bedeutsamen Faktoren von Krieg restlos aus den Augen. Nun ist keines dieser Berufsbilder in idealtypisch reiner Form in der Bundeswehr zu finden. Soweit aber Diskussionen über Berufsaufgaben von Soldaten stattfinden, sind diese Idealtypen nahezu immer hinter der Fassade je spezifischer Sachargumente zu finden. Bei den eher traditionalistisch orientierten Teilen der Führungsinstanzen führte sowohl die innermilitärische Diskussion als auch die prinzipielle Infragestellung durch die sicherheitspolitische und militärpolitische Opposition der Friedensbewegung105 zu prinzipiellen Distanzierungen von der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Forderung, den gesellschaftlichen Pluralismus aus der Armee zu verbannen und eine militärische, isolierte Subkultur zu etablieren, wurde bis 1986 / 87 sehr deutlich und offen formuliert.106 Rehabilitierung der Wehrmacht, Öffnung des Traditionsverständnisses in alle Epochen preußisch-deutscher Militärgeschichte, ja die stillschweigende Rehabilitierung ehemaliger Kriegsverbrecher waren den Traditionalisten kein Tabu. Die Truppe allerdings hatte andere Sorgen. Der militärpolitische Stillstand und das Ausbleiben notwendiger Reformen seit Ende der 1970er Jahre machten es der Masse der Truppenoffiziere immer schwieriger, ihre konkreten Ausbildungsaufgaben, insbesondere bei den Wehrpflichtigen, zu bewältigen. Der Bundeswehr wurde durch die Nachrüstungsdebatte mehr und mehr die gesellschaftliche Legitimation entzogen. Wahrend in der Friedensbewegung und -forschung über die Kriegsführungsunfähigkeit moderner Industrie- und postindustrieller Gesellschaften debattiert wurde,107 wusste man im Offizierkorps, dass die praktische Umsetzung der NATO-Strategie im Krieg für ganz Deutschland die totale Zerstörung bedeuten würde.108 Hinzu kam, dass mit der Umorientierung der sowjetischen Außen- und Rüstungspolitik unter Gorbatschow die eigentliche raison d’etre der Bundeswehr wegzubrechen drohte.

105  Vgl. Themenheft „Moral und Sicherheitspolitik“, Vierteljahresschriften für Sicherheit und Frieden, Heft 2, 1984; Kutz 1986. 106  Themenheft „Bundeswehr nach der Wende“, Vierteljahresschriften für Sicherheit und Frieden, Heft 1, 1985. 107  Themenheft „Strukturelle Kriegsuntauglichkeit industrialisierter Gesellschaften“, Vierteljahresschriften für Sicherheit und Frieden, Heft 4, 1989. 108  Kutz 1990. Siehe auch Habel.

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In dieser Situation verlor die anfänglich begrüßte konservative Wende in der Truppe an Überzeugungskraft. Baudissins Konzept der Inneren Führung wurde wiederentdeckt. Eine Einladung der Führungsakademie der Bundeswehr zu einer Konferenz über Fragen der Inneren Führung im April 1989 wurde von nahezu allen damit befassten Dienststellen und Personen angenommen. Auf dieser Konferenz stand die traditionell begründete Existenzberechtigung der Bundeswehr ebenso zur Debatte wie die Motivationskrise und die verlorene Legitimation in der und durch die bundesrepublikanische Gesellschaft.109 Es wurde deutlich, dass die Traditionalisten in den vergangenen zehn Jahren zwar weitgehend die Themen der innermilitärischen Diskussion bestimmt hatten, dass sie aber weder mit den Entwicklungen in der Gesellschaft noch mit der internen sozialen und politischen Pluralisierung ihrer Mitglieder Schritt gehalten hatten. Die traditionelle Elite hatte wie in den 1960er Jahren die objektiven Zwänge zur Modernisierung verdrängt und die Bundeswehr durch den verordneten Stillstand in eine tiefe psychologische Krise geführt. IX. Von der verspäteten Militärreform zur Auflösung der NVA In der krisenhaften Entwicklung der DDR Ende der 1980er-Jahre geriet die Armee in immer problematischere Verhältnisse. Diese parallel zur Krise der Bundeswehr einsetzende Krise der NVA blieb zunächst verdeckt und wurde auch im Westen wie in der Bundeswehrführung nicht erkannt. Sie entwickelte sich aber mit der Staatskrise der DDR zu einer Existenzkrise. Der Auflösungsprozess in der NVA lässt sich in bestimmten Punkten bis etwa 1987 zurückverfolgen. Die neue sowjetische Außenpolitik unter Gorbatschow war der Auslöser und Motor, da die SED in Fragen der Sicherheitspolitik keinen Bewegungsspielraum für eine eigenständige Politik hatte.110 Zwei Prozesse liefen parallel ab.111 Für altgediente NVA-Offiziere wurde die neue politische Prioritätenskala problematisch. Das „neue Denken“ erklärte die ‚Menschheitsfragen‘ für wichtiger als die ‚Klassenfrage‘ und den Weltfrieden für wichtiger als den Klassenkampf. Im Dezember 1987 wurde als Konsequenz daraus der Vertrag über die Beseitigung der Mittelstreckenraketen zwischen den USA und der Sowjetunion demonstrativ von Gorbatschow persönlich unterzeichnet. In diesem neuen außenpolitischen Klima 109  Hars.

110  Im Mai 1987 wurde von den Warschauer-Pakt-Staaten ein Papier „Über die Militärdoktrin der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages“ unterzeichnet. Die DDR-Führung hat ohne zu zögern ebenfalls unterschrieben, obwohl sie sich in anderen politischen Fragen gegen sowjetische Vorstellungen wandte. 111  Für den Reformprozess ausführlicher Kutz 1992.



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fasste das Zentralkomitee der SED im September 1987 den Beschluss zu einem ‚Wissenschaftlichen Rat für Friedensforschung‘.112 Dazu wurden auch Vertreter der Militärpolitischen Hochschule Wilhelm Pieck und der Militärakademie Friedrich Engels abgestellt. Die militärischen Vertreter traten damit in die Diskussion um Frieden und Abrüstung ein. In der DDR wurde zur offiziellen politischen Linie, was in der Bundesrepublik die Friedensbewegung in Opposition zur Regierungspolitik propagierte. Die NVAOffiziere im Rat hatten zugleich den ungewöhnlichen Auftrag, politische Lösungen zu erarbeiten, die über die Blockgrenzen hinaus konsensfähig wären. Konsequenz dieser Diskussionen waren Papiere, in denen 1989 vor der Wende die Kriegsführungsunfähigkeit moderner Industriestaaten festgestellt und Militär unter den Bedingungen des Atomkrieges für sinnlos erklärt wurde.113 Die innermilitärischen Strukturen der NVA wurden in diesen Papieren aber noch nicht in Frage gestellt, obwohl massiver Unmut in der Armee verbreitet und Reformbedarf offenkundig war. Das erste Papier überhaupt, das Reformen einklagte, war vom 20. November 1989 und das Ergebnis einer Tagung des „Wissenschaftlichen Rates“ der Militärakademie Friedrich Engels vom 4. November 1989.114 Da Vertreter der politischen Hauptverwaltung der NVA bei dieser Tagung anwesend waren, war es naheliegend, dass die Ergebnisse dieser Konferenz im Ministerium in Straußberg heftige Diskussionen ausgelöst haben. Auf einer Konferenz des „Parteiaktivs“ des Ministeriums für Nationale Verteidigung am 15. November wurde Minister Keßler zum Rücktritt aufgefordert und eine Militärreform angemahnt. Drei Tage später lag ein Papier zur Militärreform vor und nach weiteren zwei Tagen, am 20. November 1989, wurde Admiral Hoffmann als neuer Minister in sein Amt eingeführt. Schon am 25. November wurde eine Kommis­ sion zur Militärreform unter General Süß eingerichtet.115 Wieder drei Tage 112  Vertrauliche Verschlusssache ZK 03 Sekretariat – Beschlüsse 8 / 1428 102 / 87 vom 17.09.1987. Betrifft: Aufgabe zum Ausbau und zur Koordinierung der Friedensforschung in der DDR. Vgl. Scheler. Solche wissenschaftlichen Räte gab es als politische Steuerungselemente in vielen Wissenschaftszweigen der DDR. 113  Vgl. Lehrstuhl Marxistisch-Leninistische Philosophie 27.06.1989: Thesen für die Tagung des Wissenschaftlichen Rates am 13.09.1989 zum Thema erkenntnis­ theoretische und methodologische Probleme und Erfordernisse der Erforschung von Fragen des Friedens, des Krieges und der Streitkräfte. 114  NVA, Militärakademie „Friedrich Engels“, Wissenschaftlicher Rat, Dresden, den 20.11.1989. Standpunktbestimmung des Wissenschaftlichen Rats der Militärakademie „Friedrich Engels“ auf seiner außerordentlichen Tagung am 04.11.1989, gez. Gehmert, Generalleutnant. Von Reformen zu sprechen war problematisch, weil Reform das Signum des heftig bekämpften „Sozialdemokratismus“ war. 115  Süß war im Hauptstab der NVA für das Ausbildungswesen zuständig. Ihm ist es, mündlichen Berichten zufolge gelungen, den starrköpfigen Minister Keßler doch

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später veröffentlichten sechs Mitglieder des Wissenschaftlichen Rates für Friedensforschung einen Aufruf zur Militärreform, drei von ihnen Offiziere der Militärhochschulen. Erst nach diesen offiziellen Akten wurde das versteckte Reformpotenzial innerhalb der NVA sichtbar. Bis zum Februar 1990 machten nun NVA-Soldaten über 11.000 Eingaben an die Kommission Militärreform.116 Ziel der meisten Vorschläge war eine sozialistische „Humanisierung und Demokratisierung“ des Militärsystems selber. Die Reformen richteten sich gegen den Kommissbetrieb, die teilweise menschenunwürdige Behandlung auf allen Dienstgradebenen und den bürokratischen Zentralismus. Allerdings spricht aus den Eingaben aber auch die Vorstellung von einem demokratischen, reformierten Sozialismus. Systemsprengend waren die Forderungen nicht. Das Tempo der Veränderungen war enorm – und blieb doch hinter der rasanten Entwicklung in der Gesellschaft zurück. So kam es Anfang Januar zur Bildung des Beelitzer Soldatenrates, überwiegend aus Wehrpflichtigen, und zu Erscheinungen, die unter den alten Bedingungen als Meuterei standrechtlich geahndet worden wären. Die Forderungen dieses Soldatenrates wurden in einem weit verbreiteten Flugblatt festgehalten, zielten auf die konkreten Lebensumstände in den Kasernen und entsprachen den Vorstellungen von Innerer Führung, wie sie für die Bundeswehr gültig sind.117 Aber schon Mitte Februar 1990 erlahmte die Reformarbeit. Minister Hoffmann konnte das Tempo der Veränderungen gegen große Teile des Apparates nicht aufrecht erhalten. Zeitweise hat er über die neue Zeitung „Militärreform“ an den zentralen Dienststellen vorbei direkt auf die Truppe zu wirken versucht. Er war überrascht, als er nach der Volkskammerwahl die Aufforderung erhielt, unter Minister Eppelmann als Chef der Streitkräfte weiterzudienen und hat dieses auch loyal zur neuen Regierung bis zwei Wochen vor Auflösung der NVA getan.118 Die letzten Monate der NVA waren angefüllt mit Illusionen über die Möglichkeit zweier deutscher Armeen im vereinigten Deutschland, übrigens zum Rücktritt zu bewegen. Süß wurde nach Auflösung der Kommission Militär­ reform der letzte Kommandeur der Militärakademie „Friedrich Engels“ bis Ende September 1990. 116  Mitteilung der Kommission in der Zeitung „Militärreform der DDR“ Nr. 8, 1990. Die Zeitung erschien seit dem 4. Januar 1990 wöchentlich, druckte alle Reformvorschläge und Reformpapiere ab und wurde politisches Führungsmittel des Ministers und der Reformoffiziere unter Umgehung der schwerfälligen und teilweise auf Verhinderung eingestellten Militärbürokratie. 117  „An alle! An alle Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere! Schließt Euch an!“ (2. Januar 1990). 118  Vgl. Ehlert.



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geschürt vom neuen „Minister für Abrüstung und Verteidigung“.119 Nachdem die Modalitäten für die deutsche Einheit und die NATO-Mitgliedschaft der ostdeutschen Länder ausgehandelt waren, führte das Bonner Verteidigungsministerium indirekt und inoffiziell die NVA über die militärischen ‚Berater‘ der Bundeswehr.120 Der ‚Tag der deutschen Einheit‘ brachte das Ende der NVA.121 Etwa 11.000 von ungefähr 30.000 Offizieren stellten einen Antrag auf Übernahme in die Bundeswehr, nach einer Überganszeit wurden ca. 2.000 davon übernommen. Heute sind zirka 20 Prozent der Soldaten der Bundeswehr Bürger aus Ostdeutschland. Ebenfalls aufgelöst wurden die Grenztruppen der DDR122 und alle paramilitärischen Verbände. Ein riesiges Waffenarsenal, für das es keine Verwendung gab, musste entsorgt werden. NVA-Soldaten wurden wie viele andere DDR-Bürger in die Arbeitslosigkeit entlassen.123 Angesichts dieser Entwicklung wurde die Frage gestellt, warum die NVA – im Gegensatz zur Kasernierten Volkspolizei 1953 – für den Einsatz im Inneren nicht brauchbar war. Die äußeren Umstände glichen denen von 1953. Nicht messbar ist der Grad innerer Distanzierung vom SED-Regime der alten Männer um Honecker, Mielke und Keßler. Die wirtschaftliche Zerrüttung der DDR, die neue Fluchtbewegung, das Wissen, das die Bevölkerung über den Westen durch Millionen von Westreisen erworben hatte, hatte sich im Offizierkorps der NVA verbreitet und die Sowjetunion war ausdrücklich nicht mehr bereit, eigene Truppen gegen den Demokratisierungsprozess einzusetzen. Dazu kam die sich verbreitende Einsicht, dass mit dem Absterben des Ost-West-Konfliktes die eigene militärische Rolle immer unbedeutender wurde – letzteres ein vergleichbarer Prozess zur Entwicklung in der Bundeswehr zur gleichen Zeit. Die plausibelste Erklärung ist vielleicht, dass die NVA-Führung das getan hat, was sie über vierzig Jahre eingeübt hatte: auf Befehle reagieren, sie ausführen. Da es keine Befehle gab, weil die politische Führung um Honecker paralysiert war, hat die NVA-Generalität auch nichts getan. So hat sie sich erspart, zusätzlich zum Vorwurf, Repräsentant eines Unrechtssystems und eine Parteiarmee auch noch Bürgerkriegsmilitär zu sein.

119  Die Position des neuen Ministers ist nachzulesen in Eppelmann. Die Sicht seines Amtsvorgängers in Hoffmann. Außerdem Ehlert, ab S. 699. 120  Hierzu kam die enge Zusammenarbeit zwischen den Ministerien. Vgl. Ablaß. Werner Ablaß war Staatssekretär im „Ministerium für Abrüstung und Verteidigung der DDR“ unter Eppelmann. 121  Vgl. dazu Gießmann. 122  Koop. 123  Gießmann.

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X. Das schleichende Ende der Illusionen: Die Bundeswehr nach der Einheit Die letzten beiden Jahrzehnte brachten für die Bundeswehr bis dahin ungeahnte Herausforderungen. Die weltpolitische Lage veränderte sich radikal und damit – zunächst verdrängt – das Aufgabenspektrum deutscher Streitkräfte. Wenige politische Daten markieren den Veränderungsprozess. In weniger als einem Jahr, vom Tag der Maueröffnung in Berlin bis zum 30. September 1990 wird aus der SED-hörigen NVA über den Versuch, sie zu reduzieren und zu demokratisieren, ein Teil der Bundeswehr. Der Februar 1991 wird bei manchen deutschen Spitzenmilitärs eine Zeit der Demütigung, weil deutsche Truppen nicht am zweiten Golfkrieg teilnehmen dürfen. Die despektierlichen Äußerungen von NATO-Offizieren werden ein Stachel, der deutsche Generäle dazu treibt, Parlament und Regierung zur Zustimmung zu Auslandseinsätzen zu bewegen.124 Die Einsätze in Kambodscha und Somalia ab April 1993 sind die ersten, allerdings ohne die erhofften Ergebnisse. Die Diskussion um die verfassungsrechtliche Frage des Militäreinsatzes „out of area“ spitzt sich so zu, dass das Verfassungsgericht angerufen wird. Seine Entscheidung, dass solche Einsätze rechtens sind, wenn ihnen ein Parlamentsbeschluss zugrunde liegt,125 wird vor allem beim Militär mit Erleichterung aufgenommen. Dies auch, weil die Diskussion im Offizierkorps zu massiven Verunsicherungen geführt hatte. Keine fünf Jahre nach der Maueröffnung verließ am 31. August 1994 der letzte „sowjetische“ Soldat das Territorium der neuen Bundesrepublik. Wenige Monate später, im Sommer 1995, beschloss der Bundestag den Einsatz von Militär in Bosnien und Ende Februar 1999 die Beteiligung am Kosovo-Krieg. Damit tritt die Bundeswehr erstmals jenseits des NATO-Einsatzgebietes als Kriegspartei auf. Mit dem Afghanistaneinsatz ist sie faktisch von einer Armee zur Landesverteidigung im großen „vaterländischen“ Krieg zu einer Interventionsarmee mutiert. Die Konflikte und Kriege im Nahen Osten, Afghanistan, in Afrika und verstreut an allen Ecken und Enden der Welt sind zwar nur noch ein Teil dessen, was in den Jahrzehnten vor 1989 als Stellvertreterkriege die Welt beunruhigte, haben aber Charakter und Bedeutung verändert.126 Viele Kriege haben sich mehr und mehr zu religiös, ethnisch, ökonomisch oder schlicht kriminell „legitimierten“ Kriegen entwickelt.127 Dazu hat der inter124  Der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr General Naumann hat dies in einer Rede vor ehemaligen Generalen der Bundeswehr am 7. Sept. 1994 selber so dargestellt. Dazu Kutz 2003, S. 28 f. 125  Zur verfassungspolitischen Tragweite des Urteils vgl. Hill, S. 34; Kähler, S.  85 ff. 126  Matthies. 127  Mit breiter Rezeption auch im Militär dazu Münkler.



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nationale Terrorismus neue Formen und Dimensionen erreicht und seit dem Kosovo-Krieg sind operativ-taktische und waffentechnologische Neuerungen zum Einsatz gekommen, die ein neues Nachdenken über Krieg, Militär, Sicherheitspolitik und Strategie erzwingen. Man sollte annehmen, dass diese gravierenden Veränderungen ein neues Nachdenken über die Sicherheitspolitik, Strategie und die wahrscheinlichen Herausforderungen der Zukunft zur Folge gehabt hätte, das über das Meinen und Glauben hinausgeht. Im Bezug auf die traditionellen strategischpolitischen Defizite hat sich in Deutschland aber nichts Wesentliches geändert. Innermilitärische Diskussionen blieben weiterhin unerwünscht, Kritik am Bestehenden führte zu Reglementierung und Ausgrenzung. So gab es bis ins neue Jahrtausend kein tragfähiges Konzept für die Umrüstung der Streitkräfte auf die neuen Aufgaben. Außerdem wurde den Rüstungs­ egoismen der Teilstreitkräfte das Spielfeld nicht beschnitten. Es ist schon merkwürdig, dass die Führungsfähigkeit der Bundeswehreinheiten auf dem Balkan in der ersten Zeit vom Einsatz privater Kommunikationsmittel abhing oder durch die freundschaftlich gewährte Mitbenutzung moderner Systeme eines so kleinen NATO-Partners wie der Niederlande gesichert wurde. Auch dort, wo versucht wurde, die neue Situation abzubilden, war Realitätsnähe nur bedingt gegeben. Realität ist die Intervention im „Bürgerkrieg“ zwischen Chaos, Clans und Warlords, ist die Aufgabe, Kriegsparteien zu trennen. Geübt wurde in Übungsszenarien, in denen immer noch der „Staat“ eine wesentliche Rolle spielte. Das weltweite Phänomen des Staatsverfalls blieb nahezu unberücksichtigt. Auch die Eskalation von Aufgaben und Intensität der Kriegshandlungen wurde lange Jahre verdrängt. Der Zusammenbruch der DDR und die deutsche Einheit waren ein problematisches Geschenk an die Bundeswehr. Mit einem Mal war die Legitimationskrise nach innen und außen vergessen. Die Tagesthemen der Vereinigung, der vertraglich fixierten Abrüstung, der Integration der NVAReste in die Bundeswehr beherrschten die Szene.128 Mit dieser Umorganisation, dem menschenwürdigen Umbau ostdeutscher Kasernen, der Registrierung, Vernichtung und Entsorgung von NVA-Gerät und Waffen und der vorsichtigen Begleitung der noch in Deutschland stationierten sowjetischen Truppen hatte die Armee alle Hände voll zu tun. Die enorme Last der unumgänglichen zusätzlichen Alltagsarbeit erlaubte es, sich den drängenden Fragen innermilitärischer struktureller Anpassung an die sich abzeichnenden neuen Herausforderungen der gewandelten strategischen Lage zu entziehen. Zugleich wurden die Probleme, die sich Ende der achtziger Jahre gezeigt hatten, verschleppt und mit Alltagsaktivismus überspielt. 128  Gießmann;

Klein / Zimmermann; Meyer 1990.

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Auch die Integration der Restbestände der NVA war nicht so problemlos wie immer behauptet.129 Die Unteroffiziere der NVA hatten wie ihre Offiziere ein völlig anderes Aufgabenprofil, die militärische wie politische Kultur beider Armeen konnte unterschiedlicher kaum sein. Die Anforderungen an die Leistungsfähigkeit waren nicht nur anders, sondern in der Bundeswehr auch vielfach höher als in der NVA. Trotz vieler Lehrgänge, die NVA-Offizieren ihre neue Tätigkeit und die andere „Betriebsphilosophie“ nahebringen sollten, hatten diese Soldaten Schwierigkeiten, sich im neuen System zu bewegen. Mit dem Zerfall des Warschauer Paktes und dem Demokratisierungsprozess in Mittel-, Ost- und Südosteuropa bekam das Konzept Innere Führung nach außen eine ähnliche Funktion wie in den 1950er und 1960er Jahren nach innen. Innere Führung wurde zum Exportschlager stilisiert und sollte nunmehr die Demokratietauglichkeit des westdeutschen Modells von Militär und Politik sowie von Militär und Gesellschaft unter Beweis stellen. Nach außen propagierte dieselbe Elite, die bis 1989 nach innen die Restriktionen betrieben hatte, das Konzept Innere Führung. Erst als rechtsextremistische Entgleisungen deutlich machten, dass auch in der Bundeswehr ein solches Potenzial vorhanden war,130 wurde das Thema Innere Führung für den internen Gebrauch wieder entdeckt. Jetzt zeigte sich aber die problematische Seite der immer konservativeren Ausrichtung der Führungskräfte. Nicht so sehr die rechtsextremistischen Entgleisungen vor allem der jungen Wehrpflichtigen waren das Problem, sondern die langfristigen Folgen einer falschen Ausrichtung der Rekrutierungspolitik. Am rechten Rand gab es – wie in der zivilen Gesellschaft – fließende Grenzen. Da die rechtsextremistischen Gruppen ihren Mitgliedern den Dienst in der Bundeswehr nahe legten, trafen sich jetzt dieser meist unstrukturierte Extremismus von außen und der unreflektierte Rechtskonservatismus in den Streitkräften.131 Wenn ein General sich nach seinem Ausscheiden aus der Armee zu den Republikanern bekannte, ein anderer das Verfassungsgericht mit dem Volksgerichtshof des NS-Regimes verglich oder Vorgesetzte rechtsextremistische Musiklabels an ihre Untergebenen verkauften,132 war 129  Vgl. Klein / Zimmermann. Aus der Perspektive des vor Ort Handelnden: Schönbohm. Jörg Schönbohm war Kommandeur des Bundeswehrkommandos Ost in der Übergangszeit. Außerdem Meyer / Collmer. 130  Wie dilatorisch gleichzeitig dieses Thema in der Bundeswehr selbst behandelt wurde zeigt Virchow. Zur Weigerung des Ministers Volker Rühe, das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr mit einer solchen Untersuchung zu betrauen vgl. Kutz 2001c, S.  288 ff. 131  Hintergründe und Zahlen zur Rechtsorientierung bei Wiesendahl, S.  239 ff. 132  Vgl. Kutz 2001b. Vgl. Gessenharter, S. 120.



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neben der Tatsache, dass es sich um skandalöse und skandalisierbare Sachverhalte handelte, vor allem wichtig, dass unbedarften jungen Soldaten die Grenzen zwischen demokratischem Rechtskonservatismus und Extremismus nicht mehr einsichtig zu machen waren. Hinzu kam, dass die romantisierenden Auffassungen von der militärischen Tradition bis weit ins Offizierkorps hinein ein unreflektiertes Verhältnis zur Wehrmacht einschlossen. Das erklärt die teilweise heftigen Reaktionen in der Bundeswehr auf die sogenannte Wehrmachtsausstellung, insbesondere die Weigerung der Generalität, an öffentlichen Diskussionen darüber teilzunehmen. Andererseits war aber zu beobachten, dass viele Kompaniechefs mit ihren Soldaten diese Ausstellung besuchten. Sie waren zwar die Ausnahme, zeigten aber, dass die Bindungen an Wehrmachtstraditionen in der Bundeswehr brüchig geworden waren. Allerdings ist schon seit Jahren ein Prozess erkennbar, der durch die Auslandseinsätze der Bundeswehr provoziert wurde und vielen Verantwortlichen Sorgen bereitete: Es ließ sich eine Tendenz zur Entwicklung von Söldnermentalität feststellen.133 Die Innere Führung wurde deshalb wiederentdeckt, sie sollte diese Entwicklung stoppen helfen. In der jungen Wehrpflichtigengeneration hatte sich durch den fortschreitenden Prozess des Wertewandels und der Individualisierung ebenso wie unter den neuen außen- und sicherheitspolitischen Bedingungen die prinzipielle Ablehnung des Militärdienstes verschärft. 28 bis 30 % stellten Mitte der 1990er Jahre einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung.134 Eine Untersuchung hat gezeigt, dass die Bundeswehr de facto keine Wehrpflichtarmee mehr war, sondern eine Freiwilligenarmee mit Soldaten im Wehrpflichtigenstatus. Außerdem leisteten überwiegend junge Männer mit konservativen bis rechtsextremen Vorstellungen den Wehrdienst ab, Liberale oder sogenannte ‚Linke‘ zogen den Weg über den zivilen Ersatzdienst vor.135 133  Als der Autor dieser Schrift bei einer internen Tagung des Sozialwissenschaftlichen Instituts 2001 die These vertrat, in der Bundeswehr mache sich durch die Auslandseinsätze Söldnermentalität breit, erwartete er vor allem von den Vertretern des BMVg einen Sturm der Entrüstung. Stattdessen hieß es: „Wegen dieser Entwicklung sind wir hier.“ In diesem Zusammenhang entstand eine Studie zu den ethischen Grundlagen der Inneren Führung am SOWI (Ebeling / Seiffert / Senger). Erste empirisch gesicherte Hinweise bei Seiffert 2004; 2005. 134  Nach Auskunft des Ministeriums vom Januar 1995. Die Zahl aktueller Publikationen zu Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung ist unübersichtlich groß. Als Bibliographie vgl. Bundesministerium für Verteidigung 1993. Diese Debatte überlagert die innermilitärischen Probleme des Einigungsprozesses bei den Wehrpflichtigen. Vgl. Collmer et al. 135  Vgl. Kohr.

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Die militärische Führung propagierte z. T. wider besseres Wissen das Festhalten an der allgemeinen Wehrpflicht.136 Im Kern ging es der Führung aber um die Rekrutierung qualifizierter Zeitsoldaten aus den Wehrpflichtigen. Sie hatte zudem illusorische Vorstellungen über den möglichen Streitkräfteumfang und bestellte noch Waffensysteme, die später nicht zu gebrauchen waren. Mit den Einsätzen in Bosnien und im Kosovokrieg / Mazedonien wurde die Bundeswehr trotz des großen Personalumfanges an die Grenzen ihrer personellen Leistungsfähigkeit geführt. Das Klagen über die fehlende Finanzausstattung, die regelmäßige Feststellung, die Grenze der Belastbarkeit sei überschritten und die dann trotzdem relativ erfolgreich durchgeführten Operationen zeigten Widersprüchlichkeiten der militärischen Argumentation. Sie offenbarten aber auch die Probleme, in denen die Armee steckte. Die heftigen Debatten in der Öffentlichkeit um die neuen Einsätze betrafen aber nur die Ebene politischer Grundsatzfragen.137 Die innermilitärische Entwicklung, insbesondere die Notwendigkeit einer Strukturreform, blieb Thema einer kleinen Gruppe von Fachleuten. Diesen wurde bald klar, dass die Bundeswehrführung Unmögliches verlangte: Eine Erhöhung des Verteidigungshaushaltes war nicht möglich, weil die Staatsfinanzen zunehmend unter Druck gerieten und Aufrüstung im tiefsten Frieden politisch nicht durchsetzbar war. Der Konservatismus der Generalität verbündete sich mit dem der Politiker und beide zementierten Strukturen und deren Finanzierung, wie sie für die Zeiten des kalten Krieges gebräuchlich waren. Enorme Mittel standen so für Leistungen zur Verfügung, die keiner brauchte, während man für die Einsatzkräfte nicht einmal die richtige Ausrüstung oder diese nicht in hinreichender Menge hatte. Spiegelbild dieser realitätsfremden Politik war und blieb innermilitärisch das Bildungswesen.138 Die neuen Herausforderungen wurden nur dort angenommen, wo der konkrete Bedarf im neuen Einsatzgebiet unabweisbar war, also auf der unteren taktischen Verhaltensebene. An den Truppenschulen wurden Kurse entwickelt, die alle absolvieren mussten, bevor sie in den Einsatz geschickt wurden. Auch das Zentrum Innere Führung hat auf diese Herausforderung reagiert. Themen wie Verwundung, Tod, Gefangenschaft 136  Die in den letzen Jahren vorgebrachten demokratiepolitischen Argumente dafür waren eher ideologischer Natur. Die Behauptung, die Wehrpflicht sei auch in Deutschland eine demokratische Institution, ist schlicht falsch. Vgl. Kutz 1994; 2006. 137  In der Vierteljahresschriften für Sicherheit und Frieden (S+F) sind diese regelmäßig analysiert worden: Heft 3, 1992 Bosnieneinsatz, Heft 3, 1994 UNO Friedensmissionen, Heft 2 und 3, 1999 Kosovokrieg. 138  Vgl. Prüfert.



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wurden dort in Seminaren mit Einsatzkräften diskutiert.139 Die Fixierung aufs praktische Detail ließ aber die politischen Sinnfragen des militärischen Handelns weitgehend im Nebel. An der Führungsakademie der Bundeswehr blieb die militärfachliche Ausbildung der Generalstabsoffiziere in der Hand der Teilstreitkräfte, die weiter den Großen Vaterländischen Krieg spielten. Die Traditionalisten des Heeres führten in ihren Planspielen noch die Panzerschlacht im Bewegungskrieg, als weit und breit schon kein Gegner für einen solchen Krieg sichtbar war. In der Luftwaffe war außer in der Rhetorik das strategische Denken an die integrierten Hauptquartiere delegiert worden und zu Einsatzplanung geronnen. Selbst fünfzehn Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes standen für die neue strategische Situation keine wirklich gebrauchsfähigen Konzepte und Kräfte zur Verfügung. Deshalb musste der Kampfeinsatz im Kosovo auf eine symbolische Beteiligung mit teilweise geliehenem Gerät beschränkt werden. Mit der Diskussion um den Einsatz der Bundeswehr in Krisengebieten außerhalb des NATO-Gebiets haben Regierung und militärische Führung eine verfassungspolitische Krise heraufbeschworen.140 Die Entscheidung des Verfassungsgerichts hat die Problematik von der rechtlichen auf die politische Ebene zurückgeschoben. Damit war die Frage nach deutschen Fähigkeiten141 zur militärischen Intervention wieder offen. Die Beteiligung deutscher Soldaten an UN-Einsätzen entwickelte sich inzwischen zur Normalität. Jetzt, im Jahre 2011, steht die Bundeswehr etwas besser da, auch wenn immer noch Ausrüstungsmängel und Strukturdefizite überwiegen. Dabei lassen sich die Ausrüstungsmängel einfacher beseitigen als die Strukturen reformierbar sind. In einigen Punkten ist die deutsche Öffentlichkeit jetzt besser informiert und zeigt sich in Zustimmungs- und Ablehnungsquoten durchweg vernünftig. Der Afghanistan-Einsatz hat dazu wesentlich beigetragen.142 War er zu Anfang mit minimalen Kräften mehr als Polizeieinsatz als ein Kampfeinsatz zu qualifizieren, hat er sich vom ursprünglichen Mandat zumindest weit entfernt. Während die Regierung noch die alten Sprachregelungen benutzte, war der Bevölkerung klar, dass die Bundeswehr in einen Krieg verwickelt war, der nicht zu gewinnen ist.143 Die Soldaten wurden ohne strategisches Konzept in das Land geschickt, und da die Bundesregie139  Zentrum

Innere Führung 1996a; 1996b. den rechtspolitischen Problemen sehr differenziert Brunner. Den schwierigen Umgang mit solchen neuen Problemen im Offizierkorps analysiert Meyer. 141  Vgl. Linnenkamp. 142  Kutz 2011. 143  Vgl. Erhart / Kästner. 140  Zu

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rung sich voll an die amerikanische – dazu noch erkennbar falsche – Praxis anlehnte, wurde sie immer tiefer ins Kriegsgeschehen hineingezogen. Erst im Januar / Februar 2010 wurden die hehren, unrealistischen politischen Ziele der Bush-Administration revidiert. In Deutschland hat vor allem das Bombardement vom Sommer 2009 nahe Kundus den Schleier von den Verhältnissen weggerissen. Seither werden die Worte ‚Krieg‘ und ‚Gefallener‘ immer häufiger gebraucht.144 Die katastrophale Kommunikationspolitik der Regierung und der Versuch der Verschleierung seitens Teilen der Bundeswehrführung haben die Glaubwürdigkeit der amtlichen Politik schwer beschädigt. Zwar waren 2008 noch 57 % der Bevölkerung für den Einsatz in Afghanistan, aber nur 24 % billigten Kampfeinsätze. Nach Bekanntwerden der Kundus-Affaire lehnten 69 % den Einsatz ab. Entscheidend aber wurde, dass 77 % der Bevölkerung glaubten, von der Regierung nicht „ehrlich und umfassend“ informiert worden zu sein.145 Nun schien nur noch die Flucht nach vorne möglich. Der damalige Verteidigungsminister verkündete eine umfassende Strukturreform und wenig später die Aussetzung der Wehrpflicht. Die personelle Reduktion steht nunmehr fest, weil der große Ausbildungsapparat für die Wehrpflichtigen überflüssig wird, und eine Ausbildung zu Interventionstruppen ist nunmehr offen möglich. Für die Soldaten heißt das, dass sie nunmehr leichter und ohne besondere politische Rücksichtnahme einsetzbar sind, dass sie deshalb auch nicht mehr in jedem Fall mit einer hinreichenden emotionalen und politischen Unterstützung der Bevölkerung rechnen können. Nur die Landesverteidigung mit einer Wehrpflichtmassenarmee hatte unter den Bedingungen der Bundesrepublik Deutschland eine gewisse Garantie für demokratische Vielfalt in der Armee gegeben. In den neuen Armee-Typ wird schon aus militärpolitischen Gründen ein weniger pluralistisch orientierter Soldatentyp eintreten. Die Gefahr traditionalistischer Orientierungen wächst dadurch und wird mit dem Mantel des Professionalismus verdeckt werden können. Ein militärisches, subkulturelles Eigenleben ist unter solchen Bedingungen wahrscheinlich. Da für militärische Aufgaben dann die von der Gesellschaft bezahlten Spezialisten vorhanden sind und „Wehrpflichtige“ nicht mehr betroffen sein werden, muss mit einem weiteren Rückgang öffentlichen Interesses am Innenleben der Streitkräfte gerechnet werden. Alles dies sind Tendenzen, die einer Verselbständigung des Militärs Vorschub leisten, auch wenn es keine Zwangsläufigkeit zu einer solchen Entwicklung gibt. 144  Von den vielen Traumatisierten wurde jahrelang überhaupt nicht geredet. Zahlen für Bundeswehrsoldaten sind nur schwer zu bekommen. Vgl. Biesold. 145  Focus online vom 3.7.2009 und Spiegel online vom 11.1.2010.



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Heroische und postheroische Gesellschaften Von Herfried Münkler I. Der Held und der Dichter Die Figur des Helden ist ein gesellschaftliches Faszinosum, von der Ilias als der ersten großen Darstellung heroischer Werte und Lebensformen bis zu den Hollywoodproduktionen unserer Tage, die ihre für den Kassenerfolg ausschlaggebende Spannung nicht selten aus dem Aufstieg, Triumph und Untergang des Helden beziehen. Dabei ist der Held keineswegs zwangsläufig ein Krieger; es gibt auch die „Helden des Alltags“, deren Heroentum sich nicht im Kampf mit Waffen und in der Tötung des Gegners erweist. Aber die Vorstellung vom Helden ist doch zumeist eng mit Gewalt und Krieg verbunden. In jedem Falle aber ist für die Attribution des Heroischen der Gedanke des Opfers zentral: Zum Helden kann nur werden, wer bereit ist, Opfer zu bringen, eingeschlossen das größte, das des Lebens. Für diese Bereitschaft zum Opfer wird dem Helden Anerkennung und Ehre zuteil. Die durch das Opfer des Helden vor Unheil oder Niederlagen bewahrte Gemeinschaft dankt ihm dies mit Prestige zu Lebzeiten und ehrenhaftem Andenken nach dem Tode. So sind Held und Gesellschaft durch die Vorstellung des rettenden und schützenden Opfers miteinander verbunden. Weil die Idee des Opfers, bei dem einer sich hingibt, um das Ganze zu retten, ohne Religionsbezug schwerlich gedacht werden kann, haben heroische Gesellschaften zumeist einen religiösen Kern. Oder anders formuliert: Die Erosion des Religiösen befördert die Entwicklung postheroischer Dispositionen. Diesem religiösen Kern sind auch die politischen Religionen im Sinne Eric Voegelins zuzurechnen: Ideologien also, die Gesellschaften wie Gemeinschaften zusammenschweißen und sie mit Symboliken versorgen, die den bloßen Tod im Kampf in ein heroisches Opfer verwandeln. Nur Gesellschaften, die über diese Fähigkeit zur sinnhaft-symbolischen Aufladung des Todes verfügen, können als heroische Gesellschaften begriffen werden. In den anderen, präheroischen wie postheroischen Gesellschaften werden die Toten von Kriegs- und Kampfhandlungen als die Folgen eines bloßen Abschlachtens begriffen. Nicht das Blut, das an seinen Waffen klebt, macht den Krieger zum Helden, sondern seine Bereitschaft zum Selbstopfer, durch das andere gerettet werden. Demgemäß ist der Held nicht durch seine

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Kampfkraft, sondern durch eine Opferbereitschaft definiert. Im Umgang mit dem Wissen um dieses Opfer erweist sich das Heroische. Wie keine andere Figur der sozio-politischen Typologie ist der Held auf eine narrative Verdoppelung angewiesen. Von den Helden muss berichtet werden. Wenn sie heroisch agieren, aber keiner da ist, der dies beobachtet und weitererzählt, ist ihr Status prekär: Sie müssen dann selber erzählen, was für Helden sie sind. Auch wenn man ihnen glaubt, riecht ihr Bericht nach Eigenlob. Ohne den rühmenden Bericht eines selbständigen Beobachters vergeht die heroische Existenz der Helden mit dem Augenblick des heldenhaften Auftritts. Der Held erleidet dann ein ähnliches Schicksal wie der Kämpfer, mit dem Hegel das Herr-Knecht-Kapitel seiner Phänomenologie des Geistes eröffnet hat: Wer in einem einsamen Zweikampf seinen Gegner niedergekämpft und erschlagen hat, verfügt über keine Möglichkeit, seinen den Heldenstatus verbürgenden Sieg „aufzuheben“, da der, der dies bezeugen könnte, tot ist. Zwar kann der Sieger Ausrüstungsgegenstände oder Körperteile seines Gegners demonstrativ mit sich führen, vom Skalp am Gürtel bis zum weißen Ring um das Kanonenrohr eines Panzers, aber die pure Trophäe sagt nichts über die Art des Kampfes und die Größe des Heldentums. Sie kann genau so gut durch Hinterlist und Heimtücke errungen worden sein. Und man kann nicht ausschließen, dass der Gegner, von dem die Trophäe stammt, ein Schwächling oder Feigling gewesen ist. Trophäen sind bloß ein Notbehelf für den Fall, dass weder Sänger noch Journalisten in der Nähe sind. „Was aber bleibet, das stiften die Dichter“, heißt es bei Hölderlin. Für keinen trifft das mehr zu als für den Helden. Die Odyssee berichtet, Odysseus habe bei den Phäaken seine Identität so lange verborgen, bis ein Sänger beim abendlichen Festmahl vom Kampf um Troja und dem schließlichen Fall der Stadt berichtete und dabei den Anteil des Odysseus am Sieg der Griechen nach zehnjährigem Kampf rühmend herausstellte. Bei dem Vortrag des Sängers begann Odysseus zu weinen, und der in seiner Nähe sitzende Phäakenkönig Alkinoos hörte ihn mehrfach stöhnen. Auf Nachfrage erst lüftete der Held das zuvor sorgsam gehütete Geheimnis seiner Identität und berichtete von den Abenteuern, die er nach dem Fall Trojas durchstanden hatte. Erst die Beglaubigung durch den Bericht des Sängers und die eigene Erschütterung in Reaktion darauf geben ihm die Möglichkeit, sich als der zu zeigen, der er tatsächlich ist. Ohne diese Beglaubigung hätte er riskiert, als bloßer Aufschneider dazustehen. Der Held und der Dichter bilden insofern ein unzertrennliches Paar. Sie sind aufeinander angewiesen: Ohne den Helden hat der Dichter nichts zu berichten, und ohne den Dichter steht der Held vor dem existenziellen Nichts. Soziale Verbände sind nur dann heroisch, wenn sie über eine das Heroische reflektierende Literatur verfügen – zumindest wenn es umherziehende Sänger gibt, die mündlich tradieren, was die Helden geleistet haben. Das aber



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heißt: Gesellschaften ohne Literatur sind keine heroischen Gesellschaften, sondern allenfalls solche, in denen Gewalttätigkeit an der Tagesordnung ist. Es ist die literarische Verdoppelung, die nicht nur die Identität des Helden verbürgt, sondern aus dem Gewalttäter erst einen Helden macht. Und sie tut dies umso mehr, je stärker sie in dessen Innenleben vordringt bzw. den Helden mit einem solchen Innenleben ausstattet. Der Zorn des Achill erst und der in diesem Zorn ausgerufene Kampfstreik, später dann die Einwilligung in die Rückkehr des Freundes Patroklos aufs Gefechtsfeld, dessen rettendes Selbstopfer und das daraus erwachsene Leid des Achill machen aus der Kampfmaschine einen Helden. Die Verwandlung des bloßen Kämpfers in den strahlenden Helden durch die Literatur ist jedoch mehr als eine bloße Verzierung der Gewalt mit Ruhm und Ehre; vielmehr handelt es sich um einen Prozess der Sublimierung, bei dem der Gewaltanwender einem Verhaltenskodex unterworfen wird, gegen den er bei Strafe seiner Entehrung nicht verstoßen darf. Der Dichter ist dadurch mehr als nur der äffische Bewunderer des Helden; er ist der Garant und Kontrolleur seines Heroentums, und wenn er den Helden vernichten will, so kann er dies mit der bloßen Kraft seines Wortes. Die Literatur bemächtigt sich des Helden, indem sie ihn nicht nur für ihre Zwecke erschafft, sondern auch die Regeln und Codices hervorbringt und kontrolliert, nach denen Gewaltanwendung zulässig und ehrenhaft ist. Nirgendwo lässt sich das besser nachvollziehen als bei der Herausbildung des ritterlichen Ehrenkodex im Europa des 12. und 13. Jahrhunderts. Die Schwachen zu schonen und zu schützen, die Bösewichter zu bekämpfen und zu strafen und sich dabei stets an die Regeln des ritterlichen Zweikampfs zu halten – das ist es, was den wahren Ritter ausmacht und vom bloßen Schlagetot unterscheidet. Die literarische Verdoppelung des Helden wird damit zum kritischen Spiegel, über den die Ritter sich selbst, aber auch die Unbewaffneten die Waffenträger kontrollieren. Später kommen zu den literarisch fixierten Ehrenkodices noch die Bestimmungen des Kriegsvölkerrechts hinzu, durch die Verstöße unter Strafe gestellt werden. Aber die Verbindung von Ehre und Inpflichtnahme der Gewaltspezialisten hat auch mit der Fixierung des Ius in bello in der Haager Landkriegsordnung und den Genfer Konventionen ihre Bedeutung nicht verloren. Wenn Michael Ignatieff, einer der bestinformierten und reflektiertesten Beobachter und Kommentatoren des Kriegsgeschehens der letzten zwei Jahrzehnte, die „Erosion des Ethos“ der Kriegsparteien beklagt und auf eine Reethisierung der Kämpfer als verlässlichstes Mittel gegen die permanenten Übergriffe auf Zivilisten, vor allem auf Frauen und Kinder, setzt,1 so ist dies 1  Ignatieff,

S.  138 ff.

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ein Hinweis darauf, welche gewaltbegrenzende Funktion einem literarisch verbreiteten Kriegerethos zukommen kann. Doch die Warlords der neuen Kriege und ihre bewaffnete Entourage sind für solche Formen der Gewalt­ limitierung nicht zugänglich. Sie sind nicht an Ehre, sondern an Macht und Geld interessiert. Deswegen handelt es sich bei ihnen auch nicht um Helden, sondern um Kriegsunternehmer. Erst wenn es gelänge, sie wieder stärker an Ruhm und Ehre zu interessieren, könnte man auf dem von Ignatieff vor­ geschlagenen Weg vorankommen. Ob dies jedoch angesichts der entsublimierenden Kraft, die aus der Aussicht auf Geld und Vermögen erwächst, überhaupt möglich ist, wird man bezweifeln müssen. Insofern können die wenigsten Gesellschaften, in denen die „neuen Kriege“ geführt werden,2 als heroische Gesellschaften bezeichnet werden. Eher ist der Begriff der Massaker-Gesellschaft angemessen. II. Untergangsstimmung Die mit den Mitteln eines literarischen Ehrenkodex erfolgte Verwandlung von Kämpfern in Helden hat freilich ihren Preis, und der besteht in der notorischen Klage des Verfalls und Niedergangs, die für diese Literatur charakteristisch ist: Früher waren die Helden heldenhafter, die Kämpfe gewaltiger und die Siege größer. Die Dichter der Heldenlieder blicken zurück und begreifen die eigene Gegenwart als eine Epoche der Dekadenz, der schon bald der endgültige Zusammenbruch folgen werde. Die jetzt lebenden Helden sind nur schwache Aufhalter dieser Entwicklung; sie können sie vielleicht verzögern, aber nicht verhindern. Der notorisch pessimistische Tonfall aller Heldendichtung greift auf das heroische Bewusstsein über: Heroische Gemeinschaften sind von einer tragischen Grundstimmung durchzogen: Die Helden begreifen sich als die letzten oder doch vorletzten ihrer Art; um sie herum breiten sich unheroische Einstellungen aus, gegen die man zwar Widerstand leisten kann, denen man letztlich aber unterliegen wird. Selbst Werner Sombarts 1915 erschienene Kriegsschrift Händler und Helden, wahrlich ein Text trotzigen Heroentums angesichts einer Welt voll, wie Sombart meint, unheldischer Feinde, ist von dieser Stimmung eines letztlich unaufhaltsamen Untergangs der Helden durchzogen – was freilich auch nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass Sombart in seinem Hauptwerk über die Geschichte des Kapitalismus eine Linie vom Früh- zum Spätkapitalismus gezogen hatte, bei der die abenteuerlustigen Kaufleute des Anfangs zunehmend den von Zinserträgen lebenden Kapitalbesitzern weichen mussten. Sombart hatte dies die „Verfettung des Kapitalismus“ genannt. Dass sich die deutschen Helden in diesem Krieg gegen die britischen 2  Dazu

Kaldor sowie Münkler 2002 b.



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Händler erfolgreich erwehren können, mag Sombart zeitweilig für möglich gehalten haben; dass sie sich auf Dauer würden behaupten können, hat er kaum geglaubt. Darin war er nicht der Einzige: Der heroische Pessimismus war unter den Denkern seiner Generation weit verbreitet. Man leistete Widerstand gegen den Verfall, aber aus Haltung, nicht aus Siegeszuversicht. Heroische Gemeinschaften halten es schlecht mit sich aus. Offenbar erweist sich die Realität gegenüber den Ansprüchen und Erwartungen des heroischen Selbstentwurfs durchweg als ungenügend. Die Ilias ist durchzogen von dem Bewusstsein des bevorstehenden Untergangs, keineswegs nur der belagerten Trojaner, sondern auch der siegreich heimkehrenden Griechen, deren Schiffe vom Sturm zerstreut und vom Meer verschlungen werden. Und manche, die den Sturm überstanden haben, finden in Familienfehden den Tod. Das alles wird noch übertroffen von der heroischen Todesstimmung des Nibelungenliedes, das mit dem Untergang der burgundischen Helden in Etzels Halle endet. Das Selbstbewusstsein der Heroen ist unglücklich. Es ist vergangenheitsfixiert und rückwärtsgewandt, weil es ihm an Zuversicht und Zukunftsvertrauen mangelt. Der dem Heroischen eingeschriebene Gedanke des Opfers ist offenbar zu einem positiven Blick in die Zukunft wenig geeignet – jedenfalls aus der Sicht des Helden. Die Gesellschaft, die durch sein Opfer gerettet wird, besteht nicht aus Seinesgleichen, denn sonst hätte sie des Opfers nicht bedurft. Aber auch unter Seinesgleichen fühlt sich der Held auf Dauer nicht wohl: Überall lauert Verrat. Kein Held, der seine Bahn geht, ohne von Verrat und Tücke umgeben zu sein. Was unter diesen Umständen bleibt, ist allein die Ästhetik des Untergangs: ein heldenhafter, schöner Tod. Felix Dahn hat dies in seinem einst viel gelesenen Roman Ein Kampf um Rom trefflich zum Ausdruck gebracht: Es war der heroisch-tragische Pessimismus seiner eigenen Zeit, den er in die Geschichte der Ostgoten hineinerzählt hat. Keine Frage, dass solche Grundstimmungen politisch brisant sind. Wenn schon Untergang und Ende unvermeidlich sind, dann soll wenigstens ein sich dahinziehendes Siechtum vermieden werden: also ist jetzt, da man noch leidlich bei Kräften ist, die kriegerische Entscheidung zu suchen, koste es, was es wolle. Diese Grundstimmung hat im Jahre 1914 entscheidend zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beigetragen. Der österreichische Generalstabschef Conrad von Hötzendorf wollte den Krieg, weil er durch ihn den inneren Verfall der Donaumonarchie zu stoppen hoffte. Im zarischen Russland kursierten in den Kreisen adliger Offiziere ähnliche Vorstellungen. Heroische Gemeinschaften wissen sich gegen Niedergang und Dekadenz nicht anders zu wehren, als dass sie auf den Krieg als einen Akt der moralischen Erneuerung setzen. Sie feiern den Krieg aus Verzweiflung über den Gang der Dinge in Friedenszeiten. Deswegen spielen heroische Gesellschaften permanent mit dem Feuer, und wenn sich in einem bestimmten Raum

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eine größere Anzahl heroischer Gesellschaften findet, ist ihre Selbstvernichtung in einem großen Krieg das Wahrscheinliche. Das ist in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Fall gewesen. III. Gemeinschaft und Gesellschaft Bislang war ohne genauere Unterscheidung von Gemeinschaften und Gesellschaften die Rede, in denen die heroische Disposition dominierte. Es ist aber sinnvoll, auch und gerade im Hinblick auf die Effekte und Folgen von Untergangsstimmungen zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft zu unterscheiden. Diese Unterscheidung geht auf den Soziologen Ferdinand Tönnies zurück, der damit die beiden Grundformen menschlicher Sozialität bezeichnen wollte: die organische und die mechanische, die, in der wesentlich die Verbundenheit dominiert, und jene, deren Wesen in der Trennung und Distanz der Menschen zueinander liegt, die anschließend durch Austausch und Kooperation überbrückt und zugleich bestätigt werden.3 Für die Zwecke der hiesigen Unterscheidung sind Tönnies’ Distinktionen jedoch nur bedingt erforderlich und nützlich. Als Gemeinschaften sollen hier Gruppen bezeichnet werden, die sich durch gemeinsame Herkunft, gemeinsame Siedlungs- und Lebensräume oder ein gemeinsames Werte- und Normverständnis von ihrer Umgebung absetzen. Heroische Gemeinschaften haben häufig einen männerbündischen Charakter, der für Homogenität im Innern sorgt. Gesellschaften hingegen sind Aggregationen von Menschen und Gruppen unterschiedlicher Prägung, die über funktionale Kooperationseffekte miteinander verbunden sind und eine mehr oder weniger deutliche Vorstellung vom Nutzen dieser Kooperation haben. Gemeinschaften gründen sich auf gemeinsame Abstammungs- oder Wertvorstellungen, Gesellschaften auf den Nutzen. Auf das heroische Selbstverständnis von Großgruppen bezogen heißt das, dass es heroische Gemeinschaften über die längste Zeit der schriftlich fixierten Geschichte der Menschen gegeben hat, heroische Gesellschaften hingegen eher die Ausnahme darstellen. Das ist von der Sache her nicht verwunderlich: das Ideal heroischer Opferbereitschaft, die strikte Abgrenzung gegen eine Umwelt, die entweder diese Bereitschaft nicht aufbringt oder anderen Werten folgt, spricht eher für den Sozialitätsmodus der Gemeinschaft als den der Gesellschaft. Vor allem stellt sich die Frage der physischen Reproduktion: Helden sind in der Regel keine Freunde der tagtäglichen Arbeit, zumal wenn sie in physische Plackerei ausartet. Sie überlassen die Arbeit anderen, von denen sie mit Produkten wohlversorgt werden: entweder in aller Freundschaft oder eben, wenn erforderlich, durch Zwang und Gewalt. Die Helden sind somit auf die Arbeiten3  Tönnies,

S. 7 ff. und 34 ff.



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den angewiesen. Es können nicht alle Helden sein, sondern deren Anzahl bleibt in der Regel recht begrenzt. Die heroische Gemeinschaft ist dann eingebettet in eine unheroische Gesellschaft, die sie mit allem Notwendigen versorgt, und dafür von den Helden gegen äußere Gefahren und Bedrohungen geschützt wird. Dabei legen die Helden aller größten Wert darauf, dass sie nicht mit den Arbeitenden verwechselt werden. Sie grenzen sich von diesen strikt ab, und eine der wichtigsten Formen der Abgrenzung ist das heroische Ethos und die damit verbundene Orientierung an der Ehre. Diese markiert die Grenze zwischen dem Innen und Außen der heroischen Gemeinschaft und sichert die Exklusivität einer Gemeinschaft von Helden. Friedrich Schiller hat das einen der Kürassiere in Wallensteins Lager zum Ausdruck bringen lassen: Wer mit dem Leben zu spielen bereit ist, muss etwas im Auge haben, was für ihn mehr wert ist als das Leben – und das kann nur die Ehre sein: „Das Schwert ist kein Spaten, kein Pflug,  /  Wer damit ackern wollt, wäre nicht klug.  /  Es grünt ihm kein Halm  /  es wächst keine Saat,  /  Ohne Heimat muß der Soldat  /  Auf dem Erdboden flüchtig schwärmen,  /  Darf sich an eignem Herd nicht wärmen,  /  Er muß vorbei an der Städte Glanz,  /  An des Dörfleins lustigen, grünen Auen,  /  Die Traubenlese, den Erntekranz  /  Muss er wandernd von Ferne schauen.  /  Sagt nur, was hat er an Gut und Wert,  /  Wenn der Soldat sich nicht selber ehrt?  /  Ewas muß er sein eigen nennen,  /  Oder der Mensch wird morden und brennen.“4 Ethos und Ehranspruch können in unterschiedlichen Formen zum Ausdruck kommen – von bestimmten Ritualen bis zur Uniform. Durchweg dienen sie dazu, die heroische Gemeinschaft gegenüber der Gesellschaft abzugrenzen und Gewaltbereitschaft und Waffengebrauch zugleich Zügel anzulegen. Ohne Ehranspruch und Opfergedanke keine heroische Gemeinschaft.5 Der Dekadenzgedanke als abgeschwächte Form der Untergangsstimmung erwächst daraus, dass eine Erosion der Grenzziehung zur unheroischen Umgebung und ein Eindringen ihrer Werte und Verhaltensweisen befürchtet werden. Die heroische Gemeinschaft lebt in der steten Furcht, von der unheroischen Gesellschaft erdrosselt oder aufgezehrt zu werden. Je größer diese Furcht, desto stärker die Neigung zu Selbstabschließung und Verkapselung. Angewiesen auf den Austausch mit ihrer Umgebung, beschleunigen heroische Gemeinschaften dadurch ihren Untergang. Wo Opfer und Ehre nur noch innerhalb der Gemeinschaft zirkulieren, erstarrt diese mit der Zeit und zerfällt. Und wenn die umgebende Gesellschaft die heroische Gemeinschaft nicht mehr achtet und ehrt, sondern ignoriert oder gar verachtet, so ist ihr das Elixier periodischer Revitalisierung entzogen. Heroische Gemeinschaften bedürfen gelegentlicher Kriege und Kämpfe, doch in denen müssen 4  Schiller, 5  Dazu

S.  305 f. Vogt, S.  65 ff.

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sie ihren Nutzen für die sie alimentierende Gesellschaft erweisen, um dafür mit erneuerter Ehrerbietung ausgestattet werden. Dann blühen sie wieder auf. Heroische Gemeinschaften bedürfen der Kriege, weil sich in ihnen das symbolische Kapital der Ehre erneuern und aufstocken lässt. Auch in dieser Hinsicht ist der ihnen endemische Dekadenzgedanke angemessen und angebracht: Wenn die Dinge ruhig und normal laufen, ist das für die heroischen Gemeinschaften bedrohlich; was sie rettet, ist der Einbruch des Außergewöhnlichen und Extremen. Das ist ihre große Stunde, die sie hernach wieder viele kleine Stunden überstehen lässt. In diesem Sinne heißt es in Schillers Reiterlied, ebenfalls aus dem Wallenstein: „Wohl auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!  /  Ins Feld, in die Freiheit gezogen!  /  Im Felde, da ist der Mann noch was wert,  /  Da wird das Herz noch gewogen.  /  Da tritt kein anderer für ihn ein,  /  Auf sich selber steht er da ganz allein.“6 Und dann: „Aus der Welt die Freiheit verschwunden ist,  /  Man sieht nur Herrn und Knechte;  /  Die Falschheit herrschet, die Hinterlist  /  Bei dem feigen Menschengechlechte.  /  Der dem Tod ins Angesicht schauen kann,  /  Der Soldat allein ist der freie Mann.“7 Und schließlich: „Drum frisch, Kameraden, den Rappen,  /  Die Brust im Gefecht gelüftet!  /  Die Jugend brauset, das Leben schäumt,  /  Frisch auf, eh’ der Geist noch verdüftet!  /  Und setzet ihr nicht das Leben ein,  /  Nie wird auch das Leben gewonnen sein.“8 Das ist Ethos und Selbstverständnis einer Gemeinschaft, die nur bestehen kann, weil und indem sie sich von der sie umgebenden Gesellschaft abgrenzt. Dass die durch Opferbereitschaft und Ehrbegier gekennzeichnete heroische Disposition nicht auf kleine, klar abgegrenzte Gemeinschaften beschränkt bleibt, sondern die Gesellschaft als Ganzes ergreift, ist also die Ausnahme, und tatsächlich lassen sich in der Geschichte nur wenige Beispiele auffinden, in denen das der Fall ist. Offenbar entwickelt sich ein gewisses Erfordernis zur „Vergesellschaftung“ des Heroischen in politischen Ordnungen mit einer größeren Anzahl gleiche Rechte wie gleiche Anerkennung beanspruchenden politischen Akteuren, wie sie in der Antike die griechischen Poleis und in der Neuzeit das europäische Staatensystem dargestellt haben. Hier gewinnt die Oberhand, wer für längere Zeit die größeren Potentiale an Heroismus aufzubieten hat: Das kann auf dem Weg einer Optimierung der heroischen Gemeinschaft versucht werden, wofür im antiken Griechenland Sparta und die Spartiaten bzw. in der europäischen Neuzeit das friderizianische Preußen und seine Armee Beispiele sind. Die Alternative dazu ist die Ausweitung der heroischen Dispositionen auf die gesamte Gesellschaft, wofür die athenische Demokratie des 5. und 4. vor6  Schiller, 7  Ebd.

8  Ebd.,

S. 309.

S. 311.



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christlichen Jahrhunderts, vor allem aber das revolutionäre Frankreich und in Reaktion darauf dann Deutschland die wichtigsten Beispiele sind. Zusammen mit der Ausweitung der politischen Partizipationsrechte auf alle (männlichen) Staatsbürger und einer deutlich höheren Durchlässigkeit für den sozialen Aufstieg ist die Erwartung des heroischen Selbstopfers zu einer an jeden (männlichen) Staatsbürger herangetragenen Erwartung geworden. Das athenische Bürgeraufgebot, die römisch-republikanische Wehrverfassung und die allgemeine Wehrpflicht im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts sind Ausdruck einer Entwicklung, die in mehr oder weniger ausgeprägter Form auf eine innere Militarisierung der Gesellschaft hinausgelaufen ist. Die Uniformen, die militärischen Ehrenzeichen und schließlich das Reserve(unter)offizierspatent, die diese Gesellschaften geprägt haben, waren weniger Ausdruck der Zugehörigkeit zu einem exklusiven Stand als der Inklusionskräfte, die tendenziell jeden der Gesellschaft Angehörenden erfassten. Selbstverständlich hat es auch hier – keineswegs nur im wilhelminischen Deutschland, sondern ebenso im republikanischen Frankreich – immer wieder Exklusionsbestrebungen des Militärs als Stand gegeben, aber die sind aufgrund der politischen Konkurrenz mit anderen Staaten in engen Grenzen gehalten worden. Kein Staat, der im Konzert der europäischen Großmächte eine Rolle spielen wollte, konnte sich den Rückzug des Heroischen aus der Gesellschaft auf eine scharf umgrenzte kleine Gemeinschaft leisten. Nur England ist hier eine Ausnahme und die verdankt es seiner geopolitischen Lage. Im Unterschied zur heroischen Gemeinschaft ist der heroischen Gesellschaft die Dekadenzvorstellung als ein notorischer Begleiter nicht eigen; im Gegenteil: sie ist charakterisiert durch ein fast unbändiges Kraftgefühl und eine damit verbundene ausgeprägte Zukunftsgewissheit. Heroische Gesellschaften befinden sich in einem ständigen Taumel von Kraft und Siegeszuversicht. Sie sind durchherrscht von einer Vorstellung nationaler Ehre, die bei dem geringsten Anlass schon als verletzt gilt und durch einen Waffengang wiederhergestellt werden muss. Heroische Gesellschaften befinden sich in einem Zustand der Dauererregung, weswegen die Zusammenballung mehrerer solcher Gesellschaften innerhalb eines Großraums zu einem Zustand häufiger Kriege und permanenter Kriegsbereitschaft führt. Diese Kriege sind dann nicht mehr Auseinandersetzungen heroischer Gemeinschaften, für welche die Gesellschaften finanziell aufkommen müssen, sondern es sind Kriege unter den Bedingungen einer totalen Mobilisierung, die sämtliche materiellen wie psychischen Ressourcen erfasst. Die Folge solcher Kriege ist die Ermattung und Erschöpfung dieser Gesellschaften, die sich innerhalb kürzester Zeit aus heroischen in postheroische Gesellschaften verwandeln. Sie haben verausgabt, was sie an Potentialen des Heroischen in materieller und psychischer Hinsicht besessen haben, und kommen nunmehr

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zu dem Ergebnis, dass dies – im Falle der Niederlage – nichts genützt hat oder aber – im Falle des Sieges – keineswegs zu den Ergebnissen geführt hat, die erwartet worden sind. In dieser Situation sind zwei Reaktionen naheliegend: Entweder man versucht es bei nächster Gelegenheit noch einmal, weil man davon ausgeht, dass man beim letzten Mal nicht genügend heroische Operbereitschaft aufgebracht hat, wozu man jedoch bei einer noch größeren Mobilisierung durchaus in der Lage wäre, oder aber man verwirft das Modell von Opferbereitschaft und Ehrakkumulation als gesellschaftlichen Irrweg, den man hinfort tunlichst vermeiden sollte. Es sind in der Regel die Verlierer, die auf die erste Reaktion setzen, weil sie mit dem verwehrt gebliebenen Sieg noch Erwartungen verbinden können, während die Sieger eher ernüchtert sind und zu letzterer Reaktion neigen. Das war die Situation im Europa der Zwischenkriegszeit: Frankreich und insbesondere England setzten auf eine Politik des Appeasement und orientierte sich an militärischen Strategien, die ihnen nicht noch einmal ein derartiges Großopfer abverlangen würden; in Deutschland dagegen strebten starke politische Kräfte die militärische Revision der Kriegsergebnisse an, wobei sie Strategien und Taktiken entwickelten, die in hohem Maße an heroischen Dispositionen orientiert waren.9 Der Verlauf des Zweiten Weltkriegs hat in seiner ersten Phase diese Dispositionen widergespiegelt, von der aus der Perspektive von 1914–1918 unvorstellbaren Kapitulation der Franzosen, die erfolgte, bevor das Gros ihrer Kräfte überhaupt ins Gefecht gekommen waren, bis zu dem überstürzten Rückzug der Briten vom Kontinent, auf dem sie nicht noch einmal den Kern ihrer Berufsarmee opfern wollten. Deutschland hat danach diesen Krieg bis zur völligen Niederlage durchgekämpft und erst kapituliert, als es so gut wie nichts mehr gab, womit man hätte kämpfen können. Die Folge war, dass sich die postheroischen Dispositionen hier in einer Stärke durchgesetzt haben, wie in sonst keiner europäischen Gesellschaft. So wenig, wie heroische Gesellschaften eine intrinsische Neigung zur Untergangsstimmung haben, so wenig tendieren postheroische Gesellschaften dazu, ihre Stellung in der Nachfolge heroischer Gesellschaften als einen Vorgang der Dekadenz zu begreifen. In der Regel interpretieren sie diesen Übergang als politischen Fortschritt bzw. als gesellschaftlichen Lernprozess, jedenfalls als Überwindung einer sozialmoralischen Konstellation, die überwiegend als pathologisch begriffen wird. Postheroische Gesellschaften sind darum in der Regel mit sich eins. Sie haben eine gewisse Tendenz, sich selbst als Zielgerade der gesellschaftlichen Entwicklung zu interpretieren, aber daraus ziehen sie nicht die Konsequenz, dass es jetzt noch einmal auf die Mobilisierung aller Energien ankomme, sondern sie neigen dazu, sich auf der er9  Dazu

ausführlich Münkler 2002 b, S.  227 ff.



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reichten Wegstrecke dauerhaft einzurichten. Wenn sie notwendige Reformen thematisieren, dann in einer Metaphorik, die Veränderungen auf das Drehen von Stellschrauben begrenzt: Die Verhältnisse sind grundsätzlich in guter Ordnung; sie müssen nur gelegentlich ein wenig nachjustiert werden. IV. Demographie und Heroismus In jüngster Zeit ist vermehrt darauf hingewiesen worden, dass die Konjunkturen des Heroismus weniger mit dem Einfluss bestimmter politischer Ideen, mit der Vorherrschaft kriegerischer Religionen oder überhaupt mit Lernprozessen zu tun hätten als vielmehr mit demographischen Faktoren und dem Anteil von Jugendlichen unter achtzehn Jahren in einer Gesellschaft. Der Bremer Soziologe Gunnar Heinsohn, ein Spezialist für vergleichende Genozidforschung, hat das vor einiger Zeit zu der These zugespitzt, die youth bulges würden sich ihre Ideologien und Legitimationen selbst suchen, und es sei keineswegs so, dass den politischen Ideen bei der Weckung von Gewalt- und Opferbereitschaft das Primat zukomme. Das klingt eher deterministisch, und in einigen Punkten argumentiert Heinsohn auch so; aber seine Untersuchungen zeigen eine so beeindruckende Korrelation zwischen dem Bevölkerungszuwachs und der Gewaltintensität, die eine Gesellschaft nach innen wie außen entwickelt. Damit ist der Blick auf die materielle, um nicht zu sagen: materialistische Grundlage heroischer wie postheroischer Gesellschaften freigegeben worden. Im Unterschied zu den reichen Ländern der OECD-Welt „können die Familien der Dritten Welt einen oder gar mehrere Söhne verlieren und immer noch weiter funktionieren. […] Drittweltländer können Millionenarmeen junger Männer ins Feuer schicken, die als zweite oder gar vierte Söhne daheim nirgendwo wirklich gebraucht werden, weshalb für sie der Heroismus als wirkliche Chance erscheinen kann.“10 Dem haben die reichen Länder des Nordens, an ihrer Spitze die USA, allenfalls ihre technologische Überlegenheit entgegenzusetzen, aber deren Ausspielen führt sogleich in bedrohliche moralische Paradoxien: „Während die Gegner immer wieder von neuem zahllose Söhne verheizen können, weil unter ihren Kindern die nächsten Massenarmeen schon bereit stehen, riskieren die USA und ihre Verbündeten schnell jedes Ansehen, wenn durch ihre Schläge auch Kinder auf der anderen Seite getroffen werden.“11 Das ist das Problem der Entstehung postheroischer Gesellschaften: dass dies nicht im globalen Maßstab synchron erfolgt, sondern überwiegend die reichen Gesellschaften des Nordens in eine postheroische Phase eintreten, 10  Heinsohn, 11  Ebd.

S. 16.

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während im Sinne einer Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen viele Gesellschaften an der Peripherie der Wohlstandszone gerade aus der präheroischen in die heroische Phase übergewechselt sind. Sei es nun der Reichtum an Söhnen als materiellen oder die Intensität religiöser Vorstellungen als ideelle Grundlage des Heroismus – diese Gesellschaften entwickeln eine Dynamik, die fast immer selbstzerstörerische Folgen hat, in einigen Fällen aber auch zu einer aggressiven Wendung nach außen führt, die bei den sich schnell bedroht fühlenden postheroischen Gesellschaften zu Angst- und Panikattacken führt. Das geht gelegentlich so weit, dass bereits Ankündigungen von Terrorgruppen oder Videos über die Ausbildung von Selbstmordattentätern in den postheroischen Gesellschaften hysterische Reaktionen auslösen, zumal dann, wenn dort bereits erste von Selbstmordattentätern ausgeführte Anschläge stattgefunden haben. Unverständnis gegenüber einem pathetisch vorgetragenen Ethos des Opfers paart sich dann mit einem schlagartig um sich greifenden Gefühl der Wehrlosigkeit, und eine der ersten Reaktionen besteht darin, dass die Ursachen dieser Entwicklung in Armut und Elend gesucht werden. Man hofft nämlich, dem Enthusiasmus der Gewaltsamkeit durch materielle Unterstützung abzuhelfen und so die „Ursachen des Terrorismus“ zu beseitigen. Das ist freilich weder eine kluge noch strategisch weitsichtige Reaktion, sondern bloß Ausdruck einer tiefsitzenden Freikaufmentalität, die für postheroische Gesellschaften typisch ist: Mit etwas Geld wollen sie die Bedrohung durch ehrversessene Todesvir­ tuosen von sich abwenden. Tatsächlich ist der Terrorismus trotz der objektiv sehr überschaubaren Bedrohung, die von ihm ausgeht, die größte Herausforderung postheroischer Gesellschaften, weil er sie an einer Stelle attackiert, an der sie tendenziell wehrlos sind. Der Übergang von heroischen zu postheroischen Gesellschaften hat ja keineswegs dazu geführt, dass diese damit aufgehört hätten, Institutionen und Organisationen auszudifferenzieren, die, entsprechend ausgerüstet und ausgebildet, die Aufgabe der Abwehr innerer wie äußerer Bedrohungen übernehmen. Sie haben bloß ein anderes Verhältnis zu diesen Organisationen, unter anderem dadurch, dass sie diese weniger mit Ehre, sondern eigentlich nur noch mit Geld alimentieren. Im Schutze dieser Organisationen, die verschiedentlich durchaus Charakterzüge heroischer Gemeinschaften aufweisen können, hoffen postheroische Gesellschaften sich in Frieden und Sicherheit entwickeln zu können. Terroristische Anschläge, jedenfalls die des neueren Typs, zeichnen sich aber dadurch aus, dass sie diese Institutionen und Organisationen der Sicherheitsgenerierung umgehen, sie gewissermaßen links liegen lassen und direkt die Zivilbevölkerung angreifen. Sie setzen darauf, mit wenig Gewalt relativ große Effekte zu erzielen, und tatsächlich bieten ihnen postheroische Gesellschaften dabei relativ gute Erfolgsaussichten. Zugleich verachten die zum Selbstopfer bereiten Todesvir-



Heroische und postheroische Gesellschaften187

tuosen terroristischer Netzwerke postheroische Gesellschaften als dekadent. Die vielzitierte Äußerung eines Talibankämpfers, der Westen liebe CocaCola, die islamistischen Kämpfer dagegen liebten den Tod, bringt das in aller Schärfe zum Ausdruck. Literatur Heinsohn, Gunnar: Söhne und Weltmacht. Terror im Aufstieg und Fall der Nationen, Zürich 2003. Ignatieff, Michael: Die Zivilisierung des Krieges. Ethnische Konflikte, Menschenrechte, Medien, Hamburg 2000. Kaldor, Mary: Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt am Main 2000. Münkler, Herfried: Die neuen Kriege, Reinbek 2002 a. – Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, Weilerswist 2002 b. Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke, Auf Grund der Originaldrucke herausgegeben von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch, Bd. 2, München 31962. Sombart, Werner: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München und Leipzig 1915. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie [1887], Darmstadt 1991. Vogt, Ludgera: Zur Logik der Ehre in der Gegenwartsgesellschaft. Differenzierung, Macht, Integration, Frankfurt am Main 1995. Voeglin, Eric: Die poltischen Religionen, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Peter J. Opitz, 2. Auflage, München 1996.

Tod, wo ist dein Stachel? Die Deutschen, die Bundeswehr und militärische Einsätze in postheroischen Zeiten1 Von Gerhard Kümmel I. Einleitung Im Februar 2010 fand an der National Defense University in Washington, D. C., ein hochkarätig besetztes Seminar des Nordatlantischen Bündnisses (NATO) zur Frage eines neuen strategischen Konzepts für selbiges statt. An jenem Dienstag, am 23. des Monats, hielt auch der amtierende amerikanische Verteidigungsminister Robert M. Gates eine Rede, die viel beachtet und heftig diskutiert werden sollte. Darin äußerte er zunächst sein Grundverständnis des Bündnisses als einer „military alliance with real-world obligations that have life-or-death consequences“, die sich von einer „defensive alliance“ zu einer „security alliance“ entwickelt habe. Davon müsse man bei sämtlichen weiteren Überlegungen ausgehen; „[t]hose realities must inform everything we do.“ In der nachfolgenden Passage seiner Rede bereitete Gates sodann den Boden für seine Kernaussage. Diese Passage lautet wie folgt: „Troops in combat also remind us that the core function of the alliance remains the same today as in the past: to protect the territorial integrity, political independence, and security of member nations from traditional threats as well as the new challenges of the 21st century; to deter potential adversaries; and, when forced to fight, to do so with the full support of member nations – and the expectation that everyone will fulfill their Article 5 responsibilities and duties.“ Und etwas später: „The Strategic Concept must be clear that Article 5 means what it says: an attack on one is an attack on all. The concept also must go further to strengthen Article 5’s credibility with a firm commitment to enhance deterrence through appropriate contingency planning, military exercises, and force development.“ Im Weiteren erwähnte Gates etwa die gewachsene Erfordernis einer umfangreicheren multinationalen Kooperation bei Rüstung und Beschaffung 1  Dieser Beitrag greift in Teilen auf drei andere Publikationen des Autors zurück und modifiziert und aktualisiert diese. Vgl. Kümmel 2007; 2009; 2010.

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wie auch die Notwendigkeit der strukturellen Fort- und Weiterentwicklung der NATO. Klage führte er sodann intensiv über das Problem der mangelnden Bereitstellung von Ausrüstung und Ressourcen für die anstehenden Aufgaben und dabei vor allem über die Tatsache, dass lediglich fünf der 28 NATO-Mitglieder die Vorgabe von Verteidigungsausgaben in der Größenordnung von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erfüllen. Daran knüpfte Gates schließlich sein Hauptanliegen, das es verdient, etwas ausführlicher zitiert zu werden: „These budget limitations relate to a larger cultural and political trend affecting the alliance. One of the triumphs of the last century was the pacification of Europe after ages of ruinous warfare. But, as I’ve said before, I believe we have reached an inflection point, where much of the continent has gone too far in the other direction. The demilitarization of Europe – where large swaths of the general public and political class are averse to military force and the risks that go with it – has gone from a blessing in the 20th century to an impediment to achieving real security and lasting peace in the 21st. Not only can real or perceived weakness be a temptation to miscalculation and aggression, but, on a more basic level, the resulting funding and capability shortfalls make it difficult to operate and fight together to confront shared threats.“2 Diese harschen Zeilen an die Adresse der Europäer, die in der deutschen Presse als „scharfe Rhetorik“ und als „ein neuer Ton, der über den Atlantik weht“, interpretiert worden sind,3 wurden in Teilen der amerikanischen Publizistik sogar noch übertroffen. Andrew Bacevich, Professor für Geschichte und Internationale Beziehungen an der Boston University, beispielsweise empfahl den Vereinigten Staaten in der Zeitschrift Foreign Policy, die NATO zu verlassen und Europa Europa sein zu lassen, denn: „By the dawn of this century, Europeans had long since lost their stomach for battle. The change was not simply political. It was profoundly cultural. The cradle of Western civilization […] had become thoroughly debellicized. As a consequence, […] present-day Europeans have become altogether stingy when it comes to raising and equipping fighting armies.“4 Das klingt wie ein Echo zu Robert Kagans These, wonach die Amerikaner vom Mars kämen, während die Europäer von der Venus seien.5 Und es klingt wie ein bekräftigendes ‚Ja, so ist es‘ zu der These des amerikanischen Historikers James Sheehan, der Europa in einem postheroischen Zeitalter wähnt, aus dem es kein Zurück mehr gäbe.6 2  Gates,

passim. passim. 4  Bacevich, passim. 5  Kagan. 6  Sheehan. 3  Ostermann,



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Besieht man sich indes die Situation etwas genauer, nachdem sich die Nebelschwaden der Auseinandersetzungen verflüchtigt haben, stellt sie sich ein wenig differenzierter dar. So haben unverkennbar einmal die Vorgänge in den Niederlanden, die der NATO-Tagung unmittelbar vorausgingen, ihr Scherflein zur Schärfe der Gates’schen Intervention beigetragen. Dort war nämlich die Koalition aus Christdemokraten (CDA), Sozialdemokraten (PvdA) und der christlich-konservativen Christen-Union (CU) im Streit über die Verlängerung des Mandats für den Einsatz der rund 2.000 niederländischen Soldaten in Afghanistan zerbrochen, denn die Sozialdemokraten verweigerten sich der Mandatsverlängerung. Entsprechend dürften nun die niederländischen Streitkräfte gemäß des gültigen Beschlusses von Regierung und Parlament vom Dezember 2007 zum 1. August 2010 aus Afghanistan abziehen und damit einen Einsatz beenden, der in dieser Zeit von rund drei Vierteln der Bevölkerung abgelehnt wurde. Die bündnispolitischen Implikationen dieses Ereignisses könnten von großer Tragweite sein, wie Martin Winter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kommentierte: „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch in anderen Hauptstädten der Druck so groß wird, dass die Politiker sich gezwungen sehen, zwischen der Bündnissolidarität und ihrem politischen Überleben abzuwägen. Demokratien können nur so lange Krieg führen, so lange es einen ausreichend stabilen politischen und gesellschaftlichen Konsens über den Einsatz gibt. Bricht der auseinander, dann kann es in vielen Hauptstädten holländische Verhältnisse geben. Das aber kann sich die Nato nicht leisten. Ein Bündnis, das sich auf dem Schlachtfeld auflöst, ist auch politisch am Ende.“7 Bacevich, das haben wir soeben gesehen, hat diese Potenzialität, die zweifellos vorhanden ist, bereits vorschnell zu einem Faktum gemacht und daraus weitreichende politische Schlussfolgerungen gezogen, die – zumindest auf sicherheitspolitischem Gebiet – den Begriff ‚Westen‘ zu einer Chimäre werden lassen. Allerdings bleibt zu fragen, ob die von Gates und anderen vorgenommene Komplexitätsreduktion nicht vielleicht doch etwas zu plakativ und simpel ausfällt. Einerseits dürften sich nicht alle Europäer in diesem Pauschalurteil von jenseits des Atlantiks so ohne Weiteres wiederfinden – schließlich wies bereits Gates’ Vorgänger, Donald H. Rumsfeld, auf die Differenziertheit Europas hin, als er im Kontext der Debatte über eine Teilnahme europäischer Länder am Irak-Krieg im Januar 2003 in einer eher unglücklichen Formulierung das ‚neue Europa‘ füglich und mit abwertendem Unterton vom ‚alten Europa‘ unterschied. Viel wichtiger aber ist die Frage, ob nicht auch die amerikanische Gesellschaft in puncto Krieg, militärische Einsätze und Streitkräfte durchaus ähnlich gelagert ist wie die europäi7  Winter,

S. 4.

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schen Gesellschaften, lässt sich doch durchaus so etwas wie eine transgesellschaftlich existierende generelle Kriegsaversion konstatieren. So erbringt beispielsweise ein etwas unorthodoxer und kursorischer Ausflug in die Populärkultur nicht nur eine Vielzahl von Protest- und Anti-Kriegssongs,8 sondern auch Textzeilen wie die folgenden aus Paul Hardcastles Song ‚Nineteen‘ aus dem Jahr 1985: „Perhaps the most dramatic difference between World War II and Vietnam was coming home […] none of them received a hero’s welcome, none of them received a hero’s welcome, none of them, none of them […] People wanted us to be ashamed of what it made us.“9 Diese Zeilen weisen nun gerade am amerikanischen Beispiel darauf hin, dass die Führung von Kriegen und militärischen Einsätzen in modernen Gesellschaften zusehends legitimations- und akzeptanzbedürftig ist. Dies gilt für die amerikanische Gesellschaft und für die europäischen Gesellschaften, und dies gilt – vielleicht auch tatsächlich in vergleichsweise höherem Maße – für die deutsche Gesellschaft. Die Forschungsfrage, die wir also im Weiteren zu untersuchen gedenken, können wir mit Gates wie folgt formulieren: Ist die deutsche Gesellschaft kriegsmüde? Oder anders formuliert: Ist die deutsche Gesellschaft eine postheroische Gesellschaft? Um diese Frage zu beantworten, entwickeln wir zunächst ein konzeptionelles Analysemodell und erläutern das Theorem der postheroischen Gesellschaft, die anschließend auf die Empirie, sprich: den deutschen Fall, angewendet werden. II. Theoretisch-konzeptioneller Rahmen Die Rede von dem Postheroismus moderner westlicher Gesellschaften der Gegenwart hat in der jüngeren Vergangenheit eine bemerkenswerte Konjunktur erlebt; diese Charakterisierung wird dabei cum grano salis unterschiedslos für alle westlichen Gesellschaften verwendet, bleibt aber nicht auf diese beschränkt. Im Begriff des Postheroischen fließen zwei Momente zusammen: zum einen die Bereitschaft zum Selbstopfer, kurz: die OpferBereitschaft, und zum anderen die Sorge um (potenzielle) Opfer, also das, was man die Opfer-Sensibilität nennen könnte. In der Bedeutungsnuance Opfer-Bereitschaft meint postheroisch „das Verschwinden bzw. die schwindende Bedeutung eines Kämpfertyps, der durch gesteigerte Opferbereitschaft ein erhöhtes Maß gesellschaftlicher Ehrerbietung zu erwerben trachtet.“10 Dieser Befund besagt, dass in der Gesellschaft die Anzahl derer, die zum Selbstopfer bereit sind, abnimmt. etwa die – keineswegs vollständige – List of Anti-War Songs. passim. 10  Münkler 2006, S. 310. 8  Vgl.

9  Hardcastle,



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Diejenigen, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens, in Situationen, die durch das Moment der Todesgefahr charakterisiert sind, ein kollektives Anliegen, ein gesellschaftliches Bestreben verfolgen und sich gegebenenfalls sogar opfern, um Leib und Leben von Mitgliedern dieses Kollektivs zu schützen bzw. zu retten, werden demnach weniger. Die heroischen Gemeinschaften, die durchaus auch in postheroischen Gesellschaften noch existieren, dünnen aus.11 Postheroisch im Sinne von Opfer-Sensibilität wiederum lässt sich mit den angelsächsischen Wortkreationen ‚casualty shy‘, ‚casualty averse‘, ‚casualty sensitive‘ und ‚casualty phobic‘ gleichsetzen und beschreibt „a mind-set exhibited by certain actors within society that is characterized by a fierce reluctance to commit military forces as soon as there is a risk of death.“12 Dabei erstreckt sich Opfer-Sensibilität – in durchaus unterschiedlichen Intensitätsgraden – auf insgesamt sechs Personengruppen, nämlich (1) auf die Soldaten der eigenen Gesellschaft, (2) auf die zivilen Angehörigen der eigenen Gesellschaft, (3) auf die Soldaten von Verbündeten, (4) auf deren Gesellschaftsmitglieder, (5) auf die anderen bzw. die gegnerischen Soldaten im Einsatzgebiet und (6) auf die dort lebende Zivilbevölkerung. Die Zunahme von Opfer-Sensibilität einerseits und die Abnahme von Opfer-Bereitschaft andererseits begründen zusammen genommen die Rede vom postheroischen Charakter gegenwärtiger moderner Gesellschaften. In der Literatur zur Postheroismus-Annahme werden überwiegend soziodemographische und soziokulturelle Faktoren angeführt, um zu erklären, warum moderne Gesellschaften zu solch postheroischen Gesellschaften mutiert sind. In sozialstrukturell-demographischer Hinsicht werden zunächst ganz allgemein die Industrialisierung und die weiter voran schreitende Ausdifferenzierung der Gesellschaft wie auch der Arbeitswelt genannt, die im 20. Jahrhundert und hier wiederum insbesondere in dessen zweiter Hälfte eine ungeahnte Dynamik entwickeln. Sie werden begleitet von und äußern sich in zunehmender Verstädterung, wachsender Mobilität, einer allgemeinen Erhöhung des Lebensstandards, einem steigenden durchschnittlichen Bildungsniveau und einem Wandel in der demographischen Komposition der Gesellschaften mit einer Verschiebung der Alterspyramide. So weisen die soziodemographischen Statistiken einen enormen Anstieg der mittleren Lebenserwartung wie auch eine radikale Senkung der Säuglings- und Kindersterblichkeit binnen eines Jahrhunderts infolge von Fortschritten in Hygiene und Medizin aus.13 Lag die Säuglingssterblichkeit beispielsweise im Deutschen Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch bei etwa 20 Prozent, so beläuft 11  Vgl.

Münkler 2006, S. 330. S. 99.

