Die transformative Stadt: Reflexive Stadtentwicklung jenseits von Raum und Identität 9783839434741

Urban diversity has become de rigueur as a discursive line in contemporary contributions to urban development. However,

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German Pages 156 Year 2016

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Die transformative Stadt: Reflexive Stadtentwicklung jenseits von Raum und Identität
 9783839434741

Table of contents :
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Start: Zukunft
Theorié
Räume
Differenzen
Identitäten
Transponder: Flexible Sozialräume
Empiritis
Leipzig
Hannover
Buenos Aires
Transponder: Transformative Stadtforschung
PRXS
Stadtplanung
Stadtbewegungen
Stadtteilarbeit
Transponder: Reflexive Stadtbewegungen
Prospektiven
Ziel: Geschichte
Literatur

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Andreas Thiesen Die transformative Stadt

Urban Studies

Andreas Thiesen (Dr. phil.), geb. 1979, ist Professor für Sozialarbeitswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialer Raum an der Fakultät Architektur und Sozialwissenschaften der HTWK Leipzig.

Andreas Thiesen

Die transformative Stadt Reflexive Stadtentwicklung jenseits von Raum und Identität

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Für Louane

Inhalt

Abbildungsverzeichnis | 9 Tabellenverzeichnis | 11 Start: Zukunft | 13

Theorié | 25

Räume | 27 Differenzen | 39 Identitäten | 51 Transponder: Flexible Sozialräume | 59 Empiritis | 67

Leipzig | 70 Hannover | 86 Buenos Aires | 92 Transponder: Transformative Stadtforschung | 103

PRXS | 107

Stadtplanung | 110 Stadtbewegungen | 113 Stadtteilarbeit | 121 Transponder: Reflexive Stadtbewegungen | 127

Prospektiven | 129

Ziel: Geschichte | 137

Literatur | 141

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Spätmoderne Nachbarschaft | 18 Abb. 2: Wem gehört der öffentliche Raum? | 31 Abb. 3: Typische »Landkarte« des sozialen Raumes | 44 Abb. 4: Marginal Man – hier als Band | 54 Abb. 5: Die Europäische Stadt | 58 Abb. 6: Irgendein Stadtteilbild | 59 Abb. 7: Irgendein anderes Stadtteilbild | 60 Abb. 8: Gut gemeinte Stadtplanung | 62 Abb. 9: Going Native | 69 Abb. 10: Connewitz Is Fuckin’ Dead | 71 Abb. 11: Life Is Good at the Beach | 72 Abb. 12: Ein Ort der Stille und Besinnung | 77 Abb. 13: Antifa-Area Connewitz | 79 Abb. 14: Connewitz ist bekannt für seine zahlreichen Grünflächen und Naherholungsgebiete | 81 Abb. 15: Fußweg Fischladen Red Bull Arena, laut Google Maps: 1 Std. 4 Min | 84 Abb. 16: Aufwendige Choreografie kreativer Deutscher | 87 Abb. 17: Gated Community des »Kleinen Mannes« | 88 Abb. 18: Do Not Disturb – Geschlossene Gesellschaft | 89 Abb. 19: Deutschland: Land der Kippen und Kondome | 89 Abb. 20: Blinder Nationalstolz raubt den Bewohner*innen dieses Hauses die Sicht | 90

Abb. 21: Autonome Autochthone | 91 Abb. 22: Mobile Identität: Schland am Fahrrad | 91 Abb. 23: Mann mit Kind auf Fahrrad nahe der informellen Siedlung »Villa 31« | 93 Abb. 24: Postperonistischer Heroismus | 96 Abb. 25: No-Go-Area für Gringos: Bajo Flores | 98 Abb. 26: Villa 1-11-14 nahe Flores | 99 Abb. 27: Carlos Gardel ist in Abasto allgegenwärtig | 100 Abb. 28: Krämerladen in Abasto | 101 Abb. 29: Transformative Stadtforschung | 103 Abb. 30: Stadtluft machte nie freier | 111 Abb. 31: Birmingham, Soho Road | 115 Abb. 32: Freiräume erhalten! | 116 Abb. 33: Am spätmodernen Pranger: Airbnb | 119 Abb. 34: Urbane Vertriebene | 123 Abb. 35: Grammatik der Praxisreflexion | 134

Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Fünf Spannungsfelder der Identitätsdiskussion | 52 Tab. 2: Leitfaden zum Forschungsprojekt »Andere Räume – andere Träume« | 82 Tab. 3: Handlungskonzepte professioneller und semiprofessioneller Stadtteilarbeit | 125

Start: Zukunft

Der Raum ist heute als Theoriegeber, Diskurslinie und empirische Variable stärker in den Sozialwissenschaften verankert als jemals zuvor: Die Soziologie besetzt seit den Studien Pierre Bourdieus entweder einen abstrakten Raumbegriff, mit dessen Hilfe sie die milieuspezifische Abbildung gesellschaftlicher Gruppen im sozialen Raum erklärt (vgl. Bourdieu 1982; Vester et al. 2001), oder sie wird angesichts der weltweit zu beobachtenden Nachfrage nach städtischem Wohnraum wieder verstärkt mit Segregation, der räumlichen Verteilung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in der Stadt, konfrontiert (vgl. Häussermann/Siebel 2004: 50; vom Berge et al. 2014).1 In größeren räumlichen Kategorien wurde bis vor kurzem noch in den Politikwissenschaften gedacht, doch bleibt der Begriff »Transnationalität« angesichts nationalistischer Bewegungen in Europa wohl allenfalls für künftige Auflagen der europapolitischen Enzyklopädie reserviert, will er für mehr stehen als für Austeritätspolitik (vgl. Schui 2014). Während die Philosophie – hier großzügig den Sozialwissenschaften zugerechnet – davon ausgeht, dass niemand »in der Welt an sich« zu Hause sein kann (vgl. Joisten 2003), widmet sich die Sozialpsychologie der Analyse postmoderner »Identitätskonstruktionen« (Keupp et al. 2006)

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Eine für den Gegenstand dieses Buches geeignete Explikation des Raumbegriffs erfolgt im Kapitel Räume.

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in kulturellen Räumen. Die Sozialarbeitswissenschaft schließlich begleitet theoretisch und empirisch seit Jahren die sozialräumliche Öffnung einer immer größer werdenden Zahl sozialer Einrichtungen (Hinte 2009; Früchtel/Budde 2011; Thiesen 2014). Prinzipien wie Öffentlichkeit, Dezentralisierung, Aktivierung oder Ressourcenorientierung erreichen aktuell ganz andere »Räume«: etwa Beratungsbüros großer Wohlfahrtsorganisationen (vgl. Löpker 2011). Der Raum wird also aus einer transdisziplinären Perspektive zur Hausse, er präsentiert sich theoretisch wie praktisch in zum Teil höchst unterschiedlichen Kontexten, er ist aktuell eine sichere Geldeinlage für das Immobilien- ebenso wie für das Wissenschaftsmanagement und dessen berühmte Drittmittelhoheit. Was allen zuvor genannten Disziplinen jedoch abgeht, ist die Problematisierung sozialräumlicher Identität, die zumeist als örtliche Fixierung vorausgesetzt wird.2

Zentral erscheint mir die Frage, inwieweit physische und kulturelle Räume heute voneinander geschieden sind.

Als Hypothese formuliert heißt das: Im gleichen Maße wie die Spätmoderne ihren Subjekten eine flexible Konstruktion kultureller Identität und sozialer Zugehörigkeit abverlangt, nimmt der subjektive Bedeutungsgehalt räumlicher Grenzen – als Straße, Quartier, Stadtteil oder Stadt – sukzessive ab. Die Typologie urbaner Räume entspricht objektiv mehr und mehr dem symbolischen Narrativ. Raum wird zu erzähltem Raum, Kiez wird zu erzähltem Kiez, Stadt wird zu erzählter Stadt – und bleibt zugleich im sozialräumlichen Wechselspiel von Aneignung und Sozialisation prägend. Die uns Zeit unseres Lebens gelehrte Alltagsweisheit »Wie es in den Wald hineinruft, so schallt es heraus« wird auf diese Weise zur unzuverlässigen Maxime. Was Stadt-

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Eine für den Gegenstand dieses Buches geeignete Explikation des Identitätsbegriffs erfolgt im Kapitel Identitäten.

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menschen in »ihren« Stadtteil hineinzurufen meinen, schallt nur noch bruchstückhaft von den Fassaden zurück: als Wunsch, als Verklärung oder als Hoffnung – und am Ende als sozialräumliche Konstruktionsleistung. Ich werde zurückrudern müssen, um jenen zentralen Gedanken, der nicht weniger als den wissenschaftlichen Korpus dieses Buches bildet, eingehender zu erläutern und beginne bei den Cultural Studies. Einzig die britische Kultursoziologie hat bisher den Versuch gewagt, Identität als transkulturelle Hybris analytisch zu fassen. Die Arbeiten von Stuart Hall (1999) und anderen sollen daher ausdrücklich gewürdigt und in Bezug gesetzt werden zur Theorie und Praxis der Urbanität. Anders ausgedrückt: Ich behaupte, dass sich Räume zunehmend zu fixen Ideen unserer eigenen Bewusstseinswerdung entwickeln, die ebenso verfließen können wie sie entstehen oder einst, z.B. durch kollektive Narration, hervorgerufen wurden. In diesem Zusammenhang möchte ich weder an die Arbeiten der Postcolonial Studies noch an Diskurstheorien anschließen. Es geht mir um die Reflexion konkreter Stadtentwicklungspraxis. Ob im Sanierungsgebiet in städtischer Randlage oder im neu erschlossenen Citycarré für die aufstrebende Urban Class: Immer, so behaupte ich, geht es in der Stadtentwicklung um die Erzeugung bestimmter Vorstellungen von Räumlichkeit. Bestehende Konzepte werden im späteren Verlauf aufgegriffen, mit dem Anspruch, Stadtentwicklung reflexiv zu denken. Dabei verstehe ich reflexive Stadtentwicklung in hochgradig differenzierten Stadtgesellschaften als kultursensible Stadtentwicklung. Forschungsgegenstand und Problemstellung Mit diesem Buch stelle ich das normative Konzept sozialräumlicher Identität theoretisch und empirisch in Frage und zeige, welche möglichen Konsequenzen sich hieraus für eine reflexive Neujustierung von Stadtplanung, Stadtentwicklung und Stadtpolitik ergeben.

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Seit etwa 100 Jahren ist dank der sozialökologischen Arbeiten der Chicago School in der Stadtentwicklung bekannt, dass durch den systematischen Zuzug sozial benachteiligter Milieus in einen Stadtteil ein Verdrängungswettbewerb in Gang gesetzt wird, der dazu führt, dass die mittleren und gehobenen Milieus in andere Stadtteile abwandern (vgl. Park/Burgess 1984; Häussermann/Siebel 2004: 153ff.). Als Folge dieser sozialräumlichen Dynamiken greift nicht selten eine Abwärtsspirale, die bestimmte Stadtteile trotz stadtplanerischer Interventionen über Jahrzehnte stigmatisiert.3 In der sozialen Stadtentwicklung wurde in diesem Zusammenhang schon immer auf Konzepte zurückgegriffen, die auf die Identifizierung der Bewohner*innen mit sozialräumlichen Kategorien und die Image-Aufwertung benachteiligter Stadtteile abzielen.4 In der Praxis der Stadterneuerung laufen die Bemühungen von Architekt*innen, Stadtplaner*innen und Sozialarbeiter*innen, neben der baulichen Erneuerung eine »Durchmischung« der Sozialstruktur zu erreichen, nicht selten auf eine symbolische Aufwertung hinaus. Durch die Kommunikation vermeintlich positiv besetzter Dynamiken (»Stadtteil XY ist aktiv«, »Ein liebenswertes Quartier«, »Hier hilft man sich« etc.) werden Bewohner*innen aufgefordert, eine Art Aufbruchstimmung zu inkorporieren. Häufig wird dabei unhinterfragt auf Konzepte zurückgegriffen, die eine einheitliche oder genauer: typische Stadtteilidentität unterstellen (vgl. exemplarisch Rothschuh/Spitzenberger 2010; Hinte/Lüttringhaus/Oelschlägel 2011). Gemessen an kulturwissenschaftlichen Theorien, die von einer bruchstückhaften Identitätsbildung in der Spätmoderne ausgehen, erscheint das Festhalten an derartigen Praktiken überholt (vgl. Welsch 1995; Hall 1999; Keupp et al. 2006; Bhabha 2007). Durch die kultur-

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Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Interventionsbegriff findet sich

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Dass sich diese Entwicklung durch das Paradigma der »Gentrification« ak-

bei Friedrich von Borries et al. (2012). tuell umkehrt, strategische Aufwertung von Stadtteilen also möglicherweise zu Verdrängung einkommensschwacher Personen führt, ist mir bewusst und wird im Kapitel PRXS diskutiert.

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sensibel eingestellte Brille betrachtet, zeigt sich die Sozialstruktur in sozial, ethnisch und/oder demografisch segregierten Stadtquartieren ebenso ausdifferenziert wie ein aus lauter eigensinnigen Straßen und Quartieren bestehender Stadtteil. Der Umstand, dass Menschen, die bereits häufig zwischen »verschiedenen Welten« vernetzt sind, unter professioneller Anleitung »lernen« sollen, sich mit der Historie ehemaliger Arbeiterstadtteile bzw. künstlich errichteter Randgebiete zu identifizieren, muss als fragwürdig bezeichnet werden. Die Bewohner*innen der »besseren Wohngegenden«, die ihrerseits in segregierten Zonen leben, werden freilich nicht aufgefordert, sich an aufwendig inszenierten Image-Kampagnen zu beteiligen. Das Argument, ein Stadtteil wie Hamburg-Othmarschen habe solche Aktivitäten nicht nötig, setzt eine Akzeptanz normativer, machtvoller und auf räumlichen Wettbewerb ausgerichtete Stadtentwicklungsmuster voraus: Doch mit welchem Recht sollen Bewohner*innen aus Hamburg-Billstedt ehrenamtlich Stadtteilmarketing betreiben, während in Othmarschen am Elbstrand von der »großen weiten Welt« geträumt wird? Vielerorts wird sowohl von Quartiersmanager*innen als auch von Bewohner*innen ein Mythos sozialräumlicher Eigenlogik (re-)produziert (vgl. Lang 1998). Woran aber will heute die »proletarische« Aura von Stadtteilen wie Köln-Kalk, Hannover-Linden oder LeipzigPlagwitz festgemacht werden – und inwieweit wird jener Eigensinn durch Zuwanderung und kulturelle Differenz transformiert? Der sozialen Stadtentwicklung gerät aus dem Blick, dass insbesondere Bewohner*innen mit Migrationserfahrung bereits über transkulturelle Bewältigungsstrategien verfügen. Der lokale Raum ist für sie als identifikatorische Variable möglicherweise von geringer Bedeutung, da ihre räumlichen Bezüge über den Stadtteil hinaus reichen. So ließe sich erklären, weshalb eine Beteiligung dieser Gruppen an sozialräumlichen Projekten nur bedingt erfolgt und sich für gewöhnlich ältere, autochthone Bewohner*innen beteiligen (vgl. Fröba 2014). Für letztere können nur lokale Konzepte interessant sein, da ihnen die »transkulturellen

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Rezeptoren« fehlen.5 Offenbar liegt hier ein konzeptioneller Widerspruch vor, der die normative Praxis sozialer Stadterneuerung in Frage stellt und erst mit Hilfe eines einschlägigen theoretischen wie methodologischen Programms wissenschaftlich bearbeitbar wird (vgl. Kap. Theorié und Empiritis). Abbildung 1: Spätmoderne Nachbarschaft

Quelle: http://www2.klett.de/sixcms/media.php/76/globalisierung.jpg, Zugriff: 30.01.15

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An dieser Stelle mag der Einwand lauten, insbesondere in der Jugendarbeit werde doch das Bedürfnis nach räumlicher Verortung und »Ankommen« von migrantischen Jugendlichen selbst geäußert. Man denke an die häufig medial zur Schau getragene symbolische Überhöhung des »eigenen« Kiezes in Youtube-Videos oder die Stilisierung der Bezirkspostleitzahl zum kulturellen Code. Zu überlegen wäre hier, ob es sich in solchen Fällen nicht vielmehr um Symptome einer Art Selbstlokalisierung handelt, die ähnlich wie »Selbstethnisierung« das Resultat von Ablehnung durch die so genannte Mehrheitsgesellschaft ist. Professionelle Stadtentwickler*innen und Sozialarbeiter*innen sind schließlich selbst überwiegend Teil dieser Gruppe.

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Leitende Forschungsfrage und Erkenntnisinteresse Der skizzierte Problemaufriss führt zu folgender leitenden Fragestellung:

Inwieweit führt die Diversifizierung6 urbaner Gesellschaften zu einer ambivalenten Konzeption sozialräumlicher Identität?

Weitere konkrete Fragen lauten: •

• •



Welche Zuschreibungen, Stereotype und Ressentiments können in einem Stadtteil zur Disposition stehen, und wie sind sie im Zusammenspiel der Akteure gewichtet? Wie gestalten sich Wertedifferenz, Mentalitäten und Lebensstile innerhalb der Wohnbevölkerung? Inwieweit können methodologisch Irritierung, Reflexion und Veränderung vermeintlich eindeutiger Vorstellungen von Stadtteilidentität generiert werden? An welchen Differenzlinien konstituiert sich eine diversitäre Stadtteilidentität unter den Bedingungen von Transkulturalität und Migration?

Das sozialräumliche Erkenntnisinteresse dieses Buches erfordert die Konzeption eines spezifischen transdisziplinären Designs. Zum einen beziehen sich die zuvor genannten Theorien häufig auf globale Kontexte und lassen die Mikroebene – den Stadtteil – weitestgehend außer Acht. Ihr Anwendungsbezug bleibt somit unterentwickelt. Zum anderen hat sich die Stadtentwicklung bisher kaum kulturwissenschaftlicher

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Eine für den Forschungsgegenstand geeignete und in einen raumtheoretischen Kontext gestellte Explikation des Diversitätskonzeptes erfolgt im Kapitel Theorié.

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Zugänge bedient. Stadtsoziologische Theoriebildung besitzt also Entwicklungspotential. Die erwarteten Erkenntnisse versprechen ungeahnte Handlungsspielräume für Politik, Verwaltung und Stadtentwicklung: Durch die Ablösung anachronistischer Konzepte würde Stadtbewohner*innen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft nicht länger die Fähigkeit abgesprochen, auf transkulturelle Bezüge zuzugreifen. Stadtplaner*innen und Stadtentwickler*innen müssten folglich ihre Deutungshoheit über urbane Entwicklungsstrategien aufgeben – jene wären fortan ergebnisoffen. Aufbau des Buches Den vorliegenden Band leiten zwei Thesen. Aus kultursoziologischer Perspektive behaupte ich zum ersten: Stadtentwicklung muss »das Lokale« neu denken und praktisch verhandeln – eine zentrale Problemstellung, findet Stadtentwicklung doch in erster Linie »vor Ort« statt, im besten Fall im Aushandlungsprozess mit der Bevölkerung. Deren Lebenswelten implizieren jedoch heute häufig überörtliche, transnationale und -kulturelle Komponenten; und nicht zuletzt das Internet mit seinen revolutionären Kommunikationsformen ist den meisten Menschen zur »Wahlheimat« geworden (vgl. Bourdin/Eckardt/Wood 2014). Zum zweiten verpflichte ich mich einem ethnografischen Kodex (vgl. Bourdieu 1997; Hitzler 2001; Finkeldey/Kotte 2011). Reflexive Stadtentwicklung, so meine These, benötigt Mut zur künstlichen Dummheit – womit ich die Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstkritik thematisiere. Ich spiele damit auf eine professionelle Grundhaltung an, die darin besteht, Neuem und Unerwartetem gegenüber möglichst offen und (vor-)urteilsfrei gegenüberzutreten. Diese Prämisse gelingender Sozialer Arbeit im Allgemeinen – und reflexiver Stadtentwicklung im Besonderen – folgt dem klassischen Dreischritt wissenschaftlichen Arbeitens aus Beschreibung, Analyse und Interpretation. Heute fehlt in der Praxis der Stadtentwicklung immer öfter der zweite und wichtigste Schritt. Ein soziales Problem wird beschrieben und ein ent-

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sprechendes Konzept formuliert. Der inzwischen inflationär verwendete Begriff der »Ressourcenorientierung« kann hier exemplarisch angeführt werden, da er in der Praxis des Öfteren Methode und Ziel zugleich umfasst (vgl. eine beliebige Stichprobe von Praxiskonzepten, Best-Practice-Broschüren oder Einrichtungskonzeptionen). Ressourcenorientierung kann jedoch kein Ziel Sozialer Arbeit sein, es sei denn, die Ideologie des aktivierenden Sozialstaates ist schon so weit im professionellen Habitus inkorporiert, dass jede Hilfe zu spät kommt.7 Theoretisch baue ich also auf ein transdisziplinäres Wissensfundament und beziehe mich sowohl auf diversitätsbewusste Ansätze als auch auf »strukturalistische« Konzepte der politischen Soziologie und der Stadtsoziologie. In dieser spezifischen Synthese scheint mir ein geeigneterer Zugang zum Verstehen sozialer Probleme zu liegen als im Bemühen um Gegensätzlichkeit und Abgrenzung. Anders formuliert: Die Arbeiten von Pierre Bourdieu sind durch die Arbeiten der Cultural Studies nicht irrelevant geworden, ein dritter Blick ermöglicht hingegen eine kritische Rezeption des Habituskonzeptes jenseits von Mecha-nik und Relativismus (vgl. Bourdieu 1982; 1997; 2006; Hörning 1999: 88); oder: Die sozialisationstheoretische Bedeutung der Institutionen bei Ulrich Beck als Konsequenz der »Individualisierung« macht nur unter Berücksichtigung der Pfadabhängigkeit institutioneller Strukturen und im Wissen um milieuspezifische Fliehkräfte Sinn (vgl. Beck 1986; 2007; Vester et al. 2001; Vester 2011; Geiling 2006a; 2007). Darüber hinaus arbeite ich mit einem breiten Wissenschaftsbegriff, der die Hinzuziehung literarischer Quellen zur Theoriebildung ebenso akzeptiert wie den begründeten Rückgriff auf digitale Medien wie Youtube. Ein erweiterter Quellenkorpus, der Populärliteratur ebenso wie »graue« Dokumente als wissenschaftliche Literatur versteht, ermög-

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Diese Kritik begrifflicher Inflation verdanke ich den Reflexionen des Sozialpsychologen Harald Welzer, der vor allem die politisch postulierte Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum als »Selbstbehauptung« bezeichnet (Welzer 2009; 2013: 286f.).

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licht ein tieferes Verständnis der hier dargelegten Problemaufrisse (Kap. Theorié). Empirisch vertrete ich ein auf Offenheit, Partizipation und Transparenz basierendes Verständnis, das die Prozesshaftigkeit von Forschung sieht und anerkennt. Es reicht an dieser Stelle anzuführen, dass allein die Forschungsfrage den Methodeneinsatz bestimmt und in vielen Fällen Kritik an technokratisch und bürokratisch determinierten Erhebungs- und Auswertungsmethoden angemessen ist (vgl. Thiesen/ Götsch/Klinger 2009; 2012). Im empirischen Teil dieses Buches werden drei Fallstudien vorgestellt, in denen unterschiedliche methodische Verfahren zur Anwendung kommen. Gemeinsam ist ihnen die empirische Auseinandersetzung mit Vorstellungen sozialräumlicher Identität. Wichtiger noch als die Versorgung der Lesenden mit qualitativen Stichproben erscheint mir der dahinter stehende Open-Acess-Gedanke: Ich ermutige alle Interessierten, ausgehend von dem hier dargelegten Forschungsverständnis, Erhebungen zur Flexibilisierung sozialräumlicher Identität durchzuführen bzw. das Design an die eigenen Feldbedingungen anzupassen und damit zu verändern. Zukünftig können so dezentrale Aktivitäten reflexiver Stadtforschung generiert werden (Kap. Empiritis). Die theoretischen und empirischen Erkenntnisse kommen im weiteren Verlauf entlang praktischer Arbeitsproben der Stadtentwicklung zur Anwendung (Kap. PRXS), um am Ende des Buches Handlungsoptionen für eine reflexive Stadtentwicklung ableiten zu können (Kap. Prospektiven). Der Band schließt mit einer kritischen Würdigung der Geschichte sozialer Stadtentwicklung (Kap. Ziel: Geschichte). Mit diesem Werk liegt keine klassische Monografie vor, sondern ein Buch, das stilistisch und konzeptionell versucht, unbegangene Wege einzuschlagen. Bereits in der Gliederung ist mir daran gelegen, durch unkonventionelle und bewusst irritierende Kapitelüberschriften rezeptive Distanz zum wissenschaftlichen Gegenstand herzustellen. Wenn also in diesem Abschnitt von »Start« und nicht von »Einleitung« die Rede ist, dann nicht (nur) aus popkulturellen Erwägungen, sondern

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vor allem inhaltlich begründet. Der Start steht hier für einen Neubeginn der Debatte um urbane sozialräumliche Wirkungszusammenhänge. Dementsprechend steht das »Ziel« am Ende dieses Werkes, nicht wie in der beruflichen Praxis von Stadtplanung, Stadtentwicklung oder Sozialer Arbeit am Anfang (was wiederum teils auf überzogene professionelle Selbstbilder, teils auf die Durchökonomisierung der Arbeitsstrukturen zurückzuführen ist). In den am Ende der Hauptkapitel eingebauten »Transpondern« sichere ich die zentralen Einsichten der jeweiligen Rubrik, um sie zugleich im Sinne der leitenden Fragestellung des Bandes weiterzudenken. Gelesen werden kann dieses Buch auf dreierlei Weise und unter Zugrundelegung unterschiedlicher Absichten. Erstens: als geschlossene einschlägige stadtsoziologische Abhandlung kulturwissenschaftlicher Färbung, zweitens: als eine nach wissenschaftlichen Klassifizierungen und thematischen Schwerpunkten geordnete Aufsatzsammlung in der Machart eines Sammelbandes und drittens: als Lehrbuch für Studierende, Praktizierende und Hochschulangehörige, die sich in engeren oder weiteren Zusammenhängen mit Fragen der Stadtentwicklung auseinandersetzen. Im vorliegenden Werk finden sich außerdem zahlreiche Bilder, die nicht immer unmittelbar dem jeweiligen Problemaufriss zuzuordnen sind, sondern vielmehr eine metaphorische zweite Textebene bilden. Einen ähnlichen Zweck verfolgen die sporadisch in den Text integrierten Schaufenster, die eine vorübergehende Entfernung vom Gegenstand dieses Bandes ermöglichen sollen. Indem ich auf diese Weise vorgehe, hoffe ich, ein tieferes kognitives und emotionales Verstehen meiner zentralen Argumentationen zu ermöglichen. Schließlich binde ich im Sinne eines gelingenden Wissenstransfers praktische Übungen und didaktisch-methodische Vorschläge ein. Abschließend bleibt mir, mit Freude, aber auch Erleichterung auf die vergangenen Jahre zurückzublicken, die das Verfassen einer Monografie im laufenden Wissenschaftsbetrieb beansprucht. Ohne die Anregungen, Einwände und Ermutigungen einiger geschätzter Menschen, wäre dieses Buch zudem weit weniger komplex ausgefallen.

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Dies möchte ich zum Anlass nehmen, um mich zu bedanken bei Yvonne Dannull, die meine wissenschaftliche Neugier und das damit verbundene Arbeitspensum nicht nur nachvollziehen kann, sondern mich durch literarische Empfehlungen und Gespräche unmittelbar inspiriert. Mein Dank gilt außerdem Lutz Finkeldey, meinem früheren Mentor und heutigen Freund, mit dem ich in regelmäßigen Abständen die Lösung aller relevanten Probleme dieser Welt gedanklich vorwegnehme. Gedankt sei darüber hinaus meinen Kolleg*innen an der Fakultät Architektur und Sozialwissenschaften der HTWK Leipzig, die Verantwortung tragen für eine intellektuell inspirierende Arbeitsumgebung. Nicht zuletzt danke ich meinen Studierenden für ihre kritischen Nachfragen in unseren Diskussionsrunden.

