Deutschsprachige Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen. Texte – Kontexte – Netzwerke [1. ed.] 3869167411, 9783967071627

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Deutschsprachige Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen. Texte – Kontexte – Netzwerke [1. ed.]
 3869167411, 9783967071627

Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Sabina Becker, Sonia Goldblum — Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen. Eine Bestandsaufnahme
Jochen Strobel — Nach-Erleben, Spiegeln, Deuten. Thomas Manns Korrespondenzen mit Kritik und Literaturwissenschaft vor 1933
Friedhelm Marx — Betrachtungen eines Politischen. Thomas Manns Offene Briefe zur Zeit der Weimarer Republik
Daniel Meyer — Von der Geschichtsphilosophie zur Anekdote. Oswald Spenglers Weimarer Briefwechsel im Spannungsverhältnis seiner Zeit
Elsbeth Dangel-Pelloquin — »sehr hastig, ganz der Spontaneität folgend«. Verworfene Autorschaft in Hofmannsthals Briefen
Robert Krause — »[…] die Dinge auszusprechen wie sie sind«. Argumentationsstrategien und philosophische Referenzen in Hermann Brochs Brief an Robert Musil
Gérard Raulet — Zum Briefwechsel zwischen Ernst Bloch und Walter Benjamin
Isolde Schiffermüller — Franz Kaf ka in der Korrespondenz Walter Benjamins. Zum Brief als Laboratorium des Denkens
Olivier Agard — Affinitäten und Antagonismen. Der Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer
Renate Stauf — »Du siehst, wie sich Privataffären mit Weltgeschichte durchdringen«. Friedrich Gundolfs Briefwechsel mit Elisabeth Salomon
Chiara Conterno — Der Briefwechsel zwischen Karl Wolfskehl und Albert Verwey in der Zwischenkriegszeit
Marion Brandt — Die deutschsprachigen Briefe der polnischen Dramatikerin Stanislawa Przybyszewska
Personenregister

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Deutschsprachige Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen Texte – Kontexte – Netzwerke

 Deutschsprachige

Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen

Texte – Kontexte – Netzwerke



Herausgegeben von Sabina Becker und Sonia Goldblum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-86916-741-1

E-ISBN 978-3-96707-162-7

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2018 Levelingstraße 6a, 81673 München www.etk-muenchen.de Umschlaggestaltung: Thomas Scheer Umschlagabbildung: M. C. Escher’s »Drawing Hands« © 2018 The M. C. Escher Company-­The Netherlands. All rights reserved. www.mcescher.com Satz und Bildbearbeitung: Claudia Wild, Otto-Adam-Str. 2, 78467 Konstanz Druck und Buchbinder: Laupp & Göbel GmbH, Robert-Bosch-Straße 42, 72810 Gomaringen

Inhalt Sabina Becker, Sonia Goldblum

Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen. Eine Bestandsaufnahme  7 Jochen Strobel

Nach-Erleben, Spiegeln, Deuten. Thomas Manns Korrespondenzen mit Kritik und Literaturwissenschaft vor 1933  17 Friedhelm Marx

Betrachtungen eines Politischen. Thomas Manns Offene Briefe zur Zeit der Weimarer Republik  38 Daniel Meyer

Von der Geschichtsphilosophie zur Anekdote. Oswald Spenglers Weimarer Briefwechsel im Spannungsverhältnis seiner Zeit  49 Elsbeth Dangel-Pelloquin

»sehr hastig, ganz der Spontaneität folgend«. Verworfene Autorschaft in Hofmannsthals Briefen  61 Robert Krause

»[…] die Dinge auszusprechen wie sie sind«. Argumentationsstrategien und philosophische Referenzen in Hermann Brochs Brief an Robert Musil  80 Gérard Raulet

Zum Briefwechsel zwischen Ernst Bloch und Walter Benjamin  93 Isolde Schiffermüller

Franz Kafka in der Korrespondenz Walter Benjamins. Zum Brief als Laboratorium des Denkens  125 Olivier Agard

Affinitäten und Antagonismen. Der Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer  140 Renate Stauf

»Du siehst, wie sich Privataffären mit Weltgeschichte durchdringen«. Friedrich Gundolfs Briefwechsel mit Elisabeth Salomon  162

Inhalt

Chiara Conterno

Der Briefwechsel zwischen Karl Wolfskehl und Albert Verwey in der Zwischenkriegszeit  187 Marion Brandt

Die deutschsprachigen Briefe der polnischen Dramatikerin Stanisława Przybyszewska  206 Personenregister  223

Sabina Becker, Sonia Goldblum

Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen Eine Bestandsaufnahme

Mit Blick auf das diesjährige Jubiläum anlässlich des Endes des Ersten Weltkriegs und des Gründungsdatums der ersten Republik in Deutschland vor 100 Jahren mag es zunächst erstaunen, sich den 1920er Jahren und der Zwischenkriegszeit über die Briefkultur dieser Epoche anzunähern; ist das Paradigma der Kultur von Weimar doch das der forcierten Intermedialität, der Öffnung der Literatur für andere, für neue Medien also, etwa gegenüber Zeitung, Film, Rundfunk und Musik, ja sogar gegenüber Revue und Sport. Diese Öffnung geht mit der Ausbildung neuer Genres einher, des Hörspiels, des Rundfunkgesprächs, etwa zwischen Gottfried Benn und Johannes R. Becher im Berliner Sender im Jahr 1929, oder einer Erweiterung von Musik und Film, etwa in den berühmten Sprechopern oder jenem Musiktheater, wie es in beeindruckender Weise Bertolt Brecht und Kurt Weill in ihrer Dreigroschenoper oder der Mahagonny-Oper praktizierten; aber auch Ernst Křenek mit Jonny spielt auf, uraufgeführt im Jahr 1927 – mit einer Erfolgsoper, obgleich wegen der Konfrontation von klassischer Musik und Jazzmusik, der Integration städtischer Requisiten (Bahnhof) in die Opernbühne und nicht zuletzt der Präsenz eines Schwarzen auf der Bühne ein Skandal. Es handelt sich um eine Öffnung hin zu den Massenmedien, um eine Ausrichtung also, die sicherlich nicht nur freiwillig geschah, sondern auch der Erkenntnis geschuldet sein dürfte, dass das Buch wie die Literatur insgesamt in den 1920er Jahren keineswegs mehr die dominanten Medien sind, wovon nicht zuletzt Debatten wie die um die »Krise des Buchs« zeugen. Eine Massenrezeption von Kultur fand jedenfalls nicht mehr vornehmlich im Bereich Literatur statt, sondern eher im Kino, in der Revue, im Kabarett, ganz abgesehen davon, dass auch die großen Sportveranstaltungen um die Massen buhlten.1 Mit Blick auf dieses spezifische Mediengefüge von Weimar, das entscheidend durch den Bedeutungszugewinn der Zeitungen bzw. der Tagespresse

1  Vgl. hierzu Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. v. der Historischen Kommission. Bd. 2: Die Weimarer Republik 1918–1933. München 2007.  – Sehr ausdifferenziert präsentiert wird diese Umbruchphase der Medienlandschaft zwischen den Weltkriegen in: Werner Faulstich: Die Mediengeschichte des 20.  Jahrhunderts. Paderborn 2011. Die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg wird besonders in den Kapiteln 2 bis 6 behandelt.

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geprägt ist, kommt es zu einer markanten Dynamisierung von Kommunikation und Information. Diese Dominanz der Presse prägt das Bild der Städte in den 1920er Jahren, wofür die »Zeitungsstadt Berlin« als Paradebeispiel steht. Weimar ist die erste Medienkultur und die erste Informationsund Kommunikationsgesellschaft in Deutschland, der von Jürgen Habermas so eindrucksvoll nachgezeichnete »Strukturwandel der Öffentlichkeit« erhält im Weimarer Jahrzehnt einen nachhaltigen Modernisierungsschub, eben nicht zuletzt durch eine forcierte Medienöffentlichkeit.2 Diese Entwicklungen sind nun die gesellschaftlichen, kulturellen und medialen Rahmenbedingungen, in der die Briefkultur dieser Epoche zu verorten und auch zu analysieren ist. Die Frage steht im Raum, warum und wie das traditionelle Medium Brief einen so hohen Stellenwert einnehmen konnte, zu welchem Zweck und mit welchen Inhalten es genutzt wurde. Ist die Popularität etwa vor dem Hintergrund der Pole Privatheit und Öffentlichkeit zu verstehen? Sind Briefe das Medium, mit dem Autoren dem Öffentlichkeitscharakter der auf utilitärer Sachlichkeit, Funktionalität und Massentauglichkeit setzenden Medienkultur von Weimar eine privat-subjektive, ja subjektivistische Komponente abzuringen suchen? Und zwar ohne in der literarischen Öffentlichkeit die notwendige Präsenz in den Massenmedien zu negieren? Unterliegen der Brief und das Briefgenre in diesen Jahren einem Wandel? Fraglos eignet dem Genre auch mit Blick auf seine Tradition und Historie ein ambivalenter Charakter, es scheint zunächst adäquat in die funktional und heteronom gedachte Weimarer Kultur zu passen. Der Brief war und ist zwischen den Weltkriegen noch immer ein Gebrauchsmedium, aber zugleich eben auch eine subjektive Form der Reflexion und Verständigung: Über persönliche Belange und private Angelegenheiten tauscht man sich gleichermaßen aus, Individuelles und Vertrauliches, wie etwa in den Liebesbriefen (vgl. Renate Staufs Beitrag zu dem Briefwechsel zwischen Elisabeth Salomon und Friedrich Gundolf), werden verhandelt. Doch zugleich wird der Brief als ein Mittel zur philosophischen Reflexion genutzt, wobei es zur Annäherung an ein anderes, damals sehr gebräuchliches Genre kommt, und zwar an den Essay. Die briefliche Reflexion gestaltet sich essayistisch, man denke nur an die Briefe zwischen Heinrich und Thomas Mann oder an diejenigen bedeutender zeitgenössischer Essayisten, wie Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Siegfried Kracauer (vgl. Gérard Raulets und Olivier Agards Beiträge), die zeigen, dass der Brief die passende Form der philosophischen und ästhetischen Reflexion bereithält. Die Fokussierung anderer Autoren jenseits des

2  Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Berlin 1962.

Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen

vorliegenden Bandes, etwa Kurt Tucholskys oder Alfred Döblins, zeigt überdies, dass auch Politisches im brieflichen Medium angesprochen wird, dass auch politische und gesellschaftliche Fragen in Briefen diskutiert werden. Über den ›Offenen Brief‹ hinaus, dessen Bedeutung für Thomas Mann etwa im Beitrag von Friedhelm Marx herausgearbeitet wird, nutzen Oswald Spengler oder Hugo von Hofmannsthal u. a. den Brief zur Präzisierung und Entwicklung ihrer Ideen zur ›Konservativen Revolution‹, Spengler konkretisiert brieflich seine kulturkritischen, ja zivilisationsfeindlichen Visionen vom »Untergang des Abendlandes«. Diesen Aspekt und den Netzwerkcharakter von Spenglers Korrespondenz betont Daniel Meyer in seinem Beitrag: »Spenglers Briefwechsel stellt eine Art Längsschnitt des Diskurses der antidemokratischen Rechten dar«. Döblin wiederum vermittelt in seinen »Briefen an einen jungen Menschen«, an den jungen Romanisten Gustav René Hocke, damals Student in Bonn, seine Vorstellungen eines humanen Sozialismus. Hocke hatte im Frühjahr 1930 einen »[o]ffenen Brief« an Döblin ge­­ schrieben, mit der Bitte um geistige Orientierungshilfe in der Krisenzeit, die für einen jungen Intellektuellen keine existenziellen Handlungsangebote bereithalte. Döblin antwortet ihm daraufhin in insgesamt 9 längeren Briefen, abgedruckt in der Zeitschrift Das Tagebuch, in denen er nicht zuletzt mit Blick auf die Stellung des Intellektuellen eine Zeitdiagnose leistet. Die Briefe übernimmt er 1931 in die philosophische Schrift Wissen und Verändern! Offene Briefe an einen jungen Menschen – das Buch gehört in den Kontext von Publikationen, die Anfang der 1930er Jahre die Krisensymptome der Zeit analysieren, zu erwähnen sind u. a. Karl Jaspers’ Die geistige Situation der Zeit oder Franz Werfels Realismus und Innerlichkeit.3 Ein Sammelband über Briefdiskurse in der Zwischenkriegszeit erscheint also einerseits naheliegend, andererseits relativ exotisch. Denn auf Briefe des 20. Jahrhunderts fehlt bislang weitgehend der systematische Zugriff, noch ist unklar, ob diese deutliche sprachlich-diskursive Merkmale aufweisen, in welche Tradition der Kommunikation und der Soziabilität sie sich einschreiben oder welche sie von sich weisen. Wenn Briefwechsel der Moderne behandelt werden, dann meistens im Rahmen von Studien zu einem bestimmten Autor oder zum Brief im Allgemeinen. Zum 20. Jahrhundert vermisst man die großen Studien, die zum 18. oder 19. Jahrhundert vorliegen.4 Man denke zum Beispiel an die Studie von Karl-Heinz Bohrer zur Entstehung der Subjektivität im romantischen Brief oder an Robert

3  Alfred Döblin: Wissen und Verändern! Offene Briefe an einen jungen Menschen. Berlin 1931; Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit. Berlin 1932; Franz Werfel: Realismus und Innerlichkeit. Berlin, Wien, Leipzig 1931. 4  Annette Anton: Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19.  Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1995.

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Vellusigs Buch zur Relevanz der Kategorie des Gesprächs für den Brief im 18. Jahrhundert.5 Bedenkt man, wie viele Briefe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis zu der Erfindung der E-Mail geschrieben wurden, scheint es ohnehin naheliegend, sich mit Briefdiskursen zu befassen. Ebenso mit Blick auf die Tatsache, wie viele Briefwechsel jedes Jahr erscheinen, die neue Netzwerke, Arbeitsgemeinschaften und intellektuelle Freundschaften zutage treten lassen, andere, wohl bekannte neu beleuchten und damit immer deutlicher die herausragende Bedeutung des Briefs für die Kulturgeschichte zeigen. Wenn man sich auf die Erscheinungen der letzten Jahre beschränkt, wird deutlich, wie stark das Interesse für Briefe nach wie vor ist.6 Ziel des Bandes ist es also, sowohl generell das Auge auf die herausragende Bedeutung von Briefen im frühen 20.  Jahrhundert zu lenken, als auch die Charakteristika der Brief kommunikation in der Umbruchphase zwischen den Weltkriegen neu zu beleuchten. Dadurch soll der Leser sowohl eine umfassendere Bestandsaufnahme der Brief korpora, die von den BeiträgerInnen analysiert werden, als auch ein vertieftes Verständnis der epistolarischen Praxis dieser Epoche erhalten. Zu diesem Zweck erschien es besonders fruchtbar, den Fokus auf die Zwischenkriegszeit zu legen, da es sich um eine Epoche handelt, die ohnehin für die Zirkulation von Ideen, für die Vielseitigkeit ihrer Denkansätze bekannt ist. Aufzubauen ist dabei auf Forschungsarbeiten zum Thema Briefkultur, die in den letzten Jahren erschienen sind. Zu erwähnen sind hier unter anderem die Sammelbände von Isolde Schiffermüller, Jochen Strobel und Detlev Schöttker, die dieses Themenfeld mit erschlossen haben.7 Der gewählte Epochenzuschnitt lässt sich zweifach erklären. Er hat zum einen mit der Rationalisierung der Post in den 1920er Jahren zu tun, die die Anzahl von ausgetauschten Briefen allgemein zwischen dem frühen Kaiserreich und dem Ende der 1920er Jahre enorm steigen lässt. Für das Jahr 1928 zählt man 7,7 Milliarden Sendungen. 1871 waren es nur 412 Mil-

5  Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. Frankfurt / Main 1989; Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien 2000. 6  Hier seien nur einige wenige Beispiele der editorischen Aktualität von Briefwechseln angeführt: So publiziert etwa der Suhrkamp-Verlag seit 2012 eine von Volker Michels herausgegebene Neuedition von Hermann Hesses Briefen; deren fünfter Band zu den Jahren 1932–1939 erscheint 2018. Auch Rainer Maria Rilkes Briefe sind Gegenstand erneuter Aufmerksamkeit. Nachdem 2017 sein Briefwechsel mit Stefan Zweig publiziert wurde, erscheint derjenige mit Boris Pasternak und Marina Zwetajewa ebenfalls 2018. 7  Isolde Schiffermüller (Hrsg.): Briefkultur. Transformationen Epistolaren Schreibens in der deutschen Literatur. Würzburg 2015; Detlev Schöttker: Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung. München 2008.

Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen

lionen.8 Das etwas altmodisch anmutende Medium Brief, von dem man denken könnte, dass es nach dem Ersten Weltkrieg von Radio und Telefon obsolet gemacht wurde, profitierte vielmehr von den Verbesserungen seiner Zustellungsformen. Wie Heike Pauschardt bemerkt, erlangten drei der heute häufigsten Beförderungsarten zwischen den Weltkriegen Einzug in den Postdienst: »Die Weimarer Republik war gleichsam Geburtsstunde der umfassenden Verwendung von Kraftfahrzeugen, Flugzeugen und Förderbändern im Postdienst.«9 Die Brief kommunikation ist somit in der Modernisierungswelle einbegriffen, die sowohl die Industrie als auch den privaten Bereich betrifft. Die Beschleunigung, die dadurch erfolgt, beeinflusst die briefliche Kommunikation dahingehend, dass sie erlaubt, veritable Gespräche per Brief zu führen, also den »brieftypischen Phasenverzug«10 zu verkürzen und damit die Natürlichkeit und Unmittelbarkeit der Kommunikation zu erhöhen. So erklärt sich auch, dass bei vielen AutorInnen die Anzahl von Briefen bei Weitem den Umfang des eigentlichen Werks übersteigt. Es wurden mitunter mehrere Briefe pro Tag verfasst. Das Briefeschreiben ist daher eine der wichtigsten Schreibformen der Zwischenkriegszeit, es gehört einerseits für viele AutorInnen zum Alltag, andererseits auch zu den Experimentierformen dieser Epoche. Jene Diskurse zu fokussieren, die sich in Briefform herausbildeten, er­­ laubt eine Verschiebung der Perspektive; kommen damit doch die epistolarischen Schreibweisen, die Organisation des Diskurses sowie die sprachlich-stilistischen Unterschiede zwischen den Briefen einerseits und dem Rest des Werks andererseits in den Blick. Erkenntnisleitend sind dabei folgende Fragen: Was kann ein Schriftsteller, ein Essayist oder ein Philosoph wie im Brief sagen, das in seinem Werk auf andere Weise Eingang findet? Was findet man im Briefwechsel vor, nicht aber in den Werken? Die Relevanz dieser generischen Fragen besteht darin, dass somit die Laboratoriumsfunktion des Briefs bei zahlreichen Autoren belegt und rekonstruiert werden kann. Ein paradigmatisches Beispiel unter vielen anderen sind Walter Benjamins Briefe. In einem Weihnachtsbrief aus dem Jahr 1923 an Florens Christian Rang verlangt Benjamin seinen vorherigen Brief (vom 9.12.1923) zurück,11 in dem seine Auffassung der Kritik und der Interpretation von Kunstwerken

  8  Heike Pauschardt: Rationalisierung  – Optimierung. Neue Wege der Briefbeförderung in der Weimarer Republik. In: Klaus Beyrer, Hans-Christian Täubrich (Hrsg.): Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation. Heidelberg 1997, S. 120–127.   9  Ebd., S. 120. 10  Peter Bürgel: Der Privatbrief. Entwurf eines heuristischen Modells. In: Deutsche Vierteljahrschrift 50, 1976, S. 281–297, hier S. 288. 11  Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Bd. II. Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt / Main 1996, S. 402–404 und S. 390–394.

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entwickelt wurde, weil er glaubte, sie für seine Arbeit zum Ursprung des deutschen Trauerspiels nutzbar machen zu können. Diese Ideen hatte Benjamin, so schreibt er, dort zum ersten Mal entwickelt. Dieses Beispiel zeigt, wie der Brief konkret als Werkstatt des Denkens fungieren kann. Es entwickelt sich in der Mitteilung, als Reaktion auf eine Anregung, und wird woanders für andere Zwecke wiederverwertet. Dass solche Phänomene bei Benjamin üblich sind, zeigt sein großer Brief über Briefe an Ernst Schoen, der sich auch als Abschrift in der Gesamtausgabe findet.12 Zu nennen wäre ferner ein langer Brief an Martin Buber vom 17. Juli 1916, in dem es in erster Linie um Bubers Stellungnahme zum Krieg geht, in dem aber auch die Prämissen des Aufsatzes Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen zu finden sind.13 Ein anderes Beispiel, Benjamins Auseinandersetzung mit Franz Kafka betreffend, wird von Isolde Schiffermüller im vorliegenden Band ausführlich analysiert. Benjamin fungiert jedoch hier nur als besonders prominentes Beispiel; ähnliche Formen der Zirkulation zwischen Werk und Brief sind bei den meisten BriefautorInnen nachzuweisen, wie die hier vorliegenden Beiträge bestätigen. Der Brief ist nicht zuletzt der Kristallisationsort zahlreicher Reflexionen und Diskussionen über eigene Texte und über die Werke anderer. Diese zu eruieren und zu analysieren, kann helfen, den jeweiligen Autor im ›literarischen Feld‹ bzw. in seinem eigenen intellektuellen Umfeld zu verorten und die von ihm bezogenen Positionen besser zu verstehen. Dabei sind mitunter neue, unerwartete Erkenntnisse zu gewinnen, wie die Belege einer frühen Rezeption Martin Heideggers von Hermann Broch, die Robert Krause in dessen Briefwechsel mit Robert Musil herausarbeitet. Aus diesem Grund steht bei vielen BeiträgerInnen die Idee des Netzwerks im Mittelpunkt, wobei besonders prominente Kommunitäten mehrfach in den Fokus geraten. Hier seien nur der George-Kreis (wie bei Renate Stauf oder Chiara Conterno), die Leser von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes (Daniel Meyer) oder die zahlreichen Kontakte Walter Benjamins (Gérard Raulet und Isolde Schiffermüller) als Beispiele genannt. Sie zeigen, wie die untersuchten Briefwechsel untereinander vernetzt und wie eng die Verbindungen unter den literarischen und philosophischen Akteuren dieser Zeit sind. Als instruktiv hat sich dabei der Begriff der Briefdiskurse erwiesen, lädt er doch dazu ein, über den einzelnen untersuchten Briefwechsel

12  Walter Benjamin an Ernst Schoen, Brief vom 19. September 1919. In: Ebd., S. 47–48. Walter Benjamin: Man unterschätzt heute Briefwechsel. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. VI. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt / Main 1991, S. 95. 13  Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Bd. IV. Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt / Main 1995, S. 325–328.

Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen

hinaus nach autorübergreifenden Linien zu suchen. Solche Linien lassen sich durch die verschiedenen Aufsätze verfolgen, die mosaikartig das theoretische Fundament für eine systematische Betrachtung zum Brief zwischen den Weltkriegen bilden. Des Öfteren (etwa von Robert Krause) wird darauf hingewiesen, dass die untersuchten Briefwechsel, beispielsweise derjenige Musils und Brochs, von der Forschung bisher eher stiefmütterlich behandelt wurden. Krause zitiert das Broch- und das Musil-Handbuch.14 Ähnliche Aussagen finden sich im Benjamin-Handbuch, in dem Gert Mattenklott klagt, dass Benjamins Briefe der Forschung oft lediglich als »Arsenal für Belegmaterial« dienen.15 Gérard Raulets Beitrag zur Korrespondenz Benjamins und Ernst Blochs eröffnet insofern neue Einsichten in deren denkerische Übereinstimmungen, aber auch Differenzen. Selbst im Handbuch zu Kafka, dessen Briefe sowohl in seinem Werk als auch in dessen Rezeption eine bedeutende und anerkannte Rolle spielen, bereut Ekkehard W. Haring, dass 50 Jahre nach Max Brods Auseinandersetzung mit Kaf kas Briefwechseln »noch immer keine umfassende Untersuchung des Briefwerkes vorliegt«.16 Damit soll keineswegs der Eindruck erweckt werden, dass die Literaturwissenschaft inkonsequent sei und ihre VertreterInnen einerseits in Handbüchern die mangelnde Beachtung der Briefe wichtiger AutorInnen bedauern und andererseits nicht beheben würden. Eine systematische Untersuchung größerer Briefkorpora ist mit grundsätzlichen Schwierigkeiten verbunden, die diese wiederholte Beobachtung einer tendenziellen Vernachlässigung der Briefe zumindest partiell erklären. Der erste Grund dafür ist sicherlich, dass der Brief keinen eindeutigen Status besitzt. Bei manchen Autoren wie Kafka haben die Briefe Eingang in den Kanon des Werks gefunden, bei anderen AutorInnen ist dies alles andere als evident. Somit dürften manche WissenschaftlerInnen den Eindruck haben, sich im Falle von Briefen mit einem zweitrangigen Korpus zu befassen. Damit geht einher, dass keineswegs selten ›Biografismus‹ gewittert wird, wenn ForscherInnen sich mit privatem Material befassen, von dem nicht immer sicher ist, inwiefern es für die Öffentlichkeit gedacht war. Jochen Strobel thematisiert diesen Aspekt, indem er fragt, welche Briefe Thomas Manns seinem Werk zugerechnet werden können.

14  Vgl. Graham Bartram: Brochs epistolarisches Werk. In: Adrian Stevens, Fred Wagner, Sigurd Paul Scheichl (Hrsg.): Hermann Broch. Modernismus, Kulturkrise und Hitlerzeit. Innsbruck 1994, S. 461–505; Fabrizio Cambi: Briefe. In: Birgit Nübel, Norbert Christian Wolf (Hrsg.): Robert-Musil-Handbuch. Berlin, Boston 2016, S. 441–450. 15 Gert Mattenklott: Briefe und Briefwechsel. In: Burkhardt Lindner (Hrsg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2006, S. 680–687, hier S. 682. 16  Ekkehard W. Haring: Das Briefwerk. In: Manfred Engel, Bernd Auerochs (Hrsg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2010, S. 390–402, hier S. 400.

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Aus diesen Gründen ist uns der systematische Fokus auf Formen der Briefdiskurse überaus wichtig, ist so doch zu zeigen, dass Briefe mehr bieten als Belegstellen im Dienst der Analyse des übrigen Werks. Zu den bereits genannten Schwierigkeiten kommt hinzu, dass die Briefe eines Autors bzw. einer Autorin meistens eine große Menge an sehr heterogenem Material darstellen, die schwer begrifflich zu erfassen ist, weil je nach Interessensschwerpunkt der jeweiligen ForscherInnen unterschiedliche Teile oder Aspekte eines Briefwechsels zur Diskussion kommen. Das Material muss also vor der Analyse erst sortiert werden, was in einer Einzelstudie, einem Aufsatz zu einem bestimmten Thema oder einer Überblickdarstellung in einem Handbuch leichter zu machen ist als für eine Monografie. Die Lage der Editionen kann erschwerend hinzukommen, mitunter sind diese unvollständig oder nicht mehr zeitgemäß – thematisiert wird dieses Problem u. a. von Jochen Strobel bezüglich der Regestausgabe zu Thomas Manns Briefen –, was die Frage nach der Halbwertszeit von Briefausgaben und nach der Notwendigkeit ihrer Digitalisierung aufwirft.17 Gérard Raulet betont darüber hinaus den lückenhaften Charakter des Briefwechsels zwischen Bloch und Benjamin. Dass Bloch die Briefe seines Briefpartners zerstört hat, macht es notwendig, weitere Dokumente heranzuziehen, wodurch die Netzwerkdimension von Raulets Studie verstärkt wird. Autorzentrierte Editionen können sich in diesem Zusammenhang auch als problematisch erweisen, weil sie Netzwerkeffekte in den Hintergrund drängen, obwohl diese für die Briefforschung unerlässlich sind. Von sechs erhaltenen Briefen beinhalten zum Beispiel die Musil- und Broch-Ausgaben nur die Autorenbriefe und nicht die An-Briefe. Bei Kaf ka sind Letztere systematisch abwesend, sie wurden größtenteils von Kaf ka selbst vernichtet, wie Ekkehard W. Haring im bereits zitierten Handbuch-Artikel betont.18 Und selbst wenn bei einem Briefwechsel die verschiedenen Stimmen erhalten sind, erfordert dessen Erforschung oftmals eine Rekonstruktionsarbeit über mehrere Ausgaben, die zumindest mühsam ist. Ein Beispiel dafür ist die Ausgabe der Schriften des Politikwissenschaftlers Leo Strauss, einige Briefwechsel wurden im zweiten Teil des Bandes zu Hobbes politische Wissenschaft publiziert. Sie sind nur mit einer kurzen editorischen Notiz versehen, ohne nähere Erklärungen, die dem Leser helfen würden, die Andeutungen

17  Vgl. u. a die Plattform correspsearch.net [letzter Zugriff: 8.5.2018], bei der »die Verzeichnisse verschiedener digitaler und gedruckter Briefeditionen nach Absender, Empfänger, Schreibort und Datum durchsucht« werden können, vorerst aber eher Briefeditionen um 1800 erfasst. Zu diesem Thema vgl. auch Anne Bohnenkamp-Renken, Elke Richter (Hrsg.): Briefedition im digitalen Zeitalter. Berlin 2013. 18  Haring: Das Briefwerk, S. 398.

Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen

zu verstehen. Dieser Verzicht auf jegliche Form des Kommentars macht Strauss’ Briefwechsel schwer zugänglich.19 Die Schnittstelle zwischen Öffentlichem und Privatem gehört auch zu den Kernfragen der Briefforschung. Auf der einen Seite steht Thomas Mann, der, so Friedhelm Marx, bei keinem Privatbrief die Dimension des Öffentlichen gänzlich vergesse, da ihm bewusst sei, dass er immer mit für die Nachwelt schreibe. Auf der anderen Seite findet man Stanisława Przybyszewska, von der Marion Brandt berichtet, indem sie auf den für Briefwechsel allgemein wichtigen Komplex von Nähe und Distanz eingeht. Für Przybyszewska ging das Briefeschreiben zu einer Art der Tagebuchführung über, Briefe wurden nicht mehr gänzlich abgeschickt. Nähe wird simuliert, was den Briefwechsel zu einer Kompensation der Einsamkeit werden lässt. Brandt stellt die Frage, inwiefern Stanisława Przybyszewska sich nicht in Thomas Mann einen fiktiven Korrespondenten ausgesucht habe. Damit ist die Dimension der Konstruktion angesprochen, die in der Briefforschung eminent wichtig ist und die verschiedene Aspekte des Briefdiskurses be­­ treffen kann. Der Brief kann zunächst der Ort einer Selbstkonstruktion oder Selbstinszenierung sein, wie bei Oswald Spengler. Daniel Meyer zeigt, wie sich Spengler im Briefwechsel mit seinen Zeitgenossen und Lesern einer Selbstüberschätzung hingibt, was besonders deutlich wird, wenn er manchen von ihnen durch seine Kontakte Hilfe verspricht. Meyer bemerkt allerdings auch, dass »der zeitgebundene, kalendarisch festlegbare Charakter des Briefdiskurses genau dieser Tendenz entgegen[spielt], teleologische Narrative zu formen«, und es somit erlaubt, solche Konstruktionen zu entlarven. Als Kontrapunkt zu dieser Selbstinszenierung erscheinen die von Elsbeth Dangel-Pelloquin analysierten sogenannten »Verwerfungsbriefe« Hofmannsthals, bei denen etwas von seiner tiefsten Innerlichkeit, ja von seinem Unbewussten freigelegt werde. Auf die Raumkonstruktion, die der Brief leistet, weisen ebenso viele BeiträgerInnen hin, beispielsweise Renate Stauf, wenn sie die Erschaffung eines Schreibraums als eine der Funktionen des Briefwechsels zwischen Friedrich Gundolf und Elisabeth Salomon ansieht. Chiara Conterno spricht ihrerseits bezüglich des Briefwechsels zwischen Albert Verwey und Karl Wolfskehl von einem »Lebensraum im Medium der Schrift«. Das erinnert an die Bemerkung Gilles Deleuzes und Félix Guattaris, die mit Blick auf Kaf ka schrieben, dass »der Brief die Liebe ent-territorialisiert«. Die BeiträgerInnen des vorliegenden Bandes beweisen oftmals Gegenteiliges – indem sie Fälle herausarbeiten,

19  Leo Strauss: Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften – Briefe. Hrsg. von Heinrich und Wiebke Meier. Stuttgart, Weimar 2001, S. 377–785.

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bei denen der Briefwechsel erst ein Territorium für die Beziehung schafft, sei sie erotischer oder freundschaftlicher Natur, und sie somit gleichsam re-territorialisiert.20 Der vorliegende Band ist das Ergebnis der Reflexionen, die bei der Tagung »Briefdiskurse in der Zwischenkriegszeit« präsentiert und durchgeführt wurden. Sie fand beim Freiburger Institut for Advanced Studies (FRIAS) vom 2.–4. März 2017 statt. Dem FRIAS danken wir für seine großzügige finanzielle und logistische Unterstützung bei der Organisation dieser Veranstaltung. Der Forschungsgruppe ILLE (Université de Haute-Alsace – Mulhouse) danken wir für die finanzielle Hilfe bei der Publikation des vorliegenden Bandes.

20  Gilles Deleuze, Félix Guattari: Kafka. Pour une littérature mineure. Paris 1975, S. 53.

Jochen Strobel

Nach-Erleben, Spiegeln, Deuten Thomas Manns Korrespondenzen mit Kritik und Literaturwissenschaft vor 1933

I. Der Brief ist ein Kommunikationsmedium, das der Speicherung und Übertragung schriftlicher oder ikonischer Zeichen an abwesende Adressaten dient, in der Regel mit Zeitverzug.1 Die Behauptung, er sei ein Gespräch zwischen Abwesenden, ist paradox; vielmehr könnte eine Serie von zwischen mindestens zwei Beteiligten zirkulierenden Briefen ein Gespräch simulieren oder nachahmen. Das Schrei­ben und Lesen von Briefen ist seit Längerem schon eine meist einsame und doch von performativen Momenten nicht freie Angelegenheit. Das Schrei­ben, Versenden und Lesen elektronischer schriftlicher Kurznachrichten – einer Spätform des Briefs – besitzt, wie wir wissen, des Öfteren auch theatrale, demonstrative Momente. Bis zur Erfindung der Telegrafie war der Brief das einzig zuverlässige, wenngleich lange Zeit mit Kosten und Aufwand verbundene Medium der individuellen Distanzkommunikation. Seit es sich im 18. Jahrhundert von allerlei Normen befreit hatte, war es ein Medium, dessen quantitativ, formal, thematisch und stilistisch zunehmend offener Textanteil im Grunde von jedem genutzt werden konnte, der des Schreibens und Lesens kundig war. Dabei verspricht der Brief mehr als er halten kann. Papier ist geduldig – und der in der Zukunft zu denkende entfernte Empfänger mag seine Fantasie bemühen, wenn er auf Neuigkeiten vergebens wartet, oder erst recht, wenn ein Brief eingeht. Mit der Übertragung brieflicher Botschaften oder auch deren Ausbleiben etwa im Liebesdiskurs können weitreichende kognitive und emotionale Folgelasten verbunden sein. Seine Vorteile liegen bis heute in der usability, der Vielfalt etwa sprachlicher und grafischer Gestaltungsmöglichkeiten, seiner weit ausdifferenzierten Pragmatik. Er hat sich – verwandelt, technisch aufgerüstet und doch leicht handhabbar – halten können, da er sich bewährt hat.

1  Diese einleitenden Bemerkungen orientieren sich teils an: Jochen Strobel: Art. »Brief«. In: Michael Wetzel (Hrsg.): Handbuch Autorschaft. Berlin, Boston 2019.

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Distanzkommunikation bedingt eine gewisse Ununterscheidbarkeit zwischen Wahrheit und Lüge; der Dialog oder gar die Geselligkeit, die sie vorschützt, ist ohnehin nicht ganz echt. Vor allem in Zeiten geringer Mobilität musste er echte Geselligkeit ersetzen, sofern die durch den Brief zurückgelegte Strecke nicht auch durch die beiden Kommunikationspartner überwunden werden konnte. Der Schreiber richtet sich nicht an den realen Adressaten, sondern an dessen Projektion, die ihm beim Schrei­ben sozusagen gegenübersitzt. Der Adressat hat immerhin den Text des Schreibers als Anhaltspunkt, somit wiederum nicht den Schreiber selbst, sondern lediglich dessen Surrogat. Dies macht den Brief instrumentalisierbar für vielerlei Zwecke und namentlich für Rollenspiele der Beteiligten.

II. Wenn an den Vorurteilen vor allem über den jüngeren Thomas Mann etwas dran ist, dann müsste der Brief für ihn das ideale Medium der Distanzkommunikation sein. Er gilt nicht als gesellig, sondern als ein emotionsarmer Rationalist. Sein erster Biograf Arthur Eloesser, der gleich noch begegnen wird, sagt das in seinem pünktlich zum 50. Geburtstag 1925 erschienenen, von Thomas Mann autorisierten Buch ganz deutlich: Der junge Thomas Mann hat keinen Kranz auf seinem Haupte getragen, und man kann sich auch sonst nicht vorstellen, daß er mit Gleichgestimmten, Gleichgesinnten, Gleichbegeisterten an einer Tafelrunde geschwelgt hat. Es gibt kaum einen Schriftsteller, der mit weniger Geselligkeit, mit weniger Kameradschaft aufgetreten ist, der, obgleich literarisch durch und durch, weniger aus einer literarischen Kampfgemeinschaft zu stammen scheint.2

Ähnlich wie sein Biograf Eloesser bezichtigt sich der 50-jährige Thomas Mann in seiner im Münchner Rathaus gehaltenen Tischrede im Angesicht der versammelten Festgemeinde selbst der Ungeselligkeit, der Distanziertheit: Habe ich es verdient, vor allem menschlich-persönlich verdient? Ich fürchte: nein. Ich war kein recht geselliger Mensch, kein guter Kollege sogar, fürchte ich. Ich hielt mich zurück, ich war viel allein, ich war schwer für Austausch und Organisation und Gesellschaft zu haben.3

2  Arthur Eloesser: Thomas Mann. Sein Leben und sein Werk. Berlin 1925, S. 11. 3  Thomas Mann: Tischrede bei der Feier des 50. Geburtstags. In: Ders.: Essays II. 1914–1926. Hrsg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Band 15.1.) Frankfurt / Main 2002, S. 985–988, hier S. 985 f.

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Er könnte ergänzen: aber ich schreibe viele Briefe! Sozialer Rückzug und die daraus resultierende Selbstverrätselung eines Autors – nach Mann durch Salinger, Pynchon, Moers auf die Spitze getrieben und von den Lesern zum Kult erhoben – eröffnen dem fiktionalen und dem essayistischen Schrei­ben erst Spiel-Raum für Selbstbilder des Autors, die zu Nacherleben und Nachempfinden Anlass geben. In der Brief kommunikation bekommt diesen Spielraum zunächst nur einer angeboten: der Adressat. Manns Briefe aber, von denen sich der neugierige Leser Nabelschau erhoffen könnte, verrätseln das Bild des Schreibers erneut, sie bilden, wie Bernhard Blume schon 1970 festhielt, eine »kühle Verweisung von der Person auf das Werk«.4 Die Künstlichkeit, mit der ein Ich namens Thomas Mann dort von sich schreibt, bewirkt mehr Abwehr als Annäherung. Das Gros der Briefe, so noch einmal Blume, sei »ein überlegtes und höchst diszipliniertes Verteidigungswerk […]: den immer wiederholten Versuch, sich auf die Forderungen der Welt einzulassen und sich ihnen gleichzeitig zu entziehen«.5 Briefeschreiben als eine der Hauptaufgaben des in sozialer Beziehungsarmut lebenden repräsentativen Autors ist ein – literarisches, ein von Thomas Mann erfundenes Motiv, das in Forschungsbeiträgen zu seinen Briefen gern zitiert wird. Das Zitat ist auch hier unvermeidlich, man kann es Satz für Satz auf seinen Autor ummünzen: Beinahe noch ein Gymnasiast, besaß er einen Namen. Zehn Jahre später hatte er gelernt, von seinem Schreibtische aus zu repräsentieren, seinen Ruhm zu verwalten, in einem Briefsatz, der kurz sein mußte (denn viele Ansprüche dringen auf den Erfolgreichen, den Vertrauenswürdigen ein), gütig und bedeutend zu sein. Der Vierziger hatte, ermattet von den Strapazen und Wechselfällen der eigentlichen Arbeit, alltäglich eine Post zu bewältigen, die Wertzeichen aus aller Herren Länder trug.6

Das alles trifft auf den 40-jährigen Thomas Mann von 1915 in etwa zu, er wird sich mit den Briefen leicht getan haben, doch seine literarische Produktion stockte. Gustav von Aschenbach, um den es in dem Zitat geht, hört mit 50 Jahren dann auch auf, Briefe zu schrei­ben, und will stattdessen zu leben beginnen. Bekanntlich bleibt er auch in Venedig bei seinen Selbstge-

4  Bernhard Blume: Der Briefschreiber Thomas Mann. In: Jeffrey L. Sammons, Ernst Schürer (Hrsg.): Lebendige Form. Interpretationen zur deutschen Literatur. Festschrift für Heinrich E. K. Henel. München 1970, S. 277–289, hier S. 277. 5  Ebd., S. 278. 6  Thomas Mann: Der Tod in Venedig. In: Ders.: Frühe Erzählungen 1893–1912. Hrsg. und textkritisch durchgesehen von Terence J. Reed (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Band 2.1.) Frankfurt / Main 2005, S. 501–592, hier S. 508.

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sprächen, bei der bloßen Projektion auf ein idealisiertes Selbstobjekt – einen 14-jährigen polnischen Knaben, mit dem er in eine neue, recht instabile Distanzkommunikation aus Blickwechseln und anderen Gesten eintritt. Seine erkaltete Herzensschrift hatte sich aber offenbar zuletzt im Brief noch manifestieren können. Das literaturwissenschaftlich Unstatthafte der gerade geübten Argumentationspraxis, die Analogiebildung zwischen Held und Autor, hat uns Thomas Mann vorgemacht und nahegelegt; nicht nur in Reden und Essays, sondern auch in Briefen, dort vielleicht noch weitergehend als in anderen Medien. Mann ermutigt seine Interpreten, Analogien zwischen ihm selbst und Gustav von Aschenbach oder Hans Castorp, zwischen Autor und Werk, gern auch zwischen Autor und Kritiker zu bilden. Er stellt Analogien her zwischen seinen Texten und denen, die ihm seine Korrespondenten zusenden, solchen vielleicht, die auch in enger Kooperation entstanden sind. Als Resultat einer Aushandlung zwischen dem Autor Eloesser und dem Gegenstand der Biografie Mann darf beispielsweise auch eine Analogiebildung zum Zauberberg-Helden Hans Castorp gelten, mit der Eloesser seinen Band beschließt: »Thomas Mann hat sich in jeder Hinsicht hoch hinaufgewagt, ohne bergkrank zu werden, und er hat uns auf seine Höhe mitgenommen, von der wir nun Übersicht gewinnen.«7 Die Deutungs- und Bewertungsprozesse in den Briefen der Zwischenkriegszeit, gehe es um Manns eigene Texte oder die der Adressaten, sind nicht zu denken ohne Analogien und Spiegelungen. Der briefliche Dialog kreist mitunter darum, ausgehend von Gemeinsamkeiten zwischen beiden Schreibern und / oder ihren Texten, zwei ›Diskurswelten‹, nämlich die des jeweiligen Schreibers und die des jeweiligen Empfängers, zu verknüpfen, indem implizit behauptet wird, die eine dieser Welten sei ein Gegenstück, man könnte auch sagen: Spiegel- oder Projektionsfläche, der jeweils anderen. Es ist von einigem Reiz, die auf Konsens und Spiegelung bedachte Briefkommunikation zwischen Schriftsteller und Publizist oder zwischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler unter diesem Aspekt zu sehen. Die Kognitionswissenschaft spricht von ähnlichen Diskurswelten, die mittels cross-space mapping durch den Rezipienten miteinander in Verbindung zu bringen seien: »A partial cross-space mapping connects counterparts in the input mental spaces.«8 Die beiden ›Versionen‹ etwa von Charakteren in den beiden zu betrachtenden mental spaces werden counterparts genannt, Gegenstücke. Auf diese Weise wird das vordergründig Unverbundene miteinander

7  Eloesser: Thomas Mann, S. 205. 8  Gilles Fauconnier, Mark Turner: The way we think. Conceptual Blending and the Mind’s Hidden Complexities. New York 2002, S. 41.

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verknüpft, es wird wechselseitig kontextualisiert.9 Die Erzeugung solcher ›Gegenstücke‹ zwischen Erfahrungswelt und fiktionaler Welt oder zwischen zwei ›Teilwelten‹ eines fiktionalen Texts (etwa: Vergangenheit und Gegenwart einer Figur, die somit eine in zwei ›Welten‹ agierende, von Welt zu Welt sich wandelnde Figur ist) ist Sache der Literatur  – im ›wirklichen‹ Leben kommt sie freilich auch vor und Thomas Manns Briefpraxis bezeugt dies. Immer wieder das Analoge zu sehen, immer wieder einander zu bespiegeln und auf diese Weise weitgehenden Konsens zu artikulieren, der vielleicht durch Synthesenformeln noch auf den Punkt gebracht wird – das funktioniert sehr gut in Briefen an einen geduldigen Adressaten, der sich geehrt fühlt, von einem bereits berühmten Autor dergestalt Anerkennung zu erfahren. Anerkennung dürfte auch ein Hauptmotiv des Briefeschreibens sein; erwartet werden kann sie, wenn Ähnlichkeiten und nicht Differenzen zur Sprache kommen. Analogien zudem und vor allem zwischen seiner Welt und den von ihm geschaffenen Textwelten zu bilden, ohne jedoch Schlüsselromane zu schrei­ben – Akte der Kommentierung und Deutung eigener Texte vorzunehmen, Selbstzitate aus den fiktionalen Texten in Briefe zu integrieren,10 das ist Manns vielleicht größter poetologischer Trick. Briefe eignen sich hervorragend dafür, Adressaten sozusagen ungestraft mit Analogisierungen zu beglücken. Sie werden sich umso seltener wehren, wenn sie den Brief als Gabe, als Geschenk werten. Ein aufstrebender, aber (noch) nicht allzu sehr sozial aufgeschlossener Autor, der seine Deutungs- und Wertungsvorschläge unters Volk bringen möchte, wird sich an seinen Schreibtisch zurückziehen und Briefe schrei­ben, ohne sich gleich einem Gegenüber aussetzen zu müssen. Vorab noch dies: Nur einsamer Repräsentant war der Briefschreiber Thomas Mann zu keiner Zeit! Kritiker und Literaturwissenschaftler – zumindest von ihrer Ausbildung her sind diese beiden Personengruppen im hier infrage stehenden Zeitraum nicht leicht zu unterscheiden: Sie waren in der Regel studierte Philologen, anders als Thomas Mann der damaligen Auffassung nach: Gebildete. Spiegelung und Konsensbildung mit den gelernten Philologen waren für den ›halbgebildeten‹ Dichter-Literaten Thomas Mann – diese Worte fallen vor dem Horizont der Betrachtungen eines Unpolitischen, Manns großem Selbstbespiegelungsessay der Kriegsjahre – ein Stück Selbstlegitimation und Annäherung an sehr bürgerliches Personal. Dabei hatte es den Typus des gebildeten Dichterphilologen seit dem 19.  Jahrhundert gegeben, hatten sich

  9  Vgl. Peter Stockwell: Cognitive Poetics. An introduction. London, New York 2002, S. 94 f. 10  Vgl. das Kapitel »Selbstzitate in Thomas Manns Briefen« in: Gert Bruhn: Das Selbstzitat bei Thomas Mann. Untersuchungen zum Verhältnis von Fiktion und Autobiographie in seinem Werk. New York u. a. 1992, S. 151–159.

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Konkurrenz und Komplizenschaft zwischen literarischer Autorschaft und Philologie ausgeprägt.11 Neu war nun, im frühen 20. Jahrhundert, dass die Philologie selbst sich langsam von ihrer poesieabstinenten Nüchternheit verabschiedete und sich unter dem Rubrum ›Geisteswissenschaft‹ der damals sogenannten ›Dichtung‹ annäherte.12

III. Thomas Mann gilt als eifriger Briefschreiber; dies lässt sich, nach Jahren geordnet, leicht nachweisen und visualisieren. Die Zahlen der Grafik beruhen auf der nun allerdings gut drei Jahrzehnte alten (und leider nicht aktualisierten)13 Regestausgabe14, die 14.000 Briefe erfasst hat – das aktuelle Thomas-Mann-Handbuch spricht von inzwischen 25.000 bekannten Von-Briefen, wovon 21.000 (meist in Kopie) im Zürcher Thomas-Mann-Archiv lägen15. Eine abweichende Zahl nannte auf Anfrage das Archiv, nämlich derzeit 15.806 Von-Briefe und 8.087 An-Briefe.16 Die Regestausgabe indes, an deren Zahlen sich dieser Beitrag also etwas anachronistischerweise orientiert, wusste schon vor 40 Jahren zu berichten, dass von den in den Tagebüchern der Jahre 1918–1921 genannten Briefen nur ein Drittel bekannt sei – und da Mann umgekehrt viele erhaltene Briefe dort nicht genannt hat, dürfte es zahlreiche Schrei­ben gegeben haben, die weder in den Tagebüchern genannt noch erhalten sind17 – die Zahl 113 für

11  Vgl. Mark-Georg Dehrmann: Studierte Dichter. Zum Spannungsverhältnis von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert. Berlin, Boston 2015. 12  Vgl. nach wie vor: Christoph König, Eberhard Lämmert (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910–1925. Frankfurt / Main 1993. 13  Angesichts des Zuwachses an bekannten Briefen und des nicht nachlassenden Interesses an Werk und Person Thomas Manns ist eine Open-Access-Datenbank zumindest mit allen bekannten Metadaten plus Bilddigitalisaten ein dringendes Desiderat der Thomas-Mann-Forschung. Vermutlich wurde bislang auch nicht systematisch nach nicht im Nachlass befindlichen An-Briefen recherchiert. 14  Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register. Bearb. und hrsg. von Hans Bürgin und Hans-Otto Mayer. 5 Bände. Frankfurt / Main 1977–1987. 15  Vgl. Thomas Sprecher: Briefe. In: Andreas Blödorn, Friedhelm Marx (Hrsg.): Thomas-Mann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2015, S. 230–236, hier S. 231. 16  Für diese Auskunft per E-Mail (am 4.12.2017) danke ich Frau Gabi Hollender, wiss. Bibliothekarin an der ETH Zürich. 17  Vgl. Gert Heine, Yvonne Schmidlin: Nachwort. In: Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register. Band IV. Bearb. und hrsg. von Hans Bürgin und Hans-Otto Mayer. Frankfurt / Main 1987, S. 623–638, hier S. 627 f.

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Abb. 1: Überlieferung der Briefe Thomas Manns laut Regestausgabe (s. Anm. 13; eigene Grafik). Hellgrau die Gesamtzahl der Briefe, darüber dunkelgrau für einige ausgewählte Jahre der Anteil der Briefe an Literaturkritiker und -wissenschaftler in absoluten Zahlen.18

18  Für die Anfertigung der Grafik danke ich Frau Bianca Müller, Marburg.

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1918 müsste demnach um mindestens das Drei- bis Vierfache nach oben korrigiert werden. Von dieser mutmaßlich eklatanten Überlieferungslücke aus gesehen ist der recht langsame, aber kontinuierliche Anstieg der Briefproduktion bis in die 1920er Jahre hinein eher infrage zu stellen. Es ist vielmehr anzunehmen, dass auch der junge Autor Thomas Mann jährlich schon Hunderte von Briefen verfasst hat, von denen die meisten einfach (noch) nicht zutage getreten sind. Überlieferung ist aber auch ein belastbares Datum: Zweifellos haben immer mehr Adressaten die Briefe Manns nicht nur archiviert, sondern auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Um diese spekulative Schlusskette zu beenden: Mit steigendem sozialen Kapital, mit zunehmendem Ruhm des Autors wurde der ausgefertigte Brief als wertvolle Gabe seines Schreibers auch zum ›Wertgegenstand‹ und Sammelobjekt des Adressaten. Der Grafik ist u. a. Folgendes zu entnehmen: ein erster Einschnitt um 1900, also mit dem Erscheinen von Buddenbrooks; ein zweiter deutlicher Einschnitt erst ca. 1924 mit dem Erscheinen des Zauberberg und dem 50.  Geburtstag 1925. Mitten in dem hier interessierenden Zeitraum ist ein neues Niveau erreicht. Weiterhin auffällig: Der 1929 verliehene Nobelpreis fällt nicht ins Gewicht und auch die Emigration 1933 bildet keine Zäsur. Die 1938 erfolgte Emigration in die USA stellt den Autor hingegen auf eine ganz neue Geschäfts- und Kommunikationsgrundlage. Er benötigt jetzt ein Sekretariat, nun muss eine wahrhaft umfangreiche Geschäftskorrespondenz bewältigt werden und auch die privaten Kontakte sind stärker zerstreut als je zuvor. Mit 60 hatte Mann drei Viertel seines Lebens hinter sich  – aber er hätte erst ein Viertel seiner Briefe geschrieben, wenn die Relationen der Regestausgabe stimmten. Gegen Ende dieser lebensgeschichtlich späten brieflichen Frühphase bewegen wir uns, wenn wir uns Briefe bis 1933 genauer ansehen. In der Grafik dunkelgrau bezeichnet ist der Anteil der Schrei­ben an Literaturwissenschaftler und Kritiker. Die entsprechende Zuordnung ist angreifbar, da sie funktionale Überschneidungen zwischen Autor und Kritiker nicht berücksichtigt und auch eine nicht primär als Rezensentin agierende intensive Briefpartnerin wie Agnes E. Mayer hier nicht gelistet wird. Doch selbst wenn großzügig mit der Rolle ›Kritiker‹ umgegangen würde (›Literaturwissenschaftler‹ lassen sich leichter identifizieren, auch wenn sie zusätzlich ›Dichter‹ und ›Kritiker‹ sind), ergäbe sich ein überraschender Befund: Der Anteil der Briefe an Kritiker und Literaturwissenschaftler in Relation zu den überhaupt geschriebenen (und überlieferten) Briefen geht zwischen 1918 und 1943, jedenfalls bezogen auf die 6 Samples 1918, 1925, 1932, 1933, 1938, 1943, kontinuierlich zurück. Prozentzahlen verdeutlichen dies: Machen 1918 mit 56 von 113 Briefen diejenigen an die beiden genannten Spezies 50 % aus, so sind es 1925 49 %, 1932 32 %, 1933 21 %,

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1938 11 % und 1943 ebenfalls 11 %.19 Aus diesen Zahlen soll einzig geschlussfolgert werden, dass die Zeit von 1918 bis 1933  – freilich unter großem Vorbehalt – die Formationsphase der brieflichen Auseinandersetzung mit diesen beiden Adressatengruppen ist.20 Nur in einigen dieser Briefe (und von vielen ist nach wie vor allein das Regest zugänglich) sind einseitige oder auch wechselseitige hermeneutische Bemühungen erkennbar, oft geht es schlicht um angefragte Aufsätze, an den Autor gerichtete Bitten um Auskünfte für wissenschaftliche Studien und Ähnliches. Der Adressatenkreis des Ruhm erlangenden Autors verändert sich in den 1920er Jahren eklatant. Zum Ende des Untersuchungszeitraums hin kommen neben ›einfachen‹ LeserInnen, gewissermaßen der Beantwortung von ›Fanpost‹ also, vor allem AutorInnen und ÜbersetzerInnen hinzu. Natürlich entstehen auch lebenslang Familienbriefe,21 es gibt einige ›LangzeitadressatInnen‹ wie sein größter Fan Ida Herz. Immer mehr Bücher und sonstige Elaborate werden Mann zugesandt oder es kommen Anfragen nach Lesungen, Vorträgen – Mann scheint sehr ausdauernd zu antworten oder antworten zu lassen. Aber davon ist hier nicht die Rede. Zum allergrößten Teil sind Thomas Manns Briefe auch nicht Teil des ›Werks‹, indem sie etwa Schreibverfahren der Moderne in das Genre Brief überführten. Ergiebig wären, wenn es um Sprachspiele, Zitatcollagen, um einen ganz eigenen Code, gehen soll, die Familienbriefe, die den Dialog zwischen Mitgliedern einer problematischen Familie in gekünstelt-kunstvoller Kindersprache fortschreiben. Die Briefe als Gesamtkorpus partizipieren aber an einem lebenslangen Projekt der Totalisierung und Homogenisierung von ›Leben‹ und ›Werk‹, das den Dialog mit Kritikern und Literaturwissenschaftlern einschließt und dabei im Sinne der Begriffe ›Nach-Erleben, Spiegeln, Deuten‹ funktionalisiert.

19  Die Zahl von 1938 berücksichtigt nicht, dass Thomas Mann als Herausgeber von Maß und Wert in diesem Jahr selbst als ›Kritiker‹ auftritt. 20  Mehr Aufschluss wird man sich allein von einer sowohl qualitativ als auch quantitativ verfahrenden größeren Studie versprechen. 21  Vgl. den beachtlichen Versuch, in einer akribisch kommentierten Briefedition die Konjunkturen des brieflichen Familiennetzwerks darzustellen: Die Briefe der Manns. Ein Familienporträt. Hrsg. von Tilmann Lahme, Kerstin Klein und Holger Pils. Frankfurt / Main 2016.

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IV. Die eigenen Texte und die des Adressaten zu deuten ist nicht mit sozial distanzierter Schreibtischrepräsentation identisch. Als Beispiel dienen zunächst die insgesamt 36,22 in ihrer Mehrzahl ungedruckten Briefe an Arthur Eloesser (1870–1938), den schon genannten Biografen, einen der ersten Germanisten, der sich mit Manns Texten befasste. Der Schüler Erich Schmidts konnte sich als Jude nicht habilitieren und arbeitete als Kritiker und Dramaturg in Berlin, verfasste dabei aber immer wieder literaturwissenschaftliche Monografien sowie eine zweibändige Literaturgeschichte. Die Nähe zu Mann stellte sich über Samuel Fischer ein, den Eloesser, um 1900 bereits Theaterkritiker der Vossischen Zeitung, beriet. Eloesser findet man über Jahrzehnte »an den Brennpunkten literarischer Öffentlichkeit in Deutschland«,23 er konnte für einen aufstrebenden Schriftsteller wie Thomas Mann ein wertvoller Multiplikator sein. Immer wieder versuchte Eloesser Autoren »in den Rang von Klassikern zu erheben«, das meint neben Mann auch die seinerzeitige Wiederentdeckung und Kanonisierung Kleists.24 Briefe wie mündliche Dialoge bilden wichtige Schnittstellen, wenn man auch Thomas Mann als »Produkt publizistischer und verlegerischer Strategien« betrachten möchte.25 Kaum einer der Briefe Manns an Eloesser ist ediert; interessant ist das Narrativ, das sich aus ihrer Summe ergibt:26 Seit 1904 sendet Eloesser seine Bücher an Thomas Mann (wofür dieser dankt), baut also systematisch eine briefliche Beziehung zu ihm auf. Man beschränkt sich nun jahrzehntelang auf den Austausch von Büchern; von Mann kommt viel Dank und Anerkennung. Seit der zustimmend aufgenommenen Zauberberg-Rezension Eloessers und der Biografie von 1925 berichtet Mann immer wieder aus seinem Leben, schreibt Ansichtskarten und bespricht die zwei Bände von Eloessers Literaturgeschichte – Gefälligkeit folgt auf Gefälligkeit. Allzu große Vertrautheit stellt sich nicht ein, 1925 bittet Mann ihn allerdings um einen Besuch wegen der geplanten Biografie. Spätere Briefe sind etwas persönlicher, schließen Reiseberichte Manns ein. Dass Mann Eloesser Vorgaben

22  30 stammen aus den Jahren 1904 bis 1932, nur 6 aus den Jahren 1934 bis 1936. 23  Andreas Terwey: Arthur Eloesser (1870–1938). Kritik als Lebensform. Diss. Frankfurt / Oder 2010, S. 11. (urn: urn:nbn:de:kobv:521-opus4-2042 [letzter Zugriff: 6.1.2018]); vgl. ders.: Arthur Eloesser. In: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Hrsg. und eingeleitet von Christoph König. Band 1. Berlin, New York 2003, S. 429 f. 24  Terwey: Eloesser, S. 17. 25  Ebd. 26  Ich verweise zunächst hier wie auch für meine weiteren Stichproben summarisch auf Band 1 der bereits genannten Regest-Ausgabe.

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gemacht hätte, geht aus den Briefen kaum hervor. Hingegen bezeichnet die Konstellation aus ›Biografie schrei­ben‹ – ›Rezensieren‹ – ›Briefe schrei­ben‹ einen antiphilologischen Richtungswechsel der Philologen, der sie erst für einen Literaten der Moderne wie Thomas Mann kompatibel, nämlich ihm ›ähnlich‹ macht. Erich ­Schmidt hatte seinen Schülern empfohlen, Biografien in der Nachfolge Goethes zu schrei­ben, »Dichterbilder«, an denen der betriebene philologische Aufwand (den ­Schmidt als Philologe aus der Schule Wilhelm Scherers selbstverständlich voraussetzte) nicht mehr ersichtlich war.27 Die auch damals schon spürbare Überproduktion an promovierten oder habilitierten Philologen erforderte den Ausweg in die Publizistik, damit aber einen Weg von der Dürre der Lesart hin zum »schöpferischen Nachvollzug«.28 Thomas Manns briefliche Reaktion auf Eloessers Zauberberg-Rezension ist inzwischen gedruckt. Deutung und Spiegelung heißt hier, dass der Rezensierte den Rezensenten nachempfindend bewertet und schließlich zur Quasi-Identifikation mit dem Rezensenten noch die Selbstidentifikation mit dem Gegenstand, dem Romanhelden Castorp, dreingibt – welcher Kritiker aber bedürfte der Interpretation und der Bewertung seiner Publikation durch den Autor? Lieber Herr Dr. Eloesser, ich bin tief bewegt von der Besprechung, die Sie dem ›Zauberberg‹ in der Vossischen Zeitung gewidmet haben, und es drängt mich, Ihnen dafür zu danken. Es ist so schön, wie Sie trockenen Tones anheben, wie dann die großen – beschämend großen – Akzente Ihnen später wie beiläufig und sogar wie wider Willen entschlüpfen, und wie Sie mit einem kurzen, klugen Wort Licht zu werfen wissen auf das Ganze. So ein Wort ist es, daß der Bürgerssohn im Zauberberge von der Romantik entzaubert werde, – es sei ein Abschied. […] Es ist die Wendung in meinem aufrichtig bescheidenen und dennoch repräsentativen Leben […].29

Der französische Literaturwissenschaftler und Übersetzer Mann’scher Bücher Félix Bertaux wird hingegen dazu aufgefordert, einen Artikel über den Zauberberg zu veröffentlichen, denn dieser Roman könne dem intellektuellen Europa Aufschlüsse über die geistig-seelische Verfassung Deutsch-

27  Vgl. zu diesen Kontexten wiederum ebd., S. 28–32. 28  Ebd., S. 31. 29  Thomas Mann: Brief an Arthur Eloesser vom 4.12.1924. In: Ders.: Briefe III. 1924–1932. Ausgewählt und hrsg. von Thomas Sprecher, Hans R. Vaget und Cornelia Bernini (=  Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Band 23.1.) Frankfurt / Main 2011, S. 102 f., hier S. 102.

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lands geben.30 Die Reihe der Beispiele ließe sich mühelos fortsetzen. Es ist allerdings ein Topos, dass Mann Kritikern und Germanisten brieflich solche Angebote oder gar Gebote sozusagen ins Stammbuch schreibt; Selbstinterpretation und Rezeptionssteuerung sind bekanntermaßen wichtige Motive in Manns Briefen.31 Nach Roman Jakobsons Kommunikationsmodell32 geht es hier um die konative Funktion der Sprache: Die Rede ist mit einer Aufforderung an den Empfänger verbunden, er solle sich die Deutungsvorgaben des Schreibers zu eigen machen und diese fortführen. Seinen Schulfreund und frühen Buddenbrooks-Rezensenten Otto Grautoff hatte er 1901 die Vorzüge sowie einige kleinere Defizite des frühen Opus in die Feder diktiert,33 ein spätes Beispiel ist weniger bekannt: Die in der DDR in 11 Auflagen erschienene Thomas-Mann-Einführung Eberhard Hilschers enthält im Anhang 12 Briefe Thomas Manns, die jene beantworten, welche der Student einst zur Beförderung seiner Examensarbeit seit 1950 geschrieben hatte,34 und die Generationen von Lesern ebenso die ›Wahrheit‹ über Manns Werk verkündeten wie die ebenfalls weitgehend aus Briefzitaten gespeisten, meist von Hans Wysling herausgegebenen Bände mit Thomas Manns Selbstkommentaren.35 Die teils antreibenden, vorausdeutenden und anschließend positiv be­­ wertenden Briefreihen an Doktoranden der Germanistik beginnen jetzt, in den 1920er Jahren. Wohl einer der ersten, der in seiner Dissertation einen Briefauszug abdruckt, ist Hans Armin Peter, der über Thomas Mann und seine epische Charakterisierungskunst promoviert. Auf eine banale Frage bekommt er eine banale Antwort und verewigt diese in einer Fußnote. Auf der Einbanddecke der seit 1922 erscheinenden Gesammelten Werke findet sich eine

30  Vgl. Thomas Mann: Brief an Félix Bertaux vom 25.1.1925. Regest in: Mann: Regesten und Register, Band 1, S. 395 f. 31  »Briefe besaßen eine nicht zu unterschätzende multiplikatorische Wirkung und waren daher ein günstiger Ort, die eigenen Schriften ins rechte Licht zu rücken. In ihnen nahm Mann Selbstinterpretation und Rezeptionssteuerung vor.« (Sprecher: Briefe, S. 232.) 32  Vgl. summarisch, für meine hier entwickelte Argumentation aber ausreichend: https:// de.wikipedia.org/wiki/Roman_Ossipowitsch_Jakobson#Das_Kommunikationsmodell [letzter Zugriff: 6.1.2018]. 33  »Ein paar Winke noch, Buddenbrooks betreffend. Im Lootsen sowohl wie in den Neuesten betone, bitte, den deutschen Charakter des Buches. Als zwei echt deutsche Ingedienzen [sic], die wenigstens im II. Bande (der wohl der bedeutendere sei) stark hervorträten, nenne Musik und Philosophie. […] Tadle ein wenig (wenn es Dir recht ist) die Hoffnungslosigkeit und Melancholie des Ausganges. Eine gewisse nihilistische Neigung sei bei dem Verf. manchmal zu spüren.« (Thomas Mann: Brief an Otto Grautoff vom 26.11.1901. In: Ders.: Briefe an Otto Grautoff 1894–1901 und Ida Boy-Ed 1903–1928. Hrsg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt / Main 1975, S. 139 f.) 34  Vgl. Eberhard Hilscher: Thomas Mann. Sein Leben und Werk. Berlin [DDR] 1968 [11. Aufl. 1989], S. 246–266. 35  Hier sei nur ein Beispiel bibliografiert: Thomas Mann: Selbstkommentare Der Zauberberg. Hrsg. von Hans Wysling. Frankfurt / Main 1993.