12  Girardin, 13  Apt.

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sie sich in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf nur noch 0,39 Prozent.14 Hinter diesen nackten Zahlen verbirgt sich nun ein massiver Wandel der Familienstrukturen, eben der Trend zu Familien mit wenigen, also ein bis zwei Kindern. Dies bedeutet jedoch gleichzeitig, dass der Wert dieser wenigen Kinder zunimmt und ihnen weitaus größere Wertschätzung zuteil wird, als das bei den Familien in der Vergangenheit der Fall war, die viele Kinder umschlossen und die zudem einem größeren Kindersterblichkeitsrisiko ausgesetzt waren. In der Konsequenz werden Eltern, werden Familien wesentlich anfälliger für den Verlust ihrer Kinder. So schreibt etwa Edward ­Luttwak, dass „a certain tolerance for casualties was congruent with the demography of preindustrial and early industrial societies, whereby families had many children and losing some to disease was entirely normal. The loss of a youngster in combat, however tragic, was therefore fundamentally less unacceptable than for today’s families, with their one, two, or at most three children. Each child is expected to survive into adulthood and embodies a great part of the family’s emotional economy.“15 Diese vielfältigen und facettenreichen Prozesse des soziodemographischen Wandels finden wiederum ihren Niederschlag und gehen gleichzeitig einher mit soziokulturellen Veränderungen. Urbanisierung, Mobilität und Bildung weichen traditionelle Sinnbezüge auf und führen zu einem Bedeutungsverlust der Religion in der Gesellschaft. Von diesem Bedeutungsverlust werden mit dem Ende der großen Erzählungen schließlich auch politische Religionen erfasst. Es sind jedoch gerade diese Sinnbezüge, aus denen sich die Opfer-Bereitschaft speist, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die Opfer-Bereitschaft der Individuen in diesen Gesellschaften, zumal unter den Vorzeichen von umfassender Individualisierung und ubiquitärer Risikogesellschaft, allgemein sinkt. Für diese gesellschaftlichen Wandlungsprozesse haben renommierte Soziologen wie Ulrich Beck, Norbert Elias, Anthony Giddens und Ronald Inglehart Begriffe wie Individualisierung, Zivilisierung, Modernisierung und postmaterialistischer Wertewandel geprägt. Die Opfer-Sensitivität steigt schließlich auch vor dem Hintergrund einer – auch durch Globalisierungsprozesse beförderten – stärkeren Orientierung an menschenrechtlichen, weltgesellschaftlichen und kosmopolitischen Bezügen, so dass man nicht allein für die Verluste der eigenen, nationalen Bezugsgruppe, sondern auch für diejenigen anderer Gesellschaften sensibel wird. In der Folge wird der Krieg in den westlichen demokratischen politischen Systemen und in den jeweiligen Gesellschaften zusehends undenk14  Göckenjan, 15  Luttwak,

S. 9. S. 115. Vgl. auch Feldmann.



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bar, die Gesellschaften werden postheroisch und erfahren eine „Erosion patriotischer Opfer- und Leidensbereitschaft“ mit weitreichenden Folgen.16 Die Gegner des Westens wiederum sehen in der Postheroisierung ihre Chance und ihren militärischen Vorteil. So äußerte sich 1999 Osama bin Laden in einem Interview mit dem arabischen Fernsehsender Al Dschasira zum Einsatz und zum Fiasko der amerikanischen Soldaten in Somalia wie folgt: „Den Berichten, die wir von unseren Brüdern erhielten, die am Dschihad in Somalia teilgenommen haben, konnten wir entnehmen, dass sie die Schwäche, Zerbrechlichkeit und Feigheit amerikanischer Soldaten gesehen haben. Es wurden nur achtzehn amerikanische Soldaten getötet. Dennoch flohen sie entmutigt ins Herz der Dunkelheit […].“ Und ein Taliban-Kämpfer brachte dies im Oktober 2001 auf die Formel „Die Amerikaner lieben Coca-Cola, wir aber lieben den Tod.“17 Und auch auf amerikanischer Seite schlägt sich dies in der Sorge um die damit verbundenen „broad implications for U.S. strategy, forces and doctrine, and for the U.S. ability to deter and coerce adversaries“ nieder.18 Befürchtet werden nicht nur negative Konsequenzen für die militärische Einsatzbereitschaft und die militärische Effektivität von Streitkräften. Befürchtet wird auch, dass Opfer, ‚casualties‘, negative Auswirkungen auf die ‚Moral‘ der Gesellschaft und auf die Unterstützung für die jeweiligen militärischen Operationen in der Bevölkerung haben19, sie Kosten-Nutzen-Kalküle beim Für oder Wider einer militärischen Option verschieben und die politischen Entscheidungsspielräume verkleinern. In den Gedankenwelten beider Seiten äußert sich demnach so etwas wie „die Vorstellung einer konfrontativen Auseinandersetzung des Heroischen mit dem Postheroischen, bei der am Schluss die größere Opfer- und Leidensbereitschaft den Sieg davontragen werde.“20 Im Folgenden werden wir nun die Postheroismus-Annahme mit Blick auf den deutschen Fall untersuchen. Zuvor bedarf das zugrundegelegte Analysemodell einer kurzen Erläuterung: Diesem systemtheoretisch inspirierten 16  Münkler 2006, S. 310. Neben der Verwendung des Begriffes postheroisch finden sich in der Literatur auch Wendungen wie „warless society“ (Mosko) oder „post-military society“ (Shaw). 17  Beides zit. n. Münkler 2006, S. 311. 18  Larson, S. 1. 19  Auf amerikanischer Seite stehen hierfür Vietnam und Somalia als Menetekel. 20  Um postheroischen Dilemmata wie diesen zu entgehen, ist zum einen eine Intensivierung der Revolution in Military Affairs mit einem Trend zu hochtechnologischer Kriegsführung zu beobachten, die eine Verringerung der Anzahl der „boots on the ground“ impliziert (vgl. Mandel; Schörnig), und zum anderen ein vermehrter Rückgriff auf private Sicherheits- und Militärunternehmen (vgl. Jäger / Kümmel).

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Analysemodell21 liegt letzten Endes die Annahme zugrunde, dass die Antwort auf die Frage nach der Kriegsmüdigkeit der deutschen Gesellschaft die Berücksichtigung von mehreren verschiedenen Analyseebenen erfordert. So reicht es nach unserem Verständnis nicht aus, den Blick lediglich auf die deutsche Gesellschaft zu richten; täte man dies, würde man versuchen, die Frage sozusagen im mehr oder minder luftleeren Raum zu beantworten. Stattdessen müssen bei der Beantwortung unserer Forschungsfrage die Entwicklungen in den Bereichen Gesellschaft, Politik und Militär sowie in der internationalen Politik bzw. im internationalen Konfliktgeschehen mitbedacht werden. Erst diese Kontextualisierungen lassen eine adäquate Beantwortung unserer Frage erwarten. Zunächst ist eine Betrachtung der globalen Ebene der internationalen Beziehungen und des internationalen Konfliktgeschehens bzw. der, wie es im Folgenden weiter heißen wird, Weltrisikogesellschaft notwendig. Denn es sind die Entwicklung und die konkrete Ausgestaltung der internationalen Beziehungen, die darüber befinden, ob und, wenn ja, wie sich konkrete Sachlagen und Probleme zu Konflikten, vielleicht auch zu Krisen und Kriegen, entwickeln, wie sie ausgetragen werden und welche sicherheitspolitischen Anforderungen sich daraus für jeden einzelnen Akteur in den internationalen Beziehungen ergeben. Zudem verlangt unsere Suche die Beschäftigung mit der politischen Sphäre, weil sich Regierung im engeren Sinne bzw. Politik im weiteren Sinne einerseits und die militärische Organisation andererseits in einem Quasi-Vertragsverhältnis befinden. Es ist die Politik, die Regierung, die das internationale Konfliktgeschehen in der Weltrisikogesellschaft auswertet und den Streitkräften aufgrund dieser Interpretation bestimmte Aufgaben zuweist, ihnen konkrete militärische Einsatzaufträge erteilt und entsprechende finanzielle Mittel und andere Ressourcen bereitstellt. Die Streitkräfte wiederum passen sich in ihrer Organisationsstruktur, in ihren Abläufen, in ihrer Ausbildung, in ihren Taktiken und Strategien diesen Vorgaben an. Die drei genannten Bereiche unterliegen damit mal mehr, mal weniger nachhaltigen und tiefgreifenden Veränderungen über die Zeit hinweg. Diese werden dann im Bereich der Gesellschaft beobachtet, wahrgenommen und interpretiert, woraus sich jeweils die Einstellungen der Gesellschaft zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik, zu den Streitkräften und zu den militärischen Einsätzen ergeben. Dabei ist wichtig zu betonen, dass die Gesellschaft selbst soziostrukturellen, soziokulturellen und demographischen Veränderungen unterliegt, die wiederum in die Politik und in das Militär hinein zurückwirken. Somit ergibt sich insgesamt das folgende, relativ krude Analysemodell:

21  Vgl.

Edmonds.

Tod, wo ist dein Stachel?

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Politik

Gesellschaft

Streitkräfte

Weltrisikogesellschaft

Quelle: Eigene Darstellung

Abbildung 1: Das Analysemodell

III. Ist die deutsche Gesellschaft postheroisch und kriegsmüde? 1. Prä- und gleichzeitig post-westfälische Weltrisikogesellschaft Im 19. Jahrhundert können wir erstmals von einem wahrhaft globalen internationalen System sprechen. Treibende Kraft in der Herbeiführung dieses Ergebnisses sind ungemein dynamische Prozesse, die im Begriff der Mondialisierung zusammengefasst werden können und die im Verlauf des 20. Jahrhunderts, wenn auch mit Brüchen, an Dynamik gewonnen haben. Mondialisierung umfasst dabei drei verschiedene, doch letzten Endes durchaus aufeinander bezogene Prozesse: Globalisierung, Transnationalisierung und Internationalisierung. Globalisierung wird hier auf Entwicklungen bezogen, die die Raum-Zeit-Ebene und hier vorrangig verschiedene Bereiche der Verkehrs- und Kommunikationstechnologie betreffen.22 Transnationalisierung wiederum meint eine Entwicklung, in der die internationalen 22 Globalisierung wird hier demnach in einem engeren Sinne verstanden als dies in der Diskussion gemeinhin üblich ist.

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Beziehungen aus ihrer Phase der überwältigenden Prägung durch zwischenstaatliche Beziehungen herauswachsen und in eine Phase übergehen, in der eine Vielzahl von nicht-staatlichen, transnationalen Akteuren unterschiedlichster Couleur grenzüberschreitend handeln und mit anderen staatlichen wie nicht-staatlichen Akteuren Interaktionsbeziehungen eingehen. Transnationalisierung bezieht sich also auf den Prozess der Veränderung der Akteurskonstellationen in den internationalen Beziehungen. Unter Internationalisierung wird schließlich ein Prozess verstanden, in dem die Kosten internationaler Transaktionen reduziert werden, indem staatliche Akteure Steuerungspotentiale auf überstaatlicher Ebene zu gewinnen versuchen und sich in unterschiedlich weit formalisierte Global GovernanceStrukturen einbinden lassen. Die Mondialisierung führt zu einer Verdichtung von Interaktionsbeziehungen, die sich etwa in der Rede von der kleiner werdenden Welt und dem Begriff der Welt als Dorf niederschlägt. Diese Verdichtung von Interaktionsbeziehungen, diese Interdependenz kann für die Akteure mit Kooperationsvorteilen oder Interdependenz-Gewinnen verbunden sein; sie verursacht aber auch Interdependenz-Kosten. Die Einbindung in Interdependenz-Beziehungen macht die Akteure nicht nur stärker, sondern zugleich auch verletzlicher und empfindlicher gegenüber Störungen dieser Beziehungsgeflechte und der Interaktionen in ihnen. Deshalb stehen die Akteure immer wieder vor der Frage, ob, wie lange und inwieweit sie sich auf die verschiedenen Mondialisierungsprozesse einlassen sollen. Da diese Frage nicht zu allen Zeiten und unter allen Umständen gleich beantwortet werden kann, lassen sich neben Prozessen der Integration in den internationalen Beziehungen auch solche der Desintegration beobachten: Akteure entziehen sich Interdependenzen, wenn diese aus ihrer Sicht mit untragbaren Kosten verbunden sind.23 Die Ausbildung von Interdependenzen wird von durchaus berechtigten friedensstrategischen Erwartungen und Hoffnungen begleitet. Allerdings ist sie nicht automatisch gleichbedeutend mit einer Harmonisierung der Beziehungen, einer Auflösung von Konfliktlinien und einer Verfriedlichung; vielmehr wird die Verdichtung von Interaktionsbeziehungen, wird Interdependenz selbst zur Quelle von Konflikten, weil die Interdependenz-Empfindlichkeit und die Interdependenz-Verwundbarkeit der Akteure unterschiedlich sind, Kosten und Nutzen der Interdependenz asymmetrisch verteilt sind und mit der Zunahme von Kontakten und der Intensivierung von Beziehungen die Wahrscheinlichkeit von Konflikten steigt. Diese Konflikte sind in der Regel lediglich Koordinationskonflikte, doch sie können zuwei23  Vgl.

Bredow et al. 2000.



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len grundsätzlicher, also die Kooperation in Frage stellender Art sein und bis zu organisierter kollektiver Gewalt eskalieren. Unter dem Vorzeichen der Mondialisierung besitzen die ‚Brandherde‘ dieser Welt, wiewohl sie mitunter geographisch weit weg zu sein scheinen, ein Spill-over-Potential, das auch die Wohlstands- und Friedensinseln dieser Erde zu erfassen droht. Die dunkle Seite der Mondialisierung besteht also darin, dass effektive Schutzwälle zwischen den Konflikt-Regionen und dem Rest der Welt nicht zu errichten sind. Die Gesellschaften dieser Welt leben in einer „Welt­ risikogesellschaft“24; sie sind im Zuge der Mondialisierung gegenüber einer ganzen Reihe von Bedrohungen sogar verwundbarer geworden, wie sich an den sicherheitspolitischen Implikationen ganz unterschiedlich gelagerter Problembereiche, so etwa der Energie- und Umweltpolitik, des transnationalen Terrorismus und des Zerbröselns von Staatlichkeit (‚failing‘ bzw. ‚failed states‘) ablesen lässt.25 Gleichzeitig ist aber die Welt in normativer Hinsicht stärker zusammengerückt. Davon zeugen eine durchaus vorhandene internationale Öffentlichkeit, Solidarität und Sorge um den Anderen. Davon zeugen ferner der globale Menschenrechtsdiskurs und kosmopolitische Orientierungen zahlreicher Menschen und der Umstand, dass die internationale Gemeinschaft ernsthaft über menschliche Sicherheit26 und eine Responsibility to Protect (R2P)27 nachdenkt. Sie hat dafür sukzessive Fähigkeiten entwickelt, den Worten Taten folgen zu lassen. Darunter sind solche militärischer Natur im Sinne humanitärer Interventionen, die weniger von nationalen Interessen und stärker von kosmopolitischen Referenzen bestimmt werden. Folge davon ist, dass militärische Einsätze in der Gegenwart anders aussehen als früher. Die Parameter für militärische Einsätze in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts legte noch der Ost-West-Konflikt fest, der im Kern ein Konflikt unterschiedlicher Menschen- und Gesellschaftsbilder war. Militärpolitisch-strategisch beruhte er auf der wechselseitigen nuklearen Abschreckung. Sie sollte verhindern, dass es zwischen Ost und West zu einem zwar erwartbar eher konventionell beginnenden, dann jedoch sehr schnell eskalierenden großen und totalen Atomkrieg mit desaströsen Folgen für das Weiterleben der Menschheit kommt. Obwohl es durchaus Bestrebungen auf beiden Seiten gab, Strategien und Instrumente zu ersinnen, um aus einem nuklearen Krieg als Überlebender und als Gewinner hervorzugehen, blieben Moskau und Washington in antagonistischer Kooperation verschlun24  Beck. Spreen, S. 226, spricht in diesem Kontext vom „Weltnomos der Zivilgesellschaft“. 25  Kümmel 2005. 26  Vgl. Ulbert / Werthes. 27  ICISS.

200

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gen und vor allem daran interessiert, einen Konflikt der beiden Supermächte und damit den Tod der eigenen Soldaten wie auch der eigenen Bevölkerung zu vermeiden. Der Krieg wurde somit im Wesentlichen in den Kategorien eines zu vermeidenden Atomkrieges gedacht, so dass die Soldaten der Streitkräfte der einzelnen Länder auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs von ihrem Selbstverständnis her immer weniger einen tatsächlichen realen militärisch-kriegerischen Einsatz antizipierten. Diese Haltung sickerte in die jeweiligen Bündnisstrukturen ebenso ein wie in die jeweiligen Gesellschaften, so dass die Ära des Postheroismus auch zusammen mit dem Atomzeitalter gedacht wird.28 Denn die waffentechnologische Entwicklung dieser Zeit wirkte letzten Endes entmutigend auf das Heroisch-Sein bzw. Heroisch-Werden. Die Dominanz von Massenvernichtungswaffen und insbesondere der Nuklearwaffen in den Militärstrategien der entscheidenden Akteure des Ost-West-Konflikts in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die durch die Konzepte der massive retaliation und anschließend der flexible response umschrieben sind, lässt für heroische Opferbereitschaft von Soldaten wenig Raum. Denn die projektierte rasche Eskalation hin zum Einsatz von Nuklearwaffen und damit hin zu dem, was bisweilen der nukleare Holocaust genannt wird, impliziert den schnellen Tod für Kombattanten wie Nicht-Kombattanten auf beiden Seiten, so dass es letzten Endes nichts bzw. niemanden zu retten gibt. Die Kriege, die in dieser Zeit geführt wurden, fanden vorrangig in den Gebieten der sogenannten Dritten Welt statt, also in Afrika, Asien und Lateinamerika. Allerdings sollte der Krieg in den Westen und in den Osten wieder zurückkehren und den OECD-Frieden stören. Denn unter dem Eindruck des Verpuffens des Ost-West-Konflikts, ausgelöst durch eine kollabierende Sowjetunion, entfiel eine wichtige, im bipolaren Verhältnis zwischen Moskau und Washington ruhende Stabilisierungs-, Zähmungs- und Disziplinierungsfunktion für den Gang der Weltläufte, so dass alte Konflikte wieder aufbrachen, neue entstanden und zu gewaltsam-kriegerischen Auseinandersetzungen führten, zu denen mit dem 11. September 2001 und der Herausforderung eines transnationalen Terrorismus eine weitere Facette trat. Die mondialisierte Welt stellt sich somit durchaus widersprüchlich dar. Mit Blick auf die Referenzen an den Kosmopolitismus ist sie sozusagen post-westfälisch, weil über das System der Nationalstaaten hinaus weisend, aufgestellt. Andererseits hält sie jedoch noch genügend Unwägbarkeiten und Turbulenzen bereit, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, dem internationalen System der Gegenwart das Attribut prä-westfälisch zuzuschreiben. Wir leben demnach in einer Weltrisikogesellschaft, die durch die Ambiva28  Keegan.



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lenz von Prä-Westfalia und klassischer, meist dem Nullsummenprinzip folgender Sicherheitsvorsorge einerseits und Post-Westfalia und kosmopolitischer, mit dem Positivsummenprinzip operierender Solidarität mit dem Anders-Sein, mit Alterität gekennzeichnet ist.29 Damit sind die aktuellen und perspektivisch erwartbaren sicherheitspolitischen Herausforderungen hinlänglich konturiert. Aus dieser Ambivalenz der prä- / post-westfälischen Weltrisikogesellschaft müssen die Akteure der internationalen Beziehungen nun je für sich das Anforderungs- und Fähigkeitsprofil ausbuchstabieren und stricken, dem ihre Sicherheitspolitik gerecht werden soll. In jedem Fall aber verlangt diese Ambivalenz nach einer Ausweitung des militärischen Funktions- und Rollen-Sets: Verteidigung, Abschreckung und auch Angriff, die drei klassisch-traditionalen Aufgaben des Militärs im 20. Jahrhundert, sind auch heute noch gültig, aber sie sind nicht länger die exklusiven und wichtigsten Elemente des militärischen Aufgabenprofils. Dieses Funktionsund Rollen-Set des Militärs hat sich deutlich diversifiziert und umfasst nun die vielfältigen Aufgaben internationaler Krisen- und Konfliktbearbeitung wie Peacekeeping, Peaceenforcement, Peace- / Nationbuilding, internationale Katastrophen- und Nothilfe und humanitäre Interventionen.30 2. Ambitionierte Politik Eine der berühmtesten Reden Martin Luther Kings, gehalten im August 1963 vor etwa einer Viertelmillion Menschen anlässlich einer Protestveranstaltung am Lincoln Memorial in Washington, D.C., trägt den Titel ‚I Have a Dream‘. Ein Traum, ein schöner Traum, wäre es, wenn die Welt und die Menschen, die in ihr leben, ohne Streitkräfte, kämpfende Gruppierungen und kriegerisch-gewaltsam ausgetragene Konflikte auskommen könnte. Um wie viel produktiver ließen sich beispielsweise die allein im Jahr 2008 ausgegebenen 1.464.000.000.000 USD31 einsetzen, wenn man sie eben nicht in den militärischen Sektor, sondern in die Entwicklungshilfe, den Sozialstaat, das Gesundheitswesen oder die Bildung stecken würde. Dass wir von solchem Traum weit entfernt sind, ist offenkundig, und einer der Gründe dafür ist, dass Gemeinwesen Interessen haben und versuchen, diese mit, aber auch gegenüber ihrer Umwelt durchzusetzen. Interessen müssen nicht, aber sie können konfligieren. Der Widerstreit von Interessen, der soziale Konflikt bzw. der „Streit“ im Sinne Georg Simmels ist mithin ein Wesens29  Das Nullsummenprinzip meint, dass Gewinne einer Seite automatisch Verluste der anderen Seite bedeuten. Das Positivsummenprinzip hingegen meint, dass beide Seiten gewinnen können (Win-Win-Situation). 30  Vgl. Dandeker 1998; Dandeker 1999; Franke; Kümmel 2003. 31  SIPRI, Appendix 5A.

202

Gerhard Kümmel

merkmal von Gesellschaft, womit zugleich der politische Charakter von Gesellschaft benannt ist.32 Der Politikbegriff, der dabei an dieser Stelle verwendet wird, ist ein dezisionistischer, wie er von einem zwar nicht ganz unumstrittenen und durchaus kritikwürdigen, in dieser Frage aber einen basalen Grundtatbestand menschlicher Vergemeinschaftung formulierenden politischen Theoretiker vertreten wird. Es handelt sich um Carl Schmitt und dessen oftmals als atavistisch-archaisch empfundene, gleichwohl aber eben treffliche Unterscheidung von Freund und Feind. Danach können sich Situationen ergeben und entwickeln, in denen Menschen und Gesellschaften dazu kommen bzw. sich dazu entscheiden, den Gegenüber als feindlich wahrzunehmen.33 Eine solche Feindschaft kann in unterschiedlichen Formen ausgetragen werden. In extremo jedoch kann sie eben auch handgreifliche und gewaltsame Formen annehmen. Für diesen Fall versuchen Gesellschaften mit der Schaffung und Bereitstellung von Gewaltmitteln und Gewaltinstrumenten Vorsorge zu treffen. Die Aufstellung von Streitkräften folgt diesem Impetus, und Deutschland konnte und wollte sich diesem ebenfalls nicht entziehen, so dass die deutsche Politik auch seit Ende des Zweiten Weltkrieges eine militärische Komponente aufweist. Die deutsche Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Militärpolitik zeichnet sich insgesamt durch ein recht hohes Maß an Konstanz und Kontinuität aus, die von der Gründung der Bundesrepublik Deutschland bis hin zum wiedervereinigten Deutschland reicht. Sie versucht, angemessen auf die Mondialisierung in all ihren prä- und post-westfälischen Facetten zu reagieren und weist eine hohe globale Orientierung auf. Deutschland versteht sich dabei als Mittelmacht, die vor allem auf dem Weg der Einbindung in die EU über eine produktive Gestaltungskraft, eine Ordnungs- und Definitionsmacht verfügt, die geeignet ist, hinlänglich verlässliche, erwartungssichere und stabile internationale Beziehungen herzustellen. Gleichzeitig ist unübersehbar, dass Deutschland im Vergleich zur Zeit des Ost-West-Konflikts seine nationalen Interessen selbstbewusster vertritt, souveräner und ambi­ tionierter auftritt.34 Das zentrale derzeit gültige sicherheitspolitische Dokument, das Weißbuch, folgt einem erweiterten Sicherheitsbegriff, der im Zeitalter der Mon­ dialisierung eine ganze Reihe nicht-militärischer Sicherheitsbedrohungen identifiziert. So heißt es in diesem Grundlagendokument: „Viele mit der Globalisierung einhergehenden neuen Risiken und sicherheitspolitischen Heraus32  Greven.

33  Schmitt. 34  Vgl.

Bredow 2007; Guje; Jäger et al.; Böckenförde / Gareis.



Tod, wo ist dein Stachel?203

forderungen haben grenzüberschreitenden Charakter, werden von nichtstaatlichen Akteuren verursacht und beeinträchtigen unsere Sicherheit auch über große Entfernungen hinweg. Armut, Unterentwicklung, Bildungsdefizite, Ressourcenknappheit, Naturkatastrophen, Umweltzerstörung, Krank­ heiten, Ungleichheiten und Menschenrechtsverletzungen bilden neben anderen Faktoren den Nährboden für illegale Migration und säkularen wie religiösen Extremismus. Sie können damit zu Ursachen für Instabilität und in ihrer radikalsten Form Wegbereiter des internationalen Terrorismus werden.“35 Entsprechend muss die Bundesrepublik Deutschland dem Weißbuch zufolge eine global orientierte Sicherheitspolitik verfolgen, die verschiedene Instrumente einsetzt und sehr stark den Gedanken der Prävention akzentuiert.36 So besteht der Auftrag für die Bundeswehr darin, „die außenpolitische Handlungsfähigkeit zu sichern, einen Beitrag zur Stabilität im europäischen und globalen Rahmen zu leisten, die nationale Sicherheit und Verteidigung zu gewährleisten, zur Verteidigung der Verbündeten beizutragen, die multinationale Zusammenarbeit und Integration zu fördern.“37 Der Auftrag der Sicherung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit Deutschlands wird in dieser Auflistung durchaus nicht zufällig an erster Stelle genannt; hier spiegelt sich semantisch der Wandel von einer Landes- und Bündnisverteidigungsarmee zu einer Armee im Einsatz.38 Diese Entwicklung hin zur Interventions- bzw. Einsatz­ armee ist politisch eindeutig und mit großer Mehrheit über Regierung und Opposition hinweg gewollt. Die deutsche Politik hat also diese Forderung der prä- / post-westfälischen Weltrisikogesellschaft nach Funktionsausweitung des Militärs übernommen und stellt sich – multilateral wie auch multinational – im europäischen Verbund und in der westlichen Allianz aktiv den weltordnungspolitischen Gestaltungsaufgaben einer Mittelmacht und den damit zusammenhängenden Erfordernissen an die Streitkräfte. Die deutsche Politik hat dies aber noch nicht in letzter Konsequenz durchdacht, so dass Verhaltensunsicherheiten bleiben.39 Die Bundeswehr wird stärker als früher unter funktionalistischen Gesichtspunkten betrachtet. Die Militärbedürftigkeit des Politischen ist offensichtlich, wie man mit Klaus Naumann40 quasi unter umgekehrten Vorzeichen formulieren könnte.

35  BMVg,

S. 23. S. 29. 37  Ebd., S. 13. 38  Biehl. 39  Vgl. hierzu auch Chauvistré. 40  Naumann 2008a. 36  Ebd.,

204

Gerhard Kümmel

3. Militär unter Stress Zwar waren große Teile der deutschen Bevölkerung nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges gründlich desillusioniert, was Krieg und Militär anbelangt, doch der sich entwickelnde Ost-West-Konflikt entfaltete rasch eine eigene Dynamik, der sich weder das Deutschland im Osten noch das Deutschland im Westen verweigern konnten und wollten; sowohl die Bundesrepublik Deutschland wie die Deutsche Demokratische Republik stellten Mitte der 1950er Jahre wieder Streitkräfte auf, die in die jeweiligen Bündnisstrukturen eingebunden waren und bedeutsame Kontingente konventioneller Kräfte stellten. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, das weltweit eine deutliche Reduzierung der militärischen Personalstärken nach sich zog, blieb die Bundeswehr eine im internationalen Vergleich bedeutsame Armee trotz der beachtlichen Absenkung der Zahl der Soldaten von rund 432.000 im Jahre 199041 auf knapp 254.000 im Januar 2010. Dies zeigt sich in den finanziellen Aufwendungen für die Streitkräfte, denn mit Verteidigungsausgaben in Höhe von 46,8 Mrd. USD (2008) liegt Deutschland im internationalen Vergleich auf dem sechsten Rang nach den USA, China, Frankreich, Großbritannien und Russland.42 Diese Ausgaben wiederum schlagen sich in militärischem Potential nieder. Die Ausrüstung der Bundeswehr bei ihren See-, Land- und Luftstreitkräften ist quantitativ nicht unbeträchtlich, qualitativ hochwertig, technologisch weit fortgeschritten, wird immer wieder modernisiert und auf einem hohen Niveau gehalten. Deutschland braucht den internationalen Vergleich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht zu scheuen. Dem Online-Informationsdienst „GlobalFirePower.com“ zufolge, der sich – zugegebenermaßen mit einigen Schwächen – an den Versuch eines Rankings der Länder anhand ihrer „GlobalFirePower“ gewagt hat, liegt Deutschland nach den USA, China, Russland, Indien, Großbritannien und Frankreich auf dem siebten Platz und damit noch vor Ländern wie etwa Brasilien, Japan, Türkei und Israel.43 Auf dem internationalen Markt für Rüstungsgüter spielt Deutschland eine prominente Rolle. Gingen im Zeitraum von 1999 bis 2003 7 Prozent der weltweiten Rüstungsexporte auf das deutsche Konto, womit Deutschland Rang Vier der Lieferländer von Rüstungsgütern belegte, waren es im Zeitraum von 2004 bis 2008 nicht weniger als 10 Prozent. Hinter den USA (31 Prozent) und Russland (25 Prozent) 41  Etwas seit Ende der 1960er Jahre lag die Anzahl der Soldaten in der Bundeswehr mit leichten Schwankungen bei rund 495.000. Im Zuge der Wiedervereinigung stieg die Zahl der Soldaten sogar kurzzeitig, wenn auch nur nominell auf über 520.000. 42  SIPRI, Appendix 5A. 43  GlobalFirePower.com.



Tod, wo ist dein Stachel?205

liegt Deutschland damit auf Platz Drei der Rüstungsexporteure, noch vor Frankreich (8 Prozent) und Großbritannien (4 Prozent).44 Die militärischen Einsätze der Bundeswehr in der jüngeren Vergangenheit belegen, dass Deutschland international eine Militärmacht ist45, befinden sich doch derzeit nicht weniger als 7.115 deutsche Soldaten in den verschiedenen Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Daran lässt sich ablesen, dass Deutschland ein auch militärisch agierender Akteur ist, der der weltrisikogesellschaftlich induzierten Diversifizierung der Aufgaben und Funktionen des Militärs Rechnung zu tragen gewillt ist. Somalia, Bosnien, Kosovo, Afghanistan und Irak markieren die wichtigsten Beispiele solcher Einsätze und illustrieren die unterschiedlichen militärischen Rollen im Spektrum von Peacekeeping- und Deeskalationseinsätzen über Peace-enforcement und Verteidigung bis hin zu faktischem Angriff.46 Diese Erweiterung militärischer Missionen verlangt dem Militär und seinen Angehörigen ein erheblich breiteres Kompetenz-Set ab. Der Soldat im Auslandseinsatz – der „miles protector“47 – benötigt multifunktionale Fähigkeiten, die ein monofunktionales, allein auf den Kampf hin ausgerichtetes Kompetenz-Set übersteigen. Hier wäre an diplomatische oder „scholar-states-man“-Qualitäten48 zu denken ebenso wie an die Kompetenzelemente, die einen Konstabler oder auch Streetworker auszeichnen.49 Ohne solche Kompetenzelemente können internationale Stabilisierungsoperationen nicht adäquat und erfolgreich durchgeführt werden. Aus diesem Grunde ist die Kämpfer-Fähigkeit heute eine notwendige, aber keine hinreichende Kompetenz. Dem Anspruch moderner Streitkräfte hinsichtlich ihres militärischen und soldatischen Anforderungsprofils nach muss der Soldat heute hybrid und multifunktional sein. Er ist – für beiderlei Geschlecht – sowohl Kämpfer und Krieger wie Gendarm, Polizist, Konstabler, Diplomat, Entwicklungshelfer, Mediator, Wiederaufbauhelfer und bewaffneter Sozialarbeiter. Als Experten in Sachen Gewaltanwendung, die die Soldaten und Soldatinnen bleiben müssen, müssen sie zugleich politisch gebildet sein und über kulturelle und soziale Empathie, Kommunikationsfähigkeit, interkulturelle Kompetenz und diplomatische Fähigkeiten verfügen. Neben einer Säule des soldatischen Selbstverständnisses, die sich auf Patriotismus und nationale Verpflichtung stützt, ist eine zweite Säule auszubilden, die auf einer Art 44  GKKE,

S.  23 f. 2007. 46  Kümmel 2003. 47  Däniker. 48  Moskos, S. 15. 49  Bredow 2006; Haltiner / Kümmel. 45  Kümmel

206

Gerhard Kümmel

humanitären Kosmopolitismus und der Orientierung an Menschenwürde und Menschenrechten beruht und nationalen Interessen nicht widerspricht, sondern sie übersteigt. Teamfähigkeit, kritische Loyalität, Reflexions- und Urteilsfähigkeit hinsichtlich des eigenen Handelns und der eigenen Verantwortung und ein Bewusstsein für eine Rückbindung der Streitkräfte an demokratische Legitimation und für eine hinreichende Einbindung der Armee in gesamtgesellschaftliche Bezüge gehören ebenso zu einer modernen soldatischen Identität wie ein Globalisierungsprozesse reflektierendes Verständnis von Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.50 Die deutschen Streitkräfte akzeptieren dabei den Primat des Politischen, und sie betreiben aktiv die Erweiterung des militärischen Funktionen- und Rollen-Sets, die sie nachdrücklich als kollektive Identität, als kollektives Selbstverständnis und als kollektives Berufsbild der militärischen Organisation propagieren. Zudem treiben sie den hierzu notwendigen Prozess der Transformation der Bundeswehr voran, denn um den sicherheits- und verteidigungspolitischen Herausforderungen der prä- / post-westfälischen Weltrisikogesellschaft adäquat begegnen zu können, musste die Bundeswehr des Ost-West-Konflikts grundlegend überholt werden. Eine bloße Reform schien da zu wenig zu sein. Deswegen verfiel man auf den Begriff der Transformation, die in den Rang des obersten Prinzips zur Weiterentwicklung der Organisation erhoben wurde.51 Unter Transformation versteht man dabei einen ständigen und umfassenden Prozess der Anpassung an aktuelle militärische Erfordernisse. Sein Ziel ist die dauerhafte Steigerung der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr ist. Sie gilt den Organisationsstrukturen, der technischen Ausstattung, der Ausbildung und den operativ-strategischen Einsatzkonzepten richtet. Sie darf dabei den Menschen, das soldatische Subjekt, nicht aus den Augen verliert, sondern soll ihm bzw. ihr Orientierung und Halt geben. Der Transformationsprozess orientiert sich dabei an den Einsätzen, die am ehesten zu erwarten sind, an Multinationalität, einem streitkräftegemeinsamen, d. h. einem teilstreitkraftübergreifenden Ansatz und an einer vernetzten Operationsführung von den drei Kräftekategorien der Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräfte.52 Sowohl die strukturelle Transformation bei laufendem Betrieb als auch die zunehmende Intensität und Gefährlichkeit der Auslandseinsätze machen aus der Bundeswehr jedoch eine Organisation unter massivem Stress. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die Bundeswehr sozusagen am Limit bewegt, sowohl was die Ausrüstung und das Material anbelangt als auch was das Mentale, den Übergang von der eher regional begrenzt agieren50  Kümmel

2003. Vgl. auch die Beiträge in Jaberg et al. hierzu auch die Beiträge in Helmig / Schörnig. 52  BMVg, S. 95 ff., vgl. auch Hoffmann. 51  Vgl.



Tod, wo ist dein Stachel?207

den Verteidigungsarmee des Kalten Krieges zu einer notfalls global ausgreifenden Einsatzarmee betrifft. Dies kann durchaus dazu angetan sein, die Fehler- und Irrtumsrate in der Bundeswehr zu erhöhen, sowohl was die Bundeswehr insgesamt als militärische Organisation anbelangt als auch was die individuellen soldatischen Subjekte in der Bundeswehr und im Einsatz betrifft.53 4. Ambivalente Gesellschaft Die Bundeswehr genießt bei der Masse der Bevölkerung ein kontinuierlich hohes Ansehen, wie den Bevölkerungsumfragen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr (SOWI) zu entnehmen ist. Danach haben in der vergangenen Dekade mit leichten Schwankungen durchgängig etwa vier Fünftel der deutschen Bevölkerung eine positive Einstellung zur Bundeswehr (siehe Abbildung 2). 90 86 84

86

82

85 82

80

80

80

86

80

82

76 70

60 1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2005

2006

2007

2008

2009

Quelle: Bulmahn, S. 24. Frageformulierung: „Wie ist Ihre persönliche Einstellung zur Bundeswehr?“ (Anteile „Sehr positiv“, „Positiv“ und „Eher positiv“ zusammengefasst; Angaben in Prozent)

Abbildung 2: Einstellung der deutschen Bevölkerung zur Bundeswehr 1997–2009

Doch nicht nur das. Die deutsche Gesellschaft ist auch bereit, erhebliche Summen für den Gewaltapparat Bundeswehr aufzuwenden. Eine relative 53  Vgl.

hierzu auch Blasberg / Willeke.

208

Gerhard Kümmel

Mehrheit der deutschen Bevölkerung jeweils glaubt, dass die Verteidigungsausgaben so bleiben sollten wie sie sind (siehe Abbildung 3). 100 %

11

90 % 80 %

40

31

24

27

70 %

25

16

20

18

48

53

32

29

33

2005

2006

2007

18

22

45

60 %

51

50 % 40 %

20

56

53

54

49

51

56

55

48

30 % 44

20 % 10 %

12

15

1997

1998

20

20

1999

2000

29

26

2002

2003

26

23

2008

2009

0%

Ausgaben verringern

2001

Ausgaben sollen gleich bleiben

Ausgaben erhöhen

Quelle: Bulmahn, S. 45. Frageformulierung: „Was meinen Sie: Sollten die Ausgaben für die Verteidigung in Zukunft erhöhwerden, sollten diese verringert werden oder sollten sie gleich bleiben? (Angaben in Prozent)

Abbildung 3: Die Verteidigungsausgaben im Urteil der deutschen Bevölkerung 1997–2009

In den Augen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung wird die Bundeswehr also gebraucht, und man ist mehrheitlich bereit, dafür beträchtliche Mittel zur Verfügung zu stellen. Die Frage ist jedoch, wie und wofür die deutschen Streitkräfte gebraucht werden. In einer ersten Annäherung kann man zunächst ganz allgemein danach fragen, wie sich Deutschland in der internationalen Politik verhalten sollte. Dabei zeigt sich, dass in den letzten Jahren zumeist eine relative Mehrheit der deutschen Bevölkerung den Wunsch hatte, sich eher auf die Bewältigung der eigenen Probleme zu konzentrieren und sich aus Problemen, Krisen und Konflikten anderer möglichst herauszuhalten (siehe Abbildung 4). Dieses Bild wird allerdings nicht unerheblich relativiert, wenn man in einer zweiten Annäherung konkret danach fragt, welche Aufgaben zum Aufgabenspektrum der Bundeswehr gehören sollten. Hierbei zeigt sich, dass mit zunehmendem Gewalt-Charakter einer Maßnahme die Zustimmung in der deutschen Gesellschaft sinkt. Der Einsatz deutscher Soldaten im Aus-



Tod, wo ist dein Stachel?209

120 100

1

1

54

57

80

1

1

2

1

45

45

46

45

1

17

50

60

4

5

53

52

43

43

2005

2006

6

43

8

8

49

47

43

45

2008

2009

51

40 20

54

45

54

42

52

54

49 32

51

0

1996

1997

1998

1999

2000

Weiß nicht / keine Antwort

2001

2002

2003

2007

Auf eigene Probleme konzentrieren

Eher eine aktive Politik verfolgen Quelle: Bulmahn, S. 14. Frageformulierung: „Was meinen Sie: Wie sollte sich Deutschland in der internationalen Politik am ehesten verhalten? Sollte Deutschland (1) eher eine aktive Politik verfolgen und bei der Bewältigung von Problemen, Krisen und Konflikten mithelfen oder (2) sich eher auf die Bewältigung der eigenen Probleme konzentrieren und sich aus Problemen, Krisen und Konflikten anderer möglichst heraushalten?“ (Angaben in Prozent).

Abbildung 4: Das Verhalten Deutschlands in der internationalen Politik 1996–2009

landseinsatz zur Hilfe bei Naturkatastrophen wird gegen Jahresende 2009 von 77 Prozent der Deutschen unterstützt, die Verhinderung der Prolifera­ tion von Massenvernichtungswaffen indes nur von 45 Prozent und die Beteiligung am Kampf gegen den internationalen Terrorismus nur von 43 Prozent.54 Allerdings halten sich die spezifischen Kenntnisse über die verschiedenen Auslandseinsätze der Bundeswehr in Grenzen,55 so dass ein größeres persönliches Interesse und Engagement eher weniger zu finden ist. Interessant sind in diesem Kontext auch die vorliegenden international vergleichenden Daten zu den Einstellungen der jeweiligen Bevölkerungen zu ihren jeweils nationalen Streitkräften, wie sie in der Bevölkerungsbefragung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr aus dem Jahr 2006 enthalten sind. Im Vergleich zu Frankreich, Großbritannien und den USA offenbaren sich für Deutschland über verschiedene Items hinweg bemerkenswerte Nuancierungen, wie Tabelle 1 zu entnehmen ist: 54  Bulmahn,

S. 30. ebd., S. 33 f. Einen weitergehenden „relativ geringen sicherheits- und verteidigungspolitischen Kenntnisstand“ konstatieren Fiebig / Pietsch, S. 37. 55  Vgl.

210

Gerhard Kümmel Tabelle 1 Einstellungen zu den nationalen Streitkräften im Vier-Länder-Vergleich Deutschland, Frankreich, Großbritannien und USA im Jahre 2006 Deutschland

Frankreich

Großbritannien

USA

Es ist ganz selbstverständlich, dass [Nation] wie andere Länder auch eigene Streitkräfte hat.

66

69

80

90

Die [nationalen] Streitkräfte sind ein ganz normaler Bestandteil der Gesellschaft.

58

62

66

82

Die [nationalen] Streitkräfte sind ein Fremdkörper in der [nationalen] Gesellschaft.

 7

12

10

12

Ich empfinde für die [nationalen] Streitkräfte ein Gefühl der Dank­ barkeit.

30

52

64

87

In Anbetracht ihrer Leistungen im In- und Ausland kann man auf die [nationalen] Streitkräfte stolz sein.

42

53

66

87

Ich empfinde für die [nationalen] Streitkräfte ein Gefühl der Abneigung.

 9

 6

10

15

Die [nationalen] Streitkräfte haben sich bei ihren Einsätzen im In- und Ausland als sehr nützlich erwiesen.

47

52

68

82

Die [nationalen] Streitkräfte werden nach wie vor gebraucht, um die Sicherheit [Nation] zu gewährleisten.

56

71

74

85

Die [nationalen] Streitkräfte haben in der heutigen Zeit keine richtigen Aufgaben mehr und sind eigentlich überflüssig.

15

10

 6

 6

Alles in allem vertrete ich eine positive Haltung zu den [nationalen] Streitkräften.

55

65

71

87

Quelle: Jonas, S. 169. Frageformulierung: „Was halten Sie persönlich von den [nationalen] Streitkräften? Stimmen Sie den folgenden Aussagen zu oder lehnen Sie diese ab?“ (Anpassung der Nationen für das jeweilige Land der Befragung; [Nation] = Deutschland, Frankreich, Großbritannien, USA. Die Daten fassen die Werte für „Stimme vollkommen zu“ und „Stimme überwiegend zu“ zusammen; Angaben in Prozent)



Tod, wo ist dein Stachel?211

Die Ergebnisse dieser Vier-Länder-Befragung belegen, dass das Verhältnis der deutschen Bevölkerung zu den deutschen Streitkräften insgesamt ein etwas gebrocheneres, man könnte auch sagen: weniger selbstverständlich ist.56 Als Erklärung hierfür wird gemeinhin auf die deutsche Geschichte verwiesen. So schreibt Manfred Hettling: „Die deutsche Konstellation unterscheidet sich […] von der in anderen demokratischen Partnerstaaten: Erstens hat die politische Distanzierung von der nationalistischen und nationalsozialistischen Vergangenheit dazu geführt, dass militärisches Handeln in der Bundesrepublik grundsätzlich unter moralischen Vorbehalt gestellt wird. […] Zweitens haben die demokratischen Partnerstaaten der Bundesrepublik seit 1945 […] Erfahrungen mit militärischen Einsätzen im Ausland gemacht.“57 IV. Resümee Insgesamt deuten die empirischen Befunde darauf hin, dass die deutsche Gesellschaft den Prozessen der Globalisierung hinreichend Rechnung trägt und prinzipiell anerkennt, dass in solchen Zeiten die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik eines Landes wie Deutschland eine globale Ausrichtung haben muss, dabei den Streitkräften eine wichtige Rolle zufällt und Deutschland infolgedessen Militärmacht sein muss. Die Realität der tatsächlichen Einsätze moderner westlicher Streitkräfte hat unübersehbar Sozialisationsund Lernprozesse entlang des oben skizzierten hybriden, multifunktionalen Anforderungsprofils der Streitkräfte angestoßen. Des Weiteren finden wir auf einer allgemeinen Ebene eine überwältigende Zustimmung zur Institu­ tion Bundeswehr. Man schenkt ihr Vertrauen; ist der Ansicht, dass man sie benötigt; man ist gewillt, sie zumindest mit ausreichenden Ressourcen auszustatten und akzeptiert die weltordnungspolitische Verantwortung Deutschlands und die militärische Seite, die mit ihr verbunden ist. Dabei aber, als Individuum, einen aktiven eigenen Part zu übernehmen, liegt zumeist jedoch jenseits der eigenen Vorstellungswelt. Zusammen genommen rechtfertigt dies die Rede von einer ambivalenten, kontingenten Position der deutschen Bevölkerung zu ihren Streitkräften und deren Einsätzen. Denn bei genauerem Hinsehen finden wir soziokulturellen Veränderungen geschuldete Distanzierungsprozesse, die sich darin niederschlagen, dass bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr die Zustimmung der Gesellschaft in der Regel in dem Maße sinkt, wie der Einsatz gefährlicher wird. hierzu auch Jacobs. S. 17. Naumann 2008b, S. 163, spricht hier von „der postheroisch imprägnierten Nachkriegsgeschichte“ Deutschlands. Nicht zu vernachlässigen ist aber auch die generelle Kriegsverdrängung in der hiesigen Sozialtheorie, wie sie etwa Joas / Knöbl skizziert haben. 56  Vgl.

57  Hettling,

212

Gerhard Kümmel

Der Afghanistan-Einsatz ist das beste Beispiel: Während sich im September 2009 in einer Telefonumfrage von Infratest-Dimap / ARD noch 57 Prozent der deutschen Bevölkerung generell für eine Abzug der deutschen Truppen aus Afghanistan aussprechen, so waren dies im Dezember 2009 bereits 69 Prozent. Und zu Jahresbeginn 2010 verlangen 32 Prozent der deutschen Bevölkerung einen sofortigen Abzug, weitere 24 Prozent einen Abzug bis Ende 2011 und 14 Prozent einen Abzug im Jahr 2015. Doch auch in anderen Ländern lassen sich ähnliche Distanzierungsprozesse beobachten; auch in anderen Ländern existiert beispielsweise eine unübersehbare Skepsis gegenüber der militärischen Operation in Afghanistan, wenngleich diese nicht ganz so prägnant ist wie hierzulande. So missbilligen im Dezember 2009 nicht weniger als 56 Prozent der Briten die Afghanistan-Mission; in Kanada tun selbiges im Februar 2010 49 Prozent, in den Vereinigten Staaten im Dezember 2009 42 Prozent und in den Niederlanden im Januar 2010 45 Prozent. Bemerkenswert ist ferner, dass in den eben genannten Umfragen nicht weniger als ein Viertel der Deutschen – sozusagen allen Postheroismus zum Trotze – dafür plädiert, so lange in Afghanistan zu bleiben, wie es notwendig ist.58 Der Postheroismus bzw. der postheroische Charakter, so lassen sich unsere Ausführungen vielleicht zusammenfassen, ist demnach kein spezifisch deutsches Phänomen, sondern ein transgesellschaftliches, das in unterschiedlichen Ausprägungen in sämtlichen modernen Gesellschaften anzutreffen ist. Hier sprechen zwar einige Indizien dafür, dass das Postheroische im deutschen Falle durchaus etwas schärfer akzentuiert ist als anderswo, doch zu (bündnis-)politischen Konsequenzen hat es, wie gezeigt, in den Niederlanden geführt, wobei man allerdings wiederum die Srebrenica-Erfahrung der Niederländer berücksichtigen muss. Der Postheroismus kann somit auch als ein Ausdruck von demokratischer Reife einer Gesellschaft gewertet werden, zeugt er doch davon, dass die Begründungs- und Legitimationsanforderungen für militärische Einsätze beträchtlich zugenommen haben. Sie sind weit höher bei einem Gebrauch der Streitkräfte im Rahmen einer „Verknüpfung mit universalethischen Imperativen“ als bei deren Gebrauch zum Zwecke von „nationalen Partikularinteressen“.59 Und dies wiederum deutet auf die Richtigkeit des Befundes von James Burk hin, wonach es bei militärischen Einsätzen heute entscheidend ist, deren Sinn plausibel und deutlich zu machen.60 Das Postheroische wird somit zu einem kontingenten Phänomen, auch im Falle Deutschlands. 58  Zahlenangaben nach Angus Reid Public Opinion. Online unter http:  /  / www. angus-reid.com / polls. 59  Münkler 2008, S. 26. 60  Burk.



Tod, wo ist dein Stachel?213

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Das Gewaltdilemma moderner Streitkräfte Von Maja Apelt I. Einleitung „Andrea: Unglücklich das Land, das keine Helden hat. Galilei: Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“ B. Brecht: Leben des Galilei.

Wenn Soldaten in Kriegen oder bewaffneten Konflikten kämpfen, bedrohen sie das Leben und die Gesundheit anderer Menschen und nehmen zugleich die Gefährdung der eigenen Gesundheit und des eigenen Lebens bewusst in Kauf. Sie übertreten damit mehrfach die Normen der modernen industrialisierten Gesellschaft. Als Mitglieder der Institutionen des Gewaltmonopols sind sie zwar – unter ganz bestimmten Bedingungen – zu dieser Übertretung legitimiert, d. h. ihr Handeln kann im rechtlichen und politischen Sinne legal sein. Was sie tun, gilt in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit trotzdem als problematisch. Welche Folgen sich aus diesem Dilemma ergeben, soll hier anhand militärischer Organisationen und ihre Mitglieder untersucht werden. Dies be­ inhaltet drei Schritte: Erstens soll das in diesem Gewaltdilemma steckende Problem der Legitimation militärischen Handelns genauer verhandelt werden. Dieses wird in den Sozialwissenschaften gegenwärtig in zwei gegensätzliche Fassungen diskutiert. In der einen u. a. von Luhmann ausgearbeiteten Variante geht es um die problematische Legitimation des Einsatzes von Gewalt, also der Täterschaft von Soldaten. In einer anderen, vor allem von Münkler geprägten Version, geht es darum, dass die modernen Gesellschaften opferscheu1 geworden sind, es fehlt also die Legitimation dafür, dass Soldaten selbst Opfer von militärischen Einsätzen werden. Obwohl beide Perspektiven aus völlig unterschiedlichen Kontexten heraus erwachsen, sind sie für die Diskussion des Gewaltdilemmas militärischer Organisationen gleichermaßen wichtig.

1  Den

Terminus „opferscheu“ habe ich von Kümmel übernommen.

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Maja Apelt

Im zweiten Schritt geht es darum, welche Strukturen militärische Organisationen ausbilden, um die gesellschaftlichen Normen der Gewaltlosigkeit und des Rechts auf körperliche Unversehrtheit zumindest teilweise außer Kraft zu setzen. Das Problem besteht zum ersten dabei darin, dass diese Normen ausschließlich in der Ausnahmesituation der kriegerischen Einsätze übertreten werden dürfen und müssen, aber im militärischen Alltag als auch außerhalb der Organisation weiter unbedingte Geltung besitzen. Das Problem besteht weiterhin darin, dass in den sog. „neuen Kriegen“ die Grenzen zwischen kriegerischen und anderen Einsätzen – z. B. Peacekeeping – verschwimmen, dass es also immer schwieriger wird, zu entscheiden, wann diese Normen gelten und wann nicht, und die Entscheidung darüber mehr und mehr vom einzelnen Soldaten gefällt werden muss. Daran anschließend kann in einem dritten Schritt anhand einer explorativen empirischen Untersuchung gezeigt werden, wie sich dieses Gewalt­ dilemma in den Identitätskonstruktionen von Einsatz erfahrenen Soldaten widerspiegelt und welche Paradoxien daraus erwachsen. Es wird gezeigt, dass sich die Soldaten vorwiegend als Opfer thematisieren, die „Täterschaft“ wird weitgehend ausgeblendet. In den Fällen, in denen sie die Täterschaft thematisieren, müssen sie dies gesondert legitimieren. Dabei greifen sie auf ein Element zurück, dass ihnen von der Organisation als Kernstück der Militärkultur bereitgestellt wird: die Kameradschaft. Problematisch daran ist, dass dabei eine Ziel-Mittel-Verdrehung erfolgt. Die Soldaten kämpfen dann für ihre Kameraden, die eigentlichen Ziele der militärischen Einsätze treten dabei in den Hintergrund, da diese keine genügende Legitimation bieten. II. Das Legitimationsproblem von Streitkräften Für die besondere Legitimationsproblematik von Streitkräften gibt es zwei gegensätzliche Konzepte: eine politikwissenschaftliche Version von Herfried Münkler und eine soziologische von Niklas Luhmann. Beiden Konzepten gemein ist, dass sie von einer tendenziellen Zivilisierung der Gesellschaften ausgehen, Zivilisierung meint hier, dass den Gesellschaften der Einsatz von Waffen und Gewalt tendenziell fremd wird.2 Während aber in dem Konzept von Münkler die fehlende Bereitschaft, im Krieg Opfer zu bringen, im Mittelpunkt steht, fokussiert Luhmanns Argumentation die Schwierigkeit, den Einsatz von Gewaltmitteln zu rechtfertigen. Darüber hinaus unterscheiden sich die Ansätze auch in ihren Antworten auf die Fragen nach den Ursachen und den Lösungen des Legitimationsproblems. 2  Vgl.

für die soziologischen Diskurse Spreen.



Das Gewaltdilemma moderner Streitkräfte221

Münklers Ausgangspunkt ist die Kennzeichnung der modernen Gesellschaft als „postheroische“, die gegen Opfer allergisch sei und die Bereitschaft von Soldaten, das eigene Leben zu riskieren, nicht mehr ausreichend honorieren könne.3 Zentrale Ursache dafür sei letztlich die Urbanisierung und der daraus folgende demographische Wandel. Mit sinkender Geburtenrate steigt das emotionale Kapital eines Kindes, zugleich sinkt die Bereitschaft, einen oder sogar zwei Söhne für einen Krieg zu opfern. Weil sie opferscheu, d. h. kaum bereit seien, Opfer in der eigenen Bevölkerung in Kauf zu nehmen, hält Münkler sie gegenüber heroischen, „heißen“ Gesellschaften, in denen Kinder und Jugendliche das Gros der Bevölkerung ausmachen, für unterlegen. Wenn postheroische Gesellschaften also ein Legitimationsproblem eigener Opfer haben, dann gibt es dafür – so Münkler – verschiedene Lösungsmöglichkeiten. Zum einen kann man durch waffentechnische Überlegenheit, Luftkriege oder Outsourcing gefährlicher Aufträge das Risiko eigener Opfer minimieren. Oder aber man begegnet der Opferscheu durch Heroisierung der Gesellschaft bzw. durch Bildung heroischer Gemeinschaften innerhalb postheroischer Gesellschaften. Mittels Kriegerdenkmäler, Tapferkeitsmedaillen, heroischer Kriegsfilme, öffentlicher Vereidigungen soll der Tausch von Opfern gegen Ehre für beide Seiten – also Gesellschaft und Soldaten – attraktiv gemacht werden, dem Handeln der Soldaten würde so Legitimation verschafft. Problematisch an Münklers Thesen ist zwar, dass er den Geburtenüberschuss als zentrale Ursache kriegerischer Konflikte überbewertet und dabei insbesondere die industrielle Entwicklung als intervenierende Variable außer Acht lässt4, auch fokussiert er sich zu stark auf die Opferscheu westlicher Gesellschaften und übersieht damit die Ambivalenz gegenüber der „Täterschaft“. Trotzdem sind hier zwei Aussagen wichtig. Zum ersten die, dass sich in opferscheuen Gesellschaften durch spezielle Legitimationsstrategien heroische Gemeinschaften bilden lassen. Militärische Rituale dienen eben der Heroisierung der eigenen Soldaten und damit der Legitimation von bewaffneten Konflikten. Zum zweiten arbeitet Münkler den Zusammenhang von militärischen Strategien, Kriegsszenarien und Gesellschaftsstruktur heraus. Die Asymmetrie der neuen Kriege ist also nicht nur ein Ergebnis ihrer Entstaatlichung und der zunehmenden Beteiligung von paramilitärischen Gruppen, sie erwächst auch aus den Interessen der modernen Gesellschaft und der Delegitimierung eigener Opfer in diesen bewaffneten Konflikten. 3  Münkler, 4  Dazu

S.  310 ff. ausführlich Kröhnert und Urdal 2004; 2005; 2006.

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Wenn also mit jedem im Einsatz getöteten deutschen Soldaten die Frage nach dem Rückzug deutscher Streitkräfte aus Afghanistan virulent wird, so belegt das anschaulich die Thesen Münklers. Und wenn der Bundesverteidigungsminister 10 Jahre nach Beginn des Afghanistaneinsatzes die deutsche Gesellschaft auf mehr Opfer unter den eigenen Soldaten vorbereitet5, so ist dies zwar auch ein Zeichen einer neuen offensiveren Strategie im Rahmen des ISAF-Mandats, die darauf gerichtet ist, mehr Präsenz zu zeigen und gemeinsam mit einheimischen Verbänden gegen die Taliban vorzugehen. Zugleich weist die Ankündigung auf den nicht unbedingt selbstverständlichen Tatbestand hin, dass die Sicherheit der eigenen Soldaten lange Zeit oberste Priorität für das militärische Handeln in diesem Einsatz hatte. Mit Münkler wird weiterhin plausibel, dass die Änderung der Afghanistanstrategie nicht zufällig mit der Schaffung eines Denkmals für die gefallenen Soldaten und die Wiederbelebung öffentlicher Vereidigungen u. ä. m. zusammenfällt. Die öffentliche Diskussion zum Afghanistaneinsatz ist aber nicht in allen Teilen mit Münklers Thesen vereinbar. Denn die Kritik an dem Einsatz wurde besonders massiv, wenn die Soldaten den Tod unbeteiligter ziviler Opfer unter der einheimischen Bevölkerung verantworten müssen, bei Ereignissen also, in denen die eigenen Soldaten nicht Opfer sondern Täter sind.6 Dieser empirische Befund lässt sich eher mit Luhmann als mit Münkler erklären. Luhmanns Ausgangspunkt ist, dass die Etablierung des staatlichen Gewaltmonopols und die Entstehung der zivilen Gesellschaft eng miteinander verwoben sind. Die Gesellschaft konnte sich letztlich nur zivilisieren, weil sie die Gewalt aufgrund der Monopolisierung der Gewalt in den Händen des Staates ausschließen konnte. Staatliche Gewalt wird also eingesetzt und angedroht, um andere Gewalt zu verhindern oder im Nachgang zu bestrafen.7 Dadurch kann Gewalt in der Gesellschaft als abweichend behandelt, delegitimiert und normativ ausgeschlossen werden. Zugleich entstehen aber auch Folgeprobleme: Zum Einen unterscheiden sich staatliche und „andere“ Gewalt nur durch die Legitimation. Die Wirkungen, die die Prügel mit dem Stock oder der Schuss aus der Waffe haben, sind unabhängig davon, wer sie einsetzt. Das Legitimieren der staatlichen Gewalt wird damit zum Dauergeschäft der Politik.8 Legitimiert wird staatliche Gewalt erstens durch das Ziel, Gewalt, die die Zivilität der Gesellschaft bedroht, zu verhindern, und zweitens durch die strenge Ein5  Zeit

online vom 24.04.2010 (zuletzt 26.02.2011). Diskussion war nicht auf Deutschland beschränkt. In Spanien oder Großbritannien finden sich ähnliche Dispute. 7  Vgl. Reemtsma 2008, S. 256 ff. 8  Luhmann, S. 349. 6  Diese



Das Gewaltdilemma moderner Streitkräfte223

haltung von Regeln und Verfahren zur Unterscheidung von legitimer und illegitimer Gewalt.9 Während also Münkler die These vertritt, dass Kriegen und bewaffneten Konflikten in postheroischen Gesellschaften die Legitimation entzogen wird, weil Soldaten dadurch Opfer von Gewalt und Tod werden könnten, lässt sich mit Luhmann die These aufstellen, dass es problematisch wird, wenn die Täterschaft von Soldaten bewusst wird. Der Opferscheu lässt sich durch militärische Strategien begegnen, in denen der Schutz der eigenen Soldaten oberste Priorität hat oder mit speziellen Strategien der Heroisierung von Kriegsopfern. Der Legitimationsproblematik einer Täterschaft lässt sich durch Legalisierung des militärischen Handelns begegnen, also durch die strikte Beachtung vorgegebener Regeln und Verfahren, wie sie z. B. in den „Rules of Engagement“ festgelegt werden und durch die juristische Bearbeitung von Zwischenfällen, bei denen zivile Opfer zu beklagen sind. In der Praxis stehen die Schlussfolgerungen, die aus der Opfer- und der Täterscheu zu ziehen sind, im Widerspruch zueinander: Die Heroisierung des militärischen Handelns durch Tapferkeitsmedaillen steht seiner „kühlen“ juristischen Bearbeitung semantisch diametral entgegen. Man kann einen Soldaten schwerlich gleichzeitig vor Gericht stellen und für seinen Mut und seine Tapferkeit ehren.10 III. Die Organisation der Gewaltproduktion Die besondere Qualität militärischer Organisationen besteht in der Fähigkeit Kriege zu führen oder bewaffnete Konflikte11 auszutragen. Im Unterschied zur Polizei geht es um die Fähigkeit zur Makrogewalt. Obwohl letztlich nur diese Fähigkeit die Existenz von Streitkräften legitimieren kann, stellt deren Abruf für die Organisation den Ausnahmefall dar.12 Der 9  Dies ist m. E. der Kern der Diskussion um den Fall Metzler, der zu einem Fall Daschner wurde. Vgl. Reemtsma 2005; Bielefeldt. 10  Ich danke Dierk Spreen für den Hinweis, dass dieses Paradox Gegenstand vieler erfolgreicher Hollywoodfilme ist. 11  In der Regel wird der Begriff des Krieges für größere bewaffnete Konflikte, an denen mindestens ein staatlicher Akteur beteiligt ist, reserviert, während der Begriff des bewaffneten Konflikts nicht dieser Einschränkung bedarf. Die Differenz dieser Begriffe ist allerdings für die hiesigen Überlegungen kaum von Bedeutung. Wichtiger ist, dass mit den neuen Einsätzen, unabhängig davon, wie diese bezeichnet werden, einige besondere Anforderungen einhergehen. 12  Ob dies in Zukunft auch noch gelten wird, oder die Out-of-Area-Einsätze zur Normalität werden, kann an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden.

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Normalfall besteht hingegen in der Ausbildung, Bereithaltung und symbolischen Darstellung der Fähigkeit zur organisierten Makrogewalt. Diese dient der Repräsentation staatlicher Macht, der Abschreckung potentieller Angreifer und der Befriedung von Krisenregionen außerhalb und – je nach politischer Verfassung und der Arbeitsteilung zwischen Polizei und Militär – auch innerhalb des eigenen Territoriums. Die Fähigkeit zum Einsatz von Makrogewalt bedeutet, dass die Mitglieder der Organisation bereit und fähig sein müssen, das Leben und die materiellen Grundlagen anderer Menschen zu zerstören und dafür auch das eigene Leben zu riskieren, dies aber ausschließlich im Ernstfall und im Rahmen der militärischen Organisation sowie den von dieser vorgegebenen Regeln.13 Daraus resultieren einige Besonderheiten der Organisation: (1) eine spezifische Art der Sozialisation ihrer Mitglieder, (2) Organisationsstrukturen, die durch eine besonders rigide Hierarchie und massive Formalisierung der Abläufe geprägt sind, sowie (3) eine starke Organisationskultur mit den zentralen Elementen Kameradschaft und militärischen Ritualen, Symbolen und Zeremonien. Zu (1): Ein erstes wesentliches Element zur Erzeugung der Fähigkeit und Bereitschaft zu kämpfen, ist die militärische Grundausbildung, die – jenseits verschiedener kultureller, technischer, politischer und sozialer Variablen, also der Definition der sicherheitspolitischen Lage, der Rekrutierungsbasis des Militärs, der militärischen Organisationskultur, sowie der politischen Kultur der Gesellschaft – bestimmte Gemeinsamkeiten aufweist: Die Rekruten werden, je nach organisationaler Verfassung, kurz- oder längerfristig von der zivilen Gesellschaft und dem Herkunftsmilieu isoliert und in der Regel in Kasernen eingeschlossen.14 Die internalisierten zivilen Rollenmuster und Identitätskonzepte werden durch Uniformierung, durch Einschränkung oder Verlust der persönlichen Habe und Privatsphäre, sowie durch ständige Einübung neuer Verhaltens- und Kommunikationsregeln verunsichert. Die Rekruten müssen sich einem System genauer Vorschriften, der genauen zeitlichen Strukturierung des Tages, der Konditionierung durch Befehl und Gehorsam und weit reichenden Verhaltenskontrollen und Sanktionsmodi unterordnen. Die sozialen Beziehungen sind durch Hierarchisierung und Platzierung der Soldaten auf Dienstränge und Funktionsstellen sowie deren Sichtbarmachung an der Uniform geprägt. 13  Kliche.

14  Heute dürfen Soldaten zumeist schon nach wenigen Tagen die Kaserne nach Dienstschluss verlassen, häufig aber befinden sich die Kasernen weit vom Heimatort oder anderen Städten entfernt, so dass es trotz Öffnung immer noch zur Isolation von der Gesellschaft kommen kann. Vergleichbares gilt bei Übungen oder im Auslandseinsatz.



Das Gewaltdilemma moderner Streitkräfte225

Durch Isolation, Abgrenzungsrituale nach außen, Loyalitätskodexe und sozialen Gruppendruck nach innen wird ein Wir-Gefühl aufgebaut. Die entstandene Solidarität in der Truppe soll bei der Rollenübernahme und Angstbewältigung helfen, die Belastungstoleranz erhöhen und die Defizite der hierarchischen Kommunikation auffangen. Durch Drill, Nahkampfübungen, Bildung von Mythen und dergleichen werden zivilisatorische Normen zumindest punktuell zerstört. Darüber hinaus soll der Drill absichern, dass die Soldaten in Extremsituationen auf fest internalisierte Handlungsschemata zurückgreifen können und so Handlungssicherheit auch in unübersichtlichen, unsicheren Situationen behalten und fähig sind, ihren Körper bewusst in Gefahr zu begeben. Im Militär werden Normen traditioneller Männlichkeit mit Eigenschaften wie Stärke, Streben nach Machtgewinn, emotionale Distanz, Externalisierung von Konflikten und Abwehr „weiblicher“ Eigenschaften wie Einfühlungsvermögen, kommunikative Verständigung u. ä. m. gestärkt.15 Wir haben es also hier mit einem Mechanismus der Disziplinierung zu tun, durch den die Soldaten die militärischen Normen internalisieren und frühere zivile Normen zumindest punktuell ausblenden sollen; im Ernstfall sollen sie, mit ihrem Körper und ihrem Leben als ganze Person in den Dienst der Organisation zu stellen. Neben der moralischen, ist es also eine ganz existentielle Anforderung, die die Soldaten erfüllen müssen. Zu (2): Die Ausübung von Makrogewalt erfordert eine „Kriegsmaschine“ mit zentralisierter Befehlskette, das Handeln des Einzelnen wird dem Gesamtorganismus untergeordnet. Die an den Uniformen sichtbaren Unterordnungsverhältnisse sollen die Hierarchie auch in Extremsituationen absichern; die individuelle Entscheidungskompetenz des einzelnen Soldaten soll weitgehend eingeschränkt werden. Über die starke Formalisierung wird die Einhaltung von Regeln kontrolliert. Dadurch kann zugleich die Legitimation im Luhmannschen Sinne unterstützt werden. Zu (3): Zu den sichtbaren Elementen der Militärkultur gehören Uniformen, Marschformationen, Zapfenstreiche, feierliche Gelöbnisse oder Beförderungsappelle. Sie sind häufig funktionalen Ursprungs: So diente der Trommelwirbel oder das Signalhorn zunächst der Kommunikation auf dem Kasernengelände und dem Gefechtsfeld, Uniformen dienen der Zuordnung zum jeweiligen Regiment und der Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten. Die funktionalen Gründe für diese Rituale sind häufig verschwunden, als Träger von Sinnstrukturen, Regeln und Normen sind sie aber umso bedeutungsvoller. Das individuelle Erleben von Schmerz, Ver15  Vgl. u. a. Kliche; Goffman; Foucault; Treiber und Janowitz / Little; auch Apelt 2004.

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wundung und Tod wird durch die Traditionen, Symbole und Rituale überformt und moralisch aufgeladen; dem zerstörerischen Handeln wird so ein Sinn gegeben. Zugleich dienen sie der Darstellung der Einheit und Solidarität innerhalb der Verbände. Nicht zuletzt formulieren die Streitkräfte mit öffentlichen Zeremonien, feierlichen Gelöbnissen, Militärparaden und Ehrendenkmälern ihren Anspruch auf eine besondere Ehrerbietung der Gesellschaft gegenüber dem ganz besonderen Dienst, den die Soldaten der Gesellschaft erweisen. Hier geht es also auch um den Legitimationsanspruch im Münklerschen Sinne. Ein anderes zentrales Element der militärischen Organisationskultur ist die Kameradschaft. Der Begriff der Kameradschaft geht auf die lateinische Bezeichnung des Zimmers oder der Stube als camera zurück. Im Französischen etablierte sich der Begriff des Kameraden oder Gefährten im 16. Jahrhundert. Im Deutschen wurde er zunächst zur Bezeichnung der militärischen Stubengemeinschaft genutzt und im Ersten Weltkrieg wurde er zum „Inbegriff der Geborgenheit, als warme Nische in der Kälte des technisierten Massenvernichtungskrieges“.16 Aus Organisationsperspektive erschien Kameradschaft zunächst als Nebenprodukt der gemeinschaftlichen Unterbringung in den Kasernen und der Notgemeinschaft in den Schützengräben. Sie war damit zunächst nichts anderes als eine nicht intendierte Folge intendierten Handelns.17 Zunehmend aber wurde sie zu einem intendierten Element der Militärkultur. Denn Kameradschaft besitzt besonders wertvolle Eigenschaften für das Militär. Zum ersten kann sie als besondere Form der Kollegialität die Schwächen und Defizite der rigiden Hierarchie und Formalordnung ausgleichen. Sie unterstützt die Kommunikation und Kooperation auch jenseits der hierarchischen Ordnung und formalen Aufgabenteilung. Die Fürsorge des Vorgesetzten für seine Untergebenen gilt dabei genauso als Kameradschaft, wie der gegenseitige Schutz Gleichrangiger gegenüber Vorgesetzten. Mit dem Verweis auf Kameradschaft lassen sich zudem Anforderungen stellen, die weit über das formal Erwartbare hinausgehen. So lässt sich die Erwartung, das eigene Leben zu riskieren, nur schwer formal einfordern, das implizite Gebot der Kameradschaft kann da weit wirkungsvoller sein. Zum zweiten lassen sich die extremen physischen und psychischen Belastungen durch die Unterstützung der Kameraden untereinander und die entstehende Geborgenheit besser ertragen und bewältigen. Zum dritten wird den Soldaten mit der Kameradschaft die Möglichkeit gegeben, ihrem Handeln einen Sinn bzw. eine Legitimation jenseits des Auftrages und der politischen Zwecksetzung zu geben: Wenn ich nicht weiß, warum ich (noch) kämpfe, dann kämpfe ich zumindest noch, um meine Kameraden nicht im 16  Kühne,

S. 509. S.  55 ff.

17  Giddens,



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Stich zu lassen. So zeigten Shils und Janowitz, die deutsche Kriegsgefangene interviewt haben, dass Kameradschaft der entscheidende Faktor für den Durchhaltewillen der Wehrmachtssoldaten trotz einer aussichtslosen Kriegslage war.18 Angesichts der kritischen Diskussion um die Befunde von Janowitz und Shils19 kann man ergänzen, dass zumindest den Kriegsgefangenen die Kameradschaft als Legitimationsfolie diente, um das eigene Handeln – ohne Rückgriff auf die Naziideologie – begründen zu können. Die im Militär entstandenen Disziplinierungsmechanismen, Organisationsstrukturen und -kulturen stehen nicht jenseits gesellschaftlicher Entwicklungen. So war die Begründung des modernen Militärs in Deutschland unlösbar mit der Schaffung des Nationalstaates und mit der Unterordnung der nach Macht und Eigenständigkeit strebenden Provinzfürsten unter die zentralisierte Herrschaft verbunden.20 Ähnlich steht es um die organisationskulturellen Besonderheiten des Militärs. Der Begriff der Kameradschaft ging um die Jahrhundertwende und im Vorfeld des Ersten Weltkrieges aus dem militärischen in den zivilen Sprachgebrauch über und diente dort der Bezeichnung männerbündischer Beziehungen in Gesangs- und Turnvereinen sowie in studentischen Verbindungen und Jugendbewegungen. Mit der Übernahme dieses Begriffs ging der Wunsch einher, militärische Tugenden wie Kraft und Heldenmut auf die zivile Gesellschaft zu übertragen und damit der Verunsicherung tradierter Männlichkeit entgegenzuwirken.21 Die Zeremonien, Rituale und Symbole sind in dieser Ausprägung in keiner anderen Organisation anzutreffen, trotzdem statten viele Organisationen ihre Mitglieder mit Uniformen aus, viele entwickeln zur Stärkung des inneren Zusammenhalts und zur Identifikation ihrer Mitglieder mit der Organisation Leitbilder, Rituale und besondere Symbole. Durch seine organisa­ tionskulturellen Mechanismen und Strukturen, die letztlich geschaffen wurden, um zu töten und den Tod zu ertragen, fällt das Militär nicht aus der Gesellschaft heraus. Im Gegenteil: Das Militär war lange Zeit prägend für andere gesellschaftliche Bereiche. Warum das so ist, dafür lassen sich zwei unterschiedliche Antworten finden. Die funktionalistische Antwort geht davon aus, dass sich die überlegenen Strukturen durchsetzen, und dies waren vor allem im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts durch Massenheer, Großunternehmen, Massenverwaltungen 18  Shils / Janowitz. 19  Siehe 20  Vgl.

dazu ausführlicher Biehl. dazu Warburg, S. 84–123, Bröckling, S. 31–56 und van Doorn, Apelt

2012. 21  Apelt / Dittmer.

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gekennzeichnete.22 Die institutionalistische Antwort wäre, dass sich in der (Welt-)Gesellschaft Normen durchsetzen, die in alle Bereiche hineinragen und dadurch bestimmen, was als modern, effizient, überlegen und richtig gilt.23 Das heißt, die Angleichung von militärischen und zivilen Organisa­ tionsstrukturen ist eine wichtige Legitimationsressource für das Militär.24 Nach dem Zweiten Weltkrieg vollzieht sich in vielen Streitkräften ein Wandel, der dadurch geprägt ist, dass die militärische Grundausbildung den Charakter der totalen Institution zumindest teilweise verliert, dass die Dauer der vollständigen Kasernierung sowie Drill und Schikane abgebaut werden. Die Soldaten erhalten mehr demokratische Rechte – in der Bundeswehr etwa wird der Soldat zum Staatsbürger in Uniform.25 Hierarchie, Befehl und Gehorsam verlieren zugunsten anderer Formen der Handlungskoordinierung wie Verständigung, Einfluss und Vertrauen an Bedeutung.26 Kameradschaft erhält in langen Friedensperioden tendenziell den Charakter „normaler“ Kollegialität. Auf öffentlich zelebrierte Gelöbnisse oder Militärparaden wird in vielen Ländern verzichtet. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Sie liegen einerseits in den funktionalen Erfordernissen, insbesondere der Technisierung und Akademisierung des militärischen Handelns, vor allem aber sind sie wesentlicher Teil des gesellschaftlichen und politischen Wandels. Einerseits können sich die Streitkräfte im Zuge der Demokratisierung immer weniger als demokratiefreie Zonen legitimieren, um gesellschaftliche Anerkennung zu bekommen, müssen sie sich zumindest teilweise an gesellschaftliche Tendenzen anpassen. Andererseits sorgt die Relativierung oder Aufhebung der Wehrpflicht dafür, dass unwillige junge Männer nicht mehr mit drakonischen Maßnahmen zur Unterordnung unter die militärische Struktur gezwungen werden müssen. Weitere Veränderungen vollzogen sich vor allem im Zuge sich verändernder Kriege und bewaffneten Konflikte, wobei sich diese Veränderungen bereits im Schoße der so genannten alten Kriege vollzogen haben. Die meisten Sozialwissenschaftler, die von den „neuen Kriegen“ sprechen, haben vor allem die Tendenzen der Entstaatlichung, der Privatisierung und teilweise der Brutalisierung im Blick. Im Zentrum der Betrachtung stehen die irregulären und paramilitärischen Truppen, die Warlords oder auch „Wochenend-Krieger“27, die sich an keine internationalen Konventionen 22  Weber,

S. 128. S.  17 ff. 24  Vgl. Apelt 2002. 25  Baudissin. 26  Janowitz, S. 7–17. 27  Wochenend-Krieger waren eher ein Phänomen in den Kriegen auf dem Balkan, wo Männer wochentags ihrer Arbeit nach gingen und sich an den Wochenenden 23  Meyer,



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halten, deren Handeln zum Teil durch besondere Grausamkeit gekennzeichnet ist und die den Krieg zum Geschäft machen.28 Die Beteiligung von regulären, nationalen und internationalen Akteuren – wie nationale und internationale Truppen oder internationale politische Organisationen –, von Nichtregierungsorganisationen und von den Medien gerät dabei häufig aus dem Blick. Mit der Verflüssigung der Grenzen zwischen Krieg und Frieden werden diese aber, auch wenn sie nur Nachkriegsprozesse begleiten, zu Akteuren des Krieges, d. h. sie verändern das Bild des Krieges mit. Der Wandel des Krieges führt somit nicht zurück ins Mittelalter, wie es van Creveld behauptet hat29, sondern impliziert neue Formen der Glokalisierung bewaffneter Konflikte.30 Für die regulären Streitkräfte bedeutet der Wandel des Krieges eine Verpolizeilichung ihrer Aufgaben. Diese ist nicht, wie von Karl Haltiner zunächst vermutet, auf die Peacekeeping-Prozesse beschränkt, sondern trifft genauso auf Kampfeinsätze zu.31 So meinte US-General David Petraeus, die beste Waffe im Krieg gegen „Aufständische“ im Irak wäre, nicht zu schießen. Wichtig sei es, die Bevölkerung für einen Regimewechsel zu gewinnen. Dies könne man vor allem erreichen, indem man die Zivilbevölkerung schützen, den Autoverkehr regeln, Schulgebäude aufbauen und Brunnen bohren würde.32 Dieser Begriff der Verpolizeilichung hat mehrere Implikationen: Zum ersten richtet sich militärisches Handeln nicht mehr vorrangig auf die Schädigung oder Vernichtung des Gegners, sondern eher auf die Herstellung und Wahrung öffentlicher Sicherheit. Der Einsatz der regulären Streitkräfte soll eher reaktiv an die jeweilige spezifische Situation angepasst und auf Deeskalation ausgerichtet werden. Präventive Einsätze der Makrogewalt verlieren massiv an Legitimation. Zweitens stehen den Streitkräften paramilitärische Truppen, Guerilla-Gruppen, Warlords oder anderer Akteure gegenüber, die nicht als Kombattanten, sondern letztlich als Kriminelle bewertet und behandelt werden. Diesen Akteuren ist gemein, dass sie von Zivilisten kaum zu unterscheiden sind. Dadurch sind auch Verbündete und Gegnern nur schwer voneinander abzugrenzen. Drittens stehen die Soldaten häufiger individuell und vor Ort vor der ungewissen Entscheidung, welche der Handlungsstrategien – also z. B. Kooperation oder Konfrontation, Angriff oder an den bewaffneten Konflikten beteiligten. Dieses Phänomen erfordert also letztlich so etwas wie ein Normalarbeitsverhältnis, macht aber andererseits die Entdifferenzierung zwischen Zivilisten und bewaffneten Kämpfern deutlich. Vgl. Sundhausen. 28  Matthies. 29  Creveld, S.  94 ff. 30  Robertson, S.  192 ff.; Trotha 2010. 31  Haltiner. 32  Fichtner.

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Stillhalten und Beobachten – richtig ist. Eine Orientierung des Handelns an vorgegebenen Regeln und Verfahren ist nicht mehr ohne weiteres möglich. Die Legitimation des militärischen Handelns durch angewendete Verfahren wird so zum Problem. Damit zeigt sich, dass die in den Streitkräften etablierten Strukturen unter Druck geraten, einerseits durch die sich individualisierende, pluralisierende und demokratisierende Gesellschaft, zum anderen durch die veränderten Kriege. Münkler wies darauf hin, dass beide Ursachen im Zusammenhang stehen. Die Legitimation militärischen Handelns wird damit noch komplizierter, das Gewaltdilemma spitzt sich zu. IV. Die Bewältigungsstrategien der Soldaten Wie aber gehen die Soldaten mit dieser paradoxen Situation der veränderten Einsätze um? Dies soll anhand einzelner Ausschnitte aus Interviews mit Einsatz erfahrenen Soldaten gezeigt werden. Die Interviews sind 2008 im Rahmen einer Lehrforschung an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg (Universität der Bundeswehr) entstanden. Dabei haben Studierende33, die selbst Soldaten sind, narrative berufsbiographische Interviews mit Soldaten geführt. Ergänzt wurden diese biographischen Interviews durch Fragen zu den Erfahrungen und Aufgaben in den Auslandseinsätzen und zum Verständnis des Soldatenberufs. Durch die Interviewführung sollten die Befragten zu Erzählungen angeregt und zugleich sichergestellt werden, dass sie selbst entscheiden, was und wie sie aus ihrem beruflichen Leben erzählen. Dadurch ist für die Auswertung wichtig, was die Interviewpartner erzählen, wie sie es erzählen, zum Teil aber auch, was sie nicht erzählen. Hintergrund ist die These, dass die Interviewten nicht einfach nur Informationen über sich und bestimmte Ereignisse geben, sondern dass sie sich im Interview selbst darstellen, mehr noch, dass das Interview Teil des Prozesses der Konstruktion der eigenen Identität ist. Was und wie die Soldaten erzählen, zeigt dann auch, wie sie sich selbst sehen und wie sie gesehen werden wollen. Hier kommt dann wieder die Legitimation ins Spiel. Das, was sie vor sich selbst nicht rechtfertigen können, werden sie, so die Prämisse für die Interviews, aus der eigenen Darstellung ausblenden. Die Interviews wurden mit Soldaten zweier militärischer Einheiten geführt, die in den Einsätzen mit unterschiedlichen Aufgaben betraut worden 33  Ich danke an dieser Stelle den Studierenden Tobias Herzog, Sven Grüneisen, Christian Mattern, Julia Brandenburg, Mario Müller, Laurence Greeb und Kai Sabrowski für die Durchführung und erste Auswertung der Interviews. Ohne ihr Engagement wäre dieser Aufsatz nicht möglich gewesen.



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sind. Eine Einheit kann im weiteren Sinne den Kampftruppen (K), die andere im weiteren Sinne der zivil-militärischen Zusammenarbeit (Z) zugeordnet werden. Mit dieser Auswahl sollte also eine Gruppe von Soldaten, die eher dem klassischen Bild des Soldaten entspricht, und eine zweite, die in ihrem Tätigkeitsspektrum eher den neuen Aufgaben angepasst ist, gegenüber gestellt werden. Die zweite Gruppe stammt dabei zumeist aus den Kampftruppen und wurde dort zuerst sozialisiert. Die Auswertung hat gezeigt, dass die Differenzen zwischen beiden Gruppen so gering sind, dass sie hier vernachlässigt werden können. Zur Gewährleistung der Anonymität wird auf genauere Bestimmungen der Einheiten verzichtet. Alle Befragten waren mindestens einmal, in der Regel zweimal in einem Auslandseinsatz, wobei sie vorwiegend an Missionen im Kosovo (KFOR) und Afghanistan (ISAF) beteiligt waren. Befragt wurden Ober- und Hauptfeldwebel sowie Hauptleute. Alle waren männlichen Geschlechts, geboren zwischen 1965 und 1979 und mehrheitlich verheiratet. Aufgrund der Anlage der Untersuchung und der kleinen Fallzahl – es wurden zehn Interviews, die zwischen 20 Minuten und anderthalb Stunden dauerten, geführt – besitzen die folgenden Ergebnisse explorativen Charakter, sollen mithin Anlass für weitere Forschungen geben. Im Folgenden geht es allein um die Frage, in welcher Weise die Interview­ partner Gewalt thematisieren. Entsprechend der obigen Darlegungen über die prinzipiellen Legitimationsgrundlagen militärischen Handelns wird unterschieden zwischen der Gewalt, von der die Soldaten als potentielle Opfer betroffen sind, und der, die sie selbst ausüben. Zudem muss noch erwähnt werden, dass die Auslandseinsätze für die Befragten inzwischen zum selbstverständlichen Teil Ihrer Berufstätigkeit gehören. Zunächst fällt auf, dass die Soldaten über die Risiken ihrer Einsätze, also z. B. über die Möglichkeit, Opfer von Anschlägen zu werden, sprechen, sie schweigen aber fast durchgängig über die Möglichkeit, selbst Gewalt einzusetzen. Dies gilt unabhängig davon, ob die Soldaten der Kampfeinheit oder der zivil-militärischen Zusammenarbeit angehören. Das heißt, dass der Einsatz von Gewalt in den Selbstbeschreibungen kaum eine Rolle spielt, weder bezogen auf die Einsatzerfahrungen noch bezogen auf die Beschreibungen des Berufes. Damit spiegeln die Soldaten einerseits ihre tatsächlichen Erfahrungen in den Einsätzen wider, in denen die wenigsten Soldaten bis dahin selbst Waffen eingesetzt haben. Zugleich scheint es aber, als ob die Soldaten damit die Spezifik des Berufes, das Management von Gewalt, tendenziell dethematisieren. Es soll gezeigt werden, wie die Soldaten über Gewalt sprechen. Zunächst geht es (1) um die eigene Betroffenheit durch Gewalt, danach darum, (2) wie sie die eigene Täterschaft reflektieren, falls sie es doch tun, und es soll

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(3) auf die besondere Bedeutung von Kameradschaft als zentralem Element der Organisationskultur und als einem Medium der Bewältigung von Gewalterfahrungen eingegangen werden. (1)  Die Betroffenheit von Gewalt wurde ungefähr in der Hälfte der Interviews thematisiert. Dabei sprachen die Soldaten nicht über eigene Ängste, sondern über die Sorge, die andere – ihre Ehefrauen oder Eltern – um sie haben, oder sie diskutierten die Verantwortung, die sie für ihre Kameraden und die ihnen unterstellten Soldaten tragen: „[…] ich habe oft mit meiner Familie telefoniert, fast allabendlich […] mit meiner Frau […] Sie wusste, wann ich draußen war und hab ihr dann immer gesagt, […] ich bin jetzt unterwegs […] und wenn ich wiederkomme, habe ich gesagt, ich ruf dann an […]“ (Hauptmann Z 8). Ein Hauptmann stellt in diesem Zusammenhang ein Gespräch mit der Ehefrau eines Untergebenen beim Abflug der Einheit in den Einsatz und ihrer Rückkehr dar: „Die Frau […] sagte zu mir bringen Sie mir meinen Mann wieder gesund zurück […] sie guckte mich todernst an […] das kann man nicht versprechen, natürlich bring ich Ihren Mann zurück, ich hab dann dargelegt, dass […] ich alles dafür tun werde […].“ Nach der Rückkehr aus dem Einsatz stand die Frau da „und hat gewartet und da hab ich dann zu ihr gesagt, hiermit übergebe ich Ihren Mann […] zurück, ab jetzt sind Sie wieder verantwortlich. Das hat mich innerlich doch begleitet. So dass ich glücklich und zufrieden war […]“ (Hauptmann Z 10). Ein anderer sagt: „ich habe schon als Zugführer immer wenn ich eine Patrouille draußen hatte, nachts wach gelegen und gewartet bis die Patrouille wieder drinne is […] und danach konnte ich ruhig schlafen […]“ (Hauptmann K 1). Den Soldaten gelingt es damit, sich als potentielle Opfer von Gewalt zu thematisieren, ohne dabei in eine handlungsunfähige Objektposition zu geraten. Sie sind zwar Betroffene von Gewalt, aber zugleich übernehmen sie für andere – die Familie oder Kameraden – Verantwortung. Sie bleiben somit Subjekte ihres Handelns. (2)  Die Ausübung von Gewalt wurde nur in zwei unserer Interviews thematisiert, wobei in beiden die Notwendigkeit der Legitimierung des Handelns als Subtext mitläuft. Auf die Frage nach einer besonders schwierigen Lebenssituation erzählt ein Soldat: Die schwierigste Situation „das war eigentlich so im Auslandseinsatz zu entscheiden, geb ich einen Warnschuss ab oder nicht, die Hemmschwelle wirklich den Sicherungshebel auf E zu stellen […] wirklich mit Gefechts-



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munition, was man vielleicht im Zentrum hier in Hammelburg […] mit Manövermunition geübt hat […] das war die größte Hürde, diese Hemmschwelle […] weil ich wollte es den Soldaten nicht zumuten und einfach einen befehlen, sondern da muss man halt selber durch […]“ (Oberfeld­ webel K 4). Der Soldat bringt den Warnschuss in Zusammenhang mit der Einsatzausbildung, die ja gerade dazu dient, solche Hemmungen – also mögliche Entscheidungsblockaden – zu verringern. Die Situation stellt für ihn trotzdem keine aus der Ausbildung erwachsene Routine dar, sondern ein besonders zu thematisierendes Problem. Der Soldat kommuniziert den Konflikt zwischen der zu erwerbenden beruflichen Kompetenz und den internalisierten gesellschaftlichen Normen. Diesen Konflikt löst er mit dem Verweis auf die Pflicht, die eigene Verantwortung nicht auf andere abzuwälzen. Diese Pflicht besteht nicht formal, sondern lediglich moralisch, sie ist ein Gebot der Kameradschaft. Die Kameradschaft dient hier also der Überwindung des Konflikts zwischen militärischen Anforderungen und zivilen Normen. Auch im nächsten Zitat wird ein Widerspruch zwischen militärischen und gesellschaftlichen Normen diskutiert. Dieses Interview nahm in der Untersuchung eine Sonderrolle ein: Zentrales Thema dieses Soldaten war die Überwindung einer Lebenskrise, die der Befragte mit dem problematischen Verhältnis von Gesellschaft und Militär begründet: „das Besondere am Soldatenberuf ist das Rauserziehen aus der Gesellschaft […] um die Gesellschaft zu schützen (muss man) mit diesen Werten brechen, die der Gesellschaft hoch und heilig sind, man soll nicht töten und wir bilden Menschen genau dafür aus, um die Gesellschaft zu schützen […] wir haben Menschen dazu erzogen die einen anderen Umgang mit Tod haben, dann haben sie diesen anderen Umgang auch in einem fernen Land […] dann will die Gesellschaft aber nicht, dass wir so mit Tod umgehen. Also das muss die Gesellschaft meiner Meinung nach auch verkraften und hier sieht man ganz oft dieses, diese Schere die weit auseinanderklafft […] wir haben nie selber geschossen […]“ (Hauptmann K 1). Der Soldat thematisiert nicht die Erfahrung, selbst Gewalt ausgeübt zu haben, aber er fordert von der Gesellschaft, diese Möglichkeit anzuerkennen. Er kritisiert, dass die Gesellschaft das Militär als Gewaltakteur diskursiv ausschließt. Dazu sucht er einen Gegendiskurs mit dem Ziel der gesellschaftlichen Anerkennung des Soldatenberufs zu etablieren. Indem er aber erwähnt, dass er selbst nie geschossen hat, zeigt er, dass ihm das nicht gelingt. Stattdessen muss er sich trotz seiner Forderung als jemand legitimieren, der selbst noch nicht geschossen hat. (3) Wir haben bereits gesehen, dass der Kameradschaft eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der Extrembelastungen im Militär zukommt und

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dass sie in gewissem Maße auch dazu dient, Widersprüche zwischen zivilen Normen und eigenem Handeln auszuhalten. Das folgende Zitat zeigt, dass die Kameradschaft und Fürsorge für einander von einem „bloßen“ Element militärischer Organisationskultur zum eigentlichen Zweck soldatischen Handelns werden kann. Das heißt, es vollzieht sich hier eine Zweck-MittelVerkehrung mit möglicherweise dysfunktionalen Folgen: „Heute sage ich, wenn ich darunter gehe bin ich mir selbst der Nächste, ich und meine Männer müssen alle heile zurückkommen und ich muss manchmal über die Not und das Elend, was die Leute da unten erfahren, […] hinwegschauen, ich kann da nicht bei jedem Einzelnen helfen oder sonst was, ja und ob der nun arm ist oder nicht arm ist, der kann genauso korrupt sein oder Selbstmordattentäter sein […] den dicksten Benz oder sonst was fahren, und da muss ich mir immer selbst der Nächste sein […]“ (Hauptfeldwebel K 3). Dieser Soldat geht davon aus, dass häufig unklar ist, ob den Soldaten im Einsatz Freunde oder Feinde gegenüber stehen, ob diese zu beschützen oder zu bekämpfen sind, ob man mit ihnen kooperieren kann oder ihre Verhaftung veranlassen muss. Wenn er davon spricht, dass er und seine Männer34 „heile“ zurückkommen müssten und er dabei über die Not und das Elend hinwegschauen müsse, so lässt sich das so interpretieren, dass die Kameradschaft, die zunächst vor allem ein Mittel zur Bewältigung der Einsatzbelastungen darstellt, zum Inhalt des Handelns wird. Da der Soldat nicht mehr genau weiß, wie und für wen er im Einsatz handeln kann, bleibt ihm als Handlungsorientierung die Fürsorge für seine ihm unterstellten Kameraden.35 V. Fazit Ausgangspunkt des Beitrages war die besondere Problematik der Legitimation militärischen Handelns. Die vorliegenden Interviewausschnitte zeigen, dass sich diese Problematik – die sich angesichts des gesellschaftlichen Wandels und der veränderten Einsätze noch zuspitzt – auch in den Identitätskonstruktionen der Soldaten widerspiegelt. Die von uns interviewten Soldaten sehen ein geringeres Problem darin, darzulegen, dass sie selbst gefährdet sind und Opfer der Gewalt anderer werden könnten. Zwar muss 34  Das „Ich“ in dem Zitat („… bin ich mir selbst der Nächste, ich und meine Männer müssen alle heile zurückkommen …“) ist als ein erweitertes Ich – der Vorgesetzte und die ihm Anvertrauten – zu deuten. Entgegen dem ersten Anschein steht es damit im Einklang und nicht im Gegensatz zur Kameradschaft. 35  Ähnlich auch Seiffert S. 287–294.