Theorié »Der Raum schmilzt dahin, wie der Sand zwischen den Fingern zerrinnt.« PEREC (2013: 156)

In den folgenden Kapiteln werden verschiedene theoretische Zugänge begründet miteinander verwoben. Theorie verstehe ich hier nicht als Selbstzweck oder wissenschaftliches Referenzsystem, sondern als heuristisches Vehikel. Dieses Buch verspricht Konzepte reflexiver Stadtentwicklung. Im gleichen Maße wie politische Empfehlungen, wollen sie angesichts wissenssoziologischer Einwände seriös bleiben, nie abschließend ausgesprochen werden können, bleiben theoretische Zugänge prekär. Der accent aigu in der Kapitelüberschrift symbolisiert diese Diskrepanz. Der Rückgriff auf einschlägige sozialwissenschaftliche Theorie hängt also in erheblichem Maße von ihrer Anschlussfähigkeit an die leitende Fragestellung dieses Buches ab. Das bis hierhin geschaffene Differenzierungsniveau erfordert die Definition zweier zentraler Begrifflichkeiten: Stadtentwicklung und Diversity. Wenn ich von Stadt-, Stadtteil- oder Quartiersentwicklung spreche, so meine ich – in abnehmender räumlicher Größenordnung und vom Abstrakten zum Konkreten gedacht – den »Wandel [...] urbaner Strukturen, deren Entwicklung durch bestimmte gesellschaftliche Kräfte beeinflusst wird und, durch unterschiedliche Nutzungsinteressen verschiedener Bevölkerungsgruppen, immer auch ein gewisses Maß an

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sozialer Ungleichheit impliziert (vgl. Häussermann/Siebel 2004: 118). Die schrittweise Harmonisierung jener Ungleichheit und die Herstellung sozialer Stabilität sind originäre Interessensgegenstände sozialer Quartiersentwicklung und ihrer Methodenentwicklung.« (Thiesen 2011: 11) Diversity verstehe ich als Paradigma, »das auf eine sensibilisierte Haltung für gesellschaftliche Vielfalt und Differenz hinwirkt. Als ressourcenorientiertes Konzept zielt Diversity auf die Anerkennung und Förderung personaler Vielfalt. Die Akzeptanz unterschiedlicher Heterogenitätsdimensionen und die Hervorhebung von Gemeinsamkeiten zwischen Individuen und Gruppen werden als Querschnittsaufgabe begriffen.« (Thiesen 2011: 41) Sowohl »Diversity« als auch »Quartier« stehen begrifflich für konzeptionelle Feinteiligkeit: Während der Quartiersbegriff eine präzisere Version dessen verspricht, was wir unter »Stadtteil« verstehen, expliziert Diversity ein Bewusstsein für neue Formen sozialer Ungleichheit.8 Letztere wird dadurch nur noch fragmentarisch fassbar. Diversity bzw. Diversität und Transkulturalität verwende ich in diesem Buch trotz ihrer unterschiedlichen Begriffsgenese als gleichbedeutende Metaphern einer spezifischen Gesellschaftsdiagnose.9 Wie in den folgenden Kapiteln deutlich wird, ist die Erprobung diversitätsbewusster Konzepte in der Stadtentwicklung gut begründet. Nicht zufällig entwickele ich meine Theorie sozialräumlicher Transformation in den folgenden Kapiteln entlang der Achse Raum-

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Mir ist bewusst, dass auch der Quartiersbegriff nicht widerspruchslos bleibt. Er scheint stärker noch als der »Stadtteil« oder die »Stadt« Räume normativ festzuschreiben und weckt administrative Assoziationen. Seine konzeptionelle Konkretion dient hier jedoch rein analytischen Zwecken. Von Quartier oder Quartiersentwicklung rede ich überwiegend, wenn ich exemplarisch die theoretische Konzeption von Stadtentwicklung in Frage stelle.

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Zur historischen Kontextualisierung von Diversity s. Thiesen (2011: 38ff.), von Transkulturalität s. Welsch (1995).

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Differenz-Identität.10 Das sich anschließende Kapitel Räume berücksichtigt demzufolge nicht das raumsoziologische Gesamtwerk. Vielmehr geht es mir um eine anwendungsbezogene Zuspitzung raumtheoretischer Problemstellungen zeitgenössischer Stadtentwicklung. Inhaltliche Überschneidungen mit den nachfolgenden Kapiteln Differenzen und Identitäten, die ebenfalls aus jeweils spezifischen Perspektiven sozialräumliche Praktiken analysieren, sind bewusst angelegt.

R ÄUME In einer raumsoziologischen Abhandlung stellen Martina Löw und Gabriele Sturm fest, dass die Kategorie »Raum« heute nur noch als Sozialraum gedacht werden kann, da »Raum nicht länger als naturhaft gegebener materieller Hinter- oder erdgebundener Untergrund sozialer Prozesse« verstanden wird, sondern als deren Produkt. Räume erweisen sich »damit sowohl [als] Gesellschaft strukturierend als auch durch Gesellschaft strukturiert und im gesellschaftlichen Prozess sich verändernd« (Löw/Sturm 2005: 31). Das bedeutet für den vorliegenden Gegenstand, dass Stadträume doppelt in Bewegung sind, indem sie sich einerseits als gebaute und geografische Umwelt nicht nur auf die Lebensbedingungen von Menschen auswirken, sondern andererseits erst durch Menschen aktiv oder passiv, bewusst oder unbewusst gestaltet werden. Die individuelle und kollektive soziale Prägung durch die bauliche Umwelt kann unter dem Stichwort der räumlichen Funktionslogik zusammengefasst werden. Bereits Anfang der 1960er Jahre hatte Jane Jacobs in ihrem Klassiker »Tod und Leben großer amerikanischer Städte« eine Fundamentalkritik der Stadtplanung vorgelegt. Jene »Wohnsilos«, die wir mit der modernen Trabantenstadt und seinen Hochge-

10 Es geht mir also weniger um Transformationsdiskurse wie sie in sozialökologischen »Wachstums«-kontexten zu finden sind (vgl. exemplarisch UFZ 2015).

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schosssiedlungen verbinden, sahen eine strikte Trennung von Wohnen und Arbeiten vor.11 Für jeden Funktionsbereich gab es bereits einen spezifischen Ort, den Stadtplaner*innen zuvor am Reißbrett entworfen hatten (Jacobs 1963). Soziokulturelles Leben im öffentlichen Raum war nach diesem Prinzip nicht vorgesehen. Zugleich muss darauf hingewiesen werden, dass augenscheinlich »ähnliche« physische Umgebungen durchaus unterschiedliche soziale Probleme hervorbringen können. Im Umkehrschluss verhält es sich ebenso: Urbane Diversität ermöglicht eine Multiplikation sozialräumlicher Interpretationsmöglichkeiten. Die Cultural Studies haben gezeigt, dass Identität heute keine (örtlichen) Grenzen mehr kennt und nur noch bruchstückhaft, in Form von Mehrfachidentitäten, zu greifen ist (Hall 1999). Viele gesellschaftlich zu chancenlosen Protagonist*innen erklärte Menschen werden von Politiker*innen und Sozialarbeiter*innen jedoch auf ihren lokalen Nahraum mit dem Hinweis verwiesen, nur durch wohnortnahe Beschäftigungsmaßnahmen (zumeist im dritten oder vierten Arbeitsmarktsektor) könne »Integration« funktionieren. Umso wichtiger sei die »Identifikation« mit dem unmittelbaren Quartier. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen, denn echte Erwerbsintegration als einzige normative Form der gesellschaftlichen Einbindung verwirklicht sich auf diese Weise selten. Ältere Bewohner*innen von Quartieren mit schwacher Infrastruktur sind zudem häufig von den Verheißungen der Freizeitindustrie und der digitalen Welt ausgeschlossen. Ihre Weiterbildung speist sich in der Regel aus Stadtteilchroniken und kostenlosen Erzählabenden, wobei mitunter unklar bleibt, ob es sich dabei um professionell diagnostizierte Bedarfe oder subjektiv geäußerte Bedürfnisse handelt. Die Gefahr, jene Gruppen mit dem »Sozialraum« abzuspeisen, ist ebenfalls nicht unbegründet.

11 Die heute in den »hippen« Vierteln aus dem Boden sprießenden »CoWork-Spaces« heben die urbane Funktionslogik bei genauerer Betrachtung nicht auf, sondern laufen vielerorts auf Selbstausbeutung hinaus.

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Schaufenster In seinem Werk »Träume von Räumen« reflektiert Georges Perec an einer Stelle seine raumtheoretische Vorstellungskraft: »Von einem überflüssigen Raum Ich habe mehrmals versucht, an eine Wohnung zu denken, in der es ein überflüssiges Zimmer gäbe, ein ganz und gar und absichtlich überflüssiges Zimmer. Es wäre keine Abstellkammer gewesen, es wäre kein zusätzlicher Raum gewesen, weder ein Flur noch ein Kabuff noch ein Schlupfwinkel. Es wäre ein funktionsloser Raum gewesen. Er hätte zu nichts genützt, er hätte auf nichts verwiesen. Es ist mir trotz aller Anstrengungen unmöglich gewesen, diesen Gedanken, dieses Bild zu Ende zu verfolgen. Die Sprache selbst, so schien mir, hat sich als untauglich erwiesen, dieses Nichts, diese Leere zu beschreiben, als ob man nur von dem reden könne, was voll, nützlich und zweckmäßig ist. Ein Raum ohne Funktion. Nicht etwa ›ohne genaue Funktion‹, sondern genau ohne Funktion; nicht plurifunktional (das kann jeder), sondern afunktional. Selbstverständlich wäre das kein Raum gewesen, dessen einzige Aufgabe darin bestanden hätte, die anderen Räume zu ›entlasten‹ (Rumpelkammer, Wandschrank, Kleiderablage, Stellraum usw.), sondern ein Raum, ich wiederhole es, der zu nichts genützt hätte. [...] Ich haben [sic!] versucht, dieser vagen Idee gelehrig zu folgen. Ich bin vielen unbrauchbaren Räumen begegnet und vielen ungenutzten Räumen. Aber ich wollte weder Unbrauchbares noch Ungenutztes, sondern Nutzloses Überflüssiges. Wie soll man die Funktionen verjagen, die Rhythmen verjagen, die Gewohnheiten, wie soll man die Notwendigkeit verjagen? [...] Ich bin nie zu etwas wirklich Zufriedenstellendem gelangt. Aber ich glaube nicht, daß [sic!] ich meine Zeit völlig vergeudet habe, als ich versuchte, diese unwahrscheinliche Grenze zu überschreiten: ich [sic!] habe den Eindruck, daß [sic!] durch diese Anstrengung etwas durchschimmert, das ein Statut des bewohnbaren Raums sein könnte...« (Perec 2013: 57ff.)

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Hoch entwickelte, differenzierte Gesellschaften konstituieren sich unter anderem durch eine zunehmend subjektiv gefärbte Interpretation der räumlichen Umgebung. Trotz milieuspezifischer Schnittmengen produzieren Bewohner*innen eines Quartiers jeweils spezifische Lebenswelten durch subjektive Kategorisierungen, Bedeutungen und Stereotype (Schubert 2007: 143). Insbesondere von Diversität geprägte Quartiere sind dabei niemals konfliktfreie Sozialräume. Die »Differenz kultureller Regelsysteme« zeigt sich im öffentlichen Raum vor allem in Form einer Aushandlung um die Deutungshoheit über alltagskulturelle Muster, sei es durch Nutzungskonflikte, die Wahl der Kommunikations- und Begegnungsformen oder differente Aneignungspraktiken (ebd). An den Schnittstellen von Stadt- und Migrationssoziologie ist zu Tage getreten, dass es tendenziell immer weniger um Integration von Minderheiten geht. Das Thema hat sich politisch zwar nicht erübrigt, doch geht etwa Andreas Kapphahn davon aus, dass im öffentlichen Raum sichtbare Konflikte primär als Dominanzkonflikte zu deuten sind – als Infragestellung der vermeintlichen Selbstverständlichkeit sozialer und kultureller Regelkodizes (Binder 2007: 129). Jene Dominanzkonflikte sind wiederum nicht selten der Gradmesser »echter« Integration. Liberalität und Toleranz finden häufig ein jähes Ende, wenn die so genannte Mehrheitsgesellschaft nur den Verdacht hegt, einen Verstoß gegen die von ihr aufgestellten Regeln festzustellen (vgl. Breckner 2007: 88).

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Abbildung 2: Wem gehört der öffentliche Raum?12

Quelle: https://agendajosefstadt.files.wordpress.com/2010/07/pira ten.jpg, Zugriff: 05.03.15.

Wenn deutlich geworden ist, dass heute nicht mehr Desintegration die drängende politische Problemstellung bildet, sondern die Aushandlung neuer alltagskultureller Regelsysteme, so lässt sich aus diversitätsbewusster Perspektive einiges für die Stadtentwicklung gewinnen. Da Diversity sowohl auf Unterschiede als auch auf Gemeinsamkeiten in heterogenen Gruppen abhebt, wird es künftig nicht nur auf eine feinteilige Analyse sozialer Problemstellungen ankommen, vielmehr erweitern sich die Interpretationsmöglichkeiten (vgl. Kap. Differenzen). Hierzu ein Beispiel: Nehmen wir Gemeinwesenarbeit als lokale Übersetzerin eines stadtteilweiten Stimmungsbarometers, so wird kein*e Gemeinwesenarbeiter*in bestreiten, dass zu den interkulturellen »Klassikern« der Unmut der Autochthonen (langjährige Alteingesessene) über die Alltagspraktiken der Allochthonen (in der Regel zugezogene Migrant*innen) gehört. Durch die »Diversity-Brille« geschaut,

12 Im Fall der Wiener Josefstadt für den Moment der Zivilgesellschaft und einem Getränkeproduzenten.

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bestehen nun mehrere Optionen, einen solchen Konflikt zu beschreiben, zu analysieren und zu interpretieren. Nehmen wir also an, in einem Quartier X besteht ein Ungleichgewicht, vielleicht bereits ein Konflikt zwischen Autochthonen und Allochthonen. Die Autochthonen in unserem Beispiel sind Rentner*innen, die Allochthonen Jugendliche, die den öffentlichen Raum okkupieren – besonders gern zur späteren Stunde. Worin besteht nun der Konflikt? Diversitätsbewusst ließe sich erstens fragen, ob hier schlicht ältere Menschen mit dem Verhalten junger Menschen im Quartier ein Problem haben. Dies wäre unabhängig der ethnischen Herkunft seit Generationen und in allen Kulturen der Fall, die Autochthonen selbst hätten also ihr eigentliches jugendliches Aufbegehren nur verdrängt. Zweitens ließe sich fragen, ob die Konfliktlinien zwischen Autochthonen und Allochthonen verlaufen. Hier tritt nun eine ethnische Komponente zutage, die eine andere professionelle Reaktion durch Gemeinwesenarbeit erfordern würde. Drittens könnte ein Konflikt zwischen älteren Autochthonen und jungen Allochthonen bestehen. Eine wiederum andere, nunmehr intersektionale Variante.13 Es könnte auch sein, dass die Gruppe Allochthoner durchweg männlich ist, was dem Ganzen eine vierte – Problem mit Männern – fünfte – Problem mit jungen Männern – sechste – Problem mit männlichen Migranten – oder siebte Dimension – Problem mit jungen männlichen Migranten – geben würde. Soviel zu den Unterschieden. Was aber würde passieren, wenn Gemeinwesenarbeit die autochthone Gruppe mit älteren Migrant*innen im Quartier bekannt machen würde? Eine Fülle von Gemeinsamkeiten würde möglicherweise an die Oberfläche treten: altersspezifische Schnittmengen, biografische Überschneidungen, darunter vielleicht ähnliche geschlechtsspezifische Erfahrungen usw.; selbst die vorher nur als Diskrepanz wahrgenommene Einsicht, im selben Quartier zu wohnen, wäre nun ein verbindendes Element, das allerdings aus diversitätsbewusster Perspektive in Stadt-

13 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Konzept der Intersektionalität bieten Gabriele Winker und Nina Degele (2009) an.

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entwicklungsprozessen nicht überbewertet werden sollte. Grundsätzlich wird jedenfalls deutlich, dass die spezifische Konstellation eines sozialen Settings im jeweiligen Quartier über das weitere planerische Vorgehen und den konzeptionellen Schwerpunkt entscheiden sollte. Bevor wir nun zu den raumtheoretischen Konsequenzen kommen, die sich aus einer diversitätsbewussten Betrachtungsweise erschließen, sollten wir zunächst festhalten: 1. Der Eigensinn eines Quartiers ist hochgradig ambivalent. 2. Quartiere lassen sich in der Folge nur multiperspektivisch, relational und flexibel analysieren. 3. Jedes Quartier ist anders. Sozialraum als begriffliches Dilemma Die fachliche Diskussion in der Sozialen Arbeit zur Sozialraumorientierung erfreut sich ungebrochener Popularität, obgleich die Kontroverse alles andere als unproblematische Züge annimmt.14 Dies hat vor allem terminologische Gründe. Während sich die Praxis auf einschlägigen Tagungen uneins darüber gibt, wo der jeweilige Sozialraum der Einrichtung »anfängt« und wo er »endet«, wie sozialräumliche Zielsetzungen formuliert werden können, welche Methoden das Prädikat »sozialräumlich« verdienen und nicht zuletzt, woran die institutionelle »Umstellung auf Sozialraumorientierung« zu erkennen sei, empfiehlt es sich, einen Schritt zurück zu gehen und zunächst einmal festzuhalten, was konkret unter Sozialraum zu verstehen ist. Den so herausgearbeiteten Sozialraumbegriff spiegele ich im weiteren Verlauf sukzessive am Beispiel aktueller sozial- und kulturwissenschaftlicher Ansätze, wodurch er zwangsläufig erweitert und dadurch anschlussfähig für Theorie und Praxis wird.

14 Die Rezeption kann unterschiedlicher nicht sein und reicht von kritischer Verbundenheit (Früchtel/Budde 2011) über fachlich begründete Distanz (Neuffer 2012) bis hin zu kritischem Aktionismus (vgl. AKS 2014).

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Begrifflich lesbar ist der Sozialraum mindestens auf dreierlei Weise, erstens sozialwissenschaftlich: als sozialgeografische Abbildung der Lebenswelt, zweitens sozialwirtschaftlich: als Planungs- und Steuerungseinheit im Kontext der Sozialgesetzbücher (SGB) VIII (Kinder- und Jugendhilfe) und XII (Sozialhilfe), und drittens handlungsorientiert: als Ausdruck einer fachlich weiterentwickelten und ausdifferenzierten Sozialen Arbeit im Geist der Gemeinwesenarbeit (vgl. Fehren/Hinte 2013: 15). Wolfgang Hinte steht als Autor des Fachkonzeptes Sozialraumorientierung für dessen begriffliche Schärfung, da sein Modell geeignet ist, die zuvor skizzierten Übersetzungen zusammenzuführen. Hinte hat fünf Prinzipen eingeführt, die als Indikatoren für Sozialraumorientierung verstanden werden können (vgl. ausführlich Hinte 2009; Fehren/Hinte 2013: 11ff.): 1. Prinzip: Interessen und Wille der Menschen bilden den Ausgangspunkt sozialraumorientierten Handelns. 2. Prinzip: Sozialraumorientierung setzt auf Eigeninitiative und Selbsthilfe. 3. Prinzip: Lösungen für soziale Probleme werden ressourcenorientiert gesucht. 4. Prinzip: Zielgruppenübergreifende Ansätze und das Zusammenwirken aller Menschen im Sozialraum werden als Potential gesehen. 5. Prinzip: Erfolgsfaktoren sozialraumorientierter Arbeit sind bereichsübergreifende Kooperation und Vernetzung. Hintes Sozialraumkonzept impliziert zum einen, dass die einzelnen Prinzipien nicht klar gegeneinander abgegrenzt werden können. So bilden Eigeninitiative (Prinzip 2) und Ressourcenorientierung (Prinzip 3) in der Praxis eine sinnvolle Einheit. Zum anderen arbeitet nur jene Institution sozialraumorientiert, die sich allen fünf Prinzipien zugleich verschreibt. Anders formuliert: Ein starkes institutionelles Netzwerkgefüge in einem Quartier steht nicht automatisch schon für Sozialraumorientierung, erst recht, wenn jenes Netzwerk nicht bereichsübergrei-

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fend (Prinzip 5) und damit zumeist auch nicht trägerübergreifend angelegt ist. Dennoch ist wirksame Sozialraumorientierung abhängig von der formalisierten Verbindlichkeit der beteiligten Institutionen. Dies impliziert die Frage nach den Machtverhältnissen in einem Stadtteil: Welche Institution kann es sich (juristisch, strategisch, ökonomisch etc.) leisten, selbstbestimmt darüber zu entscheiden, »wie stark sozialraumorientiert« sie arbeiten will, und welche ist auf möglichst »starke Sozialraumorientierung« angewiesen (vgl. hierzu auch Kessl/Reutlinger 2009)? Halten wir also fest: Sozialräumliche Angebote gehen von der infrastrukturellen Bedarfslage der Menschen aus und sind für gewöhnlich zielgruppenübergreifend angelegt, wobei insbesondere räumliche, institutionelle, individuelle und kollektive Ressourcen Berücksichtigung finden. Sozialraumorientierung setzt zudem auf Eigeninitiative, Niedrigschwelligkeit und Selbsthilfe im Stadtteil und erfordert verbindliche Netzwerkstrukturen. Die Praxis der Sozialraumorientierung hängt allerdings in hohem Maße an der Frage, was die Beteiligten vor Ort darunter verstehen und in welchem Handlungsfeld sie sich bewegen. Ein entsprechender Austausch zwischen Vertreter*innen der Jugendhilfe, der Altenpflege, der Gemeinwesenarbeit, der kommunalen Stadtplanung und des freien Architekturbüros würde sicher zu überraschenden Einsichten führen – von einzelnen Akteursinteressen einmal abgesehen. In gleichem Maße wie Hintes Verdienst darin besteht, als erster eine fachliche Schärfung sozialraumorientierter Praxis geleistet zu haben, so sehr fehlen die konsequente interdisziplinäre Einbindung des Konzeptes und seine Einordnung in andere räumliche Größenordnungen. Aus der Perspektive der kritischen Wohlfahrtsforschung lesen sich zudem alle fünf Prinzipien des Fachkonzeptes Sozialraumorientierung ungleich problematischer (vgl. Lessenich 2008; Wohlfahrt 2011): Die Betonung des menschlichen »Willens« durch Soziale Arbeit übergeht beispielsweise nicht nur die alte philosophische Frage nach der Freiheit desselben, sondern, entscheidender noch, läuft Gefahr, aus der Not mangelnder sozialstaatlicher Unterstützung heraus eine Tugend, näm-

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lich die der Selbsthilfe, zu machen. Soziale Arbeit muss sich im postsozialstaatlichen Zeitalter demnach stets der politischen Funktionalisierung ehemals emanzipatorisch formulierter Begrifflichkeiten bewusst werden. Das gilt, wie ich in der Startsequenz dieses Bandes bereits erwähnt habe, gleichermaßen für Begriffe wie Ressourcenorientierung, Partizipation oder Inklusion (vgl. Welzer 2013: 286; Thiersch 2012: 11). Zielgruppenübergreifende, dezentrale oder integrative Ansätze laufen stets Gefahr, die Fachlichkeit Sozialer Arbeit zu beschneiden und stattdessen »Soziale Arbeit light« zu generieren. Sozialraumorientierung darf also immer auch als Versuch gewertet werden, die Lebensqualität einer steigenden Zahl Hilfebedürftiger trotz erheblicher sozialpolitischer Einschnitte bei der Regelfinanzierung zu gewährleisten (vgl. Thiersch 2012: 11). Flexibler Sozialraumbegriff Das sozialräumliche Begriffsdilemma liegt unter anderem darin begründet, dass zu sehr auf die »Strukturen« geschaut wird: Stadtteilgrenzen, Angebote, Netzwerke, Zielgruppen. Diese und weitere Kategorien sind zwar elementar für sozialräumlich ausgerichtete Soziale Arbeit. Wollen hingegen Aussagen über deren Qualität getroffen werden, bedarf es zusätzlich einer Betrachtung kategorialer Zwischenräume, methodischer Vorgehensweisen und vor allem des Reflexionsvermögens der Beteiligten. Schauen wir also, wie wir die konzeptionelle Kluft zwischen sozialräumlichem Begriffsdilemma und spezifischen Arbeitsfeldanforderungen überbrücken können. Sowohl eine entscheidende Erweiterung sozialraumorientierter Theoriebildung als auch eine fachpraktische Orientierung bietet ein diversitätsbewusster Zugang. Arbeitsfeldübergreifend nimmt die Praxis Sozialer Arbeit zunehmend für sich in Anspruch, sozialraumorientiert zu operieren, wobei häufig unklar ist, ob dabei von einer Theorie, einer

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Methode oder spezifischen Techniken ausgegangen wird.15 Der Begriff selbst ist also einerseits stark verwässert: In der Gemeinwesenarbeit wird darunter etwas anderes verstanden als im Sozialraumteam eines Jugendhilfeverbundes. Hinzu kommt andererseits, dass inzwischen in traditionell fallspezifisch ausgerichteten Bereichen durch strategische Managementvorgaben von Dachverbänden sozialräumlich gearbeitet werden soll (vgl. Caritas 2015). Verständlicherweise stößt Hintes Fachkonzept, das grundsätzlich eine zielgruppenübergreifende Ausrichtung der Angebotsstruktur eines Trägers impliziert, in Feldern wie der Schwangerenberatung oder der Begleitung Demenzkranker an seine Grenzen.16 Wie können also die »Big Five« nach Hinte – Interesse, Selbsthilfe, Ressourcen, zielgruppen- und bereichsübergreifender Fokus – in »Räumen« Anwendung finden, die von besonders hoher fachspezifischer Singularität geprägt sind? Ein diversitätsbewusster Blick schützt vor gesellschaftlichen Zuschreibungen und löst zugleich den Anspruch einer zielgruppenübergreifenden Angebotspalette ein. Ich will diesen Gedanken im Folgenden kurz am Beispiel der »Frühen Hilfen« illustrieren, die derzeit in der Sozialen Arbeit eines der wichtigsten Präventionsprogramme stel-

15 Der von Oliver Fehren und Wolfgang Hinte gegebene Hinweis, Sozialraumorientierung sei »keine neue ›Theorie‹, kein mit anderen ›Schulen‹ konkurrierender Ansatz, sondern eine unter Nutzung und Weiterentwicklung verschiedener theoretischer und methodischer Blickrichtungen entwickelte Perspektive, die als konzeptioneller Hintergrund (Fachkonzept) für das Handeln in allen Feldern Sozialer Arbeit dient« (Hervorhebungen: AT), verstärkt dieses Dilemma noch (Fehren/Hinte 2013: 19). 16 Oliver Fehren und Wolfgang Hinte lösen diese konzeptionelle »Pattsituation« aus meiner Sicht nicht auf, indem sie empfehlen, den »Fall im Feld« zu verorten, d.h. fallspezifische Arbeit gleichwertig mit den Dimensionen der fallübergreifenden und fallunspezifischen Arbeit zu verknüpfen (s. Fehren/Hinte 2013: 28ff.). Sozialraumorientierung gleicht auf diese Weise einem Catch-it-all-Konzept, ganz abgesehen davon, dass auch der ins »Feld« gebettete »Fall« eben ein solcher bleibt.