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aus den Initialen T und M sowie Bogen und Leier bestehende Vignette. In der Fußnote der 1929 erschienenen Dissertation ist zu lesen: Sie [die Vignette, J. S.] läßt sich nicht schwer enträtseln als eine zeichnerische Umschreibung für ›Thomas Manns Gesammelte Werke‹ oder was damit gleichbedeutend ist, für ›Thomas Manns Bogen und Leier‹. Ich hatte dem Dichter die Vermutung geäußert, mit den Linien unter der Leier werde noch ein Drittes angedeutet, worauf er mir in einem Brief vom 2. Februar 1925 mitteilte, diese Linien seien ›entweder‹ als ›Bestandteil‹ der Leier ›oder rein dekorativ zu verstehen‹.36

Noch etwas früher wird der Schweizer Doktorand Carl Helbling mit Vorschusslorbeeren und mit Bibliografischem versorgt, muss aber dann belehrt werden, dass Buddenbrooks »der erste und einzige naturalistische Roman großen Stils in Deutschland ist und als solcher in Zukunft gelten wird«.37 Erst in der Folge kann auch eine menschliche Beziehung begründet werden; der im Inflationswinter 1923 besonders wohlhabend erscheinende Schweizer Adept schickt Familie Mann ein Weihnachtspäckchen nach München. Dass diese Steuerung nicht einseitig vonstattengeht, hat Friedhelm Marx in einem wichtigen Aufsatz zu Manns Kontakten zur Literaturwissenschaft gezeigt; auch umgekehrt greift Mann in seinen Selbstdeutungen und womöglich gar in der Textproduktion Vorgaben von außen auf. Als man ihn auf Bildungsromane hinweist und als man ihn mit Joyce in Relation setzt, legt er Wert auf die Feststellung, Bildungsromane zu schrei­ben, und vielleicht ist der Faustroman sein Gegenstück zum Ulysses. Die Prinzipien Spiegelung und Analogiebildung zeigen sich hier nicht nur im Dialog Autor – Kritiker über das Werk, sondern auch mit den ›Vorbildern‹: Der Zauberberg darf von nun an als das moderne Gegenstück zum Wilhelm Meister gelten.38 Diesen Beobachtungen ist hier hinzuzufügen, dass Analogiebildungen und Spiegelungen in beide Richtungen gehen können. Dies schließt ein, Statur und Werk des Gegenübers mit je der eigenen in eine Ähnlichkeitsrelation zu setzen. Einige weitere Beispiele aus den 1920er Jahren sollen folgen.

36  Hans Armin Peter: Thomas Mann und seine epische Charakterisierungskunst. Diss. Bern 1929, S. 31. Der Brief (vom 2.2.1925) ist mittlerweile publiziert in: Mann: Briefe III, S. 128 f. 37  Thomas Mann: Brief an Carl Helbling vom 24.4.1922. In: Ders.: Briefe II. 1914–1923. Ausgewählt und hrsg. von Thomas Sprecher, Hans R. Vaget und Cornelia Bernini. (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Band 22.) Frankfurt / Main 2004, S. 434 f., hier S. 435. 38  Vgl. Friedhelm Marx: »Lauter Professoren und Docenten«. Thomas Manns Verhältnis zur Literaturwissenschaft. In: Michael Ansel, Hans-Edwin Friedrich, Gerhard Lauer (Hrsg.): Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann. Berlin, New York 2009, S. 85–96.

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V. Der Münchner Romanist Karl Voßler war ein Bündnispartner Manns. Ihm schreibt dieser am 6.5.1925: Sie haben mir mit Ihrem Aufsatz aus der ›Zeitwende‹ eine wunderbar reiche und geistig belebte Stunde bereitet, für die ich Ihnen vielmals danken muss. Dieser grossartige und beziehungsvolle Aufsatz gehört zu dem Schönsten und Sympathischsten, was mir in letzter Zeit an literarischen Dingen vor Augen gekommen ist. Ich bin vielleicht nicht einmal der Mann, über den absoluten Wert gerade dieser Arbeit objektiv zu urteilen, da ich vom ersten Augenblick an bestochen war durch den Gegenstand, der so recht der meine ist und mir am Herzen liegt wie kein anderer. Ich wüsste keine eigne Konzeption in Vergangenheit und Zukunft, in die das Thema von Nord und Süd, Romanischem und Germanischem nicht hineinspielte. Gewiss war es ein Gefühl hiervon, was Sie veranlasste, mir liebenswürdiger Weise die Arbeit zu schicken.39

Der Aufsatz »Die romanischen Kulturen und der deutsche Geist«40 regt Mann nicht nur zu Dank und zu positiver Bewertung an, sondern auch zu einem Vorgang der Spiegelung und der Deutung. Voßlers Appell an die »Einheit der menschlichen Gesamtkultur«41 prägt eine Versöhnungsformel, für Thomas Mann bieten sich analoge Denkfiguren in seinen eigenen Texten an, er deutet Voßlers Text sozusagen als Gegenstück zu eigenen. Deutschland als Mitte Europas und Ort der Versöhnung ist in der Zeit des »Zauberberg« eine gängige Formel. Voßler gibt Mann, was er eigentlich schon be­­ sitzt, und sagt ihm, was er schon weiß. In diesem Sinn deutet Mann Voßlers Text und kann ihn folglich auch enthusiastisch bewerten. Wechselseitigkeit der Deutungshoheit, gewissermaßen die Begegnung zweier ›Deutungs-Hoheiten‹, stellt sich ein, wenn das Gegenüber auch literarisch produktiv ist und auf den Dank für dessen Rezension Manns eigene Lobreden als spiegelbildliches Analogon folgen dürfen. Ein Hausrezensent der 1920er Jahre ist Julius Bab, aber auch der Freiburger Germanist Philipp Witkop (1880–1942) ist hier zu nennen, an den Mann zwischen 1899 und 1 933 120 Briefe schickt, von denen nur die Wenigsten gedruckt sind.42 Wit-

39  In: Thomas Mann: Briefe III, S. 160. 40  In: Zeitwende 1 (1925), S. 501 ff. 41  Ebd., S. 501. Zitiert nach: Thomas Mann: Briefe III. Kommentar von Thomas Sprecher, Hans R. Vaget und Cornelia Bernini. (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Band 23.2.) Frankfurt / Main 2011, S. 142. 42  Wiederum verweise ich zunächst summarisch auf die Bände der Regestausgabe. 63 Briefe entstanden zwischen 1899 und 1917, 56 Briefe zwischen 1918 und 1933. Es handelt sich um einen der quantitativ bedeutenderen Briefwechsel Thomas Manns.

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kop war als Lyriker und Organisator von Lesungen in Freiburg ein Dichter-Kritiker-Germanist43 und damit jemand, der als eine Art Spiegelfigur für Mann an der Schnittstelle der drei Aufgaben Produktion – Wertung – Deutung angesiedelt war. Im Laufe der Zeit bildet sich in Brief und Gegenbrief eine Werkgemeinschaft heraus und damit ein nach Möglichkeit ungetrübtes Synthesenmodell. Als Wissenschaftler war Witkop durchaus umstritten, schon die Habilitation wäre aufgrund philologischer Defizite und ›geistesgeschichtlicher‹ Ästhetisierungen, etwa in seiner damals vielgelesenen Lyrik-Geschichte, beinahe fehlgeschlagen.44 Sein wissenschaftliches Selbstverständnis schloss ein, in der Dichtung das poetisch geformte Erlebnis des Dichters zu sehen; als Interpret suchte er in der (auf die Brüder Schlegel zurückgehenden) Form der »Charakteristik« die »lyrische Persönlichkeit zu erfassen, ohne einem Biographismus zu verfallen«.45 Auch Witkop selbst trat als Lyriker auf. Seinen größten publizistischen Erfolg feierte er wiederum als Grenzgänger, nämlich mit einer vielfach aufgelegten Anthologie von Kriegsbriefen gefallener Studenten aus den Jahren 1914 bis 1918. Mann seinerseits lieferte hymnische Würdigungen der Bücher Witkops. Wenn er Witkops Kleist-Buch brieflich als »intellektualen Roman«46 bezeichnete, dann machte er es damit zu einem Spiegelbild des Zauberberg.47 Zuspruch erhielt Witkop ausschließlich von Erfolgsautoren wie Mann oder Hesse; als Wissenschaftler blieb er Außenseiter, obgleich er als akademischer Lehrer zweifellos beliebt war: Er promovierte in Freiburg 63 DoktorandInnen, darunter bereits sehr früh zahlreiche Frauen.48 Mann lernte Witkop denn auch bezeichnenderweise als Lyriker kennen, als er selbst 1899 Redakteur beim Simplicissimus war. Die frühe wechselseitige Anteilnahme wurde durch die räumliche Nähe begünstigt, beide Briefpartner lebten zunächst in München. Immer wieder werden Bücher und Artikel getauscht, erfolgen Arbeitsberichte. Konsens tut Thomas Mann not. Eine Ansichtskarte vom Landhaus Thomas Manns in Bad Tölz aus dem Jahr

43  Vgl. Philipp Redl: Dichtergermanisten der Moderne. Ernst Stadler, Friedrich Gundolf und Philipp Witkop zwischen Poesie und Wissenschaft. Köln u. a. 2016; Achim Aurnhammer: Phi­ lipp Witkop. In: Germanistenlexikon. Band 3, S. 2047 f. 44  Vgl. Redl: Dichtergermanisten, S. 438–455. 45  Ebd., S. 303. 46  Thomas Mann: Brief an Philipp Witkop vom 30.11.1921. In: Ders.: Briefe II, S. 412. 47  Vgl. zum Begriff: Helmut Koopmann: Die Entwicklung des »intellektualen Romans« bei Thomas Mann. Untersuchungen zur Struktur von »Buddenbrooks«, »Königliche Hoheit« und »Der Zauberberg«. Bonn 1962. 48  Vgl. Redl: Dichtergermanisten, S. 478–488.

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1910 besagt lakonisch: »Ihre Zustimmung hat mir sehr wohl getan.«49 In der zeitgenössisch längst akut gewordenen Kontroverse zwischen strengen Philologen und den einer Öffnung zu ästhetisierenden Schreibweisen neigenden Vertretern der Geistesgeschichte, die etwa zwischen dem Berliner Germanisten Richard Moritz Meyer und Witkop polemisch ausgetragen wird, schlägt Mann sich empathisch auf Witkops Seite (als Nicht-Akademiker, Nicht-Philologe, der er nun einmal ist). Balsam für Witkops Wunden mögen Äußerungen über Meyer wie diese sein: Er möchte modern sein, er steht in journalistischer Fühlung mit der heutigen Produktion, und wenn er für den ›Tag‹ schreibt, ist er durchaus nicht akademisch petrefakt. Aber auf wissenschaftlichem Boden paßt er sich an und kehrt seine wissenschaftliche Seite heraus, auf die er natürlich stolz ist, weil er ohne sie nur ein mittelmäßiger Literat wäre.50

Nach der Berufung nach Freiburg dürfte Witkop zu den ersten Universitätsgermanisten gezählt haben, die Vorlesungen zu Thomas Mann abhielten – in Witkops Vorlesung von 1914 trug zudem der Autor selbst vor; es handelte sich mehr oder weniger um eine Vorform der heutigen universitären Poetikvorlesung. In den zahlreichen Briefen berichtet Mann immer wieder aus seinem Leben, kommentiert und bewertet aber auch Witkops Publikationen. Neben Georg Wittkowski und Walther Brecht ist es Witkop, den Mann zugunsten einer Ehrenpromotion für Samuel Fischer zu instrumentalisieren suchte. Mit dieser seiner ›Berufungspolitik‹ versucht sich Mann also gar an innerakademischen Gepflogenheiten. Als letztes Beispiel diene ein Brief an den Schweizer Kritiker Max Rychner, der anlässlich des 50. Geburtstags in der Zeitschrift Wissen und Leben ein 20-seitiges Mann-Porträt geliefert hat. Dort bescheinigt er Mann einen hohen Willen zur Form und stellt eigentlich den fragmentarischen Hochstapler-Roman über den Zauberberg. Mann bedankt sich nicht etwa nur für Rychners Würdigung, sondern er rechtfertigt mit seiner Kritik der Kritik erst seinen Kritiker  – er schreibt ihm Deutungshoheit aus der offenbar unbegrenzten eigenen Einsicht in sein Werk zu: […] ein kritisches Meisterstück wirklich, zum Allerbesten gehörig, was zeitgenössische Analyse hervorgebracht hat. Wir haben im Reiche kaum dieses

49  Thomas Mann an Philipp Witkop am [Poststempel] 7.10.1910. Regest in: Regestausgabe, Band 1, S. 127. 50  Thomas Mann: Brief an Philipp Witkop vom 14.10.1910. In: Ders.: Briefe I. 1889–1913. Ausgewählt und hrsg. von Thomas Sprecher, Hans R. Vaget und Cornelia Bernini. (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Band 21.) Frankfurt / Main 2002, S. 467–470, hier S. 469.

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Niveau. Es scheint doch, daß die kritisch-essayistische Kunst und Kultur des Westens es in der Schweiz leichter hat, Schule zu machen. […] Man muß doch wohl irgend etwas taugen, der Zeit und dem Leben etwas bedeuten […]. Besonderen Eindruck hat mir gemacht, zu sehen, welche Wichtigkeit Sie dem ›Felix Krull‹ unter meinen Versuchen beimessen. Wahrhaftig, ich sollte das Ding fertig zu machen suchen.51

VI. Die Sprache, in der Mann das eigene Werk, oft in Reaktionen auf die Deutungen würdigt, ist formelhaft. Formeln gewähren nicht einfach nur aussagekräftige Reduktionen, sondern sie eignen sich zur Wiederholung und sie besitzen einen hohen Wiedererkennungswert. Der Schweizer Germanist und Schriftsteller Robert Faesi52, wie alle anderen hier genannten in langem, ausgiebigem Briefwechsel mit Thomas Mann stehend, hatte über den Zauberberg geschrieben. Mann bewertet den Text positiv, aber streut dann immer mehr Deutungsstichworte ein: Ihre Einwände will und kann ich nicht widerlegen. Ich will nur allgemein erklären (und das habe ich auch schon öffentlich getan), daß ich mich ungern relativistisch und nihilistisch verstanden sehe. Der Roman, obgleich er vom Tode handelt, ist ein ›lebensfreundliches‹ Buch, eine innere Eigenschaft, die sich äußerlich durch Humor bekundet. Vielleicht ist er der einzige humoristische Roman unserer Tage […].53

Dies sind Formeln, wie wir sie aus der Lyrik Eichendorffs kennen, sie sind nur im Kontext lesbar und verstehbar. Sie sind dann aber – auch das kennen wir von Eichendorff  – in immer neuen wohlklingenden Kombinationen positiv besetzter Vokabeln zitierbar. Mann nutzt sie analogiebildend in anderem Kontext, sechs Monate zuvor hatte er in der schon zitierten Rede zum 50. Geburtstag gesagt, seinen Roman als Pars pro Toto für sein Gesamtwerk und wohl auch metonymisch für seine Person einsetzend: »Wenn ich einen Wunsch für den Nachruhm meines Werkes habe, so ist es der, man möge davon sagen, daß es lebensfreundlich ist, obwohl es vom Tode weiß.«54 Auch

51  Thomas Mann: Brief an Max Rychner vom 26.7.1925. In: Ders.: Briefe III, S. 177–179, hier S. 178. 52  Peter Stadler: Robert Faesi. In: Germanistenlexikon, Bd. 1, S. 464–466. 53  Thomas Mann: Brief an Robert Faesi vom 21.11.1925. In: Ders.: Briefe III, S. 204 f., hier S. 204. 54  Mann: Tischrede, S. 988.

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dies ist ein Beispiel von schier unzähligen; wer die angesprochenen Bändchen mit Selbstkommentaren liest, weiß ein Lied davon zu singen.

VII. Dass Autor und literaturwissenschaftlicher Leser oder Hermeneut überhaupt in eine enge, auch wechselseitig produktive Austauschbeziehung treten können, dürfte erst in der geistesgeschichtlichen Phase der Germanistik möglich geworden sein, also etwa in der Zeit des George-Kreises. Ein damals schon anachronistisch gewordenes Gegenbeispiel der ehrfürchtig-freundschaftlichen Annäherung eines jungen Germanisten an einen be­­ rühmten Schriftsteller hat sich in der Korrespondenz zwischen Theodor Storm und Erich ­Schmidt erhalten, die bei allem Austausch in familiären Dingen wie in Neuigkeiten vom Literaturbetrieb doch nicht den Charakter wechselseitiger Bestätigung, Anregung, Werkdeutung oder gar Werkgemeinschaft besitzt.55 Im Gefolge oder vielleicht besser im zeitlichen Umfeld des Erscheinens von Wilhelm Diltheys Buch Das Erlebnis und die Dichtung von 1906 setzte ein Wandel in der Germanistik von einer einseitig philologischen Begründung des Fachs hin zu einer hermeneutischen aus dem Nacherleben der Dichtung ein.56 Dem Erleben des Dichters auf die Spur zu kommen in einem nacherlebenden Schrei­ben – nicht zufällig zählte Dilthey zu den ›Wiederentdeckern Novalis’‹ – war fortan Aufgabe des Neugermanisten, der sich als Literatur-Wissenschaftler zu verstehen begann.57 Dilthey postulierte u. a. das Erleben als Basis dichterischen Schaffens und rekonstruierte vor allem aus autobiografischen Texten ein nichtpositivistisch begründetes Bild der Dichterpersönlichkeit. Der Reichtum inneren Erlebens manifestiere sich im literarischen Text.58 Sodann sei »das Verstehen fremder Lebensäußerungen nur auf der Grundlage verwandter eigener Erlebnisse – als ein ›Nacherleben‹ – möglich«.59 Briefe zu tauschen, heißt sich wechselseitig Einblick in die je eigenen Biografien zu gewähren, aber in »objektivierten Ausdrucksgestalten« des

55  Vgl. Theodor Storm, Erich ­Schmidt: Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Karl Ernst Laage. Berlin 1976. 56  Vgl. Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hölderlin. Hrsg. von Rainer Rosenberg. Leipzig 1991. 57  Vgl. erneut König, Lämmert: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 58  Vgl. Dilthey: Erlebnis, S. 165 und S. 181. 59  Matthias Jung: Wilhelm Dilthey zur Einführung. Hamburg ²2014, S. 154.

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Lebens, deren Niederschrift dem eigenen Verstehen dieses Lebens diene.60 Es ist evident, dass die Veröffentlichung von Briefsammlungen bekannter Persönlichkeiten seit dem frühen 19.  Jahrhundert als ›Leben in Briefen‹ derartigen ›Ausdrucksgestalten‹ ebendieser Leben nachspürte. Im aktiven Briefwechsel zwischen Kreativen vermögen fremdes und eigenes Erleben zu konvergieren: Es geht beim Nacherleben […] keineswegs darum, sich beispielsweise in das Befinden eines Dichters beim Schrei­ben seines Gedichtes hineinzuversetzen. Die Subjektivität des Interpreten kommt vielmehr in der Weise zur Geltung, dass die in seinem Lebenszusammenhang gegebenen Bedeutungen als Verstehenshorizont einer objektiv in der Dichtung realisierten Abfolge von Sinnmomenten verfügbar gemacht werden.61

Die Bedeutungen des Lebenszusammenhangs zu offenbaren, wechselseitig zu ergründen und mit dem ›Werk‹ in Beziehung zu setzen kann als prominente Aufgabe des Briefeschreibens, -lesens, -kommentierens zwischen den hier in Rede stehenden Korrespondenten gelten. Der wohl umfangreichste Kritiker-Germanisten-Briefwechsel Thomas Manns überhaupt fällt wesentlich in unsere Zeit und er ist so spannend, weil der lange Zeit sehr verehrte Ernst Bertram (1884–1957)62 sich Mitte der 1920er Jahre als Anhänger des völkischen Denkens bekannte und seitdem zunehmend aus Manns Synthesebeziehungen einfach ausgeschieden wurde. Natürlich hatte Bertram viel über Mann publiziert, wie selbstverständlich hatte man 1916 bis 1918 in einer idealen Werkgemeinschaft geschwelgt. Bertrams wegweisendes Nietzsche-Buch, die »Leitmonographie der Geistesgeschichte«,63 hatte schon in statu nascendi auf Mann, und Manns Betrachtungen eines Unpolitischen hatten zeitgleich auf Bertram verwiesen. Kein Wunder, dass Mann in Bertrams Buch sich selbst wiedererkannte, ein Analogon zu seinem Buch, ein Mitund Nacherlebnis: Wie nahe es mir ist; wie mein ganzes Wesen beständig darin mitschwingt; wie geschwisterlich es, in seiner Besonnenheit, Bildung […] neben meinem unbesonnenen, ungebildeten, wirren und kompromittierenden Künstlerbuche steht […]. Lesen Sie das Personenverzeichnis herunter oder auch nur das unter dem Buchstaben M, und gestehen Sie, daß mir, um ein Lieblingswort des Textes zu brauchen, ›hybride‹ Anwandlungen kommen könnten. […] Es ist wahr, ich bilde mir

60  61  62  63 

Ebd., S. 157. Ebd., S. 162. Vgl. Peter Gossens: Ernst Bertram. In: Germanistenlexikon. Band 1, S. 164 f. Jost Hermand: Geschichte der Germanistik. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 73.

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etwas darauf ein, daß Sie Ihr Buch so nicht hätten schrei­ben können, daß es diese seelische Intimität wahrscheinlich nicht gewonnen hätte, wenn Sie den großen Gegenstand nicht, gewissermaßen, in gewissem Umfange, im Kleinen noch einmal erlebt hätten.64

Am Ende erscheint also eine neue Spiegelbeziehung, die zwischen Mann und Nietzsche. Doch auf die so enge Arbeits- und Deutungsgemeinschaft folgen trennende Erlebnisse. Das Völkische in Bertrams Lyrik kann zunächst ›eingemeindet‹ werden, insofern es noch mit menschlicher und dichterischer Würde vereinbar ist. Doch muss der stets nach Konsens und Anerkennung suchende Thomas Mann um 1924 brieflich zu Banalitäten übergehen, da es offenbar keine ästhetisch-wissenschaftlichen Gemeinsamkeiten mehr gibt; nicht der vorgeschobene Zeitmangel ist verantwortlich: Lieber Bertram, es betrübt mich oft, daß unsere Korrespondenz so ganz daniederliegt [sic], und es betrübte mich noch mehr, wenn ich uns nicht in stillem und freundschaftlichem Einverständnis über die Gründe wüßte. Nehmen Sie also heute diesen beinahe stummen Gruß eines Jemand, der gleich Ihnen nicht viel Atem übrig hat, und erwidern Sie ihm, wenn der Augenblick es erlaubt, auf ähnlich pantomimische Weise!65

Und schließlich steht die Trennung an, als Bertram in seinem Nornenbuch über die Stränge schlägt. Untragbar für Mann ist die Nähe zum Rassentheoretiker Chamberlain; umso schlimmer ist es für ihn, wenn Bertram Manns literarisches Gegenstück Tonio Kröger seinem Buch zur Leitfigur erwählt und den Gegensatz Norden – Süden eindeutig zugunsten des Ersteren entschieden sehen will.66

VIII. Das Deuten und Bewerten im Brief gehört zu einer dauernden Jagd nach Seriosität, nach Bedeutung, die Thomas Mann für sich reklamieren will. Dafür tritt er mit akademisch Gebildeten in Kontakt, spendet und erfährt Anerkennung. Neben zweifellos auch autobiografischen Teilnarrativen zählen weiterhin Spuren von Texthermeneutik zur Selbstrepräsentation. Dies

64  Thomas Mann: Brief an Ernst Bertram vom 21.9.1918. In: Ders.: Briefe II, S. 249–253, hier S.  249 f. 65  Thomas Mann: Brief an Ernst Bertram vom 19.2.1924. In: Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910–1955. Hrsg. von Inge Jens. Pfullingen 1960, S. 124. 66  Vgl. Thomas Mann: Brief an Ernst Bertram vom 30.4.1925. In: Ebd., S. 138 f.

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kann freundschaftlichen Austausch, wie mit Ernst Bertram, einschließen, muss es aber nicht. Dass es meist um Konsensstiftung, um Synthesenbildung (und eben um Analogiebildung) geht, kaum um Konflikte, darf nicht verwundern. Hatte Mann bis in die Kriegsjahre hinein kaum haltbare ideengeschichtliche Antithesensysteme durchdekliniert (à la naiv vs. sentimentalisch, Geist vs. Kunst, Kultur vs. Zivilisation), ging es ihm nun in einem gesellschaftlichen Klima der Polarisierung um Synthesen, um Figuren des Konsenses, der Übereinstimmung, der Analogie. In seinem ersten Brief an die junge deutschjüdische Germanistin Käte Hamburger im September 1932 wehrt er sich bei der Begutachtung ihrer Dissertation über seine Beziehung zur Romantik gegen die Zuschreibung ›sentimentalisch‹ – nein: als Goethe-Nachfolger sei er natürlich beides, naiv und sentimentalisch.67 Manns Kritiker-Germanisten-Korrespondenzen der Weimarer Jahre repräsentieren die Formationsphase spiegelnder, synthetisierender Beziehungsarbeit. Die fein ziselierten brieflichen Beziehungen, die von Konflikten möglichst frei sein sollen, werden, und das ist das Wichtigste, von den hier vorgestellten und auch noch von weiteren Briefpartnern Manns so akzeptiert und mit ausgefüllt. Dass sie sich damit das Wasser abgraben, er ihre Arbeit übernimmt, hat Arthur Eloesser  – noch einmal ein Zitat zum 50. Geburtstag – schon erkannt: Thomas Mann hat dem Kritiker, dem Literarhistoriker vieles vorweggenommen, weil er wie wenige geneigt und geübt ist, sich selbst historisch zu nehmen […]. Thomas Mann ist zu einer repräsentativen Figur geworden. […] Was kann der Biograph noch ihm und über ihn sagen?68

67  Vgl. Thomas Mann: Brief an Käte Hamburger vom 10.9.1932. In: Ders., Käte Hamburger: Briefwechsel 1932–1955. Hrsg. von Hubert Brunträger. (Thomas-Mann-Studien. 20. Band.) Frankfurt / Main 1999, S. 21. 68  Eloesser: Thomas Mann, S. 18 f.

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Friedhelm Marx

Betrachtungen eines Politischen Thomas Manns Offene Briefe zur Zeit der Weimarer Republik

Zwischen 1889 und 1955 schrieb Thomas Mann mehr als 25.000 Briefe. In diesen 66 Jahren als Briefschreiber ging  – nach der Kalkulation Thomas Sprechers – im Durchschnitt mehr als ein Brief pro Tag zur Post.1 Wenn Thomas Mann 1908 Ida Boy-Ed brieflich gesteht: »Ich bin zu träge, schwerfällig, und meistens zu schlaff und gelangweilt durch meine unselig langsame Produktionsart, um ein aufgelegter und mitteilungsfreudiger Briefschreiber zu sein«2, ist das, so Sprecher, eine rhetorische Pose. Das Gegenteil stimmt: Thomas Mann ist zeitlebens ein durchaus agiler, schneller, mitteilungsfreudiger, regelmäßiger und ausführlicher Briefschreiber. Für ihn ist der Brief ein Medium der persönlichen Kontaktnahme einerseits, der poetologischen Selbstreflexion und Selbstdarstellung andererseits. Allerdings zielen Manns Briefe schon früh über den jeweiligen Adressaten hinweg auf eine mögliche spätere Öffentlichkeit. Das zeigt sich etwa in dem Brief, den er am 5.12.1903 an seinen Bruder Heinrich schreibt. Im sicheren Bewusstsein, mit der Publikation der Buddenbrooks eine eigene literarische Stimme gefunden zu haben, formuliert er eine briefliche Radikalkritik des jüngsten Romans seines Bruders, Jagd nach Liebe: Diese schlaffe Brunst in Permanenz, dieser fortwährende Fleischgeruch ermüden, widern an. Es ist zu viel, zu viel ›Schenkel‹, ›Brüste‹, ›Lende‹, ›Wade‹, ›Fleisch‹, und man begreift nicht, wie Du jeden Vormittag wieder davon anfangen mochtest, nachdem doch gestern bereits ein normaler, ein tribadischer und ein Päderasten-Aktus stattgefunden hatte.3

1  Vgl. Thomas Sprecher: Briefe. In: Thomas-Mann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Andreas Blödorn und Friedhelm Marx. Stuttgart 2015, S. 230–236, hier S. 230 f. 2  Thomas Mann: Briefe I (1889–1913). Hrsg. von Thomas Sprecher, Hans R. Vaget und Cornelia Bernini (= Große Kommentierte Ausgabe der Werke Thomas Manns, GKFA), Bd. 21. Frankfurt/Main 2002, S. 389. 3  Ebd., S. 248.

Thomas Manns Offene Briefe

Der Schlussabsatz projiziert bereits eine mögliche spätere Öffentlichkeit herbei: Ich bin zu Ende. Manches ist härter herausgekommen, als es beabsichtigt war, und ich würde den Brief wohl mildernd copiren, wenn mich nicht fortwährend eine Art Schreibkrampf belästigte. Magst Du die Epistel also lesen wie sie ist. Du wirst mich, denke ich, nicht mißverstehen. Ich bin, weiß Gott, von Geburt kein Pamphletist und muß gelitten haben, um ein paar Seiten zu schrei­ben wie auch nur diese hier. […]. Ich bin durchaus nicht ohne Zweifel. Vielleicht, wenn Du diesen Brief aufbewahrst und er kommt dereinst ans Tageslicht, vielleicht werden sich spätere Leute einmal über den Rüffel von einem jüngeren Bruder amüsiren, der Deine Größe so garnicht zu schätzen wußte – vielleicht.4

Gerade die Bemerkung, dass diese Zeilen womöglich zu hart formuliert seien und dass sie sich aufrichtiger, ungedämpfter Empörung verdanken, ist über den Bruder hinweg an mögliche spätere Leser adressiert. Nimmt man hinzu, wie sehr Thomas Mann Goethe, Fontane und viele andere seiner literarischen Orientierungsgrößen auch als Briefschreiber schätzte und deren Briefe als Kunstwerke wahrnahm, bleibt in seinem Fall von der Privatheit des Mediums Brief nicht mehr viel übrig. Das Spektrum implizierter Öffentlichkeit innerhalb der privaten brieflichen Kommunikation erweitert sich direkt proportional zum wachsenden Selbstbewusstsein des jungen Schriftstellers. Dieser Beitrag zielt freilich nicht auf die schon früh erkennbar öffentliche Signatur des Mann’schen Briefkorpus, sondern auf die hybride Form des Offenen Briefs, die Thomas Mann erst in der Weimarer Republik für sich entdeckt, erprobt und nutzt. Was einen Offenen Brief kennzeichnet, hat Rolf-Bernhard Essig umrissen: Offene Briefe sind zur Veröffentlichung bestimmte Texte und ähneln dem Brief oft in seiner äußeren Form mit Brief kopf, Anrede, Datierung, Eingangs- und Schlussformel, Unterschrift. Der Offene Brief eines meist prominenten Verfassers, nicht selten Schriftstellers, wendet sich gleichzeitig an einen expliziten Adressaten, der also im Titel oder zu Beginn genannt oder direkt angesprochen wird, und an einen zweiten, (meist) impliziten Adressaten (die Öffentlichkeit).5

4  Ebd., S. 249. 5  Rolf-Bernhard Essig: »Ich klage an!« Eine kurze Geschichte des Offenen Briefs. In: Rolf-Bernhard Essig, Reinhard M. G. Nickisch (Hrsg.): »Wer schweigt, wird schuldig!« Offene Briefe von Martin Luther bis Ulrike Meinhof. Göttingen 2007, S. 9–17, hier S. 12. Vgl. auch Rolf-Bernhard Essig: Der Offene Brief. Geschichte und Funktion einer publizistischen Form von Isokrates bis Günter Grass. Würzburg 2000; Hans Wellmann: Der Offene Brief und seine Anfänge. Über

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Im Falle Thomas Manns lassen sich dabei Abstufungen erkennen: Es gibt einvernehmlich veröffentlichte ›Privat‹-Briefe wie Gratulationen und Empfehlungen, sodann briefliche Antworten auf Rundfragen, adressiert an die öffentlichen Medien der Weimarer Republik, und schließlich Offene Briefe im vollen Wortsinn, die an die junge, maßgeblich von Émile Zola imprägnierte Gattungstradition anschließen. Sie bilden eine Art Vorstufe zu den beiden wirkungsreichsten Offenen Briefen, die seine Stellungnahmen zum Exil enthalten: zum Brief an den Bonner Dekan aus dem Jahr 1936 und zum Offenen Brief an Walter von Molo vom September 1945. Der eine markiert Manns späte, aber unmissverständliche Kritik am Nationalsozialismus und formuliert eine eindringliche Warnung vor der Kriegspolitik des Regimes, bei der der eigentliche Briefadressat, der Dekan der Bonner Universität, vollkommen aus dem Blick gerät.6 Der andere provoziert 1945 eine Debatte über die sog. Innere Emigration und trägt paradoxerweise zur Formierung und Radikalisierung dieser Gruppierung bei.7 Was sie verbindet, ist ihre politische Signatur, ihre große mediale Resonanz und ihre literarhistorische Bedeutung als Schwellendokumente des Exils. Zur Zeit der Weimarer Republik macht sich Thomas Mann mit den Möglichkeiten des Offenen Briefs zunehmend vertraut.8 Während sein Bruder Heinrich früher und unumwundener in Anlehnung an Zolas J’accuse auf das Medium des Offenen Briefs zurückgreift, etwa in seinem brieflichen Diktum vom 11.10.1923 »Ich fordere eine Diktatur der Vernunft!«, adressiert an den Reichskanzler Gustav Stresemann, findet Thomas Mann in den 1920er Jahren erst allmählich zu dieser Form öffentlicher Stellungnahme. Die gesellschaftlichen und medialen Rahmenbedingungen der Zwischenkriegszeit sind allerdings dazu angetan, das genuin private Medium Brief publizistisch in den öffentlichen Raum zu stellen. Vier Aspekte tragen dazu bei: 1. Der (von zahlreichen Krisen) begleitete politische Umbruch nach dem Kriegsende, der wirtschaftliche Modernisierungsschub, die Inflationsängste, schließlich die Urbanisierung und Internationalisierung der Gesellschaft sorgen für einen allgemeinen Orientierungsbedarf, der sich in einer beispiellosen Konjunktur öffentlicher Debatten niederschlägt.

Textart und Mediengeschichte. In: Maria Pümpel-Mader, Beatrix Schönherr (Hrsg.): Sprache – Kultur – Geschichte. Sprachhistorische Studien zum Deutschen. Innsbruck 1999, S. 361–384; und Reinhard M. G. Nickisch: Schriftsteller auf Abwegen? Über politische »Offene Briefe« deutscher Autoren in Vergangenheit und Gegenwart. In: The Journal of English and Germanic Philology 93/4 (1994), S. 469–484. 6  Vgl. hierzu Essig: Der Offene Brief, S. 252 f. 7  Vgl. hierzu Jochen Strobel: Ein J’accuse – an alle! Thomas Manns Offener Brief an Walter von Molo. In: Jörg Schuster, Jochen Strobel (Hrsg.): Briefkultur. Texte und Interpretationen – von Martin Luther bis Thomas Bernhard. Berlin, Boston 2013, S. 317–332, hier S. 330–332. 8  Vgl. hierzu Essig: Der Offene Brief, S. 226–229.

Thomas Manns Offene Briefe

Zur medialen Streitkultur der politisch und weltanschaulich polarisierten Moderne gehört u. a. der Offene Brief öffentlicher Personen.9 2. Innerhalb dieser Debatten kommt den Schriftstellern und Intellektuellen eine neue, bis dahin unvorstellbare Aufmerksamkeit zu. Gerhart Hauptmann sieht sich 1921 genötigt, Gerüchten entgegenzutreten, die ihn als aussichtsreichen Kandidaten für die anstehende Reichspräsidentenwahl ausrufen. Und Thomas Manns Besuche in Frankreich 1926 und in Polen 1927 lösen eine Presseresonanz aus, die die öffentliche Wirkung simultaner politischer Konsultationen durchaus übertrifft. Relevante Gesetzesnovellen, staatliche Vorhaben und Justizskandale werden von Stellungnahmen der Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus allen politischen Lagern der Weimarer Republik begleitet.10 3. Die Neuformierung des literarischen Feldes in der Weimarer Republik erfordert neue Strategien der medialen Selbstinszenierung und Selbstbehauptung. Thomas Manns Offener Brief vom 4.1.1928 an die Redaktion der Zeitschrift Zwiebelfisch: »Sehr geehrte Herren: haben Sie Dank für Ihren freundlichen Brief! Aber es ist nun leider so, daß ich Ihnen keine Einleitung schrei­ben kann. Ich schreibe nie wieder. Ich habe alles Charakteristischeigene schon öfters wie einmal mitgeteilt und statt entzückt zu sein, komme ich beim Lesen von meinen Sachen aus der peinlichen Zusammengezogenheit überhaupt nicht heraus«,11 stellt diese Verhältnisse auf den Kopf. Es handelt sich um eine Anfrage für die Faschingsausgabe. Wie die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen nutzt er die zahlreichen medialen Formate der Zwischenkriegszeit, um als Schriftsteller sein »Charakteristischeigenes« auszustellen und gegen die anderen zu behaupten. Der Offene Brief dient in seinem Fall der Einübung in eine repräsentative Rolle, wie er sie an Gerhart Hauptmann beobachtet.12

  9  Vgl. Strobel: Ein J’accuse  – an alle!, S. 319; Essig: »Ich klage an!«, S. 14; und Nickisch: Schriftsteller auf Abwegen?, S. 472. 10  Neben dem Bedeutungszuwachs der Schriftsteller in staatspolitischen Angelegenheiten steigt das Interesse an ihrem Privat- und Arbeitsleben, ablesbar an Rundfragen aller Art wie der des Berliner Tageblatts vom 28.8.1927: »Braucht man zum Dichten  – Schlaf und Zigaretten?«, Jg. 56, Nr. 406, Morgen-Ausgabe, 1. Beiblatt, S. 1. 11  Manns Beitrag erschien in der Faschingsausgabe des Zwiebelfischs (mit dem verdrehten Titel Der Zweifeltisch. Seitenschrift ohne Blücher, Gunst und Kultur. Liternarrische Rundsau), Jg. 21 (1928), H. 1, S. 9. 12  Im Blick auf Thomas Mann hält Jochen Strobel fest: »Der Offene Brief als hybrides Genre, das Merkmale des intimen Privatbriefs und der publizistischen Stellungnahme in sich vereint, kommt einer gewollten Entgrenzung zwischen Privatperson und öffentlicher, ja ›mythischer‹ Figur entgegen« (Strobel: Ein J’accuse – an alle!, S. 318).

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4. Auch die genuin literarischen Debatten der Zwischenkriegszeit werden zunehmend politisch imprägniert. Am Beispiel des Verfassers der Betrachtungen eines Unpolitischen (1919) lässt sich das besonders gut beobachten. Unpolitische Betrachtungen im vollen Wortsinn gehören im Grunde der Vorkriegsvergangenheit an: Thomas Manns Essays und Offene Briefe der Weimarer Republik führen durchweg einen politischen Subtext mit sich, wenn sie nicht gar offen Partei ergreifen und – ab 1922 – bei allen denkbaren Anlässen für die neue, chronisch ungesicherte Demokratie plädieren. Durch den verstörenden politischen Spurwechsel zum einen, durch die wachsende Prominenz zum anderen wird Mann seit der Mitte der 1920er Jahre zur Zielscheibe von Anwürfen und Angriffen – u. a. in Form Offener Briefe, die an ihn gerichtet sind und wiederum eine offene Antwort provozieren.13 Vor diesem gesellschaftlichen und medialen Hintergrund sollen zwei Offene Briefe Thomas Manns aus den Jahren 1927 und 1928 vorgestellt werden, die das politische Engagement ihres Verfassers konturieren.

I. Thomas Mann über die bayerische Justiz. Ein Brief an Ernst Toller Thomas Manns Brief an Ernst Toller erscheint im Berliner Tageblatt vom 31.7.1927 unter dem Titel »Thomas Mann über die bayerische Justiz. Ein Brief an Ernst Toller«.14 Er nimmt Tollers im Mai 1927 erschienenes Buch Justiz. Erlebnisse15 zum Anlass, die mangelnde Amnestiebereitschaft der bayerischen Justiz und ihren Umgang mit den aus politischen Gründen Inhaftierten zu kritisieren. Der Brief beginnt auch im Zeitungsabdruck mit der persönlichen Anrede des Adressaten, es folgen einige Bemerkungen zum Justiz-Buch: Sehr verehrter Herr Toller! Ihr Justizbuch ist gekommen, und ich habe es mit furchtbarem Eindruck gelesen. Sie haben erfahren, was es heißt, in die Hände der Menschen zu fallen und in die einer selbstvergessenen und politisch wuterkrankten Gerechtigkeit! Wenn die Bürgerwelt zugrunde geht, so darum, weil sie die Ideen verhöhnt und verleugnet,

13  Vgl. hierzu Essig: Der Offene Brief, S. 228. 14  Thomas Mann über die bayerische Justiz. Ein Brief an Ernst Toller. In: Berliner Tageblatt, 31.7.1927, Jg. 56, Nr. 358, Morgen-Ausgabe, S. 1. 15  Vgl. hierzu Richard Dove: Ernst Toller. Ein Leben in Deutschland. Aus dem Englischen von Marcel Hartges. Göttingen 1993, S. 171.

Thomas Manns Offene Briefe

die sie geistig konstituiert haben. Welch ein abscheulicher Mißbrauch zu Rachezwecken ist getrieben worden mit dem Begriff des Hochverrats, der praktikabel sein mag in Tagen eines klaren, eindeutigen und legitimen Staatslebens, aber jeden Rechtssinn verliert in Zeiten wie 1919! Welch ein Unsinn, daß seit acht Jahren Menschen unter der Fuchtel von Zuchthauswärtern stöhnen und verkommen für politische Handlungen, die durch den Umsturz aller Dinge, die völlige Deroute und Herrenlosigkeit des Staates gezeitigt wurden, und zu denen die Zeit, in die hinein diese Menschen ihre Ketten schleppen, gar keine Beziehung mehr hat! Welch widerwärtiges auf Eis Konservieren einer Rachsucht, die heute nicht einmal mehr lebendig empfunden werden kann!16

Tatsächlich dokumentiert Tollers Buch Justiz. Erlebnisse die Prozess- und Hafterfahrungen prominenter Akteure der Münchner Räterepublik und kontrastiert diese u. a. mit den milden Haftbedingungen der nationalsozialistischen Putschisten um Adolf Hitler. »Jedes Kapitel«, so Ernst Toller, »berichtet beispielhaft den Geist bayrischer Justiz, darüber hinaus: den Geist der Klassenjustiz.«17 Im zweiten Teil des Buchs stehen Tollers eigene Hafterlebnisse im Mittelpunkt. Aufgrund seiner führenden Rolle in der Münchner Räterepublik war er am 16.7.1919 wegen Hochverrats zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt worden; Thomas Mann hatte sich in einem nur teilweise erhaltenen Gutachten (erfolglos) für ihn eingesetzt.18 Nach seiner Entlassung am 15.7.1924 wurde Toller, während der Haftzeit längst zu einem der bekanntesten Dramatiker der Weimarer Republik avanciert, widerrechtlich aus Bayern ausgewiesen und engagierte sich in der Folge wiederholt gegen Ungerechtigkeiten der Justiz, so auch mit dem Buch Justiz. Erlebnisse, dem der Offene Brief gilt. Mann nimmt Tollers Buch und dessen persönliche Hafterlebnisse zum Anlass, sich ganz allgemein gegen die bayerische Justiz zu wenden, die nicht nur gegen Sozialisten, sondern auch gegen Monarchisten wie Georg Fuchs rigoros vorgehe. Justizopfer, so Manns Einschätzung, sind offenbar auf beiden Seiten des politischen Spektrums zu verzeichnen. Um einen Offenen Brief im vollen Wortsinn handelt es sich nicht, da Manns Zeilen ursprünglich wohl nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren:

16  Thomas Mann über die bayerische Justiz, S. 1. Auch Kurt Tucholsky betont in seiner Rezension des Toller-Buchs das Motiv der politischen Rachsucht: »Hier wurde Rache genommen. Hier wurde durch ein ausgeklügeltes und rohes System von Brutalität, Feigheit und Herrscherwahnsinn mittlerer Spießbürger und kleiner Unteroffiziersnaturen gequält, gefoltert, gedrückt und gepeinigt.« Ignaz Wrobel [Kurt Tucholsky]: Der Rechtsstaat. In: Die Weltbühne, 12.7.1927, Nr. 28, S. 51. 17  Ernst Toller: Justiz. Erlebnisse. Berlin 1927, S. 8. 18  Vgl. Thomas Mann: Essays II (1914–1926). GKFA, Bd. 15.1. Hrsg. von Hermann Kurzke. Frankfurt / Main 2002, S. 256; und den GKFA-Kommentarband 15.2, S. 156 f.

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Die gattungsspezifische simultane Doppeladressierung liegt nicht vor, da es wohl erst der Initiative Ernst Tollers bedurfte, um den privat konzipierten Brief öffentlich zu machen.19 Der Veröffentlichung im Berliner Tageblatt ging ein (nur teilweise erhaltener) Briefwechsel voran, der die politische Brisanz einer Publikation offen thematisierte. Am 26.7.1927, wenige Tage vor dem Abdruck im Berliner Tageblatt, vergewisserte sich Toller brieflich noch einmal bei seinem Fürsprecher: Ich machte Sie, sehr verehrter Herr Mann, auf mögliche Angriffe aufmerksam, die die Veröffentlichung nach sich ziehen könnte. Ich tat es sozusagen in superlativischer Form, weil ich nicht mit Ihrer Bereitschaft, den Brief der Öffentlichkeit zu übergeben, gerechnet hatte. Ich habe Ihren Brief wieder und wieder gelesen – bitte, mildern Sie nichts, lassen Sie dem Brief die Entschiedenheit, die Sie ehrt. Die bayerischen Offiziösen werden Sie nie zufrieden stellen, aber den freiheitlichen Menschen Deutschlands geben Sie ein geistiges Dokument, das neben seinem immensen Wert für die Sache der Amnestie, die Achtung für Sie erhöhen wird, ja, alle, die an Ihrer menschlichen Tapferkeit je gezweifelt haben, beschämen muß. Ich nehme mir den Mut so zu schrei­ben, weil ich oft diese Tapferkeit gegen törichte Angriffe verteidigt habe.20

Dass Manns (nachträglich) Offener Brief an Toller in der kommunistischen, in Bayern erscheinenden Neuen Zeitung nachgedruckt wurde – versehen mit der redaktionellen Vorbemerkung: »Der Brief beweist, daß die Forderung nach Amnestie für die Räterepublikaner, die unter furchtbaren Verhältnissen im Straubinger Zuchthaus schmachten, selbst bis in weite Kreise des Bürgertums gedrungen ist«21 –, verstärkte seine politische Wirkung nachhaltig. Die möglichen Angriffe, von denen Toller schrieb, traten allerdings mit einer gewissen Verzögerung ein. Der Nachdruck der Neuen Zeitung wurde in Manns Polizeiakte im Staatsarchiv München aufgenommen; die eigens angestrichene redaktionelle Vorbemerkung findet sich einige Jahre später im Ausbürgerungsantrag als Beweis für den »kommunistischen Radikalismus« Manns wieder.22

19  Das gilt auch für Manns Brief über Max Hölz’ Buch Briefe aus dem Zuchthaus (Berlin 1927), das ihm Alfred Apfel, der Rechtsanwalt des Inhaftierten, im September 1927 zugeschickt hatte. Manns briefliche, an Apfel adressierte Forderung nach Amnestie wurde kurz darauf im Rahmen einer Kundgebung der Liga für Menschenrechte in Berlin zunächst von Apfel verlesen, anschließend im Berliner Tageblatt vom 24.9.1927 publiziert. 20  Privatbrief im Thomas-Mann-Archiv, Zürich. 21  Neue Zeitung vom 7./8.8.1927, Nr. 181. 22  Vgl. hierzu Paul Egon Hübinger: Thomas Mann, die Universität Bonn und die Zeitgeschichte. Drei Kapitel deutscher Vergangenheit aus dem Leben des Dichters 1905 – 1955. München u. a. 1974, S. 402.

Thomas Manns Offene Briefe

II. Thomas Mann gegen die »Berliner Nachtausgabe«. Ein Schrei­ben des Dichters an die »L. W.« Dieser Brief Thomas Manns ist von Anfang an für die Öffentlichkeit konzipiert. Mit seinem in der Literarischen Welt vom 24.2.1928 publizierten Schrei­ ben reagiert er auf eine Polemik mit dem Titel »Thomas Manns Kotau vor Paris. Der Mann, der für Vaterlandsverräter eintritt und sein Volk lästert«, die am 6.2.1929 in der Berliner illustrierten Nachtausgabe erschienen war. Und diese Polemik bezog sich wiederum auf ein Interview, das Thomas Mann einem französischen Kritiker gegeben hatte, das, auf Französisch publiziert, in übersetzten Ausschnitten in deutsche Zeitungen gelangt war. Dort hatte Mann die Spielarten des Nationalismus in Deutschland und Frankreich verglichen: »In Deutschland«, so übersetzt die Nachtausgabe Thomas Manns Interviewstatement, »ist der Nationalismus keine geistige Tatsache, wie er es bei Ihnen ist, deswegen gebe ich ihm keine Zukunft; er kann nicht eine geistige Jugend um sich gruppieren, weil er ihr kein Prinzip und keine Lehre bietet.«23 Dass Mann dem deutschen Nationalismus jedes Talent abspricht, ihn zudem für vergleichsweise geistlos und barbarisch erklärt, provoziert aggressiven Widerspruch. Der mit dem Kürzel K. zeichnende Verfasser der Polemik in der Berliner illustrierten Nachtausgabe wirft Thomas Mann politische Unzuverlässigkeit und Geistlosigkeit vor: Die nationale Jugend Deutschlands, Herr Thomas Mann, verachtet Sie. Die nationale Jugend hat kein Verständnis für Literaten, die zur Erhöhung ihrer Auflage Kotau vor den Fronvögten des Rheinlandes machen. Die nationale Jugend ist stolz darauf, daß sie den Geist Portugal-Lübecks, der allein es Herrn Thomas Mann ermöglicht, die schlechte Luft von aller Herren Länder wohlig aufzusaugen, nicht besitzt.24

Dass sich Thomas Mann für ›Vaterlandsverräter‹ wie Ludwig Hatvany, Max Hölz, Otto Schlesinger sowie Sacco und Vanzetti öffentlich eingesetzt habe, mache ihn selbst zu einem Verräter.

23  K.: Thomas Manns Kotau vor Paris. Der Mann, der für Vaterlandsverräter eintritt und sein Volk lästert. In: Berliner illustrierte Nachtausgabe vom 6.2.1928, 2. Beiblatt. Im französischen Original des Interviews mit Louis Durieux heißt es: »En Allemagne, le nationalisme n’est pas un fait intellectuel comme il l’est chez vous. C’est pourquoi je ne lui accorde aucun crédit; il ne peut pas grouper une jeunesse intellectuelle parce qu’il ne lui offre aucun principe, aucune doctrine.« Un entretien avec M. Thomas Mann. In: COMŒDIA, Paris, Jg. 22, Nr. 5503, 31.1.1928, S. 1 f., hier S. 1. 24  K.: Thomas Manns Kotau vor Paris, 2. Beiblatt.

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Manns Antwort ist als Offener Brief nicht direkt an den Verfasser der Polemik oder an die im Verlag August Scherl erscheinende Berliner illustrierte Nachtausgabe adressiert, sondern an Willy Haas, den Herausgeber der Literarischen Welt, der ihn allererst auf die »niederträchtige Denunziation mit Steckbriefbild«25 in der Nachtausgabe aufmerksam gemacht hatte. Und er beginnt mit einer Rechtfertigung dieser öffentlichen Reaktion: Ich dränge mich nicht auf die öffentliche Tribüne. Ich wollte, ungestörter ließe die Welt mich meinen persönlichen Aufgaben nachgehen. Aber Europa, ja die Welt, ist klein und intim geworden. Die Einheit, nach welcher der Erdteil ringt, ist in den Gewissen, im Geiste vorausverwirklicht. Wer, dem irgendwelches Vertrauen zufiel, entzöge sich aller Mitverantwortung für das Ganze, wer dürfte einsam tun auf den Ruf jener höheren Sozietät, wenn es gilt, dem Unrecht, der Unkultur, der falschen Ordnung zu widersprechen.26

Dass K., der Verfasser der Polemik in der Berliner illustrierten Nachtausgabe, nicht nur ihn selbst, sondern auch die Justizopfer, für die Mann sich öffentlich eingesetzt hatte, beschimpft, provoziert eine Art Drohung: Er [K.] nehme sich in acht. Er denke nicht, die Verachtung, die er gewohnt ist, bedeute einen Freibrief für jede Niedertracht. Er passe seine Sitten der Zeit und Welt an, in der zu leben und seinen bescheidenen Platz einzunehmen ihm bestimmt ist. In dieser Zeit und Welt ist die Literatur so schutz- und machtlos nicht, so unangesehen nicht mehr, daß jeder Lümmel ungestraft sein Mütchen an ihr kühlen und ihre Namen durch die Gosse schleifen dürfte. Er hüte sich. Selbst seine Brotgeber werden den tölpelhaften Mietling abschütteln, wenn sie sehen, daß er den Ochsen im Porzellanladen macht.27

Dass Thomas Mann sich bei seinem Einspruch auf (längst erodierte) Sitten und Gepflogenheiten seiner Zeit einerseits, die Macht der Literatur andererseits beruft, mag seiner persönlichen Empörung geschuldet sein: Der medialen und politischen Lage der späten 1920er Jahre entspricht es nicht. Sein Offener Brief bleibt denn auch nicht ohne polemischen Widerspruch. Die Berliner illustrierte Nachtausgabe distanziert sich nur knapp:

25  Thomas Mann gegen die »Berliner Nachtausgabe«. Ein Schrei­ben des Dichters an die »L. W.« In: Die Literarische Welt vom 24.2.1928, Jg. 4, Nr. 8, S. 1. Tatsächlich enthielt der Artikel in der Nachtausgabe eine (entstellte) Fotografie Thomas Manns. 26  Ebd. 27  Ebd., S. 2.

Thomas Manns Offene Briefe

Nun hat Herr Thomas Mann geantwortet. – Aus dem Wortschatz dieses ›deutschen‹ Dichters geben wir folgende Ausdrücke wieder, mit denen er den Verfasser unseres Artikels bedenkt: Trampeltier, Lümmel, Nachtmahr, Ochse. Wir haben diesen Bekenntnissen einer schönen Seele, der eigenhändigen Würdigung des Herrn Thomas Mann nichts Besseres hinzuzufügen.28

Andere Reaktionen fallen weniger ironisch, dafür unverhohlen aggressiver aus. Thomas Mann selbst verfolgt die Debatte um seinen Offenen Brief und weist Willy Haas eigens auf einen Beitrag hin, der am 7.3.1928 in der Zeitschrift Der Tag erscheint: Das prächtige kleine Donnerwetter, das ein junger Dynamitar und fascistischer ›Revolutionär‹ da auf mich herniederprasseln lässt, unter dem Titel ›Der entzauberte Berg‹, ist schon lesenswert als dokumentarische Äusserung der Geistesverfassung einer politischen oder pseudopolitischen Jugend […].29

Der »junge Dynamitar«, der in seinem Beitrag Der entzauberte Berg Thomas Manns Offenen Brief als »plump, persönlich, […] unzureichend« bezeichnet,30 ist Friedrich Georg Jünger. Auch er kritisiert Thomas Manns »Einlassen« mit Frankreich und spricht ihm jede Vorstellung von einem »wahren Nationalismus« ab. Jüngers Artikel endet mit der Imagination einer »jungen, kühnen Mannschaft[, die] sich den Zauberberg hinaufbewegt, mit Holzfälleräxten, die einen langen Stil und eine breite Schneide haben, und mit diesen prachtvollen Äxten den ganzen Zauberberg in Scherben und Trümmer schlägt.«31 Angesichts dieser rhetorischen Eskalation verzichtet Thomas Mann auf eine erneute öffentliche Reaktion und empfiehlt stattdessen Willy Haas als Verleger der Literarischen Welt, noch einmal kritisch anzuknüpfen.32 Dennoch bleibt er selbst fortan Zielscheibe politischer und persönlicher Polemik vonseiten der nationalkonservativ oder nationalsozialistisch orientierten Medien. Als wenig später öffentlich um die gekürzte Fassung der Betrachtungen eines Unpolitischen gestritten wird und Manns privatbriefliche Bemerkung über die pompöse Ehrung der »Fliegertröpfe«, der beiden Deutschen von Hünefeld und Köhl, denen es zusammen mit dem Iren Fitzmau-

28  Berliner illustrierte Nachtausgabe vom 24.2.1928. 29  Thomas Mann: Briefe III (1924–1932). GKFA, Bd. 23.1. Hrsg. von Thomas Sprecher, Hans R. Vaget und Cornelia Bernini. Frankfurt / Main 2011, S. 343. 30  Friedrich Georg Jünger: Der entzauberte Berg. In: Der Tag (Berlin) vom 7.3.1928, Nr. 57, o. S. 31  Vgl. ebd. 32  Vgl. GKFA, Bd. 23.1, S. 343.

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rice Anfang April 1928 gelungen war, den Atlantik von Ost nach West zu überfliegen, öffentlich gemacht wird, folgt eine bis dahin beispiellose Welle öffentlicher Anwürfe, u. a. ein Artikel, der unter dem Titel Thomas, der tote Mann am 3.8.1928 im Fränkischen Kurier erscheint.33 Weitere Beispiele ließen sich anführen. Sie lassen erkennen, wie sich Thomas Mann ab 1927 dem Medium des Offenen Briefs annähert: Als Form öffentlicher politischer Stellungnahme nutzt er Offene Briefe zunächst reaktiv. Es braucht den Anstoß Ernst Tollers, um Manns privat adressierte Kritik der Bayerischen Justiz öffentlich zu machen. Und es braucht eine empörende aggressive Polemik in der Berliner illustrierten Nachtausgabe, damit er (allerdings indirekt) mit einem Offenen Brief an die Literarische Welt reagiert. Auch wenn Thomas Mann sich offenbar nicht sonderlich in der Rolle des Intellektuellen und politischen Mahners gefällt, nimmt er diese Rolle an, indem er nicht nur in essayistischen Einlassungen, sondern auch in Offenen Briefen vor prekären politischen Schieflagen und Tendenzen der Weimarer Republik warnt. Im Rückblick erscheinen Thomas Manns Offene Briefe der Jahre 1927 und 1928 als Ausgangspunkt und Anlass einer medialen, am Ende physischen Ausgrenzung. Die internationale Ehrung durch den Nobelpreis im Jahr 1929 verringert die öffentlichen Aggressionen vonseiten der national-konservativen oder national-sozialistisch imprägnierten Presse nur vorübergehend. Im »Protest der Richard Wagner Stadt München« vom Frühjahr 1933 und dem sich anschließenden Schutzhaftbefehl der Gestapo erreichen sie ihren Höhepunkt.

33  N. N.: Thomas, der tote Mann. In: Fränkischer Kurier vom 3.8.1928, Jg. 96, Nr. 213, S. 1. Die Kontroverse um die Kürzung der Betrachtungen eines Unpolitischen wird dort als »Teil des ungeheuren Bankrotts deutschen Menschentums, den wir seit 1918 erlebt haben«, bezeichnet (ebd., S. 2). Der Völkische Beobachter legt mehrfach nach, u. a. mit einem gereimten Abgesang: »Dieser Dichter, Mann geheißen,  /  Pflegt jetzt öfters zu entgleisen,  /  Einst nur Dichter und Berichter, / Zeichner typischer Gesichter, / Quell ästhetischen Gefühles / Meister wohlgepflegten Stiles,  /  Ward Gewohnheit ihm der Brauch:  /  Vor ihm liegt man auf dem Bauch.  //  Ach, warum verließ er nur, / Den Kothurn der Lit’ratur? / Wer riet diesem alabastern / Dichter, zu politikastern? […]« Jaromir: Abgesang zur Thomas-Mann-Affäre. In: Völkischer Beobachter vom 12.8.1928, Nr. 187.

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Von der Geschichtsphilosophie zur Anekdote Oswald Spenglers Weimarer Briefwechsel im Spannungs­ verhältnis seiner Zeit

Allgemein bekannt ist Oswald Spenglers Bedeutung bzw. der Sensationserfolg seines umfangreichen Werks Der Untergang des Abendlandes, doch obwohl er als Untersuchungsobjekt immer wieder von der Forschung herangezogen wird,1 stellt er heute im öffentlichen wie auch im wissenschaftlichen Interesse eher eine Randfigur der Vorkriegszeit dar. Die Zentralität Spenglers innerhalb der Kultur der Weimarer Republik wird jedoch an der Tatsache deutlich, dass er wohl eines der produktivsten Ärgernisse der Zwischenkriegszeit war (und wohl kaum einer der in diesem Band untersuchten Autoren hat nicht in irgendeiner Weise seine Meinung zu Spengler geäußert). Auch sein Briefwechsel bezeugt diese Zentralität. Sicherlich kann er diese Stellung vornehmlich innerhalb der deutschen antidemokratischen Rechten behaupten, doch auch Figuren wie Walther Rathenau, Gustav Stresemann oder Albert Schweitzer fehlen in dem Briefwechsel nicht. Diese Zentralität im komplexen Netzwerk der Weimarer Kultur wird auch in einem Brief des Flugzeugbauers Hugo Junkers vom März 1923 deutlich, wo Junkers Spengler anbietet, zur Eröffnung der Leipziger Messe mit einem Limousinen-Flugzeug von Berlin nach Leipzig geflogen zu werden. Reichspräsident Ebert hatte schon zugesagt, und Junkers wünscht zu der politischen Führung des Reichs auch die intellektuelle zu gesellen, mit Spengler als »Schöpfer eines der bedeutendsten Geisteswerke unseres Volkes«.2 Im

1  Siehe insb. folgende, in den letzten Jahren erschienene Sammelbände: Manfred Gangl, Markus Ophälders, Gilbert Merlio (Hrsg.): Spengler – Ein Denker der Zeitenwende. Frankfurt / Main, Berlin, Bern 2009; Zaur Gasimov, Carl Antonius Lemke Duque (Hrsg.): Oswald Spengler als europäisches Phänomen. Der Transfer der Kultur- und Geschichtsmorphologie im Europa der Zwischenkriegszeit 1919–1939. Göttingen 2013; Gilbert Merlio, Daniel Meyer (Hrsg.): Spengler ohne Ende. Ein Rezeptionsphänomen im internationalen Kontext. Frankfurt / Main 2014; Arne De Winde, Sven Fabré, Sientje Maes, Bart Philipsen, Le Prince-Évêque (Hrsg.): Tektonik der Systeme. Neulektüren von Oswald Spengler. Heidelberg 2016; Sebastian Fink, Robert Rollinger (Hrsg.): Oswald Spenglers Kulturmorphologie. Eine multiperspektivische Annäherung. Wiesbaden 2018. 2  Oswald Spengler: Briefe 1913–1936. Hrsg. von Anton M. Koktanek in Zusammenarbeit mit Manfred Schröter. München 1963, S. 239. Im Folgenden werden im Fließtext die Seitenangaben sowie das Datum nach dieser Ausgabe angegeben.

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Gegensatz zu Ebert nimmt Spengler an dieser Werbeaktion nicht teil, doch sucht er im Anschluss daran brieflich den Kontakt mit dem Industriellen, wie er während der Weimarer Republik immer wieder Verbindungen zu einflussreichen Unternehmern pflegt.3 Die an sich harmlose Junkers-Anekdote ist auch deshalb erwähnenswert, weil sie die neuen Modalitäten von Kommunikation nach dem Ersten Weltkrieg ins Bewusstsein rückt. Tatsächlich ist der Umfang von Spenglers Briefwechsel im Verhältnis zu seiner allgemeinen Berühmtheit zu dieser Zeit auch deshalb relativ gering, weil sich der Raum durch die technisierten Kommunikationswege drastisch verkleinert. Spenglers regelmäßiges Pendeln zwischen München und Berlin, seine Kurzvisiten in ganz Deutschland wären während der Vorkriegszeit in einem solchen Umfang kaum denkbar gewesen.4 Darüber hinaus ist gerade die universelle Berühmtheit Spenglers der (übrigens sehr leicht nachvollziehbare) Grund für ein Erlahmen des Briefverkehrs, sodass während der Weimarer Republik darin sowohl das Intime wie der Werkstattcharakter nahezu vollkommen fehlen, während beide Aspekte in seinem Briefwechsel vor dem Erfolg noch recht präsent sind. Dementsprechend soll sich dieser Beitrag hauptsächlich auf einen Aspekt beschränken, und zwar wie Spenglers Briefwechsel die zeitgenössische Rezeption seines Werks beleuchtet bzw. wie sich das Verhältnis zwischen Spenglers öffentlicher Wirkung und seiner Selbstdarstellung gestaltet. Die Erfolgsgeschichte Spenglers bzw. seines Schlagworts vom ›Untergang des Abendlandes‹ – und von seinem Unterfangen, die geschichtliche Lage Deutschlands in eine universalgeschichtliche bzw. geschichtsphilosophische Perspektive zu rücken und ihr damit einen Sinn zu verleihen – vollzieht sich mit einer beeindruckenden Raschheit, die sich am Briefwechsel sehr wohl ermessen lässt. Wichtige Zeugnisse sind dabei die Antworten der ersten Empfänger der Widmungsexemplare des Untergangs des Abendlandes. Walther Rathenaus höfliche Antwort vom Juni 1918 verspricht eine baldige Lektüre, doch schon der Brief des Baltendeutschen Paul Rohrbach, einem Schüler Adolf von Harnacks, signalisiert ein erstauntes Interesse: »Ihren Band über den Untergang des Abendlandes habe ich meinen ursprünglichen Erwartungen entgegen (ich schrieb Ihnen, daß ich kein Organ für Philosophie habe) doch mit lebhaftem Interesse gelesen.« (105 – 28.6.1918) Dem noch völlig unbekannten Spengler wird dann auch der Rat gegeben, das Ganze doch wenn irgend möglich »auf verhältnismäßig kurzem

3  Siehe dazu Markus Henkel: Nationalkonservative Politik und mediale Repräsentation. Oswald Spenglers politische Philosophie und Programmatik im Netzwerk der Oligarchen (1910–1925). Baden-Baden 2012, insb. S. 249–359. 4  Zu den finanziellen Rahmenbedingungen dieser Mobilität siehe ebd., S. 279, Anm. 1180 u. S. 317.