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dies in den Erzählungen eingebunden werden, aber dabei geht es vor allem darum, trotz der Position als potentielles Opfer, den Status als handlungsfähiges Subjekt nicht zu verlieren. Dass die Soldaten selbst die Waffe und damit Gewalt einsetzen, ist dagegen wesentlich schwerer darzustellen. Die Artikulation solcher Situationen muss von den Interviewten anders als andere Narrationen – direkt mit Legitimationsfiguren verbunden werden. Dieses Handeln wird dabei nicht durch Bezug auf die Zwecke und Aufgaben der Streitkräfte begründet. Bezug genommen wird stattdessen auf Kameradschaft. Kameradschaft dient damit der Motivation und der Legitimation soldatischen Handelns. Die Legitimation des Handelns wird damit unabhängig von seinem Zweck und die Streitkräfte quasi universell einsetzbar; ein Staatsbürger in Uniform wäre der Soldat indes nicht mehr. Literatur Apelt, Maja: Die Integration der Frauen in die Bundeswehr ist abgeschlossen, in: Soziale Welt, Heft 3, 2002, S. 325–344. – Militärische Sozialisation, in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.): Handbuch Militär und Sozialwissenschaft, Wiesbaden 2004, S. 26–39. – Militär, in: Maja Apelt, Veronika Tacke (Hg.): Handbuch Organisationstypen, Wiesbaden 2012, S. 133–148. Apelt, Maja / Dittmer, Cordula: „Under pressure“ – Militärische Männlichkeiten im Zeichen Neuer Kriege und veränderter Geschlechterverhältnisse, in: Mechthild Bereswill et al. (Hg.): Dimensionen der Kategorie Geschlecht: Der Fall Männlichkeit, Münster 2007, S. 68–83. Baudissin, Wolf Heinrich von: Soldat für den Frieden. Entwürfe für eine zeitgemäße Bundeswehr, München 1970. Biehl, Heiko: Kampfmoral und Kohäsion als Forschungsgegenstand, militärische Praxis und Organisationsideologie, in: Maja Apelt (Hg.): Forschungsthema: Militär. Militärische Organisationen im Spannungsfeld von Krieg, Gesellschaft und soldatischen Subjekten, Wiesbaden 2009, S. 139–162. Bielefeldt, Heiner: Die Absolutheit des Folterverbots. Über die Unabwägbarkeit der Menschenwürde, in: Volkmar Deile et al. (Hg.): Jahrbuch Menschenrechte 2006, Frankfurt am Main 2005, S. 49–58. Bröckling, Ulrich: Disziplin: Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion, München 1997. Burk, James: Expertise, Jurisdiction and Legitimacy of the Military Profession, in: Don M. Snider, Gayle L. Watkins (Hg.): The Future of the Army Profession, Boston 2002, S. 19–38. Crefeld, Martin van: Die Zukunft des Krieges, München 1998.

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Bombenkrieg und Zivilgesellschaft Der Wandel der Erinnerung an die alliierte Bombardierung Deutschlands im Zweiten Weltkrieg* 1

Von Volker Heins I. Weder Trauma noch Tabu Eine klassische These der politischen Kulturforschung besagt, dass sich die „traumatische Geschichte“1 Deutschlands in den Einstellungen und der Mentalität der Bevölkerung dieses Landes verfestigt hat. Ohne Zweifel war die politische Kultur der Nachkriegszeit in beiden Teilen Deutschlands von Anfang an aufs Engste mit der Dynamik der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg verwoben. Anders als im Osten wurde diese Dynamik im Westen von den Institutionen einer demokratischen Zivilgesellschaft getragen, die sich ähnlich wie der Staat im Osten in Opposition zu „Krieg“ überhaupt definierte. Wenn ich im vorliegenden Aufsatz von „Zivilgesellschaft“ spreche, so meine ich damit lediglich das Ensemble kommunikativer Institu­ tionen wie Nachrichtenmedien, Literatur und Bürgervereinigungen aller Art. Diese produzieren das moderne Äquivalent eines kollektiven Bewusstseins. Die Zivilgesellschaft ist das Relais eines gesellschaftsweiten Zirkulationsprozesses von Meinungen, Wissen, Bildern und Symbolen. Hier wird getestet und vorentschieden, was Bewunderung und Verachtung verdient, welche bisher marginalisierten Gruppen als inklusionswürdig zu betrachten sind und welche Geschehnisse es verdienen, als erinnerungswürdige Ereig*  Überarbeitete Fassung eines Vortrags für den Kongress „Happy Birthday ‚BRD‘: Transatlantic Reflections on Six Decades Full of Wonder“, Centre canadien d’études allemandes et européennes, Université de Montréal, Mai 2009. Für hilfreiche Kommentare danke ich Till van Rahden, Randall Hansen, Andreas Langenohl und Gilad Margalit. Schließlich bedanke ich mich beim Rathaus der Stadt Dresden für die Zusendung von Redemanuskripten zu den Gedenkveranstaltungen anlässlich der jüngsten Jahrestage der Bombardierung der Stadt. Eine ausführlichere Fassung erscheint unter dem Titel „A Fire That Doesn’t Burn? The Allied Bombing of Germany and the Cultural Politics of Trauma,“ in: Ron Eyerman, Jeffrey Alexander und Elizabeth Butler Breese (Hg.): Narrating Trauma: Studies in the Contingent Impact of Collective Suffering (Yale Cultural Sociology Series), Boulder, Colo. 2011 (mit ­Andreas Langenohl). 1  Almond / Verba, S. 428–29.

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nisse aus dem Fluss der Zeit herausgehoben und tradiert zu werden. Kommunikative Institutionen sind nicht identisch mit der gesamten Gesellschaft, aber sie sind es, die die „ideale Gesellschaft“ im Geist ihrer Mitglieder produzieren. Von dieser idealen Gesellschaft sagt Emile Durkheim, dass sie nicht außerhalb der „wirklichen Gesellschaft“ stehe, sondern ein Teil von ihr sei und diese konstituiere.2 Man könnte auch sagen: Nicht das Ganze, sondern ein Teil des Ganzen ist das Wahre. In diesem Kapitel möchte ich die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel der Verarbeitung und nachträglichen Deutung einiger Kriegserfahrungen erläutern, die Deutsche im Zweiten Weltkrieg machen mussten. Wir wissen, dass mehr als fünf Millionen deutsche Soldaten getötet wurden, die meisten davon an der Ostfront. Diejenigen, die den Krieg überlebt hatten, waren oft verwundet, halb verrückt oder frostgeschädigt; viele kamen in den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern um. Vor allem im letzten Kriegsjahr verwandelten britische und amerikanische Bomberpiloten mehr als hundert Städte in Trümmerfelder, töteten etwa 600.000 Zivilisten und machten viele Millionen obdachlos. Millionen ethnischer Deutscher flohen aus Polen und der Tschechoslowakei vor der Roten Armee oder wurden kurze Zeit später von den neu etablierten nationalen Regierungen vertrieben. Auf ihrem Vormarsch nach Berlin und in der untergegangenen Reichshauptstadt vergewaltigten Rotarmisten schätzungsweise anderthalb Millionen Frauen, oftmals, wie der britische Historiker Richard Evans schreibt, „in the presence of their menfolk, to underline the humiliation“.3 Im Laufe der Jahrzehnte der Nachkriegsgeschichte Deutschlands ist in den kommunikativen Institutionen der Zivilgesellschaft das ganze Spektrum der Gegenstände zum Brennpunkt kontroverser Erinnerungsdebatten geworden. In jüngerer Zeit ist dabei besonders die Bombardierung deutscher Städte durch Piloten der britischen Luftwaffe zum Anlass von Versuchen geworden, die Geschichte der Verwüstung Deutschlands im Zweiten Weltkrieg und ihrer moralischen Folgen neu zu erzählen.4 Den vielleicht wichtigsten Ausgangspunkt dieser neuen Narrative hat der Schriftsteller W.G. Sebald in seinen einflussreichen Züricher Vorlesungen Luftkrieg und Literatur formuliert. Die Zerstörung der deutschen Städte durch die gewaltigen Bomberangriffe der Alliierten, so heißt es dort, „scheint 2  Durkheim, S. 566. Der im vorliegenden Beitrag verwendete Begriff der Zivilgesellschaft orientiert sich an Alexander 2006 und Heins, Kap. 4. 3  Evans, S. 710. Dass zu dieser Geschichte der deutschen Opfer eine Liste derer, die Deutsche zu Opfern gemacht haben, und dessen, was Deutsche diesen Opfern angetan haben, zugehört, ist selbstredend, hier aber nicht unmittelbar Gegenstand der Erörterung. 4  Dasselbe gilt auch für die Geschichte alliierter Bomberangriffe auf die Städte anderer Achsenmächte. Zur Diskussion in Italien siehe etwa Baldoli / Fincardi.



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kaum eine Schmerzensspur hinterlassen zu haben im kollektiven Bewusstsein“ der Deutschen, sie sei niemals „zu einer öffentlich lesbaren Chiffre geworden“.5 Diese hellsichtigen Bemerkungen möchte ich unter Verwendung eines anderen Theorievokabulars umformulieren in den Satz, dass die Erinnerung an den Bombenkrieg sich niemals zu einem nationalen oder „kulturellen Trauma“6 verdichtet hat. Ein kulturelles Trauma ist das Ergebnis der narrativen Verarbeitung eines entsetzlichen Ereignisses, das die Identität eines Kollektivs dauerhaft verändert und daher immer wieder ins Gedächtnis zurückgerufen wird. Die Frage, der ich im Folgenden nachgehe, lautet, warum die Tatsache, dass zahlreiche deutsche Städte von identifizierbaren Akteuren mit Spreng- und Brandbomben angegriffen und teilweise dem Erdboden gleichgemacht wurden, nicht zu einem kulturellen Trauma geworden ist, das die Identität der Nation definiert. Die vorschnelle Antwort Sebalds lautet, dass das Aussprechen dieser Tatsache, die Beschreibung der Zerstörung und erst recht die öffentliche Anklage der Alliierten nach dem Krieg mit einem „Tabu“7 belegt worden sei. Deutlicher als Sebald haben einige Kommentatoren die Implikationen dieser Tabuthese herausgearbeitet. Die Deutschen fühlten sich demnach nicht länger berechtigt, von sich selbst als Opfern zu sprechen, da sie das Selbstbild einer Nation akzeptiert hatten, in deren Namen andere zu Opfern einer neuen Kategorie von Makroverbrechen gemacht worden waren. Der Tabubegriff suggeriert zudem, dass die Deutschen endlich ihr Schweigen brechen und der Welt gegenüber auf ihr eigenes Leiden verweisen sollten. Meine eigene These ist, dass dies in Wirklichkeit von Anfang an geschehen ist und die Rede vom Tabu in die Irre führt. In modernen Gesellschaften ist „Tabu“ eine Reizvokabel, die den öffentlichen Diskurs nicht beendet, sondern vielmehr sensationell anstachelt. Sebalds Vorlesungen unterstellen zudem, dass etwas grundsätzlich faul ist an der Art und Weise, wie sich Deutsche an die Bombardierung ihrer Städte erinnern. Im Gegensatz dazu behaupte ich, dass es in den deutschen Erinnerungs- und Gedenkdiskursen eine Menge Inkohärenzen, falsche Abstraktionen und schiefe Analogien gibt, jedoch nichts, das die Diagnose einer pathologischen Verdrängung rechtfertigen würde. Für Sebald ist die Abwesenheit einer schmerzhaften Erinnerung an den Bombenkrieg „ein durchaus paradoxer Sachverhalt“,8 weil der Schriftsteller eine positive Korrelation unterstellt zwischen dem Ausmaß des Leids, das einem Kollektiv zugefügt worden ist, und der Intensität und Schmerzhaftig5  Sebald,

S. 12. Alexander et al. 2004. 7  Sebald, S. 18, 19. 8  Ebd., S. 12. 6  Siehe

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keit der Erinnerungen, die von Generation zu Generation weitergetragen werden. Aus meiner Sicht jedoch existiert eine solche Korrelation nur in dem Maße, in dem ein sozialer und politischer Konsens über die Bedeutung dieses Leidens hergestellt und effektiv kommuniziert werden kann. Dies geschieht erst im Nachhinein. Sebald spricht von den grauenhaften Dimensionen der Zerstörung der Städte und davon, dass „wir“ nicht wissen, „was all das in Wahrheit bedeutete“.9 Ich vermute eher, dass die Zuschreibung von Bedeutungen und die Einordnung der Geschehnisse des Krieges in ein Narrativ in diesem wie auch in ähnlichen Fällen kollektiver Traumatisierung erst im Rückblick erfolgt ist, so dass erst wir wissen, was die Verwüstung Deutschlands im Bombenkrieg bedeutete. Zugleich trifft es zu, dass reales Leid den Rohstoff kultureller Traumata bildet. Nicht umsonst ist die soziologische Traumatheorie aus der Beschäftigung mit der Sklaverei im Süden der Vereinigten Staaten und dem Völkermord an den europäischen Juden entstanden.10 Bei der Sklaverei im amerikanischen Süden vor dem Bürgerkrieg handelt es sich um eine Realität massiven kollektiven Leids, die in ein kulturelles Trauma für nachfolgende Generationen von Afro-Amerikanern verwandelt worden ist. Beim Holocaust handelt es sich um gigantisches Verbrechen, das zum kulturellen Trauma für nachfolgende Generationen nicht nur der jüdischen Opfer, sondern auch der deutschen Täter und Mitglieder anderer Nationen wurde. Bei den unmittelbaren Folgen des alliierten Bombenkriegs gegen die deutschen Städte handelt es sich um eine Realität massiven kollektiven Leids, die nicht einmal für die Nachfolgegenerationen der Opfergruppe sich zu einem kulturellen Trauma entwickelt hat. Im Folgenden gebe ich einen kurzen Überblick über die Art und Weise, in der der Bombenkrieg zum Gegenstand von Erinnerung und Andenken in der deutschen Zivilgesellschaft geworden ist. Der Ausgangspunkt ist die Zurückweisung der weit verbreiteten These, dass die Erinnerung an die deutschen Opfer des Krieges im Allgemeinen und die zivilen Opfer des Bombenkrieges im Besonderen zum Schweigen gebracht worden ist. Stattdessen skizziere ich das Modell einer Erinnerungsmatrix, die dazu beitragen soll, die Erinnerungspraktiken besser zu verstehen, die sich tatsächlich in den kommunikativen Institutionen der Zivilgesellschaft über die vergangenen Jahrzehnte herausgebildet haben. Ich wende mich dann zwei kleinen Fallstudien zu, indem ich die Bombenkriegserinnerung in Hamburg mit derjenigen in Dresden kontrastiere. Das Hamburger Beispiel ist interessant, weil es zeigt, wie der Aufstieg des Holocaust als einer Gedächtnisikone die Zuschreibung von Bedeutung an die Bomben9  Ebd.,

S. 11–12. die Kapitel von Eyerman und Alexander in Alexander et al. 2004.

10  Siehe



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nächte komplexer gemacht hat. Das Beispiel Dresdens ist aufschlussreich, weil es zeigt, wie Rechtsextreme mit dem Repertoire und der Rhetorik der modernen Zivilgesellschaft versuchen, die Erinnerung an den alliierten Bombenkrieg als das neue kulturelle Trauma des wiedervereinigten Deutschlands zu etablieren. Zum Schluss nenne ich die Gründe, warum ich es für unwahrscheinlich halte, dass dieses Erinnerungsprojekt einer Zentrierung der deutschen Erinnerung auf den Bombenkrieg in absehbarer Zeit gelingt. II. Die deutsche Bombenkriegserinnerungsmatrix Seit der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 ist jede größere Publikation oder Sendung zum Thema der Bombardierung Deutschlands durch die Alliierten als Tabubruch gefeiert worden. In Wirklichkeit ist die Darstellung der Folgen des Krieges für die Zivilbevölkerung niemals tabuisiert worden. Die Rede von einem „Tabu“ ist so weit verbreitet, dass sie ihrerseits nach einer Erklärung verlangt. Zugleich gilt, dass diese im Grunde falsche Rede ein Körnchen Wahrheit enthält. Aus heutiger Sicht ist nicht so sehr der Bombenkrieg in Vergessenheit geraten als die vielen Erinnerungsspuren, die von ihm Zeugnis geben. Zahlreiche Künstler begannen oft unmittelbar nach den Bombardierungen deren Folgen aufzuschreiben, zu fotografieren oder zu malen. In Dresden allein haben mehr als dreißig „Trümmerfotografen“ das Verbot der Nazis (sowie bald darauf der sowjetischen Besatzungsmacht) ignoriert, die Folgen der Zerstörung aus der Luft zu dokumentieren. Einige von ihnen, besonders Kurt Schaarschuch und Richard Peter wurden rasch weit über die Stadtgrenzen hinaus berühmt.11 Peter publizierte bereits 1949 seine immer wieder neu aufgelegte Fotosammlung mit dem Titel Dresden, eine Kamera klagt an. Deutsche „Trümmerfilme“ entwickelten sich zu einem eigenen Genre.12 Germanisten wie Jörg Bernig, Thomas Fox oder Ursula Heukenkamp haben detaillierte Überblicke über das Spektrum künstlerischer Darstellungen der Bombenkriegserfahrungen verfasst, das Erzählungen, Memoiren, Antholo­ gien, Filme, Gedichte, Theaterstücke, Lieder und Radioaufzeichnungen umfasst, die inzwischen zumeist vergessen worden sind.13 Wir haben es demnach weniger mit einem Tabu zu tun als mit einem starken Drang, dem schrecklichen Geschehen des Krieges Ausdruck und Bedeutung zu verleihen. Ulrike Heukenkamp hat bemerkt, dass Schriftsteller es oft nicht vermocht haben, eine lebendige, authentische Sprache zur Kil. Shandley. 13  Siehe Bernig; Fox und Heukenkamp. 11  Siehe

12  Siehe

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Beschreibung der Kriegserfahrung zu entwickeln, nicht weil sie vergessen hatten, was passiert war, sondern weil die Erfahrung von Leere, Panik und Selbstverlust in Klischees wie „Hölle“, „Inferno“ oder „Jüngstes Gericht“ ihren Ausdruck fand.14 Heukenkamp argumentiert zudem, dass den überlebenden Zivilisten und darunter besonders den Frauen das offene Reden weniger leicht fiel als den erschöpften, verwundeten und desillusionierten Soldaten, die von der Front des „wirklichen“ Krieges heimkehrten. Die Soldaten waren oftmals geradezu zwanghaft gesprächig und haben detaillierte Schilderungen ihrer Kriegserfahrungen hinterlassen, und zwar sowohl im Gedächtnis ihrer Familien als auch in publizierten Texten und damit in der Zivilgesellschaft. In dem Maße, wie tatsächlich deutsche Opfer zum Schweigen gebracht worden sind, betraf dies somit vor allem die Frauen, die sich im Zuge der Restauration patriarchaler Familienstrukturen von ihren Männern sagen lassen mussten, was als wahre Kriegserfahrung erinnerungswürdig war.15 Abgesehen vom Mangel an Authentizität in literarischen Repräsentationen und der Dominanz männlicher Kriegserinnerungen gibt es noch einen dritten Faktor, der zum Eindruck des Verschweigens des Leids der deutschen Opfer des Krieges beigetragen hat. Insbesondere die Westdeutschen waren nämlich außerordentlich eifrig und erfolgreich beim Wiederaufbau der zerstörten Infrastrukturen und glaubten, keine Zeit mit der Verarbeitung von Erinnerungen vergeuden zu dürfen. Sebald erwähnt die entschlossene Ausrichtung der Bevölkerung „auf die Zukunft“,16 die jede kollektive Anstrengung der Erinnerung unterband. Blinde Zukunftsorientierung ist etwas ganz anders als eine Tabuisierung, auch wenn sie ähnliche Konsequenzen gehabt haben mag. In dieser Hinsicht unterscheidet sich übrigens der industrielle Leistungsfanatismus der Deutschen nicht stark vom Pioniergeist der nach Palästina ausgewanderten jüdischen Holocaust-Überlebenden, die ebenfalls keine Zivilgesellschaft vorfanden, in der sie die Erfahrung ihres Leidens arikulieren konnten.17 Dass das immense Leid der deutschen Zivilbevölkerung nicht vergessen wurde, bedeutet nicht, dass es leicht war, diese spezifische Erinnerung in einen größeren konsensfähigen Rahmen der öffentlichen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg einzufügen. Tatsächlich drehen sich alle öffentlichen Kontroversen der letzten Jahrzehnte um dieses Problem: Wie lässt sich die Heukenkamp, S. 470–72. S. 470. Siehe hierzu aber auch die Hinweise auf literarische Zeugnisse zur Diskrepanz zwischen Familiengedächtnis und offiziellem Gedenken in Assmann, S. 190–191. 16  Sebald, S. 15. 17  Siehe Brunner, S. 105. 14  Siehe 15  Ebd.,



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Erinnerung an das den Deutschen von den alliierten Bombergeschwadern (und anderen Akteuren) zugefügte Leid in ein Narrativ integrieren, das zu der Selbstbeschreibung des Landes als einer liberalen westlichen Demokratie passt? Bevor ich mich dieser Frage in zwei Fallskizzen zuwende, möchte ich kurz die Matrix der Erinnerung an den Bombenkrieg darstellen, die das Verhalten verschiedener Erinnerungsakteure in der Geschichte der Bundesrepublik verständlich macht. Mit Bezug auf den Bombenkrieg lassen sich grundsätzlich vier verschiedene Positionen innerhalb der deutschen Zivilgesellschaft unterscheiden. Drei dieser Positionen teilen die Annahme, dass es keine Alternative gab zur militärischen Niederschlagung Nazi-Deutschlands und der Achsenmächte durch die vereinten Streitkräfte der Alliierten. Lediglich Rechtsradikale teilen diese Position offenkundig nicht. Es gibt keine ausformulierte Position auf der Basis der Annahme, dass die Deutschen willens und selbst in der Lage waren, Hitler in absehbarer Zeit von der Macht zu entfernen. Daraus ergibt sich ein breiter Konsens, dass die militärische Zerschlagung NaziDeutschlands alternativlos und wünschenswert war. Diese Position ist am deutlichsten von deutsch-jüdischen Exilanten wie z. B. Franz Neumann artikuliert worden, und zwar noch vor dem Bekanntwerden der systematischen Ausrottung der Juden.18 Aus heutiger Sicht gab es keine Möglichkeit außer dem Sieg der Alliierten, das Vernichtungsprogramm der Nazis zu stoppen, wodurch diesem Sieg eine noch größere Bedeutung zukommt als sie Neumann sah.19 Differenzen zwischen den folgenden drei Positionen ergeben sich allein vor dem Hintergrund dieser weithin geteilten Grundüberzeugung. Nur die vierte Position fällt aus dem Rahmen: Die Position des gerechten Krieges ist von Militärhistorikern besonders in Großbritannien und den USA vertreten worden und beeinflusst auch die Stellungnahmen von Teilen der radikalen Linken in der Bundesrepublik. Diese Position besagt, dass die Bombardierung ziviler Ziele zur militärischen Niederschlagung Deutschlands beitrug und bereits deswegen legitim war.20 Die Position eines moderaten Anti-Machiavellismus beinhaltet, dass die Alliierten bei der Verfolgung höchst legitimer Kriegsziele gelegentlich zu illegitimen Mitteln wie der unterschiedslosen Bombardierung ziviler Zent18  Siehe Neumann, S. ix: „A military defeat is necessary … More and better planes, tanks, and guns and a complete military defeat will uproot National Social­ ism from the mind of the German people“. 19  Siehe Nolte und White. 20  Rolf-Dieter Müller vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam schätzt, dass die Bombardierung der deutschen Städte den Krieg um mindestens ein bis zwei Jahre verkürzt habe (Müller, S. 229). Die Effektivität der Bomberkampagne unterstreicht auch Gregor.

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ren gegriffen haben. Gemäßigte Anti-Machiavellisten scheuen sich allerdings, diese Bombardierung als „Kriegsverbrechen“ zu brandmarken. Es handelt sich bei dieser Gruppe zumeist um Mitglieder der liberalen akademischen und politischen Eliten der Bundesrepublik, die für internationale Versöhnung und eine Stärkung des humanitären Völkerrechts eintreten.21 Eine Radikalisierung der anti-machiavellistischen Position kann bei Gruppen beobachtet werden, die behaupten, dass die Bombardierungen überhaupt nicht einem militärischen Zeil dienten. Besonders gegen Ende des Krieges, so wird argumentiert, lässt sich eine wachsende Entkopplung von Mitteln und Zwecken nachweisen. Radikale Anti-Machiavellisten scheuen sich daher nicht, die Bombardierungen als ein „Verbrechen“ zu bezeichnen. Allerdings treten auch diese Gruppen für internationale Versöhnung sowie für eine Moralisierung der internationalen Beziehungen ein.22 Eine revisionistische Position ist von jenen eingenommen worden, die den angeblich fehlenden militärischen Zweck der Bombardierungen durch einen anderen Zweck ersetzen, nämlich dem Zweck der Verübung eines Völkermords an den Deutschen. Die Vertreter dieser Position, die im Spektrum zwischen der Neuen Rechten und Neo-Nazis anzusiedeln sind, treten keineswegs für internationale Versöhnung mit den Siegern von damals ein und beabsichtigen eine symbolische Kontaminierung des Westens als Ikone des Bösen. Das organisierende Prinzip dieser Erinnerungsmatrix ist der Holocaust. Die militärische Eskalation erschien bereits Zeitgenossen wie Franz Neumann angesichts der beispiellosen Aggressivität des Naziregimes unausweichlich. Das Wissen um das, was in Auschwitz oder Treblinka geschah, hat im Nachhinein dieses Argument der Unausweichlichkeit noch verstärkt. Tatsächlich ist die Spaltung der Erinnerung zwischen denen, die die militärische Unvermeidlichkeit der Verletzung auch von Zivilisten anerkennen und denen, die umstandslos die Bombardierung aus der Luft als Verbrechen verurteilen, deckungsgleich mit der Spaltung zwischen denen, die die deutsche Verantwortung für den Holocaust anerkennen und denen, die dies nicht 21  Elemente der anti-machiavellistischen Position lassen sich bis in interne Debatten in Großbritannien während des Krieges zurückverfolgen, worauf auch Sebald (S. 22–24) hingewiesen hat. Zu den Details siehe Taylor, S. 360–66, 376–79. 22  Deutsche Militärhistoriker scheinen zu schwanken zwischen moderaten und radikal anti-machiavellistischen Positionen. Müller (S. 231) spricht von „Grenzüberschreitungen“ in der alliierten Luftkriegsführung, lehnt aber die Bezeichnung „Verbrechen“ ab. Anders sein Kollege Boog (S. 874–76), der zu dem Schluss kommt, dass die Bombardierungen ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ darstellten, obwohl sie nicht eindeutig illegal waren. Eine ähnliche Bandbreite der Urteile findet sich auch bei jüngeren Commonwealth-Autoren wie z. B. dem Kanadier Randall Hansen. Siehe Hansen, S. 277, 297.



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eindeutig tun. In den folgenden Abschnitten argumentiere ich daher, dass die Erinnerung an den Luftkrieg eng verzahnt ist mit Konflikten um die Repräsentation der NS-Vergangenheit und insbesondere des Holocaust. III. Die kollektive Erinnerung an die Bombardierung Hamburgs und das Holocausttrauma Jede militärische Niederlage ist traumatisch und demütigend. In Deutschland schossen folglich nach 1945 die Selbstmordzahlen in die Höhe.23 Dies war freilich nur für wenige eine echte Option. Eine andere kleine Minderheit war bereit, die Nachricht von der „Schande der Konzentrationslager“ zu absorbieren, die schon im Oktober 1945 in einer auflagenstarken Illustrierten in Berlin unübersehbare Schlagzeilen machte.24 Die große Mehrheit der Deutschen war dagegen mit den Herausforderungen des täglichen Überlebens beschäftigt und kümmerte sich nicht um die Vergangenheit. In diesem Augenblick der Geschichte war in keiner Weise absehbar, wie zukünftige Generationen von Deutschen und anderen die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs einander erzählen würden. Trotz des Sinnvakuums und der „großen Ratlosigkeit“,25 in der sich die Deutschen befanden, war dies keine Situation, in der die Alliierten die Erinnerungen und Einstellungen der Deutschen wie neue Münzen einfach prägen konnten. Vieles hing vielmehr davon ab, wie die Deutschen selbst im Laufe der Zeit ihre jüngste Vergangenheit repräsentieren und in Erinnerung rufen würden. Betrachten wir zunächst das Beispiel der Stadt Hamburg und der kollektiven Erinnerung an ihre Bombardierung. Hamburg erlitt einen der schlimmsten Bombenangriffe des gesamten Krieges, als das britische Bomberkommando unter der Führung von General Sir Arthur Harris am 24. Juli 1943 die „Operation Gomorrah“ anordnete. Diese Operation bestand aus einer Serie koordinierter nächtlicher Attacken, die nach Tagesanbruch von einigen kleineren Angriffen der amerikanischen Luftwaffe auf Hafeneinrichtungen und U-Boot-Stützpunkte ergänzt wurden. Insgesamt wurden über 34.000 Menschen getötet.26 Der Historiker Malte Thiessen hat gezeigt, dass die Erinnerung an die Bombenangriffe in der Nachkriegszeit keineswegs unterdrückt worden ist, sondern vielmehr eine wichtige symbolische Ressource war für die Wiederherstellung eines lokalen Zusammengehörigkeitsgefühls und der Grundlagen Evans, S. 731–32. Kil, S. 13. 25  Nossack, S. 19. 26  Siehe Thiessen, S. 12. 23  Siehe 24  Siehe

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einer Zivilgesellschaft in Hamburg. Während unmittelbar nach dem Krieg auch die demokratisch gewählten Repräsentanten der Stadt nicht aufhörten, die nationalsozialistische Propagandafloskel vom „Luftterror“27 zur Charakterisierung der Bombardements zu verwenden, wurde dieser täterzentrierte Deutungsrahmen rasch durch einen nahezu exklusiven Fokus auf die Opfer des Krieges ersetzt. Vertreter aller Parteien einschließlich der kommunistischen Partei riefen zum Gedenken an eine großzügig definierte Opfergruppe auf, die alle Zivilisten umfasste, aber auch die einfachen deutschen Soldaten sowie die Insassen des Konzentrationslagers Neuengamme vor den Toren der Stadt, in dem mit etwa 50.000 Menschen weit mehr Menschen umkamen als während der Operation Gomorrah. Bezeichnenderweise ist diese emotionale und semantische Verschiebung von der Anklage der Täter zur Trauer um die Opfer in keiner Weise von der britischen Besatzungsmacht aktiv unterstützt oder gar gefordert worden, obgleich der deutsche Wunsch, den westlichen Siegermächten ein gewisses Maß an Anerkennung und gutem Willen abzuringen, eine Rolle gespielt haben mag.28 Von Bedeutung war außerdem der Umstand, dass die meisten Hamburger keine Ressentiments gegenüber den Briten hegten, mit denen sie sich durch vielfältige Beziehungen eng verbunden fühlten. Dieser Umstand ist bereits von Nossack bemerkt worden, der ein Augenzeuge der Bombardierung und des anschließenden Feuersturms war.29 Ein einseitig täterzentrierter Deutungsrahmen hätte keinen positiven Widerhall im Publikum hervorgerufen. Zumindest auf der Ebene der lokalen Zivilgesellschaft entwickelte sich somit eine embryonale Erinnerungs- und Gedenkkultur. Thiessen zeigt zudem, dass die frühe Erinnerung an den Luftkrieg auf eine Weise konstruiert wurde, die die Frage nach der kollektiven Verantwortung für den Krieg ausschloss. Wie die übrigen Deutschen definierten sich die Hamburger zunächst als Opfer nicht nur des Krieges und der Bomben, sondern auch des „hypnotischen Einflusses“ von Hitler, wie es ein ehemaliger Bürgermeister Hamburgs ausdrückte.30 Überraschend ist eher etwas anderes. Entgegen dem, was man im Zuge der Konsolidierung einer demokratischen Zivilgesellschaft erwarten könnte, ließ sich nämlich in Hamburg zunächst keine allmähliche Ausweitung des Kreises derer feststellen, um die getrauert wurde. Ganz im Gegenteil: Thiessen zeigt, dass bis 1950 die Gefangenen im KZ Neuengamme, von denen die meisten erschossen, zu Tode gehungert oder in die Vernichtungslager im 27  Ebd.,

S. 98. S. 176–77. Zum Thema der „memory diplomacy“ zwischen der jungen Bundesrepublik und den westlichen Siegern siehe auch die Fallstudie von Etheridge. 29  Nossack, S. 14, 32; siehe auch Evans, S. 466. 30  Zit. nach Thiessen, S. 109. 28  Ebd.,



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Osten geschickt wurden, in das öffentliche Gedenken eingeschlossen waren, während danach nur noch die deutschen Opfer der Bombardierung für würdig gehalten wurden, öffentlich betrauert zu werden.31 Diese vorübergehende Engführung der öffentlichen Erinnerung, die sich in den Stellungnahmen von Politikern, Leserbriefen oder der Dramaturgie von Gedenkveranstaltungen ausdrückte, war zu einem guten Teil eine Folge des Kalten Krieges und des Ausschlusses der Kommunisten aus der Öffentlichkeit, denen man zugute halten muss, dass sie die Erinnerung an das KZ Neuengamme wachgehalten hatten, wenngleich sie die jüdischen Opfer meistens ignorierten. Das Erinnerungsmuster des Kalten Krieges, das durch die Betonung der lokalen deutschen Opfer und die Hemmung charakterisiert war, die Motive, Strategien und Zielsetzungen der Verantwortlichen des alliierten Bombenkrieges zu diskutieren, änderte sich mit dem Aufstieg einer neuen Generation, die nicht länger eine direkte Kriegserfahrung hatte. Das neue Generationengedächtnis begann sich in den frühen siebziger Jahren herauszubilden. Zum ersten Mal deuteten öffentliche Amtsträger die Bombardierung Hamburgs nicht mehr als Menetekel des „Zusammenbruchs“ des Dritten Reichs, sonders als Vorzeichen der „Befreiung“ Deutschlands.32 Dieser neue moralische Begriff mobilisierte erneut die Erinnerung an das KZ Neuengamme als einem symbolischen Ort, dessen Bedeutung sich zudem durch das entstehende entwickelnde Narrativ des Holocaust zu verschieben begann. Erst im Laufe der siebziger Jahre ist nämlich der Holocaust in Westdeutschland als kulturelles Trauma und zentrale Gedächtnisikone geschaffen worden.33 Diese Gedächtnisikone und das Narrativ der Befreiung Deutschlands durch den Krieg der Alliierten haben einander verstärkt und angefangen, ein neues Netz von kollektiv geteilten Bedeutungen zu bilden. In Hamburg wurde dieser Wandel der Erinnerungspraxis vor allem durch die Evangelisch-Lutherische Kirche vorangetrieben, deren Repräsentanten versuchten, zwei unterschiedliche Narrative miteinander zu verknüpfen. Das erste Narrativ beharrte auf der grundsätzlichen, geradezu metaphysischen Unschuld der deutschen Bombenopfer. Der österreichische Künstler Oskar Kokoschka, der ein Mosaik („Ecce Homines“) für die Sankt Nikolai Gedächtniskirche in Hamburg geschaffen hat, sprach sogar davon, dass deutThiessen, S. 173–74. S. 203, 388. 33  Noch der Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963–65 richtete die Aufmerksamkeit der Zivilgesellschaft eher auf die Täter als die Opfer. Michal Bodemann argumentiert, dass ein wichtigerer Wendepunkt für die Wahrnehmung der Juden der Sechstagekrieg von 1967 war, in dem sich viele Deutsche einschließlich der Massenmedien auf der Seite der Israelis sahen. In Hamburg, zum Beispiel, spendeten zahlreiche Bürger Blut für die israelischen Soldaten. Siehe Bodemann, S. 48–49. 31  Siehe 32  Ebd.,

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sche Zivilisten „gekreuzigt“ worden seien.34 Das zweite Narrativ repräsentierte die zivilen Opfer der Bombardierung nicht nur als bloße Opfer, sondern auch als wissende oder unwissende Komplizen des Bösen, das Deutschland regierte. So erinnerte der evangelische Bischof von Hamburg das versammelte Publikum in seiner Ansprache zur Eröffnung von Sankt Nikolai im Jahr 1977 an den Text einer Tafel in der Nähe des KokoschkaMosaiks: „Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind“ (Salomo 31, 8). Die Deutschen, so fuhr der Bischof fort, hatten diesen Ruf nicht vernommen und sich stattdessen entschlossen, das Los derer zu ignorieren, die „in schrecklichster Weise“ verlassen waren.35 Diese Deutung der Vergangenheit variierte das Motiv der Bombardierung Deutschlands als einer Art „Sintflut“ oder eines göttlichen „Gerichts“, die wir schon bei dem Augenzeugen Nossack finden.36 Gelegentlich wurde diese zweifache Neuerung der Repräsentation der Verantwortlichen des Bombenkrieges als Befreier und der Opfer als Komplizen derjenigen Kräfte, von denen Deutschland befreit werden sollte, in Begriffen einer Position des gerechten Krieges formuliert. So beschrieb 1993 der Hamburger Gerd Bucerius, damals Herausgeber der Zeit, seine trotz allem euphorische Stimmung beim Anblick der Bombergeschwader. „ ‚Endlich‘, rief ich immer wieder, ‚endlich‘. Zu lange hatten mir die Alliierten gewartet, um den Weltfeind Hitler niederzukämpfen“.37 Dies war zugegebenermaßen eine ungewöhnliche Stellungnahme, die nicht bei vielen in der Generation von Bucerius gut ankam, obwohl wir bis in die späten achtziger Jahre das Motiv der Bombardierung als Beitrag zur Befreiung immer wieder finden. Zur gleichen Zeit war dieses Motiv jedoch der Konkurrenz durch anti-machiavellistische Positionen einer für die menschlichen Kosten der Befreiung moralisch sensibilisierten Zivilgesellschaft ausgesetzt. Einige Sprecher insistierten zudem darauf, dass überhaupt kein kausaler Zusammenhang zwischen der Bombardierung der Städte und der politischen Befreiung Deutschlands bestanden habe.38 In der Summe ergibt sich aus diesen widersprüchlichen Trends für die deutsche Zivilgesellschaft nach 1990 ein gemischtes Bild. Teilweise als Reaktion auf die Kontextualisierung des Bombenkrieges und die Erweiterung des Kreises der Opfer, derer öffentlich gedacht wird, haben Intellektuelle und die Medien das „Tabu“ der Erinnerung an die deutschen Opfer des Krieges wiederentdeckt. Seitdem ist der Tabubegriff auf verschiedene Art nach Thiessen, S. 230. nach Thiessen, S. 232. 36  Nossack, S. 15–16. 37  Thiessen, S. 327. 38  Siehe ebd., S. 272–273, 400, 406. 34  Zit. 35  Zit.



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und Weise verwendet worden. Sebald vermisste lediglich eine literarische Sprache, die der Tiefe des Entsetzens angemessen war, das die Überlebenden der Bomberangriffe angesichts der Verwüstung empfunden haben mussten. Häufiger jedoch signalisiert der Tabubegriff ein Ressentiment gegen die starke Aufmerksamkeit des öffentlichen Gedenkens für die jüdischen und nicht-deutschen Opfer des Zweiten Weltkriegs. Darüber hinaus ist er der Versuch, mit der wachsenden Schwierigkeit zurecht zu kommen, das Kollektiv der Opfer, das die alliierten Angriffe zurückgelassen haben, als eine imaginäre Gemeinschaft der Nation zu rekonstruieren, mit der sich nachfolgende Generationen ohne Weiteres identifizieren können. Die neuerliche Rede von der Tabuisierung der Erinnerung wird begleitet von einer Rückkehr des Vokabulars des „Terrors“. Dies ist eine direkte Folge der Radikalisierung der erwähnten anti-machiavellistischen Einstellungen gegenüber dem Krieg als Mittel der Politik im Allgemeinen, die sich retrospektiv auf die Einschätzung des alliierten Luftkriegs ausgewirkt haben. In dem Maße, wie sich Zweifel daran regten, dass die Luftangriffe wirklich dem militärischen und moralischen Ziel des Sturzes der NS-Diktatur dienten, drängte sich erneut das Schlagwort des Terrors zur Charakterisierung des Krieges auf. Die Rückkehr dieses Vokabulars ist auch als Antwort auf die Konsolidierung des Holocaust als Gedächtnisikone zu sehen, die es nicht länger legitim erscheinen lässt, am moralischen Gewicht des Sieges der Alliierten öffentlich zu zweifeln. In dem Augenblick, in dem der Holocaust als epochales Symbol des Bösen etabliert worden ist, vor dem die Bürger schaudernd zurückschrecken, weil es Züge des Heiligen im Sinne der Religionssoziologie von Emile Durkheim trägt,39 nimmt der militärische Sieg über dieses Böse ebenfalls gleichsam heilige Züge an. Um der symbolischen Kontamination durch allzu große Nähe zum Bösen zu entgehen, bleibt den Kritikern der alliierten Kriegführung in dieser Situation nichts anderes übrig als die Mittel, die verwendet wurden, oder die schiefe Relation zwischen Mitteln und Zwecken zu kritisieren. Genau dieser Trend hat sich seit den achtziger Jahren entwickelt und einen seiner vielleicht stärksten Ausdrücke gefunden in einer Serie des Spiegels im Januar 2003 über die „Terrorangriffe auf Deutschland“ und die „Höhepunkte des Luftterrors“ in Hamburg und Dresden.40 Obwohl diese Sprache geradewegs dem Vokabular des NS-Reichspropagandaministeriums entlehnt ist, möchte ich betonen, dass der semantische Kern der Kritik am Terror der Alliierten in dem Sinne entnazifiziert worden ist, dass die Kritik nicht länger auf die rhetorische Stiftung einer reinen Gemeinschaft von Überlebenden und deren Nachkommen zielt, die einer unreinen Gemein39  Siehe 40  Siehe

Alexander 2006, S. 222–24. Thiessen, S. 400–401.

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schaft von Feinden gegenübersteht. So hat die Verurteilung der Fliegerangriffe in keiner Weise den Wunsch der Stadt Hamburg, der Masse der Deutschen und der meinungsbildenden Medien geschwächt, engste Beziehungen zu den Ländern zu unterhalten, die für die Angriffe verantwortlich waren. Die Rückkehr eines täterzentrierten Deutungsrahmens des „Terrors“ der Alliierten hat beispielsweise nicht die Planungen zum fünfzigsten Jahrestag der Operation Gomorrah im Jahr 1994 beeinträchtigt, die mit dem britischen Botschafter in Deutschland in einem „Geist von Frieden, Versöhnung und Freundschaft“, so der Bürgermeister von Hamburg, abgestimmt wurden. Als Prinz Charles seine erwartungsgemäß freundschaftliche und einfühlsame Gedenkrede hielt, die gleichwohl von jeglicher Geste einer offiziellen Entschuldigung weit entfernt war, durfte er sich über den Anblick von 30.000 nicht minder freundschaftlich gesonnenen Hamburgern freuen, von denen nicht wenige kleine „Union Jack“-Fähnchen schwenkten und „Prince Charles“-Buttons trugen.41 IV. Dresden und der Zusammenprall der Erinnerungskulturen in der deutschen Zivilgesellschaft nach 1990 Hat die Wiedervereinigung Deutschlands etwas Grundlegendes an der Erinnerungsmatrix des Bombenkriegs geändert? Die kurze Antwort lautet: nein. Die Institutionalisierung des Holocausttraumas ist weiter vorangeschritten. Neue Gedenkstatten zu Nazi-Verbrechen wurden eingeweiht, allen voran das spektakuläre Denkmal zur Erinnerung an die ermordeten Juden Europas in der Mitte Berlins. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass Deutsche jeder Altersgruppe den Holocaust als „the superlative historical genocide“42 bewerten. Zugleich gilt, dass die Einverleibung der ehemaligen DDR bestimmte bereits im Westen vorhandene Erinnerungsakteure in der Zivilgesellschaft gestärkt hat. In der DDR war die Erinnerung an den Bombenkrieg omnipräsent und wurde vom Staat im Sinne des binaren Codes des Kalten Krieges offiziell gepflegt. Seit den fünfziger Jahren konzentrierte sich dabei die offizielle Erinnerung auf die Bombardierung Dresdens am 13. und 14. Februar 1945 durch vorwiegend britische Piloten. Die umstrittene „Operation Donnerschlag“ war der verheerendste Angriff auf eine Stadt seit Hamburg. Nach neuesten Zählungen kamen etwa 25.000 Menschen ums Leben. Aus deutscher Sicht war Dresden eine Stadt der Künste und damit unschuldig, aus britischer Sicht dagegen war die Stadt ein 41  Siehe

Thiessen, S. 372–74. S. 65.

42  Langenbacher,



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strategischer Umschlagplatz für die Verstärkung der deutschen Truppen im Osten. Der für mich interessanteste Aspekt liegt darin, dass sich die Bombardierung rasch von einem militärischen Faktum in ein moralisches Zeichen des Bösen verwandelte. Der britische Historiker Frederick Taylor schreibt, dass die Zerstörung Dresdens sofort eine merkwürdige symbolische Eigendynamik entwickelte, „one that could not but affect the Allies‘ claims to absolute moral superiority.“43 Nach Taylor muss diese Dynamik zumindest teilweise den Anstrengungen von Joseph Goebbels’ Reichspropagandaministerium zugeschrieben werden, das keine Zeit verlor, die Zahl der Opfer zu multiplizieren und die Angriffe als das Werk der angelsächsischen „Barbaren“ darzustellen, die ein Symbol europäischer „Kultur“ ohne jede militärische Bedeutung zerstört hätten. Vieles von dieser Deutung überlebte das Ende des Zweiten Weltkriegs mit nur wenigen Änderungen. Die Regierung der DDR und ihr nahestehende Intellektuelle entwickelten ein Deutungsangebot auf der Basis eines einfachen Sets symbolischer Äquivalenzen zwischen dem Nationalsozialismus und den westlichen Alliierten. Die Verantwortlichen der Bombenangriffe wurden mit den Nazis gleichgesetzt, und die Opfer der Bombardements mit den Opfern der Nazis (die jüdische Opfergruppe wurde nicht erwähnt). Die DDR pflegte weiterhin den Mythos der Unschuld Dresdens als einer Stadt ohne industrielle und militärische Bedeutung für den Krieg Deutschlands. Daher war auch in der DDR der Topos von der „Sinnlosigkeit“ der Luftangriffe verbreitet.44 Mit der Wiedervereinigung wurden Elemente dieses Diskurses zum Bestandteil der nunmehr gesamtdeutschen Zivilgesellschaft. Hervorzuheben ist allerdings, dass die Ostdeutschen die zentrale Prämisse der westdeutschen Erinnerungsmatrix akzeptierten, dass nämlich Deutschland nur durch militärische Intervention von außen befreit werden konnte. Andererseits spielte der Holocaust im ostdeutschen Erinnerungsnarrativ bestenfalls eine marginale Rolle. Die Stelle eines „heiligen Bösen“ blieb leer. Der „imperialistische Westen“ war zwar zeitweise ein Kandidat für diese Zuschreibung, die jedoch instabil blieb und sich je nach geopolitischer Lage ändern konnte.45 Wenn aber ostdeutsche Diskurse die Bombenkriegserinnerungsmatrix nicht grundsätzlich außer Kraft gesetzt haben, worin besteht dann ihre Wirkung auf die Zivilgesellschaft? Um diese Frage zu beantworten, wende ich mich der jüngsten Geschichte des Gedenkens an die Bombardierung Dresdens zu. Einer der ersten erinnerungspolitischen Schritte, die nach der Wiedervereinigung von der Stadt Dresden unternommen wurden, war der Wiederauf43  Taylor,

S. 372. z. B. Kil, S. 19. 45  So haben nach dem Ende des Kalten Krieges DDR-Historiker wie Olaf Groehler ihre Kritik des alliierten Luftkriegs deutlich abgeschwächt. Siehe Groehler. 44  Siehe

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bau der im Bombenkrieg zerstörten lutherischen Frauenkirche. Diese Entscheidung war durchaus kontrovers, da die Ruine der Frauenkirche zu DDR-Zeiten als ein Mahnmal gegen den Krieg gedient hatte, ähnlich wie die Überreste der von der deutschen Luftwaffe zerstörten Kathedrale in Coventry, England, oder der Gedächtniskirche in Berlin. Die Beseitigung der Ruine galt vielen als ein „Sakrileg“,46 fast so schlimm wie die Zerstörung der Kirche selbst. Heute ist die Frauenkirche ein vielzitiertes Symbol der „Versöhnung“ zwischen Deutschland und Großbritannien. „Versöhnung“ ist in der Tat der Schlüsselbegriff des offiziellen Gedenkens an die Bombardierung der Stadt. Auf dieser Ebene des offiziellen Diskurses unterscheidet sich Dresden nicht länger von Hamburg. In Hamburg wie Dresden konnten in den vergangenen Jahren zwei unterschiedliche Narrative über den Luftkrieg entziffert werden. Das erste Narrativ beschreibt den Luftkrieg als Symbol der Sinnlosigkeit des Krieges überhaupt oder auch als Symbol der Destruktivität der Moderne als solcher. So auch der ehemalige Oberbürgermeister von Dresden, der die Bombardierung seiner Stadt „sinnlos“ und „barbarisch“ findet, aber nicht sinnloser und barbarischer als „den gesamten Krieg“, der von Deutschland ausging.47 Diese von weiten Teilen der Zivilgesellschaft geteilte Deutung verschmilzt die unterschiedlichen Strategien der Alliierten und der Achsenmächte ebenso wie deren menschliche Folgen zu einer einzigen Ikone des Irrsinns. Im Jahr 2005 organisierte Dresden ein Veranstaltung, in der Botschaften von Überlebenden des Krieges aus Dresden, Bagdad, Guernica, New York, Hiroshima, Grosny und anderen Orten öffentlich vorgetragen wurden, um die Idee einer globalen Gemeinschaft der Opfer zu evozieren. Ungefähr zur selben Zeit hielt der Oberbürgermeister von Hamburg eine Gedenkrede, in der die Bombardierung der Stadt nicht als Folge der Entscheidungen von politischen Führungen behandelt wird, die zuvor angegriffen worden waren, sondern als Resultat eines Bruchs der „Dämme der Zivilisation“.48 Mit diesem Bild, das der Sexualtheorie von Sigmund Freud entnommen ist,49 werden Konzepte von Autonomie und Verantwortung zugunsten eines Narrativs aufgegeben, in dem sich ganze Kollektive besinnungslos der Eigendynamik technologischer Zerstörungspotenziale hingeben. Ein zweites Erinnerungsnarrativ basiert auf der Überzeugung, dass die alliierte Bombardierung nicht als Ausdruck einer außer Kontrolle geratenen Eigendynamik der Moderne erklärt werden kann, sondern als Folge moti46  Blaschke.

47  Grußwort des Oberbürgermeisters Ingolf Roßberg, „GeDenken“, Dresden, 13. Februar 2006. 48  Zit. nach Thiessen, S. 421–22. 49  Siehe z. B. Freud, S. 178.



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vierten politischen Handelns. Seit den achtziger Jahren beruht beispielsweise ein bedeutender Teil der in Hamburg geleisteten Erinnerungsarbeit in der Zivilgesellschaft auf einem Kausalschema, das Nazi-Deutschland als Quelle einer Gewalt deutet, die letztlich auf dieses Land zurückschlug. Das HoseaWort „Denn wer Wind sät, wird Sturm ernten“ (Hosea 8,7) ist nicht umsonst beinahe zu einem Klischee populärer Erinnerungsdiskurse an den Zweiten Weltkrieg geworden. Auch diese Art der Verteilung klarer moralischer und politischer Verantwortung auf unterschiedliche historische Akteure findet ihren Widerhall in Dresden. Im Februar 2009 betonte etwa die damals frisch gewählte Oberbürgermeisterin Helma Orosz: „Wie Dresden mussten tausende andere Menschenorte in Schutt und Asche sinken, ehe denen, die diesen Krieg angezettelt hatten, der nationalsozialistischen Verbrecher-Clique, Einhalt geboten war“.50 Andere Repräsentanten der Stadt riefen die Bürgerschaft dazu auf, sich ihrer jüdischen Mitbürger zu erinnern, die auch in Dresden verfolgt und verschleppt wurden. Ausdrücklich wurde an das Schicksal des bekannten Literaturwissenschaftlers Victor Klemperer erinnert, der die Nazizeit nur knapp in einem Versteck überlebt hatte: „der Angriff am 13. Februar hatte ihm das Leben gerettet!“51 Bürgergruppen haben zudem das bereits aus der Hamburger Erinnerungsgeschichte bekannte Doppelbild der deutschen Zivilisten als Opfer und Komplizen bekräftigt, das dem Doppelbild der Alliierten als Tätern und Befreiern entspricht.52 Der Hauptunterschied zwischen Ost und West, Dresden und Hamburg, kann daran abgelesen werden, dass es kaum eine Gedenkrede eines demokratisch gewählten Politikers in Dresden gibt, bei der sich der Redner nicht genötigt sieht, den rechtsradikalen Gegendiskurs der Zivilgesellschaft zu thematisieren. Dieser rechtsradikale Diskurs, der in ganz Deutschland und darüber hinaus vernehmbar ist, nur in Dresden jedoch alljährlich von einer großen versammelten Menschenmenge aktiv in Szene gesetzt wird, versucht nicht länger, „Auschwitz“ und „Dresden“ gegeneinander aufzurechnen, wie dies noch Adorno zu seiner Zeit feststellten musste.53 Die rechtsradikale Zivilgesellschaft setzt stattdessen „Dresden“ in direkte Analogie zum Holocaust und klassifiziert die Bombardierung dieser und anderer Städte als „Bombenholocaust“. Dieser neue Topos steht in einer langen Tradition von 50  Ansprache der Oberbürgermeisterin Helma Orosz, Altmarkt Dresden, 14. Februar 2009. 51  Rede des Ersten Bürgermeisters Lutz Vogel zur Gedenkveranstaltung „Wahrhaftig erinnern – versöhnt leben“, Neumarkt Dresden, 13. Februar 2008. 52  „Gleichzeitig zeigt die Geschichte der Stadt die Mitverantwortung auch der Dresdner Bürger für die unmenschliche, verbrecherische Politik der nationalsozialistischen Machthaber“, so eine Stellungnahme der Interessengemeinschaft „13. Februar 1945“ e. V. Siehe http: /  / www.dresden-1945.de / download / pressematerial.pdf. 53  Siehe Adorno, S. 556–57.

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Versuchen, eine moralische Äquivalenz zwischen dem Holocaust und dem Krieg der Alliierten herzustellen. Diese Versuche sind seit der Gründung der Bundesrepublik von zahlreichen Politikern, den Kirchen bis hin zu linksradikalen Journalisten wie Ulrike Meinhof getragen worden.54 Er hat zudem den Vorteil, dass er nicht als strafbare Leugnung des Holocaust aufgefasst werden kann. Vielmehr wird die Holocaustvokabel als flottierender Signifikant eingeführt, der erst dadurch seine wahre Bedeutung erhält, dass er auf die deutschen Erinnerungen an den Bombenkrieg angewendet wird. Die Begriffskarriere des „Bombenholocaust“ kann zum Teil auf die Publikation von Jörg Friedrichs Der Brand (2002) zurückgeführt werden, in der der Autor zwei Äquivalenzen herstellt: das britische Bomberkommando und die Piloten der Luftwaffe werden in Analogie zu den gleichnamigen Einheiten der Waffen-SS als „Einsatzgruppen“ bezeichnet; zugleich werden die Keller, in denen die Deutschen vor der Vernichtungskraft der Bomben oft vergeblich Zuflucht suchten, wiederholt als „Krematorien“ bezeichnet.55 Das bedeutet keineswegs, dass Friedrich ein Rechtsradikaler ist. Vielmehr glaubt er, dass die alliierte Bombardierung ein einzigartiges Verbrechen war, das in keiner Weise mit anderen Kriegen verglichen werden kann, die von Großbritannien oder den Vereinigten Staaten in jüngerer Zeit geführt worden sind. Im Nachwort zur englischen Übersetzung seines Buches erwähnt Friedrich zum Beispiel, dass er den jüngsten Irakkrieg der USA unterstützt hat.56 Der viel weiter gehende revisionistische Diskurs der rechtsradikalen Zivilgesellschaft, der die USA und den Westen als Mächte des Bösen charakterisiert, wird von anderen Strömungen der Zivilgesellschaft sowie von den Regierungen als symbolische Kontamination der Ideale der Demokratie zurückgewiesen. Die Rechtsradikalen „besudeln das Andenken an die Toten, sie gehören nicht in diese Stadt, sie schänden diese Stadt“,57 so die Bürgermeisterin von Dresden. Gleichzeitig geben lokale Aktivisten zu, dass das revisionistische Erinnerungsprojekt bei einem Teil der Bevölkerung auf Zustimmung trifft. Während wir in Hamburg seit Jahren einen Rückgang emotionaler öffentlicher Kontroversen um die Bedeutung der Luftangriffe wie auch um die angemessene Form des Gedenkens an sie verzeichnen,58 ist Dresden zu einem Brennpunkt von Erinnerungskonflikten geworden. 2009 hat der von 54  Siehe die zahlreichen Belege in Margalit sowie den Artikel von Meinhof, der ursprünglich in der Zeitschrift Konkret erschienen ist. Bezeichnenderweise findet man die deutsche Fassung des Artikels heute leicht auf den Websites rechtsradikaler Organisationen. 55  Siehe Friedrich 2002. 56  Siehe Friedrich 2006, S. 483. 57  Rede von Helma Orosz, Heidefriedhof Dresden, 13. Februar 2009. 58  Siehe Thiessen, S. 457.



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einem lokalen rechtsradikalen Verein angemeldete jährliche „Gedenkmarsch“ mehr als 6000 gleichgesinnte Demonstranten aus ganz Deutschland und einigen benachbarten Ländern angezogen. Auch die offiziellen Veranstaltungen der Stadt werden inzwischen von diesen Gruppen dominiert. Auf dem Dresdner Heidefriedhof verschwinden die Kränze anderer Bürger oder der Repräsentanten Großbritanniens und Deutschlands unter den Kränzen dieser Gruppen. Die Holocaust-Überlebende Ruth Kluger, emeritierte Germanistik-Professorin an der University of California, sagte eine Einladung ab, weil sie sich den Anblick von Tausenden marschierender Neonazis nicht zumuten wollte. Für den ebenfalls eingeladenen britischen Historiker Frederick Taylor wurde vor einigen Jahren Begleitschutz angefordert. Diese Situation hat wiederum linke Gegendemonstranten auf den Plan gerufen, die regelmäßig ihre eigene, nicht minder dramatische Aufführung inszenieren. Einige dieser Gruppen propagieren lautstark eine provokative, geradezu karnevaleske Übertreibung der Position des gerechten Krieges, etwa nach dem Motto eines Transparents, das verdutzte Zuschauer an einem Gedenktag sehen konnten: „Bomber Harris Superstar, dir dankt die rote Antifa“. Es ist nicht verwunderlich, dass unter diesen Bedingungen keiner der Erinnerungsakteure in Dresden in der Lage ist, das herzustellen, was Alexander eine „fused performance“ nennt, das heißt eine Situation, in der sich ein anwesendes Publikum mit den Darbietenden identifiziert und deren Skripte für plausibel und authentisch hält.59 Viele Dresdner bleiben dem öffentlichen Spektakel fern, das von radikalen Erinnerungsaktivisten dominiert wird, die von Tausenden von Polizisten in Kampfanzügen daran gehindert werden müssen, aufeinander einzuschlagen. Die Oberbürgermeisterin der Stadt hat nach den Gedenktagen im Jahr 2009 einen Bürgerdialog ins Leben gerufen, der klären soll, wie die Stadt in Zukunft ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg in einer Situation gedenken soll, in der der lokale Konsens über den symbolischen Text des Gedenkens bemerkenswert schwach und zerbrechlich ist. Nichts könnte von dieser Situation der Ratlosigkeit weiter entfernt sein als die Lage der Dinge in Hamburg, wo die Erinnerung an den Schrecken der Operation Gomorrah normalisiert und von explosiven öffentlichen Gefühlen befreit worden ist. V. Macht die deutsche Zivilgesellschaft aus der Bombardierung nachträglich doch noch ein kulturelles Trauma? Die jahrelange Bombardierung deutscher Städte durch die westlichen Alliierten während des Zweiten Weltkriegs hat immenses Leid ausgelöst, 59  Siehe

Alexander 2004.

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das schwerlich in allen Fällen mit den Prämissen der Theorie des gerechten Krieges in Einklang zu bringen ist. Ohne Zweifel waren diese Vorkommnisse für die Opfer traumatisch. Gleichwohl sind zivilgesellschaftliche Anstrengungen gescheitert, diese Vorkommnisse zum Material eines kulturellen Traumas zu verdichten, das über Generationen hinweg von den Deutschen als Quelle von Identität und Solidarität im kollektiven Gedächtnis festgehalten wird. Der wichtigste Grund für dieses Scheitern liegt darin, dass die Erinnerung an den Bombenkrieg zur Funktion einer anderen Erinnerung gemacht worden ist, nämlich der Erinnerung an den Holocaust. Dies wiederum heißt nicht, dass die Holocausterinnerung die Erinnerung an das Leid der deutschen zivilen Opfer „verdrängt“ hat oder dass das Reden über ­dieses Leid „tabuisiert“ worden ist. Tatsächlich haben sich die Bilder der Zerstörung der Städte tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Sebalds Frage jedoch, „was all das in Wahrheit bedeutete“,60 kann nicht unabhängig von der Frage beantwortet werden, was die Verbrechen der deutschen Wehrmacht und der SS-Einsatzgruppen bedeuten. In dem öffentlichen Diskurs über die Bombardierung Deutschlands durch die Alliierten, wie er seit Kriegsende in den kommunikativen Institutionen der Zivilgesellschaft geführt worden ist, geht es nicht um die triviale Tatsache, dass auch unschuldige Zivilisten zu Opfern wurden; vielmehr geht es darum, ob die deutschen Opfer jener kulturellen Wertschätzung würdig sind, die in unserer Zeit der „Figur des passiven Opfers“61 gezollt wird, die außerhalb jeglichen Konflikt- und Verantwortungszusammenhangs angesiedelt wird und daher nicht zugleich auch Mittäter oder Komplize sein kann. Wenn Deutsche als rein passive Opfer des Krieges repräsentiert worden sind, dann handelt es sich regelmäßig um Versuche, das nationale Kollektiv der Deutschen von seiner Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust zu entlasten. Nicht der Bombenkrieg, sondern der Holocaust ist das zentrale kulturelle Trauma für Deutsche und andere. Diese soziale Tatsache wiederum konditioniert gegenwärtige und zukünftige Erinnerungsprojekte. Ein kulturelles Trauma funktioniert als Filter und organisierendes Zentrum von politischen Wahrnehmungen und Werturteilen, die ihrerseits Prozesse kollektiver Mobilisierung und Identitätsbildung unterfüttern. Die Erinnerung an den Bombenkrieg ist weit davon entfernt, eine solche Rolle zu spielen. Literatur Adorno, Theodor W.: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Band 10.2, Frankfurt am Main 1977, S. 555–572. 60  Sebald,

S. 11–12. S. 80.

61  Assmann,



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Mobilisierung und kriegsgesellschaftliches Dilemma Beobachtungen zur kriegsgesellschaftlichen Moderne1 Von Volker Kruse Es gibt die Kriege der Zivilgesellschaft – das Thema dieses Bandes –, es gibt aber auch, wie die Weltkriege des 20. Jahrhunderts lehren, die Kriege der Kriegsgesellschaft. Der folgende Beitrag geht von der Unterscheidung zwischen Zivilgesellschaft und Kriegsgesellschaft aus. Das ist nicht in dem Sinn gemeint, dass nur eine Gesellschaft, die in Frieden lebt, eine Zivilgesellschaft ist, und, sobald sie Krieg führt, zur Kriegsgesellschaft mutiert. Im hier verstandenen Sinn kann auch eine Zivilgesellschaft Krieg führen und eine Kriegsgesellschaft, zumindest zeitweise, in einem Zustand ohne Krieg leben. Was unterscheidet die Bundesrepublik Deutschland, die in Afghanistan militärisch engagiert ist, vom Deutschen Reich, das vor gut hundert Jahren in den Ersten Weltkrieg eintrat? Es handelt sich heute, um es mit Daase auszudrücken, um einen „kleinen Krieg“2, im Fall des Deutschen Reichs 1914 bis 1918 um einen „großen Krieg“. Der in unserem thematischen Kontext entscheidende Unterschied liegt in den strukturellen Effekten, welche diese Kriege hervorrufen. Heute wird der Afghanistan-Krieg quasi ausgelagert, zur Aufgabe der Organisation Bundeswehr erklärt, die bezeichnenderweise während dieses Krieges verkleinert wird, und ansonsten geht das zivilgesellschaftliche Leben eher seinen gewohnten Gang. Die gesellschaftlichen Strukturen und die politischen Entscheidungsprozesse sind unverändert geblieben. Dagegen rief der Erste Weltkrieg massive Strukturänderungen und einen grundlegenden Wandel der Handlungsorientierungen hervor. Erst dieser fundamentale Wandel, den man mit gutem Recht als gesellschaftliche Transformation bezeichnen kann, führt zu einer Kriegsgesellschaft. 1  Der Beitrag erschien ursprünglich in der Zeitschrift für Soziologie, Heft 3  /  2009, S. 198–214. Er wurde zum Zweck dieser Publikation überarbeitet und mit einem Vorwort versehen. Der Inhalt ist weitgehend unverändert geblieben. Für die Lektüre und Kritik des Textes danke ich Uwe Barrelmeyer, Hansjürgen Daheim, Klaus Dammann, Marita Gelbe-Kruse, Hans Martin Kruckis, Marion Müller, Hartmann Tyrell und den Herausgebern, für das Korrekturlesen Helga Volkening. 2  Daase.

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Es ist nicht allein der große Krieg selbst, der eine gesellschaftliche Transformation auslöst. Auch die (subjektiv) sichere Erwartung eines großen Krieges, sei es in aggressiver, sei es in defensiver Absicht, kann kriegsgesellschaftliche Strukturen induzieren, wie die Geschichte des Dritten Reichs und der stalinistischen Sowjetunion gezeigt hat. Eine Kriegsgesellschaft im hier verstandenen Sinn liegt also dann und nur dann vor, wenn eine kriegsgesellschaftliche Transformation hervorgerufen wird, sei es durch einen großen Krieg, sei es in Erwartung eines großen Krieges. Von der kriegsgesellschaftlichen Transformation während der Weltkriege und vom Versuch, diese theoretisch zu verstehen, handelt der folgende Beitrag. Das Konzept der Kriegsgesellschaft mag dabei hilfreich sein, den Krieg der Zivilgesellschaft im Vergleich stärker zu profilieren. I. William Golding hat einmal gesagt, das 20. Jahrhundert sei das kriegerischste und grausamste in der Geschichte überhaupt gewesen3. Soziologische Theorie hingegen konzipiert moderne Gesellschaft als zivilgesellschaftliche Moderne. Sie abstrahiert von Kriegen und deren gesellschaftlichen ­Folgewirkungen. In den großen makrotheoretischen Entwürfen etwa von Parsons, Luhmann, Habermas, Münch, Bourdieu oder den Modernisierungs­ theorien nach 1945 hat der Krieg keinen systematischen Ort. „Die Neuzeit erscheint hier als mehr oder weniger linearer Differenzierungs- und Rationalisierungsprozess, ganz so, als ob Modernisierung stets ein friedliches, geradezu harmonisches Fortschreiten gewesen wäre und es in Europa die wiederkehrenden Phasen massiver zwischenstaatlicher Gewalt nie gegeben hätte“.4 Dagegen betonen Soziologen, welche die Kriegsblindheit soziologischer Theorie anprangern, die konstitutive Bedeutung des Krieges für die Moderne.5 Als Konsequenz der kriegssoziologischen Kritik an der soziologischen Theorie wird hier vorgeschlagen, die Moderne als Doppelgestalt von Zivilgesellschaft und Kriegsgesellschaft zu begreifen6. Kriegsgesellschaft ist 3  „I can’t help thinking that this had been the most violent century in human history“. Diesen Satz hat Eric Hobsbawn bezeichnenderweise seinem Werk „Age of extremes – The short twentieth century, 1914–1991“ vorangestellt. 4  Knöbl / Schmidt, S. 7, vgl. auch Knöbl, S. 265, Joas / Knöbl. 5  Tilly 1975; 1985; Skocpol; Giddens; Mann; Knöbl / Schmidt; Spreen. Zusammenfassend zum kriegstheoretischen Denken in den Sozialwissenschaften seit Hobbes vgl. Joas / Knöbl. 6  In ähnlichem Sinne sprechen Knöbl / Schmidt (S. 7) metaphorisch von der „Janusköpfigkeit der Neuzeit“. Auch Spreen unterscheidet „Kriegsgesellschaft“ und „Zivilgesellschaft“.



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demnach als differenter Vergesellschaftungsmodus mit charakteristischen Strukturen, Institutionen und Handlungsorientierungen zu verstehen, der durch eine gesellschaftliche Transformation eingeleitet wird, daher eigener theoretischer Anstrengungen bedarf. Es wird also eine Leitunterscheidung zur Diskussion gestellt, welche der von „Marktwirtschaft“ und „Planwirtschaft“ in den Wirtschaftswissenschaften oder „Demokratie“ und „Diktatur“ in der Politikwissenschaft entspricht. In meinen folgenden theoretischen Überlegungen ist Herbert Spencer von herausgehobener Bedeutung, weil er als einziger mir bekannter Soziologietheoretiker ein ähnliches dualistisches Konzept („militärischer Gesellschaftstypus“, „industrieller Gesellschaftstypus“) entwickelt hat. Sein „militärischer Gesellschaftstypus“ ist theorietechnisch einfach gehalten, aber er erscheint in wesentlichen Punkten theoretisch plausibel, ausbaufähig und anschlussfähig an die geschichtswissenschaft­ liche Forschung. Meine an Spencer anschließenden theoretischen Überlegungen konzentrieren sich auf zwei Kategorien: Mobilisierung und kriegsgesellschaftliches Dilemma, die in einführenden theoretischen Überlegungen vorgestellt werden (I.). Am Beispiel der Gesellschaften des Ersten Weltkriegs soll gezeigt werden, dass es unter den Bedingungen eines großen, langdauernden, tendenziell totalen Krieges zu einer gesellschaftlichen Transformation kommt oder kommen kann, welche durch den Mobilisierungswettlauf der Kriegsparteien ausgelöst wird (II.). Daraus ergeben sich neue soziologietheoretische Interpretationsperspektiven für die gesellschaftlichen Entwicklungen der Sowjetunion (III.) und des Dritten Reichs (IV.). Zweck dieses Aufsatzes ist es, kriegsbedingte Vergesellschaftung ins Blickfeld soziologischer Theorie zu rücken. Den theoretischen Überlegungen dieses Beitrags liegt implizit eine analytische Unterscheidung zwischen Allgemeiner Soziologischer Theorie und Soziologischer Gesellschaftstheorie zugrunde. Allgemeine Soziologische Theorie entwirft Gesellschaft als gedankliches Konstrukt ohne empirischen Gegenstand. Dagegen handelt Soziologische Gesellschaftstheorie von moderner Gesellschaft als empirischem Gegenstand. Eine Allgemeine Soziologische Theorie wird, sobald sie auf Gesellschaft als empirischen Gegenstand bezogen wird, zu einer Beobachtungsperspektive. In diesem Sinne konstruiere ich, eine allgemeine Theorie Spencers überarbeitend und erweiternd (s. u.), eine Beobachtungsperspektive in gesellschaftstheoretischer Absicht. Da es sich hier lediglich um zwei Kategorien (Mobilisierung, Kriegsgesellschaftliches Dilemma) handelt, wird die Bezeichnung „Theorie“ bzw. „Gesellschaftstheorie“ für dieses Aufsatzprojekt vermieden.

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II. Meine Grundthese besagt, dass wir idealtypisch zwei Modernen mit unterschiedlichen Vergesellschaftungsmodi unterscheiden können. Die eine ist die zivilgesellschaftliche Moderne, die wir recht erfolgreich in unserer Allgemeinen Soziologischen Theorie bearbeiten. Die andere ist die kriegsgesellschaftliche Moderne, die in diesem Beitrag unter theoretischen Gesichtspunkten thematisiert werden soll. Sie tritt zuerst in Erscheinung während der Französischen Revolution, ausgelöst durch den Interventionskrieg Österreichs und Preußens 1792 gegen das revolutionäre Frankreich. Die Hoch-Zeit der kriegsgesellschaftlichen Moderne liegt zweifellos in der Periode der Weltkriege zwischen 1914 und 1945 – man denke an die Kriegsgesellschaften des Ersten Weltkriegs, die Sowjetunion, das nationalsozialistische Deutschland und andere Diktaturen. Im außereuropäischen Raum ist insbesondere Japan zu nennen: seit dem Beginn der Meji-Dynastie von 1868 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, nach dem Zweiten Weltkrieg die Sowjetgesellschaft als Relikt der Epoche der Weltkriege sowie China, Korea, Vietnam und Kuba. (Es handelt sich um eine übergreifende, langfristig angelegte Arbeitshypothese, die in diesem Aufsatz nur für die Zeit der Weltkriege erhärtet werden kann). Meine zweite These ist, dass diese Gesellschaften eine Reihe von Merkmalen gemeinsam haben, die sie von der zivilgesellschaftlichen Moderne unterscheiden. Dazu zählen insbesondere zentrale Steuerung und hierarchische Differenzierung nach dem Vorbild militärischer Organisation. Meine dritte These besagt, dass diese gemeinsamen Merkmale maßgeblich mit Krieg zusammenhängen. Kriege sind nicht einfach Ereignisse, die kommen und gehen, sondern sie können eine spezifische systemische Dynamik induzieren. Große, langdauernde, „symmetrische“, tendenziell totale Kriege (nicht: kleine, asymmetrische Kriege) führen zu gesellschaftlichen Transformationen. Das Ergebnis dieser Transformationsprozesse bezeichne ich als Kriegsgesellschaft. Kriegsgesellschaften sind meist staatlich organisierte Verbände, die einen tendenziell totalen Krieg führen oder einen solchen konkret vorbereiten. Nach den Kriegen folgt eine Re-Transformation zur Zivilgesellschaft. Diese kann sukzessiv, zeitversetzt (wie in der Sowjetunion) und partiell (wie in China) auftreten, während die kriegsgesellschaftliche Transformation meist unmittelbar erfolgt, nicht selten schon antizipativ vor Kriegsbeginn, wie in der stalinistischen Sowjetunion und dem Dritten Reich. Den Ausgangspunkt für meine Überlegungen bildet die Theorie der Gesellschaftstypen von Herbert Spencer.7 Dieser unterscheidet idealtypisch zwischen militärischem und industriellem Gesellschaftstypus. Ersterer beschreibt die gesellschaftlichen Strukturen, die sich unter Kriegsbedingungen heraus7  Spencer,

S. 568–667, v. a. S. 568–578.



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bilden, letzterer die Verhältnisse unter friedlichen Bedingungen. Demnach ist der militärische Gesellschaftstypus gekennzeichnet durch einen starken, despotischen Staat, zentrale Steuerung, hierarchische Differenzierung, Vergesellschaftung durch Zwang, individuelle Unfreiheit, strikte Unterordnung des Individuums, militärisches Wertesystem (Tapferkeit, Heldenkult, Disziplin, Gehorsam, Rache) und Tendenz zu autarken Imperien. Diese Phänomene werden direkt oder indirekt ausgelöst durch Mobilisierungskonkurrenz. Denn von zwei als gleich gedachten Gesellschaften gewinnt, theoretisch betrachtet, diejenige den Krieg, die ein Maximum an Soldaten und Arbeitern für Kriegszwecke mobilisiert. Eine ganz andere gesellschaftliche Entwicklung ergibt sich hingegen unter vollkommen friedlichen Bedingungen („industrieller Gesellschaftstypus“). Dann bilden sich hohe Berufsdifferenzierung und Arbeitsteilung, abnehmende Herrschaftsintensität, Abbau, Dezentralisierung und Demokratisierung staatlicher Institutionen, Vergesellschaftung auf freiwilliger Basis über das Medium des Vertrages, zunehmender Individualismus und Nonkonformismus sowie eine Tendenz zu internationalen Zusammenschlüssen heraus. Spencer hat betont, dass in realen Gesellschaften immer Elemente beider Vergesellschaftungsmodi enthalten sind, industrieller und militärischer Gesellschaftstypus also als Idealtypen zu verstehen sind.8 Spencers Unterscheidung des militärischen und industriellen Gesellschaftstypus entspricht unserer Unterscheidung von Kriegs- und Zivilgesellschaft. Anschließend an Spencer kann man eine Kriegsgesellschaft idealtypisch wie folgt charakterisieren: Grundlegend ist die Mobilisierungskonkurrenz. Von zwei gleich gedachten Gesellschaften gewinnt ceteris paribus diejenige, welche die größere Zahl an Soldaten mobilisiert und einen maximalen Teil der nichtkämpfenden Bevölkerung zur kriegsrelevanten Produktion einsetzt.9 Krieg ist, aus dieser Perspektive gesehen, ein Mobilisierungswettlauf, quantitativ und qualitativ.10 Eine so massive Mobilisierung kann aber nur zentral gesteuert werden. Kriegsgesellschaften bilden daher eine Führungselite aus Teilen der Politik, des Militärs und der Wirtschaft heraus, häufig mit einer charismatischen Persönlichkeit an der Spitze wie Lloyd George, Clemenceau, Hindenburg / Ludendorf, Stalin, Hitler, Churchill, Roosevelt, Mao oder Ho Chi Minh. Die Führungseliten beobachten Gesellschaft mit den Codes „Freund / Feind“ und „Sieg / Niederlage“. Mittels eines wachsenden Verwal8  Spencer,

S.  568 f. S. 569–571. 10  Krieg wird im Allgemeinen durch den Gewaltbegriff definiert, z. B. bei Sofsky, S. 134 f.: „Krieg ist der organisierte Einsatz kollektiver Gewalt zwischen sozialen Großgruppen, seien dies reguläre Staatsarmeen, Horden, Banden, Milizen, Freischärler oder Bürgerwehren“. Davon zu unterscheiden ist der Ansatz, Krieg über Mobilisierung bzw. deren gesellschaftliche Folgen zu definieren, wie es hier in Anschluss an Spencer geschieht. 9  Ebd.,

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tungsapparates wird die Mobilisierung organisiert. Um sicher zu stellen, dass alle Kräfte für die Kriegsführung eingespannt werden, wird tendenziell die gesamte Gesellschaft nach militärischem Vorbild gemäß dem Prinzip von Befehl und Gehorsam organisiert. Die Arbeiter werden häufig militärischem Disziplinarrecht unterstellt. Das Individuum zählt nicht mehr, es geht um das Überleben des Ganzen („Du bist nichts, Dein Volk ist alles“). Zivilgesellschaftliche Werte wie Freiheit, Humanität oder Demokratie treten in den Hintergrund, gefragt sind Mut, Tapferkeit, Gehorsam und Disziplin. Grundrechte werden eingeschränkt oder verschwinden ganz. Wer in der Zivilgesellschaft Menschen umbringt, ist ein Verbrecher, in der Kriegsgesellschaft ist er ein Held. Im Krieg ist nicht Pluralität, sondern Einheit und Konformität angesagt („Burgfrieden“, „union sacré“, „Volksgemeinschaft“); kaum etwas gefährdet den Kriegserfolg so sehr wie innere Konflikte. Die Gesellschaftsorganisation sowie die Semantik werden militarisiert. Kurz: Moderne Zivilgesellschaften sind primär funktional differenziert mit autonomen, sich selbst steuernden Funktionssystemen. Moderne Kriegsgesellschaften sind primär hierarchisch, nach Art einer militärischen Organisation differenziert und werden zentral gesteuert. All die genannten und andere kriegsgesellschaftliche Phänomene folgen direkt oder indirekt aus der Mobilisierungskonkurrenz. Insofern ist Mobilisierung die zentrale Größe, von der eine Theorie der kriegsgesellschaftlichen Moderne auszugehen hat. Doch in der Mobilisierungskonkurrenz steckt – und spätestens an diesem Punkt verlassen wir Spencer – ein vertracktes Problem. Die Kriegsgegner müssen, jedenfalls bei annähernd gleich starken Kräfteverhältnissen, bestrebt sein, ein Maximum an Menschen und Material in größtmöglicher Qualität für den Krieg zu organisieren. Die militärische und ökonomische Mobilisierung geht aber zu Lasten der Versorgung vor allem der zivilen Bevölkerung. Je mehr Soldaten, Waffen und Ausrüstung mobilisiert werden, desto weniger verbleibt für die Versorgung der Bevölkerung. Mobilisierung droht daher auf die Dauer die physische und psychische Basis der Kriegführung zu untergraben. Je stärker an der Mobilisierungsschraube gedreht wird, desto wahrscheinlicher sind ceteris paribus Desertionen, Rebellionen und Revolutionen. Ich bezeichne dies als kriegsgesellschaftliches Dilemma. Das Dilemma besteht darin, entweder die militärische Kraft nicht voll zu entfalten mit der Konsequenz der militärischen Niederlage oder elementare Grundbedürfnisse zu vernachlässigen und damit Desertionen, Unruhen und Revolutionen der erschöpften, hungernden Soldaten und Zivilisten zu riskieren. Das kriegsgesellschaftliche Dilemma führte im Ersten Weltkrieg zum inneren Zusammenbruch Russlands, ÖsterreichUngarns und Deutschlands. Die Revolutionen in Mittel- und Osteuropa gegen Ende des Ersten Weltkriegs und danach lassen sich besser als Folgen des kriegsgesellschaftlichen Dilemmas verstehen denn als sozialistische Revolutionen im marxistischen Sinn.