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len (vgl. Bundesinitiative Frühe Hilfen 2015; Caritas 2015): Betrachten wir die Praxisfigur der hilfebedürftigen, in ihrer Erziehungsrolle überforderten Mutter, geraten ihre zweifellos vorhandenen weiteren Eigenschaften leicht aus dem Blick. Sie ist möglicherweise erwerbslos, räumlich immobil und lebt in einer segregierten Nachbarschaft. Das bedeutet jedoch zugleich, dass hier der Aspekt der bereichsübergreifenden Vernetzung eingelöst werden kann, also in diesem Fall das Jobcenter (Ziel: Erwerbsarbeit), die Stadtplanung (Ziel: Mobilität) und die integrierte Stadtentwicklung (Ziel: »Durchmischung«) zu wichtigen Partner*innen werden – neben Hebammen, Ärzt*innen und Kindertagesstätten. Besagte Mutter muss dagegen auch von der Ressourcenseite her betrachtet werden: Vielleicht treibt sie Sport, ist kompetent im Umgang mit Social Media und möchte ihr Leben künftig ohne institutionelle Hilfe bewältigen. Gründe genug, das Stigma der »Frühe Hilfen«-Klientel zu reflektieren, ohne die Hilfebedürftigkeit zu leugnen. Wichtig ist abschließend festzuhalten, dass mit zunehmender urbaner Diversität zugleich die subjektive Wahrnehmung und Aneignung von Sozialräumen unübersichtlicher wird. Im gleichen Maße wie daher der Sozialraumbegriff selbst in Bewegung gerät, können politischadministrative Grenzen in Frage gestellt und ggf. durch neue konzeptionelle Bezüge ersetzt werden. Das Sozialraumverständnis der Praxis variiert je nach Handlungsanforderung und kann sich durch die Auswertung individuell erstellter Stadtteilpläne ebenso begründen wie durch einen – möglicherweise stadtweiten – Versorgungs- und Nutzungsansatz. Der territorial geprägte Sozialraumbegriff erfährt auf diese Weise eine für den weiteren Fachdiskurs nicht unerhebliche Modifizierung. Er wird zum flexiblen Sozialraumbegriff. Wir entwerfen, wie bereits an früherer Stelle eingeführt, eine Theorie sozialräumlicher Transformation (vgl. Kap. Theorié).

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D IFFERENZEN Sowohl in der Praxis der Stadtentwicklung als auch in ihrem theoretischen Hinterzimmer finden in jüngster Zeit verspätete paradigmatische Schübe statt, die an die cultural turns in den Sozialwissenschaften gegen Ende des 20. Jahrhunderts erinnern (vgl. stellvertretend für viele Hörning/Winter 1999; Bachmann-Medick 2009; Winter 2011). Zu beobachten sind derzeit wieder kultursoziologische Perspektiven auf »Feld« oder »Praxis«, die ohne Kulturalisierung auskommen. Die anhaltende Konjunktur der »Kultur« sowie ihrer Begleitdiskurse um Diversity (z.B. Thiesen 2011), Intersektionalität (z.B. Winker/Degele 2009) oder Transkulturalität (z.B. Welsch 1995) erscheint plausibel: Nehmen wir die Ausdifferenzierung spätmoderner Lebensführung, die weltweite Neuverhandlung transkultureller Regelsysteme in den metropolitanen Zentren oder die Macht kultureller und sozialer Zuschreibungen, wird schnell deutlich, dass eine rein sozialstrukturell angelegte Analyse gesellschaftlicher Konfliktlinien zu kurz greifen würde (vgl. Thiesen 2011). So gesehen sind die Diskurse um Vielfalt und Differenz, so eigensinnig und spezifisch sie mitunter sein mögen, Ausdruck einer veränderten Gesellschaftsperspektive, die sich nun eben auch in der Stadtentwicklung niederschlägt. Im Ausschreibungstext zur »AMIQUS-Tagung« findet sich beispielsweise eine kultursensible Lesart, die noch vor wenigen Jahren in dieser Prägnanz eher ungewöhnlich gewesen wäre. Dort heißt es: »Dass die demografische Entwicklung in Deutschland nicht nur von Fragen der Überalterung geprägt ist – unsere Gesellschaft also nicht nur ›weniger‹ und ›älter‹ – sondern längst auch ›bunter‹ als Effekt von Zuwanderung geworden ist, wurde bisher selten gemeinsam betrachtet.« (AMIQUS 2013). Konferenzprogramme wie diese belegen zusammen mit aktuellen Publikationen eine Hinwendung der sozialen Stadtentwicklung zu diversitätsbewussten Problemstellungen (vgl. Thiesen 2011; Eckardt/Seyfarth/Werner 2015). Doch auch implizit kulturreflexive Publikationen wie das von Rolf Blandow, Judith Knabe und Markus Ottersbach (2012) herausgegebene Werk »Die Zukunft der

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Gemeinwesenarbeit – von der Revolte zur Steuerung und zurück?« beweisen, dass derzeit an einer Neujustierung raumbezogener Ansätze gearbeitet wird. Die Praxis reagiert auf die Herausforderungen differenzierter Konzeptentwicklung: War vor kurzem noch pauschal von »benachteiligten Bewohnern«, »Brennpunkten« oder »den Migranten« die Rede, so trägt der als Buchpublikation von Victoria Schwenzer, Sabine Behn und Regina Reinke (2012) herausgegebene »Lokale Aktionsplan Friedrichshain-Kreuzberg für Vielfalt, Toleranz und Demokratie« den schönen Titel »Wir denken nicht mehr in ›ihr‹ und ›wir‹«. Der Band vereint neben Praxisdarstellungen theoretische Reflexionen, die sich mit spezifischen Diskursen wie Intersektionalität oder Antimuslimischer Rassismus auseinandersetzen.17 Mit welcher Berechtigung also sollte der Raum selbst von der diversitätsbewussten Betrachtung ausgenommen sein? Blicken wir im Folgenden zunächst noch einzeln auf jene theoretischen Zugänge, die unser Verständnis sozialräumlicher Transformation explizit und implizit schärfen, um im Anschluss transdisziplinäre Schlussfolgerungen zu ziehen. Differenztheorien Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, insbesondere unter Einbezug der Arbeiten der Cultural Studies, in denen die Zusammenhänge von Kultur und Identität als eine wesentliche Problemstellung begriffen werden, stellt sich die politische Konstruktion sozialräumlicher »WirIdentitäten« als ambivalent dar. So hat beispielsweise Stuart Hall da-

17 Auch wenn unklar bleibt, wen das erste »Wir« im Titel adressiert – die aufgeklärte, emanzipatorische Berliner Stadtgesellschaft oder das sozialarbeiterische Fachpersonal – verweist der Titel zumindest auf eine paradigmatische Wende. Dennoch: Das »Wir« funktioniert aus diversitätsbewusster Perspektive eben nur noch als Zuschreibung. Konsequenterweise hätte es daher heißen müssen: »Ich denke nicht mehr in ›ihr‹ und ›wir‹«.

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rauf hingewiesen, dass sich Identitäten durch gesellschaftliche Entwicklungen wie die Globalisierung und den daraus hervorgegangenen sozialen Wandel »dezentrieren«, »zerstreuen« und »fragmentieren« (Hall 1999); Homi K. Bhabha spricht von »Hybridität« (Bhabha 2007), Wolfgang Welsch von Transkulturalität (Welsch 1995). Ihnen zufolge kann nicht mehr von einer eindeutigen und klar abgrenzbaren kulturellen Identität ausgegangen werden. Identität muss vielmehr als eine multidimensionale, widersprüchliche Konstruktion verstanden werden (vgl. Kap. Identitäten). Vor diesem Hintergrund erweist sich die in der Praxis der Stadtentwicklung übliche konzeptionelle Fixierung auf »das Lokale« als »out of fashion«, zumal der Begriff »Entwicklung« bereits den Wandel impliziert. Harald Welzers Theorie zum »kommunikativen Gedächtnis« führt zu weiteren Bedenken hinsichtlich der Existenz typischer Stadtteilidentitäten. Demnach wird die Wahrnehmung unserer Umgebung wesentlich durch die Kommunikation und den Austausch mit unseren Mitmenschen beeinflusst. Vor diesem Hintergrund lässt sich im Hinblick auf bestimmte Vorstellungen über das Wesensmerkmal eines Stadtteils (»Unser Kiez ist tolerant«) die Überlegung anstellen, ob es sich hierbei nicht um das Ergebnis einer ständigen narrativen Reproduktion der Bewohner*innen handelt – um eine Art »Geschichte«, welche ab einem bestimmten Grad nur noch geringfügig mit der Realität übereinstimmt (Welzer 2005). Wird von dieser Grundlage ausgehend erneut »Diversity« hinzugezogen, ist es möglich, eine kritisch-distanzierte Perspektive auf den »kulturellen Common Sense« eines Sozialraumes einzunehmen. Darunter verstehe ich die kognitive Verschmelzung von professionellen, semiprofessionellen und alltagskulturell bedingten Sichtweisen auf gemeinschaftlich als »relevant« empfundene Formen von Vielfalt und Differenz in einem Sozialraum. Stadtteilbilder verhärten sich durch wechselseitige Bestätigung (Thiesen 2011; 2012a). Eine diversitätsbewusste Perspektive regt hingegen zur Reflexion der eigenen Handlungspraxis an. Indem Diversity Vielfalt und Differenz im Sinne einer akzeptierenden – und durch den Kodex der Menschenrechte ethisch

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normierten – Wertschätzung in den Mittelpunkt rückt, ist es möglich, eine multidimensionale Analyse des jeweiligen Sozialraumes und seiner Identifikationsmuster, etwa auf der Ebene von Nationalität, Ethnie, Religion, Geschlecht oder Behinderung, vorzunehmen (Thiesen 2011). Die Milieusoziologie bietet in diesem Zusammenhang ebenfalls eine differenzierte, wenn auch durch die Logik des Ansatzes begrenzte Interpretation sozialer Ungleichheit. Émile Durkheim leitete die historische Unterteilung der Gesellschaft in Klassen und darauf aufbauend in Milieus aus einer zunehmenden Differenzierung (durch Arbeitsteilung) einerseits und Konflikten (durch Herrschaftsverhältnisse) andererseits ab (Vester et al. 2001: 168). Soziale Milieus entwickeln durch gemeinsame Beziehungen (z.B. Familie, Nachbarschaft, Bildungseinrichtungen, Arbeit) einen gemeinsamen »Korpus moralischer Regeln«, einen ähnlichen Geschmack und eine nach Erwartungssicherheit strebende soziale Praxis. Dieser alltagskulturelle »Kit« ist die Voraussetzung für die Genese sozialer Kohäsion in den unterschiedlichen Milieus (ebd.: 16). Pierre Bourdieu geht von einem sozialen Raum aus, in dessen unterschiedlichen Feldern gesellschaftliche Gruppen um Macht, Status und Ressourcen wie »ökonomisches Kapital« (Geldmittel, materielle Güter, etc.), »kulturelles Kapital« (Bildung, Wissen, Kompetenzen, Einstellungen, etc.) und »soziales Kapital« (soziale Netzwerke etc.) konkurrieren (Bourdieu 1982; 2006). Um die subjektiven Deutungsund Bewertungsschemata und damit die soziale Alltagspraxis in einem Stadtteil verstehen zu können, ist die Perspektive des sozialen Feldes entscheidend (Vester et al. 2001; Bremer/Lange-Vester 2006). Auf diese Weise kann z.B. die vermutete Diskrepanz zwischen normativer und »normaler« Eigenlogik eines Stadtteils, zwischen Zuschreibung und Alltagskultur, erklärt werden.18

18 Sozialräumliche Normativität und alltagskulturelle Normalität können freilich ineinander aufgehen, da sich auch in den kulturellen Artikulationen urbaner Diversität reproduktive Zuschreibungen finden (vgl. Kap. Leipzig).

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Wie schon Bourdieu, der die sozialen Beziehungen und die durch den Habitus bedingten Wahlverwandtschaften vor allem vom Zugang zu Bildung, also der Ausstattung mit kulturellem Kapital, abhängig machte, nimmt auch die in Hannover entwickelte Milieusoziologie die Perspektive des sozialen Feldes ein (Vester et al. 2001: 15). Entscheidend für das »Verstehen« gesellschaftlichen Wandels sind die milieuspezifischen Einstellungen, Orientierungen und Praktiken. Das »relationale Paradigma« Pierre Bourdieus, das die Beziehungen der sozialen Milieus untereinander offenlegt, ermöglicht eine vertikale und horizontale Analyse des sozialen Raumes und nimmt damit die Durkheim’schen Klassifizierungen Konflikt und Differenz wieder auf. Herrschaftsachse (Macht) und Differenzierungsachse (Lebensstile) gehören analytisch zusammen. Im Vergleich zum Raummodell Bourdieus führt die Hannoversche Milieutheorie auf der Achse der vertikalen Ungleichheit neben den Trennlinien der Distinktion und Prätention (Abspaltung der oberen Sozialmilieus) eine weitere Trennlinie der Respektabilität ein, an der sich die mittleren Sozialmilieus von den unteren absetzen (ebd.: 503).

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Abbildung 3: Typische »Landkarte« des sozialen Raumes

Quelle: http://www.bpb.de/izpb/198045/facetten-der-modernen-sozial struktur?type=galerie&show=%20image&k=4, Zugriff: 17.11.15.

Zur diversitätsbewussten Nautik des sozialen Raumes Ich bewege mich bei der Analyse normativer Stadtteilidentitäten bzw. -images also zwischen stadt-, milieu- und kultursoziologischen Ansätzen: Soziale und kulturelle Zuschreibungen können nur verstanden werden, wenn die Entstehung spezifischer Milieustrukturen berücksichtigt wird. Anders herum ermöglicht Diversity eine Dekonstruktion sozialer Zugehörigkeit. Subjektive Wahrnehmungen und Zuschreibungen haben Einfluss auf Akkulturationseinstellungen und v.a. deren

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Vereinbarkeit mit Herrschafts- und Machtzusammenhängen.19 Ich habe in diesem Zusammenhang an anderer Stelle den Begriff der intrakulturellen Heterogenität eingeführt und darauf hingewiesen, dass mit Hilfe einer diversitätsbewussten Perspektive die strenge Kategorisierung des sozialen Raummodells Pierre Bourdieus erweitert werden kann. Für die Akteure innerhalb eines sozialen Milieus können demnach Heterogenitätsdimensionen wie Alter, Ethnie, Geschlecht oder Religion relevante Unterscheidungsmerkmale bilden, die jeweils entsprechende Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben nach sich ziehen. »Diversity« ist zwar nicht entscheidend für die subjektive Verfügbarkeit über Ressourcen, die soziale Position und die »Spielräume« in einem sozialen Feld (vgl. hierzu Geiling 2006b), jedoch für die Entstehung von Akkulturationseinstellungen bzw. – entscheidender noch – deren Kompatibilität (Thiesen 2011: 265). Um die DiversityPerspektive ergänzt, entsteht so die Möglichkeit einer Weiterentwicklung der Sozialstrukturforschung zur Analyse sozialer Zwischenräume. Urbane Diversität kann durchaus auf eine Weise verstanden werden, auf die vor Jahrzehnten Musikkompilationen betitelt wurden: Wir haben es im Feld der sozialen Stadtentwicklung mit »diversen Interpret*innen« zu tun, deren Wahrnehmungsmodi sich im Wechselspiel der »Dominanzkulturen« (Rommelspacher 1995) nicht einmal im feinteiligen Sozialmilieu objektivieren lassen. Eine konzeptionelle Manövrierhilfe bietet eine den Prinzipien partizipatorischer Demokratievorstellungen verpflichtete Orientierung an »anschlussfähigen Differenzen« (Breckner 2007: 91). Dass jene eben nicht in der Manifestierung vermeintlich eindeutiger Stadtteilbilder und sozialräumlicher Zuschreibungen zu suchen sind, ist die zentrale Hypothese dieses Buches. Die Interdependenz grundlegender und angewandter Forschungsschulen wird also in der Verknüpfung von Milieusoziologie und Kul-

19 Die durch interkulturellen Kontakt ausgelöste Veränderung von Lebensweise und Kultur einer bzw. mehrerer Gruppen haben Robert Redfield, Ralph Linton und Melville Herskovits bereits 1936 als Akkulturation bezeichnet (vgl. Zagefka/Nigbur 2009: 173f.).

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turwissenschaften resp. hier: Diversity Studies deutlich. Dabei müssen die unterschiedlichen wissenschaftshistorischen Kontexte berücksichtigt werden, die zur Generierung der jeweiligen Ansätze geführt haben. Während die Milieusoziologie in der Tradition Émile Durkheims und später Pierre Bourdieus soziale Praxis im Rahmen von Strukturgesetzen, die durch den Habitus legitimiert werden, analysiert, beleuchten die Diversity Studies gewissermaßen das unbekannte Dritte. Ich will präziser werden und im Folgenden konkret benennen, um welches Differenzierungslevel es mir geht. Feinste Unterschiede Bisher ist unter anderem deutlich geworden, dass heute Dominanzkonflikte und damit »die Kultur« einen exorbitanten Bedeutungszuwachs gegenüber systemisch-strukturellen Interpretationsangeboten erreicht haben. Dabei steht der soziale Raum bei Bourdieu vor allem für einen metaphysischen Theorierahmen, der im Sozialraum nach Lesart Hintes erfahrbar wird (vgl. Kap. Räume). Pointiert, wenn auch verkürzt, könnte ich behaupten, dass somit der Raum die Struktur, die Diversität hingegen die Praxis abbildet – eine komplexe und widersprüchliche Praxis, die in den milieusoziologischen Raumbildern auf Grund disziplinärer Schranken nicht mehr gezeigt werden kann. Aus diesem Grund ist zu hinterfragen, ob die vorliegenden Klassifizierungen zeitgenössischer Milieus allein noch das alltagskulturelle Selbstverständnis der hier in Großgruppen kumulierten Subjekte repräsentieren (vgl. z.B. Vester et al. 2001, Geiling 2006a; 2007). Inzwischen liegen mit neueren Studien zu Migrant*innenmilieus durchaus diversitätsbewusste Sozialstrukturanalysen vor (vgl. exemplarisch Geiling/Gardemin/Meise/König 2011). Der Vorteil besteht darin, die Kulturalisierung dieser und anderer Gruppen zugunsten ihrer sozialen Zugehörigkeit einzudämmen. So gesehen wäre es durchaus wünschenswert, weitere Differenzkategorien wie »Behinderung«, »Geschlecht« oder »Sexualität« entsprechend zu würdigen. »Behinderung« etwa »macht« für viele Menschen »einen Unterschied«, sei es durch

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Fremd- oder – häufig als Folge dessen – Selbstzuschreibung. Zugleich kann die Reduzierung ganzer Gruppen auf eine bestimmte Form der Differenz stigmatisierend wirken. Die Einbettung von Diversity in ein elaboriertes Verfahren wie die Milieusoziologie legt also erst deren soziale Heterogenität offen. Die intrakulturelle Heterogenität jener Milieus bleibt jedoch durch die »alte« sozialstrukturelle Typologisierung (»traditionelles kleinbürgerliches Arbeitnehmermilieu«, »modernes Arbeitnehmermilieu« etc.) nach wie vor unterbelichtet (vgl. Thiesen 2011: 265). Entsprechend bezieht sich die Milieutheorie in erster Linie auf den Raum der sozialen Position: Sie kann zwar einen bestimmten Prozentsatz Migrant*innen, Behinderter oder Transsexueller auf einer bestimmten Stufe sozialer Ungleichheit nachweisen, Mehrfachdifferenzierungen intersektioneller Lesart werden allerdings nicht thematisiert. Bestünde ich auf dem Begriff der sozialen Ungleichheit, so müssten nun zumindest die »Folien« unterschiedlicher diversitätsbewusster Erhebungen im sozialen Raum übereinander gelegt werden, so dass die intrakulturelle Heterogenität innerhalb der einzelnen Sozialmilieus sichtbar wird. Darin läge ein erster methodologischer Ausweg. Tauschte ich den Begriff der sozialen Ungleichheit an dieser Stelle gegen den Begriff der Diversifizierung ein, so wäre zu fragen, ob nicht der Raum der Lebensstile heute die entscheidende wissenschaftliche Referenz darstellt. Der möglicherweise nun geäußerte Vorwurf des »Postmodernismus« ist zurückzuweisen, da in beiden Fällen nicht zwangsläufig das Habituskonzept Bourdieus »entweiht« werden muss, schließlich können wir, wie es Helmut Bremer formuliert, den Habitus beim Eintritt in ein anderes Milieu »nicht an der Garderobe abgeben« (Bremer 2004: 35); vielmehr bedarf es einer Neuverhandlung der für moderne Gesellschaften konstitutiven »feinen Unterschiede« (Bourdieu 1982). Gleichzeitig kann Diversity helfen, einen erkenntnistheoretischen Konflikt der Habitusforschung zu bearbeiten: Bedenken wir, dass sich habituell bedingtes Handeln in der Regel unbewusst vollzieht, so stellt sich die Frage nach der Reflexion desselben. Die einschlägige Literatur liefert in diesem Zusammenhang Konzepte zur Habitussensibilität, gefragt wird jedoch primär nach der pädagogischen »Ansprache« be-

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stimmter gesellschaftlicher Gruppen und den (z.B. institutionellen) Strukturen (vgl. Sander 2014). Ohne subjektiven Anwendungsbezug, d.h. eine habitussensible Selbstsensibilisierung wird das habituelle Grenzsystem kaum erweitert werden. Diversitätsbewusste Zugänge scheinen mir hier nicht nur »praktischer« angelegt, sie leuchten auch poststrukturelle Zwischenräume aus. Der Schlüssel zum tieferen Verstehen neuer Zuschreibungs- und Konstruktionsregime liegt also in der transdisziplinären Erweiterung ihrer analytischen Zugänge. Insofern erübrigt sich die Frage, welchem Ansatz bei der Verknüpfung von Milieutheorie und Diversity Studies die »Deutungshoheit« gebührt. Die Notwendigkeit ihrer transdisziplinären Metamorphose ergibt sich aus der genauen Analyse kultureller Praxis. Wir sollten uns deshalb im Interesse eines tieferen allgemeinen Verständnisses von der Beschaffenheit unserer Gesellschaft für einen Moment den Gefallen tun, etwas großzügiger mit Begriffen umzugehen, die allein aus machttheoretischen Erwägungen gar nicht geschützt sein können (so finden wir wahrscheinlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen den Begriffen »habitussensibel« und »diversitätsbewusst«). Um hierzu ein Beispiel zu illustrieren, unternehmen wir für einen Moment einen Ausflug in einen ganz anderen Raum. Schaufenster Beeinflusst durch Beobachtungen, die ich während eines Besuches auf der bekanntesten deutschen Nordseeinsel gemacht habe, bin ich vorerst zu dem Schluss gelangt, dass sich der Habitus jener, die scheinbar ökonomisch sorgenfrei durch krisengebeutelte Zeiten flanieren, nicht mehr allein durch Distinktion auszeichnet, sondern dass wir es heute konkret mit einer aggressiven und zugleich symbolischen Form der Abgrenzung zu tun haben. Der Beweis für diese These liegt – so trivial es sich lesen mag – in einer nie da gewesenen Hochkonjunktur des Emblems. Es findet sich als Fetisch bevorzugt auf Poloshirts und Freizeithemden, und es gibt im Grunde nur drei hegemoniale Varianten: Die Norwegenflagge, den Poloreiter und ein einschlägiges Wappen der

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richtigen Automarke (meistens BMW oder Porsche, seltener Austin Healey) samt informierter Farbauswahl (schwarz). Jene Beobachtungen habe ich protokollarisch festgehalten. Der Habitus der Krisenfesten Blicke ich am eigenen biografischen Beispiel auf die Bedeutung von Emblemen zurück, so zählten während meiner Schulzeit in den 1990er Jahren Marken wie »Diesel«, »Levis« oder »Knockout« zu den Must-Haves pubertierender Gymnasiast*innen. Nur sehr selten sah ich im Winter eine »Jack Wolfskin«Jacke, deren Wert damals im mittleren dreistelligen Preissegment angesiedelt war. Heute hat jede Kleinstadt und jede Kaufhof-Filiale einen eigenen »Jack Wolfskin«-Store. Selbst am spießigen Massengeschmack ist diese Entwicklung nicht unbemerkt vorübergegangen. Man flüchtete sich in das noch biedere »Wellensteyn«, das gewissermaßen für symbolische Prätention steht. Heute können wir eine Zuspitzung der Markenaffinität hin zum hochpreisigen Designersegment beobachten. Was »Diesel« vor 20 Jahren war, heißt heute »La Martina« oder »Ralph Lauren«. Jeder Abteilungsleiter, der bereit ist, zwischen 69 und 199 Euro für ein Poloshirt zu zahlen – je höher der Preis, desto großflächiger das Emblem – kann sich heute die jeweilige soziale Clubzugehörigkeit erkaufen. Dabei ist Emblem nicht gleich Emblem. Von der Wahl des Emblems hängt ab, ob eine Mitgliedschaft im Club der »Polos« oder der »Prolos« besteht. Während die genuin Erhabenen auf Pferd und Reiter setzen, bevorzugt ihr Fußvolk ein Label, das sich nach dem Wochenendsitz des amerikanischen Präsidenten benannt hat.

Aggressive Disktinktion Aus sozialpsychologischer Blickrichtung könnte ich das zunehmend Aggressive an der Disktinktion als eine Reaktion auf die Krise, auf die Abstiegsangst der mittleren und oberen Sozialmilieus interpretieren. Wie sonst ließe sich »Ralph Lauren« als milieuübergreifendes Massenphänomen erklären? In gleichem Maße wie Hummer inzwischen bei »Gosch« als Allerweltsgericht zu haben ist, hat es das Poloshirt in den Mainstream eines eingrenzbaren sozialen

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Zirkels geschafft – im Gegensatz zu »Louis Vuitton«, dessen Taschen als Plagiat auch in der so genannten Unterschicht beliebt sind. Dabei schlägt der hoch zu Ross sitzende Reiter metaphorisch nicht den Poloball, sondern jene Milieus außerhalb bzw. unterhalb der Linie der (vermeintlichen) Distinktion, vor allem die zum Stereotyp stilisierte »Hartz IV-Klientel«. Überhaupt ist das Phänomen der aggressiven Distinktion einmal mehr ein männliches. Ich könnte als weibliches Pendant vielleicht maßlos aufgetragenes hochpreisiges Parfum anführen. Geschlechterübergreifend jedenfalls drückt sich Distinktion nicht mehr in der von Georg Simmel beschriebenen Pointiertheit der Begegnungen zwischen gehetzten Großstädtern aus, sondern im grußlosen und linearen Vorübergehen. Fast ist es, als ritten die Emblemträger auf einem imaginären Pferd durch die Straßen.

Autoritäre Liberalität Dabei ist die zur Schau gestellte Liberalität der Emblemträger*innen mitunter nur vordergründiger Natur. Im Grunde dulden sie keine von den eigenen Vorstellungen zu politischer Ordnung, persönlicher Moral und strategischer Lebensführung abweichende Einstellungen. Wer derart selbstbezogen auf sein soziales Umfeld blickt, akzeptiert keinen Müßiggang, kein Ausprobieren, keine Subkultur. Der Habitus des aufrechten polospielenden Hünen wird als persönliches Lebenskonzept übernommen: Doch hinter vermeintlicher Gradlinigkeit, »weißer Weste« und Tugendhaftigkeit steckt in Wahrheit der lichthupende Parvenü auf der Überholspur oder der nach staatlich verbrieften Regeln schreiende Radfahrer auf der »richtigen« Seite des Fahrradweges, der bei Gegenverkehr sicher nicht weichen wird.