Oswald Spenglers Weimarer Briefwechsel

Raum zur Darstellung« zu bringen, sodass es »für den gewöhnlich gebildeten Leser vielleicht noch stärker wirken« könne. Rohrbach gesteht dabei, dass er an den Ausführungen über Mathematik und Musik nichts verstanden habe. Hier wird übrigens ein Charakteristikum des Werks an­­ gesprochen, das an seinem Erfolg oder zumindest zu seiner öffentlichen Wirksamkeit beigetragen hat, und zwar die Tatsache, dass Spengler die fachspezifischen Grenzen systematisch umgeht. Oder anders formuliert, dass der Untergang des Abendlandes anhand einer an sich unnachprüfbaren Fülle an Detailinformation ein diskursives Muster herausarbeitet, das den Anspruch erhebt, sowohl eine originelle Methode wie auch eine Gesamtübersicht über alles Wissen zu bieten. Rückübersetzt in Rohrbachs ironischer Ausführung heißt es: »Wann darf man auf den zweiten Band rechnen? Wird man für den auch erst Kontrapunkt und Analysis studiert haben müssen?« (105 – 28.6.1918). Der Dilthey-Schüler Georg Misch hat kein Widmungsexemplar erhalten, er hat aber »den Band bei Georg Simmel gesehen« (109 – 8.11.1918). Tatsächlich hat das Buch schon zum Jahresende 1918  – laut Spenglers eigenen Angaben in einem Brief an seinen Freund Hans Klöres – »obwohl noch keine einzige Besprechung erschienen ist, sich weit verbreitet und denjenigen Eindruck gemacht, den sich [Spengler] erhoffte.« Im selben Brief behauptet er, »Simmel hat kurz vor seinem Tod in seinem Kreis erklärt, es handle sich um die bedeutendste Geschichtsphilosophie seit Hegel« (114 – 18.12.1918). Nicht ganz so enthusiastisch fällt der Brief von Misch aus. Zwar unterstreicht er das Gemeinsame und insbesondere den Versuch einer Erneuerung historistischer Ansätze, doch einiges überzeugt ihn nicht, und zwar daß […] die Kulturen etwas pflanzenhaft Wachsendes sind und daher die geschichtlichen Entscheidungen in die Sphäre des Zufalls fallen, daß […] jede der Kulturen etwas Isoliertes bleibt, daß die Individualität derselben zwar als etwas Ursprüngliches erfaßt ist, aber dieser Dämon als festgelegt gilt, so daß die Gestaltung des Lebens zu Kulturen nur in Neuschöpfungen verläuft, daß die Kontinuität ihren Sinn verliert. (110 – 8.11.1918)5

Doch was Misch hier infrage stellt, sind gerade die Kernpunkte, das eigentliche Gerüst sowohl der Methode als auch des prognostischen Anspruchs von Spenglers Buch, das hier ganz offensichtlich aus einer Dilthey’schen Perspektive kritisiert wird. Dabei wird auch eine der Grundparadoxien innerhalb der Spengler-Rezeption während der Weimarer Republik deutlich. Zwar werden

5  Ähnliche Argumente auch in dem ein Jahr später verfassten Brief von Adolf von Harnack (30.10.1919). In: Spengler: Briefe 1913–1936, S. 144.

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seine Theorien in einem besonders breiten Rahmen rezipiert und verbreitet – Wendungen wie ›der faustische Mensch‹ oder ›das Heraufkommen des Cäsarismus‹ und ihre Varianten finden sich nicht nur immer wieder bei seinen Briefpartnern, sondern sie bilden sich tatsächlich zu Schlagwörtern der Weimarer Republik heran. Aber gerade die Eckpfeiler seiner Theorie werden selbst von seinen treuesten Anhängern letzten Endes nicht akzeptiert. Sein Verleger Oscar Beck zum Beispiel verbindet, wie so viele Spengler-Verehrer, äußerste Bewunderung mit einer mehr oder weniger leisen Skepsis gegenüber den Kernpunkten. So heißt es in einem Brief vom Dezember 1921: Die Tatsache, daß in Deutschland ein Werk wie Ihr »Untergang des Abendlandes« das Licht erblickt hat, möchte man doch als einen Beweis betrachten, daß trotz aller Überhebung unserer Gegner die deutsche Kultur doch an der Spitze marschiert, mag sie auch mit der ganzen abendländischen Kultur am Anfang des Endes stehen. Wer weiß, was Gott noch mit den Deutschen für geheime Absichten hat? (185 f. – 31.12.1921)

Dass Gott im schicksalhaft-organisch festgefügten Verlauf der Weltgeschichte keine »geheimen Absichten« haben kann, d. h., dass eine überraschende Wendung zu einem dauerhaft Guten prinzipiell auszuschließen sei, ist ja der springende Punkt nicht nur der Spengler’schen Geschichtsphilosophie, sondern auch seiner politischen Ethik. Auch aus dem Bereich der Wissenschaft, der Spengler am wenigsten kritisch gegenüberstand – und die wohl auch am meisten von Spengler profitierte  –, der Altertumsforschung, kommen ähnliche Argumentationsmuster. Edgar Dacqué, seit 1915 außerordentlicher Professor in München und Kustos an der paläontologischen Sammlung des Bayerischen Staates, schreibt im Juni 1922 über den soeben erschienenen zweiten Band des Untergangs des Abendlandes an Spengler, dass sein kurzer Abschnitt über die Ergebnisse der Paläontologie geradezu überwältigend klar und »richtig« das wiedergibt, was das Material sagt, ja laut schreit, was aber noch kein Fachgenosse ausgesprochen, ja vielleicht noch keiner sich zum Bewußtsein gebracht hat. Wie kommen Sie nur zu solchem »Schauen«?! (198 – 14.6.1922)

Hier wird Spengler – auch entsprechend seiner Selbstdarstellung in dem Band6 – als intuitiv genialer Seher stilisiert, doch kann Dacqué auch seine

6  Zu dem »Schauen« als Moment intuitiv-seherischer Erkenntnisaneignung vgl. Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte.

Oswald Spenglers Weimarer Briefwechsel

Differenzen nicht verschweigen: »Das ist der Punkt, in dem ich gerade als Erdgeschichtsforscher von Ihrer Gesamtanschauung differiere, daß nicht jede Kultur ihre eigene mythische Zeit und Geisterwelt hat, sondern daß sie aus einer gemeinsamen schöpfen« (199 – 14.6.1922). Letztlich gebe es laut Dacqué eine gemeinsame Wurzel, die allen Kulturen gemein sei, und dementsprechend fällt auch das Spengler’sche Postulat der Isoliertheit jeder Kultur, also fällt nicht nur ein Eckpfeiler, sondern auch der eigentliche Grund für den unausweichlichen »Untergang des Abendlandes«. Auch für Gregor Strasser, einen der führenden Köpfe des sogenannten linken Flügels der NSDAP, geht – bei aller Bejahung von schicksalhaftem Kulturzerfall, dem sich eine »deutsche Revolution durch einen deutschen Sozialismus« notwendigerweise entgegenstellen müsse – der Determinismus der Spengler’schen Geschichtsmorphologie doch zu weit, und so gibt er zu bedenken, »daß die Frage, ob diese Entwicklung eine solche Zwangsläufigkeit ist, sich nicht beweisen läßt, höchstens durch mehr oder minder überzeugende Analogien (wobei ich gerade auf Ihre Morphologie der Geschichte hinweisen würde)« (399 f. – 8.7.1925). So in einem Brief vom Juli 1925, in dem er um Spenglers Mitarbeit wirbt, jedoch – wie man sieht – ohne sehr großes Geschick, denn hier werden Inhalt wie Methode (»mehr oder minder überzeugende Analogien«) letztlich sehr abfällig behandelt, so als könne Spengler dies alles in seinen letzten Konsequenzen nicht wirklich ernst meinen. Spenglers kulturkritische Analysen werden also von seinen antidemokratischen Gesinnungsgenossen bejaht, doch weder das geschichtsphilosophische Modell eines unaufhaltsamen Verfalls der abendländischen (und damit auch der deutschen) Kultur bzw. Zivilisation, noch seine daraus resultierende politische Ethik werden voll akzeptiert.7 Dieser letzte Punkt wird im Briefwechsel besonders deutlich, als 1931 Spengler seinen Aufsatz Der Mensch und die Technik veröffentlicht. Dessen vorletzter Absatz lautet:

Bd. 2. München 1922, S. 35 f., 241, 262, 280, 296, 307, 327, 333, 371, 430. Siehe auch Oswald Spengler: Ich beneide jeden, der lebt. Die Aufzeichnungen »Eis heauton« aus dem Nachlaß. Mit einem Nachwort von Gilbert Merlio. Düsseldorf 2007, S. 11: »Ich habe als Mitgift für das Leben den Blick bekommen. Das – wenn ich das Wort gebrauchen darf – geniale Schauen, Zuschauen; Tätigkeit verengt den Blick. Auch Napoleon war zuletzt Fachmann geworden. Dieser Blick ist die eigentlich philosophische Gabe. Philosophische Fachwissenschaft ist philosophischer Unsinn.« (Herv. von Spengler). 7  Dies gilt dementsprechend auch für die Denker der sogenannten »Konservativen Revolution«; zu Moeller van den Bruck siehe Frits Boteran: Oswald Spengler und sein »Untergang des Abendlandes«. Aus dem Niederländischen von Christoph Strupp. Köln 2000, S. 281–287.

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Angesichts dieses Schicksals gibt es nur eine Weltanschauung, die unser würdig ist, die schon genannte des Achill: Lieber ein kurzes Leben voll Taten und Ruhm als ein langes ohne Inhalt. Die Gefahr ist so groß geworden, für jeden einzelnen, jede Schicht, jedes Volk, daß es kläglich ist, sich etwas vorzulügen. Die Zeit läßt sich nicht anhalten; es gibt keine weise Umkehr, keinen klugen Verzicht. Nur Träumer glauben an Auswege. Optimismus ist Feigheit.8

Die Wendung »Optimismus ist Feigheit« stellt durchaus aphoristisch überpointiert die Maxime von Spenglers politischer Ethik dar. Doch gerade dieser Satz dürfte für den typischen Spengler-Verehrer der Weimarer Republik, den deutschen Nationalisten, eine Provokation sein, denn die Wendung zum Guten für das deutsche Schicksal scheint eine Glaubensnotwendigkeit zu sein, nicht nur bei den schon Anfang der 1930er Jahre überzeugten Nationalsozialisten. So können Hans Erich Stier, Privatdozent für Alte Geschichte an der Berliner Universität, und der Hamburger Unternehmer Roderich Schlubach bei aller respektvollen Bewunderung dem Satz »Optimismus ist Feigheit« nur die allerhöchste Skepsis entgegenbringen und fühlen sich regelrecht genötigt, Spengler darüber brieflich zu unterrichten.9 Was dementsprechend aus dem komplexen Diskursgewebe, das den Briefwechsel Spenglers ausmacht, als Muster hervorsticht, ist die Tatsache, dass Spengler für die Öffentlichkeit zwar ein Leitbild darstellt, doch dass die gedankliche Auseinandersetzung mit seinem Werk gerade in und an seinen letzten Konsequenzen scheitert. Dies liegt aber auch an der diskursiven Strategie, mit der sich Spengler in der Öffentlichkeit darstellt. Und zwar in der widersprüchlichen Doppelfigur des einsamen Sehers und des einflussreichen Machers.10 Dies lässt aber das von ihm vermittelte gedankliche Gebäude in eine Leerstelle fallen, denn so erscheint es – wie dies im diskursiven Netzwerk des Briefwechsels besonders deutlich wird – als eine genialisch subjektive Sicht, die letztlich entweder als unverbindlich in ihrer abstrakten Schauhöhe oder als zweitrangig gegenüber dem kontinuierlich wiederholten Imperativ der politischen Tat erscheint.

  8  Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. München 1931, S. 89.   9  Vgl. Spengler: Briefe 1913–1936, S. 629 u. 641 (12.7.1931 u. 9.10.1931). 10  So ist auch ein Grundmotiv seiner privaten Aufzeichnungen das der Vereinsamung, vgl. Spengler: Ich beneide jeden, der lebt, insb. S. 84 f. Siehe darüber hinaus Angela van der Goten: Im Gespaltenen Zauberland. Oswald Spengler und die Aneignung des Fremden. Versuch einer interdisziplinären Deutung. Göttingen 2015, S. 419–434; Henkel: Nationalkonservative Politik und mediale Repräsentation, S. 279 f.; sowie Gilbert Merlios Überlegungen in dem Nachwort zu Spengler: Die Aufzeichnungen »Eis heauton« aus dem Nachlaß, S. 118–123.

Oswald Spenglers Weimarer Briefwechsel

Diese Modalitäten der Selbstdarstellung werden im Briefwechsel besonders deutlich. Der 1918 noch völlig unbekannte Spengler rückt durch den sensationellen Erfolg des ersten Bandes des Untergangs schlagartig in den Mittelpunkt des kulturellen Lebens der Weimarer Republik.11 Doch gerade dies ermöglicht es ihm, den Kontrast zwischen seiner akademischen Isoliertheit und der allgemeinen öffentlichen Aufmerksamkeit, die gerade entsteht, zum Zeichen genialer Spontaneität zu stilisieren. Schon im Untergang des Abendlandes verschweigt er bekanntlich die zahlreichen Quellen und Anregungen, um sich allein auf den zentralen Einfluss von Goethe zu berufen,12 ab 1922 mit der Neufassung des ersten Bandes aber auch verstärkt auf jenen von Nietzsche.13 Schon in dem Antwortschreiben vom November 1918 an den Dilthey-Schüler Georg Misch wird dieser genialische Charakter mit großer Selbstsicherheit behauptet: Ich habe, nachdem ich bis 1911 an den Schulberuf gefesselt war, mir endlich die Freiheit erobert, einige Jahre hindurch mich in strengster Einsamkeit in diese Gedanken zu vertiefen. Ich bin von keiner philosophischen Schule irgendwie ausgegangen; vielmehr haben sich diese Gedanken von der Mathematik, der Geschichte, der Malerei und Literatur her gewissermaßen von selbst zu einer metaphysischen Gesamtanschauung verdichtet. (118 – 5.1.1919)

Solche Selbstdarstellungen ermöglichen es Spengler in der Folge dann auch, vornehm auf eine zu tiefe Involvierung in die durch seinen ersten Band hervorgerufenen Debatten zu verzichten, indem er auf die intensive Arbeit am angekündigten und von der Öffentlichkeit tatsächlich sehnlich erwarteten zweiten Band verweist. So geht er schon Mitte 1920 in einem Brief an einen anderen philosophischen Erfolgsautor der Weimarer Republik, Hermann Graf Keyserling, vor:

11  Vgl. den Brief des Verlegers Oscar Beck (23.12.1919), der von der »stürmischen« Nachfrage spricht. In: Spengler: Briefe 1913–1936, S. 149. 12  Siehe dazu Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. 1, München 1919, S. 69: »Die Philosophie dieses Buches verdanke ich der Philosophie Goethes, der unbekannten, und erst in viel geringerem Grade der Philosophie Nietzsches.« 13  Siehe dazu Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. 1. München 1923, S. IX: »Zum Schlusse drängt es mich, noch einmal die Namen zu nennen, denen ich so gut wie alles verdanke: Goethe und Nietzsche. Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen, und wenn ich mein Verhältnis zu diesem in eine Formel bringen soll, so darf ich sagen: ich habe aus seinem Ausblick einen Überblick gemacht.«

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Ich bin mitten in meinem zweiten Bande und muß alle Arbeiten anderer Art ablehnen. Ich würde mich aber freuen, wenn wir uns einmal treffen könnten. Da ich notgedrungen das Dasein eines Fixsternes führe, so bin ich immer erreichbar, wenn Sie zufällig in die Nähe von München kommen. (162 – 10.6.1920)

Immer wieder verweisen Briefe von und an Spengler auf den »zweiten Band«, der Name des zum Schlagwort mutierten Titels muss gar nicht erst angegeben werden. Der Gedanke einer Selbstaufopferung zugunsten des Werks wird dabei nicht nur von Spengler vermittelt, sondern ihm auch spontan angetragen. Aus Königsberg schreibt im August 1920 der Generalbevollmächtigte für die besetzten baltischen Länder in Deutschland August Winnig: »Ich weiß, daß Sie vollauf mit der Fortführung Ihres großen Werkes zu tun haben« (169 – 27.8.1920). Im April 1922 fasst Max Martersteig, bis 1918 Intendant des Städtischen Theaters Leipzig, exemplarisch Spenglers Öffentlichkeitsstrategien zusammen, wenn er sich entschuldigt, an Spengler nun doch einen Brief schrei­ben zu müssen, um Spengler besuchen zu kommen. Er habe »es als eine Sünde gegen den Geist empfunden«, Spengler in seiner »ungeheuerlichen Okkupiertheit durch [seinen] zweiten Band, durch die Auseinandersetzungen mit [seinen] Kritikern« zu stören, und er spricht auch dementsprechend folgende Bitte aus: »möchten Sie sich nicht überflüssigerweise auf dieses oft so struppige Gelände hinauslocken lassen« (189 f. – 5.4.1922). Ein solches von Spengler nicht nur produziertes, sondern ihm dann auch tatsächlich entgegentretendes Öffentlichkeitskonstrukt scheint während des Höhepunkts seiner Rezeption, und zwar in den Jahren 1922/23, bei ihm zu gewissen Fehleinschätzungen zu führen, zum Beispiel was seine Kontakte zu Verlagen angeht. Zum Jahresende 1922 schreibt er etwa der Dostojewski-Übersetzerin Less Kaerrick über ihre losen Aufzeichnungen bezüglich Übersetzungsfragen: »Einen guten Verlag kann ich Ihnen jederzeit verschaffen und auch eingehende Besprechungen« (231 – 20.12.1922). Und der einflussreichen Nietzsche-Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche schreibt er im September 1923 bezüglich einer möglichen Ausgabe der Werke Nietzsches in englischer Sprache: »Ich verhandle augenblicklich mit einer der führenden Firmen Englands und hätte also die Gelegenheit, auch die Frage einer wohldurchdachten Gesamtausgabe drüben in Fluß zu bringen« (270 – 18.9.1923). Aber nicht nur Damen macht Spengler Versprechungen, sondern auch dem amtierenden Reichskanzler Gustav Stresemann. In einem Brief vom September 1923 rühmt Spengler sich seiner ausgezeichneten Beziehungen zu Jan Smuts, dem damaligen Premierminister der Südafrikanischen Union. Durch geschickte Vermittlung Spenglers soll Smuts dazu bewegt werden, seine Stellung gegenüber den Reparationssummen, die dem deutschen

Oswald Spenglers Weimarer Briefwechsel

Reich im Rahmen des Versailler Vertrags auferlegt wurden, öffentlich zu revidieren. Während der Verhandlungen hatte Smuts als südafrikanischer Delegierter darauf gedrängt, zu den Reparationssummen, die Deutschland zu begleichen hatte, auch die Pensionen und Renten für Invalide, Witwen und Waisen zu rechnen, die einen beträchtlichen Teil insbesondere der britischen Kriegskosten ausmachten. Smuts könnte aber laut Spengler dazu bewegt werden, öffentlich diesen Posten wieder anzuzweifeln. »Wenn« aber Smuts »den größten« Posten der deutschen Reparationssumme, »der von ihm selbst vertreten worden war, anzweifelt, muß die notwendige Folge bei den Verhandlungen die sein, daß ein Posten nach dem anderen zweifelhaft zu werden beginnt und damit das ganze Gefüge unsicher wird« (272  – 29.6.1923). Spengler brauche nur das Einverständnis der deutschen Regierung, und schon könne er daran arbeiten, die riesige Reparationssumme verschwinden zu lassen. Da Stresemann, gegen den Spengler wenig später in den Münchner Neuesten Nachrichten »eine scharfe Polemik« veranlasst,14 nicht auf sein Angebot eingeht, »verschafft« sich Spengler »die Autorisation […] vom Präsidenten Ebert«.15 Ende Oktober soll in London ein Treffen zwischen einem Emissär Spenglers, Generalleutnant a. D. Paul von Lettow-Vorbeck, einer einflussreichen Figur konservativer Kreise Bremens, und Smuts stattfinden. Das Treffen wird schließlich seitens der Briten abgesagt, mit einer vertröstenden Schlussformel, dass vielleicht einmal ein solches Treffen stattfinden könnte. Spenglers Mittelsmann von Lettow-Vorbeck zitiert diese Schlussformel in einem Brief an Spengler, um auf eine mögliche Annäherung in Zukunft zu verweisen.16 Am Anfang des Briefs zitiert von Lettow-Vorbeck jedoch auch ein Schrei­ben vom Auswärtigen Amt, das von dem Treffen tunlichst abrät. Dieser diplomatische Vorfall soll hier nicht weiter rekonstruiert wer­ den,17 denn es fällt ja letztendlich nichts vor und Spengler hat es be­­ kanntlich nicht einmal ansatzweise geschafft, die deutschen Reparationssummen zu senken. Doch Spenglers Brief an Paul Reusch von November 1923 sei hier noch erwähnt. Paul Reusch war Spenglers engster und zugleich einflussreichster Kontakt zu den Industriekreisen der Ruhr. Dieser Brief ist besonders interessant, weil er ein Merkmal von Briefdiskursen

14  Spengler: Briefe 1913–1936, S. 273 (Brief an Gerhard von Janson vom 5.10.1923). 15  Ebd., S. 278 (Brief an Paul Reusch vom 15.10.1923). 16  Siehe Spengler: Briefe 1913–1936, S. 281: »Perhaps I may be permitted to renew the hope that in some future occasion General von Lettow-Vorbeck may be able to attend such a Re-union«. 17  Für eine detailliertere Schilderung, siehe Boteran: Oswald Spengler und sein »Untergang des Abendlandes«, S. 329–331. Diese hält sich jedoch eng an die Selbstdarstellungen Spenglers. Nüchterner bei Henkel: Nationalkonservative Politik und mediale Repräsentation, S. 317–320.

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in einem solchen Kontext verdeutlicht, und zwar die Tatsache, dass die Informationen äußerst selektiv gehandhabt und übermittelt werden können. So verschweigt Spengler in diesem Brief an Reusch, dass es die Briten waren, die ein angebahntes Treffen abgesagt haben, und ihre diplomatische Vertröstung wird so umformuliert, dass »in London die Absicht besteht«, ein Treffen zwischen Smuts und deutschen Repräsentanten zu organisieren, und dass es das Auswärtige Amt ist, das den deutschen Repräsentanten »nahelegt, abzulehnen« (286 – 4.11.1923), womit Spengler nicht nur die Verhältnisse völlig umkehrt, sondern auch der deutschen Regierung letztlich die Schuld an seiner Fehleinschätzung der Lage zuschreibt. Auf diese Fehleinschätzungen Spenglers wurde auch deshalb etwas länger eingegangen, weil sie ein Signum der ersten Weimarer Phase darstellen. Spenglers Wunschdenken entspricht einem Möglichkeitsdenken, das nicht nur im informellen Denkkollektiv18 der antidemokratischen Rechten, zu dessen Zentrum sich Spengler in dieser Phase herauszukristallisieren scheint, vorherrscht, sondern allgemeiner eine Begleiterscheinung des Krisenbewusstseins der frühen Weimarer Republik darstellt.19 Die Stresemann-Smuts Anekdote soll also nicht als ein Zeugnis von Spenglers Größenwahn verstanden werden. Darüber hinaus jonglierte Spengler in den Jahren 1922/23 mit einer ganzen Reihe von solchen Aktionen. Treffend resümiert Sebastian Maass in seiner »politischen Biographie« Spenglers: »Als [Ende 1923] noch ein weiterer Versuch […] mißlang, wurde ihm immer bewußter, daß seine Möglichkeiten als berühmter Geschichtsphilosoph und politischer Publizist nicht ausreichten, aus der Rolle des bloßen metapolitischen Ideengebers herauszutreten.«20 Dieser persönlichen Ernüchterung Spenglers entspricht aber auch eine kollektive Ernüchterung antidemokratischer Kreise mit dem Jahresende 1923. Die relative Stabilisierung der politischen Verhältnisse, die damals einsetzt, nimmt diesem Möglichkeitsdenken antidemokratischer Kreise den Wind aus den Segeln. So werden in Spenglers Briefwechsel typische Denkmuster der Weimarer Republik deutlich und dementsprechend wandelt sich auch das Bild, das seine Briefpartner Spengler zuspielen: von der geistigen Speerspitze der antidemokratischen

18  Vgl. Heiner Fangerau: Der Austausch von Wissen und die rekonstruktive Visualisierung formeller und informeller Denkkollektive. In: Ders., Thorsten Halling (Hrsg.): Netzwerke. Allgemeine Theorie oder Universalmetapher in den Wissenschaften? Ein transdisziplinärer Überblick. Bielefeld 2009, S. 215–246, insb. S. 218–224. 19  Siehe dazu Bernard Dieterle, Daniel Meyer (Hrsg.): Der Umbruchsdiskurs im deutschsprachigen Raum zwischen 1900 und 1938. Heidelberg 2011. 20  Sebastian Maaß: Oswald Spengler. Eine politische Biographie. Berlin 2013, S. 48 f. Siehe dazu auch Paul Hoser: Ein Philosoph im Irrgarten der Politik. Oswald Spenglers Pläne für eine geheime Lenkung der nationalen Presse. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 38 (1990), S. 435–458.

Oswald Spenglers Weimarer Briefwechsel

Rechten zum Hoffnungsträger einer zumindest vorübergehend in weitere Zukunft verlegten Genesung Deutschlands. Darüber hinaus bildet der Briefwechsel Spenglers (nicht nur in seiner editierten Gestalt) in Wirklichkeit ja nur einen Teilausschnitt, eine individuelle Perspektivierung höchst komplexer, zeitlich variabel ineinander verwebter Netzwerke. Nichtsdestoweniger stellt Spenglers Briefwechsel eine Art Längsschnitt des Diskurses der antidemokratischen Rechten dar, wobei dieser Längsschnitt diachron aufgefasst werden sollte bzw. zwangsläufig werden muss. Denn darin liegt ja für die Ideengeschichtler und Kulturhistoriker der eigentliche Reiz der Modalität des Briefdiskurses. Rekonstruktionen kultureller oder intellektueller Vorgänge neigen zwangsläufig dazu, retrospektiv diesen Vorgängen eine deutliche Kontur, eine Eindeutigkeit zuzuschreiben oder gar aufzuzwingen, die sie für die Zeitgenossen ebenso zwangsläufig nicht haben konnte. Und gerade der zeitgebundene, kalendarisch festlegbare Charakter des Briefdiskurses spielt genau dieser Tendenz entgegen, teleologische Narrative zu formen. Deterministische Einsichten können im Briefdiskurs formuliert werden, und ihr Autor kann sowohl richtig als auch falsch liegen, wobei Letzteres bei Spengler in besonders hohem Maße vorkommt.21 Im Briefdiskurs der Zwischenkriegszeit weht dem heutigen Leser das Akzidentelle, das Unberechenbare dieser Zeit förmlich an. Er liefert einen per definitionem diachronen, perspektivierten, sich kontinuierlich selbst revidierenden Diskurs, der die Post-festum-Narrative über die Weimarer Republik, die es uns erst ermöglichen, das Akzidentelle und Unberechenbare dieser Zeit wahrzunehmen, gleichzeitig auch destruieren. Dies liegt vielleicht gerade auch am anekdotischen Charakter, der in solchen Briefdiskursen sich gleich doppelt vollzieht: Einerseits geben die Briefschreiber immer wieder Anekdoten aus Kultur und Politik zum Besten, doch stellen sie selbst wiederum in Rohform einen reichen Anekdotenschatz zur Verfügung. Dieser anekdotische Charakter, der sicherlich einen Wesenszug nicht nur des Spengler’schen Briefdiskurses ausmacht, steht mit dem weltgeschichtlich klassifizierenden Anspruch Spenglers genauso quer, wie Walter Benjamin dies in einer Aufzeichnung zu seinem Passagen-Werk formuliert: »Die Konstruktionen der Geschichte sind militärischen Ordres vergleichbar, die das wahre Leben kuranzen und kasernieren. Dagegen der

21  Bekanntlich beginnt die Einleitung von Spenglers Untergang des Abendlandes sowohl in den Fassungen von 1918 und 1923 mit dem Satz: »In diesem Buche wurde zum ersten Mal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen.«

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Straßenaufstand der Anekdote. Die Anekdote rückt uns die Dinge näher heran, läßt sie in unser Leben treten.«22 Um diese organische Sprengkraft der Anekdote, aber auch die seltsamen Entsprechungen oder Kontraste zwischen der großen Geschichte und den Geschichtchen zu veranschaulichen, sei hier noch als Epilog an eine berühmte Spengler-Anekdote aus dem Tagebuch eines Verzweifelten von Friedrich Reck-Malleczewen erinnert: Als ich [Spengler], noch vor seinem ersten großen Erfolg, kennenlernte, hatte er mich gebeten, ihn in seiner kleinen Wohnung […] nicht zu besuchen, da es dort zu eng sei und er mir doch einst seine Bibliothek in ihrem ganzen monumentalen Umfang anderweitig zu zeigen hoffe. 1926, als er […] in die pompöse Wiedenmayerstraße am Isarufer übergesiedelt war, führte er mich dort wohl durch die Flucht seiner gewaltigen Säle, zeigte mir auch seine Teppiche und Bilder und selbst sein Bett, das mit einer Breite von fünf Fuß an sich schon eine Sehenswürdigkeit war und eigentlich einem Katafalk glich... wurde aber offensichtlich verlegen, als ich nun endlich in die Bibliothek geführt werden wollte. Schließlich, als ich nicht nachgab, stand ich in einem ziemlich kleinen Zimmer, wo auf einer recht schäbigen Nußbaumstellage neben einer Batterie von Ullsteinbänden und Kriminalromanen das stand, was man gemeinhin »schweinsche Biecher« nennt.23

22  Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. V.2: Das Passagen-Werk. Hrsg. von Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann. Frankfurt / Main 1991, S. 677. 23  Friedrich Reck: Tagebuch eines Verzweifelten (1947). Frankfurt / Main 1994, S. 6 f.

Elsbeth Dangel-Pelloquin

»sehr hastig, ganz der Spontaneität folgend« Verworfene Autorschaft in Hofmannsthals Briefen

In Jean Pauls Jubelsenior von 1797 heißt es: »Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde; Briefe sind nur dünnere Bücher für die Welt.«1 Behauptet wird eine nur durch den Umfang unterschiedene Identität von Buch und Brief, die zudem noch die Adressaten vertauscht: Bücher gehen privat an Freunde, Briefe an die Welt. Diese Aufwertung des Briefs zur literarischen Gattung und des Buchs zum Medium intimer Kommunikation ist dem Freundschaftsdiskurs und der Briefkultur um 1800 geschuldet, die Briefe als Hort der Subjektivität, des geselligen Umgangs und der empfindsamen Seelensprache verstehen. Sie verwischt die Differenz von Briefschreiber und Buchautor, wie sie in genau entgegengesetzter Spannung Michel Foucault fast 200 Jahre später konstatiert: »ein Privatbrief kann einen Schreiber haben, er hat aber keinen Autor«.2 Wie immer man die Gegensatz-Pole von Autor und Schreiber, von Brief und literarischem Text beurteilen mag, Jean Pauls Votum behält Recht im Hinblick auf die Briefe eines Autors im emphatischen Sinn, eines Dichters. Diese werden postum ebenso zu Büchern wie seine Werke. Briefe berühmter Zeitgenossen und ganz besonders Dichterbriefe sind immer beides zugleich: intimes Gespräch zwischen einem privaten Schreiber und Adressaten, und ein – zumindest postum – öffentlich lesbarer Text. Der Schreiber muss hinter dem Adressaten mit einer mitlesenden Allgemeinheit rechnen, er führt gleichsam ein postalisches Podiumsgespräch. Der Dichterbrief ist ein mit einer Signatur versehenes, persönlich verantwortetes, privat adressiertes, aber tendenziell öffentliches Produkt seines Autors, und er wird editionsphilologisch als Teil des Werks behandelt. Wie früh Hofmannsthal mit der Veröffentlichung seiner Briefe gerechnet hat, zeigt eine übermütig-launige Bemerkung des 17-Jährigen an Her-

1  Jean Paul: Der Jubelsenior. In: Ders.: Werke. Bd. I/4. Hrsg. von Norbert Miller und Wilhelm ­ chmidt-Biggemann. München, Wien 1987 (4./5. Auflage, mit früheren Auflagen nicht immer S seitenidentisch), S. 498. 2  Michel Foucault: Was ist ein Autor?. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. und kommentiert von Fotis Jannidis u. a. Stuttgart 2000, S. 198–229, hier S. 213. Vgl. dazu: Jochen Strobel (Hrsg.): Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Heidelberg 2006, S. 9 f.

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mann Bahr: »Schrei­ben Sie recht bald, aber nicht so artig. Es ist wegen der Unsterblichkeit.«3 Diese keck erwartete epistolare Unsterblichkeit wurde im Fall Hofmannsthals übrigens bereits zwei Wochen nach seinem Tod in Angriff genommen, als Frau und Tochter mit den Briefabschriften begannen. Dem Veröffentlichungs-Automatismus widerspricht zwar Hofmannsthals bekanntes Votum an Ruth Sieber-Rilke von 1927: Ich würde alles tun – soweit sich in dieser zerfahrenen Welt etwas tun läßt –, diese vielen schalen und oft indiskreten Äußerungen über einen produktiven Menschen und seine Hervorbringungen, dieses verwässernde Geschwätz, zu unterdrücken, zumindest ihm möglichst die Nahrung zu entziehen durch Beiseite-Bringen der privaten Briefe und Aufzeichnungen […], Erschwerung des läppischen Biographismus und aller dieser Unziemlichkeiten.4

Doch gleichzeitig hat er selbst für diese Nahrung gesorgt durch die Herausgabe seiner Korrespondenz mit Richard Strauss zu Lebzeiten, die, wiewohl striktes Werkstattgespräch, genügend indiskrete Hinweise enthält. Hofmannsthal stand zu sehr in der Tradition einer klassischen Briefkultur als Schreiber und Sammler und als Verfasser fiktiver Briefe, um ernsthaft sein epistolares Weiterleben verhindern zu wollen. Die Unausweichlichkeit der Publikation formuliert Hofmannsthals Freund Rudolf Borchardt: »Mir genügt es, dass der Briefwechsel da ist. Er kann auf die Länge nicht versteckt bleiben, – das wäre das erste Mal in der Geschichte.«5 Hofmannsthals Schriftstellerexistenz umfasst knapp 40 Jahre von 1890 bis 1929. Einen guten Teil davon hat er mit Briefeschreiben zugebracht, sein immenses Briefwerk – geschätzt werden weit über 10.000 Briefe – gehört zu den größten überlieferten Briefkorpora.6 Hofmannsthals großes Beziehungs- und Freundschaftsnetz, der unruhige, immer neue Projekte aufwerfende Tätigkeitsradius, seine Theaterarbeit und seine publizistischen Unternehmungen, vor allem seine persönlichen Freundschaften sind in diesem Briefkorpus dokumentiert. Die frühen Briefe Hofmannsthals sind gekennzeichnet durch übermütige Inszenierungen und Rollenspiele eines selbstbewussten Ichs, das sich

3  Hugo und Gerty von Hofmannsthal, Hermann Bahr: Briefwechsel. Hrsg. und kommentiert von Elsbeth Dangel-Pelloquin. Göttingen 2013, S. 18 (Brief nach dem 10.10.1891). 4  Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke: Briefwechsel 1899–1925. Hrsg. von Rudolf Hirsch und Ingeborg Schnack. Frankfurt / Main 1978, S. 149 (Brief vom 24.4.1927). 5  Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel. Text. Bearbeitet von Gerhard Schuster. München 1994, S. 401 (Brief vom Juli 1937). 6  Vgl. Jörg Schuster: Hofmannsthal als Briefschreiber. In: Mathias Mayer, Julian Werlitz (Hrsg.): Hofmannsthal-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2016, S. 84.

Verworfene Autorschaft in Hofmannsthals Briefen

erfolgreich auf dem Parkett der europäischen Moderne erprobt, durch poetologische und ästhetische Positionen, durch künstlerische Narrative und Beschreibungen, die als ästhetische Skizzen teilweise in die literarischen Texte Eingang gefunden haben.7 Daneben dienen viele Briefe und Postkarten der schnellen Kommunikation innerhalb der Stadt: kurze Nachrichten oder rasche Verabredungen werden in der zeittypischen Form der Rohrpostbriefe, der »Correspondenz-Karte zur pneumatischen Expressbeförderung« versandt, deren Übermittlung weniger als eine Stunde brauchte und somit fast die Geschwindigkeit heutiger E-Mails hatte.8 Die Masse der Briefe ist über die Jahre ungleich verteilt. Fast alle großen Freundschafts-Briefwechsel – mit seinen Schriftstellerfreunden Schnitzler, Bahr, Beer-Hofmann, mit Kessler, Borchardt, Schröder, mit Ottonie von Degenfeld und Helene von Nostitz – dünnen im letzten Lebensjahrzehnt Hofmannsthals, also von 1919–1929, regelrecht aus. Der einzige neue Freundschaftsbriefwechsel ist der mit Carl Jacob Burckhardt. Dafür nimmt ein anderer Typus von Briefen zu, einmal mit Männern des kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Lebens, wie Josef Redlich, Josef Nadler, Paul Zifferer, Walther Brecht, Konrad Burdach, und zum anderen »Geschäftskorrespondenz« mit den jeweiligen Ansprechpartnern in Verlagen und Theatern, so im Zusammenhang mit Hofmannsthals Zeitschrift, den Neuen Deutschen Beiträgen und für die Zusammenarbeit mit der Bremer Presse. Fast ganz verschwinden die kurzen Nachrichten, sie werden zunehmend dem neuen Medium Telefon anvertraut.9 Auch thematisch setzen die Nachkriegsbriefe andere Schwerpunkte. Dies gilt vor allem im Hinblick auf Hofmannsthals Selbstverständnis als Autor und seinen Wirkungskreis in der literarischen Nachkriegswelt. Hofmannsthal hat – wie viele Dokumente bezeugen – sehr besonnen auf das Kriegsende reagiert und war bereit, sich auf das Neue einzulassen. So schreibt er an Rudolf Pannwitz: »Der Welt, die untergeht, weine ich keine

7  Dies die explizite These von Jörg Schuster: Kunstleben. Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 – Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes. Paderborn 2014. Schuster betont den Kunstcharakter der Briefe Hofmannsthals und sieht in ihnen einen Beitrag zur »Selbstvergewisserung und Selbstinszenierung als Fin-de-siècle-Ästhet« (S. 35). Ganz entsprechend argumentiert auch die Einleitung des von Jörg Schuster mitherausgegebenen Bandes: Jörg Schuster, Jochen Strobel (Hrsg.): Briefkultur. Texte und Interpretationen  – von Martin Luther bis Thomas Bernhard. Berlin 2013, S. XXII. Vgl. zur Ästhetisierung des Briefs bei Hofmannsthal auch: Alexander Košenina: »Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch«. Vom Briefschreiber zum Autor  – am Beispiel Hofmannsthals. In: Heinrich Detering (Hrsg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart 2002, S. 241–257. 8  Vgl. Ebd., S. 246. 9  Vgl. zu Hofmannsthals Umgang mit dem Telefon: Heinz Hiebler: Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne. Würzburg 2003, S. 347–390.

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Thräne nach«. Und im nächsten Brief an Pannwitz: »Aber es war in Österreich alles der Idee entfremdet, ja alles verleugnete die Idee ohne die doch das Ganze nicht bestehen konnte, alles war Materie, Phlegma geworden.«10 Und an Ottonie von Degenfeld: »In dem Ganzen ist für mich doch etwas Erlösendes, ich habe das, was jetzt stürzt, in diesen Tagen wahrhaft hassen und verachten gelernt.«11 Der Wunsch nach einem Neuanfang wird im Brief an Anton Kippenberg ausgedrückt: »Umso entschiedener muss der geistige Aufschwung sein, dies alles zu überdauern und sich darüber zu erheben.«12 Die Legende des durch den Untergang der k. u. k. Monarchie gebrochenen Hofmannsthal ist teilweise zu revidieren. Dennoch ist er in seiner materiellen und geistigen Existenz zutiefst von der grundlegenden Umwälzung seiner Lebenswelt betroffen. Noch 1928 schreibt er rückblickend an Josef Redlich, sein »eigenes dichterisches Dasein« sei »in diesem Zusammensturz fragwürdig geworden«, weil er »mit dem Zusammenbruch Österreichs das Erdreich verloren habe, in welches ich verwurzelt bin«.13 Den späten Briefen fehlen gänzlich Leichtigkeit und Witz der früheren, die Selbstinszenierung erfolgt zunehmend im Modus der Defizienz der eigenen Produktivität und in der Sorge um die schwindende Anerkennung als Dichter. Die Korrespondenzen sind geprägt von einer ängstlichen, fast pathologischen Verteidigung eines für das Schrei­ben notwendigen Schutzraums, von der unablässigen Suche nach geeigneten, vom Föhn freien Schreiborten, von denen nur die wenigsten den komplizierten Ansprüchen des Dichters gerecht werden können, von ständigen Krankheitsberichten, die zum obsessiven Thema der Briefe werden, schließlich von dringlichen Rufen um Hilfe bei der literarischen Produktion. Das gilt besonders für den neuen Freund Carl Jacob Burckhardt, der die Schwere des alternden Dichters zu spüren bekommt und dieses Bild der Nachwelt vermittelt hat.14 Oft kennzeichnet die Briefe eine dramatisch dunkle Metaphorik. So etwa 1927 an Yella Oppenheimer: »Ich habe vielleicht eine kleine Verdunkelung über

10  Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Pannwitz: Briefwechsel. 1907–1926. In Verb. mit dem Deutschen Literaturarchiv hrsg. von Gerhard Schuster. Frankfurt / Main 1994, S. 347 und 349. 11  Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel mit Ottonie von Degenfeld und Julie Freifrau von Wendelstadt. Hrsg. von Marie Therese Miller-Degenfeld unter Mitwirkung von Eugene Weber. Frankfurt / Main 1974, S. 392 (Brief vom 26.11.1918). 12  Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel mit dem Insel-Verlag 1901 bis 1929. Hrsg. von Gerhard Schuster. Frankfurt / Main 1985, S. 716. Fast euphorisch äußert sich Hofmannsthal gegenüber Andrian: Er sei »mitten in dieser Weltkrise, in der alles um einen zusammenzustürzen scheint […] meiner Vocation sicher geworden«. Hugo von Hofmannsthal, Leopold von Andrian: Briefwechsel. Hrsg. von Walter H. Perl. Frankfurt / Main 1968, S. 291 (Brief vom 16.10.1918). 13  Hugo von Hofmannsthal, Josef Redlich: Briefwechsel. Hrsg. von Helga Fußgänger. Frankfurt / Main 1971, S. 116 (Brief vom 28.11.1928). 14  Vgl. dazu Carl Jacob Burckhardt: Erinnerungen an Hofmannsthal. In: Ders.: Porträts und Begegnungen. Gesammelte Werke in sechs Bänden. Bern u. a. 1971, S. 59–77.

Verworfene Autorschaft in Hofmannsthals Briefen

mir gehabt, von meinen Arbeiten her – oder richtiger: die Arbeiten führen einen in meinem Alter leicht an den Rand eines sehr dunklen Gebietes – wohin sie einen jungen Menschen nicht führen.«15 Ich möchte nun auf vier Briefe näher eingehen, drei um das Kriegsende gruppiert, der vierte von 1924, die etwas von dieser Verdunkelung spüren lassen, aber in indirekter, ungewollter Weise. Sie sind aus der politischen und kulturellen Krise der Zeit zu verstehen und zeugen von einer bedrohten und um Orientierung ringenden Schriftstellerexistenz. Ich möchte sie »Briefe der verworfenen Autorschaft« nennen. Autorschaft kommt in ihnen in mehrfacher Hinsicht zur Erscheinung. Zum einen thematisieren sie Störungen, Reviersicherungen, Rivalität und Anerkennungsfragen des Schreibers. Zum anderen sind sie Zeugnisse einer erhöhten und unkontrollierten Irritabilität, die Höflichkeitsregeln einer klassischen Briefkultur vermissen lässt. Damit entfernen sie sich weit von der zwar vorlauten, doch spielerisch-witzigen Briefkommunikation der frühen Jahre. Schließlich sind es ungewollte Briefe, weil ihr Autor – oder Verfasser –, ihnen nachträglich seine Urheberschaft aberkennt, sie verwirft und ungeschehen machen will. Mit der Bitte um Vernichtung wird ihnen post festum gleichsam die Autorschaft entzogen. Das gilt zunächst gegenüber dem direkten Adressaten, zielt jedoch zugleich auf das dahinterstehende Publikum. Pikanterweise sind alle Briefe sichtbar vor aller Augen, zudem versehen mit dem Stigma des auktorialen Vernichtungswillens, das sie erst recht attraktiv macht. Es steht zu fragen, inwieweit dieses fast autorlose, zumindest korrekturlose Schrei­ben eine neue Form des Briefschreibens repräsentiert, das verantwortete Autorschaft (vorsichtiger: Verfasserschaft) teilweise suspendiert.

1. Gräuliche Grimassen Im Briefwechsel mit der Gräfin Ottonie von Degenfeld beklagt sich Hofmannsthal kurz vor Kriegsende in einer äußerst gereizten Stimmung über seinen Freund und Ottonies Schwager, den Großindustriellen Eberhard von Bodenhausen. Er teilt dabei nach zwei Seiten aus, auch Ottonie trifft sein

15  Hugo von Hofmannsthal, Yella, Felix und Mysa Oppenheimer: Briefwechsel. Teil II: 1906– 1929. Hrsg. von Nicoletta Giacon. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 8 (2000), S. 132 (Brief vom 22.2.1927). Dieser Briefwechsel ist besonders von solchen Unglücks- oder Krankheitsmeldungen durchsetzt: »aber die fürchterliche Disharmonie des Lebens hat sich mit Gewalt auf mich geworfen« (S. 85); »Speciell das Maß der geistigen Zerrüttung in solchen Momenten ist mir rätselhaft: ich hatte wirklich große Mühe, unüberfahren über die Gasse zu kommen« (S. 146); »Geistig aber, im productiven Sinn, bin ich ärmlich dran« (S. 147); »Ich habe eine schleichende Grippe« (S. 148).

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Ärger. Über Bodenhausen beschwert er sich, weil er ihn durch seine Anwesenheit mit seiner »unsagbaren Schwere« niederdrückt. Hofmannsthal setzt dagegen »diese seltsame meinige Zauberwelt, ich kann das doch nicht hergeben wieder für die beständige fürchterliche Wirklichkeit.«16 Die Gräfin dagegen reizt seinen Unwillen gerade umgekehrt dadurch, dass sie ihm ihre inspirierende Gegenwart wegen familiärer Verpflichtungen entzieht. In einem Rundumschlag wird das gesamte familiäre Umfeld Ottonies vom Wortfeld des Grauens kontaminiert, das in einer Figura etymologica durch den Brief geschleift wird, verbunden mit der bei Hofmannsthal so prominenten Gesichtsmetaphorik, die indessen nur in entstellter Form zum Zuge kommt. »Unglückshexe«, »gräuliche Person«, »Grimasse«, »Gesicht schneide[n]«, »unglückselig grimassierend« sind die Intitulierungen für Ottonies Schwägerinnen. Eine wahre Unmutslawine ergießt sich: »so gräulich« oder »gräulich ist das«, wobei in Hofmannsthals, der jetzigen entsprechenden Rechtschreibung, alles sowohl ins Grauen wie in die graue Farbe eingetaucht wird, bis schließlich die assoziative Signifikantenkette des »gräulichen« ins ununterscheidbare Finstere hineinfließt: »[…] ich habe Sie verloren an diese Menschen, das alles wird in ein finsteres Faß ohne Boden hineingeschöpft und damit Schluß. […] Also ja, ja – schon gut, laßt doch alles sein«.17 Der nächste Brief an Ottonie geht in gleichem Ton und in gleicher Metaphorik weiter. Hofmannsthal fühlt sich seit dem Weggang Bodenhausens entlastet: »Richtig wie in einer Ehe war das. (Wie gut für Sie, im tiefsten Ernst, daß Christoph früh gestorben ist, eine Ehe ist zu etwas Schweres.) Nein aber wirklich: eine Libelle kann manchmal ein schwermütiges Kalb auf dem Rücken herumtragen, aber nicht beständig. Wenn etwas durch ein trübes schweres Element zu mir kommt, so beschwert es mich so namenlos«.18 Und wieder geht es um Ottonies familiäre Abhaltungen: ich glaube, ich kann es auf die Dauer garnicht ertragen, Ihre Existenz so be­­ ständig vermengt mit diesen andern Existenzen zu spüren, es ist mir grauenhaft. Alle Vermengung ist so gegen meine Natur  – ich liebe so unsagbar das Reine, das Einzelne und den zarten Zusammenhang der Wesen – aber mir graut vor diesen beständigen Verstrickungen. Wie schön sind die Toten, so rein, so für sich allein.19

16  Hofmannsthal, Degenfeld: Briefwechsel, S. 367 (Brief vom 17.3.1918). 17  Ebd., S. 367 f. »Gräulich« ist auch sonst eine Lieblingsvokabel Hofmannsthals, etwa an Franckenstein: »die Mischung aus Süßlichem u. Sentimentalem mit dem Engen u. Egoistischen ist mir ganz Gräulich«. Hugo von Hofmannsthal, Clemens von Franckenstein: Briefwechsel 1894–1928. Hrsg. von Ulrike Landfester. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 5 (1997), S. 139 (Brief vom 22.7.1919). 18  Hofmannsthal, Degenfeld: Briefwechsel, S. 369 (Brief vom 29.3.1918). 19  Ebd.

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Erstaunlich ist nicht Hofmannsthals Ärger, erstaunlich sind die Totenbeschwörungen, die Ottonie erst zum frühen Tod ihres Mannes beglückwünschen und sie dann selbst als schöne und von allen familiären Zugriffen reine Leiche halluzinieren.20 Oder bezieht sich die Totsagung auf Bodenhausen? Jedenfalls stirbt er und nicht Ottonie zwei Monate später. Hofmannsthal beweint brieflich seinen »unersetzlichen besten Freund, den reichsten edelsten Menschen meines ganzen Lebenskreises«,21 hat indessen keine Zeit, zur Beerdigung zu fahren: »Ich muß dies Einzige in mir erhalten, durch das ich in einem höheren Sinn lebe, es ist so beständig bedroht, so namenlos bedroht von dem Muß des schweren bitteren Lebens, immer und immer.«22 Erst nach dem Tod Bodenhausens erkennt Hofmannsthal die Aggressivität seiner Briefe und bittet um ihre Vernichtung: Es sei »ein Element seiner Natur, worin etwas Vorahnendes ist.« Damit wird das aktiv gesteuerte Moment des Schreibens heruntergedimmt zugunsten von Regungen, die einem Bereich des Nicht-ganz-Bewussten zugehören. Dieses fast visionäre Denken nähert sich den hypnagogen Bildern an, denen Hofmannsthal mehrere seiner literarischen Texte gewidmet hat und die für seine poetologischen Konzepte von großer Bedeutung sind.23 Doch ist diese Vorahnung kein Freibrief für die aus trüben Quellen gespeiste Einfärbung ins Gräuliche und die Tabus verletzenden Totenbeschwörungen, die sich ungehemmt aufs Briefpapier ergießen. Die Briefe wurden zwar von der Gräfin in weiblicher Nachsicht rasch verziehen, weggeworfen wurden sie nicht.

20  Solche Totsagungen wiederholen sich im Briefwechsel, immer im Zusammenhang eines Rückzugs der Gräfin Degenfeld: Hofmannsthal reagiert an anderer Stelle gereizt, es sei »so als ob auch Sie schon gestorben wären« (ebd., S. 440). 21  Hugo von Hofmannsthal, Eberhard von Bodenhausen: Briefe der Freundschaft. Hrsg. von Dora von Bodenhausen. Düsseldorf 1953, S. 252. So auch an Yella Oppenheimer: »Was ich verliere, für heute und alle Zukunft, vermag ich nicht auszudenken.« (Hofmannsthal, Oppenheimer: Briefwechsel, S. 69); und an Andrian: »Was ich verliere, für heute und alle Zukunft, kann ich Dir nicht sagen, kann es mir selber nicht ausdenken. Er war ein Mensch von der außergewöhnlichsten Art, der seltensten Mischung, unendlich viel Güte, Weltverstand und fast unwiderstehlicher Kraft des Willens.« (Hofmannsthal, Andrian: Briefwechsel, S. 255 f. [Brief vom 9.5.1918]). 22  Hofmannsthal, Degenfeld: Briefwechsel, S. 372 (Brief vom 16.5.1918). 23  Vgl. dazu Helmut Pfotenhauer: Hofmannsthal, die hypnagogen Bilder, die Visionen. Schnittstellen der Evidenzkonzepte um 1900. In: Ders., Wolfgang Riedel, Sabine Schneider (Hrsg.): Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900. Würzburg 2005, S. 1–18; wiederabgedruckt in: Helmut Pfotenhauer, Sabine Schneider (Hrsg.): Nicht völlig Wachen und nicht ganz ein Traum. Die Halbschlafbilder in der Literatur. Würzburg 2006, S. 87–104.

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2. Hausdichter Der nächste Brief an Richard Strauss ist eine Ausnahme in meiner Reihe, denn Hofmannsthal hat ihm nie sein Placet entzogen. Doch trägt er alle Kriterien der Verwerfung und nur die gelassene Reaktion des Empfängers hat ihn vielleicht vor der Widerrufung bewahrt. Dem nachlesenden Publikum sollte er gleichwohl vorenthalten werden, Strauss hat sich seiner Veröffentlichung widersetzt. Wie immer ohne Erfolg. Kurz vor Kriegsende sah Hofmannsthal eine Gelegenheit, auf die Hof­ theater Wiens Einfluss zu nehmen, indem er durch geschickte Politik seinen Freund Leopold von Andrian auf den Posten des Generalintendanten der k. u. k. Hoftheater lancierte. Damit war nicht nur eine kulturelle Er­­ neuerung unter dem alten Regime intendiert, sondern es ging auch ganz konkret um eigene Interessen. Hofmannsthal schildert Andrian verbittert seine jahrelange Nichtbeachtung durch das Burgtheater. Er habe sich »vom 15ten Lebensjahr an« als »eine Art Hausdichter eines imaginären Burgtheaters« gefühlt: Was ich an angefangenen Arbeiten aus découragement liegen ließ, weil die Sachen, ihrer Farbe nach, nach Wien gehörten und sie für Berlin zu schrei­ben ganz sinnlos war, ist unzählbar. […] Es ist mir wirklich selbst sonderbar, daß man hier jemanden so systematisch mißhandeln konnte, und daß dieser jemand zufällig ich war. – Während dieser Jahre wurde ungefähr jedes Stück von Hauptmann hier gespielt, jedes Stück von Schnitzler, wurde Herr Schönherr entdeckt und gespielt bis zum Überdruß u. s. f.24

Nach der gelungenen Inthronisierung Andrians konnte Hofmannsthal auf Änderung hoffen und versuchen, ein Theater-Reich aufzubauen, das seiner dichterischen Produktion neuen Raum geben sollte.25 Auch bei der Besetzung der einzelnen Sparten mischte er kräftig mit. Hierzu intervenierte er – ohne Rücksprache mit Andrian – direkt bei Richard Strauss, um vorsorglich dessen eventuelle Kandidatur als Direktor der Hofoper zu verhindern. Der Brief vom 1.8.1918 beginnt mit dem Topos aller Verwerfungsbriefe Hofmannsthals, nämlich mit der alles Folgende legitimierenden Krankheit und Krise: »Es geht mir im Augenblick nicht gut. Solche Verdüsterungen kommen bei mir aus der Arbeit selbst – oder aus irgendeiner Tiefe

24  Hofmannsthal, Andrian: Briefwechsel, S. 288 (Brief vom 2.10.1918). 25  Vgl. auch Hofmannsthal, Pannwitz: Briefwechsel, S. 413: »ich freue mich sehr, dass Sie für Ihre komödie Andrians hilfe haben […] ich glaube dass das für Sie dringend nötig ist, um all Ihre kräfte hervorzulocken.«

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der physischen Natur.«26 Dann erklärt Hofmannsthal, es gebe einen Gegner einer ja noch gar nicht erfolgten Kandidatur von Strauss: »Dieser Gegner bin ich«. Die Begründung zu dieser Kampfansage lautet: »Ich glaube […], daß Sie heute die Bequemlichkeit Ihrer Person und vor allem die Selbstsucht des schöpferischen Musikers über den höheren, bisher schwer zu erkämpfenden Vorteil des Institutes setzen würden […].« Um seiner Gegnerschaft Nachdruck zu verleihen, bedient sich Hofmannsthal gar der höchsten Wahrhaftigkeitsfloskel, der Formel Luthers vor dem Reichstag: Es wird mir hart, so zu argumentieren. Ich kann nicht anders. Mir ist alles Persönliche ein Greuel, und die in einem Institut verkörperte Idee, so kläglich sie fast beständig herabgewürdigt und prostituiert wird, ist mir alles. Anders kann ich nicht existieren, und je mehr ich die Erbärmlichkeit der menschlichen Handlungen und Verhältnisse durchblicke, desto absoluter werde ich.27

Diese behauptete Reinheit Hofmannsthals von allem Persönlichen gilt nicht für Strauss: »Die große Gefahr Ihres Lebens ist Kulturlosigkeit […]. Jedes Stellen der eigenen Person über die Ideen und Institutionen ist kulturlos […]. Ich glaube aber nicht, daß Sie heute schon so weit sind, diesen Zusammenhang zu verstehen.«28 Es ist nur der auch überall sonst im Briefwechsel spürbaren Dickfelligkeit, aber auch der Souveränität von Richard Strauss zu verdanken, dass er diesen Affront gelassen und ironisch auffängt: Ich danke Ihnen sehr für Ihren freundlichen Brief. Derselbe nimmt zwar stark antizipierend auf Dinge Bezug, die noch in keiner Weise irgend eine greifbare Form angenommen haben […], immerhin will ich gerne schon heute und ohne jede Empfindlichkeit die Nachricht zur Kenntnis nehmen, daß Sie ein Gegner davon sind.29

Hofmannsthal fand – wohl aufgrund der günstigen Reaktion des Empfängers – an seinem Brief nichts auszusetzen. Die damit verbundene Aufregung klingt indessen noch nach. An Andrian, dem er die Antwort von Strauss schickt und ein Kurzprotokoll seines eigenen Briefs gibt, schreibt er: »ich hoffe, Du hast besser geschlafen als ich. Ich passe wirklich nicht für ›Geschäfte‹«. Er fügt hinzu: »Strauss hat große Fehler und Schwächen, aber

26  Richard Strauss, Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel. Hrsg. von Willi Schuh. Zürich 1964 (dritte, erweiterte Auflage), S. 416 (Brief vom 1.8.1918). 27  Ebd., S. 416–418. 28  Ebd., S. 418. 29  Ebd.

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er ist ein Mensch von Rang und lügt durchaus nicht.«30 Der Brief wurde in der Erstausgabe von 1926 auf Wunsch von Strauss nicht veröffentlicht, was denn doch auf eine Kränkung hinzudeuten scheint. Die Veröffentlichung nach seinem Tod konnte Strauss nicht verhindern. Er hätte den Brief dafür – als sein Empfänger und damit Besitzer – vernichten und alle Spuren tilgen müssen. Hofmannsthals Brief an Strauss klingt wie eine Revierverteidigung ­eines Dichters, der sich ein ihm förderliches Reich aufbauen will.31 Es entbehrt nicht der Tragik, dass solche kleinräumigen Revierkämpfe in den »letzten Tagen der Menschheit« (um mit Karl Kraus zu reden) stattfanden, vor dem Hintergrund eines brennenden Europas und dem Zusammenbruch aller Ordnungen. Hofmannsthal konnte von seinem kulturpolitischen Engagement nicht mehr profitieren: Andrian trat bereits im November, gleichzeitig mit dem Kaiser, von seinem Posten zurück und Hofmannsthal hatte mit einem ihm wenig gewogenen Nachfolger zu tun. Den einflussreichen Staatsrechtler Josef Redlich bittet er »im Moment ungeheuerlicher Umwälzung […] einen Ausweg zu suchen, der auch mich u. alle meine Hoffnungen nicht mitbegräbt«.32 Dieser Brief vom 29.10. ist zwei Wochen vor der Abdankung Kaiser Karls I. und dem Rücktritt Andrians geschrieben. Hofmannsthal musste alle seine Hoffnungen, »Hausdichter« am Burgtheater zu werden und durch Andrian das Haus und die Oper mitzugestalten, für immer begraben.

3. »Nicht Herr im eigenen Hause« Von Hausdichter kann keine Rede sein, wenn das Haus des Staates selbst zerstört wird. An Yella Oppenheimer schreibt Hofmannsthal: Die Ereignisse überstürzten sich, an einem Nachmittag riss man das ganze Gebäude des Staates nieder, annulierte die Militärgewalt und jede Autorität, und es ist ein wahres kaum begreifliches Wunder, dass wir an den Tagen, die auf den 30 X. folgten, von einer Katastrophe verschont geblieben sind.33

30  Hofmannsthal, Andrian: Briefwechsel, S. 265 f. (Brief vom 8.8.1918). 31  Besonders Hermann Bahr war in die Kämpfe um die Burgtheaterpräsenz Hofmannsthals involviert, vgl. dazu die Briefe der Jahre 1918 und 1919. Hofmannsthal, Bahr: Briefwechsel, S. 374–396. 32  Hofmannsthal, Redlich: Briefwechsel, S. 40 (Brief vom 29.10.1918). 33  Hofmannsthal, Yella Oppenheimer: Briefwechsel, S. 75 f. (Brief vom 17.11.1918).

Verworfene Autorschaft in Hofmannsthals Briefen

Mit dem Verlust des Hauses, sowohl des Hofburgtheaters als auch des Hauses Österreich, hat indirekt der nächste Brief zu tun, der in Hofmannsthals Brief karriere einen – allerdings bedenklichen – Höhepunkt darstellt. Er ist an Ostern 1919 geschrieben und hat wie immer Krankheit als Ausgangsthema. Der an einer Rippenfellentzündung erkrankte Hofmannsthal entschuldigt sich brieflich bei seinem Freund Richard Beer-Hofmann, dass er nicht zur Uraufführung von Jaàkobs Traum am Burgtheater kommen kann: Im Bette liegend, hab ich mir eingestanden, daß ich dem Zufall dankbar war, der mich die Aufführung Ihres Stückes gerade an diesem Theater u. von diesen Schauspielern versäumen ließ. […] Mir geht es eigen mit dem Stück. In der Erinnerung wird mir der eine Zug, der mir fremd darin ist, der chauvinistische oder national-stolze – worin ich, wie im Dünkel u. in der Selbstgerechtigkeit des Einzelnen, nicht anders kann als die Wurzel alles Bösen sehen – weit fühlbarer und verstört mich beinahe wie ein fremder u. böser Zug in einem sonst lieben u. schönen Gesicht. So ist es mir beim Charolais mit dem Zug der unbegreiflichen Unmenschlichkeit gegangen, […], und auch im »Tod Georgs« ist ein solcher Zug – nehme ich aber dann das Gedicht wieder in die Hand, so tritt der Zug zurück – ohne zu verschwinden – und ich sehe in ein vertrautes geistiges Gesicht, das mir, als das Ihre, lieb u. teuer ist.34

Die Sprache hangelt sich vom Gesicht zum Gedicht und wieder zum Gesicht, bis sie in einer Generalabrechnung das gesamte Werk Beer-Hofmanns erfasst hat. Dies geschieht in der beliebten Gesichter-Metaphorik, die eine Metamorphose erfährt: Das Gesicht als Metapher für die Werke des Freundes verwandelt sich fast wie in einer bösen Vision zur Grimasse. Wenn auch im Dunkel bleibt, was Hofmannsthal zu diesen Zeilen bewogen hat, so muss man vor dem Hintergrund der misslungenen eigenen Präsenz am Burgtheater annehmen, dass Neid und Rivalität bei seiner radikalen Ablehnung von Beer-Hofmanns Stück mitgespielt haben mögen.35 In seinem späteren Entschuldigungsschreiben betont er ausdrücklich, wie sehr ihm diese Bühne unerträglich sei.36 Aber auch die Aversion gegen den »chauvinistische[n]« Zug ist ein ernstzunehmendes Motiv für das Schrei­ben. Das

34  Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann: Briefwechsel. Hrsg. von Eugene Weber. Frankfurt / Main 1972, S. 145 (Brief vom 20.4.1919). Vgl. zum Folgenden: Elsbeth Dangel-Pelloquin: »Halb zufällig, halb absichtlich«. Die Inszenierung von Brüchen in Hofmannsthals Briefwechseln. In: Hofmannsthal Jahrbuch · Zur europäischen Moderne 17 (2009), S. 147–170. 35  Vgl. die Tagebuchnotiz Schnitzlers: »Richard las uns einen Brief Hugos vor, ganz krankhaft in seinem verbissenen Ärger über Richards Erfolg«. Arthur Schnitzler: Tagebuch. Bd. 1917–1919. Hrsg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Obmann Werner Welzig. Wien 1985, S. 247 (Eintrag vom 22.4.1919). 36  Hofmannsthal, Beer-Hofmann: Briefwechsel, S. 166.

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mag in Bezug auf Beer-Hofmanns »Chauvinismus« auch einer Abwehr des Jüdischen geschuldet sein. So hat Hofmannsthal später einen Essay von Willy Haas, der Hofmannsthal selbst dem Judentum zurechnete, in derselben vehementen physiognomischen Metaphorik verworfen: »statt eines menschlichen Gesichtes sieht mir eine der häßlichsten Larven des ›Zeitgeistes‹ entgegen«.37 Hofmannsthal begründet seine idiosynkratische Abwehr des Nationalen in seinem Entschuldigungsschreiben an Beer-Hofmann: In diesem Punkt hat der Krieg mich krank gemacht. Es war mein Schicksal, viele Dinge doch aus größerer Nähe, nicht bloß aus Berichten, wahrzunehmen, und dabei ist mir das Verhältnis zur eigenen Nation aufs schwerste erschüttert worden. Mir flößen nun diese rätselhaften Entitäten, die Nationen, ein solches Grauen ein, daß jedes harmlose Wort, das auf eine Nation reflectiert, mich krank macht.38

Die Verstörung durch den »chauvinistische[n]« Zug gleich welcher Couleur, dokumentieren auch andere Briefe, selbst beim Freund Rudolf Alexander Schröder ruft sie Schaudern hervor und wird ebenfalls in die Gesichtermetaphorik gefasst: »Die chauvinistische Grimasse aber bei einem Wesen seines Ranges […], dies ist so gräßlich«.39 Entscheidend sind indessen nicht diese möglichen verborgenen Motive, entscheidend ist vielmehr, dass sie sich in der eruptiven Form einer Überwältigung äußern, an der das bewusste Ich kaum Anteil hat. Wie üblich schickt Hofmannsthal dem ersten Brief sofort einen zweiten korrigierenden nach, es sei alles nur aus einem »liebevollen Denken an Sie hervorgegangen«. Erst an der darauffolgenden langen Antwort Beer-Hofmanns erkennt er, wie verletzend sein Brief war, und weiß sich kaum zu verteidigen. Die Konfrontation mit seinen eigenen Formulierungen in Beer-Hofmanns Antwortbrief erschrecken ihn durch die »furchtbare Härte des geschriebenen Wortes«.40 Er hat jedoch die größte Mühe, sich überhaupt als den Verursacher der irreparablen Formulierungen zu erkennen, was an der stotternden, unbeholfenen Sprache evident wird, die sich vom unpersönlichen Verb über Passivkonstruktion und Nominalisierungen endlich

37  Hugo von Hofmannsthal, Willy Haas: Ein Briefwechsel. Hrsg. von Rudolf Italiaander. Berlin 1968, S. 47 (Brief vom 4.6.1922). Zur Physiognomik bei Hofmannsthal vgl. Elsbeth Dangel-Pelloquin: »Ah, das Gesicht!« Physiognomische Evidenz bei Hofmannsthal. In: Helmut Pfotenhauer, Wolfgang Riedel, Sabine Schneider (Hrsg.): Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900. Würzburg 2005, S. 51–66. 38  Hofmannsthal, Beer-Hofmann: Briefwechsel, S. 167. 39  Hofmannsthal, Degenfeld: Briefwechsel, S. 448, siehe auch Antwortbrief an Beer-Hofmann, S. 167. 40  Hofmannsthal, Beer-Hofmann: Briefwechsel, S. 161.