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Grafisch lassen sich die theoretischen Überlegungen zur kriegsgesellschaftlichen Moderne so zusammenfassen:

Abb. 1 Kriegsgesellschaftliche Moderne

Meine an Spencer anschließenden kriegsgesellschaftstheoretischen Überlegungen sollen zu heuristischen Zwecken eine Beobachtungsperspektive konstruieren.11 Sie ist gekennzeichnet durch einen dualistischen Gesellschaftsbegriff (Kriegsgesellschaft und Zivilgesellschaft). Aus dieser Perspektive erscheint gesellschaftliche Entwicklung nicht als autogene Evolu­ tion, sondern als kriegsgesellschaftliche Transformation und zivilgesellschaftliche Re-Transformation. Die zentralen erkenntnisleitenden Kategorien für die Kriegsgesellschaft sind Mobilisierung und kriegsgesellschaftliches Dilemma. Mit Hilfe dieser Kategorien folgen Beobachtungen zu Kriegsgesellschaften zur Zeit der Weltkriege, die sich empirisch auf die einschlägige geschichtswissenschaftliche Literatur stützen. Diese Gesellschaften wurden ausgewählt, weil sie mit am stärksten dem Idealtypus einer Kriegsgesellschaft entsprechen. Im folgenden Abschnitt (II.) soll gezeigt werden, dass nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in der Tat ein fundamentaler gesellschaftlicher Transformationsprozess stattfand. Im anschließenden Teil (III.) über die Sowjetunion wird die These vertreten, dass deren bekannte 11  Ich

tive“.

spreche im Folgenden auch von der „Spencerschen Beobachtungsperspek-

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despotische und zentralistische Strukturen nicht oder nicht nur auf ideologische Verirrung und Machtversessenheit zurückzuführen sind, sondern eher als gesellschaftliche Reaktion auf Kriege bzw. Kriegsbedrohungen begriffen werden sollten. Die Sowjetunion wird also nicht als sozialistisches Experiment, sondern als Kriegsgesellschaft interpretiert. Meine Ausführungen zum Dritten Reich (IV.) konzentrieren sich auf die Mobilisierungsstrategie der nationalsozialistischen Führung und interpretieren sie als Lösungsversuch des kriegsgesellschaftlichen Dilemmas. Dieser Beitrag thematisiert ein Erfahrungsobjekt (Erster Weltkrieg, Sowjetunion, Drittes Reich), das man im Allgemeinen mit der Geschichtswissenschaft verbindet, welches hier aber unter spezifisch soziologischen Erkenntnisperspektiven beobachtet wird. Er orientiert sich am Verständnis Max Webers, wonach die Soziologie auch historisch arbeitet, dabei aber nach „generellen Regeln des Geschehens“ sucht.12 So interessiert hier das nationalsozialistische Deutschland nicht in seiner Einmaligkeit, sondern als Exemplar der Gattung Kriegsgesellschaft. Es werden zudem neue soziologische Begriffe eingeführt wie kriegsgesellschaftliche Transformation, Mobilisierung, Mobilisierungskonkurrenz und kriegsgesellschaftliches Dilemma. Es ist aber auch das Ziel, zu empirisch gehaltvollen Aussagen über Kriegsgesellschaft zu gelangen. Dazu sind die Erträge geschichtswissenschaftlicher Forschung, auf die sich der Beitrag stützt, unverzichtbar. II. Krieg gebiert nicht selbstläufig kriegsgesellschaftliche Transformation. In asymmetrischen Kriegen mit einseitigen Kräfteverhältnissen findet sie allenfalls ansatzweise statt. Aber auch die sogenannten Einigungskriege Preußens und seiner Verbündeten 1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Österreich und 1870 / 71 gegen Frankreich brachten keine nennenswerte kriegsgesellschaftliche Transformation hervor. Sie wurden schon nach wenigen Wochen mit einer einzigen Schlacht entschieden, auch wenn sich der Krieg gegen Frankreich nach der Schlacht von Sedan noch über ein paar Monate hinzog. Bei derartigen kurzfristigen Kriegen tritt der Mobilisierungseffekt nicht oder nur geringfügig in Kraft. Denn kriegführende Staaten haben in der Regel für einen kurzen Krieg vorgesorgt und genügend Waffen, Munition und Lebensmittel bereitgestellt. Als im Juli / August 1914 die europäischen Großmächte in den Ersten Weltkrieg geraten, rechnet nach den Erfahrungen des 19. Jahrhunderts kaum einer mit einem langen Krieg. Drei, maximal sechs Monate werden veran12  Weber,

S. 9.



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schlagt. Der deutsche Generalstabschef vor dem Ersten Weltkrieg, Generaloberst Alfred v. Schlieffen, hält wie viele andere einen langen Krieg unter modernen industriegesellschaftlichen Bedingungen für unmöglich.13 Daher sieht sein Kriegsplan eine rasche Entscheidung in einer gigantischen Umfassungsschlacht gegen Frankreich vor. Doch die deutsche Offensive scheitert an der Marne, die Front im Westen verfestigt sich, und es entwickelt sich ein verlustreicher und ressourcenraubender Stellungskrieg. Der Muni­ tionsverbrauch erreicht ein Ausmaß, das niemand vorausgesehen hatte. Während der Marneschlacht Anfang September 1914 verschießen die deutschen Armeen pro Tag mehr Munition als im gesamten deutsch-französischen Krieg 1870 / 71.14 Besonders im Deutschen Reich, das durch die britische Seeblockade vom Welthandel abgeschnitten ist, macht sich bald eine empfindliche Knappheit von Rohstoffen und Munition bemerkbar. Auf Initiative von Walter Rathenau, dem Präsidenten der AEG, wird bereits im September 1914 die Kriegsrohstoffabteilung (KRA) gegründet, welche dem Kriegsministerium angegliedert ist. Um die knappen und kriegswichtigen Rohstoffe des belagerten Deutschen Reiches optimal zu bewirtschaften, werden Aktiengesellschaften für je einen Rohstoff gegründet, überwiegend aus privatem Kapital. Gegen Ende des Krieges sind es etwa 200 Gesellschaften. Jede Rohstoffaktiengesellschaft ist befugt, „ihren“ Rohstoff zu requirieren und entsprechend seiner Kriegswichtigkeit zu verteilen. In diesen Institutionen arbeiteten Fachleute aus der Wirtschaft, kontrolliert von der politischen und militärischen Führung. So soll gewährleistet sein, dass die Fachkompetenz der Unternehmen für die Kriegsführung eingesetzt wird. Rohstoffe fungieren somit als Steuerungsmedium des Staates, der Staat kann mithin die knappen Rohstoffe kriegswichtigen Betrieben zuweisen.15 Betriebe für zivile Güter gehen oft leer aus. Hans Ulrich Wehler hat das Gebilde der Rohstoffaktiengesellschaften als einen „Zwitter“ aus Politik und Wirtschaft bezeichnet.16 Man könnte geneigt sein, die deutsche Kriegswirtschaft als einen Ausfluss deutscher bürokratischer und etatistischer Tradition zu interpretieren. Aber das greift zu kurz, denn alle großen Kriegsgesellschaften stellen auf zentrale Steuerung um – kein Zufall, sondern eine zwingende Konsequenz 13  Eine ähnliche Einschätzung gab es bei den Hauptgegnern Frankreich und Großbritannien (Hardach 1974, S. 101; Hurwitz, S. 61). 14  Chickering, S. 48. 15  „So war die Zuteilung dringend benötigter Rohstoffe in allen kriegführenden Staaten ein starker Hebel, um die privatwirtschaftlichen Aktivitäten zu koordinieren und die staatliche Regulierung, bisweilen unter Androhung von Requisitionen, auf Preise und Gewinne auszudehnen“ (Ullmann, S. 224). 16  Wehler 2003, S. 49.

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aus der Kriegssituation.17 Theoretisch besonders interessant ist der Fall Großbritannien.18 Das traditionell liberale Land war mit der Devise „business as usual“ in den Krieg gezogen. Das Wirtschaftssystem sollte wie in Friedenszeiten gewohnt weiterhin autonom operieren können. Der Waffenund Munitionskauf bleibt dem Prinzip von Angebot und Nachfrage verpflichtet. „The British goverment’s policy in the event of war was simply to increase the flow of orders to private firms“.19 Die Folge: auf Grund der starken Nachfrage explodieren die Preise. Dennoch bleibt die mobilisierte Munitionsmenge weit hinter dem Bedarf zurück. Im Mai 1915 bricht eine englische Offensive in Flandern angeblich auf Grund von Munitionsmangel zusammen. Die Presse skandalisiert den Fall, der Premierminister Lord Asquith stürzt, ein Amt für Munitionsbeschaffung wird eingesetzt, aus dem rasch ein Munitionsministerium hervorgeht. Es avanciert unter dem späteren Premierminister Lloyd George bald zur zentral steuernden Instanz der Kriegsgesellschaft. Es baut eine starke eigene staatliche Kriegsindustrie auf, teilweise durch neu errichtete Fabriken, teilweise durch Enteignung bestehender Firmen. Es requiriert und verteilt kriegswichtige Rohstoffe. Die Kontrollen erstrecken sich nicht nur auf die Rüstungsindustrie, sondern allmählich auf die gesamte Wirtschaft des Landes, z. B. die Agrarwirtschaft, einschließlich der Festsetzung von Lebensmittelpreisen. Der Krieg führt in den beteiligten Ländern zur Zentralisierung und Bürokratisierung: „Um stärker auf die Wirtschaft einwirken zu können, brauchte der Staat neue Institutionen und mehr Personal. So setzte in allen kriegführenden Staaten ein Prozess der Bürokratisierung und Zentralisierung ein, am stärksten dort, wo die staatlichen Institutionen vor 1914 am schwächsten entwickelt waren. In Großbritannien beispielsweise entstanden zwölf neue Ministerien und 160 neue Behörden, und in den USA gab es einen regelrechten ‚rush of boards, commissions, and committees‘ (Herbert Hoover). Parallel dazu wuchs die Zahl der Staatsdiener. Trotz des Krieges stellte Großbritannien rund eine halbe Million von ihnen neu ein; die französische Bürokratie vergrößerte sich um ca. 25 Prozent. Darüber hinaus griffen alle kriegführenden Staaten auf Experten aus der Wirtschaft zurück, verfügten diese doch über Leitungs- und Steuerungskompetenzen, die Militärs, Bürokraten und Politikern fehlten“.20 Machtkonzentration an der Spitze schließt polykratische Gegentendenzen nicht aus. So gab es im Deutschen Reich nicht nur den Kaiser, der von der 17  Ullmann,

S. 222. Hurwitz; Hardach 1973, S. 86–96; Winter 1985, Wilson, S. 215–238; Strachan 2001. 19  Strachan 2001, S. 1066. 20  Ullmann, S. 222. 18  Vgl.



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Verfassung am ehesten als persönliche Spitze prädestiniert gewesen wäre, sondern auch das Kriegsministerium, die Reichsregierung, den Reichstag und die Oberste Heeresleitung, die um Macht und Einfluss rangen. Allein die Tatsache, dass Ludendorff gelegentlich als „Diktator“ apostrophiert wurde, zeigt, dass im Deutschen Reich in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs die Tendenz zu einer persönlichen Spitze mit totaler Machtvollkommenheit konstatierbar ist. Nicht nur für die Politik, auch für die Wirtschaft ist eine fundamentale Umstrukturierung zu konstatieren. „Die Umstellung der Friedens- auf Kriegswirtschaft veränderte Angebot und Nachfrage, brachte die Märkte aus dem Gleichgewicht, zerriss nationale wie internationale Wirtschaftsbeziehungen, verschob Gewichte innerhalb der Industrie, überforderte das Verkehrssystem und ließ Arbeitskräfte knapp werden“.21 So wurden z. B. dem Arbeitmarkt des Deutschen Reiches mit dem einsetzenden Ersten Weltkrieg über vier Millionen Arbeitskräfte entzogen.22 Auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt der Zivilgesellschaft laufen, wie Marx es ausgedrückt hat, zwei Arbeiter einem Unternehmer hinterher. In der Kriegsgesellschaft verhält es sich umgekehrt. Denn nicht nur das Angebot auf dem Arbeitsmarkt ist dramatisch reduziert, auch die Nachfrage wächst kriegsbedingt. Die Folge: Die Löhne steigen, und die Arbeiter wechseln rasch den Arbeitsplatz, um noch höhere Löhne zu erlangen. Für eine Kriegsgesellschaft ist das kontraproduktiv, denn wenn die Löhne steigen, steigen auch die Kosten. Daher tendieren Kriegsgesellschaften dazu, Arbeitsplatzwechsel zu unterbinden und die Arbeiter einer militärischen Dienstpflicht zu unterstellen. So geschieht es in Frankreich, Österreich-Ungarn und Italien. Auch in Deutschland sind es bezeichnenderweise die Unternehmer, die nach einer militärischen Dienstpflicht für die Arbeiter rufen.23 Im deutschen Militär setzt sich aber eine Fraktion durch, die auf freiwillige Arrangements zwischen Unternehmern und Arbeitern setzt. Sie ruft Kriegsausschüsse auf lokaler und regionaler Ebene ins Leben, paritätisch mit Gewerkschaftern und Unternehmern besetzt, die Streitfragen einvernehmlich bzw. durch Kompromiss regeln sollen. Das war, wenn man so will, die eigentliche Geburtsstunde des deutschen Tarifvertragssystems, aber darum ging es den Militärs nicht. Sie wollten innere soziale Konflikte um jeden Preis vermeiden und die Loyalität der Arbeiter erhalten, gemäß dem berühmten Satz von General Wilhelm Groener: „Gegen die Arbeiter könnten wir den Krieg überhaupt nicht gewinnen“.24 In der Kriegsgesellschaft fungiert der Korporatismus als funktionales Äqui21  Ebd.,

S. 224. S. 438. 23  Feldman, S. 60, 77. 24  Zit. nach Wehler 2003, S. 116. 22  Bessel,

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valent zu militarisierten Arbeitsbeziehungen. Beide Varianten verfolgen den Zweck, die Arbeiter zu disziplinieren.25 Was wir hier als kriegsgesellschaftliche Transformation bezeichnen, wurde im sozialtheoretischen Denken der Zeit, das mit einem monistischen Gesellschaftskonzept arbeitete, als neue Evolutionsstufe in der Entwicklung der modernen Gesellschaft bzw. des modernen Kapitalismus interpretiert: als „Spätkapitalismus“ (W. Sombart), „organisierter Kapitalismus“ (R. Hilferding), „staatsmonopolistischer Kapitalismus“ (W. I. Lenin) oder als neues Zeitalter der „Gemeinwirtschaft“ (W. Rathenau). Aus heutiger differenzierungstheoretischer Sicht wäre zu fragen: Was bedeutet ein großer, tenden­ ziell totaler Krieg für funktionale Differenzierung? Können wir noch von autonom operierenden Funktionssystemen sprechen? Oder haben wir es mit einem Primatwechsel sozialer Differenzierung zu tun, etwa von funktionaler zu stratifikatorischer Differenzierung?26 Oder sollten wir moderne Kriegsgesellschaften als Mega-Organisationen begreifen, zum Zweck, einen Krieg zu gewinnen oder zumindest nicht zu verlieren?27 Oder, aus einer SystemUmweltperspektive, als Anpassung gesellschaftlicher Strukturen an radikal veränderte Umweltbedingungen? Ist eine Gesellschaft im Weltkrieg noch eine Weltgesellschaft, und wenn ja, in welchem Sinne? Aus einer Spencerschen Beobachtungsperspektive betrachtet ist Krieg ein Mobilisierungswettlauf, d. h. es geht um eine möglichst effektive und effiziente Mobilisierung menschlicher und materieller Ressourcen für den Krieg. Die berühmteste Erscheinung im Mobilisierungswettlauf des Ersten Weltkriegs ist das sogenannte Hindenburg-Programm von 1916. Unter dem Eindruck einer schweren militärischen Krise entlässt der Kaiser im August den Chef der Obersten Heeresleitung, General von Falkenhayn, und setzt stattdessen die „Helden von Tannenberg“, Hindenburg und Ludendorff an die Spitze. Sie stabilisieren nicht nur die militärische Lage, sie legen auch einen Plan vor, der die Mobilisierung noch weit über das bisher erreichte Maß hinaustreibt: das Hindenburg-Programm. Es enthält folgende Elemente:28 25  So bemerkt Hurwitz (S. 75) treffend zum britischen Fall: „The quest was for that system of labor ‚control‘ (sic!) which would prove most potent in producing the goods and services required by the nation in its effort to wage war most ­effectively“. 26  „Noch deutlicher als Durkheim stellt Luhmann schließlich heraus, dass die vier Differenzierungsformen einander evolutionär nicht ersetzen, sondern lediglich deren Primat wechselt“ (Schimank, S. 152). 27  Luhmann (1981, S. 106) sah das Merkmal „östlicher Gesellschaftspolitik“ „in der Kongruentsetzung von Gesellschaft und Organisation“. 28  Nach Wehler 2003, S. 115.



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•• Ausdehnung der Pflichtzeit für den Militärdienst bis zum 50. Lebensjahr •• Militärische Ausbildung von Jugendlichen vom 16. Lebensjahr an •• Allgemeine Dienstpflicht für alle Frauen •• Umleitung von Arbeitern aus kriegsunwichtigen Produktionszweigen in die Rüstungsbetriebe •• Verbot vom Wechsel des Arbeitsplatzes •• Schließung aller Universitäten und Technischer Hochschulen •• Bildung eines Obersten Kriegsamtes zur Koordination der Rüstungswirtschaft. Ziel des Programms ist es, die industriellen Kapazitäten zu erweitern und die Rüstungsproduktion innerhalb eines Jahres zu verdoppeln. Das Hindenburgprogramm – umgesetzt im „Vaterländischen Hilfsdienstgesetz“ Dezember 1916 – wird nicht voll realisiert. So werden längst nicht alle Frauen zum Arbeitsdienst eingezogen, und die Universitäten bleiben geöffnet. Dennoch bedeutet es auch so eine gewaltige Kraftanstrengung weit über das schon erreichte Maß hinaus. Doch bald tritt der Effekt in Kraft, den wir „kriegsgesellschaftliches Dilemma“ genannt haben. Die Mobilisierungskurve steigt, und gleichzeitig sinkt das Versorgungsniveau. Im Winter 1916 / 17 sterben in Deutschland Hunderttausende an den Folgen von Unterernährung.29 Die Lebensmittelrationen betragen nur noch 1000 kcal pro Kopf gegenüber einem durchschnittlichen Tagesverbrauch von 3400 kcal vor dem Krieg.30 Zwischen 1914 und 1918 sinkt der deutsche Lebensstandard durchschnittlich um 65 %.31 Das kriegsgesellschaftliche Dilemma – steigende Mobilisierung für den Krieg, sinkende Versorgung der Bevölkerung – sollte bald massive politische und militärische Konsequenzen zeitigen. Im Januar  /  Februar 1918 brechen in den deutschen Rüstungsfabriken Streiks aus, die noch einmal unterdrückt werden.32 Doch die Klassenkonflikte nehmen zu, die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit wird in den letzten beiden Kriegsjahren immer ausgeprägter.33 Als die deutsche Militärführung am 21. März 1918 zur Großoffensive in Frankreich ansetzt, um auch an der Westfront die Kriegsentscheidung zu erzwingen, gelingt den deutschen Streitkräften nach Jahren des Stellungskrieges ein großer Durchbruch. Aber die hungrigen Soldaten plündern zunächst die 29  Strachan

2004, S. 263. 2003, S. 70 f. 31  Aly, S. 34. 32  Vgl. Feldman, S. 356–368. 33  Kocka, bes. S. 44 f. 30  Wehler

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erbeuteten englischen Vorratslager, anstatt dem geschlagenen Gegner nachzusetzen und auf das 60 km entfernte Paris zu marschieren. Nach und nach laufen sich die deutschen Frühjahrsoffensiven fest, die Kampfmoral sinkt rapide. Sogenannte „Drückebergerei“ nimmt zu, die bald in massenhafte Desertionen übergeht.34 Werner Deist spricht von einem „verdeckten Militärstreik“.35 Anfang November werden von der militärischen Führung nur noch zwölf Divi­ sionen als kampfkräftig eingestuft. Als Ende Oktober die deutsche Hochseeflotte zu einem „Himmelfahrtskommando“ auslaufen soll, bricht eine Meuterei der Matrosen aus, die rasch zur Novemberrevolution eskaliert. Als der Kaiser an der Spitze seiner Soldaten ins revolutionäre Berlin marschieren will, um die alte Ordnung wieder herzustellen, müssen ihm seine Generäle mitteilen, dass keine loyalen Truppen mehr zur Verfügung stehen.36 Dem Kaiser bleibt nichts anderes übrig, als ins holländische Exil zu gehen. Ein Millionenheer hat sich innerhalb von Monaten weitgehend aufgelöst. Ähnlich manifestiert sich das kriegsgesellschaftliche Dilemma in Österreich-Ungarn.37 Auch Frankreich und Italien sind 1917 mit ausgedehnten Meutereien, Desertionen und Streiks arbeitender Frauen konfrontiert, können sich aber mit englischer Hilfe stabilisieren. Am Ende des Ersten Weltkriegs sind Sieger und Besiegte physisch und psychisch total erschöpft – eine Folge des kriegsgesellschaftlichen Dilemmas.38 Fazit: Im Zuge der Mobilisierungsanstrengungen des Ersten Weltkriegs kommt es in den hauptbeteiligten Ländern zu einer gesellschaftlichen Transformation, gekennzeichnet u. a. durch tendenziell despotische Führungsspitzen, zentrale Steuerung, planwirtschaftliche Tendenzen, Expansion der staatlichen Verwaltung, militarisierte Arbeitsbeziehungen, Korporatismus sowie Einschränkung von Grundrechten und individuellen Freiheiten. Der Mobilisierungswettlauf zwischen den – sich wechselseitig beobachtenden – Kriegsparteien mündet ins kriegsgesellschaftliche Dilemma, das sich in verbreiteten Meutereien und Revolutionen 1917 und 1918 niederschlägt, die letztendlich den Krieg beenden. 34  Vgl. dazu Deist; Ritter, S. 283–291. „Drückeberger“ wurden Soldaten genannt, die nicht direkt desertierten, aber versuchten, sich den Kriegsrisiken zu entziehen. Ihre Zahl wird auf 750000 bis 1 Mill. geschätzt (Deist, S. 227). 35  Deist, S. 229. 36  Balfour, S. 503. 37  Wegs; Rauchensteiner. 38  Am wenigsten machte sich das kriegsgesellschaftliche Dilemma in Großbritannien geltend. Es konnte sich dank seiner Seeherrschaft auf dem Weltmarkt auf Kredit bedienen, also Ressourcen insbesondere der USA für sich mobilisieren. Der uneingeschränkte U-Bootkrieg seit März 1917 erzwang dann doch Rationierungen und Höchstpreise, aber die Lebensmittelversorgung verschlechterte sich nicht, verbesserte sich sogar partiell für die Unterschichten.



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III. Am 3. März 1917 bricht in St. Petersburg die Februarrevolution (in russischer Zeitrechnung) aus und beendet Jahrhunderte zaristischer Autokratie. Die russische Februarrevolution 1917 ist ähnlich wie die deutsche und österreichisch-ungarische Novemberrevolution 1918 zunächst einmal als AntiKriegsrevolution erschöpfter und hungernder Soldaten und Zivilisten zu verstehen – als Manifestation des kriegsgesellschaftlichen Dilemmas. „It was in fact shortage of food in St. Petersburg which finally broke the back of the Russian Empire“.39 Die russische Führung hatte die Mobilisierungsspirale überzogen und überdies den Krieg miserabel organisiert. Die sogenannte „Oktoberrevolution“ der Bolschewiki war keine proletarische Revolution, sondern der Putsch gegen ein Regime, das jegliche Loyalität in der Bevölkerung verspielt hatte. Denn weder hatte die Regierung Kerenski sich bemüht, den Krieg zu beenden, noch Anstalten getroffen, dem Drängen der russischen Bauern nach mehr Land nachzukommen. Schon bevor die Bolschewiki die Macht übernahmen, war eine soziale Revolution im vollen Gange – der Bauern gegen die adligen Großgrundbesitzer.40 Die These in diesem Teil lautet, dass man die zentralistischen und despotischen Strukturen der Sowjetunion nicht einfach dem skrupellosem Machtstreben skrupelloser Parteiführer zurechnen sollte. Das, was wir als typisch sowjetische Institutionen kennen, zentrale Steuerung, Planwirtschaft, Kommandowirtschaft, Machtkonzentra­ tion, Terror, entstand in einer Zeit, als sich die junge Sowjetmacht in einem Krieg auf Sein oder Nichtsein gegen die alten herrschenden Klassen und etwa zwölf ausländische Interventionsmächte befand. Auch die spätere stalinistische Modernisierung ab 1929 wurde unter der Erwartung eines baldigen Krieges implementiert. Sie ist als kriegsvorbereitende Mobilisierung zu verstehen. In diesem Sinne ist die Sowjetunion seit 1929 eine Kriegsgesellschaft. Zwischen dem Kriegskommunismus und der stalinistischen Modernisierung liegt die liberale Phase der Neuen Ökonomischen Politik, die als zivilgesellschaftliche Re-Transformation verstanden werden kann. Zur theoretischen Analyse sind die ersten Wochen und Monate der Sowjetmacht besonders interessant. Sie stehen noch keineswegs im Zeichen von Zentralismus, Diktatur und Terror. Das bezeugen ihre wichtigsten Dekrete aus den ersten Wochen und Monaten. In dieser Phase zielt die Politik der Sowjetmacht ab auf eine Rätedemokratie, welche die parlamentarische bürgerliche Demokratie an demokratischer Substanz weit übertreffen sollte.41 39  Nove,

S. 22. Nove, S. 41–44; Skocpol, S. 206–210. 41  „Wir haben die Sowjetrepublik geschaffen und gefestigt, einen neuen Staatstypus, der unermesslich höher und demokratischer ist als die besten der bürgerlich40  Vgl.

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Grundrechte werden eingeführt, gesellschaftliche Institutionen wie Schulwesen und Ehe- und Familienrecht nach westlichem Vorbild modernisiert. Die Arbeiter können über Betriebskomitees in ihren Unternehmen mitbestimmen. Bezeichnend für die basisdemokratische Ausrichtung früher sowjetischer Politik ist die Demokratisierung des Militärs. Die Soldaten dürfen ihre Vorgesetzten selbst wählen und über Befehle mitbestimmen. Basisdemokratie und Dezentralität sind die Markenzeichen früher bolschewistischer Politik.42 Zu zentraler Planung und Diktatur kommt es erst seit März 1918. Die militärische Lage der Sowjetunion, die eigentlich aus dem Krieg herausstrebt, hat sich dramatisch verschlechtert. Da die Sowjetmacht nicht auf die annexionistischen Friedensbedingungen ihrer Gegner eingehen will, marschieren deutsche und österreichisch-ungarische Truppen seit dem 18. Februar weiter nach Russland ein. Im März sieht sich die sowjetische Führung gezwungen, das Diktat von Brest-Litowsk anzunehmen. Aber es kommt noch schlimmer. Die Engländer landen am 9. März bei Murmansk, am 5. April gehen japanische Truppen in Wladiwostok an Land. Andere Mächte folgen. In diesem Kampf um Sein oder Nichtsein erweist sich rasch, dass die rätedemokratischen Grundsätze für eine effektive Kriegführung ungeeignet sind. Die Demokratisierung des Militärs wird zurück genommen.43 Während noch im Januar 1918 eine Selbstverwaltung der Eisenbahner durch eigene Räte eingeführt worden war, verfügt die Sowjetregierung am 23. März eine straffe Zentralisierung des Transportsystems unter der Aufsicht staatlicher Kommissare. Am 2. April erhält angesichts der katastrophalen Versorgungslage das Volkskommissariat für das Versorgungswesen weitgehende Vollmachten zur Organisation des Binnenhandels und zur Verteilung der Güter. Am nächsten Tag folgt eine Verordnung zur Festigung der Arbeitsdisziplin mit Stücklohnprinzip und Prämiensystem. Am 13. Mai wird angesichts wachsender Schwierigkeiten bei der Getreidebeschaffung das Volkskommissariat für Ernährungswesen mit Sondervollmachten gegenüber ablieferungsunwilligen Bauern ausgestattet.44 Im September 1918 erklären die Bolschewiki Russland zur „belagerten Festung“. Sie kontrollieren zeitweise nur noch ein Sechstel des alten russischen Staatsgebiets. Nun bilden sich die Institutionen heraus, die unter dem parlamentarischen Republiken“ (Lenin Anfang März 1918, zit. nach Lorenz 1978, S. 77). 42  Vgl. die Dekrete der Sowjetmacht, dokumentiert bei Hösch / Grabmüller, S. 9–24; auch Lorenz 1978, S. 77–85. 43  Lorenz 1978, S. 99 f. 44  Vgl. Hösch / Grabmüller, S. 20–26.



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Namen „Kriegskommunismus“ in die Geschichte eingegangen sind.45 Die Sowjetregierung verstaatlicht alle gewerblich-industriellen Produktionsmittel und betrachtet die Bauernwirtschaft als absterbende Wirtschaftsform. Produktion, Verteilung und Verbrauch werden zentral gesteuert. Zuständig dafür ist der „Oberste Wirtschaftsrat“. Landwirtschaftliche Erzeugnisse müssen abgeliefert werden. In diesem total zentral gelenkten Wirtschaftssystem hat Geld als Tauschmittel ausgedient. Denn der private Handel soll komplett unterbunden und durch ein staatliches Verteilungssystem ersetzt werden. Es gilt die Arbeitspflicht für alle. Manche Parteimitglieder betrachteten diese Politik als unmittelbaren Übergang zum Kommunismus. Aus einer Spencerschen Beobachtungsperspektive handelt sich aber um eine geradezu lupenreine Kriegsgesellschaft. Militärisch gesehen ist das System erfolgreich. Es gelingt, aus dem Nichts eine Armee von 5 Mill. Soldaten aufzustellen und einigermaßen zu bewaffnen und zu ernähren. Die Rote Armee besiegt die Weißen und die ausländischen Interventionsmächte. Aber in wenigen Jahren ist das Land restlos heruntergewirtschaftet, das Sozialprodukt sinkt auf ein Drittel des Vorkriegsstandes, eine rasante Bürokratisierung setzt ein, das lebensnotwendige Korn wird gewaltsam requiriert. Am Ende des Kriegskommunismus grassiert eine Hungersnot, der 5 Mill. Menschen zum Opfer fallen.46 Das kriegsgesellschaftliche Dilemma manifestiert sich in massenhaften Bauernaufständen 1920 / 21, die militärisch nur schwer unter Kontrolle zu bringen sind.47 Die Erfahrung des Bürgerkriegs sollte langfristig die Mentalität der sowjetischen Elite prägen.48 Im März 1921 endet der Krieg zwischen Russland und Polen und damit die Zeit der Bürger- und Interventionskriege. Die außenpolitische Lage entspannt sich. England und andere Länder nehmen diplomatische Beziehungen zur Sowjetmacht auf, mit Deutschland schließt die Sowjetregierung das Abkommen von Rapallo. In dieser Periode der Entspannung kommt es zu einer Re-Transformation der Kriegsgesellschaft in Richtung Zivilgesellschaft. Der Kriegskommunismus wird abgeschafft, die Neue Ökonomische Politik (NEP) wird eingeführt.49 Die Bauern müssen nicht mehr die willkürliche Requirierung ihres Getreides befürchten und lediglich eine maßvolle Steuer entrichten. Der Markt, eine Schlüsselinstitution der zivilgesellschaftlichen Moderne, wird wieder zugelassen. Die Bauern dürfen Ihre Getreideüberschüsse frei verkaufen. Privatunternehmen bis zu zwanzig Bedazu Lorenz 1978, S. 105–120; Nove, S. 39–77. S. 81. 47  Musial, S. 77–85. 48  Overy 2004, S. 24 f.; McDermott, S. 8, 35. 49  Lorenz 1978, S. 121–155; Nove, S. 78–114. 45  Vgl.

46  Nove,

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schäftigten sind gestattet. Lediglich Großindustrie (in dieser Zeit kaum existent) und das Bankenwesen bleiben in der Hand des Staates. Begleitet wird diese Periode von einer für sowjetische Verhältnisse beispiellosen kulturellen und wissenschaftlichen Freiheit. Trotz der verheerenden Bürger- und Interventionskriege erholt sich das Land wirtschaftlich rasch, bereits 1925 / 26 ist der Vorkriegsstand wieder erreicht.50 Allerdings geht es mit dem Aufbau der Industrie nicht so recht voran, weil das Wirtschaftswachstum der NEP vor allem dem Konsum der Bauern zugute kommt. Die NEP erweist sich letztendlich als zivilgesellschaftliches System, das für eine kriegswirtschaftliche Mobilisierung ungeeignet ist. Als 1927 Großbritannien, die Führungsmacht der kapitalistischen Welt, die diplomatischen Beziehungen abbricht, verdüstert sich wieder, jedenfalls aus Sicht der sowjetischen Führung, die außenpolitische Lage.51 Eine rasche Industrialisierung erscheint nun erst recht dringlich, um die ökonomischen und technischen Fundamente für ein starkes und modernes Militär zu legen. Damit ist das Ende der Neuen Ökonomischen Politik eingeläutet. Um die Mittel für die industrielle Modernisierung zu beschaffen, erzwingt die sowjetische Führung die allgemeine Einführung von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Sie erhöhen nicht, wie erwartet, die Produktivität, aber 150.000 Kolchosen lassen sich leichter abschöpfen als 24 Mill. Bauernwirtschaften. Das Abgabensystem ist so beschaffen, dass den Kollektivbauern nur das Notwendigste zum Leben bleibt, und oft nicht einmal das. Millionen Menschen verhungern, aber im Jahr 1940 / 41 kann die sowjetische Führung die dreifache Menge von Getreide aufbringen im Vergleich zu 1928 / 29, dem letzten Jahr der Neuen Ökonomischen Politik.52 Bezeichnenderweise übernehmen die deutschen Besatzer allen ideologischen Widerborstigkeiten zum Trotz in den von ihnen beherrschten russischen Gebieten das Kolchossystem53, weil es zu Mobilisierungszwecken geeigneter ist als selbständige Bauernwirtschaften. Aus einer Spencerschen Beobachtungsperspektive handelt es sich bei der Stalinschen Modernisierung um eine Mobilisierung für den Krieg.54 Stalin hat die Motive dieser Politik in folgenden berühmten Sätzen charakterisiert: „Die Geschichte lehrt uns, dass das alte Russland immer besiegt wurde, weil es rückständig war […] Wir hängen fünfzig oder hundert Jahre hinter den fortschrittlichen Völkern der Erde zurück. Wir müssen das in zehn Jahren nachholen. Entweder tun wir das, oder die anderen werden uns 50  Lorenz

1978, S. 33. 2004, S. 36; Lorenz 1978, S. 166, 339; McDermott, S. 161. 52  Lorenz 1972, S. 332. 53  Nove, S. 284. 54  Overy 2004, S.  36 f., Musial, S. 204–211. 51  Overy



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zerschmettern“.55 „For the Stalinists, the pressure of time was paramount. The USSR war surrounded by predatory enemies, war was imminent and the socialist bastion could only defend itself with a modern heavy manufacturing base and an up-to-date military“.56 Die stalinistische Sowjetunion wird zu einer typischen Kriegsgesellschaft. Sie bildet eine hierarchische Struktur heraus mit einer Führungselite an der Spitze, welche die Gesellschaft zentral steuert. Die gesamte arbeitsfähige Bevölkerung einschließlich von Frauen und Jugendlichen steht im Dienst der Mobilisierung. Die Freizügigkeit und die Wahl des Arbeitsplatzes werden aufgehoben. Die arbeitende Bevölkerung steht unter quasimilitärischer Disziplin. Die stalinistische Sowjetunion entspricht zwar nicht den Vorstellungen von einer funktional differenzierten Gesellschaft mit autonomen Funktionssystemen, die Leistungsfähigkeit verbürgen sollen. Dennoch handelt es sich um ein für Kriegsvorbereitung und Kriegsführung effektives System. „Die zentral geplante Wirtschaft war äußerst verschwenderisch und doch effektiv bei der Mobilisierung von Ressourcen für Ziele, denen Priorität zugemessen wurde“.57 In Kriegsgesellschaften gelten andere soziale Regeln als in Zivilgesellschaften. Die Sowjetunion entwickelt sich innerhalb von zehn Jahren zu einem hochindustrialisierten Land mit einer der stärksten Militärmächte der Welt.58 Wie steht es mit dem kriegsgesellschaftlichen Dilemma? Die Kehrseite einer erfolgreichen industriellen und militärischen Mobilisierung ist ein niedriges Versorgungsniveau, das leicht in Unruhen und Aufstände umschlagen könnte. In der Tat kommt es in der stalinistischen Sowjetunion zu schweren, teilweise bürgerkriegsartigen Unruhen, die aber gewaltsam niedergeschlagen werden. Für 1930, so McDermott, „there were reported 13,754 outbreaks of mass unrest compared to 709 in 1928 and 1,307 in 1929“.59 Der Terror erweist sich als wirksame Methode, das kriegsgesellschaftliche Dilemma zu umgehen. Die Angst vor sibirischen Arbeitslagern schreckt ab und festigt die Arbeitsdisziplin, und die Opfer des Terrors werden mittels Zwangsarbeit für die Mobilisierung eingesetzt. Darüber hinaus gibt es „trotz Armut und Gewaltmaßnahmen […] in der Bevölkerung auch so etwas wie echte Begeisterung für die von der Partei gesetzten Ziele“.60 Das Beispiel der Sowjetunion lehrt wie die Gesellschaften des Ersten Weltkriegs, dass unter Kriegsbedingungen oder konkreter Kriegsbedrohung nach Deutscher, S. 351. S.  71 f. 57  Castells, S. 20. 58  Kennedy, S. 466–501. 59  McDermott, S. 69. 60  Overy 2004, S. 44. 55  Zit.

56  McDermott,

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eine gesellschaftliche Transformation stattfindet. Während der Bürger- und Interventionskriege 1918 bis 1921 bildeten sich die typischen kriegsgesellschaftlichen Strukturen heraus, welche seitdem als „Kriegskommunismus“ bezeichnet werden – „a siege economy with a communist ideology“, wie Nove es treffend auf den Punkt gebracht hat.61 Nachdem 1921 endlich Frieden Einzug gehalten hatte, kam es in Gestalt der Neuen Ökonomischen Politik zu einer zivilgesellschaftlichen Re-Transformation. Als sich 1927 die außenpolitische Situation verschlechterte, mobilisierte die Sowjetunion für einen neuen Krieg, und die kriegsgesellschaftlichen Strukturen entstehen erneut. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb das System in seinen Grundzügen erhalten, begünstigt durch den „Kalten Krieg“. Es zeigte sich aber, dass es für zivilgesellschaftliche Konsumbedürfnisse ungeeignet war. Nachdem im Zuge der Abrüstungspolitik keine Kriegsbedrohung mehr wahrgenommen wurde, verschwand das sowjetische System – eine aus der Spencerschen Beobachtungsperspektive wenig überraschende Entwicklung IV. Das Deutsche Reich tritt am 1. September 1939 in den Zweiten Weltkrieg ein. Aber es ist von Beginn des Dritten Reiches an eine Kriegsgesellschaft. Denn es ist das Ziel Hitlers und weiter Teile der deutschen Eliten, den Versailler Vertrag durch Krieg zu revidieren. Bereits in der Ministerbesprechung vom 08. Februar 1933 fordert Hitler zur Arbeitspolitik: „Jede öffentlich geförderte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme müsse unter dem Gesichtspunkt beurteilt werden, ob sie notwendig sei vom Gesichtspunkt der Wiederwehrhaftmachung des deutschen Volkes. Dieser Gedanke müsse immer und überall im Vordergrund stehen“62. So setzt seit 1933 die Mobilisierung für den Krieg ein. „Alles, was wir jetzt tun, muss so sein, als befänden wir uns in unmittelbarer Kriegsgefahr“, so Hermann Göring 1936.63 Der Rüstungsanteil am Bruttosozialprodukt erhöht sich von 1,5 % 1932 auf 23 % 1939.64 Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung entstehen kriegsgesellschaftliche Strukturen in Deutschland.65 Von der Mobilisierungsstrategie 61  Nove,

S. 68. der Ministerbesprechung vom 8. März 1933, zit. nach Abelshauser, S. 513, Hervorh. v. Verf.). Vgl. auch Müller 2004, S. 51 f. 63  Zit. nach Craig, S. 664. 64  Wehler 2003, S. 699. 65  Dazu gehört neben dem Führerprinzip insbesondere die Umstellung auf zentrale Steuerung: „Anfangs waren mehrere staatliche Träger an der Formulierung und Implementierung der Wirtschaftspolitik beteiligt. Die Kabinettsregierung, das Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsministerium, die Reichsbahn. Sie alle wurden aber in kurzer Zeit von Hitler und seinen führerimmediaten Sonderstäben verdrängt. Mit dem 62  Protokoll



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der nationalsozialistischen Führung soll im Folgenden die Rede sein. Ich werde zeigen, dass ihre oberste Priorität war, das kriegsgesellschaftliche Dilemma zu vermeiden, an dem das kaiserliche Deutschland im Ersten Weltkrieg gescheitert war. Meine These ist, dass die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg auch als eine Konsequenz der nationalsozialistischen Mobilisierungsstrategie verstanden werden können.66 Eine Mobilisierungsstrategie für Deutschland 1933 / 34 hat aus Sicht der Führung drei Probleme zu lösen. Erstens muss die Mobilisierung nahe am Nullpunkt beginnen, denn gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrages verfügt das Deutsche Reich nur über ein Heer von 100.000 Mann. Der Mobilisierungsbedarf ist also besonders groß. Zweitens ist das Deutsche Reich umgeben von misstrauischen Staaten, die möglicherweise mit einem Präventivkrieg reagieren könnten. Drittens ist eine Mobilisierung teuer und ressourcenverzehrend. Es besteht die Gefahr, dass das neue Regime entsprechend dem kriegsgesellschaftlichen Dilemma die Loyalität der Bevölkerung verliert. Gerade die aber ist für den geplanten Krieg besonders wichtig. Vor allem muss die Arbeiterschaft, die 1918 der kaiserlichen Armee von der Fahne gegangen war, für das „Dritte Reich“ gewonnen werden. Die nationalsozialistische Führung entscheidet sich daher, die Arbeiterschaft und die „kleinen Leute“ nicht durch zusätzliche Steuern zu belasten. Dafür werden den besitzenden Schichten höhere Steuern auferlegt. Einen weiteren Teil müssen die emigrierenden Juden durch die ihnen abgepresste „Reichsfluchtsteuer“ aufbringen.67 Vor allem aber wird die Aufrüstung durch Anleihen finanziert. Gleichzeitig wiegt die Nazi-Führung die Welt durch Friedensrhetorik und die Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze 1934 in Sicherheit. Die späteren Gegner Frankreich und Großbritannien betreiben Beschwichtigungs-Politik und beginnen erst 1939 mit einer kon‚Amt für den Vierjahresplan‘ wurde vollends der Versuch unternommen, im Kommissariatsstil einen wirtschaftlichen Generalstab völlig außerhalb der Ressortministerien mit ungewöhnlichen Vollmachten operieren zu lassen“ (Wehler 2003, S. 691 f.). „(D) ie Rüstungspolitik des Vierjahresplans (zielte) auf die Unterwerfung der Industrie“ (Wehler 2003, S. 696). Instrumente zentraler Steuerung sind Investitionslenkung (hohe Subventionen für rüstungsrelevante Unternehmen, Investitionsverbote für nicht rüstungswichtige Wirtschaftszweige, Verteilung der Arbeitskräfte), Robstoffbewirtschaftung und staatliches Außenwirtschaftsmonopol (vgl. Wehler 2003, S. 691–695). – Schon 1925 soll Hitler bekundet haben, „sein Ideal wäre ein Deutschland, das als Volk etwa so organisiert ist wie eine Armee“ (zit. nach Fest, S. 599). 66  Dagegen konstatiert Gerlach (S. 1145): „Die Forschung zur NS-Gewaltpolitik wird seit langem von dem Gedanken des ‚Primat(s) der Weltanschauung‘ vor kriegswirtschaftlichen Interessen beherrscht. Daran wird bis heute fast unvermindert festgehalten“. 67  Aly, S.  54 f.

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sequenten Mobilisierung. Das verschafft dem Dritten Reich einen wichtigen Mobilisierungsvorsprung. Das Kalkül der Nationalsozialisten geht auf. Es gelingt, einen Großteil der Arbeiter durch materielle Wohltaten und symbolische Aufwertungen in die Volksgemeinschaft zu integrieren.68 Dennoch werden die Mittel für die Aufrüstung aufgebracht, allerdings um den Preis einer gigantischen Verschuldung.69 1938 steht das Reich am Rand akuter Zahlungsunfähigkeit. Die „Reichskristallnacht“ und die der jüdischen Bevölkerung abgepresste „Sühnebuße“ – sie entspricht immerhin 6 % der jährlichen Staatseinnahmen – verhelfen kurzzeitig der Staatskasse zu neuer Liquidität.70 Die Akzeptanz der Volksgenossen zu erhalten und einer zweiten Novemberrevolution vorzubeugen, bleibt auch während des Krieges – zumindest bis August 1944 – die oberste Priorität der NS-Führung. Dies wird besonders deutlich in den ersten Kriegswochen. Die deutsche Regierung hat einen maßvollen Kriegszuschlag zur Einkommenssteuer eingeführt. Doch als die Deutsche Arbeitsfront Unzufriedenheit der Arbeiter vermeldet, wird diese Maßnahme zurück genommen. Nur die oberen 40 % zahlen den Zuschlag.71 Während Churchill dem englischen Volk nach der Niederlage in Frankreich nichts anderes zu versprechen hat als „Blut, Schweiß und Tränen“, bleibt in Deutschland das Konsumniveau nahezu konstant. Die Konsumgüterproduktion sinkt vom Index 100 1939 lediglich auf 95,7 % 1941, 86,1 % 1942, 90,8 % 1943 und 85,4 % 1944.72 Hinzu ist noch private, in die Heimat verschickte Kriegsbeute zu rechnen.73 68  Wehler

2003, S. 629, 681, 684–690, 731–741; Aly; Thamer, S. 990. S. 49–54. 70  Ebd., S. 54–66. Die Politik der NS-Führung vor Kriegsausbruch war darauf gerichtet, zum Zweck eines (im NS-Sinn) „rassisch reinen“ Deutschen Reichs die jüdische Bevölkerung durch Diskriminierung, Ausgrenzung sowie subtilen und offenen Terror zur Auswanderung zu nötigen und ihr dabei einen möglichst großen Vermögensanteil zum Zweck der Aufrüstung abzupressen. Nach Kriegsbeginn gab es zunächst diverse Pläne einer zwangsweisen Umsiedlung: „Ende 1941 hatte die NS-Führung bereits vier Versionen der Endlösung überdacht und dann verwerfen müssen. Der Lublin-Plan für ein Reservat in Ostpolen scheiterte im November 1939, weil das Generalgouvernement zu nah und zu kompliziert war; der Madagaskar-Plan scheiterte im August 1940, weil zuerst Polen und dann England weiterkämpften, statt zu kooperieren; und schließlich scheiterte auch der Sowjetplan im November 1941, weil die Deutschen den Sowjetstaat nicht zerstört hatten“ (Snyder, S. 297). Erst als im Dezember 1941 der deutsche Vormarsch vor Moskau gescheitert war und sich die Allianz aus Sowjetunion, Großbritannien und den USA gefunden hatte, was von Hitler als Ergebnis einer „jüdischen Weltverschwörung“ gedeutet wurde, wurde die systematische, umfassende Vernichtung der europäischen Juden geplant und in die Tat umgesetzt (vgl. Snyder, S. 224–228). 71  Wehler 2003, S. 916. 72  Ebd., S. 923. 69  Aly,



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Die Frage ist, wie ohne konsequente Mobilisierung überhaupt militärisch erfolgreich Krieg geführt werden konnte. Die Antwort dafür liegt im der Blitzkriegsstrategie, die geeignet schien, um das kriegsgesellschaftliche Dilemma zu umgehen. Das militärische Prinzip des Blitzkriegs besteht darin, mittels punktueller konzentrierter Angriffe von Panzern und Flugzeugen die gegnerische Front zu durchbrechen und mit einem raschen Vorstoß mit Panzern und anderen motorisierten Verbänden ins Hinterland eine rasche Entscheidung zu erzwingen. Damit soll ein ressourcenverschleißender Stellungskrieg nach Art der Materialschlachten des Ersten Weltkriegs vermieden werden. Dieses Kalkül geht zwei Jahre lang auf. In jeweils kurzen, mehrwöchigen Feldzügen unterwirft die Wehrmacht den größten Teil Europas. In den relativ ruhigen Phasen zwischen den Feldzügen kann nachgerüstet werden. Ein Teil der Soldaten, insbesondere wirtschaftliche Fachkräfte, wird dann demobilisiert und in der Produktion eingesetzt. Nach dem FrankreichFeldzug wird ein Teil der Wirtschaft von Kriegs- auf Friedensproduktion umgestellt.74 73

Aber das kriegsgesellschaftliche Dilemma ist mit der Blitzkriegsstrategie nur scheinbar überwunden. Die ersten zwei Jahre hat die Wehrmacht gegen unterlegene oder mental nicht vorbereitete Gegner gekämpft. Dann aber geht es gegen die am stärksten gerüstete Militärmacht der Welt. Nur drei Millionen deutscher Soldaten (bei 80 Millionen Einwohnern) treten am 22. Juni 1941 zum Unternehmen Barbarossa an. Der Überraschungseffekt und die Desorganisation der sowjetischen Streitkräfte ermöglichen der Wehrmacht noch einmal große militärische Siege, ohne in der Weite des russischen Raums eine finale Entscheidung erzwingen zu können. Die deutsche Offensive läuft sich vor Moskau fest. Die Blitzkriegsstrategie ist gescheitert. Die Naziführung ist nun gezwungen, ihre Mobilisierungsstrategie zu überdenken. Einige treten für eine konsequente Mobilisierung ein, vor allem Speer und Goebbels.75 Aber Hitler und die Gauleiter schrecken davor zurück. Die Akzeptanz des Regimes im Krieg soll nicht gefährdet werden. Das Trauma von 1918 wirkt fort. „Hitler und die Mehrzahl seiner politischen Gefolgsleute gehörten der Generation an, die im November 1918 die Revolution als Soldaten erlebt und nie verwunden hatten. In privaten Gesprächen ließ Hitler oft durchblicken, dass man nach der Erfahrung von 1918 nicht vorsichtig genug sein könne. Um jeder Unzufriedenheit vorzubauen, wurde für die Konsumgüter-Versorgung, für Kriegsrenten oder für 73  Aly,

S. 114–139. Wehler 2003, S. 916–918. 75  Kershaw 2000b, S. 735 f. 74  Vgl.

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die Entschädigung der Frauen für den Verdienstausfall ihrer im Felde stehenden Männer mehr aufgewandt als in demokratisch regierten Ländern“.76 Und damit nähern wir uns den dunkelsten Punkten des Dritten Reiches. Um die Loyalität des deutschen Volkes durch einen akzeptablen Lebensstandard zu erhalten, werden die Mobilisierungslasten den besetzten Gebieten auferlegt. Anders ausgedrückt, die besetzten Länder, insbesondere im Osten, werden rücksichtslos ausgeplündert – nach dem Motto von Göring: „Wenn gehungert wird, dann hungert nicht der Deutsche, sondern andere“.77 Eine Staatssekretärskonferenz befindet am 5. Mai 1941: „Der Krieg ist nur weiterzuführen, wenn die gesamte Wehrmacht im dritten Kriegsjahr aus Russland ernährt wird. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Land herausgeholt wird“.78 „Die ‚Erweiterung der Nahrungsmittelbasis‘ oder ‚Blockadefestigkeit‘ mit allen Mitteln, auch den mörderischsten, zu erreichen, hatte als Ziel der Besatzungspolitik stets absoluten Vorrang“.79 Der Tod von Millionen Kriegsgefangenen und Zivilisten wurde geplant bzw. bewusst im Kauf genommen, um die – logistisch schwierige – Versorgung der eigenen Truppen nicht zu beeinträchtigen und die Ernährungsbilanz zu verbessern.80 Die deutsche Führung wollte Leningrad und Moskau nicht erobern, sondern durch Einschließung aushungern. Dies ersparte Verluste im Häuserkampf, und die Einwohner eroberter Städte mussten nicht versorgt werden. Die riesigen eroberten Räume ließen sich, zumal angesichts des geringen deutschen Mobilisierungsgrades, nicht effektiv beherrschen; daher setzte die deutsche Führung auf drakonische Abschreckung und auf präventive Ausschaltung potentieller Widerstandsführer, und das waren im nationalsozialistischen Weltbild vor allem Kommissare und Juden.81 Gerlach hat darauf hingewiesen, dass sich in den deutschen Verbrechen in der Sowjetunion nicht nur Rassenwahn manifestierte, sondern auch kalte, auf die Spitze getriebene kriegsgesellschaftliche Rationalität.82 Weil es militärisch „rational“ erschien, wurden der Hungerplan, die Ermordung von Kommissaren und Juden und das Verhungernlassen von Kriegsgefangenen nicht nur von Parteiideologen, sondern auch von der Wehrmachtsspitze und der Regierung unterstützt.83 Auch das sog. „Euthanasie“-Programm und die 76  Speer,

S. 229. nach Aly, S. 197; vgl. auch Müller / Ueberschär, S. 233. 78  Zit. nach Aly, S. 205; Müller 2005, S. 92. 79  Gerlach, S. 1128, zur Ukraine vgl. Overy 2004, S. 212 f. 80  Gerlach, S. 1129, 1133. 81  Ebd., S. 1129. 82  Ebd. 83  Ebd., S. 1129. 77  Zit.



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sog. „Endlösung“ müssen in diesem Kontext gesehen werden. Im Einzelfall konnte sich die kriegsgesellschaftliche Logik der „nutzlosen Esser“ auch gegen Deutsche wenden, so z. B., als in den letzten Tagen der Schlacht um Stalingrad an die Führung im Kessel der Befehl erging, an Verwundete keine Verpflegung mehr auszugeben und die extrem knappen Ressourcen nur für noch kampffähige Soldaten zu verwenden. Es geht in der Kriegsgesellschaft um eine maximale Mobilisierung, aber auch um eine „rationale“ Verteilung mobilisierter Ressourcen. Nachdem die Blitzkriegsstrategie gescheitert war, setzte die deutsche Mobilisierungsstrategie unter Albert Speer auf Zwangsarbeit, bessere Organisation der Wirtschaft, Serienproduktion, Massenproduktion am Fließband. Es gelang, die Rüstungsproduktion 1944 gegenüber 1941 zu verdreifachen, ohne doch jemals das Rüstungsniveau im Ersten Weltkrieg zu erreichen.84 Die deutsche Mobilisierungsstrategie, welche die eigene Bevölkerung schonte und die für die Mobilisierung notwendigen Ressourcen vor allem aus den besetzten Ländern beschaffte, war jedoch im Endeffekt wenig effizient. Brutaler Zwang und Ausbeutung der besetzten Länder führten zu niedriger Produktivität und hohen Transaktionskosten. Die Produktivität eines „Ostarbeiters“ betrug nur 17 bis 40 % eines deutschen Facharbeiters.85 Aus ideologischen Gründen wurden die Frauen nicht konsequent für die Rüstungsproduktion mobilisiert. Hingegen gelang es, wie gesagt, der Sowjetunion, effektiv und effizient zu mobilisieren. Als dann auch die USA überraschend schnell ihre Wirtschaft auf Kriegsproduktion umstellen konnten – in einem statt in vier Jahren, wie die deutsche Führung angenommen hatte86 –, war die deutsche Niederlage besiegelt. Fazit: Im Deutschen Reich trat – nach einer Phase zivilgesellschaftlicher Re-Transformation in der Weimarer Republik – Hitler 1933 seine Herrschaft mit dem erklärten Vorsatz an, einen Krieg zur Revision des Versailler Vertrags und zur Sicherung einer deutschen Weltmachtstellung zu führen. Um nicht wie das Kaiserreich am kriegsgesellschaftlichen Dilemma zu zerbrechen, wurde die Mobilisierung über eine exorbitante Verschuldung und Ausplünderung exkludierter Bevölkerungsgruppen (Juden) und besetzter Länder realisiert. Aus dieser Perspektive gesehen, erscheinen die großen Verbrechen des Nationalsozialismus nicht nur als Vollstreckung eines rassistischen Programms, sondern auch als Kehrseite einer Mobilisierungsstrategie, welche die deutsche Bevölkerung aus Angst vor einem zweiten „1918“ schont. Die deutschen Mobilisierungsanstrengungen erwiesen sich allerdings als zu gering und zu ineffizient, um in den entscheidenden Jahren 1941–43 84  Speer,

S. 228 f., 546; Wehler 2003, S. 920. 2003, S. 921. 86  Overy 2005, S. 248. 85  Wehler

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gegen die geschwächte Sowjetunion und ihre Alliierten zu bestehen. Die totalitären Diktaturen erscheinen aus einer Spencerschen Beobachtungsperspektive als idealtypische Verkörperung einer Kriegsgesellschaft. V. Geschichte stellt sich, wie jede welthistorische Chronik lehrt, als immer wiederkehrende Abfolge von Krieg und Frieden dar. Die Allgemeine Soziologische Theorie betrachtet allerdings Gesellschaft als Zivilgesellschaft, obwohl gerade das 20. Jahrhundert maßgeblich durch Kriege geprägt wurde. Angesichts dieser Ausgangslage ging es in diesem Beitrag zunächst darum, das theoretische und historische Terrain zu sondieren. Die Epoche der Weltkriege bietet dabei einen geeigneten Gegenstand, um kriegsbedingte Vergesellschaftungsprozesse zu studieren. In der Geschichte der Soziologie bis heute war es Herbert Spencer, der am genauesten die gesellschaftliche Wirkung von Kriegen allgemeintheoretisch erfasste, indem er zwischen militärischem und industriellem Gesellschaftstypus unterschied. Ich habe im Anschluss an Spencer zwei Kategorien herausgearbeitet, die für das theoretische Verständnis kriegsbedingter Vergesellschaftung von besonderer Bedeutung sein könnten: Mobilisierung und kriegsgesellschaftliches Dilemma. Diese Kategorien fungierten als Beobachtungsperspektive auf die Gesellschaften des Ersten Weltkrieg, die Sowjetunion und das „Dritte Reich“. Als Hauptergebnis ist hervorzuheben: Ein langdauernder symmetrischer, tendenziell totaler Krieg führt zu einer gesellschaftlichen Transformation. Es erscheint daher sinnvoll, idealtypisch Kriegsgesellschaft als Vergesellschaftung sui generis von Zivilgesellschaft zu unterscheiden. Diese These kann im Rahmen dieses Aufsatzes nur für die Weltkriegsgesellschaften erhärtet werden. Eine erweiterte historisch-soziologische Analyse würde zeigen, dass während des letzten großen europäischen Krieges vor dem Ersten Weltkrieg, den Revolutions- und Nach-Revolutionskriegen 1892 bis 1815, vergleichbare gesellschaftliche Transformationsprozesse nachweisbar sind.87 Auch können kriegsgesellschaftliche Strukturen die eigentliche Kriegszeit (par­ tiell) überdauern, wie im Fall der Sowjetunion und Chinas. So wie eine kriegsgesellschaftliche Transformation gibt es auch eine zivilgesellschaftliche Re-Transformation. Die Befunde der zivilgesellschaftlichen Re-Transformation, im 20. Jahrhundert sind, insgesamt gesehen, diffus und heterogen. Wir finden Fälle gescheiterter zivilgesellschaftlicher Re-Transformation wie die Weimarer Republik oder Sowjetunion der NEP-Periode, ge87  Das gilt insbesondere für das revolutionäre Frankreich 1792–1794. Die sog. „Entartung“ der französischen Revolution unter den Jakobinern ist ja nichts anderes als eine kriegsgesellschaftliche Transformation.



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lungener Re-Transformation (westeuropäische Länder nach dem Zweiten Weltkrieg), partieller Re-Transformation (China), verzögerter Re-Transformation (Sowjetunion) oder auch unterbliebener Re-Transformation (Nordkorea). Im Unterschied zur kriegsgesellschaftlichen Transformation, die sich mit geradezu naturhafter Kraft durchsetzt, erfolgt zivilgesellschaftliche ReTransformation sukzessiv, zeitversetzt und partiell. Sie führt in der Regel nicht vollständig zurück zum Status quo ante. Sondern bestimmte ursprünglich kriegsbedingt eingeführte Institutionen wie staatsbürgerschaftliche Rechte, Tarifvertragssystem oder Betriebsräte können auch nach Kriegsende dauerhaft erhalten bleiben. In diesem Sinne gilt, „dass sich unsere Gegenwart nicht ohne die Einbeziehung vergangener Kriege begreifen lässt, gründen doch zahlreiche Modernisierungsprozesse auf Dynamiken, die von militärischen Konflikten ausgelöst oder zumindest angestoßen wurden“.88 Kriegsgesellschaft und Zivilgesellschaft sind, wie auch bei Spencer der militärische und industrielle Gesellschaftstypus, immer als Idealtypen zu verstehen. Sie beschreiben Tendenzen, in welche Gesellschaft sich unter Kriegsbedingungen entwickelt. Diese Tendenz geht am weitesten in den totalitären Systemen des Dritten Reichs und der Sowjetunion. Sie geht nicht so weit im Ersten Weltkrieg, aber auch hier, sogar im liberalen Großbritannien, kommt es, bedingt durch die Intensität und Dauer des Krieges, zur Herausbildung neuartiger gesellschaftlicher Strukturen, also zu einer kriegsgesellschaftlichen Transformation. In den USA gibt es zur Zeit des Vietnam- und des Irakkrieges gewisse Tendenzen in Richtung militärischer Gesellschaftstypus, man denke nur an die Einschränkung der Grundrechte, aber nicht so weit, dass man von einer kriegsgesellschaftlichen Transformation sprechen könnte. Der Sinn des Konzepts Kriegsgesellschaft als Idealtypus besteht zum einen darin, einheitliche Tendenzen zu beschreiben, zum anderen aber auch, die sehr beträchtlichen Unterschiede zwischen einzelnen Kriegsgesellschaften zu verdeutlichen. Im Lichte der Mobilisierungskategorie erscheint die kriegsgesellschaft­ liche Moderne als zusammenhängende Einheit. Diese ergibt sich durch Mobilisierungskonkurrenz, zum anderen über wechselseitige Beobachtung. Man kann mit Hilfe der Kategorien auch einzelne Kriegsgesellschaften miteinander auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin vergleichen, z. B., welche Mobilisierungsstrategien eingeschlagen werden und welche institutionellen Arrangements sich herausbilden, um eine Kriegsgesellschaft zu steuern. Insgesamt gesehen, kann eine Beobachtung von Kriegsgesellschaften mit den Kategorien Mobilisierung und kriegsgesellschaftliches Dilemma als heuristisch ertragreich gelten. Ihre Grenzen liegen darin, dass sie als Beob88  Knöbl / Schmidt,

S. 22.

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achtungsperspektive bestimmte Aspekte erhellen und in ihrer fundamentalen Wirkungskraft in Kriegsgesellschaften hervortreten lassen, andere Aspekte jedoch nicht erfassen. Beobachtungsperspektiven sind immer „einseitig“, sie geben kein „ausgewogenes“, „umfassendes“ Gesamtbild, sie blenden kausal relevante Faktoren aus, welche nicht im Blickfeld der Perspektive liegen. Das ist, mit Mannheim gesprochen, Ausdruck der Partikularität einer Beobachtungsperspektive. Die Spencersche Beobachtungsperspektive verdeutlicht eindringlich die gewaltige strukturtransformative Kraft kriegsgesellschaftlicher Mobilisierung und den verheerenden sozialen Sprengstoff, der in ihr schlummert (kriegsgesellschaftliches Dilemma). Aber der Aspekt kollektiver Gewalthaftigkeit, der ja für Kriegsgesellschaften ganz zentral ist, bleibt weitgehend ausgeblendet. Die Kategorien der Mobilisierung und des kriegsgesellschaftlichen Dilemmas ermöglichen, den kriegsgesellschaft­ lichen Prozess aus der Makroperspektive zu verfolgen und denkend zu ordnen, aber die Mikro- und Meso-Perspektiven bleiben unterbelichtet. Um z. B. die stalinistischen und nationalsozialistischen Verbrechen zu verstehen, ist eine kriegsgesellschaftliche Kontextualisierung sinnvoll und notwendig, aber für ein „umfassendes“ theoretisches Verständnis müssen die Mikround Mesoebene angemessen berücksichtigt werden89. Für eine Analyse von Gesellschaften im totalen Krieg sind die Kategorien gut geeignet, viel weniger für die „neuen“ „asymmetrischen“ Kriege.90 Von einem „umfassenden“ theoretischen Verständnis von Kriegsgesellschaft bzw. kriegsbedingter Vergesellschaftung sind wir derzeit noch weit entfernt. Die Gesellschaften der Weltkriege aus der Spencerschen Perspektive zu beobachten ist ein kleiner Schritt in diese Richtung. Es ist zu wünschen, dass auch aus anderen theoretischen Perspektiven Kriegsgesellschaften beobachtet werden und aus der Vielfalt der Perspektiven mit der Zeit ein „umfassendes“ theoretisches Verständnis kriegsbedingter Vergesellschaftung erwächst. Literatur Abelshauser, Werner: Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder. Deutschlands wirtschaftliche Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg und die Folgen für die Nachkriegszeit, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Heft 4, 1999, S. 503–538. Aly, Götz: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2005. Andreski, Stanislav: Military Organization and Society. Zweite erweiterte Auflage (zuerst 1954), Berkeley 1968. 89  Vgl.

etwa zum Stalinismus Figes 2008, zum Dritten Reich Welzer. 2002, 2006; vgl. auch typologisch erweiternd Andreski.

90  Münkler



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Koloniale Zivilgesellschaft? Von der „kolonialen Gesellschaft“ zur kolonialen Gewaltgemeinschaft in Deutsch-Südwestafrika Von Matthias Häußler und Trutz von Trotha ‚Zivilgesellschaft‘ ist zum Zauberwort für alles avanciert, was mit der gesellschaftlichen Seite von Demokratisierung zu tun hat. Wiedergeboren in Osteuropa nach dem Fall des ‚Eisernen Vorhangs‘ ist der Begriff zum Schlachtruf aller plebiszitären Attacken gegen die Spielregeln der repräsentativen Demokratie geworden1 und hat im entwicklungspolitischen Diskurs, ob in Reden, Projektanträgen oder Evaluationen, sogar den Status eines unverzichtbaren rhetorischen Bausteins erreicht. Mit der Verallgemeinerung des Begriffs und seiner politischen und Pfründe sichernden professionellen Instrumentalisierung haben sich seine Konturen naheliegender Weise nicht geschärft. Aber zweifellos gehört zur Zivilgesellschaft das freie, bürgerschaftliche Engagement, das im Dienste einer Sache und in Gestalt von Initiativen und Vereinen die öffentliche Meinung beeinflusst2 und als kritische Öffentlichkeit die politischen Prozesse verfolgt und aktiv auf sie einzuwirken sucht.3 Allerdings hat nach Edward Shils die Sache, für die das bürgerschaftliche Engagement einsteht, zu Recht eine besondere inhaltliche Bestimmung. Shils betont die bürgerschaftliche Vorstellung von Zivilgesellschaft, den Gemeinsinn und die Verantwortung des Citoyen für das Gemeinwesen. Der bürgerschaftliche Gemeinsinn ist am Wohl der Gesamtgesellschaft ausgerichtet. Er beachtet und unterstützt die Einrichtungen, welche die Gesamtgesellschaft repräsentieren und verpflichtet sie, allen Teilen der Gesellschaft gerecht zu werden. Die Zivilgesellschaft hat die Aufgabe, die Interessen und Partikularismen zu bändigen. Sie hat, wie Shils schreibt, „die zentrifugalen Tendenzen daran zu hindern, die Einheit zu zerstören“, welche für das relativ friedliche und einigermaßen effektive

1  In guter deutscher obrigkeitlicher Tradition hat die neue grün-rote Regierung Baden-Württembergs sogar ein Staatssekretariat geschaffen, um die ‚Zivilgesellschaft‘ zu organisieren. 2  Gosewinkel et al., S. 11; Beyme, S. 45. 3  Oevermann, S. 38.

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Funktionieren der Gesellschaft erforderlich ist.4 Aus gutem Grund macht Shils ausdrücklich darauf aufmerksam, dass die Vielfalt gesellschaftlicher Akteure nicht mit Zivilgesellschaft verwechselt werden sollte. Pluralismus als Vielfalt rücksichtsloser Interessensgruppen und derer, die Shils „ursprüngliche Gemeinschaften“ nennt, also „Gemeinschaften von lokaler, verwandtschaftlicher, ethnischer und religiöser Art“, begründet noch längst keinen zivilgesellschaftlichen Pluralismus im Sinne der bürgerschaftlichen Tradition. Radikalisierter Individualismus und ungezügelte Interessenspolitik haben ebenso wenig etwas mit einer Civil Society zu tun wie eine so­ ziale Ordnung „ursprünglicher Gemeinschaften“. Am Beispiel einer Betrachtung der „kolonialen Gesellschaft“ und ihrer Entwicklung zur kolonialen Gemeinschaft in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika ist das Ziel der nachfolgenden Überlegungen und Beobachtungen, erstens, durch Abgrenzung der kolonialen Gesellschaft von der Zivilgesellschaft die Begriffe beider Formen von Vergesellschaftung zu schärfen, und, zweitens, zu verdeutlichen, wie die zivilgesellschaftlichen Dimensionen der kolonialen Gesellschaft unter den Bedingungen eines extremen gesellschaftlichen Gegensatzes, der hier ein rassistischer ist, und dessen kriegerischer Zuspitzung zerrieben werden, und die koloniale Gesellschaft sich als koloniale Gewaltgemeinschaft wiederfindet. Auf diese Weise wird deutlich, wie zerbrechlich das Zivilgesellschaftliche an der Zivilgesellschaft sein kann. I. Koloniale Zivilgesellschaft? Im Unterschied zur Besiedlung der „alten“ Siedlungskolonien zum Beispiel in Nordamerika, die nicht-staatliche Akteure zu weiten Teilen in Eigenregie vollzogen hatten, war die Besiedlung Südwestafrikas ein staatliches Projekt, das von „oben“ initiiert worden war und geleitet wurde.5 Dies sorgte für Reibungen und Konflikte zwischen Bevölkerung und Obrigkeit, die von ersterer in einer Weise ausgetragen wurden, die es naheliegend erscheinen lassen mag, die „koloniale Gesellschaft“ als Zivilgesellschaft zu begreifen. „Staatlichkeit“ darf im kolonialen Kontext nicht überbewertet werden. Der Anspruch der Errichtung von Staatlichkeit lag bei den Kolonialmächten unzweifelhaft vor, aber die Einlösung dieses Anspruchs muss davon unterschieden werden.6 Die koloniale Herrschaft griff stets auf Elemente nicht4  Shils,

S. 37.

5  Elkins / Pedersen, 6  Vgl.

S. 1–18. Trotha 1994; 2011.



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und vor allem patrimonialstaatlicher Prägung zurück. Zum Beispiel verlief die Auswahl des Personals für die Kolonien nicht nach den formalen Regeln der heimischen Bürokratie, die Beschränkungen „legaler Herrschaft“ nach Max Weber fielen im Umgang mit den „Eingeborenen“ weitgehend weg, so dass despotisches und intermediäres Verwaltungshandeln dominierte, und mit dem Recht der Konsulargerichtsbarkeit als Grundlage waren dem unbedingten Vorrang der kolonialen Exekutive auch im Verkehr mit den „Weißen“ nur wenige Zügel angelegt. Am Folgenreichsten aber war, dass der kolonialstaatliche Anspruch auf das Gewaltmonopol gerade gegenüber der Siedlerschaft augenfällig prekär war. Dennoch gilt: In grundsätzlichen kolonialpolitischen Fragen behielten sich die Spitze der Kolonialverwaltung vor Ort und – freilich in geringerem Maß – in der Metropole die richtungsweisenden Entscheidungen vor. Dieser Dominanzanspruch der gouvernementalen und metropolitanen Verwaltung führte immer wieder zu Konflikten zwischen Siedlerschaft und Obrigkeit – Konflikte, die für die Zivilgesellschaft typisch sind7 und aus denen sie historisch hervorgegangen ist. Entsprechend trat die Siedlerschaft in mitunter scharfe Opposition gegen die „Bevormundung“ ‚von oben‘ oder gar aus der fernen Metropole.8 Das Wirken der offiziellen Politik wurde im Schutzgebiet als „lästige Hemmung“ der freien Entfaltung der Ansiedler und des Prosperierens der Kolonie wahrgenommen, das Band zum „Mutterland“ als „beengende Fessel“.9 Sehr früh reklamierte die Siedlerschaft mehr „Selbständigkeit“, ja ein recht ein Recht auf „Selbstverwaltung“ und zielte damit mehr oder weniger unverhohlen auf die Demokratisierung der Herrschaft in der Kolonie.10 Zu diesem ‚zivilgesellschaftlichen Selbstbewusstsein‘ gehörte, dass die Siedlerschaft sich in zahlreichen Vereinen organisierte. Mit der Gründung von Zeitungen wie den „Windhuker Nachrichten“ (bis 1904 noch „Nachrichten des Bezirks-Vereins Windhuk“) oder der „Deutsch-Südwestafrikanischen Zeitung“ verschaffte sie sich Sprachrohre, die es ihr ermöglichten, ihre bisweilen scharf oppositionelle Haltung gegenüber der offiziellen PoliKocka, S. 15, 23 f. Über die Teilnahme der Bevölkerung an der Verwaltung, in: Deutsch Südwestafrikanische Zeitung [DSWAZ] vom 7.9.1904. 9  Ebd. 10  Immer wieder wurde im Schutzgebiet eine „Volksvertretung“ gefordert (vgl. Windhuker Nachrichten [noch unter dem Titel: Nachrichten des Bezirks-Vereins Windhuk D.-S.-W.-Afrika] vom 17.12.1903), die sich nach den Vorstellungen der Siedlerschaft in der Schaffung von Bezirksbeiräten wie in Swakopmund und schließlich in einem Gouvernementsbeirat realisieren sollte. Die Hoffnung gingen nicht auf, weil das Problem war und blieb, dass die Beiräte nur beratende Funktion hatten (vgl. z. B. DSWAZ vom 7.9.1904). 7  Vgl. 8  Vgl.

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tik und ihren Organen zu artikulieren. Wie wenig selbstverständlich diese Entwicklung war, zeigt der Vergleich mit den metropolitanen Verhältnissen. In der heimatlichen Gesellschaft existierten formal die gleichen zivilgesellschaftlichen Formen, die aber ihre strukturelle Autonomie gegenüber der offiziellen Politik inhaltlich nicht einholten, sondern sich in ihrem Gros durch eine dezidiert obrigkeitsstaatliche und autoritätshörige Orientierung auszeichneten. Die Siedlerschaft war jung, hatte sich zweifellos beträchtlich von der metropolitanen Ursprungsgesellschaft entfernt und eine eigene, sie unterscheidende Identität herausgebildet. Hier kamen Menschen zusammen, die einen Drang nach Selbständigkeit verspürten und der Gängelung durch die Obrigkeit zu entkommen suchten. Sie nahmen die Risiken einer Auswanderung in einen fernen, fremden Erdteil auf sich, um die Freiheit von den Schranken zu suchen, die die Wilhelminische Gesellschaft der freien unternehmerischen Entfaltung und dem sozialen Aufstieg entgegensetzte. Die Umstände vor Ort waren mit denen in der Heimat nicht zu vergleichen und hatten einen Einfluss auf die Bildung eines spezifischen ‚Ethos‘. Nach europäischen Maßstäben harrte das Schutzgebiet noch seiner „Erschließung“, die zu einem großen Teil Sache privater Initiative war.11 Das Meiste von dem, was dem damaligen Europäer als eine Selbstverständlichkeit erschien – z. B. Wasserversorgung oder Straßennetz – musste erst geschaffen werden. Es handelte sich um Pionierarbeit. Dabei wurde der Anteil, den die arbeitende Bevölkerung an der Schaffung und Aufrechterhaltung der Infrastruktur leistete, in höherem Maß sichtbar, als dies in der Metropole der Fall sein konnte. Die Risiken waren beträchtlich, denn die Siedler setzten, wie sie selbst betonten, beim Aufbau der Kolonie nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch ihr Vermögen und ihr Leben ein – und sie waren es, die damit die eigentliche Arbeit der Kolonisierung leisteten.12 Dies brachte ein Erstarken ihres Selbstbewusstseins gegenüber der Obrigkeit mit sich,13 das alsbald in die nicht mehr abklingenden Forderungen nach „Selbständigkeit“ und „Selbstverwaltung“ mündete.14 11  Über die Teilnahme der Bevölkerung an der Verwaltung, in: DSWAZ vom 7.9.1904. 12  Über die Teilnahme der Bevölkerung an der Verwaltung, in: DSWAZ vom 7.9.1904. Das Selbstbewusstsein speiste sich aus der Auffassung, dass es nicht die vom kolonisierenden Staat bestellten Funktionäre seien, die das Land „kolonisierten“ und die Infrastruktur schufen, sondern „in erster Linie und an wichtigster Stelle die Kolonisten“ (vgl. Zur Entschädigungsfrage, in: DSWAZ vom 8.6.1904). Diese lebten in der Kolonie und setzten dabei alles aufs Spiel, während Militärs und Verwaltungsbeamte „kommen und gehen“ (Ein Ukas, in: Windhuker Nachrichten vom 1.7.1905). 13  Der Siedler Ludwig Conradt, der sehr früh nach Südwestafrika gekommen war, stellte fest, dass die Leute, die auch nur kurze Zeit dort gelebt hatten, es in



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Angesichts der Kargheit des Landes versprach vor allem die Viehwirtschaft Chancen auf ökonomischen Erfolg. Sie konnte wegen des Mangels an Weide und Wasser nicht anders als extensiv sein. Der Besiedlung des Schutzgebiets waren damit Grenzen gesetzt; unter deutscher Herrschaft konnte das Schutzgebiet trotz seiner beträchtlichen Größe nicht mehr als 15.000 Menschen aufnehmen. So blieb das Schutzgebiet dünn besiedelt, und die Farmer – die „Schlüsselfigur“ des südwestafrikanischen Identitätsentwurfs15 – lebten verstreut und isoliert. Im alltäglichen Leben war der Farmer sein eigener Herr,16 was kehrseitig bedeutete, dass es in erster Linie an ihm selbst lag, sich seinen Bedürfnissen entsprechend einzurichten. Er musste ein hohes Maß an Selbständigkeit besitzen, um erfolgreich zu sein. Gleichzeitig war ihm aber auch ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft abverlangt. Der in der jungen Kolonie herrschende Mangel an dem Notwendigsten, der früher oder später jeden Siedler vor erhebliche Schwierigkeiten stellte, setzte Anreize zur Kooperation. Insbesondere zu Beginn der Besiedlung musste alles, was zum Bau eines Hauses und der Gründung eines Gewerbes nötig war, d. h. buchstäblich jeder Nagel, aus der Heimat eingeführt und ins Landesinnere geschafft werden. Schwerer als der Mangel an bestimmten Gütern wog auf Seiten der Neuankömmlinge der Mangel an Expertise. Gute Beziehungen zu den Nachbarn waren unabdingbar. Auf den unvermeidbaren, langen Reisen durch das Schutzgebiet war der Ansiedler stets auf Hilfeleistungen und Gastfreundschaft Anderer, sei es nur in Form von Weide und Wasser, angewiesen. Man könnte sagen, dass sich auf diese Weise zwei für Zivilgesellschaft charakteristische Züge ausbildeten: die Hochschätzung der Selbständigkeit des Einzelnen, gleichzeitig aber auch der gegenseitigen Hilfeleistung und Kooperation.17 14

Europa nicht mehr aushielten und bald wieder zurückkehrten, dabei besonders auf die Gängelung durch den Obrigkeitsstaat abhebend: „wer das freie, ungezwungene Leben hier einmal gekostet hat, hält es in den geordneten, bis ins kleinste polizeilich kontrollierten Zuständen zu Hause […] nicht mehr aus“ (Conradt, S. 75). 14  Über die Teilnahme der Bevölkerung an der Verwaltung, in: DSWAZ vom 7.9.1904. 15  Schmidt-Lauber, S. 79. 16  Dies änderte sich vorübergehend, als mit den Kolonialkriegen in DeutschSüdwestafrika die Truppenstärke auf fast 15.000 Mann gebracht wurde und das Militär das Schutzgebiet kontrollierte. Diese Verhältnisse beklagten die Verse des alteingesessenen Ansiedlers, Ludwig Conradt: „Die alten Zeiten sind vorbei, / Doch was mich jetzt geniert, / Man lebt hier nicht mehr frank und frei, / Es wird zuviel regiert. – / Doch all‘ die hohen Herr’n im Rat / Mit allen schönen Sachen, / Sie werden aus Südafrika / Doch kein Europa machen.“ (in: DSWAZ vom 3.5.1905) 17  Vgl. Kocka, S. 26. Die Situation hat sich bis heute nicht grundlegend verändert: Noch heute verhält es sich unter namibischen Farmern so, dass einerseits die Autonomie und Selbständigkeit die wichtigsten Attribute des Identitätsentwurfes

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Mit Blick auf diese kommunitären Seiten der sozialen Ordnung der Siedlerschaft ist ein geläufiger Irrtum auszuräumen. Die „koloniale Gesellschaft“ war bei weitem nicht so sehr von „organischen“ Gemeinschaftsentwürfen geprägt, wie immer wieder behauptet wird,18 schon gar nicht von „volksgemeinschaftlichen“, soweit es die Kolonien betraf.19 Dazu sind Siedlergemeinschaften zu individualistisch und familistisch. Freilich war die „kolo­ niale Gesellschaft“ von einer bemerkenswerten Offenheit und integrativen Kraft gegenüber jedem gekennzeichnet, der nur als „weiß“ gelten konnte. Aspekte wie Nationalität, Schicht- und Klassenzugehörigkeit oder Kon­fes­ sion,20 die in der „metropolitanen“ Gesellschaft im alltäglichen Verkehr schier unüberwindbare Barrieren darstellen konnten,21 traten hier eher zurück.22 Nicht die Volksgemeinschaft war der Integrationsmechanismus der minoritären kolonialen Gesellschaft. Ihre vorherrschenden Integrationsmechanismen waren statt dessen die Lebenswirklichkeiten einer Kolonie, die große Selbständigkeit mit kommunitären Zwängen verbunden hatten, die aber auch in Form einer grundlegenden sozialen Verbundenheit als eine Seite dessen erfahren werden konnten, die Marcel Mauss im Essay über die Gabe zu einem Bestandteil des Stoffes erklärt, aus dem Gesellschaft gemacht ist oder, besser, gemacht sein sollte.23 Aber Selbständigkeit, die auch eine bewaffnete war, relative Offenheit gegenüber den vielfältigen Zugehörigkeiten der Mitglieder der kolonialen Gesellschaft, ein Gemeinsinn, der sich im Für-einander-Einstehen der „Weißen“ artikuliert, und die kämpferische Bereitschaft nicht weniger als die streitbare Einmischung in die öffentlichen Angelegenheiten, die weder vor metropolitan-ministeriellem wie gouvernementalem Wort die Stimme senkte, waren die auf Zivilgesellschaft verweisende Verfassung der kolonialen Gesellschaft. Darüber hinaus aber war ein anderer und folgenreicher Integrationsmechanismus der kolonialen Gesellschaft am Werk: die Verbundenheit der „Weißen“ im Unterschied zu „den Schwarzen“. Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit gründete sich vor allem auf den herrischen Anspruch an und Zugriff auf sind und andererseits die gegenseitige Hilfe ein „ungeschriebenes Gesetz“ ist (vgl. Schmidt-Lauber, S. 84, 238). 18  Vgl. Mann, S.  109 ff.; Elkins, S. 206. 19  Das allerdings behauptet mit Blick auf Deutsch-Südwestafrika Brehl (S. 188). 20  Angesichts der Schaffung eines neuen „weißen“ Friedhofs in Omaruru 1906 wurde darauf hingewiesen, dass im Schutzgebiet die „Zugehörigkeit zur superioren weißen Rasse“ die „weiße“ Bevölkerung in einem Maße verbinde, dass der Frage nach der konfessionellen Spaltung keinerlei Bedeutung mehr zukomme (s. DSWAZ vom 12.9.1906). 21  Vgl. Adloff, S.  100 ff. 22  Vgl. auch Delavignette, S. 39. 23  Mauss.



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„die Schwarzen“, die sich zwischen patriarchalischer Sorge und unverhohlener Grausamkeit bewegten. Es war getragen von dem Bewusstsein, wie gering die Zahl der „Weißen“ und wie groß die Gefährdung war, insbesondere in Anbetracht der Kluft, die die „Weißen“ von der vergleichsweise übergroßen Zahl von „Schwarzen“ trennte. An diesem rassistischen Integrationsmechanismus musste alles Zivilgesellschaftliche zuschanden werden, vor allem dann, als mit dem Ausbruch und Verlauf des Krieges gegen Ovaherero und Nama die Beziehung zwischen der kolonialen Gesellschaft und „den Schwarzen“ zum Krieg gegen einander umgeschlagen war. II. Die „dunkle Seite“ der kolonialen Gesellschaft Michael Mann hat in seiner großen Studie über die „dunkle Seite der Demokratie“24 in der Konstitution des Volkes als „ethnos“ die Schwelle gesehen, mit der der demokratische Universalismus des „demos“ endet und die demokratische Zivilgesellschaft sich „im Namen des Volkes“ auch zu Formen extremer Gewalt gegen all diejenigen versteigen kann, die aus dem ethnisch bestimmten Gemeinschaftsentwurf als ‚andersartig‘ herausfallen. In der kolonialen Gesellschaft von Siedlerkolonien ist die Zivilgesellschaft schon immer halbiert. Sie ist eine exklusive Binnenordnung für die kolonialen Herren, „die Weißen“, und von kaum überwindbaren Mauern umgeben, die ihr die ‚koloniale Situation‘ vorgibt,25 und die noch den zivilgesellschaftlichen Binnenbeziehungen der Gesellschaft der „Weißen“ ihre besondere Prägung geben.26 24  Mann.

25  Balandier definiert die Herrschaft unter der Bedingung der „kolonialen Situa­ tion“ als „die von einer fremden, rassisch (oder ethnisch) und kulturell andersartigen Minderheit im Namen einer dogmatisch behaupteten rassischen (oder ethnischen) und kulturellen Überlegenheit einer materiell unterlegenen eingeborenen Mehrheit aufgezwungene Herrschaft“. Damit hängen zusammen: die Berührung völlig heterogener Kulturen, der grundsätzliche Konfliktcharakter der Beziehungen zwischen der Gruppen und Gewalt als vornehmliches Mittel der Herrschaftssicherung (S. 121). 26  Mann hebt in erster Linie auf die Zweideutigkeit des Begriffs „Volk“ ab. Demnach hat die Wendung aus der Verfassung der USA „Wir, das Volk …“ unmittelbar zwei Bedeutungen, „demos“ und „ethnos“, die dann unabhängig voneinander und je nach Kontext aktualisiert werden können. Die zwei Bedeutungen werden damit gewissermaßen als gleichursprünglich behandelt. In Siedlungskolonien wie Deutsch-Südwestafrika scheint uns zwischen diesen Bedeutungen ein Bedingungsverhältnis zu bestehen, in dem die ethnische Differenz die Voraussetzung der Demokratisierung ist. In Siedlungskolonien ist sozusagen die ‚dunkle Seite‘ der Demokratie die Voraussetzung der ‚hellen‘, zivilgesellschaftlichen Form der Demokratie. Und die Genozide, welche die Geschichte der Siedlerkolonien von Nordamerika bis nach

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Die Beziehung zwischen Kolonialherren und autochthoner Bevölkerung war von Grund auf antagonistisch, sie trennte eine schier unüberwindbare Kluft.27 Der Gegensatz wurde mindestens von den Eroberern als so unüberbrückbar wahrgenommen, dass diese Kluft die „feinen Unterschiede“, welche die europäischen Gesellschaften mannigfach gespalten hatten, relativieren, ja bisweilen ganz vergessen machen musste. Ausgrenzung und fundamentale Abwertung der autochthonen Bevölkerung bedeutete umgekehrt die Aufwertung jedes einzelnen Mitglieds der Schicht der „weißen“ Eroberer, d. h. noch des „Verworfensten“28 in ihren Reihen. Es erscheint wahrscheinlich, dass sich demokratische Systeme nicht zufällig vergleichsweise früh in Siedlungskolonien ausgebildet haben. Denn solche Systeme beruhen u. a. auf der Anerkennung der Autonomie des einzelnen Subjekts, und die spezifischen Bedingungen der Siedlungskolonie beförderten diese Anerkennung. Damit läge der ‚progressive‘ Charakter dieser Gesellschaften, ihre Tendenz zur Demokratisierung, in einem gegenläufigen Zug begründet, dem Ausschluss und der Abwertung von Gruppen, die als grundlegend ‚fremd‘ und ‚andersartig‘ wahrgenommen werden. Die koloniale Gesellschaft ist eine Gesellschaft der ‚Apartheid‘, wie dies später einmal heißen sollte. Die Mehrheit der Bevölkerung, die Gruppe der „Eingeborenen“,29 blieb aus dem „Universum der Verbindlichkeiten“ ausgeschlossen.30 Die Geläufigkeit dehumanisierender Wendungen in Bezug auf die Indigenen belegen diesen Sachverhalt auf beredte Weise – in den zeitgenössischen Diskursen im Schutzgebiet galt es als ausgemacht, dass die Neuseeland begleiten, deuten darauf hin, dass genetisch der siedlerkolonialistische Zusammenhang zwischen ethnischer Differenz und Demokratie der primäre ist. 27  Trotha 1994, S. 145 ff. 28  Vgl. DSWAZ vom 6.9.1905. 29  Wie streng differenziert wurde, zeigen folgende Maßnahmen der Siedlerschaft. Am 7. Februar 1906 meldete die DSWAZ aus Windhoek, dass die evangelische Gemeinde beschlossen habe, keine „halbweißen Kinder“ mehr zum Kindergarten und zur Schule zuzulassen. Vereine wie der Turnverein oder der Verein der Farmer hätten längst Statuten erlassen, wonach derjenige, der mit einer „Farbigen“ verheiratet sei, keine Mitgliedschaft erwerben könne. Auch der Bezirksverein schließe alle aus, die „offensichtlich geschlechtlichen Verkehr mit eingeborenen Frauen“ unterhalten. Die Zeitung kommentierte diese Sachverhalte so, dass eine „weiße“ Bevölkerung, die ihr „Rasseninteresse“ wahrnehme, zu keiner anderen Haltung gelangen könne. 30  Die Mission war der Siedlerschaft ein Dorn im Auge, weil sie die Gleichheit der Menschen vor Gott propagierte und damit die radikale Ungleichheit, die für die koloniale Gesellschaft eine so eminente Bedeutung hatte, leugnete. Dass die Mission es wagte, für die Rechte der „Eingeborenen“ einzutreten, wurde als „Terrorismus über Ansiedler, Beamte und Offiziere“ gebrandmarkt (vgl. Erdmann, „Zur Missionsfrage“, in: DSWAZ vom 2.8.1905).