Welche Erkenntnis liegt nun in meinen flüchtigen Beobachtungen? Möglicherweise eine Verhärtung der Annahme, dass der Lebensstil eines Menschen heute mehr über die gesellschaftliche Integrationskraft aussagt als seine soziale Position – die dadurch freilich nicht irrelevant wird. Dass unklar bleibt, ob der gesellschaftliche Stand eines PoloTrägers wirklich mit dessen Lebensstil und Geschmack korrespondiert oder er nur dazugehören will, ist nicht entscheidend, sondern ein weite-

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res Indiz dafür, dass Bourdieus Modell um kulturelle Parameter erweitert werden muss. Auf den bisher entwickelten Theoriekorpus folgt im nächsten Kapitel der Einstieg in unterschiedliche Konzepte von Identität. Mit Hilfe praktischer Exkurse finden wir zurück in den urbanen Raum, wo der fortlaufend gesponnene transdisziplinäre Analyserahmen auf geeignete Projektionsflächen trifft.

I DENTITÄTEN Ein Buch, das sich der Analyse sozialräumlicher Identität verschrieben hat, wäre unvollständig ohne eine Definition des Identitätsbegriffs. Die einschlägige wissenschaftliche Auseinandersetzung ist historisch gekennzeichnet von mehrfachen Paradigmenwechseln. Es erscheint mir daher angebracht, »Identität« im Folgenden terminologisch so konkret zu fassen, dass einerseits die theoretischen Gegensätze sichtbar werden und andererseits der Bezug zur Stadtentwicklung, also zu sozialräumlicher Identität, nicht aus dem Blick gerät. Der Sozialpsychologe Heiner Keupp nennt fünf Spannungsfelder der Identitätsdiskussion (s. Tab. 1):

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Tabelle 1: Fünf Spannungsfelder der Identitätsdiskussion

Anthropologische Konstante Die Identitätsfrage ist zeitlos.

Frage der Moderne Die Identitätsfrage ist ein Problem der gesellschaftlichen Moderne.

Derselbe bleiben Identität bezeichnet ein Sosein, etwas Wesenhaftes.

Sich selber finden Identität ist bezogen auf einen Such- und Entwicklungsprozess, auf ein Sich-selbst-Finden.

Gefährliche Vielfalt Identität braucht Kohärenz und Kontinuität.

Vielfalt als Chance Erst Vielfalt des Selbsterlebens macht Kohärenz und Identität möglich.

Personaler Fokus Identität meint die Singularität.

Soziale Konstruktion Identität und Alterität sind untrennbar verbunden.

Basale Identität Identität beruht auf basalen innerpsychischen Prozessen, einem Identitätsgefühl.

Narrative Identität Identität ist sozial konstruiert. Das Medium der Konstruktion ist Sprache. Die Strukturierung geschieht erzählend, narrativ.

Quelle: Keupp et al. (2006: 69).

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Die Tabelle verdeutlicht, in welchen disziplinären »Konkurrenzen« theoretische Vorstellungen von Identität generiert werden. Während die anthropologische Sichtweise von einer konsistenten, dichten, unteilbaren und damit unveränderbaren Beschaffenheit von Identität ausgeht, berücksichtigt der moderne Blickwinkel durchgängig die Bedeutung von Sozialität und Alterität für die Identitätsbildung. Jene ist somit das – prinzipiell offene – Resultat sozialer Konstruktion. Die Bedeutung dieser theoretischen Spannungsfelder für die Stadtentwicklung wird offensichtlich, wenn wir anstelle der Gegenspielerinnen »Anthropologische Konstante« und »Moderne« räumliche Kategorien wählen: In der Gegensätzlichkeit von »Dorf« und »Stadt« bzw. ländlichem und urbanem Raum treten residentiell bedingte Mentalitäts- und Einstellungsmuster zu »Vielfalt« ebenso zu Tage wie in urbanen Quartieren, die von kultureller Homogenität und Diversität geprägt sind (vgl. Kap. Leipzig und Buenos Aires). Die Auseinandersetzung mit sozialräumlicher Identität ist somit eröffnet. Dabei gewinnt sie noch an wissenschaftlicher Brisanz, wenn wir die Ausführungen Stuart Halls berücksichtigen. Hall nimmt eine historische Dreiteilung des Identitätsdiskurses vor, indem er zwischen dem Subjekt der Aufklärung, dem soziologischen Subjekt und dem postmodernen Subjekt unterscheidet (Hall 1994: 181). Während die Aufklärung noch von einem starken, selbst bewussten und selbst verantwortlichen Ich ausging, bezieht die moderne Soziologie unsere Erfahrungen sozialer Prägung in ihr Denken ein (Alterität). Identität »versöhnt« gewissermaßen Subjekt und Struktur (ebd.: 182). Das postmoderne Subjekt hat es dagegen mit einer zunehmenden Diskrepanz von strukturellen Identitätsangeboten und innerer subjektiver Verfasstheit zu tun. Die Reziprozität von »Innen-« und »Außenwelt«, die noch im soziologischen Subjekt angelegt war, wird ungewisser (ebd.): »Das Subjekt, das vorher so erfahren wurde, als ob es eine einheitliche und stabile Identität hätte, ist nun im Begriff, fragmentiert zu werden. Es ist nicht aus einer einzigen, sondern aus mehreren, sich manchmal widersprechenden oder ungelösten Identitäten zusammengesetzt.« (Ebd.) Was Hall unter Fragmentierung versteht, nämlich die Abhän-

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gigkeit der Identitätsbildung von »den verschiedenen Arten, in denen wir in den kulturellen Systemen, die uns umgeben, repräsentiert oder angerufen werden« (ebd.: 182f.), begreife ich vorrangig als Problemstellung des Sozialraumes, weniger als intrasubjektives Phänomen. Sozialräumliche Identität als machtvolle Zuschreibung – und kollektive Konstruktionsleistung Sozialräumliche Identität konstituiert sich angesichts dieses Problemaufrisses nicht (mehr) anthropologisch. Die von Robert E. Park geschaffene moderne Figur des Marginal Man, des*der Grenzgängers*Grenzgängerin, ist zum*zur Grenzübergänger*in geworden. Abbildung 4: Marginal Man – hier als Band

Bild: Jenn Thomas; Quelle: https://www.dischord.com/ band/marginal-man, Zugriff: 18.11.15.

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Der Stadtentwicklung geht diese Erkenntnis bisher ab. Aus sozialdemografischen Erwägungen versucht sie seit Jahrzehnten, die Bindung an den sozialen Nahraum durch die Produktion emotional aufgeladener »Images« zu stärken. Stadtentwicklung und Stadtmarketing sind zu Synonymen geworden, obwohl Stadtentwicklung ihre Konzepte analytisch begründet und ihnen fachlich vertraut. Demgegenüber muss Stadtmarketing im Städtewettbewerb um Neubürger*innen und Tourist*innen lediglich urbanen Eigensinn simulieren. Es erschafft die Authentizität einer Stadt als touristische Illusion und sieht dabei durchaus die unterschiedlichen Erwartungen der Kundschaft: Hamburger Michel, Berliner Kanzleramt, Wiener Prater (als örtliche Objektivierung) oder auch: Hamburg-St. Pauli, Berlin-Kreuzberg, Wiener Westen (als sagenumwobene Raumlandschaft). Die Identität einer Stadt ist wie die Identität einzelner Stadtteile ein Kunstprodukt, da die »Einheimischen«, die es aus diversitätsbewusster Perspektive gar nicht geben kann, auf sozialräumliche Typologien ohnehin immer weniger Wert legen (können/werden/sollten/müssen). Dazu passt, dass sich Stadtbilder heute zunehmend gleichen. Insbesondere die Innenstädte sind baulich kaum mehr voneinander zu unterscheiden. Diese Entwicklung kann einerseits bedauert und zu Recht kritisiert, andererseits durch stereotype Imagepflege, die keiner sozialwissenschaftlichen Expertise standhält, keineswegs umgekehrt werden.

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Aufgabe: Im unteren der beiden Bilder haben sich zehn Fehler eingeschlichen. Finden Sie alle?

Bilder: NZZ / Adrian Baer; Quelle: http://www.nzz.ch/zuerich/zuerichsneue-dichte-1.17629329, Zugriff: 15.09.15.

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Sie werden inzwischen gemerkt haben, dass Sie aufs Glatteis geführt wurden. Die Bilder zeigen ein und denselben Ausschnitt der Züricher Europaallee, über die Irène Troxler in der Neuen Zürcher Zeitung bewundernd schreibt: »Für Zürcher Verhältnisse äusserst dicht, aber feingliedrig: So präsentiert sich die erste und grösste Etappe der Europaallee. Am Wochenende laden zahlreiche Aktivitäten zur Entdeckung von Hochschule und Shopping Mall ein.« (Troxler 2012) Die Ökonomisierung des Bildungswesens ist nicht Thema dieses Bandes, dafür wäre es eine hübsche Übung, vor dem Besuch einer Stadt die Ortsschilder und alle namentlichen Hinweise entfernen zu lassen und zu »raten«, um welche konkrete Stadt es sich handelt. Die »Aura« einer Stadt dann noch »erfühlen« zu wollen, wäre ein kühnes Unterfangen. Schaufenster Beim Kolumnisten Max Goldt findet sich ein Text, der nur scheinbar wie eine Persiflage auf die zeitgenössische Stadtentwicklung wirkt, da heute jede Stadt ihre »ganz eigene« Europaallee besitzt: »Gestern haben wir Rabatz in der Jil-Sander-Niederlassung Düsseldorf gemacht. Heute machen wir Stunk in der Jil-Sander-Niederlassung München. Morgen nehmen wir uns frei, um zu überlegen, was wir Übermorgen in der Jil-Sander-Niederlassung Hamburg machen. Ich seh da div. Möglichkeiten.« (Goldt/Schröder 2014: o.S.)

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Abbildung 5: Die Europäische Stadt20

Frankfurt a. Main

Paris

Zürich

Mailand

Berlin

Frankfurt a. Main

London

Hamburg

Bilbao

Bild: NZZ/Adrian Baer; Quelle: http://www.nzz.ch/zuerich/zuerichs-neue-dich te-1.17629329, Zugriff: 15.09.15.

Wenn also von urbaner Diversität die Rede ist, darf von eintönigen Innenstädten nicht geschwiegen werden. Zugleich ist selbst »Jil Sander« als beliebiger Ausdruck konsumistischer Tristesse ein weiterer Beleg dafür, dass sozialräumliche Identität heute typologisch nur noch schwer zu begründen ist – bedauernswert ist diese Entwicklung nur bedingt. Schließlich lassen sich auch in der örtlichen »P-&-C-Filiale« Feste feiern.

20 Frankfurt a. Main befindet sich zweimal in der Abbildung.

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T RANSPONDER :

FLEXIBLE

S OZIALRÄUME

Auf der Folie der bisher getroffenen Überlegungen lautet die nicht unproblematische Frage: Wie kann Stadtentwicklung in flexiblen Sozialräumen gestaltet werden? Um sich dieser Frage zu nähern, lade ich zu einem kurzen Selbstversuch ein.

Aufgabe: Betrachten Sie das folgende Stadtteilbild für einen Moment. Schreiben Sie Ihre Assoziationen auf ein Blatt Papier.

Abbildung 6: Irgendein Stadtteilbild

Bild: Christian Behrens; Quelle: http://www.neuepresse.de/Hannover/ So-lebt-Hannover/Sued/Mittelfeld/Mittelfelds-Reichtum-sind-die-Men schen, Zugriff: 18.11.15.

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Aufgabe: Nehmen Sie nun ein zweites Blatt, und wiederholen Sie den Vorgang am nächsten Beispiel.

Abbildung 7: Irgendein anderes Stadtteilbild

Quelle: http://mw-immobilien-hannover.de/wp-content/uploads/ 2013/02/102 _9793.jpg, Zugriff: 19.11.15.

Aufgabe: Vergleichen Sie jetzt die Aufzeichnungen beider Blätter. Versuchen Sie herauszufinden, inwieweit sich die jeweiligen Assoziationsketten unterscheiden.

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Ich werde auf diese Übung zur Förderung der Kultursensibilität an späterer Stelle zurückkommen. Zuvor sei jedoch verraten, dass sich all Ihre Assoziationen auf ein und denselben Stadtteil beziehen: Hannover-Mittelfeld. Ich hätte dutzende weitere Bilder dieses Stadtteils präsentieren können, nirgends wäre ein »roter Faden« erkennbar, der auf ein kohäsives Stadtteilbild schließen ließe. Selbstverständlich hätte sich jeder andere Stadtteil ebenso gut als Beispiel angeboten. Hätten Sie diese Übung gemeinsam mit 50 anderen Personen durchgeführt, wären die Assoziationen möglicherweise deutlich kontroverser. Stellen Sie sich also nur die räumliche Selbstwahrnehmung einer ganzen Nachbarschaft vor, die sich aus Menschen unterschiedlichster Herkunft und Lebensstile konstituiert – sie wäre begrifflich nicht zu fassen. An dieser Stelle möchte ich meine zu Beginn dieses Buches aufgestellte These wieder heranziehen, in der ich behauptet hatte, dass die Stadtentwicklung das Lokale nicht nur neu denken, sondern auch praktisch verhandeln muss (s. Kap. Start: Zukunft). Hierzu ein weiteres Beispiel: Eine im Jahr 2011 ausgelaufene »Marketing- und Kommunikationskampagne« der niedersächsischen Landeshauptstadt trug den Titel »Hannover heißt Zuhause« (LHH 2014). Verschiedene Stadtteile wurden zu diesem Zweck in den letzten Jahren öffentlichkeitswirksam »typologisiert« und Stadtteilportraits auf Werbemittel gedruckt. Die Kampagne war Teil einer Strategie der Stadt gegen Abwanderung. In der Selbstdarstellung ist unter anderem zu lesen: »Mit ›Hannover heißt Zuhause‹ sollte erreicht werden, das ›Wir-Gefühl‹ unter den Menschen in den Stadtteilen zu unterstützen und sie darin zu bestärken, sich in ihrem Wohnumfeld und damit in Hannover wohl zu fühlen.« (Ebd.) Jenes »Wir-Gefühl« wurde pro Stadtteil auf einen Reim gebracht: »Nach Döhren gehören.«, »Tradition und Moderne – in Bemerode leben alle gerne!«, »Schöne Ecken sind in Stöcken.« oder: »Wir sind stolz auf Groß-Buchholz.« (Ebd.)

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Abbildung 8: Gut gemeinte Stadtplanung

Bild: Landeshauptstadt Hannover; Quelle: http://www.hannover.de/ var/storage/images/media/01-data-neu/bilder/landeshauptstadt-han nover/planen,-bauen,-wohnen/konzepte-projekte/hannover-hei%C3 %9Ft-zuhause/gro%C3%9F-buchholz/2224441-2-ger-DE/Gro%C3 %9F-Buchholz_image_full.jpg, Zugriff: 30.01.15.

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Abgesehen von der Semantik, die solche Slogans transportieren,21 liegt hier eine Idee von Stadtentwicklung zugrunde, die in hohem Maße gesellschaftspolitische Entwicklungen und die sie begleitenden einschlägigen theoretischen Erkenntnisse ignoriert. Sozialräumliche Identität wird hier als elementar begriffen und daher überbetont. Doch nimmt die identifikatorische Bedeutung von Räumen sukzessive ab. In flexiblen Sozialräumen kennt »Heimat« keine physischen Grenzen. Für den Fall, dass nun der Verweis auf die mangelnde Mobilität bestimmter Gruppen folgt, wäre zu entgegnen: Sollte ihnen nicht politisch mehr zugestanden werden, als die Option, »stolz« auf einen Stadtteil zu sein, der doch nur den Stolz auf ein normativ konstruiertes Stadtteilimage bedeuten kann? Schließlich läuft die kleinräumige Eigenlogik eines Stadtteils einer pauschalen Zuschreibung entgegen (vgl. Kap. Räume). Diese Erfahrung haben Sie zuvor selbst am Beispiel HannoverMittelfeld gemacht. Wahrscheinlich waren Ihre Assoziationen zum ersten Bild gegenüber dem zweiten ungleich heterogener. Und doch finden sich in vielen sozialen Projekten konzeptionelle Reproduktionen, die sich um die immer gleiche Frage drehen: Wie erreichen »wir« »die Migranten«? Partizipation besteht in der Praxis häufig in der Einladung junger Migrant*innen zu Hip-Hop-Workshops, während ihre Mütter traditionelles Kulturgut darbieten. Mir ist bewusst, dass darin für die Beteiligten ein erster Zugang zum Stadtteilleben liegen kann. Dennoch sollten sich die Initiator*innen darüber klar sein, dass Praktiken wie diese die Adressat*innen diskriminieren können. Vom Postulat der so genannten Chancengleichheit ausgeschlossene Gruppen werden in ihrer gesellschaftlich zugewiesenen Rolle durch institutionelle »Förderung« möglicherweise sogar bestätigt. Wer es mit der Ressourcenorientierung ernst meint, muss sich hingegen fragen:

21 Wer möchte in einem Stadtteil leben, in dem es lediglich »schöne Ecken« gibt? Kann der »Stolz« auf ein Gebiet wirklich mehr sein als eine sozialpsychologische Ersatzleistung? Und: Fehlt nicht beim Bemeroder Slogan (zumindest aus Sicht der Objektiven Hermeneutik) am Ende der Zusatz »nebeneinander her«?

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Haben diese Menschen nicht möglicherweise längst andere kulturelle Selbstbezüge als den lokalen Nahraum einer beliebigen Großstadt?22 Diese Zuspitzung gängiger Projektkonzeption in der Stadtentwicklung bringt mich auf meine zweite These, hatte ich doch behauptet, reflexive Stadtentwicklung erfordere Mut zur künstlichen Dummheit (s. Kap. Start: Zukunft). An dem Beispiel festgemacht, bedeutet diese professionelle Kernkompetenz nicht, alles zu leugnen oder zu vergessen, was über inter- und transkulturelle Soziale Arbeit an Wissensbeständen über die Jahre akkumuliert wurde. Im Gegenteil: Die Devise lautet vielmehr, jenes Wissen auf Vor-Wissen, Halbwissen und (Vor-)Urteile abzuklopfen und bis auf weiteres zurückzustellen (vgl. Kap. PRXS). Es gibt hierfür keine Gebrauchsanleitung und keinen Zehn-Punkte-Plan. Diversitätsbewusstes Denken und Handeln brauchen Zeit, Übung und kritisches Potential. Mehr Fragen, weniger Antworten! Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich in der Praxis Sozialer Arbeit eine Sensibilität gegenüber (eigenen) kulturellen Zuschreibungen entfalten würde. Dies bedingt jedoch zu allererst kulturelle Neugier und die Bereitschaft, sich überraschen zu lassen und überrascht zu werden. Bei aller Kritik am Zustand der Konzeption gegenwärtiger Stadtentwicklung lassen sich auch Chancen reflexiver Stadtkonzepte erkennen: Die ausgeprägte Diversität in als sozial benachteiligt geltenden Stadtteilen befördert grundsätzlich einen alltagskulturellen Ausgleich. Damit sind keine brotlosen Überschriften gemeint wie »Vielfalt als Chance« oder »Das Potential des Stadtteils XY sind seine Menschen« (dies würde bedeuten, Stadtteil XY ließe sich nur noch über Sozialkapital erschließen und wäre demnach pleite), sondern konkrete (kulturelle) Ressourcen wie Mehrsprachigkeit, die Kreativität ambivalenter

22 Strategien sozialräumlicher Nahraumbindung stehen nicht grundlos für die demografischen »Abwehrkämpfe« der ländlichen Raumentwicklung. Für urbane Räume sind solche Konzepte eher unbrauchbar. Schrumpfende Großstädte sollten auf ihrem Weg zur Konsolidierung sozialökonomischen Aufbruch, nicht kulturelle Traditionen vermitteln, wollen sie irgendwann wieder wachsen.

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Raumnutzungs- und Aneignungsstrategien unterschiedlicher Gruppen oder die erhebliche Vielfalt an intermediären Institutionen. In einer Schule, die 80% Migrant*innen zu ihren Schüler*innen zählt, stellt sich die Frage nach der dominanten Sprachregelung im Grunde gar nicht. Wer hier selbst auf dem Schulhof noch an die Deutschpflicht appelliert, sollte am besten gleich mehrere interkulturelle Kompetenztrainings absolvieren. Die Anerkennung transkultureller Lebenswelten durch verstehende und kultursensible Konzepte bedeutet nicht weniger, als den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in einer – veraltet formuliert – »Einwanderungsgesellschaft« Rechnung zu tragen. Am Grad der selbstreflexiven Ausprägung Sozialer Arbeit wird ablesbar sein, ob die Europäisierung des Gemeinwesens durch immer stärkere Ko-Finanzierung der Stadtentwicklung aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) am Ende wirklich eine politische Chance ist. Der große Vorteil besteht darin, dass die EU auf allen Politikebenen Diversity Management ausdrücklich fördert, der Nachteil, dass diese Förderung nicht zweckfrei geschieht, sondern wie alle anderen europäischen Maßnahmen den Prinzipien Beschäftigungsförderung, Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit untergeordnet ist. Hier wird es darauf ankommen, ob Sozialarbeiter*innen in der Lage sind, die leidenschaftslose, leere Antragssprache und die Spielregeln der Projektkultur zu beherrschen, während sie zugleich versuchen, auf der inhaltlichen Ebene politisch und konzeptionell das Unmögliche für ihre Adressat*innen herauszuholen. Betrachten wir nun im folgenden Kapitel mit Hilfe unterschiedlicher sozialräumlicher Forschungszugänge empirische Facetten der transformativen Stadt.

Empiritis »There are no cities, no cities to love. It’s not the city, it’s the weather we love!« SLEATER-KINNEY: NO CITIES TO LOVE

Bevor ich in diesem Kapitel verschiedene Forschungsvorhaben, -methoden und -ergebnisse vorstelle, möchte ich vorwegnehmen, dass die Kapitelüberschrift auf zweierlei Art und Weise gelesen werden kann. Einerseits als konzeptionelle Abgrenzung: Es geht mir nicht bloß darum, in den nachfolgenden Abschnitten empirische »Beweise« für den bisher entwickelten theoretischen Korpus zu liefern. Indem ich mich einer transdisziplinären und multiprofessionellen Betrachtungsweise verpflichte, entwerfe ich zwangsläufig Skizzen reflexiver Stadtentwicklung. Im Vordergrund stehen also heuristische Impulse für unterschiedliche Arbeitsbereiche der Stadtentwicklung in unterschiedlichen sozialräumlichen Zusammenhängen. Eine empirische Überprüfung ist nur in einem Forschungssetting möglich, das den jeweiligen eigensinnigen lokalen Bezügen Rechnung trägt. Dafür stelle ich methodologische Anregungen bereit. Zudem muss insbesondere bedacht werden, dass die Theorie sozialräumlicher Transformation im Kontext deutscher Stadtentwicklung überwiegend unter anderen Vorzeichen

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und unter Berücksichtigung anderer Geschwindigkeiten einzuordnen ist als in internationalen metropolitanen Zusammenhängen. Umso aufschlussreicher könnte die Tatsache sein, dass in den Folgekapiteln mit Leipzig und Hannover zwei mittlere Großstädte die empirische Referenz bilden, ohne dass der Anspruch vergleichender Forschung erhoben wird. Andererseits kann »Empiritis« als Kritik eines evidenzbasierten Glaubens verstanden werden, eines wissenschaftlichen Trends zur wahllosen Datengenerierung. Die daraus resultierende Konsequenz muss sehr ernst genommen werden, denn wo es Gewinner*innen gibt, sind die Verlierer*innen nur unschwer zu erkennen: Die Konjunktur der Empirie geht einher mit einem Bedeutungsverlust der Theorie. Den nächsten großen sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsentwurf wird es jedoch kaum geben ohne die Freiheit, unvollständig zu denken, ohne den Mut, Fragen unbeantwortet zu lassen und ohne die Einsicht, Widersprüche in Kauf nehmen zu müssen. Bedingt durch eine ethnografische Schulform, favorisiere ich grundsätzlich eine flexible Forschungsstrategie (vgl. Lüders 2007: 393ff.). Mit der im weiteren Verlauf skizzierten Methodologie vertrete ich zugleich die Auffassung, dass diversitätsbewusste Forschung, will sie intersubjektiv nachvollziehbare Daten erheben, sich den spezifischen Gegebenheiten des jeweiligen Feldes anpassen muss. An anderer Stelle habe ich bereits darauf hingewiesen, dass diese Annahme besonders auf das Feld der Stadtentwicklung zutrifft, da wir es hier mit komplexen, sich häufig überlagernden Problemlagen zu tun haben (vgl. Thiesen 2011: 143f.). Das durch Robert E. Park bereits Anfang des 20. Jahrhunderts geprägte Prinzip der interessierten Offenheit (oder besser der desinteressierten Offenheit, sonst wäre die Offenheit nicht offen), des »Nosing Around«, des Abtauchens in andere Lebenswelten und Sozialräume, betrachte ich als einen wesentlichen Bestandteil ethnografisch geprägter Forschung. Es sollte sowohl zu Beginn eines Feldzugangs als auch zur Wiederherstellung von Fremdheit in vertrauten (bzw. vertrauter werdenden) Feldzusammenhängen zur Anwendung kommen (vgl. ver-

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tiefend Lindner 2004; 2007). Das Methodenrepertoire ist breit gefächert und kann beispielsweise von ziellosem Flanieren im Stadtteil (bei Guy Debord: »Derivé«), über (teilnehmende) Beobachtungen bis hin zu Kurzprotokollierungen vorbeiziehender Sozialräume, z.B. während spontaner und zufällig gewählter Busfahrten, reichen. Abbildung 9: Going Native

Quelle: http://img2.timeinc.net/people/i/2006/startracks/061127/gi sele _bundchen.jpg, Zugriff: 09.03.15

Die folgenden Kapitel illustrieren Spuren ethnografischer Feldzugänge in Leipzig, Hannover und Buenos Aires. Wenn die sozialkulturelle Bedeutung urbaner Räume, wie ich behaupte, sukzessive abnimmt, ist die Begründung der Städtewahl zweitranging. So paradox es klingen mag: Wo Räume zu unbekannten Variablen werden, nimmt ihr sozialräumlicher Eigensinn gleichzeitig zu und ab. Er steigt an, weil die Transformation des Raumes sich im globalen Maßstab ungleichzeitig entwickelt und nimmt dennoch ab, da es in einer grenzenlosen Welt auf Dauer keine sozialräumlichen Mikrokosmen geben kann.

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Im Kapitel Leipzig zeige ich, wie die Themenstellung dieses Buches in ein ethnografisches Forschungsprojekt in den Lehrbetrieb einer Hochschule integriert werden kann. Die Theorie sozialräumlicher Transformation in den »Arrival Cities« (Saunders 2011) zu überprüfen, wäre wenig aufschlussreich: Die Bilder globaler Arbeitsmigration sind uns bekannt, die Migrant*innen selbst über digitale Medien häufig bestens zwischen verschiedenen »Welten« vernetzt. Natürlich geht es allen zuvorderst um ein (wie auch immer en détail schraffiertes) »gutes Leben«, also um Erwerbsarbeit, nicht um die Suche räumlicher Identifikationsrahmen. Wenn also der Vergleich zwischen der Peripherie einer asiatischen Megacity und jedem europäischen Stadtteil schief ausfällt, so wäre zu prüfen, wie es um den sozialräumlichen Bedeutungsgehalt in einem Stadtteil bestellt ist, der im gesamtstädtischen Rahmen als subkulturell und »offen« gilt. Die in Leipzig-Connewitz in einem studentischen Forschungsprojekt entstandenen qualitativen Interviewsequenzen spiegele ich dabei durch visuelle Interventionen. Im Kapitel Hannover fange ich am Beispiel ausgewählter Stadtteile symbolische Raumaneignungen der so genannten Mehrheitsgesellschaft ein und leiste auf diese Weise einen weiteren Beitrag zur Verdichtung der Theorie sozialräumlicher Transformation (vgl. Kap. Theorié). Das in Buenos Aires spielende Kapitel knüpft schließlich an die Tradition der Sozialreportage an und dokumentiert Stadtteilbegehungen aus der Perspektive eines künstlich Dummen.