Verworfene Autorschaft in Hofmannsthals Briefen

zum eigenen Ich als dem Agenten des Geschehenen durchringt: »Hier ist etwas geschehen, vielmehr etwas begangen worden; ein Begehen ist da, ein Sich-vergehen, Ihr tief verletzter Brief, an dem jede Zeile mir traurig, aber jede Zeile mir faßlich ist, zeigt es auf, ich bin es, der sich vergangen hat.« Dieses lange hingehaltene Eingestehen bleibt aber ohne Echo im Ich, das sich wundert über die »unglückseligen Wendungen«, »die mich in Ihrem Brief nun anstarren«, denn »es hat an dem leisesten, dem entferntesten animus iniuriandi gefehlt«.41 Die Fremdheit des Selbstgeschriebenen findet bei Hofmannsthal gar kein Korrelat im Ich, so sehr stammt das, was ihn da anstarrt, aus ichfremden Provinzen der eigenen Person, in denen das Ich in der bekannten Formulierung Freuds »nicht mehr Herr ist im eigenen Hause«.42 In fast denselben Worten charakterisiert Hofmannsthal seinen Zustand in diesem Frühjahr 1919 im Brief an Zifferer: »Es ist mir nicht gut gegangen, ich war nicht mehr recht Herr weder meines Körpers noch meines Kopfes und die Tage und Wochen sind mir ein wenig verloschen in Finsternis.«43 Im selben Jahr wie Hofmannsthals Brief, 1919, erscheint Freuds Essay über Das Unheimliche und die erste Schrift der Surrealisten, Les champs magnétiques von André Breton und Philippe Soupault. Zwischen allen besteht das »Geheimnis der Contemporaneität«.44 Die verstörende Entdeckung des fremden und bösen Zuges im lieben Gesicht des Freundes, der plötzlich in dessen gesamtem, auch älteren Werk erkannt wird, folgt einer Logik des Unheimlichen als einem plötzlichen Offenbar-Werden dessen, was heimlich und im Verborgenen schon existierte und nun sichtbar geworden ist.45 Indem diese vom Fieber begünstigte unheimliche Vision in der Form einer spontanen Niederschrift ihren Weg nimmt, nähert sie sich – wenn auch sicher unbeabsichtigt und ohne einen bewussten Gestaltungswillen – neuen literarischen Aufschreibesystemen, die zu dieser Zeit in Frankreich erprobt werden: der »écriture automatique« der französischen Surrealis-

41  Ebd., S. 160. 42  Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1917). In: Ders.: Studienausgabe. Bd. I. Hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey. Frankfurt / Main 1969, S. 284. 43  Hugo von Hofmannsthal, Paul Zifferer: Briefwechsel. Hrsg. von Hilde Burger. Wien 1983, S. 62 (Brief vom 29.7.1919). 44  So hat Hofmannsthal seine Beziehung zu George bezeichnet. Brief an Karl Wolfskehl vom 17.7.1927, zitiert nach Edgar Salin: Um Stefan George. Zweite neugestaltete Ausgabe. München und Düsseldorf 1954, S. 223. Vgl. Hofmannsthal, Borchardt: Briefwechsel, S. 129 (Brief vom 13.11.1912). 45  Freud umschreibt das Unheimliche in seiner gleichnamigen Studie als »jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.« Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: Studienausgabe. Bd. IV: Psychologische Schriften, S. 244.

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ten.46 Vergleichbar ist das Setting, das einen Zustand der Introspektion möglichst frei von der Kontrolle des Bewußtseins voraussetzt, der bei Hofmannsthal durch das fiebrig geschwächte Bewusstsein gegeben ist. Vergleichbar ist das assoziative Gleiten auf der Signifikantenebene der Sprache, das in Hofmannsthals Brief mit der Wortklang-Figur der Paronomasie vom »Gedicht« zum »Gesicht« erst die innere Vision und ihre unheimliche Gesichterabfolge auslöst. Vergleichbar ist vor allem das Verfahren des spontanen Aufschreibens, das Breton »einen so schnell wie möglich fließenden Monolog« nennt, »über den der kritische Verstand des Subjekts kein Urteil fällt, der sich infolgedessen keinerlei Verschweigung auferlegt und genauso wie gesprochenes Denken ist«.47 Ganz analog spricht Hofmannsthal gegenüber Beer-Hofmann von dem »monologischen Hinschreiben«, das er »wie fast alle Briefe in meinem Leben, sehr hastig, ganz der Spontaneität folgend, geschrieben u. wie ich bestimmt glaube nicht überlesen« hat.48 Derlei Formulierungen wiederholen sich bei Hofmannsthal. Fast wörtlich schreibt er noch im selben Jahr an Raoul Auernheimer, dem er ebenfalls »im Fieber« geschrieben hat und nun sein Schrei­ben widerrufen will: ich habe ein paar Tage Fieber gehabt und wie ich glaube im Fieber an Sie ge­­ schrieben, und vielleicht in großer Lebhaftigkeit, wie im Gespräch u. es bedrückt mich, daß vielleicht, wenn man das sehr Spontane meines Briefschreibens nicht einrechnet – ich überlese solche Briefe nie oder fast nie – manche Wendungen Ihnen könnten unbescheiden erschienen sein! Bitte fassen Sie nichts in dem Brief so auf!49

46  Vgl. Thomas M. Scheerer: Textanalytische Studien zur »écriture automatique«. Bonn 1974; Manfred Hilke: L’écriture automatique – Das Verhältnis von Surrealismus und Parapsychologie in der Lyrik von André Breton. Frankfurt / Main 2002. 47  André Breton: Les Manifestes du Surréalisme. Paris 1946. Premier manifeste (1924), S. 41 : »un monologue de débit aussi rapide que possible, sur lequel l’esprit critique du sujet ne fasse porter aucun jugement, qui ne s’embarrasse, par suite, d’aucune réticence, et qui soit aussi exactement que possible la pensée parlée.« Dt. zitiert nach Patrick Waldberg: Der Surrealismus. Aus dem Französischen von Ruth Henry. Köln 1965, S. 96. 48  Hofmannsthal, Beer-Hofmann: Briefwechsel, S. 160 und 166. 49  Hofmannsthal an Raoul Auernheimer am 7.11.1919. In: Rudolf Hirsch: Beiträge zum Verständnis Hugo von Hofmannsthals. Zusammenstellung der Texte: Mathias Mayer. Frankfurt / Main 1995, S. 176. Vgl. auch an Meier-Graefe: »Das Alles, mein Lieber, ist mir nur so in die Feder geflossen«. Hugo von Hofmannsthal  – Julius Meier-Graefe. Briefwechsel. Hrsg. von Ursula Renner. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 4 (1996), S. 145; an Ottonie von Degenfeld: »sie [Gerty] ist so gewohnt, daß ich meine ›Briefe‹ mit halbem Kopf schreibe und man ruhig dabei mit mir reden kann«. Hofmannsthal, Degenfeld: Briefwechsel, S. 55; ebenso an Willy Haas: »Es kam mir in dem Telegramm das Wort ›innere Abneigung‹ in die Feder« (Hofmannsthal, Haas: Briefwechsel, S. 77 [Brief vom 17.7.1927]).

Verworfene Autorschaft in Hofmannsthals Briefen

Mit diesem Verfahren eines schriftlichen gesprochenen Denkens entfernt sich Hofmannsthal von der subjektgeleiteten Konzeption der Autorschaft, die doch gerade in ihrer Bedrohung das tiefere Motiv seiner verletzenden Ausführungen darstellt, und entsendet ein schriftliches Protokoll des Unbewussten an den Adressaten, der es aber als Produkt eines über sein Schrei­ ben herrschenden Autors verstehen muss. Dass er damit ein Fehlverhalten begangen hat, spricht Beer-Hofmann nachdrücklich aus: »Und wenn das, was in Ihrem Brief stand, tausendmal Ihre Überzeugung war  – niemals durfte dieser Brief von Ihnen, Hugo, an mich abgeschickt werden.«50 Der Brief, um dessen Vernichtung Hofmannsthal in diesem schweren Fall nicht leichthin zu bitten wagt, hat nach den Regeln der alten Brief kultur kein Existenzrecht. Gerade für die Nachgeborenen indessen ist er reizvoll: als Beispiel für den »Brief und seine Beziehung zum Unbewussten«.

4. »Dem physischen Erkranken sehr nahe« Im vierten Szenario ist ebenfalls ein Schrei­ben einer ungewollten Autorschaft überliefert, das auf Wunsch des Verfassers der Vernichtung anheimgegeben werden sollte. Es stammt vom 50. Geburtstag Hofmannsthals am 1. Februar 1924. Dieser Geburtstag scheint Hofmannsthal in eine tiefe Krise gestürzt zu haben. An Redlich schreibt er, als ahne er, wie wenig Lebenszeit ihm noch bleiben sollte: »dies ist allerdings ein merkwürdiges Lebensdatum. Es ist, als trete man plötzlich über eine Schwelle in einen noch geisterhafteren Raum. Es bleibt dann nur mehr eine Schwelle zu überschreiten.«51 Das Gefühl der Nicht-Anerkennung, die zweimalige Ablehnung des Nobelpreises, die nachlassende Schaffenskraft und die zunehmende »Verdüsterung«, wie Hofmannsthal das nannte, mögen zum traumatischen Erleben des Tages beigetragen haben. Besonders die Festschrift Eranos, die ihm Rudolf Borchardt mit Beiträgen vieler Freunde gewidmet hatte, wurde zu einem Desaster, das sich diesmal an der Deutungshoheit über Hofmannsthals Werk entzündet. Borchardts Begleitbrief zur Festschrift drückt in vertrauensvollen Worten Dank und die Hoffnung aus, Hofmannsthal möge sich an der Gabe erfreuen: »Mir ist nur die Gelegenheit als solche schön und selig gewesen, zu bezeugen, wie ich Dich liebe und Dir danke, und wie wir alle es thun, jeder nach seiner Weise.«52 Aber gerade Borchardts eigener Beitrag in Form eines Briefs von 35 Seiten wurde zum Stein des Anstoßes.

50  Hofmannsthal, Beer-Hofmann: Briefwechsel, S. 159. 51  Hofmannsthal, Redlich: Briefwechsel, S. 56. 52  Hofmannsthal, Borchardt: Briefwechsel, S. 330 (Brief vom 4.2.1924).

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Hofmannsthal wird darin in einem auffahrenden pathetischen Stil als Erlöserfigur gepriesen, jedoch nur zu Beginn und am Schluss, während die übrigen 30 Seiten eine zeitgeschichtliche Analyse von Borchardts Jugendzeit und seinen Bildungsgang darstellen. In seinem ›Dankes‹brief lobt Hofmannsthal zwar zuerst ein ebenfalls in der Festschrift abgedrucktes Gedicht Borchardts, um dann umso vernichtender den Prosabeitrag zu verurteilen. Diesmal kommt die Kritik nicht unvermittelt, sondern besonnen, ja ängstlich, in mehreren Anläufen: »Aber diese Prosa – darf ich mich getrauen, es zu sagen, zu sagen, weil ich es fühle – ist keine sehr glücklich inspirierte Prosa. Darf ich? Darf ich wirklich […] Das aber getraue ich mich wirklich nicht Dir mit eigenen Worten zu sagen.«53 Statt also mit eigener Autorität zu sprechen, versteckt sich Hofmannsthal hinter einem englischen, höchst ironischen Zitat von Walter Savage Landor, das sich metaphorisch witzig über pathetische Prosa lustig macht. Dem schließt Hofmannsthal sich an, um dann – geschützt durch das Fremdzitat – zum Angriff überzugehen: »Was für ein Tragelaph! – Es hat so wenig Haltung, dies Ganze!«54 Dieses abschätzige Urteil gilt einmal dem für eine Festrede ungeeigneten Narrativ privater Erlebnisse in Briefform: »Wie schön war es als Du mir das Gleiche, diesen so vertraulichen Vorgang aus Deinem geheimsten Leben, fast unwollend einmal mündlich erzähltest […]. Nun erzählst Du das der ganzen Welt und mischest diese Intimität mit feierlichen Feststellungen.«55 Zum anderen gilt es der Selbstbezüglichkeit des ganzen doch angeblich Hofmannsthal gewidmeten Textes. Er sei – so Hofmannsthal – kaum eine Festrede zu nennen, sondern »Selbst-apologie« und »Darstellung der Zeitgeschichte«: »Du feierst mich, oder feierst bewegt durch einen Dich rührenden Gedenktag, eine wichtige Erinnerung Deines Lebens«.56 Es gilt schließlich dem hochtrabenden panegyrischen Stil des Festbeitrags. Der Jubilar wehrt sich gegen den Vergleich mit einer »Tuba«, mithin dem tiefsten Blasinstrument, mit dem die Engel zum jüngsten Gericht aufrufen:57 »›die endliche Tuba der Geschichts- und Geisterwelt Habsburgs‹ bin ich nicht, ich bin keine Tuba, will auch keine sein, war nie eine, und werde nie eine werden! Und schon gar keine endliche Tuba.«58 Am meisten aber fühlt sich Hof-

53  Ebd., S. 331. 54  Ebd., S. 332. 55  Ebd. 56  Ebd., S. 332 und 334. 57  Vgl. dazu die christliche Ikonografie der Tuba blasenden Engel, die oft an Kapitellen und als Außenfiguren der Kirchen dargestellt sind. 58  Ebd., S. 333. Die Bezeichnung »Tuba« stand offensichtlich nur im Vorabdruck des Eranos, den Hofmannsthal zum Geburtstag erhielt. In der gedruckten Fassung des Eranos heißt die von

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mannsthal in seiner Leistung als Autor missachtet und ist tief verstimmt, dass Borchardt, – wenn auch in anderer Absicht wie die »böswilligen und sonst fatalen Litteraten« – den 50-jährigen Dichter auf sein Jugend-Œuvre festlegt und das gesamte spätere Werk, »was, alles in allem, denn doch etwas ist«, ignoriert. Und damit ist Borchardts gesamte Lobeshymne geradezu kontraproduktiv, denn er werfe, »was die Wertung meiner gesammten Leistung betrifft, das ganze ungeheure Gewicht Deines Urteils u. Deiner Diction – in die Wagschale meiner Gegner und Detrectatoren.«59 Borchardts Lobeshymnen trafen Hofmannsthal an der empfindlichsten Stelle, der mangelnden Resonanz auf seine Nachkriegsdichtungen. Viele andere Briefzeugnisse zeigen, wie sehr er sich missverstanden sah. An Meier-Graefe schreibt er: »Tatsächlich fühle ich mich unter dieser Nation, in deren Sprache ich dichte, manchmal isoliert bis zum Grausigen, und wenn man mich lobt, noch gespenstischer unverstanden als wenn man mich anzugreifen glaubt.«60 Und an Paul Zifferer beklagt er sich, dass sein Märchen Die Frau ohne Schatten, an dem er sechs schwere Jahre gearbeitet habe, »von der Mitwelt mit völliger Kälte und Nichtachtung aufgenommen« worden sei.61 So mögen Hofmannsthals Urteile nachvollziehbar sein. Das ungewöhnliche Dankesschreiben an Borchardt erhält seine Brisanz indessen erst aus der ungefilterten Ausschüttung einer über den konkreten Anlass hinausgehenden tieferen Verstimmung direkt in den Brief. Auch hier will Hofmannsthal nachträglich seine Autorschaft verwerfen. In bewährter Manier schickt er einen Folgebrief nach, der die immer wiederholten Topoi von Krise und Krankheit aufführt und zugleich um Vernichtung des Zeugnisses bittet: »ich habe dir Anfang Februar einen vollkommen absurden Brief geschrieben, aus einem krisenhaften Zustand heraus, der einer Krankheit

Hofmannsthal beanstandete Stelle: »endliches Klangwerden der Geschichts- und Geisterwelt Habsburgs«. (Eranos. Hugo von Hofmannsthal zum 1. Februar 1924. München 1924, S. XXXII). Im Abdruck in Borchardts Prosa steht dann: »endliches mündiges Mundstück der Geschichtsund Geisterwelt Habsburgs« (Borchardt: Gesammelte Werke. Prosa I. Hrsg. von Marie Luise Borchardt. Stuttgart 1957, S. 126, Neuauflage 2002, bearbeitet von Gerhard Schuster, S. 322). Wiederabgedruckt in: Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel. Kommentar. Bearbeitet von Gerhard Schuster. München 2013, S. 530. Die hier vermutete Variantenabfolge ist weder im Kommentarband noch in Prosa I dokumentiert. Im Kommentar des Briefwechsels Hofmannsthal – Borchardt ist die Textstelle in der Formulierung der Prosaversion abgedruckt. Schuster: Kunstleben [Anm. XX], S. 114, lässt ebenfalls die Zwischenstufe der gedruckten Version des Eranos aus und stellt der »Tuba« nur das »Mundstück« der Version in Borchardts Prosaschriften gegenüber. 59  Hofmannsthal, Borchardt: Briefwechsel, S. 333 f. 60  Hofmannsthal, Meier-Graefe: Briefwechsel, S. 135. 61  Hofmannsthal, Zifferer: Briefwechsel, S. 241 (Brief vom 10.4.1928).

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gleichkam. Bitte verzeihe ihn mir, und verbrenne ihn.«62 Und dann folgt eine nichtssagende lobende Würdigung von Borchardts zuvor so gänzlich verworfenem Text, die unglaubwürdig klingt: Er sei »sehr schön und tief gefasst, und dabei wie ich glaube, wahr und verdient«.63 Doch das Geschirr ist zerbrochen, Borchardt versucht der Kränkung in mehreren nicht abgeschickten, aber erhaltenen Briefentwürfen Herr zu werden, und schreibt Hofmannsthal schließlich einen tief verletzten Brief, in dem er ihm die »gebrochene[n] Stücke« der Freundschaft zurückgibt und »einen allgemeinen und ganzen Urlaub« von Hofmannsthal ankündigt.64 Die Wiederannäherung beider dauert drei Jahre, obwohl Hofmannsthal in einem warmen Brief im Herbst 1924 um Verzeihung bittet, diesmal in voller Kenntnis dessen, was er angerichtet hat, und nicht mit der leichtfertigen Bitte um Vernichtung, sondern mit dem Wunsch, Borchardt möge die Angelegenheit nicht verwischen, sondern irgendwo »in einer reinen hellen trockenen, in einer südlichen Region des Gedächtnisses ganz unverwischt bestehen« lassen. Der Brief werde »seinen Stachel« verlieren, aber sein »Enigmatisches« bewahren.65 Es gehört zu den epistolaren Bizarrerien, dass Borchardt in einem Brief an Gerty von Hofmannsthal im Jahr 1935 bestätigt, die Briefe längst vernichtet zu haben: Die auf den Eranos bezüglichen – drei soviel ich weiss – sind damals bereits von mir stillschweigend ausgelöscht worden. Sie sind in einer vorübergehenden Trübung des Innern geschrieben worden und die Nachwelt soll nicht in kranken Tagen eines herrlichen Wesens spüren dürfen. Da der Nachlass auch keine Antworten auf das Unterdrückte von meiner Hand aufweist, so ist keine Lücke, nicht einmal eine äusserliche feststellbar.66

Mit diesem deutlichen Hinweis auf angeblich Abwesendes gleicht Borchardt einem, der sich auf der Bühne zeigt, um zu verkünden, dass er nicht vorhanden sei. Vielleicht wollte er beim emsigen Basteln am reinen Bild des Verstorbenen durchaus ein paar trübe Flecken bestehen lassen.

62  Hofmannsthal, Borchardt: Briefwechsel, S. 336 (Brief vom 14.2.1924). Und später: »Und diese Schrift zu empfangen, versetzt mich für Tage, für Wochen in halbe Verzweiflung, bringt mich dem physischen Erkranken sehr nahe« (S. 345; Brief vom 16.9.1924). 63  Ebd., S. 337. 64  Ebd., S. 339. 65  Ebd., S. 345. 66  Ebd., S. 396.

Verworfene Autorschaft in Hofmannsthals Briefen

In allen vier Beispielen ist die Prekarität des eigenen Schreibens Auslöser des Briefs, ob als Abgrenzung der eigenen »Zauberwelt« gegen die Störungen von außen, als Sicherung des eigenen Reviers und Festigung eines Einflussbereichs, als unbeherrschte Rivalität oder als verstörte Reaktion auf die Deutung des eigenen Werks. In allen lässt sich ein Schrei­ben erkennen, das dem Korrespondenten ungefiltert und ohne jede abfedernde Korrektur Dinge mitteilt, die – mit der Ausnahme des Briefs an Strauss – der verantwortliche Autor hinterher bereut und verwirft. Allen fehlt die Sorgfalt, die Zuwendung zum Adressaten und ein wohltemperiertes Maß der klassischen Briefkultur, allen fehlt aber auch die spielerische Literarizität der Briefe der Jahrhundertwende. Dafür schlagen sie vielleicht ein neues Kapitel der postalischen Kommunikation auf, als Protokolle des Unbewussten, das heißt, als ein nicht mehr autorgeleitetes Schrei­ben, bei dem das Geschriebene durch ein spontanes Niederschreiben die Autonomie gegenüber dem Verfasser erringt. Briefe sind keine »dünneren Bücher für die Welt«, um auf das Eingangszitat von Jean Paul zurückzukommen, aber sie stehen ihnen an Komplexität um nichts nach. Und so möchte ich mich Walter Benjamins Ausführungen anschließen, die besagen, »daß auch nur einem bedeutsamen Brief wirklich gerecht werden, in allen seinen sachlichen Bezügen, allen seinen Anspielungen und Einzelheiten ihn aufzuhellen, bedeutet, mitten in das Menschliche zu treffen«.67

67  Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. IV/2. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 2. Aufl. Frankfurt / Main 1978, S. 944. Vgl. auch Erdmut Wizisla: »Im Interesse meines gesammelten Briefwechsels«. Nachwelt in Walter Benjamins Briefen. In: Detlev Schöttker (Hrsg.): Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung. München 2008, S. 181–194, hier S. 184.

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»[…] die Dinge auszusprechen wie sie sind« Argumentationsstrategien und philosophische Referenzen in Hermann Brochs Brief an Robert Musil

In der k. u. k. Doppelmonarchie herrschte eine »Umsicht, die nichts verloren gehen läßt und nichts übereilt«.1 Davon erzählt Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, dessen erster Band 1931 erschien. Die lange und verwickelte Entstehungsgeschichte des Epochenromans kann als Beleg für Musils eigene ›umsichtige‹ Schreibweise gelten. Auch er wollte »nichts verloren gehen [lassen] und nichts übereil[en]« (MoE, S. 232). Das zeigt eindrucksvoll der komplett transkribierte und faksimilierte Nachlass in der seit 2009 vorliegenden digitalen Klagenfurter Ausgabe.2 Durchaus selbstironisch auf den Begriff gebracht wird die erwähnte »Umsicht« durch die »Zauberformel Ass.«, die laut Musils Roman »in kakanischen Ämtern in Gebrauch war« und etwas als »Asserviert« bezeichnete, also »›Zu späterer Entscheidung aufgehoben‹« (ebd.). Dabei gehe »in den Ämtern doch wenigstens einiges verloren, in der Welt aber nichts«, konstatiert Musils Erzähler, der zu bedenken gibt, »daß in der Geschichte der Menschheit noch nie ein Satz ganz durchstrichen oder ganz zu Ende geschrieben worden ist« (ebd.). Die »Asservation« sei daher »eine der Grundformeln unseres Lebensgebäudes« (ebd.). Eine Ausnahme von der zitierten Regel, dass ›in der Welt nichts verloren gehe‹, ist Musils erster Brief an den österreichischen Schriftstellerkollegen Hermann Broch. Dass dieser im August 1933 geschriebene Brief nach derzeitigem Stand der Forschung als verlorengegangen gelten muss,3 bestätigt

1  Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman (= Gesammelte Werke. 9 Bde. Hrsg. v. Adolf Frisé. Bd. 1. Neu durchgesehene u. verbesserte Ausgabe). Reinbek bei Hamburg 1978, S. 232. Zitate aus dem Roman beziehen sich auf die genannte Ausgabe und werden im Folgenden durch die Sigle MoE und einfache Angabe der Seitenzahl im Fließtext belegt. 2  Vgl. die Robert Musil Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe u. nachgelassener Schriften. Mit Transkription u. Faksimiles aller Handschriften. Hrsg. v. Walter Fanta, Klaus Amann u. Karl Corino. Klagenfurt: Robert Musil-Institut der Universität Klagenfurt, DVD-Version 2009. Nähere Informationen gibt das ebenfalls 2009 im Drava Verlag erschienene Beiheft. 3  Vgl. Robert Musil: Briefe. Bd. 2. Kommentar und Register. Hrsg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1981, S. 337; Hermann Broch: Briefe. Bd. 1: 1913–1938. Hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt / Main 1981 (= Kommentierte Werkausgabe. Bd. 13/1), S. 254. – Zur Datierung des

Hermann Brochs Brief an Robert Musil

indes eine andere Regel – nämlich die leidige Erfahrung, dass eine Korrespondenz der Nachwelt nur äußerst selten vollständig vorliegt. Wie die allermeisten Briefwechsel weist also auch derjenige von Musil und Broch Lücken auf, die aus der Lektüre und Deutung der anderen, überlieferten Briefe lediglich annäherungsweise zu schließen sind. Just den Beginn von Musils und Brochs Korrespondenz aus ihrem Fortgang zu rekonstruieren, wie es die Forschung schon verschiedentlich versucht hat,4 ist allerdings pikant. Denn der Adressat Broch wähnt sich von Musil eines schweren Versäumnisses an der Grenze zum Plagiat bezichtigt und kontert am 2. September 1933 betont souverän. Dieser Brief, im Übrigen der einzige von Broch an Musil, soll im Folgenden untersucht und kontextualisiert werden. Zuerst ist der Hintergrund zu skizzieren, die langjährige Bekanntschaft und die epistolare Tätigkeit von Broch und Musil. Sodann werden die rhetorisch-argumentativen Strategien in Brochs Brief an Musil analysiert. Schließlich ist den philosophischen Referenzen nachzugehen, die Broch zwecks Abgrenzung von Musil brieflich anführt und die namentlich Martin Heideggers Denken betreffen. Auf diese Weise ist wohlgemerkt wenig über Musils verlorengegangenen Brief und nichts über den Sachgehalt seines vermeintlichen Plagiatsvorwurfs auszusagen. Doch sollte zu zeigen sein, inwiefern Brochs Antwortbrief an Musil als intellektueller Positionierungsversuch in einer angespannten Situation zu lesen ist. Sich den argumentativen Strategien zuzuwenden, vermittelt neue Einblicke in Brochs Briefrhetorik und in seine frühe Heidegger-Rezeption.

ersten verlorengegangenen Briefs s. Paul Michael Lützeler: Hermann Broch. Eine Biographie. Frankfurt / Main 1985, S. 132. 4  Vgl. Karl Corino: Geistesverwandtschaft und Rivalität. Ein Nachtrag zu den Beziehungen zwischen Robert Musil und Hermann Broch. In: Literatur und Kritik 54/55 (1971), S. 242–253; Gudrun Brokoph-Mauch: Robert Musils und Hermann Brochs Verhältnis in ihrem Briefwechsel. In: Josef Strutz, Endre Kiss (Hrsg.): Genauigkeit und Seele. Zur österreichischen Literatur seit dem Fin de siècle. München 1990, S. 67–82; Graham Bartram: »Subjektive Antipoden«? Broch’s Die Schlafwandler and Musil’s Der Mann ohne Eigenschaften. In: Adrian Stevens, Fred Wagner und Sigurd Paul Scheichl (Hrsg.): Hermann Broch. Modernismus, Kulturkrise und Hitlerzeit. Londoner Symposion 1991. Innsbruck 1994, S. 63–75; Sigurd Paul Scheichl: »Hermann Broch als Briefschreiber«. In: Ebd., S. 187–204; außerdem die Artikel von Bartram (Brochs epistolarisches Werk) und Gabriella Raćz (Kontakte und Konstellationen) im von Michael Kessler und Paul Michael Lützeler hrsg. Hermann-Broch-Handbuch. Berlin, Boston 2016, S. 461–505 (Bartram) und S. 507–526 (Raćz).

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Alte Bekannte und neue Freunde: Zur Vorgeschichte von Musils und Brochs Briefwechsel Musil und Broch haben im Lauf ihres Lebens jeweils eine Vielzahl von Briefen geschrieben und empfangen: Inklusive der Entwürfe umfasst das Gesamtkorpus bei Musil beinahe 2.600 und bei Broch sogar rund 3.000 zugängliche Briefe und Postkarten.5 Dank jahrzehntelanger editorischer Bemühungen sind diese Korrespondenzen mittlerweile größtenteils abgedruckt und entweder in den Werkausgaben oder in Einzelausgaben nachzulesen. Stellenkommentare erleichtern dabei häufig das Verständnis. Gemessen an der äußerst regen Erforschung ihrer literarischen und essayistischen Texte wurden Musils und Brochs epistolare Werke bislang jedoch vergleichsweise selten und kaum gezielt untersucht. Auf dieses Forschungsdesiderat wird in den 2016 erschienenen Handbüchern zu Musil und Broch hingewiesen, die dem Briefwerk jeweils eigene Kapitel widmen.6 Das riesige Forschungsfeld tritt damit deutlich hervor. Anschlussuntersuchungen zu Brochs paradoxer, teils geliebter und teils geschmähter Brieftätigkeit und zu Musils, von ihm selbst im literarisch-stilistischen Rang heruntergespielten, Briefen können und sollten folgen. Beide Autoren reflektierten in Briefen über ihr Werk und die Moderne. Dabei korrespondierten sie mit zahlreichen Briefpartnern, darunter auch gemeinsame Bekannte wie Franz Blei und Thomas Mann, die sowohl mit Musil als auch mit Broch Briefe wechselten. Dritten gegenüber wird gelegentlich auch der Andere erwähnt: Brochs Name findet sich in Briefen Musils, dessen Name wiederum in Briefen Brochs wieder. Musil und Broch kannten einander seit Ende des Ersten Weltkriegs. Nach persönlichen Begegnungen in Wiener Kaffeehäusern haben sie ein Jahrzehnt lang »kaum Kontakt zueinander« gehabt.7 Indirekt weitergeführt und 1930 direkt wiederhergestellt wurde diese Verbindung durch den schon erwähnten Franz Blei. Der Schriftsteller und Kritiker verkehrte mit Musil seit 1907 und mit Broch seit 1916 eng. Im Januar 1930 schickte Blei Brochs Schlafwandler-Exposé an Musil, der dazu in seinem Tagebuch, Eintrag vom 30.1.1930, notierte: »Absichten, die sich teilweise mit meinen

5  Vgl. Scheichl: Hermann Broch als Briefschreiber, S. 187; Raćz: Kontakte und Konstellationen, S. 507. 6  Vgl. Bartram: Brochs epistolarisches Werk, S. 461–505; Fabrizio Cambi: Briefe. In: Birgit Nübel, Norbert Christian Wolf (Hrsg.): Robert-Musil-Handbuch. Berlin, Boston 2016, S. 441– 450. 7  Lützeler: Hermann Broch, S. 131. Zum Verhältnis von Broch und Musil vgl. auch die Überblicksdarstellung von Manfred Durzak: Hermann Broch. In Selbstzeugnissen und Bild­ dokumenten. Reinbek bei Hamburg 1966, S. 42.

Hermann Brochs Brief an Robert Musil

berühren.«8 Laut seinem Antwortbrief an Blei (Februar 1930) legte Musil daraufhin das Broch’sche Exposee wieder weg: es verspricht ein interessantes Buch zu werden, aber das artistische Problem ist bei diesen philosophischen Ansprüchen enorm schwer zu bewältigen. Es kommt mir vor, daß zwischen den Absichten Brochs und den meinigen Berührungen bestehen, die im einzelnen ziemlich weit gehen können, und ich bin sehr neugierig auf das Technische bei ihm.9

Die genannten eigenen »Absichten« realisierte Musil in seinem bereits eingangs gewürdigten Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften, dessen am Vorabend des Ersten Weltkriegs spielende Handlung von einer Vielzahl eigenständiger essayistischer Reflexionen aufgelockert wird. Die Fortschritte dieses ebenfalls philosophisch-literarisch ambitionierten Großprojekts verfolgte Broch aufmerksam. Am 16. November 1930 berichtete er seinem Verleger Daniel Brody: »Ich habe jetzt den neuen Musil bekommen, die 12 Jahre Arbeit und Feilung haben das Buch zu einer wirklichen Leistung gemacht; es steht turmhoch über all den Geschwind-Romanen.«10 Den erschienenen ersten Band des Mann ohne Eigenschaften »[s]eines Freundes Robert Musil« sendete Broch an seine Übersetzerin Willa Muir (19. Juli 1931), sein Begleitschreiben ist anerkennend-kritisch: Ich muß dazu sagen, daß ich Musils Methode als abseitig empfinde – sie ist sozusagen das rationale Gegenstück zu Joyce und zu seiner Methode –, und daß ich wenig Perspektiven für die dichterische Ausdrucksmöglichkeit in Weiterverfolgung dieser Methode sehe.

Er »könnte dies natürlich begründen«, so Broch, der es anstelle einer solchen Begründung beim diffusen Lob (»Es ist trotzdem ein sehr bedeutendes Buch«) bewenden lässt (KW 13/1, S. 143). Von persönlicher Verbundenheit und kollegialer Achtung zeugt auch Brochs Antwortbrief an Nani Maier, die in Wien an ihrer Dissertation über Franz Kafka und Robert Musil als Vertreter der europäischen Richtung des modernen Romans schrieb und Broch diesbezüg-

  8  Robert Musil: Tagebücher. Hrsg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1976, S. 697.   9  Robert Musil: Briefe. 1901–1942. Hrsg. v. Adolf Frisé unter Mitarbeit v. Murray G. Hall. Reinbek bei Hamburg 1981, S. 458. Dieser Briefband wird im Folgenden mit der Sigle RMB unter Angabe der Bandnummer und Seitenzahl direkt im Fließtext zitiert. 10  Hermann Broch: Kommentierte Werkausgabe (= KW). Hrsg. v. Paul Michael Lützeler. 13 Bde. Frankfurt / Main 1974–1981. Bd 13/1: Briefe, S. 116. Die Kommentierte Werkausgabe wird im Folgenden mit der Sigle KW und Band- sowie Seitenangabe direkt im Fließtext zitiert.

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lich kontaktiert hatte. Broch glaubte zu Unrecht, darin ebenfalls behandelt zu werden, und gab am 5. Dezember 1948 bereitwillig Auskunft: Es ist mir eine Ehre, daß Sie mich in Ihrer Dissertation mit Musil und Kaf ka zusammenstellen. Ich war immer mit Musil befreundet […]. Er war ein ungeheuer komplexer Geist, messerscharf und klar, ein Schriftsteller von geradezu lateinischer Prägung, und der Mann ohne Eigenschaften war ein ganz großer Wurf. Gewiß überwiegt darin das Schriftstellerische über dem Dichterischen, d. h. es ist das ganze Werk ins präzis Rationale gehoben. (KW 13/3, S. 286)

Mit der letzteren Einschätzung allerdings wäre der 1942 verstorbene Musil sicherlich nicht einverstanden gewesen; skizzierte er doch bereits 1918 eine spezifische Erkenntnisweise des Dichters, so der Titel von Musils programmatischem Essay, in welchem die Kunst zum sogenannten Gebiet des »nicht-ratioïden« gezählt wird.11 Dem ähnelt Brochs Auffassung, die Dichtung sei »irrationale Welterkenntnis« (KW 13/1, S. 78). In Anlehnung an den gleichnamigen Begriff aus Musils Mann-ohne-Eigenschaften-Roman ist Brochs Schlafwandler-Trilogie als »Parallelaktion« zu bezeichnen. Broch selbst sprach vom »polyhistorischen Roman«, dessen »Zeit […] angebrochen« sei und der »die Aufgabe übernommen [habe], jene Teile der Philosophie zu schlucken, die zwar metaphysischen Bedürfnissen entsprechen, dem derzeitigen Stande der Forschung aber gemäß heute als ›unwissenschaftlich‹ oder […] ›mystisch‹ zu gelten haben« (ebd., S. 151). Das zeigten seine Schlafwandler, aber auch Musils Mann ohne Eigenschaften und die Romane von James Joyce, André Gide, Thomas Manns Zauberberg und Aldous Huxley. So Broch im Brief an Brody, 5. August 1931.12 »Broch, der gern über den MoE schriebe, hat, wenn ich ihn recht verstanden habe, augenblicklich mit sich selbst zuviel zu tun«, wusste indes Musil (RMB I, S. 509) zu berichten. Angesichts dieser Koinzidenzen verwundert es wenig, dass »[d]er Musil-Broch-Vergleich […] von Anfang an die zeitgenössischen Stellungnahmen zu den Schlafwandlern [durchzog], nicht unbedingt zum Vergnügen der beiden Autoren«, wie der

11  Robert Musil: Skizze der Erkenntnisweise des Dichters. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 8: Essays und Reden. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1025–1030, hier S. 1028 f. 12  Zur Literaturtheorie und Poetologie Brochs im Verhältnis zu den genannten Autoren, insbesondere zu Musil, vgl. Durzak: Hermann Broch, S. 81–87 (Kap. Ringen um die Literatur. Vorträge und Essays). Siehe außerdem Bartram: Brochs epistolarisches Werk, S. 466: »Neben detaillierten Erklärungen zum Gesamtbau, zum Konzept und zur Funktion einzelner Hauptfiguren […] benutzt Broch die Briefform, um zunächst (sozusagen als theoretische Untermauerung des Werks) den Begriff des ›erkenntnistheoretischen Romans‹ aufzustellen, dann aber Anfang August 1931 das Novum des ›polyhistorischen Romans‹ zu proklamieren.« Vgl. zu den letztgenannten Konzepten: Broch an Daisy Brody, Brief vom 16.7.1930 (KW 13/1, S. 92 f.), und Broch an Willa Muir, 3.8.1931 (ebd., S. 147–149); Broch an Daniel Brody, 5.8.1931 (ebd., S. 150–152).

Hermann Brochs Brief an Robert Musil

Broch-Biograf Paul Michael Lützeler schreibt.13 Das Umfeld und die Literaturkritik schufen oder schürten zumindest die Konkurrenzsituation. Und der gemeinsame Freund und Mittelsmann Blei »musste im gespannten Verhältnis von Musil und Broch eine ausgleichende Rolle spielen«, konstatiert Gabriella Raćz.14 In der beschriebenen Situation kommt Musils und Brochs Briefwechsel besondere Bedeutung zu. Gemessen an anderen Korrespondenzen, etwa derjenigen Brochs mit seinem Verleger Brody, ist der Briefwechsel mit Musil sehr überschaubar. Die Korrespondenz umfasst nur sieben Jahre, sie beginnt im August 1933 und endet im November 1940. Erhalten sind lediglich sechs Briefe. Fünf davon hat Musil an Broch geschrieben, dieser wiederum nur einen Antwortbrief an Musil. Wie bereits erwähnt, muss der erste Brief Musils von August 1933 an Broch als verloren gelten. Es liegen daher nur Brochs Antwort vom 2. September 1933 und Musils unmittelbare Erwiderung vom 15. September sowie weitere vier Briefe Musils aus den folgenden Jahren vor. Aus Archiven zusammengesucht und analysiert hat diese Briefe 1971 Karl Corino, der Musil-Biograf und -Herausgeber. Seit 1981 liegt die Korrespondenz zwischen Musil und Broch in der kommentierten zweibändigen Ausgabe von Robert Musils Briefen vor (hrsg. v. Adolf Frisé), seit 2009 auch in der digitalen Klagenfurter Ausgabe. In die kommentierte Broch-Werkausgabe, die u. a. drei ebenfalls 1981 veröffentlichte Briefbände um­­fasst, ist (in Bd. 13/1) lediglich dessen Antwortbrief an Musil aufgenommen. Auf Grundlage dieser beiden Werkausgaben und unter Hinzuziehung von Elias Canettis zwischenzeitlich erschienener Autobiografie Das Augenspiel hat Gudrun Brokoph-Mauch den Briefwechsel zwischen Musil und Broch 1990 neu perspektiviert. Sie schlägt dabei vor, die Briefe den folgenden drei Themenkreisen zuzuordnen, nämlich (1) dem vermeintlichen ›Plagiatsvorwurf‹ Musils an Broch, (2) Musils wenig tatkräftigem Einsatz für Brochs Gedichte und (3) Brochs engagierten Bemühungen, Musil ins Exil nach Amerika zu holen.15 Brokoph-Mauchs Aufsatz erhellt vor allem den Beginn des Briefwechsels, da die Verfasserin davon ausgeht, dass Brochs »Verteidigungsbrief mit all seinen Implikationen […] der weitaus interessanteste Brief in der spärlichen Korrespondenz zwischen den beiden Schriftstellern [ist]«.16 Dieser

13  Lützeler: Hermann Broch, S. 131. 14  Gabriella Raćz: Kontakte und Konstellationen, S. 510. 15  Vgl. Brokoph-Mauch: Musils und Brochs Verhältnis in ihrem Briefwechsel, S. 69. 16  Ebd., S. 74. Brokoph-Mauch erkennt sachliche Nähen, aber kein Plagiat (ebd., S. 71–74). Aufgrund seiner besonderen rhetorisch-argumentativen Struktur stellt Brochs Antwortbrief eine Ausnahme in dessen epistolarischem Werk dar. Denn Brochs Briefe, so urteilt Bartram, »erheben im Allgemeinen keinen Anspruch auf literarische Qualität […], obwohl es unter

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Einschätzung ist die spätere Musil- und Broch-Forschung gefolgt, wobei der Akzent auf den biografischen und werkgeschichtlichen Hintergründen lag, die mitunter recht parteiisch dargestellt wurden. Mancher namhafte Broch-Forscher neigt offenbar dazu, den verlorengegangenen Brief als persönlichen Affront zu betrachten, Musil »Ressentiment« zu unterstellen und die sogenannten »Fakten« gegen ihn »sprechen« zu lassen oder den vermeintlichen Plagiatsvorwurf einfach als ›höchst unplausibel‹ abzutun.17 Anders als noch Brokoph-Mauch, berücksichtigt kaum einer dieser Interpreten die sprachlich-stilistischen Facetten von Brochs und Musils Briefwechsel. Hier ist nun neu anzusetzen.

Brochs Brief an Musil: demonstrative Unmittelbarkeit und mäandernde Argumentation Brochs Schrei­ben an Musil weist eine signifikante Diskrepanz zwischen Stil und Inhalt auf: »Stilistisch ist der Brief einheitlich persönlich-ungezwungen, inhaltlich zerfällt er in zwei Teile«, konstatiert bereits Brokoph-Mauch.18 Broch geht einerseits auf den von Musil empfangenen Brief und andererseits auf seine eigenen werttheoretischen Arbeiten ein. Bezeichnend ist, wie er diese beiden Themen aufgreift und sich dabei zum Adressaten Musil, zu dessen Werk und »philosophischen Anschauungen« und zu anderen philosophischen »Werttheorien« positioniert (KW 13/1, S. 253). Broch tritt im Schrei­ben zu Musil in ein Verhältnis, das zwischen Nähe und Distanz oszil-

ihnen einige gibt, die – ob geplant oder nicht – die Konturen und das Ausmaß von kurzen Aufsätzen oder Abhandlungen annehmen« (Bartram: Brochs epistolarisches Werk, S. 462). 17  László V. Szabó: Hermann Broch und Robert Musil. K. u. K. oder Konkurrenz und Kollegialität«. In: Endre Kiss, Paul Michael Lützeler, Gabriella Rácz (Hrsg.): Hermann Brochs literarische Freundschaften. Tübingen 2008, S. 105–119, hier S. 110 f., und G. Bartram: »Subjektive Antipoden«?, S. 63, der den Beginn von Musils und Brochs Brief kontakt recht parteiisch und sachlich verkürzend darstellt. Bartram geht hier nämlich davon aus, Brochs Vortrag Das Weltbild des Romans, nicht der damit zusammenhängende ausgearbeitete Werte-Essay, sei Anlass von Musils Brief gewesen. Vgl.: »on the one hand Musil’s questioning of Broch’s originality, in particular his insinuation (higly implausible, and denied by Broch) that Broch’s 1933 lecture Das Weltbild des Romans leaned heaviliy on Musil’s Essay Literat und Literatur« (ebd., S. 63). 18  Brokoph-Mauch: Musils und Brochs Verhältnis in ihrem Briefwechsel, S. 69. Zu Form und Stil von Brochs Brief an Musil vgl. ebd., S. 69 f. Die Interpretin resümiert: »Brochs Brief ist ein Meisterwerk der epistolaren Fechtkunst. Die Haltung ist durchweg souverän und großzügig, mit einer winzigen Spur von Überlegenheit, die ihren Ursprung sowohl im Gefühl der Unschuld als auch der Schuld haben kann. Stilistisch ist der Brief einheitlich persönlich-ungezwungen, inhaltlich zerfällt er in zwei Teile.« (ebd., S. 69) Diese seien: »Verblüffung« im ersten Teil, und »im zweiten Teil erkenntnis- und arbeitstheoretische Argumente« (ebd., S. 70).

Hermann Brochs Brief an Robert Musil

liert.19 Den formalen Rahmen geben die Anrede- und Grußformeln vor. Brochs Brief beginnt und endet hochachtungsvoll: Der Adressat wird als »Sehr geehrter Herr Dr. Musil« angesprochen, abschließend grüßt »Ihr sehr ergebener Hermann Broch« (ebd., S. 252 u. S. 254). Innerhalb dieser höflich-konventionellen Rahmung findet sich hingegen betont Unkonventionelles. Gleich im ersten Satz des Briefs beschreibt Broch die eigene Stimmung und Absicht: Er habe sich »nunmehr von [s]einer Verblüffung erholt« und sei »zu dem Entschluß gekommen, die Dinge auszusprechen wie sie sind, so weit dieses Rankesche Rezept überhaupt zu befolgen ist« (ebd., S. 252). Broch bekundet hier, zuerst überrascht worden, nun aber entschlossen zu sein, sich Musil gegenüber direkt und unverstellt mitzuteilen. Diese Konversationsmaxime ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert: Literatur- und mentalitätsgeschichtlich erinnert sie an Idealvorstellungen der Natürlichkeit und authentischen Kommunikation aus Briefen des 18. Jahrhunderts.20 Philosophisch-ideengeschichtlich entlehnt Broch seine Maxime namentlich vom Historiker Leopold von Ranke, der bestrebt war zu »zeigen, wie es eigentlich gewesen«.21 Doch Brochs Nachsatz artikuliert Zweifel an der Praktikabilität dieses Unterfangens. Der Adressat Musil dürfte die Mitteilbarkeit noch entschiedener bezweifelt haben: »Nie kann man die Dinge ausdrücken. Am allerwenigsten brieflich« (MoE, S. 715). So schreibt die Romanfigur Clarisse mit Nachdruck an Ulrich in einem der fünf Briefe, die in den Mann ohne Eigenschaften eingelagert und Teil der Handlung sind.22 Brochs Briefanfang mutet so merkwürdig an, dass er einem performativen Widerspruch gleicht: Entgegen der Absichtsbekundung, klare Worte zu finden, artikuliert Broch die Ursache seiner angesprochenen »Verblüffung« eben nicht gleich (KW 13/1, S. 252), sondern erst im zweiten Absatz des Briefs. Hier wird der empfangene Brief Musils, der in Brochs Achtung

19  Die den Briefen »eigene Geste des Mitteilens, des Anredens, des Überzeugenwollens« gehe »mit dem immer wieder erneuten Versuch« Brochs »einher, im Dialog mit dem Briefpartner die eigene Position, das eigene Selbstverständnis, zu vertiefen bzw. neu zu definieren« (Bartram: Brochs epistolarisches Werk, S. 463). 20  Über entsprechende Stilideale in Briefen aus der Zeit der Empfindsamkeit und Aufklärung sowie deren mentalitäts- sowie klassenspezifischen Hintergründe informiert Reinhard M. G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991, S. 47–50. 21  Leopold von Ranke: Sämtliche Werke. Bd. 33/34. Leipzig 1885, S. 7: »Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen.« 22  Aufgrund der »montierten Mischung von Dialog, Reflexion, erlebter Rede, dargestelltem Bewußtseinszustand und naivem Bericht« deutet Gottfried Honnefelder diesen Einlage-Brief als »Roman en miniature«, durch welchen Musil »die tradierte Form des Briefes unausgesprochen ad absurdum« führe (Gottfried Honnefelder: Der Brief im Roman. Untersuchungen zur erzähltechnischen Verwendung des Briefes im deutschen Roman. Bonn 1975, S. 233).

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mittlerweile graduell gesunken scheint und ›nur‹ noch als »verehrter Herr Doktor« figuriert, benannt und als »unbeantwortbar« klassifiziert (ebd.). Diese Einschätzung weist ihn als Ursache von Brochs zuvor bekundeter »Verblüffung« und Relativierung der Ranke’schen Konversationsmaxime aus. Denn wie können die »Dinge« artikuliert werden, wenn Musils Brief doch »an und für sich […] unbeantwortbar« ist? Mit dieser Etikettierung ist der Konversationsmaxime nur vermeintlich Genüge getan. Nachgetragen wird, dass der empfangene Brief den »kaum versteckte[n] Vorwurf« enthalte, Broch habe Musils »Namen verschwiegen, um [s]eine eigene Wirkungsmöglichkeit zu sichern oder zu vergrößern« (ebd.). Diese Insinuation sei »einfach ungeheuerlich«, so Broch, der wiederum bekundet, mit Musil »offen« zu reden (ebd.). Damit korrespondiert auch Brochs explizite Absage an »Konventionen und an die sogenannte ›Würde‹«, die es geböten, »jenen Anwurf stillschweigend einzustecken und es dabei bewenden zu lassen« (ebd.). Er »habe aber die Ehre«, fährt Broch fort, Musils »militante Art seit Jahren zu kennen« (ebd.). Ist diese Ehrerbietung durchaus ironisch zu lesen, erscheint Brochs folgende Versicherung, unveränderlicher Verehrung und Freundschaft, wie Musil sich auch immer stelle, umso verbindlicher. Vor diesem Hintergrund sei es »kein schuldbewußter Rechtfertigungsversuch«, so Broch, wenn er sage, dass ihm »[s]eine Wirkungsmöglichkeit ziemlich egal« sei, zumal er glaube, »daß es eine solche überhaupt nicht mehr« gebe (ebd.). Angesichts dieser Einschränkung wirkt es abermals widersprüchlich, wenn Broch an­­schließend konjunktivisch behauptet: selbst »wenn es sie [die Wirkungsmöglichkeit] gäbe«, ›billige‹ er Musils aus »Respekt […] von vorneherein die weitaus umfangreichere Wirkungsgröße« zu (ebd.). Dieser Wirkung habe er, so Broch weiter, »stets« mit »Freude« Vorschub geleistet. Als Beleg dient der Hinweis auf seine am 12. März 1933 gehaltene Rede über das Weltbild des Romans. In diesem Vortrag habe er nämlich »kein Werk der gesamten Romanliteratur so oft und so eingehend zur Illustrierung der Vortragsthese herangezogen, wie eben den Mann ohne Eigenschaften« (ebd., S. 253). Seine dortigen, durchaus kritischen Bemerkungen übergeht Broch im Brief an Musil indes geflissentlich. Wenn er sodann auf mögliche Beziehungen zwischen Musils und seinem eigenen Aufsatz zu sprechen kommt, verwickelt sich Broch zunehmend in Widersprüche. Einerseits behauptet er, nicht genau zu wissen, um welchen Text Musils es geht, und gesteht andererseits, den fraglichen »Aufsatz in der N[euen] Rundschau« (an-)gelesen und wieder vergessen zu haben.23 Ob das mit Brochs bekanntlich schlechtem Gedächtnis zusammenhängt, das er

23  Vgl. Brokoph-Mauch: Musils und Brochs Verhältnis in ihrem Briefwechsel, S. 69 f.

Hermann Brochs Brief an Robert Musil

selbst in anderen Briefen, etwa Hannah Arendt gegenüber, anspricht,24 oder ob die mäandernde Argumentation ein rhetorischer Schachzug ist, kann hier nicht entschieden werden. Stattdessen ist Brochs sachlich-philosophischer Distanzierungsversuch von Musil zu analysieren. Diese Volte wird im vierten Absatz des Briefs eingeleitet, wenn Broch Musil daran erinnert, dass ihre »philosophischen An­­ schauungen […] diametral entgegengesetzte sein dürften« (ebd.).25 Dass dies auch für Musils Aufsatz Literatur und Literatur (GW 8, S. 1203–1225) und Brochs Essay Das Böse im Wertungssystem der Kunst (KW 912, S. 119–158) gelte, also die beiden für den angedeuteten Plagiatsvorwurf relevanten Texte, sollen »die Hinweise auf andere Werttheorien« belegen, die Broch schließlich gibt.

Philosophischer Dissens? Zu Brochs früher HeideggerRezeption Als philosophische Kronzeugen des behaupteten Dissenses führt Broch namentlich Kierkegaard und Heidegger an. Dabei ist Ersterer sowohl für Broch als auch für Musil eine philosophische Referenz.26 Das gilt ebenfalls für weitere Autoren, insbesondere für Nietzsche, wie Brochs Bibliotheksbestände27 und Musils Arbeitshefte eindrucksvoll dokumentieren,28 und für

24  Brochs bemerkt bspw. im Brief an Arendt vom 9. Juni 1949 selbstkritisch, »so ein Saugedächtnis« zu haben (dies.: Briefwechsel 1946 bis 1951. Hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt / Main 1996, S. 121–124, hier S. 121). 25  Vgl. den Aufsatz Bartrams (»Subjektive Antipoden«?), der (auf S. 63 f.) vergleichende ältere Studien aufführt. 26  Musils durch seine Arbeitshefte (vgl. ders.: Tagebücher) dokumentierte Kierkegaard-Rezeption historisch aufzuarbeiten, ist ein Forschungsdesiderat. Einzelne Hinweise geben die systematisch ausgerichteten Studien von Gerhard Treiber: Philosophie der Existenz. Das Entscheidungsproblem bei Kierkegaard, Jaspers, Heidegger, Sartre, Camus; literarische Erkundungen bei Kundera, Céline, Broch, Musil. Frankfurt / Main u. a. 2000; Sebastian Hüsch: Möglichkeit und Wirklichkeit. Eine vergleichende Studie zu Sören Kierkegaards Entweder. Oder und Robert Musils Mann ohne Eigenschaften. Stuttgart 2004. 27  Broch besaß 19 Bände von Nietzsches Werken aus der sogenannten ›Großoktavausgabe‹, der bedeutendsten Edition des 1894 von Elisabeth Förster-Nietzsche gegründeten und seit 1897 in Weimar ansässigen Nietzsche-Archivs, außerdem die von Richard Oehler ausgewählten und hrsg. Briefe Nietzsches in einem Band (Leipzig 1911). Viele Textstellen, bspw. im Nachlass aus der »Umwertungszeit« (1882/83–1888), sind unterstrichen. Vgl. Klaus Mann, Helmut Grote (Hrsg.): Die Wiener Bibliothek Hermann Brochs. Kommentiertes Verzeichnis des rekonstruierten Bestandes. Wien, Köln 1990, S. 184–186. – Einen unvollständigen Forschungsüberblick vermittelt die Weimarer Nietzsche Bibliographie, die sieben Studien zu Broch umfasst: vgl. http://oraweb.swkk.de/swk-db/niebiblio/index.html. [letzter Zugriff: 12.1.2018]. 28  Musils Nietzsche-Rezeption war bekanntlich äußerst intensiv. Die Weimarer Nietzsche Bibliographie verzeichnet diesbezüglich derzeit 63 Studien. Allerdings fehlten dort bahnbrechende, ideengeschichtliche Untersuchungen: v. a. Renate von Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs in

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ihren Zeitgenossen Max Scheler. Musil kannte diesen, wiederum vermittelt durch Franz Blei, seit Frühjahr 1913 persönlich.29 Zudem las er Schelers Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß (1913) und, wenn auch erst im August 1937, die Abhandlung über Wesen und Formen der Sympathie (1923), außerdem den Aufsatz Universität und Volkshochschule (1921) und wohl ebenfalls Vom Umsturz der Werte (1919). Schelers Ethik, Anthropologie und universalistisch-lebensphilosophischer Bildungsbegriff beeindruckten Musil deutlich (vgl. GW II, S. 403, 445 u. 771).30 Auch Broch beschäftigte sich mit Schelers ethisch-wertphilosophischen Schriften: Er besaß dessen Jenaer Dissertation Beiträge zur Feststellung der Beziehungen zwischen den logischen und ethischen Prinzipien (1899) und den Neuen Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, also die dritte Auflage von Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik (1927), außerdem einige Aufsätze Schelers, darunter Über Ressentiment und moralisches Werturteil (1912) aus der Zeitschrift für Pathopsychologie.31 Die genannten Titel zeigen eindrücklich: Anders als Broch an Musil schreibt, rekurrieren beide mitunter auf dieselben philosophischen Positionen. Ja, »erst in einem Vergleich« mit Schelers Umsturz der Werte werde Brochs Zerfall der Werte »seine wahre Bedeutung […] klar erschließen«, argumentiert Endre Kiss.32 Im Antwortbrief an Musil akzentuiert Broch indes anderes, nämlich die Bedeutung Kierkegaards, Heideggers und der für eigene Zwecke erforderlichen »Theorie vom Nichts als definitarischer und dialektischer Grundlage aller Wertsetzung« (KW 13/1, S. 254). Da dieser prominenten Referenz, trotz der Literaturhinweise des Herausgebers Lützeler zu den einschlägigen Paragrafen von Heideggers Sein und Zeit, in der bisherigen Forschung erstaunlicherweise nicht nachgegangen wurde, soll nun zumindest ein Ausblick unter Hinzuziehung weiterer Briefwechsel Brochs gewagt werden. In seinem brieflich erwähnten, 1933 gehaltenen Vortrag über Das Weltbild des Romans geht Broch auf das Thema der Angst und in diesem Zusammenhang auf Musils Mann ohne Eigenschaften, aber auch auf Heidegger ein. »Hei-

Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken. Münster 1966; Marie-Louise Roth: Robert Musil. Ethik und Ästhetik. Frankfurt / Main 1972. 29  Vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2003, S. 1889. 30  Dazu Roth: Robert Musil, S. 54 f., 120 f. u. S. 354, zur ähnlichen Liebesauffassung bei Scheler und Musil außerdem Heydebrand: Die Reflexionen Musils, S. 150–157. 31  Vgl. Mann, Grote (Hrsg.): Die Wiener Bibliothek Hermann Brochs, S. 218. 32  Endre Kiss: Die Auseinandersetzung mit Max Scheler. In: Ders.: Philosophie und Literatur des negativen Universalismus. Intellektuelle Monographie über Hermann Broch. Cuxhaven 2001, S. 175–181, hier S. 175. Zu Hermann Brochs Werttheorie vgl. außerdem den gleichnamigen Beitrag von Otto-Peter Obermeier. In: Paul Michael Lützeler (Hrsg.): Hermann Broch. Frankfurt / Main 1986, S. 227–245.

Hermann Brochs Brief an Robert Musil

degger macht auf den höheren metaphysischen Sinn der Sorge aufmerksam« (KW 9/2, S. 113), heißt es dort über Sein und Zeit (§ 39–44, »Die Sorge als Sein des Daseins«). Denn nur dieses Werk Heideggers kannte Broch im Sommer 1933. Das dokumentiert sein Brief (25.8.1933) an Egon Vietta, in dem Broch Heidegger vorwirft, »die ursprüngliche Strenge der Phänomenologie verlassen« zu haben.33 Heideggers Abfall von Husserl belege, dass »das Philosophieren heute offenbar überhaupt nicht mehr als scientia betrieben werden« könne.34 Broch erkennt zwar zwischen seiner eigenen Werttheorie und Heideggers Werk »Parallelismen in der Denkmethode«; diese seien jedoch nicht auf direkte Einflüsse, sondern auf übergeordnete Fragen der Zeit und »auf den gemeinsamen Ahnen Kierkegaard zurückzuführen«.35 Nichtsdestoweniger bittet Broch den Adressaten des Briefs, Egon Vietta, ihm das »erwähnte Kolleg Heideggers«, vermutlich dessen 1924 in Marburg gehaltenen und im Buchhandel nicht verfügbaren Vortrag Der Begriff der Zeit, »gelegentlich für kurze Zeit überlassen zu wollen«.36 Egon Vietta hatte in Freiburg bei Heidegger studiert und schon 1931, ebenfalls in Die Neue Rundschau, über Martin Heidegger und die Situation der Jugend geschrieben, woraus ein persönlicher Kontakt mit dem Philosophen resultierte, der auch Viettas Frau und den Sohn Silvio einschloss.37 Silvio Vietta hat 2012 zusammen mit Roberto Rizzo den zitierten Briefwechsel seines Vaters mit Broch herausgegeben. Diese 1933 begonnene und bis zu Brochs Tod andauernde Korrespondenz ist, ähnlich wie der späte, von 1945 bis 1951 geführte Briefwechsel Brochs mit Hannah Arendt, ein maßgebliches Dokument für Brochs zwiespältiges und bislang nicht systematisch untersuchtes Verhältnis zu Heidegger.38 Dessen Werke befanden sich wohl-

33  »Sich an den Tod heranpürschen … «. Hermann Broch und Egon Vietta im Briefwechsel 1933–1951. Hrsg. v. Silvio Vietta, Roberto Rizzo. Göttingen 2012, S. 7. 34  Ebd. 35  Ebd., S. 10. 36  Ebd. – Dafür, dass der genannte, vor Theologen gehaltene Vortrag Heideggers gemeint sein dürfte, argumentieren Silvio Vietta und Roberto Rizzo, die Herausgeber des Briefwechsels. Vgl. den Kommentar: ebd., S. 184. 37  Vgl. Egon Vietta: Martin Heidegger und die Situation der Jugend. In: Die Neue Rundschau 42 (1931), Zweiter Teilband, S. 501–511; ders.: Die Seinsfrage bei Martin Heidegger. Stuttgart 1950. – Zu den Hintergründen siehe: Gregor Streim: Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950. Berlin 2008, S. 261–263; außerdem das Interview mit dem Literaturwissenschaftler und Heidegger-Interpreten Silvio Vietta, Oktober 2015, http://www.kulturjoker.de/silvio-vietta-im-interview/ [letzter Zugriff: 15.1.2018]. 38  Vgl. Lützelers Nachwort zum Briefwechsel zwischen Hermann Broch und Hannah Arendt (Frankfurt / Main 1996), S. 227–250, insb. S. 242, wo dieses Forschungsdesiderat herausgestellt wird: »Tatsächlich hat Broch seit den dreißiger Jahren Heidegger gelesen, und es wäre lohnenswert, in einer eigenen Studie die Brochsche Heidegger-Rezeption einmal zu untersuchen. […] Von uneingeschränkter Zustimmung zu Heidegger kann bei Broch keine Rede sein, von ein-

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gemerkt nicht in Brochs philosophischer Bibliothek.39 Brochs Kenntnis von Heideggers Denken erscheint also nicht unwesentlich durch Dritte vermittelt, zuerst durch Egon Vietta, dann durch Hannah Arendt. Egon Vietta rezensierte im Mai 1934 in der Neuen Rundschau Brochs Schlafwandler-Trilogie und den Roman Die Unbekannte Größe (1933) und hob dabei die »neue Grundhaltung« hervor, die Broch in den Essays zum »Zerfall der Werte«, die in die Romantrilogie integriert sind, »unerhört kühn und umfassend« formuliert habe.40 Sie verbinde Broch »mit der philosophischen Grundhaltung Martin Heideggers«, so Vietta.41 Mit Heidegger verbunden war jedoch vor allem der Rezensent selbst. Er meinte in Die Unbekannte Größe »den wesentlichen Schritt über die Schlafwandler hinaus« zu erkennen; der weniger ambitionierte Roman sei inhaltlich »schon völlig eins mit dem inneren Wissen der kommenden Generation«.42 Musils Mann ohne Eigenschaften wird in dieser Rezension nicht gewürdigt, auch Broch erwähnt zu Beginn des Briefwechsels mit Vietta lediglich die Romane von Joyce und Thomas Mann – und immer wieder Heidegger. Mit Letzterem hat sich Musil tatsächlich nicht beschäftigt, zumindest niemals explizit;43 insofern ist Brochs frühe Heidegger-Rezeption tatsächlich ein philosophisches Distinktionsmerkmal. Dem anhand vorliegender Briefwechsel und Essays weiter nachzugehen, erscheint überaus lohnenswert, wobei die Einschätzung, dass bei »kaum einem anderen Dichter […] das Verhältnis zwischen Philosophie und Dichtung so eng, ja so charakteristisch« sei wie bei Broch,44 exemplarisch zu überprüfen wäre.

deutiger Ablehnung allerdings auch nicht.« – Zur Präsenz Heideggers im Briefwechsel Brochs und Viettas s. Bartram: Brochs epistolarisches Werk, S. 473. 39  Vgl. Mann, Grote (Hrsg.): Die Wiener Bibliothek Hermann Brochs. 40  Dieses Dokument ist abgedruckt in: Broch und Egon Vietta im Briefwechsel 1933–1951, S. 272 f. 41  Ebd., S. 280 f. 42  Ebd., S. 282. 43  Einen systematisch-konstellativen Zugang wählen Treiber (Philosophie der Existenz), und Eckart Goebel: Konstellation und Existenz. Kritik der Geschichte um 1930: Studien zu Heidegger, Benjamin, Jahnn und Musil. Tübingen 1996. 44  James E. Knowlton: Geschichtsphilosophie und Politik. Zu Hermann Brochs Demokratieverständnis in den Exiljahren. In: Österreicher im Exil 1934 bis 1945. Hrsg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands und der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur. Wien 1977, S. 323–333, hier S. 323.

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Zum Briefwechsel zwischen Ernst Bloch und Walter Benjamin Gert Mattenklott (1942–2009) gewidmet, der im Benjamin-Handbuch den Part »Briefe und Briefwechsel« schrieb. »Man unterschätzt heute Briefwechsel« (Benjamin, Fragment 69, GS VI, 95)

Als Theodor W. Adorno und Gershom Scholem die beiden Bände von Benjamins Schriften (Suhrkamp, 1955) herausgaben, schwebte ihnen bereits eine »Sammlung der Benjaminschen Korrespondenzen« vor, die Scholem anderthalb Jahre nach Benjamins Tod, im April 1942, angeregt hatte, als er begann, seine persönliche Sammlung von Benjamins Schriften und Briefen zu vervollständigen.1 Die erste Ausgabe von Briefen Benjamins erschien 1966 in zwei Bänden. Sie war eine Auswahl aus einem Material von etwa 600 Briefen, unter anderem, weil das Persönlichkeitsrecht Auslassungen notwendig machte. In seinen diesbezüglichen Briefen an Adorno drängte Scholem wiederholt und mit Nachdruck auf »Elimination der […] a priori nicht in Betracht kommenden privatesten Kapitel« und der »Äusserungen2 kritischer Art über Lebende (z. B. steht in Briefen an mich sehr viel dieser Art über Ernst Bloch)«.3 In dem Maße, wie die ab 1972 erschienenen Gesammelten Schriften die Rezeption von Benjamins Werk beschleunigten, drängte sich bald eine breiter angelegte Ausgabe der Briefe auf. In den 1980er und 1990er Jahren wurden mehrere Einzelkorrespondenzen ediert: mit Scholem (1980), mit Kracauer (1987), mit Adorno (1994). Daneben erschien 1985 die zweibändige Ausgabe von Ernst Blochs Briefen. 1995 war es dann so weit, dass Christoph Gödde und Henri Lonitz mit der Ausgabe des frühen Briefwech-

1  Vgl. Scholem an Adorno, 27.3.1942. In: Theodor W. Adorno, Gershom Scholem: Briefwechsel 1939–1969. Berlin 2015, S. 45–49. Vgl. auch nach dem Erscheinen von Adornos Ausgabe von Benjamins Schriften den Brief Scholems an Adorno vom 14.5.1955, ebd., S. 128–131; später noch den Brief vom 6.12.1959, ebd., S. 182 f. 2  Scholems Orthografie. 3  Ebd., S. 182. Adorno antwortete am 17. Dezember: »Kritische Äußerungen über Lebende würde ich, wie es nun einmal üblich ist, auslassen, aber die Auslassungen durch Punkte kennzeichnen. Ich möchte vor allem nicht gern, daß in diesem Band auf Bloch, der es schwer genug hat, herumgehackt wird. Das wäre ohne alle Frage auch nicht in Benjamins Intention gewesen« (ebd., S. 185).