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„Eingeborenen“ keine Menschen im eigentlichen Sinn wären.31 „Sie haben uns Schweine genannt, geschlagen“, klagte ein Herero nach dem Ausbruch des Aufstands über die deutschen Kolonialherren.32 Der Ausschluss der Indigenen bestätigt sich sogar noch an den Protesten von Ansiedlern gegen die Entgrenzung der Kriegführung unter General v. Trotha. Als Reichs­ kanzler v. Bülow den Versuch unternahm, den Kaiser dazu zu bewegen, v. Trotha in seine Schranken zu weisen, führte er auch religiös-ethische Bedenken gegen die Vernichtungsstrategie an.33 Von Bülow argumentierte dabei so, dass auch den „Eingeborenen“ gegenüber nicht alles erlaubt wäre. Dagegen nahmen sich die Argumentationen aus der Siedlerschaft rein instrumentell aus. Mit Kant zu sprechen, begriffen sie die Ovaherero, auch wenn sie für ihre Schonung eintraten, zu keinem Zeitpunkt als „Zweck an sich selbst“, sondern stets nur als Mittel, als „Besitz [!!] des Schutzgebietes von hohem wirtschaftlichem Wert“.34 Die ‚dunkle Seite‘ der kolonialen Gesellschaft ist ihr antagonistischer Charakter, so dass Offenheit, Solidarität und innovative demokratische Vorstellungen im Binnenverhältnis der „kolonialen Gesellschaft“ mit dem Ausschluss der Indigenen aus dem „Universum der Verbindlichkeiten“ einherging. III. Von der kolonialen Gesellschaft zur kolonialen Gemeinschaft Wenn Robert Delavignette35 von der „kolonialen Gesellschaft“ spricht und betont, wie vergleichsweise klein und überschaubar und fest verbunden im Überlegenheitsbewusstsein der „Weißen“ sie war, drängt sich die Frage auf, ob wir im Lichte der Tönniesschen Unterscheidung es hier nicht eher mit einer ‚Gemeinschaft‘ als mit einer ‚Gesellschaft‘ zu tun haben.36 Zur kleinen Zahl und ihrem geteilten Überlegenheitsbewusstsein kommen hinzu die Formen generalisierter Reziprozität, welche in den strengen Regeln der Gastfreundschaft gegenüber „Weißen“ ebenso wie in den wechselseitigen Hilfeleistungen zum Ausdruck kommen, eine aus der Sicht der metropolitanen Gesellschaft der „Heimat“ vergleichsweise geringe sozialstrukturelle Differenzierung von sozialen Gruppen, deren horizontale Differenz qua beruflicher Tätigkeit und Funktion (Verwaltung, Kaufmannschaft, Siedler31  So z.  B. das Windhoeker Beiratsmitglied Panzlaff in einem Gutachten vom 25. Juni 1900 (zitiert nach Müller, S.  149 f.). 32  Zitiert nach Rust, S. 132. 33  Vgl. Bülow, S. 21. 34  DSWAZ vom 14.12.1904. 35  Delavignette, S.  31 ff. 36  Tönnies.

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schaft) vermutlich trennender als die vertikale Differenzierung war oder das kulturelle Leben in seiner unabweisbaren Provinzialität.37 Anderes steht der Konzeptualisierung der kolonialen Gesellschaft als Gemeinschaft entgegen: ihre beachtlichen Konflikte, insbesondere diejenigen zwischen Siedlerschaft, Mission und Kolonialverwaltung, die Konflikte über die Ziele für die Kolonie waren und ihren zivilgesellschaftlichen Ausdruck in den oben erwähnten Vereinen und Publikationsforen gefunden haben; ebenso die Kluft, die eine mehr oder minder kurzfristig in der Kolonie tätige Beamtenschaft oder einen „im Busch“ ganz auf sich gestellten Bezirksleiter von der kolonialen Gesellschaft Windhoeks oder Swakopmunds und den ihr zugehörigen Siedlerschaften trennte, die auf Dauer in der Kolonie zu bleiben beanspruchten und aus Personen bestand, die „im Busch“ ebenso selbständig wie der Bezirksleiter ihre Viehzucht zu betreiben verstanden. Die koloniale Gesellschaft und die von Siedlerkolonien allemal haben stets deutlich gemeinschaftliche Züge im Sinne von Tönnies, die aber die Merkmale der Gesellschaft nicht vergessen machen dürfen. Vielleicht liegen gerade deshalb bei ihnen die zwei Seiten der Demokratie, die Mann im zivilgesellschaftlichen demos und im ausschließenden und gewaltträchtigen ethnos ausmacht, besonders nahe beieinander. Wichtiger und aus der Sicht der Geschichte der Gewalt, des Krieges und des Genozids im Besonderen ist, dass die koloniale Gesellschaft unter den Bedingungen gewalttätiger Auseinandersetzungen mit den indigenen Völkern bzw. denen, deren Land sie sich aneignen, beginnt, ihre zivilgesellschaftlichen Seiten einzureißen. Im rassistischen Anspruch auf die Verbundenheit aller „Weißen“38 transformiert sie sich nicht nur zu jener „ursprünglichen Gemeinschaft“, die nach Shils in ihrem Kern mit der Civil Society unvereinbar ist, sondern die koloniale Gemeinschaft tendiert dazu, zur Gewaltgemeinschaft zu werden, zu einer Gemeinschaft, die sich wesentlich durch ihre Gewalt gegenüber der indigenen Bevölkerung auszeichnet und integriert. Im Januar 1904 begann der Aufstand der Ovaherero gegen die deutsche Kolonialherrschaft. Man bediente sich dabei der Methoden der tribalen Kriegführung, die aus der Sicht der deutschen kolonialen Eroberern nicht anders als ‚kriminell‘ zu qualifizieren waren. Der Soldat Max Belwe erzählt, die Herero hätten die Plätze „überfallen“ und die Weißen „erschlagen“; die Soldaten einer der wenigen kleinen Stationen, die die Herero 37  Trotha

1994, S. 210 f. und eine darauf gründende Gemeinschaft „der Weißen“ waren und blieben eine Utopie. Die Utopie war sozial gleichwohl wirksam. Sie war ein Druckmittel, das die „Weißen“ im Schutzgebiet zumindest zur Verhaltenskonformität zwang, weil jedermann Marginalisierung und Ausschluss fürchtete, die den wirtschaftlichen Ruin bedeuten konnten (und in solchen Gesellschaften nach wie vor bedeuten können, vgl. Schmidt-Lauber, S. 85). 38  „Rassensolidarität“



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überhaupt angriffen, wurden arg- und wehrlos, „auf der Veranda […] sitzend, hinterrücks erschlagen“.39 Auch die Ansiedler selbst seien, so der Hauptmann Maximilian Bayer, „in grausamer und hinterlistiger Weise ermordet“ worden.40 Nach Burkhard v. Erffa hätte dieser „Aufstand […] heimtückischer nicht […] ins Werk gesetzt werden können“.41 Der damals aktive Schutztruppenoffizier Kurd Schwabe bezeichnete das Handeln der Herero als ein „teuflisches Werk des Mordens, Brennens und Raubens“ und wirft den Angreifern vor, „bestialische Grausamkeiten“ verübt zu haben.42 Berthold Deimling schreibt nach seinem ersten Aufenthalt in Südwestafrika, die Herero hätten Zivilisten dahingeschlachtet, aber auch „bestialische Grausamkeiten“ an verwundeten Soldaten verübt.43 Wie sehr auch diese Charakterisierungen die Befangenheiten in den Vorstellungen ‚konventioneller‘ europäischer Kriegführung widerspiegeln und zugleich den Feind außerhalb des Anwendungsbereichs der Regeln des modernen Kriegsrechts verorten, wichtiger ist hier, dass sie die Bilder und Emotionen herstellen, mittels derer schließlich die koloniale Gewaltgemeinschaft geboren wird. Wie in Grootfontein, über Wochen und Monate in improvisierten Festungen verschanzt, ist die Siedlerschaft „erbittert“:44 sich in der Hand der „Schwarzen“ wähnen zu müssen, bedeutete „eine der weißen Rasse zugefügte Demütigung und Schmach“.45 So ertönte sehr bald der Schrei nach Rache.46 Die Übergriffe, mochten sie sich mitunter Hunderte Kilometer entfernt zugetragen haben, ließen auch die Grootfonteiner nicht kalt. Als Echo der minoritären Stellung der „Weißen“ und der Überschaubarkeit der kolonialen Gesellschaft fühlten sich die Grootfonteiner selbst getroffen. Keines der Opfer war schließlich anonym, auch nicht im entlegenen Grootfontein. Kaum einer der Ansiedler hatte nicht zu einem der Opfer in persönlichen Beziehungen gestanden. Was schon lange vor Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen zu äußerster Vorsicht mahnte, wird nun buchstäblich ‚handgreifliche‘ Wirklichkeit. Reisen, die aus „weißen“ Enklaven herausführten, durchquerten jetzt im unmittelbaren Sinn Feindesland, in dem man „beständig auf der Hut sein muß[te], um nicht ‚erwischt‘, miss39  Belwe,

S. 33. S. 32. 41  Erffa, S. 55. 42  Schwabe, S. 93. 43  Deimling, S. 13. 44  Tagebuch Helene Gathmann, DTA, Sign. 1704, Eintrag 17. Februar 1904, S. 33. 45  Rust, S. 142. 46  Tagebuch Helene Gathmann, DTA, Sign. 1704, Eintrag 19. Januar 1904, S. 19. 40  Bayer,

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handelt oder gemartert zu werden“.47 Umso existenzieller erschienen wiederum die Beziehungen generalisierter Reziprozität, die soziale Vergemeinschaftung der kolonialen Gesellschaft. Zu dieser Vergemeinschaftung gehörte, dass der ‚Binnenpluralismus‘ der „Weißen“, der entsprechend der Nähe der zivilgesellschaftlichen und der gemeinschaftlichen Beziehungsformen der kolonialen Gesellschaft stets ein deutlich beschränkter ist, nicht mehr aufrechterhalten wird. Mit dem Ausbruch der kriegerischen Feindseligkeiten dürfen etwaige Interessensgegensätze nicht mehr an dem „Gemeinsamkeitsgefühl der Farbe und Rasse“ rühren.48 Die koloniale Gemeinschaft wollte die Gemeinschaft der „Weißen“ im Schutzgebiet sein, einzig und allumfassend. Angesichts des „Rassenkampfes“, der im Januar 1904 aus dem Stadium der Latenz herausgetreten war, verschärfte sich der Konformitätsdruck. Jede Abweichung wurde als Verrat gebrandmarkt, jedes Handeln an der vermeintlich erschöpfenden Alternative des ‚mit uns oder gegen uns‘ gemessen. Der Argwohn der Siedlerschaft richtete sich nacheinander gegen alle Gruppen von „Weißen“, die sich der Vereinnahmung durch die koloniale Gemeinschaft zu versperren schienen, weil sie in der einen oder anderen Frage eine Haltung einnahmen, die von der Haltung der Siedlerschaft abwich. So schürte die Siedlerschaft eine „allgemeine Wut“ gegen die Missionare: Weil die Haltung der Missionare gegenüber den Indigenen nicht so unversöhnlich wie die der Siedlerschaft war, wurde ihnen sogar unterstellt, die Aufständischen aktiv unterstützt zu haben.49 Ihnen wurde ein „gänzliche[r] Mangel an Rassebewusstsein“ vorgeworfen.50 Auch die burischen Siedler wurden angefeindet, weil sie sich nicht so konform verhielten, wie es die „Rassensolidarität“ diktierte. Sie verließen nach den Aufständen die Festungen frühzeitig, da sie davon ausgingen, dass sich der Krieg der Ovaherero nicht gegen sie, sondern gegen die Deutschen richtete. Der Argwohn gegen 47  Siehe den offiziellen Bericht der Versammlung des Bezirksvereins Windhoek vom 7. Juli 1903, in: Nachrichten des Bezirks-Vereins Windhuk (D.-S.-W.-Afrika) [später: Windhuker Nachrichten], S. 2. 48  DSWAZ vom 19.4.1904. 49  Nachdem die Ovaherero an den Plätzen alles zerstört, verwüstet und verbrannt hätten und die „Weißen“ unter kläglichen Lebensbedingungen „zusammengepfercht auf der Feste“ säßen, wären die Missionare „unversehrt“ in ihren Häusern und ließen zu, dass die Ovaherero aus Kirche und Missionshaus feuerten (DSWAZ vom 9.2.1904). Einigen von ihnen wurde fälschlicherweise vorgeworfen, Siedler an die Ovaherero ausgeliefert zu haben (DSWAZ vom 23.2.1904). Als Missionare versuchten, in der metropolitanen Öffentlichkeit ein differenzierteres Bild von den Aufständen und ihren Gründen zu zeichnen, sahen sie sich dem Vorwurf ausgesetzt, der Siedlerschaft und ihren Reparationsforderungen in den Rücken zu fallen und großen Schaden zuzufügen (DSWAZ vom 21.9.1904). 50  DSWAZ vom 3.5.1904.



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die Buren war seit jeher groß, weil ihre einfache, an die Gegebenheiten angepasste Lebensweise den Verdacht der „Verkafferung“ erregte51 – ein Phänomen, das auf eklatanteste Weise die Grenze zwischen Eroberern und Kolonisierten verletzte und das vermeintliche Prestige des „Weißen“ untergrub. Irgendwann war gar die Rede von einem „Komplott der Transvaaler“ und einem angeblich geplanten „Staatsstreich“,52 um die Kolonie zu übernehmen.53 Dass die Briten überhaupt den Aufstand der Ovaherero angezettelt hatten und nach Kräften unterstützten, war ein Gemeinplatz in der kolonialen Gemeinschaft, und man warf ihnen „fortgesetzte Versündigungen gegen die Rassensolidarität“ vor.54 Zunehmend traf der Unmut der Siedlerschaft aber auch die metropolitanen Militärs. 1905 hatte sich die Truppenstärke gegenüber Januar 1904 verzwanzigfacht. Immer neue Truppen strömten ins Schutzgebiet. Insbesondere den Offizieren begegnete man mit Misstrauen, weil sie häufig auf Unterordnungsverhältnisse zwischen Zivil und Militär insistierten, die in der Metropole selbstverständlich waren. Im Schutzgebiet aber, wo einerseits das zivilgesellschaftliche Selbstbewusstsein ein gänzlich anderes als in der „Heimat“ war, andererseits und, durch die Kriegsbedingungen verschärft, der Gegensatz der „Rasse“ und „Hautfarbe“ eine ganz andere Bedeutung hatte,55 wurden solcherart Unterordnungsverhältnisse als unzumutbar wahrgenommen. Zum Beispiel prangerte der Ansiedler und Autor Conrad Rust (1905) in seinem Bericht über den Krieg gegen die Ovaherero die Maßnahmen des Generals Lothar v. Trotha an, indem er ihm vorwarf, sich vom Standpunkt der militärischen Notwendigkeit aus allzu leichtfertig über die gesellschaftspolitischen Erfordernisse vor Ort hinwegzusetzen. Rust schimpfte auf den Zwang zum „Frontmachen“ gegenüber militärischen Vorgesetzten, den v. Trotha wieder eingeführt hatte, weil er angeblich die ehrerbietig salutierenden „Weißen“ vor den anwesenden „Eingeborenen“ herabsetze;56 er beschwerte sich außerdem über öffentlich an „Weißen“ vollzogene Strafen oder die aus seiner Sicht erniedrigende und demütigende Ermittlung von Vergewaltigern durch Abschreiten der Reihen mit dem Opfer, das unter den anwesenden „Weißen“ den Täter identifizieren sollte.57 Die „Deutsch-Südwestafrikanische Zeitung“ stellte im Namen der Siedlerschaft klar, dass insbesondere in Zeiten des „Rassenkrieges“ von der Bestrafung selbst des „verworfensten Weißen“ ab51  Kundrus,

S.  103 f. Nachrichten vom 1.9.1905. 53  DSWAZ vom 6.9.1905. 54  Ebd. 55  DSWAZ vom 28.2.1906. 56  Rust, S.  401 f. 57  Ebd., S.  403 f. 52  Windhuker

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zusehen wäre, da eine solche geeignet erschien, die „Weißen“ in den Augen der Indigenen herabzusetzen und das „Prestige der weißen Rasse“ zu beschädigen.58 Untergruppen von „Weißen“, die eine Haltung gegenüber „Eingeborenen“ oder anderen „Weißen“ an den Tag legten, die den Erwartungen der Siedlerschaft und ihrer Wortführer nicht entsprach und davon abwich, wurden argwöhnisch beäugt und mitunter scharf angegriffen. Wer sich der Vereinnahmung durch die koloniale Gemeinschaft widersetzte, wurde tendenziell als Verräter gebrandmarkt. Eine Pluralität von Auffassungen und Haltungen wurde nicht mehr akzeptiert. Die Radikalisierung des kolonialgesellschaftlichen Diskurses und der politischen Einflussnahme ging so weit, dass die koloniale Gesellschaft ein Recht im eigentlichen Sinn nicht mehr zuließ. Im Unterschied zu zivilgesellschaftlichen Initiativen, die ein Recht zu erstreiten versuchen, das im Grundsatz als verallgemeinerbar dargestellt wird – auch wenn man vorderhand eigene Interessen verfolgt –, fordert die koloniale Gesellschaft ein Recht, das die Erobererschicht exklusiv für sich beansprucht und im Umgang mit den Indigenen nichts Anderes als ein ‚Recht‘ auf Willkür ist. Wenn sich die Wortführer gegen Sanktionen der Obrigkeit (z. B. durch den Militärapparat) wandten, reklamierten sie häufig nichts anderes als persönliche Willkür des einzelnen Siedlers, weil aus ihrer Sicht nur eine solche Willkür dem Prestige- und Herrenanspruch des „Weißen“ gerecht werden konnte. Der Anspruch metropolitaner Stimmen, dass in der Kolonie ein ähnlicher Zustand der Rechtlichkeit wie in Europa herrschen sollte, wurde als illusionär zurückgewiesen, und zwar deswegen, weil dies bedeutet hätte, dass auch die „weißen“ Herren in ihrem Tun gewissen Normen unterworfen gewesen wären.59 Zwar wurde es als wünschenswert bezeichnet, dass der „Weiße“ stets seiner sittlichen „Überlegenheit“ über die „Eingeborenen“ eingedenk bleibe und dieser dadurch gerecht werde, dass er letzteren gegenüber nicht alle Verhaltensnormen fahren lasse, zumal dies auf längere Sicht die Arbeit der Kolonisation erschweren würde; aber er dürfe wiederum auch nie vergessen, dass alle Maßregeln nur um „unseretwillen“ getroffen seien und keinesfalls zu Hindernissen werden dürften.60 58  DSWAZ vom 6.9.1905. Die DSWAZ vom 5. Juli 1905 berichtete erbost über einen Vorfall, dass ein Arbeiter im Schutzgebiet wegen Majestätsbeleidigung angeklagt und zu zwei Monaten verurteilt worden war, wobei die besonderen Umstände seiner Festnahme solchen Unmut erregten. Der Arbeiter hatte auf den Kaiser geschimpft, worauf ein anwesender Offizier einem „Schwarzen“ befahl, den Betreffenden mit einem Schambock zu schlagen, was auch geschah, und zwar, wie die Zeitung pikiert feststellte, „auf offener Straße, bei hellem Tag […] Und dies während wir in einem Rassenkriege stehen. Was soll man dazu sagen?!“ 59  DSWAZ vom 6.9.1905. 60  Ebd.



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Die koloniale Gesellschaft wurde monolithisch und konstituierte sich als eine „ursprüngliche Gemeinschaft“ der „Weißen“, um die Shilssche Charakterisierung aufzunehmen, die obendrein sich als eine kriegerische verstand. IV. Von der kolonialen Gemeinschaft zur kolonialen Gewaltgemeinschaft Es blieb nicht nur bei der Forderung nach Willkür. Die Forderung wurde von den Akteuren vielmehr selbst eingelöst – und damit das politische Geschehen im Schutzgebiet tatkräftig bestimmt. Der Gouverneur der Kolonie, Theodor Leutwein, war Berufsoffizier. Das ließ ihn gegenüber den Ansiedlern, die darüber hinaus häufig aus der Arbeiterschicht oder kleinbürgerlichen Verhältnissen stammten, eine gewisse Distanz einnehmen. Die den Offizieren in der Heimat vermittelte Herausgehobenheit ihres „Standes der Ehre“61 machte einige von ihnen arroganter und empfindlicher gegenüber den Versuchen der Siedler, sie unter dem Schlagwort der „Rassensolidarität“ zu vereinnahmen.62 Für Unteroffiziere und Mannschaften galt dies kaum, auch weil die Schranken, die sie von den Offizieren trennten, viel rigider und stabiler als diejenigen waren, die zwischen ihnen und der zivilen Bevölkerung standen. Für manchen Soldaten kam nach dem Kolonialdienst mit all seinen Freiheiten eine Rückkehr auf den metropolitanen Kasernenhof nicht mehr in Frage, und er ließ sich, in der Regel mit Erfolg, als Siedler im Schutzgebiet nieder.63 Viele Soldaten, 61  Demeter,

S. 111. ein Offizier setzte sich gegen diese „rassisch“ begründete Vergemeinschaftung zur Wehr. Viktor Franke lehnte das Fraternisieren mit der Siedlerschaft ab, selbst wenn er als Kolonialoffizier unter seinen Mannschaften einsam war und keinen Umgang mit Personen desselben Standes pflegen konnte: „man muss sich hierzulande von Zeit zu Zeit energisch vor Augen führen, dass man trotz Hemdsärmeln doch schließlich noch Seiner Majestät Offizier ist“ (Franke, S. 245). Tatsächlich gerieten aber mit dem Andauern der Kriege in Südwestafrika selbst Teile des metropolitanen Offizierskorps in den Sog der kolonialen Gemeinschaft. Einerseits entfremdeten sie sich von der Metropole, weil sie sich durch die verfehlte, den kolonialen Bedingungen nicht angemessene Strategie ‚verheizt‘ und von der Heimatgesellschaft, nicht zuletzt vom obersten Kriegsherren, dem Kaiser selbst, vergessen wähnten (siehe z. B. das Tagebuch des Oberleutnant Stuhlmann, NAN, Private Accessions, A. 109, S. 82, S. 253); gleichzeitig lernten sie die die „alten Afrikaner“ immer mehr zu schätzen (siehe die Briefe von Leutnant v. Stauffenberg, siehe Marchand-Volz, S. 144). Sie eigneten sich allmählich die Deutungsmuster der Siedler an, empörten sich über die gerichtliche Untersuchung und Ahndung sogenannter ‚Kolonialgreuel‘ (Stuhlmann, NAN, Private Accessions A. 109, S. 196) oder teilten den Unmut gegen die Missionare (siehe z. B. das Tagebuch des Leutnants v. Frankenberg und Proschlitz, NAN, AACRLS.070, S. 143). 63  DSWAZ vom 8.3.1904. 62  Manch

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die noch im Dienst der Truppe standen, spielten mit dem Gedanken, diesem Beispiel zu folgen.64 Diese Tatsache stiftete, wie es in der „Deutsch-Südwestafrikanischen Zeitung“ hieß, eine besondere „Nähe“ zwischen Zivilbevölkerung und den unteren Chargen des Militärs.65 Auf bestimmten Ebenen verschwommen die Grenzen zwischen Zivil auf der einen, Militär und Verwaltung auf der anderen Seite. Diese „Nähe“ konnte die Form der „Komplizenschaft“ annehmen, die eine Privatisierung der Gewalt und dadurch eine Einflussnahme auf die allgemeine politische Lage im Schutzgebiet ‚von unten‘ ermöglichte. Schon vor Ausbruch des Krieges waren die Beziehungen zwischen der kolonialen Gesellschaft und insbesondere zwischen der Siedlerschaft und der afrikanischen Bevölkerung von Gewalt gezeichnet. Wie in anderen Siedlungskolonien auch war in Deutsch-Südwestafrika die zivilgesellschaftliche Dimension der Selbständigkeit der Siedler stets eine begrenzte. Das zivilgesellschaftliche Moment der Unabhängigkeit und Selbständigkeit vom Staat und der als existenziell zu bestimmenden Autonomie eines Siedlerdaseins „im Busch“ war in der Bewaffnung und im Bewusstsein, sich selbst verteidigen zu können und zu müssen, gebrochen.66 Hält man sich an die Genese der Zivilgesellschaft und des Begriffs von ihr, ist die Zivilgesellschaft ein Ergebnis der staatlichen Gewaltmonopolisierung und der Befriedung der gesellschaftlichen Räume. Zivilgesellschaft ist immer eine befriedete und damit faktisch eine entwaffnete bzw. in ihrer Bewaffnung mehr oder weniger staatlich streng kontrollierte Gesellschaft. Es ist eine Gesellschaft, in der deshalb der politische Prozess friedlich organisiert ist und friedlich verläuft. Im Gegensatz zu diesem grundsätzlichen innergesellschaftlichen ‚Pazifismus‘ der Zivilgesellschaft ist die Selbständigkeit der Siedlerschaft in Siedlerkolonien stets eine bewaffnete – vom kolonialen Nordamerika bis ins heutige Israel der Siedler, ausgenommen strikt pazifistische Religionsge64  Oskar Hintrager berichtet aus der Zeit um 1906 herum, dass über 1.000 aktive Schutztruppler erklärt hätten, nach Ablauf der Dienstzeit als Siedler im Land bleiben zu wollen (S. 84). 65  DSWAZ vom 1.3.1905. 66  Dass in den ersten Wochen und Monaten des Krieges gegen die Ovaherero Männern, die keine Berufssoldaten waren, die gefährliche „Jagd“ auf Indigene glückte, lag für Conrad Rust auch daran, dass ihnen solche Praktiken nicht zuletzt durch ihr „Leben auf der Farm […] zur zweiten Natur geworden“ waren (Rust, S. 178). Bewaffnete Selbsthilfe bei Eigentumsdelikten, die von Indigenen verübt worden waren, blieb auch unter der metropolitanen Militärverwaltung Usus. Es sei nur auf ein Beispiel aus der „Deutsch-Südwestafrikanischen Zeitung“ verwiesen: Der Farmer Dirk Oosthuizen, dem im Nordosten des Schutzgebiets einige Stücke Vieh geraubt worden waren, setzte den (vermeintlichen?) Dieben mit sechs Begleitern nach. Sie spürten eine Gruppe von Ovaherero an der Wasserstelle Otjimarare auf, töteten 23 und machten einen Gefangenen (DSWAZ vom 14.12.1904).



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meinschaften wie Quäker, Mennoniten oder Hutterer. Diese Gegenwart von Gewalt in Siedlergesellschaften wird an der strukturellen Bruchstelle der kolonialen Zivilgesellschaft, im Verhältnis zur indigenen Bevölkerung, typischerweise ganz unzivile gewalttätige Praxis. Entsprechend herrschte in den Jahren vor Kriegsbeginn ein ausgeprägter „Herrenmenschen“-Gestus.67 Es kam zu zahlreichen Übergriffen gegenüber der autochthonen Bevölkerung. Vergewaltigungen und Morde häuften sich, von denen auch Angehörige von Großleuten und Chiefs nicht mehr ausgenommen waren.68 Zeitgenössische Zeugnisse belegen, dass die Situation der Ovaherero am Vorabend des Krieges 1904 drückend war. Abraham Kaffer gab bei der Vernehmung durch britische Behörden nach dem Zusammenbruch der deutschen Kolonialherrschaft an: „We have never been able to understand the German Government […] because every German officer, sergeant, and soldier, every German policeman and every German farmer seemed to be the ‚Government‘. By this we mean that every German farmer seemed to be able to do towards us just what he pleased, and to make his own laws, and he never got punished. The police and the soldiers might flog us and ill-treat us, the farmers might do as they pleased towards us and our wives, the soldiers might molest and even rape our women and young girls, and no one was punished.“69

Jeder Siedler genoss erhebliche Freiheiten – Insignien seines ‚Herrentums‘, die Exekutive und Judikative ihm durch Untätigkeit bestätigten. Aussagen von Indigenen hatten vor Gericht kein Gewicht, Selbsthilfe von Eingeborenen wurde schwer bestraft.70 Die indigene Bevölkerung musste die Willkür des einfachen Siedlers hinnehmen, umso mehr dann, wenn Organe der Exekutive mit den Siedlern gemeinsame Sache machten und sich 67  Kaulich,

S. 247. der engsten Berater von Samuel Maharero, dem Paramount Chief der Ovaherero, Assa Riarua, wurde 1901 in Windhoek wegen einiger Mark von einem Bäcker blutig geschlagen und aus dem Geschäft gejagt (Bley, S. 119). Vgl. außerdem den Bericht des Gouvernements vom 6. Juni 1903 über eine Klage des Großmanns Kajata gegen die Ansiedler Arz und v. Falkenhausen wegen Körperverletzung (NAN ZBU D.IV.l.2. Herero-Aufstand 1904. Feldzug; Politisches. Band 3, August 1904–September 1905). 69  Zitiert nach Gewald / Silvester, S.  159. Dass solches ‚Herrenmenschentum‘ nicht allein eine Erscheinung in den deutschen Kolonien war, sondern der kolonialen Gemeinschaft zugehört, wird aus der Aussage des Topnaar-Chief Piet Heibib ersichtlich, der gegenüber den britischen Behörden klagte: „Every white man at Walvish Bay is Magistrate over me and my children.“ [Übersetzung eines Briefes von Piet Heibib v. 25. Januar 1904 an den Gouverneur in Kapstadt (KAB, NA 271)]. 70  „Weiße“ wurden für die Ermordung von Indigenen zu Freiheitsstrafen zwischen 3 Monaten und 3 Jahren verurteilt, für die Ermordung „Weißer“ durch Indigene wurden stets Todesurteile ausgesprochen und vollzogen, in den meisten Fällen sogar mehrere auf einmal (Silvester / Gewald, S. 94). 68  Einer

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an den Misshandlungen beteiligten.71 Manch einer der staatlichen Funk­ tionsträger ließ sich von der kolonialen Gemeinschaft vereinnahmen, und dies ermöglichte es dem einzelnen Siedler, wie selbstverständlich Gewalt auszuüben und damit nicht zuletzt den Lauf der Ereignisse im Schutzgebiet zu bestimmen. Dementsprechend spitzte sich der Gegensatz zwischen kolonialen Eroberern und indigener Bevölkerung zu. Die Ovaherero beschlossen, lieber im Kampf unterzugehen, als unter solchen Bedingungen weiterzuleben. Samuel Kariko drückte es so aus: „Our people were shot and murdered; our women were ill-treated; and those who did this were not punished. Our chiefs consulted and we decided that war could not be worse than what we were undergoing […] yet we decided on war, as the chiefs said we would be better off even if we were all dead.“72

In einem Brief an den Oorlam-kaptein Hendrik Witbooi unterstrich Samuel Maharero, der Paramount Chief der Ovaherero, die Begründung Karikos, verwies ebenfalls auf die zunehmenden „Misshandlungen“ und erklärte, lieber sterben zu wollen, als weiter mit solchen Demütigungen leben zu müssen.73 Es war die verzweifelte Antwort auf eine radikalisierte Siedlerschaft, die in den Beziehungen zu den Indigenen sich immer mehr als Gewaltgemeinschaft erwies, nicht nur in dem Sinne, dass im Verkehr mit der afrikanischen Bevölkerung Willkür und Gewalt immer bestimmender, sondern dass die Gewalt ein wesentlicher sozialer Integrationsmechanismus und ein hervortretendes Element im Selbstverständnis der kolonialen Gemeinschaft wurde. Für diese Entwicklung ist gerade die Stimme aufschlussreich, die innerhalb der kolonialen Gesellschaft zu ihrem prominentesten ‚Opfer‘ wurde: Gouverneur Leutwein. Das „System Leutwein“74 setzte bis zuletzt auf einen friedlichen Ausweg aus der Auseinandersetzung mit den Ovaherero. Dies hätte erfordert, dass, wie Leutwein in einem Bericht an Berlin vom 14. März 1904 schrieb, „in diesem Bestreben sich sämtliche Weißen des Schutzgebiets zusammengefunden hätten“; allerdings wäre für die „öffentliche Meinung“ im Schutzgebiet ein formell friedlicher Kurs „völlig“ ausgeschlossen gewesen, und unter der Siedlerschaft hätten sich Elemente befunden, die „vor Selbsthilfe unter Bedrohung der Hereros mit der Waffe“ nicht zurück71  Willem Christian merkte an, dass die Ovaherero den Übergriffen keinen Einhalt gebieten konnten, weil sich auch Angehörige der Exekutive an den Vergewaltigungen beteiligten (Silvester / Gewald, S. 161). 72  Zitiert nach Silvester / Gewald, S. 95. 73  Leutwein, S. 468. 74  Bley, S.  18 ff.



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schreckten.75 In einer Stellungnahme vom 16. Februar 1904 machte Leutwein darauf aufmerksam, dass in den voraufgegangenen Jahren mindestens sechs Fälle vorgekommen wären, in denen „Weiße“ Ovaherero ohne zwingenden Grund „einfach über den Haufen geschossen“ hätten. Viele „Weiße“ hätten sich in einem „Kampf gegen eine minderwertige Rasse“ gewähnt, in dem sie selbst „Mord und Totschlag“ nicht verschmähten. Gegen die Gewalt ‚von unten‘, die die offizielle „Friedenspolitik“ unterminierte, war der schwache Kolonialstaat letztlich „machtlos“.76 In ihrer zivilgesellschaftlichen Unabhängigkeit, die sich als bewaffnete in ihrer Zivilität selbst dementierte, hatte die Siedlerschaft schon seit Mitte der 1890er Jahre zunehmend die Konfrontation mit der Kolonialverwaltung und insbesondere mit dem „System Leutwein“ gesucht. Noch wenige Tage vor dem Ausbruch des Aufstandes der Ovaherero wurde in der „Deutsch-Südwestafrikanischen Zeitung“ die offizielle Politik als „Humanitätsduselei“ verspottet, die unter dem Einfluss „fanatischer Missionsfreunde“ und unkundiger „Idealisten“ stünde. Tatsächlich wäre das Kolonisieren „eine Härte, eine Vergewaltigung“ und darauf angelegt, „der eingesessenen eingeborenen Bevölkerung ihr Land und Besitz“ zu entreißen.77 Es wurde bedauert, dass man es versäumt hatte, die bisherigen Aufstände zum Anlass zu nehmen, die Indigenen im Schutzgebiet ein für alle Mal zu unterwerfen. Immer noch stünde man „bewaffneten Horden“ von „minderwertigen Eingeborenen“ gegenüber, die eine „direkte Gefahr“ darstellten.78 Blickt man auf die Jahre vor dem Aufstand der Ovaherero im Januar 1904, zeigt sich, dass in Siedlerkreisen alles daran gesetzt wurde, den Konflikt zu provozieren, der den Anlass bieten würde, „reinen Tisch zu machen im ganzen Lande“79 und die „Neuordnung“80 der Herrschaftsverhältnisse vorzunehmen. Es fehlte nicht an Zeitgenossen, die in den Provokationen der Siedlerschaft eine bewusste Strategie sahen, den Krieg vom Zaun zu brechen.81 Auch die metropolitane Öffentlichkeit insgesamt war zu der Überzeugung gelangt, dass die Siedlerschaft, die sich als Opfer inszenierten und vom Deutschen Reich volle Entschädigung für die Aufstandsschäden verlangten, für den Ausbruch der 75  NAN ZBU D.IV.l.2. Herero-Aufstand 1904. Feldzug; Politisches. Band 3, August 1904–September 1905. 76  NAN ZBU D.IV.l.2: Herero-Aufstand 1904. Feldzug; Politisches. Bd. 4: Oktober 1904–Dezember 1905. 77  Zur augenblicklichen Lage, in: DSWAZ vom 5.1.1904. 78  Ebd. 79  DSWAZ vom 2.2.1904. 80  DSWAZ vom 19.1.1904. 81  So etwa der Missionar Jakob Irle in einem Artikel vom 22. März 1904 (vgl. Drechsler, S. 163).

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Aufstände verantwortlich war.82 Die koloniale Gemeinschaft untergrub die Staatlichkeit, die doch die Voraussetzung der Zivilgesellschaft ist.83 Die koloniale Gewaltgemeinschaft machte sich daran, unter dem Banner der „Rassensolidarität“ den Kolonialstaat in der kolonialen Gemeinschaft aufzulösen. Die Zivilgesellschaft steht in Opposition zum Staat und wandte sich in der liberalen Tradition pointiert gegen ein als zu hoch empfundenes Maß an Einflussnahme. Die koloniale Gewaltgemeinschaft befand sich zwar im Konflikt mit der Obrigkeit, aber sie wollte deren Einfluss nicht einfach nur drosseln oder von sich fernhalten, sondern im Gegenteil den Staat und seine Organe für ihre Herrschaft vereinnahmen. Der Aufstandsausbruch im Januar 1904 läutete für die Siedler eine Phase unumschränkter Freiheiten ein. Als Reservisten, Landsturmmänner und Kriegsfreiwillige stellten sie zunächst den Großteil der Truppe dar, unmittelbar nach Kriegsbeginn annährend zwei Drittel,84 und drückten den Kämpfen der ersten Wochen ihren Stempel auf. Diese Phase des Krieges wurde von den Siedlern später wehmütig als die „afrikanisch-klassische Zeit der Kämpfe“85 erinnert. Es handelte sich um den eminent ‚nicht-staatlichen‘ Abschnitt dieses Kleinen Krieges. Rust hat die Kämpfe dieser Zeit, die vornehmlich in bewaffneten Patrouillenritten bestanden, sehr detailliert beschrieben. Siedler waren die maßgeblichen Akteure dieser Unternehmungen.86 Rust charakterisiert die Stimmung dieser Tage: „Der Drang, mit dem Räubervolke Abrechnung zu halten, wuchs mit jeder Begegnung […]. Befriedigung gab’s nicht“.87 Tatsächlich wurde, wie Rust mehrfach betont, mit den aufgegriffenen Gegnern (bzw. auch mit solchen Indigenen, die unglücklicherweise die Wege der Patrouillen kreuzten), so es nicht darum gegangen war, sie sofort „kalt zu stellen“88, „kurzer Prozess“ gemacht.89 Wie Leutwein gegenüber dem Kolonialdirektor Oskar Stübel einräumte, mochte er, dessen Position gegenüber den Siedlern durch den nun doch ausgebrochenen Aufstand erheblich geschwächt war, „besondere Schonung“ des Gegners „natur82  Darin lag wohl der Grund dafür, dass die Entschädigungsansprüche der Siedler nur so widerwillig anerkannt und erfüllt wurden (DSWAZ vom 25.5.1904). Bemerkenswerterweise wurde im Zuge der Entschädigungsdebatten von Siedlerseite eingeräumt, dass es Fälle von Fehlverhalten gegenüber der indigenen Bevölkerung gegeben hätte (DSWAZ vom 11.5.1904), auch wenn man die Übeltäter auf einen Berufsstand, nämlich den der Händler, beschränkt wissen wollte. 83  Kocka, S.  23 f. 84  Großer Generalstab, S. 15 f. 85  DSWAZ vom 10.1.1906. 86  Vgl. z. B. Rust, S. 172. 87  Rust, S. 177. 88  Ebd., S. 179. 89  Ebd., S. 174.



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gemäß“ nicht befehlen.90 Erst die militärische Leitung nach Leutwein unternahm Versuche, die selbstverständlich gewordene Gewalt ‚von unten‘ gegenüber Indigenen – mochte es sich um militärische Feinde oder auch in deutschen Diensten stehendes Personal handeln – einzudämmen.91 Die immer erneuerten Versuche dokumentieren allerdings, dass dies nicht gelang und der hohe Regelungsbedarf fortbestand. Über ihren effektiven Einfluss in der Truppe hinaus setzten die Siedler Standards in der Kriegführung, in der sie als landeskundige Experten eine Rolle spielten. Diese Standards waren jedoch mit den Regeln der Domestikation des Krieges, die zu diesem Zeitpunkt schon erreicht waren, unvereinbar. V. Postscriptum Die kolonialhistoriographische Debatte um Deutsch-Südwestafrika ist naheliegender Weise und, moralisch und politisch betrachtet, zu Recht von der Beschreibung, Analyse und Theorie des Genozids an Ovaherero und Nama bestimmt. In dieser Debatte dominiert allerdings ein Genozidbegriff, der an dem der Juristen und des Völkerrechts im Besonderen orientiert ist92 und für den in Nachfolge von Raphael Lemkin die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes der Vereinten Nationen von 1948 beispielhaft ist. Dieser juridischen Sicht entspricht, dass die Analyse und Erklärung des kolonialen Genozids von einer top-down-Perspektive bestimmt ist, die entweder an den Intentionen oder gar an Plänen der Hauptverantwortlichen, allen voran Lothar v. Trotha, oder – wie in den vielen differenzierenden Variationen der These von Horst Drechsler – an einer Teleologie von Verhältnissen, sei es „der deutsche Imperialismus“ nach Drechsler, S. 177. nennen wären an erster Stelle die von General v. Trotha am 11. Juni 1904 erlassenen „Bestimmungen für das Militär-Gerichtsverfahren etc. während des Kriegszustandes in Deutsch-Südwest-Afrika“ (vgl. z. B. NAN BKE 220), die allein Offiziere zu standrechtlichen Erschießungen ermächtigten, und zwar nur von Personen, die mit Waffen aufgegriffen wurden und deren feindselige Absichten offenkundig waren, während lediglich Verdächtige an Feldgerichte übergeben werden sollten. Die Mannschaften sollten sich im Unterschied zur bisherigen Praxis solcher Übergriffe gänzlich enthalten. Weiterhin ist ein Befehl v. Trothas vom 25. Juni 1904 zu nennen, der auf die Schwierigkeiten reagierte, Arbeitskräfte zu rekrutieren. Unteroffi­ zieren und anderen Personen, welche Transportwagen bewachten, wurde strikt untersagt, die indigenen Treiber zu treten oder zu schlagen. Nur der Kommandeur der Kompanie, der Batterie oder des Detachements war ermächtigt, bei Nachlässigkeiten der Arbeiter eine Bestrafung in Erwägung zu ziehen. Strafen sollten nicht in körperlicher Züchtigung, sondern in erster Linie in Lohnabzug bestehen, während umgekehrt gute Arbeit mit Extrazulagen belohnt werden sollte (in: KAB GH 35 / 157: „Treatment of Natives in G.S.W.A. 1905.“). 92  Z. B. Sarkin; Kößler / Melber; Bridgman / Worley. 90  Zitiert 91  Zu

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oder „der deutsche Rassismus“, ansetzen.93 Beide Varianten führen in die Irre. Zum einen werden sie der grundlegenden Prozesshaftigkeit und Kontingenz des genozidalen Geschehens nicht gerecht. Zum anderen dokumentiert der Blick ‚von unten‘, von der kolonialen Gesellschaft und insbesondere von der ihr zugehörigen Siedlerschaft aus, dass es die Dynamik ‚von unten‘, die Dynamik der vielen ‚Kleinen‘ oder auch nicht ganz so kleinen ‚Leute‘ ist, die der gewalttätigen Dynamik die Ressourcen zuführt, den genozidalen Flächenbrand zum Lodern bringt und all das zerstört, was an zivilgesellschaftlichen Sicherungen in der kolonialen Gesellschaft bestanden haben mag. Quellen und Literatur Archivbestände Cape Town Archives Repository (KAB) KAB, NA (= Native Affairs Department) 271. KAB, PMO (= Prime Minister’s Office) 199, Correspondence Files Nos. 211 / 05– 286 / 05. KAB, GH (= Government House) 35 / 157, Treatment of Natives in G.S.W.A. 1905. National Archives of Namibia (NAN) NAN ZBU (= Zentralbureau) D.IV.l.2. Herero-Aufstand 1904. Feldzug; Politisches. Band 3, August 1904–September 1905). NAN BKE (= Bezirksamt Keetmanshoop) 220. NAN AACRLS (= Archives of Anti-Colonial Resistance and the Liberation S ­ truggle) 070: Tagebuch v. Frankenberg und Proschlitz. NAN Private Accessions, A.0109: Tagebuch Stuhlmann. Bundesarchiv Koblenz (BArch.) Tagebuch Missionar Eich, BArch., N / 1783 / 1. Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen (DTA) Tagebuch Helene Gathmann, DTA, Sign. 1704.

93  Vgl.

z. B. Drechsler; Brehl.



Koloniale Zivilgesellschaft?315 Zeitungen

DSWAZ (= Deutsch-Südwestafrikanische Zeitung) WN (= Winhuker Nachrichten; bis 1904: Nachrichten des Bezirks-Vereins Windhuk) Literatur Adloff, Frank: Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis, Frankfurt am Main 2005. Auer, G.: In Südwestafrika gegen die Hereros. Nach den Kriegstagebüchern des Obermatrosen G. Auer, Berlin 1911. Balandier, Georges: Die koloniale Situation – ein theoretischer Ansatz, in: Rudolf von Albertini (Hg.): Moderne Kolonialgeschichte, Köln 1970, S. 105–124. Bayer, Maximilian: Mit dem Hauptquartier in Südwestafrika, Berlin 1909. Belwe, Max: Gegen die Herero 1904 / 1905. Tagebuchaufzeichnungen von Max Belwe. Mit einer Übersichtsskizze und achtzehn Abbildungen im Text, Berlin 1906. Beyme, Klaus von: Zivilgesellschaft – Karriere und Leistung eines Modebegriffs, in: Manfred Hildermeier et al. (Hg.): Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen, Frankfurt 2000, S. 41–56. Bley, Helmut: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika 1894–1914, Hamburg 1968. Brehl, Medardus: Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur, München 2007. Bridgman, Jon M.: The revolt of the Hereros, Berkeley, CA. 1981. Bridgman, Jon M. / Worley, Leslie J.: Genocide of the Hereros, in: Samuel Totten et al. (Hg.): Century of genocide. Eyewitness accounts and critical views, New York 1997, S. 3–40. Bülow, Bernhard von: Denkwürdigkeiten in vier Bänden. 2. Bd.: Von der MarokkoKrise bis zum Abschied, Berlin 1930. Conradt, Ludwig: Erinnerungen aus zwanzigjährigem Händler- und Farmerleben in Deutsch-Südwestafrika. Herausgegeben, kommentiert und mit einer Einführung versehene von Thomas Keil, Göttingen / Windhoek 2006. Deimling, Berthold von: Südwestafrika. Land und Leute. Unsere Kämpfe. Wert der Kolonie, Berlin 1906. Delavignette, Robert: Les vrais chefs de l’empire, Paris 1939. Demeter, Karl: Das Deutsche Offizierskorps in Gesellschaft und Staat 1650–1945, Frankfurt 1963. Drechsler, Horst: Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. Der Kampf der Herero und Nama gegen den deutschen Imperialismus (1884–1915). Mit 3 Karten, Berlin 1966.

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Koloniale Zivilgesellschaft?317

Oevermann, Ulrich: Der Intellektuelle – Soziologische Strukturbestimmung des Komplementär von Öffentlichkeit, in: Andreas Franzmann et al. (Hg.): Die Macht des Geistes. Soziologische Fallanalysen zum Strukturtyp des Intellektuellen, Frankfurt am Main 2003, S. 13–76. Rust, Conrad: Krieg und Frieden im Hererolande. Aufzeichnungen aus dem Kriegsjahre 1904. Vorwort E. Th. Förster, Leipzig 1905. Sarkin, Jeremy: Germany’s Genocide of the Herero. Kaiser Wilhelm II, His General, His Settlers, His Soldiers, Kapstadt 2011. Schmidt-Lauber, Brigitta: „Die verkehrte Hautfarbe“. Ethnizität deutscher Namibier als Alltagspraxis, Berlin 1998. Schwabe, Kurd: Der Krieg in Deutsch-Südwestafrika 1904–1906, Berlin 1907. Shils, Edward: Was ist eine Civil Society?, in: Krzysztof Michalski (Hg.): Europa und die Civil Society. Castelgandolfo-Gespräche 1989, Stuttgart 1991, S. 13–51. Silvester, Jeremy / Gewald, Jan-Bart (Hg.): Words Cannot Be Found. German Colonial Rule in Namibia. An Annotated Reprint of the 1918 Blue Book, Leiden / Boston 2003. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt ³1991. Trotha, Trutz von: Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des „Schutzgebietes Togo“, Tübingen 1994. – Genozidaler Pazifizierungskrieg. Soziologische Anmerkungen zum Konzept des Genozids am Beispiel des Kolonialkriegs in Deutsch-Südwestafrika, 1904–1907, in: Zeitschrift für Genozidforschung, Heft 4 / 2, 2003, S. 30–57. – „Immer gilt es, der Gewalt eine Form zu geben und vor allem ihrer Herr zu werden.“ Der Soziologe Trutz von Trotha über „neue Kriege“ und die Chancen des Friedens, in: Dierk Spreen, Andreas Galling-Stiehler (Hg.): Kriegsvergessenheit in der Mediengesellschaft, Berlin 2011, S. 51–76. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1990.

Society First Von ‚freiwilliger Apartheid‘ oder den gesellschaftlichen Barrieren gegen die nachhaltige Konsolidierung von Post-Konflikt-Gesellschaften Von Marcel M. Baumann I. Einleitung: „It’s the state, stupid“? State-building, verstanden als das Schaffen von effizienten politischen Institutionen, wird mittlerweile als eigentliche Kernaufgabe der Friedenskonsolidierung postuliert.1 Für die Praxis der Friedenskonsolidierung misst Roland Paris insbesondere dem Fehlen eines formalen Staatsapparats mit Verfassung, Exekutive, Legislative, unabhängiger Judikative und Beamtenapparat in den meisten Post-Konflikt-Gesellschaften große Bedeutung zu.2 Ein solcher Zustand birgt die Gefahr eines Sicherheitsdilemmas, im Zuge dessen die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen nicht mehr darauf vertrauen können, dass der Staat sie gegen ihre Feinde verteidigt. Daraus abgeleitet bringt Paris die Kernbotschaft einer effektiven Strategie der Friedenskonsolidierung auf die Formel: „Institutionalisierung vor Liberalisierung“.3 Damit verbindet sich die zentrale Empfehlung, in Post-Konflikt-Gesellschaften zunächst einen Rahmen aus effizienten Institutionen zu schaffen, bevor der politische und wirtschaftliche Wettbewerb angeregt wird. Dies beinhaltet die Schaffung von politischer Stabilität, Rechtsstaatlichkeit und effizienten Verwaltungsstrukturen im ganzen Land.4 Kurz: „Before you can have democracy or economic development, you have to have a state“.5 Die Implikationen, die sich aus diesem Standpunkt ergeben, brachte Paris in einem älteren Beitrag mit dem Begriff „temporary dictatorship“6 auf den Punkt. Diese Schlussfolgerung, die in dieser Form in seiner späteren Monographie nicht mehr auftaucht, zeigt, welche bedenklichen Desiderata 1  Paris

2007, S. 293. S. 301. 3  Ebd., S.  325 ff. 4  Ebd., S. 326. 5  Fukuyama, S. 84. 6  Paris 2001. 2  Ebd.,

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sich aus dem Standpunkt von Paris ergeben. Angelehnt an den von Paris geführten Diskurs, der sich gegen die Implikationen der liberalen Friedenstheorie richtet, fordert Francis Fukuyama eine grundsätzliche Abkehr von der Strategie der Demokratisierung. Er subsumiert seine Generalkritik unter der Formel ‚Stateness First‘. Fukuyama stellt also Staatsbildung und Förderung der Demokratie einander diametral gegenüber – mit einem deutlichen Vorrang für die Staatsbildung. Zentraler Bestandteil jeder Staatsbildungsanstrengung ist demnach das Schaffen einer handlungsfähigen Regierung bzw. stabiler GovernanceStrukturen, in denen das Monopol legitimer Gewaltausübung vorhanden und die Regierung in der Lage ist, die grundlegenden politischen Regeln im gesamten Hoheits- bzw. Staatsgebiet durchzusetzen. Deshalb beginnt, so Fukuyama, Staatsbildung im ersten Schritt stets mit der Bildung von Polizeieinheiten und einer Armee, also dem Aufbau einer funktionsfähigen ­Exekutive, die das staatliche Gewaltmonopol durchsetzen kann.7 Trotz der scheinbar einleuchtender Argumentation von Paris und Fukuyama existieren zwei analytische Schwachstellen: Zum einen fällt die starke Betonung des Staates als Bezugsrahmen auf, was mit einem deutlichen territorialen Fokus einhergeht. Ein solchermaßen begrenzter Bezugsrahmen lässt es nicht zu, die in der Weltgesellschaft zahlreich existierenden Räume begrenzter Staatlichkeit analytisch angemessen zu erfassen. Solche Räume zeichnen sich dadurch aus, dass eine eminente Lücke zwischen der von der internationalen Gemeinschaft zugeschriebenen Souveränität und der so genannten ‚effektiven Souveränität‘ klafft, also der Fähigkeit, zentrale politische Entscheidungen herstellen und autoritativ durchsetzen zu können.8 Der Vorwurf an Paris und Fukuyama lässt sich im Begriff des ‚methodologischen Nationalismus‘ zusammenfassen. Der Vorwurf richtet sich grundsätzlich an alle Forschungsprogramme, die den Staat als zentrale Analyse­einheit auffassen und Gesellschaftsanalysen an nationalstaatlichen Grenzen orientieren.9 Zum anderen wird in den Analysen von Paris und Fukuyama die Bedeutung weicher – d. h. psychosozialer und kultureller – Faktoren im Prozess 7  Fukuyama,

S. 87.

8  Risse / Lehmkuhl.

9  Bonacker / Weller, S. 20. Bonacker und Weller (S. 23 f.) ziehen daraus folgende methodische und erkenntnistheoretische Konsequenz: „Diese Tendenzen einer Überschreitung der klassischen Trennung zwischen soziologischen, politikwissenschaft­ lichen und IB-Perspektiven, der vielfach diskutierte Wandel von Staatlichkeit, die Entstehung neuer Konflikte aufgrund von prekärer Staatlichkeit und neuer Hybridordnungen im Zuge externer Interventionen sowie das im Kontext der Globalisierungsdebatte zu verzeichnende Bedürfnis einer Erklärungsebene oberhalb des Staates, lassen es sinnvoll erscheinen, Weltgesellschaftsforschung und Konfliktforschung stärker aufeinander zu beziehen“.



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der Friedenskonsolidierung insgesamt zu niedrig angesetzt. Dies überrascht insofern, da sich Paris dem Problem schwacher Konfliktpuffer durchaus bewusst zu sein scheint. Er bezieht sich hierbei vor allem auf das Vorhandensein bzw. Fehlen einer Tradition bzw. Kultur friedlicher Konfliktbeilegung und die spezifische Spaltungsstruktur einer Gesellschaft im Sinne der Häufigkeit und Tiefe der Gegensätze zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen in einem Staat.10 Aus der oben skizzierten Problemstellung ergibt sich die zentrale Argumentationslinie dieses Beitrages. Im Kontrast zum Stateness-First-Diskurs ist es analytisch entscheidend zu erkennen, dass es vor allem die ‚weichen‘ Faktoren sind, auf welche die Gewaltkonflikte zurückzuführen sind, die auch nach ihrer offiziellen Beendigung weiter schwelen. Bei Berücksichtigung der psychosozialen und kulturellen Dimension rücken Ansatzpunkte konstruktiver Konfliktbearbeitung in den Mittelpunkt der Analyse. Sie zielen auf die Reduzierung bzw. Beseitigung von (inter-ethnischen) Antagonismen und dauerhaften Strukturen der Feindschaft ab. Zentral ist dabei das hohe Maß an Feindschaft zwischen den Konfliktparteien, das die Gewalt­ periode des innerstaatlichen Konfliktes hinterlassen hat. Im vorliegenden Beitrag wird daher die These aufgestellt, dass die nachhaltige Befriedung innerstaatlicher Konflikte nicht nur von der Stabilisierung öffentlicher Sicherheit durch die Schaffung effizienter Institutionen abhängt – also von den ‚harten‘ Faktoren –, sondern maßgeblich von der Herstellung sozialer Beziehungen zwischen den verfeindeten Parteien. Die Menschen der Post-Konflikt-Gesellschaften leben – durch sichtbare und unsichtbare Mauern getrennt – in parallelen, voneinander getrennten Welten. Dieser Zustand der „freiwilligen Apartheid“11 ist der zentrale Indikator für den Grad der Konfliktträchtigkeit bzw. Friedensfähigkeit einer Post-Konflikt-Gesellschaft. Die Qualität der sozialen Beziehungen bzw. deren Fehlen wird durch folgende Zitate zweier junger Erwachsener aus Mazedonien symbolisch repräsentiert: „After the conflict, in Tetovo you started to look at each other with different eyes. It [the relationship with a Macedonian girlfriend] couldn’t exist in Tetovo. It could not be sustained, people would look at you. (Besian) As Besian said, it is the influence of the community. After the war, somebody put something in your head: „We mustn’t do this! We mustn’t do that with Albanians!“ (Aleksandra).“12 10  Paris

2007, S. 295 ff. S.  89 ff. 12  Besian und Aleksandra sind beide 18 Jahre alt. Aleksandra erzählte, dass sie, als der bewaffnete Konflikt in Mazedonien im Jahre 2001 ausbrach, zusammen mit ihrer Familie ihr Haus in Tetovo verlassen musste. Beide Interviews wurden am 11  Baumann,

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Das zentrale Problem, mit dem sich Nachkriegsgesellschaften konfrontiert sehen, besteht darin, dass der bewaffnete Konflikt zwar erfolgreich beendet wurde, doch die Individuen der Gemeinschaften nicht friedlich zusammenleben können. Es existiert weder gesellschaftliche Interaktionsbereitschaft noch kommt es zu sozialer Integration; die Koexistenz in der Post-KonfliktGesellschaft besteht auf einer fragilen Grundlage. Diese Fragilität verweist auf die Bedeutung weicher Faktoren im Friedenskonsolidierungsprozess, denen im international dominierenden Stateness-First-Diskurs nur eine untergeordnete Rolle beigemessen wird. Diesem Diskurs wird im Folgenden ein anderer entgegengesetzt – einer, der die sozialen Schäden des Krieges aufdecken möchte. Kurz: ‚Society First‘. Die These soll auf dem Weg einer theoretischen Auseinandersetzung mit der Konzeption der ‚freiwilligen Apartheid‘ plausibilisiert werden, wobei der Verfasser an seine empirische Studie über den Nordirlandkonflikt anknüpft.13 Es wird gezeigt, dass nicht nur die Bevorzugung harter Faktoren im Konflikttransformationsprozess zu kurz greift, sondern dass bereits die differenzierende Interpretation institutioneller und soziokultureller Bedingungen als harte bzw. weiche Faktoren problematisch ist. II. Freiwillige Apartheid 1. Die Bedingungen nachhaltiger Friedenskonsolidierung Das hier verfolgte Konzept basiert auf der Annahme, dass bevor über konstruktive Interventionsmaßnahmen gegen Gewalteskalationen nachgedacht werden kann, zunächst untersucht werden muss, welche Nachwirkungen des gewaltsam ausgetragenen Konflikts im Friedenskonsolidierungsprozess bewältigt werden müssen. Die zentrale Frage hierbei ist, welche Ursachen der ethno-politischen Trennung der Gemeinschaften zugrunde liegen, obwohl der innerstaatliche Krieg bereits beendet wurde und sich somit ein Friedensprozess entfalten könnte. Was lässt die verschiedenen Gemeinschaften innerhalb der Gesamtgesellschaft nebeneinander, aber nicht miteinander leben? 15.10.2004 in Tetovo geführt (s. ebd.). Besian Demiri und Aleksandra Arsovska sind Jugendsozialarbeiter, die für die NGO Loja in Tetovo aktiv sind. In einem gemeinsamen Gespräch fragte der Autor den jungen Albaner, ob er sich vorstellen könnte, eine mazedonische Freundin zu haben und die mazedonische junge Frau, ob sie sich wiederum vorstellen könnte, einen albanischen Freund zu haben. Die Antworten in den beiden Zitaten illustrieren die Beobachtung, die der Ausgangspunkt für die ­theoretischen Ausführungen dieses Beitrages ist. 13  Baumann.



Society First323

Das Konzept ‚freiwillige Apartheid‘ soll als ein möglicher Ansatz zum Verständnis von Friedensbedingungen konstruiert und diskutiert werden, um dazu beizutragen, die aus theoretischer Sicht grundlegenden Strukturen einer nachhaltigen und verlässlichen Friedensordnung zu etablieren. Das Konzept dient als integrierender Oberbegriff für jene endogenen Faktoren, welche die Fragilität von Friedensprozessen begünstigen. Im Unterschied zu einer gewaltsamen oder erzwungenen Apartheid wird unter freiwilliger Apartheid ein selbst gewählter Zustand verstanden. Als qualitative Beschreibung ist der Begriff Ausdruck der mangelnden Friedensfähigkeit einer PostKonflikt-Gesellschaft. Beide Seiten des Konfliktes vollziehen eine Politik der vollständigen Separation von der jeweils anderen Gemeinschaft. Für die Politik der Trennung gibt es verschiedene Strategien, die gleichzeitig die einzelnen Facetten freiwilliger Apartheid abbilden: –– Sectarianism, –– negativer ‚gesunder Menschenverstand‘ oder ‚skeptischer common sense‘, –– territorialer Imperativ, –– Politik der Symbole, –– Politik der Erinnerung. Möchte man die metaphorische Begriffswahl ‚Apartheid‘ vermeiden, so kann man die Konzeption mit Hilfe der Theorie der sozialen Schließung als ‚ethnische‘ bzw. ‚ethno-politische Schließung‘ übersetzen. Sie baut auf Max Webers Konzept offener und geschlossener sozialer Beziehungen auf. Eine geschlossene soziale Beziehung ist nach Weber dann gegeben, „insoweit und in dem Grade, als ihr Sinngehalt oder ihre geltenden Ordnungen die Teilnahme ausschließen oder beschränken oder an Bedingungen knüpfen“.14 Die soziale Schließung ist das Resultat eines Prozesses, durch den jede Gemeinschaft ihre eigenen Vorteile zu maximieren versucht, indem der Zugang zu Privilegien und Erfolgschancen auf einen kleinen Kreis von Auserwählten beschränkt wird. Dadurch werden bestimmte soziale und physische Merkmale zum Rechtfertigungsgrund für den Ausschluss von Konkurrenten. Bei ihren Studien in Nordirland wurden Liechty und Clegg damit konfrontiert, dass das Verlangen nach ‚separate development‘ in der Wahrnehmung der Gemeinschaften vor Ort als eigentliches Ziel des Friedensprozesses angesehen wurde.15 Dies entspricht dem Separations-Ansatz, d. h. dem Wunsch nach einem gewaltlosen Nebeneinander ohne soziale Integration oder Interaktion. Die Trennung funktioniert, indem es zu wenig Kontakten 14  Weber,

S. 52.

15  Liechty / Clegg,

S. 195.

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und gegenseitigem Austausch kommt, wenn also die Gemeinschaften in zwei voneinander separaten Welten leben und keine Interaktionsbereitschaft besteht. Die Vokabel ‚separate development‘ ist sehr aufschlussreich, weil sie der zentrale Terminus der Apartheid-Ideologie in Südafrika war. Der letzte Apartheid-Präsident, F. W. de Klerk, machte in seiner Autobiographie deutlich, dass er nach wie vor ‚separate development‘ gleichzeitig als Weg und als Ziel des Friedens zwischen den Rassen in Südafrika betrachtet: „In multicultural societies the assurance of group security was the key to intergroup peace. I was convinced that […] offering a high degree of autonomy to the various population groups, was the best way to defuse the tremendous conflict potential in South Africa’s complex society.“16

Die Motive einer Gemeinschaft nach separater, autonomer Koexistenz mögen durchaus nachvollziehbar und verständlich sein, vor allem hinsichtlich des subjektiven Bedürfnisses der Gemeinschaften nach Sicherheit. Das Adjektiv ‚subjektiv‘ ist hierbei von großer Bedeutung, da die Implementierung einer totalen Separation von Gemeinschaften in der Regel nur einen scheinbaren Zuwachs an Sicherheit bedeutet.17 Der Separations-Ansatz funktioniert jedoch zumeist in der Praxis nicht,18 denn in der Regel besteht nicht die Möglichkeit einer klaren, scharfen Trennung von einzelnen Gemeinschaften innerhalb eines Landes. In fast allen ethno-politischen Konfliktsituationen würde es nach jeder denkbaren Grenzverschiebung oder territorialen Neuregelung nach wie vor hybride ethnische oder kulturelle Strukturen geben. Im Unterschied zum Separations-Ansatz muss vielmehr gerade in der Auflösung freiwilliger Apartheid das so oft gesuchte ‚Mehr‘ gesehen werden, das den Frieden gegenüber der Abwesenheit von Krieg (d. h. dem bloß „negativen Frieden“ nach Johan Galtung) kennzeichnet. Denn dadurch wird der Friedenskonsolidierungsprozess gegen neue Gewalt resistent. Das Konzept der freiwilligen Apartheid hilft damit, die Bedingungen eines dauerhaften Friedens zu formulieren: in einer verlässlichen und nachhaltigen Friedensstruktur können die Grundmuster der gesellschaftlichen Ordnung nicht durch die Strukturmerkmale freiwilliger Apartheid gekennzeichnet sein. Diese Erkenntnis wird auch durch die klassische Transformationsforschung und durch Erfahrungen aus erfolgreichen Nation-Building-Prozessen bestätigt. Nicht die bloße Existenz unterschiedlicher Identitäten ist ein per se problematischer Faktor, sondern deren Verhältnis zu einer gruppenübergreifenden, gesamtgesellschaftlichen bzw. nationalen Identität: 16  De

Klerk, S. 108. hierzu die Argumente von McGarry / O’Leary, S. 14. 18  Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel: Die Loslösung Finnlands von Schweden im Jahr 1917 oder Singapurs von Malaysia im Jahr 1965. Siehe Ryan, S. 38. 17  Vgl.



Society First325 „Solange aber die primäre Identität und Loyalität beim Stamm, Clan oder einer ethnischen oder ethno-religiösen Gruppe liegt und die ‚nationale‘ Identitätsebene nachgeordnet bleibt oder fehlt, wird ein Nationalstaat prekär bleiben.“19

Daraus folgt, dass die Prämisse der Auflösung freiwilliger Apartheid mehr ist als eine schöne Utopie. Jene Situationen, in denen die nationale Identitätsebene irrelevant ist oder fehlt, führen auf der Ebene der Gemeinschaften zu Beziehungen, die Frank Wright eine Konstruktion der gegenseitigen gemeinschaftlichen Abschreckung (communal deterrence) nennt.20 Negative Interaktionsmuster gegenseitiger Abschreckung wirken destruktiv auf den Friedenskonsolidierungsprozess als Ganzes, da gerade dann das sogenannte „Troublemaker Veto“ (Frank Wright) zum Zuge kommt. Damit ist gemeint, dass es einer radikalen Minderheit gelingt, die Meinungsführerschaft in der gesamten Gemeinschaft zu erlangen und die moderaten Kräfte zu isolieren: „When antagonistic relationships between ethnic blocs are popularised, tranquillity is poised on something of a hair trigger and all changes are subject to a tacit ‚troublemaker veto‘.“21

Das ‚Troublemaker Veto‘ kommt dann zum Zuge, wenn bestimmte Akteure die gesellschaftlichen Strukturen freiwilliger Apartheid ausnutzen können. In einem solchen Kontext stören Gewaltaktionen das Gelingen des Friedenskonsolidierungsprozesses. Es ist daher notwendig, die einzelnen Facetten freiwilliger Apartheid zu analysieren, um zentrale Stolpersteine des Konflikttransformationsprozesses identifizieren zu können. 2. Endogene Strukturmerkmale prekärer Post-Konflikt-Gesellschaften a) Sectarianism: die Libanonisierung der Gesellschaft Die erste Facette freiwilliger Apartheid ist die unmittelbare Konsequenz der ethno-politischen Polarisierung der Gesellschaft. In ironischer Anlehnung an Georg Simmels Begriff der Vergesellschaftung22 kann davon gesprochen werden, dass eine Nachkriegsgesellschaft entstanden ist, die den Prozess der „Vergesellschaftung durch den Konflikt“ abgeschlossen hat.23 Anders ausge19  Hippler. 20  Wright

1987, S. 120 ff. S. 123. 22  Simmel meint mit „Vergesellschaftung“ den „Prozess der Formierung einer Gesellschaft“ und stellt auf die gesellschaftliche Integration durch Konflikt ab. Vgl. das Kapitel „Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft“ in Simmel, S.  460 ff. 23  Moltmann, S. 31. 21  Ebd.,

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drückt: Es hat eine Totaldurchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche durch den Konflikt stattgefunden, die sich in einer institutionalisierten und systematischen Spaltung der Gesellschaft widerspiegelt. Im Gegensatz zu Simmels Vorstellung einer Vergesellschaftung durch Konflikt wird durch diese gesellschaftliche Durchdringung eine negative Integrationsleistung erreicht. Daher hat der Konflikt für den Vergesellschaftungsprozess eine doppelte Wirkung. Zum einen verstärkt er die Abgrenzung zwischen den konkurrierenden Gemeinschaften, wodurch die ethno-politische Distanz vergrößert wird (Verringerung der Interaktionsbereitschaft). Zum anderen schweißt er die einzelnen Gemeinschaften enger zusammen, wodurch Homogenität gefördert wird, d. h. es kommt zu einer Stärkung des Zusammenhalts innerhalb konkurrierender Wir-Gruppen.24 John Paul Lederach charakterisierte diesen Prozess als Libanonisierung der Gesellschaft.25 Eine solche Form der konfliktgeleiteten Vergesellschaftung erweist sich als äußerst stabil bzw. widerstandsfähig, woraus sich eine problematische Ausgangslage für den sich entfaltenden Friedensprozess ergibt. Verhaltensmuster, Verhaltensweisen und gegenseitige Einstellungen, die der gewaltsame Konflikt hervorgerufen hat bzw. die im Krieg erlernt wurden, dominieren in der Nachkriegsgesellschaft weiterhin die Regeln der sozialen Interaktion: „Unter der Oberfläche wirkt das Regelwerk, das der Konflikt vorgibt, legitimiert und nährt. Ausdruck findet dies in den zahlreichen Phänomenen des Alltages, die das Ausmaß an Spaltung, Diskriminierung, wechselseitigen Beschuldigungen bis hin zur Rechtfertigung von Gewaltakten und Duldung von Gesetzesverstößen illustrieren.“26

Die Durchdringung der Gesellschaft und aller darin stattfindenden Interaktionen durch den Konflikt wird durch den angelsächsischen Begriff sectarianism zum Ausdruck gebracht. Für diese Vokabel gibt es keine angemessene deutsche wörtliche Übersetzung. Im Deutschen werden für sectarianism häufig die Ausdrücke Hass oder Rassismus verwendet, doch der englische Begriff geht in seiner semantischen Bedeutung darüber hinaus. Bezeichnungen wie Hass oder Rassismus fehlt die System-Komponente, denn sectarianism muss als ein einheitliches System definiert werden: „Sectarianism is about what goes on in people’s hearts and minds, and it is about the kind of institutions and structures created in society. It is about people’s attitudes to one another, about what they do and say and the things they leave undone or unsaid. Moreover, ‚sectarian‘ is usually a negative judgement that people make about someone else’s behaviour and rarely a label that they apply to themselves, their own sectarianism always being the hardest to see.“27 24  Ebd.

25  Lederach,

S.  12 f. S. 31. 27  Liechty / Clegg, S. 102. 26  Moltmann,



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Ein instruktives Beispiel für sectarianism ist Südafrika, da die Gesellschaft des Landes nach dem Begriff der Rasse definiert wird – daran hat sich im Kern auch im so genannten ‚neuen Südafrika‘ nichts Wesentliches geändert. Aber sectarianism findet sich nicht nur im südlichen Afrika, sondern ebenfalls im nordwestlichen Europa. Bereits Jahrzehnte vor dem eigentlichen Ausbruch dessen, was als ‚Nordirlandkonflikt‘ oder ‚Troubles‘ bezeichnet wird, bestand Nordirland aus zwei abgesonderten Gemeinschaften, die weitgehend voneinander abgeschottet lebten und sich ‚nichts zu sagen hatten‘. In ihrer klassischen, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg durchgeführten Studie kam Rosemary Harris zu dem Ergebnis, dass Katholiken und Protestanten bereits in den 1940er Jahren in zwei getrennten Welten lebten. Es fand keine soziale Integration statt, es gab allgemein nur wenige Kontakte zwischen den reli­ giösen Gemeinschaften und fast keine inter-ethnischen Eheschließungen.28 Sogar dort, wo Protestanten und Katholiken räumlich zusammen lebten, im gleichen Wohnviertel oder in der gleichen Straße, kann das Muster der freiwilligen Apartheid nachgezeichnet werden: „The result, however, was that Protestant and Catholic lived inter-mixed and, as we have seen, in some cases and in some contexts had close and friendly contacts, and yet for the most part managed to remain in almost complete ignorance concerning each others’ beliefs.“29

Kam es überhaupt zum Kontakt, dann waren politische Fragen oder die Frage nach der individuellen Religiosität Tabuthemen, die generell vermieden wurden. Gespräche mit einem Mitglied der anderen Gemeinschaft wurden durch eine ‚Überfreundlichkeit‘ überspielt: „People in Ulster are, as a rule, cheerful, courteous, and helpful to one another. The deep political divisions of which I write, and on which the international media focuses so much attention, are avoided in daily conversations. It is con­ sidered to be rude to bring up issues of religious affiliations or anything that would reflect these divisions. One never asks a person if he or she is Catholic or Protestant, for instance; it is simply not done.“30

Über-Freundlichkeit ist ein sozialer coping-Mechanismus und prägt noch heute die sozialen Interaktionsmuster der nordirischen Post-Konflikt-Gesellschaft: „In Northern Ireland people do not talk about politics, religion and history unless they know who they are talking to. The fact that we all belong together is denied time and again.“31 28  Harris,

S. 143. S. 146. 30  Santino, S. 61. 31  Wilson. 29  Ebd.,

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Im Jahre 2001 kam Peter Shirlow in einer Längsschnittstudie in Nordbelfast zu dem beunruhigenden Ergebnis, dass sectarianism in seinem Ausmaß nicht etwa schwächer geworden ist, sondern im Gegenteil stetig größer wird. Er identifizierte eine ‚Generationen-Lücke‘, da die heutige Generation der Jugendlichen der anderen Konfession gegenüber eine noch negativere Haltung einnimmt als die Generation ihrer Eltern, die vor mehr als 30 Jahren den Nordirlandkonflikt begonnen hatte.32 Zu einem vergleichbaren Befund kam Frederick Boal für das Jahr 1969.33 Dem schließt sich auch das Ergebnis der Studie von Connolly und Healy an, wonach das Denken in den Kategorien des sectarianism bereits bei Kindern im Alter von drei Jahren beginnt.34 Es ist in Nordirland eine Generation herangewachsen, die keine Erinnerung an ein friedliches und integratives Zusammenleben von Katholiken und Protestanten mehr hat. Es wurde beiden Gemeinschaften beigebracht, die eigene Gemeinschaft und die ‚Anderen‘ als inkompatible Kulturen aufzufassen. In der Studie von Shirlow gaben 68 Prozent der Befragten im Alter zwischen 18 und 25 Jahren an, noch nie eine ernsthafte Unterhaltung mit einem Angehörigen der anderen Gemeinschaft geführt zu haben.35 Sectarianism reicht allerdings als eine notwendige Bedingung zur ursächlichen Erklärung des Libanonisierungsprozesses nicht aus. Es kommen zusätzliche destruktive Dynamiken und Mechanismen hinzu, z. B. der psychologische Mechanismus der Stereotypisierung, den Psychologen mit dem ‚In-Group-versus-Out-Group‘-Phänomen bezeichnen. Allport definierte in seiner klassischen Studie von 1954 einen Stereotypus als eine „übertriebene Überzeugung gekoppelt an eine bestimmte Kategorie; diese Überzeugung hat die Funktion, die eigenen Handlungen bezüglich dieser Kategorisierungen zu rechtfertigen bzw. zu rationalisieren.“36

Bei der Entstehung von In-Group- versus Out-Group-Konstellationen spielen Gerüchte und Mutmaßungen eine wichtige Rolle. Hinzu kommt die Bildung von Stereotypen über die andere Gemeinschaft. So speist sich im Prozess der Stereotypisierung die Wahrnehmung von Mitgliedern der anderen Gemeinschaften ausschließlich aus selbst produzierten Bildern, die stets die gleichen sind. Dadurch reduziert sich der äußere Eindruck auf erlernte Vorurteile, was sehr gefährliche Konsequenzen haben kann: „The human capacity to injure other people has always been much greater than its ability to imagine other people. Or perhaps we should say, the human capa­city dazu die Studie von Jarman / O’Halloran, S. 11. in Murtagh, S. 35. 34  Connolly / Healy, S. 5. 35  Shirlow 2003. 36  Allport, S. 191. Eigene Übersetzung. 32  Vgl.

33  Zitiert



Society First329 to injure other people is very great precisely because our capacity to imagine other people is very small.“37

b) Skeptischer common sense Nach Peter Waldmann führt der Prozess der ethno-politischen Polarisierung zu einer „eigentümlichen Metamorphose“.38 Unter erheblichen Druck gesetzt und unter großer Spannung stehend ziehen sich die Gemeinschaften in ihren sich selbst schützenden ethnischen Kokon zurück. Freund und Feind sind nun für beide Seiten klar erkennbar, es gibt kein Grau mehr, nur noch Schwarz und Weiß. Der ethnische Kokon sabotiert alle auf Toleranz ausgerichteten Haltungen individueller Gemeinschaftsmitglieder. Die Gruppenkohäsion basiert auf einer negativen Grundlage, auf dem Ausschluss der als Feind betrachteten Out-Group: „Groups, and especially minorities, which live in conflict […] often reject approaches or tolerance from the other side. The closed nature of their opposition, without which they cannot fight on, would be blurred […] Within certain groups, it may even be a piece of political wisdom to see that there be some enemies in order for the unity of the members to be effective and for the group to remain conscious of this unity as its vital interest.“39

Ist die ethno-politische Konfrontation der Gemeinschaften einmal in Gang gekommen, gelangt der Prozess früher oder später an einen Punkt, an dem es für die Gemeinschaften kein Zurück mehr gibt. Teger versuchte, den Eskalationsprozess hin zum offenen, gewaltsamen Konflikt mit Hilfe der sogenannten ‚Dollarauktion‘ zu simulieren. Demnach ist die entscheidende Stufe jene, an der der Bietende entweder schon zu viel ausgegeben hat, um weiterzumachen, oder aber zu viel ausgegeben hat, um aufzugeben.40 Die daraus entstehende Zwangslage hat schwerwiegende Folgen, denn die besänftigende, zwischen den Gemeinschaften vermittelnde, moderate Mitte verliert an Einfluss und verschwindet allmählich. Es ist die Zeit der Hardliner und Scharfmacher, der „ethnischen Unternehmer“.41 Einen treffenden Ausdruck für diesen Zustand einer Gesellschaft fand Frank Wright mit dem Begriff „skeptischer common sense“:42 Nicht jene Individuen, (politischen) 37  Scarry,

S. 45. 1998, S. 111. 39  Hobsbawm, S.  167 f. 40  Teger, S. 89. 41  In Abwandlung von Max Webers Figur des ‚politischen Unternehmers‘ verwendete hier Ropers den Begriff ‚ethnische Unternehmer‘, um die Bedeutung der politischen Führung im Eskalationsprozess hin zum ethno-politischen Konflikt hervorzuheben. Ropers, S. 8. 42  Wright 1987; 1990. 38  Waldmann

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Führer oder Strömungen einer Gemeinschaft, die eine mutige und moderate Haltung vertreten und z. B. den Dialog anstreben, werden von der Mehrheit der Gemeinschaft unterstützt, sondern Individuen und Gruppen, die simple, sichere und subjektiv verlässliche politische Positionen propagieren, die sich exklusiv auf die Interessen der eigenen Gemeinschaft ausrichten. Der skeptische common sense kann durch ein komplementäres Bild verdeutlicht werden: das Konzept der radikalen Gemeinschaft. Es umschreibt das soziale Milieu, aus dem sich die Kombattanten des Bürgerkrieges rekrutieren bzw. in dem sie leben.43 In der klassischen Studie von Frank Burton wurde der Alltag für die Katholiken Belfasts während des Ausbruches des Bürgerkrieges untersucht. Die IRA griff protestantische Häuserblocks an, protestantische Gruppen attackierten katholische Straßen und Wohnviertel, setzten Häuser in Brand und vertrieben die Bewohner – umgekehrt wurden auch Protestanten aus ihren Häusern vertrieben. Die Gemeinschaften entwickelten sich in diesem Klima zu ‚radikalen Gemeinschaften‘: „My thesis is that under certain conditions a minority population or segments of it will, as it were, leap back in their development – in Freudian terms, we could say they ‚regress‘. They will transform themselves from a relatively open ‚so­ciety‘ into a closed ‚community‘, from ‚Gesellschaft‘ to ‚Gemeinschaft‘.“44

Die Transformation zur radikalen Gemeinschaft ist für die sich gegenüberstehenden Gruppen durchaus funktional, da sie dadurch weitgehend resistent gegen externe Einflüsse werden.45 Für die Nachkriegsgesellschaft als Ganzes haben solche isolationistischen Vergemeinschaftungsprozesse im Sinne der antithetischen Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft destruktive Auswirkungen. Im Kokon der radikalen Gemeinschaft vollziehen beide Seiten eine Politik der vollständigen Separation. Der skeptische common sense als Charakteristikum freiwilliger Apartheid resultiert nicht zuletzt daraus, dass die Gemeinschaften dazu gezwungen wurden, ‚von Frieden auf Krieg umzulernen‘. Sie haben dabei gleichzeitig verlernt, was Frieden bedeutet oder überhaupt bedeuten kann. Nach Genschel und Schlichte muss der Krieg in seinen Auswirkungen auch als ein Lernproblem interpretiert werden, als ein Prozess des Verlernens friedlicher Kompetenzen: „Der Krieg wird als absoluter Ausnahmezustand empfunden, auf dessen Bewältigung man durch die bisherigen zivilen Betätigungen nur begrenzt vorbereitet ist. Kompetenzen, die im zivilen Alltag hilfreich oder unerlässlich waren, sind plötzlich wertlos und irrelevant.“46 43  Burton,

S. 9; Waldmann 2003, S. 109. 2005, S. 239 f. 45  Ebd., S. 240. 46  Genschel / Schlichte, S. 505. 44  Waldmann



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Vor dem Krieg erworbene Fähigkeiten und Kompetenzen liegen brach, verfallen und werden von neuen, kriegstauglichen Fähigkeiten verdrängt.47 Post-Konflikt-Gesellschaften sind daher skeptisch gegenüber friedensstiftenden Fähigkeiten und vertrauen in erster Linie den Hardlinern beider Seiten. Die aktuellen Entwicklungen im nordirischen Friedensprozess sind trotz alledem ein Hoffnungszeichen, weil sie zeigen, dass der skeptische common sense kein Dauerzustand in Post-Konflikt-Gesellschaften sein muss: Bei den Regionalwahlen 2007 bekamen die Parteien das Mandat, gemeinsam die Regierung zu bilden. Mit anderen Worten: Sie bekamen das Mandat, sich selbst zu entradikalisieren und einen politischen Kompromiss einzugehen. Unmittelbar nach den Wahlen setzten sich die Führer der Democratic ­Unionist Party (DUP) und Sinn Fein zum ersten Mal überhaupt an einen Tisch und einigten sich auf eine gemeinsame Regierungsbildung. Das Ergebnis war die Wiedereinsetzung der nordirischen Regionalregierung. Diese Entradikalisierung war allerdings durch kognitive Dissonanz gekennzeichnet.48 Kognitive Dissonanz ist ein Konzept der psychologischen Handlungstheorie. Es geht von dem Sachverhalt aus, dass auf bewusst selektive Weise Informationen ausgewählt werden, die eine getroffene Entscheidung als richtig erscheinen lassen, während gegenteilige Informationen abgewehrt, nicht beachtet oder verdrängt werden. Dissonanz umfasst sowohl die Nichtübereinstimmung bzw. Unvereinbarkeit zwischen verschiedenen Wahrnehmungen, Meinungen oder Verhaltensweisen als auch die daraus abgeleitete Spannung, z. B. ein Unlustgefühl.49 Solche Dissonanz lässt sich in den öffentlichen Äußerungen der politischen Protagonisten beider Seiten identifizieren. So behauptete z. B. der Sinn Fein-Präsident Gerry Adams, dass der gewaltsame Kampf bzw. die Strategie der Gewalt nie ein republikanisches Prinzip gewesen sei: „Armed struggle was never a republican principle. It was an option of last resort in the absence of any other alternative.“50

Es ist ein wohl eigentümliches Paradoxon, dass der skeptische common sense als eine der sozialpsychologischen Dimensionen freiwilliger Apartheid auf konstruktive Art und Weise durch kognitive Dissonanz auf beiden Seiten ersetzt werden kann. Die politische Entscheidung, den Dialog mit dem ehemaligen Feind zu suchen, wird damit sowohl kognitiv verarbeitet als auch öffentlich kommuniziert. Solche Strategien, die darauf abzielen, Den47  Ebd.

48  Festinger. 49  Ebd.

50  Interview

in der Zeitung The Irish Times vom 18.1.2007.