L EIPZIG An der Fakultät Architektur und Sozialwissenschaften der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) habe ich im Wintersemester 2014/15 unter der Überschrift »›Andere Räume – andere Träume‹. Ethnografische Skizzen von Begegnungen in Leipzig-Connewitz« mit Studierenden des fünften Semesters im Bachelor-Studiengang Soziale Arbeit ein Forschungsprojekt im Stadtteil Leipzig-Conne-

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witz durchgeführt.23 Das Forschungsdesign hatte ich im Sinne des Erkenntnisinteresses dieses Buches weitestgehend vorgegeben. Eine »Übersetzung« seiner leitenden Forschungsfrage (vgl. Kap. Start: Zukunft) erfolgte mit dem Ziel, an die unterschiedlich ausgeprägten Vorverständnisse der Studierenden anzuknüpfen und eine praxisnahe Operationalisierung des Forschungsprojektes zu gewährleisten. Abbildung 10: Connewitz Is Fuckin’ Dead

Quelle: http://www.connewitz.com/blog/wp-content/uploads/ 2010/05/postkarte.jpg, Zugriff: 17.05.15

Der Stadtteil Leipzig-Connewitz lebt wie kaum ein anderer von einer Art sozialhistorisch-medial aufgeladenen Mystifizierung. Über Connewitz zu sprechen ist praktisch nur als Reproduktion möglich. Die Assoziationen zu Connewitz reichen von lokaler bis überregionaler Presse, von Leipziger Honoratior*innen bis hin zu Studierenden kaum über Stereotype hinaus. Connewitz steht für die Wiege der Autonomen, für alternative und linke Subkultur, für Dreck und individuelle Freiheit zu-

23 Den Seminartitel verdanke ich dem Roman »Andere Räume, andere Träume« von Daniyal Mueenuddin. Bei den hier abgebildeten Daten greife ich unter anderem auf 11 studentische Forschungsberichte zurück.

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gleich, für Roter Stern Leipzig, Conne Island, vegane Restaurants, Naherholung, Kioskbetriebe, Alteingesessene und natürlich: für Gentrification. Überflüssig zu erwähnen, dass die örtliche Postleitzahl zum Fetisch geworden ist. Abbildung 11: Life Is Good at the Beach

Quelle: http://www.77athletics.com/product/04277legend-copacaba na, Zugriff: 31.05.15

Schaufenster In einem 20 Jahre alten SPIEGEL-Artikel wird das »Leipziger Anarcho-Refugium Connewitz« als »Sog der Freiheit« betitelt (Koelbl 1995):

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»Finster wie ein Rattenloch ist der Gang, der durch das zerfallende Haus zur Punkerkneipe ›An der Dusche‹ führt. Auf den ausgetretenen Granitstufen im Hausflur schlagen sich Besoffene nachts die Knie blutig. An der Bar bedient Daniel, 19. Grinsend hockt er auf der Theke, einem rohen Holzbrett, das über zwei Mauerresten klemmt. Fünf helle Zotteln zieren Daniels ansonsten kahlen Kopf. Den neuen Gästen streckt er einen Glasballon mit süßer Sangria entgegen: ›Bier und Schnaps sind alle.‹ Willkommen ist, wer nicht nach Polizei oder Stadtverwaltung aussieht oder sonst irgendwie zum ›Schweine-System‹ gehört. In Leipzigs Anarcho-Refugium Connewitz herrschen andere Gesetze als im Rest der neuen Republik. Dort, im Süden der Stadt, ist die Hochburg der alternativautonomen Szene. Zwischen Häuserstümpfen und Erdkratern leben die Anti-Bürger in 15 baufälligen Gründerzeithäusern des früheren Handwerkerviertels, inmitten bürgerlicher Nachbarschaft. Kaum ein Polizist wagt sich dort hinein, und doch duldet die Stadt das ›Bermuda-Dreieck‹ (Szene-Jargon) als Reservat der Andersdenkenden. Gut 200 Punks, Freaks und Idealisten teilen hier das Leben zwischen Schrott und Abrißhäusern, den Haß auf die ›Faschos‹ und die Etablierten, ihre trostlosen Geschichten von zu Hause und die letzte Kippe. Die Stadt überlegt derzeit, die Häuser für 5,8 Millionen Mark von den privaten Eigentümern zu kaufen und sie per Erbbaurechtsvertrag offiziell an die Bewohner zu übertragen. Die Besetzer sollen sich in einer Genossenschaft organisieren und an der Sanierung beteiligen. Manche der Connewitzer hausen in rottigen Wohnhöhlen ohne Heizung, ohne Wasser, ohne Licht. Gleich nebenan lebt wiederum eine Wohngemeinschaft wie im Westen der siebziger Jahre: In der mollig geheizten Gemeinschaftsküche dient ein abgesägtes Türblatt als Tisch, darauf stehen große Blechschüsseln mit Brechbohnen und scharf gewürzten Champignons. Doch die Feinde sind für alle dieselben: der Staat, der Westen, die Konkurrenz, der Kommerz. Und wer zwischen Meusdorfer, Bornaischer und Wolfgang-Heinze-Straße investieren, Protz-Fassaden hochziehen und Profit herausholen möchte, dem bekommt das meistens schlecht. Eingeschlagene Scheiben, graffitiverschmierte Hauswände, zerstochene Reifen an edlen Karossen – ›Establishment, nein danke‹ ist die Botschaft an Stadt und Spekulanten. Als die

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Dresdner Bank eine Filiale im Kiez eröffnen wollte, wurde aus dem ›Grünen Band der Sympathie‹, welches das Fenster zierte, schnell ein Eisen- und Bretterverschlag, der Molotow-Attacken abwehren soll. Die von der Szene beherrschten Häuser sollten schon zu DDR-Zeiten planiert werden und einer Neubausiedlung weichen. Dann kam die Wende, in den abrißreifen Häusern tauchten Besetzer auf: ausgeflippte Facharbeiter, junge Leute, die endlich von zu Hause weg wollten, Studenten, Galeristen, ÖkoApostel und Polit-Punks. Sie nannten sich ›Connewitzer Alternative – gegen Abriß und Kommerz‹. Es ging ihnen darum, vermeintliches ›Volkseigentum‹ zu erhalten und der sozialistischen Gleichmacherei im Plattenbau zu entfliehen. Fast zwei Jahre lang war Connewitz ein einziges Straßenfest, für viele ein Synonym für Aufbruch, freies Leben und die neue Zeit. [...] Doch der Sog der bunten Freiheit brachte neues, anderes Volk ins Quartier, darunter viele, denen das neue Leben draußen einfach zu hart geworden war. Kein Geld, keine Wohnung, abgehauen von zu Hause, ausgerissen aus dem Kinderheim, rausgeschmissen aus der Lehre – jede Menge gebrochene Biographien finden sich in Connewitz. [...] Regelmäßig wird im Supermarkt an der Karl-Liebknecht-Straße ›eingekauft‹: Die Jungs holen sich, was sie brauchen. Bei Widerstand gibt’s Schläge für die Kassiererin. Doch Protest gegen derartige Raubzüge bleibt meist aus. Denn wer einem Szene-Connewitzer ein Haar krümmt, hat schnell viele Feinde. Wer von den Anarchisten nach Hilfe schreit, bekommt auch welche. Die Polizei greift selten ein. ›Connewitz ist fast ein rechtsfreier Raum, da wird die Staatsmacht verhöhnt‹, klagt der zuständige Polizeioberrat Rigobert Unger vom Polizeipräsidium Leipzig. Aus einer ›banalen Personalienkontrolle‹ werde ganz schnell ein größerer Polizeieinsatz. Auch Tote und Verletzte hat es schon gegeben. Als sich Polizisten vor drei Jahren zwei randalierende Jugendliche greifen wollten, entstand daraus eine Straßenschlacht, wie sie Leipzig in der ganzen Wendezeit nicht erlebt hatte: Autos brannten, Pflastersteine flogen, 38 Menschen wurden verletzt, 41 festgenommen. [...] Doch die Einigkeit täuscht, die Szene ist längst zersplittert. Es gibt solide Klubs wie das ›Conne Island‹, in dem sogar der Tresen nach Zitronen-Spüli riecht. Im autonomen Kulturzentrum Zoro dagegen tummeln sich die abgefahrensten Underground-Bands aus der internationalen Musikszene [...].

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›Wir dürfen die nicht ausgrenzen, die einen anderen Weg gehen‹, sagt Bürgermeister Wolfgang Tiefensee, 40, zu DDR-Zeiten Kriegsdienstverweigerer und in der Kirche engagiert: ›Es muß Platz für alle geben.‹ Doch langsam zieht sich der Ring renovierter, weißgetünchter Häuser um das Zentrum der alternativ-autonomen Szene zu. Gezielt werden ›konstruktive Szeneleute‹ unterstützt, um ›die Spreu vom Weizen zu trennen‹, erklärt Sanierungsprofi Andreas Pätz von der privaten Stadtentwicklungsfirma DSK seine Strategie der sanften Verbürgerung: ›In 15 Jahren ist die Sache gelaufen.‹ Solche Zeitdimensionen sind für Daniel, Bino und Milo, die Punk-Kids in der Bar ›An der Dusche‹, kaum zu überblicken. Es ist morgens kurz nach fünf, die Party ist aus. Die Jung-Anarchisten wanken, lachend und rülpsend, in die Buden ihres besetzten Hinterhauses. Weindunstig sinken sie auf die Strohsäcke und verlotterten Matratzen. Eine Nacht wie all die anderen in der Stöckartstraße. Trostlos, sinnlos, schön.« (Koelbl 1995)

Wer also von Stereotypen abstrahieren will, kommt nicht umhin, diese Art kulturellen Common Sense grundsätzlich in Frage zu stellen (vgl. Kap. Differenzen). Die in diesem Kapitel abgebildeten Fotos trenne ich kontextuell bewusst von ihrer Legende und setze auf Verfremdungseffekte. Die vermeintlich typischen sozialräumlichen Charakteristika eines Stadtteils können in Entwicklungskonzepten von Stadtplanungsämtern nachgelesen werden. Postkonstruktivistische Paradoxie und dadurch erst hermeneutische Vermittlung entsteht, wenn jene kollektiv gesicherten Wissensbestände (über deren Plausibilität sich alle möglichen externen und internen Akteure, ob Stadtmarketing, alteingesessener Bewohner, Journalistin oder politisch aktive Stadtbewegte einig sind) als dechiffrierfähige Zuschreibungen begriffen werden. Vor diesem Hintergrund lautete die leitende Forschungsfrage des Projektes: Welche Bedeutung hat Connewitz für seine Bewohner*innen? Weitere handlungsleitende Fragestellungen ergaben sich aus ersten Feldzugängen:

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• • • • • • •

Wie wird in Connewitz mit öffentlichem Raum umgegangen? Welche Bedeutung hat die symbolische Aneignung von öffentlichem Raum für die Bewohner*innen des Stadtteils? Welche »Kulturen« leben in Connewitz? Wie unterscheidet sich der Blick auf Connewitz aus generationaler Sicht? Welche Konzepte und Methoden sozialer Stadtentwicklung kommen in Connewitz zur Anwendung? Wie sieht die mediale Rezeption des Stadtteils aus? Welche Werte, Mentalitäten und Lebensstile bilden sich in der Bevölkerung ab?

Jede der vorangestellten Fragen impliziert gewisse Vorannahmen, die wiederum nicht losgelöst vom Erkenntnisinteresse der Forschungswerkstatt formuliert werden konnten. Wir gingen unter anderem von zwei entgegengesetzten sozialräumlichen Voraussetzungen aus: • •

Das Connewitzer Stadtteilbild ist das Produkt generationaler Narration und entspricht nicht der kulturellen Alltagspraxis. Diversität und sozialräumliche Identität müssen keine Gegensätze bilden.

Das Forschungsprojekt war von Beginn an dem Gedanken partizipativer Forschung verpflichtet (Thiesen/Götsch/Klinger 2012). Prinzipien wie Transparenz, Offenheit und Selbstreflexion wurden daher im Forschungsprozess permanent thematisiert und auch in spezifischen Übungen im Feld geschult. Ein solches Vorgehen muss zwangsläufig hohe Praxisanteile wie die Durchführung (teilnehmender) Beobachtungen oder Stadtteilfotografie implementieren. Durch die von mir im Nachgang formulierten Bildlegenden entsteht zudem eine weitere, vermeintlich widersprüchliche Textebene. Sie bewahrt die analytische Distanz zum Forschungsgegenstand.

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Abbildung 12: Ein Ort der Stille und Besinnung

Bild: Thomas Schatz

Die Entscheidung für das Untersuchungsfeld Connewitz ergab sich, abgesehen von der bisher aufgemachten Problemskizze, noch aus weiteren Gründen: Als innenstadtnaher Stadtteil, der stadtweit mit Attributen wie »bunt«, »quirlig« oder »alternativ« behaftet ist, verspricht er bezogen auf das Zusammenspiel von Urbanität und Diversität hohen Erkenntnisgewinn. Anders formuliert: Was ist dran an der alternativen »Lifestyle-Etikette« des Stadtteils? Wie ist die symbolische Repräsentation eines Hotels mit Namen »Alt-Connewitz« aus rekonstruktiver Perspektive zu bewerten? Haben wir es mit reproduktiven oder reflektierten Formen der sozialen Stadtentwicklung zu tun? Besonders die zuletzt genannte Frage lässt sich in Stadtteilen wie Connewitz exemplarisch untersuchen, da sich innerhalb dieser und ähnlicher Räume kulturelle Heterogenität – in Connewitz mehr subkultureller als eth-

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nisch-kultureller Prägung –24 verdichtet abbildet und eine Vielzahl an intermediären Institutionen auszumachen ist. Dem Stellenwert studentischer Forschung, die den Strukturzwängen vorgegebener Curricula und Semesterzeiten unterliegt, muss hier ebenso Rechnung getragen werden wie der Bedeutung des Samples für dieses Buch. Neben der Vermittlung eines ethnografischen Forschungsverständnisses, lag der Schwerpunkt des Forschungsprojektes – und die größte Herausforderung für die Studierenden – in der Durchführung 15-minütiger leitfadengestützter Interviews. Die Gefahr des »Aufdrängens einer Problematik«, die Pierre Bourdieu in seinen Reflexionen auf das »Elend der Welt« anstellte, ist wohl nirgends so allgegenwärtig wie bei der ersten Interviewerfahrung (s. Bourdieu 1997: 782f.). Freilich macht es einen erheblichen Unterschied, ob die Interviewten in der Einstiegsfrage danach gefragt werden, was sie mit Connewitz verbinden oder was sie mit Connewitz verbindet. Im letztgenannten Fall wird der subjektive sozialräumliche Bedeutungsgehalt bereits vorausgesetzt. Ist diese Hürde genommen, können zahlreiche weitere, vor allem interdependente Verzerrungen während des Gesprächs auftreten, die es in der Auswertungsphase zu berücksichtigen gilt. Die Einordnung der Empirie in den übergeordneten kulturwissenschaftlich gefärbten Theorierahmen des Forschungsprojektes setzt wiederum ein wissenschaftlich geschultes Vorverständnis voraus, das in einem einsemestrigen Seminar mit vier Semesterwochenstunden allenfalls angerissen werden kann.

24 Der Anteil der Menschen mit Migrationserfahrung lag in LeipzigConnewitz im Jahr 2013 bei 6,1% (Stadt Leipzig 2015, o.S.).

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Abbildung 13: Antifa-Area Connewitz

Bild: Susanne Gehre

Vieles spricht also dafür, einen gewissen empirischen Pragmatismus walten zu lassen und hier die zentralen Projektinhalte paraphrasierend darzustellen. Mir geht es primär um methodologische Überlegungen zur diversitätsbewussten Stadtforschung. Es ist weder möglich noch nötig, zu diesem Zweck das gesamte Forschungsdesign unseres Semi-

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nars abzubilden. Eine grobe Struktur möchte ich allerdings im Folgenden nachzeichnen. Die Sensibilisierung für ethnografische und diversitätsbewusste Fragestellungen ist eine wesentliche didaktische und methodische Herausforderung im BA-Studium der Sozialen Arbeit. Das »unbekannte Dritte« ist zwar den Meisten (nicht nur den Studierenden) von vornherein fremd, doch bedeutet dies nicht, dass sie sich dieser Fremdheit auch bewusst wären. Was Ronald Hitzler als »künstliche Dummheit« begreift, also die Leistung, zwischen alltäglichem und wissenschaftlichem Wissen bewusst zu unterscheiden, sollte im Rahmen einer Forschungswerkstatt erhebliche Vermittlungsanstrengungen wert sein (Hitzler 2001; Kap. PRXS); stattdessen auf »kompakte« Techniken zurückzugreifen, die dem eigentlichen Forschungsinteresse ohnehin nicht gerecht würden, bietet keinen Ausweg. Bleibt somit der Auftrag an Lehrende, Studierende nicht nur mit den komplexen kultursoziologischen Grundlagen des vorliegenden Forschungsgegenstandes, sondern vor allem praktisch mit ethnografischer Feldarbeit vertraut zu machen. Eine unorthodoxe Vorgehensweise kann darin bestehen, die Methode des Nosing Around wörtlich zu nehmen, um sich auf eine bestimmte Sinnesfrequenz konzentrieren zu können: Olfaktorische, aber auch auditive, visuelle, gustatorische und haptische bzw. »emotionale« Spaziergänge wirken sich in hohem Maße sinnschärfend auf den Gegenstand der Ethnografie aus. Erst im Anschluss sollte es um eine begründete Eingrenzung des Untersuchungsfeldes, etwa entlang administrativer Grenzen gehen. Im Vorfeld der Interviews wurden zudem kommunalstatistische Daten recherchiert und diskutiert. Ebenso waren historische Archivarbeit, gezielte fotografische Quartiersbegehungen, AdHoc-Gespräche mit Connewitzer Protagonist*innen und die Anfertigung von Beobachtungsprotokollen Bestandteile des Forschungsdesigns.

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Abbildung 14: Connewitz ist bekannt für seine zahlreichen Grünflächen und Naherholungsgebiete

Bild: Marco Pazzi

In der folgenden Auswertung beziehe ich mich auf 11 leitfadengestützte Expert*inneninterviews. Die Befragten fanden wir in öffentlichen Einrichtungen, politischen Parteien, Vereinen, im lokalen Gewerbe und in der Bewohner*innenschaft. Den Leitfaden eröffnet eine Erzählaufforderung, an die wenige weitere Fragen anknüpfen (s. Tab. 2).

Öffentlicher Raum

Bitte erzählen Sie kurz, wie Sie nach Connewitz gekommen sind und was Sie mit dem Stadtteil verbinden?

Ruf/Image

Verbundenheit

Einstellung

Wandel

Stadtentwicklung

Politik

Werte

Check

Leitfrage/Erzählaufforderung

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, in Connewitz etwas zu verändern, was wäre das?

Was unternehmen Sie in Connewitz?

Was wohnen hier für Leute?

Konkrete Frage

Leitende Forschungsfrage: „Welche Bedeutung hat Connewitz für seine BewohnerInnen?“

- Leitfaden Praxisforschung 2014/15 -

Thiesen WS 2014/15_HTWK Leipzig_FAS

Können Sie mir das genauer beschreiben? Wo sehen Sie den Stadtteil in fünf Jahren?

Gibt es etwas in Connewitz, was Sie besonders finden?

Alte? Junge? Arme? Reiche? Kulturen? Vielfalt? Wandel?

Aufrechterhaltung

„Andere Räume – andere Träume“ – ethnografische Skizzen von Begegnungen in Leipzig-Connewitz

Thiesen und Teilnehmende des Seminars Praxisforschung HTWK/FAS/SAB_Teilmodul 5.4.4_5. Fachsemester_Raum Li 115_Di_13.45-17.00 Uhr

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Tabelle 2: Leitfaden zum Forschungsprojekt »Andere Räume – andere Träume«

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Qu’est-ce que Connewitz? Ausgehend von unserem Forschungsinteresse stand in der Phase der Auswertung das Aufspüren verdichteter Textpassagen im Mittelpunkt. Auf diese Weise näherten wir uns der leitenden Fragestellung nach der Bedeutung des Stadtteils Connewitz für seine Bewohner*innen. Um hierbei nicht beliebig vorzugehen, dienten sowohl die Forschungsfrage als auch der Leitfaden der Erstellung eines grob entworfenen Kategoriensystems als Auswertungshilfe. Die komprimierte Abbildung der vollständig transkribierten Interviews war somit in den Bereichen »Stadtteilleben«, »Problemlagen«, »Ressourcen«, »Öffentlicher Raum«, »Eigensinn«, »Stadtentwicklung« und »Zugehörigkeit« möglich. Ein solches Vorgehen birgt einerseits den Vorteil, von der einzelnen Kategorie auf das Material zu schließen, andererseits wird »rückwirkend« die Stichhaltigkeit jener Kategorien durch analytische Transferleistungen der Auswertenden vom Material auf das Kategoriensystem gewährleistet. Das System bleibt dadurch potentiell modifizierbar, also auch erweiterbar. Sorgfältig praktiziert, entsteht so ein Wechselspiel aus Deduktion und Induktion. Wir betrieben sozusagen in Personalunion ein Double-BlindVerfahren, indem wir die Suche nach dichten Beschreibungen der Erzählpersonen um die dichte Beschreibung des Datenmaterials ergänzten (Geertz 1983/87).

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Abbildung 15: Fußweg Fischladen Red Bull Arena, laut Google Maps: 1 Std. 4 Min

Bild: Thomas Schatz

Die abschließende Auswertung aller 11 Interviews ergibt eine hohe sozialräumliche Identifizierung der Befragten mit dem Stadtteil Connewitz. Für die Befragten bedeutet Connewitz entweder »zuhause« oder »Heimat«, auch Begriffe wie »Verwurzelung« und »Ur-Connewitzer« fallen. Hier und da werden Symptome von – in keiner Weise empirisch belegter – Gentrification als Bedrohung für den sozialen Kitt des Stadtteils angesehen. Ist der Blickwinkel beruflicher Art, werden ebenfalls Bilder einer »bunten« und engagierten Stadtteilkultur transportiert. Die in unserem Sample zu Tage tretende Bestätigung einer sozialräumlichen Typologie, wie sie im bereits zitierten SPIEGEL-Artikel Mitte der 1990er Jahre zum Ausdruck kommt, bedarf aus kulturreflexiver Perspektive einer verstehenden Einordnung. Zunächst muss berücksichtigt werden, aus welcher sozialen Perspektive sich die Befragten zu sozialräumlichen Fragestellungen äußern: Die berufliche Sicht eines Sozialarbeiters oder einer Gewerbetreibenden auf den Stadtteil gilt es zu beachten, da sich dahinter ein bestimmter Auftrag verbirgt.

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Zwei Familienväter machten zudem in unterschiedlichen Interviews deutlich, dass ihre bewusste und positive sozialräumliche Wahrnehmung von ihrer eigenen familiären Situation in Connewitz abhängt. So gesehen könnte das familiäre Leben auch in einem anderen Stadtteil mit entsprechender Lebensqualität spielen. Davon abgesehen, muss genau überprüft werden, auf »welches« Connewitz sich die Befragten beziehen. Wenn die Assoziationen der Befragten zur sozialräumlichen Typologie des Stadtteils um Stereotype wie »quirlig« oder »wild« kreisen, inwieweit können sie dann mehr sein als kleinräumige Lautsprecher des kommunikativen Gedächtnisses der Stadt Leipzig (vgl. Kap. Differenzen)? Ein letzter Einwand scheint mir durch die Hinzuziehung der in diesem Kapitel dokumentierten visuellen Interventionen gegeben, die ich bezogen auf ihren empirischen Gehalt innerhalb unserer Methodenmatrix als gleichwertig gegenüber den Interviews betrachte. Erst Fotos und Legenden legen schließlich die Diskrepanz zwischen subjektivem Sozialraumempfinden und objektiver Dechiffrierung offen. Mir ist völlig bewusst, dass wir es in diesem Kapitel lediglich mit exemplarischen Ansätzen qualitativer Sozialraumforschung zu tun haben. Die vorgetragenen Reflexionen auf das Material lassen sich durch diesen Hinweis jedoch nicht ausräumen. Lebensweltliche und visuelle Texte sind also nachvollziehbar voneinander geschieden. Was folgt daraus? Befragen wir das empirische Material, so entspricht Leipzig-Connewitz auf den ersten Blick dem Typus eines deutsch-deutschen Stadtteils. Ein im Vergleich zur Frankfurter Innenstadt sehr niedriger Migrationsanteil von etwa 6% (Stadt Leipzig 2015, o.S.) verdeutlicht, dass die Linien kultureller Vielfalt lediglich zwischen ostdeutschem Brauchtum und linker Subkultur verlaufen. Autochthone und Autonome zeichnen allerdings beide positiv besetzte sozialräumliche Bilder, nur dass letztere nicht das altdeutsche Bierstübchen besuchen, sondern die Szenekneipe. Sie bleiben damit autochthone Autonome. Als Leipziger Vergleichsgröße könnte nun überprüft werden, wie die Bewohner*innen, sozialpolitischen Repräsentant*innen und weiteren Akteure des so genannten »Leipziger Ostens«, ein Gebiet mit deutlich höherem Migra-

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tionsanteil und anderen Diversitätsrelationen, das Konzept sozialräumlicher Identität bewerten. Doch würde sich der Erkenntnisgewinn möglicherweise gar nicht so sehr von den Befunden des Leipziger Südens unterscheiden, zumal wir unter der Überschrift »Diversität« den heuristischen Stellenwert der Ethnizität erst begründen müssten. Dass das Quartiersmanagement Leipziger Osten bei Facebook als »Gemeinschaft« firmiert, ist zwar technischen Voreinstellungen geschuldet, in diesem Zusammenhang aber trotzdem eine schöne Pointe.