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sels aus den Jahren 1910–1918 die sechsbändige Ausgabe der Gesammelten Briefe einleiteten. 1966 tauchten unerwartete Schwierigkeiten auf, die die Edition verzögerten: Ernst Schoen verweigerte die Herausgabe seiner Briefe, und Ernst Bloch gestand dem verdutzten Adorno, die Briefe Benjamins vernichtet zu haben.4 So wie ich vor vielen Jahren schon einen Aufsatz über »eine Materialismusdebatte, die nicht stattfand« (die gescheiterte Zusammenarbeit Blochs am Materialismusprojekt Horkheimers), geschrieben habe, scheint mir also das Schicksal wieder die Beschäftigung mit einem abwesenden Gegenstand beschieden zu haben. Im besten Fall haben wir es mit einem Bruchstück bzw. mit Bruchstücken von einem Briefwechsel zu tun, nicht mit einem Briefwechsel im Sinne des Fragments, in welchem Benjamin gerade über das Wesen des brieflichen Austauschs reflektiert. Während nämlich »der einzelne Brief mit Beziehung auf seinen Urheber an Leben einbüßen kann«, bildet ein Briefwechsel ein Corpus, das die Fähigkeit besitzt, über die Zeit hinaus, »da die Empfänger lebten«, fortzuleben (GS VI, 95). Bloch ist in Benjamins ediertem Briefwechsel nur mit einem Briefentwurf und einem Brief5 vertreten – beide freilich von großer Bedeutung, da der Entwurf vom Ende Dezember aus San Remo die Antwort auf Blochs Schrei­ ben vom 18. d. M. bildet, in dem es um die von Wiesengrund (Adorno) prophezeite endgültige Entfremdung wegen Benjamins Einbahnstraße geht. Im Zusammenhang damit steht ein auf den 26. datierter Brief an Scholem, in dem Benjamin sich bitter darüber beklagt, Blochs Erbschaft dieser Zeit noch nicht erhalten zu haben.6 Der zweite Band von Ernst Blochs Briefwechsel enthält knapp 10 Briefe, die sich auf einen Zeitraum von nur 3 Jahren, nämlich von 1934 bis 1937,

4  In einem wenig bekannten Brief an Rolf Tiedemann hatte er auch schon am 27. Februar 1958 darauf hingewiesen, »dass [er] die Briefe Benjamins an [ihn] während der faschistischen Wirren verloren habe. Wir haben uns ohnehin wenig geschrieben, der Austausch bestand mündlich während langer Zeiten in Bern, Paris, Berlin« (Quelle: Walter Benjamin 1892–1940. Eine Ausstellung des Theodor W. Adorno Archivs, Frankfurt am Main, in Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv, Marbach am Neckar, bearbeitet von Rolf Tiedemann, Christoph Gödde und Henri Lonitz. In: Marbach Magazin 55 [1990], S. 95). Ich verdanke diesen Hinweis Lucien Pelletier, Professor in Sudbury, Ont., einem der besten Bloch-Philologen, dem ich außerdem wertvolle Hinweise und Korrekturen schulde. 5  Der Brief aus Paris vom 29.3.1937 folgt unmittelbar auf den überaus wichtigen Austausch mit Horkheimer über die Wiedergutmachung des Übels in der Geschichte nach der Einsendung des Fuchs-Aufsatzes; vgl. Max Horkheimer: Briefwechsel 1937–1940. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 16. Frankfurt / Main 1995, S. 83; hierzu Gérard Raulet: Le Caractère destructeur. Esthétique, théologie et politique chez Walter Benjamin. Paris 1997, S. 192 f. Auf den Bloch-Brief werde ich weiter unten im Kontext der Briefe aus dem Exil eingehen. 6  Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. 6 Bde. Frankfurt / Main 1995–2000 – im Folgenden abgekürzt WBB; hier: WBB IV, S. 550.

Ernst Bloch und Walter Benjamin

beschränken. Es sind aber entscheidende Jahre, und der Inhalt ist reich an Informationen über Werk und Leben beider Autoren in jenen Wendejahren des Exils. Da in der Ausgabe der Briefe Blochs die Gegenbriefe von Walter Benjamin fehlen, habe ich kollaterale Zeugnisse herangezogen und das Korpus um parallele Briefe an andere Personen erweitert. Diese Seitenblicke sind aus mehreren Gründen wichtig: erstens, weil Bloch und Benjamin sehr oft Gelegenheit zu Gesprächen gehabt haben, sodass der erhaltene Briefwechsel nur die Perioden betrifft, in welchen sie sich nicht direkt austauschen konnten; zweitens, weil der Umfang ihrer überlieferten Korrespondenz erstaunlicherweise gering ist  – und zwar nicht nur, weil Bloch sie nicht aufhob, denn das gilt auch für Briefe von Bloch an Benjamin in der umfangreichen sechsbändigen Ausgabe der Gesammelten Briefe;7 drittens, weil in die Beziehungen zwischen Bloch und Benjamin andere Persönlichkeiten interferierten, die einen maßgeblichen Einfluss ausübten (an erster Stelle natürlich Scholem und Adorno); viertens, weil gerade der Briefwechsel mit diesen anderen Korrespondenten öfters den Reflex der Spannungen zwischen den beiden verzeichnete. Umso mehr zeugen die Briefe, die sich auf Bloch beziehen, von der Intensität ihrer Relation – in dem Sinne, den Benjamin in seiner Reflexion über Briefwechsel dem Zeugnis gibt  –, vor allem dann, wenn sie sich nicht direkt an den Adressaten wenden, sondern ihn in Briefe an andere einbeziehen. Sie geben dann Adornos Charakterisierung Recht: Der Brief war ihm darum gemäß, weil er vorweg zur vermittelten, objektivierten Unmittelbarkeit ermutigt. Briefe schrei­ben fingiert Lebendiges im Medium des erstarrten Wortes. Im Brief vermag man die Abgeschiedenheit zu verleugnen und gleichwohl der Ferne, Abgeschiedene zu bleiben.8

Adorno trifft den Punkt: Was in den Briefen (auch mit Scholem) auffällt, ist das Bedauern darüber, dass ein Wiedersehen aussteht oder verhindert wird. Briefe ersetzen nicht das unmittelbare Gespräch; sie sind vermittelte Unmittelbarkeit und können deswegen eine spezifische Erkenntnisfunktion erfüllen, die weder das Traktat noch das Gespräch leisten. Es gibt unter Benjamins Briefen solche, die Essay- oder Traktatcharakter besitzen: Man denke nur an die »Literaturbriefe« an Max Horkheimer, in welchen Benjamin grundsätzlich das Unterfangen seines Aufsatzes über den gesellschaftlichen

7  Nach einer handschriftlichen Aufstellung Benjamins zählen die Briefe von Bloch nicht zu denjenigen, die 1933 in seiner Wohnung zurückblieben und aus diesem Grund verschollen sind (vgl. WBB IV, S. 122). 8  Theodor W. Adorno: Vorwort. In: Walter Benjamin: Briefe I. Frankfurt / Main 1978, S. 15 f.

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Standort der französischen Intellektuellen ausführt, oder an die »Pariser Briefe« I und II, die Rezensionsbriefe sind, »mit einem hohen Anteil an zeitpolitischem Kommentar«.9 Das Festhalten an der Sie-Anredeform, von der es wenige Ausnahmen gibt (Gerhard Scholem und Ernst Schoen) mag mit dieser vermittelten Unmittelbarkeit zusammenhängen.10 Es läge natürlich nahe, die Briefe, die im Folgenden Gegenstand der Analyse sein sollen, aus diesem Grund nur als »pragmatisch-historische Zeugnisse« (Benjamin in seiner Reflexion über Briefwechsel, GS VI, 95) über Autor und Werk, oder gar als biografische Dokumente zu behandeln. Man würde dann an der Spezifität des brieflichen Austauschs vorbeigehen, die Benjamin in wie immer emphatisch-apodiktischen Worten zu umreißen versucht. Ich werde mich im begrenzten Rahmen dieses Beitrags auf drei bedeutsame Komplexe konzentrieren: erstens die ambivalente Aufnahme von Geist der Utopie und die eindeutig negative Rezeption des Thomas Münzer, zweitens die von Erbschaft dieser Zeit verursachte Entfremdung und abschließend die Korrespondenz über die politische Linie in den Jahren des Exils. Dem hier unternommenen Versuch haben nicht nur die mit wertvollen Anmerkungen versehenen Editionen der Briefwechsel (von Bloch, von Benjamin, zwischen Benjamin und Scholem, Adorno und Benjamin, Adorno und Kracauer) den Weg geebnet, sondern auch zahlreiche Essays zu einzelnen Beziehungen und nicht zuletzt Klaus Garbers Buch über Walter Benjamin als Briefschreiber und Kritiker vorgearbeitet – Letzteres insbesondere, aber nicht nur, mit seinem »Porträt Walter Benjamins aus seinen Briefen«.

1. Die zahlreichen Notierungen zu Bloch in Benjamins Briefwechsel dokumentieren die Intensität ihrer Verbindung, wiewohl sie immer wieder durch Benjamins Verdacht getrübt wurde, Bloch schreibe bei ihm ab.11 Aber aus

  9  Gert Mattenklott: Benjamin als Korrespondent, als Herausgeber von Deutsche Menschen und als Theoretiker des Briefes. In: Uwe Steiner (Hrsg.): Walter Benjamin 1892–1940. Bern u. a. 1992, S. 278. 10  Zur Entwicklung der Anredeformen s. Klaus Garber: Walter Benjamin als Briefschreiber und Kritiker. München 2005, S. 26. 11  Vgl. u. a. zur Zeit der Arbeit am Passagenwerk den Brief an Alfred Cohn vom 18. Juni 1935: »Meinen literarischen Kollegen, selbst Freunden, gegenüber lasse ich […] nichts von dieser Arbeit verlauten; nichts Näheres. Sie ist in einem Stadium, in dem sie allen denkbaren Unbilden, nicht zum wenigsten denen des Diebstahls, besonders ausgesetzt wäre. Daß mich Blochs ›Hieroglyphen des 19ten Jahrhunderts‹ etwas scheu gemacht haben, wirst Du begreifen« (WBB V, S. 128 f.). Gemeint ist einer der Essays aus dem dritten Teil von Erbschaft dieser Zeit. Denselben Verdacht wird er später, am 16.4.1938, gegen Dolf Sternberger äußern, dessen

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vielen Briefen Benjamins an sehr verschiedene Korrespondenten spricht, wie Mattenklott schreibt, die Sorge, »den sozialen Boden unter den Füßen nicht zu verlieren«.12 Sein schwieriges Verhältnis zum universitären Milieu trug einerseits dazu bei, dass er in Bloch einen Schicksalsgenossen sah und sich ihm aus diesem Grund verbunden fühlte, andererseits, dass er sich stets vor Isolation fürchtete. Seinerseits zeigt sich Bloch in den erhaltenen Briefen stets bemüht, den Kontakt aufrechtzuerhalten oder wieder zu knüpfen und die Spannungen zu lösen. Scholem, der in die Position des auserwählten – und selber nicht ganz unvoreingenommenen13 – Adressaten von Benjamins Klagen geriet, hat im Vorwort zu seinem Briefwechsel folgendes Zeugnis abgelegt: Ich glaube an dieser Stelle auch ein Wort über Ernst Bloch sagen zu sollen, der in den Briefen Benjamins an mich schon seit 1920, und auch in den vorliegenden Briefen zwischen uns beiden, eine einigermaßen schwierige Rolle gespielt hat. Ich mußte mir jetzt die Frage stellen, ob ich meinen Brief vom 25. August 1935 nicht entscheidend kürzen sollte, in dem ich mich mit großer Schärfe über Blochs Verhältnis zu Benjamin geäußert habe. Mein Urteil über Bloch entspricht heute, nach so vielen Jahren und so viel weiterer Befassung mit seiner gesamten Produktion, nicht dem, das ich in den zwanziger und dreißiger Jahren in leidenschaftlicher Reaktion zu Papier gebracht habe. […] Die Beziehungen zwischen Bloch und Benjamin unterlagen sehr starken Schwankungen und Spannungen, und ich war wahrscheinlich Jahre hindurch der Hauptempfänger von Benjamins Reaktionen auf den Stand ihrer Beziehungen. Daß es bei aller Spannung dann doch wieder ein, man möchte sagen, labiles Gleichgewicht gab und es nie zu einem Bruch gekommen ist, beweist, wie stark die Bindungen waren, die zwischen diesen beiden hervorragenden Menschen bestanden. […] Die besondere Situation dieser beiden Männer, so nahe zueinander und so verschieden voneinander wie sie

Buch Panorama oder Ansichten vom 19.  Jahrhundert (Hamburg 1938) er 1939 äußerst negativ rezensiert hat (Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Frankfurt / Main 1978 ff.; abgekürzt: GS – hier GS III, S. 572–578): »Dolf Sternberger hat ›Panorama – Ansichten des 19. Jahrhunderts‹ erscheinen lassen (Goverts – d. i. Claassens – Verlag in Hamburg). Der Titel ist das Eingeständnis versuchten, zugleich der einzige Fall des geglückten Plagiats an mir, das den Grundgedanken des Buches abgab. […] Der unbeschreiblich dürftige Begriffsapparat Sternbergers ist aus Bloch, aus Ihnen und mir zusammengestohlen. Besonders ungewaschen ist die Verwendung des Begriffs der Allegorie, den Sie auf jeder dritten Seite finden« (an Theodor und Gretel Adorno, WBB VI, S. 60 f.). 12  Gert Mattenklott: Briefe und Briefwechsel. In: Benjamin-Handbuch. Stuttgart 2006, S. 680–687, hier S. 681. 13  Er ergriff öfters Partei mit eigenen Argumenten und bezeichnete zum Beispiel Blochs Thomas Münzer als eine »Theosophie des Bolschewismus […] – meines Erachtens eines der besonders schwachen Bücher Blochs« (Brief an Hans Heinz Holz, 8.9.1976. In: Walter Benjamin, Gershom Scholem: Briefwechsel 1933–1940. Frankfurt / Main 1997, S. 142.

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waren, die sich im Gespräch einander anfeuerten oder das Feuer aufeinander eröffneten, kann heute, glaube ich, von keinem von uns ausgelotet werden.14

Freundschaftliche Zuneigung und Theorie bildeten in der Tat ein eigenartiges Spannungsverhältnis, das nicht erst nach der Erscheinung von Blochs Spuren oder seiner Rezension von Benjamins Einbahnstraße einsetzte, sondern bis in die ersten Jahre der Bekanntschaft zurückreicht. Kennengelernt hatten sich die beiden 1917 in Bern, wo Benjamin an seiner Dissertation über den Begriff der Kunstkritik arbeitete. In Benjamins »theologisch-politischem Fragment«, das auf ca. 1920 zu datieren ist, lässt sich ein unmissverständlicher Bezug auf Blochs Geist der Utopie nachweisen. In einem Brief vom 4.8.1919 bittet Benjamin Scholem, das Buch für ihn zu bestellen. Am 15.9.1919 berichtet er, dass er »seit einer Woche intensiv das Buch von Bloch [liest]« (WBB I, 44). An Scholem schreibt er dann, er »werde vielleicht, was daran zu loben ist, ihm (dem Manne, nicht dem Buche) zulieb öffentlich hervorheben« und fügt hinzu: »Leider ist durchaus nicht alles zu billigen, ja es kommt manchmal Ungeduld über mich« (ebd., 44 f.). Dennoch sei es neben Péguy, von dem er in denselben Tagen »wieder einiges« gelesen hat und von dem er sich »unglaublich verwandt angesprochen« fühlt (WBB II, 45), das einzige Buch, dem er trotz »ungeheurer Mängel« philosophische und politische Wichtigkeit zuerkennt und dem er »Wesentliches verdankt« (an Ernst Schoen, 19.9.1919, ebd., 46). In dessen erster Ausgabe von 191815 sind dem Schlussteil des 5. Kapitels (»Über die Gedankenatmosphäre dieser Zeit – Beschluß. Programm und Problem«) ca. 12 Seiten angehängt, die den Titel »Symbol: Die Juden« tragen. In der zweiten Ausgabe von 1923 wurden sie unter dem neuen Titel »Das Gewissen des Unbedingten und das Bewußtsein des Unsichtbaren« und mit nicht unbedeutenden Änderungen und Abstrichen wiederaufgenommen.16 Blochs Exkurs beschreibt die geistige und politische Unruhe der jungen jüdischen Generation, die sich immer weniger mit der Alternative des Ghettos und der Assimilation zufriedengibt.17 Er distanziert sich allerdings von den jüdischen Erneuerern und weist im Namen eines »Dritten über Jude

14  Ebd., S. 11–12. 15 Den Geist der Utopie hat Benjamin in der Fassung von 1918 gelesen (vgl. in GS VII-2 das »Verzeichnis der gelesenen Schriften«, in dem er die Nummer 643 trägt). 16  Ernst Bloch: Geist der Utopie (1918). In: Gesamtausgabe, Bd. 16. Frankfurt / Main 1971; in der Neuauflage der zweiten Ausgabe von 1923 (Gesamtausgabe, Bd. 3. Frankfurt / Main 1964) verschwindet dieser Textabschnitt ganz; er war inzwischen in den Band Durch die Wüste eingegliedert worden. Die Streichungen und Varianten wären u. U. einer genaueren Analyse wert, die über das Anliegen des vorliegenden Textes hinausgeht und an ihm nichts Grundsätzliches ändern würde. 17  Bloch: Geist der Utopie, S. 320.

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und Christ«18 sowohl den Antisemitismus als auch den Zionismus zurück – eine Stellungnahme, die derjenigen von Hermann Cohen sehr nahe steht.19 Wenn der damals religiös und politisch noch suchende Benjamin von diesen Überlegungen, deren Berufung auf Spinoza eindeutig jede theokratische Auffassung des Verhältnisses von Politik und Religion ausschloss, sicher beeindruckt wurde,20 so scheint er sein Vorhaben, eine Rezension abzufassen, wenn auch nicht aufgegeben, so doch mehrmals hinausgeschoben zu haben, weil »das Buch mit allen vorbereitenden Glossen verloren ist« (an Scholem, 23.11.1919, ebd., 57). An Ernst Schoen schreibt er hingegen am 5. Dezember, dass er noch gedenke, »eine ausführliche Kritik von Ernst Bloch: Geist der Utopie« zu beginnen (ebd., 62). Aufgrund des späteren Briefs vom 2.2.1920 an Schoen21 sowie eines Briefs vom Januar 1921 an Scholem muss man annehmen, dass sie endlich zustande kam, da er »besonders betrübt [ist], daß [seine] Rezension vom ›Geist der Utopie‹ garnicht unterzubringen war« (ebd., 131). Auch eine »Phantasie über eine Stelle aus dem Geist der Utopie« wird dort erwähnt, die aber verschollen ist. Aus einem weiteren Brief an Ernst Schoen vom 2.2.1920 geht noch eine Mischung von Faszination und Misstrauen hervor:22 Meine Kritik werden Sie hoffentlich in absehbarer Zeit gedruckt finden: höchst ausführlich, höchst akademisch, höchst entschieden lobend, höchst esotherisch [sic] tadelnd. Ich habe sie – hoffentlich – dem Verfasser, der mich darum sehr bat, zu Dank geschrieben. Ich tat es, weil mich mit ihm eine Neigung verbindet, deren Grund ich auch in einigen zentralen Gedanken seines Buches wiederfinde, so wenig es auch ein reines Medium unserer Beziehung ist. Denn meinen eignen Überzeugungen entspricht es zwar in einigen wichtigen Darlegungen, wie gesagt, nirgends aber meiner Idee der Philosophie. Zu ihr verhält es [sich] diametral entgegengesetzt. Aber der Autor steht, mehr als er es weiß, über dem Buch. Ob es ihm gelingen wird, in diesem Sinne sich philosophisch auszusprechen, ist die

18  Ebd., S. 329. 19  Vgl. hierzu Gérard Raulet: Eine geheime Verabredung. Über Walter Benjamins Umgang mit Theologie. In: MLN 127 (2012), No. 3 (German Issue), S. 625–644. 20  »Die politische Bedeutung der Theokratie mit aller Intensität geleugnet zu haben ist das größte Verdienst von Blochs ›Geist der Utopie‹« (GS II-1, S. 203). 21  »Nun habe ich die einzige Arbeit hinter mich gebracht, die ich hier angriff, die Kritik vom ›Geist der Utopie‹« (WBB II, S. 72). 22  Im Bericht eines Besuchs bei Scholem am 22. März 1922 zitiert Michael Landmann folgende Worte von Scholem: »Zwischen Benjamin und Bloch herrschte ein Magnetismus, zu dem sowohl die Anziehung wie die Abstoßung gehörte. […] Benjamin erwartete aber von Bloch mehr, als Blochs Werk dann in seinen Augen hielt. Er schrieb zwar eine 3-seitige Rezension über die erste Auflage des ›Geistes der Utopie‹, die er nirgends unterbrachte und die verloren ist, aber es war mehr ein Referat als eine Würdigung« (Ernst Bloch: Gespräche mit Michael Landmann. Typoskript. Ernst-Bloch-Archiv, Ludwigshafen, S. 54).

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entscheidende Frage für ihn. In diesem Buche ist der Gehalt vom Bedürfnis sich auszusprechen überall getrübt (ebd., 72–73.)

– eines der wichtigsten zugleich philosophischen und menschlichen Zeugnisse über die Ambivalenz des Verhältnisses zu Bloch. Nachdem Scholem am 5.2.1920 seinen »moralischen Einwand« gegen Blochs Buch ausgedrückt hatte23, beugte sich Benjamin der theologischen Autorität seines Freundes und unternahm in seiner Antwort vom 13. Februar ein recht peinliches Rückzugsmanöver, das nicht eigentlich eine argumentierte Abgrenzung entwickelt, sondern vielmehr der jüdisch-theologischen Diskussion ausweicht und in der Äußerung gipfelt: »Mein philosophisches Denken hat mit diesem nichts gemein«. Die etwas längere Stelle ist wert, ausführlich zitiert zu werden: Ich bin völlig mit Ihrer Kritik über das Kapitel ›Die Juden‹ einverstanden, und habe mich, da bei dieser Stellungnahme ja das Wissen, welches mir fehlt, nicht die Hauptrolle spielt, von anfang an zu seinen Anschauungen ebenso gestellt. Ich finde Ihren Worten hierüber nichts hinzuzufügen. In meiner Kritik habe ich meine radikale Ablehnung dieser Gedanken auf die höflichste Weise, wie ich hoffe, sichtbar – wie ich hoffe – gemacht. Aber damit ist ja die Frage nicht erledigt. Sie werden mich mit Recht nach zweierlei fragen: Erstens wie ich denn zu andern Dingen stehe, welche dieses Werk generell betreffen. Zu dem, was Sie vorzüglich ›Unfaßbarkeit der Distanz‹ nennen; ich glaube es ist dasselbe, was meine Frau sehr gut ›Verführung zur Wahrheit‹ nennt. Noch erinnere ich mich, wie Ihre erste Frage über dieses Buch in Bern war, ob es eine Erkenntnistheorie enthielte. Und das ist nun eben das Wesentliche: neben einer Auseinandersetzung mit seiner undiscutierbaren Christologie verlangt das Buch eine über seine Erkenntnistheorie. Dieselbe umfaßt in meiner Kritik die neun Zeilen des Schlusses. Ihren Inhalt gebe ich hier nicht wieder; Sie werden sie lesen, wir werden darüber sprechen. Er ist wichtig. Die neun Zeilen des Schlusses gelten demnach einer Ablehnung des Buches in seinen Erkenntnisprämissen, einer, verhaltnen, Ablehnung en bloc. Die eigentliche Kritik umfaßt also nur ein ausführliches und nach Möglichkeit lobendes Referat über die einzelnen Gedankengänge. Die Möglichkeit des ehrlichen Lobes fehlt, wie Sie richtig vermuten, durchaus nicht immer.  – Aber freilich: mein philosophisches Denken hat mit diesem nichts gemein. Damit lege ich Ihnen die zweite Frage in den Mund: warum kritisiere ich es, warum habe ich mir die [enorme, monatelang vorbereitete] Arbeit dieser Kritik gemacht? Genauer: warum habe ich der Bitte des Autors – hoffentlich doch ihm zu Dank (er kennt das Referat noch nicht) entsprochen? Um dessentwillen,

23  Der Brief ist abgedruckt in Gershom Scholem: Walter Benjamin  – die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt / Main 1975, S. 113–115.

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was ich an ihm mehr als an seinem Werke (in dem es dennoch nicht durchaus fehlt) schätze, um einer Hoffnung willen, die ich an seine Entwicklung schließe. In diesem Buch hat er etwas Schnellfertiges, Überfertiges gegeben. Aber ich finde in unsern Gesprächen, die wir in Interlaken hatten, soviel Wärme, soviel Möglichkeit mich auszusprechen, verständlich zu machen, verstanden zu werden, daß ich das Opfer dieser Kritik meiner Hoffnung bringe (ebd., 75–76).

Neben dem Vorwurf philologischer Unbekümmertheit hatte Scholem vor allem gegen Blochs Kapitel »Die Juden« eingewendet, dass die jüdische Problematik sich keineswegs auf die beiden Pole des Zionismus und der inneren Einkehr reduzieren lasse, ja dass es ein solches Judentum wenn überhaupt nur »im geistigen Reich von Prag« bzw. bei Buber gebe. Damit wurde einerseits Bubers mystisches Judentum abgewiesen24 und andererseits die Debatte auf die Geschichtsphilosophie gelenkt, wie Scholem es explizit ausdrückt, indem er von »geschichtsphilosophischen Perversionen« spricht, die sich, wenn auch nicht in einer verkehrten Welt, so doch in einer Welt der Scheinbarkeit bewegen, weil sie auf verführerischen Verschiebungen beruhen. Zurückgewiesen wird als »Indifferenzzustand« nichts anderes als der »Geist« der Utopie, d. h. der »theoretische Messianismus«, der Judentum und Christentum in eine historische Linie der Selbsterlösung des Menschen einschreibt.25 Darauf mag Benjamins Rede von der mangelnden erkenntnistheoretischen Reflexion bezogen sein – ein Urteil, das er in einem späteren Brief vom 16.2.1921 (ebenfalls an Scholem) anlässlich eines Aufsatzes Blochs über »Bodenständigkeit«26 wiederholt (ebd., 141). In Frage steht die politische Pointe von Blochs Argument, d. h. gerade das, was Benjamin zuerst enthusiastisch als verwandt empfunden hatte. Benjamins theologisch-politisches Fragment kann allerdings nur dann als »Abgrenzung gegen Bloch«27 betrachtet werden, wenn es nach Kenntnisnahme der Einwände von Scholem verfasst worden ist, was nicht feststeht, aber auch nicht ausgeschlossen werden kann. In dem Anfang Dezember 1920 verfassten Brief an Scholem,

24  Wie Daniel Krochmalnik gezeigt hat, kommt in der Tat der Gedanke, dass die Person und die Lehre Jesu Christi mit dem Judentum vereinbar sei, von Buber; vgl. Daniel Krochmalnik: Ernst Blochs Exkurs über die Juden. In: Bloch-Almanach 13 (1993), S. 44. Einen ausgezeichneten Überblick gibt Lucien Pelletier in: Ernst Bloch et les Juifs. Autour d’une traduction récente: Ernst Bloch, »Symbole : les Juifs«: Un chapitre ›oublié‹ de L’Esprit de l’utopie (1918). In: Philosophiques 37 (2010), Nr. 1, S. 219–236. 25  Vgl. Andreas Greiert: Erlösung der Geschichte vom Darstellenden. Grundlagen des Geschichtsdenkens bei Walter Benjamin 1915–1925. München 2011, S. 175–181. 26  Ernst Bloch: Die Bodenständigkeit. In: Der Neue Merkur 4 (1920–1921), H. 10, S. 704–713, wiederaufgenommen unter dem Titel »Die Bodenständigkeit als Blasphemie«. In: Ders.: Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz. Frankfurt / Main 1970, S. 74–83. 27  Greiert: Erlösung der Geschichte, S. 178.

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der u. a. den Ulk der Einweihung des Hauptgebäudes der Universität Muri – mit der Inschrift »Lirum larum Löffelstiel kleine Kinder fragen viel«  – ankündigt und daneben die durch die Habilitation bedingte Hintanstellung des Hebräischen erwähnt, weist Benjamin auf »eine höchst beachtenswerte, wesentliche Besprechung von Blochs Buch, welche dessen Schwächen mit großer Strenge an den Tag legt […]. Von S.  Friedländer«.28 Er wolle sich »wahrscheinlich im dritten Teil [seiner] ›Politik‹, welches die philosophische Kritik des Lesabéndio ist, äußern« (ebd., 109).29 Da in diesem Zusammenhang von zwei Kapiteln die Rede ist, die resp. die Titel »Abbau der Gewalt« und »Teleologie ohne Endzweck« tragen, liegt es nahe, in Ersterem den wenig später entstandenen Essay Zur Kritik der Gewalt30 und in Letzterem (wegen der Unterscheidung zwischen Ende und Telos31) das Theologisch-politische Fragment zu erkennen.32

28  Salomo Friedländer: Der Antichrist und Ernst Bloch. In: Das Ziel. Jahrbücher für geistige Politik 4 (1920), S. 103–117. 29  Benjamin fasste den Aufsatz Zur Kritik der Gewalt als erstes Kapitel des zweiten Teils seiner »Politik« auf. Der geplante dritte Teil, die philosophische Kritik des Lesabéndio, von der hier die Rede ist, scheint nie geschrieben worden zu sein. Lesabéndio war ein utopischer Roman von Paul Scheerbart (vgl. u. a. Götz Müller: Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur. Stuttgart 1989, S. 165–172). Im Juli 1927 schrieb Benjamin an Scholem, dass ihm auf seiner Korsika-Reise »ein Konvolut unersetzlicher Manuscripte abhanden kam, en l’espèce jahrelange Vorstudien zur ›Politik‹« – wahrscheinlich die Manuskripte zum dritten Teil der »Politik«. Den ersten Teil, »Der wahre Politiker«, der verschollen ist, versuchte Benjamin bis 1923 ohne Erfolg zu publizieren; vgl. dazu Uwe Steiner: »Der wahre Politiker«. Walter Benjamins Begriff des Politischen. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25 (2000), H. 2, S. 48–92. 30  »Mit meiner Arbeit ›Zur Kritik der Gewalt‹ bin ich nun fertig« (an Scholem, Januar 1921, WBB II, S. 131). Er schickte sie an Bloch (vgl. Brief an Scholem vom 26.3.1921), der aber wegen des Todes seiner ersten Frau Else von Stritzky am 2. Januar 1921 zunächst nicht reagierte. Noch im Brief vom 26.5.1921 beklagt er sich darüber, dass weder Bloch noch Scholem auf den Aufsatz eingehen. Zugleich erkundigt er sich nach Blochs Plänen (»Wann fährt er nach Wien? Auch ihn würde ich diesen Sommer gern sehen«, WBB II, S. 156). Dieser soll nach Elses Tod eine schwere Depression durchlebt haben; im Brief an Scholem vom 4.10.1921 heißt es: »Ernst Bloch ist am Mittwoch und auch sonst nicht gekommen. Er schrieb einen Brief, der zwar durchaus nicht einer Absage gleichkommt, aber ausführt, daß er augenblicklich nur den Umgang mit einfachen Menschen vertrüge und gereizt begründet, warum er mich nicht zu jenen zählt. Auch hier will Dora durch einen Brief helfen.« 31  Vgl. Raulet: Le Caractère destructeur, S. 187–194. 32  Diese längere Auseinandersetzung mit Blochs Buch bestätigt Scholem gelesen zu haben, ohne dass man aus seinem Zeugnis einen eindeutigen Schluss auf die Natur dieses Textes schließen kann. Auf eine Anfrage von Anson G. Rabinson antwortet er: »Of course, I have read the long review on the ›Geist der Utopie‹, which was more or less a carefull retelling of the substantial contents of the work, and his criticism was essentially confined to the last paragraph which indicated some string reservations about the tenor of his writing and some of the main theses mentioned in the preceding pages. I am very unhappy that at that time nobody had enough money to photograph such manuscripts and XEROX was not yet invented« (Gershom Scholem: Briefe. Bd. 3. München 1999, S. 151).

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Hatte der inspiriert schwärmerische Stil von Geist der Utopie gereizte Reaktionen ausgelöst, so stieß der 1921 publizierte Thomas Münzer auf fast einstimmige Ablehnung. Benjamin äußerte sich mehrmals in ähnlichen negativen Termini darüber: Weit betrübender noch scheint es mit Blochs neuem Buche zu stehen, das ich bisher zu drei Vierteln gelesen habe und dem ich nur wenige belehrende Stellen abgewinnen kann, wogegen man Seite für Seite das Unleidlichste schlucken muß (dies ganz unter Discretion). Im großen und ganzen regiert in den theologischen Erörterungen ein subalterner expressionistischer Reportergeist (an Scholem, 2.12.1921, ebd., 216–217).

Und am 17. Dezember, mit beißender persönlicher Kritik am »Salonlöwen« Bloch: Das neue Buch von Bloch, der ›Münzer‹ ist einfach furchtbar, ein in sternheimsches Idiom eingedeutschter Max Weber. Außer einigen gut erzählten Seiten wüßte ich nichts zu rühmen, zu entschuldigen aber nicht einmal diese. Seine Krisis rollt in beschleunigtem Tempo ab und große, zu erwartende Geldmittel aus der Erbschaft seiner Frau erleichtern ihm die innere Sammlung auch nicht. Das Niveau jedes Umgangs mit ihm liegt so niedrig, daß bei einiger persönlicher Rücksicht gar keine Spannungen mehr aufkommen können (ebd., 226).

Wie Scholem später, im Kontext der Verhandlungen über eine Ausgabe von Benjamins Briefwechsel, kommentierte: »W. B.’s Briefe an mich sind kein Zuckerlecken für Bloch.«33 Ebenso ätzend, wenn auch nicht nur auf Bloch bezogen, ist der Ton der folgenden, zwischen literarischer Kritik und mondänem Klatsch schwankenden Briefe. Etwa dieser, der wenigstens witzig ist: Augenblicklich ist alles in Berlin und sozusagen etwas ›los‹. Ernst Bloch, um hier zu beginnen, sucht eine Frau und dürfte die Escha diese Gelegenheit nicht ohne reifliche Erwägung vorübergehen lassen. Bisher sind einige wenig empfindsame Reisen desselben durch Deutschland ergebnislos geblieben. Dies ist eine Nachricht für die beiden Münchner Kaffeeschwestern E. B. und G. S.,34 die sie fein für sich behalten werden (an Scholem, 26.2.1922, ebd., 242).

33  An Adorno, 14. Mai 1955. In: Theodor W. Adorno, Gershom Scholem: Briefwechsel 1939– 1969, S. 129. 34  Elsa Burchhardt (Escha  – Scholems Ehefrau zwischen 1923 und 1936) und Gershom ­Scholem.

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Seitens Benjamin macht sich eine Erbitterung laut, die auf Persönliches, u. a. auf Blochs Umgang mit Frauen und Geld zielt:35 Bloch ist fortgereist ohne daß ich ihn zu Gesicht bekam, doch nicht ohne die abenteuerlichsten Gerüchte – selbst für das Faktum seiner Abreise blieb man auf Vermutungen angewiesen  – zu hinterlassen. So, daß er für ein neues Buch 700 000 M Honorar bekäme. Ob dies von der zweiten Auflage des ›Geistes der Utopie‹, welche jetzt in neuer Gestalt bei Paul Cassirer gedruckt wird, gelten will, weiß ich nicht. Auch ob ich zunächst überhaupt noch von mir hören lasse, ist mir ungewiß (an Scholem, 11.9.1922, ebd., S. 266).

Zu den Ausdrücken persönlichen Überdrusses ist auch noch der Brief (an  Scholem natürlich) vom 16.9.1924 zu zählen, in dem es nach einem lobenden Urteil über Blochs tatsächlich entscheidende Kritik von Lukács’ Ge­­schichte und Klassenbewußtsein im Aufsatz Aktualität und Utopie36 doch wieder sehr negativ heißt: Neben einem sehr nennenswerten Aufsatz über »Aktualität und Utopie«, der im April- oder Mai-Heft des Neuen Merkur das Lukácssche Buch ›Geschichte und Klassenbewußtsein‹ anzeigt, steht im Augustheft eine verantwortungslose Salbaderei über ›das Bild bedeutender Menschen und die Identität‹. Unvergleichlich ist er noch immer als Erzähler, wenn ich das schlüpfrige Gebiet der jüdischen Witze ausnehme und bedenke, daß er sich mehr denn je an die Komik des Münchners Valentin hält. Seine kindische Eitelkeit ist konstant […].37

Von größerer Bedeutung ist freilich wenige Tage später, am 1. Oktober, der Hinweis auf die Kritik des Thomas Münzer durch Siegfried Kracauer. Sie erschien unter dem Titel Prophetentum in der Frankfurter Zeitung vom 27.8.1922.38 Die vergleichsweise lange Besprechung zielt zugleich auf die »chiliastische« Verbindung des Kommunismus mit dem religiösen Ge­­ danken und auf den Stil, der nach Kracauer dieses fragliche Gespann zusammenhält:

35 Scholem kommentiert in einem Gespräch mit Michael Landmann am 22. März 1972: »Nach dem Tod von Else [Bloch-von Stritzky], die er [Benjamin] – wie auch ich – sehr geschätzt hatte, goutierte er wenig die Rolle, die jetzt andere Frauen bei Ernst Bloch spielten« (Bloch: Gespräche mit Michael Landmann, S. 54). 36  Der Neue Merkur 7 (1923–1924), S. 457–477. Vgl. Benjamin im Brief an Scholem vom 13.6.1924, WBB II, S. 469. 37  An Scholem, 16.9.1924, WBB II, S. 481. 38  Wiederaufgenommen in: Siegfried Kracauer: Schriften. Bd. 5.1: Aufsätze 1906–1923. Hrsg. von Inka Mülder-Bach. Frankfurt / Main 1990, S. 460–469.

Ernst Bloch und Walter Benjamin

Ernst Bloch, der Verfasser des ›Geistes der Utopie‹, hat in einem neuen Werke den Versuch gemacht, seinen durch Chiliasmus (d. h. die Lehre vom tausendjährigen Reich) unterbauten religiösen Kommunismus an dem Beispiel Thomas Münzers uns wieder nahezubringen. Mit den höchsten Ansprüchen tritt dieses Buch auf. […] Dieser ›Wahrtraum‹ des Endes dient dem Chiliasten als Maßstab für die Beurteilung sämtlicher geschichtlicher und welthafter Ereignisse, die ja ohne Ausnahme für ihn nur Anfang und Ansatz im Vergleich mit dem Ende selber sind. Verbrennen und durchbrennen möchte Bloch alles Seiende, das der Erfüllung des in uns eingesenkten Wahnes vom Messiasreich sich widersetzt, überrennen die Hindernisse, die seinem berserkerhaften Lauf zum Ende hin sich entgegenstellen. […] Auf diesen nur als Ahnung gegebenen Glaubensgrundlagen baut sich das Buch auf, Manifest mehr als Geschichtswerk, ein merkwürdig verschlungenes, vielsträhniges Gebilde, in dem Erkenntnisse aus allen Bereichen zusammentreffen, theoretische Betrachtung, chiliastische Leidenschaft, sozialistische Propaganda einander fortwährend durchdringen. […] Das unablässige Dahintaumeln zwischen apokalyptischen Visionen und revolutionärer Propaganda hat eine stete Vermengung beider Bereiche zur Folge. Da nun weder der Chiliasmus Blochs noch sein Kommunismus in der Realität einwurzeln, ist ihre Mischung erst recht fragwürdig, und man mag sich denken, zu welchen oft unerträglichen Verzerrungen es kommt, wenn Bloch seine eigene Haltung in die Münzers hineindeutet. […] Eine mehr als bedenkliche Geschichtsklitterung, die der Gestalt Münzers, und nicht nur ihr, unerhörte Gewalt antut, ohne daß es ihr doch darum gelänge, die Vergangenheit wieder gegenwärtig zu machen. Wäre noch ein Beweis für die Substanzarmut dieses Manifestes vonnöten, der Stil, in dem es abgefaßt ist, lieferte ihn. […] Unheilig und ohne Eigenwesen sind diesem ungebändigten Stürmer die Worte. Er berauscht sich an ihren überladenen Häufungen, schüttelt sie rasend durcheinander, hetzt sie, ihrem heimlichen Sinne entgegen, in zügellosen Schwärmen vor sich her. Strudelnd schäumt alles heraus, verschlingt sich labyrinthisch, windet sich in orgiastischem Taumel.

Es ist merkwürdig genug zu beobachten, wie Kracauers Rezensionsstil, der sich sonst viel sachlicher benimmt, hier mit dem Bloch’schen fast wetteifert. Über Blochs Verhältnis zu Kracauer, auf den er angewiesen war, wollte er seine publizistischen Texte in der Frankfurter Zeitung veröffentlichen, wären noch Bände zu schrei­ben. Jedenfalls hat Kracauers gründlicher Verriss des Münzer Bloch hart getroffen. Dieser hat darauf in einem langen Brief am 1. September reagiert und gegen die grundsätzlich fehlende Affinität protestiert, die alles negativ verdreht. Seine Erwiderung wurde von der Zeitung nicht veröffentlicht, erschien aber in dem Abschnitt des Bandes Durch die Wüste, der sich mit »einigen Kritikern« auseinandersetzt. Da heißt es: »[Die] Fremdheit zum Gewohnten aber entschuldigt zwar einen Leser, wenn er vorerst irrt und mißversteht, niemals jedoch einen Rezensenten, dessen

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Ehre gerade die Wegbahnung des Neuen und noch Schwierigen in die Sphäre der Rezeptivität sein sollte.«39 Keines großen Widerhalls erfreute sich die Essay-Sammlung Durch die Wüste, die im selben Jahr wie die zweite Fassung von Geist der Utopie erschien und den entfernten Teil »Über die Gedankenatmosphäre dieser Zeit  – Beschluß. Programm und Problem« wiederaufnahm. Diesmal hatte Bloch in dem Hauptteil der Sammlung, der den Titel »Destructio destructionis« trug und auf die Kritiken am Geist der Utopie erwiderte, den schwärmerischen Ton gemieden. Benjamin äußerte sich fast neutral dazu, wäre nicht ein erstes Mal die Anschuldigung des Plagiats zu vermerken: Von Bloch gibt es ein neues Buch, im Wesentlichen früher Gedrucktes unter dem schönen Karl Mayschen Titel ›Durch die Wüste‹ zusammenfassend. Inhaltlich ist dazu nichts zu sagen. Spaßig ist etwa eine auffallend blutige Hinrichtung aller opponierenden Rezensenten. Sonst gibt es dies und das aus Muri (aus dessen Vorlesungsverzeichnis übrigens Bloch im neuen Buch Kants Vorlesung über Erdmann glatt gestohlen hat!). Aber das verbleibt einem offiziellen Bericht (an Scholem, 5.3.1924, ebd., 438).

Ob es wirklich Plagiat war, oder ob es billig ist, sich eine witzige Anregung zu eigen zu machen: Diese Frage gibt einen Eindruck von Benjamins zunehmender Empfindlichkeit und Reizbarkeit. Die Herausgeber von Benjamins Gesammelten Briefen fassen den Vorfall folgendermaßen richtig zusammen: Im ulkigen Vorlesungsverzeichnis der Universität Muri war eine Vorlesung von Prof. Immanuel Kant angekündigt worden unter dem Titel Übungen über Erdmann. Von Leibniz bis Bahlsen.40 Darauf bezog sich Bloch in folgenden Termini: Wir können uns zwar den imaginären Katalog nicht denken, wonach I.  Kant Übungen abhielte über Benno Erdmann; jedoch liest Schelling über Goethe, so liest damit allerdings zugleich auch Goethe über Schelling, und es entsteht an solchem Miteinander des Blicks, des Austausches eine Art rundender, vervoll-

39  Ernst Bloch: Durch die Wüste. Kritische Essays. Berlin 1923, S. 65. 40  Der Witz besteht zunächst einmal darin, dass Benno Erdmann (geb. 30. Mai 1851 in Guhrau, Niederschlesien; † 7. Januar 1921 in Berlin) nicht der Zeitgenosse Kants gewesen ist. Er habilitierte sich bei Helmholtz über Die Axiome der Geometrie (1877). Die (doppelte) Pointe ist erstens, dass er als Mitglied der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften nach dem Tode Wilhelm Diltheys deren Werkausgaben von Immanuel Kant und Gottfried Wilhelm Leibniz leitete, und zweitens, dass er 1907 seine Antrittsrede an der Rheinischen Friedrich-­ Wilhelms-Universität den Funktionen der Phantasie im wissenschaftlichen Denken widmete.

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kommnender Stereoskopie auf den, einem Goethe wie einem Schelling zugeordneten, produktiv gemeinsam besessenen Gegenstand.41

Als Anhang fügte nun Bloch ganz andere Texte hinzu, nämlich Einige philosophische Anekdoten und Studien, die eine neue Schreibweise oder gar eine neue Gattung ausprobierten – »eine Art, auch im Kleinen philosophisch in diese Welt zu sehen«. Einige von diesen Versuchen waren vorher im Neuen Merkur publiziert worden. Sie fanden ihren ausgereiften Niederschlag in den 1930 erschienenen Spuren und wurden zu einem mehr oder weniger offenen Streitfall zwischen Bloch und Benjamin.

2. Mittlerweile war die Freundschaft zwischen Bloch und Benjamin anlässlich ihres längeren Aufenthalts in Paris in den Jahren 1925 und 1926 enger geworden. Da nun Blochs Experimente mit den »philosophischen Anekdoten« vor die erste Fassung vom Geist der Utopie zurückreichen, darf man ihn mit gutem Recht als einen der Erfinder der Gattung der »Denkbilder« ansehen und ihm ebenfalls die Kompetenz zuerkennen, sich über verwandte Produktionen zu äußern. Das tat er, als Benjamins Einbahnstraße erschien, mit dem berühmten Aufsatz Revueform in der Philosophie, der zuerst in der Vossischen Zeitung veröffentlicht und später in Erbschaft dieser Zeit aufgenommen wurde. In dem für die Briefe der Jahre 1934–1937 charakteristischen versöhnlichen Ton weist Bloch in seinem langen Schrei­ben vom 18. Dezember 1934 darauf hin, dass »ich die Anzeige der Einbahnstraße schon 1929 geschrieben, Ihnen vor Druck vorgelegt habe; eine Katastrophe ergab sich damals nicht«.42 Der doppelte Seitenhieb auf Adorno, den dieser Brief enthält, bedarf weiterer biografischer Umwege, die ich an dieser Stelle aussparen muss. Er lautet jedenfalls, dass Wiesengrund »wegen des Absatzes ad Einbahnstraße eine mit Feindschaft endende Entfremdung« prophezeit habe, weil er das völlig verkenne, was die geistige Verwandtschaft zwischen Benjamin und Bloch ausmache: unter anderem ihre hohe Schätzung von Simmels impressionistischem Stil, von seinem Sinn fürs Nebensächliche, Kleine und Unscheinbare. Bekanntlich hat Adorno später in einem Brief an Benjamin vom 10. November 1938, in dem er die drei Fragmente, die Benjamin ihm geschickt hat (Die Bohème, Der Flaneur, Die Moderne), einer unerbittlichen Kritik unterzieht, den einzigen ausdrückli-

41  Bloch: Durch die Wüste, S. 66. 42  Ernst Bloch: Briefe. 2 Bde. Frankfurt / Main 1985; abgekürzt EBB – hier EBB, S. 658.

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chen Bezug Benjamins auf Simmel aufgegriffen und diesen zum Anlass genommen, um Simmels und Benjamins Denkweise als »impressionistisch« anzuprangern.43 Bloch schreibt: Wie fern mir Wiesengrund Ihrem Gefühlsleben in dieser Sache zu stehen scheint, dafür ist übrigens ein Satz in seinem Brief ein Zeuge besonderer Art. Er bezeichnet es als besondere, ja ganz unerhörte Kränkung Ihrer, daß ich die Einbahnstraße in einigem Zusammenhang mit Simmel genannt habe (Lockerung des systematischen Zusammenhangs betreffend). Nun mag Wiesengrund (sonst ein Freund der Impressionisten, bis zum letzten empiriokritizistischen Pinscher herab) von Simmel halten, was er will: ich erinnere mich bestens, daß Sie wie ich eine größere Unangemessenheit sich denken können, als mit diesem Mann auf einer Seite (und in wie losem Zusammenhang) genannt zu werden (EBB, 658).

Über den tieferen Grund der Irritation konnte sich aber Benjamin nicht so leichtfertig hinwegsetzen, wie Bloch es dachte. Denn er war seit seinem Surrealismusaufsatz von 1929 bemüht, seine Einschätzung der surrealistischen Bewegung und die Erwartungen, die er in sie gelegt hatte, gründlich zu revidieren. Gerade in den Aufsätzen des Jahres 1934 zieht er unter diese Hoffnungen einen Schlussstrich – wenn er auch den weiteren Werdegang der Bewegung, von Breton und Bataille, weiterverfolgt. Ihr stellt er aber die Frage, die nun für ihn im Vordergrund steht: die Frage nach ihrer Fähigkeit, eine Widerstandsstrategie gegen den Faschismus zu begründen. Also mag er die Einreihung in den Surrealismus desto ungerechter empfunden haben. 1934 ist eine Achsenzeit in der Geschichtsschreibung der Verhältnisse zwischen Politik und Intelligenz. Bloch hat das weder übersehen noch unterschätzt. Vielmehr erweist sich die andere Seite seines damaligen Briefwechsels mit Benjamin, die Kehrseite seines wiederholten Appells an die alte Solidarität, als ein Appell zu einer anderen politischen Entscheidung. Das scheint mir der Gehalt der Briefe von 1934–1937 zu sein, und er bedarf einer eingehenderen Sichtung, weil sich gerade damals die Linien des antifaschistischen Widerstands abzeichneten. Davon kann aber erst nach einigen Umwegen die Rede sein. Man kann sich diese Umwege umso weniger ersparen, als sie andere Weggefährten und Gesprächspartner einbeziehen, die vor allem auf politischem Gebiet eine parallele Entwicklungsphase durchmachten. Nicht

43  Vgl. Gérard Raulet: Verfallenheit ans Objekt. Zur Auseinandersetzung über eine Grundfigur dialektischen Denkens bei Adorno, Benjamin, Bloch und Kracauer. In: Frank Grunert, Dorothee Kimmich (Hrsg.): Denken durch die Dinge. Siegfried Kracauer im ästhetisch-philosophischen Diskurs der 20er Jahre. München 2010, S. 119–134.

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zuletzt Kracauer. Mitte der 1920er Jahre vermittelte Benjamin zwischen Bloch und Kracauer, der vier Jahre vorher den Thomas Münzer verrissen hatte. Diese Jahre stellen ein entscheidendes Kapitel in der theoretischen Entwicklung der drei Denker dar. Die Wiederannäherung stand im Zeichen von Kracauers beginnender Hinwendung zum Marxismus. Geist der Utopie war von Scholem und von Benjamin einer zu großen Nähe zu Buber bezichtigt worden. Der Thomas Münzer war wiederum von Kracauer als »Pseudo-­ Chiliasmus literarischen Gepräges« bezeichnet worden. So ist es kein Wunder, wenn Bloch die Gelegenheit von Kracauers Rezension des ersten Bandes der Bibel-Übersetzung Bubers und Rosenzweigs (Die Bibel auf Deutsch, Frankfurter Zeitung vom 27. u. 28. April 1926) aufgreift, um sich zu rechtfertigen. Es sei ihm inzwischen klar geworden, dass Kracauers Einwände gegen den Münzer in dem Willen begründet waren, »chiliastisch-religiöse von kommunistisch-realen ›Gedankengängen‹ entfernt [zu] halten«. Kracauer habe also schon damals »den schmalen Weg des scheinbar Äußerlichen, Praktischen, Glanzlosen [gewählt], der grade der Weg des Marxismus ist« (ebd., 269). So will es Bloch nachträglich verstanden wissen. Das Argument ist nicht nur taktisch, sondern plädiert in eigener Sache: Was Bloch als Grundlage seiner Versöhnung mit Kracauer in den Vordergrund stellt, ist das Bekenntnis zum Marxismus. Er geht freilich in dieser Richtung einen Schritt zu weit, indem er Lukács in sein Plädoyer miteinbezieht: Wäre damals nicht das offenbar unglückliche Wort gegen den Marxismus gefallen, so hätte ich Ihre Besprechung nicht als bloß mittelständisch empfunden, folglich als sowohl bewegungs- wie metaphysikfeindlich. Ich hätte sie als einen grade marxistischen Protest gegen das anarchistisch Manifesthafte, gegen die weiterschwingende Theologie im ›Münzer‹ aufgefaßt; so wie ja leider auch Lukács Angriffe über Angriffe wegen der Geist- und Metaphysik-Überlastung seines Marxismus erfährt (ebd., 270).

In Sachen Marxismus zeigte aber Kracauer den unnachgiebigen Eifer des Neubekehrten: Am 27. Mai erklärt er in Bezug auf Geschichte und Klassenbewußtsein (1923 erschienen): »L[ukác]s’ Koinzidenz von Theorie und Praxis ist keine, da die Praxis überhaupt nicht gewahr wird« (ebd., 273). Was er folgendermaßen begründet: Während L[ukács] aus Gründen der Aktualität dem Marxismus eine zuletzt doch schlecht abstrakte Geistigkeit einlegt, glaube ich den Sinn Ihres bisherigen Schrifttums darin erblicken zu können, daß Sie die materialen geistigen Bestände, die der heutige theoretische Marxismus nur verdrängt, nicht aufnimmt, in ihrer aktuellen Form, gesättigt mit den ihnen innewohnenden revolutionären Energien, darstellen möchten. Daß man sich diese materiale Totalität nicht verküm-

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mern lassen dürfe, darin stehe ich mit Ihnen (und gewiß auch mit Benjamin …) – gegen L[ukács] (ebd.).

Es scheint mir nicht übertrieben zu sein, in diesen Zeilen den Auftakt zu Blochs publizistischer Tätigkeit in der zweiten Hälfte der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre zu sehen. Sie bestimmen die Linie, die zur – äußerlich gesehen – scheinbar heterogenen Sammlung Erbschaft dieser Zeit führt – eine Sammlung, die dermaßen das Gepräge von Kracauers Schrifttum trägt und insbesondere dem 1927 erschienenen Ornament der Masse dermaßen verpflichtet ist, dass auch Kracauer Grund gehabt hätte, wegen Plagiats zu klagen. Die Heterogenität von Erbschaft dieser Zeit ist nicht zu leugnen; sie ist freilich anderer Natur als die der vorangegangenen Schriften, insbesondere des schnell zusammengebastelten Bandes Durch die Wüste, wohl aber auch des gewaltigen, aber überstürzten Eingriffs in die »Gedankenatmosphäre« von 1918:44 ihr liegt eine Methode zugrunde. Der Widerstreit mit Kracauer in der Einschätzung von Lukács’ Beitrag gibt Bloch die Gelegenheit, sie zu erörtern und auf seinen kritischen Kommentar von Geschichte und Klassenbewußtsein zu verweisen, in welchem er sich »gegen einen allzu homogen gehandhabten historischen Materialismus« und für die »Erschwerung der Totalität durch den Begriff der Sphäre«45 ausgesprochen hat: Von hier aus erscheint auch Lukács, bei dem die Subjekt-Objekt-Beziehung eine so große und, wie ich weiß, durchaus nicht idealistische Rolle spielt. Das ist bei ihm doch in nichts mehr die bloße Philosophie des Selbstbewußtseins; sogar das Wort Klassenbewußtsein ließe sich hier noch eliminieren. Ich gebe zu, daß die unglückliche Rickert- oder selbst Lask-Terminologie, der Lukács seinen philosophischen Ausdruck entnimmt, formalistisch nachwirkt […]. Wobei mir allerdings, im Unterschied Lukács, nach wie vor Sphären der Subjekt-Objektivierung zu bestehen scheinen, keineswegs nur der kapitalistischen Arbeitsteilung entstammend […] (ebd., 276 f.).

Am 15. Februar 1928 berichtete Benjamin von dem Freundeskreis, der sich in Berlin gebildet hat: »Wiesengrund und ich sind öfters und ersprießlich zusammengewesen. Er hat nun auch Ernst Bloch kennengelernt«.46 Die Beziehung zu Adorno scheint von vornherein von gegenseitiger Achtung

44  »Das Buch war mitten in den Bewegungen von 1918 konzipiert, ist mitten in Bedrängungen und Bewegungen der Identifizierung entstanden« (an Kracauer, 20.5.1926, EBB, S. 270). 45  Ernst Bloch: Aktualität und Utopie. Zu Lukács’ ›Geschichte und Klassenbewußtsein‹. In: Der neue Merkur 7 (1923–24), S. 457–477. Wiederaufgenommen in GA 10: Philosophische Aufsätze. Frankfurt / Main 1969, S. 618 f. 46  WBB III, S. 334; vgl. auch Kracauers Brief an Adorno vom 18.2.1928.

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und  – wie Benjamin sagt  – »franker philosophischer Kameradschaft« geprägt gewesen zu sein. »Die ›Gereiztheiten zwischen Schreibern‹«, kommentiert Habermas, »ahnt man nur ein einziges Mal, und zwar in der Korrespondenz über Adornos Antrittsvorlesung als Frankfurter Privatdozent, in der dieser Motive aus Benjamins Barockbuch aufnimmt und – in einer frühen, erstaunlich weitsichtigen Auseinandersetzung mit Heidegger – produktiv zuspitzt, ohne seine Quelle beim Namen zu nennen«.47 Es handelt sich um den Vortrag Die Aktualität der Philosophie, den Adorno im Mai 1931 hielt. Von Bloch soll die Anregung gekommen sein, in irgendeiner Form, entweder als Widmung oder als Hinweis, Benjamins Namen zu erwähnen. Benjamin reagierte auf die Zusendung des Textes im souveränen Ton des kalten Zorns: [A]ußer Zweifel steht mir, daß diese Arbeit als ganze geglückt, daß sie gerade in ihrer Kürze eine sehr eindringliche Fixierung wesentlichster Gedanken aus unserm Kreis darstellt und daß sie alle Qualitäten besitzt pour faire date wie Apollinaire sagte. Daß die Verbindung der fraglichen Gedanken mit dem Materialismus stellenweise, wie Bloch behauptet, forciert sei, finde ich richtig aber durch die geistige Situation vollauf begründet […]. Durchschlagender scheint mir, was er zu Ihrer Auseinandersetzung mit der wiener Schule bemerkt. Die triftigen diplomatischen Erwägungen, die Sie an dieser Stelle zu Ihrer Formulierung gebracht haben, glaube ich zu verstehen. Wie weit man da gehen kann wird sich kaum eindeutig ausmachen lassen. Desto fragloser ist Ihre Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Phänomenologie; was Sie über die Funktion des Todes bei Heidegger vorbringen, ist entscheidend. […] Nun ein Wort zu der von Ernst Bloch aufgeworfnen Frage der Nennung oder Nicht-Erwähnung meines Namens. Ohne jede Empfindlichkeit von meiner Seite – und hoffentlich auch ohne irgend eine bei Ihnen zu verletzen – muß ich nun nach dem genauen Studium dieser Arbeit, deren Bedeutung mir auch solchen, sonst subalternen Urheberfragen einiges Recht zu geben scheint, meine frankfurter Äußerungen zurücknehmen. Der Satz, der die Positionen, welche Sie der Schulphilosophie gegenüber behaupten, entscheidend umreißt, lautet: ›Aufgabe der Wissenschaft ist es nicht, verborgene und vorhandene Intentionen der Wirklichkeit zu erforschen, sondern die intentionslose Wirklichkeit zu deuten, indem sie kraft der Konstruktion von Figuren, von Bildern aus den isolierten Elementen der Wirklichkeit die Fragen aufhebt, deren prägnante Fassung Aufgabe der Wissenschaft ist.‹ Diesen Satz unterschreibe ich. Schrei­ben aber hätte ich ihn nicht können, ohne in ihm auf die Einleitung zum Barockbuche hinzuweisen, in dem dieser –

47  Jürgen Habermas: Das Falsche im Eigenen. Der Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Walter Benjamin: Ein Dokument kritischer Selbstvergewisserung aus der aufgeklärten deutschen Republik. In: Zeit online, 23.9.1994. http://www.zeit.de/1994/39/das-falsche-im-eigenen [letzter Zugriff: 22.2.2018].

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völlig unverwechselbare und in dem relativen und bescheidnen Sinne, in dem so etwas ausgesprochen werden darf – neue Gedanke ausgesprochen worden ist. Ich an meiner Stelle hatte hier den Hinweis auf das Barockbuch nicht unterlassen können. Muß ich nun nicht hinzufügen: ich an Ihrer Stelle noch weniger (WBB IV, 37–39).

Benjamins neue Adres­se im Tiergarten war im Sommer und Herbst 1928 auch Blochs Adres­se. Mit Kracauer scheint es in jenen Wochen ein enges Freundschaftsverhältnis zu dritt gegeben zu haben: Man verabredete sich, um gemeinsam möglicherweise Rauschmittel zu sich zu nehmen »Ingredizien [sic] für die Belebung eines philosophischen Konvents«, wie Benjamin es in einem Brief vom Juli desselben Jahres beschrieb.48 Einmal fand das Treffen nicht statt. Benjamin verbrachte den ganzen Abend vor dem Apparat, doch es rief keiner der beiden an. In Sachen Autorschaft zeigt sich Benjamin freilich gegenüber Bloch empfindlicher denn je. Anfang 1929 beschwert er sich wegen des Aufsatzes von Bloch Rettung Wagners durch Karl May, der soeben in der Musikzeitschrift Der Anbruch erschienen war und der nicht nur »Entlehnungen [s]einer Gedanken« enthielt, sondern sich »durch Entstellungen auszeichnete«: Weiter, dies aber unter dem Siegel tiefer Verschwiegenheit, daß Blochs Entwendungen, Entlehnungen, Anleihen an meinem Gute in letzter Zeit von den Gedanken so gründlich auf die Terminologie übergegriffen haben, daß ich, wie die Pariser in die bals musettes von nun ab in unsere Unterhaltungen immer zwei »flics« delegiere, die – nicht ihn – sondern mich zu beaufsichtigen haben, derart daß ich nichts »Ungedrucktes« rede (an Scholem, 14.2.1929, WBB III, 439).

Auf diesen humoristischen Ton wird er wieder zurückgreifen, um im Oktober 1934 nach der Erscheinung von Blochs Erbschaft dieser Zeit seine extreme Empfindlichkeit zu verbergen und wiederum einen Plagiatsverdacht zu äußern, obwohl er – wohlgemerkt – damals den Band noch nicht in Händen gehabt hat: Vielleicht aber wird Dich noch mehr interessieren, daß ein neuer Band der Arsène Lupin-Serie – des berühmten gentlemen-cambrioleurs [sic] – in Gestalt einer neuen Schrift von Ernst Bloch erscheint. »Erbschaft dieser Zeit« – ich bin sehr gespannt, erstens überhaupt, zweitens auf das, was ich von dem Meinigen als Zeitkind hier erben werde. Ich hoffe Bloch demnächst zu begegnen (an Scholem, 17.10.1934, WBB IV, 515).

48  An Kracauer, 2.7.1928, WBB IV, S. 396.

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Es sind aber die Spuren, die im Herbst 1930 Benjamin am tiefsten berührt und zu folgender hellsichtigen Beschreibung der Zwiespältigkeit seines Verhältnisses zu Bloch Anlaß gegeben haben: Ernst Blochs Spuren. – sind die schon nach Erez Isroel49 vorgedrungen? Mich setzt das Buch in die tötlichste [sic] Verlegenheit. Mein Verhältnis zu ihm [= zu Bloch] ist gerade augenblicklich das denkbar beste; und nun ereignet sich dies: Spuren des Eingriffs in meine Gedankenwelt mehr als von irgendwas anderm und dazu so verwischt, daß man alle Neigung unterdrückt, sie in Anspruch zu nehmen. Noch bin ich in Nachforschungen darüber begriffen, ob sich der ganzen Sache der Öffentlichkeit gegenüber nicht eine glimpfliche Seite abgewinnen läßt (WBB III, 541–542).

An diesen peinlichen Streit wird Bloch noch im Mai 1935 erinnern, nachdem das Erscheinen von Erbschaft dieser Zeit zwar nicht die von Adorno prognostizierte endgültige Entfremdung mit Benjamin verursacht hatte, wohl aber eine sehr harte Kritik an dem Buch, die Benjamin jedoch an Bloch selbst nicht schickte. Dieser muss aber von einem derartigen Briefentwurf benachrichtigt worden sein – vielleicht durch Benjamin selbst, schreibt er doch: »ich möchte es doch für richtig halten, der Brief ginge so, wie er ist, an mich ab« (EBB, 661). Es kann sich allerdings nicht um den Briefentwurf von Ende Dezember 1934 handeln, in dem es nur um den wiederholten Plagiatsvorwurf geht, da Benjamin, wie er es selbst gesteht, das Buch »bis heute« noch nicht einmal erhalten hatte (WBB IV, 554).