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ken bzw. Sprache und Kommunikation an das politische Handeln anzupassen, sind wichtige Hilfsmittel der politischen Protagonisten beim selbst gewählten Prozess der Entradikalisierung. c) Der territoriale Imperativ: Bedürfnis nach Separation Zu den beiden sozialpsychologischen Facetten freiwilliger Apartheid (sectarianism und skeptischer common sense) kommt die territoriale Facette hinzu. Der ‚territoriale Imperativ‘ kann als räumliche Reproduktion des sectarianism verstanden werden. Im Zuge eines Bürgerkrieges tritt die psychologische Trennung in Form einer physischen Trennung zutage, wodurch der Faktor Territorialität zu einem Verhaltensphänomen wird.51 Es zeigt sich eine Abwanderung von Menschen aus ethnisch gemischten in homogene Gebiete, wodurch homogene territoriale Blöcke entstehen. Diese Blöcke sind sowohl von innen als auch von außen unangreifbar.52 Dies wirkt sich auf die Interaktionsmuster der Post-Konflikt-Gesellschaften aus, in denen die homogenen Blöcke weiter fortbestehen. Zwischen den Gemeinschaften kommt es so zu keiner räumlichen Begegnung; sie ist weder möglich noch gewünscht. In Nordirland tritt der territoriale Imperativ durch die so genannten ‚Friedenslinien‘ (peacelines) visuell in Erscheinung. Mit dieser euphemistischen Bezeichnung sind meterhohe Mauern und Stacheldraht gemeint, wodurch aneinander angrenzende protestantische und katholische Gebiete strikt voneinander getrennt werden. Sie werden als ‚interface-Gebiete‘ bezeichnet. Die ersten Mauern wurden im Jahr 1969 zwischen der Shankill Road und der Falls Road in Westbelfast errichtet. Sie waren als vorübergehende Maßnahmen gedacht und sind mittlerweile eine beliebte Touristenattraktion.53 Man sollte annehmen, dass ein Friedensprozess dazu führt, die Mauern zwischen den Gemeinschaften, die aus der Zeit des Krieges stammen, hinfällig werden zu lassen. Dagegen ist es das wohl bedenklichste Symbol des nordirischen Friedenskonsolidierungsprozesses, dass die Friedenslinien nicht nur weiterhin bestehen, sondern darüber hinaus erhöht wurden. Wie Abbildung 1 und 2 illustrieren, wurden sogar neue Friedenslinien gebaut, so z. B. in Nordbelfast: 51  Murtagh,

S. 34. 1998, S. 114. 53  Ausführliche Darstellungen der ‚interface‘-Gebiete in ihrer Entstehung, deren Hintergründe sowie einen genaueren Überblick über die Gewalteskalationen seit 1996 finden sich in Jarman 1997b; 1999; 2002; Jarman / O’Halloran 2000; 2001). 52  Waldmann



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Abb. 1: Friedenslinie in Nordbelfast (Foto: Marcel M. Baumann)

Abb. 2: Friedenslinie in Nordbelfast (Foto: Marcel M. Baumann)

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Diese Bilder zeigen etwas wahrscheinlich weltweit Einmaliges: Die im Jahr 2001 errichtete Friedenslinie teilt einen öffentlichen Park (Alexandrapark) in einen protestantischen und einen katholischen Teil. Schon allein die Tatsache, dass drei Jahre nach der Unterzeichnung des mit Friedensnobelpreisen belohnten Karfreitagsabkommens Friedenslinien inmitten öffentlicher Parks errichtet werden müssen, zeigt den hohen Grad ethnopolitischer Schließung in der nordirischen Post-Konflikt-Gesellschaft: „The walls between Belfast’s warring Protestants and Roman Catholics grew a little higher yesterday, in spite of years of terrorist ceasefires and the Government view that Northern Ireland is returning to normality.“54

Auf ganz Nordirland bezogen, sind mehr als 90 Prozent aller staatlichen Wohnräume nach dem religiösen Proporz geteilt, d. h. in rein katholische oder rein protestantische Gebiete; in Belfast liegt der Prozentsatz sogar bei 98 Prozent.55 Die für die Allokation von staatlichem Wohnraum zuständige Agentur, die Northern Ireland Housing Executive (NIHE), sieht auch in den neueren Plänen zur Gestaltung des staatlichen Wohnraumes keinen Änderungsbedarf, denn beide Gemeinschaften sind weder bereit noch fähig, miteinander zu leben. Deshalb lassen die neuen Pläne der NIHE jeden Mut vermissen, radikale Schritte gegen die territoriale Segregation zu unternehmen: „The Housing Executive has said its new approach is focused on the long term, and that ensuring people’s safety is paramount. It insists it is not promoting social engineering, but simply making the most efficient use of housing and land to meet real need.“56

Die bereits zitierte Studie von Peter Shirlow kam zu der Schlussfolgerung, dass die territorialen Spaltungen ganz konkrete Konsequenzen für den Alltag der Menschen vor Ort haben. Katholiken gehen beispielsweise nur in katholischen Gegenden einkaufen, zum Arzt, auf die Post etc. „Not surprisingly, ethno-sectarianism plays a dominant role in influencing where residents shop and use facilities, and how far they are prepared to travel. This is demonstrated by the fact that the great majority of consumer interaction is between origins and destinations of the same religion. The few visits that cross ethno-sectarian boundaries and interfaces can be accredited to the use of large ‚neutrally‘ sited shopping centres.“57

54  Sunday

Telegraph vom 10.6.2002. die aktuellen Zahlen in The Guardian vom 14.4.2004. 56  Sunday Telegraph vom 10.6.2002. 57  Murtagh, S. 84. 55  Siehe



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d) Politik der Symbole Im Dezember 2004 kam es zu einem bemerkenswerten Gerichtsprozess, als eine Gruppe von 25 griechischen Rechtsanwälten die Macher des Hollywood-Streifens Alexander, die Produktionsfirma Warner Bros., verklagten. Sie wollten das Verbot des Filmes erreichen, weil darin Alexander der Große, ‚ihr‘ griechischer Held, als homosexuell dargestellt wird.58 Ein wunder Punkt für die ‚griechische Seele‘: „Alexander, who conquered much of the world before his mysterious death at the age of 32, is the Greeks’ greatest hero. For centuries, they have sought to assert this Greekness, arguing vociferously with their Macedonian neighbours over his ethnic origins. There is such sensitivity that when a mayor in Macedonia erected a sculpture that depicted the warlord as puny and effeminate, there were demonstrations.“59

Hingegen betonte der Sprecher der mazedonischen ‚Löwen‘, Toni Mihaj­ lovski, dass Alexander nicht ‚Alexander der Große‘, sondern ‚Alexander von Mazedonien‘ gewesen sei und die bewaffnete Gruppe der ‚Löwen‘ seine direkten Nachfahren.60 Jenseits des Streits darüber, ob Alexander nun groß oder mazedonisch war, bestand der Hauptkritikpunkt der griechischen Anwälte während des Prozesses in der Darstellung Alexanders als Homosexueller: „There is no mention of his alleged homosexuality in any historical document or archive. Either they make it clear that this is a work of fiction, or we will take the case further.“61

Der Film wurde dagegen von vielen homosexuellen Lobby-Gruppen umjubelt; eine amerikanische Zeitschrift bezeichnete Alexander sogar als „first gay action hero“.62 58  The

Washington Post vom 3.12.2004. Guardian vom 22.11.2004. 60  Die ‚Löwen‘ (‚Lavovi‘) waren eine geheime, paramilitärische Spezialeinheit, die vom ehemaligen nationalistischen Innenminister Ljube Boskovski ins Leben gerufen worden war und faktisch als dessen Privatarmee gegen die albanische ‚National Liberation Army‘ geführt wurde. Als deren Sprecher trat der bekannte und populäre mazedonische Moderator Toni Mihajlovski auf (u. a. der Moderator der mazedonischen Big Brother-Staffel). Mihajlovski charakterisierte die Löwen als „anti-terrorist army“ (Interview mit dem Autor vom 14.10.2004, in Baumann). Die Löwen waren jedoch in zahlreiche ausschließlich kriminelle Aktivitäten involviert und gingen äußerst brutal vor. Nach dem Ende des bewaffneten Konfliktes waren sie zunächst von Boskovski als Anti-Terror-Einheit in die legalen Sicherheitskräfte eingegliedert worden. Auf internationalen Druck wurden sie jedoch im Frühjahr 2002 aufgelöst. 61  Yannis Varnakos aus der Gruppe der 25 griechischen Anwälte (The Guardian vom 22.11.2004). 62  Siehe die Kommentare dazu auf: http: /  / www.gayheroes.com / movie.htm (Zugriff: 21.1.2005) und http: /  / www.gay-news.com / article04.php?sid=1033 (Zugriff: 21.1.2005). 59  The

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Die vorangestellte Anekdote veranschaulicht das in Symbolen inhärente destruktive Potenzial. Im innergesellschaftlichen Kontext entsteht das Potenzial dadurch, dass Symbole auf zwei verschiedenen Ebenen wirken.63 Auf der ersten Ebene repräsentieren singuläre Ereignisse eine größere politische, soziale oder kulturelle Gesamtsituation. Eine Mikro-Erfahrung, verstanden als ein Einzelfall von Diskriminierung oder Schikane durch die andere Gemeinschaft, wird als stellvertretender, typischer Fall wahrgenommen, der die ‚größere Wahrheit‘ – im Sinne von ‚unsere Gemeinschaft wird systematisch diskriminiert‘ – bestätigt. Die zweite Ebene besteht darin, dass Symbole bewusst als politische Technik benutzt werden, indem jede Gemeinschaft ihren eigenen Vorrat an Symbolen, Farben, historischen Bezügen u. a. aufstellt, auf den jederzeit zum Zwecke der Instrumentalisierung zurückgegriffen werden kann. In diesem Zusammenhang finden Symbole auch Verwendung in Konflikttransformationsphasen: „The tendency to overlook symbols and rituals (and indeed human emotions and displays) in narrative and analysis of peacemaking processes risks missing vital evidence in explanations of why conflict persists and has a violent character.“64

Nach John Armstrong funktionieren Symbole wie Verkehrsampeln, die die Grenzen zwischen den Gemeinschaften festlegen.65 Die Zeichen des Krieges sind dabei die symbolischen Hilfsmittel für die Politik der Separation. Im Laufe der Zeit werden Symbole und Rituale stets ihre Bedeutung und Wahrnehmung für die Gemeinschaften verändern. Sie werden immer wieder angepasst und modifiziert und sind kein statischer Teil der Gesellschaft: „Even when the form remains stable it does not imply that the meaning is static: in fact discontinuity between form and meaning may contribute to the persistence of a ritual by increasing the multivocality of the event and thereby its ambiguity, and in turn, its vitality. The ambiguity of the ritual process is an important factor in its accessibility to a larger number of people.“66

Trotz ihrer Flexibilität vollziehen sich Rituale nach strengen Regeln, Non-Konformität wird gesellschaftlich nicht geduldet.67 Hinzu kommt, dass Rituale sich regelmäßig wiederholen und im Zusammenspiel von Regeldurchsetzung und Wiederholung eine kulturell tradierte Legitimation begründen. Vor allem sind Rituale die Bindeglieder zwischen freiwilliger Apartheid und kollektiven Traumata. Dies wird deutlich, wenn man sich den Zusamim Folgenden MacGinty 2000. 2003, S. 235. 65  Armstrong, S. 7. 66  Jarman 1997, S. 11. 67  Bryan, S. 192. 63  Siehe

64  MacGinty



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menhang zwischen der Wirkungsweise von Symbolen und dem „kollektiven Gedächtnis“ (Maurice Halbwachs) bewusst macht.68 Rituelle Gedenkveranstaltungen werden fast immer dazu benutzt, die eigene Vergangenheit zu feiern oder an sie zu erinnern. Es sollen sowohl die eigenen zukünftigen Ambitionen und Bestrebungen als auch die „vorgestellte Gemeinschaft“ (Benedict Anderson) als Ganzes gefestigt werden.69 Rituale gehen über eine simple und vage Erinnerung an vergangene Ereignisse hinaus und verknüpfen explizit die Vergangenheit mit der Gegenwart.70 Dies macht das Ritual als solches unweigerlich zu einem Paradoxon: „This continuity of form inevitably hides changes in meaning. If a ritual remains central to social life of a community, it is because of this paradox: that it is at once unchanging and yet ever changeable.“71

Dieses Paradoxon hat reale Konsequenzen für die sozialen Interaktionsmodi von Post-Konflikt-Gesellschaften: „at once unchanging and yet ever changeable“ – das lässt ausreichend Raum und Chancen für die politische Instrumentalisierung. Immer wiederkehrende bzw. stetig politisierte Symbole und stets aufs Neue vollzogene Rituale repräsentieren die symbolische Facette freiwilliger Apartheid. Sie werden so zu den manifesten und expressiven Zeichen der kulturellen Separation der Gemeinschaften. e) Politik der Erinnerung Die fünfte Facette freiwilliger Apartheid kann mit der Formel „Erinnerung an die Zukunft“72 umschrieben werden. Dieser semantische Widerspruch wird aufgelöst, wenn man sich den Prozess der rituellen Vergegenwärtigung historischer Gewalt-Großereignisse bewusst macht. Gewalt-Ereignisse wie der Bloody Sunday in Nordirland oder das Sharpeville Massaker in Südafrika werden dadurch als Ereignisse wahrgenommen, die zwar schon Jahrzehnte oder Jahrhunderte zurück liegen mögen, doch in der Erinnerung der Gemeinschaften zu Ereignissen werden können, die erst kürzlich oder sogar gestern stattfanden. Die Politik der Erinnerung prägt gesellschaftliche Grundhaltungen und die Legitimationsmuster der Politik.73 Die Rekonstruktion von Ereignissen im kollektiven Gedächtnis ist von sozialen Rahmenbedingungen abhängig, denn kein Gedächtnis vermag die 68  Jarman

1997, S. 8.

69  Kapferer. 70  Jarman

1997, S. 9. S. 10. Hervorhebung durch den Verf. 72  Victor Helioz, zitiert in: Senghaas, S. 38. 73  Steinweg, S. 111. 71  Ebd,

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Vergangenheit als solche zu bewahren.74 Nur das bleibt von ihr, was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihrem jeweiligen Bezugsrahmen rekonstruieren und reproduzieren kann. Die Vergangenheit erweist sich somit als eine soziale Konstruktion, die nur erinnert wird, soweit sie gebraucht wird. Bezogen auf die Dynamik und Kohäsion von Gruppen und Gemeinschaften bedeutet dies, dass die Stabilität des kollektiven sozialen Gedächtnisses von der fortdauernden Existenz der Gruppe abhängt. Vor allem für jene politischen Akteure und Gruppen, die kein Interesse an einer positiven Fort­ entwicklung des gesellschaftlichen Friedensprozesses haben, eröffnet sich durch Erinnerungspolitik eine Chance zur negativen politischen Instrumentalisierung. Solche Handlungsstrategien nehmen dabei oft die Merkmale von sich selbst erfüllenden Prophezeiungen an: bestimmte Strategien, die aus einer reinen Sicherheitsperspektive einen subjektiven Sinn ergeben (z. B. das Bedürfnis nach territorialer Segregation zwischen den verfeindeten Gemeinschaften), können sich negativ auf einen erhofften Konflikttransformationsprozess auswirken, da sie die Gemeinschaften voneinander trennen und die Politik der Separation begünstigen. Die Instrumentalisierung der Erinnerung zu politischen Zwecken wird dadurch erleichtert, dass durch die kollektive Prägung des Gedächtnisses sich die Erinnerung nicht auf das unmittelbar selbst Erlebte reduziert. Vielmehr besteht ein wesentlicher Bestandteil des Erinnerns aus den Fremderfahrungen von Individuen der eigenen Gemeinschaft, Erfahrungen also, die über Generationen hinweg weitergegeben werden. In Post-Konflikt-Gesellschaften stehen sich in der Regel zwei Kollektivgedächtnisse diametral gegenüber, und zwar als sich gegenseitig ausschließende Gedächtnisse. Die Möglichkeiten der Manipulation und Instrumentalisierung der Vergangenheit führen z. B. dazu, dass bestimmte Gewalt-Großereignisse in einer ‚gezielten Beliebigkeit‘ entweder aufgewertet oder abgewertet werden. Dadurch werden aus kollektiven Traumata „gewählte Traumata“ (Vamik Volkan): „I use the term chosen trauma to describe the collective memory of a calamity that once befell a group’s ancestors. It is, of course, more than a simple recollection; it is a shared mental representation of the event, which includes realistic information, fantasized expectations, intense feelings, and defenses against unacceptable thoughts.“75

Kollektive Traumata lassen sich somit als eine Art Repertoire rasch aktivierbarer kollektiver Affekte verstehen, die es im Moment der tatsächlichen, eingebildeten oder heraufbeschworenen Gefahr erlauben, einen einheitlichen 74  Vgl.

75  Ebd.,

Halbwachs 2006. S. 48.



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politischen Mehrheitswillen zu erzeugen.76 Zusammen mit den anderen Facetten freiwilliger Apartheid sind die Präsenz und die politische Instrumentalisierung kollektiver Traumata ein wesentlicher Bestandteil und ein willkommenes Hilfsmittel für die Politik der vollkommenen Separation. Sie können neue Zerwürfnisse auslösen, die den politischen Konsolidierungsbzw. Demokratisierungsprozess gefährden. III. Schlussfolgerung oder von der Relevanz zivilgesellschaftlicher Identitätsarbeit Wie viele Friedenskonsolidierungsprozesse zeigen,77 ist der Aufbau staatlicher Institutionen für nachhaltige Strategien der Konflikttransforma­ tion allein nicht ausreichend. Effiziente Institutionen bedürfen der Verankerung in den spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen vor Ort und der Ausrichtung an breit akzeptierten Werten. Die lokale Bevölkerung muss den Aufbau neuer Institutionen nach eigenen Traditionen und Bedürfnissen selbst gestalten. Ansonsten besteht die Gefahr, dass diese zum Zankapfel ethno-politischer Eliten oder zur Machtgrundlage autokratischer Herrscher werden. Die Chancen, den Bürgerkrieg nachhaltig zu überwinden, steigen in dem Maße, wie es gelingt, nicht nur die harten (institutionellen und wirtschaftlichen) Faktoren in den Mittelpunkt zu stellen, sondern auch Maßnahmen der Konfliktbearbeitung anzuwenden bzw. zu entwickeln, die auf die weichen (psychosozialen und kulturellen) Faktoren abzielen.78 Das Plädoyer ‚Society First‘ geht in diese Richtung: Freiwillige Apartheid ist in erster Linie ein gesellschaftlich produziertes Strukturmuster, das nach Lösungswegen auf der Ebene der Gesellschaft verlangt; in erster Linie geht es hier um eine Mentalitätsänderung, die vor allem durch die Zivilgesellschaft angestoßen und begleitet werden kann. So betrachtet etwa Mary Kaldor die Stärkung lokaler, zivilgesellschaftlicher Strukturen als einen effektiven Hebel der „Politik der Identität“ entgegenzuarbeiten, welche letztlich die Strukturen freiwilliger Apartheit zementiert.79 An die Stelle einer solchen, mit „Etiketten“80 der Zugehörigkeit arbeitenden Identitätspolitik 76  Es können neben gewählten Traumata auch ‚gewählte Ruhmesblätter‘ (‚chosen glories‘) instrumentalisiert werden. Beiden Formen können je nach Bedarf für das kollektive soziale Gedächtnis eingesetzt werden. 77  Einen sehr guten Überblick bietet das von der Bundeszentrale für Politische Bildung veröffentlichte Dossier ‚Innerstaatliche Konflikte‘: http: /  / www.bpb.de /  themen / K2ATUD,0,Innerstaatliche_Konflikte.html (Zugriff: 18.11.2008). 78  Baumann / Schrader. 79  Kaldor, S.  232 ff. 80  Ebd., S. 15.

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sollte eine zivilgesellschaftliche Identitätsarbeit gestellt werden. Zentraler Ausgangspunkt zivilgesellschaftlicher Identitätsarbeit ist die Förderung der Autonomiefähigkeit von Individuen im Sinne einer selbstbestimmten Mitgestaltung der eigenen Lebensbedingungen. Weniger abstrakt ausgedrückt bedeutet dies, dass der Einzelne eine individuelle Identität braucht, die ihm die Orientierungs- und Handlungsfähigkeit im sozialen Raum ermöglicht.81 Im Unterschied zur Identitätspolitik, die in der Regel von dominanten Gruppen ausgeht, versucht zivilgesellschaftliche Identitätsarbeit nicht, die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft durch die Konstruktion eines vermeintlich Wesenhaften (Ursprung, Geschichte, Werte, Kultur usw.) zu Gefolgschaft und Loyalität zu verpflichten. Vielmehr wird zivilgesellschaftliche Identitätsarbeit als Anstrengung verstanden, ein auf die Behauptung und Durchsetzung zivilgesellschaftlicher Werte und Haltungen (z. B. Gewaltfreiheit, Gerechtigkeit, Toleranz) gerichtetes kollektives und individuelles Selbstverständnis zu fördern. Das zentrale Ziel besteht darin, durch Sensibilisierungs-, Aufklärungs- und Bildungsarbeit innerhalb der lokalen, nationalen und / oder transnationalen Zivilgesellschaft friedliche und produktive Beziehungen zwischen den verschiedenen Segmenten, Milieus und Gemeinschaften zu fördern und zu gewährleisten.82 Natürlich ist die zivilgesellschaftliche Identitätsarbeit, die im besonderen Maße die weichen Faktoren adressiert, kein Allheilmittel. Und letztlich ist auch ‚Society First‘ nur eine Devise, deren konkrete Umsetzung schwierig ist. Aber sie lenkt das Augenmerk auf bisher eher vernachlässigte Ansätze der Konfliktbearbeitung, denen man eine Chance einräumen sollte. Literatur Ackermann, Alice: Making Peace Prevail. Preventing Violent Conflict in Macedonia, Syracuse 2000. Alexander, Neville: Südafrika. Der Weg von der Apartheid zur Demokratie, München 2001. Allport, Gordon W.: The Nature of Prejudice, Cambridge / Boston 1954. Armstrong, John: Nations before Nationalism, Chapel Hill 1982. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2006. Bar-On, Dan: Die „Anderen“ in uns. Dialog als Modell der interkulturellen Konfliktbewältigung, Hamburg 2001. 81  Schrader. 82  Ebd.



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Mali-Nord – Ein Programm für den Frieden Ein Bericht zu den Chancen (und Grenzen) von Entwicklungshilfe Von Henner Papendieck Am Anfang des Programms Mali-Nord stand eine Geschichte von gewalttätigen Auseinandersetzungen, in denen die Tuareg im Norden Malis gegen die malische Zentralregierung rebellierten. Im Norden Malis nahm dieser Konflikt den Charakter eines Bürgerkriegs an. Als Hauptgegner standen sich auf der einen Seite die malische Armee und eine Miliz aus ehemaligen Armeeangehörigen der Sonrhai, auf der anderen Seite verschiedene Rebellengruppen der malischen Tuareg gegenüber. Der Konflikt endete erst zu Beginn des Jahres 1995. Vertretern der beteiligten Gruppen gelang es, einen Modus der Konflikteindämmung auszuhandeln. Das war der Beginn eines neuen zivilen Lebens im Norden. Im Westen von Timbuktu, dem Landstrich, der an diesem Konflikt am stärksten gelitten und von ihm am wenigstens profitiert hatte, wurde das Programm Mali-Nord zum Schlüssel für die Rückkehr des zivilen Lebens und für den Aufschwung dieses Landesteils in den letzten anderthalb Jahrzehnten. Die Wunden, die die Rebellion und der Bürgerkrieg geschlagen hatten, waren tief. Die Infrastruktur war vielerorts zerstört. Offene Schachtbrunnen, Bohrbrunnen und Wasseranlagen, Verwaltungsgebäude, Schulen, Gesundheitsstationen und Pisten waren zerstört. Alles musste wieder aufgebaut werden. Die Verwaltung hatte vor der Rebellion die Flucht ergriffen. Sie musste zurückkehren und brauchte eine Starthilfe, um wenigstens einige grundlegende Aufgaben wahrnehmen zu können. Sie sollte zudem den Beginn der Dezentralisierung bzw. der lokalen Mitbestimmung in Gang setzen und begleiten. Die Bevölkerung brauchte eine neue wirtschaftliche Grundlage um zu überleben. Selbst in Friedenszeiten bietet der Sahel zwischen dem vierzehnten und dem siebzehnten Breitengrad den Menschen nur marginale Lebenschancen. Im Binnendelta des Niger haben sich die Überschwemmungsgebiete seit der letzten großen Dürre drastisch verkleinert. Viele große Seen sind trocken gefallen. Der Wasserstand des Niger ist stark abgesunken. Die traditionellen Anbaumethoden (Trockenfeldbau, Nachflutkulturen) geben

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keine Nahrungssicherheit mehr. Die Bauern müssen zu modernen Methoden überwechseln: Bewässerung oder Vorflutung mit Hilfe von Motorpumpen zur Produktion von cash crops (Reis, Weizen, Zwiebeln, Schalotten, Anis und Kreuzkümmel). Der nomadische Teil der Bevölkerung wird nicht umhin kommen, wenigstens teilweise sesshaft zu werden und seine Lebensund Wirtschaftsweise zu diversifizieren. Im Folgenden gebe ich einen kurzen Überblick über das Programm MaliNord, seine Erfolge und Grenzen bei der Stiftung von Frieden. Als einer der beiden deutschen Koordinatoren vor Ort habe ich das Programm Mali-Nord als Ökonom sechzehn Jahre an entscheidender Stelle mit gestaltet und begleitet. Dieser Bericht ist also der Bericht eines Beteiligten und Hauptverantwortlichen. I. Das Programm Mali-Nord Das malisch-deutsche Programm Mali-Nord wurde 1993 ins Leben gerufen. Eine Illusion ließen die Koordinatoren rasch hinter sich, die Vorstellung nämlich, „Frieden“ sei synonym mit sozialer Harmonie. Die malische Standardformel lautete: man sei condamné à vivre ensemble (zum Zusammenleben verdammt). Diese Beschreibung ist nüchtern und harsch und bedeutet: Frieden ist die Abwesenheit von Krieg, Gewalt und Misshandlung. Im Frieden haben die Menschen noch immer die gleichen Vorurteile gegeneinander und am hartnäckigsten gegenüber den Nachbarn. Intimere Kenntnis der Nachbarn fördert nicht notwendig Zuwendung und Freundschaft, sondern ebenso leicht Ablehnung und Vorurteil oder gar Hass und Feindschaft. Das gilt für ethnische Gruppen untereinander ebenso wie für soziale Klassen und Kasten. 1. Zur Ausgangslage Die erste deutsche Mission zum künftigen Programm Mali-Nord reiste im September 1993 nach Mali. Ihr Gesprächspartner war das Commissariat au Nord, eine vom Präsidenten Alpha Oumar Konaré ins Leben gerufene und beim Präsidialamt angesiedelte Institution. Deren Aufgabe war es, die Vereinbarungen des Pacte National, einer Friedensvereinbarung aus dem Jahr 1992, umzusetzen und die Befriedung des Nordens zu erreichen. In Gesprächen mit den verantwortlichen Repräsentanten der malischen Regierung, Vertretern von vier Rebellenbewegungen (mouvements), Nichtregierungsorganisationen (NRO) und anderen Gebern stellte sich heraus, dass es im Westen von Timbuktu ein großes Problem gab, um das sich bislang niemand gekümmert hatte. Die Rebellion hatte zwischen Timbuktu und der mauretanischen

Quelle: Wolfgang Straub: Programm Mali-Nord (GIZ/KfW).

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Grenze, die rund 250 km westlich von Timbuktu verläuft, ein Niemandsland geschaffen. Etwa vierzigtausend Tuareg und Mauren waren in Flüchtlingslager im Osten Mauretaniens geflohen, der Rest hatte sich in möglichst unzugängliche Teile des Busches oder in die Wüste im Norden zurückgezogen. Die schwarze Bevölkerung, vor allem die Gruppe der Bellah, früher Leibeigene der ­Tuareg, hatte sich in die Nähe der Armeelager am Rande der größeren Städte geflüchtet. Der ländliche Raum war von den Einwohnern wie von der Verwaltung verlassen. Sollte man die von der deutschen Seite in Aussicht gestellten Mittel nicht dazu einsetzen, diesen Landstrich wieder aufzubauen? Die Antwort auf diese Frage war das Programm Mali-Nord. Allerdings war für die deutsche Seite unabdingbar, dass die Intervention nicht verwässert werden durfte, dass nicht „Kleckern“, sondern „Klotzen“ angebracht war; für das Programm Mali-Nord kamen über den Zeitraum von 1994–2010 € 75 Millionen zusammen, immer noch vergleichsweise bescheidene Mittel. „Klotzen“ ist auch deshalb vonnöten, um das Programm lokal gut zu verankern, eine Voraussetzung für nachhaltigen Erfolg. Schließlich war für die deutsche Seite unverzichtbar, das Projekt multisektoriell anzulegen, weil Sektorprogramme nach Kriegen oder Naturkatastrophen keinen Sinn machen. Auch das erfordert substantielle Mittel. Die Verhandlungen über dieses Paket waren nicht einfach. Aber die Sturheit der deutschen Geberseite zahlte sich aus: Die malische Seite stimmte dem konzentrierten Einsatz der Mittel im Westen von Timbuktu zu. Auf politischem Druck musste sieben Jahre später allerdings ein Landkreis im Osten von Timbuktu in das Programm mit einbezogen werden. 2. Das Gebiet des Programms Das Interventionsgebiet umfasst verschiedene traditionelle soziale und wirtschaftliche Räume. Weite Teile des Gebiets werden alljährlich vom Fluss Niger überschwemmt und sind über viele Monate des Jahres nur schwer zugänglich. Nur die Menschen vor Ort wissen, welches Transportmittel sie während der Regenzeit, der Trockenzeit oder während der Hochwasser benutzen müssen. Schon allein aus diesem Grund musste jede Aktivität auf lokalem Wissen basieren. Die Region Timbuktu umfasst zudem drei sehr unterschiedliche Teile: die Sahara (terres inutiles), zu Beginn der Intervention geprägt von der alten nomadischen Weidewirtschaft. Diesen Raum hat das Programm Mali-Nord während der Phasen der Nothilfe und des Wiederaufbaus nur an dessen südlichem Rand gestreift. Die Stadt Timbuktu selbst. Sie zehrt von ihrem historischen Ruf sowie von ihrer Diaspora in Bamako und im Ausland. Die Stadt ist von ihrem Umland erstaunlich



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getrennt. Auf den drei großen Bewässerungsanlagen im Süden der Stadt sind die Bürger Timbuktus vor allem Absentee Landlords, die Arbeit verrichtet eine Heerschar von Bellah. Die Stadt und den Kreis Timbuktu hat das Programm Mali-Nord nach Kräften gemieden, um nicht zum Spielball politischer Interessen zu werden. Das Flusstal des Niger und dessen Überschwemmungsgebiete, das delta intérieur, sind außerordentlich fruchtbar, bilden die wirtschaftliche Basis für Ackerbau und Viehzucht und bieten sich mit ihren ausgedehnten kultivierbaren Flächen als der Brotkorb Malis und Westafrikas an. Hier leben und arbeiten mehr als 95 % der Bevölkerung der Region Timbuktu. Sechs große ethnische Gruppen sind in diesem Raum heimisch. Fulbe, Tuareg und Mauren teilen sich die Weiden, Sonrhai, Bella und Bambara (im Süden) die Ackerflächen. Dieses Flusstal des Niger wurde zum Kernland des Programms Mali-Nord. 3. Schwieriger Auftakt Im Juni 1994 kam die zögerliche Integration früherer Kämpfer der Rebellion in die malische Armee, inzwischen ein Standardverfahren der Friedensstiftung nicht nur in Mali, zu einem plötzlichen Halt. Die Kreisstadt Niafunké und andere kleine Landstädtchen der Region Timbuku wurden von Rebellen angegriffen. Damit begann hier der gewalttätigste Teil der Rebellion und eine systematische Repression und ethnische Säuberung gegen Tuareg und Araber. Einen Monat später, im Juli 1994, trafen die beiden deutschen Koordinatoren des Programms Mali-Nord in Mali ein. Sie konnten nur noch in Bamako bleiben, die vorgesehene Interventionsregion war nicht mehr zugänglich. Der Krieg war wieder ausgebrochen. Die Anzahl der Flüchtlinge in den mauretanischen Lagern verdoppelte sich von Mitte 1994 bis zum Jahresende. Es war schwierig herauszufinden, was in der Region passierte. Die Haltung gegenüber den Tuareg war ausgesprochen feindselig. Alle Nachrichten waren zensiert. Informationen liefen allein über das Commissariat au Nord. Damals entstand der Kontakt zwischen den beiden Deutschen und dem späteren natio­ nalen Koordinator des Programms Mali-Nord. Er war Tuareg und stammte aus Léré, einem der Brennpunkte des Konflikts in der Region. Im Oktober 1994 töteten Soldaten der malischen Armee den Direktor der Coopération Suisse bei dessen Projektbesuch in Niafunké. Von da an war die Region Timbuktu off limits für alle Ausländer. In Bamako herrschte Hysterie. Wer Kontakte mit Tuareg hatte, wurde beobachtet und die Staatssicherheit signalisierte der deutschen Seite, man solle besser darauf verzichten. Das Friedensprojekt schien sinnlos geworden zu sein.

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Es war der für das Programm Mali-Nord zuständige Vertreter des Commissaire au Nord, der den Deutschen sagte. „Dass Ihr hier seid und Inte­ resse zeigt, verstehen wir als einen Akt der Solidarität. Bleibt hier. Dieser Konflikt dauert nicht ewig. Wir brauchen Euch, sobald er abebbt.“ Die deutsche Seite verstand das und beließ das Team in Mali. Das war die entscheidende Voraussetzung für das spätere Gelingen. 4. In den Flüchtlingslagern Reisen in den Norden Malis waren nicht möglich, wohl aber Reisen in die Flüchtlingslager in Mauretanien. Die erste Reise der Verantwortlichen für das Programm Mali-Nord fand Ende 1994 statt. Sie wollten sich ein eigenes Bild von der Lage und von der Wahrnehmung der Flüchtlinge machen. Bassikounou liegt 400 km nördlich von Bamako. Dort befand sich das größte Lager. Zum Zeitpunkt des Besuchs trafen gerade die völlig erschöpften Frauen ein, die dem Massaker der malischen Armee in Amoskor, nördlich von Niafunké, im November entkommen waren. Die Lage in den Flüchtlingslagern war dramatisch, aber auf andere Weise als vermutet. Ein großer Teil der Bevölkerung hatte sich den Flüchtlingsstatus bereits gut zu Eigen gemacht: kein Einkommen, keine Verantwortung. Man dachte in Anspruchskategorien, sprach von der Verantwortung Malis oder der internationalen Gemeinschaft, trank Tee und wartete auf die nächste Lebensmittelverteilung. Es war schwierig, den Vertretern der Flüchtlinge, oft Lehrer oder frühere Funktionsträger der malischen Verwaltung, klar zu machen, dass sich niemand um sie schere und die Menschen in Bamako sich nicht fragten, was aus den Menschen in den Lagern werden solle. Viele der Malier im Süden wünschten sich eher, Tuareg und Araber blieben für immer auf der anderen Seite der Grenze, dann sei man diese Sorge los. Die Nachricht der deutschen Seite lautete: Sofern sie, die Flüchtlinge, ihre Haltung änderten, selbst die Initiative ergriffen und Vorstellungen entwickelten, wie sie zurückkehren und den Wiederaufbau in Angriff nehmen wollten, sei die deutsche Seite bereit, ihnen dabei zu helfen. Das sollte viel schneller der Fall sein, als man damals ahnen konnte. 5. Wo anfangen? Selbst in den gewalttätigsten Zeiten der Rebellion hatte es Gegenden gegeben, in denen die heimischen Tuareg neben ihren angestammten Nachbarn blieben. Léré im Osten zählte dazu. Es bot sich an, dort anzusetzen.



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Léré war vergleichsweise einfach zu erreichen und hatte zwei Vorteile: Léré liegt nahe an der mauretanischen Grenze und war von den Lagern aus leicht zu erreichen. Léré hatte zudem einen besonderen Status. Die erste Gruppe von in die malische Armee integrierten Rebellen, die dem wichtigen Mouvement Populaire de l’Azawad (MPA) angehörten, war hier unter dem Kommando eines integrierten Offiziers aus Kidal, einem der Hauptorte der Tuaregrebellion, stationiert. Diese Einheit garantierte Sicherheit für alle, vor Übergriffen anderer Mouvements, vor Banditen und vor der Repression der regulären malischen Armee. Die Einheit war nicht gänzlich integriert, weil die Armee ihr nicht traute. Man gab ihr z. B. weder einen offiziellen Zugang zu Fahrzeugen, insbesondere nicht zu den gepanzerten, noch zu Waffen und Munition. Diese Einheit war jedoch vor Ort, sie war bewaffnet und mobil, sie kannte das Terrain und sie war es, die das Gebiet effektiv kontrollierte. Wann immer eine Reise in den Norden erforderlich war, schlossen sich die Mitarbeiter des entstehenden Programms Mali-Nord den Militärkonvois nach Léré an. In den Flüchtlingslagern wurden die Vertreter der Bevölkerung ermuntert und finanziell unterstützt, ihre Herkunftsorte aufzusuchen, mit ihren früheren Nachbarn zu sprechen und sich Gedanken zu machen, wie sie ihre Rückkehr gestalten wollten. Ein Führer der Tuareg unternahm in dieser Angelegenheit mehrere Reisen zu den Fulbe im westlichen Zentralmali. Beobachter dieser Treffen berichteten, um die Häuser, in denen diese Gespräche stattfanden, bildeten sich Trauben von Menschen, die an den offenen Türen und Fenstern lauschten, was drinnen besprochen und verhandelt wurde. Solche Ausflüge waren nur in bestimmte Gegenden möglich. Léré war umgeben von einer „Sperrzone des Hasses“. Den Zugang zu ihr und die Fahrt auf den großen Routen durch sie hindurch kontrollierte die reguläre malische Armee. Die Gendarmerie wachte über die kleineren, zum Teil seit Jahren nicht mehr befahrenen Routen. Das Programm Mali-Nord benutzte diese Routen als erster wieder, zunächst mit Begleitschutz, später ohne, und öffnete sie auf diese Weise. Die Mittel, die Zone des Friedens auszuweiten, waren Kontakt und Dialog. Im Landstrich nördlich von Léré war die Lage anders. Die Gegend war entvölkert und gefährlich. Die meisten Dörfer waren verlassen. Es marodierten Rebellen und Banditen, Patrouillen der Armee gab es nicht. Die verbliebene Bevölkerung hatte sich oft tief in den Busch zurückgezogen. Wie ließ sich dieser Raum für den Frieden zurückgewinnen? 6. Der Beirat In Diskussionen über mögliche Strategien schlug ein Stellvertreter des Kommissars für den Norden vor, im Gebiet des Programms Mali-Nord ein

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Netzwerk der wesentlichen Führungspersönlichkeiten zu schaffen. Die Auswahl der in Frage kommenden Personen erfolgte mit größter Sorgfalt. Es galt diejenigen zu finden, von denen angenommen werden konnte, dass sie in den Bevölkerungsgruppen der Tuareg, Sonrhai und Bellah, die für die Beilegung des Konflikts die wichtigsten waren, einen starken Rückhalt hatten, dass sie gleichzeitig besonnen sowie politisch versiert und durchsetzungsfähig waren und es vermochten, Brücken sowohl zwischen den verfeindeten Bevölkerungsgruppen als auch zwischen diesen und der malischen Verwaltung und Politik zu schlagen. Selbstverständlich musste auch die malische Regierung und Verwaltung vertreten sein. Insgesamt konstituierten schließlich zehn Personen den Beirat, die verantwortlichen Koordinatoren eingeschlossen. Als Glückfall erwies sich die Auswahl der Repräsentanten der Gruppen der Tuareg, Sonrhai und Bellah, von deren Verständigung mehr als von jedem anderen der Erfolg des Programms abhing. Die wichtigsten Drei unter ihnen hatten seit dem Ausbruch der Rebellion nicht mehr miteinander gesprochen. Es war im Versammlungsraum des Programms Mali-Nord in Bamako, dass diese drei im Frühsommer 1995 sich das erste Mal wieder sahen und sprachen. Sie blieben Mitglieder des Programmbeirats bis zu dessen Auflösung im März 2010. Auf diesem ersten Treffen wurden auch gleich der Beirat etabliert und die nächsten Schritte in Anwesenheit aller Beteiligten abgestimmt. Sonrhai und Bellah hätten sonst das Eindringen des Programms in das Niemandsland leicht als einen Akt der Aggression interpretieren können. Der Programmbeirat ist ein ehrenamtliches Beratungsgremium. Seine Mitglieder erhalten kein Honorar und genießen keine sonstigen geldwerten Privilegien. Es gibt keine formale Beschlussfassung, keine Mehrheitsbeschlüsse, kein Quorum und kein Protokoll. Dieser Beirat tagt in der afrikanischen Tradition des Palavers. Jeder sagt, was er denkt, jeder weiß, was diskutiert wurde und was dabei heraus kam, und man einigt sich auf das, was von allen mitgetragen wird. In sechzehn Jahren gab es keinen einzigen Streit über Verfahrensfragen. Der Grundsatz der Kooptation wurde beibehalten. Mitglieder des Beirats verloren ihren Status auch während langer professioneller Abwesenheiten nicht. Aufgabe des Beirats war, die Strategie festzulegen und die Bevölkerungsgruppen in ausgewogener Weise an Macht und Mitteln teilhaben zu lassen. Jeder hatte das Recht, Kandidaten für Erkundungsreisen und Basis-Studien vorzuschlagen, jeder konnte die Orte benennen, an denen das Programm Mali-Nord Niederlassungen einrichten sollte und jeder konnte Mitarbeiter vorschlagen. Die Koordinatoren des Programms, ein Malier, zwei Deutsche,



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nahmen an allen Diskussionen teil, brachten ihren Standpunkt ein, folgten aber immer den ausdrücklichen Empfehlungen und den meisten Vorschlägen des Beirats. In keinem Fall musste man später von einer Standort- oder von einer wesentlichen Personalentscheidung abrücken. Überhaupt lag der Schwerpunkt immer auf Kontinuität. 7. Ausgewogene Beteiligung Das Prinzip der ausgewogenen Beteiligung herrschte bei jeder der Niederlassungen. Jede Stadt hat ihre eigene soziale und kommunikative Struktur. Am schwierigsten waren die Kreisstädte. Dort dauerte es lange, die Streitigkeiten der gegeneinander stehenden politischen Parteien, herrschenden sozialen Gruppen und Familien um den Zugang zu den Mitteln des Programms zu schlichten oder beizulegen. Nur Teile der malischen Territorialverwaltung haben je die ihr im Rahmen des Programms Mali-Nord vorbehaltene marginale Rolle akzeptiert. Sie war vielfach nicht vor Ort gewesen, als das Programm die Arbeit aufnahm. Und das Programm hatte den Gedanken der Dezentralisierung und der örtlichen Mit- oder Selbstbestimmung lange vor den ersten Gemeindewahlen (im Jahre 1999) aufgegriffen und umgesetzt. Viele der späteren Gemeinderäte waren bereits vor ihrer Wahl Ratgeber und Mittler des Programms Mali-Nord. Die Gemeindewahlen haben am modus operandi nichts grundsätzlich geändert. Die Bürgermeister und die Gemeinderäte sind seit der Schaffung der Gemeinden bei allen Planungen in der ersten Linie mit dabei. 8. Programmkontor und Niederlassungen Das Programm Mali-Nord, finanziert von der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (gtz) [heute: Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ)] und der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), hatte im Sommer 1994 seine Zentrale in Bamako als einen kleinen Kontorbetrieb im Viertel Badala, unweit der malischen Zentrale der GTZ, eingerichtet. Daran hat sich in sechzehn Jahren nichts geändert. Das schlichte Erscheinungsbild in Bamako und der einfache Zugang zur Koordination waren bewusst gewählt. Es sollte und durfte kein „Apparat“ entstehen. Für die Arbeitsweise und das Gelingen von Mali-Nord war dieser hochflexible und praxisnahe institutionelle Minimalismus wesentlich – und schon bei solcherart Programmentscheidungen werden nicht selten aus Prestige- und Proporzgründen, Patronage und anderen programmfremden Erwägungen und scheinbar unumgänglichen politischen Rücksichtnahmen schwerwiegende Fehler gemacht.

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Die Entscheidung, sich selbständig niederzulassen, hatte einen einfachen Hintergrund. Der erste Träger, das Commissariat au Nord hatte keinen Raum. Das Kommissariat war zudem ständig von Bittstellern und Projektemachern belagert, es wäre kein Ort zum Arbeiten gewesen. Nach ersten Versuchen mit integrativen Entscheidungsprozessen zwischen Kommissariat und dem Programm Mali-Nord erwies sich rasch ein Modell der delegierten Verantwortung als das am besten geeignete: gemeinsame Abstimmung im Großen, direkte und eigenverantwortliche Umsetzung vor Ort und rasche Berichterstattung nach oben. Anstelle des deutschen Begriffs vom „Träger“ setzte sich auf diese Weise das französische Konzept der Tutelle durch, der politischen Aufsicht. Die Arbeit des Programms vollzieht sich im Felde. Die Niederlassungen des Programms sind dessen Aushängeschild. Entsprechend wurden die Standorte jeweils mit Bedacht gewählt. Die Niederlassungen selbst sind schlicht gehalten und haben in ihrer Ausstattung und ihrem Stil einen hohen Wiederkennungswert. Bewusst hatte man von Anfang an auf Generatoren und Klimageräte verzichtet. Eine kleine Solaranlage sorgte für Beleuchtung und Funk. Neben einem Büro gab es ein paar chambres de passage, Lager und einen Hof mit Platz für Lieferungen aller Art: Werkzeug, Karren, Pflüge, Motorpumpen, Treibstoff, Düngemittel, Saatgut, Getreide usw. Die Niederlassungen dienten als lokale Kontore. Hier wurde verhandelt, geliefert und gezahlt. Es gab genug Platz auch für größere Versammlungen. Die Arbeitsmittel waren einfach. Es gab weder Schreibmaschinen noch Computer. Korrespondenz und Abrechnungen wurden handschriftlich mit Durchschlag erledigt. Computer hielten erst 2009 Einzug. Über die Standorte der Niederlassungen und deren personelle Besetzung entschied wesentlich der Beirat. Das Vorschlagsrecht lag beim Vertreter des jeweiligen Landstrichs oder Ortes. Es war die Sache der Koordination, bei den übrigen Personalentscheidungen auf ethnische Ausgewogenheit zu achten. Denn die Besetzung sollte immer die ethnische Zusammensetzung der Umgebung widerspiegeln. Zwei Leiter von Niederlassungen schieden auf eigenen Wunsch aus. Beide kandidierten 2002 für die Nationalversammlung und wurden Abgeordnete. Ansonsten gab es große Kontinuität. 2010 war der dienstjüngste Leiter einer Niederlassung seit acht Jahren im Amt, der Dienstälteste seit fünfzehn. 9. Den Bogen schlagen Unter dem Schirm des Beirats erweiterte das Programm sein Netzwerk von Niederlassungen, von Léré ausgehend. Am Ende bedeckte das Netzwerk der Niederlassungen ziemlich gleichmäßig den wieder erschlossenen Raum.



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Die Errichtung der ersten Niederlassung schuf noch eine angespannte Lage, weil diese Gründung den Wegelagerern und Banditen den unkontrollierten Rückzug nach Mauretanien abschnitt. Der Leiter der Niederlassung erhielt Drohungen und über viele Wochen beschützte ihn eine Sondereinheit des Mouvement Populaire de l’Azawad. Den Bogen von der nomadischen Zone zu den Sesshaften zu schlagen, war so lange schwierig, bis man auf der sesshaften Seite angekommen war. Sobald die Verbindung etabliert war, wich das Misstrauen und das Vertrauen stellte sich verblüffend schnell ein. Die Menschen nahmen intensiven Kontakt auf, sie teilten das Netzwerk an Informationen, Dienstleistungen, vor allem Transport, und Mitteln in völliger Transparenz. Die Funkverbindung der Niederlassungen untereinander bedeutete das Ende der Isolation und einen großen Zugewinn an Sicherheit. Drei Mal am Tag rief das Büro in Bamako jede Niederlassung nacheinander auf und alle hörten zu. So hatten alle Zugang zu den gleichen Nachrichten und Neuigkeiten und steuerten gemeinsam den Prozess zu deren Verbreitung. Insgesamt gab es dreizehn solche Niederlassungen, fünf waren es noch im Jahr 2010. Sieben Niederlassungen wurden nach getaner Arbeit geschlossen. Sie betrafen das ursprüngliche Interventionsgebiet des Programms. Wie schon erwähnt, musste auf politischen Druck hin das Interventionsgebiet von Mali-Nord nach Osten ausgeweitet werden. Diese Erweiterung ist ein Beispiel dafür, dass auch das Programm Mali-Nord nicht jedem politischen Begehren Paroli bieten konnte. Aus der Sicht der unmittelbar Programmbeteiligten im bamakeser Programmkontor ist die „Autonomiebilanz“ von Mali-Nord aber zufriedenstellend. II. Aussöhnung Die Brücke zwischen den Zonen der Nomaden und Sesshaften zu schlagen, wäre ohne vorherige Aussöhnung nicht möglich gewesen. Die Treffen zur Aussöhnung gingen auf die Initiative der Bevölkerung zurück. Das Programm finanzierte sie nur und besprach deren Zusammensetzung und Intentionen mit den Veranstaltern und Teilnehmern. Eines der ersten und entscheidenden dieser Treffen war klein. Es fand während der heißen Phase des Konflikts in der Region Timbuktu und deshalb im Geheimen statt. Der „Runde Tisch“ von Timbuktu im Juli 1995 sollte den versammelten Gebern zeigen, dass die Dinge auf dem rechten Weg sind und die Mittel nun fließen könnten und sollten. Das United Nations Development Programme (UNDP) finanzierte diese Konferenz. Der Beitrag des Programms Mali-Nord bestand darin, auf die Teilnahme der Flüchtlinge aus den mauretanischen Lagern zu achten.

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Einen Monat später schlug eine Gruppe von Notabeln ein weiteres Treffen vor. Sie hatten bei der malischen Regierung um dessen Finanzierung nachgesucht, ihr Antrag war jedoch abgelehnt worden. Sie waren aber weiterhin entschlossen, das Treffen in M’Bouna abzuhalten. Welche Rolle spielte das Programm Mali-Nord dabei? Es finanzierte die Veranstaltung, das war der entscheidende Punkt. Die Kosten waren bescheiden. Die Finanzierung war aber auch von Fragen und Vorschlägen begleitet: Wer sollte teilnehmen? Rasch stellte sich heraus: Die Initiatoren hatten nur Tuareg und Sonrhai vorgesehen. Das Programm schlug vor, auch die Fulbe aus konfliktrelevanten Gebieten mit einzubeziehen, das wurde akzeptiert. Es schlug vor, Vertreter der Flüchtlinge in den mauretanischen Lagern einzuladen, das wurde ebenfalls akzeptiert. Der Vorschlag, die Bellah aus verschiedenen Teilen des Programmgebietes zu beteiligen, war schwieriger durchzusetzen. Am schwierigsten war es, als die deutsche Vertreterin die Beteiligung von Frauen vorschlug und auf dieser beharrte. Diesen Punkt verstanden die Initiatoren zunächst nicht einmal: Die Frauen seien doch ohnehin dabei, sie betrieben doch die Küche. Aber schließlich nahmen Frauengruppen doch teil. Dieses Treffen übertraf nach Umfang und Art die Erwartungen der Organisatoren. Ein paar hundert Teilnehmer waren eingeladen worden, ein paar tausend kamen. Sie kamen auf Lkws oder Geländewagen, auf Eselsrücken, auf Kamelen oder zu Fuß, und sie veranstalteten ein großes Fest. Die Arbeitsgruppen – Sicherheit und Entwicklung – produzierten die Listes de besoins, die üblichen langen Listen, die aufzählen, was fehle und benötigt werde. Daran war nichts Besonderes. Entscheidend war die Atmosphäre: Musik, Tanz und Gesang. Theatergruppen gaben am Abend Parodien der Bürgerkriegsparteien zum Besten und die Zuschauer befreiten sich lachend von der Anspannung und Verkrampfung der vergangenen Jahre. Dieses Treffen, die Rencontre de M’Bouna, war das Signal für das Ende der kriegerischen Auseinandersetzung und ebnete den Weg für die Rückkehr. III. Lokales Wirtschaftswachstum statt Kompensationszahlungen Kompensationszahlungen waren eines der großen Themen, als im Jahr 1992 der Pacte National zwischen den Tuareg und der malischen Zentralregierung geschlossen worden war, ein Pakt ganz nach dem Muster der „Neuen Kriege“ und wie die späteren Ereignisse zeigten, schon Makulatur, kaum, dass er geschlossen war. Jedenfalls wollte jeder kompensiert werden – für die Zerstörung oder die Plünderung von Häusern und Geschäften, für den Diebstahl an Motorpumpen und Maschinen, für die durch den Bürgerkrieg und das Erliegen des Wirtschaftslebens erlittenen Schäden und Verluste. Das Programm Mali-Nord jedoch nahm den Betroffenen jede Illusion,



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über die Mittel der deutschen Entwicklungszusammenarbeit oder internationale Fonds Kompensationszahlungen zu erlangen. In seiner gesamten Laufzeit machte das Programm Mali-Nord nur drei Gesten persönlicher Kompensation: es setzte das Haus eines hochgeachteten Führers der Tuareg instand. Dessen Haus hatte eine aufgebrachte Menge im Frühjahr 1991 gestürmt und geplündert. Zum ethnischen Ausgleich dafür wurden auch ein Führer der Sonrhai und einer der Bellah bedacht. Deren Häuser waren zwar nicht zerstört worden, waren aber verfallen, weil sie aufgrund der Rebellion unbewohnt geblieben waren. Diese Gesten hatten eine beachtliche symbolische Bedeutung, nicht nur gegenüber den betroffenen Individuen, sondern sie wurden – ganz richtig – als Verbeugung von den betroffenen Volksgruppen verstanden. Wirkliche Entschädigung konnte nur in lokalem Wirtschaftswachstum liegen. Jeder, der zu diesem Wachstum beitrug und an ihm teilhatte, jeder Bauer, Handwerker, Händler, Fuhrunternehmer, jeder Nutznießer öffent­ licher oder privater Investitionen würde dadurch entschädigt. Deswegen richtete sich alle Aufmerksamkeit auf produktive Investitionen. Um Ungleichgewichte zu vermeiden, ging es immer darum, den Prozess der Zuteilung von Ressourcen transparent, öffentlich und gerecht zu gestalten. Aus diesem Grund vermied das Programm grundsätzlich Absprachen hinter verschlossenen Türen, die einflussreiche Mitglieder der Gesellschaft meist bevorzugen. IV. Dynamik der Nothilfe Das Programm Mali-Nord hatte anfangs nur sehr begrenzte Mittel zur Verfügung. Mittel, die man nicht hatte, musste man auftreiben. Das institutionelle Umfeld erwies sich als günstig. Die internationale Gemeinschaft war sich der Risiken und Zerbrechlichkeit des Friedensprozesses bewusst und es gab einen deutlich spürbaren politischen Willen, die Folgen der Rebellion zu überwinden. So eröffnete sich dem Programm Mali-Nord die Chance, in der Region Timbuktu zu einer Art Clearing-Stelle zwischen denen zu werden, die Hilfe brauchten, und denen, die diese zu finanzieren bereit waren. Nur selten befand man sich in der privilegierten Lage, die Dinge in Ruhe abwägen zu können, bevor man sich entschied. Meist musste man handeln, ohne sich ein gesamtes Bild machen zu können. Man musste Risiken eingehen und dabei nach Plausibilität verfahren. Unter dem Druck von Notlagen zu handeln, erfordert rasche, klare und für alle verständliche Entscheidungen. Man nahm sich dennoch immer die Zeit, abzuwägen, ob man gerade einen Präzedenzfall schuf oder gar Gefahr lief, die Zukunft zu verbauen.

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Alle beteiligten Parteien mussten sich bei den Entscheidungen über Inhalt und Grenzen des gegenseitigen Engagements im Klaren sein. Der unumgängliche Prozess der ständigen Aushandlung und Vermittlung war der aufwendigste Teil der Arbeit in den Jahren 1995 bis 1997. Anführer zurückkehrender Flüchtlingsgruppen hatten oft völlig unrealistische Vorstellungen von Art, Form und Umfang der Leistungen des Programms Mali-Nord. Verhandlungen führten bei Erfolg immer zu einem vertraglichen Abschluss. Der Inhalt des Vertrags wurde vor der Unterschrift deutlich und laut verlesen, übersetzt und erläutert. Die Absicht war, gegenseitig verbindliche Absprachen zu treffen. Natürlich konnte das Programm die andere Seite nicht zwingen, ihren Teil der Vereinbarung einzuhalten, wohl aber künftige Hilfestellungen davon abhängig machen, dass zuvor eingegangene Verpflichtungen eingehalten und Eigenleistungen erbracht worden waren. Das förderte Transparenz und Verlässlichkeit. V. Entwicklungsorientierung Wichtig war es, alle kurz- und mittelfristigen „Nothilfe“-Maßnahmen, wie der terminus technicus der Entwicklungszusammenarbeit in diesem Fall heißt, so auszurichten, dass sie die längerfristige Entwicklung förderten und nicht behinderten. Zugleich sollten alle Nothilfemaßnahmen, und die Mittel dafür waren ja nicht unerheblich, von Anfang an die lokalen Wirtschaftskreisläufe durchlaufen. Das ging manchmal etwas langsamer, bedeutete aber nicht notwendig immer Verzögerungen. Vor allem setzte es eine schlagkräftige, dezentrale Organisation und eine starke Verankerung vor Ort voraus. Vier Beispiele sollen das erhellen. Es sind Beispiele für Problemlagen, die sich so oder ähnlich an ungezählten Orten in Afrika südlich der Sahara und sicherlich auch anderswo ereignen. Erstes Beispiel: Die ab Sommer 1995 aus Mauretanien in Lkw-Konvois des UNHCR zurückkehrenden Flüchtlinge waren in einem Durchgangslager für ein paar Tage zu verpflegen. Sollte das Programm Mali-Nord dort im Auftrag des Hochkommissariats für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) mit eigenem Personal eine Großküche betreiben? Für die lokale Wirtschaft war es vorteilhafter, den Flüchtlingen ein kleines Verpflegungsgeld von € 1,50 pro Mahlzeit zu zahlen. Die Frauen vor Ort richteten Garküchen ein, und bereiteten Essen vor, bevor die Konvois eintrafen. So waren vor Ort alle beschäftigt und erzielten eigenes Einkommen. Zweites Beispiel: Alle Rückkehrer und Vertriebenen brauchten eine Unterkunft. Beim UNHCR gab es dafür in Pakistan gefertigte Zeltbahnen aus leichtem Segeltuch, hinreichend für eine Familie. Sie zirkulierten auf dem Schwarzmarkt im Norden Malis, kosteten etwa fünfzig Euro pro Stück; lokale Wertschöpfung gleich Null. Vom Frühjahr 1995 bis etwa Mitte 1997



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kaufte der Leiter der Niederlassung des Programms Mali-Nord in Léré an jedem Markttag die gesamte Wochenproduktion an geflochtenen Matten auf, jeweils viele hundert, jede für einen Euro und fünfzig Cents. Diese Matten dienen im Norden Malis als Außenhaut der Hütten, als Bodenbelag und als Schlafmatten. Pro Familie brauchte man rund dreißig Stück davon. Frauen stellen diese Matten aus Palmblättern her. Die lokale Wertschöpfung lag bei hundert Prozent. Alles für den Aufkauf von Matten ausgegebene Geld durchlief noch am gleichen Tag mehrere Hände. Es diente den Frauen zum Einkauf des Lebensnotwendigen und kurbelte die lokale Wirtschaft spürbar an. Hinzu kamen die lokal hergestellten Seile aus Ziegenlederstreifen, die Ledereimer und Holzrollen, die man braucht, um Wasser aus den Brunnen zu schöpfen. Zählte man Anfang 1995 noch zwei Lkw und acht klapprige Geländewagen am Markttag in Léré, so hatte sich deren Zahl zwei Jahre später verzehnfacht. Drittes Beispiel: Um die wichtige Kreisstadt Goundam herum befanden sich Ende 1995 fast vierzigtausend Bellah in Rundhütten aus Matten. Als Vertriebene fristeten sie dort ein elendes Dasein und wollten so bald wie möglich an ihre Herkunftsorte im nördlichen Seengebiet zurück. Wie sie zurück bringen? Mit Lkw-Flotten wie die Flüchtlinge aus den mauretanischen Lagern? Das Programm Mali-Nord optierte für die traditionelle Methode: für Eselskarawanen. Hunderte von Eseln wurden in der Region aufgekauft und den zurückwandernden Bellah-Familien übereignet. Der Mehrwert lag bei einhundert Prozent. Die Verkäufer der Esel investierten den Erlös in den Ausbau ihrer verfallenen Hütten oder in den Kleinhandel. Den Bellah dienten die Esel an ihren Heimatorten als Lasttiere, z. B. um aus benachbarten Orten Wasser heranzubringen, bis die eigenen Brunnen wiederhergestellt waren. Viertes Beispiel: Während einer drohenden Hungersnot in der Trockenzeit 1997 / 98 in jenem Seengebiet nördlich von Goundam, sprich: am Lac Faguibine, waren achthundert Tonnen Lebensmittel in die schwer zugänglichen Dörfer und Ansiedlungen zu verteilen. Das Programm entschied sich gegen die äußert kostenintensive Verteilung per Lkw. Die Dörfer erhielten stattdessen eine finanzielle Zuwendung für die Selbstabholung ihrer Lebensmittel mit Eseln und Kamelen. Vielleicht hat es ein paar Tage länger gedauert, bis die Lebensmittel bei ihnen eintrafen, aber die Abholung hatte die gesamte Bevölkerung mobilisiert und die Kosten des Transports in den lokalen Wirtschaftskreislauf eingebracht. Die Wertschöpfung lag auch hier bei einhundert Prozent. Grundsätzlich galt im Programm Mali-Nord die Regel: lokale Beschaffung vor regionaler, regionale Beschaffung vor nationaler, nationale Beschaffung vor internationaler.

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VI. Lokales Wissen mobilisieren Der traditionelle Wirtschaftskreislauf im Norden Malis unterliegt dem Jahresrhythmus von Regen- und Trockenzeit und jedes lokale Produkt hat in diesem Zyklus seinen festen Platz. Während der Regenzeit kann man keine Häuser aus Lehm bauen, während der Trockenzeit kann man mangels Wasser keine Lehmziegel herstellen. Getreide kauft man unmittelbar nach der Ernte, usw. Die Niederlassungen des Programms mussten sich dem jeweiligen lokalen Rhythmus anpassen. Im Binnendelta des Niger sind Massentransporte entweder während des hohen Wasserstandes per Boot oder während des niedrigen Wasserstandes per Lkw möglich, also etwa sieben Monate im Jahr. Während der restlichen fünf Monate sind sie extrem schwierig und deshalb sehr teuer. Es dauerte ein paar Jahre, bis man die nach Lokalität unterschiedlichen Rhythmen kannte und die Bevölkerung drängen konnte, den landwirtschaftlichen Kalender minutiös einzuhalten. Alle Lieferungen sind Monate vor den eigentlichen Maßnahmen zu veranlassen. Baumaßnahmen in der Region hängen von der rechtzeitigen Lieferung von Natursteinen aus einem Steinbruch nahe der Kreisstadt Goundam ab sowie von grobem Kies aus dem Flussbett des Niger. Auch hier muss man also im Jahresrhythmus denken und handeln. Bei Nahrungsmittelhilfe galt als Politik: rechtzeitig (bald nach der Ernte) und vor Ort kaufen, vor Ort einlagern und Nahrungsmittel vornehmlich einsetzen, um (weit mehr) Nahrungsmittel zu produzieren. Die internationale Devise dafür lautet: food for work! Zwischen 1995 und 2000 kam es zu drei größeren Nahrungsmittelkrisen. Alle drei wurden bei Beachtung dieser Prinzipien mit Hilfe relativ kleiner Liefermengen gemeistert. Die Mitarbeiter des Programms lernten, nicht zu tun, was sie selbst für richtig hielten, sondern auf die Bevölkerung zu hören und die Dinge aus deren Augen zu betrachten. Z. B. variieren die geographischen Bedingungen im Interventionsgebiet stark von einem Landstrich zum anderen, zuweilen sogar von Ort zu Ort. Nichts lässt sich ohne Kenntnisse der Menschen planen, die dort ansässig sind, jede Ecke kennen und jedes Zeichen und jede Wetterlage interpretieren können. Die „Experten“ einer Lokalität sind die für das anstehende Problem jeweils relevante lokale Bevölkerung. Das gilt auch für die Projekte der Entwicklungszusammenarbeit. Nichts von dem, was das Programm tat, war für die Region und die Menschen neu. Die Bevölkerung hat über zwei oder drei Generationen eine sehr lebhafte Erinnerung an lokale Entwicklungsmaßnahmen. Sie hat eine klare Einschätzung, was Aussicht auf Erfolg hat und was nicht.



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Diese simple Strategie, auf die lokale Bevölkerung zu hören, hatte den Vorteil, dass man ohne langes Zögern relativ große Summen in die lokale Wirtschaft einbringen konnte, um so auf mittlere Sicht ein nachhaltiges, sich selbst tragendes Wirtschaftswachstum anzustoßen. VII. Lokale Wirtschaftskreisläufe Das Netzwerk der lokalen Austauschbeziehungen war bereits während der beiden großen Sahel-Dürren der 1970er und 1980er Jahre brüchig geworden. Die Rebellion und in ihrer Folge die Repression zerstörten, was noch gehalten hatte. Deshalb hing jede wirtschaftliche Wiederbelebung an einem Ort von der Wiederbelebung ihrer jeweiligen Partnerlokalität ab. Im Gebiet des Programms Mali-Nord bilden die lokalen Wochenmärkte das Rückgrat des wirtschaftlichen Austauschs. Hier treffen die Ökonomien aufeinander, zwischen Stadt und Land, zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West, zwischen Nomaden und Sesshaften und letztlich auch zwischen den Staaten: Mauretanien, Mali, Algerien. Lokale Wirtschaftskreisläufe lassen sich nicht sprunghaft beleben, sie wachsen in marginalen Schritten und Schüben. Nachfrage und Angebot müssen sich im Einklang bewegen, sonst steigen nur die Preise. Wichtig ist deshalb, die Mittel dort einzusetzen, wo die Not am größten ist und wo der Mitteleinsatz am meisten Wirkung verspricht. Zugleich ist der Einsatz der Mittel so regelmäßig wie möglich und vor allem richtig zu dosieren: Die Hebelwirkung muss spürbar sein, darf den Markt aber nicht überfordern. Die Flüchtlinge waren in den Lagern relativ gut versorgt. Ende 1994 hatten sie sich dort an eine Infrastruktur gewöhnt, von der sie zu Hause nur träumen konnten. Aus Bohrbrunnen mit Solar-Pumpen bezogen sie kostenlos sauberes Trinkwasser in beliebiger Menge. Die gut bestückten Lager des UNHCR boten alles Lebensnotwendige. Für die Kinder gab es Kindergärten und Schulen. Die Frauen hatten die Wahl zwischen Alphabetisierung, Kursen in Lederbearbeitung, Stricken, Häkeln, Seifenherstellung, Gemüseanbau und Geburtshilfe. Wenig davon hatte mit der späteren Wiedereingliederung in Mali zu tun. Dort musste man zwischen harschen Alternativen wählen und sich eine wirkliche Überlebensstrategie zurechtlegen. Niemand war bereit, den Flüchtlingen ihre Brunnen, Siedlungen oder Dörfer aufzubauen, wenn sie das nicht selbst in die Hand nähmen. Von nun an lautete die Formel wieder: „Nahrung für Arbeit“ (food for work). Beschäftigung und Einkommen waren die Schlüsselbegriffe. Wie konnte man die größtmögliche Zahl an Menschen bei der Rückführung, bei der Wiedereingliederung und beim Wiederaufbau beschäftigen? Das Programm Mali-Nord entschied sich für die nahe liegende Option: Jede Maßnahme

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wurde durch den lokalen Wirtschaftskreislauf geleitet und trug auf diese Weise dazu bei, dessen Volumen spürbar wachsen zu lassen und das Geflecht an Austauschbeziehungen wiederherzustellen. 1. Wiederaufbau Eines der Vehikel, wirtschaftliches Wachstum anzuregen, war das Wiederaufbauprogramm ab Ende 1997. Fünfzig öffentliche Gebäude sollten neu gebaut werden, vor allem Schulen mit sechs Klassenräumen, fünfzig weitere sollten wieder hergestellt, umgebaut und modernisiert werden. Die Aufträge für dieses Bauprogramm mit einem Volumen von immerhin EUR 3,5 Millionen gingen an lokale Unternehmer. Diese verpflichteten sich, die ungelernten Hilfskräfte jeweils an der Baustelle vor Ort zu rekrutieren. Dieses Investitionsprogramm schuf in den drei Jahren seiner Laufzeit viel direkte und indirekte Beschäftigung. Auf einer einzigen Baustelle arbeiteten zeitweise bis zu sechzig Arbeitskräfte. Schulleiter und die Verwaltung insistierten für die Neubauten auf Beton, obgleich eine Studie vor Beginn des Programms, durchgeführt von einem renommierten Architekten in Timbuktu, Temperaturen von mehr als vierzig Grad Celsius in Klassenräumen dieser Art nachgewiesen hatte. Der Architekt schlug stattdessen den Einsatz mechanisch verdichteter und luftgetrockneter Lehmziegel innen und gebrannter Ziegel oder Natursteinen außen vor. So wurde auch verfahren. Ob die Baustoffe nun aus Brennöfen oder aus lokalen Steinbrüchen kamen, die Wertschöpfung war sehr hoch. Nur Zement und Baustahl kamen von außen, der größere Teil der Mittel floss in lokale Löhne, für das Sammeln von Sand, Kies oder Steinen oder die Anfertigung der Ziegel. Die an den Bauten erzielten Einkommen, die Löhne der Arbeiter und die Entgelte der Baustoffhändler und Fuhrunternehmer förderten den lokalen Wirtschaftskreislauf in erheblichem und sofort spürbarem Umfang. Es gab keinen Anlass, ein privates Bauprogramm für die Heimkehrer zu finanzieren. Lokale Häuser werden aus Lehm gebaut. Die Rückkehrer fanden es aber sehr schwer, die Mittel für die meist aus Wellblech hergestellten Türen und Fenster und die Balken für die Decken aufzubringen. 1996 begann das Programm Mali-Nord deshalb, Türen und Fenster an Bauten zu finanzieren, deren Mauern bereits bis zur Kopfhöhe reichten. Der Gegenwert für eine Tür und ein Fenster entsprach fünfzig Euro. Von 1996 bis 1999 wurden tausende von Türen und Fenstern vor Ort hergestellt und finanziert. In vielen Dörfern der Region entstanden so neue Wohnhäuser. Wirtschaftliche Anreize müssen einfach, transparent, leicht anzuwenden und zu überwachen sein. Das Programm konzentrierte sich ganz auf kleine Zuschüsse und vermied jede Form von Kreditvergabe (Ausnahme, s. den



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folgenden Abschnitt VII.2.). Es hätte keine Möglichkeit gegeben, die Rückzahlung zu überwachen und es mangelte an jeder Form von sozialer Kontrolle, um etwaige Darlehensforderungen einzutreiben. 2. Viehzucht In dem vornehmlich nomadischen Milieu des Interventionsgebietes ist die Viehzucht der Schlüsselsektor. Der „Wiederaufbau der Herden“ (la reconstitution du cheptel) war der Schlüsselbegriff. Die meisten insistierten, hier solle das Programm Mali-Nord seinen wirtschaftlichen Schwerpunkt setzen. Was hätte das geheißen? Man hätte von den Eigentümern großer Herden Vieh kaufen und dieses früheren Tierhaltern übereignen sollen, die keine eigenen Herden mehr hatten. Mit anderen Worten: Die vorhandenen Bestände sollten umverteilt werden. Damit ließ und lässt sich wirtschaftliches Wachstum nicht erzeugen. Die natürliche Vermehrungsrate des Viehs lässt sich durch Umverteilung ja nicht spürbar anheben. Außerdem brauchen Herden eine bestimmte Größe, um sich wirtschaftlich zu rentieren. Diese liegt im Norden von Mali bei etwa einhundert Kopf Vieh pro Hirtengruppe. Die Tiere hätten sich nach kurzer Zeit tendenziell in der gleichen Herde wiedergefunden, aus der sie stammten. Das Programm konzentrierte sich deshalb, und auch das nur über wenige Jahre, auf Tiergesundheit und -nahrung. Das Programm richtete die Räumlichkeiten einiger veterinärmedizinischer Dienste vor Ort wieder her und rüstete diese mit dem Notwendigsten aus: Impfparks, Kühlschränke, Motorräder, Instrumente. Es finanzierte die ersten Impfkampagnen und subventionierte die folgenden degressiv. Nach einigen Jahren trugen die Viehhalter die Kosten dafür wieder selbst. Das Milchvieh brauchte in der Trockenzeit Kraftfutter. Das wurde in Form des einzigen wirklichen Kreditsystems des Programms finanziert. Viehfutter ist in Mali ein spekulatives und einträgliches Geschäft. Die re­ gionalen Landwirtschaftskammern verteilen die Lizenzen. Zugang hat, wer zum Klientel gehört. Große Händler versuchen, den Handel zu monopolisieren, kleine haben keinen Zugang. Das Programm Mali-Nord bündelte die Nachfrage zu Liefermengen von mehreren Hundert Tonnen, kaufte direkt ab Werk, leitete das Futter an die Einzelhändler weiter. Die gaben es zu einem vorher bestimmten Abgabepreis, der auch eine Marge für den Transport, die Lagerung und das Risiko einschloss, an die Viehhalter weiter. Diese Versorgung lief über vier Jahre reibungslos. Danach lief sie unter den normalen Bedingungen des malischen Marktes weiter. Die wichtigste Investition in die Viehhaltung war jedoch der Ausbau von Brunnen. Die Mehrzahl der zuvor vorhandenen Brunnen war verlassen oder

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von der Armee zerstört. Die zurückkehrende Bevölkerung brauchte Brunnen für sich selbst wie vor allem für ihre Herden. NRO hatten nach den Saheldürren neue Brunnenbautechniken eingeführt. Diese erforderten für den Einsatz von Maschinen und Allradlastkraftwagen erhebliches Kapital. Darüber hinaus zeigte die Zusammenarbeit mit den NRO, dass der Brunnenbau viel zu langsam vonstatten ging. Das Programm Mali-Nord musste also seine Herangehensweise überdenken und fragte wieder die einschlägigen lokalen „Experten“, die Viehhalter, wie sie selbst daran gingen. Sehr bald schälte sich eine vernünftige und transparente Teilung der Kosten heraus. Aus internationalen Mitteln, d. h. von der European Commission – Humanitarian Aid and Civil Protection (ECHO), wurden die Kosten für den Baustahl, den Zement und die Fachkräfte, die Brunnenbauer, übernommen. Das Baumaterial wurde so nah an die Baustelle gebracht, wie ein Lastkraftwagen fahren konnte. Es war Sache der Bevölkerung, Zement und Baustahl von dort bis zum Brunnen zu befördern. Meist geschah dies per Kamelkarawane. Es war zudem Sache der Bevölkerung, die Baustelle mit Wasser zu versorgen, beschwerlich und aufwendig, sowie mit Sand und Kies. Diese Aufgabenteilung war für die Viehhalter zwar eine große Belastung, aber als künftige Nutznießer nahmen sie diese auf sich. Alle waren an der Arbeit, für den Erfolg waren die Betroffenen selbst verantwortlich und die Kosten sanken auf ein Sechstel der früheren Schätzungen. Die Anzahl der hergerichteten Brunnen stieg sprunghaft an. Am Ende des Programms gaben mehr als zweihundert Brunnen wieder Wasser. Auch hier zeigte sich ein Effekt für den gesamten Wirtschaftskreislauf. Léré wurde innerhalb weniger Jahre zum bedeutendsten Umschlagplatz für Lebendvieh im Norden Malis. 3. Traditioneller Ackerbau Den Trockenfeldbau bezeichnet man in diesem nördlichen Landstrich zu Recht als Dünenfeldbau. In aller Regel werden Hirse oder Sorghum auf Dünen angebaut. Die Erträge sind ungewiss und meist spärlich. Alle fünf bis sieben Jahre darf von einer guten Ernte ausgegangen werden. Der Trockenfeldbau dient der Subsistenz, er ist kein Wachstumssektor. Im Binnendelta des Niger basiert die Landwirtschaft hauptsächlich auf Nachflutkul­ turen (cultures de décrue), Sorghum, Bohnen, Süßkartoffeln und lokalem Gemüse. Die Anbauflächen hängen vom Wasserstand während der Flut ab. Alles zusammen handelt es sich in dem für das Programm Mali-Nord relevanten Gebiet um eine Fläche von mehr als einhunderttausend Hektar. Schwerpunkt des Programms Mali-Nord war der größte See dieser Zone, der Lac Faguibine, mit einer Ausdehnung von 55.000 Hektar. „See“ ist



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heute eine eher irreführende Bezeichnung, es handelt sich um eine flach überflutete Fläche mit einem äußerst fruchtbaren Boden, der die Feuchtigkeit speichert und dessen Kapillarsystem das Wasser unterirdisch weitertransportiert. Der Lac Faguibine ist von hohen Dünen umgeben, die Anfahrt ist äußert schwierig. Viele Tausend Bellah waren ohne Mittel oder Vorräte an das Nord- und Ostufer des Sees zurückgekehrt. Es war fast ausgeschlossen, Nahrungsmittel von außerhalb hierher zu bringen. Der einzige Ausweg war, den landwirtschaftlichen Anbau rasch und gründlich zu unterstützen und so die Lebensmittel im Faguibine selbst zu produzieren. Das ging nur mit lokalen Techniken und lokalem Saatgut. Das Programm Mali-Nord ließ Hacken und Äxte lokal herstellen, mobilisierte die Bevölkerung, um die Zuflüsse des Sees von Sand und anderen Hindernissen zu befreien, half, die Schädlinge zu bekämpfen, die sich auf die jungen Pflanzen und die Ernte stürzten, beschaffte und verteilte das Saatgut. Mit dieser im wahrsten Sinne des Wortes „lokalen“ Politik gelang es, die zurückgewanderte Bevölkerung vor Ort zu ernähren. Die Lebensbedingungen in diesem Landstrich sind und bleiben hart. Aber der Lebensstandard stieg rasch und die Menschen konnten sich Reserven schaffen. Eine kleine Subvention hatte anfangs dazu gedient, den Familien Kleinvieh an die Hand zu geben, um so rasch wie möglich Milch für die Kinder zu produzieren. Diese Herden wurden durch den Verkauf von Getreide und den Zukauf von Vieh auf den Märkten um den Lac Faguibine herum bald von alleine aufgestockt. VIII. Bewässerung und Armutsbekämpfung Trotz seines immensen landwirtschaftlichen Potentials wies das Gebiet von Mali-Nord ein großes Nahrungsmitteldefizit auf. Darüber hinaus hatte sich die Bevölkerung seit den beiden Saheldürren an kostenlose Lebensmittelverteilungen gewöhnt. Dieser circulus vitiosus musste aufgebrochen werden. Die moderne Landwirtschaft bot sich als Lokomotive für wirtschaft­ liches Wachstum an. Der Niger hat in seinem Binnendelta ein sehr geringes Gefälle. Die ufernahen früheren Überschwemmungsflächen, die heute für die künstliche Bewässerung zum Reisanbau hergerichtet werden, sind nur mit Motorpumpen zu bewässern. Aufgrund vorangegangener Entwicklungsprojekte und Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen gab es im Jahr 1995 viele Menschen vor Ort, die seit zehn Jahren und mehr etwas von der Kleinbewässerung mittels Motorpumpen verstanden. Allerdings hatte sich als Antwort auf die große Armut und den starken Bevölkerungsdruck nicht das individuelle Bewässerungsfeld mit eigener Motorpumpe und entsprechend

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hohen Investitionskosten pro Hektar durchgesetzt, sondern das gemeinschaftlich bewirtschaftete und dörflich organisierte Bewässerungsfeld von zwanzig bis vierzig Hektar, der sogenannte „PIV“ (périmètre irrigué villageois). Anfänglich ging es für das Programm Mali-Nord nur um reine Notmaßnahmen, um Instandsetzung dessen, was durch die Ereignisse zerstört worden oder verfallen war. Aber mit jeder Anbausaison erweiterte sich der Kreis an Kundigen und lokalen Unternehmern. Drei Unternehmen, die sich nach einigen Jahren als die besten herausgestellt hatten, führen heute alle technischen Arbeiten durch. Ihre profunde Orts- und Menschenkenntnis sorgt für den fristgerechten Ablauf. Die soziale und wirtschaftliche Planung der Kleinbewässerung fand in Zusammenkünften vor Ort statt. Hier traf die Leitung des Programms MaliNord Bürgermeister, ausgewählte Gemeinderäte, Vertreter der Kreisräte, aber auch einflussreiche Dorfchefs, Imame und Notabeln, geübt darin, konfligierende Interessen abzuwägen, auszugleichen und zu schlichten. Gemeinsam mit ihnen entschied das Programm Mali-Nord, welche Dörfer und Gruppen in den folgenden Jahren in den Genuss von Bewässerungsanlagen für den Reisanbau kommen sollten. Die kleinbäuerliche Kleinbewässerung breitete sich aus wie eine Lawine. Der Anbau von Reis ist im Binnendelta seit Urzeiten üblich, die Kultur selbst also bekannt. Neu sind nur die Wirtschaftsweise und die unumgängliche Motorisierung. Die Menschen aus den benachbarten Dörfern sahen, wie Herrichtung und Bewirtschaftung an einem Ort funktionieren. Sie halfen beim Aufbau mit und bekamen etwas von der Nahrungsmittelhilfe ab, sie halfen bei der Ernte und gingen mit einem kleinen Teil von ihr nach Hause. Von da an setzen sie alles daran, dass ihr Dorf oder im Falle eines größeren Dorfs ihre Gruppe ebenfalls einen eigenen PIV bekommt. Kleinbewässerung lässt sich mit Erfolg nur flächendeckend entwickeln. Man braucht ein konzentriertes Netzwerk von Lieferungen an Treibstoff, Öl, Verschleiß- und Ersatzteilen, Austauschaggregaten, Zubehör und Dienstleistungen wie Reparaturen, Beratung, Lagerung. In den letzten Jahren ist im Binnendelta des Niger durch die Kleinbewässerung ein modernes Wirtschaftssystem entstanden. Die Landwirtschaft hat den Rhythmus der Subsistenz verlassen. Ein Teil der Ernte muss verkauft werden, um die Inputs der folgenden Saison zu bezahlen. Je sorgfältiger die Bewirtschaftung der Reisfelder, desto höher die Erträge. Der absoluten Armut entkommen die meisten Nutzer in Folge der Kleinbewässerung schon nach zwei, drei Anbauzyklen. Danach geht es um die



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Bildung von Reserven und rasch auch um die vielen kleinen Investitionen des modernen Lebens: Mobiltelefon, Moped, Fernsehen. Dabei erweist sich, dass der individuelle Wohlstand bald wesentlich von der eigenen Leistung abhängt. Die gesellschaftliche Struktur beginnt sich zu verändern. Arbeit, individuelle Nützlichkeit und individueller Verdienst treten an die Stelle des durch die Geburt definierten gesellschaftlichen Rangs. IX. Die zivile Gesellschaft und die Regelung von Bodenstreitigkeiten Bodenstreitigkeiten zählen zu den Quellen langwieriger, erbitterter und manchmal blutiger Konflikte. Im Norden Malis ist das nicht anders. Im Zuge der Rebellion und der anschließenden staatlichen Repression gegen die Tuareg hatte auf Seiten der Sonrhai die Neigung abgenommen, sich mit den Tuareg Grund und Boden zu teilen. Der Name der Sonrhai-Milizen Ganda Koy („Herren der Erde“) war Programm. Um so herber war die Enttäuschung, als die Tuareg aus den Flüchtlingslagern und Fluchtorten innerhalb Malis zurückkehrten und ihren früheren Platz zurückforderten. Hinzu kam, dass das Kleinbewässerungsprogramm von Mali-Nord selbst wiederum Konflikte hervorbrachte, weil durch die Investition in ein Bewässerungsfeld Neid und Missgunst bei den Nachbarn entstanden. Mali-Nord hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Konflikte mittels Lösungsmechanismen der zivilen Gesellschaft und weitgehend ohne den Staat zu bewältigen. Der Staat tritt auf dem Lande sowieso kaum in Erscheinung. Am Beginn stand wieder eine Konferenz, die im Herbst 1997 den Anfang machte, die Bodenstreitigkeiten im Flusstal des Niger beizulegen. MaliNord kofinanzierte die Konferenz. Tatsächlich wurden auf der Konferenz zahlreiche örtliche Konflikte um Grund und Boden beigelegt. Vor allem aber einigte man sich auf die Vermittlung der Notabeln und fand auf diese Weise einen Weg, ohne die staatliche Justiz auszukommen. Das erwies sich gerade bei den strittigsten Angelegenheiten als hilfreich. Immerhin konnten 21 von 25 größeren Konflikten um Grund und Boden, die in der Zeit zwischen 1997 bis 2010 entstanden sind, beigelegt werden. Vier komplizierte und Jahrzehnte alte Fälle sind noch vor Gericht anhängig, eine Entscheidung ist nicht in Sicht. So ist es der zivilen Gesellschaft im Norden Malis gelungen, die virulenten Bodenkonflikte von sich aus zu lösen und sich dabei auf traditionelle Mittel zu besinnen. Die Aufgabe des Programms Mali-Nord lag darin, eine ganze Palette von Maßnahmen zur Konfliktregelung anzuregen und dort, wo es finanzieller Mittel bedurfte, das Notwendige zur Verfügung zu stellen, insbesondere die Investition in die Bewässerung selbst.

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Als das Programm Mali-Nord 1994 seinen Anfang nahm, ging man davon aus, jede dauerhafte Investition in Grund und Boden mit ungeklärten Nutzungsrechten hätte nur Konflikte zur Folge und sei deshalb zu unterlassen. In der Praxis erwies sich das Gegenteil als richtig. Verhärtete Konflikte ließen sich am besten mit Hilfe von Investitionen lösen, die allen Beteiligten mehr Produktivität und gegenseitigen Nutzen eintrugen. X. Schluss: Möglichkeiten und Grenzen der Entwicklungshilfe „Greed“ und „Grievance“, „Gier und Groll“ waren im Norden Malis ungleich verteilt. Die Tuaregrebellion hatte die Missstände im Norden Malis auf ihre Fahnen geschrieben. Bedient hat sie schließlich vor allem die Habgier. Sie wächst nach dem Motto „Gelegenheit macht Diebe“. Das gilt für beide Seiten: die Rebellen auf der einen wie die malische Armee oder Staatssicherheit auf der anderen. Entsprechend verläuft die Entwicklung jenseits des Interventionsgebietes von Mali-Nord, in und um Timbuktu, nördlich bis zur algerischen Grenze, insbesondere im Becken von Taoudeni mit seinen Erdölvorkommen, sowie in Kidal und im Adrar des Ifoghas in ganz anderen Bahnen. Es ist ein Raum, in dem der Staat spätestens seit 1991, dem Jahr des Sturzes des ehemaligen malischen Präsidenten Moussa Traoré, nicht mehr gegenwärtig ist. Es ist eine „Freihandelszone“ der Waffen- und Drogenhändler, des maghrebinischen Al-Kaida, der Geiselnahme, der Schmuggler und der Schleuser für Flüchtlinge und Migranten. Es ist ein Raum, in dem bewaffnete Akteure Politik, vor allem aber viel schnelles Geld machen. Mit friedlichen Mitteln, also denen der Entwicklungshilfe, lässt sich ein solcher Strom der Habgier nicht eindämmen oder kanalisieren. Nur militärischer Ein- und Durchgriff kann da Abhilfe schaffen. Verständigung oder gar Einigung zwischen dem malischen Staat und den Ifoghas, den Hauptakteuren der malischen Tuaregrebellionen, ist nicht mehr auf der Tagesordnung. Timbuktu hat sich zwischen 1994 und 2010 völlig verändert. Die Stadt ist mit Investitionen überschüttet worden. Kein Besuch eines ausländischen Präsidenten in Mali ohne Besuch in Timbuktu. Timbuktu ist eine ideale Projektionsfläche, der Name verleiht historisches Gewicht. Die Aga-KhanStiftung, Südafrika und Muammar Gaddafi wetteifern hier neben vielen anderen um die Erhaltung des historischen Erbes. Großvorhaben, etwa der Bau der Straße vom Office du Niger im Binnendelta des Niger nach Timbuktu, ein EU-Projekt, das im September 2010 begann, oder der Staudamm von Taoussa, knapp 200 km östlich von Timbuktu, ändern die wirtschaft­ lichen Rahmenbedingungen von Grund auf. Die auffallend luxuriösen, mit schnellem Geld finanzierten Villen am südlichen Rand von Timbuktu führen



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vor Augen, dass die Wirtschaft Timbuktus mit der saharischen „Freihandelszone“ verbunden ist. Die alte nomadische Weidewirtschaft der Sahara und die Salzkarawanen aus Taoudeni wirken heute wie Relikte aus einer anderen Zeit. Das Binnendelta des Niger, seit 2000 das eigentliche Interventionsgebiet des Programms Mali-Nord, zeigt sich von den Entwicklungen weiter oben im Norden unbeeindruckt. Das Binnendelta hat einen spürbaren und stetigen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Selbst als die Konflikte im hohen Norden Malis wieder in die Region von Timbuktu überzuschwappen drohten, hatte das im Flusstal des Niger kaum Rückwirkungen. Der Frieden stellt sich nicht auf einmal ein, auch nicht in einer einzigen Bewegung. Der Frieden muss den Raum allmählich erobern. Die Kriegstreiber und Profiteure der Unsicherheit halten sich erst zurück, wenn sie sich deutlich in der Minderheit befinden. Das Programm Mali-Nord hat in diesem Prozess der Befriedung nie auf die Kriegsparteien gesetzt (Rebellionsbewegungen, Regierung, Armee), sondern allein auf die Akteure, die keine Möglichkeit hatten, sich bewaffnet durchzusetzen. Die Anführer von Minderheiten erwiesen sich dabei immer als die besten Ratgeber, weil sie weder den Wunsch noch die Chance hatten, die anderen Gruppen zu dominieren. Entwicklungshilfe, d. h. eine Wiederaufbauhilfe mit ausschließlich fried­ lichen Mitteln, kann nichts anderes tun als Missstände beheben. Darum ging es im Programm Mali-Nord. Hier konnte alles nur ohne Druck, HauruckAktionen, Einschüchterung und Überraschungen funktionieren. Man brauchte Transparenz, klare Richtung, Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit und ein gleichmäßiges Tempo. Postscriptum: Zur aktuellen Lage Dieser Beitrag ist im Frühjahr 2011 geschrieben worden. Seither hat sich die Lage in Mali und insbesondere im Norden des Landes grundlegend verändert. Durch den Sturz und Tod Muammar Gaddafis sind dessen TuaregSöldner im Herbst 2011 schwer bewaffnet vornehmlich nach Mali zurückgekehrt. Dort vereinten sie sich mit radikalen Intellektuellen, gründeten das Mouvement National pour la Libération de l’Azawad (MNLA), verbündeten sich mit den zwei bereits existierenden Katibas des Al-Quaida im islamischen Maghreb (Aqumi) sowie mit Ansar Dine, der islamistischen Sammelbewegung des bekannten Rebellionsführers Yad Ag Ghali, in der sich die meisten der zuvor integrierten Tuareg-Soldaten wiederfanden, die an der vorangegangen Rebellion teilgenommen hatten. Gemeinsam begannen sie im Januar 2012 eine weit vehementere Offensive als zwischen 1989 und 1994.

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Der Putsch der einfachen Ränge des malischen Militärs in Bamako vom 22. März 2012 war durch die verzweifelte militärische Lage im Norden ausgelöst. Der Putsch konnte die Tuareg-Rebellion nicht aufhalten, im Gegenteil, wenn überhaupt, ebnete er ihr eher den Weg. Innerhalb von wenigen Tagen eroberte die Rebellion die drei Regionen des Nordens fast kampflos und rief im April 2012 den unabhängigen Staat Azawad aus. Für die Mehrheit der „befreiten“ Bevölkerung des Nordens handelte es sich um die Invasion einer Besatzungsmacht und sie wählte mit den Füßen. Mitte April 2012 schätzte der UNHCR die Zahl der Flüchtlinge (in Lagern in Mauretanien, Burkina Faso und Niger) sowie die Zahl der intern Vertriebenen auf jeweils 150.000. Die Besatzungsmacht konnte dieses Gebiet zwar leicht erobern und dessen Institutionen zerschlagen, erweist sich aber außer Stande, es zu regieren und dessen wirtschaftlichen und sozialen Alltag sinnvoll zu beleben. Die klügeren Köpfe der Rebellion haben dies wohl längst erkannt. Vergeblich warten sie nun darauf, mit einer handlungsfähigen malischen Regierung darüber zu verhandeln, was weiter geschehen soll. Im Süden des Landes war das System des letzten Präsidenten, Amadou Toumani Touré (ATT), von Korruption und Nepotismus ausgehöhlt, im März 2012 in sich zusammengefallen. Die putschenden Militärs wollen von Macht und Pfründen nicht lassen, die politischen Parteien taktieren im Inland wie im Ausland, ob sie mit den Militärs kooperieren oder es besser lassen sollen, die Nachbarstaaten wollen eigene Interessen durchsetzen und im Gewand einer internationalen Eingreiftruppe ihre Söldnertruppen loswerden. Noch zeichnet sich nicht ab, wie und wann dieser gordische Knoten sich lösen lässt oder durchschlagen wird. Der Austausch zwischen dem Süden und dem Norden ist lahm gelegt. Das frühere Leben in den großen Städten des Nordens, vor allem in Timbuktu und Gao, ist zum Erliegen gekommen. Die Symbole des Staates und des modernen Lebens sind weitgehend zerstört: die Inneneinrichtung der Verwaltung, Banken, Schulen, Krankenhäuser und Projektbüros. In den Kreisstädten wie Goundam oder Diré drangsalieren kleine Gruppen von vermummten Bewaffneten vor allem diejenigen Menschen, bei denen es noch etwas zu holen gibt. Nur auf dem Lande verläuft das Leben fast normal. Je schwerer ein Dorf zu erreichen ist, desto sicherer ist es. Das Programm Mali-Nord hat seine Niederlassungen im Haoussa des Niger (links vom Fluss Niger) schließen müssen. Die wegen der Hungersnot vorsorglich aufgefüllten Getreidelager wurden geplündert und die Mitarbeiter bedroht. Das Programm wird jedoch aus dem Gourma (rechts vom Fluss) fortgeführt. Alle Vorbereitungen sind getroffen, um die anstehende



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landwirtschaftliche Kampagne zum Erfolg zu führen. Mopti ist zur neuen Drehscheibe des Programms geworden. Hier können die Nutzergruppen sich mit dem Notwendigen versorgen. Diese Politik unterstützt die Leidtragenden: die arbeitende kleinbäuerliche Bevölkerung. Je länger der Konflikt sich hinzieht, desto größer werden die Schäden. Jedes Jahr Konflikt, so rechnet man, erfordert bis zu fünf Jahren Wiederaufbau. Wie immer sich die Dinge auch entwickeln, am Ende wird man unter neuen und veränderten Bedingungen das Land mit dem gleichen Ansatz und ähnlichen Mitteln wieder aufbauen müssen, wie das Programm Mali-Nord dies von 1995 bis 2011 getan hat.