H ANNOVER Durch den Verweis auf die Bedeutung von Transparenz im Forschungsprozess, habe ich den intersubjektiven Übersetzungsauftrag, den Forschende allein aus ihrer gesellschaftlichen Verantwortung heraus annehmen sollten, gleich zu Beginn dieses Buches vorweggenommen. Beispielsweise stellen künstlerisch inspirierte Aktionen im öffentlichen Raum wie Urbane Interventionen ein probates Mittel zur Erzeugung gesellschaftlicher Irritation und Interaktion dar, weil sie gesellschaftliche Normativität auf überraschende Weise hinterfragen (Ferguson 2007; Lehmann 2008; Klanten/Hübner 2010). Als Komponenten qualitativer Forschungsprogramme bieten Urbane Interventionen zudem möglicherweise eine sinnvolle Verifizierungshilfe anderer Datenquellen wie Interviews und ermutigen dabei die Befragten selbst zur Reflexion. Doch was passiert, wenn die Subjekte wissenschaftlichen Interesses mit den ihnen eigenen Mitteln selbst in die symbolische sozialräumliche Ordnung eingreifen? Das stadtsoziologische Gedankengebäude des Forschenden beginnt dankenswerterweise zu wackeln, wie der folgende Feldzugang in die sozialräumliche Ikonografie Hannovers zeigt. Besonders sichtbar werden die »urbanen Interventionen« der ansonsten nicht der Subversion verdächtigten Mehrheitsgesellschaft bei öffentlichen Großevents wie Sport- oder Musikveranstaltungen, wenn Verkehrsregeln kollektiv außer Kraft gesetzt werden. Anlässlich der

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zurückliegenden Fußballweltmeisterschaft wurden wir Zeug*innen massenhafter laienhafter Aneignungsstrategien. Die vielerorts sichtbare deutsche Nationalflagge avancierte jedoch vorranging zum Forschungsgegenstand der Sozialpsychologie. Unterbelichtet blieb hingegen die Beobachtung einer beispiellosen Verschmelzung von privater und öffentlicher Sphäre. Auf diese Weise haben mich Fotoreportagen in unterschiedlichen Stadtteilen Hannovers zu einer Reflexion sozialräumlicher Kontextualisierung ermutigt, die ich in einer Fallstudie dokumentiere. Ich gehe ausdrücklich davon aus, dass diese Studie in jeder anderen deutschen Stadt zu ähnlichen raumspezifischen Ergebnissen führen würde. Abbildung 16: Aufwendige Choreografie kreativer Deutscher

Bild: Andreas Thiesen

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Ursprünglich war ich davon ausgegangen, dass ein Zusammenhang zwischen Fahnendichte und Stadtteil besteht. Sozialer Raum und Sozialraum, so lehrt uns die Stadtsoziologie, existieren nicht unabhängig voneinander (vgl. Kap. Differenzen und Identitäten). Daher war ich kaum verwundert, in meiner näheren privaten Umgebung so gut wie keine nationale Symbolik zu entdecken. Während der Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial hatte sich allerdings gezeigt, dass wesentlich kleinere räumliche Einheiten, nämlich bestimmte Architekturtypen und Wohnformen über die Aufrechterhaltung meiner Hypothese bestimmen. Abbildung 17: Gated Community des »Kleinen Mannes«

Bild: Andreas Thiesen

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Abbildung 18: Do Not Disturb – Geschlossene Gesellschaft

Bild: Andreas Thiesen

Abbildung 19: Deutschland: Land der Kippen und Kondome

Bild: Andreas Thiesen

Der Einwand, dass die Fans der deutschen Fußballmannschaft nun einmal im gesamten Stadtgebiet Hannovers wohnen und Nationalismus milieuübergreifend auftritt, verfängt nicht. Entscheidend ist etwas Anderes: Wenn sozialräumlicher Eigensinn (lediglich) auf urbanen Inseln stattfindet, verbietet sich eine vorschnelle Kontextualisierung von milieuspezifischer Alltagskultur und Stadtteilgeschichte (vgl. Kap. Diffe-

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renzen und Leipzig). Entsprechende sozialwissenschaftliche Verallgemeinerungen werden auf diese Weise möglicherweise unzulässig. Wie es sich mit anderen Facetten der »feinen Unterschiede« (Bourdieu) einer Gesellschaft verhält, wäre demnach noch empirisch zu prüfen. Abbildung 20: Blinder Nationalstolz raubt den Bewohner* innen dieses Hauses die Sicht

Bild: Andreas Thiesen

Auch wenn in den wohlhabenden Stadtteilen deutlich weniger geflaggt wird, so finden sich stadtweit in den kleinräumigen Bezügen die gleichen Entsprechungen. Der von Geranien und Rollos abgeschirmte Hochhausbalkon ist ein relativ autonomer Mikrokosmos, der überall stehen könnte. In Hannover-Mühlenberg ist er die Regel, andernorts eine Randerscheinung. Jedoch ist die Fahnendichte auf acht Quadratmetern mitunter höher als in manchem Stadtteil.

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Abbildung 21: Autonome Autochthone

Bild: Andreas Thiesen

Abbildung 22: Mobile Identität: Schland am Fahrrad

Bild: Andreas Thiesen

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Haben wir mit Leipzig und Hannover in zwei deutschen Großstädten ganz eigene Konzeptionen sozialräumlicher Identität gefunden, durchstreifen wir im folgenden Kapitel unterschiedliche Zwischenräume einer lateinamerikanischen Großstadt. Lassen wir also zur Kontrastierung der urbanen Provinz die Sozialreportage in einer Metropole für sich sprechen.

B UENOS AIRES Buenos Aires. Das »Paris Lateinamerikas« bietet neben Tango, Steaks und fanatischen Fußballfans noch viele weitere Klischees. Was aber, wenn tatsächliche und vermeintliche Wissensbestände ausgeblendet werden? Die Wahrscheinlichkeit, dass ganz alltägliche Räume der Metropole – konkret: Zwischenräume – zum Vorschein kommen, steigt. Vor einigen Jahren hatte ich dank Unterstützung der Hans-BöcklerStiftung Gelegenheit, ethnografische Erkundungen in Buenos Aires zu unternehmen. Die folgenden Zeilen sind Reflexionen meiner Erfahrungen in urbanen Zwischenräumen, Erzählungen von trivialen Begegnungen mit Menschen, die weder in San Telmo noch La Boca wohnen. Dabei geht es mir in erster Linie um die Vermittlung einer offenen Forschungshaltung.25

25 Überarbeitete Fassung eines bereits erschienenen Essays in MATICES H. 67, 2/2011, S. 54-56.

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Abbildung 23: Mann mit Kind auf Fahrrad nahe der informellen Siedlung »Villa 31«

Bild: Andreas Thiesen

Ankunft Die Fahrt vom Aeropuerto Internacional Ministro Pistarini in Ezeiza ins Zentrum von Buenos Aires führt mich zunächst durch den Gran Buenos Aires, den metropolitanen Großraum. Die Metropolregion, die zu den größten Lateinamerikas zählt, besitzt nicht nur wirtschaftliche Relevanz. Die sozialen Unterschiede bilden sich zum Teil deutlicher ab als in der Hauptstadt. Zahlreiche Gated Communities und Country Clubs finden sich hier ebenso wie eine Vielzahl villa miserias, die argentinische Version der globalen Elendsquartiere. Wann immer ich den Blick in die Ferne richte, erstreckt sich ein physisches Amalgam aus Beton, Glas und Stahl, das sich jeder städtebaulichen Struktur zu entziehen und allein auf sozioökonomische Funktionalität ausgerichtet zu sein scheint. Angekommen im Stadtteil Versalles, steige ich in einen Kleinwagen um, der mich nach Palermo bringen soll, wobei »Palermo«, so

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lässt mich der Beifahrer wissen, angesichts seiner räumlichen Ausdehnung und seiner unterschiedlichen Quartiere eine sehr ungenaue Zielbeschreibung darstellt. Palermo Palermo ist gemessen an seiner Fläche der größte Stadtteil von Buenos Aires und unterteilt sich in die Barrios Palermo Chico, Barrio Parque, Las Cañitas sowie Palermo Viejo mit seinen Mikroquartieren Palermo Soho und Palermo Hollywood. Letztere sind als »hippe« Viertel der Boutiquen und Kneipen vor allem bei der – seit der Wirtschaftskrise Ende der 1990er Jahre deutlich dezimierten – Mittelschicht beliebt. Vor allem Palermo Soho ist ein Ort des juvenilen Nachtlebens. Die Alternativität, die hier repräsentiert wird, muss man sich leisten können. Meine Unterkunft befindet sich in der Straße República de la India, die den Jardín Zoológico im Osten begrenzt. Dort werde ich Zeuge einer sonderbaren Alltagspraxis: Als folgten sie einem ungeschriebenen Gesetz, gehen Bewohner*innen des Viertels grundsätzlich auf der breiteren, die Häuser begrenzende Seite der Straße entlang. Hier finden sich zahlreiche Restaurants und Boutiquen. Die deutlich ärmeren Protagonist*innen – unter ihnen Mitarbeiter*innen des städtischen Zoos, Cartoneros, Hundeführer*innen oder Jugendliche – nutzen die zum Zoo gelegene, engere Straßenseite. Die Appartements beherbergenden Wohnsilos an der República de la India gleichen jeweils eigenständigen Gated Communities: 24 Stunden sichert Wachpersonal den Eingangsbereich. Fast alle Häuser verfügen über eine solche Concierge. Ständig piept eine Sirene, leuchtet eine Lampe neben einer Garageneinfahrt rot auf. Irgendwann verstehe ich den Zweck der Warnung vor heraus- oder hereinfahrenden Mittelund Luxusklassewagen. Ich passe von nun an besser auf und vermeide ein allzu achtloses Flanieren. In dieser Nachbarschaft schlendert ohnehin niemand die Straße entlang. Die Einzigen, die nicht umher eilen, sind wohlhabende Eltern, die unmittelbar vor dem Eingangsbereich der Häuser mit ihren Kindern spielen, und ins Gespräch vertiefte Juden auf

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dem Weg in die lokale Synagoge oder Toraschule. Die Synagoge gleicht einem Hochsicherheitstrakt und ist nur auf den zweiten Blick als religiöse Einrichtung zu erkennen. Ich verbringe die nächsten zwei Wochen in Buenos Aires. Für die Dauer meines Aufenthaltes hat mir eine Bekannte ihre Wohnung überlassen. Alle paar Tage schaut einer der Brüder aus der Familie ihres Mannes Nico vorbei, aus der jeder Einzelne ein ausgewiesener Kirchner-Hasser ist.26 Nico erzählt mir eines Abends auf dem Balkon, in liberalen Zirkeln der Stadt werde gemunkelt, Nestor Kircher hätte nach einem Telefonat mit dem mächtigen Gewerkschaftsführer Hugo Moyano augenblicklich das Zeitliche gesegnet. Überhaupt scheint Kirchner nach seinem Tod im öffentlichen Leben präsenter als noch zu Lebzeiten: Auf unzähligen Häuserfassaden und Mauern erwecken Plakate und Graffitis den Eindruck einer hohen Solidaritätswelle im Land, wobei unklar bleibt, inwieweit es sich lediglich um das Werk der Kirchner-Jugend handelt. Doch selbst mein liberal gesinnter Balkongefährte Nico bringt seine Verwunderung über die hohe emotionale Anteilnahme nach dem Tod Kirchners in der argentinischen Bevölkerung zum Ausdruck, die er im drastischen Widerspruch zu der Realpolitik der Familie Kirchner sieht: Korruption, mediale Propaganda und eine ausgeprägte Vetternwirtschaft seien die Eckpfeiler der postperonistischen Politik. Patagonische Ländereien des früheren Gouverneurs der Provinz Santa Cruz seien sukzessive in Familienbesitz übergegangen. Für die Armen hätten die Kirchners außer der De-Privatisierung von Fußballübertragungen und der Bereitstellung kostenloser Fernsehgeräte seiner Ansicht nach praktisch nichts getan.

26 Zur Zeit meines Aufenthaltes in Argentinien war Cristina Fernández de Kirchner Präsidentin des Landes. Im Dezember 2015 folgte ihr der konservative Mauricio Macri ins Amt.

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Abbildung 24: Postperonistischer Heroismus

Bild: Andreas Thiesen

Die sozialen und kulturellen Kontraste in der unmittelbaren Nachbarschaft meiner Unterkunft lassen nicht lang auf sich warten. Widersprüche werden sichtbar. Um sie wahrzunehmen, muss ich das im siebten Stock gelegene Appartement nicht einmal verlassen. Ich sitze mit meinem Gastgeber auf dem Balkon und unterhalte mich über die Entwicklung der argentinischen Wirtschaftspolitik seit Carlos Menems »Modell« und der großen Krise vor 15 Jahren, als Nico auf ein von der Straße hochschallendes Geräusch mit der lakonischen Bemerkung »Der Catonero!« reagiert. Wir lehnen uns über die Brüstung, und ich sehe, wie eine Catonera auf der zum Zoo gelegenen Straßenseite einer Beschäftigung nachgeht, die seit der Krise zum festen Bestandteil des Stadtbildes von Buenos Aires gehört: Die städtischen Müllbestände werden nach verwertbaren Resten, vor allem nach Papier und Kartonagen durchsucht, um sie später zu verkaufen. Überhaupt gibt es in Buenos Aires unzählige Menschen, die sich auf der Suche nach »günstigen Gelegenheiten« durchschlagen. Viele von ihnen scheinen von den Gefälligkeiten der Mittelschicht zu leben: die Kinder, die mir eines Nachts die Taxitür aufhalten, der Blumenver-

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käufer im Rollstuhl, der während der Rotphase wie aus dem Nichts in der Mitte einer achtspurigen Straße auftaucht, und nicht zuletzt die »Parkwächter«. Immer wieder sehe ich Männer mittleren Alters vor Parklücken stehen, die ihre »Hilfe« anbieten. Für ein Trinkgeld »bewachen« sie Autos. Es ist ratsam, das vermeintliche Angebot nicht auszuschlagen, soll der Wagen unbeschadet bleiben. Flores und Villa 1-11-14 Nach Flores nehme ich das Taxi. Ich bin mit Mariel verabredet. Mariel hat in Flores als Lehrerin gearbeitet und wohnt im Nachbarquartier Floresta – eine ausgezeichnete Führerin in einer Gegend, in die sich nur selten Tourist*innen verirren. Die Taxifahrt führt mich von der Plaza Italia in Palermo zunächst in den Stadtteil Caballito. Es ist angenehm warm, die Scheiben des Wagens sind geöffnet. Im Radio läuft eine Coverversion des Bonnie Tyler-Hits »It’s a heartache«, intoniert von Rod Steward. Der Fahrer dreht den Lautstärkeregler bis zum Anschlag, und ich bin peinlich berührt. Später bringt er die Unterhaltung auf die Sprache und damit auf den kulturellen Stolz der kleinen Leute: Castellano, so lerne ich einmal mehr, ist mehr als eine Sprache, es ist eine Art zu leben und, davon abgesehen, die wichtigste Sprache der Welt. Mariel erwartet mich an der Haltestelle Primera Junta mit ihrem Auto, und von dort geht es in den Stadtteil Flores. Flores liegt südwestlich des Zentrums von Buenos Aires und zählt etwa 150.000 Einwohner. Der Schriftsteller César Aira hat die sozialen und kulturellen Abgründe des Stadtteils in »Die Nächte von Flores« vor dem Hintergrund der argentinischen Wirtschaftskrise beschrieben. Der Stadtteil gilt inzwischen als nicht mehr sichere Gegend, die Kriminalität hat an Auftrieb gewonnen. Als ich in Bajo Flores, dem südlichen Teil von Flores, einige Fotos schießen will, fordert mich der vor einer Schule abgestellte private Sicherheitsbeamte auf, die Kamera einzupacken.

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Abbildung 25: No-Go-Area für Gringos: Bajo Flores

Bild: Andreas Thiesen

In der Straße Carabobo lassen sich ethnische und soziale Segregation idealtypisch ablesen. Je südlicher der Straßenverlauf, desto deutlicher werden die Umrisse des Elendsviertels Villa 1-11-14. Während es im nördlichen Teil der Carabobo chinesische und koreanische Kleinsthändler zu bescheidenem Wohlstand gebracht haben, erstrecken sich im südlichen Teil die ersten Ausläufer der villa miseria. Die Verbindung zwischen Stadtteil und informeller Siedlung wird über die ethnische Ökonomie hergestellt. Peruanische und bolivianische Einwanderer aus dem Elendsviertel arbeiten für einen symbolischen Lohn in den asiatischen Supermärkten und Hinterhof-Werkstätten.

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Abbildung 26: Villa 1-11-14 nahe Flores

Bild: Andreas Thiesen

Einen Teil der Fotostrecke muss ich im Auto zurücklegen, da Mariel in dieser Gegend selbst bei Tag nicht für unsere Sicherheit garantieren kann. Doch obwohl wir im Auto sitzen und ich »aus der Hüfte« fotografiere, werden wir von Passanten beschimpft. Abasto Abasto liegt im Stadtteil Balvanera, im Westen des Zentrums von Buenos Aires. Ich treffe mich mit Alberto, einem plastischen Künstler, der sich in der zivilgesellschaftlichen Stadtteilinitiative Cultura Abasto engagiert. Ziele der Organisation sind der Erhalt des »kulturellen Erbes« von Abasto und die Stärkung des sozialen Zusammenhalts. Eines der wichtigsten Medien zur Kulturvermittlung ist der Tango. Argentiniens bedeutendster Repräsentant des Genres, die Tangolegende Carlos Gardel, grüßt von jeder zweiten Häuserfront.

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Abbildung 27: Carlos Gardel ist in Abasto allgegenwärtig

Bild: Andreas Thiesen

Der Staat unterstützt die Quartierserneuerung in Abasto. Ich nehme an einem Treffen von Cultura Abasto im Museo Carlos Gardel teil. Auf der Tagesordnung steht unter anderem das zehnjährige Jubiläum der Initiative. Außerdem soll ein Kulturatlas für das Quartier entworfen werden. Im Anschluss an das Treffen ist ein Rundgang durch Abasto mit Alberto angesetzt. Kleine Theater finden sich an jeder Straßenecke. Historische Häuser aus der Gründerzeit stehen wie selbstverständlich zwischen Neubauten und sanierungsbedürftiger Baumasse.

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Abbildung 28: Krämerladen in Abasto

Bild: Andreas Thiesen

Abasto ist ikonografisch ein ambivalenter Ort. In einem von der Regierung unterstützten Projekt wurden in einer verkehrsberuhigten Straße die Melodien alter Tangoklassiker an Hausfassaden gemalt. Ich frage Alberto, inwiefern sich der Tango als »nationales Kulturgut« eignet, die Identifizierung der multikulturellen Wohnbevölkerung mit ihrem Quartier herzustellen. Was, so möchte ich wissen, haben die bolivianos mit Carlos Gardel zu schaffen? Alberto bekräftigt, dass die öffentlichen Tangoinszenierungen durchaus auch die ärmeren Bewohnergruppen aus Peru, Bolivien und Paraguay ansprechen würden. Jene sind jedoch in erster Linie Kulturrezipient*innen, weniger aktive Akteure im Quartier. Cultura Abasto etwa wird von Künstler*innen, Geschäftsleuten und anderen Vertreter*innen der oberen Sozialmilieus getragen. Wem La Boca zu touristisch ist, sollte sich auf den Weg nach Abasto machen. Abasto vereint die in Buenos Aires allgegenwärtigen drastischen ökonomischen, sozialen, kulturellen und räumlichen Differenzen und strahlt zugleich ein hohes Maß an Vitalität aus. Ob sich der Eigensinn des Quartiers in den nächsten Jahren erhalten oder aber aus

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der verkehrsberuhigten »Straße des Tangos« ein zweiter Caminito wird, lässt sich noch nicht absehen. Sicherheitshalber sollte ein Besuch in Abasto nicht allzu lange aufgeschoben werden.

Aufgabe: Versuchen Sie, in der Sozialreportage Belege für das ethnografische Prinzip der Offenheit zu finden. Sie müssen zuvor das einführende Kapitel Empiritis gelesen haben.

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TRANSPONDER: TRANSFORMATIVE STADTFORSCHUNG Aus den hier vorgestellten empirischen Einblicken lassen sich Schlussfolgerungen für die Konzeption transformativer Stadtforschung ableiten. Darunter verstehe ich sowohl ein spezifisches Forschungsinteresse als auch ein Forschungsprogramm, dessen methodologische Überlegungen dem Forschungsgegenstand entsprechen. Abbildung 29: Transformative Stadtforschung

In gleichem Maße wie bei jedem Feldzugang von kleinräumigem Eigensinn und kulturellen Widersprüchen ausgegangen werden muss, kommen in der transformativen Stadtforschung paradoxe, kreative und vor allem qualitative Methoden zum Einsatz: Urbane Interventionen, Performances, Straßentheater, Fotografien, Flanieren etc. Durch An-

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wendung künstlerischer Methoden wollen wir der semiotischen Entschlüsselung eines Forschungsfeldes näher kommen. Sie bilden neben offenen Interviews, sozialräumlichen Beobachtungen und gezielten Begehungen eine wesentliche methodische Stütze. Das bewusste Spiel mit sozialräumlichen Zeichen ermöglicht somit die Herstellung einer transkulturellen Werteöffentlichkeit: Wie reagiert die Stadtteilbevölkerung auf symbolische Interventionen? Inwieweit führt deren Einsatz zur Irritierung, Reflexion und Veränderung vermeintlich eindeutiger Vorstellungen von Stadtteilidentität? Dabei geht es nicht um »Vorführung« unterschiedlicher Stadtteilprotagonist*innen, sondern um Spiegelung ihrer eigenen »Texte« durch Partizipation (vgl. (Thiesen/ Götsch/Klinger 2012). Dazu ist es erforderlich, Interviews so zu konzipieren, dass genügend Raum zur Selbstreflexion durch die Befragten besteht. Zudem können sie direkt oder indirekt in symbolische Interventionen eingebunden werden. Was in den hier dokumentierten empirischen Proben zum Ausdruck kommt, ist eine methodologisch begründete Offenheit, die sich entscheidend auf den sozialräumlichen Erkenntnisgewinn auswirkt. So haben wir in einem Master-Seminar unter der Überschrift »Kleider machen Räume. Sozialräumliche Ästhetik im Leipziger Stadtbild« kulturelle Phänomene residentieller Segregation untersucht. Für gewöhnlich bestimmt die Stadtsoziologie Segregation entlang sozialer, ökonomischer, ethnischer oder demografischer Kriterien. Angesichts zunehmender urbaner Diversität hängen individueller Einschluss und Ausschluss heute jedoch auch von der Repräsentation spezifischer Lebensstile im öffentlichen Raum ab. Die Frage nach der kulturellen Deutungshoheit in kleinräumigen Einheiten gewinnt damit an Bedeutung. Handlungsleitend war die Fragestellung, inwieweit sich in Leipzig eine spezifische kleinräumige Ästhetik zeigt. Dabei sind verblüffende Zeugnisse sozialräumlichen Eigensinns entstanden: eine Sammlung visueller Narrationen, die ästhetische Zwischenräume offenlegt. Spezifische Kleidungsstile konnten nicht pauschal und eindeutig »typischen« Quartieren zugeordnet werden, sondern schon eher dem Lebensalter. Daraus folgt freilich nicht die vorschnelle Einsicht, dass äs-

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thetische Kriterien für die Definition von Segregation keine Rolle spielen,27 sehr wohl dagegen ein Plädoyer für eine sorgfältige Analyse sozialräumlicher Diversität. In dem Maße also, indem sie eine diversitätsbewusste Methodologie der feldspezifischen Offenheit anbietet, bildet transformative Stadtforschung eine programmatische Symbiose mit der Theorie sozialräumlicher Transformation. Verlassen wie nun die Ebene der Empirie und widmen uns jener Sphäre, der in der angewandten Sozialwissenschaft zu Recht die größte Bedeutung gebührt: der Praxis.

27 Eine einwöchige Feldexpertise in Leipzig-Paunsdorf bildet noch keine Antithese zu urbaner Diversität.

PRXS »Was Du auch machst, mach es nicht selbst, auch wenn Du Dir darin gefällst.« TOCOTRONIC: MACHT ES NICHT SELBST

Nachdem wir mit Hilfe transdisziplinärer Theoriebildung und empirischer Neugier das Konzept der sozialräumlichen Identität in den vorangegangenen Kapiteln hinterfragen konnten, ist es an der Zeit, den »Praxistest« zu machen. Wer hin und wieder eine Fachkonferenz im Bereich der Sozialen Arbeit besucht, wird sich darin erinnern, dass nach Impulsreferaten, der Vorstellung aktueller Forschungsergebnisse und arbeitsintensiven Workshops spätestens im Schlussplenum eine unnachgiebige und dennoch aufrichtige Frage zu ihrem Recht kommt: »Und was bedeutet das jetzt für die Praxis?« Diese Frage hat schon manche*n Wissenschaftler*in auf dem Podium ins Schwitzen gebracht, suggeriert sie doch Verständigungsprobleme. Auch ein Buch, das sich der Reflexion sozialer Stadtentwicklung verschrieben hat, kommt an dieser Frage nicht vorbei. Vor mehr als zehn Jahren hat Maja Heiner in einem Beitrag zur Professionsforschung unter anderem die Bedeutung der Reflexion für die Verarbeitung von Wissen hervorgehoben. Sie unterscheidet drei

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zusammenhängende Wissensebenen: wissenschaftliches Wissen, berufliches (Erfahrungs-)Wissen und aktuelles Alltagswissen (Heiner 2004: 44). Zu ergänzen wäre viertens subjektives Erfahrungswissen, also Habitus, Mentalität, Kultur (vgl. Kap. Differenzen). Die so entworfene sozialarbeitswissenschaftliche Arbeitshilfe eignet sich nicht nur zur transprofessionellen Übertragung, sie kann sogar in semiprofessionellen und laienhaften Kontexten angewendet werden. Dadurch gewinnt sie für unsere Thematik an höchster Relevanz (vgl. Kap. Stadtplanung, Stadtbewegungen und Stadtteilarbeit). In gleichem Maße wie etwa ein Jurist eine fragwürdige professionelle Haltung an den Tag legt, der in einem Prozess einzig seiner Rhetorik vertraut (berufliche Erfahrung), letzte Novellierungen seines Faches (wissenschaftliches Wissen) hingegen ebenso ignoriert wie den einschlägigen Leitartikel einer Tageszeitung (aktuelles Alltagswissen) und seine Gefühlslage (Habitus), hinterlassen beispielsweise semiprofessionell agierende Bürger*inneninitiativen, die zuvorderst aus ihrer eigenen Betroffenheit heraus Protest artikulieren (Habitus), darin vielleicht geübt sind (»berufliches« Praxiswissen), jedoch gesellschaftliche Stimmungen (aktuelles Alltagswissen) ebenso wenig kennen oder zur Kenntnis nehmen wie deren politische Analyse (wissenschaftliches Wissen), einen faden öffentlichen Beigeschmack. Dem Laien schließlich bleiben nur die Ebenen des subjektiven Erfahrungswissens und des aktuellen Alltagswissens zur Beurteilung gesellschaftlicher Zusammenhänge. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, weshalb die vier Wissensebenen nicht isoliert voneinander angelegt sind: Subjektives Erfahrungswissen (1) ist wichtig, spendet ebenso wie die »Verdaulichkeit« aktuellen Alltagswissens (2) nicht nur in beruflichen Zusammenhängen Orientierung und ist in professionellen Settings im Zusammenspiel mit beruflicher Routine (3) die wesentliche Quelle der Intuition. Intuitives Handeln allein würde allerdings die wissenschaftliche Ebene (4) aus dem Spiel bringen; die Konsequenz wäre die Absenz des reflexiven Bezugsrahmens, wobei freilich auch die wissenschaftliche Ebene selbst reflektiert gehört! Wenn also wissenschaftliches, berufliches, alltägli-

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ches und habituelles Wissen nicht als Einheit konsultiert und reflektiert werden, bleibt immer ein heuristisches Vakuum. Die bisherigen theoretischen und empirischen Reflexionen finden in diesem Kapitel in Praxisfeldern der Stadtentwicklung geeignete Resonanzböden. Dabei geht es mir nicht um die Aneinanderreihung von »Best-Practice-Beispielen« zukunftsweisender Stadtkonzepte, sondern vielmehr um eine verständliche Kritik hegemonialer urbaner Gestaltungspraktiken, die sich in sämtlichen Arenen mit Stadtentwicklungsanspruch abbilden. Mit anderen Worten: Weder in den Planungsbüros der Kommunalverwaltung noch auf den Spielwiesen stadtbewegter Interventionen und auch nicht in den intermediären Institutionen der Stadtteilarbeit findet bislang eine erkennbare Auseinandersetzung mit den eigenen reproduktiven Vorstellungen von Urbanität statt. Die Überschrift dieses Kapitels bedarf einer Erläuterung. In den letzten Jahren hat sich eine Form popkultureller Sprachcodierung etabliert, die ohne Vokale auskommt. Was sich als BCHSTBN für gewöhnlich nur interessierten Subkulturen erschließt, entfaltet in der Praxis der Stadtentwicklung gegenteilige Wirkung – womit ich wieder auf Heiner zurückkomme: Professionelles Handeln sollte über die Selbstbestätigung routinierter Expert*innen hinausweisen, transparent und nachvollziehbar sein. Unter PRXS verstehe ich deshalb eine Praxis der Stadtentwicklung, die auf Reflexionen verzichtet. Eine solche PRXS bleibt verschlossen gegenüber aktuellen wie historischen Wissensbeständen und wird dadurch anfällig für Denkirrtümer und Fehlplanungen. Von PRXS betroffene Praktiker*innen sollten sich die oben zitierte Gretchenfrage selbst stellen, indem sie sich vergegenwärtigen, was PRXS für die Praxis bedeutet. Entlang der Zentrallinien kooperativer Stadtentwicklung exzerpiere ich am Beispiel Stadtplanung, Stadtbewegungen und Stadtteilarbeit unterschiedliche Praxiskonzepte, um sie zugleich in den theoretischen Gesamtrahmen dieses Buches zu setzen.