3. Für die in der Edition von Blochs Briefen dokumentierten drei Exiljahre 1934–1937 lässt sich geradezu eine Geschichte paralleler Schicksale entwerfen. 1934 ist, wie schon betont, ein Wendejahr in Benjamins Leben. Nachdem er 1933 Deutschland verlassen und sich in Paris niedergelassen hatte, wo er bis zum Erhalt des Einreisevisums in die USA mit kurzen Unterbrechungen residieren und arbeiten wollte, war er um eine regelmäßige Kollaboration mit dem emigrierten Institut für Sozialforschung bemüht. Dazu gehört nicht nur das Exposé Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts von 1935, von dem er sich eine Unterstützung seines Baudelaire- bzw. Passagen-­ Projekts durch das Institut erhoffte, sondern ab 1937 die Reihe der an Horkheimer geschickten sog. »Literaturbriefe«, in welchen er ein breit angelegtes

49  Erez Israel ist der hebräische Name des Gelobten Lands.

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und sensibles Panorama des französischen literarischen Felds entwarf. Begleitet und untermauert wurde diese Korrespondententätigkeit durch viele wichtige literarische Porträts und Rezensionen – über Julien Benda, über den politischen Werdegang von Gide, über Bernanos, Fessard und die christliche Intelligenz und nicht zuletzt über Roger Caillois und das Collège de sociologie. Parallel dazu erscheinen die Essays, die die Eckpfeiler seiner Theorie des Verhältnisses zwischen Literatur und Politik bilden: Zwei davon fallen nicht von ungefähr in das für die Verblendung der Intelligenz schlimmste Jahr, 1934 – es handelt sich um den auf Ibiza abgefassten Text Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers und um den Vortrag auf dem Pariser Institut pour l’étude du fascisme Der Autor als Produzent. Da nun von Ibiza die Rede ist, müssen auch andere Unterbrechungen des Pariser Aufenthalts erwähnt werden: vor allem die längeren Besuche bei Brecht in Skovsbostrand (Dänemark). Darauf bezieht sich Blochs Brief vom 3. Oktober 1934: »Lieber Walter, kalkuliere, Sie sind noch in Dänemark. Wenn man an einen fremden Strand kommt, ist man immer etwas verlegen. Bleibt dann immer länger« (EBB, 656). Hinter dieser Aussage muss keine hinterhältige Anspielung gewittert werden, wiewohl andererseits feststeht, dass anlässlich der Aufenthalte bei Brecht die auf 1929 zurückgehende Annäherung in eine Phase der Revision eintrat. Entgegen den Interpretationen, die Benjamins (unleugbare) Bekehrung zum Historischen Materialismus als endgültigen »epistemologischen Bruch« überstrapazieren und von 1929 an eine neue Periode und eine neue Kontinuität in seinem Denken sehen wollen, bin ich eher der Meinung, dass spätestens 1936 auf diese Bekehrung ein neuer Bruch folgt, der, ohne den Historischen Materialismus zu verwerfen, dem vorbehaltlosen Bekenntnis zur vermeintlichen Progressivität der engagierten marxistischen Literatur – und zugleich auch zu Brechts Ästhetik – ein Ende setzt. Ein Indiz liefert der Vergleich der ersten Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes (1935) mit den späteren Fassungen, insb. anhand des Paragraphen XVIII bzw. XV. Die kritische Instanz des »zerstreuten Examinators« wird erst durch die letzte Fassung eingeführt. Dadurch ändert sich das Verhältnis der Masse zum Kunstwerk. Diese Feststellung ist mit der Entwicklung von Benjamins Einstellung zur Brecht’schen Dramaturgie in Verbindung zu bringen, wie sie in seinen Kommentaren zu den Pariser Aufführungen der Dreigroschenoper und von acht Einaktern aus Furcht und Elend des Dritten Reichs im September 1937 und im Mai 1938 (vgl. GS II-2, 514–518) verzeichnet ist. Von diesem Zeitpunkt an weicht Benjamins Urteil über das epische Theater von den Erwartungen, die er früher in dieses gesetzt hatte, beträchtlich ab. Davon zeugt die veränderte Fassung seiner Überlegungen von 1931, die er erst 1939 in Maß und Wert veröffentlicht. Seine Bewertung der Aufführung von 1938 bedeutet ohne jeglichen Zweifel, dass Brechts Dramaturgie, wie sehr die Handlung

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auch in Stößen vorangeht, in seinen Augen ihr Ziel nicht erreicht, weil das Publikum »sie mit leidenschaftlichem Anteil begleitet«. Daraus folgt, dass die antifaschistische Strategie des Exiltheaters von Grund auf überdacht werden muss. Soweit der Hintergrund, was Benjamin betrifft. Bloch befand sich an einem anderen Ufer: vorübergehend in Menaggio am Lago di Como. Die Flucht nach Italien 1934 hat Bloch in einem wunderschönen Aufsatz unter dem Titel Maloja-Chiavenna-Drift50 festgehalten, der scheinbar fern von aller persönlichen und familiären Besorgnis (»Nicht alle Wege stimmen von vorn herein trüb«) die Fahrt über den Malojapass nach Italien herunter nur als erneute Erfahrung des Naturerhabenen im Sinne Kants, Goethes und Jean Pauls schildert: Die Berge, von denen die Straße herkommt, wachsen in unglaubwürdige Höhe, sind keine geschrumpfte, gefaltete, empor geschobene Rinde mehr, haben jeden Blickbezug zum Boden verlassen, fast jeden Raum zwischen sich und einem Himmel, wohin sie nicht so sehr ragen, als sie ihn zur Hälfte wegnehmen und selbst der Himmel geworden sind. Völlig als Stück dieser anderen Welt schmerzen die Granitspitzen und Todeszacken, blickt das Granitfenster herab, das in den Alpen an dieser Stelle sich auftut; es ist terminus humanitatis, je der Erde – diese Ferne bringt diese Grenze erst ans Licht.51

Dahinter steckten aber echte politische Komplikationen: Nachdem Beziehungen zu kommunistischen Kreisen von der Berner Polizei aufgedeckt worden waren, mussten Blochs zum 15. September 1934 die Schweiz verlassen. Während die Schweiz sowieso eine sehr restriktive Einwanderungspolitik hatte, blieb Italien bis zur Gründung der Achse mit Deutschland ein Durchreiseland (öfters auf dem Weg in die USA). Wie es nun stand mit dem Verhältnis Blochs zur Emigrationsproblematik und mit seinen Beziehungen zum Institut für Sozialforschung, das in dieser Hinsicht dank finanzieller Mittel, die ihm über Genf und Paris nach New York hinübergeholfen hatten, das große Wort führte: Ich habe dieses schwierige Verhältnis in einem Aufsatz geschildert52 und fasse hier nur die Hintergründe zusammen, die auch Benjamin betreffen. Bekanntlich publizierte das Institut für Sozialforschung in seiner Zeitschrift nie etwas von Ernst Bloch. Es ließ auch keines seiner Bücher besprechen, obwohl Horkheimer in einem Brief vom 2. Okto-

50  Bloch: Verfremdungen II, S. 142–147. 51  Ebd., S. 143. 52  Vgl. Gérard Raulet: Über eine Materialismusdebatte, die nicht stattfand. In: Kann Hoffnung enttäuscht werden? Bloch-Jahrbuch 1997. Tübingen 1998, S. 120–145.

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ber 1936 an Bloch eine Rezension von Erbschaft dieser Zeit durch Benjamin in Aussicht gestellt hatte. Der Ton dieses Briefs zeugt aber von einer unüberhörbaren Distanz: Die ›Erbschaft‹ wird wohl im Heft Nr. 1, 1937, bei uns angezeigt werden. Wir haben Benjamin etwa vor einem halben Jahr darum gebeten, und seine Anzeige wird bestimmt bis zum Abgang des Manuskriptes hier sein. Ich werde mich sehr freuen, wenn Sie bald wieder etwas von sich hören lassen. Auch Vorschläge für Besprechungen in der Zeitschrift sind uns jederzeit willkommen. Der angesichts des bloß dreimaligen Erscheinens leider sehr knappe Raum des Artikelteils ist bis einschließlich des zweiten Heftes 1937 schon belegt. Sollten Sie uns für das dritte Heft einen Vorschlag machen wollen, so sind wir gern bereit, darüber zu korrespondieren.

Ob Benjamin je bereit gewesen wäre, eine solche Rezension zu schrei­ben, ist sehr fraglich angesichts der überaus negativen Urteile, die er – abgesehen von der verdrängten Streitsache, die der Aufsatz Revueform in der Philosophie darstellte – über das Buch geäußert hat. Wie schon bei den Reaktionen auf Geist der Utopie oder Durch die Wüste ging es um Stilfragen, oder vielmehr um die Art des Philosophierens. Diesbezüglich gab es zwischen Bloch und Benjamin eine Differenz, die trotz der scheinbaren Verwandtschaft im Umgang mit dem Nebensächlichen, trotz der verstärkten Annäherung, die den Berliner Freundeskreis stärker zu einer gemeinsamen Denkfront gegen Lukács und für die dialektische Berücksichtigung des Ungleichzeitigen anregte, eine echte Streitsache bildete: nämlich die Art, wie man damit umgeht. Es liegt auf der Hand, dass dies auch der tiefere Grund des Plagiatsverdachts in Bezug auf die Spuren gewesen war. Kracauer, Bloch, Benjamin, alle drei zogen an demselben Strang und hatten Schreibweisen entwickelt – Feuilleton, Denkbild etc. –, die verwandt, aber doch nicht deckungsgleich waren. Es ging bei Bloch auf recht plakative Art um die Dialektisierung des Ungleichzeitigen,53 während Kracauer sich in seinen Feuilletons auf Reportage und Bestandsaufnahme beschränkte. Die Umsetzung des Programms in Blochs Buch überzeugte jedenfalls Benjamin nicht. Vielmehr gab sie Anlass zu Ausfällen, die extrem negativ sind – ohne, dass man zuerst ausmachen könnte, wie Benjamin selbst mit dem kulturgeschichtlichen Material umgehen wollte. Seine Position darüber hat er aber

53  Vgl. darüber kritisch Gérard Raulet: Die Stadt als Mythologie. Sozio-Mythologie der Metropolen bei Simmel, Kracauer, Benjamin und Bloch. In: Ders.: Positive Barbarei. Kulturphilosophie und Politik bei Walter Benjamin. Münster 2004, S. 67–90.

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kurz danach in den Exposés zu seinem großen Paris-Projekt dargelegt. Über Blochs Buch – wieder eine Aufsatzsammlung zweifelsohne, aber doch ein Buch, das bei aller Heterogenität im Einzelnen einen Theorievorschlag macht – schreibt er folgende vernichtende Worte: Blochs Buch ist gekommen, dem majestätischen Donner ähnlich, dem kurze Nachrichten blitzhaft voraneilten. […] Aber, auf den Donner zurückzukommen: wie sich dieser sein eignes Echo zu machen pflegt, so scheint mir dieses Buch es zu halten; und leider ist es öfters ein echtes Echo, nämlich eines aus Hohlräumen. Sie entstehen durch den Mangel an Konzentration. Anstatt den Gegenstand, um den es geht, klar heraustreten zu lassen, ist es wieder das alte Verfahren der philosophischen ›Stellungnahme‹ zu allem und jedem, das beherrschend gewesen ist. Der Gegenstand lag auf der Hand und ist in den Kapiteln über die Ungleichzeitigkeit gelegentlich sehr genau formuliert. Leider machen sie einen ›Übergang‹ statt jenes methodische Zentrum abzugeben, von dem allein aus auch der Partner dieser Rede unzweideutig aufzurufen gewesen wäre: ich meine das Kulturbüro der K. P. So hat sich das, was eine Klage und Anklage von Haus aus gewesen ist, in eine Reihe von Beschwerden verzettelt. Die Dinge, um die es hier geht, lassen sich nicht im leeren Raum richtigstellen; sie verlangen ein Forum. Darin, daß dieses Forum und damit auch die forensischen Beweismittel, deren vornehmstes das corpus delicti der entmannten deutschen Intelligenz ist, umgangen sind, sehe ich die große Schwäche des Buches. Wäre es geglückt, so wäre es eines der wichtigsten Bücher der letzten dreißig oder auch hundert Jahre geworden (an Kracauer, 15.1.1935, WBB V, 27 f.).

Der Widerstreit konzentriert sich, wie man sieht, nicht mehr auf den Aufsatz über Benjamins vermeintlich surrealistische Schreibweise, sondern er betrifft insgesamt den radikalen Unterschied zwischen zwei philosophischen Stilen und deren Konsequenzen. Bloch war sich dessen bewusst. Im Brief an Benjamin vom 30. April 1934, mit welchem er aus Zürich nach »zweieinviertel Jahren« den Kontakt mit Benjamin wieder zu knüpfen versucht und in dem er das Erscheinen von Erbschaft dieser Zeit »im Herbst bei Querido«54 ankündigt, charakterisiert er hellsichtig seinen und Benjamins schriftstellerischen Habitus: Sollten auch unsere Denkwege immer verschiedener werden, der enzyklopädische Wille dem intermittierenden immer ferner, und selbst die gebliebene Intermittenz ganz anders und ganz anderswohin blicken: so reicht das offenbar zur

54  EBB, S. 652. Erbschaft dieser Zeit erschien aber nicht im Querido Verlag in Amsterdam, sondern bei Oprecht und Helbling in Zürich. Wie Emanuel Querido war Emil Oprecht einer der engagiertesten Verleger.

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Entfremdung der Marschierenden so lange nicht aus, als sie den ›Elementen des Endzustands‹ sich verpflichtet glauben (EBB, 652–653.).

Mit dem enzyklopädischen Willen meint Bloch ohne Zweifel seinen eigenen philosophischen Anspruch, und zwar nicht nur das Unternehmen von Erbschaft dieser Zeit, sondern sicher auch das große Vorhaben eines Systems des theoretischen Messianismus, das er seit Geist der Utopie nie aufgegeben hat. Das »Intermittierende« kennzeichnet ziemlich treffend Benjamins Denkstil, dessen Eigenart darin besteht, »daß man von jeder Stelle aus die Probe aufs Ganze machen kann«,55 und der also eher ein Netz als ein System bildet. Gerade diese Gegenüberstellung weist Benjamin ab: Dem systematischen Willen wirft er vor, sich im leeren Raum, »in Hohlräumen«56 zu entfalten, dem enzyklopädischen Anspruch, sich über alles und jedes zu äußern und sich zu verzetteln. Und er fordert unerbittlich politische Klärung, eine Klärung, die er seinerseits mit seinen Aufsätzen des Jahres 1934 vorgenommen hat. So ist es kein Zufall, wenn die Fortsetzung ihrer Beziehungen sich ab 1934 auf diesem Gebiet des politischen Engagements und der politischen Klärung abspielen wird. Als Bloch diese Zeilen schrieb und wahrscheinlich noch an Erbschaft dieser Zeit arbeitete, dessen Vorwort er in Locarno abschloss, bereitete die Komintern gerade eine Kurskorrektur vor, die im Herbst 1934 offiziell wurde. Die Utopie einer klassenübergreifenden antifaschistischen Front wurde von der UdSSR selbst aus der Taufe gehoben. Wenn die folgenden zwei Briefe von Bloch an Benjamin anekdotischen Inhalts zu sein scheinen  – jener aus Zürich am 18. Juni 1934 scheint bemüht, Benjamin auf einen möglichen Sponsor hinzuweisen –, so ist in demjenigen aus Menaggio am 3. Oktober 1934 die Bemerkung Blochs, auch er sei inzwischen »ein Freund des Radio geworden«, allenfalls nicht zu unterschätzen angesichts der Bedeutung, die Benjamin für die Veränderung des öffentlichen politischen Forums den Medien zuschreibt. Am 18. Dezember, in dem Brief, der Adornos Prognose einer endgültigen Entfremdung mit Benjamin zu entschärfen versucht, weist Bloch geschickt auf seine Absicht hin, nach Erbschaft dieser Zeit, »ein zweites Buch« zu veröffentlichen, »das, obwohl ebenfalls beendet, an dieses aus sachlichen wie aus verlegerischen Gründen nicht angeschlossen werden konnte« (EBB, 659). In ihm wolle er sich mit »Grundinhalten der ›Wahlverwandtschaften‹ und des ›Trauerspiels‹« be­­ schäftigen. Nichts hätte Benjamin mehr beglücken können  – natürlich

55  Mattenklott: Benjamin als Korrespondent, S. 273. 56  Eine bösartige Anspielung auf Blochs Formel »Funktionen im Hohlraum«, die sich in Erbschaft dieser Zeit u. a. auf die neue Architektur als Ausdruck des Zeitgeistes bezieht.

Ernst Bloch und Walter Benjamin

unter der Bedingung, benannt und nicht beraubt zu werden. Wenn man unter Blochs Bezug auf den Wahlverwandtschaften-Aufsatz und das Trauerspielbuch pauschal den Problemkreis von Symbol und Allegorie versteht,57 dann könnte es sich um Seiten handeln, die viel später zur Grundlage für Teile von Experimentum mundi benutzt wurden.58 In Buchform erschienen sie freilich in den 1930er Jahren nicht. In demselben Brief kündigt Bloch seine Teilnahme am antifaschistischen »Kongreß zur Verteidigung der Kultur« an, der am 21.-25. Juni 1935 in Paris stattfinden wird. Die Bemühungen um eine antifaschistische Volksfront geben der in Erbschaft dieser Zeit erarbeiteten Methode des Erbes die Gelegenheit, sich politisch zu bewähren und Benjamins Herausforderung zur politischen Positionierung nachzukommen.59 Ja, das Thema »Erbe« bekommt Aufwind: Die Eröffnungssitzung steht unter dem Motto »L’héritage culturel«. Der ursprünglich »Dichtung und sozialistische Gegenstände« betitelte Vortrag findet sich unter dem Titel Marxismus und Dichtung in den Literarischen Aufsätzen (GA, Bd. 9, 135–143). Die Änderung des Titels ist nicht belanglos: Sie bedeutet ein klares politisches Bekenntnis. Der Vortrag beschränkt sich nicht darauf, die Dichtung vor dem »Mißtrauen gegen bloß private Flausen« in Schutz zu nehmen, sondern definiert echt realistische Dichtung als eine, die es mit dem Prozess zu schaffen hat, und greift der späteren sog. Expressionismus- bzw. Realismusdebatte vor. Diese Stellungnahme erhält ihre ganze Tragweite vor dem Hintergrund des Moskauer Schriftstellerkongresses, auf dem mit der Kursänderung der Komintern der »sozialistische Realismus« als offizielle literarische Doktrin proklamiert wurde. »So un­­glaublich das klingen mag«, kommentiert Alfred Kantorowicz, »schien seinerzeit die Verkündung des ›Sozialistischen Realismus‹ […] wie eine erlösende Befreiung aus der Zwangsjacke der Rapp (Russische Vereinigung Proletarischer Schriftsteller), die bis 1932 die Kunst und Literatur ausschließlich in den Dienst von Agitation und Propaganda pressen wollte«.60 Es kam freilich darauf an, wie sich die neue Linie umsetzen würde.

57  Und nicht, wie Burghart ­Schmidt es für möglich hält (vgl. die Anmerkung 6 zum Brief vom 18.12.1934, EBB, S. 660 f.), das Buch über das Materialismusproblem, das wegen der Verhandlungen mit Horkheimer über eine Kooperation mit dem Institut für Sozialforschung bald in den Vordergrund geriet. 58  Allerdings nicht für die Kapitel 20–26 (vgl. EBB, S. 661), denn in Kap. 22 bezieht sich Bloch offensichtlich auf die Thesen »Über den Begriff der Geschichte«, die er 1934 sehr wahrscheinlich nicht kannte, sondern eher für das Kapitel 42 über den »allegorischen Vor-Schein in der Kunst«, wo Bloch Benjamins Barockbuch zitiert (s. Experimentum mundi. In: GA, Bd. 15, S. 202 f.). 59  Zu diesem Kontext s. Gérard Raulet: Wiederkehr der Ideale. Die Ideen von 1789 in Ernst Blochs antifaschistischem Kampf. In: Ernst-Bloch-Almanach 12 (1992), S. 111–130. 60  Alfred Kantorowicz: Politik und Literatur um Exil. München 1983, S. 196.

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1935, nach dem Kongress, hält sich Bloch länger in Frankreich auf, fährt im August nach Sanary, wo sich eine ganze Kolonie von deutschen Intellektuellen befindet – erwähnt werden in seinem Brief vom 13. September an Benjamin Emil Julius Gumbel, Ludwig Marcuse, Lion Feuchtwanger, »mithin auch nichts Anregendes. Dazu eine Menge klatschender Weiber zwischen 30, 40 und mehr. Jüngeres Gemüse scheint hier ausgestorben« (EBB, 663). Über das Jahr 1936, das Bloch in Prag verbringt, ist im Briefwechsel nichts erhalten. Die tschechoslowakische Regierung, zunächst unter Masaryk, dann unter Beneš unterstützte demonstrativ die Emigration: Insgesamt erhielten zwischen 1935 und 1937 fast 900 deutsche Emigranten (darunter die Brüder Heinrich und Thomas Mann) die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft. Dort knüpft Bloch wichtige literarische und politische Kontakte, u. a. mit den Exilkomitees, den Emigrantenvereinen und den neu gegründeten deutschen Verlagen und Exilzeitschriften. Wie er am 30. Januar 1937 an Benjamin schreibt, verbringt er vor allem seine Zeit mit der Ausgestaltung seines Materie-Manuskripts, das aus taktischen lebenswichtigen Gründen die Vorbedingung eines Passes für die nächste Exilstation bildete. Zur Mitarbeit an einem von ihm und Herbert Marcuse geplanten materialistischen Lesebuch hatte Horkheimer Bloch in einem Brief vom 6. Mai 1936 eingeladen. Dem Briefwechsel zwischen Bloch und Horkheimer zufolge wurde noch im September 1937 über einen Vorabdruck eines Bloch-Textes in der Zeitschrift für Sozialforschung verhandelt. Adorno ließ sich Ende 1937 nach Rücksprache mit Horkheimer unverbindlich eine Probe von Blochs Buchmanuskript über das Materialismusproblem schicken. Daraus wurde schließlich nichts.61 Wie aus demselben Brief an Benjamin hervorgeht, hält sich Bloch über die publizistische Tätigkeit seines Freundes auf dem Laufenden – er erwähnt den wichtigen Aufsatz (»Pariser Brief«) André Gide und sein neuer Gegner, in dem Benjamin Gides Bekenntnis zum Kommunismus und die gehässigen Reaktionen, die es auslöste, kommentiert62 und das Ver-

61  Hierzu Raulet: Über eine Materialismusdebatte, die nicht stattfand. 62  Gides Bekehrung galt als exemplarisch. Aragon schrieb in L’Humanité vom 25. Juni 1934: »Son passage aux côtés du prolétariat qui combat pour abattre le capitalisme, c’est le signe du passage au prolétariat de toute la culture que la bourgeoisie laisse échapper de ses mains sanglantes.« Umso härter war Ende 1936 der Schlag von Gides Retour de l’URSS. Der »Pariser Brief« von Benjamin erschien im November 1936, d. h. fast zeitgleich mit Gides Retour de l’URSS. Man kann nicht ausschließen, dass die Erscheinungstermine sich überlappt haben. Entweder hat Benjamin keine Kenntnis von Gides Broschüre gehabt, oder er hat die Erscheinung seines eigenen Aufsatzes nicht zurückhalten können. Die ersten Reaktionen kamen natürlich aus der UdSSR  – in der Pravda vom 3. Dezember hieß es, dass Gide »ein typischer Repräsentant der verfaulenden bürgerlichen Schicht« sei. Die französischen Kommunisten reagierten erst im Januar 1937 – ein Zeichen, dass sie in große Verlegenheit geraten waren bzw. dass sie großen Widersprüchen ausgesetzt waren und dass die Wahl zwischen der Treue zu Moskau und der Notwendigkeit der antifaschistischen Front ihnen besonders schwerfiel. Bei näherer Betrach-

Ernst Bloch und Walter Benjamin

sagen der deutschen Kritik beklagt, die »unverzeihlicherweise […] vor 1930 es unterlassen [hat], den Ideologien eines Gottfried Benn oder eines Arnolt Bronnen die nötige Aufmerksamkeit zuzuwenden«.63 Gides »neuer Gegner« ist der rechte Denker Thierry Maulnier64, dessen Mythes socialistes (1936), wo er zu Gides Nouvelles pages de journal (ebenfalls 1936) Stellung nimmt, Benjamin zum Anlass nimmt, seine »Standortsbestimmung« der französischen Intellektuellen zu revidieren und zu radikalisieren. Er gliedert sie jetzt einfach in drei Lager: das bürgerliche bzw. kleinbürgerliche Schrifttum, die großbürgerliche und die proletarische Denkweise. Wenn auch auf eigene Weise (das ist das Anliegen dieses Pariser Briefs wie auch des Kunstwerk-Essays) bekennt er sich natürlich zu Letzterer, weil die Krise der Intelligenz Teil einer allgemeineren Krise ist, die sich aus der Entwicklung der Produktivkräfte ergibt, »unter denen neben dem Proletariat die Technik steht«.65 Anders ausgedrückt: Die neue Phase der Entwicklung der technischen Produktivkräfte hat eine Reorganisation des soziologischen Spektrums zur Folge, die die Literatur vor ihre Verantwortung stellt. Ich »bemühe mich, schreibt Bloch, wie wir alle, ein Brennspiegel zu sein« (EBB, 664). Das war er zweifelsohne, nachdem Erbschaft dieser Zeit zu rechter Zeit in das Forum der politischen Debatten hereingestürzt und – entgegen Benjamins Urteil, das ihm diese Fähigkeit abgesprochen hatte –

tung war es sogar eine Reaktion a minima, für welche kennzeichnenderweise vor allem die »linken Intellektuellen« federführend waren: Romain Rolland kennzeichnete Gides Text als »livre médiocre, étonamment pauvre, superficiel, puéril et contradictoire« (L’Humanité, 18.1.1937), in Commune warf André Wurmser Gide seinen »Mangel an Geduld« vor: »Brisez cette solidarité, séparez le prolétariat mondial de celui de l’URSS, et tout est permis au fascisme.« Wenn man zwischen den Zeilen liest, bedeuten diese Reaktionen: Gide hat als »Literat« bzw. »Dichter« gesprochen, er war nicht kompetent, um über wirtschaftliche oder soziale Fragen zu urteilen. So der Wirtschaftswissenschaftler Georges Friedmann. Gide nahm die Vorwürfe ernst und versuchte seine Beobachtungen »wissenschaftlich« zu belegen, indem er sich auf die Studie von Walter Citrine À la recherche de la vérité en URSS bezog, die dieser zusammen mit dem Syndikalisten Kleber Legay durchgeführt hatte. Er zog auch die Zeugnisse des Arbeiters Yvon heran, der 11 Jahre in der UdSSR verbracht hatte, und von Victor Serge, dem Biografen von Trotzki, dessen Buch Le destin d’une révolution 1937 erschien. Er geriet so in das Auge des Orkans – des Konflikts zwischen Stalinisten und Trotzkisten. Im Juni 1937 erschienen seine Retouches à mon retour de l’URSS. 63  GS III, S. 485. Ein Vorwurf, den man ihm selbst nicht machen kann, hat er sich doch bereits 1930 mit der von Ernst Jünger herausgegebenen Sammelschrift Krieg und Krieger und mit dem Dichter als Führer in der deutschen Klassik von Max Kommerell auseinandergesetzt. Vgl. hierzu Brief an Scholem vom 14. Juni 1930. 64  Zu Maulnier vgl. die Anmerkung der Herausgeber der Gesammelten Briefe: »Der Schriftsteller Thierry Maulnier (eigentlich: Jacques Talagrand; 1909–1988) kam von der ›Action française‹ her und wird von Benjamin wegen seines Antikommunismus nicht zu Unrecht als Faschist bezeichnet; nach der Befreiung wandelte er sich zum ›Atlantik‹ und wurde 1964 Mitglied der Académie française« (EBB V, S. 363). 65  Pariser Brief I. André Gide und sein neuer Gegner, GS III, S. 490.

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gerade in der Moskauer Exilzeitschrift Internationale Literatur in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzungen geraten war. Während Benjamin ihn zur politischen Klärung aufforderte, gibt er jetzt den politischen Takt an: Nachdem Benjamin endlich sein Fuchs-Pensum abgeschlossen hat, ermutigt er ihn, zu der Neuen Weltbühne beizutragen – »Die Tucholsky-Zeiten sind gottlob dort völlig aus. […] Die politische Linie dort ist richtig« (EBB, 665). Bloch meint hier den klaren roten Kurs (»Roter Faden roter Politik selbstverständlich«), allerdings in den Grenzen und unter den Bedingungen der gemeinsamen antifaschistischen Volksfront mit der bürgerlichen Intelligenz (»andere Dämpfungen als die, welche im Rahmen der Front populaire entstehen, nicht notwendig«, EBB, 666). Benjamin könne in der Neuen Weltbühne genau dasselbe veröffentlichen wie in Das Wort (EBB, 668). Die in Paris gegründete literarische Monatsschrift Das Wort erschien von Juli 1936 bis März 1939 in Moskau. Herausgeber waren Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger und Willi Bredel. Im Wort haben sowohl Ernst Bloch als auch Walter Benjamin neben u. a. Johannes R. Becher, Alfred Döblin, Stefan Heym, Heinrich, Klaus und Thomas Mann publiziert. Die Redaktion zeigte sich, ganz im Sinn der antifaschistischen Volksfront, sehr offen. Ende 1936 wollte man sogar Ludwig Marcuse, der nicht nur kein Marxist war, sondern sogar antimarxistische Positionen vertrat, mit der Moskauer Redaktionsführung betrauen, als Willi Bredel als Kommissar des Thälmann-Bataillons nach Spanien ging, um an der Seite der Republikaner zu kämpfen. Bloch spielt wahrscheinlich nicht nur auf die kurze und wenig erfolgreiche Tucholsky-Herausgeberschaft an, die ja schon seit sieben Jahren vorbei ist.66 Seine Bemerkung bezieht sich viel eher auf die stürmischen Kurswechsel, die Die neue Weltbühne im Exil durchmachte. Ab März 1934 hatte der Wirtschaftsjournalist Hermann Budzislawski die Redaktion in Prag übernommen. Als die Zeitschrift Pleite ging, gelang es ihm im August 1936, sich gegen die anderen potenziellen Käufer durchzusetzen, obwohl er über keine finanziellen Rücklagen verfügte. Unklar ist, ob Budzislawski, wie ihm vorgeworfen wurde, lediglich als kommunistischer Agent agierte; neuere Forschungen haben dies nach Sichtung des Redaktionsarchivs bestritten. Festzuhalten ist, dass Budzislawski ein entschiedener Hitler-Gegner war und dass unter seiner Herausgeberschaft das Blatt der Linie der KPD und der Kommunistischen Internationale folgte. Nach Moskau emigrierte deutsche Kommunisten wie Walter Ulbricht und Franz Dahlem fanden in ihm

66  Kurt Tucholsky übernahm im Dezember 1926 die Leitung der Weltbühne und gab sie schon im Mai 1927 an Carl von Ossietzky weiter, nachdem sich gezeigt hatte, dass ihm die Position des »Oberschriftleitungsherausgeber[s]« – wie er sie spöttisch bezeichnete – nicht behagte. Ossietzky leitete das Blatt bis 1933 »unter der Mitarbeit von Kurt Tucholsky«. Nach dem Reichstagsbrand wurde es von den Nationalsozialisten verboten; es erschien am 7. März 1933 zum letzten Mal.

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ein Forum. Kurt Hiller, seit 1915 Mitarbeiter der Weltbühne, appellierte 1937 an Budzislawski, die charakteristische Ausgewogenheit und Freizügigkeit der Zeitschrift wiederherzustellen. Dieser vermied es nämlich, über die so genannten Stalin’schen Säuberungen zu berichten, die gerade zwischen 1936 und 1938 stattfanden. Das ist die Kehrseite der gemeinsamen Front der antifaschistischen Bewegung mit der UdSSR und berührt ein schwieriges Kapitel in Blochs Biografie.67 Die Alternative war allem Anschein nach klar: Faschismus oder Sowjetunion. Darum kreisten alle Debatten unter den Emigranten und insbesondere im Rahmen des in Paris neugegründeten Schutzverbands deutscher Schriftsteller. Indem er sein nachdrückliches Bekenntnis zur sowjetischen Linie und eine aktive Beteiligung an der gemeinsamen Front mit »bürgerlichen« Intellektuellen verbindet, erweist sich Bloch als repräsentativ für das Verhalten vieler linker Intellektuellen. An dem Moskauer Schriftstellerkongress, auf dem 1934 der Aufruf zur gemeinsamen Front verkündet worden war, hatten auch nichtkommunistische Autoren teilgenommen. »Man ist sehr auf Sympathisierende aus«, fasste Klaus Mann in einem Brief die Situation zusammen. Bloch stand ganz auf dieser Linie und bemühte sich in seinem Aufsatz Thomas Manns Manifest (September 1937)68 Thomas Manns Geleitwort zu der neuen Zeitschrift Maß und Wert69 und die Losung der »konservativen Revolution« als eine Verteidigung des revolutionären Potenzials der bürgerlichen Werte zu deuten.70 Werden doch in Zeiten eines allgemeinen Umbruchs und Zusammenbruchs der Werte alle »konservativ« und der Konservativismus zugleich revolutionär, wenn er gegen die um sich greifende Pest die unveräußerlichen und uneingelösten Ideale verteidigt. In dem letzten erhaltenen Brief an Benjamin, am 26.4.1937, bedankt sich Bloch für die 1936 in der Schweiz erschienene Briefsammlung Deutsche Menschen, die gerade als ein Monument humanistischer Auf klärung bezeichnet

67  Siehe hierzu die Rezension von Blochs politischen Essays Politische Messungen – Pestzeit, Vormärz (Frankfurt / Main 1970) in der Frankfurter Rundschau vom 12.12.1970 und das Nachwort von Oskar Negt zur neuen Ausgabe des politischen Essays aus den Jahren 1934–1939 unter dem Titel Vom Hasard zur Katastrophe (Frankfurt / Main 1972), insb. S. 429–436. 68  Ernst Bloch: Thomas Manns Manifest. In: Ders.: Vom Hasard zur Katastrophe. Frankfurt / Main 1972, S. 250–261. 69  Die von Thomas Mann lancierte Zweimonatsschrift für freie deutsche Kultur erschien von September 1937 bis Oktober 1940 in Zürich im Verlag von Emil Oprecht, der sich ab November 1939 an der Redaktion direkt beteiligte. Zu ihren Mitarbeitern haben gezählt: Walter Benjamin, Ernst Bloch, Hermann Broch, Max Brod, Alfred Döblin, Alfred Einstein, Bruno Frank, A. M. Frey, Martin Gumpert, Hermann Hesse, Ödön von Horváth, Georg Kaiser, Annette Kolb, Federico García Lorca, Heinrich Mann, Klaus Mann, Hans Mayer, Robert Musil, Ignazio Silone, Hermann Rauschning, Curt Riess, Jean-Paul Sartre, René Schickele, Jakob Wassermann und andere noch. 70  Vgl. Raulet: Wiederkehr der Ideale, S. 123–125.

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werden kann, und er ermutigt Benjamin, für Thomas Manns Zeitschrift Maß und Wert, der er sich selbst angeschlossen hat, Beiträge zu unterbreiten. Hier hört der überlieferte Briefwechsel zwischen Bloch und Benjamin auf. Mehrmals fragt Benjamin 1938 und 1939 in Briefen an Theodor und Gretel Adorno nach Bloch, der es doch Mitte Juli 1938 hinüber nach New York geschafft hat. »Ist es wahr, daß Ernst Bloch, wie mir zu Ohren gekommen ist, in New-York ist? Berichte mir, falls das wahr sein sollte – und grüße ihn« (aus Skovsbostand an Gretel Adorno, 20.7.1938).

Isolde Schiffermüller

Franz Kafka in der Korrespondenz Walter Benjamins Zum Brief als Laboratorium des Denkens

Der Reflexionsraum der Korrespondenz In seinen Anmerkungen zur Briefsammlung Deutsche Menschen notiert Walter Benjamin: »Es ist das Eigentümliche der brieflichen Äußerung, auf Sachliches nie anders als in der engsten Bindung an Persönliches hinzuweisen.«1 Was dies für den Brief als Laboratorium modernen Denkens bedeuten kann, soll hier am Beispiel der Korrespondenz Benjamins zum Werk von Franz Kafka erörtert werden. Dieser Briefwechsel mit Gerhard Scholem, Theodor W. Adorno und mit dem Bibliothekar und Schriftsteller Werner Kraft findet in den frühen 1930er Jahren statt und begleitet die Genese des großen Kafka-Essays, den Benjamin 1934 zum 10. Todestag Kaf kas in der Jüdischen Rundschau publizierte; er stellt nicht nur die erste kritische Debatte zu Kafkas Werk dar, sondern ist Teil einer umfassenderen und schwierigen Standortbestimmung zwischen jüdischer Theologie und Marxismus, die Benjamin in den 1930er Jahren beschäftigt hat. Hans Mayer spricht in Bezug auf diese Korrespondenz von einem »Brief-Symposion«,2 mit den Teilnehmern Scholem, Adorno und Kraft, aber auch Bertolt Brecht, der mehrmals indirekt zu Wort kommt. Im Medium des Briefs wird hier ein Spannungsfeld von zeittypischen Debatten entfaltet, aus dem Benjamins charakteristisches Denken in Konstellationen hervorgeht. Von besonderem Interesse ist dabei, wie der Emigrant seinen prekären Ort in der »geistigen Konstellation«3 der Epoche zu bestimmen sucht, wobei ihm Kaf ka als Identifikationsfigur dient, die auch das eigene Scheitern in die Überlegung miteinbezieht. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die Rolle der Briefe in der Genese dieses Denkens, das scheinbar unvereinbare ideologische Positionen zusammenbringt, sie miteinander verschränkt und ihre Aporien im Medium der Korrespondenz austrägt. Deutlich werden soll die spezifische Komplexität

1  Walter Benjamin: Werke und Nachlass. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 10: Deutsche Menschen. Hrsg. v. Momme Brodersen. Frankfurt / Main 2008, S. 115. 2  Hans Mayer: Walter Benjamin und Franz Kafka. Bericht über eine Konstellation. In: Literatur und Kritik 140 (1979), S. 579–597, hier S. 579. 3  Ebd.

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dieser Reflexion, die sich nicht nur vor der abstrakten Vernunft, sondern vor der Erfahrung und der persönlichen Beziehung mit dem Briefpartner verantworten will. Benjamin war zeitlebens ein geradezu leidenschaftlicher Leser und Schreiber von Briefen,4 und dies gerade auch in der Zeit der Emigration und des Exils, in der die geografischen Grenzen den Transport der Post verzögern konnten und die Briefe weite Distanzen in einer politisch zerrissenen und gefährdeten Welt zu überbrücken hatten. Nicht zufällig hat Adorno dem Briefschreiber Benjamin einen eigenen Essay mit dem Titel Benjamin, der Briefschreiber gewidmet: die Unmittelbarkeit des Lebens und der privaten Haltung – so heißt es dort – breche sich im Ritual einer Korrespondenz, das bis »ins typographische Bild hinein, ja bis in die Wahl des Papiers« reiche.5 Adorno zeigt an der Haltung Benjamins die anmutige Höflichkeit auf, sein Gefühl für Form und Distanz im individuellen Umgang, seine Fähigkeit zur Integration der Alterität, er betont allerdings auch – mit der ihm eigenen luziden Negativität – das Anachronistische, das Benjamins Briefen in seinen Augen eignet: »Die Form des Briefs ist anachronistisch und begann es schon zu seinen Lebzeiten zu werden« – und weiter: »Subjektiv aber sind die Menschen, im Zeitalter des Zerfalls der Erfahrung, zum Briefschreiben nicht mehr aufgelegt.«6 Ohne diese Einsicht ganz bestreiten zu wollen, stellt sich dennoch die Frage, ob sich von dem, was damals möglich war, noch etwas in die Zukunft retten lässt. Letztlich geht es dabei um den Raum einer Korrespondenz, in dem eine Osmose zwischen Öffentlichem und Privatem, zwischen Eigenem und Fremdem möglich ist, allgemeiner auch um die Frage nach einem politischen und kulturellen Reflexionsraum, in dem sich der Gedanke nicht abstrahiert von der Verfassung und Haltung des Individuums und sich nicht gleich objektivieren will zum unpersönlichen theoretischen Diskurs, wie dies in der heutigen Fabrikation des Wissens und seiner medialen Vernetzung meist der Fall ist.

4  Vgl. Momme Brodersens Nachwort zu: Benjamin: Deutsche Menschen, S. 479. 5  Theodor W. Adorno: Benjamin, der Briefschreiber. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt / Main 1981, S. 583–590, hier S. 584. 6  Ebd, S. 586.

Franz Kafka in der Korrespondenz Walter Benjamins

Das Briefgeheimnis: Die Freundschaft zwischen Benjamin und Scholem Entscheidend für den Briefschreiber Benjamin war die Freundschaft mit Gershom bzw. Gerhard Scholem, dem er etwa 300 Briefe schickte, die meisten nach dessen Auswanderung nach Palästina im Jahr 1923.7 Diese Freundschaft steht auch am Beginn von Benjamins Beschäftigung mit dem Werk von Franz Kaf ka. In einem Brief vom Juli 1925 an Scholem erwähnt Benjamin erstmals Kaf ka, genauer die Parabel Vor dem Gesetz,8 die zentral sein wird für Scholems Auslegung, aber erst zwei Jahre später, im November 1927, berichtet er von der Arbeit an einem Artikel zum Roman Der Prozeß, zu dem er sich Aufzeichnungen mache.9 Wie aus den ersten Notizen hervorgeht, sollte diese Arbeit, die von der Bildwelt Kaf kas ausgeht, nicht nur komplexe Sinnschichten, die vom Traum bis zur Theologie reichen, umfassen, sie will auch die theologischen Kategorien von ›Aufschub‹ und ›Gericht‹ an Kafkas Werk erproben.10 Benjamin bindet dabei seine persönliche Auseinandersetzung mit der jüdischen Theologie explizit an die Freundschaft mit Scholem: »Die Arbeit ist Gerhard Scholem zu widmen«,11 so wird schon im ersten Satz vermerkt. 1929 erscheint dann Benjamins Artikel mit dem Titel Kavaliersmoral,12 in dem eine erste Einschätzung von Kafkas Werk enthalten ist: Kafkas Werk, in dem es um die dunkelsten Anliegen des menschlichen Lebens geht (Anliegen, deren je und je sich Theologen und selten so wie es Kafka getan hat, Dichter angenommen haben), hat seine dichterische Größe eben daher, daß

  7  Vgl. Gershom Scholem: Walter Benjamin  – Die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt / Main 1975.   8  An Gershom Scholem, Berlin 21.7.1925. In: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Band III: 1925–1930. Hrsg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt / Main 1997, S. 64. Vgl. Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen. Frankfurt / Main 1981, S. 63.   9  An Gershom Scholem, Berlin 18.11.1927. In: Benjamin: Gesammelte Briefe. Band III, S. 303. 10  Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 113–114. 11  Ebd., S. 113. Scholem nennt später als erstes Zeugnis von Benjamins Auseinandersetzung mit Kaf ka eine Aufzeichnung unter dem Titel »Idee eines Mysteriums«, in der über das Ausbleiben des verheißenen Messias reflektiert wird (vgl. Scholem: Benjamin  – Die Geschichte einer Freundschaft, S. 180–181), ebenfalls in Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 115. 12  Es handelt sich um einen polemischen Artikel gegen Ehm Welk, der Max Brod wegen der Publikation von Kaf kas Nachlass und der Verletzung von Kafkas Testament angegriffen hatte. Walter Benjamin: Kavaliersmoral. In: Die literarische Welt 3/43, 25.10.1929, zit. in Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 47–48.

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es dieses theologische Geheimnis ganz in sich selbst trägt, nach außen aber unscheinbar und schlicht und nüchtern auftritt.13

Das theologische Geheimnis, das sich in Kafkas Werk verbirgt, steht dann auch weiter im Zentrum des Briefwechsels mit Scholem, der wiederholt und vergeblich versucht, Benjamin für die Sache des Zionismus zu gewinnen. In der Post, die von Berlin nach Jerusalem und zurück geht, steht eine jüdische Identität auf dem Spiel, die sich zunehmend auch physisch bedroht sieht von den politischen Ereignissen. In einem Brief vom Februar 1930 verlangt Scholem schließlich – als Anwalt der jüdischen Tradition – eine klare Stellungnahme von Benjamin und bemerkt mit kritischem Unterton, eine Begegnung mit dem Judentum sei für diesen nur auf das Element ihrer Freundschaft beschränkt. Benjamin antwortet ihm erst rund zwei Monate später, mit betont affirmativem Gestus: Lebendiges Judentum habe ich in durchaus keiner anderen Gestalt kennen gelernt als in Dir. Die Frage, wie ich zum Judentum stehe, ist immer die Frage wie ich – ich will nicht sagen zu Dir (denn meine Freundschaft wird hier von keiner Entscheidung mehr abhängen) – zu den Kräften, die Du in mir berührt hast, mich verhalte.14

Benjamin bindet sein jüdisches Selbstverständnis also sehr bewusst an die Beziehung zum Briefpartner und artikuliert es als ein Briefgeheimnis, das sich in der Korrespondenz mit dem Freund zugleich verbirgt und verrät. Scholem wird in seiner Geschichte einer Freundschaft wiederholt das Janusgesicht Benjamins erinnern, das sich ihm dabei zeigte und das in der Auseinandersetzung zu Kafka klare Konturen angenommen habe: »Die eine Seite bot sich Brecht dar«, so schreibt er dazu, »die andere mir«.15 Damit ist schon die Konstellation bezeichnet, die Benjamins Korrespondenz zu Kafka zugrunde liegt: die Freundschaftsbriefe mit Scholem und die Gespräche mit Brecht, d. h. das Zusammendenken von scheinbar unvereinbaren Positionen, genauer von Marxismus und Theologie. Benjamins sogenannte Kehre zum dialektischen Materialismus musste Scholem nicht nur als Ambivalenz oder Unentschiedenheit empfinden, sondern auch als Verrat des Briefgeheimnisses.16 In der großen brieflichen Debatte vom Frühjahr 1931 zieht sich der Vorwurf der Zweideutigkeit leitmotivisch durch die Briefe Scholems, der in

13  Benjamin: Kavaliersmoral, S. 47. 14  An Gershom Scholem, Berlin 25.4.1930. In: Benjamin: Gesammelte Briefe. Band III, S. 520. 15  Scholem: Benjamin – Die Geschichte einer Freundschaft, S. 246. 16  Benjamins Freundschaft mit Brecht wurde nicht nur von Scholem, sondern auch von Adorno und Horkheimer mit Argwohn betrachtet, während Hannah Arendt bekanntlich das

Franz Kafka in der Korrespondenz Walter Benjamins

der »kommunistischen Phraseologie« einen »intensiven Selbstbetrug« des Freundes sieht und wiederholt Benjamins Schweigen dazu herausfordert: »Ich warte immer auf Briefe von Dir, die nicht kommen. Vielleicht setzt dieser hier Deine Füllfeder in und sei es wenigstens polemische Rotation.«17 Benjamins Antwort lautet schließlich wie folgt: Es ist mir ebenso unmöglich, Deinen großen Brief heute schon zu beantworten als Dir den Empfang noch länger unbestätigt zu lassen. Ich bewundere die Generosität, die aus seiner handschriftlichen Abfassung spricht; sie sagt mir, daß Du nicht einmal eine Abschrift dieses Dokuments Dir gesichert hast. Desto sorgsamer wird es bei mir nun verwahrt werden.18

Deutlich spricht aus diesen Zeilen Benjamins Anliegen, den Brief der polemischen Debatte zu entziehen, eine Sorge, die sich auch später im Exil zeigt, als sich Scholems Kritik am »kommunistischen Credo« verschärft und Benjamin ihm am 6. Mai 1934 aus Paris schreibt: »Aus Erfahrung wissen wir beide, welche Behutsamkeit der bedeutsame Briefwechsel fordert, den wir einer jahrelangen Trennung abringen. Diese Behutsamkeit schließt keineswegs aus, dass schwierige Fragen berührt werden. Aber das können sie doch nur als persönlichste«. Und weiter: »Du zwingst mich, es auszusprechen, dass jene Alternativen, die offenkundig Deiner Besorgnis zu Grunde liegen, für mich nicht einen Schatten von Lebenskraft besitzen.«19 Benjamins Briefwechsel – so lässt sich verallgemeinernd feststellen – formuliert die großen politischen und philosophischen Fragen als persönlichste Anliegen, andererseits kommen darin rein persönliche Probleme oder private Fakten kaum zu Wort. Der Raum der privaten Mitteilung öffnet sich vielmehr immer wieder hin auf eine potenzielle Öffentlichkeit. Auffällig ist dabei auch eine eigentümliche Tendenz zur ›Triangulierung‹ der Korrespondenz, in die immer wieder Mitadressaten des Briefpartners einbezogen werden. Benjamin lässt beispielsweise Scholem Kopien seiner Briefe an Brecht zukommen, oder er lässt Bloch Adornos Briefe lesen und schreibt diesem darüber, eine Vernetzung der Korrespondenz, in der schon die Durchlässigkeit des Mediums Brief zur Form des Essays vorgeprägt ist.

Exemplarische dieser Beziehung hervorgehoben hat. Vgl. Hannah Arendt: Walter Benjamin-Bertolt Brecht. Zwei Essays. München 1971. 17  Scholem an Benjamin aus Jericho, 30.3.1931, abgedruckt in: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Band IV: 1931–1934. Hrsg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt / Main 1998, S. 30. 18  An Gershom Scholem, Berlin, 17.4.1931. In: Ebd., S. 23. 19  An Gershom Scholem, Paris, 6.5.1934. In: Ebd., S. 408–409.

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Kreuzweg: Benjamin, Scholem und Brecht 1931 beginnt dann die eigentliche Auseinandersetzung zu Kaf ka als ein Dialog von drei Stimmen: Benjamin, Scholem und Brecht. Anlass ist die Anzeige des Kafka’schen Nachlassbandes Beim Bau der Chinesischen Mauer, die Benjamin als Rundfunkvortrag am 3. Juli 1931 hält.20 Unmittelbar vorausgegangen sind dem Vortrag die Gespräche mit Brecht in Le Lavandou, zu denen sich Benjamin ausführliche Aufzeichnungen im Tagebuch macht. In der Eintragung vom 6. Juni 1931 etwa heißt es: »Brecht sieht in Kafka einen prophetischen Schriftsteller«; Kaf kas Haltung sei das Staunen vor den »Entstellungen des Daseins«, daher wolle Brecht ihn als den »einzig echten bolschewistischen Schriftsteller gelten lassen«,21 wobei freilich die Lehre bei Kafka nirgends ausgesprochen sei. Das Gespräch mit Brecht hinterlässt in Benjamins Kaf ka-Vortrag klare Spuren. Dessen Aufmerksamkeit liegt auf den Seltsamkeiten und Symptomen der Entfremdung in Kaf kas Werk, das sich nicht eindeutig interpretieren und theologisch abfertigen lasse, das vielmehr aus der Mitte der Bildwelt heraus erfasst werden müsse, denn nur so könne der Kommentar dem prophetischen Charakter von Kaf kas Werk gerecht werden. Benjamins Intuition einer rettenden Kritik wird sich im folgenden Briefwechsel mit Scholem schrittweise konsolidieren, wobei die singuläre Mäeutik eines häretischen Denkens lesbar wird, das immer wieder die Konfrontation mit der jüdischen Theologie sucht, um sich davon abzusetzen. Auf den ersten Ratschlag des Freundes, »jede Untersuchung über Kafka vom Buche Hiob aus zu beginnen (oder zum mindesten von einer Erörterung über die Möglichkeit des Gottesurteils)«,22 reagiert Benjamin allerdings ebenso verzögert wie zögerlich, wenn er vage von »korrespondierende[n] Gedanken«23 spricht. Typisch sind diese langen Schweigepausen, in denen sich Benjamin immer wieder dem Vorwurf der Zweideutigkeit und Geheimniskrämerei aussetzen muss, um die Aporien offen zu halten und einen Freiraum des Schreibens zu verteidigen, den er zunehmend bedroht sieht. Kurz vor seiner

20  Walter Benjamin: Beim Bau der Chinesischen Mauer. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band II. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt / Main 1977, S. 676–683. Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 58. 21  Ebd., S. 130–132, hier S. 130 f. 22  Scholem an Benjamin, Jerusalem 1.8.1931. In: Ebd., S. 65. Scholem begründet den Ratschlag wie folgt: »so gnadenlos wie hier brannte noch nie das Licht der Offenbarung. Das ist das theologische Geheimnis der vollkommenen Prosa. Jener überwältigende Satz, dass es sich beim jüngsten Gericht eher um ein Standrecht handle, stammt ja, wenn ich nicht irre, von Kafka selbst« (ebd). 23  An Gershom Scholem, Berlin, 3.10.1931. In: Benjamin: Gesammelte Briefe. Band IV, S. 56. Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 65.

Franz Kafka in der Korrespondenz Walter Benjamins

Emigration am 17. März 1933 teilt Benjamin Scholem in einem Brief vom 28. Februar 1933 mit, »dass die Luft kaum mehr zu atmen ist«24, und erwähnt im Postscriptum, dass sein Kafka-Essay immer noch ungeschrieben sei. Er bittet nun explizit um einen »palästinensischen«25 Auftrag, da dieser kaum mehr aus Deutschland kommen kann. Scholems Antwort bleibt lange aus. Erst im folgenden Jahr, am 19. April 1934, kommt ein Brief aus Jerusalem, in dem Scholem den Auftrag eines Essays über Kafka in der Jüdischen Rundschau an die ausdrückliche Forderung bindet: »Du wirst dabei aber einer auch expliziten und formulierten Beziehung aufs Judentum Dich nicht gut entziehen können.«26 Die Insistenz, mit der Benjamin in weiteren Briefen an Scholem um ›Fingerzeige‹ zu Kaf kas Judentum bittet, beweist nicht nur, dass er sich diesem Auftrag keineswegs entziehen will, sie macht auch deutlich, wie eng die ›Lebenskraft‹ der jüdischen Theologie für ihn an die Beziehung zum Briefpartner gebunden ist. Nach wiederholten erfolglosen Bitten schreibt er schließlich an Scholem in einem Brief vom 9. Juli 1934 aus Svendborg: »Mittelbar ist diese Arbeit durch dich veranlaßt; ich sehe keinen Gegenstand, in dem unsere Kommunikation näher liegend wäre. Und mir scheint, daß du meine Bitte nicht abschlagen kannst.«27 Benjamins Kaf ka-Essay entsteht im Mai und Juni 1934.28 Er stellt sicherlich eines der wichtigsten Zeugnisse für Benjamins figuratives Denken dar, das sich im Spannungsfeld der Korrespondenz entfaltet. Benjamin liest darin Kafkas Werk als einen »Kodex von Gesten«, die auch »für den Verfasser« keineswegs »eine sichere symbolische Bedeutung haben, vielmehr in immer wieder anderen Zusammenhängen und Versuchsanordnungen um eine solche angegangen werden«.29 Die Formulierung verrät die Affinität zum epischen Theater und die Auseinandersetzung mit Bertolt Brecht. Scholem reagiert mit Unverständnis auf Benjamins »Ausschaltung der Theologie« und legt seinem Brief vom Juli 1934 ein langes theologisches Lehrgedicht bei. Zitiert werden soll hier nur die erste Strophe, die den Grundgedanken des Gedichts vorstellt:

24  An Gershom Scholem, Berlin, 28.2.1933. In: Benjamin: Gesammelte Briefe. Band IV, S. 162. 25  Ebd, S. 164. 26  Walter Benjamin, Gershom Scholem: Briefwechsel 1933–1940. Frankfurt / Main 1980, S. 134. Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 69. 27  An Gershom Scholem, Skovsbostrand, 9.7.1934. In: Benjamin: Gesammelte Briefe. Band IV, S. 454. Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 71. 28  Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Band II. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt / Main 1977, S. 409–438. Der Essay erscheint in zwei Abschnitten in der Jüdischen Rundschau vom 21. und 28. Dezember 1934, Jg. 39, Nr. 102, 103, 104. Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 9–38. 29  Ebd., S. 18.

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Sind wir ganz von dir geschieden? Ist uns, Gott, in solcher Nacht Nicht ein Hauch von deinem Frieden, deiner Botschaft zugedacht?30

In einem weiteren Brief vom 17. Juli 1934 erläutert Scholem dann den Kerngedanken des Gedichts: »Die Welt Kaf kas ist die Welt der Offenbarung, freilich in jener Perspektive, in der sie auf ihr Nichts zurückgeführt wird.«31 Walter Benjamin antwortet zunächst ausweichend auf Scholems theologische Reime, seit Jahren habe er »die Grenzen, die uns zur Zeit durch die aufs Schriftliche beschränkte Kommunikation auferlegt sind, nicht mit so großem Ungenügen empfunden wie hier«. Er könne »unter Verzicht auf die mannigfachen Experimente der Formulierung, die nur das Gespräch ermöglicht«, kaum »etwas Entscheidendes über das Gedicht sagen«.32 Dann aber, am 11. August 1934, sendet er einen langen Brief, in dem er die Kontroverse mit dem Freund in klaren Hauptpunkten auflistet. Der erste Punkt bezeichnet den jeweiligen Ausgangspunkt der unterschiedlichen Kaf ka-­ Interpretationen: 1. Das Verhältnis meiner Arbeit zu deinem Gedicht möchte ich versuchsweise so fassen: du gehst vom ›Nichts der Offenbarung‹ aus, von der heilsgeschichtlichen Perspektive des anberaumten Prozeßverfahrens. Ich gehe von der kleinen widersinnigen Hoffnung sowie den Kreaturen, denen einerseits diese Hoffnung gilt, in welchen andererseits dieser Widersinn sich spiegelt, aus.33

Die insgesamt sieben Punkte, in denen Benjamin sein Verhältnis zu Scholems theologischer Kafka-Interpretation zusammenfasst, zeigen eindrucksvoll, wie sich Benjamins häretisches Denken in der Konfrontation mit dem Briefpartner konsolidiert und legitimiert. Die Spannungspole der geistigen Konstellation, zwischen denen sich dieses Denken bewegt, werden dabei keineswegs dialektisch aufgehoben. Benjamin spricht dagegen in einem Brief vom 15. September 1934 an Scholem die Hoffnung aus, seine Arbeit zu Kaf ka sowie die »brieflichen Glossen« dazu hätten greifbar gemacht,

30  Benjamin, Scholem: Briefwechsel 1933–1940, S. 154. Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 72. 31  Benjamin, Scholem: Briefwechsel 1933–1940, S. 157. Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 74. 32  An Gershom Scholem, Skovbostrand, 20.7.1934. In: Benjamin: Gesammelte Briefe. Band IV, S. 459. Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 76. 33  An Gershom Scholem, Skovsbostrand, 11.8.1934. In: Benjamin: Gesammelte Briefe. Band IV, S. 478. Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 77–78.

Franz Kafka in der Korrespondenz Walter Benjamins

»daß gerade dieser Gegenstand alle Eignung hat, sich als Kreuzweg der Wege meines Denkens herauszustellen.«34 Die Metapher des Kreuzwegs – zwischen Marxismus und jüdischer Mystik – zeigt auf eine Spannung und Passion der Aporien, die im Briefwechsel immer wieder angesprochen wird: Ob ich den Bogen jemals so werde spannen können, daß der Pfeil abschnellt, ist natürlich dahingestellt. Während aber meine sonstigen Arbeiten recht bald den Terminus gefunden hatten, an dem ich von ihnen schied, werde ich es mit dieser länger zu tun haben. Warum, deutet das Bild vom Bogen an: hier habe ich es mit zwei Enden zugleich zu tun, nämlich dem politischen und dem mystischen.35

So schreibt er etwa am 17. Oktober 1934 an Scholem. Den Spannungsbogen seines Denkens erprobte Benjamin an »zwei Enden«, nämlich in der Kontroverse mit Scholem und in der gleichzeitigen Konfrontation mit Brecht. Im Zentrum der Gespräche mit Brecht vom Sommer 1934 stand dessen Kritik an der mangelnden Transparenz von Kaf kas Parabel. Nach Brecht ist Kaf ka ein Visionär der Entfremdung, der aus seinem Angsttraum nicht erwachen kann, letztlich ein Gescheiterter, weder Dichter noch Prophet, da ihm der Übergang in die Lehre misslingt. Benjamin bestreitet dieses Scheitern nicht, er beurteilt es jedoch unter völlig anderen Vorzeichen. Was für Brecht bloße Geheimniskrämerei ist, ist für ihn emblematisch und notwendig. Ende August 1934 wird schließlich eine erregte Debatte stattfinden, in der Brecht Benjamin beschuldigt, »daß er dem jüdischen Faszismus Vorschub leiste«,36 eine Anschuldigung, mit der sich Benjamin detailliert in seinem Tagebuch vom 31. August auseinandersetzt, um seinen ›Kreuzweg‹ zu motivieren.

Klangfigur: Zur Form des Denkens Benjamins Korrespondenz zu Franz Kaf ka liest sich, so sollte deutlich werden, als Vehikel eines kontroversen und komplexen Denkens. Dieser Briefwechsel bezeugt allerdings auch immer wieder die drohende Entfremdung zwischen Wissen und Erfahrung, eine Gefahr, die sich im Besonderen in der

34  An Gershom Scholem, Skovskostrand, 15.9.1934. In: Benjamin; Gesammelte Briefe. Band IV, S. 497. Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 80. 35  An Gershom Scholem, Skovskostrand, 17.10.1934. In: Benjamin: Gesammelte Briefe. Band IV, S. 514. Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 82–83. 36  Walter Benjamin: Versuche über Brecht. Hrsg. und mit einem Nachwort von Rolf Tiedemann. Frankfurt / Main 1975, S. 123. Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 152.

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Korrespondenz mit Werner Kraft und Theodor W. Adorno zeigt. Ende Juli 1934 schreibt Benjamin an den früheren Freund Werner Kraft, um ihm die Zusendung seines Kaf ka-Essays anzukündigen. Er erwähnt dabei das theologische Lehrgedicht Scholems und die Gespräche mit Brecht und umreißt kurz die Konstellation, die der Genese des Essays zugrunde liegt: Den äußeren Anlaß dazu bietet die Korrespondenz mit Scholem, der begonnen hat, sich mit mir über diese Arbeit auseinanderzusetzen. Diese Überlegungen sind allerdings noch zu sehr im Fluß, um ein abschließendes Urteil zu ermöglichen. Immerhin wird es Sie interessieren, daß er seine Ansicht der Sache in einer Art von theologischem Lehrgedicht niedergelegt hat, das ich Ihnen bestimmt mitteilen werde, falls wir uns in Paris wiedersehen. Auf eine – wie Sie sich denken können – sehr unterschiedene Weise habe ich über den gleichen Gegenstand mich mit Brecht beraten können, und auch von diesen Besprechungen weist mein Text Niederschläge auf.37

Wenig später schickt er Kraft seinen Essay und bittet ihn um Bemerkungen.38 In seiner Antwort vom 16. September 1934 äußert Kraft trotz aller Anerkennung große Bedenken gegen die Form des Essays, die mystisch, fast esoterisch sei. Er beruft sich auf Brecht, der doch die Notwendigkeit von Verständlichkeit klargemacht haben dürfte und wünscht sich eine neue Fassung des Essays, die als »nüchterner Lehrvortrag«39 formuliert ist und auf alle dunklen Gleichnisse verzichtet. Benjamins Erwiderung in einem Brief aus San Remo vom 12. November 1934 zeigt, wie bewusst er die spezifische Form seines Denkens verteidigt, die ebenso problematisch wie notwendig sei: »ich wollte nicht abschließen«, so präzisiert er, denn Kaf ka sei ein prophetischer Schriftsteller, dessen Zeit erst im Kommen sei. »An erster Stelle« stehe für ihn »die Erfahrung, daß diese Studie mich an einen carrefour meiner Gedanken und Überlegungen gebracht hat und gerade die ihr gewidmeten weiteren Betrachtungen für mich den Wert zu haben versprechen, den auf weglosem Gelände eine Ausrichtung im Kompaß hat«.40 Was sich Benjamin von den brieflichen Glossen zur Kaf ka-Studie verspricht, ist ein Kompass, um die Wüste der modernen Erfahrungsarmut zu durchqueren und die Erfahrbarkeit eines Wissens zu erproben, das sich

37  An Werner Kraft, Skovsbostrand, 26.7.1934. In: Benjamin: Gesammelte Briefe. Band IV, S. 466. Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 93. 38  An Werner Kraft, Dragor, 27.9.1934. In: Benjamin: Gesammelte Briefe. Band IV, S. 506. 39  Kraft an Benjamin, Jerusalem 16.9.1934. In: Benjamin: Gesammelte Schriften. Band 2, S. 1167–1170. 40  An Werner Kraft, San Remo, 12.11.1934. In: Benjamin: Gesammelte Briefe. Band IV, S. 525. Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 97.

Franz Kafka in der Korrespondenz Walter Benjamins

weder ideologisch noch theoretisch vereinnahmen lässt. Das Versprechen sowie die Gefahr dieses modernen Wüstenwegs werden vor allem im Briefwechsel mit Theodor W. Adorno deutlich. Adorno hat Benjamin bekanntlich einige memorable Briefe geschrieben; was Kaf ka betrifft, so sendet er am 17. Dezember 1934 an Benjamin einen langen und gewichtigen Brief aus Berlin, um in »fliegender Hast« – wie es heißt – der »spontanen[,] ja überwältigenden Dankbarkeit Ausdruck zu geben«, die ihn vor dem Kafka-Essay ergriffen habe. Mit begrifflicher Schärfe formuliert er dabei das zentrale Anliegen von Benjamins Studie im Stichwort von der »inversen Theologie« und betont die Übereinstimmung mit seinem eigenen Deutungsversuch: Kafkas Werk sei »eine Photographie des irdischen Lebens aus der Perspektive des erlösten«, in der man nichts als eine »grauenvoll verschobene Optik« sehe.41 Wenn Adorno in diesem Zusammenhang die notwendige Unfertigkeit von Benjamins Arbeit bestätigt und gegen die offiziell theologischen Deutungen verteidigt, so erhebt er zugleich doch den Anspruch, »die Stelle der Unfertigkeit« zu bezeichnen: »Das Verhältnis von Urgeschichte und Moderne ist noch nicht zum Begriff erhoben und das Gelingen einer Kafkainterpretation muß in letzter Instanz davon abhängen.«42 Wie in seiner Kritik des Passagenwerks, so wirft er auch hier Benjamin »Symptome der archaischen Befangenheit« vor und empfiehlt, die Antithesen dialektisch fruchtbar zu machen, um die sogenannte ›wolkige Stelle‹ von Kafkas Parabel gleichsam regnen zu lassen. Die Ausformulierung der komplexen Implikationen von Adornos Reflexion würde den Umfang dieses Beitrags sprengen; im gegebenen Kontext geht es darum, Adornos Rolle als Briefpartner klarzumachen. Beeindruckend ist die Schärfe, mit der Adorno Benjamins Anliegen auf den Begriff bringt und Formeln und Konzepte dafür bereitstellt, ebenso eindrucksvoll ist allerdings auch der Gestus einer fast gewaltsamen Appropriation, ein räuberischer Zug, der Adornos Denken prägt und sich in dessen Metaphorik niederschlägt, wenn er beispielsweise das Verhältnis von Begriff und Konstellation wie folgt definiert: »Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er öffnen möchte, hoffend, dass er aufspringe etwa wie die Schlösser wohlverwahrter Kassenschränke: nicht nur durch einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer, sondern eine Nummernkombination.«43 Wenn Benjamin Adornos gewichtigen Brief nur zögernd beantwortet, so betrifft dies nicht nur und so sehr die theoretische Diver-

41  Theodor W. Adorno: Über Walter Benjamin. Hrsg. und mit Anmerkungen versehen von Rolf Tiedemann. Frankfurt / Main 1970, S. 103–110. Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 101. 42  Ebd., S. 102. 43  Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt / Main 1970, S. 164.

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genz, im Besonderen die unterschiedliche Konzeption des Verhältnisses von begrifflicher Darstellung und anschaulicher Konkretion, wichtiger ist Benjamins Sensibilität, die sich vor dem räuberischen Zugriff der Dialektik schützen will. Dies geht klar aus den Anfangszeilen von Benjamins Schrei­ben an Adorno vom 7. Januar 1935 aus San Remo hervor: »Nicht ohne Zögern« gehe er daran, den großen Brief vom 17. Dezember zu beantworten, denn: er ist so gewichtig und greift derart in die Mitte der Sache ein, dass ich keine Aussicht habe, ihm auf brieflichem Wege gerecht zu werden. Um so wichtiger ist, dass ich Sie vor allem anderen noch einmal der großen Freude versichere, die Ihr lebendiger Anteil an mir erweckt hat. Ich habe Ihren Brief nicht nur gelesen, sondern studiert; er verlangt es, Satz für Satz überdacht zu werden.44

Bezeichnend ist in diesen Zeilen, wie Benjamin die Freude an der persönlichen Korrespondenz vom sachlichen Studium trennt, als ob sich beides kaum noch verbinden ließe, als ob das Studium des Schriftstücks sich ablösen müsste vom Gespräch mit dem Briefpartner. Diese Ablösung ist in den Aufzeichnungen bezeugt, die sich Benjamin zur Revision des Kaf ka-Essays anlegt, ein umfassendes »Dossier von fremden Einreden und eigenen Reflexionen«,45 das aus der Korrespondenz hervorgeht, »ein in meiner Praxis durchaus neuer Fall«,46 wie er in einem Brief an Scholem bemerkt. Im Brief an Adorno vom 7. Januar 1935 verweist Benjamin auf dieses Dossier und spricht von einer Klangfigur verschiedener Stimmen, »die bisher laut geworden sind« – Adorno, Scholem und Brecht, der er »noch manches abzulauschen habe«.47 In dieser Klangfigur löst sich nicht nur die Tonalität der eigenen Reflexion von der Korrespondenz ab, vernehmbar wird darin auch Benjamins singuläre Fähigkeit zur Integration fremder Stimmen ins eigene Schrei­ben, eine Integration der Alterität, über die Adorno in seiner Einleitung zu Benjamins Schriften schreibt, Benjamin

44  An Theodor Wiesengrund-Adorno, San Remo, 7.1.1935. In: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Band V: 1935–1937. Hrsg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt / Main 1999, S. 12. Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 107. 45  Ebd., S. 156. Benjamin geht in diesem Dossier auf die Einwände von Kraft ein, er setzt sich ausführlich mit Adornos Brief auseinander, er verzeichnet die Gespräche mit Brecht und plant Einschübe zur Revision des Essays. 46  An Gershom Scholem, San Remo, 26.12.1934. In: Benjamin: Gesammelte Briefe. Band IV, S. 551. Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 83. 47  An Theodor Wiesengrund-Adorno, San Remo, 7.1.1935. In: Benjamin: Gesammelte Briefe. Band V, S. 13. Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 107.