Die Komplexität der Akteursfigurationen bei „Konflikttransformation“ und „Postkonflikt“-Prozessen Beobachtungen am Beispiel Nordghanas und Nordugandas Von Artur Bogner und Dieter Neubert Im Feld der politikwissenschaftlichen Konfliktanalyse und der Theorie der Konfliktbearbeitung hat sich in den zwei letzten Jahrzehnten die Aufmerksamkeit zunehmend auf innerstaatliche oder asymmetrische bewaffnete Konflikte verschoben, während bis zum Ende des Kalten Krieges zwischenstaatliche Konflikte (und rationale Handlungsmodelle vom Typ der Spiel­ theo­ rie) klar die Erklärungsversuche dominierten. In diesem Kontext gewannen die Stichworte des „neuen Krieges“ oder des „asymmetrischen Krieges“ und ihre diversen Begriffsvarianten oder Vorläufer ihren heutigen prominenten Stellenwert. Die weitreichendste Deutung dieses Perspektivenwechsels, die Theorie der „neuen Kriege“, verbindet diesen mit der Annahme eines epochalen Wandels in der Staatenwelt – eines Wandels, den man unter einem bestimmten Aspekt als eine Entstaatlichung des Krieges beschreiben kann und unter einem anderen als Bedeutungsverlust des (nationalen) Staates für sowohl die gesellschaftlichen Strukturen als auch die Formen des Krieges. Damit ist die These verbunden, der Niedergang des klassischen (sprich: verstaatlichten) Krieges sei aus einem quasi historischen Bündnis zwischen den trans- und den subnationalen Feinden des nationalen Staates hervorgegangen.1 Die vergleichsweise höhere Komplexität solcher Konfliktfigurationen stellt nicht nur für die Anwendung der bei der Erklärung zwischenstaatlicher Konflikte bewährten Modelle rationalen Handelns ein erhebliches Problem dar2, sondern auch bei der Durchführung von friedenspolitischen Interventionen.3 Eine der typischen Schwierigkeiten ergibt sich aus dem zumeist un- oder unterdefinierten Verhältnis zwischen den Gewaltakteuren (den bewaffneten Kampfteilnehmern) und denjenigen, die als legitime politische Repräsentanten einer als Kollektiv auftretenden Konfliktpartei angesehen werden können. 1  Münkler

2004, S. 19–21. 1995, S. 8 ff.; Schlee; Brubaker / Laitin. 3  Zum Beispiel Ropers, S. 58. 2  Münkler

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Daraus folgen z. B. bei Friedensverhandlungen besondere Probleme, die sich nicht (oder nicht in dieser Schärfe) stellen, wenn die Verhandlungspartner auf beiden Seiten „weberianische“ Staaten sind. Dabei fällt den Gewaltakteuren nicht selten die Rolle einer Vetomacht im Verhandlungsprozess zu.4 Zur Annahme eines Bedeutungsverlustes des Staates bzw. zur Neudefinition von dessen Rolle passt die Beobachtung, dass zunehmend nichtstaat­ liche Akteure in die Konfliktbearbeitung und -schlichtung eingebunden sind. In den letzten Jahren hat sich daher bspw. eine lebhafte Diskussion über die Probleme und Risiken der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen (NROs) in diesem Tätigkeitsfeld entwickelt.5 Die Pluralität und Komplexität der für Versuche der Schlichtung und Friedensstiftung relevanten Akteure wurde in der Literatur zur konstruktiven Konfliktbearbeitung durch die Unterscheidung von „Track 1“ (klassische zwischenstaatliche Diplomatie) und „Track 2 und 3“ (vor allem Vertreter und Organisationen der so genannten Zivilgesellschaft und politische Führer auf der Mesoebene) berücksichtigt.6 Neben den gängigen staatlichen Kanälen der Diplomatie („Track 1“) wurde damit die Existenz eines weiteren Feldes anerkannt, in dem internationale und nationale zivilgesellschaftliche oder lokale Gruppen und traditional legitimierte Institutionen an einem Friedensprozess beteiligt werden können und sollten. Damit rückten zugleich die Akteure innerhalb des Gebiets oder sozialen Kontextes, in dem die Kampfhandlungen stattfinden (die „Insider“), und neben der Mesoebene soziopolitischer Organisation und Mobilisierung wie z. B. nationale und internationale NROs („Track 2“), auch die lokalen Akteure auf der „Graswurzelebene“, der so genannte „Track 3“7, stärker in das Zentrum der Aufmerksamkeit.8 Mit der Einbeziehung von zivilgesellschaftlichen Akteuren werden oft verhältnismäßig hohe Erwartungen an Friedensschlüsse verbunden. Das Ziel der Friedensbemühungen sei nicht nur ein dauerhaftes Ende der Kampfhandlungen („negativer Frieden“), sondern die Umsetzung z. B. der auf Galtung zurück gehenden Konzeption eines „positiven Friedens“.9 Dazu gehören neben dem Ende der Kampfhandlungen und Demobilisierung die Errichtung einer neuen Ordnung mit Gewaltmonopol und (demokratischer) Rechtsstaatlichkeit, Wiederaufbau sowie die Aufarbeitung von Kriegsverbre4  Krumwiede,

S. 39, 41 ff.; Neubert 2004. als Überblicksdarstellungen Fischer; Paffenholz / Spurk; Reimann 2005 sowie mehrere der Beiträge in Klein / Roth und Richmond / Carey. 6  Zur Theoriegeschichte dieser Unterscheidung vgl. Reimann 2007, S.  94  f.; Paffenholz / Spurk, S.  20 ff. 7  Lederach 1995; 1997, S. 51 ff. 8  Mitunter wird auch von drei Ebenen („levels“) gesprochen. 9  Galtung, S. 183. 5  Vgl.



Die Komplexität der Akteursfigurationen375

chen einschließlich einer Form der Entschädigung der Opfer.10 Eng damit verbunden ist auch die Vorstellung einer Übergangsjustiz.11 Obwohl eine wichtige Rolle nichtstaatlicher Akteure bei der Konfliktbearbeitung im Fall der „neuen“ Kriege inzwischen in der Theorie etabliert ist, gibt es nur vereinzelt empirische Untersuchungen12. Die Rolle nichtstaatlicher Akteure in der Konfliktregelung kleinräumiger kriegerischer Konflikte wird bisher überwiegend von – durchaus wertvollen – Erfahrungsberichten der PraktikerInnen adressiert.13 Diese neue Rolle nichtstaatlicher Akteure stützt das in die Debatte über die neuen Kriege eingebaute Narrativ von einem sich anbahnenden Weltuntergang – oder zumindest Untergang der Welt, wie wir sie kennen, nämlich der Anbruch einer gesellschaftlichen Epoche, in der der moderne (sprich: territoriale und in einem erheblichen Maße bürokratisierte) Staat keine zentrale Rolle mehr zu spielen scheint, wobei sich gerade in Afrika Strukturen anders gearteter Staatlichkeit zeigen.14 Dem wollen wir hier eine andere Deutung entgegenhalten. Die neuen Kriege sind nur in sehr begrenzten Teilaspekten wirklich neue Phänomene. Insbesondere signalisieren sie viel eher die horizontale und vertikale Ausdehnung von Staatlichkeit (als Modus von Vergesellschaftung) in die peripheren Regionen von staatlicher Herrschaft als das Verschwinden des Staates15. Unter „Staatlichkeit als Vergesellschaftungsform“ verstehen wir neben den formalisiert geregelten Organisationsstrukturen von „Staaten“ auch die informellen sozialen Verflechtungen oder Netzwerke, die Menschen auf der faktischen Voraussetzung und in der sinnhaften Orientierung an der Existenz dieser formalen Organisationen bilden. Dieses Konzept umfasst auch die Handlungsorientierungen, Habitusformen oder Mentalitäten (also diejenigen Bestandteile der „Kultur“ und 10  Kühne.

Buckley-Zistel 2007. nationaler Ebene z. B. bezüglich der Rolle der Kirchen im Friedensprozess Mosambiks Della Roca; Grohs. 13  Vgl. für Nordghana: Assefa; Bombande; Linde / Naylor; für West Nile (Uganda): Bauer; Bauer / Giesche; Mischnick / Bauer; Windmeisser. Ähnlich argumentieren Paffenholz / Spurk, S. 1; Goodhand, S. 3, 99, 101. 14  Vgl. Reinhard 2007, S. 123 und die Debatte referierend Schlichte, S. 293, 290–296. Zu Afrika Trotha 2000. 15  Unter „Staat“ verstehen wir hier im Sinn einer Minimaldefinition einen Herrschaftsapparat, der in einem definierten Territorium das Monopol der rechtmäßigen Gewaltanwendung und der Steuern (einigermaßen erfolgreich) für sich beansprucht und eine mehr als nur rudimentäre Form der Verwaltung vermittels Schrift als alltägliches Verwaltungsmittel praktiziert. Im Fall des „modernen Staats“ handelt es sich um eine Herrschaftsausübung bzw. Verwaltung mit Hilfe von in der Mehrzahl besoldeten und hauptberuflichen Funktionären (z. B. „Offizieren“). 11  Zusammenfassend 12  Auf

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besonders der Kultur des alltäglichen Lebens), die grundlegend auf deren Funktionieren ausgerichtet oder eingestellt sind. Schließlich gehören dazu auch (oft implizite oder halbbewusste) Legitimationsmuster routinehaften Verhaltens und Empfindens sowie die Elemente von „Weltanschauung“ im weitesten Sinn des Ausdrucks. Der Bedeutungszuwachs des Staates zeigt sich vor allem an den gesellschaftlichen Prozessen, die das Ende der bewaffneten Kämpfe einleiten, begleiten und ihm folgen. Allerdings sind durchaus Veränderungen in den konkreten Formen und Praktiken der Staatlichkeit zu erkennen. Im Kontext afrikanischer Staaten wird in den letzten Jahren zunehmend sowohl der klassische Staatsbegriff, wie er in der Soziologie vor allem durch Webers Modell der „legalen Herrschaft“16 repräsentiert wird in Frage gestellt. Langsam wächst auch die Skepsis, ob der Staatsbegriff wie auch der Begriff der „Zivilgesellschaft“ ausreichen, die Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation hinreichend zu erfassen.17 „Zivilgesellschaft bezieht sich auf die Arena nicht durch Zwang vermitteltem kollektiven Handelns, gruppiert um geteilte Interessen, Zwecke und Werte.“18 Insbesondere stellt sich die Frage, ob mit den gängigen Kategorien Staat, Markt und Zivilgesellschaft die vielfältigen nichtstaatlichen Akteure in Afrika (wie lokale, traditional legitimierte einschließlich neo-traditionaler Führer, Bürgerwehren und lokale Kriegerverbände) angemessen erfasst werden können.19 Die Diskussion über die Labilität des postkolonialen Staates in Afrika legt die Frage nahe, ob nicht durch die Aufwertung von nicht-staatlichen Organisationen („Track 2“ und „Track 3“) im Feld der Konfliktbearbeitung der Staat zusätzlich an Einfluss, Legitimität und gesellschaftlicher Integrationskraft verliert. Zugleich stellt sich die Frage, ob die hohen Erwartungen, die von der Friedens- und Konfliktforschung auf das Engagement von NROs gesetzt werden, tatsächlich erfüllt werden. Wir wollen diese Annahmen an zwei Fällen von Konfliktschlichtung und Friedenskonsolidierung in Norduganda und Nordghana untersuchen, um aus diesen beiden Fällen und ihrem Vergleich Schlussfolgerungen über die Kräfte und die Dynamik von lokalen Deeskalations- und Nachkriegsprozessen ziehen zu können.20 Die u. a. Breuer. Migdal / Schlichte; Lewis 2002; 2004; Hann und Hann / Dunn. 18  Whyte. Weiter schreibt Whyte: „Theoretisch sind die institutionellen Formen der Zivilgesellschaft von Staat, Familie und Markt zu unterscheiden; in der Praxis sind die Grenzen zwischen Staat, Zivilgesellschaft, Familie und Markt allerdings komplex, verschwommen und umstritten.“ Zum Begriff siehe Neubert 2010, S. 187. 19  Neubert 2009 und 2010; Harneit-Sievers. 20  Wir stützen uns dabei auf Ergebnisse eines Forschungsprojekts (2009–2012) an der Universität Bayreuth, das von der DFG gefördert wurde. 16  Vgl. 17  Vgl.



Die Komplexität der Akteursfigurationen377

ausgewählten Fälle beschreiben regional begrenzte Konflikte an der Peripherie des Staatsgebiets mit jedoch unterschiedlichen Konstellationen. In Norduganda kämpften Rebellen gegen die Regierung im Kontext massiver militärischer Konflikte im gesamten Land. Der Konflikt in Nordghana war eine Ausnahme im dem überwiegend friedlichen Land. Es handelte sich um einen interethnischen Konflikt, den die Zentralregierung auch unter Einsatz ihrer Sicherheitskräfte beenden wollte. Gerade wegen dieser Unterschiede zweier von der Dimension her vergleichbarer Konflikte an der Peripherie des Staatgebiets ist es interessant, die sich herausbildenden politischen Arrangements im Blick auf die These der Ausdehnung der Staatlichkeit bei gleichzeitiger Etablierung nichtstaatlicher Akteure zu verfolgen. I. West Nile (Uganda): Vordringen des Staates und die Etablierung der Exkombattanten als politisch-gesellschaftliche Kraft Der Norden Ugandas einschließlich der Region West Nile spielte während der Kolonialzeit eine untergeordnete Rolle gegenüber dem Kernland der Region um den Victoriasee mit dem Zentrum des Buganda-Königreichs. Neben der peripheren Lage West Niles passte sich die wesentlich akephale, dezentrale Struktur des hier vorherrschenden Typs lokaler Sozialverbände nur schwer in das Muster der indirekten Herrschaft durch Häuptlinge bzw. Könige ein. West Nile wurde zu einem durch bäuerliche Subsistenzproduktion geprägten, politisch wie sozioökonomisch marginalisierten Hinterland einer vom politischen Zentrum der Buganda-Monarchie dominierten politischen Einheit (zunächst als britische Kolonie). Dieses Hinterland, in dem die Kolonialverwaltung wenig präsent war, fungierte – wie andere in Nordund Ostuganda – vor allem als Reservoir für die Rekrutierung von Soldaten und Wanderarbeitern.21 Allerdings prägte die Herkunft vieler Soldaten des kolonialen Staates aus dieser Provinz (vor allem in der ersten Phase des Kolonialregimes) nachhaltig das kollektive Selbstbild und das darauf gegründete Selbstbewusstsein und Wir-Gefühl vieler ihrer Einwohner.22 Die periphere Position Nordugandas schwächte sich vorübergehend durch die Regierungen Milton Obotes und Idi Amins ab, die beide aus verschiedenen Teilen Nordugandas stammen. Besonders Amin stützte sich bei der Rekrutierung seiner Offiziere und anderer wichtiger Amtsträger stark auf seine Herkunftsprovinz West Nile. Aber auch unter seiner Diktatur, die auf allen Hierarchieebenen von willkürlicher und oftmals persönlich motivierter Gewalt gekennzeichnet war, wurde diese Region nur in geringem Maße von den staatlichen Strukturen durchdrungen. West Nile geriet wegen der Unzahl von 21  Zur

Geschichte von West Nile siehe Leopold und Eckert. Rice; Leopold.

22  Eckert;

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Menschenrechtsverletzungen und der Herkunft großer Teile der Armee und der Sicherheitsorgane Amins nach dem Ende seines Regimes (1979) in eine politisch extrem prekäre Lage. Auch und besonders die Zivilbevölkerung der Provinz wurde zum Opfer von massiven Vergeltungsmaßnahmen durch Mitglieder der Streitkräfte in der Zeit der nachfolgenden Machthaber und Regierungen – von der kurzen Präsidentschaft Yusuf Lules bis zum Ende der zweiten Herrschaft Obotes. Zu großflächigen Gewalttaten (einschließlich Massakern) von Angehörigen der Regierungskräfte gegen die Zivilbevölkerung kam es in West Nile vor allem in den zwei Jahren nach Amins Entmachtung.23 Dies führte dazu, dass die große Mehrheit der hiesigen Bevölkerung in die Nachbarländer flüchtete und ungefähr bis zur Konsolidierung der Machtübernahme Yoweri Musevenis (und teilweise noch bis Ende der 1980er Jahre) im Sudan oder in Zaire blieb. Der Norden Ugandas wurde ab Amins Entmachtung zum Operationsgebiet (und Angriffsziel) verschiedener Rebellengruppen, die sich zunächst vor allem aus Soldaten der gestürzten Regierungen rekrutierten und zum großen Teil von der sudanesischen Regierung unterstützt wurden. In dieser Zeit wurde Norduganda zudem ein Nebenschauplatz des sudanesischen Bürgerkrieges und des Bürgerkrieges im benachbarten Zaire bzw. Kongo.24 Die Kriegführung auf beiden Seiten, der wechselnden Regierungen wie der verschiedenen, sie bekämpfenden Rebellengruppen, nahm dabei immer wieder (und bei den Rebellen in zunehmendem Maße) terroristische Züge gegenüber der lokalen Bevölkerung an. Trotzdem blieben die Rebellen in West Nile stets relativ eng mit der lokalen Bevölkerung verbunden und vernetzt (deutlich stärker als die „Lord’s Resistance Army“ im benachbarten zentralen Norden). Vor allem in den 1980er Jahren wurden die Rebellen von der lokalen Zivilbevölkerung überwiegend als eine sie vor den zahlreichen gewalttätigen Übergriffen Anderer (insbesondere ugandischer sowie zairischer Soldaten und Polizisten sowie der sudanesischen Rebellen) beschützende Macht wahrgenommen. Die Rebellion in West Nile zersplitterte sich allerdings schon früh in verschiedene, teilweise aufeinander folgende, untereinander zerstrittene und sich zeitweise auch militärisch25 bekämpfende Rebellengruppen. Ein wichtiger militärisch-politischer Erfolg gelang der Regierung Musevenis mit der Pazifizierung der in West Nile damals stärksten Rebellenbewegung „Uganda National Rescue Front“ (UNRF) im Jahr 1986 / 1987. Deren wichtigste Führer wurden in das machtpolitische Regierungsbündnis kooptiert und teilweise auch in das Kabinett Musevenis aufgenommen. Aber nicht alle Rebellen in West Nile schlossen sich dieser 23  Vgl.

Refugee Law Project, S. 5–6. Prunier. 25  Vgl. Mischnick / Bauer, S. 18–20. 24  Vgl.



Die Komplexität der Akteursfigurationen379

(eher informellen) Allianz an bzw. manche verließen sie nach kurzer Zeit, nach Unstimmigkeiten und wachsendem Misstrauen (sowie manch ungeklärten Vorkommnissen) im Verhältnis zur Regierung wieder.26 Eine der neuen Fraktionen, die 1994 formierte „West Nile Bank Front“ (WNBF), wurde bereits 1996 / 97 militärisch aufgerieben und gab ihren Kampf ohne offiziellen Friedensschluss auf. (Dazu trug schon zu dieser Zeit eine den Rebellen versprochene Amnestie bei, die von der Regierung im Wesent­ lichen wie versprochen umgesetzt wurde.) Zunächst erfolgreicher war die UNRF II, eine andere Fraktion, die (nach unserer Information) schon 1989 formell gegründet wurde, aber erst ab 1997 als eine von der WNBF verschiedene, eigenständige Rebellenfraktion mit militärischen Aktionen in Erscheinung trat.27 Sie rekrutierte den Großteil ihrer Kämpfer aus einer muslimisch geprägten Enklave (dem heutigen Distrikt Yumbe), dem Hauptsiedlungsgebiet der Aringa (einer Teilgruppierung der Lugbara). Die UNRF II konnte in der ersten Zeit auf erheblichen Rückhalt in der Bevölkerung zählen. Mit der Zunahme der Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung auch auf Seiten der Rebellen entzog die Bevölkerung den Rebellen die politische Unterstützung bzw. den moralischem Rückhalt in einem wachsenden Maß.28 Ähnlich wie in anderen Teilen Nord- und Ostugandas (wie bspw. in Teso und später im zentralen Norden) befand sich, wie erwähnt, im Zeitraum zwischen 1979 und 1990 zeitweise die Mehrheit der Bevölkerung auf der Flucht oder im Exil. Die Bevölkerung West Niles musste (vor allem in der ersten Hälfte dieses Zeitraums) wiederholt zwischen verschiedenen Flüchtlingslagern in Sudan oder Zaire und ihrem Herkunftsgebiet hin und her flüchten, um der sich ständig eskalierenden Krisensituation mit Hungersnöten, Kriegsverbrechen und Epidemien zu begegnen. Das Ende der Kämpfe wurde durch eine Reihe von Faktoren ermöglicht. Nachdem die übrigen Rebellengruppen in West Nile bis Mitte 1997 den bewaffneten Kampf aufgegeben hatten, konnte sich die ugandische RegieMischnick / Bauer, S. 18. mit Maj. Gen. Ali A. Bamuze (Chairman des ehemaligen UNRF II High Command) und Piwang Pascal, Kampala, 24. Januar 2010. Vgl. ähnlich oder dazu passend Refugee Law Project, S. 12 (Interviewzitat); Peters, S. 17; Brix, S. 24; Mischnick / Bauer, S. 18–19. Anders die Zeitangaben zum Gründungsjahr bei Refugee Law Project, S. 11, 13, 14 und Summary; Leopold, S. 44–45, Bauer, S. 26–27; Weber, S. 24. 28  Die extremsten Formen dieser Gewalt gegen die lokale Zivilbevölkerung übte in Norduganda die Lord‘s Resistance Army (LRA) aus. In den 1990er Jahren wurden ansatzweise ähnliche Methoden auch von den Rebellengruppen in West Nile benutzt, deren Qualität von demonstrativer Grausamkeit und quantitative Bedeutung jedoch weit hinter der exzessiven Gewalttätigkeit der LRA zurückblieben (vgl. dazu Bogner / Rosenthal; Refugee Law Project, S. 14–16, 9; Brix o. J., S. 25; Bauer, S. 26–27; Mischnick / Bauer, S. 18–20, 81). 26  Vgl.

27  Interview

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Artur Bogner und Dieter Neubert

rung in West Nile auf die Bekämpfung der UNRF II, der letzten Rebellengruppe mit einer lokalen Verankerung in dieser Region, konzentrieren. Zudem verloren die Rebellen infolge einer Vereinbarung zwischen der ugandischen Regierung und der Regierung des Nordsudan die Unterstützung der Letzteren und damit ihren wichtigsten logistischen Rückhalt und Rückzugsraum. Die Regierungsarmee setzte die Rebellen erfolgreich unter Druck, dies band aber wichtige militärische Kräfte, ohne dass ein schneller militärischer Sieg erreicht wurde. Die so gebundenen Kräfte fehlten der Regierungsarmee nicht zuletzt im Kampf gegen die LRA im benachbarten zentralen Norden. Die Überlegenheit der Regierungsarmee nahm den Rebellen die militärische Perspektive. Zugleich verschlechterte sich im Gebiet des späteren Distrikts Yumbe, dem Herkunftsgebiet der meisten Kämpfer der UNRF II, das auch ihr Hauptoperationsfeld war, die Lage zusehends. Die Folge war eine Situation des schmerzenden Patts („hurting stalemate“) im Sinne Zartmans29, wobei der Druck besonders auf der Seite der Rebellen und vor allem der Zivilbevölkerung in West Nile spürbar war. Die erste Initiative, den Konflikt zu beenden, ging von verschiedenen Akteuren in der Zivilbevölkerung aus, die sich bemühten, die Rebellen zur Aufnahme von Friedensverhandlungen mit der Regierung zu bewegen. Im lokalen Diskurs wird dabei auf die Ältesten der Dörfer und Klans und bemerkenswerterweise auch auf die Frauen verwiesen. Die Ehefrauen, Lebenspartnerinnen und Mütter der Rebellen wirkten während derer kurzen heimlichen Besuche bei ihren Familien gemeinsam mit den Ältesten auf die Rebellen ein, den Kampf zu beenden und sich auf Friedensverhandlungen einzulassen. Als deren entsprechende Bereitschaft wuchs, waren es lokal angesehene Einzelpersonen, die vorsichtig erste Kontakte zwischen der Führung der Rebellen und Regierungsvertretern herstellten. Allgemein anerkannt wird auch die Mitwirkung einer kleinen lokalen NRO namens PRAFORD (Participatory Rural Action for Development) und besonders ihrer dynamischen Gründerin, die in diesen Aktivitäten von einer Fachkraft des deutschen Zivilen Friedensdienstes im Dienste des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) unterstützt wurde. Diese Bemühungen seitens verschiedener Akteure waren der Regierung zumeist bekannt, wurden von ihr zum großen Teil unterstützt und offenbar auch in mehreren Fällen offen oder heimlich initiiert.30 29  Zartmann

1985; 2000. Interview mit Joyce Ayikoru, PRAFORD Center, Yumbe, 26. April 2009 und Weber, S. 32. Diese Version der Ereignisse wird u. a. durch Interviews gestützt, die wir mit lokalen „cadres“ der damaligen „Bewegung“ bzw. regierenden Einheitspartei Musevenis („National Resistance Movement“) oder mit anderen Worten der seinerzeitigen Lokalverwaltung führten, die diese Unterstützung und ihre eigene wichtige Rolle bei der Anbahnung von Vermittlungsgesprächen betonten. Vgl. Inter30  Vgl.



Die Komplexität der Akteursfigurationen381

Eine wesentliche Rolle spielten schließlich die Amnestien, die die Regierung in den Neunzigerjahren den Rebellengruppen in West Nile anbot und umsetzte. Auf Drängen des Parlaments sowie religiöser und anderer Meinungsführer wurde schließlich im Januar 2000 ein extrem großzügiges, sehr umfassendes Amnestiegesetz von der Regierung Musevenis erlassen und blieb bis heute in Kraft.31 Diesem Gesetz waren schon 1987 ein (auf kurze Zeit befristetes) Amnestiegesetz und später eingeschränktere Amnestien vorangegangen, die Präsident Museveni bei verschiedenen Gelegenheiten erließ.32 Die Option auf eine Amnestie war eine Grundvoraussetzung dafür, dass sich die Rebellen der UNRF II, wie auch andere Gruppen vor ihnen, auf einen Friedensprozess und die Aufgabe des bewaffneten Kampfes einlassen konnten. Vor diesem Hintergrund mündeten die geknüpften Kontakte zwischen der Führung der Rebellen und der Regierung in formale Friedensverhandlungen. Diese wurden von den Botschaften Irlands, Deutschlands, Dänemarks und der Niederlande sowie durch DANIDA, den DED / ZFD und die USAID logistisch und beratend unterstützt.33 Schließlich wurde der Friedensvertrag im Dezember 2002 öffentlich unterzeichnet. Der Frieden wurde erneut – wie 1986 / 87 im Fall der ersten UNRF – durch eine Art politische und teilweise auch formelle Kooptation der Rebellenführer seitens der Regierung sowie durch materielle Wiedereingliederungshilfen und Entschädigungsleistungen an die ehemaligen Rebellenkämpfer gleichsam erkauft. Die Regierung folgte damit einer erprobten Strategie aus früheren „Postkonfliktprozessen“ in anderen Landesteilen, wie z. B. in Teso.34 Das notwendige Vertrauen in die Regierung seitens der Führung der UNRF II gründete sich auf die Erfahrungen des (zumindest relativ nachsichtigen) Umgangs der Regierung mit den Exrebellen der früheren Rebellenbewegungen in West Nile, vor allem der ersten UNRF. Allerdings gelang es der durch Beratung von kompetenter Seite unterstützten UNRF II (im Gegensatz zu anderen Rebellengruppen) einen formellen Friedensvertrag mit der Regierung auszuhandeln. Die im Vorfeld aktiven lokalen Ältesten und die erwähnte Nichtregierungsorganisation (PRAFORD) sowie die ausländischen Organisationen beschränkten sich in diesem Kontext darauf, die Aufnahme von Verhandlungen anzubahnen bzw. der UNRF II bei den Verhandlungen logistisch und beratend beizustehen. views mit Vuni Welborn, Arua, 6. März 2010, mit Drassy K. Ally, Accra, am 22., 23. und 26. Januar 2010 und mit Alamiga Haruna, Yumbe, 3. Februar 2010. 31  Vgl. Amnesty Commission; Acholi Religious Leaders‘ Peace Initiative et al. 32  Buckley-Zistel 2008, S. 79, 159. 33  Bauer, S. 31–32; UNRF II / Uganda Government, S. 36, 8. 34  Vgl. Buckley-Zistel 2008.

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Der Friedensvertrag betonte ganz allgemein die historisch langfristige und strukturelle Benachteiligung der Region West Nile, die es zu beenden und zu kompensieren gelte. Er beinhaltete Geld- und Sachleistungen für die Kombattanten (so genannte Demobilisierungspakete), Berufsbildungsangebote sowie eine Liste konkreter Infrastrukturmaßnahmen und die Zusage, einen eigenen Distrikt für das Siedlungsgebiet der Aringa zu schaffen. Die Beseitigung der Benachteiligung und des entsprechenden Entwicklungsrückstands der Region wurde im öffentlichen Diskurs und im Text des Friedensvertrags als Hauptziel der Rebellenbewegung sowie eines der Hauptziele des Vertrags hingestellt. Eine Entschädigung oder irgendwelche speziellen Unterstützungsleistungen für zivile Kriegsopfer, Kriegsinvaliden oder die Opfer von Kriegsverbrechen wurden weder erwähnt noch vorgesehen, von einer Verfolgung oder Bestrafung der Täter ganz zu schweigen. Der Friedensvertrag sah lediglich eine nicht näher definierte Förderung der Schulbildung für 135 so genannte Kindersoldaten aus den Reihen der Rebellen vor. Die Demobilisierung erfolgte weitgehend planmäßig und die Regierung baute zügig in der gesamten Provinz West Nile eine funktionierende Lokalverwaltung auf. Dabei wurden im Rahmen der ohnehin laufenden Dezentralisierung in Uganda35 die wenigen Distrikte aufgeteilt und zugleich der versprochene Distrikt Yumbe geschaffen, der mit dem Siedlungsgebiet der Aringa weitgehend übereinstimmt. Damit durchdrang die staatliche Verwaltung erstmals auch entlegene Teile dieser Region. Dies kann als wichtiger Wendepunkt für West Nile verstanden werden. Der Staat reklamierte erfolgreich den Zugriff auf lokale politische und gesellschaft­liche Prozesse, was bis dahin weder dem Kolonialstaat noch den nach­kolonialen Regierungen Ugandas gelungen war. Im Zuge der Umsetzung des Friedensvertrags tauchten im Kerngebiet des Konfliktes (dem heutigen Distrikt Yumbe) auch in größerer Zahl Entwicklungsorganisationen und einige zivilgesellschaftliche Vereinigungen auf. Bis dahin existierten neben christlichen Kirchen und der starken muslimischen Gemeinde lediglich die bereits genannte lokale NRO namens PRAFORD, mit der u. a. der DED und DANIDA kooperierten. Daneben bestanden die von internationalen und ausländischen Organisationen betriebenen umfangreichen Camps für Flüchtlinge aus den Nachbarländern. Seither sind einige neugegründete lokale NROs, nationale ugandische NROs mit ausländischer Unterstützung sowie ausländische staatliche und internationale Entwicklungs- und Hilfsorganisationen präsent. Die größte Wirkung unter ihnen erzeugte die Weltbank mit einem Programm zum Ausbau lokaler Infrastruktur (Northern Uganda Social Action Fund, abgekürzt: NUSAF). Diese Ak35  Asiimwe / Musisi.



Die Komplexität der Akteursfigurationen383

tivitäten trugen wesentlich zum Wiederaufbau der Region bei.36 Außer den Religionsgemeinschaften (und ihnen angegliederten Vereinen) gibt es bislang kaum freiwillige Vereinigungen der lokalen Bevölkerung, nennenswert und sichtbar sind heute vor allem Vereine der „Exkombattanten“, der Frauen und (in geringerem Maß) der HIV-Infizierten. Für den auswärtigen Beobachter sind gemessen an der dramatischen Ausgangssituation deutliche Verbesserungen vor allem der Infrastruktur (z. B. beim Schulenbau und der Trinkwasserversorgung) unverkennbar. Jedoch konnten die Folgen von Jahrzehnten bürgerkriegsartiger Kämpfe noch lange nicht überwunden werden. Dies wird von der Bevölkerung und lokalen Führern breit beklagt. Wie die von Weber37 durchgeführten Interviews zeigen, erwartet die Bevölkerung die Verbesserung der Lage jedoch vor allem von den Entwicklungsorganisationen, die in der Phase des Wiederaufbaus als Geldgeber bzw. Träger von Entwicklungsprojekten aufgetreten sind, und nicht von der staatlichen Verwaltung. Dabei wird keinerlei Unterschied zwischen zivilgesellschaftlichen NROs und ausländischen staatlichen oder multilateralen Entwicklungsorganisationen gemacht. Diese Wahrnehmung spitzt das Abhängigkeitsverhältnis der ugandischen Regierung von den Gebern bei der Finanzierung von Infrastrukturentwicklung in markanter Weise zu. Diese Entwicklungsorganisationen haben sich mittlerweile jedoch überwiegend entweder dem angrenzenden Südsudan oder der östlichen Nachbarregion von West Nile zugewandt, in der noch bis 2005 die inzwischen aus Uganda vertriebene LRA die Zivilbevölkerung terrorisierte. Da deshalb viele ihrer Vorhaben in West Nile mittlerweile ausliefen, haben die meisten Entwicklungsorganisationen die von ihnen während der Friedensverhandlungen geweckten Erwartungen nicht erfüllt. Eine wichtige Ausnahme bildet weiterhin das umfangreiche Weltbankprogramm NUSAF. Die Ältesten der Dörfer und Klans, die vor dem Bürgerkrieg wesentliche lokale Entscheidungsträger waren, haben erheblich an politischem Einfluss und lokaler Autorität verloren. Ihre informelle Autorität wurde im Verlauf des Bürgerkriegs geschwächt – auch deshalb, weil die Kämpfer sich außerhalb der lokalen Strukturen nach militärischen Prinzipien organisierten und dadurch weitgehend dem Einfluss der Ältesten entzogen waren. Die Rolle der Ältesten beim Zustandekommen des Friedensvertrags wird im Text desselben ausdrücklich anerkannt, gleichwohl waren sie von den formalen Verhandlungen ausgeschlossen. Damit konnten sie nicht, wie bis zum Bürgerkrieg üblich, als Streitschlichter agieren. Zudem sehen sie sich nach rund zwei Dekaden Bürgerkrieg außerstande, eine angemessene Aufarbeitung der Kriegsgeschehen zu leisten, wie sie für einen Friedensschluss gemäß den 36  Weber. 37  Ebd.

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traditional legitimierten Formen erforderlich gewesen wäre.38 Schließlich existiert in West Nile inzwischen (wenn man hier einmal von der früheren Provinzhauptstadt Arua und ihrer direkten Umgebung absieht:) erstmals eine starke und durch Wahlen legitimierte Lokalverwaltung, die über eigene Ressourcen verfügt und besonders auf der Distriktebene wichtige lokalpolitische Entscheidungen fällt. Mit Ausnahme der untersten lokalen Ebene, die nur über relativ geringen Einfluss verfügt, gehören den formalen Gremien der kommunalen Verwaltung keine Ältesten an. Mit der Etablierung einer handlungsfähigen Lokalverwaltung sind erstmals staatliche Strukturen im Alltag der Bewohner in West Nile präsent. Alle auf der lokalen Ebene agierenden Organisationen, so auch alle Entwicklungsorganisationen, müssen sich mit der Lokalverwaltung ins Benehmen setzen. Sie hat damit die Ältesten als zentrale Größe der lokalen Politik abgelöst. Neben dieser funktionsfähigen Lokalverwaltung haben sich die Exkombattanten der UNRF II und WNBF als wichtige soziale und politische Akteure etabliert. Die im Friedensvertrag zwischen den Führern der Rebellen und Regierung ausgehandelte Situationsdefinition erlaubt es den Rebellen, sich selbst im öffentlichen Diskurs als Bewahrer und Verteidiger der Interessen der lokalen Bevölkerung und besonders ihres Bedarfs nach „Entwicklung“ und Wiederaufbau zu präsentieren. Sie verleiht damit der bewaffneten Rebellion der UNRF II und den durch sie verursachten Leiden der Bevölkerung nach ihrem wenig ruhmreichen Ende einen Sinn, der schon zu der Zeit ihres Anfangs zweifelhaft war. Auch wenn diese Situationsdeutung kaum mehr allgemein geteilt wird, wird sie aber praktisch nicht öffentlich angegriffen oder kritisiert – offenbar um den seit 2002 erreichten Friedenszustand nicht zu gefährden.39 Der Verzicht auf öffentliche Kritik an der Deutung der Exkombattanten verweist auf das komplexe und ambivalente Verhältnis zwischen Exkombattanten und lokaler Zivilbevölkerung. Die Rebellen und die Zivilbevölkerung sind zwar einander entfremdet und teilweise auch verfeindet. So beklagt die Zivilbevölkerung, dass sie im Gegensatz zu den Exkombattanten, die Wiedereingliederungshilfen erhielten, leer ausgegangen sei. Trotz dieser deutlichen Spannungen gibt es weiterhin ein basales Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Rebellen und der regionalen Bevölkerung. Zum einen bestehen verwandtschaftliche und lokalgemeindliche Verflechtungen. Zum anderen repräsentieren und stärken die Exkombattanten ein militaristisch ge­ prägtes Weltbild und die damit verbundene militaristisch geprägte Ethik, die in weiten Teilen besonders der männlichen Bevölkerung West Niles auch 30 Jahre nach dem Sturz Amins noch vorherrschen. Dazu gehören die Wir38  Peters. 39  Vgl.

ebd. und Brix.



Die Komplexität der Akteursfigurationen385

Definitionen der West Niler als marginalisierte Region, als „wahre Opfer“ der Geschichte Ugandas und zugleich als Rekrutierungsfeld für „gute Soldaten“.40 Dieses Wir-Bild und der ihm zugehörige, sozial stereotypierte Opferdiskurs wurden zudem durch den Text des Friedensvertrags von 2002 gleichsam offiziell beglaubigt. Die den Einwohnern West Niles kollektiv zugeschriebene Opferrolle verhindert zugleich eine Differenzierung der hiesigen Bevölkerung in Täter und Kriegsopfer, denn diese widerspräche dem sozial homogenisierten heroischen Wir-Bild oder „Gruppencharisma“ (Norbert Elias), das insbesondere von den Exrebellen gepflegt wird.41 Diese Konstellation bildet ein wesentliches Hindernis für eine von den Organisationen und Netzwerken der Exkombattanten unabhängige Selbstorganisation und Interessenartikulation der Kriegsopfer und Opfer von Kriegsverbrechen. Die Anerkennung ihres Opferstatus würde am heroischen Nimbus der Täter kratzen, die weiterhin einen wesentlichen Teil der politischen Elite in dieser Provinz darstellen. Allerdings haben die als Berater an den Friedensverhandlungen beteiligten Entwicklungsorganisationen indirekt an dem Erhalt des heroischen Selbstbildes der Exkombattanten mitgewirkt, weil auch sie die Frage der Kriegsopfer nicht thematisierten. Die von NROs und anderen Entwicklungsorganisationen üblicherweise reklamierten Ziele eines „positiven Friedens“ im Sinn Galtungs wurden zumindest in dieser Hinsicht so gut wie völlig ignoriert. Inzwischen haben die Exkombattanten eigene NROs in Form von Veteranenvereinen gebildet, in denen in West Nile die Kämpfer sowohl der Rebellengruppen als auch der ugandischen Armee zur Regierungszeit Amins vertreten sind. Die ehemaligen Rebellen der UNRF II sind dabei insofern privilegiert, als sie mit einem im Friedensvertrag verankerten „Liaison-Komitee“ eine staatlich anerkannte Vertretung besitzen, die institutionell zwischen der formell aufgelösten Rebellenorganisation und dem Regierungs­ apparat angesiedelt ist. Neben der Organisation der Verteilung der Kompensationsleistungen und Wiedereingliederungshilfen („packages“) an die Exkombattanten überwacht das Komitee auch die Einhaltung der übrigen Bestimmungen des Friedensvertrags.42 Aufgrund des weitgehenden Fehlens anderer nennenswerter Organisationsansätze in der Zivilbevölkerung der Provinz haben die verschiedenen Gruppen von Exrebellen somit weiterhin eine vernehmliche Stimme im öffentlichen Diskurs der Region. Eckert. den Begriffen des Gruppencharismas und Wir-Bildes vgl. Elias / Scotson S. 103–105, passim, Elias 1987, S. 207–315 und die Weiterentwicklung dieser Konzepte bei Rosenthal sowie Rosenthal / Stephan. 42  Vgl. u. a. DED Country Office, Uganda. 40  Vgl. 41  Zu

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Die Exkombattanten spielten zwischenzeitlich auch mit der „offiziell“ unausgesprochenen, aber dennoch vernehmlichen (und nur in diesem Sinn latenten) Drohung, „wieder in den Busch zu gehen“ – sprich: den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen. Entsprechende Gerüchte und ein Überfall auf einen Bus im Jahr 2007 ließen die Regierung zügig reagieren. Neben verstärkten Sicherheitsmaßnahmen sagte die Regierung im selben Jahr die Genehmigung von ca. 100 von Exkombattanten im Rahmen des Weltbankprogramms NUSAF beantragten Projekten zu. Anfang 2010 kursierten zunehmend Informationen, nach denen die Regierung sämtlichen Veteranen in West Nile (Ex-Soldaten der Zeit Amins wie Exrebellen) Kompensations- bzw. Abfindungszahlungen oder (im Fall der Exrebellenkämpfer) Wiedereingliederungshilfen in Geldform gewähren wolle.43 All dies zeigt, dass die Regierung ihr Gewaltmonopol noch als gefährdet sieht oder mindestens die Exkombattanten als einen einflussreichen politischen Faktor in der Region betrachtet. Als interessante neue Plattform lokaler Akteure hat sich ein überparteiliches Netzwerk mit Namen „MAYANK“44 aus Lokalpolitikern, Gemeindevertretern, lokalen Autoritäten (unter ihnen auch die Leiterin der lokalen NRO namens PRAFORD) sowie Vertretern der Exrebellen gebildet, die sich für die weitere Förderung der Entwicklung West Niles einsetzen. Die Grundlage und der wichtigste Bezugspunkt für entsprechende Forderungen an die Zentralregierung ist das Friedensabkommen, wodurch die besondere Rolle der Exkombattanten für West Nile klar sichtbar wird. Das politische Arrangement nach dem Ende des Konfliktes hat vor allem eine Eingliederung der Region in die staatlichen und politischen Strukturen Ugandas bewirkt, so dass diese Region erstmals auch auf der Ebene dörflicher Gemeinden von den formalen Organisationsstrukturen staatlicher Institutionen durchdrungen ist. Der Staat wurde mit seinen Institutionen auch zu einer wichtigen Orientierungsgröße im Sinne von Staatlichkeit als einer Ver­ gesellschaftungsform. Obwohl der Friedensschluss von 2002 auch durch das Engagement lokaler und internationaler nichtstaatlicher Akteure („Track 2“ und „Track 3“) zustande kam, haben diese keine eigenständige Rolle in der „Postkonfliktsituation“ gewonnen. NROs und Entwicklungsorganisationen sind zwar inzwischen auch im Alltag präsent und genießen unter der Bevölkerung Anerkennung als entwicklungspolitische Dienstleister, aber sie sind (evtl. mit Ausnahme der Weltbank) weder politisch einflussreiche Akteure, noch werden die ugandischen NROs als Repräsentanten der Bevölkerung wahrgenommen. Da auch die lokalen Ältesten erheblich an Einfluss verloren haben und keine wichtige formelle Rolle in den neuen Strukturen spie43  Vgl.

z. B. die Zeitung „Saturday Pepper“ vom 13. März 2010, S. 3. MAYAN. Zusammengesetzt aus den Anfangsbuchstaben der Distrikte von West Nile. Zu MAYANK, vgl. DED Country Office, Uganda. 44  Früher:



Die Komplexität der Akteursfigurationen387

len, sind außer dem Staat die Exkombattanten letztlich die stärksten lokalen Akteure, die vor allem über einen gewissen Grad der Organisation verfügen. Allerdings vertreten die Organisationen der Exkombattanten gleichsam eine militärische „Elite“ und damit eine sehr spezifische Gruppe, die nicht nur im neuen Netzwerk MAYANK prominent vertreten ist. II. Northern Region (Ghana): Dreieck aus traditional legitimierten Führern, Staat und NROs Die Konfliktschlichtung im zweiten untersuchten Fall in Nordghana kann als „Paradebeispiel“ für die Wirksamkeit der Akteure auf den so genannten „Tracks 2 und 3“ angesehen werden.45 Wie im Falle des West-Nile-Konflikts führte die Konfliktschlichtung zur Neugestaltung der lokalen sozio­politischen Arrangements. Der kurze, aber heftige Bürgerkrieg, der Anfang 1994 in der größten Provinz Ghanas, der Northern Region, stattfand (mit einem kleinen „Nachspiel“ im Frühjahr 1995), war der blutigste Konflikt in dem ansonsten relativ friedlichen Gebiet Ghanas während der letzten 100 Jahre. In ihm kämpften Angehörige von drei der vier „Häuptlingsethnien“ der Northern Region (der so genannten „majority tribes“ oder „chiefly groups“) gegen Angehörige von drei (vormals) „häuptlingslosen“ Gruppierungen. Bei der vorangehenden politischen Eskalation standen vor allem Konflikte zwischen den (früher) häuptlingslosen Konkomba und zwei der Häuptlingsethnien (Da­ gomba und Nanumba) im Mittelpunkt. Die „Häuptlingsethnien“ verfügten bereits vor der Kolonialzeit über institutionalisierte Herrschaftsämter und eine mehr oder minder fest etablierte überlokale Hierarchie bzw. Pyramide solcher Ämter, die für gewöhnlich nur Angehörigen einer adelsähnlichen Elite zugänglich waren (was in der North­ ern Region großenteils oder im Wesentlichen bis heute zutrifft), während eine überlokal vernetzte Adelsschicht und eine überlokale Hierarchie von Ämtern bei den „häuptlingslosen“ (in der Fachliteratur als „akephal“ bezeichneten) Gruppierungen fehlte. Während der britischen Kolonialzeit stützte sich die Kolonialverwaltung auf die gesellschaftlichen Eliten dieser staatsähnlichen Gemeinwesen und brachte diese Eliten damit in eine einflussreiche Maklerrolle zwischen den jeweiligen Zentralregierungen und der bäuerlichen Bevölkerung Nordghanas. Dabei beanspruchten die Chiefs nicht nur ihre eigenen Gefolgsleute zu repräsentieren, sondern auch die „häuptlingslosen“ Gruppen ihrer Nachbarn – wie der Konkomba, der größten Gruppierung unter ihnen.46 45  Zum 46  Vgl.

Konflikt und dessen Schlichtung siehe auch Bogner 2009a; 2009b; 1998. Bogner 1998; 2009a und 2009b.

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Die historischen Beziehungen zwischen diesen Gruppierungen waren und sind durch ein hohes Maß an Vielfalt, Mehrdeutigkeit, fließender Wandelbarkeit und sozialen wie emotionalen Ambivalenzen gekennzeichnet.47 Obwohl die Rollen der Konkomba gegenüber ihren politisch zentralistischer organisierten Nachbarn im Laufe der Geschichte häufig wechselten und zugleich an verschiedenen Orten sehr heterogen waren, waren sie letztlich oft der ausgebeutete oder benachteiligte Partner in einer asymmetrischen Beziehung, die in der Kolonialzeit durch die traditionalistisch legitimierten Führungsämter der „chiefly groups“ einen formalisierten Ausdruck erhielt und politisch festgeschrieben wurde. Nach einer langsamen und begrenzten (wiewohl politisch erheblichen) Zunahme des Bildungsniveaus und der politischen Organisationsfähigkeit auf Seiten der vormals akephalen Gruppierungen, die in die Bildung ethnopolitischer Vereinigungen mündete, bildete diese historische Konstellation in Ghanas Northern Region den Hintergrund für kriegerische lokale Konflikte in den Jahren 1981 und 1992, in denen sich die numerische und militärische Stärke der Konkomba zeigte, die in eklatantem Kontrast zu ihrer soziopolitischen und kulturellen Marginalisierung stand.48 Im Jahr 1994 kam es zu einer großräumigen Eskalation, nachdem die Situation bereits durch die erwähnten Vorgängerkonflikte sowie durch den Übergang zu einem demokratischen Mehrparteiensystem und die damit verbundenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen (Ende 1992) „aufgeheizt“ war. Den wichtigsten Anlass des Bürgerkrieges 1994 bildete die Forderung der Wortführer der Konkomba, unter ihnen der Vorstand ihrer ethnopolitischen Vereinigung (der so genannten „Konkomba Youth Association“), einem ihrer lokalen Repräsentanten den Status eines vom König der Dagomba unabhängigen Paramount Chief zu verleihen. Damit wollten sie eine autonome Repräsentation ihrer Volksgruppe innerhalb des offiziellen Systems von traditional legitimierten Führungsämtern sowie autonome Landrechte in ihrem angestammten Siedlungsgebiet erringen. Dem stellten sich vor allem die Wortführer der wichtigsten Nachbarethnie, der Dagomba, entgegen, deren König die Oberherrschaft sowie die (treuhänderische) Kontrolle über das Landeigentum für dieses Gebiet beansprucht. Nach einer für mehrere Monate sichtbaren Eskalation der interethnischen Spannungen in der North­ ern Region kam es schließlich zu einem Ausbruch bewaffneter Kämpfe zwischen den (früher) akephalen Konkomba und drei der vier „majority tribes“. Als Kämpfer traten dabei die jungen Männer der beteiligten Grup47  Vgl. Bogner 2009a; 1998, S. 258. Ein Beispiel für solche „soziologischen Ambivalenzen“: bei akephalen Gesellschaften ist es nicht ungewöhnlich, dass potenzielle Schwiegerverwandte zugleich potenzielle Kriegsgegner sind (Trotha 1987, S. 7). 48  Vgl. u. a. Brukum; Pul; Talton; Wienia; Bogner 1998.



Die Komplexität der Akteursfigurationen389

pen auf, die der Führung ihrer „Chiefs“ bzw. der Ältesten der Dörfer und Klans unterstellt waren. Der Konflikt dauerte sechs bis zwölf Wochen und forderte schätzungsweise zwischen 2.000 und 10.000 Todesopfer. Noch während die Kampfhandlungen anhielten, wurde ein regierungs­ offizielles Verhandlungsteam eingesetzt, das so genannte „Permanent Peace Negotiation Team“ (PPNT). Dabei verfolgten die Vertreter der Regierung eine machtbasierte Mediationsstrategie und verhandelten jeweils nur einzeln mit den vier Delegationen, um diese so besser unter Druck setzen zu können.49 Während die Streitkräfte mit ihren militärischen Aktionen offenbar darauf abzielten, vor allem die militärisch in der Offensive befindlichen Konkomba zurückzudrängen oder aufzuhalten, versuchte anscheinend das Verhandlungsteam der Regierung, vorzugsweise die Gegner der Konkomba politisch-diplomatisch unter Druck zu setzen und zu politischen Konzessionen zu bewegen. Unter den Verhandlungsführern der Regierung waren nicht zuletzt Vertreter der Sicherheitskräfte des Staates. Als sich das Scheitern dieser Bemühungen dieser von der Regierung beauftragten Verhandlungsführer abzeichnete, unternahmen im Frühjahr 1995 die im Konfliktgebiet engagierten nichtstaatlichen Hilfs- und Selbsthilfeorganisationen einen eigenen Vermittlungsversuch. Zu diesem Zweck wurden zwei Mitarbeiter einer auf Mediation spezialisierten NRO aus Kenia, der Nairobi Peace Initiative, eingeladen, diesen Vermittlungsversuch anzuleiten und gemeinsam mit dem informellen „Inter-NRO Consortium“ der ghanaischen NROs durchzuführen. Die Vertreter der NROs hatten im November 1994 die Zustimmung der damaligen Regierung unter Jerry Rawlings zu einer Friedensvermittlung auf lokaler Ebene eingeholt. Eine große Gruppe aus Mitarbeitern der NROs aus Ghana und Kenia besuchte mehrere Distrikte des Konfliktgebiets und sprach mit Chiefs und anderen Wortführern der betroffenen ethnischen Gruppierungen vor Ort, oft in (halb-)öffentlichen Versammlungen unter reger Beteiligung der lokalen Bevölkerung. Diese Gespräche nutzten die Mediatoren nicht zuletzt dazu, um innerhalb der Kriegsparteien angesehene oder einflussreiche Persönlichkeiten zu identifizieren, die potenziell als „Stimmen der Vernunft“ oder „Brückenbauer“ wirken könnten. Vor allem solche Personen wurden zu dem geplanten ersten „Workshop“ mit Angehörigen der vier wichtigsten Kriegsparteien eingeladen. Nach sorgfältiger Vorbereitung wurden danach sechs Workshops mit ausgewählten Angehörigen der Kriegsparteien auf „neutralem Boden“, in der außerhalb der Konfliktregion liegenden Stadt Kumasi, durchgeführt. Dabei gelang es unter den Stichworten „Entwicklung“ und „Wiederaufbau“ erst49  Wienia,

S. 85; Bogner 2009a und 2009b.

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mals seit Ausbruch des Bürgerkriegs, Meinungs- und Wortführer der Kriegsgegner zur Aufnahme eines Dialogs und schließlich zu direkten Verhandlungen zu bewegen. Aus dem Kreis der Teilnehmer der Workshops formten sich gemischte Teams mit „Vertretern“ aller Kriegsparteien sowie ein Follow-up Committee, bestehend aus je vier Angehörigen der vier wichtigsten Kriegsparteien. Beide Gruppen bemühten sich in der Folgezeit um die Vermittlung der Ergebnisse der hier geführten Gespräche an die lokale Bevölkerung. An den Workshops nahmen mit dem Fortgang des Mediationsprozesses zunehmend mehr prominente Angehörige und Repräsentanten der Konfliktparteien teil, allerdings von Anfang an auch hochrangige Chiefs und andere prominente Wortführer der Kriegsgegner. Eine wesentliche Forderung der Teilnehmer war es auf jedem Workshop stets, eine noch größere Zahl von Repräsentanten und Wortführern ihrer jeweiligen Gruppierung als bisher einzubeziehen, um so einer politischen und sozialen Isolierung der Workshop-Teilnehmer im Lauf der Verhandlungen entgegenzuwirken. Diese Dynamik prägte wesentlich den Verlauf des gesamten Schlichtungsprozesses. Die in Kumasi durchgeführten Workshops und die diese begleitenden Aktivitäten führten schließlich zum Abschluss des „Kumasi Peace Accord“ von 1996. Man kann sagen, dass dieser Vertrag eine verhältnismäßig weitgehende Übereinkunft zwischen fast allen in den „Northern Conflict“ von 1994 verwickelten Gruppierungen zum Ausdruck brachte beziehungsweise schuf. Eine Ausnahme waren die Gonja und Nawuri, die in einen weiteren lokalen Konflikt (in Kpandai) verstrickt waren. Als sich ein Erfolg der Vermittlung abzeichnete, boten die Vermittler den vergleichsweise erfolglosen Verhandlungsführern der Regierung an, mit ihnen gemeinsam die nächsten Workshops in Kumasi zu organisieren und zu moderieren. Dies wurde letztlich ebenso abgelehnt wie dem ausgehandelten Friedensabkommen eine regierungsoffizielle Anerkennung und Rückendeckung zu geben. Genau genommen hatten sich die NROs mit dem Friedensabkommen entgegen den Vorgaben der Regierung nicht auf die lokale Ebene beschränkt, sondern eine umfassende Konfliktschlichtung angestrebt und waren damit erfolgreich gewesen. Von einigen unserer Interviewpartner50 wurde die Vermutung geäußert, das Verhandlungsteam der Regierung hätte sich in einer Konkurrenzsituation zu den Mediatoren der NROs gesehen und hätte eine Blamage durch eine öffentliche Anerkennung für deren Verhandlungserfolg vermeiden wollen. Eine zentrale Grundbedingung für den Vermittlungserfolg war zweifellos, dass es der Zentralregierung und ihren Streitkräften möglich war, die 50  Interviews mit Emmanuel Bombande, Accra, 20. April 2006, und mit Isaac Osei, Accra, 11. Juni 1997. Vgl. Bombande, S. 221–222; Linde / Naylor, S. 43.



Die Komplexität der Akteursfigurationen391

Kampfhandlungen im Wesentlichen auf die größte der drei nördlichen Provinzen, die Northern Region, zu begrenzen und nach einigen Wochen zu einem Stillstand zu bringen. Damit blieb der Bürgerkrieg in Nordghana in seinen Wirkungen auf die Stabilität des Nationalstaats verhältnismäßig beschränkt. Ohne diese Rückendeckung durch eine zumindest ansatzweise funktionierende friedensstiftende Ordnungsfunktion der Staatsmacht wäre der Verhandlungserfolg der NROs so nicht denkbar gewesen. Vor allem war es auch durch das Eingreifen der Streitkräfte zwischen den Konfliktparteien zu einer militärisch-politischen Pattsituation gekommen, die für fast alle Konfliktparteien mit beträchtlichen (nicht zuletzt ökonomischen) Nachteilen verbunden war. Dazu gehörten die Unterbindung der Handelsbeziehungen zwischen den Kriegsparteien und eine erheblich beeinträchtigte Nahrungsmittelversorgung, von der die Mitglieder der „Häuptlingsethnien“ stärker als die Konkomba betroffen waren, und der weitgehende Verlust örtlicher Mobilität für ihre Kriegsgegner. Dies betraf überwiegend die militärisch stärkeren Konkomba, die trotz ihres Übergewichts im ländlichen Raum aus fast sämtlichen Städten und den meisten Teilen dieser Provinz faktisch verbannt waren. Diese Einschränkung ihrer räumlichen Mobilität wirkte sich besonders nachteilig für die schulgebildete Minderheit innerhalb dieser ethnischen Gruppierung aus, aus der sich deren Meinungsführer überwiegend rekrutierten. Auch in diesem Kontext kann vom schmerzenden Patt im Sinne Zartmans gesprochen werden.51 Die Initiative zu den Vermittlungsbemühungen und die Fähigkeit zu deren Umsetzung basierten auch auf persönlichen Kontakten und Vertrauensbeziehungen einiger für den Schlichtungsprozess maßgeblicher NRO-Mitarbeiter sowie auf deren guten Kenntnissen der lokalen Verhältnisse im Konfliktgebiet.52 Hinzu kam, dass ein Mitarbeiter der kenianischen NRO, der Nairobi Peace Initiative selbst aus Nordghana stammte und deshalb am Zustandekommen dieser Kooperation in besonderem Maß interessiert war. An diesen und ähnlichen Details lässt sich die hohe Relevanz des lokalen, kontextgebundenen Wissens und von persönlichen Kontaktbeziehungen für den Erfolg dieses Schlichtungsprozesses aufweisen. Es gelang zudem von Beginn an, hochrangige Chiefs und bedeutsame Meinungsführer der betroffenen Volksgruppen einzubinden. Das gemeinsame Gespräch wurde durch persönliche Bekanntheit oder Vertrautheit vieler Teilnehmer über die Grenzen der Konfliktparteien hinweg erleichtert, oft infolge (generationstypischer) biographischer Gemeinsamkeiten in den Bildungs- und Berufswegen. Diese „cross-cutting ties“ innerhalb der sozialen 51  Zartmann

1985, 2000. Vgl. Bogner 2009b, S. 54–58. diesen und anderen Aspekten der Schlichtung vgl. Bogner 2009a; 2009b sowie Wienia, insbes. S. 75–94. 52  Zu

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Elite(n) der Provinz erleichterten es, wieder Vertrauen zwischen den Angehörigen der Konfliktparteien aufzubauen. Mindestens ebenso entscheidend für den Erfolg der Verhandlungen war jedoch die Aufweichung einheitlicher Konfliktfronten (auf beiden Seiten) als Folge einer Reihe lokalspezifischer Entwicklungen und lokaler Konflikttransformationen, die als Ausdruck fließender politischer und militärischer Machtbalancen zu begreifen sind. Teilweise waren die militärisch zentral wichtigen Konkomba nur am Rande involviert und schlossen bereitwillig Frieden (so im Gonja-Gebiet). In einem anderen „Subkonflikt“ (im Nanumba-Gebiet) hatten die Konkomba militärisch eindeutig die Oberhand gewonnen, stellten aber mittlerweile nur relativ maßvolle Forderungen an ihre lokale Gegenpartei.53 Sehr wichtig ist schließlich der Umstand, dass es den Nichtregierungs­ organisationen gelang, die nichtadeligen Meinungsführer der Konkomba, die in der „Konkomba Youth Association“ organisiert waren, zu akzeptierbaren Verhandlungspartnern auch für die hochrangigen Chiefs der „majority tribes“ zu machen. Nur so wurden ernsthafte Verhandlungen zwischen den Meinungsführern beider Seiten überhaupt ermöglicht, womit eine indirekte Anerkennung des politischen Autonomieanspruchs der Konkomba verbunden war. Sowohl der Erfolg wie die Grenzen dieses Friedensprozesses zeigten sich daran, dass während der vergangenen 14 Jahre fast überall in der Northern Region intraethnische Konflikte die zuvor dominanten interethnischen Spannungen überschatteten und kurzzeitig zu bewaffneten Kämpfen kleinerer Größenordnung eskalierten. Dies gilt vor allem für den Konflikt innerhalb der Dagomba, der größten Volksgruppe Nordghanas, um die Ermordung und Nachfolge ihres im Jahr 2002 getöteten Königs.54 Das im vormaligen Kriegsgebiet inzwischen durchgängige Phänomen einer Substitution von interethnischen durch intraethnische Konflikte und Spannungen zeigt, dass ein Schlichtungserfolg nicht bedeutet, dass eine generelle Neigung zur bewaffneten Konfliktaustragung in einer sozialen Figuration eingedämmt ist. Obwohl derzeitig gerade diese Substitution durch intraethnische Konflikte eine Neuauflage des Krieges von 1994 als unwahrscheinlich erscheinen lässt, wird durch die intraethnischen Nachfolgekonflikte eine gewaltfreie Aushandlung und Neudefinition der interethnischen Beziehungen zwischen den Volksgruppen blockiert, die für eine nachhaltige Befriedung Nordghanas dringend erforderlich wäre. Im politischen Arrangement nach dem Friedensschluss sind in den so genannten „majority tribes“ weiterhin die traditional legitimierten Autoritä53  Bogner

2009a und 2009b; vgl. Wienia, S. 25–26; 88. et al., S. 191–205; MacGaffey und Anamzoya.

54  Awedoba



Die Komplexität der Akteursfigurationen393

ten (vor allem die Chiefs) die wesentlichen Akteure. Sie waren maßgeblich an den Friedensabkommen beteiligt, die den 1994 / 95er Konflikt beendeten und sind nun zentrale Protagonisten der neu aufgebrochenen intraethnischen Konflikte. Als Folge des teilweise erfolgreichen Aufbegehrens gegen die Dominanz der „majority tribes“ sind auch die Führer der vormals akephalen Gruppierungen auf dem Weg dazu, sich innerhalb des offiziellen neo-traditionalen Chieftaincysystems zu etablieren. Vermutlich werden auf diesem Weg auch unter ihnen erbliche Häuptlingsämter (und unter ihren Familienverbänden vererbbare Rangpositionen ähnlich zu Adelsrängen) formal etabliert werden. Die Folgen für die soziopolitischen Strukturen der akephalen Gruppierungen sind bislang aber noch relativ offen. Auf jeden Fall verfügen die Führer dieser Gruppierungen damit neben den bereits bestehenden, eher zivilgesellschaftlichen Organisationen der regionalpolitisch aktiven „youth associations“ zunehmend über ein weiteres politisches Sprachrohr. Daneben gewinnen sie langsam an Boden in den höheren Positionen des Staatsapparats. Bezeichnenderweise wurde 2010 zum ersten Mal ein Konkomba zum Regional Minister der Northern Region ernannt. Trotz dieser Teilerfolge ist die Perspektive der Konkomba im öffentlichen Diskurs noch recht wenig präsent. Im Unterschied zur Situation in Norduganda sind die an den bewaffneten Konflikten aktiv beteiligten Kämpfer weiterhin fest in die als „tradi­ tional“ definierten lokalen Strukturen eingebunden. Sie haben sich weder von den traditional legitimierten Autoritäten („Chiefs“ oder Klanführern) losgelöst noch als eigene Interessengruppe etabliert. Das gilt besonders für die als ethnopolitische Wortführer auftretenden „youth associations“. Sie agieren im Namen und für ihre jeweilige ethnische Gruppierung. Auch die klassischen NROs, können den lokalen Einfluss und politischen Führungsanspruch der traditional legitimierten Autoritäten nicht umgehen, da sie für ihre alltägliche Arbeit auf die Kooperation der Chiefs und Klanführer angewiesen sind. Am ehesten können sich religiöse NRO deren direktem Zugriff entziehen. Die staatlichen Institutionen (Zentralstaat und Lokalverwaltung) spielen in den aktuellen intraethnischen Konflikten, solange sie nicht gewalttätig eskalieren, zunächst eine reduzierte Rolle; denn diese Konflikte, die in der Regel die Besetzung von Häuptlingspositionen betreffen, gehören in den Bereich der Gerichtsbarkeit der Chiefs. Allerdings hat das Eingreifen der Sicherheitskräfte während des 1994 / 95er Konflikts unterstrichen, dass der Staat einerseits das Gewaltmonopol nicht lückenlos durchsetzen kann. Andererseits vermochte er die Gewalt erfolgreich einzuhegen. Damit schuf er die militärische Grundlage für erfolgreiche Friedensverhandlungen und hat sich dadurch zumindest teilweise als politische Kraft in dieser peripheren Region bestätigt und befestigt. Zugleich waren seine Bemühungen um eine

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Verhandlungslösung nicht erfolgreich. Vielmehr erwies sich das Zusammenwirken nationaler, ausländischer und internationaler NROs inklusive einer auf Friedensvermittlung spezialisierten kenianischen NRO („Nairobi Peace Initiative“) mit lokal gut vernetzten Vermittlern als ein wichtiges Instrument zur Schaffung des Friedens. Dass eine verstärkte Rolle der NRO im Bereich des lokalen wie regionalen Konfliktmanagements durchaus mit einer erneuten Betonung der Bedeutung der Chiefs als Konfliktschlichter einhergehen kann, zeigt unter anderem der aktuelle Konflikt um die Thronfolge bei den Dagomba.55 Offensichtlich ist als Folge des erfolgreichen Friedensprozesses der Neunzigerjahre zwischen den NROs, den traditional legitimierten Führern und der Regierung ein Dreieck von Kooperationsbeziehungen entstanden, das nicht frei von Konkurrenzaspekten ist. Dieses Dreieck kennt nicht zuletzt deswegen neben offenen auch verdeckte – kaum öffentlich transparente – Formen der Kooperation zwischen den drei Partnern (wie unter anderem an der halb verhohlenen Rückendeckung der Regierung für die – ebenfalls manchmal oder teilweise verdeckten – Schlichtungsbemühungen der NROs deutlich wird). Insgesamt sind die traditional legitimierten Eliten, besonders die Chiefs, zwar weiterhin im lokalen politischen Diskurs bestimmend, jedoch zunehmend in dieses Dreieck eingebunden. Neben der so voranschreitenden Präsenz des Staates ist jedoch die allmähliche Etablierung von NROs als Streitschlichter bemerkenswert, da diese Funktion bislang allein den traditional legitimierten Eliten und / oder dem Staat zufiel. Die Integration der NRO in das politische Arrangement kann allerdings nicht pauschal mit einem Zuwachs an Demokratie, an „Zivilgesellschaft“ oder „Öffentlichkeit“ gleichgesetzt werden. Die klassischen NROs agieren vor allem als profes­ sionelle Vermittler und nicht als zivilgesellschaftliche Vertreter der Bevölkerung. Sie sind praktisch überwiegend als Filialen oder Auftragnehmer internationaler oder ausländischer Organisationen zu begreifen und als solche mehr in organisationsinterne und internationale Diskurse eingebunden als in die lokalen Debatten. Sie handeln zudem innerhalb des neu entstandenen politischen Dreiecks oftmals in vertraulichen Gesprächen „hinter den Kulissen“, so dass die „Öffentlichkeit“ weiterhin ausgeschlossen bleibt. Die vermehrte Komplexität und Vielzahl der Akteure lässt die politischen Prozesse sogar oft anonymer und undurchsichtiger erscheinen als unter autokratischen oder autoritären Verhältnissen. Trotzdem trägt die Mitwirkung der NROs und anderer nichtstaatlicher Akteure wie im Fall Nordghanas zu einer Legitimierung des gesellschaftlichen Rahmens bei, innerhalb dessen sie agieren. Das Unbehagen, das in diesem Kontext viele – auch europäische – Beobachter artikulieren, lässt sich unter anderem und wohl nicht 55  Bogner

2009a; vgl. MacGaffey, S. 88.



Die Komplexität der Akteursfigurationen395

zuletzt auf diese „Nachteile“ pluralistischer und polyzentrischer Machtstrukturen zurückführen.56 Festzuhalten ist daran aber auch: Entgegen dem Augenschein kann soziopolitischer Pluralismus auch ein Indiz für die Konsolidierung von Staatlichkeit (als Vergesellschaftungsform) darstellen57 – unter den Bedingungen postkolonialer Gemeinwesen nicht weniger als früher unter den Bedingungen der „indirect rule“. III. Folgerungen Die hier beschriebenen Fälle zeigen, dass bei der Bewältigung recht unterschiedlich gelagerter Konflikte zivilgesellschaftliche Akteure tatsächlich in die Konfliktregulierung einbezogen sind. Sie agierten erfolgreich im asymmetrischen Konflikt in Ugandas Region West Nile, in dem eine Rebellenbewegung gegen die nationale Regierung kämpfte, ebenso wie im „North­ ern Conflict“ in Ghana mit einer größeren Anzahl miteinander koalierender lokaler Konfliktparteien. In beiden Fällen wird aber auch deutlich, dass das von Zartman beschriebene „schmerzende Patt“ („hurting stalemate“) sehr gut die Situation beschreibt, in der die Verhandlungen zustande kommen. Ein wesentlicher Faktor für die militärische Pattsituation war in beiden Fällen die Präsenz und Stärke der Regierungsarmee. Im Falle Ugandas drängte sie die Rebellen in die Defensive, ohne sie allerdings völlig besiegen zu können. Im Fall Ghanas blockierte die gleichsam von außen in den Konflikt eingreifende Armee zunehmend die bewaffnete Austragung des Konflikts, konnte diesen aber nur mit Hilfe der NROs politisch beenden. Zumindest in diesen beiden Fällen konnten zivilgesellschaftliche Akteure erst dann erfolgreich agieren, als der Konflikt wiederum im Sinne Zartmans „reif für die Lösung“ war.58 Schon dieser Befund zur Ausgangslage sollte davor bewahren, die Einflussmöglichkeiten von zivilgesellschaftlichen Akteuren zu überschätzen und die Rolle des Staates auszublenden. Darüber hinaus zeigen beide Fälle eindrucksvoll, dass die Verhandlungskonstellationen und die daraus resultierenden politischen Arrangements weit komplexer sind als das einfache dichotome Muster von „Zivilgesellschaft“ und „Staat“ nahe legt. Insofern ist die formale Beschreibung der nationalen und lokalen Ebene von Verhandlungen neben staatlicher Diplomatie mit „Track 2“ und „Track 3“ durchaus angemessen. Diese Bezeichnung ist allerdings nur eine Leerformel, die jeweils konkret zu füllen ist. Für unsere Fälle gilt, dass der Staat gewissermaßen doppelt repräsentiert ist. Zum einen agiert MacGaffey, S. 80. verwandten Schlussfolgerungen – jedoch ohne Bezug auf NROs – gelangt Lund für ein anderes Konfliktgebiet in Ghana, die Stadt Bawku. 58  Zartman 1985, 2000. 56  Ähnlich 57  Zu

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die nationale Regierung mit ihrem Militär. Zum anderen ist die Lokalverwaltung ein wichtiger Akteur, insbesondere in Uganda, wo sie durch (relativ) freie lokale Wahlen auch eine genuine Repräsentation lokaler politischer Interessen im neuformierten politischen Arrangement darstellt. In beiden Fällen hat die Regulierung des Konflikts zum Vordringen staatlicher Strukturen in die dörfliche Peripherie geführt. Wiederum ist dies in Uganda besonders eindrucksvoll, wo durch die Aufteilung in kleinere Distrikte und den durch den Frieden ermöglichten Ausbau auch unterer lokaler Verwaltungsebenen die Verwaltung näher an die Bevölkerung gerückt ist. Dies hat ambivalente Wirkungen. Obwohl die Durchsetzung des bürokratischen Staates mit seinen formalisierten Organisationsstrukturen hinsichtlich der Umsetzung eines faktischen Gewaltmonopols noch prekär ist, schränkt die Etablierung der Lokalverwaltung die Autonomie lokaler Akteure (und damit die „zentrifugalen Tendenzen“ der Herrschaftsorganisation im Sinn Elias’) erkennbar ein. Gleichzeitig erlauben dezentrale Verwaltungsstrukturen, die nun eingeschränkte lokale Autonomie legal und teilweise „innerhalb“ des Staates zu praktizieren. In Ghana nehmen zu einem erheblichen, wenn nicht überwiegenden Teil die „Chiefs“ diese Rolle ein und bilden einen verfassungsmäßigen vierten Arm der Staatsorganisation (dessen Handeln an lokal unterschiedlichen Formen des „customary law“ orientiert ist). Damit ist hier ein Pluralismus bzw. Polyzentrismus der politischen Machtzentren, der Befehlsketten, Loyalitätsbeziehungen und Legitimationsformen sowie der entsprechenden Herrschaftsnormen institutionalisiert und legalisiert. Die Chiefs agieren hier (vor allem auf der lokalen und Provinzebene) praktisch in einer Doppelfunktion: als lokale Amtsträger und Repräsentanten des Staates, aber zugleich ebenso als traditional legitimierte lokale Gegengewichte zu der bürokratisierten sowie teilweise dezentralisierten und demokratisierten Verwaltung. Die in beiden Fällen aktiven zivilgesellschaftlichen Akteure entsprechen nicht der gängigen Vorstellung der Demokratietheorie. Die meisten der NROs sind keineswegs in erster Linie als eine Vertretung der Lokalbevölkerung anzusehen, vielmehr werden sie vor allem als Dienstleister wahrgenommen, die Zugang zu internationalen Entwicklungsressourcen haben beziehungsweise über Techniken und personelle wie finanzielle Mittel zur Moderation von Verhandlungen verfügen. Dies gilt auch für die wenigen NROs, die primär lokal verankert sind. In beiden Fällen nutzten einige NRO-Vertreter bereits bestehende persönliche und professionelle Beziehungen zu beiden Seiten der Konfliktparteien, um Verhandlungen zu ermög­ lichen und vorzubereiten. In beiden Ländern treten sie der lokalen Bevölkerung jedoch auch als beruflich erfolgreiche und insofern „ein Beispiel gebende“ Mitbürger gegenüber, die günstige Positionen im modernen gesellschaftlichen Sektor der formalen Organisationen erlangt haben. In Nordghana ebenso wie Norduganda agieren die NRO-Mitarbeiter dabei als



Die Komplexität der Akteursfigurationen397

ein Segment der lokalen wie nationalen Eliten der Gesellschaft, das mit anderen Segmenten dieser Elite / n eng vernetzt ist. Sie tragen durch ihren beruflichen Erfolg und ihr so erlangtes Ansehen zur Legitimierung derjenigen gesellschaftlichen Rahmen bei, innerhalb derer sie erfolgreich agieren. In West Nile in Norduganda übernahmen neben der erwähnten lokalen NRO und manchen Ältesten auch einige gewählte Vertreter der Lokalverwaltung bei der Anbahnung der Friedensverhandlungen ähnlich wichtige Rollen. Gerade auf der unteren Ebene („Track 3“) können die fraktionsübergreifenden sozialen Verknüpfungen („cross-cutting ties“) mobilisiert werden. Die NROs als Organisationen kamen ins Spiel, um Treffen und Workshops zur Vorbereitung der Verhandlungen auszurichten, was insbesondere in Ghana ein wichtiges Element des Vermittlungsprozesses war. In Uganda agierten NROs gemeinsam mit ausländischen staatlichen und multilateralen Entwicklungsorganisationen auch als Berater der Rebellen während der Verhandlungen. Zugleich stellten die Entwicklungsorganisationen die Mittel für den versprochenen Wiederaufbau und die weitere Entwicklung in Aussicht. Dementsprechend macht die ugandische Lokalbevölkerung keinen Unterschied zwischen NROs und ausländischen staatlichen oder multilateralen Entwicklungsorganisationen. Auch durch diese an sie gerichteten Erwartungen als Entwicklungsdienstleister sind sie Teil desjenigen politischen Arrangements, das „Staatlichkeit“ (als Vergesellschaftungsform) ermöglicht und konstituiert. Ihnen werden mit dem Ausbau der lokalen technischen und sozialen Infrastruktur letztlich Aufgaben zugesprochen, die nach konventionellem westlichem Verständnis eigentlich in den Verantwortungsbereich des Staates gehören. Die lokalen NROs agieren wie so oft in der Entwicklungszusammenarbeit eher wie durch das Ausland finanzierte (wiewohl nicht profitorientierte) Consultingunternehmen und sind ebenso wenig wie die ausländischen staatlichen oder multilateralen Entwicklungsorganisationen als Repräsentanten einer lokalen Zivilgesellschaft anzusehen.59 In Ghana hat sich eine andere Konstellation ergeben. Nach dem Erfolg der professionellen Friedensvermittler im großen interethnischen Konflikt werden sie nun zunehmend auch als Schlichter in intraethnischen Konflikten eingeschaltet. Damit etablieren sich diese mehr oder minder professionalisierten Schlichter neben den lokalen, traditional legitimierten Autoritäten und dem Staat als weiterer Akteur im Feld der gesellschaftlichen Konfliktregulierung und Gewaltkontrolle. Wiederum wächst ihnen diese Aufgabe nicht zu, weil sie als zivilgesellschaftliche Vertreter der Bevölkerung oder von Teilen der Bevölkerung wahrgenommen werden, sondern aufgrund ihrer spezifischen professionellen Kompetenz und der vorhandenen Mittelausstattung. In beiden Fällen etablieren sich die NROs wie auch andere Entwicklungsorgani59  Neubert

1997.

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sationen auf der lokalen Ebene und erweitern das politische Arrangement als international angebundene Akteure und binden die lokale Ebene nun auch (bzw. vermehrt) in die internationalen oder globalen Netzwerke und institutionellen Arrangements mit ein. Es gibt aber in beiden Regionen durchaus lokal verankerte zivilgesellschaftliche Organisationen, die allerdings andere Funktionen übernehmen, als sie üblicherweise diesen Organisationen zugeschrieben werden. In Ghana existierten schon lange vor den Konflikten die ethnopolitischen „youth associations“, die sich in aller Regel als eine Kombination von ethnischer Interessenvertretung und lokaler Entwicklungsorganisation verstehen und ihre Ressourcen überwiegend von wohlhabenden Mitgliedern der jeweiligen ethnischen Gruppierung (vor allem in den Städten) akquirieren.60 Sie waren in den interethnischen Konflikten in der Northern Region eher Partei und weniger Vermittler. Allerdings haben sich die „Konkomba Youth Associa­ tion“ und die „Nanumba Youth Association“ im Zeitraum zwischen den kriegerischen Konflikten von 1981 und 1994 mehrmals gemeinsam darum bemüht, die explosiven Spannungen zwischen ihren beiden Volksgruppen zu dämpfen oder zu begrenzen.61 Es ist daher (ebenso wie im Fall der Chiefs) durchaus verfehlt, wie es manchmal geschieht, die „youth associations“ Nordghanas nur als Konflikttreiber zu betrachten bzw. sie auf diese Rolle zu reduzieren. Vielmehr haben diese (in vielen Aspekten zivilgesellschaft­ lichen) Organisationen im hiesigen Konfliktfeld ein Janusgesicht – darin durchaus mit den historischen nationalistischen Bewegungen in Europa und anderswo vergleichbar. In Uganda ist die Parteilichkeit, der „Partikularismus“ der lokalen Zivilgesellschaft noch deutlicher ausgeprägt. Die dort entstandenen Exkombattanten-Verbände agieren mit dem (mehr oder weniger verhüllten) Verweis auf ihre mögliche Kampfbereitschaft potenziell konfliktverschärfend. Sie unterscheiden sich somit deutlich von der Gemeinwohlorientierung der Entwicklungsorganisationen. Zugleich stellt die Formierung der Exkombattanten als eigene politische Kraft ein wichtiges Element des politischen Arrangements in West Nile dar, das konzeptionell gern an den Rand gedrängt wird. Die Exkombattanten haben sich nicht nur dem Zugriff der lokalen Ältesten entzogen, sondern verfügen über formale Organisationen, mit denen sie im neuen Post-Konflikt-Arrangement wirksam agieren. Mitglieder der WNBF sind gut in den genannten Veteranenvereinen repräsentiert und die UNRF II verfügt mit einem im Rahmen des Friedensschlusses eingerichteten Liaison-Komitee über ein eigenes politisches Forum. Die Bedeutung der Exkombattanten der UNRF II auf der lokalen politischen Bühne 60  Vgl.

Lentz; Bogner 1998, S. 273–81. S. 68–69, 72.

61  Wienia,



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zeigte sich u. a. in ihrer formellen Repräsentation in dem im Aufbau begriffenen lokal- und regionalpolitischen Netzwerk für West Nile (MAYANK). Sie konnten sich, so wird hier sichtbar, als wichtiger neuer lokaler politischer Akteur etablieren. Ein weiteres wesentliches Element der lokalen politischen Arrangements neben dem Staat, den (formal) zivilgesellschaftlichen Organisationen und (in Uganda) den Exkombattanten sind die traditional legitimierten lokalen Autoritäten sowie lokale Krieger. In Ghana sind dies die Chiefs bzw. Klanführer. Sie sind politische Repräsentanten ihrer Gruppen, die Chiefs haben eine offizielle Stellung im Rahmen des ghanaischen politischen Systems und kontrollieren (faktisch) die Krieger ihrer Gruppen. Allerdings ist der Staat als Gegenüber stärker geworden und die professionellen Friedensvermittler aus den Reihen der NROs und der Entwicklungsorganisationen (wie z. B. des UNDP) agieren mit zunehmendem Einfluss in einem der ureigenen Funktionsfelder der Chiefs. Auch wenn es oft wiederum die Chiefs sind, die sich in Konfliktfällen der „modernen“ Friedensvermittler als Helfer bedienen, muss festgestellt werden, dass das lokale politische Arrangement komplexer und pluraler geworden ist. In Uganda sind die Veränderungen für die lokalen, traditional legitimierten Führer gravierender. Die Ältesten haben im Verlauf des Bürgerkriegs bereits einen Großteil ihres Einflusses verloren. Ein Grund waren die tiefen Verwerfungen als Folge der von 1979 bis 2002 anhaltenden militärischen Konflikte. Darüber hinaus verstanden sich die aus der ugandischen Armee zur Zeit Amins hervorgegangen Rebellen trotz ihrer weitgehenden ethnischen Homogenität als professionalisierte Armee mit entsprechenden Rängen und Kommandostrukturen und nicht als Stammeskrieger. Damit verloren die Ältesten den Zugriff auf die Kämpfer und waren am Friedensschluss nur indirekt beteiligt. Zudem erweisen sich nach dem Ende des Konflikts die stark dezentralisierten ugandischen Verwaltungsstrukturen als effizient und entwerten die Rolle der lokalen Ältesten bei der Regelung lokaler Verwaltungsfragen. Diese politischen Arrangements haben ebenfalls weitreichende Auswirkungen auf die Postkonfliktordnung. Internationale Akteure und insbeson­ dere NROs, die im Bereich Konfliktmanagement tätig sind, propagieren das eingangs formulierte Ziel des „positiven Friedens“ einschließlich einer Übergangsjustiz, die sich nicht nur auf eine Amnestie für Kämpfer beschränken soll. Dessen Verwirklichung stößt jedoch an mehrfache Grenzen. Im Falle Nordghanas wurde der Frieden auf der Basis lokaler Vorstellungen von Versöhnung und Ausgleich ausgehandelt. Dies beinhaltete politische Kompromisse, aber keine Vereinbarungen über Kompensationszahlungen zwischen den Konfliktparteien. Das Element der Verfolgung von „Kriegs-

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verbrechen“ ist in dieser Art von Friedensschluss, wie es scheint, völlig unbekannt. Noch deutlicher werden die Widersprüche beim Versuch, einen „positiven Frieden“ auszuhandeln, im Falle Nordugandas. Dieses Vorhaben scheitert schon daran, dass die Verhandlungspartner nur einem Frieden zustimmen, der ihnen attraktive Perspektiven sichert, wozu neben Straffreiheit finanzielle und politische Anreize gehören. Genau dieses wurde mit der Amnestie und den Demobilisierungspaketen geboten. Insofern lässt sich hier gleichsam von einem „gekauften Frieden“ sprechen. Damit war die Verfolgung der Rebellen wegen Kriegsverbrechen nicht mehr möglich. Da auch die Ältesten keine angemessene Aufarbeitung leisten konnten, werden die Kriegsverbrechen der Rebellen praktisch nicht mehr angesprochen. Kriegsverbrechen der Regierungsseite standen nie zur Debatte. Genau diese Lösung des Konflikts begünstigt die völlige Vernachlässigung der Frage der (zivilen) Kriegsopfer. Bemerkenswert ist, dass die ausländischen und internationalen Entwicklungsorganisationen trotz ihrer Einbindung in den Friedens- und Verhandlungsprozess die Kriegsopfer nicht einmal thematisierten. Sie waren offensichtlich vornehmlich mit der Frage beschäftigt, wie der Konflikt überhaupt zu einem friedlichen Ende geführt werden konnte.62 Dies und die „latente“ und teilweise auch offene Drohung der Exkombattanten, den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen, unterstreicht das Dilemma der Friedensstifter, die die Chance auf Frieden überhaupt gegen die schwer erfüllbare Hoffnung eines „positiven Friedens“ inklusive einer Verfolgung der Kriegsverbrechen abwägen müssen.63 Das Fehlen der Aufarbeitung oder zumindest der Kompensation von Kriegsverbrechen wird gerade in Uganda von der lokalen Bevölkerung durchaus eingeklagt, wobei die nach den langen Bürgerkriegsjahren kaum noch umsetzbare Erwartung besteht, dies im Rahmen traditional legitimierter Methoden der Konfliktbearbeitung durch die lokalen Ältesten zu leisten.64 In den hier untersuchten Fällen erlauben die neuen soziopolitischen Arrangements durchaus eine Erweiterung des staatlichen Gewaltmonopols in diese jeweils peripheren Regionen und auf die Ebene auch kleiner dörflicher Verwaltungseinheiten. Dies spricht gegen einen vermeintlich weit verbreiteten Trend in Richtung auf bedrohte Staatlichkeit in Afrika. Gerade die Befriedung der Konflikte stärkt in diesen Fällen den Staat. Zugleich werden lokale Formen der Streitregelung mit der zumindest partiellen Durchsetzung eines effektiven Gewaltmonopols in den Rahmen staatlicher Herrschaftsausübung eingepasst. Die neuen politischen Arrangements sind somit offensichtlich weitaus komplexer, als dies ein einfaches Verständnis von „Staat“ auch Bauer, S. 32. 2004. 64  Peters.