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S TADTPLANUNG Die wachsende Nachfrage nach innerstädtischem Wohnraum hält europaweit an. Zugleich ist die führende europäische Stadtentwicklungsstrategie der baulichen Nachverdichtung gescheitert. Stadtentwicklung findet heute im hochpreisigen Wohnsegment statt. Die letzten Baulücken werden zeitnah erschlossen sein, der ökologische Treibstoff der Stadt geht dadurch zuneige. Die bisherigen Konzepte europäischer Stadtplanung greifen zu kurz: Weder Suburbanisierung noch Nachverdichtung befriedigen die Nachfrage nach Wohnraum. Menschen verbinden mit urbanem Leben vor allem innerstädtisches Wohnen, den Puls, den Trubel, die Dynamik des Stadttreibens. Nicht grundlos fahren die meisten Menschen lediglich durch Vororte. Das Erschließen von Baulücken und Brachen wiederum gleicht dem Bild einer planerischen Einbahnstraße oder genauer: einer Sackgasse. Immer mehr und höhere Gebäude werden geschaffen, häufig für dienstleistende Gewerbetreibende. Dort, wo Wohnraum entsteht, herrscht das Diktat architektonischer Mittelmäßigkeit, entstehen Bauhaus-Würfel soweit das Auge reicht. Die Stadtplanung übersieht dabei, dass urbane Diversität per definitionem eine städtische Angelegenheit ist: So unterschiedlich sich die »Kulturen« von Stadtmenschen ausdrücken mögen, so gemeinsam ist ihnen die Liebe zur Großstadt ob ihrer Unberechenbarkeit – und zwar auch der baulichen!28 Das Ende der Nachverdichtung ist also begriffsinhärent. Auf mittelfristige Sicht wird den Städten deshalb ihr Innovationspotential verloren gehen, die sozialen Folgekosten werden ansteigen und das ökologische Gleichgewicht der Stadt in Gefahr sein. Jene, die sich das Stadtleben nicht mehr leisten können, müssen schon heute vielerorts in entlegene Stadtteile ausweichen. Die Zukunftsfähigkeit der europäi-

28 Auf das Zusammenspiel sozialer wie kultureller Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Begriff der Diversität hatte ich an früherer Stelle verwiesen (vgl. Kap. Theorié).

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schen Stadt (vgl. Siebel 2004; Frey/Koch 2011) wird jedoch von ihrer sozialen, baulichen, ökonomischen und ökologischen Durchlässigkeit abhängen. Der Einzug der Agrikultur in die Stadt hat zur Folge, dass Landwirtschaft zunehmend zur Stadtwirtschaft wird. Neben dem globalen Versorgungsaspekt liegt in dieser Entwicklung ein sozialanthropologisches Moment: Menschen sehnen sich nach urbanen Lichtungen. Denn auch wenn gläserne Bürotürme Schatten spenden, möchte niemand im Hochsommer frieren. Abbildung 30: Stadtluft machte nie freier29

Bild: Art Streiber/Five TV; Quelle: http://www.theguardian.com/ culture/ tvandradioblog/2008/may/29/csiwithoutatracecrossovers, Zugriff: 30.01.15.

Transcity Transformative Stadtentwicklung bildet heute eine der wichtigsten stadtpolitischen Diskurslinien (vgl. exemplarisch UFZ 2015), und in der Tat muss »Stadt« sowohl auf der Agenda- als auch auf der Steue-

29 Das Bild zeigt die Besetzung der TV-Serie »CSI New York« beim »Lunch atop a Skyscraper« auf der New York Bridge.

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rungsebene weitergedacht werden, hin zur Transcity. Dieser Begriff weist über den alten Gedanken der »integrierten Stadtentwicklung« weit hinaus. Hinter dem Modell der Transcity verbirgt sich nicht weniger als der Anspruch, den monokausalen Kreislauf einer auf Nachverdichtung, LEGO-Imitationen und Suburbanisierung setzende Stadtplanung zu durchbrechen.30 Bereits heute erproben zivilgesellschaftliche Stadtprojekte, die vielerorts als ernstzunehmende kooperative Akteure der Stadtentwicklung auftreten, interdependente Bau-, Wohn- und Arbeitsformen. Dadurch bieten sie konkrete Alternativen zur bisherigen Stadtentwicklung an (vgl. exemplarisch Mietshäuser Syndikat 2015). Stadtentwicklung europäischer Prägung muss anerkennen, dass es die kommunale Planungshoheit vergangener Dekaden, an der sich Jane Jacobs noch abgearbeitet hatte, nicht mehr gibt – und zwar im doppelten Wortlaut: Einerseits unterstreichen transnationale Förderprogramme wie »INTERREG« den Bedarf länderübergreifender Lösungsstrategien für (vermeintlich) lokale Probleme, da die stadtpolitischen Wirkungszusammenhänge von Themenfeldern wie Verkehr, Energie oder Wohnungsbau ebenso mehrfach verortet sind wie die sozialräumlichen Identitäten, die bekanntermaßen den Gegenstand dieses Buches bilden (BBR 2015, o.S.). Andererseits fordern von Istanbul bis Helsinki neue Stadtbewegungen ihr »Recht auf Stadt« ein. Ohne Anhörung und Beteiligung zivilgesellschaftlicher Initiativen ist heute in Europa keine soziale Stadtentwicklungspolitik mehr durchsetzbar, auch wenn sich der Professionalisierungsgrad zwischen den Stadtbewegungen zum Teil stark unterscheidet (vgl. exemplarisch Recht auf Stadt Netzwerk 2015 und Next Helsinki 2015). Hinzu kommt die wachsende Bedeutung der Privatwirtschaft bei Stadterneuerungsprozessen. So gesehen hinken die Hochschulen hinterher, wenn sie mit dem (scheinbar naheliegenden) Begriff des »Urban Management« operieren, da auf diese

30 Die Einführung der »LEGO-Architecture«-Linie kann in diesem Zusammenhang als unfreiwilliger Beitrag zur haptischen Architekturvermittlung begriffen werden.

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Weise, trotz der ihm inhärenten Differenzierungsmodi, nicht nur Stadtentwicklung zur »Chefsache« erklärt, sondern – entscheidender noch – eine tatsächliche prozessuale Steuerungsoption suggeriert wird (vgl. exemplarisch TU Berlin 2015). Die stadtpolitische Chiffre unserer Tage muss vielmehr »Urban Governance« lauten. Stadtentwicklung wird längst vertikal und horizontal zugleich organisiert, kostet nicht kalkulierbare Zeit und ist, wie uns zuletzt die Gezi-Proteste gelehrt haben, ergebnisoffen (vgl. Yücel 2014).

S TADTBEWEGUNGEN Ein Blick auf die neuen sozialen Stadtbewegungen wäre unvollständig ohne Berücksichtigung der für diese Bewegungen so prägenden Diskussion um Gentrification. Bereits in der Auseinandersetzung um räumliche Rechtsansprüche liegt jedoch ein schwerwiegender Denkfehler. Der Ruf nach »Freiräumen« im Kapitalismus lieferte schon immer zugleich die nötige Portion Skepsis (vgl. Thiesen 2012b). Wörtlich genommen gerät jenes Postulat in Konflikt mit den zentralen Argumentationslinien dieses Buches: Wenn Räume in Bewegung geraten, gilt dies ebenso für selbst ernannte Freiräume. Jene werden – was den urbanen Diskurs um Aneignung und Partizipation betrifft – vielmehr zu freien Räumen. Ihr dominanter kultureller Beitrag zur Entwicklung urbaner Sozialität kann nicht mehr ohne weiteres unterstellt werden. Freie Räume Die Fotografin Liz Hingley zeigt in ihrer Serie »›Under Gods‹. Stories from Soho Road« am Beispiel einer einzigen Straße in Birmingham die Bedeutung der Religionen für das multiethnische Quartier (Hingley 2015). Alle anderen Identitätsangebote im Paradigma Diversity scheinen hier zweitrangig (vgl. Kap. Theorié). Der urbane Raum der Soho Road wird zum »Ermöglichungsraum«. Als freier Raum bildet er lediglich die physische Fläche einer ergebnisoffenen Nutzung. Damit wird keine

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Gegenthese zur Transkulturalität gebildet. In der Soho Road kristallisiert sich vielmehr heraus, inwieweit sich die Diversitätskoordinaten verschieben können. Der Raum selbst ist nur als institutioneller Mikrokosmos relevant – als Gebets- oder Kulturhaus – und dennoch haben wir es hier nicht mit multikulturellen Klischees zu tun. Die Soho Road in ihrer heutigen Form ist das Ergebnis multiethnischer Migration und sozialräumlicher Aneignung. Eine asiatische anglikanische Priesterin, die Hingley zu Wort kommen lässt, beschreibt diesen Prozess so: »On the Soho road people used to say ›Oh I am from Bangladesh, Pakistan or Poland.‹ Now people say ›I am a Muslim, I am a Sikh, I am a Hindu, I am a Catholic, this is my identity.‹« (Hingley 2015). Die transkulturellen bzw. »überörtlichen« Bezüge dieser Menschen spiegeln sich in folgendem Bild mit dem Titel »The Premier League«, das drei muslimische Kinder zeigt. Auf der Rückseite der Zeitung des Jungen am linken Bildrand befinden sich die neuesten Sportnachrichten. Das Mädchen wagt den Blick über den Tellerrand, während der Junge am rechten Bildrand hin und hergerissen zu sein scheint zwischen elterlicher Tradition und Fußballkarriere (ebd.).

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Abbildung 31: Birmingham, Soho Road

Bild: Liz Hingley; Quelle: http://editforthemasses.de/wp-content/ uploads/ 2012/06/18-hingley-liz-under-gods-stories-from-sohoroad.jpg, Zugriff: 01.09.15.

Was folgt aus diesem kurzen Exkurs für die Analyse der neuen Stadtbewegungen? Der Gedanke liegt nahe, Gentrification als spezifisches Segregationsphänomen zu verstehen. Phänomenologische Überhöhungen der Kategorie Raum, wie sie in zahlreichen neuen Stadtbewegungen zutage treten, führen zu Reflexen der Selbstlokalisierung. Zwischen aufrichtiger Parteinahme für schwache Interessen im Quartier und dem Idealtypus einer Gemeinschaft als antimoderner Rückzugsort liegt mitunter nur ein schmaler Grat. Die häufig als lokale Abwehrkämpfe zu lesenden Initiativen im liebgewonnenen Kiez irritieren also auch deshalb, da sie mehr mit dem Stimmungsbarometer der so genannten Mehrheitsgesellschaft gemein haben, als ihre Organisator*innen offenbar ahnen (vgl. Kap. Leipzig).

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Abbildung 32: Freiräume erhalten!

Quelle: http://freiraum-erhalten.de/wp-content/themes/freestyle/ AIT /Framework/Libs/timthumb/ timthumb.php,qsrc=,hfreiraumerhalten.de,_wp-content,_uploads,_2015,_02,_FotoshootingStart seite. jpg,aw=1024,ah=450 .pagespeed.ce.ZZwU35_wXK.jpg, Zugriff: 01.09.15.

Segregation und Gentrification Spätestens die Nachricht, die ländlich geprägte Insel Sylt sei nun auch von »Gentrification« betroffen (Geisslinger 2014), wirft die Frage auf, ob die darin zum Ausdruck kommende analytische Unschärfe möglicherweise begriffsinhärent ist. Wohin das Auge hierzulande blickt, scheint es stadtpolitisch in Leipzig, Berlin, Hannover, Hamburg, Frankfurt a. Main oder München nur noch ein Thema zu geben. Einst in den 1960er Jahren von der britischen Stadtsoziologin Ruth Glass eingeführt (Breckner 2010), wurde der Gentrification-Diskurs in der neueren deutschsprachigen Literatur vor allem durch Jürgen Friedrichs (Friedrichs/Kecskes 1996), Jens Dangschat (2001) und Andrej Holm (2010a) geprägt. Die terminologische Stärke von Gentrification lag darin, dass der Begriff einst eine spezifische Form der Segregation maritimer Provenienz beschrieb. Jene »klassische Gentrification« (Holm 2010b) stellte »Aufwertung« und »Verdrängung« explizit in einen Zusammenhang mit dem Einfluss der Kreativwirtschaft. Verkürzt bedeutet dies: Künstler*innen siedeln als Pionier*innen in unattraktive Quar-

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tiere, deren subkulturelles Image zunächst Studierende, später die etablierten Milieus und zuletzt das Immobilienkapital anzieht. Der Hype befördert den Wandel, am Ende »kippt« der Stadtteil, wird zur bevorzugten Wohnlage und damit nur noch bezahlbar für Besserverdienende. Kann in einzelnen New Yorker oder Londoner Stadtteilen noch offensichtlich von einem Bevölkerungsaustausch gesprochen werden, fällt der Vergleich mit einem Stadtteil wie Hannover-Linden oder einer Kleinstadt wie Westerland schon auf Grund der räumlichen Größe (reden wir von Linden Nord, -Mitte oder -Süd? Von einzelnen Straßen oder von Mehrfamilienhäusern?), der stereotypen Symptome (z.B. »Hipsterdichte«) bzw. der Abwesenheit urbaner Typologie (Westerland) schon schwerer. Eine Biofiliale und vereinzelte Neubauten im Stile Le Corbusiers, deren Kaltmiete aus ersichtlichen Gründen über dem lokalen Mietspiegel liegen muss, stellen nicht einmal Symptome der Gentrification dar. Wir benötigen stichhaltige qualitative Daten, die den massenhaften Wegzug einkommensschwacher Haushalte nicht nur belegen, sondern in der Lage sind, rekonstruktiv einen Zusammenhang jener Wanderung mit Prozessen der Aufwertung herzustellen. Zudem kann ein Szenekiez allein kaum als konjunkturelles Barometer einer Stadt angesehen werden. Zwar ist Holm zuzustimmen, dass jenen Mieter*innen, die eine Mieterhöhung ökonomisch überfordert, nicht mit der Information geholfen sei, dass die Mieten andernorts noch viel höher seien (Holm 2010b), doch hilft ihnen ebenso wenig der Gentrification-Diskurs, der eine solche Anpassungsfähigkeit besitzt, das er mittlerweile für jegliche Form der durch »Aufwertung« ausgelösten »Verdrängung« steht. Verdrängung ist jedoch, zugespitzt, nichts anderes als die moralische Aufwertung von Segregation – Segregation wiederum konstitutiv für Urbanität. Ein »Verdrängungsverbot« impliziert den Ruf nach staatlicher Regulierung und missachtet die – wenn auch nicht immer berechenbaren – Selbstregulierungskräfte von Städten. Jene, die in Erinnerung an Henri Lefebvre ein »Recht auf Stadt« fordern, können das so nicht wollen.

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Schaufenster Die Goldenen Zitronen: Kaufleute 2.0.1, Album: Who’s bad, 2013 »Wir haben einen Laden aufgemacht auf unserem Platz. Du willst einen Laden aufmachen auf unserem Platz. Mach das Kulturprogramm. Ihr seid so schön skurril. Lecker Kaffee, lecker Kuchen. Blick auf die Elbe. Du sagst: Kapiert Ihr das denn nicht! Als Geschäftsfrau kann ich so nicht denken. Du sagst: Ich geh total gut um mit meinen Kellnerinnen. Mama und Papa sind auch immer sehr gut mit Lumpi umgegangen. Gebt den Menschen mehr Zeit. Und schenkt ihnen viel mehr Raum. Ist das schon Promo oder ist das noch St. Pauli? I had a dream. Wir haben einen Traum. Die Leute in unserer Umgebung zeigen sich durchweg offen. Von ihrem Schnaps und ihrem TV bin ich erstmal nicht so betroffen. Gebt den Menschen mehr Zeit. Und schenkt ihnen viel mehr Raum. Ist das schon Promo oder ist das noch St. Pauli? I had a dream. Wir haben einen Traum. Gebt den Menschen wieder mehr Zeit. Und schenkt ihnen viel mehr Raum. Zeit zum Machen, Zeit zum Lernen, Zeit zum Ändern. Was zum Teufel lässt sich erben? Wo muss ich mich da bewerben? Bewerbungsfilm, Bewerbungsbild, Bewerbungsstart, Bewerbungstot. Stillstandsverbot.

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Gebt den Menschen mehr Zeit. Und schenkt ihnen viel mehr Raum. Ist das schon Promo oder ist das noch St. Pauli? I had a dream. Wir haben einen Traum.«

Inzwischen muss der Wohnungsmarkt allerdings stellvertretend für sämtliche kapitalistischen Strukturprobleme herhalten. In mühevoller kleinräumiger Recherche wird beispielsweise die Anzahl der privaten Ferienwohnungen öffentlich angeprangert. Die entsprechenden Objekte tauchen als Marker in digitalen Karten im Internet auf. Das sozialpolitisch hergeleitete Argument stützt sich auf das »Zweckentfremdungsverbot«: Jene Wohnungen – in Berlin mehrere tausend – würden dem Wohnungsmarkt entzogen. Was bleibt, ist eine durchschaubare Kritik der so genannten »Touristification« (s. Holm 2015): Abbildung 33: Am spätmodernen Pranger: Airbnb

Bild: Alice Bodnar; Quelle: https://gentrificationblog.wordpress. com/ 2015/01/11/berlin-tausende-ferienwohnungen-trotz-zweck entfremdungsverbot/, Zugriff: 15.09.15.

Die Formulierung räumlicher Grundrechte hält den Reproduktionsbedingungen wettbewerbsorientierter Städte nicht stand. Auch aus dieser

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Perspektive müssen wir vorerst von einer Transformation des Raumes ausgehen (vgl. Kap. Theorié und Empiritis). Davon abgesehen sind Städte durchaus imstande, katalytische Wirkung zu entfalten. Megacities wie Mumbai oder Istanbul demonstrieren täglich ihr Resilienzvermögen. Auf die Selbstheilungskräfte der Städte zu vertrauen, hat nichts mit Kulturrelativismus zu tun; und natürlich ist der Mietspiegel in London nicht mit der Entwicklung in Hamburg oder Berlin zu vergleichen. Darum geht es auch gar nicht. Wir leben in Städten wegen ihrer Widersprüche, der machtvollen Augenblicke und des Unvorhersehbaren, kurz: ihrer begrenzten Planbarkeit! Wer von sozialem Wohnungsbau spricht, bedient Tautologien. Wohnen ist natürlich immer und für alle eine soziale Frage, aber haben wir den Herausforderungen der transformativen Stadt wirklich nicht mehr entgegenzusetzen als »Mietpreisbremsen« oder Forderungen nach »Milieubestandsschutz« (vgl. Kap. Stadtplanung)? Weniger Raum ist mehr Die Renaissance des Gemeinwesens ist alles andere als unproblematisch, da die regressive Gleichung »lokal = schützenswert« angesichts sozialräumlicher Transformation höchstens als Verklärung Bestand haben kann.31 Baukulturelle Authentizität im Zeitalter des Neokubismus zu fordern, entspricht der wenig geistreichen PRXS, in kernsanierten Altbauten posthum mit Stuckelementen zu spielen.32 Vieles spricht also dafür, auf die Verräumlichung sozialer Konflikte mit Strategien der Enträumlichung zu reagieren. Die »Global City« (Sassen) kennt keine physischen Grenzen. In letzter Konsequenz ausgedrückt: Die »Marke Hamburg« und das »Recht auf Stadt« sind letztlich nur Syn-

31 Ob die Speisekarte von bio-regionalen Anbietern mit Namen wie »Feinheimisch« wirklich den Angeboten der lokalen Subway-Filiale vorzuziehen ist, führt davon abgesehen allein konnotativ zu Konflikten (vgl. Feinheimisch 2015). 32 Für diese Kritik der Retrospektive danke ich Norma Brecht.

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onyme für eine positivistische Interpretation raumgebundener Identität. Die Differenzlinien verlaufen lediglich zwischen hochkultureller und subkultureller Kommerzialisierung (vgl. Hamburg Marketing GmbH 2015; Recht auf Stadt Netzwerk 2015). Die Aktionsformen jener neuen Stadtbewegungen gehören also ebenso auf den Prüfstand wie die ihnen zu Grunde liegenden stadtpolitischen Analysen. Letztere entpuppen sich häufig als Resultate einer diffusen und ressentimentgeladenen Kapitalismuskritik (vgl. exemplarisch Morawski 2014). Der Ethnologe Clifford Geertz hat in seiner »Dichten Beschreibung« darauf hingewiesen, dass die Suche nach einer adäquaten Entsprechung globaler Phänomene im ethnografischen Mikrokosmos illusorisch sei – und umgekehrt (Geertz 1983/87: 31f.).33 Ebenso verhält es sich mit der exemplarischen Brandmarkung krisenhafter Erscheinungen im Lokalen, sei es durch Denunzierung von Fast Food-Ketten oder Biomärkten. Strategien wie diese verkörpern Hoffnungslosigkeit und konterkarieren die eigentliche Forderung vieler Bündnisse nach einer sozialkulturell attraktiven und zugleich erschwinglichen »Stadt für alle«. Rufe nach so genannten Mietpreisbremsen oder nach »Milieuschutz« will ich gar nicht denunzieren, gleichwohl kommt in ihnen vor allem eines zum Ausdruck: Staatsgläubigkeit. Politik organisiert sich jedoch, wie zuvor deutlich gemacht, längst als Governance, als Zusammenspiel von zivilgesellschaftlichen Kräften, Verwaltung, Wirtschaft und Politik (vgl. Kap. Stadtplanung). Regierungen empfangen demnach weder Wunschlisten besorgter Bürger*innen, noch lassen sie sich ohne weiteres stürzen.

S TADTTEILARBEIT Wenn ich in diesem letzten PRXS-Kapitel auf die Rolle der Stadtteilarbeit in der sozialen Stadtentwicklung eingehe, dann, weil hier die re-

33 Eben diese Ungleichzeitigkeit spiegelt sich z.B. in der Leipziger Studie wider (vgl. Kap. Leipzig).

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produktiven Vorstellungen kleinräumiger Integration beispiellos zu Tage treten. Die alles bestimmenden Konzepte weisen eindeutig in die Richtung sozialräumlicher Identitätsbildung. Mit der Stadtteilarbeit bleibt daher eine entscheidende Spielerin auf dem Weg zur Transcity bislang unter ihren selbstreflexiven Möglichkeiten (vgl. Kap. Stadtplanung). Unter Stadtteilarbeit verstehe ich im Zeitalter kooperativer Stadtentwicklung semiprofessionelle und professionelle Beiträge, d.h. Stadtbewegungen und engagierte Einzelpersonen sowie intermediäre Stadtteilinstitutionen, insbesondere Gemeinwesenarbeit und Quartiersmanagement. Dabei fallen sowohl die Analyse als auch die Bewertung von Stadtentwicklungsprozessen auf beiden Seiten nahezu deckungsgleich aus (vgl. Kap. Stadtbewegungen). Selbst wenn sich auf den ersten Blick Strategien wie Abwertung (semiprofessionell) und Aufwertung (professionell) von Stadtteilen zu widersprechen scheinen, so gründen beide Konzepte in der Annahme, der lokale Raum sei konstitutiv für die gesellschaftliche Integrationsleistung. Der Gemeinwesenarbeit ging es stets darum, Sanierungsaktivitäten sozialverträglich zu gestalten. Bauliche Aufwertung wurde prinzipiell befürwortet und im Zusammenspiel mit kommunalen Wohnungsbauunternehmen ein partieller kleinräumiger »Bevölkerungsaustausch« nicht nur in Kauf genommen, sondern strategisch eingeplant. Das Argument der sozialen Befriedung leitete in der Regel die weiteren Überlegungen. Nebenbei wurde das Bild eines Stadtteils »im Aufbruch« medial vermittelt. Stadtbewegungen gehen ähnlich vor. Der einem Stadtteil zugeschriebene subkulturelle Status scheint durch »Invasion« von außen bedroht. Zugleich liegt in dieser Angst eine ökonomisch plausible Dimension: Die Spekulation mit Wohnraum hat dazu geführt, dass Sanierung heute vielerorts für »Luxussanierung« oder, moderater formuliert, für bauliche Aufwertung im hochpreisigen Segment steht. Gleichwohl transportiert die symbolische Überhöhung des Stadtteils (von dessen kultureller Überforderung ganz zu schweigen) auf Seiten der professionellen wie der semiprofessionellen Stadtteilarbeit unreflektierte Reaktionen. Es kann daher ganz und gar nicht ausgemacht

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werden, wer unter dem Strich die fortschrittlicheren Angebote macht. So nahm die im Jahr 2014 von der Bundesakademie für Kirche und Diakonie, der Bundesarbeitsgemeinschaft Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit, der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (Sektion Gemeinwesenarbeit) und der Stiftung Mitarbeit veranstaltete »GWA-Werkstatt« den Heimatbegriff in den Konferenztitel auf. Abbildung 34: Urbane Vertriebene

Quelle: http://dgsainfo.de/fileadmin/dateiablage/fg_po litik/140602-04-Programm__16._GWA_Werkstatt.pdf, Zugriff: 17.04.15

Das Beispiel der GWA-Werkstatt kann als Metapher für eine unreflektierte Konzeption der Stadtentwicklung gelesen werden, in denen ursprünglich sozialpolitisch konnotierte Forderungen (»Wohnungspoli-

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tik«) zu kulturellen Traditionsbeständen (»Heimat«) verkommen. Dabei ist unerheblich, ob in einem Panel mit Titel »Recht auf Heimat?« am Ende ein Fragezeichen steht. Entscheidend ist, dass die Beteiligten diese Art Wertediskurs überhaupt führen. Ein weiteres Beispiel für das konzeptionelle Dilemma der Stadtteilarbeit bietet die lokale Ökonomie. Jene gilt nach professionellem Verständnis als Eigenbegriff und wird in Fachzusammenhängen zumeist großgeschrieben (vgl. exemplarisch Elsen 2003; Hochschule München 2015). Die Lokale Ökonomie wird in der kommunalen Stadtentwicklung als Schlüsselkonzept wirtschaftlicher Impulse verstanden. Die »Best-Practice-Beispiele« sind zwar häufig stereotyper Prägung und betreffen in der Regel den Dritten Sektor (vgl. Kap. Prospektiven). Ich will jedoch auf etwas anderes heraus: Mit der Ansiedelung eines größeren Unternehmens würde in der professionellen Stadtteilarbeit unter anderem überregionale Prosperität verbunden, während Stadtbewegungen den Niedergang der lokalen Kleinstökonomie befürchteten. Im ersten Fall haben wir es mit strukturellen und rationalen Argumenten zu tun, im zweiten Fall mit emotionalen und irrationalen Impulsen. Professionelle und semiprofessionelle Handlungskonzepte der Stadtteilarbeit lassen sich vergleichend gegenüberstellen. Auf diese Weise treten gemeinsame, aber auch antagonistische Ansätze an die Oberfläche (s. Tab. 3):

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Tabelle 3: Handlungskonzepte professioneller und semiprofessioneller Stadtteilarbeit

Professionelle Stadtteilarbeit

Soziale Stadtbewegungen

Soziale Stadt

Recht auf Stadt

Quartiersmanagement

Urbane Interventionen

Bürgerbeteiligung

Aneignung

Durchmischung

Stadt für alle (Leipzig)

Mietergärten

Urban Gardening

Stadtteilmarketing

Subkulturalisierung

Lokale Ökonomie

lokale Ökonomie

Heimat

Zuhause

Aufwertung

Abwertung

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Historische Ungleichzeitigkeiten spielen bei der Betrachtung der Tabelle nur eine untergeordnete Rolle. Die »Mietergärten« sind in der Gemeinwesenarbeit ein alter Hut. Niemand wäre auf die Idee gekommen, in diesem Zusammenhang von »Urban Gardening« zu sprechen. Die »Soziale Stadt« als städtebaulicher Wendepunkt in der bundesdeutschen Stadtentwicklung datiert auf Ende der 1990er Jahre. Dennoch formulierte Lefebvre bereits in den 1960er Jahren »le droit à la ville« (Holm 2011: o.S.; vgl. auch Harvey 2013); die Geburt des Gentrification-Begriffs fällt ebenfalls in diese Zeit (vgl. Kap. Stadtbewegungen). Stadtteilarbeit unterscheidet sich also im Wesentlichen entlang ihres Institutionalisierungsgrades und ihres Organisationsverständnisses. Partizipation wird im professionellen Gebrauch kaum ohne Moderation und ein bestimmtes Machtgefälle auskommen. Die gemeinsam mit Bewohner*innen oder anderen Akteuren zu entwickelnden Ideen sind also immer bereits durch (kommunal)politische Planung vorgedacht. Stadtbewegungen reflektieren diese bereits vielerorts. Die Ansätze professioneller und semiprofessioneller Stadtteilarbeit weisen in vielen Bereichen gemeinsame Denklogiken auf, auch wenn die Begriffe jeweils andere sind. Selbst Stadtteilmarketing und Subkulturalisierung sind nur zwei Seiten derselben Hype-Medaille (vgl. Kap. Stadtbewegungen). Trennscharfe Linien konzeptioneller Gegensätzlichkeit zeich-nen sich hingegen in den Bereichen Quartiersmanagement vs. Urbane Interventionen, Bürgerbeteiligung vs. Aneignung, Lokale Ökonomie vs. lokale Ökonomie, Heimat vs. Zuhause und natürlich Aufwertung vs. Abwertung ab. Von echtem konzeptionellen Antagonismus kann allerdings erst die Rede sein, wenn eine »Seite« Bereitschaft signalisiert, das gemeinsame Fundament sozialräumlicher Identität zu erschüttern.