Franz Kafka in der Korrespondenz Walter Benjamins

habe die »Elemente eines ihm fremden und bedrohlichen Denkens wie eine Schutzimpfung sich einverleibt«.48

Der Brief-Essay als esoterische Schrift Benjamins minutiöses Dossier von Gesprächs- und Briefauszügen bildet den Leitfaden einer Revisionsarbeit, aus der ein Buch über Kaf ka hervorgehen sollte,49 das 1938 im Briefwechsel mit Scholem konkretere Formen an­­ nimmt. Unmittelbarer Anlass ist das Erscheinen der Kaf ka-Biografie von Max Brod,50 von der Scholem wie Benjamin gleichermaßen irritiert sind. Scholem verspricht, sich beim jüdischen Verleger Schocken für eine Buchpublikation Benjamins einzusetzen, er bittet den Freund in einem Schrei­ ben aus New York vom 6. Mai 1938 um »einen eventuell präsentablen Brief gelegentlich der Brodschen Biographie« und fügt hinzu: »Wenn Du kannst, schreibe drei bis vier Seiten, die eine Art Programm umschreiben und nicht zu harmlos klingen.«51 Benjamins Antwort ist der lange programmatische Brief vom 12. Juni 1938, den Hans Mayer wohl zu Recht als den zweiten großen Kafka-Essay bezeichnet hat.52 Dieser Brief-Essay ist in Wahrheit ein seltsamer Doppelbrief in zwei Teilen. Der für Schocken bestimmte Teil enthält das Destillat von rund zehn Jahren Korrespondenz, das nun in bewusst unpersönlicher Form formuliert wird. Nach einer Polemik gegen die Biografie von Max Brod, der Benjamin ihre ostentative »Intimität mit dem Heiligen« vorwirft, skizziert er sein eigenes Kafka-Bild: »Kaf kas Werk ist eine Ellipse, deren weit auseinanderliegende Brennpunkte von der mystischen Erfahrung (die vor allem die Erfahrung von der Tradition ist) einerseits, von der Erfahrung des modernen Großstadtmenschen andererseits, bestimmt sind.«53 Benjamin spricht weiter von »einer gewaltigen Spannung« und präzisiert, das »Tolle an Kafka« sei, »daß diese allerjüngste Erfahrungswelt ihm gerade durch die mystische Tradition zugetragen wurde«. Dieses Werk stelle eine »Erkrankung der Tradition« dar und verweise auf die verloren gegangene »Konsistenz der Wahrheit«, deren »Zerfallsprodukte« es enthal-

48  Theodor W. Adorno: Einleitung zu Benjamins Schriften. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt / Main 1981, S. 572. 49  Vgl. Schweppenhäuser (Hrsg.): Benjamin über Kafka, S. 176. 50  Max Brod: Franz Kafka. Prag 1937. 51  Auszugsweise zitiert in: Benjamin: Gesammelte Briefe. Band VI, S. 114. 52  Hans Mayer: Walter Benjamin und Franz Kafka. Bericht über eine Konstellation. Klosterneuburg 1979. 53  An Gershom Scholem, Paris, 12.6.1938. In: Benjamin: Gesammelte Briefe. Band VI, S. 110.

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te.54 Mit Bezug auf die jüdische Tradition und das Verhältnis von Halacha und Hagada, von Gesetzeslehre und exegetischer Erzählung, präzisiert Benjamin nun seine Sicht von Kaf kas Dichtung: Kaf kas Dichtungen sind von Hause aus Gleichnisse. Aber das ist ihr Elend und ihre Schönheit, dass sie mehr als Gleichnisse werden mussten. Sie legen sich der Lehre nicht schlicht zu Füßen wie sich die Hagada der Halacha zu Füßen legt. Wenn sie sich gekuscht haben, heben sie unversehens eine gewichtige Pranke gegen sie.55

Benjamins Kaf ka-Kommentar, in dem es um den Ernst und die Glaubwürdigkeit der Literatur geht, verkleidet sich als Brief, der durch die Vermittlung des Freundes die Öffentlichkeit erreichen soll. Dem eigentlichen Brief-Essay legt Benjamin aber ein zweites persönliches Schrei­ben bei, das mit folgenden Zeilen beginnt: »Lieber Gerhard, um das beiliegende Schrei­ ben präsentabel zu machen, hielt ich es für geraten, es von Persönlichem zu entlasten. Das schließt nicht aus, daß es, als Dank für Deine Anregungen, zunächst Dir persönlichst zugedacht ist.«56 Anschließend erwähnt er auch weitere Briefe: »Dieser Tage schreibe ich an Wiesengrund und werde den Kafka-Brief ihm gegenüber erwähnen. Natürlich kannst Du ihn ihm mitteilen […]. Die Sache will insofern wohl überlegt sein, als der halboffizielle Charakter des Briefes Wiesengrund gegebenenfalls nicht entgehen wird.«57 Benjamins eigenartiger Doppelbrief führt vor Augen, wie schwierig ein Austausch geworden ist, in dem sich Privates und Öffentliches zu einer umfassenden Erfahrung vermitteln. Der Sachgehalt des Briefs trennt sich hier von der persönlichen Mitteilung, der Umschlag des Briefs kann kaum mehr das Gewicht der unpersönlichen Gedanken enthalten, das persönliche Schrei­ ben spricht dagegen vom Wunsch nach Veröffentlichung, es kalkuliert mit einer Öffentlichkeit potenzieller Leser und verrät so den Charakter des Briefs, der nur einem Leser »persönlichst« zugedacht ist. Vielleicht wird Scholem deshalb auf diesen langen und wichtigen Brief über Kaf ka nur kurz und floskelhaft antworten. Auf eine verärgerte Nachfrage Benjamins vom Februar 1939, ob Schocken inzwischen kontaktiert worden sei, antwortet Scholem, er habe alles getan, jedoch ohne Erfolg: »der Mann hat nämlich, wie sich herausstellt, zu meinem Ärger den Brod selber nicht gelesen, von vornherein nicht, und zeigte sich an der Nachricht von dessen

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Ebd., S. 111–113. Ebd., S. 113. Ebd., S. 116. Ebd.

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Abschlachtung betont uninteressiert«,58 eine Antwort, die ebenso banal wie entwaffnend klingt. »Das Briefschreiben meldet einen Anspruch des Individuums an, dem es heute so wenig mehr gerecht wird, wie die Welt ihn honoriert«, so schreibt Adorno in seinem Essay Benjamin, der Briefschreiber.59 Benjamins letztes Buch will diesen Anspruch in Erinnerung halten. Gemeint ist die Briefsammlung Deutsche Menschen, die gleichzeitig mit dem Kaf ka-Projekt entsteht, in der Benjamin bekanntlich unter dem Pseudonym Detlev Holz der vergangenen Integrität der Brief kultur ein Denkmal gesetzt hat. Benjamins geplantes Kaf ka-Buch dagegen wurde verhindert durch persönliche und politische Umstände, es ist allerdings fragmentarisch in den Notizen und brieflichen Glossen erhalten, in einer Korrespondenz, die als esoterische Schrift archiviert werden kann, da sie nur für Eingeweihte bestimmt ist, für solche, die mit dem Ritual der Korrespondenz vertraut sind. Benjamin hat dies selbst angedeutet, wenn er am Ende seines Brief-Essays vom Juni 1938 dem Freund eine Erklärung für den »halboffiziellen Charakter des Briefes« anbietet, die auch Adorno zufriedenstellen könnte: »Allenfalls könntest Du ihm erklären, daß Du den Brief für Dein Archiv meiner esoterischen Schriften von mir erwirkt hättest. Ich fürchte, diese Erklärung würde der Wahrheit äußerst nahekommen.«60

58  Ebd., S. 223. 59  Theodor W. Adorno: Benjamin, der Briefschreiber, S. 585. 60  An Gershom Scholem, Paris, 12.6.1938. In: Benjamin: Gesammelte Briefe. Band VI, S. 116.

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Affinitäten und Antagonismen Der Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer

Siegfried Kracauer hat der Freundschaft als Form der Geselligkeit am Anfang der 1920er Jahre drei soziologische Aufsätze gewidmet: den 1917 in Logos erschienenen Essay Über die Freundschaft1, den 1921 in einer dem Rabbiner Nobel gewidmeten Festschrift veröffentlichten Aufsatz Gedanken über Freundschaft2 und den 1923 in der Frankfurter Zeitung erschienenen Artikel Das zeugende Gespräch. Alle diese Texte dokumentieren seine großen Erwartungen an die Freundschaft für die Entwicklung der Persönlichkeit und ihrer Fähigkeit, die Welt philosophisch zu erschließen. Die zwei ersten Texte sind von der Phänomenologie der Persönlichkeit geprägt, die Kracauer in seinen frühen Schriften entwickelt hatte, und der letzte knüpft teilweise an Bubers dialogische Philosophie an. Im Essay Über die Freundschaft erklärt Kracauer, dass nur Persönlichkeiten, die einen Mittelpunkt haben, der ihren Erlebnissen eine Kohärenz verleiht, echte Freunde sein können. Wahrhafte Freundschaft bestehe dann in der »Pflege ähnlicher Gesinnungen und setzt gemeinsame Entwicklung in den Bereichen des typischen Erkennens voraus«.3 Ein solches Modell mag ihm vorgeschwebt haben, als er 1918 den jungen Adorno kennenlernte. Die Realität dieser Freundschaft sah jedoch etwas anders aus als der Idealtypus, den Kracauer in seinen theoretischen Texten beschrieb. Während Kracauer dargelegt hatte, dass »Freundschaft von dem Vorhandensein ähnlicher seelischer Grundschichten« abhing,4 verwies ihn Adorno in einem Brief der 1920er Jahre auf »die Tiefe unserer Unterscheidung in wichtigen Sphären«.5 Freundschaft war zwar für Kracauer nicht Verschmelzung, aber sie war ein Bund, eine »Gesin-

1  Siegfried Kracauer: Über die Freundschaft. In: Ders.: Werke. Bd. 5.1: Essays, Feuilletons, Rezensionen 1906–1923. Hrsg. v. Inka Mülder-Bach, unter Mitarbeit von Sabine Biebl. Berlin 2011, S. 29–59. 2  Siegfried Kracauer: Gedanken über die Freundschaft. In: Ebd., S. 332–350. 3  Kracauer: Über die Freundschaft, S. 53. 4  Ebd. 5  Theodor Wiesengrund Adorno: Brief an Kracauer (Wien, 29.6.1925). In: Theodor W. Adorno, Siegfried Kracauer: Briefwechsel 1923–1966. Frankfurt / Main 2008, S. 83–91, hier S. 86.

Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer

nungs- und Idealsgemeinschaft«6 zweier voneinander abhängiger Menschen, die auf »vereinter Entwicklung der typischen Möglichkeiten«7 be­­ ruhte. Die Briefe als unmittelbarer Ausdruck der Persönlichkeit waren ihm ein wichtiges Medium dieser »vereinten Entwicklung«: Man teilt sich in ihnen notgedrungen geschlossener mit als im persönlichen Umgang, in der Phantasie des Wesentlichen, die letzten Untergründe hüllenlos erschauend. Man schreibt sie allein und in der Einsamkeit, zieht sich die Scham auf ihre innersten Grenzen zurück; So gelingt es denn häufig erst in Briefen, frei von Seele zu Seele zu sprechen8.

Kracauers erster erhaltener Brief an Adorno ist tatsächlich sehr persönlich und entspricht dieser Vorstellung, aber er weist auch auf den Mechanismus dieser sonderbaren Freundschaft hin, der hauptsächlich auf gegenseitiger Irritation beruhte. Der Briefwechsel erstreckt sich über 40 Jahre und besteht aus 268 Briefen, aber kein einziger Brief ist völlig frei von diesen Reibungen, seien sie persönlicher oder intellektueller Natur, oder beides zugleich. Die Irritation scheint geradezu der Motor dieser Freundschaft gewesen zu sein. Es hat zwar Schweigeperioden gegeben (zum Beispiel zwischen April 1933 und Juli 1935), und Phasen, in denen die Briefe spärlich wurden (zwischen 1939 und 1949), aber der Kontakt blieb immer erhalten, als seien beide Freunde auf diese Anspannung angewiesen, als sei sie für ihr Verhältnis konstitutiv. Nach 1933 haben sich Adorno und Kracauer im Grunde selten persönlich getroffen, und die Briefe wurden also zum Hauptmedium ihrer Freundschaft und ihres geistigen Austauschs. Dieser Briefwechsel zwischen Kracauer und Adorno ist nicht zuletzt historisch von Interesse, aber hier soll die Bedeutung dieses Briefwechsels für den Denkansatz beider Autoren und die intellektuelle Produktivität dieser gegenseitigen Irritation im Vordergrund stehen. Es gibt einige Gründe, die gegen eine solche Lesart sprechen. Auf den ersten Blick sind diese Briefe eher oberflächlich und nicht immer reich an philosophischem Inhalt, wenn man sie zum Beispiel mit dem Briefwechsel zwischen Adorno und Benjamin vergleicht. Dies scheint nicht zuletzt mit Kracauers Scheu vor theoretischen Diskussionen in Briefform zusammenzuhängen. Typisch ist zum Beispiel diese Antwort auf eine Kritik Adornos im Januar 1931: »Es ist schade, daß Dir mein Passagen-Aufsatz nicht gefallen hat, den ich selber für gut halte. Oder vielmehr: es ist nicht schade: denn

6  Kracauer: Über die Freundschaft, S. 58. 7  Ebd. 8  Kracauer: Gedanken über die Freundschaft, S. 335–336.

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warum sollte man in allen Dingen, und sogar in den wichtigen, stets einer Meinung sein?«9 Darauf antwortet Adorno: »Wenn Du jede sachliche Auseinandersetzung zwischen Menschen, bei denen doch nun einmal Person und Sache nicht zu trennen sind, für überflüssig hältst und Dich auf die persönliche Eigenart zurückziehst, dann weiß ich nicht, welchen Sinn Du dem Briefwechsel überhaupt zumißt.«10 Am 9. November 1936 bemerkt Kracauer nach Adornos Antwort auf seine Kritik an Adornos berüchtigtem Jazz-Aufsatz:11 »Auf meine Bemerkung zum Jazz-Aufsatz möchte ich nicht mehr zurückkommen, da es sich hierbei für mich um sehr belastete Haltungsfragen handelt, deren schriftliche Exposition zu weit führte. Natürlich spreche ich gerne mündlich mit Dir, wenn Du magst.«12 Noch enttäuschender scheint der Briefwechsel in politischer Hinsicht zu sein, zumindest auf den ersten Blick. Wer sich von diesen Briefen eine Analyse der politischen Position der Briefschreiber zur Konstellation der Weimarer Republik, zum Nationalsozialismus, zum Kalten Krieg und zum Nachkriegsdeutschland erhofft, wird nicht fündig. Die wenigen Stellen, wo diese Themen angesprochen werden, zeugen nicht unbedingt von einer großen Klarsicht, obwohl es natürlich im Nachhinein aus heutiger Sicht einfach ist, diese Fehldeutungen zu erkennen. Am 15. April 1933 schreibt Adorno tatsächlich an Kracauer: »Im übrigen ist mein Instinkt für Dich der: nach Deutschland zurückzukommen. Es herrscht völlige Ruhe und Ordnung; ich glaube, die Verhältnisse werden sich konsolidieren.«13 Am 29. Januar 1939 schreibt er: »An Krieg glauben wir nach wie vor nicht, d. h. die faszistische Solidarität ist (gegenüber der Chance eines Zusammenbruchs des mitteleuropäischen Systems) stärker selbst als die doch bereits sehr zugespitzten imperialistischen Gegensätze.«14 Kracauer ist in seinen spärlichen politischen Urteilen etwas vorsichtiger. Folgende Sätze aus einem Brief vom 24. August 1930 klingen sogar geradezu prophetisch. In Bezug auf Deutschland schreibt er aus Saint-Malo:

  9  Kracauer: Brief an Adorno (Berlin, 12.1931). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 265– 266, hier S. 265. 10  Adorno: Brief an Kracauer (Frankfurt / Main, 20.1.1931). In: Ebd., S. 267–269, hier S. 268– 269. 11  Theodor Wiesengrund Adorno: Über Jazz (1937). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 17. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt / Main 1978, S. 74–108. 12  Kracauer: Brief an Adorno (Paris, 9.11.1936). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 323– 328, hier S. 323. 13  Adorno: Brief an Kracauer (Berlin, 15.4.1933). In: Ebd., S. 308–309, hier S. 308. 14  Theodor W. u. Gretel Adorno: Brief an Kracauer (Princeton, 29.1.1939). In: Ebd., S. 409– 411, hier S. 409.

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Es waltet ein Verhängnis über diesem Land [d. i. Deutschland, O. A.], und ich weiß genau, daß es nicht nur der Kapitalismus ist. Daß dieser so bestialisch werden kann, hat keineswegs ökonomische Gründe allein (Wie sollte ich sie formulieren können? Ich bemerke nur immer wieder in Frankreich, an dem es doch gewiss viel zu kritisieren gibt, was alles bei uns zerstört ist; der primitive Anstand; die ganze gute Natur und mit ihr jedes Vertrauen der Menschen ineinander).15

Nach 1933 gibt es offensichtlich zunehmend politische Differenzen zwischen beiden Autoren, die aber nie ausdrücklich diskutiert werden. Aus dem Text der Noten zur Literatur, den er Kracauer gewidmet hat (Der wunderliche Realist), lässt sich leicht herauslesen, dass Kracauer für Adorno zu einem bürgerlichen Humanisten geworden ist, der sich mit der Welt abgefunden hat.16 In Briefen an Leo Löwenthal sieht man, dass Kracauer seinerseits Adornos radikale Kritik der verwalteten Welt mit großer Skepsis be­­ trachtet. Aber über diese grundsätzlichen Fragen haben sie sich anscheinend in ihren Briefen nie wirklich direkt ausgetauscht. Liest man die Briefe genauer, stellt man jedoch fest, dass die Irritationen am Schnittpunkt von Philosophie und Existenz, die in ihnen sichtbar sind, alles andere als nebensächlich und anekdotisch sind und dass sie die philosophische und ethische Differenz zwischen Adorno und Kracauer entscheidend beleuchten.

1925–1933: gemeinsame Erkenntnisrichtung Die erste Phase des Briefwechsels umfasst die Jahre 1925 bis 1933, eine Zeit, in der beide Autoren durch ein intimes, aber gespanntes Verhältnis verbunden sind. Als sich Adorno und Kracauer 1918 kennenlernen, ist Kracauer 29 Jahre alt und Adorno 15. Sie treffen sich dann regelmäßig, um gemeinsam philosophische Werke zu lesen (Kant, Hegel, Kierkegaard), und es entwickelt sich zwischen ihnen ein homoerotisch geprägtes Verhältnis, das Kracauer später in seinem posthum erschienenen Roman Georg thematisiert hat.17 In den ersten Briefen überwiegt das Persönliche. Es ist eine schwierige, durch gegenseitige Kränkungen geprägte Beziehung. Kracauer stellt sich immer wieder als den Liebenden, älteren Mentor dar, der sich davor fürchtet, dass der begabte und junge Freund, der nicht mit derselben Tiefe und Hingabe liebt, sich eines Tages entfernen wird. Diese Angst vor

15  Kracauer: Brief an Adorno (Saint-Malo, 24.8.1930). In: Ebd., S. 246–247. 16  Theodor Wiesengrund Adorno: Der wunderliche Realist. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 11: Noten zur Literatur. Frankfurt / Main 1974, S. 388–408. 17  Siegfried Kracauer: Georg. In: Ders.: Werke. Bd. 7: Romane und Erzählungen. Hrsg. v. Inka Mülder-Bach, unter Mitarbeit von Sabine Biebl. Frankfurt / Main 2004, S. 257–516.

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dem Verlassenwerden wird dann akut, als Adorno 1925 nach Wien geht und versucht, sich ohne großen Erfolg im Wiener Musikleben zu etablieren. Der Briefwechsel ist dann besonders intensiv, obwohl alle Antworten Kracauers verloren gegangen sind. Adorno berichtet von den Persönlichkeiten, die er in Wien oder in Prag kennenlernt (Alban Berg, Schönberg, Alma Mahler, Soma Morgenstern, Georg Lukács) und beteuert immer wieder, wie unglücklich er doch selbst sei: »Ich bin dauernd traurig, einsam […] und habe Sehnsucht nach dir.«18 Kracauer reagiert dann eifersüchtig und misstrauisch, und am Ende sind beide gekränkt. Typische Sätze aus Adorno-Briefen jener Zeit sind »Dein Brief schlug furchtbar in mir hinein …«;19 »Du hast mich […] in den empfindlichsten Schichten sehr verletzt«;20 »Was mir in diesem Brief inakzeptabel bleibt, ist die stetig fortwirkende Voraussetzung, ich habe mich von dir real abgelöst, nur der Schein oder die Hoffnung sei geblieben …«.21 Nach einer gemeinsamen Reise im Sommer 1925, auf die eine sechsmonatige Schweigepause folgt, fängt eine Übergangszeit an, die bis etwa 1929 dauert. Beide Denker lernen ihre Lebenspartnerinnen kennen, ohne jedoch ihre intime Beziehung zueinander ganz zu verabschieden. Von 1929 bis 1933 ist der Briefwechsel entspannter, und das Persönliche tritt meistens in den Hintergrund oder nimmt eine andere Form an: Ein wichtiges Thema ist zum Beispiel die Konkurrenz zwischen Adorno und Leo Löwenthal, die sich beide habilitieren wollen. Es ist die Zeit, wo sich Adornos Existenz stabilisiert, indem er jetzt an seiner Habilitation schreibt: »ich […] arbeite wie ein Pferd am Kierkegaard.«22 In allen diesen Briefen der 1920er und der frühen 1930er Jahre werden auch neben den persönlichen Problemen die gemeinsamen Denkimpulse sichtbar. Ein erster Impuls ist die Abkehr vom Idealismus, diese »Aversion gegen Idealismus«,23 von der Adorno in Der wunderliche Realist spricht. Diese Idealismuskritik speist sich damals am Kierkegaard’schen Existenzialismus. In einem Brief vom 17. Juni 1925 berichtet Adorno an Kracauer von einem Gespräch mit Lukács: »Er desavouierte zunächst gründlich die Romantheorie, sie sei ›idealistisch und mythologisch‹. Kontrastierte ihr die ›Verinhaltlichung‹ der Geschichte durch die Marxsche Dia-

18  Adorno: Brief an Kracauer (Wien, 10.4.1925). In: Ebd., S. 37–46, hier S. 37. 19  Adorno: Brief an Kracauer (Wien, 26.3.1925). In: Ebd., S. 64–72, hier S. 64. 20  Adorno: Brief an Kracauer (Wien, vor dem 6.8.1925). In: Ebd., S. 101–105, hier S. 101. 21  Adorno: Brief an Kracauer (Wien, 29.6.1925). In: Ebd., S. 83–91, hier S. 86. 22  Adorno: Brief an Kracauer (Kronberg im Taunus, 12.5.1930). In: Ebd., S. 206–211, hier S. 206. 23  Adorno: Der wunderliche Realist, S. 390.

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lektik«.24 Adorno erzählt dann in diesem Brief, dass er eingewandt habe, dass diese Dialektik auch Idealismus sei. Als dann Lukács auch gegen Kierkegaard polemisierte, weil sich die »Personalität« von Kierkegaard aus »Privatproblemen« konstituiere, die »die Geschichte nicht mitnehmen«, und weil Kierkegaards Kritik an Hegel im Grunde den »marxistisch gereinigten« Hegel nicht treffe, stellt sich Adorno eindeutig auf die Seite Kierkegaards und meint damit, dass er auch Kracauers Standpunkt vertritt: »[…] (ich hatte gleich eingangs unsere geistige Übereinstimmung konstatiert)«,25 schreibt er an den Freund. Kierkegaard spielt in der Tat im Detektivroman, an dem Kracauer zu diesem Zeitpunkt noch arbeitet, eine entscheidende Rolle. Dieses Traktat knüpfte in mancher Hinsicht an den Lukács der Theorie des Romans an, und aus einem Brief vom 4. Mai 1926 geht hervor, dass Adorno dieses Buch durchaus schätzte (1931 wird er dann in einem Seminar auf diese Theorie des Romans und vermutlich auch auf Kracauers Detektivroman eingehen26). Die Hinwendung zur Existenz ist es, die für Kracauer im Detektivroman zu den Sachen zurückführt, und nicht die Hegel’sche Perspektive einer Totalität der Geschichte: Die moderne Existenz sei zwar entfremdet, vom realen Sinn abgeschnitten, aber dieser Sinn könne nur negativ erfasst werden, und nicht in der affirmativen Form einer geschichtsphilosophischen Vision. In einem Brief von Adorno (19.5.1925) taucht der Begriff »theologischer Materialismus« auf,27 den man sehr wohl auf die Methode des Detektivromans anwenden könnte: Das entfremdete Leben, das nur noch aus einer Oberfläche besteht, wird in diesem Essay als parodisches Echo und ironische Verzerrung einer absoluten Sphäre, auf die es nur negativ hinweise, gedeutet. Aus dieser Perspektive wird Adornos Hinweis in Der wunderliche Realist verständlich, wonach die philosophischen Texte Kracauers »zum Sprechen gebracht wurden«, und von ihm als eine »Art chiffrierter Schrift« gedeutet wurden, »aus der der geschichtliche Stand des Geistes herauszulesen war«.28 Im Detektivroman erscheint in der Tat der Idealismus mit seiner Trennung von Subjekt und Objekt als Höhepunkt einer Krise, aus der der absolute Idealismus von Hegel nicht herausführt. Auch die Phänomenologie mit ihrem Anspruch, den Weg zu den Sachen zurückzufinden, ist keine wahre Lösung: Genau das hatte Kracauer 1921

24  Adorno: Brief an Kracauer (Wien, 17.-18.6.1925). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 77–82, hier S. 79. 25  Ebd., S. 80. 26  Adorno: Brief an Kracauer (Frankfurt / Main, 29.5.1931). In: Ebd., S. 274–278, hier S. 275. 27  Adorno: Brief an Kracauer (Wien, 19.5.1925). In: Ebd., S. 54–62, hier S. 58. 28  Adorno: Der wunderliche Realist, S. 388.

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in seinem Essay Soziologie als Wissenschaft zeigen wollen,29 und ohne Zweifel ist Adorno damit einverstanden, wie aus einem Brief vom 19.8.1926 hervorgeht, in dem er von seiner Brentano-Lektüre berichtet: Die Phänomenologie hypostasiere die Gegebenheiten ontologisch als »Gegenstände«, um ihren selbst doch »theoretisch-abstraktiven Charakter« zu »caschieren«.30 In dieser Phase ist die Theologie bei Kracauer und Adorno als negative Theologie stets im Hintergrund. Adorno schreibt so am 25.7.1930, als er an seinem Kierkegaard arbeitet: » Dabei verleugne ich keinesfalls die eigenen theologischen Motive«.31 Gemeinsam ist Adorno und Kracauer, dass dieser negative, an der Theologie geschulte Blick als ein kritisches Erkenntnismittel eingesetzt wird, das sich auf die materielle, profane Realität richtet. Die Materialnähe wird in den Briefen immer hervorgehoben und gelobt. Adorno bezeichnet so einen Aufsatz von Kracauer als »Muster einer ma­terialgerechten Polemik«.32 Die Theologie darf jedoch nicht affirmativ werden. Bezüglich seines Kierkegaard-Buchs schreibt Adorno an Kracauer am 6.8.1930: »ich bin tiefer in theologische Kategorien gekommen, als ich gewünscht hatte …«.33 Dieser theologische Materialismus ist kritisch-destruktiv, und dieser destruktive Charakter nimmt im Laufe der Jahre einen deutlich politischen Charakter an, indem er sich zunehmend am Ideal einer herrschaftsfreien Gesellschaft orientiert. Nicht ohne Stolz schreibt Kracauer 1930 an Adorno, dem er eine Reihe von Aufsätzen schickt: »Zusammengenommen ergeben sie schon einen ganz hübschen destruktiven Effekt«.34 Beide Freunde teilen in dieser Phase dieselben Abneigungen und Faszinationen, auf die nicht im Detail eingegangen werden kann. Auffallend ist das ambivalente Verhältnis zu Benjamin, oder »Benji«, das »mythisch[e] Wesen«,35 der bei aller Bewunderung ständig wegen seiner angeblichen Nei-

29  Siegfried Kracauer: Soziologie als Wissenschaft (1922). In: Ders.: Werke. Bd. 1: Soziologie als Wissenschaft. Der Detektiv-Roman. Die Angestellten. Hrsg. v. Inka Mülder-Bach, unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel. Frankfurt / Main 2006, hier S. 7–101. 30  Adorno: Brief an Kracauer (Rottach-Staudach, 19.8.1926). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 127–129, hier S. 127. 31  Adorno: Brief an Kracauer (Kronberg im Taunus, 25.7.1930). In: Ebd., S. 235–239, hier S. 235. 32  Adorno: Brief an Kracauer (Kronberg im Taunus, 1.6.1930). In: Ebd., S. 223–228, hier S. 223. 33  Adorno: Brief an Kracauer (Kronberg im Taunus, 6.8.1930). In: Ebd., S. 242–245, hier S. 244. 34  Adorno: Brief an Kracauer (Berlin, 22.7.1930). In: Ebd., S. 231–234, hier S. 232. 35  Adorno: Brief an Kracauer (Kronberg im Taunus, 1.4.1930). In: Ebd., S. 195–201, hier S. 197.

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gung zur Mystik kritisiert wird. In einem Brief vom 16. April 1925 nennt ihn Kracauer »de[n] Waltende[n]«,36 und in seiner Antwort verteidigt sich Adorno gegen den Vorwurf des »Benjaminismus«.37 In einem Brief vom 14.9.1929 kennzeichnet Adorno Benjamin durch die Formel: »Blendwerke des Himmels«. Er fügt hinzu »Das Schlimmste dabei ist, daß er sicher sehr stolz darauf wäre«.38 Adorno kritisiert damals ausdrücklich den mythologischen Platonismus von Benjamin, der sich nicht zufällig auf die Phänomenologie berufen muss. Kracauer schreibt dann in Bezug auf Benjamin: »Er kennt nicht den Elan zur Realität. An dieser Stelle gähnt bei ihm ein Loch«.39 Kracauer berichtet am 21.12.1930 jedoch von den »schöne[n] Ge­­ sprächen«, die er in Berlin mit Benjamin hatte,40 und Adorno lobt in einem Brief vom 21.11.1932 die Berliner Kindheit, die ihm als »ein großer Schritt« erscheint, »insofern als die archaische Mythologie darin wirklich liquidiert ist und mythisches nur im allerzeitlichsten – ›modernen‹ jeweils – aufgesucht wird«.41 In dieser ersten Phase stehen Adorno und Kracauer auch in einem ambivalenten Verhältnis zu Horkheimer und seinem Kreis. Zwar betrachten sich Adorno und Kracauer als Marxisten, aber sie stehen dem Kommunismus als politischer Bewegung fern. Die Nähe des Instituts für Sozialforschung zur militanten Politik wird von ihnen mit Ironie betrachtet. Zu Brecht hat Kracauer ein eindeutig negatives Verhältnis,42 während Adorno etwas nuancierter ist: Brecht stelle »kunstpolitisch trotz allem einen der wichtigsten Aktivposten« dar.43 In dieser ersten Phase ihrer Beziehung betrachteten sich die beiden Freunde durchaus als geistige Partner. Am 6.7.1925 schreibt Adorno aus Wien: »Mir schwebt eine Arbeit über Psychologie vor (parallel Deiner Soziologiearbeit oder der projektierten über Geschichte).«44 Als sich Adorno für die Philosophie und eine Doktorarbeit entscheidet, emanzipiert er sich jedoch allmählich von seinem geistigen Mentor. Ab 1927 werden in Adornos Briefen die kritischen Bemerkungen zu Kracauers Aufsätzen häufiger. Die erste ernste methodologische Diskussion, die allerdings nur ansatzweise

36  Kracauer: Brief an Adorno (Frankfurt / Main, 16.4.1925). In: Ebd., S. 46–53, hier S. 49. 37  Adorno: Brief an Kracauer (Wien, 19.5.1925). In: Ebd., S. 54–62, hier S. 57–58. 38  Adorno: Brief an Kracauer (Bellagio, 14.9.1929). In: Ebd., S. 189–194, hier S. 191. 39  Kracauer: Brief an Adorno (Berlin, 25.5.1930). In: Ebd., S. 214–217, hier S. 215. 40  Kracauer: Brief an Adorno (Berlin, 21.12.1930). In: Ebd., S. 253–257, hier S. 254. 41  Adorno: Brief an Kracauer (Frankfurt / Main, 21.11.1932). In: Ebd., S. 292–295, hier S. 293. 42  Kracauer: Brief an Adorno (Berlin, 21.12.1930). In: Ebd., S. 253–257, hier S. 254. Siehe auch: Kracauer: Brief an Adorno (Kandersteg, 26.6.1962). In: Ebd., S. 535–537, hier S. 535. 43  Adorno: Brief an Kracauer (Frankfurt / Main, 2.1.1931). In: Ebd., S. 257–264, hier S. 259. 44  Adorno: Brief an Kracauer (Wien, 6.7.1925). In: Ebd., S. 92–98, hier S. 96.

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geführt wird, betrifft Die Angestellten. Adorno findet, dass Kracauer allzu dokumentarisch verfährt. Die Phänomenologie der Oberfläche ist ihm nicht radikal genug, weil sie sich noch auf Quellenstudien stützt: »Es will mir fast so scheinen, als ob es bei Deiner spezifischen Art des Sehens wirklich das angemessenste wäre, wenn Du Dich rein an das von Dir unmittelbar Erfasste und damit verbindlich Geformte hieltest.«45 Kracauer verteidigt sich, indem er seine Methode als »materiale Dialektik« bezeichnet, die eine strukturierte Betrachtungsart darstelle, welche »zwischen allgemeiner Theorie und spezieller Praxis« jongliere und auf »die Rückversicherung durch eine Totalitätsphilosophie« verzichte.46 Diese Methode erscheint Adorno positivistisch: Die Interpretation sollte aus seiner Sicht von Impressionen ausgehen, welche dann aber neu konstruiert werden müssten, um nicht die konventionelle Sicht zu reproduzieren. Das Verhältnis zur Empirie in dem, was Adorno als »konstruktive Interpretation«47 bezeichnet, wird dann immer wieder ein Streitpunkt zwischen beiden Autoren bleiben. Kracauer reagiert beleidigt, aber Adorno zeigt sich in seiner Antwort noch versöhnlich. Er behauptet, dass seine Vorstellung einer »intermittierende[n] Dialektik«48 in dieselbe Richtung weise, weil diese Dialektik immer wieder anhält, um einen Raum für die Materialität der Empirie zu eröffnen. Er bezeichnet diesen Vorgang als »Dialektik, die nicht in geschlossenen Denkbestimmungen abläuft, sondern unterbrochen wird von der nicht sich einfügenden Realität, in ihr gleichsam Atem holt und jedes Mal frisch anhebt«.49 Er fügt hinzu: »[…] ich operiere wie Du gegen den geschlossenen Dialektikbegriff mit dem Argument, daß er kraft der Totalitätskategorie als einer bloßen Denkbestimmung idealistisch sei. Wir sind also wieder d’accord, ohne erst darüber geredet zu haben.«50 Trotz dieser versöhnlichen Worte ist klar, dass das Kierkegaard-Buch einen Bruch markiert. Wie vorhin erwähnt, wurde Kierkegaard in den 1920er Jahren von Kracauer gegen Hegel eingesetzt, und Adorno schien Kracauers Misstrauen Hegel gegenüber zu teilen. Er meint jetzt, den »mythisch-dämonischen Charakter« von Kierkegaards Existenz-­ Begriff aufgedeckt zu haben,51 und schreibt nun:

45  Adorno: Brief an Kracauer (Kronberg im Taunus, 12.5.1930). In: Ebd., S. 206–211, hier S. 207. 46  Kracauer: Brief an Adorno (Berlin, 25.5.1930). In: Ebd., S. 214–217, hier S. 215. 47  Adorno: Brief an Kracauer (Kronberg, 26.5.1930). In: Ebd., S. 218–222, hier S. 219. 48  Ebd., S. 218. 49  Ebd. 50  Ebd. 51  Kracauer: Brief an Adorno (Kronberg, 25.7.1930). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 235–237, hier S. 235.

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Leb wohl, Friedel. Was ist aus unserm Kierkegaard geworden. Je länger ich ihn bearbeite, um so unbehaglicher wird mir: er war ein unerträglicher Ideologe seiner selbst und trotz aller Leidensgeschichten und Pönitenzen, trotz Regine und dem Pfahl im Fleisch war er im Grunde in jedem Augenblick mit sich zufrieden – es hält sehr, sehr wenig stand. Sogar den Begriff, der uns am meisten faszinierte, den ›qualitativen Sprung‹, habe ich bei Hegel gefunden: Vorrede zur Phänomenologie, S. 9. Da kann man halt nix machen.52

Ein anderer Streitpunkt neben dieser Frage des Verhältnisses zur Empirie ist in Adornos Augen Kracauers angeblich optimistischer Humanismus. Schon 1927 findet Adorno, dass Kracauers ironische Kritik an Thomas Manns versöhnlichem Humanismus nicht radikal genug sei und dass in Kracauers Kritik die immanente Destruktion nicht weit genug geht.53 Mann sei ein Schwindler, dessen Sätze »de[n] Schein von humaner Versöhnung« vortäuschen, und Kracauer gebe den Eindruck, dass bei besserer Einsicht Verständigung noch möglich sei.54 Adorno moniert Kracauers positive Einschätzung des Volkshaften, die tatsächlich in mehreren Texten der Zeit spürbar ist. Adorno bekennt sich hingegen zu einem radikalen Pessimismus: »Nur sehe ich, womöglich, die Realität noch schwärzer als Du, da ich nicht glaube, daß die Änderung der Menschen kommt und gar eine ernstliche Chance gibt.«55 Dieser Negativismus wird von Adorno ganz bewusst im Kierkegaard-Buch eingesetzt. Am 12.1.1933 schreibt er an Kracauer: Ich wollte einmal die Erfahrung, dass im Kapitalismus alle Wege versperrt sind, dass man überall gleichsam auf eine gläserne Mauer stößt, an einem von der gesellschaftlichen Unmittelbarkeit verhältnismäßig abliegenden Beispiel nicht nur erweisen, sondern wirklich durchführen, d. h. an jede einzelne Tür klopfen, die da verschlossen ist.56

52  Ebd., S. 237. 53  Adorno: Brief an Kracauer (Kronberg, 26.5.1927). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 150–153, hier S. 150–151. 54  Ebd., S. 150–151. 55  Adorno: Brief an Kracauer (Kronberg im Taunus, 12.5.1930). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 206–211, hier S. 207. 56  Adorno: Brief an Kracauer (Frankfurt / Main, 12.1.1933). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 296–300, hier S. 296.

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Darauf antwortet Kracauer: »Das läuft auf ein Entweder-Oder hinaus und klingt beinahe nach Deinem Kierkegaard«57 (während Adorno von »unserem« Kierkegaard gesprochen hatte). Die Kierkegaard-Arbeit zeugt aber noch in gewisser Hinsicht von dieser »gemeinsamen Erkenntnisrichtung«, von der Kracauer in einem Brief vom 23.1.1931 sprach,58 wie auch aus Kracauers Rezension sichtbar wird.59 Viele Themen sind in der Tat dem Kierkegaard und dem Detektivroman gemeinsam und nicht zuletzt das Thema, das Kracauer in seiner Rezension in den Vordergrund rückt, nämlich die Kritik der bürgerlichen Innerlichkeit, die Kracauer in seinem Roman Ginster literarisch dekonstruiert hatte. Die Worte, mit denen Adorno seinen Denkansatz in seiner Antrittsvorlesung vorstellt, zeugen in der Tat von einem Misstrauen der spekulativen Philosophie gegenüber, das auch kennzeichnend für Kracauer ist: […] ich will keine Wissenschaft machen und keine Weltanschauung, sondern eben etwas prinzipiell anderes, was zu den akademischen Kategorien ganz disparat steht und was die Leute erbittert, die im Grunde doch immer noch aristotelisch oder hegelianisch nach dem Sinn von Sein fragen möchten.60

Kracauer bedauert in seinem Kommentar dieser Antrittsvorlesung, dass das Verhältnis zum Material in Adornos ästhetischem Essayismus undeutlich bleibt: »Du verteidigst die Form des Essay, aber der ist doch am Ende eine formale Größe. Jedenfalls kommt es weniger auf die Kleinheit an, als darauf, daß die jeweilige Untersuchung die gegebene Wirklichkeit aufnimmt, dialektisch weiter treibt und damit verändert.«61

57  Kracauer: Brief an Adorno (21.1.1933). In: Ebd., S. 300–303, hier S. 302. 58  Kracauer: Brief an Adorno (23.1931). In: Ebd., S. 270–272, hier S. 270. 59  Siegfried Kracauer: Der enthüllte Kierkegaard. In: Werke. Bd. 5.4: Essays, Feuilletons, Rezensionen 1932–1965. Hrsg. v. Inka Mülder-Bach, unter Mitarbeit von Sabine Biebl. Berlin 2011, S. 486–492. 60  Adorno: Brief an Kracauer (Frankfurt / Main, 29.5.1935). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 274–280, hier S. 275. 61  Kracauer: Brief an Adorno (7.6.1931). In: Ebd., S. 280–283, hier S. 281.

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1933–1949: die Auseinandersetzung um Jacques Offenbach und Die totalitäre ­Propaganda Die zweite Phase des Briefwechsels umfasst die Jahre 1933 bis etwa 1949. In dieser Phase ist der Briefwechsel nicht mehr so intensiv wie in der Weimarer Zeit. Er ist auch weniger persönlich: Kracauer erzählt im Grunde wenig von sich selbst und von seinem Leben in Paris. Nach einer langen Unterbrechung zwischen 1933 und 1935 steht in den Briefen Kracauers prekäre Situation im Mittelpunkt, während Adorno als Akademiker in Oxford und dann als engster Mitarbeiter von Horkheimer um seine Zukunft viel weniger bangen muss. Diese Diskrepanz führt zu einer großen Reizbarkeit bei Kracauer, der bei Adorno auf wenig Verständnis und Empathie stößt, weil für Adorno selbst unter chaotischen Verhältnissen die Verteidigung be­­ stimmter theoretischer Positionen Vorrang hat. Kracauer ist sicher beleidigt, dass man ihn nicht früher zur Mitarbeit herangezogen hat und meint, dass er nur durch den Haupteingang ins Institut eintreten kann. Er muss aber eine Auftragsarbeit annehmen, eine Studie über die faschistische Propaganda, die auf eine Idee von Adorno zurückgeht. Als er noch an dieser Studie arbeitet, erscheint seine Offenbach-Biografie,62 die von Adorno in einem privaten Brief verrissen wird,63 bevor er eine etwas zurückhaltende, aber eindeutig negative Rezension in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlicht.64 Als ein paar Monate später die endgültige Fassung der Propaganda-Schrift vorliegt, wird sie vom Institut abgelehnt, und Adorno will eine verkürzte, umgearbeitete Form veröffentlichen, in der der Kracauer-Text zu einem Adorno-Text geworden ist, worauf Kracauer die Veröffentlichung verweigert. Im Zentrum des Briefwechsels stehen dann bis 1941 die Pläne für Kracauers Auswanderung aus Frankreich nach Amerika, ein Thema, das immer akuter wird. Philosophisch gesehen verfestigen sich in dieser Zeit Kracauers und Adornos methodologische und philosophische Positionen. 1936 hat Kracauer noch lobende Worte für den berüchtigten Jazz-Aufsatz, der ihm als »Muster einer inhaltlich erfüllten soziologischen Exegese«, in der »die volle Empirie zur Interpretation mitverwandt wird«, erscheint.65 Kracauer wiederholt jedoch den Vorwurf des Negativismus:

62  Siegfried Kracauer: Werke. Bd. 8: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1937). Hrsg. v. Ingrid Belke, unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel. Frankfurt / Main 2007. 63  Adorno: Brief an Kracauer (Oxford, 13.5.1937). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 352– 362. 64  Adorno: Rez. von: Siegfried Kracauer. Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1937). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 19. Frankfurt / Main 1984, S. 363–365. 65  Kracauer: Brief an Adorno (Paris, 24.10.1936). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 319– 322, hier S. 319.

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[…] wie die falsche Gesellschaft so ist auch der Jazz bei Dir – trotz winziger Vorbehalte – so hundertprozentig falsch, daß ich nicht sehe, wie aus ihm dialektisch je irgendwas Richtiges gewonnen werden könne. Gerechtfertigt wäre das nur, wenn Du an einen totalen Umbruch glaubtest. Glaubst Du an ihn? Du weißt, daß in Russland der Jazz rezipiert worden ist, […].66

Kracauer betrachtet Adornos Negativismus als ein Mittel, eine radikal-revolutionäre Perspektive zu begründen (denn die Zeit der höchsten Negation ist wie bei Marx auch die Zeit des Umschlags), und spielt auf die etwas unklare Haltung des Horkheimer-Kreises zu Russland an: In der Tat haben sich Adorno und Horkheimer lange geweigert, die Sowjetunion öffentlich zu kritisieren. Adornos Verriss von Jacques Offenbach markiert durch seine Brutalität eine Wende im Briefwechsel. Adorno spricht eine Reihe von Punkten an, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Neben der etwas beckmesserischen Hervorhebung von Irrtümern im musikalischen Wortschatz ist der Vorwurf des Konformismus hervorzuheben. Kracauer sei im Grunde von Offenbachs Operette und vom Second Empire so fasziniert gewesen, dass er in der Phantasmagorie stecken geblieben sei. Es gelinge ihm also nicht, Offenbachs Operette dialektisch und kritisch auf den politischen Kontext zu beziehen. Dazu wäre aus Adornos Sicht eine andere Methode erforderlich gewesen, eine echte musikalische Materialanalyse, wie sie Adorno damals in seinen musiksoziologischen Schriften zum Fetischismus in der Musik durchführte. Diese methodologischen und sachlichen Mängel sind für Adorno der Ausdruck einer resignativen Haltung. Kracauer habe seine kritische und kämpferische Position der Weimarer Zeit und damit jeden Anspruch als Denker und Schriftsteller aufgegeben: »Ich greife Dich an, um Dich gegen Dich zu verteidigen: gegen eine Resignation, für die Du zu schade bist; und um an Deinen eigentlichen Ehrgeiz zu appellieren, an dem meiner sich geschult hat.«67 Auffallend ist, dass es genau die Argumentation ist, die Adorno später im Text Der wunderliche Realist, seinem Kracauer-Porträt von 1966, entwickeln wird. Interessant an Kracauers Antwort ist die Art und Weise, wie er den Rückgriff auf Anekdoten und die Beziehung zum Individuellen gegen Adornos Forderung nach radikaler Konstruktion der Interpretation verteidigt:

66  Ebd. 67  Adorno: Brief an Kracauer (Oxford, 13.5.1937). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 352– 362, hier S. 359.

Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer

Mit diesen Feststellungen erledigen sich zugleich die Einwände, die Du gegen die Art der Einbeziehung des Individuellen in meinem Buch richtest. Die Monadenhaftigkeit refüsieren, heißt nicht, jedes Sosein aufzuheben, bzw. auszuintepretieren – vor allem dann nicht, wenn Objekte im Spiel sind, die sich bei einem zu weit getriebenen Rückzug sofort verwischten. Wenn Interpretationen im konkreten Material eine gewisse, nicht gleichmäßig festzusetzende Schwelle überschreiten, hören sie auf zu funktionieren, nehmen den Charakter subjektiver Willkür an und erlangen allenfalls den problematischen Reiz ästhetischer Kuriositäten. Dort, wo diese Schwelle bei mir liegt, geht die Konstruktion in Erzählung über. Die sachlich gebotene Form der Erzählung ist von Dir so wenig einkalkuliert, daß Deine verschiedenen Verdikte über das Anekdotische, über die Traktierung des Erotischen und über die angebliche Banalität meiner Sprache zu bedeutungsleeren Aussagen werden. Was Du als banal ansiehst, ist in Wahrheit angemessenes Mittel der Darstellung einer so und so beschaffenen Sachwelt.68

Die Frage der Individualität und der Dignität des historischen Materials wird von nun an der zentrale Streitpunkt zwischen beiden Autoren sein. Man kann schon in diesem Brief von Kracauer den Ansatz von Gedankengängen erkennen, die im Mittelpunkt der späten Werke Kracauers stehen. Es gibt für Kracauer im historischen Material etwas, was als solches eine Dignität hat, was gerettet werden sollte, und nicht bloß als Ausgangspunkt einer Dialektik fungieren soll. Der Hinweis auf die subjektive Willkür der Analysen, die diese Individualität nicht mehr berücksichtigen, ist wohl auch als ein Angriff auf Adornos Methode zu verstehen. Die Frage der Nähe zum Material ist wieder im Mittelpunkt der Auseinandersetzung um die Totalitäre Propaganda ein paar Monate später. Für Adorno war der Warenfetischismus das Prinzip der Kontinuität zwischen Kapitalismus und Faschismus, und dieser Fetischismus manifestierte sich bereits in der modernen Massenkultur und in der Kulturindustrie. Im Aufsatz Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens schrieb er zum Beispiel: Das Prinzip des Stars ist totalitär geworden. Die Reaktionen der Hörer scheinen sich aus der Beziehung zum Vollzug der Musik zu lösen und unmittelbar dem akkumulierten Erfolg zu gelten, der seinerseits nicht entfernt durch vergangene Spontaneitäten des Hörens zureichend begriffen werden kann, sondern auf das Kommando der Verleger, Tonmagnaten und Rundfunkherren zurückdatiert.69

68  Kracauer: Brief an Adorno (Paris, 25.5.1937). In: Ebd., S. 362–365, hier S. 364. 69  Theodor W. Adorno: Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 14. Frankfurt / Main 1997, S. 14–50, hier S. 21.

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Kracauer weigert sich aber seinerseits, einen eindeutigen Zusammenhang zwischen kapitalistischer Reklame, Massenkultur und nationalsozialistischer Propaganda herzustellen, was für Adorno ein Ärgernis ist. Er schreibt 1938 an Benjamin: »Am großen Gegenstand der Reklame, der sich im Zitatenmaterial handgreiflich präsentiert, hat Kracauer um seiner psychologischen Weisheiten willen völlig vorbei gesehen«.70 Kracauer misstraute dieser ganzen philosophischen Konstruktion, wie er an Adorno schreibt: »Bei Dir tritt der Fascismus als eine fertige Sache auf, die hundertprozentig einund zugeordnet werden kann«.71 Sein eigener Ansatz kennzeichne sich hingegen durch »die Nähe zum noch undurchdrungenen Objekt« und die »sehr behutsame Ablösung des Konstruktiven vom Stofflichen«.72 Kracauer betont in der Tat die Singularität des historischen Kontextes: Die totalitäre Propaganda entfaltet sich nicht in einem leeren Raum, sondern unter bestimmten ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Voraussetzungen. Sehr deutlich erklärt Kracauer an Adorno in Bezug auf sein Rewriting: Während ich eine von den Erfordernissen und den Schwierigkeiten des Stoffs her diktierte Disposition bringe, behandelt die Deine den Gegenstand wie eine kategorial bereits vollkommen subsumierte Affäre, die man ohne viel Rücksicht auf die vorgegebene Gestalt des Stoffs beliebig aufziehen kann. Dein Arrangement trägt meinem Ermessen nach zum Teil einen rein ornamentalen Charakter.73

Kracauer beschreibt so den eigenen Ansatz: »Ich habe mich mit unendlicher Vorsicht um die sorgfältige Ablösung des Konstruktiven vom Gegebenen bemüht, und zu diesem Zweck eine bestimmte mittlere Distanz zum Ge­­ schehen gewahrt«.74 Auffallend ist an dieser Stelle der Begriff der »mittleren Distanz«, weil er auf die Idee einer mittleren Schicht hinweist, einer Schicht zwischen formloser Empirie einerseits und allgemeiner Idee andererseits, die im posthum erschienenen Buch History so wichtig ist: Es ist die Ebene,

70  Adorno: Brief an Walter Benjamin (7.3.1938). In: Theodor W. Adorno, Walter Benjamin: Briefwechsel 1928–1940. Frankfurt / Main, 1994, S. 313. 71  Kracauer: Brief an Adorno (Paris 20.8.1938). In: Ebd., S. 395–401, hier S. 397. 72  Siegfried Kracauer: Brief an Horkheimer (Paris, 20.8.1938). In: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Bd. 16: Briefwechsel 1937–1940. Hrsg. v. Gunzelin ­Schmid Noerr. Frankfurt / Main 1995, S. 458–460, hier S. 459. 73  Kracauer: Brief an Adorno (Paris, 20.8.1938). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 395– 401, hier S. 398. 74  Ebd., S. 397.

Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer

auf der sich der Historiker und Autor Kracauer bewegt.75 Adornos Kritik mag als rücksichtslos erscheinen und hat etwas von einer sehr persönlichen Abrechnung.76 Aber andererseits hat Adorno zu Recht gespürt, dass sich Kracauer – teilweise zumindest – von der politisch-philosophischen Konstellation der 1920er Jahre distanziert hatte. Wie er an Panofsky etwas später schrei­ben wird, identifiziert er sich in Jacques Offenbach am ehesten mit den skeptischen, und melancholischen, exterritorialen Boulevardiers.77 Man könnte meinen, dass Adorno aufgehört hat, Kracauer philosophisch überhaupt ernst zu nehmen, und dieser Eindruck scheint berechtigt, wenn man seine bösen Briefe an Horkheimer oder Benjamin heranzieht. Aber Kracauer ist ihm als Irritation wichtig geblieben, wie der späte Aufsatz Der wunderliche Realist zeigt, und in der letzten Phase des Briefwechsels nimmt diese Irritation ihre endgültige Gestalt an.

1949–1966: die Stabilisierung der Differenz Die große persönliche Spannung bleibt im Briefwechsel bis Ende der 1940er Jahre spürbar. Erst als Adorno 1949 einen recht herzlichen Brief zu Kracauers 60. Geburtstag schreibt, herrscht im Briefwechsel eine neue Stimmung.78 Wie Kracauer am 1.10.1950 schreibt, setzt für Adorno die »Zeit der Ernte« ein. Er ist jetzt anerkannt und etabliert.79 Der Briefwechsel wird sehr regelmäßig und insgesamt herzlich. Die gemeinsame Vergangenheit ist stets im Hintergrund präsent: 1949 ist von den alten gemeinsamen Nietzsche-Lektüren die Rede.80 1959 erinnert Adorno Kracauer an ihre erste Begegnung im Jahre 1918.81 1966 ist Adorno in Neapel, und er erinnert

75  Siegfried Kracauer: Werke. Bd. 4: Geschichte. Vor den letzten Dingen (1966). Hrsg. v. Ingrid Belke, unter Mitarbeit von Sabine Biebl. Frankfurt / Main 2009. 76  »Aus der brüsken Haltung Adornos gegenüber Kracauer spricht, dass der Freund der frühen Jahre während dessen existentieller Bedrohung im Exil als Gegenstand eines Emanzipationsversuchs geradezu missbraucht wurde.« Stefan Müller-Doohm, Wolfgang Schopf: Der erste Mentor: Siegfried Kracauer. In: Richard Klein, Johann Kreuzer, Stefan Müller-Doohm (Hrsg.): Adorno-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2011, S. 21–25, hier S. 23. 77  Siegfried Kracauer: Brief an Erwin Panofsky (New York, 8.11.1944). In: Siegfried Kracauer, Erwin Panofsky: Briefwechsel 1941–1966 (mit einem Anhang: Siegfried Kracauer under the spell of the living Warburg tradition). Hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen v. Volker Breidecker. Berlin 1996, S. 37–38, hier S. 38. 78  Adorno: Brief an Kracauer (7.2.1949). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 442 f. 79  Kracauer: Brief an Adorno (New York, 1.10.1950). In: Ebd., S. 447–452, hier S. 448. 80  Ebd., S. 444. 81  Adorno: Brief an Kracauer (Frankfurt / Main, 3.2.1959). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 500–502, hier S. 500.

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sich, wie »wir 1925 hier waren und im Vesuvio wohnten«.82 Er fügt hinzu: »unterdessen ist man, ohne zu wissen wie, alt geworden«. Benjamin kommt immer wieder vor und ist ein Bindeglied zwischen den beiden Freunden. Am 4.7.1951 lobt Kracauer Adorno für seinen Benjamin-Aufsatz: »Die Art wie du Benjamin’s Dialektik herausanalysierst – – eine Dialektik, die nicht weiter geht oder sich nicht schließt und sich immer am Material des Abfalls entzündet – – gibt einen sehr tiefen Einblick in diesen einzigartigen und zugleich kuriosen Denkmechanismus.«83 Kracauer bewundert Adornos erstaunliche Produktivität. Adorno hilft ihm bei der Veröffentlichung seiner Schriften bei Suhrkamp, macht seine Studenten mit Kracauers Schriften bekannt. Kracauer wird in der Öffentlichkeit mit der Frankfurter Schule in Verbindung gebracht, was in ihm ambivalente Gefühle erzeugt. Im Unterschied zu Adorno beteiligt er sich nicht aktiv am intellektuellen Leben in Deutschland, aber er teilt eindeutig Adornos Abneigung gegen Heidegger und den Jargon der Eigentlichkeit. Nicht zufällig goutiert Adorno in Kracauers Aufsatzsammlung Das Ornament der Masse, die noch zu Kracauers Lebzeiten erscheint, den bösen Angriff auf Buber, weil er aus Adornos Sicht mit Rosenzweig und Herrigel damals einen Kreis bildete, der eine bestimmte Verwandtschaft zur Sphäre des Jargons der Öffentlichkeit aufweist: »Besonders gefallen hat mir die Arbeit gegen Buber, heute noch so aktuell wie damals; sie wird den Alten sicherlich sehr ärgern, er hat’s, mit seiner Bewunderung für Heidegger, reichlich verdient.«84 Kracauer meint zum Jargon-Artikel: »[…]: die Attacke auf die Eigentlichen mit Heidegger an der Spitze und dem törichten Jaspers hintendrein hätte nicht besser und schlagender erfolgen können«.85 Kracauer lässt sich jedoch nicht wirklich in die polarisierte philosophische und politische Landschaft der Bundesrepublik einordnen. Seine Theorie des Films passt nicht in das Schema. Wie er Adorno – zu Recht – erklärt, hat seine Charakterisierung der Moderne als Zeit des Ideologieverlusts nichts gemein mit der kulturkritischen Klage, die in den 1950er und teilweise in den 1960er Jahren in Deutschland noch virulent war, denn für Kracauer ist dieser Ideologieverlust die Voraussetzung für eine neue Erfahrung von Realität. Kracauer nimmt Adornos Rolle in der Öffentlichkeit mit einer gewissen Skepsis wahr, wie man den bösen Briefen an Leo Löwenthal entnehmen kann.

82  83  84  85 

Adorno: Brief an Kracauer (Neapel, 7.10.1966). In: Ebd., S. 719. Kracauer: Brief an Adorno (New York, 4.7.1951). In: Ebd., S. 455–458, hier S. 455. Adorno: Brief an Kracauer (Frankfurt / Main, 22.7.1963). In: Ebd., S. 601–604, hier S. 601. Kracauer: Brief an Adorno (New York, 22.11.1963). In: Ebd., S. 624–625, hier S. 624.

Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer

Aber auch hier wieder verfährt er nach immer demselben Prinzip, zuerst zertrampelt er alles, dann streicht er es wieder glatt. Und der Begriff der Utopie wird, was höchst unzulässig ist, als reiner Grenzbegriff benutzt, der nicht den geringsten Inhalt hat. Ach, er sieht die Utopie nicht. Ich kenne kein anderes Beispiel von scheinbar eingreifender Kritik, die so wenig Greifkraft hat. Es bleibt am Ende alles beim Alten, und im Grunde fühlt er sich recht wohl dabei.86

In einem anderen Brief meint Kracauer: »Er schreibt ja auch so viel, und manches, was ich davon sah, ist auf einer hohen Ebene falsch, ausgeleierter Tiefsinn und eine Radikalität, die es sich gut gehen lässt …«87 Die theoretische Diskussion zwischen beiden Freunden wird im Briefwechsel nur ansatzweise geführt, und sie kreist weiterhin um das Thema des Verhältnisses zur Realität. Kracauer lobt zwar Minima Moralia, weil das Buch von der Fähigkeit zeuge, »das Material des Daseins gedanklich zu durchdringen«, und weil das Phänomen »ganz in den dialektischen Prozeß einbezogen« sei, selbst wenn die Interpretation zunächst einseitig erscheine.88 In den meisten Fällen läuft aber für Kracauer diese Adorno’sche Dialektik ins Leere, oder die Gefahr ist groß, dass sie ins Leere läuft in ihrem Versuch, jedem affirmativen Identitätsdenken zu entkommen. Demgegenüber kennzeichnet Kracauer seinen Ansatz wieder als »Konstruktion im Material«,89 als »genaue Entsprechung von Idee und Realität«.90 Er sieht zwar diesen Ansatz in bestimmten Schriften Adornos am Werke, aber im Grunde nur am Rande. In Bezug auf die Reflexion über die Zeit und die Geschichte, die Adorno in seinem Text Dialektik des Fortschritts unternommen hatte, schreibt er: »[…] meine eigenen Gedanken über das Thema liegen – – wie sich versteht – – auf derselben Linie, kommen aber mehr aus der Versenkung ins Empirische der Geschichte und haben daher eine andere Färbung.«91 Adorno trifft den Punkt, wenn er 1963 schreibt, dass ihre Diffe-

86  Siegfried Kracauer: Brief an Löwenthal (New York, 27.10.1958). In: Siegfried Kracauer, Leo Löwenthal: In steter Freundschaft. Briefwechsel. Hrsg. v. Peter-Erwin Jansen und Christian ­Schmidt; mit einer Einleitung von Martin Jay; aus dem Englischen v. Bob Detobel und Susanne H. Löwenthal; aus dem Französischen v. Bob Detobel. Springe 2003, S. 211–213, hier S. 212. 87  Kracauer: Brief an Löwenthal (New York, 4.7.1960). In: Kracauer, Löwenthal: In steter Freundschaft, S. 226–229, hier S. 227–228. 88  Kracauer: Brief an Adorno (New York, 4.7.1951). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 455–458, hier S. 456. 89  Kracauer: Brief an Adorno (New York, 23.12.1963). In: Ebd., S. 632–635, hier S. 633. 90  Ebd., S. 633. 91  Kracauer: Brief an Adorno (New York, 27.11.1962). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 561–565, hier S. 562.

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renz im Grunde den Begriff des Konkreten betrifft und sich wie schon 1933 auf Hegel bezieht: »Ich meine, im Medium der Philosophie bedeutet er etwas ganz anderes als das Hineinziehen unmittelbarer Beobachtungen und Erfahrungen; aber ich bin halt von Hegel arg verdorben.«92 Diese Diskussion entfacht sich wieder am Text Der wunderliche Realist von 1966, der »die alten Affinitäten und Antagonismen« rekapituliert.93 Adorno wiederholt dort die Anpassungstheorie, die er schon in seiner Kritik an Jacques Offenbach entworfen hatte: Kracauer habe sich mit der Welt abgefunden und sei zu einem resignierten und skeptischen Humanismus übergegangen. Typischerweise antwortet Kracauer nicht ausdrücklich auf diesen Vorwurf in den Briefen. Er zieht es vor, bestimmte Details in Adornos Text zu berichtigen. Die Antwort befindet sich in History, einem Buch, das letztlich auch eine intellektuelle Autobiografie ist: Es geht Kracauer im Grunde darum, inwiefern eine Erfahrung von Realität in der Moderne möglich sei, und für ihn ist sie nicht nur möglich, sondern sie wird in gewisser Hinsicht erst in der Moderne – dank der fotografischen Medien – möglich, oder sie erhält in der Moderne eine neue Qualität. Die fotografischen Medien machen eine Erkenntnis der Realität möglich, und Kracauer ist da wesentlich optimistischer als Adorno, der dem Film skeptisch gegenübersteht. Kracauer reagiert entschieden gegen die These vom Erfahrungsverlust, die Adorno nicht nur mit Benjamin teilt, sondern auch, wie Christian Thies gezeigt hat, mit Arnold Gehlen.94 Er weigert sich seit den 1930er Jahren, die verwaltete Welt, die Welt der fotografischen Medien und der Massenmedien ausschließlich als entfremdete Welt, falsche Realität und Verblendungszusammenhang zu betrachten. Sein Interesse gilt also nach 1940 nicht so sehr der Beschreibung der Pathologien der Moderne, sondern mehr der Begründung der Möglichkeit einer subjektiven Erfahrung und eines Kontakts zur Realität im Kontext der Moderne. Der Film ermöglicht aus seiner Sicht diesen Zugang zur Realität. Die Massenkultur erscheint ihm bei Adorno hingegen »undurchdrungen«.95 In der Tat werden bei Adorno die neuen Medien vorwiegend vom Standpunkt ihrer manipulativen Funktion behandelt. Am 5.2.1965 schreibt er an Kracauer:

92  Adorno: Brief an Kracauer (Frankfurt / Main, 17.12.1963). In: Ebd., S. 627–631, hier S. 628. 93  Kracauer: Brief an Adorno (New York, 15.10.1964). In: Ebd., S. 669–671, hier S. 670. 94  Christian Thies: Die Krise des Individuums. Zur Kritik der Moderne bei Adorno und Gehlen. Reinbek bei Hamburg 1997. 95  Kracauer: Brief an Adorno (New York, 4.7.1951). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 455–458, hier S. 457.

Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer

Aber es erscheint, soweit ich es überblicken kann, in Deinem Buch [d. h. der Theorie des Films, O. A.] überhaupt nicht, oder nur ganz peripher das, wogegen doch eigentlich der Widerstand ernsthafter Menschen gegen den Film sich richtet, nämlich daß er, unmittelbarer eingespannt in das kommerzielle System als irgendeine andere Ausdrucksform, zur Entfaltung seiner immanenten Gesetzlichkeit es überhaupt nicht gebracht hat, daß er nur ein Für anderes und nicht ein An sich ist, während Du ihn so behandelst, als ob er das letztere wäre.96

Das bedeutet aber nicht, dass Kracauers Begriff von Realismus naiv-ontologisch wäre, wie ihm Adorno und die von ihm beeinflussten Rezensenten und Kritiker vorwerfen. Die physische Realität ist nicht unmittelbar gegeben und wird erst durch die Vermittlung der modernen Medien sichtbar. Darüber hinaus ist diese Erkenntnis der Realität ein mühsamer Prozess, der eine Arbeit des Subjekts voraussetzt: Das Subjekt muss in der Lage sein, seine Subjektivität zu mobilisieren, aber auch sich zu öffnen, diese Subjektivität aufzugeben, in Klammern zu setzen. Dieses Subjekt, der Spectator, ist nicht mehr das bürgerliche Subjekt. Mit dieser Frage des Zugangs zur Realität ist die Frage der Utopie verbunden, die auch im Briefwechsel diskutiert wird. Die historische Welt und die Kamera-Realität werden von Kracauer mit einem Vorraum verglichen, einem Raum der vorletzten Dinge, der nicht ohne Beziehung ist zu den letzten Dingen, obwohl wir diese letzten Dinge nicht erreichen können. In den Zwischenräumen zwischen den Ideologien kann die historische Erkenntnis durch ihre Fähigkeit zum Estrangement des Gewohnten auf eine prekäre und provisorische Weise eine Form von Wahrheit erreichen. Kracauer betrachtet Adornos negative Dialektik hingegen – wie er 1960 schreibt – als »radikal anti-ontologische Dialektik«, die jede positive Erkenntnis ausschließt.97 Am 23.12.1963 schreibt er Adorno: »Es ist, Du weißt es, ein gutes Stück Sancho Pansa in mir, und Kant mit seinem Zögern und seiner Scheu vor dem ontologischen Restbestand ist mir nun einmal näher als Hegel.«98 Es ist klar, dass Kracauer in Adornos Augen mit diesem Ansatz das Ausmaß der Katastrophe des 20. Jahrhunderts und der Anforderungen, die sie an das Denken stellt, nicht erfasst und dass er als skeptischer Humanist die zerstörerische Dynamik der Dialektik der Aufklärung, die zu Auschwitz geführt hat, unterschätzt. Adorno war jedoch durch diese Kritiken irritiert genug, um an einer Stelle der Negativen Dialektik, diese Dialektik

96  Adorno: Brief an Kracauer (Frankfurt / Main, 5.2.1965). In: Ebd., S. 687–690, hier S. 688. 97  Siegfried Kracauer: Brief an Adorno (New York, 11.12.1960). In: Ebd., S. 522–524, hier S. 522. 98  Adorno: Brief an Kracauer (New York, 23.12.1963). In: Ebd., S. 632–635, hier S. 633.