62  Dazu

63  Neubert



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und „Zivilgesellschaft“ suggeriert und umfassen eben auch ausländische und multilaterale Entwicklungsorganisationen, traditional legitimierte lokale Autoritäten sowie in Uganda auch die Organisationen von Exkombattanten. Gleichzeitig sind diese Arrangements und deren Akteure in die globale „Staatlichkeit“ einer „world polity“ von multilateralen Organisationen und Rechtsinstitutionen, mit deren „Kultur“ wie mit deren vielfältigen Interdependenzgeflechten, eingebunden.65 Diese „Einbindung“ ist dabei mehr als nur ein (erheblicher) stabilisierender Faktor, sie ist konstitutiv für diese Arrangements; sie ist mit anderen Worten eine Entstehungsbedingung und integrale Grundeigentümlichkeit ihrer Strukturen. Im Rückgriff auf Norbert Elias könnte man diese Prozesse mit der Erweiterung des Gewaltmonopols in periphere Teile des Staatsgebiets und auf die Ebene dörflicher Verwaltungseinheiten durchaus als wichtiges Element eines postkolonialen Staatsbildungsprozesses interpretieren, zumal die beiden anderen Elemente des Elias’schen Modells der Staatsentwicklung, die Einrichtung von Formen einer Kontrolle und Überwachung der staatlichen Führung durch unter dieser Führung gelagerte gesellschaftliche Gruppen („Vergesellschaftung des Herrschaftsmonopols“66) und im Zusammenhang damit eine stärkere Regelbindung staatlichen Handelns, in beiden Fällen zumindest in Ansätzen vorhanden sind. Man sollte die merkwürdigen Asymmetrien in dieser Entwicklung allerdings nicht übersehen – wie dass es z. B. die Organisationen der reichen und mächtigeren Staaten sind, die hier wie überall über vergleichsweise viel mehr Einfluss verfügen. Immer wieder wird deutlich, dass es die NROs und zivilgesellschaftlichen Kräfte der Länder des Nordens und nicht zuletzt ihre Medienöffentlichkeiten sind, die die Diskurse der globalen „NGO-Community“ und damit auch der NROs in den Ländern des Südens entscheidend prägen – die Themen ebenso wie die „Maßstäbe“, also Normalitätsregeln und Standards dieser Diskurse. Manchmal sieht es so aus, als ob in Wirklichkeit zivilgesellschaftliche Akteure der Länder des Nordens den staatlichen Führungsschichten der Länder des Südens als politische Gegengewichte, z. B. als eine Art kritischer Öffentlichkeit gegenüberständen. Diese Asymmetrie ist ein Hinweis darauf, dass mittlerweile der Prozess der Staatenbildung ebenso wie der ihm (dem Anschein nach) entgegengesetzte Prozess einer „Vergesellschaftung des Herrschaftsmonopols“ ein genuin globaler Prozess geworden ist.

65  Vgl.

66  Elias

Meyer. 1969, S. 150–159.

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Auf der Suche nach Frieden Geschichte, Jugend und der Aufstieg lokaler Akteure oder die Zukunft liegt im Dorf Von Trutz von Trotha Vermutlich selten hat sich die Siegesproklamation eines Oberbefehlshaber so in ihr Gegenteil verkehrt wie diejenige, die am 1. Mai 2003 der amerikanische Präsident George W. Bush auf dem Flugdeck des Flugzeugträger USS Abraham Lincoln vor der südkalifornischen Küste abgab. Sie war von den spindoctors, den Medienverantwortlichen des Präsidenten, zweifellos bestens vorbereitet worden. Im grünen Kampfpilotendress und ausgestattet mit einem weißen Pilotenhelm entstieg George W. Bush als ewig junger, draufgängerischer Pilot einer Navy S-3B Viking, einem trägergestützten U-Boot-Jagdflugzeug, in dem er als Hinweis auf eine Zeit, da er Führer einer Flugstaffel der Nationalgarde in Texas war, als Kopilot mitgeflogen war. In dieser Kostümierung schien er umso mehr daran zu glauben, zum Oberbefehlshaber der augenblicklich größten Militärmacht des Globus berufen zu sein. Wieder gekleidet in einen einreihigen Businessanzug verkündete er schließlich unter einem riesigen, weithin sichtbaren Transparent „Mission erfüllt“ den angetreten Marinesoldaten und der Weltöffentlichkeit, dass der Irakkrieg siegreich beendet sei. Der Beginn der Operation Iraqi Freedom lag gerade sechs Wochen zurück. Tatsächlich aber ging der Zweite Irakkrieg nun als ‚Kleiner Krieg‘1 erst richtig los, brachte bis heute vermutlich mehr als 150.000 Menschen den Tod2 und sein ‚Ende‘ mit Ablauf des Monats 1  Aus pragmatischen Gründen begnüge ich mich damit, auf den Begriff des britischen Kolonialoffiziers Charles Callwell zurückzugreifen, ohne auf die konzeptuelle und historische Debatte um die Angemessenheit der Begriffe Kleiner Krieg, Neue Kriege, asymmetrische Kriege u. ä. einzugehen (vgl. Callwell; Kortüm, insbes. 67 ff.; Schlichte). 2  http: /  / www.iraqbodycount.org / analysis / reference / press-releases / 18 (8.  Januar 2011). Aufgrund der restriktiven Kriterien von iraqbodycount, die sie an das Zeugnis von kriegsbedingten Todesfällen stellt, sind die von ihr genannten Zahlen sicherlich Mindestzahlen. Vgl. dagegen z. B. die methodisch interessante, aber umstrittene Studie von Gilbert Burnham, Riyadh Lafta, Shannon Doocy, Les Roberts, deren Opferzahlen über dem Vierfachen der Zahlen von iraqbodycount liegen (Burnham et al.). Hinzu kommen die um ein Vielfaches höheren Zahlen von Verwundeten.

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August 2010, mehr als sieben Jahre nach der Siegesproklamation von Präsident Bush, bezieht sich vorerst nur auf den Abzug amerikanischer Kampfeinheiten, von denen noch 56.000 Mann mindestens bis Ende 2011 im Irak bleiben, um „für Sicherheit bei zivilen Projekten [zu] sorgen, die einheimischen Sicherheitskräfte aus[zu]bilden und Anti-Terror-Einsätze [zu] leiten“.3 Noch ungewisser ist die Lage der alliierten Besatzungstruppen in Afghanistan, wo zehn Jahre nach der alliierten Invasion die Sicherheit für die Besatzungstruppen ebenso wie für die Einwohner Afghanistans zunehmend prekärer geworden ist4 – ein Muster, das sich in den vielen anderen Kleinen Kriegen wiederholt, von Westafrika bis Kolumbien. Kleine Kriege sind mehr schlecht als recht zu Ende zu bringen und der Frieden neigt dazu, sich zu verflüchtigen, kaum dass die kriegführenden Parteien und besonders Dritte glauben, den Frieden gewonnen zu haben. Die Suche nach Frieden, nachdem gewalttätige Krisen und Kriege Gesellschaften erschüttert haben, ist stets ein Hürdenlauf, der Wagemut, Weitsicht und Versöhnungsbereitschaft voraussetzt, wenn der Frieden mehr als nur angstbesetzte Unterwerfung unter die überlegene Gewalt des Siegers, mitleidlose Gewaltherrschaft oder eine Phase vor der nächsten kriegerischen Auseinandersetzung der Kriegsparteien sein soll. Mit dem Aufstieg des Kleinen Krieges5 wird der Weg zum Frieden allerdings noch unwegsamer und riskanter. Der Gründe gibt es zahlreiche. Im folgenden will ich in einem ersten Abschnitt einige wenige Züge von Nachkriegsgesellschaften und insbesondere von solchen Nachkriegsgesellschaften der Gegenwart benennen, die von Kleinen Kriegen heimgesucht worden sind, um daran anschließend auf drei Sachverhalte einzugehen, die aus meiner Sicht wesentlich sind, und denen die Friedensbemühungen gerecht werden müssen, wenn der Hürdenlauf zum Frieden gelingen soll: die Geschichtssemantik, der Gewinn der männlichen Jugend für den Frieden und der Aufstieg der lokalen Akteure.

3  http: /  / www.spiegel.de / politik / ausland / 0,1518,712625,00.html

(11.  Januar 2011).

4  http: /  / www.zeit.de / news-nt / 2010 / 6 / 19 / iptc-bdt-20100619-353-25223576xml

(8. Januar 2011). 5  Die Formulierung „Aufstieg“ des Kleinen Krieges will nur festhalten, dass der Kleine Krieg sowohl quantitativ als auch politisch zur dominanten Kriegsform geworden ist, wobei im Blick bleiben muss, dass Atomkrieg, konventioneller Staatenkrieg und Kleiner Krieg eine interdependente Ordnung von Kriegen sind. Für die hier angestellten Überlegungen bleibt dieser Zusammenhang allerdings unberücksichtigt. Vgl. Trotha 2003a.



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I. Merkmale von Nachkriegsgesellschaften Wie die Bilanz der Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg6 und der Zweite Irakkrieg opferreich vor Augen führen, wird der Kleine Krieg häufig nicht durch den Sieg einer Partei entschieden7 und hat deshalb die Tendenz, den kriegerischen Streit auf Dauer zu stellen. Entsprechend wird im Kleinen Krieg die Unterscheidung von Krieg und Frieden selbst ungenau und verschwimmt im Auf und Ab der kriegerischen Auseinandersetzung. Auf diese Weise spitzt sich in Gesellschaften des Kleinen Krieges das Problem von Nachkriegsgesellschaften zu, Gewissheit darüber zu erlangen, dass der Friede als einigermaßen gesichert gelten kann.8 Nachkriegsgesellschaften des Kleinen Krieges sind Gesellschaften, in denen selbst das, was man spätestens seit Johan Galtungs wohlfahrtsstaatlicher Friedensutopie9 etwas abwertend als ‚negativer Friede‘ bezeichnet,10 also die Abwesenheit von kriegerischer Gewalt, nicht als gesichert gelten kann.11 Man könnte sie besser als ‚Waffenstillstandsgesellschaften‘ bezeichnen, in denen der formelle Friedensschluss entweder noch aussteht oder in seiner Verbindlichkeit ebenso fragwürdig wie die Einstellung der Kämpfe zerbrechlich ist.12 Waffenstill6  Auch nach den restriktiven Kriterien von Klaus Jürgen Gantzel dauerten fast 40 % der 122 von ihm registrierten „inneren Kriege“ mindestens 61 Monate, ein Viertel von diesen „sehr langen“ Kriegen hielten 121 Monate und mehr an (Ganzel, S. 308). 7  Ebd., S. 312, Tab. 8. 8  Ich sehe hier von den Fällen der totalen Kapitulation ab, in denen der Sieger den Frieden diktieren kann und gewillt ist, ihn auch durchzusetzen. 9  Galtung 1969; 1978. 10  Vgl. Czempiel. 11  Beispielhaft war Anfang des Jahres 2011 die Rückkehr des schiitischen Geistlichen Muktada al-Sadr aus dem Iran nach etwa vier Jahren des Exils. Als Führer der Mehdi-Miliz ist Muktada al-Sadr verantwortlich für sehr verlustreiche Auseinandersetzungen mit den alliierten Besatzungsarmeen und ihren irakischen Verbündeten und für zahllose opferreiche Anschläge auf Angehörige der sunnitischen Minderheit im Irak. In seiner Ansprache nach seiner Rückkehr in seine Heimatstadt Nadschaf, zu der eine vieltausendköpfige Anhängerschaft zusammengekommen war, ließ Muktada al-Sadr in der typischen Strategie des Kleinen Krieges offen, ob er den bewaffneten Kampf gegen die Alliierten und Teile der Regierungsverantwortlichen, zu denen seine Partei seit der Wahl von 2010 selbst gehört, wieder aufnehmen oder das Ziel, die Amerikaner schnellstmöglichst zum endgültigen Abzug aus dem Irak zu bewegen, mit nichtgewaltsamen Mitteln verfolgen wird. Er beließ den Kleinen Krieg gleichsam in der Schwebe. 12  Im Anschluss an die Debatte über den Zusammenhang der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, die der Historiker Ernst Nolte einst mit problematischen Thesen angestoßen hat, und über den Charakter der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen als „Zwischenkriegszeit“ ließe sich, den Fall Deutschlands vor Augen, auch unter den Bedingungen von formellen und durchgesetzten Friedensschlüssen von

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standsgesellschaften sind Gesellschaften zwischen Krieg und Frieden, ‚transitional‘, wie ein Anglizismus in diesem Zusammenhang lautet.13 Sie sind Gesellschaften der Furt zwischen Krieg und Frieden. Kennzeichnend für die transitionale Verfasstheit von Nachkriegsgesellschaften ist, dass sie wichtige Merkmale des Krieges teilt. Dazu gehört die reduzierte Voraussehbarkeit des Handelns. Sie kann in der Transitionsphase sogar zusätzlich gesteigert sein, weil die reduzierte Voraussehbarkeit des Handelns nicht nur die Beziehungen zwischen den Kontrahenten des kriegerischen Konflikts charakterisiert, sondern in die Binnenverhältnisse der Konfliktparteien vordringen kann. Dazu zählt die Gegenwärtigkeit des Misstrauens und der Verdächtigung. Nachkriegsgesellschaften sind Gesellschaften ohne Basisvertrauen, des Ressentiments und der Verdächtigung von Legitimation. So deutet in dem vorliegenden Band Henner Papendieck knapp und nüchtern an, dass die Hauptanstrengungen des Programms Mali Nord am Anfang des Friedensprozesses sich darauf richteten, Brücken über die „Sperrzone des Hasses“ zu schlagen.14 Hinzukommen die Allgegenwart von bewaffneten Männern, vor allem jüngeren Männern, mit denen die im Kleinen Krieg typischerweise durchlässige Grenze zwischen gewalttätiger Aufstandsbewegung und Kriminalität noch durchlässiger wird. Sie treiben den Grad der Unsicherheit oft über den hinaus, die jeder Krieg und allemal der Kleine Krieg mit sich bringen. Die Situation im mazedonischen Tetovo nach dem Abkommen von Ohrid aus dem Jahr 2001, mit dem die aufständischen Angehörigen der albanischen Minderheit befriedet werden sollten und wurden, ist nur eines von unzähligen Beispielen und vielleicht gerade deshalb aufschlussreich, weil es sich um einen eher kürzeren und vor allem letztlich begrenzten kriegerischen Konflikt gehandelt hat. Der Londoner Times Korrespondent John Philipps hielt im Frühjahr 2002 fest, dass nach der Aufhebung der Ausgangssperre in Tetovo regelmäßig Schießereien ausbrechen, in deren Mittelpunkt Figuren wie Menduh Thaci stehen, stellvertretender Führer der Demokratischen Partei der Albaner (DPA), „der den Ruf hat, ein führendes Mitglied der organisierten Kriminalität zu sein, mit brutalen Methoden vorzugehen und einen beträchtlichen Teil des Schmuggels mit dem Kosovo zu kontrollieren“.15 Auch treffen Amnestierungen von gegnerischen Kämpfern auf Unverständnis und tiefes Misstrauen gegenüber denjenigen, die solche Abkommen aushandeln oder auf deren Druck sie zustande kommen, was im Falle Mazedoniens die Vertreter der NATO „latenten Waffenstillstandsgesellschaften“ sprechen. Vgl. Nolte. Dagegen: Creveld, S.  103 ff.; Traverso; Stern. 13  Vgl. Wiebelhaus-Brahm. 14  Siehe Papendieck / Rocksloh-Papendieck. 15  Philipps, S. 193.



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waren. Die Gerüchteküche kocht und untergräbt die Legitimität gerade der Sicherheitsinstitutionen wie Armee und Polizei, deren Darstellungen bei der Unterdrückung der Gewalt regelmäßig angezweifelt werden.16 Umgekehrt sind Nachkriegsgesellschaften Kleiner Kriege Gesellschaften, in denen Zeichen und das Ausbleiben von Zeichen der Friedensbereitschaft eine große Bedeutung gewinnen. Es sind Gesellschaften des demonstrativen Friedens und Friedenswillens, der Rituale der Friedensstiftung. In Mali z. B. gehörten dazu die vielen Versöhnungstreffen, von denen Papendieck in diesem Buch berichtet, sowie das Ritual der „Flamme des Friedens“ in Timbuktu, das das Ende der Tuaregrebellion und die Rückkehr des Friedens zwischen Nord und Süd, Schwarz und Weiß17 besiegeln sollte, und dem viele weitere im ehemaligen Kriegsgebiet folgten. Heute erinnert in Timbuktu ein wuchtiges – und am Rande der Stadt, an den die Sanddünen branden, umso verloreneres – Denkmal, dass 1996 als Siegel des Friedens hier 3000 Gewehre von den Rebellen verbrannt worden sind.18 Diese Rituale des Friedens und Friedenswillens sind ein Spiegel der Zerrissenheit und Fragmentierung von Nachkriegsgesellschaften, welche entlang unterschiedlichster Merkmale verlaufen, wobei heute ethnische und religiöse eine besondere Bedeutung erhalten haben. Friedensrituale können noch Jahrzehnte nach dem Friedensschluss inszeniert werden und dabei wie in Deutschland am 8. Mai dokumentieren, dass der Friedensschluss noch immer Teil eines kontroversen Diskurses ist. Umgekehrt vermögen Zusammenstöße zwischen den Kriegsgegnern oder die von Hardlinern bevorzugte Waffe des gewalttätigen Anschlags den Friedensprozess gefährden oder gar zum Abbruch bringen. Die ‚Kriegsparteien‘19 in Irland und die ETA des Baskenlandes haben sich dieser Strategie wieder und wieder bedient. Reduzierte Voraussehbarkeit des Handelns, Unsicherheit, Misstrauen und Gewaltbereitschaft sind gleichfalls Begleiterinnen und Begleiter von Ge16  Ebd.,

S. 195. „Weiße“ werden in Mali (und anderswo) nicht nur die Europäer, sondern auch die vergleichsweise hellhäutigeren Tuareg bezeichnet. 18  Um Missverständnissen vorzubeugen, ist anzumerken, dass – wie in vergleichbaren Fällen – auf diesen Friedensscheiterhaufen vor allem die nicht mehr brauchbaren und entbehrlichen Waffen landen. Diejenigen Waffen, welche die Kämpfer behalten, sind das Unterpfand des Misstrauens und Verdachts, das die transitionale Gesellschaft bestimmt. 19  ‚Kriegsparteien‘ ist hier in Anführungszeichen gesetzt, weil zu klären wäre, ob die IRA auf der einen und die britischen Sicherheitsbehören oder wenigstens die paramilitärischen Verbände der irischen Ultraloyalisten auf der anderen Seite oder ‚terroristische‘ Bewegungen als Kriegsparteien betrachtet werden können bzw., ab welchem Stand der Organisation und der Verstetigung von Gewalt analytisch sinnvoll von Kriegspartei gesprochen werden kann. Die Abgrenzung ist bisher nicht befriedigend. Vgl. Waldmann 1989; 1998, S. 17 f. 17  Als

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sellschaften, die wie Nachkriegsgesellschaften zerrissen und fragmentiert, von Intra- und Intergruppenkonflikten heimgesucht sind. Das gilt besonders im Anschluss an ‚innerstaatliche Kriege‘, die heute die Mehrzahl der Kriege ausmachen. Die ‚Konfliktgründe‘ bzw. ‚Begründungen‘ für die Inter- und Intragruppenkonflikte sind so vielfältig, dass es nahe liegt, sie nicht als Grundlage für eine Typologie von Konflikten und folglich von Nachkriegsgesellschaften zu verwenden. Entsprechend beschränkt sich z. B. Dieter Neubert darauf, die Konflikte und mit ihnen die Nachkriegsgesellschaften nach Akteurskonstellationen und der Organisation der Gewalt zu unterscheiden.20 Unter konflikttheoretischen ebenso wie unter friedenspolitischen Gesichtspunkten scheint mir indessen wichtig zu sein, Nachkriegsgesellschaften nach zwei dominanten Konflikttypen zu unterscheiden, die den Charakter des Konflikts prägen. Folgt man Clausewitz’ Unterscheidung zwischen dem „absoluten“ und dem „politischen Krieg“,21 haben diese beiden Konflikttypen ihre Entsprechung im Charakter der kriegerischen Auseinandersetzung. So lassen sich Interessens- von essentialistischen, also ethnischen, religiösen oder weltanschaulichen Konflikten unterscheiden. Im Unterschied zu Interessen können essentialistische Begründungen von gewalttätiger Konfliktaustragung sowohl deutlich motivierender als auch verhandlungsresistenter sein. Auch sind essentialistische Konflikte typischerweise ‚basale Zugehörigkeitskonflikte‘.22 In basalen Zugehörigkeitskonflikten prägen sich die typischen ‚ ‚Wir‘-Gruppenprozesse‘23 besonders aus. Es geht um das kollektive Selbstbewusstsein und -gefühl, um ‚uns‘. ‚Wir‘-Bewusstsein und ‚Wir‘-Gefühl rücken in den Mittelpunkt und sind mit Bedrohungsund Überlegenheitsphantasien verbunden. Dem Konfliktgegner wird Zugehörigkeit verweigert und im kriegerischen Konflikt wird er dementsprechend endgültig dehumanisiert. Wie sich allen voran im nationalsozialistischen Krieg, im innerstaatlichen Krieg, den der faschistische Feldzug gegen das republikanische Spanien führte, oder in den ethnisierten Kriege der Gegenwart erweist, haben essentialistische kriegerische Konflikte eine Tendenz zur Vernichtung des Gegners, einen genozidalen Zug. Empirisch und historisch – das war genau der Anlass für Clausewitz’ Unterscheidung – sind stets beide Konflikttypen präsent. Aber es kommt auf die unterschiedlichen Mischungsverhältnisse an.24 Folgt das eine Mal wie in Reli­gionskriegen die Auseinan20  Neubert.

21  Clausewitz, 22  Trotha

23  Elwert.

insbes. S. 17–37. 1998; 2002.

24  Siehe dazu Kortüm, der vor allem den ökonomischen Interessen im Arazzo der kriegerischen Zielsetzungen des Mittelalters nachgeht.



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dersetzung mehr essentialistischen Zielen, geht es im anderen Fall primär um Macht-, Territorial- oder ökonomische Interessen. Steht im einen Fall ‚Kultur‘, steht im anderen Fall ‚praktische Vernunft‘ im Vordergrund, um die Unterscheidung von Marshall Sahlins aufzunehmen.25 Der Übergangscharakter der Nachkriegsgesellschaften schließt ein, dass Nachkriegsgesellschaften in einem widersprüchlichen Verhältnis zu ihrer Vergangenheit stehen. Diese Antinomie kann man das ‚Diskontinuitätsproblem‘ von Nachkriegsgesellschaften nennen. Auf der einen Seite ist die kriegerische Vergangenheit überwältigend gegenwärtig, in den materiellen ebenso wie den nichtmateriellen Zerstörungen, von denen es schon bei Thukydides heißt: „nichts, was es nicht gegeben hätte und noch darüber hinaus“.26 In sogenannten ‚innerstaatlichen‘ Konflikten, die typischerweise Kleine Kriege ausmachen, ist die Gegenwart der Vergangenheit in besonderer Weise durch die ‚offenen Rechnungen‘, die unbefriedigte Rache und uneingelöste Sühne gesteigert, welche die Kriegstraumata fortschreibt, den Mangel an Vertrauen vergrößert und verhindert, dass die Gräben, welche die zerrissene Gesellschaft durchziehen, zugeschüttet werden. Auf der anderen Seite ist der Frieden nicht zu gewinnen, wenn die Vergangenheit nicht hinter sich gelassen und Diskontinuität konstruiert wird. Der Frieden verlangt die Auseinandersetzung mit der kriegerischen Vergangenheit und gleichzeitig ihre Negation. Bekanntermaßen gehen Nachkriegsgesellschaften dieses Diskontinuitätsproblem in den unterschiedlichsten, ja gegensätzlichen Weisen an. Die radikalste Variante ist die mitleidlose Gewaltherrschaft, der Terror, der darauf hinausläuft, den Krieg gleichsam im Frieden weiterzuführen, das heißt, den einstigen Kriegsgegner auch nach der Niederlage zu verfolgen, sprich, zu töten, in Lager zu sperren, politisch, moralisch, sozial und kulturell zu zerstören. Sie ist nur möglich, wenn es zum überlegenen militärisch-politischen Sieg einer der Kriegsgegner kommt – beispielhaft sind der ‚genozidale Pazifierungskrieg‘ gegen die Herero in Deutsch-Südwestafrika,27 der Spanische Bürgerkrieg28 oder Kambodscha nach dem Sieg der Roten Khmer,29 um nur drei Fälle aus unterschiedlichen Zeitabschnitten des vermutlich blutigsten aller Jahrhunderte zu nennen. Hier wird eine maximale Diskontinuität zur Vorkriegsordnung angestrebt. Angesichts der Legitimationsproblematik der Gewalt entspricht diesem Ziel typischerweise ein Vergangenheits25  Sahlins.

26  Thukydides,

S. 249. 2003b. 28  Baumer; Bernecker. 29  Hinton; Kiernan. 27  Trotha

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diskurs, der als einer der beiden Pole der diskursiven Bearbeitung des Diskontinuitätsproblems betrachtet werden kann: das Problem wird in dem Sinne nicht einmal als Problem anerkannt, insofern die kriegerische Vergangenheit jeder Problematisierung entzogen ist. Die Entproblematisierung kann dabei auf zweierlei Weise erfolgen: einerseits durch Verschweigen, andererseits durch die vereinseitigte Heroisierung des Siegers. Im ersten Fall entsteht eine Gesellschaft des ‚verallgemeinerten‘, im zweiten Fall eine Gesellschaft des ‚vereinseitigten Verschweigens‘. Letztere verkürzt die Geschichte auf die heroisierende Geschichte des Siegers und läuft langfristig auf die kulturelle Auslöschung des Verlierers hinaus, der dem Vergessen und damit der Geschichtslosigkeit anheim gegeben ist oder als aufs äußerste stereotypisierte Kontrastfolie dient, die all das Dunkle geschichtlicher Erfahrung zu tragen hat, was die Geschichte des heroischen Siegers umso lichter und heller erscheinen lässt. Am anderen Pol der diskursiven Be­ arbeitung des Diskontinuitätsproblems steht eine Gesellschaft der ‚Ver­ gangenheitsbewältigung‘,30 wie der Schlüsselbegriff in Deutschland früher geheißen hat und heute durch den Begriff der ‚Erinnerungskultur‘ ersetzt worden ist.31 In ihr wird der Schrecken der vergangenen Gewalt systematisch zu Tage gefördert und bearbeitet. Auch hier ist das Ziel, einen als radikal verstandenen Neubeginn zu statuieren, indem das kriegerische Vorgängerregime die Negativfolie der Gegenwart ist. Empirisch werden sich die unterschiedlichsten Varianten zwischen den Polen des Verschweigens und der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ finden lassen. Zum Beispiel sind Franco-Spanien und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg mehr oder minder ausgeprägte Gesellschaften des verallgemeinerten Verschweigens, Namibia ist im Blick auf die Gewaltgeschichte der SWAPO eine Gesellschaft des vereinseitigten Verschweigens und die Bundesrepublik Deutschland ist eine Gesellschaft, die ziemlich rasch den Weg vom verallgemeinerten Verschweigen zur ‚Vergangenheitsbewältigung‘ eingeschlagen hat,32 30  Der Begriff der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ ist zweifellos problematisch, wenn ihn, wie in Deutschland, die Täter verwenden, und er ist selbst Teil der konfliktreichen Geschichte der Auseinandersetzung der Deutschen mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Moralisch-ethisch betrachtet, können Täter nur Buße tun, denn zu ‚bewältigen‘ haben nur die Opfer, nämlich das, was ihnen die Täter angetan haben. 31  Siehe u. a. Cornelißen. 32  Entgegen der moralischen Selbstbespiegelung, in der sich gerade diejenigen gefallen haben und unverändert gefallen, die die Zugehörigkeit zur sogenannten ‚68-Generation‘ für sich reklamieren, erfolgte nach meiner persönlichen Erfahrung der Weg zur ‚Vergangenheitsbewältigung‘ wesentlich früher als es im Bewusstsein dieser ‚Generationeneinheit‘, um einen Begriff von Karl Mannheim (bes. S. 541 ff.) aufzunehmen, zulässig ist. Zu zwei konträren Positionen, die allerdings fast zwei Jahrzehnte auseinander liegen, siehe Brumlik (S. 10) und Giordano.



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aber zweifellos erst mit der sozialliberalen Koalition dort angekommen ist – um sich heute wieder als Opfer zu entdecken.33 Schließlich ist für gegenwärtige Nachkriegsgesellschaften von großer Bedeutung, dass sie in überwiegender Mehrzahl dort zu finden sind, was einstmals die ‚Dritte Welt‘ genannt wurde. In dieser Tatsache sind zwei wichtige Sachverhalte eingeschlossen. In ihrer überwiegenden Mehrheit sind die gegenwärtigen Nachkriegsgesellschaften, erstens, ‚junge Gesellschaften‘. Es sind die unter 25-jährigen, die heute üblicherweise die große Mehrheit der Bevölkerung in den Nachkriegsgesellschaften stellen. Im subsaharischen Afrika ist es nicht selten, dass ihr Anteil wie in Somalia auf über zwei Drittel der Bevölkerung steigt. In direktem Gegensatz zum hegemonialen politikwissenschaftlichen Diskurs über Friedensstrategien können in den Nachkriegsgesellschaften der ‚Entwicklungsländer‘, zweitens, Staat und Nation weder als Voraussetzung des Friedensprozesses unterstellt noch umstandslos zum Ziel oder gar Ergebnis des Friedensprozesses erklärt werden. Stattdessen sind Nachkriegsgesellschaften verbreitet, die den Staat nie oder nie über erste (koloniale) Grundlagen hinaus verwirklicht haben oder vor und erst Recht im Verlauf des Krieges vom fundamentalen Zerfall staatlicher Einrichtungen betroffen sind. Allerdings statten sie sich heutzutage typischerweise mit einem zentralisierten „Herrschaftsapparat“34 aus, so dass sich die politische Ordnung nach 33  Die über ein halbes Jahrhundert währende Geschichte der deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ (vgl. Fischer / Lorenz) endet damit, dass sie den Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“ schließlich doch noch ins Recht setzt. Mit dem verallgemeinerten Aufstieg von Opferdiskursen haben die Diskurseliten zu guter Letzt auch die Deutschen des nationalsozialistischen Deutschlands als Opfer entdeckt: des Bombenkrieges, der Vertreibung, als vergewaltigte Frauen im Gefolge vor allem des Einmarsches der Roten Armee, als traumatisierte „Heimkehrer“, als Kriegskinder usw., sogar indirekt über die Entdeckung stigmatisierter, ausgegrenzter und misshandelter Frauen in den besetzten Ländern, die mit deutschen Soldaten Liebesbeziehungen eingegangen, und der Kinder, die aus diesen Beziehungen hervorgegangen sind (Drolshagen). So wie man unternommen hat, alle Zeichen der Opposition gegen das NS-Regime sichtbar zu machen (vgl. Broszat / Fröhlich), so ist auch heute die Opfersuche akribisch geworden (kritisch dazu jüngst Jureit / Schneider). Auf dem diskursiven Weg des Deutschen vom Täter zum Opfer kehrt die „Vergangenheitsbewältigung“ wieder an ihren Ausgangspunkt zurück. „Vergangenheitsbewältigung“ bestand in den ersten beiden Jahrzehnten der Nachkriegszeit nicht zuletzt in der Aufgabe, das Aufrechnen der Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands an den Stammtischen, in den Hinterzimmern, im Privaten, in den Kommentaren von Provinzzeitungen, aber auch in zahlreichen Äußerungen von Angehörigen der Diskurseliten (vgl. Wolgast) und anderswo zu beenden. „Vergangenheitsbewältigung“ wies den frühen Opferdiskurs als das aus, was er war: Rechtfertigungsgerede und Relativierung der Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands. 34  Popitz, S.  255 ff.

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den Vorgaben des Völker- und internationalen Rechts in den Kleidern des Staates präsentieren kann.35 Ich fasse den ersten Teil zusammen. Die Suche nach Frieden, vor allem in den Nachkriegsgesellschaften von Kleinen Kriegen in den ‚Entwicklungsländern‘, hat zu bedenken: Nachkriegsgesellschaften gleichen vielerorts mehr ‚Waffenstillstandsgesellschaften‘, in denen selbst der Waffenstillstand mehr Fiktion als Tatsache ist. Waffenstillstandsgesellschaften sind Gesellschaften reduzierter Voraussehbarkeit des Handelns, ohne Basisvertrauen und der Verdächtigung, insbesondere von politischen Legitimationen. In ihrer Unsicherheit und ihrem Misstrauen findet sich die Zerrissenheit und Fragmentierung dieser Gesellschaften wieder. Nachkriegsgesellschaften sind ebenfalls Gesellschaften des demonstrativen Friedens und der Rituale der Friedensstiftung, mit denen die Teilnehmer und Zuschauer sich des Endes der Kampfhandlungen versichern. Nachkriegsgesellschaften haben ein Diskontinuitätsproblem, das sie einen Weg zwischen mehr oder minder umfassender Vergangenheitsbewältigung oder der Leugnung, dass es ein Diskontinuitätsproblem gibt, einschlagen lässt. Typischerweise sind die heutigen Nachkriegsgesellschaften junge Gesellschaften mit zerfallender oder zerfallener Staatlichkeit oder gar ohne Staat. 35  Dieser Sachverhalt kann augenblicklich nicht genug betont werden, denn bis heute haben es Politik und Politikwissenschaft schwer, sich mit dem empirisch Offensichtlichen zu versöhnen und anzuerkennen, dass es jenseits übernationaler Gebilde, deren machtvollste wiederum aus Nationalstaaten bestehen, politische Ordnungen ohne Staat gibt. Die Staatszentriertheit ist den Abkömmlingen der ‚Staatswissenschaften‘ zur zweiten Natur geworden und setzt sich auch dann noch durch, wenn es für Politik und die Politikwissenschaft offensichtlich sein sollte, dass man es mit zerfallenden Staaten oder staatenlosen Gebilden zu tun hat. Dementsprechend fordert derselbe Politikwissenschaftler, der im Jahr 1992 mit dem Ende der Geschichte bramarbasiert hat, heute das Lernen von Staatsbildung (vgl. Fukuyama 1992; 2004). Solcherart Forderung zeugt vor dem Hintergrund der Geschichte der Staatsbildung von unüberbietbarer Geschichtsvergessenheit, ist angesichts des Voraussetzungsreichtums von Staatsbildung geradezu surreal und zeigt einen weitreichenden Wirklichkeitsverlust der „Denkfabriken“ an. Dieser Wirklichkeitsverlust ist sowohl in der Verbreitung und arroganten Entgrenzung eines managerialen Herrschafts- und Machbarkeitsbewusstseins als auch in einem gesellschaftsreformerischen, menschenrechtlichen und humanitären Sendungsbewusstsein verankert. Beide sind Kinder der Begegnung von imperialer Macht, „Zivilisierungsmission“ und „angewandter Aufklärung“ (Dahrendorf), an denen noch das „Yes, we can“ des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes des Jahres 2008 teilhatte, und die gegenwärtig – glücklicherweise – von der kühlen Nüchternheit, Abwägung und Kompromissbereitschaft des Präsidenten Obama und seiner Administration gezügelt sind.



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Schließlich darf nicht aus den Augen verloren werden, dass es die Nachkriegsgesellschaft nicht gibt. Es gibt nur Nachkriegsgesellschaften, welche sich im gleichen Maße wie Gesellschaften, die der Krieg nicht heimgesucht hat, nach Geschichte, Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft und Politik usw. unterscheiden können. Dieser Sachverhalt ist nicht zuletzt deshalb folgenreich, weil die Aufgabe der Friedenssuche hauptsächlich von den lokalen Akteuren zu schultern ist – was im interventionistischen Aktivismus, sei er machtpolitischer oder menschenrechtlich-zivilisationsmissionarischer Art, nicht immer im Blick ist.36 Es sind stets konkrete lokale Geschichten, lokale Gemeinschaften, Lokalkulturen, lokale Wirtschaftsweisen und lokale politische Akteure, die den ‚Hürdenlauf‘ zum Frieden meistern müssen. Und unter den lokalen Akteuren sind es gerade diejenigen, die üblicherweise nicht zu den Hauptakteuren der kriegerischen Gewalt gehören. Die Rückkehr zum Frieden und der Aufbau einer friedlichen Zukunft verdankt sich stets vorrangig den Opfern der Gewalt, nicht denen, die die Gewalt zu verantworten haben. In dieser Einsicht haben auch die Verantwortlichen des in diesem Band beschriebenen Programms Mali Nord die wichtige Weichenstellung vorgenommen, nicht auf die Kriegsparteien (Rebellenbewegungen, Milizen, Banditen und malische Armee) zu setzen, die sich erst zurückhielten, als „sie sich deutlich in der Minderheit“ befanden. Stattdessen setzte das Programm Mali Nord „allein auf die Akteure, die keine Möglichkeit hatten, sich bewaffnet durchzusetzen“ und deshalb auf Verhandlungen angewiesen waren. Dabei erwiesen sich die „Anführer von Minderheiten […] immer als die besten Ratgeber, weil sie weder den Wunsch noch die Chance hatten, die anderen Gruppen zu dominieren“.37 Unter den Bedingungen der Nicht- oder scheiternden Staatlichkeit wird der Friede nur gewonnen, wenn er auch ein lokaler Friede ist. Darüber hinaus wird der Weg zum Frieden typischerweise von denen gegangen, die den Krieg als Leid erfahren haben, von der Gewalt sich keinen Gewinn versprechen und die Bereitschaft zum Frieden in Wort und Tat dokumentieren. Im „circulus vitiosus der Gewalt-Bewältigung“ bedarf es immer wieder der kriegerischen Gewalt.38 Ihr Ergebnis ist der Waffenstillstand. Der Weg zum Frieden führt stattdessen über die leidvolle Erfahrung von Gewalt und die Verzeihung – oder das verzeihliche Vergessen – der Opfer, die wechselseitig Brücken bauen über die Zonen des Hasses.39 Diese Einsicht ist der abendländischen Welt bekanntermaßen seit mindestens zwei Jahrtausenden vertraut. 36  Zum Begriff und zur Geschichte von ‚Zivilisierungsmissionen‘ siehe Barth /  Osterhammel. 37  Papendieck im vorliegenden Band. 38  Popitz, S. 63. 39  Papendieck im vorliegenden Band.

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Insbesondere nach Kleinen Kriegen dürfen die Friedenswilligen auf ihren Wegen zum Frieden drei der vielen Hindernisse nicht für unbeachtlich halten: die Geschichtssemantik und die Teilhabe der männlichen Jugend und lokalen Akteure. II. Von der Erfindung einer neuen Basiserzählung Jede politische Kultur schließt eine ‚Semantik der Geschichte‘ ein.40 Diese historische Seite der politischen Kultur hat zwei Aspekte. Zum einen ist politisches Handeln historisch entstanden. Die Vergangenheit ist hineingewoben in die Bedeutungsmuster der politischen Kultur in Form der Geschichte von Institutionen, der Sozialisation der Akteure, der Problemstellungen, um die gerungen wird, der Sprache und der Ideen, Werte und Normen. Generationen lassen sich deshalb auch über Geschichtssemantiken bestimmen – als Gesellschaft der Vergangenheitsbewältigung ist in Deutschland dieser Sachverhalt besonders ausgeprägt; schließlich ist die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Deutschland zur Konstitution von Generationen und der Bildung von Generationeneinheiten verwendet worden ist. Zum anderen sind politische Handlungen und die Konflikte der politischen Kultur durch die Konstruktionen der Vergangenheit bestimmt. In diesen Konstruktionen wird gegenwärtiges soziales Handeln begründet und legitimiert. In diesem Sinne kann man politische Kultur als ein Konflikt um die Konstruktion von Vergangenheit verstehen. Das gilt besonders für die Gesellschaften, die Claude Lévi-Strauss „warme“ Gesellschaften nennt.41 Eine Schlüsselrolle für die Konstruktion der Vergangenheit und entsprechend für die politische Kultur und ihre Konflikte spielt diejenige Ordnung von Bedeutungen, die ich ‚Basiserzählung‘ nenne.42 Sie ist diejenige Konstruktion der Geschichte einer Gesellschaft und Kultur, welche die beherrschende legitimatorische Konstruktion der Vergangenheit enthält. In Konflikten um die Konstruktionen der Vergangenheit ist die Basiserzählung unausweichlicher Bezugspunkt. Sie ist der Maßstab des kollektiven politiFolgenden siehe auch Trotha 2007, S. 295 ff. als in der Übersetzung von Hans Naumann wäre in diesem Zusammenhang das französische Adjektiv „chaud / chaude“ besser mit „heiß“ übersetzt. Unter „warmen“ bzw. „heißen Gesellschaften“ versteht Lévi-Strauss solche Gesellschaften, die sich das historische Werden zu eigen und zum Motor ihrer ‚Entwicklung‘ machen. Geschichte ist in diesen Gesellschaften kumulativ. Es sind Gesellschaften, in denen die Zeit irreversibel ist, die ein „gieriges Bedürfnis nach Veränderung“ auszeichnet, und die deshalb den „Fortschritt“ feiern und verfolgen; Lévi-Strauss 1972, S. 33 ff.; 1968, S. 270 f. 42  Trotha 1998. 40  Zum

41  Anders



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schen Selbstverständnisses einer Gesellschaft. Politische Identität muss einen Entwurf der Vergangenheit enthalten. Die Basiserzählung ist die kulturell und politisch institutionalisierte Version dieser Vergangenheit. Für Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Geschichte des Nationalsozialismus zur Basiserzählung.43 Sie war eine ‚Basiserzählung der Abgrenzung‘ und spitzte zu, was jede Nachkriegsgesellschaft tun muss, nämlich eine neue Basiserzählung zu konstruieren, auf welche sich die Parteien, die gerade noch in kriegerischem Streit lagen und nun den Frieden suchen, verständigen können, und mit der die Abgrenzung zur Vergangenheit gefunden wird. Der Neuanfang braucht eine neue Basiserzählung oder, wie sich Bischoff Tutu ausgedrückt hat, als er die Südafrikaner aufrief, „ihre Vergangenheit zu bewältigen und auf diese Weise eine neue Zukunft anzupacken“.44 Politische Kulturen unterscheiden sich sehr darin, wie viel Abgrenzung sie vollziehen und vor allen Dingen auszuhalten imstande sind. Der Konflikt um die Basiserzählung kann zu einem schweren „Stolperstein“45 für die Kriegsgegner werden. In diesem Zusammenhang sind Deutschland, Österreich und Japan, die iberische Halbinsel nach Salazar und Franco, Südafrika und Namibia, die nachdiktatorialen Länder Lateinamerikas oder die Nachfolgestaaten der einstigen Sowjetunion interessante Vergleichsfälle. Dabei spielen die Eliten eine wichtige Rolle, denn die Basiserzählung wird von den Eliten bestimmt. Sie setzen die Themen. Sie üben, wenn nicht die ausschließliche, aber doch die bestimmende Definitionsmacht aus. Einen besonders interessanten Versuch haben die Ifoghas Nordmalis nach ihrem Sieg über die Imghad unternommen: Sie machten sich daran, die Geschichte der Beziehungen zwischen Ifoghas und Imghad neu zu schreiben, indem sie eine gemeinsame Verwandtschaft konstruierten.46 Wie bei allen Konfliktregelungsvorgängen spielt darüber hinaus die Zeit eine Schlüsselrolle. Frieden ist der Gewinn von Zeit; wer Zeit gewinnt, gewinnt auch Verständigung über die Basiserzählung – allerdings muss die Gewinnerin dabei nicht immer die historische ‚Wahrheit‘ sein, wie Russland zu dokumentieren im Begriff zu sein scheint, um einmal ein Beispiel einer nachtotalitären, aber nicht Nachkriegsgesellschaft heranzuziehen. Schwab-Trapp; Herz / Schwab-Trapp. n. Plessis, S. 171. 45  Das Wort knüpft an die Aktion „Stolpersteine“ des Kölner Künstlers Gunter Demnig an, die inzwischen in über 500 Orten in Deutschland und mehreren Ländern Europas stattfindet, Erinnerung wach hält und zugleich veralltäglicht und eine ge­ niale Materialisierung der heutigen deutschen Basiserzählung darstellt. Siehe http: /  / www.stolpersteine.com / start.html. 46  Ausführlicher Klute / Trotha, S. 171. 43  Siehe

44  Zitiert

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In Fortsetzung der Geschichte der ‚Vergangenheitsbewältigung‘, die mit der United Nations War Crimes Commission des Jahres 1943 und den ­Nürnberger Prozessen eingeleitet worden ist, versuchen heute Nachkriegsgesellschaften ihre Basiserzählungen dadurch neu zu erzählen, dass sie die ‚Aufarbeitung‘ der Vergangenheit mit Amnestie-, Versöhnungs- und Wiedergutmachungsverfahren verbinden. Beispielhaft wurde die „Wahrheitskommission“ Südafrikas nach dem Ende des Apartheidregimes oder die GacacaTribunale Ruandas nach dem Genozid.47 Die Ergebnisse solcherart Wege zu einer neuen Basiserzählung sind naheliegenderweise zwiespältig, weil ‚juristische Wahrheiten‘ andere als ‚historische Wahrheiten‘ sind und Verständigung, Versöhnung und die Notwendigkeiten des Aufbaus von Nachkriegsgesellschaften auf der einen und die Aufdeckung und Bestrafung von Kriegsverbrechen (oder schweren Menschenrechtsverletzungen in diktato­ rischen und totalitären Regimen) auf der anderen Seite den elitären Kons­ trukteuren von Basiserzählungen häufig unvereinbar zu sein scheinen. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich und führt zu den Grundlagen der jeweiligen politischen und sozialen Ordnungen und insbesondere ihrer politischen und sozialen Kultur, vergleichend zu untersuchen, in welcher Reihenfolge und wie konfliktreich die Institutionen der Nachkriegsgesellschaften Gegenstand von öffentlich debattierter Vergangenheitsbewältigung werden.48 III. Von der Teilhabe der jungen Männer Friedenssuche ist in Nachkriegsgesellschaften, in denen die überwiegende Mehrheit der Menschen jung und sehr jung ist, eine Suche nach Wegen, die jüngere Generation in den Aufbau der Nachkriegsgesellschaft einzubinden. Wie auch in Mali konzentriert sich üblicherweise das Interesse auf die ehemaligen Soldaten – zu denen insbesondere für die ausländischen Geber heute die Kindersoldaten kommen, die so allem widersprechen, was die westliche Pädagogik über Kinder und Kindheit hochhält.49 Das ist zweifellos dem Frieden förderlich. Aber das eine zu tun, heißt nicht, das andere 47  Für eine nuancierte Betrachtung des südafrikanischen Weges siehe Plessis; für Ruanda siehe Clark und die interessanten Überlegungen von Paul; für einen abgewogenen Überblick siehe Theissen. Einen engagierten Überblick bietet Minow. 48  Siehe z. B. die jahrzehntelange Ausklammerung der Frage, inwieweit die deutsche Wehrmacht an den nationalsozialistischen Verbrechen teilgehabt hat, und es trotz früherer Bemühungen (siehe Rürup) der sogenannten „Wehrmachtsausstellung“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 50 Jahre nach Kriegsende, vorbehalten war, eine konfliktreiche öffentliche Diskussion auszulösen. Vgl. Jureit 2004 und Thiele. 49  Vgl. Die Bundesregierung, insbes. S. 41.



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zu lassen. Das andere ist die gesellschaftliche Integration der Scharen von männlichen Jugendlichen, die entweder nicht oder noch nicht gekämpft haben. Vor allem gilt es, für sie eine Alternative zu den Wirklichkeiten zu schaffen, die ich das ‚Kalaschsyndrom‘ genannt habe.50 Das Kalaschsyndrom ist eine Inszenierung von Männlichkeit. Es artikuliert sich als ein radikal antifeministisches Manifest. Es stilisiert und verherrlicht das, was in einer Welt, die vom natürlichen und deshalb selbstverständlichen und unüberwindbaren Gegensatz der Geschlechter ausgeht – und daran hält die überwiegende Mehrheit der Menschen selbst in den westlichen Ländern, die der Geschlechtergleichheit verpflichtet sind, fest –, den konstitutiven Kern der Wirklichkeit des Mannes im Gegensatz zu der der Frau ausmacht: körperliche Kraft, Bewegung, Gewalt, Macht, Ehre und Ruhm. Es besteht in einer geschlechtsrollenspezifischen Phantasie des Handelns, einer Utopie der männlichen Aktion im körperlichen wie im übertragenen Sinne. Die Welt des Kalaschsyndroms ist nicht nur eine männliche Ordnung, sondern auch eine Welt der Männer, die körperlich am gewaltfähigsten sind, am ehesten den extremen physischen Anforderungen des Krieges standhalten und den Merkmalskomplexen am besten entsprechen, die männlicher Jugend in der Regel zugeschrieben werden: mutig, verwegen, risikobereit, unbekümmert, begeisterungsfähig, radikal und ungeduldig. Kurz, sie ist eine Welt der jungen Männer, in der das Verhalten um das kreist, was Walter B. Miller einst als „Kristallisationspunkte“51 der unterschichtkulturellen Wirklichkeit von großstädtischen Jugendbanden ausgemacht hat: ‚Härte‘ als physische Belastung und Tapferkeit, Maskulinität und Mut angesichts physischer Bedrohung, ‚Erregung‘ als Ausbruch aus Alltagsroutinen, Nichtstun und Langeweile und natürlich das Verlangen nach Autonomie, die Empfindlichkeit gegenüber äußeren Kontrollen, die Suche nach Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Zur Welt des Kalaschsyndroms eine Alternative zu bieten, die den Frieden unterstützt und fördert, ist äußerst schwierig. Die Alternativen sind für männliche Jugendliche in den Elendsvierteln der urbanen Agglomerationen der Entwicklungsländer normalerweise wenig attraktiv – und bedenkt man die Aufstiegs- und Machtchancen, die mit „Gewaltgemeinschaften“52 einhergehen, gilt dieser Befund auch für den einen oder anderen jungen Mann aus den Lebenswelten der Mittel- und Oberschichten. Die Alternativen sind meist von all dem weit entfernt, um was es in den Wirklichkeiten des Kalaschsyndroms geht. Alternativen bieten in beschränktem Maße allerdings 50  Trotha / Klute. 51  Miller.

52  Zum Konzept der „Gewaltgemeinschaft“ s. die DFG-Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ an der Universität Gießen.

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die Integration in das Bildungssystem und vor allem die Teilhabe an einem Arbeitsmarkt, der eine gewisse Stabilität hat und im Vergleich zu den Unterhaltsmöglichkeiten einer Elendsviertelökonomie bescheidene wirtschaft­ liche Sicherheiten verspricht. Umso wichtiger ist es deshalb, eine allgemeine wirtschaftliche Erholung zu bewerkstelligen, welche die Bildungs-, aber mehr noch Arbeitsmarktschancen für junge Männer erhöht. Im Programm Mali Nord hat dieser Sachverhalt dem Programm eine deutlich von ökonomischen Überlegungen bestimmte Richtung gegeben, auch wenn in dem hauptsächlich von kleinbäuerlicher, nomadischer und viehhalterischer Wirtschaft geprägten Wirtschaftsraum des Programms die Schaffung von Arbeitsmarktchancen nachrangig bleiben musste.53 Unter friedenspolitischen Gesichtspunkten ist an den wachsenden Arbeitsmarktchancen allen voran die männliche Jugend zu beteiligen. Sie ist es, die für den Aufbau der Nachkriegsgesellschaft und den Frieden zu gewinnen ist. Das widerspricht zwar den Routinen des gender mainstreaming und dem politisch korrekten Opportunismus, in allen Entwicklungsprogrammen die Gleichstellungskomponente zu verankern, die selbstverständlich als Frauengleichstellungskomponente gedacht ist. Aber für die Gleichstellungspolitik von Nachkriegsgesellschaften gilt: Am Ausgang insbesondere Kleiner Kriege: ist Geschlechtergleichstellung ein Ergebnis und nicht die Voraussetzung von Frieden. Nicht Frauen fördernde, sondern junge Männer fördernde Programme sind unter dem Wirklichkeiten des Kalaschsyndroms der Schlüssel für den Frieden.54 Dies gilt umso mehr, wenn man nicht aus dem Blick verliert, dass zwischen dem Ende von Kleinen Kriegen und einer hohen Rate von Gewaltkriminalität von Jugendlichen, Heranwachsenden und jungen Erwachsenen in Nachkriegsgesellschaften wie in Südafrika oder Guatemala55 ein enger Zusammenhang besteht: Die hohe Gewaltkriminalität von Nachkriegsgesellschaften ist auch die Fortsetzung der kriegerischen Gewalt in neuer und kriminalisierter Form.56

Papendieck im vorliegenden Band. wiederum ist ebenfalls durch den Satz zu ergänzen, dass, das eine zu tun, nicht bedeutet, das andere zu lassen, allerdings mit der Einschränkung, dass gender mainstreaming nicht dazu beitragen darf, die Anziehungskraft der Welt des Kalaschsyndroms, welche Maskulinität feiert, für junge Männer z. B. durch die Forcierung von sozialen wie psychologischen Mechanismen der Reaktionsbildung zu erhöhen. Zur Reaktionsbildung siehe Miller, S. 344; Cohen, S. 99 ff., 147, Anm. 1; Freud. 55  Siehe Kurtenbach. 56  Ebd., S. 6 ff.; siehe dazu auch Plessis, S. 196. 53  Vgl. 54  Das



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IV. Der Aufstieg der lokalen Akteure Konfliktregulierung ist unverändert Konfliktregulierung durch die großen Mächte, allen voran die USA. Aber seit dem Zweiten Weltkrieg ist sie in wachsendem Maße ebenfalls Konfliktregelung durch internationale und global agierende Organisationen, von der UN über die Arabische Liga, die Organisationen der Amerikanischen Staaten oder für Afrikanische Einheit bis zu den internationalen Nichtregierungsorganisationen.57 Die Vielzahl der Konfliktregelungseinrichtungen und -foren birgt zahlreiche Chancen für Konfliktregelungsengagement und unterschiedliche Regelungswege, die der Multidimensionalität von Konflikten entsprechen. Sie ist jedoch gleichfalls eine konfliktuelle Regelungsvielfalt, in der Akteure verschiedener ebenso wie ein und derselben Organisation höchst divergente institutionelle, politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Interessen, Werte und Ziele verfolgen. Entsprechend gewinnt das Problem der Koordination, Integration und Entscheidungsfähigkeit im Gefüge von Konfliktregelungseinrichtungen an Gewicht. Der Aufstieg des Kleinen Krieges unter den Kriegsformen der Gegenwart hat gleichfalls die Vervielfältigung kriegerischer Akteure mit sich gebracht. Es kommt zu einer regelrechten ‚Akteurslawine‘ aus Mitgliedern unterschiedlichster Institutionen, die dazu berufen sind oder sich berufen glauben, kriegerische Konflikte zu regeln – und vor allem anderen ihre Interessen verfolgen. So steht der Vielfalt von Akteuren auf der Seite der streitenden Parteien eine Vielfalt von Konfliktregelungseinrichtungen gegenüber. Die Vielfalt der Akteure – von den Großmächten, der UN und internationalen Organisationen über „Warlords“, Parteiführer und Häuptlinge bis zu den Vertretern von lokalen Nichtregierungsorganisationen, um nur einige wenige Kategorien von Akteuren zu nennen – ist auch das Ergebnis der wachsenden Relevanz lokaler Akteure in gewaltsamen Konflikten. Angesichts der Internationalisierung und Globalisierung von Konfliktregulierung gerät dieser Sachverhalt allzu leicht aus dem Blick. Anders als die Kriege der Nationalstaaten werden Kleine Kriege von lokalen Akteuren und vor allem von einer Vielzahl lokaler Akteure geführt. Dazu gehört, dass die kriegerischen Auseinandersetzungen eng mit lokalen Konflikten verflochten und die Zielsetzungen der Akteure von lokalen und Konflikten bestimmt sind, die das Verhältnis zwischen lokalen Gruppen und dem nationalen Herrschaftszentrum prägen. Die Folge ist, dass anders als im Falle des Friedensschlusses zwischen Nationalstaaten der Weg zum Frieden heute über eine Vielzahl von Akteu57  Hierzu und zum Folgenden siehe den Beitrag von Bogner / Neubert im vorliegenden Band; siehe auch Neubert.

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ren verläuft, deren Beziehungen zu nationalen und internationalen Akteuren und bis hinein in lokale Konflikte und ihre typischerweise komplexe Geschichte führen. Georg Klutes eindrucksvolle und detailreiche Untersuchung der Zweiten Tuareg-Rebellion in Mali und Niger zeigt eindringlich, wie lokale Konflikte mit Auseinandersetzungen mit den nationalen Herrschaftszentren in Bamako und Niamey verschränkt werden und durch das Engagement anderer Staaten sogar auf internationale Konfliktlinien treffen – und vice versa.58 Der Anspruch des Lokalen und die Vereinnahmung des Nationalen, Internationalen oder gar Globalen durch das Lokale ‚provinzialisiert‘ den Weg zum Frieden und hebt lokale Interessen, Vorstellungen und Ansprüche auf die Bühne der internationalen und Weltpolitik.59 Es entsteht eine Spannung zwischen ‚welt‘- und ‚dorfgemeinschaftlichen‘ Sichtweisen, Interessen, Konflikten, Notwendigkeiten und Prioritäten, für die z. B. die Petersburger-Konferenz über Afghanistan im Jahr 2001 in Königswinter beispielhaft war. Konfliktregulierung ‚von oben‘ trifft auf Konfliktregulierung ‚von unten‘, wobei ‚oben‘ wie ‚unten‘ selbst wiederum ein ganzes Spektrum von Akteuren und Ebenen umfassen mag – als Haupt- und Staatsaktion wie die Institutionalisierung der Loja Dschirga als verfassungsgebende Versammlung Afghanistans oder als Ergebnis der ‚Programmlawinen‘ der ‚Friedenskonsolidierung‘ und von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet wie das Ausbildungsprogramm für Richter aus afghanischen Dörfern und Städten, die das Heidelberger Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht organisiert hat.60 Die ‚Zivilgesellschaft‘, die hier in den Friedensprozess eingebunden wird, entspricht folglich nur begrenzt der gesellschaftspolitisch-normativen Idee der Zivilgesellschaft, die sich seit der schottischen Aufklärung und insbesondere mit de Tocqueville entwickelt hat.61 V. Die Zivilgesellschaft als Imagination und die Zerbrechlichkeit des Friedens Edward Shils hat die Vorstellung von Zivilgesellschaft in der Tradition de Tocquevilles im Kontext der Debatte, die nach dem Verschwinden des 58  Klute.

59  „Globale Sicherheit vor Ort“ nennt Spreen (S. 217 ff.) diese Vermischung von lokaler und globaler Ebene und die mit ihr einhergehende Vervielfältigung von Akteuren. Er betont zu Recht, dass die Vermischung der Ebenen und die Vielfalt der Akteure die Unübersichtlichkeit steigert und Herrschaftsformen „kontingenter Souveränität“ hervorbringt. 60  Hestermeyer / Moschtaghi / Röder. 61  Tocqueville, insbes. Bd. I, 2. Teil, IV. Kapitel.



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s­ogenannten ‚Eisernen Vorhangs‘ hauptsächlich in Ost- und Südosteuropa geführt worden ist, treffend charakterisiert.62 Es ist eine Vorstellung, die Teil der Traditionslinie ist, die ich die ‚bürgerschaftliche‘ nenne, und auf der in beachtlichem Umfang das Selbstverständnis und vor allem die Selbstlegitimation von Nichtregierungsorganisationen beruht. Nach Shils betont die bürgerschaftliche Traditionslinie den Gemeinsinn und die Verantwortung des Citoyen für das Gemeinwesen. Der „Bürgersinn“, den die Civil Society pflegt, ist am Wohl der Gesamtgesellschaft ausgerichtet63 und beachtet und unterstützt die Einrichtungen, welche die Gesamtgesellschaft repräsentieren und die für sich in Anspruch nehmen dürfen, „allen Teilen der Gesellschaft gerecht zu werden“.64 Die Zivilgesellschaft hat die Aufgabe, die Interessen und Partikularismen zu bändigen, „die zentrifugalen Tendenzen daran zu hindern, die Einheit zu zerstören, welche für das relativ friedliche und einigermaßen effektive Funktionieren der Gesellschaft erforderlich ist“.65 Es gehört deshalb schon einige Kühnheit dazu, in der Situation von Nachkriegsgesellschaften Kleiner Kriege, also von Gesellschaften, die gerade durch ihre Zerissenheit gezeichnet sind, von zivilgesellschaftlichen Akteuren oder, abgekürzt, gar von „der“ Zivilgesellschaft zu sprechen, wie es üblich geworden ist. Die Selbstorganisation unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen ist nicht automatisch eine Erscheinung der Zivilgesellschaft, auch wenn sie eine notwendige Bedingung für eine zivilgesellschaftliche Ordnung ist. Die Zivilgesellschaft setzt schon immer eine politisch-kulturelle Einheit voraus, nämlich die der Polis. Sie ist deshalb sowohl über die Grenzen dörflicher Partikularismen als auch über eine Politik hinaus, die einseitig Interessen vertritt, auch wenn die Interessen im organisatorischen Gewand von Nichtregierungsorganisationen verfolgt werden. Aus gutem Grund macht Shils deshalb ausdrücklich darauf aufmerksam, dass gesellschaftlicher Pluralismus oder, um die liberaldemokratische Konnotation des Begriffs ‚Pluralismus‘ zu vermeiden, die Vielfalt gesellschaftlicher Akteure nicht mit Zivilgesellschaft verwechselt werden sollte. Er 62  Shils.

63  Der ameriklanische Präsident John F. Kennedy hat diese Idee des Gemeinsinns einst in merklich entpolitisierter Form auf eine berühmte Formel gebracht, die, obwohl Kennedy katholisch war, nahtlos an Geist und Praxis anknüpft, welche das vormals kalvinistisch geprägte amerikanische Erziehungswesen von der Sonntagsschule bis zum College geprägt haben. In seiner Antrittsrede vom 20. Januar 1961 rief Kennedy seine „amerikanischen Mitbürger“ dazu auf: „[F]ragt nicht, was Euer Land für Euch tun kann – fragt, was Ihr für Euer Land tun könnt.“ (zit. n.: http: /  / avalon.law.yale.edu / 20th_century / kennedy.asp). 64  Shils, S. 15. 65  Ebd., S. 37.

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schreibt: „Obwohl eine civil society in aller Regel eine pluralistische Gesellschaft ist, gilt nicht unbedingt auch die Umkehrung dieses Satzes.“66 Pluralismus als Vielfalt rücksichtsloser Interessensgruppen und derer, die Shils, offensichtlich unbeeindruckt von Ethnizitäts- und dekonstruktivistischen Debatten, etwas missverständlich „ursprünliche Gemeinschaften“ nennt, also „Gemeinschaften von lokaler, verwandtschaftlicher, ethnischer und religiöser Art“,67 begründet noch längst keinen zivilgesellschaftlichen Pluralismus im Sinne der bürgerschaftlichen Traditionslinie. Radikalisierter Individualismus und ungezügelte Interessenspolitik haben, wie jüngst und kurz vor seinem Tod der Historiker Tony Judt seinen amerikanischen Landsleuten und insbesondere dem neoliberalen Wirtschaftsestablishment ins Stammbuch schrieb,68 ebenso wenig mit einer Civil Society zu tun wie eine „konzentrische“ soziale Ordnung „ursprünglicher Gemeinschaften“.69 Die konzentrische Ordnung mag noch so vielgestaltig sein. Ihr grundlegender Unterschied zur Civil Society besteht darin, dass in ihr der Vorrang der Allgemeinheit im Sinne von Shils nicht gilt. In der konzentrischen Ordnung stehen die primären Beziehungen an erster Stelle. Dem Nächsten ist man am meisten verpflichtet. Der Nächste ist der Verwandte, der Freund, der Gefolgsmann. Typischerweise ist der Nächste auch das Mitglied des ‚Volkes‘, des ‚Stammes‘ oder der ‚Ethnie‘, der man angehört. Sie sind es, denen man Loyalität schuldet, sie werden bevorzugt, wenn etwas zu vergeben ist; sie dürfen sich bei der Vergabe von Posten privilegiert wissen, für sie setzt man sich bei denen ein, die wiederum Geld und Posten zu vergeben haben und Beziehungen knüpfen können. Ist ‚Korruption‘ in der konzentrischen Ordnung eine Variante des Grundsatzes der Gegenseitigkeit, der Gemeinschaft stiftet, ruft Korruption in der Civil Society höchsten Abscheu und die Gründung von Organisationen wie Transparency International auf den Plan. Das eine wie das andere, die rücksichtslose Verfolgung von Interessen und die konzentrische Ordnung, sind indes diejenigen Elemente, die in Nachkriegsgesellschaften Kleiner Kriege, allen voran in der einstigen Dritten Welt und in Schwarzafrika im besonderen, von großer Bedeutung sind. Die Zivilgesellschaft ist hier nicht Ausgangspunkt, sondern im günstigsten Fall mühseliges Ergebnis der Etablierung und Stabilisierung von Frieden. Sie besteht anfänglich nicht mehr als aus einer Vielzahl von Akteuren, die den im Friedensdiskurs prämierten und finanziell einträglichen Anspruch auf zivilgesellschaftlichen Status reklamieren mögen. Ob die vielberufenen 66  Ebd., 67  Ebd.

68  Judt. 69  Zum

S. 22. Konzept der konzentrischen Ordnung, siehe Trotha 2000.



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„zivilgesellschaftlichen“ Akteure zur Errichtung einer Zivilgesellschaft indessen beitragen, ist zuerst nur eine Hoffnung und eine höchst gewagte und zerbrechliche dazu. Die Zivilgesellschaft ist in Nachkriegsgesellschaften nicht Akteur des Friedens, sondern Imagination, bestenfalls waghalsiger Vorgriff auf eine unsichere Zukunft. Ihre rituelle Beschwörung gleicht umso mehr dem Pfeifen im dunklen Wald. Die Provinzialisierung der Konfliktregelung durch den Aufstieg der lokalen Akteure steigert die Akteurskomplexität der Friedenssuche und schränkt im Verbund mit einer konkurrenziellen Vielfalt von Akteuren, die einen mehr oder minder zweifelhaften zivilgesellschaftlichem Anspruch erheben, die Voraussehbarkeit des Weges zum Frieden noch mehr ein, als sie es ohnehin schon ist.70 Entsprechend kennen Kleine Kriege häufig nicht nur keinen Kriegsbeginn, sondern ebenso wenig ein Kriegsende, einen dauerhafteren Frieden. In der Komplexität von Akteuren, Interessen und Geschichte der drei Ebenen, die Arthur Bogner und Dieter Neubert „Track 1“ bis „Track 3“ nennen,71 kommt die Kategorie des Friedensschlusses immer wieder abhanden. Nachkriegsgesellschaften des Kleinen Krieges haben dementsprechend den Zug, Gesellschaften der Waffenstillstände und Friedensschlüsse, aber ohne Frieden zu sein. So wird der Weg zum Frieden vor allem zu einem Prozess von Versuch und Irrtum, der die Geduld der Akteure auf große Proben stellt. Wie aus dem Programm Mali Nord zu lernen ist, erfordert er umso mehr geduldige Arbeit in und an Institutionen, die – nach dem Vorbild des Beirats des Programms Mali Nord – die nicht nachlassende Arbeit am zivilgesellschaftlichen Konsens zu ermöglichen versuchen. Es kann nur empirisch bzw. in der Praxis der Friedenssuche bestimmt werden, ob lokale Akteure im Friedensprozess produktiv oder kontraproduktiv sind. Dafür gibt es keine Blaupausen. Im einen Fall mögen sie produktiv, im anderen Fall kontraproduktiv sein. Beispielhaft für die Produktivität auf dem Weg zum Frieden war und ist das Programm Mali Nord72 – auch wenn es den Konflikt im Norden von Mali ‚nur‘ regional einhegen, aber nicht dauerhaft befrieden konnte, wie die Situation großer Unsicherheit und die gewaltträchtigen und ungelösten Probleme der Region Kidal, die der Schlüssel für die malische Seite der TuaregRebellionen ist, vor Augen führt. Ein Exempel für Kontraproduktivität sind stattdessen die Verträge von Tamanrasset vom Januar 1991. Die Verträge sollten die Tuareg-Rebellion zu Beginn der 1990er Jahre beenden, trugen tatsächlich aber durch die übermäßige, weil nie einlösbare Befriedigung lokaler Interessen, sprich die der Tuareg im Norden von Mali, mit dazu bei, 70  Siehe

auch oben, Anm. 59. in diesem Band. 72  Siehe Papendieck in diesem Band. 71  Bogner / Neubert

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Grundlagen für eine erneute Rebellion zu legen und die nächste Phase der Rebellion einzuläuten.73 VII. Die Zukunft liegt im ‚Dorf‘ In der Zerbrechlichkeit des Friedens unterstreicht der Aufstieg der lokalen Akteure, dass mit ihm nicht die Welt zum ‚Dorf‘ wird, wie es die zum Klischee gewordene (mediale) Globalisierungsutopie von McLuhan will.74 Aber das ‚Dorf‘ wird in wachsendem Maße ein Ort, der die Welt bewegt, weil er die Quelle von Machtprozessen, des Konflikts und insbesondere des Kleinen Krieges ist, kurz, ein Ort ist, an dem Politik gemacht und erlitten wird, die Akteure unterschiedlichster Ebenen und Charakters mobilisiert. Literatur Barth, Boris / Osterhammel, Jürgen (Hg.): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005. Baumer, Andreas: The Civil War and the Regime of Generalísimo Franco: Cruelty as a Strategy for the Obtainment, Legitimisation, and Consolidation of Political Power, in: Trutz von Trotha, Jakob Rösel (Hg.): On Cruelty, Köln 2011, S. 562–572. Bernecker, Walther L.: Krieg in Spanien 1936–1939, Darmstadt 2005 (zuerst 1991). Broszat, Martin / Fröhlich, Elke: Alltag und Widerstand – Bayern im Nationalsozialismus, München 1987. Brumlik, Micha: Vorwort, in: Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld, S. 9–11. Burnham, Gilbert / Lafta, Riyadh / Doocy, Shannon / Roberts, Les: Mortality After the 2003 Invasion of Iraq: A Cross-Sectional Cluster Sample Survey, in: The Lancet, Heft 368, 2006, S. 1421–1428. Callwell, Charles: Small Wars. Their Principles and Practice. 3. Auflage, London 1996 (zuerst 1896). Clark, Phil: The Gacaca Courts. Post-Genocide Justice and Reconciliation in Rwanda. Justice Without Lawyers, Cambridge 2010. Clausewitz, Carl von: Vom Kriege. Hinterlassenes Werk, Frankfurt a.  M. 1980 (Ullstein-Ausgabe). Cohen, Albert K.: Kriminelle Jugend. Zur Soziologie jugendlichen Bandenwesens, Reinbek 1961. 73  Zur Geschichte der „Zweiten Tuareg-Rebellion“ siehe Klute und Klute /  Trotha. 74  Siehe McLuhan / Powers; McLuhan.



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Autorenverzeichnis Maja Apelt, geboren 1963 in Berlin, Studium der Soziologie und Wirtschaftswissenschaften in Berlin, Promotion zum Dr. rer. pol. (1999), Habilitation (2007), Professorin für Organisations- und Verwaltungssoziologie an der Universität Potsdam. Ausgewählte Publikationen: Forschungsthema Militär. Militärische Organisationen im Spannungsfeld von Krieg, Gesellschaft und soldatischen Subjekten (Hg.), Wiesbaden (VS) 2010; Militärische Sozialisation, in: Militärsoziologie – Eine Einführung, Lehrbuch, hrsg. von Nina Leonhard und Ines-Jaqueline Werkner, Wies­ baden (VS) 2011; Soldatinnen in den westlichen Streitkräften und die sog. Neuen Kriege, in: Soldatinnen. Gewalt und Geschlecht im Krieg vom Mittelalter bis heute, hrsg. v. Klaus Latzel, Franka Maubach und Silke Satjukow, Paderborn (Schöningh) 2011; Typen der Organisation. Ein Handbuch, hrsg. zus. mit V. Tacke, Wiesbaden (VS) 2012; Das Paradox des Gewaltmonopols in der Selbstwahrnehmung von Bundespolizisten (zus. mit A. Häberle), in: Empirische Polizeiforschung XIV: Polizei und Gewalt, hrsg. von Thomas Ohlemacher und Jochen-Thomas Werner, Frankfurt am Main (Verlag für Polizeiwissenschaft) 2012. Marcel M. Baumann, geboren 1975 in Ettenheim, Studium der Politikwissenschaft, Psychologie und Geschichte in Freiburg, Basel und Londonderry, Promotion in Politikwissenschaft 2008 an der Humboldt-Universität zu Berlin, Wissenschaft­ licher Mitarbeiter an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau seit 2006. Mitgliedschaften: Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft, Deutsche Gesellschaft für Soziologie, 2004 Visiting Scholar an der University of California at Berkeley. Ausgewählte Publikationen: Zwischenwelten: Weder Krieg noch Frieden. Über den konstruktiven Umgang mit Gewaltphänomenen im Prozess der Konflikttransformation, Wiesbaden (VS) 2008; Understanding the Other’s „Understanding“ of Violence: Legitimacy, Recognition, and the Challenge of Dealing with the Past in Divided Societies, in: International Journal of Conflict and Violence, Heft 1, 2009, S. 107–123; Die Garantie von Sicherheit und das Recht auf Gerechtigkeit: Zur Erklärung und Prävention vigilantistischer Gewalt am Beispiel Nordirland, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, Heft 1, 2009, S. 85–108; Contested Victimhood in the Northern Irish Peace Process, in: Peace Review, Heft 2, 2010, S. 171–177; Verabschiedung von den Opfern? Die namenlose Tragik des Friedens in Nordirland, in: Nach Krieg, Gewalt und Repression: Der schwierige Umgang mit der Vergangenheit, AFK-Friedensschriften 35, hrsg. von Susanne Buckley-Zistel, Thomas Kater, Baden-Baden (Nomos) 2011, 39–57. Artur Bogner, geboren 1953 in Waldenburg, Studium der Soziologie und Philosophie sowie Promotion (1986) in Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld. Seit 2006 Mitarbeiter in Forschungsprojekten über Prozesse der konstruktiven Konfliktbearbeitung, Eskalation und Deeskalation in Afrika an der Universität Bayreuth. Zuvor u. a. Mitarbeiter in der Interdisziplinären Arbeitsgruppe „Die Herausforderung durch das Fremde“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und

436 Autorenverzeichnis am Institut für Weltgesellschaft der Universität Bielefeld. Ausgewählte Publikationen: Kolonialisierung der Herzen? Zu Arlie Hochschilds Grundlegung der Emotionssoziologie (zus. mit Cas Wouters), in: Leviathan, Heft 2, 1990, S. 255–279; Gewaltkonflikte und der Wandel sozialer Fremdheit in Nordghana, in: Die Herausforderung durch das Fremde, hrsg. von Herfried Münkler, Berlin (Akademie-Verlag) 1998, S. 201–303; The 1994 Civil War in Northern Ghana, in: Ethnicity in Ghana, hrsg. von Carola Lentz und Paul Nugent, London (Macmillan) 2000, S. 183–203; Ethnizität und die soziale Organisation physischer Gewalt, in: Anthropologie der Konflikte; hrsg. von Julia Eckert, Bielefeld (transcript) 2004, S. 58–87; Ethnicity, Belonging and Bio­ graphy: Ethnographical and Biographical Perspectives, hrsg. zus. mit ­Gabriele Rosenthal, Berlin (Lit) 2009. Matthias Häußler, geboren 1977 in Neustadt / Wstr., Studium der Fächer Philosophie, Soziologie und Politologie in Frankfurt am Main, Promotion in Philosophie 2006. Die Dissertation „Der Begriff der Religion in Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘ “ wurde 2006 mit dem „Internationalen Maurice Blondel-Förderpreis für Religionsphilosophie der Neuzeit“ ausgezeichnet. Seit 2009 stellvertretender Leiter des von der DFG geförderten Forschungsprojekts „Formen des Krieges, politische Herrschaft und die Entgrenzung der Gewalt. Zur Soziologie des Kolonialkrieges am Beispiel der Kriege in Deutsch-Südwestafrika, 1904–1908“ (Leitung: Trutz von Trotha). Ausgewählte Publikationen: Zwei Thesen zur Kriegsführung der Herero in vor- und frühkolonialer Zeit und ihre Kritik, in: Transformationsprozesse in afrikanischen Entwicklungsländern, hrsg. von Andreas Dittmann, Ulrich Jürgens, Berlin (wvb) 2010, S. 215–244; Zur Asymmetrie tribaler und staatlicher Kriegführung in Imperialkriegen: Die Logik der Kriegführung der Herero in vor- und frühkolonialer Zeit, in: Imperialkriege von 1500 bis heute: Strukturen-Akteure-Lernprozesse, hrsg. von Tanja Bührer, Christian Stachelbeck, Dierk Walter, Paderborn (Schöningh) 2011, S. 177–195; Grausamkeit und Kolonialismus. Zur Dynamik von Grausamkeit, in: On Cruelty. Sur la Cruauté. Über Grausamkeit, hrsg. von Trutz v. Trotha, Jakob Rösel, Köln (Rüdiger Köppe) 2011, S. 511–537; From Destruction to Extermination: Genocidal Escalation in Germany’s War against the Herero, 1904, in: Journal of Nami­ bian Studies (i. Vorb. 2012); Brutalisierung „von unten“. Kleiner Krieg, Entgrenzung der Gewalt und Genozid im kolonialen Deutsch-Südwestafrika (zus. mit Trutz von Trotha), in: Mittelweg 36 (i. Vorb., 2012) Volker Heins, geb. 1957 in Braunschweig, Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Philosophie und Romanistik in Bonn, Florenz und Frankfurt am Main, Promotion in Politikwissenschaft 1988, Habilitation in Politikwissenschaft 2001. Seit 2012 Leiter der Forschergruppe „Interkultur“ am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Wichtige Veröffentlichungen: Das Andere der Zivilgesellschaft. Zur Archäologie eines Begriffs, Bielefeld (transcript) 2002; Kampf der Zivilisten. Militär und Gesellschaft im Wandel, zus. mit Jens Warburg, Bielefeld (transcript) 2004; Rethinking Ethical Foreign Policy. Pitfalls, Possibilities and Paradoxes, hrsg. zus. mit David Chandler, London und New York (Routledge) 2007; Nongovernmental Organizations in International Society. Struggles over Recognition, New York (Palgrave Macmillan) 2008; Beyond Friend and Foe. The Politics of Critical Theory, Leiden und Boston (Brill) 2011. Hans Joas, geb. in München 1948, Studium der Geschichte, Soziologie und Philosophie in München und an der FU Berlin, Promotion (1979) und Habilitation

Autorenverzeichnis437 (1981) in Soziologie an der FU Berlin. Von 2002 bis 2011 Leiter des Max-WeberKollegs der Universität Erfurt, seit 2000 auch Professor für Soziologie an der University of Chicago und Mitglied des Committee on Social Thought. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg (2005  /  06), am Swedish Collegium for Advanced Study (1992, 1999 / 2000, 2004 / 05, 2010). Seit 2011 Permanent Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies, School of History. Zahlreiche Gastprofessuren (u. a. Toronto; Madison, Wisconsin; Duke University; New School for Social Research, New York; Uppsala; Wien). Ausgewählte Publikationen: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1992; Die Entstehung der Werte, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1997; Kriege und Werte. Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Weilerswist (Velbrück) 2000; Sozialtheorie, zus. mit Wolfgang Knoebl, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2004; Kriegsverdrängung, zus. mit Wolfgang Knoebl, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2008; Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2011; Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg i. Br. (Herder) 2012. Volker Kruse, geb. 1954 in Helmstedt, 1972–1978 Studium der Geschichte, Sozialwissenschaften, Philosophie und Pädagogik in Marburg, Freiburg und Bielefeld, 1988 Promotion Soziologie (Bielefeld), 1994 Habilitation Soziologie (Bielefeld), seit 2006 apl. Professor für Soziologische Theorie und Geschichte der Soziologie in Bielefeld. Gastprofessuren in Graz, St. Petersburg und Sofia. Ausgewählte Publikationen: Soziologie und „Gegenwartskrise“. Die Zeitdiagnosen Franz Oppenheimers und Alfred Webers, Frankfurt am Main (Deutscher Universitätsverlag) 1990; Historisch-soziologische Zeitdiagnosen in Westdeutschland nach 1945, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1994; „Geschichts- und Sozialphilosophie“ oder „Wirklichkeitswissenschaft“? Die deutsche historische Soziologie und die logischen Kategorien René Köngis und Max Webers; Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1999; Geschichte der Soziologie, Konstanz 2008 (UVK / UTB); Max Weber – eine Einführung, Konstanz (UVK / UTB) 2012. Gerhard Kümmel, geboren 1964 in Rohrbach, Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte in Marburg, Promotion in Politikwissenschaft 1994, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr in Strausberg seit 1997, Vorsitzender des Research Committees RC 01: Armed Forces & Conflict Resolution innerhalb der International Sociological Association, Vorsitzender des Arbeitskreises Militär und Sozialwissenschaften. Ausgewählte Publikationen: Identität, Selbstverständnis, Berufsbild. Implikationen der neuen Einsatzrealität für die Bundeswehr, hrsg zus. mit Angelika Dörfler-Dierken, Wiesbaden (VS) 2010; Sex in the Army. Militärische Organisationen und Sexualität, in: Forschungsthema Militär. Militärische Organisationen im Spannungsfeld von Krieg, Gesellschaft und soldatischen Subjekten, hrsg. von Maja Apelt, Wiesbaden (VS) 2010, S. 221–242; Core Values and the Expeditionary Mindset: Armed Forces in Metamorphosis, hrsg. zus. mit Henrik Fürst, Baden-Baden (Nomos) 2011; Per Anhalter durch die Galaxis – Von Afrika über den Balkan zum „Krieg gegen den Terror“: Zur Rolle von Privaten Sicherheits- und Militärunternehmen bei militärischen Einsätzen, in: Handbuch Kriegstheorien, hrsg. von Thomas Jäger und Rasmus Beckmann, Wiesbaden (VS) 2011, S. 535–552. Martin Kutz, geboren 1939, Wiss. Direktor a.D. Von 1962 bis 1968 Studium der Geschichte, Philosophie, Pädagogik, Politischen Wissenschaft und Rechtsgeschichte,

438 Autorenverzeichnis Promotion 1968 mit einer Arbeit über Handelsgeschichte 1789–1833. Seither im wissenschaftlichen Dienst der Bundeswehr als Dozent für Soziologie / Wirtschaftsund Sozialgeschichte. Seit 1973 im Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, pensioniert Juli 2004. Über fünfzig Publikationen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Militärs, insbesondere zur politischen und Bildungsgeschichte der Bundeswehr. Jüngste Publikationen: Deutsche Soldaten. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Wies­ baden (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2006; Compulsory Military Service, Compulsory Labour Service, Enforced Labour in Industrialised War. German Devel­ opment and Experiences During the Two World Wars, in: International Review of Military History, Heft 86, 2006, S. 9–27; Die verspätete Armee. Entstehungsbedingungen, Gefährdungen und Defizite der Bundeswehr, in: Die Bundeswehr 1955– 2005. Rückblenden – Einsichten – Perspektiven, hrsg. von Frank Nägler im Auftrag des MGFA, München (Oldenbourg) 2007, S. 63–79; Versuch über die rationale Art Krieg zu führen: Das Beispiel Afghanistan, in: Soldaten im Einsatz. Sozialwissenschaftliche und ethische Reflexionen, hrsg. von Stefan Bayer und Matthias Gillner, Berlin (Duncker & Humblot) 2011. Herfried Münkler, geboren 1951 in Friedberg / H., Studium der Politikwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main, 1981 Promotion, 1987 Habilitation. Seit 1992 Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; zahlreiche Gastprofessuren. Ausgewählte Publikationen: Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt am Main (EVA) 1982; Die neuen Kriege, Reinbek (Rowohlt) 2002; Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, Frankfurt am Main (Velbrück) 2002; Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin (Rowohlt) 2005; Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist (Velbrück) 2006; Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin (Rowohlt) 2009; Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung, Berlin (Rowohlt) 2010. Dieter Neubert, geboren 1952, Studium der Soziologie, Pädagogik, Ethnologie in Mainz, Promotion in Soziologie 1986 (Mainz), Habilitation in Soziologie 1995 (FU Berlin). Professor für Entwicklungssoziologie in Bayreuth seit 2000. Mitgliedschaften (Auswahl): 2001–2009, Sprecher, bzw. stellvertretender Sprecher des Instituts für Afrikastudien, Universität Bayreuth; 2004–2007 Sprecher des SFB 564 Lokales Handeln in Afrika im Kontext globaler Einflüsse; 1996–2001 Sprecher, stellvertretender Sprecher der Sektion Entwicklungssoziologie und Sozialanthropologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie; 1991–1993 sowie 2010–2012 Mitglied des Vorstandes der Vereinigung der Afrikawissenschaften in Deutschland (VAD), 1993– 1996, 1998–200, 2002–2004, 2012–2014 Mitglied des erweiterten Vorstandes, Mitglied des „Steering Commitees“ der europäischen Konferenz der Afrika-Studien (ECAS) 2004–2009 (London, Leiden, Leipzig). 1999–2000 Josef G. Knoll Stiftungsgastprofessur für Entwicklungsländerforschung Institut für Agrar- und Sozialökonomie in den Tropen und Subtropen Universität Hohenheim. Fellow in der Forschergruppe „Communicating Disaster am „Zentrum für interdisziplinäre Forschung“ Bielefeld, WS 2010 / 11. Ausgewählte Publikationen: Entwicklungspolitische Hoffnungen und gesellschaftliche Wirklichkeit. Eine vergleichende Länderfallstudie von

Autorenverzeichnis439 afrikanischen Nicht-Regierungsorganisationen in Kenia und Ruanda, Frankfurt am Main (Campus) 1997; The Dynamics of violence – processes of escalation and deescalation in ­violent group conflicts, Sonderband der Zeitschrift Sociologus, hrsg. zus. mit Georg Elwert und Stephan Feuchtwang, Berlin (Duncker & Humblot) 1999; Globalität im lokalen Kontext – Perspektiven und Konzepte von Handeln in Afrika, hrsg. zus. mit Roman Loimeier und Cordula Weißköppel, Berlin (Lit) 2005; Local and regional non-state actors on the margins of public policy in Africa, in: NonState Actors as Standard Setters, hrsg. von Anne Peters, Till Förster, Lucy Köchlin und Gretta Fenner Zinkernagel (Cambridge University Press), S. 35–60; Stakeholder participation in agricultural research projects: a conceptual framework for reflection and decision-making (zus. mit Andreas Neef), in: Agriculture and Human Values 28, 2011, S. 179–194. Henner Papendieck, geboren 1942 in Berlin, Studium der Wirtschaftswissenschaften in München und Berlin, Promotion in Wirtschaftsgeschichte 1975 an der FU Berlin, Inhaber eines Büros für Wirtschafts- und Sozialforschung in Berlin, Koordinator des Programms Mali-Nord (GTZ / KfW) von 1994 bis 2011. Ausgewählte Publikationen (jeweils zus. mit Barbara Rocksloh-Papendieck): Frieden von oben oder von unten? Der Beitrag des Programm Mali Nord zur Überwindung der TuaregRebellion, in: E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit, Heft 10, 1997, S. 267–269; Attacking the Causes of Conflict. The North Mali Programme to Ending the Tuareg Rebellion. In: D+C Development and Cooperation, Heft 2, 1998, S. 23–25; Vom Südrand des Azawad. Konfliktbewältigung im Norden Malis, in: Gewaltsame Konflikte und ihre Prävention in Afrika, Arbeiten aus dem Institut für Afrikakunde Nr. 100, hsrg. von Ulf Engel und Andreas Mehler, Hamburg (Institut für AfrikaStudien) 1998, S. 77–102; Peace and Aid: The Programme Mali-Nord and the Search for Peace in Northern Mali, in: Healing the Wounds. Essays on the Reconstruction of Societies after War, hsrg. von Marie-Claire Foblets und Trutz von Trotha, ­Oxford / Portland Oregon (Hart) 2004, S. 83–108. Dierk Spreen, geboren 1965 in München, Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Psychologie in Freiburg im Breisgau, Promotion in Soziologie 1998 (Freiburg i. Br.), Habilitation in Soziologie 2006 (Paderborn). Seit 2001 Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Universität Paderborn, derzeit als Akademischer Oberrat auf Zeit. 2008 / 09 Vertretung einer Professur für Allgemeine Soziologie (Paderborn), 2009 / 10 Vertretung einer Professur für Mediensoziologie (Paderborn), Lehraufträge in Soziologie (Freiburg i. Br.) und Erziehungswissenschaft (Bielefeld). Ausgewählte Publikationen: Tausch, Technik, Krieg. Die Geburt der Gesellschaft im technisch-medialen Apriori, Hamburg (Argument) 1998; Krieg und Gesellschaft. Zur Konstitutionsfunktion des Krieges für moderne Gesellschaften, Berlin (Duncker & Humblot) 2008; Kriegsvergessenheit in der Mediengesellschaft, hrsg. zus. mit Andreas Galling-Stiehler, Berlin (Ästhetik & Kommunikation) 2011; Jugend und gewalthaltige Massenkultur. Zur Soziologie der Unterhaltung und der Sozialisationsfunktion der Medien, in: Wissen sie, was sie tun? Zur filmischen Inszenierung jugendlicher Gewalt, hrsg. von Jörg Herrmann, Jörg Metelmann und Hans-Gerd Schwandt, Marburg (Schüren) 2012, S. 16–48; Medien – Körper – Geschlecht. Diskursivierungen von Materialität. Festschrift für Hannelore Bublitz, hrsg. zus. mit Birgit Riegraf und Sabine Mehlmann, Bielefeld (transcript) 2012.

440 Autorenverzeichnis Trutz von Trotha, geboren 1946 in Dieburg  /  Hessen, Studium von Soziologie, Neuerer Geschichte und Politikwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau, Promotion in Soziologie im Jahr 1972, Habilitation in Soziologie im Jahr 1980, von 1989 bis 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie an der Universität Siegen. Ausgewählte Publikationen: Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des Schutzgebietes Togo, Tübingen (Mohr) 1994; Ordnungsformen der Gewalt. Reflexionen über die Grenzen von Recht und Staat an einem einsamen Ort in Papua-Neuguinea, zus. mit Peter Hanser, Köln (Rüdiger Köppe) 2002; On Cruelty. Sur la Cruauté. Über Grausamkeit, hrsg. zus. mit Jakob Rösel, Köln (Rüdiger Köppe) 2011.