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T RANSPONDER :

REFLEXIVE

S TADTBEWEGUNGEN

Wir haben gesehen, dass professionelle und semiprofessionelle Vorstellungen von Stadtentwicklung mitunter näher zusammenliegen können als es die jeweiligen Selbstbilder zulassen: Professionelle Stadtteilarbeit – ob in öffentlicher oder privater Trägerschaft ist hier nicht entscheidend – und soziale Stadtbewegungen transportieren beide positive Sozialraumbezüge, wenn auch mit unterschiedlichen Intentionen: Während der alte und konzeptionell grundsätzlich legitime Gedanke der sozialen und ethnisch-kulturellen »Durchmischung« noch immer identitätsstiftend für das professionelle Selbstverständnis kommunaler Stadtteilarbeit ist, ohne dass allein der Terminus einer sprachkritischen Reflexion unterzogen würde, entwickeln soziale Stadtbewegungen mitunter eine Art Klassismus von unten, der wenig gemein hat mit emanzipatorischer Gesellschaftskritik. Vielfalt meint hier nicht immer die Vielfalt der Andersdenkenden. Mit anderen Worten: Die einen verbinden mit Aufwertung überwiegend Chancen, die anderen Risiken. Durch das Paradigma der Gentrification werden professionelle Akteure der Stadtteilarbeit wie Gemeinwesenarbeit oder Quartiersmanagement ihre bisherigen Ansätze möglicherweise überdenken. In der Folge könnten wie in Hamburg-St. Pauli Allianzen mit sozialen Stadtbewegungen stehen, wo die Gemeinwesenarbeit bereits im Jahr 2009 einen Film über Gentrification im Stadtteil produziert hat (Empire St. Pauli 2009). Kommunale Stadtteilarbeit, die durch ihren öffentlichen Auftrag auf Beteiligung angewiesen ist, wird sich gegen neue Bündnispartner*innen nicht sträuben; Stadtbewegungen mögen in dieser Hinsicht kritischer diskutieren. Die entscheidende Frage ist jedoch folgende: Welchen Beitrag zur Transcity leistet ein gesellschaftspolitisches Bündnis, das am Konzept sozialräumlicher Identität festhält? Wenn wir bedenken, dass gesellschaftlich spürbare politische Veränderung historisch schon immer von sozialen Bewegungen unterschiedlichster Prägung ausgegangen ist, so scheint mir abschließend im Aufbau reflexiver Stadtbewegungen der wertvollste Beitrag zur transformativen Stadtentwicklung zu liegen.

Prospektiven »My third eye seen it coming before it happen.« GZA FEAT. METHOD MAN: SHADOWBOXIN

Unsere Gedanken mögen bis zu diesem Punkt immer wieder um bestimmte Stadtteile oder Quartiere gekreist sein. Wir haben die in diesem Buch eröffnete Kritik sozialer Stadtentwicklung mit uns scheinbar vertrauten sozialräumlichen Praktiken nah und fern unserer eigenen Wirkungszusammenhänge verglichen. Und natürlich plagen uns Zweifel: Wie sollen wir die Transformation des Raumes an Orten nachvollziehen können, deren Praxis dieser Diagnose diametral entgegenzustehen scheint. Möglicherweise denken wir an die sozialökonomischen Eigendynamiken von Favelas in Rio de Janeiro, Barrios in Caracas und Villa Miserias in Buenos Aires und kommen zu dem Schluss: Wo, wenn nicht hier, muss von einer ausgeprägten Bedeutung des Sozialraumes für das kulturelle Bewusstsein der Bewohner*innen ausgegangen werden? Uns fallen die »üblichen verdächtigen« Kieze in den Städten ein, die wir meinen, wie unsere Lieblingsmusik zu kennen, da wir hier seit Jahren arbeiten oder leben oder beides. Als ich bei einem Freibadbesuch feststellte, dass sich die milieuspezifischen Wahlverwandtschaften im Sozialraum der Außenanlage beinahe lehrbuchartig abbildeten und die Bewohner*innen des angrenzenden, seit Jahren

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»verrufenen« Stadtteils das Bild dominierten, wirkte ein Konzept wie Transkulturalität auf mich plötzlich wie einem Science Fiction-Film entnommen. Und so berechtigt uns Einwände wie diese auf den ersten Blick vorkommen, desto geeigneter sind sie, unseren kultursensiblen Blick zu trüben. Schließlich geht es um etwas Anderes: Erstens übersehen wir bei derlei Feststellungen ihren selbstreferentiellen Gehalt. Wir haben schließlich immer gewusst, dass wir in »unseren« urbanen Räumen Expert*innen sind. Innerhalb dieser selbstreflexiven Festung ist Selbstkritik allerdings nicht mehr möglich. Zweitens müssen wir uns daran erinnern, dass die Transformation des Raumes erst aus diachroner Perspektive verständlich wird. Das Ungleichzeitige des Gleichzeitigen, die Präsenz überlieferter Wissensbestände in unserem Urteilsvermögen, schreibt sich auch in den Eigensinn von Sozialräumen ein (vgl. Brose 2010). Wenn in der Soho Road in Birmingham andere als räumliche Identifikationsrahmen dominieren, bedeutet dies nicht, dass dieser Prozess exemplarisch für andere Quartiere, auch nicht innerhalb Birminghams, stehen muss (vgl. Kap. Stadtbewegungen). Im Gegenteil können wir drittens davon ausgehen, dass sich die Transformation des Raumes umso mehr verzögert, je stärker sozialräumliche Zuschreibung betrieben wird. Ob »Problemviertel«, »Brennpunkt« oder »Stadtteil mit besonderem Entwicklungsbedarf« (wie in der Lesart der Sozialen Stadt-Programmatik): Es ist kaum verwunderlich, dass auf die Etikettierung von außen die Selbstetikettierung folgt und Jugendliche in Youtube-Clips ihrer eigenen Postleitzahl huldigen. Dabei muss klar sein, dass es keine sozialen Brennpunkte gibt. Sie sind das Ergebnis normativer Bewertungsmaßstäbe von Stadtentwicklung. Die sozialräumliche Innenperspektive kann jedoch durchaus von der Außensicht abweichen. Wer sich einmal für eine längere Zeit in so genannten Brennpunkten bewegt hat, weiss um standortabhängige Deutungsdiskrepanzen. Die Transformation des Raumes wird viertens und abschließend durch konzeptionelle Doppelbödigkeit erschwert. Mit welchem Recht verweisen wir Menschen mit eingeschränkten Zukunftsperspektiven auf ihre vermeintlichen sozialräumlichen vier Wände?

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Ein Ausflug in die PRXS Sozialer Arbeit bringt vielerorts reproduktive Strategien an die Oberfläche. Jugendlichen mit niedrigen oder fehlenden Schulabschlüssen, deren weiterer Lebensweg von der pädagogischen Deutungshoheit so genannter Case Manager*innen abhängt, wird »praktische Veranlagung« bescheinigt. Auf Stadtteilfesten besteht ihre Aufgabe in der Darbietung von Breakdance-Choreografien. Können diese jungen Menschen nicht mehr? Mit Bewohner*innen »benachteiligter« Stadtteile werden Müllsammelaktionen geplant, deren tugendhafter Imperativ kaum zu übersehen ist. Haben wir keine besseren Angebote? Migrantische Männer spielen bei Veranstaltungen auf exotisch klingenden Instrumenten, während ihre Frauen »typisches« Essen aus ihren »Heimatländern« zubereiten. Hallo, Transkultur?! Von der Frage einmal abgesehen, ob die Protagonist*innen von sich aus den Wunsch äußern, sich derart sozialräumlich zu beteiligen oder zuvor von Sozialarbeiter*innen »aktiviert« wurden, besteht die konzeptionelle Doppelbödigkeit darin, dass wir den als benachteiligt identifizierten Menschen in als benachteiligt identifizierten Stadtteilen nicht mehr zugestehen als sozialräumliche Identifizierung. Oder anders ausgedrückt: Wir stehen ihnen nicht das gleiche zu wie uns selbst – sozialräumliche Wahlfreiheit! Der Untertitel dieses Buches kündet von »reflexiver Stadtentwicklung«. Darin ruht das Versprechen, der Kritik Perspektiven – oder nüchterner formuliert – konzeptionelle Anregungen künftiger Stadtentwicklung folgen zu lassen. Um jene Prospektiven geht es in diesem Kapitel. Da wir den Stadtteil in seiner Funktion als Identitätsanbieter nicht länger überstrapazieren wollen, bleiben mindestens folgende Optionen: Prospektive 1: Vom Sozialraum zum Transkulturraum Die konzeptionelle Weiterentwicklung des Sozialraumes zum Transkulturraum erfordert eine kontinuierliche (professionelle) Auseinandersetzung mit eigenen habituell bedingten Einstellungsmustern. Ein daran anknüpfender öffentlicher und ergebnisoffener Diskussionsprozess

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bringt die in einem Stadtteil als relevant empfundenen kulturellen Identifikationsangebote an die Oberfläche. Als Initiatorin bietet sich die kommunale Stadtteilarbeit im Zusammenspiel mit Stadtbewegungen an. Da wir an den sozialräumlichen Wurzeln rütteln wollen, sollten an einem solchen Austausch nicht nur alle Bewohner*innen eines Stadtteils beteiligt werden, sondern zusätzlich jene, die sich temporär im Stadtteil aufhalten. Das »Hausrecht« und damit der Stellenwert sozialräumlicher Identität werden also verhandelbar. Dabei können sehr einfach gestellte und offene Fragestellungen helfen: Wofür stehe ich? Woran glaube ich? Was ist mir wichtig? So lassen sich mögliche sozialkulturelle »Gemeinsamkeiten« herauslesen, aus denen vorsichtig themenbezogene Wir-Identitäten abgeleitet werden können. Jenes »Wir« ist dann nur noch als Teilidentität denkbar und wird nicht mehr – wie es das Universalkonzept »sozialräumliche Identität« vorsieht – per se unterstellt. Für den wahrscheinlichen Fall, dass bei einem solchen öffentlichen Event informierte und planungskompetente Bürger*innen die Mehrheit der Anwesenden stellen, gilt es zu bedenken, dass auch die Verweigerung von Partizipationspraxis ein Statement sein kann. Dessen Interpretation sollte wiederum sensibel und unter Verwendung interaktiver Reflexionsrahmen angegangen werden: Stimmte das Beteiligungssetting? Welche Dominanzkulturen kommunizieren starke Interessen? Ist unser Angebot überflüssig, da Transkulturalität bereits gelebt wird? In diesem Zusammenhang gilt es auch den Einbezug geflüchteter Menschen zu berücksichtigen. Prospektive 2: Genuine Erwerbsarbeit Mit der Idee der Lokalen Ökonomie ist heute niemandem mehr geholfen (vgl. Kapitel Stadtteilarbeit). Wir kennen die selbst ernannten »Leuchtturmprojekte« aus den Stadtteilen hierzulande, die nur selten über den dritten und vierten Arbeitsmarktsektor hinausweisen. Das während der Projektlaufzeit erbaute Mauerwerk wird nach Ende der Förderperiode wieder eingerissen. Hochqualifizierte Ingenieure mit

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Migrationsgeschichte arbeiten in DIY-Fahrradwerkstätten auf Stundenbasis. Langzeitarbeitslose Frauen absolvieren subventionierte Umschulungsmaßahmen im gastronomischen Bereich der lokalen Umsonstökonomie. Schüler*innen »trainieren« ihre beruflichen Fertigkeiten in, den Herausforderungen einer hoch flexibilisierten Arbeitswelt nicht einmal ansatzweise nachempfundenen, »Berufsparcours«. Was all diese in Projekten steckenden Menschen benötigen, ist ein Ausbruch aus solchen Praktiken der Lokalen Ökonomie. Die Ermöglichung genuiner Erwerbsarbeit geht dabei mit der Transformation des Raumes Hand in Hand: Nur durch Überwindung sozialräumlicher Grenzmarker, d.h. durch Generierung sozialräumlicher Mobilität (in unterschiedliche Richtungen, also auch in den Stadtteil hinein!) wird »gute Arbeit« – um an die gleichnamige Gewerkschaftskampagne anzuknüpfen – realisierbar. Die Europäisierung des Lokalen wirft dabei Licht und Schatten zugleich: Einerseits erinnert uns die Konzeption des Europäischen Sozialfonds (ESF) daran, dass in Europa wirkliche Integration nach wie vor nur durch Erwerbsarbeit vermittelt wird; nach dieser Logik ist eben selbst die temporäre Beschäftigungstherapie der Lokalen Ökonomie gesellschaftlich anerkannter als gar keine Beschäftigung – so würdelos sie vielerorts daherkommen mag. Andererseits sieht die Europäische Beschäftigungsstrategie, die sich in allen makro- wie mikropolitischen Programmatiken widerspiegelt (ob nun in »Europa 2020« oder einem beliebigen ESF-Quartiersprogramm) die Anerkennung diversitärer Lebenswelten vor. Durch strategische Einbindung europapolitischer Mittel kann also im Sinne der eigenen »Klientel« ganz konkret transkulturelle Sozialpolitik betrieben werden. Prospektive 3: Reflexhafte Reflexionen Das zuvor Gesagte ist weder Praxisverdrossenheit noch durch den Mantel der Wissenschaft geschützter Beratungsambition geschuldet. Als ich vor einigen Jahren nach einem Vortrag, in dem es um die Bedeutung künstlicher Dummheit für eine diversitätsbewusste Praxis der

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Stadtentwicklung ging, mit der rhetorischen Frage konfrontiert wurde, ob ich das Auditorium für »dumm« hielte, war ich geschockt. Die Fragende hatte meine in den Vortrag bewusst eingebauten Beispiele reproduktiver Stadtteilarbeit als persönliche Kritik ihrer eigenen Praxis aufgefasst. Das war ganz und gar nicht meine Intention. Vielmehr gehe ich davon aus, dass sich das Erzielen von Lernfortschritten innerhalb unserer eigenen kulturellen Komfortzone als überschaubar erweist. Wirklicher Erkenntnisgewinn ist demnach nur möglich, wenn wir bereit sind, die Sphäre kognitiver Erwartbarkeit zu verlassen (vgl. Welzer 2014). In einem solchen Vorgehen scheint mir die einzige Möglichkeit zu liegen, den der PRXS innewohnenden Hang zur Selbstreferenz zu durchbrechen. Wir entwickeln auf diese Weise eine Grammatik der Praxisreflexion, nur dass der Positiv – Selbstbestätigung resp. Reflexe – nun zum »Negativ« wird, während der Komparativ dem erkennbaren Willen zur Reflexion entspricht und der Superlativ in der Anwendung Reflexhafter Reflexionen besteht. Abbildung 35: Grammatik der Praxisreflexion

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Die Grammatik der Praxisreflexion ist durchaus mit der Technikdifferenz asiatischer Kampfkunstformen vergleichbar:34 Während Anfänger*innen zunächst inkorporierte und in der Praxis wenig effektive Reflexe zur Konfliktlösung einsetzen (Selbstbestätigung), lernen sie nach kurzer Zeit bestimmte methodische Kniffe, die sie durch Wiederholung verinnerlichen (Reflexion) und die bei höheren Graduierungen auch unter Stress – übersetzt also unter Arbeitszeitverdichtung, Wettbewerbsdruck und Erfolgszwang – automatisiert abgerufen werden können (Reflexhafte Reflexion). Wir verlassen nun die Ebene sozialräumlicher Prospektiven, um im letzten Kapitel dieses Buches einen kurzen Blick auf die soziale Stadtentwicklung als Geschichte konzeptioneller Irrtümer zu werfen. In dieser kritischen abschließenden Betrachtung ruht gleichwohl die Hoffnung, ein neues Kapitel reflexiver Stadtentwicklung zu eröffnen.

34 Schon Pierre Bourdieu bezeichnete die Soziologie als Kampfsport (Carles 2008). Die Komplexität reflexiver Stadtentwicklungspraxis erfordert, um im Bild zu bleiben, eine Unterweisung in Mixed Martial Arts.

Ziel: Geschichte

Um den sozialpolitischen Ertrag subventionierter Städtebauförderung beurteilen zu können, müssen wir zunächst bedenken, dass die Einführung des Programms Soziale Stadt im Jahr 1999 eine Kehrtwende in der bundesdeutschen Stadtentwicklungspraxis einläutete (vgl. BMUB 2015). In der Einsicht, dass allein durch bauliche Aktivitäten die Eindämmung sozialräumlicher Spannungen wenig Aussicht auf Erfolg hat, wurde durch die Implementierung von Quartiersmanagements eine multiprofessionelle Tandemstrategie verfolgt. Fortan sollten Stadtplaner*innen und Sozialarbeiter*innen gemeinsam sozialräumliche Aufbauarbeit betreiben und zwar unter ausdrücklicher Beteiligung der Betroffenen selbst. Dabei lagen die Kernkompetenzen von Quartiersmanagements von Beginn an im Stadtteilmarketing. Stigmatisierende Labels wie »Brennpunkt«, »benachteiligter Stadtteil« oder »Konfliktherd« wurden durch die neue Zuschreibung »Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf« ersetzt. Die Bewohner*innen jener Gebiete adelte das Stadtteilmarketing, indem es sie positiv diskriminierte und Attribute wie bunt, vielfältig, kreativ, herzlich oder aktiv verwendete. Außerdem hingen nun regelmäßig EUFlaggen an den Wänden lokaler Veranstaltungszentren, da die aus dem Boden sprießende Projektkultur ohne Ko-Finanzierung aus den europäischen Strukturfonds kaum finanzierbar gewesen wäre. Wenn mit dem Quartiersmanagement als Schlüsselinstrument der neueren Stadtentwicklungspraxis hierzulande also davon ausgegangen wurde, »das Soziale« durch strategische Implementierung Sozialer

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Arbeit organisieren zu können, dann sollten wir, wollen wir über seinen »Erfolg« urteilen, die Ideengeschichte sozialer Stadtentwicklung nachzeichnen. Die Geschichte sozialer Stadtentwicklung ist gekennzeichnet durch konzeptionelle Stagnation. Von der Settlement-Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts über die Gemeinwesenarbeit Mitte des 20. Jahrhunderts bis zum Quartiersmanagement Ende des 20. Jahrhunderts (vgl. Holubec/Markewitz/Götze 2005): Immer geht es – bei aller Würdigung historischer Kontextbedingungen und, damit einhergehend, gradueller methodischer Veränderungen – um Aktivierung, Empowerment, Selbsthilfe, lokalistische Identifizierungsansätze und kleinräumige Imagepolitiken. Bezeichnenderweise befindet sich die Gemeinwesenarbeit über ein Jahrhundert nach Toynbee Hall und Hull House noch immer »auf dem Weg zu handlungsbezogenen Theorien« (Rothschuh/Spitzenberger 2010). Dieses theoretisch-konzeptionelle Dilemma nicht nur der Gemeinwesenarbeit, sondern ebenso der Sozialraumorientierung, hat mindestens drei Ursachen: Erstens konnten wir angesichts des in den 1980er Jahren durch Ulrich Beck ausgelösten »Individualisierungsschubs« in der sozialwissenschaftlichen Theorievermittlung nicht unbedingt von einer politischen Renaissance sozialräumlicher und damit Vergesellschaftung thematisierende Ansätze ausgehen;35 so gesehen hat die »Soziale Stadt«, unabhängig von ihren vermeintlichen oder tatsächlichen »Erfolgen«, zunächst einmal politische Fakten geschaffen, auf die mehr oder weniger »reagiert« wurde. Zweitens beobachten wir eine konzeptionelle Stagnation sozialer Stadtentwicklung. Diversitätsbewusste Theorien kultursoziologischer Provenienz werden weitestgehend ignoriert. Vor allem die Praxis reproduziert vielerorts ihre Mythen der offenbar so schwer erreichbaren »Bewohner«. Drittens überrascht uns das politische Refraiming eines ursprünglich emanzipatorisch formulierten Selbsthilfebegriffs im aktivierenden Sozialstaat (vgl. Lessenich 2008 sowie Kap. Räume).

35 Wer hätte seinerzeit ernsthaft behaupten können, dass sich Beratungsbüros, in denen sich die Beck’sche Risikogesellschaft sozusagen materialisiert, einmal mit Fragen sozialräumlicher Ressourcen beschäftigen werden?

Z IEL : G ESCHICHTE | 139

Während der aktive Sozialstaat der 1960er Jahre noch einem wertebewussten Subsidiaritätsverständnis folgte, das an Liberalismus und katholische Soziallehre anknüpfte, folgte auf eine Epoche des »schlanken Staates« Ende der 1970er Jahre das seit Mitte der 1990er Jahre und bis heute andauernde Zeitalter des aktivierenden Sozialstaats, das die Politikwissenschaft mit Begriffen wie Governance und Bürgergesellschaft begleitet (vgl. Jann 2002, zit. nach Jann/Wegrich 2010: 177). »Gut« ist demnach, wer permanent »Gutes« tut und pro-aktiv handelt. Dass ein solches Paradigma gesellschaftlich mehrheitsfähig scheint, muss auch vor dem Hintergrund kulturhistorischer Pfadabhängigkeit in Europa betrachtet werden. Ob Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert, Juan Luis Vives im 16. Jahrhundert oder Jean-Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert: Konzepte wie Strebsamkeit, Bescheidenheit und Nützlichkeit haben sich in die philosophische Werteordnung Europas nachhaltig eingeschrieben, was es umso schwieriger und zugleich dringender macht, sie diskursiv in Frage zu stellen (vgl. Engelke/Borrmann/Spatscheck 2014; zur Geschichte der Austerität vgl. Schui 2014). Unter den aktuellen politischen Kontextbedingungen läuft die soziale Stadtentwicklung stets Gefahr, reproduktiven autoritären Handlungsmustern zu verfallen. Umso wichtiger erscheint mit daher die Herausbildung reflexhafter Reflektionen (vgl. Kap. Prospektiven). Nicht nur aus einer kultursoziologischen, sondern auch aus einer sozialpolitischen Betrachtungsweise hinaus, können sozialräumliche Identitäts- und Imagefixierungen in der sozialen Stadtentwicklung also keine perspektive Größe darstellen. Als Reproduktionen der europäischen Kulturgeschichte bilden sie einen Anachronismus, der in hochgradig differenzierten Gesellschaften keine Entsprechung findet. Die Zielsetzungen einer wissenschaftlichen Betrachtung an den Schluss des Werkes zu setzen, widerspricht dem hegemonialen Geist einer nach messbaren Kriterien verlangenden Forschungsarena. Diese ethische Erkenntnis macht das hier gewählte Vorgehen deshalb zur einzig legitimen Begründung von Planung. Von Partizipation zu sprechen, bedeutet anzuerkennen, dass die besten Geschichten immer noch die Praxis selbst schreibt.

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Vielleicht haben Sie im vorangegangenen Kapitel Handlungsempfehlungen vermisst, die Ihnen die Umsetzung der Grammatik der Praxisreflexion erleichtern. Wenn Sie aufmerksam gelesen habe, werden Sie jedoch festgestellt haben, dass ich die Praxis ernst nehme. Für alles andere gibt es Ratgeberliteratur. Wir sind am Ende dieses Buches angekommen. Es ist daher an der Zeit, daraus eigene Schlussfolgerungen für Lehre, Studium oder berufliche Praxis zu ziehen: Schreiben Sie Ihre Geschichte reflexiver Stadtentwicklung, und wählen Sie dafür die Methoden, die Sie für richtig halten. Anregungen finden Sie in diesem Buch zu genüge – alles Weitere wird so ergebnisoffen, wie Sie es zulassen. Und sollten Sie einmal schweißgebadet aus einem Praxistraum erwachen, so sagen Sie sich: Räume sind nur Schäume.

Literatur

AKS – Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit (2014): Dokumentation der Fachtagung »Kritik der Sozialraumorientierung« des AKS am 9. Dezember 2014 in Bremen, im Internet: http://bremerbuendnis sozialearbeit.jimdo.com/aktionen-fachtage/fachtagung-kritik-der-so zialraumorientierung-9-12-2014/, Zugriff: 07.02.16. AMIQUS (2013): Ältere Migrant(inn)en im Quartier: Nachhaltigkeit durch Selbstorganisation und Teilhabe, 31.01./01.02.2013 in Fulda. Tagungsprogramm, im Internet: https://www.hs-fulda.de/fileadmin/ Fachbereich_SW/Downloads/CeSSt/Amiqus2013_Programm.pdf, Zugriff: 19.11.15. Bachmann-Medick, D. (2009): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 3., neu bearb. Auflage Februar 2009. Hamburg: Rowohlt. BBR – Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (2015): INTER REG, im Internet: http://www.interreg.de/INTERREG2014/DE/Ho me/home_node.html, Zugriff: 19.11.15. Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. Main: Suhrkamp. Beck, U. (2007): Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt a. Main: Suhrkamp. Bhabha, H. K. (2007): Die Verortung der Kultur. Unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 2000. Tübingen: Stauffenburg.

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Amalia Barboza, Stefanie Eberding, Ulrich Pantle, Georg Winter (Hg.) Räume des Ankommens Topographische Perspektiven auf Migration und Flucht Juni 2016, ca. 216 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3448-8

Karsten Michael Drohsel Das Erbe des Flanierens Der Souveneur – ein handlungsbezogenes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse März 2016, 286 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3030-5

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Urban Studies Lilo Schmitz (Hg.) Artivismus Kunst und Aktion im Alltag der Stadt 2015, 278 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3035-0

Andra Lichtenstein, Flavia Alice Mameli (Hg.|eds.) Gleisdreieck / Parklife Berlin 2015, 288 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3041-1

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2015, 274 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2703-9

Antje Matern (Hg.) Urbane Infrastrukturlandschaften in Transformation Städte – Orte – Räume

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Johannes Marent Istanbul als Bild Eine Analyse urbaner Vorstellungswelten April 2016, 284 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3328-3

Manfred Kühn Peripherisierung und Stadt Städtische Planungspolitiken gegen den Abstieg Februar 2016, 200 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3491-4

2015, 378 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3217-0

Susana Zapke, Stefan Schmidl (Hg.) Partituren der Städte Urbanes Bewusstsein und musikalischer Ausdruck 2014, 146 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2577-6

Alenka Barber-Kersovan, Volker Kirchberg, Robin Kuchar (Hg.) Music City Musikalische Annäherungen an die »kreative Stadt« | Musical Approaches to the »Creative City« 2014, 342 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-1965-2

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