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gegen den Vorwurf der Bodenlosigkeit, den Kracauer formuliert hatte, zu verteidigen. Und Adorno hat es auch als notwendig empfunden, in einer angeblichen Ehrung seines Freundes, d. h. im Text Der wunderliche Realist, seinen eigenen Denkansatz zu rechtfertigen, wie er unverblümt an Horkheimer schreibt.99 Kracauer hat natürlich diese Intention sofort durchschaut: »Deine Sicht von mir läßt mich Dich deutlicher sehen«.100 Und doch besteht trotz dieser Differenz auch eine Verwandtschaft zwischen beiden Autoren, was die ursprünglichen Impulse ihres Denkens betrifft, die selbst in den späten Briefen spürbar bleibt. Die Kritik am Idealismus, die Hinwendung zum Objekt und zum Material, das Misstrauen jedem Totalitätsdenken gegenüber, insbesondere gegenüber der Geschichtsphilosophie, die Suche nach utopischen Spuren sind ihnen gemeinsam. Sie haben beide eine Vorliebe für das Fragmentarische und bekennen sich zu »der Notwendigkeit freien Assoziierens«.101 Zu Recht verweist Kracauer 1956 darauf, dass Adornos Lektüre von Kaf ka Ähnlichkeiten mit seiner eigenen Lektüre der 1920er Jahre aufweist. Er stimmt Adornos Leitmotiv zu, »daß Kafka das ›System‹ aus seinem Abfall versteht, (wie einer, der den Kehricht durchwühlt und aus weggeworfenen Fetzen und Splittern für sich allein schöne Figuren zusammenstellt)«,102 ein Thema, das Kracauer in seinen eigenen Aufsätzen über Kafka in der Frankfurter Zeitung in der Tat immer wieder behandelt hat. Kracauer bejaht durchaus Adornos Kritik an der »Identitätsphilosophie«.103 Aber Adornos Strategie besteht darin, dass er die Philosophie mit ihrem Anspruch, das Sein zu erreichen, von innen dekonstruiert. Er bleibt solidarisch mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes und will über den Begriff durch den Begriff hinausgelangen. Das ist bereits die Methode des Kierkegaard-Buchs, in dem der dänische Philosoph immanent kritisiert wird. Lore Hühn und Philipp Schwab bemerken zu Recht: »Die Kritik trägt ihren Maßstab nicht von außen an Kierkegaard heran, sondern weist ihn aus an der ›verräterischen Wörtlichkeit‹ von Kierkegaards Metaphysik«.104 Kracauer bezeichnet diesen Ansatz 1962 als »Aufhebung der

  99  Theodor W. Adorno: Brief an Horkheimer (30.9.1964). In: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Bd. 18: Briefwechsel 1949–1973. Hrsg. von Gunzelin ­Schmid Noerr. Frankfurt / Main 1995, S. 576 f. 100  Kracauer: Brief an Adorno (New York, 15.10.1964). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 669–671, hier S. 670. 101  Kracauer: Brief an Adorno (New York, 23.12.1963). In: Ebd., S. 632–635, hier S. 633. 102  Kracauer: Brief an Adorno (New York, 28.8.1954). In: Ebd., S. 469–472, hier S. 469. 103  Kracauer: Brief an Adorno (New York, 27.11.1962). In: Ebd., S. 561–564, hier S. 561–562. 104   Lore Hühn, Philipp Schwab: Intermittenz und ästhetische Konstruktion: Kierkegaard. In: Klein, Kreuzer, Müller-Doohm (Hrsg.): Adorno-Handbuch, S. 325–334, hier S. 331.

Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer

Philosophie« »mit philosophischen Mitteln«.105 Er kritisiert viele Punkte in Adornos Darstellung seines intellektuellen Werdegangs in Der wunderliche Realist, aber er bestreitet nicht Adornos Charakterisierung seines eigenen distanzierten Verhältnisses zur Philosophie. Insofern hat Adorno nicht ganz unrecht, wenn er an Kracauer schreibt: »Was prinzipiell zwischen uns kontrovers bleibt, ist die Frage des Ansatzes von Kritik. Der Deine ist, durchwegs, transzendent, der meine immanent.«106 Es ist für das Verhältnis von Kracauer und Adorno charakteristisch, dass sie ihre theoretischen Differenzen nirgendwo explizit und ausführlich ausgetragen haben. Es gibt in Adornos Texten wenig Bezüge zu Kracauer und umgekehrt wenig Bezüge zu Adorno bei Kracauer. Nur die Briefe geben Aufschluss über diese hintergründige Debatte, die für beide Autoren irritierend und konstitutiv ist.

105  Kracauer: Brief an Adorno (New York, 27.11.1962). In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel, S. 561–565, hier S. 562. 106  Adorno: Brief an Kracauer (Frankfurt / Main, 22.7.1963). In: Ebd., S. 601–604, hier S. 602.

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»Du siehst, wie sich Privataffären mit Weltgeschichte durchdringen« Friedrich Gundolfs Briefwechsel mit Elisabeth Salomon

1. Schreibraum Liebesbrief Traditionell ist der Brief eine gern genutzte Quelle für spezifische Forschungsfragen außerhalb der Briefkultur – so etwa, wenn es darum geht, Aufschlüsse über biografische, literarische, historische oder soziologische Zusammenhänge zu gewinnen. Dabei ist die Versuchung nach wie vor groß, das in Briefen Geäußerte, aller Rhetorik ungeachtet, als Authentisches zu verstehen. Ganz im Sinne der im 18. Jahrhundert ihren Siegeszug antretenden Brieflehre Gellerts, die den Brief in der bürgerlichen Briefkultur als ein Kommunikationsmedium der Unmittelbarkeit etablierte. Neue Ansätze der Briefforschung rücken den Brief – und hier insbesondere den Liebesbrief –1 demgegenüber als epistolares Ereignis sui generis ins Zentrum wissenschaftlichen Interesses und machen deutlich, wie wenig die überkommene Sicht auf Briefe der Realität von Briefkommunikationen entspricht. Unter anderem haben auch die Schreibprozessforschung2 sowie Theorien zur Objekt- und Ereignishaftigkeit von Briefen3 den Blick für den ästhetischen Eigenwert der Briefkunst geschärft und das Briefeschreiben als eine ästhetisch motivierte Kulturtechnik im Licht moderner Inszenierungen von Sub-

1  Vgl. Renate Stauf, Annette Simonis, Jörg Paulus (Hrsg.): Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin 2008; Renate Stauf, Jörg Paulus (Hrsg.): SchreibLust. Der Liebesbrief im 18. und 19. Jahrhundert. Berlin, Boston 2013; Karina Kellermann, Jörg Paulus, Renate Stauf: Liebesrede / Liebesbrief. In: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 10. Nachträge A-Z. Berlin 2012, S. 574–584; Andrea Hübener, Jörg Paulus, Renate Stauf: Liebesbrief / Erotischer Brief. (Erscheint demnächst in: Eve-Marie Becker, Isabel Marie Schlinzig, Jörg Schuster, Jochen Strobel (Hrsg.): De Gruyter-Handbuch Brief). 2  Vgl. Martin Stingelin u. a. (Hrsg.): Zur Genealogie des Schreibens. München 2004–2016; Sandro Zanetti (Hrsg.): Schrei­ben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Berlin 2012; Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schrei­ben. In: Sandro Zanetti (Hrsg.): Schrei­ben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Berlin 2012, S. 269–282. 3  Vgl. Waltraud Wiethölter, Anne Bohnenkamp (Hrsg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Frankfurter Tagung. Frankfurt / Main, Basel 2010.

Friedrich Gundolf und Elisabeth Salomon

jektivität neu verortet.4 Dabei hat sich erwiesen, dass Briefe ein besonderes Forum für die Ausbildung jener ästhetischen Schreib- und Leseprozesse des Alltags bieten, deren Verbindung schon Roland Barthes nachdrücklich dargelegt hat.5 Briefe werden nicht nur um des Mitteilens willen geschrieben. Und sie übermitteln als Schriftträger und Objekte Botschaften, die über das schriftlich Mitgeteilte weit hinausreichen.6 Besondere textuelle Strategien, wie auch die Ausgestaltung des materialen Schreibraums (Wahl der Tinte, Anordnung der Schrift, Zeichnungen, Briefbeilagen etc.), sorgen dafür, dass die biografische und historische Wirklichkeit nicht einfach widergespiegelt, sondern erst diskursiv erzeugt wird.7 Dem Schreibraum als Denk- und Emotionsraum kommt hierbei eine konstitutive Bedeutung zu. Eine sich über die Intensität der Eigenwahrnehmung und der imaginierten Anwesenheit des abwesenden Anderen vollziehende Schreibbewegung entscheidet darüber, wer oder was (welche Personen und Diskurse) Einlass in diesen Schreibraum findet. Diese Frage ist ebenso spannend wie aufschlussreich für den Verlauf und die Auswertung von Briefgesprächen. Im Folgenden soll die Textur einiger Diskurse exemplarisch ausgeleuchtet werden, die in der sogenannten ›Zwischenkriegszeit‹ den Schreibraum des zwischen 1914 und 1931 geführten Liebesbriefwechsels zwischen Friedrich Gundolf und Elisabeth Salomon strukturieren. Dabei gehe ich von der These aus, dass das diskursive Erzeugen biografischer und historischer Wirklichkeiten in der brieflichen Modellierung von Liebesgesprächen besonders signifikant ist. Der Liebesbrief ist ein Experimentierfeld moderner Subjektivität, auf dem sich das leibhaftige Fehlen des angesprochenen Gegenübers auf spezifische Weise als ein Einfallstor für das Imaginäre erweist und sich

4  Vgl. Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. Frankfurt / Main 1989; Peter Bürger: Das Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes. Frankfurt / Main 1998; Thomas Anz: Kulturtechniken der Emotionalisierung. Beobachtungen, Reflexionen und Vorschläge zur literaturwissenschaftlichen Gefühlsforschung. In: Karl Eibl, Katja Mellmann, Rüdiger Zymner (Hrsg.): Im Rücken der Kulturen. Paderborn 2007, S. 207–240. 5  Vgl. Roland Barthes: Vers le neutre: essai. Hrsg. v. Bernard Comment. Paris 1991; ders.: La préparation du roman: I et II; Notes de cours et de séminaires au Collège de France 1978–1979 et 1979–1980. Hrsg. v. Nathalie Léger. Paris 2003; vgl. auch ders.: Le Degré zéro de l’écriture suivi de Nouveaux essais critiques. Paris 1972. 6  Vgl. Renate Stauf: Zwischen Welt und Schrift – der Liebesbrief als Kunstform. In: Jennifer Clare, Susanne Knaller, Rita Rieger, Renate Stauf, Toni Tholen (Hrsg.): Schreibprozesse im Zwischenraum. Zur Ästhetik von Textbewegungen. Heidelberg 2018, S. 115–128. 7  Vgl. Davide Giuriato, Martin Stingelin, Sandro Zanetti (Hrsg.): »Schrei­ben heißt sich selber lesen«. Schreibszenen als Selbstlektüren. München 2008; vgl. hierzu auch die innovativen Arbeiten von Jörg Schuster: »Kunstleben«. Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 – Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes. Paderborn 2014.

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variantenreich mit der Liebesrede verbindet.8 An einem Brief Gundolfs seien einige Aspekte dieses Imaginationsfeldes eingangs veranschaulicht. Am 18. Januar 1920 lässt der Heidelberger Germanistikprofessor Friedrich Gundolf in einem Brief an seine in Berlin weilende Geliebte (und spätere Ehefrau) Elisabeth Salomon das seit sechs Jahren bestehende Liebesverhältnis Revue passieren: Mein Geliebtes, mein Muselchen! Eben komme ich aus Darmstadt zurück, […] und hier find ich deinen Brief. […] und die ganze Not, nicht mehr täglich dich sehn hüten küssen wärmen zu können, du immer gefährdetes Liebewesen. Und welche sechs Jahre sollen enden! ich weiss alle solche Freuden enden, selbst wenn man sie durch den Ehestand vertäglicht und aus den blauen Wunderblumen Heu macht zum täglichen Futter. Und wir dürfen nicht klagen – all das weiss ich – wir haben uns tiefer herzlicher leichter näher öfter mannigfaltiger gehabt und geherzt als sichs irgend ein Romeo und Julia, Antonius und Cleopatra, Egmont und Clärchen oder sonst ein Leib und Seelenbund wünschen mag, und ich will dem Geschick, nein Dir danken, der immer neuen, immer wachen, Süssen, Tollen, Erfinderischen und Guten, Treuen, Leichten! Aber wenn ich an deinem Haus vorbeigeh wein ich und nachts stöhn ich – Aber alles wäre noch leichter, wenn ich gewiss wär, daß du von dem Licht das du mir so unerschöpflich eingegossen und nach allen Seiten versprüht hast, daß du davon bei dir behalten wirst, daß du mir nicht verdüsterst! O Liebe, du hast einen Dämon, aber ich weiss nicht wohin er dich führt … Und frag dich nicht ob du meine Liebe verdienst. Wenn Liebe ›die nicht Macht hat nicht Recht hat‹ so gilt auch das umgekehrt: wer solche Liebe erwecken und bewahren kann, der verdient sie.. ob durch Verdienst, durch Zauber, durch Gnade: du hast mich umstrickt und ich muss dich lieben, so wie du bist, Dich, die Elli, das Musel, mein Süsses, von dem reichen Herzen an bis zum kleinsten Härchen, das Karpfenschnäuzchen und die herrlichen Beine, deine Tränen und deine 10 kleinen Negerlein, deine Papierindustrie und deine Tanzwut, Dein allerberedtestes und dein allerstummestes Glied – ich liebe dich und sehne mich danach. Liebchen, raune mir nicht von Not und Gram den du hast, gib mir irgend eine Blickrichtung, sonst grübl ich mich noch in grössere Sorge.. ich bin eben nicht ganz gesund im Gemüt, das weiss ich selbst, aber nimm dennoch drauf Rücksicht.. ich bin hellhöriger, verwundbarer und weitsichtiger in der Verdüsterung.9

8  Vgl. hierzu exemplarisch meine Analyse des Briefwechsels: »Du bist über mein Herz geschritten«. Das Schrei­ben der Liebe bei Karl Kraus und Sidonie Nádherná von Borutin. In: Susanne Knaller, Rita Rieger (Hrsg.): Ästhetische Emotion. Formen und Figurationen zur Zeit des Umbruchs der Medien und Gattungen. Heidelberg 2016, S. 133–161. 9  Friedrich Gundolf, Elisabeth Salomon: Briefwechsel 1914–1931. Hrsg. von Gunilla Eschenbach, Helmuth Mojem unter Benutzung von Vorarbeiten von Michael Matthiesen. Berlin, Boston 2015, S. 208 f. Alle Zitate aus dieser Ausgabe werden im laufenden Text wie folgt gekennzeichnet: (FG-ES, Briefe, mit Seitenangabe).

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Gundolfs Liebeserklärung eröffnet einen Schreibraum des Imaginären, in dem nicht nur die abwesende Geliebte als imaginierte Anwesende in immer wieder neu ansetzenden Persönlichkeitsentwürfen präsent ist. Anwesend ist in Briefen wie diesem stets auch Stefan George, der an dem Liebesdialog auch dort mitschreibt, wo er nicht oder nur indirekt genannt wird. Sei es durch literarische Anspielungen oder durch Gundolfs Selbstinszenierung als Opfer einer weiblichen Überwältigung. Gundolf spielt hier mit einem Selbstzitat (»Und wen Gott nicht erhört, ist nicht gerecht / Und liebe die nicht macht hat hat kein recht«) auf George an. Es stammt aus seinem Gedicht »Ich will kein recht wo du mir unrecht gibst«, das 1919 in der zwölften Folge der Blätter für die Kunst erschienen war. Ebenso versteht sich der Hinweis auf die klassischen Liebespaare bei Shakespeare und Goethe als Rechtfertigung seiner Liebe zu Elisabeth Salomon vor dem im Brief anwesenden Dritten.10 Gegenüber den Anfeindungen, die ihr vonseiten des George-Kreises entgegengebracht werden – George hatte das ihm missliebige Verhältnis mit der archetypischen Konstellation von Parsifal und Kundry verglichen –,11 will Gundolf seiner Liebesgeschichte einen Platz neben den großen Paaren der Weltliteratur sichern. Aus seiner Sicht gebührt ihr dieser Platz. Muss sich seine Liebe zu der promovierten Nationalökonomin und freien Journalistin doch nicht nur gegenüber George behaupten, sondern auch in schwerer Zeit, in den weltgeschichtlichen Gefahren und Wirren von Krieg und Revolution bewähren. Gundolf schreibt Salomon im Zeichen seiner Arbeit am Mythos vom ›Großen Paar‹ unterschiedliche Rollen zu, spielt auf die Figur der Muse, der Femme fatale, der Hexe, der Lichtbringerin, der Heiligen an, experimentiert schreibend und zeichnend mit Geschlechterklischees, verschränkt hybride Selbstdarstellungen mit devoten Selbstbezichtigungen und erotischen Abhängigkeitsbezeugungen. Seine erfindungsreiche Liebessprache, die auch das Sentimentale nicht scheut, wird durchwegs von einer großen Sprachkraft getragen. Stellenweise schlägt Gundolf auch ironisch-­ witzige Töne an. So etwa mit Wendungen wie »von dem reichen Herzen bis

10  Zu Gundolfs Position im George-Kreis und dem dort gepflegten Briefstil vgl. Renate Stauf: »Ich gehe immer und immer an den äussersten rändern«. Stefan Georges Briefkommunikation. In: George-Jahrbuch 12 (2018/19), S. 1–28. 11  Gestützt wurde diese Sicht durch einen Schlüsselroman Albrecht Schäffers, der 1919 erschien und den Titel trägt »Elli oder Sieben Treppen« und den Salomon wie auch den Autor kannte (vgl. die Ausgabe: Albrecht Schaeffer: Elli oder Sieben Treppen. Beschreibung eines weiblichen Lebens. Leipzig 1923). Im Nachwort zur Briefausgabe (Anm. 9) wird ausführlich dargelegt, wie nachhaltig Schaeffers Romanfigur, die mit Salomon, wenn auch erkennbar nach deren Vorbild modelliert, kaum eine Ähnlichkeit hat, die Auffassung von Salomon als einem gefallenen Mädchen in der »Sekundärliteratur bis hin zur jüngsten George-Biographie von Thomas Karlauf« geprägt hat (ebd., S. 716).

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zu dem kleinsten Härchen« und »dein allerberedtestes und dein allerstummstes Glied« oder mit Begriffen wie »Karpfenschnäuzchen«, »Tanzwut« und »Papierindustrie«.12 Auch der Alltag und das Politische finden Aufnahme in den Schreibraum dieser Liebesbriefe, die bis heute überwiegend aus Gundolfs Perspektive wahrgenommen wurden. Eine Ausnahme macht die 2015 erschienene, sorgfältig kommentierte Auswahlausgabe. Sie hat den lange nicht zugänglichen Briefwechsel als ein einzigartiges Zeitzeugnis aufbereitet.13 Präsentiert werden hier 411 von insgesamt 1.382 Briefen (240 von Gundolf, 171 von Salomon), nebst 12 als Brief oder Briefbeilage versandten Gedichten von Gundolf. Die verdienstvolle Edition nötigt – auch hinsichtlich der Einschätzung der Einwirkung des George-Kreises auf den Verlauf dieser Liebesgeschichte – zur Revision gängiger Narrative. Revidiert werden muss nicht nur die Charakterisierung Salomons als heilloser Femme fatale, der man nachsagte, sie habe als geistfeindlicher Stoff den nach Höherem strebenden Gundolf zur Erde hinabgezogen und das geistige Band zwischen ihm und George zerstört (vgl. FG-ES, Briefe, S. 4–6). Auch die von Gegnern des George-Kreises verbreitete Auffassung, Salomon sei das unschuldige Opfer von Intrigen innerhalb eines rivalisierenden Männerclans geworden, erweist sich als unhaltbar. Die Paarkorrespondenz situiert die Liebesrede der Briefe vielmehr in einem Schreibraum, der durch eine offene, sich zwischen Lebenspraxis und Artefakt bewegende Schreibbewegung gekennzeichnet ist. Ich möchte diesem intrikaten Verhältnis von Leben und Schrei­ben, das die Briefe abbilden, im Folgenden etwas genauer nachgehen: im Blick auf die Paarbeziehung, auf die wechselseitigen Rollenzuschreibungen und auf die Präsenz des Politischen im Privaten.

2. Konstellationen der Paarbeziehung Mit der aus einer wohlhabenden jüdischen Familie Schlesiens stammenden Elisabeth Salomon betritt eine Briefautorin die Briefbühne des frühen 20. Jahrhunderts, die der geistigen und sprachlichen Eloquenz ihres Briefpartners in jeder Hinsicht gewachsen ist. Elisabeth lernt den noch am Beginn seiner Karriere stehenden Gundolf im Sommersemester 1914 in München kennen, wo sie seit einem Jahr Nationalökonomie, Philosophie und Allgemeine Staatsrechtslehre studiert. Der

12  Elisabeth Salomon arbeitete an einer Dissertation über die »Papierindustrie des Riesengebirges in ihrer standortmäßigen Bedingtheit«, die 1920 erschien. 13  Vgl. Anm. 9.

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Briefwechsel setzt am 6. August 1914 ein, als Salomon ihr Studium in Heidelberg fortsetzt und intensiviert sich im Herbst 1915 mit Beginn der eigentlichen Liebesbeziehung.14 Gundolf ist in literarischen Kreisen bereits vor der Publikation seines berühmten Goethe-Buchs ein Begriff. George, der in Gundolf einen aufstrebenden Dichter sieht, macht ihn zu seinem Lieblingsjünger. Er veröffentlicht Gundolfs Gedichte seit 1899 in den Blättern für die Kunst, lässt ihn seine Korrespondenz führen und überträgt ihm die Neuübersetzung der Dramen Shakespeares, die zwischen 1908 und 1918 in zehn Bänden erscheinen. Gundolf macht schnell Karriere. Er verfasst 1903 in Berlin eine Dissertation über Cäsar in der deutschen Literatur und habilitiert sich 1911 mit der Arbeit Shakespeare und der deutsche Geist in Heidelberg. Hier lehrt er vor dem Krieg als Privatdozent und nach dem Krieg, von 1920 bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1931, als hochangesehener, ordentlicher Professor für deutsche Literaturgeschichte. Elisabeth Salomon gehört – wie z. B. auch Fine von Kahler, Agathe Malachow, Lili Waetzold, Melitta Grünbaum, Ottilie Edinger oder Gerda von Puttkamer – zu jenen akademisch gebildeten, anspruchsvolle Berufe ausübenden sogenannten ›Neuen Frauen‹, mit denen sich Gundolf zeitlebens gerne umgibt. Obwohl sie das im George-Kreis propagierte Frauenbild nicht vertreten, sind diese Frauen um Gundolf an der geistigen Welt Georges interessiert und pflegen auch den persönlichen Kontakt mit dem Meister.15 Salomon, die nach zweijährigem Kriegsdienst als Rotkreuzschwester ab 1917 ihre Studien bei Friedrich Wolters und Werner Sombart in Berlin wieder aufnimmt, bildet hier keine Ausnahme.16 Doch es hält sie nicht lange in der gärenden Metropole. Nach dem Krieg führt sie ein bewegtes Leben an wechselnden Orten, das mit dafür verantwortlich ist, dass ihre Liebe zu Gundolf über lange Strecken nur als Briefliebe gelebt werden kann. Von 1920 bis zur Heirat des Paares am 4. November 1926 lebt und arbeitet Salomon im Ausland, zunächst in Wien, wo sie bei einer Aktiengesellschaft für

14  Vgl. Gunilla Eschenbach: Philine und Diotima, Hetäre und Heldin. Rollenzuschreibungen für Elisabeth Salomon. In: Ute Oelmann, Ulrich Raulff (Hrsg.): Frauen um Stefan George. Göttingen 2010, S. 253–270, hier S. 257. 15  Vgl. das Nachwort zur Briefausgabe, S. 709 f.: »Sie lasen Gundolfs Schriften und diejenigen anderer Kreisangehöriger, Georges Gedichtbände und die Blätter für die Kunst. Gundolf förderte dieses Verhalten, indem er soziale Praktiken des George-Kreises aufgriff und imitierte. Dazu gehörten Gedichtlesungen aus dem Werk Stefan Georges, Gespräche über im Entstehen begriffene wissenschaftliche Arbeiten und das Verfassen und Zusenden von Gedichten. Etwas pointiert kann man von einer Modellierung seines weiblichen Freundeskreises nach dem Muster des Kreises sprechen.« 16  Die besondere Gunst Georges erlangte Elisabeth Salomon, als sie ihm während seines Berliner Aufenthalts täglich ein kleines Gefäß mit Milch für seinen Tee brachte, ein in Berlin damals seltenes, schwer zu beschaffendes Getränk.

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Güterverwertung eine Stelle als Pressereferentin annimmt und daneben als Redakteurin für die Österreichische Rundschau tätig ist, danach in Rom, wo sie ihren Lebensunterhalt als freie Journalistin bestreitet. Der Beginn des Ersten Weltkriegs bedeutet für die Paarbeziehung einen wichtigen Einschnitt. Im Unterschied zu Salomon sieht Gundolf, wie viele Intellektuelle, im Krieg eine willkommene Erlösung aus dem als dekadent empfundenen Zeitgeschehen und eine Chance für die künftige Übereinstimmung des geistigen und politischen Geschicks der deutschen Nation.17 1916 als Landsturmmann einberufen, ist er jedoch dem schweren Dienst als Schipper hinter der französischen Front gesundheitlich nicht lange gewachsen und wird infolge einer von Freunden initiierten Rettungsaktion unter Mitwirkung Walther Rathenaus 1917 in das Kriegspresseamt in Berlin versetzt, wo er sich – sehr zum Missfallen Georges – in die Agitationsmaschine der Kriegsideologie einspannen lässt.18 Elisabeth Salomon versteht Gundolfs Wechsel vom Schützengraben in eine administrative Tätigkeit demgegenüber ganz pragmatisch, als glückliche Lösung aus einer als unerträglich empfundenen Situation. Dieser von weltanschaulichen Prämissen und individuellen Träumen gänzlich absehende Pragmatismus trägt nicht wenig dazu bei, dass das Paar die – nicht nur durch den Krieg bedingten – langen Zeiträume des Getrenntseins mit erstaunlicher Gelassenheit meistert. Obgleich immer wieder herbeigesehnt und geplant, kommt es nur selten zu persönlichen Begegnungen. Dennoch erwecken die in dichter Folge, oftmals täglich gewechselten Briefe nicht den Eindruck, dass sie den persönlichen Kontakt nur notdürftig ersetzen. Ganz im Gegenteil eröffnet das Schrei­ben der Liebe offensichtlich einen Denk- und Emotionsraum, in dem die Abwesenheit des Anderen mit großer Lust in eine geistige und erotische Anwesenheit umgeschrieben wird. Dies geschieht freilich, wie sich zeigen wird, auf unterschiedliche Art und Weise. Gundolfs in literarischen Bildern schwelgende, sich zuweilen auch entleerter Formeln bedienende Liebessprache verfügt über ein nahezu un­­ erschöpfliches Repertoire. Seine Schreiblust stellt das Alltägliche neben das Außergewöhnliche, das Intime neben das Öffentlich-Politische, das Banale neben das Bedeutende. Dem entspricht ein variantenreicher Ton. Das zutiefst Ernsthafte und das ironisch Kalauernde liegen oft nahe beieinander. Ein Beispiel dafür ist der an Weihnachten 1918 aus Darmstadt nach Berlin ver-

17  Vgl. Lothar Helbing: Gundolf und Elli. Vorwort. In: Elisabeth Gundolf: Stefan George. Meine Begegnungen mit Rainer Maria Rilke und Stefan George. Amsterdam 21965, S. 14 f. 18  Vgl. ebd., S. 18 f. Helbing zufolge bedeutete dieses sprachliche Mitwirken Gundolfs an den Parolen der Staatspropaganda »eigentlich die Wegscheide einer grossen Freundschaft […]. Der Zorn über Gundolfs Verbindung mit Elli ist der Donner, nachdem der Blitz längst eingeschlagen hat« (ebd., S. 17 f.).

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schickte Brief, in dem er launig auf Salomons Begeisterung über die heimkehrenden Truppen reagiert, die sie ihm – wie eine Tagebuchnotiz vermuten lässt – anscheinend in einem nicht überlieferten Brief mitgeteilt hatte. Gundolfs Brief versteht sich zugleich als Appell an die Schreiblust der Freundin, als Aufforderung zu einem grenzenlosen ›Schrei­ben der Liebe‹. Anders als in seinem Briefwechsel mit George19 möchte er das Schrei­ben der Liebe in seinem Briefwechsel mit Salomon von jeglicher Selbstzensur freihalten: Geliebtes Elliherz! […] Reichlich närrisch find ich ja deine preussischen Kapriolen, und wenn ich dort gewesen wäre hättest du etwas von mir auszustehen gehabt: ich glaub, es ist doch die Seele einer Wallensteinigen Trossdirne in dich gefahren, es steht dir aber gut und ich nehm dich in Bausch und Bogen, lieber Narr, ob du nun mit Sombart Prinzipien oder mit Somme-bärten Kanonengäule oder mit mir Steckenpferdchen reitest. Schreib mir nur alles was dein Herz bewegt, wenn du zum Schrei­ben kommst, meinetwegen auch Stall- und Kielwasser-orgien.. wenns erst durch deine süsse Seele durchgesiebt ist ist mirs immer schmackhaft. Zwing dich aber nicht zum schrei­ben, ich vergess dich nicht und sehne mich doch nach dir und stell dich mir vor, fleisstriefend und ruschelig, und dann wieder abends zwischen Bett und Schreibtisch, in Hexentracht, und hoffentlich nicht ohne Verlangen nach meinen Küssen. (FG-ES, Briefe, S. 158)

Gundolf greift um der erschriebenen Nähe willen immer wieder auch zu stereotypen, abgegriffenen Bildern: Ich zittre wieder vor wilder Sehnsucht, aber doch nicht so qualvoll wie vor zwei Jahren. / O Musel, ich bin dein Liebesknecht und bete in dir mein schönes Schicksal an, führe es mich zur Seligkeit oder zur Nacht, ich hänge an dir wie Paolo an Francesca – Liebste Liebste! (FG-ES, Briefe, S. 350) Musel, ich lebe und webe in dir – ich halte dich für das Liebste und Süsseste auf der Welt, und von allem was ich bin bin ich am liebsten dein Geliebter wenn es dein Leben nur ein bischen froher macht. / Ich bin stolz darauf dein Geliebter zu sein und küsse dich bis du mich für dich selbst hälst / Mädelchen, Muselchen Du! Ich bin Dein. (FG-ES, Briefe, S. 355)

19  Vgl. die von Robert Boehringer mit Georg Peter Landmann herausgegebene Ausgabe: Stefan George  – Friedrich Gundolf. Briefwechsel. München, Düsseldorf 1962. Die beiden Briefwechsel, die Gundolf über weite Strecken gleichzeitig mit George und mit Salomon führt, unterscheiden sich in Ton und Inhalt aufs Äußerste. Dort eine strenge, dem Meister und seiner Welt huldigende Zucht, die bis in die kleinste sprachliche Wendung hinein zu spüren ist, hier ein freier, erotisch freizügiger Stil, der individuelle Autonomie beansprucht und behauptet. Gundolfs Briefwechsel mit Salomon überschreitet denjenigen mit George um das Zweifache (vgl. die Einführung zur Briefausgabe, S. 4). Das berechtigt zu der Vermutung, dass ihm hinsichtlich des Ablösungsprozesses Gundolfs von der Welt Georges eine weitaus größere Bedeutung zukommt, als die Forschung es bisher gesehen hat.

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Zuweilen nehmen solche Liebesbeteuerungen geradezu groteske Züge an. Gundolf beschwört die Geliebte, sie möge ihn vor anderen weiblichen Versuchungen retten, schreibt ihr Briefe, in denen er das Denken an eine andere mit der Liebeserklärung an sie selbst eng verknüpft: Liebstes! Liebstes! Komm nur bald, es ist höchste Zeit daß du mein Herz wieder einmal fest in deine beiden Hände nimmst und mich mit deinem ganzen Dasein daran erinnerst wie sehr ich dir gehöre, dein sein muß, dein Geliebter, dein Gemahl, dein Bruder, dein Vater, dein Sklav – Es gibt kein menschlich Verhältniß zwischen Mann und Weib das nicht Dir das äußerste Recht an mich gäbe […]. O Musel, o mein Musel, komm und nimm, binde und verbrenne, trinke und versenke mich! Ich hab dich so lieb. Dabei fahren meine Gedanken und Worte viel nach Hamburg.. ich glaube, die neue Flamme20 würde dich auch sengen. (FG-ES, Briefe, S. 360)

Elisabeth Salomon reagiert auf Ergüsse dieser Art mit großer, fast heiterer Gelassenheit. Sie behauptet Gundolf gegenüber ihre sprachliche Eigenständigkeit und weist seine bilderreichen erotischen Zuschreibungen  – wie noch zu zeigen sein wird – entschieden zurück. Es verdient als Charakteristikum der Paarbeziehung festgehalten zu werden, dass Nebenmännern und Nebenfrauen in den Denk- und Emotionsraum dieses Briefwechsels auf eine Weise Einlass gewährt wird, die alles andere als alltäglich ist. Salomon toleriert Gundolfs zahlreiche Frauengeschichten, nimmt sogar Anteil an seiner aus der Affäre mit Agathe Malachow hervorgegangenen unehelichen Tochter Ottilie. Auch seine Liebesbeziehung zu der verheirateten, im GeorgeKreis verkehrenden Fine von Kahler bereitet ihr offensichtlich keinen Kummer. »Mein Harem ist freilich zu gross, aber Du Süssestes und Oberstes zugleich, verlierst wirklich nichts dabei«, versichert Gundolf ihr (FG-ES, Briefe, S. 498). Woraufhin sie auf ironische Weise ihre emotionale und geistige Unabhängigkeit betont: »Ich gönn Dir doch alle Deine Mädchen von Herzen solang sie Dir selbst nicht beschwerlich werden, im Gegenteil, ich bin ihnen dankbar als Dein Freudenquell.« (FG-ES, Briefe, S. 499) Salomon lässt keinen Zweifel daran, dass sie sich der Liebe Gundolfs trotz seiner amourösen Eskapaden stets sicher ist. Sie schenkt ihm Glauben, vertraut ungeachtet aller Rhetorik seinem »Dein, Dein, und immer aufs neue Dein mit allen fremden Ketten am Leib« (FG-ES, Briefe, S. 537). Der Briefwechsel lässt erkennen, dass Gundolf und Salomon sich dem Ideal einer

20  Gemeint ist die Hamburgerin Dorothea Reuschel, eine »bezaubernde Zeichnerin, Tänzerin und Turnerin«, die Gundolf, wie er es in einem anderen Brief bezeichnet, »etwas angeschossen hat« (FG-ES, Briefe, S. 349).

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Paarbeziehung verpflichten, in der das – wie Gundolf einmal schreibt – »bürgerliche Gemüse Eifersucht« nicht gedeiht (FG-ES, Briefe, S. 108). Im April 1921 beschreibt Gundolf seinen emotionalen Zustand in diesem Sinne als eine freiwillige Form der Auslieferung, die ihren Zauber daraus bezieht, dass sie die Geliebte selbst noch im Akt des intensivsten erotischen Begehrens über sich selbst und alles Irdische zu erheben vermag. So sind es denn auch neben den Briefen nicht zufällig ihre beigelegten Porträts, an denen sich seine Fantasien und seine Leidenschaft immer wieder aufs Neue entzünden: Niemand der diese Bilder ansieht, einerlei was sein Frauentypus ist, kann ohne Rührung und Bewunderung bleiben – […]. Jedermann der sie sieht wird begreifen warum du diese Gewalt über mich erlangen, und mir die ohne Ausnahme heisseste und längste, unermüdlichste, zärtlichste Leidenschaft, die wildeste Liebe einflössen konntest, der ich je verfallen war. […] Dieser Mund hat mich geküsst und lieber Gundel genannt, diese Augen waren voll Funken und Tränen für mich, und dieser süsseste Busen hat unter meinen Lippen gezittert! […] ich bin nun so daß ich verloren gehe in einem leeren Schauder, wenn mich nicht die Hoffnung hielte daß du mir bleibst und daß wir unsre Geschicke, nah oder fern teilen. Sag nicht, daß dich Wien verdirbt, ich weiss, daß es nicht so ist … Verlier mich nicht ganz aus den Augen und spüre die Leidenschaft die dich umwallt. Eine solche Liebe wie meine kann zugrunde richten, aber sie verdirbt nicht, sie macht nicht gemeiner und bewahrt den Gegenstand ihres Brandes vor jeder Niedrigkeit wenn sie ihn erreicht. Aber lass dich erreichen von meiner Flamme, Geliebtes Geliebtes! Den Tod und Untergang scheu ich nicht mehr, und selbst das Elend nicht, nicht für dich und nicht für mich, wenn wir nur diese Liebe nicht verlieren die uns himmelauf und höllenab hebt..! Und solang du mich lieben kannst und gern von mir geliebt wirst, verdirbt dich kein Milieu. Dieser Liebe drohte am ehesten Gefahr durch die Ehe und dies ist fast die einzige Scheu die ich vor ihr habe … und doch grüble ich Tag und Nacht darüber nach, wie wir uns ganz vereinigen können, ohne uns zu entzaubern durch Gewohnheit. (FG-ES, Briefe, S. 304 f.)

Gundolf und Salomon sind sich einig, dass die Ehe »nicht eine Sache der Leidenschaft, sondern der Vernunft« ist, wie Gundolf einmal postuliert (FGES, Briefe, S. 328). Nicht nur für sich selbst fordert Gundolf erotische Freiheit. Er toleriert auch Salomons zum Teil sehr enge Beziehungen zu anderen Männern, u. a. ihre heftige Leidenschaft für Ludwig Thormaehlen.21

21  Helbing berichtet, dass Salomon nicht nur zu Thormaehlen, Vallentin und Wolters enge Kontakte unterhielt: »Wie Gundolfs Nachlass im Londoner Archiv zeigt, beschränkte sich diese gastliche Aufnahme bei den Freunden Georges und Gundolfs aber nicht nur auf gelegentliche Besuche eines bescheidenen kleinen Mädchens. Aus den noch vorhandenen Briefen wird deutlich, dass es der jungen Elli gelang, gefühlsbetonte und sehr persönliche Beziehungen zu den verschiedensten Männern ihres neuen Freundeskreises zu knüpfen. Da wären nicht nur Thor-

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Doch es gibt einen geschlechterspezifischen Unterschied. Anders als Gundolf begreift Salomon die freie Liebe – ähnlich wie ihre Nebenbuhlerin Fine von Kahler –22 nicht als qual- und lustvolles Ausgeliefertsein an den Eros. Vielmehr wird die erotische Freiheit für die sogenannten ›Neuen Frauen‹ zum Sprungbrett für die Ausbildung und Entwicklung eines veränderten weiblichen Selbstverständnisses. Salomon kehrt in ihren Briefen nicht das kapriziöse, schutz- und anlehnungsbedürftige Kind hervor, das Gundolf durch eine Ehe dauerhaft an sich zu binden sucht.23 Ganz im Gegenteil bekennt sie sich ihm gegenüber offen zu ihrem Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit: »Mein Trieb zum zigeunern ist stärker als jede Liebe zu Menschen. Das ist meine Natur und Du verstehst sie nicht weil die Deine anders ist«, bekennt sie Gundolf 1923 in einem Brief aus Florenz (FG-ES, Briefe, S. 422). Heirat ist für Salomon keine Frage von Liebe, sondern bestenfalls eine der Versorgung: […] wenn ich überhaupt daran denken soll daß ich noch ne Anzahl von Jahren am Leben bin so bin ich gezwungen es auf irgend eine Weise sozial und ökonomisch zu regeln sei es durch Beruf, seis durch Heirat. Aus beidem wird nie etwas wenn ich als Maitresse des Professor Gundolf in Heidelberg bleibe. (FG-ES, Briefe, S. 239)

So lautet eine nüchterne Bilanz aus dem Jahr 1920.

3. Selbstbestimmungen und Zuschreibungen Elisabeth Salomons qualifizierte Berufstätigkeit, ihre Suche nach Alternativen zur bürgerlichen Ehe, ihr Verzicht darauf, sich von Gundolf aushalten zu lassen, sowie ihre literarischen, wissenschaftlichen und politischen Interessen weisen sie als eine selbstständige Intellektuelle aus, die einem Bildungsideal folgt, das neben der geistigen auch auf körperliche Optimierung zielt. Ihr äußeres Erscheinungsbild ist ihr nicht gleichgültig. Wie viele der Körperkult betreibenden Frauen der Zwischenkriegszeit interessiert sie sich

maehlen und Liegle zu nennen, Wolters, Berthold Vallentin und Edgar Salin, der aus dem Wolterskreis kommende Arnulf Ansorge, oder der Dichter Walter Wenghöfer, die als häufige Besucher in Ellis Tagebuch figurieren oder in Briefen ihre Sympathie für die ›Süsse‹ lebhaft bekundet haben, auch ein so strenger Philosoph wie K. Hildebrandt ist als liebenswürdiger Korrespondent vertreten« (ders.: Gundolf und Elli, S. 12). 22  Vgl. Barbara Picht: Verliebt  – verglaubt  – verhofft. Fine von Kahler. In: Ute Oelmann, Ulrich Raulff (Hrsg.): Frauen um Stefan George. Göttingen 2010, S. 215–233. 23  Stimmen aus ihrem männlichen Freundeskreis unterstellen ihr dies als kalkulierte, berechnende Haltung und bezweifeln zugleich ihre Liebesfähigkeit. Vgl. Helbing: Gundolf und Elli, S. 14.

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für Mode, nimmt Tanzunterricht, unternimmt Wanderungen und Bergtouren, treibt Sport und kontrolliert ihr Gewicht. So intensiv ihr Interesse an Gundolfs wissenschaftlicher Arbeit zum einen ist, so ernsthaft sie sich auf seine Anregung hin selbst mit einer Neuausgabe der Günderrode befasst und so begeistert sie mit ihm den Dialog über die von beiden so genannten ›heiligen‹ Bücher führt (George, Platon, Gundolf), so entschieden sucht Salomon ihre Vorbilder zum anderen auch in den von der Populärkultur generierten Formen weiblicher Berühmtheiten.24 Völlig unbefangen berichtet sie Gundolf von ihren Kontakten zu Filmstars und Tänzerinnen, konfrontiert den darüber völlig Entsetzten mit ihrer Absicht, selbst in die Filmbranche zu gehen.25 Zugleich beansprucht sie unbeirrt die im George-Kreis praktizierte »ästhetisch-heroische Lebensform«26 weiterhin auch für sich selbst und überträgt diese auf das literarisch vermittelte Konzept der ›großen Frau‹. Weibliche Leitbilder findet Salomon in den schönen und zugleich tragischen Frauengestalten der Geschichte, in Herrscherinnen wie Kleopatra, Maria Stuart und Elisabeth von Österreich oder in großen Liebenden wie Susette Gontard und Karoline von Günderrode. Gundolf ist solches Nebeneinander von Glamourwelt und Heroismus begreiflicherweise zutiefst suspekt. Stellt doch das Kino als modernes Massenmedium, noch mehr als die Bühne, im George-Kreis eine unüberbrückbare ästhetische Gegenwelt dar. Als Gundolf die Konkurrenz wahrnimmt, die den idealtypischen Dichtern und Helden in Elisabeths Kosmos der Heldenverehrung durch die Tänzerinnen, Schauspielerinnen und Sängerinnen der modernen Unterhaltungsindustrie entsteht, interveniert er vergeblich. Einmal mehr lässt Salomon ihn auch in dieser Auseinandersetzung ihre Unabhängigkeit erkennen. Standhaft ignoriert sie es, dass er sie nicht als »Kinomädel« sehen will, dass er ihre »lautre und hohe Seele« in dieser »Schein und Schwindelsfäre« gefährdet sieht. »Lass um Gottes willen deinen Geist nicht von dem ›Geldkomplex‹ so völlig besessen werden.. entgleite mir nicht, entgleite deinem höheren Selbst nicht.. Glaube an ein Göttliches in dir, das dir auch in Not und Druck nicht abhanden kommen darf«, fleht er sie an (FG-ES, Briefe,

24  Vgl. Eschenbach: Philine und Diotima, Hetäre und Heldin, S. 259. 25  Dass Gundolf seine ablehnende Haltung einige Tage später zurücknimmt und ihre Kinopläne in sein Bild von ihr zu integrieren versucht, ändert an seiner grundsätzlichen Haltung nichts. In einem seiner Briefe, in denen diese Kontroverse ausgetragen wird, identifiziert er sich mit der inneren Zerrissenheit von Kleist und versucht durch Verweise auf Susette Gontard und Hölderlin, als den ›grossen Seelen‹, in denen er ihrer beider Liebesbeziehung gespiegelt sehen möchte, ein Gegengewicht gegen die Leichtfertigkeit der Kinowelt zu errichten. Doch seine Gleichung Diotima = Elli wehrt Salomon ebenso ab, wie alle weiteren Versuche, Schwere in ihre Liebesbeziehung zu bringen. Vgl. Eschenbach: Philine und Diotima, Hetäre und Heldin, S. 263 f. 26  Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945. Tübingen 1998, S. 9.

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S. 314 f.). Doch Salomon zeigt sich davon wenig beeindruckt. Sie widersteht Gundolfs Drohung des Liebesentzugs und auch seinem Argument, er werde nicht imstande sein, seine Liebe zu einer Schauspielerin mit den von George herkommenden Werten zu vereinen. Sie wolle ja keinen Lebens-, sondern einen »Epochenberuf« daraus machen, kontert sie und hält ihm vor: Und meinst Du die kommerzielle oder die journalistische Atmosphäre seien reinlicher als die des Theaters? Ich hänge mein Herz ja auch nicht an jene Menschen. Und sehe nicht ein, wenn überhaupt ein Beruf sein muß, warum es nicht einer sein soll, der mich ein wenig freut? (FG-ES, Briefe, S. 316)

Dass Salomons Kinoplan sich schließlich zerschlägt, mag Gundolf erleichtert haben, einen Anteil hat seine Kritik daran nicht. Angesichts der Präsenz der George-Welt im Dialog der Liebenden ist es auffallend, wie selten der Name Georges fällt. Salomon sucht ihn zu meiden, oder sie reagiert darauf – wie anlässlich der massiven Missstimmung Georges infolge der ohne sein Wissen erfolgten Widmung von Gundolfs Kleist-Buch an sie – mit ironischer Bitterkeit.27 Als Gundolf im August 1923 ein geplantes Wiedersehen in Basel an die Bedingung knüpft, dass Salomon ihre Anwesenheit vor dem gleichfalls dort weilenden gemeinsamen Bekannten Julius Landmann verbirgt, bricht sie jedoch das Schweigen und macht aus ihrer Verärgerung keinen Hehl: Es ist unnatürlich forciert wenn wir beide in Basel sind und ich nicht zu L. komme der mich ohne Dein intervenieren doch einladet u. eingeladen hat ihn aufzusuchen. Der doch außerdem kein zu schützender Jüngling ist sondern ein erfahrener Weltmann u. würdiger Professor der ebensogut mein Lehrer sein könnte. Einerlei ob mir daran liegt oder nicht – diese ängstlichen Vorbeugungen u. Vermeidungen sind mir verhaßt u. machen mich nervös, […]. Mit solchen Aussichten zeigst Du mir einen dauernden Aufenthalt in Deiner Nähe wenig verlockend. Da Du nicht imstande bist einen einigermaßen gangbaren Weg zwischen Deinem Staat u. Deiner Liebe zu finden ists schon besser, man läßt die eine Wegseite frei. (FG-ES, Briefe, S. 449)

Als Gundolf in Anspielung auf die Widmung in seinem Kleist-Buch daraufhin entgegnet: »Um dich zu freuen und dir zu huldigen habe ich das Zutrauen meines ältesten Freundes, meines Meisters und des grössten Mannes getäuscht und verscherzt.. ich bereue es nicht, weil ich es für nötig hielt dir genugzutun gegen Unrecht das dir geschah« (FG-ES, Briefe, S. 450), lenkt

27  Vgl. Eschenbach: Philine und Diotima, Hetäre und Heldin, S. 259.

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Salomon zwar ein, weist aber die Opferrolle, in die er sie dabei drängt, selbstbewusst zurück: Tatsächlich bin nicht ich das Opfer sondern Du bist es. Aber ich flehe Dich an, halte es mir nicht in auch noch so milder Form vor, daß Du meinetwegen das Vertrauen des Meisters verloren hast. Ich habe Dich nie dazu genötigt weder direkt noch indirekt, ich warnte Dich sogar weil ich fürchtete der Preis den Du dafür zahlst wird hoch sein. (FG-ES, Briefe, S. 451 f.)

Wie recht Salomon mit ihrem Einwand behalten wird, geht aus dem letzten Brief Gundolfs an George hervor, in dem er seine bevorstehende Eheschließung ankündigt. Gundolf spricht hier von »Gnade«, die Elisabeth mehr verdiene als er selbst, von der »Hölle«, in die er ihr lieber folgen wolle, als im »Himmel« ohne sie zu sein. Unverrückbar ist dieser Metaphorik zufolge das Gesetz des Meisters, das Frauen aus der engeren Liebes- und Geistesgemeinschaft des George-Kreises ausschließt. Gundolf vertritt dessen strukturelle Misogynie schon 1912 in dem zusammen mit Friedrich Wolters herausgegebenen dritten Jahrbuch für die geistige Bewegung. In dem Verachtung des Weibes überschriebenen Passus macht er sich hier zum Sprachrohr eines Frauenbildes, das die »›moderne Frau‹ […], die stückhafte, die gottlos gewordene frau« als eine ihrer natürlichen Bestimmung entfremdete darstellt, ihr die Beförderung neuer Bewegungen – wie die Friedensbewegung oder die Theosophie – anlastet, sie für alle »fortschrittlich ungeschichtlichen, platt humanitären, flach rationalistischen und flach religiösen ideen« verantwortlich erklärt. Befürchtet wird u. a. eine Feminisierung des deutschen Volkes, denn die moderne Frau – so die Invektive dieser Schrift – sei nicht mehr fähig, »den grosse[n] mann« zu gebären.28 Außerhalb der Mutterrolle kennt diese an Otto Weiningers Geschlecht und Charakter erinnernde Sichtweise keine positiven Weiblichkeitsbilder, nur »die Zerrbilder der triebhaften Verführerin oder der naiven Halbintellektuellen«.29 »Ihr Frauen opfert euch ganz (besonders Musel!) dem Einen leibhaften Mann. Der Mann hat noch einen Gott neben der Göttin: er hat auch zwei Brennpunkte: Geist und Geschlecht, die Frau nur einen: das Geschlecht in dem auch ihr Geist sitzt«, scheut sich Gundolf nicht an seine Geliebte zu schrei­ben, wohl wissend und in anderen Briefen ihr dies auch zugestehend, dass sie diese Polarität von Geist und Geschlecht durch ihr ganzes Dasein infrage stellt und widerlegt (FG-ES, Briefe, S. 342). Salomons Briefe vermitteln indes den Eindruck, dass sie Gundolf seine Geschlechtertheorie nicht

28  Zitiert nach dem Nachwort zur Briefausgabe, S. 712. 29  Ebd.

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verübelt, diese vielmehr als Übertragung seiner persönlichen Zerrissenheit ins Allgemeine deutet. Sie nimmt Gundolfs Frauenbild als Reflex der Frauenverachtung Georges wahr und schreibt nicht ganz erfolglos dagegen an. Wie George selbst rückt auch Gundolf weibliche Potenz in die Nähe des Dämonischen, nur mit unterschiedlichen Vorzeichen. Während weibliche Dämonie bei George ausschließlich Abwehrreflexe auslöst, ist sie bei Gundolf positiv besetzt und mit sexueller Erfüllung konnotiert. Dennoch übernimmt er auch im Akt seiner Lossagung von George dessen Perspektive von »Abfall« und »Verrat« und weist sich selbst den Platz in der Hölle zu.30 Es bleibt kein Zweifel, dass die »Intensität«, mit der sich Gundolf an Salomon bindet, »derjenigen Kraft ebenbürtig« ist, die ihn an George fesselt.31 In Gundolfs variantenreichen Brief- und Randzeichnungen, die zum Teil in der Edition des Briefwechsels mit abgebildet werden,32 erfährt diese Stärke der Bindung auf vielfache Weise eine symbolische Beglaubigung. Gundolf veranschaulicht hier sein erotisches und sexuelles Begehren zeichnerisch durch das wiederkehrende Motiv der Fesselung an Seilen, Ketten oder Bändern der Geliebten, durch das mehrfach auftauchende Andreaskreuz oder Pentagramm (von Gundolf als Hexensiegel deklariert), durch Sigillen, d. h. magische Zeichen aus Buchstabenligaturen, durch flammende Herzen und durch zahlreiche kleine Skizzen, die Salomon als Dämonin der Nacht, als Göttin, Kaiserin, Zauberin oder als Mischwesen zwischen Schlange und Frau darstellen.33

30  Vgl. ebd., S. 713 u. 723. 31  Ebd., S. 708. 32  Die Hinweise auf diese Randzeichnungen und ihre Abbildungen sind sehr verdienstvoll, denn in den meisten Briefeditionen bleiben derartige, über die sprachlichen Mitteilungen hinausgehende Botschaften noch immer unbeachtet. Leider werden Gundolfs Randzeichnungen (von Salomon findet sich die bedeutungsvolle Zeichnung einer Windrose, vgl. S. 520) aber vornehmlich als schmückendes Beiwerk präsentiert. Man hätte sich eine eindeutigere Zuordnung der Zeichnungen zu den einzelnen Briefen und deren Einbeziehung in den Kommentar gewünscht (so ist z. B. Salomons Windrose im Originalbrief auf der ersten Briefseite in die Handschrift hineingezeichnet, was man auf der Abbildung nicht erkennen kann). Lob gebührt diesbezüglich dem Nachwort zur Briefausgabe, das die Bedeutung der Zeichnungen und Briefbeilagen gebührend in den Blick rückt und die Neugierde auf die im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrten Briefhandschriften weckt. Schon bei einer ersten Durchsicht hat sich deren Relevanz für den eingangs skizzierten neuen Ansatz in der Briefforschung bestätigt, dem hier aufgrund des anders ausgerichteten Themas nur ansatzweise Rechnung getragen wird. 33  Vgl. das Nachwort zur Briefausgabe, S. 704–708. Salomon reagiert zwiespältig auf die Botschaften seiner Briefzeichnungen. Sie bezeichnet die Zeichnungen einmal als »häßlich« (FG-ES, Briefe, S. 368) und gibt in einem ihrer Briefe ihr Unbehagen daran deutlich zu erkennen: »Aber Gundel! Deine Zeichnungen werden wirklich immer eindeutiger. Ich hab sie rasch zerrissen aus Angst vor der Nachwelt« (FG-ES, Briefe, S. 379).

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Abb. 1: Friedrich Gundolf an Elisabeth Salomon, 15. Januar 1919 (FG-ES, Briefe, S. 188)

Abb. 2: Friedrich Gundolf an Elisabeth Salomon, 21. Februar 1917 (FG-ES, Briefe, S. 82)

Abb. 3: Friedrich Gundolf an Elisabeth Salomon, 15. April 1920 (FG-ES, Briefe, S. 223)

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Gundolfs Briefzeichnungen unterstreichen jene psychische Konstellation einer lustbesetzten Aufgabe der Ich-Autonomie, einer Abgrenzung vom modernen Subjekt- und Selbstbewusstsein, von der auch seine sprachlichen Liebeserklärungen künden. Er folgt damit einer bewussten Preisgabe von Subjektivität, die im George-Kreis gepflegt wird. Die mit George eng befreundete Kunsthistorikerin Gertrud Kantorowicz hat mit der Wendung vom »eingefügten Ich« diese innere Konstitution des George-Kreises in einer Abhandlung treffend umschrieben. An der griechischen Gruppenplastik zeigt sie hier auf, dass die Einfügung in die Gruppe niemals Einschränkung, sondern eher Entfaltung des Einzelnen bedeutet. Demnach wird die Einfügung des Ich zur Darbringung der Person, die sich selber empfängt, indem sie sich dem anderen zu eigen gibt. […] – es ist das Sein des Geweihten, das hier Bild wird. Denn Weihe ist jene Begnadung, die im Wesen eines Menschen selbst ruht, und die er dennoch niemals durch sich selbst, sondern erst von einem Größeren empfangen kann. […] Nur, daß Unterwerfung hier nicht Erniedrigung bedeutet, sondern Darbringung.34

Gundolf überträgt diese Denkfigur von George auf Salomon. In seinen Liebesbriefen unterwirft er sich, bringt er sich dar, gibt er sich zu eigen, um sich auf diese Weise als ein durch die Liebe Geweihter wiederum selbst zu empfangen und dabei – im wörtlich verstandenen Sinn – zugleich zum Bild zu werden. Seine bilderreiche Liebessprache, seine Randzeichnungen in den Briefen, seine Gedichtbeilagen treten in den Dienst dieser Bildwerdung. Sie zielt auf eine Selbsterhöhung, die durch eine Erhöhung der Geliebten zustande kommt und die sowohl im Bereich des Himmlischen wie auch des Irdisch-Sinnlichen angesiedelt wird. Eine Reihe von Zuschreibungen und ein wechselndes Repertoire literarisch geprägter weiblicher Rollenbilder fungieren dabei als Textstrategie. Neben die hohe, schöne Seele tritt die Hetäre, neben die dämonische Verführerin das kindlich spielende, sich seiner selbst nicht bewusste Naturwesen: O Musel, wie lieb ich dich! Viel zu viel, (nicht für deinen Wert, denn du bist ein wunderherrliches Geschöpf) aber für das Schicksal, das so grosse Liebe misgönnt.. Nun, leiden wir halt, es ist das Siegel unseres Adels und die Form der Zeit worin

34  Gertrad Kantorowicz: Vom Wesen der griechischen Kunst. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen v. Michael Landmann. Heidelberg, Darmstadt 1961, S. 29 u. 31. Vgl. dazu auch: Jürgen Egyptien: Schwester, Huldin, Ritterin. Ida Coblenz, Gertrud Kantorowicz und Edith Landmann  – Jüdische Frauen im Dienste Stefan Georges. In: Andrea M. Lauritsch (Hrsg.): Zions Töchter. Jüdische Frauen in Literatur, Kunst und Politik. Wien 2006, S. 149–185, hier S. 166.

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wir atmen. Nur das Viech und der Gott sind leidlos, oder ohne Trauer.. und die höheren Frauen sind in diesem Zeitalter zwischen Himmel und Hölle heimatlos, denn aus der blossen Tierheit sind sie durch den Geist gerissen und den Platz im neuen Geisterreich haben sie noch nicht, da das erst im Werden ist. Und das Schöne Musel ist so recht ein Schneidepunkt aller Krisen, weil es mit seinem Herzen an den Himmel rührt und mit seinem Schooß oder seinen Nerven im Kino steckt (ich sage nicht Hölle). Dabei ist das Muselchen nicht ein reines Liebeswesen, das darin aufginge einen oder mehrere Geliebte ganz zu berücken, zu beglücken und sich an ihn zu verlieren, sondern es ist noch ehrgeizig dazu, und möchte den dummen Glanz dieser Welt teilen. (FG-ES, Briefe, S. 365)

Salomon erkennt sich in den meisten Zuschreibungen Gundolfs nicht wieder und weist diese entschieden zurück. Nur den Kosenamen ›Musel‹, eine Analogie zu ›Gundel‹, dem im Freundeskreis gängigen Namen für Gundolf, lässt sie gelten. Mit ihm erschreibt sie sich die Nähe zum Geliebten, abseits von Heroik und Typisierung: »Du bist der Gundel, das ist mehr als Jüngling Mann oder Greis. Schließlich paßt Du ja auch in keine der sozialen Schubfächer: Du bist weder Proletarier noch Bürger, weder Bohémien noch Grandsignore, weder Bauer noch Intellektueller«, charakterisiert sie ihn einmal scherzend (FG-ES, Briefe, S. 555). Den Ernst, den Gundolf mit Begriffen wie »Schuldknechtschaft« in die Beziehung bringt, wehrt Salomon ab (FG-ES, Briefe, S. 392). »Eins Deiner letzten Gedichte redet von meinem Opfer. Mein Liebster, verzeih wenn ich Poesie real nehme, aber wann hätte ich Dir je eines gebracht?« (FG-ES, Briefe, S. 397) »[…] um aller Gerechtigkeit willen streiche doch die ›Schuld‹«, fordert sie ihn auf, »Du bist doch der Glanz- und Höhepunkt meines Daseins. […] Also höre einmal auf mit dieser unbegreiflichen Geschichtsfälschung« (FG-ES, Briefe, S. 469). Die wenigen Beispiele mögen genügen, um anschaulich zu machen, dass Salomons Briefstil alltagsbezogener und nüchterner ist als derjenige Gundolfs. Seine in erotischen und literarischen Bildern schwelgende Liebessprache bleibt in ihren Antwortbriefen ohne Echo. Gleichwohl gelingt ihr der intime Dialog mit ihm, den sie auf eine eigene Weise erwidert und gestaltet. Salomon findet für sich selbst nicht nur neue weibliche Rollen, sie nimmt sich auch die Freiheit, sich situativ und eklektisch aus dem traditionellen Rollenrepertoire zu bedienen, ohne sich auf eine Rolle festlegen zu lassen. In wechselnden Selbstzuschreibungen »der dienenden und liebenden, der heroischen modernen, intellektuellen und sinnlichen Frau»35 adaptiert und kultiviert sie auch jene Werte, die nach Ansicht des George-Kreises allein dem Mann vorbehalten sind: Individuelle Selbstbestimmung, »Tüchtigkeit

35  Eschenbach: Philine und Diotima, Hetäre und Heldin, S. 269.

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im Beruf, geistiges Leben jenseits biologischer Determination (z. B. im Ideal der Ehelosigkeit), Verehrung des Schönen, Bildung an kanonischen Werken der Kunst und Literatur unter Anleitung einer charismatischen Lehrerpersönlichkeit.«36 Auf Gundolf bleibt diese Rebellion gegen ein Weiblichkeitsverständnis, das die Frau zum Objekt des Mannes macht und das Frausein vor allem auf Mütterlichkeit festlegt, nicht ohne Wirkung. In einem Brief an George, den dieser vermutlich nicht erhalten hat, gibt er im Vorfeld seiner Eheschließung eine innere Abweichung von der Doktrin des Meisters zu erkennen. Dem biologischen Konzept von Männlichkeit, das der ästhetisch-heroischen Lebensform des Kreises zugrunde liegt, stellt Gundolf hier ein soziales Konstrukt gegenüber. Indem er George in diesem Brief darlegt, dass seine Verehrung für ihn und für seine Geliebte die gleichen Wurzeln habe, setzt er an die Stelle des biologischen Gegensatzes zwischen Mann und Frau ein geschlechtsunabhängiges, Männern und Frauen gleichermaßen zugängliches Heldentum: Denn nochmals und nochmals: nicht ein Sinnenreiz, nicht einmal eine Gemütsweichheit hält mich bei ihr fest auf Tod und Leben, sondern ein tiefer Glaube an ihren Adel, ja an ihren heldenhaften Charakter, dasselbe im Grund was mich auch nach den Dichtern und Helden zieht.37

4. Das Politische im Privaten »Nun sieh, da hab ich dir einen politischen Brief geschrieben!«, beschließt Gundolf im April 1925 einen längeren skeptischen Kommentar anlässlich der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten und fügt übergangslos die höchst private Bemerkung hinzu: »Süsses, bekomm bald deinen Zahn wieder, du brauchst sie wirklich alle, nicht zum Schönsein, aber zum Beissen!« (GF-ES, Briefe, S. 543) Solchermaßen verbindet auch Salomon Politisches und Privates, etwa wenn sie die »Nachricht von der Niederwerfung der Hitlerbande« beim Münchner Putschversuch als ihre »größte Geburtstagsfreude« anführt oder indem sie Gundolfs Bewunderung für Mussolini zum kritischen Gegenstand eines Geburtstagsbriefs an den Geliebten macht (FG-ES, Briefe, S. 456 u. 485). Der Dialog über Politisches, Gesellschaftliches und Ökonomisches nimmt im Schreibraum dieses Liebesbriefwechsels einen prominenten Platz

36  Nachwort zur Briefausgabe, S. 711. 37  Zitiert nach dem Nachwort zur Briefausgabe, S. 22.

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ein. Die häufig kontroversen Auffassungen der Liebenden werden hier ohne gegenseitige Schonung ausgetragen. Auch dort, wo sie unüberbrückbar scheinen und das Gelingen des Liebesgesprächs in Gefahr bringen, behauptet Salomon gegenüber Gundolf ihr selbstbestimmtes Urteilsvermögen. Ein wunder Punkt ist von Anfang an die unterschiedliche Auffassung des Kriegs und des Kriegsgeschehens. Salomon kann schon das Einstimmen Gundolfs in die allgemeine Kriegsbegeisterung von 1914 kaum ertragen, empfindet sie doch selbst nur Trauer angesichts der Wucht der politischen Katastrophe. Als Gundolf dieser Euphorie angesichts des Kriegseintritts von Rumänien im August 1916 erneut Ausdruck verleiht – »und jezt erst ist wieder die verzweifelte Wucht des Kampfs um Sein oder Nichtsein, wie beim Anfang, jezt erst wieder ists gleich ob man lebt oder nicht« (FG-ES, Briefe, S. 39) –, macht sie aus ihrem Befremden keinen Hehl: Jetzt will ich Dir aber endlich einmal sagen wie wenig Du mich noch kennst. Ich habe doch Apoll unendlich viel lieber als Mars. Meine Huldigung vor diesem Prinzip war die purste Schüchternheit vor Dir, weil Du selbst der mächtigste Vertreter des andern bist. Hast Du das denn nie gespürt? (FG-ES, Briefe, S. 50)

In einem anderen Brief prophezeit sie ihm, dass dieser Krieg von der alten Welt nicht viel übriglassen werde, »den Untergang mindestens von Europa« bedeute (FG-ES, Briefe, S. 71). Politisch steht Salomon der Sozialdemokratie nahe. Sie liest die politischen Reden und Aufsätze von Lassalle (vgl. FG-ES, Briefe, S. 146) und verkehrt mit Max Weber, der in dem Briefwechsel mehrfach als bedeutende politische Gestalt in den Blick kommt (vgl. FG-ES, Briefe, S. 157 u. 163). Wie viele Zeitgenossen empfindet Gundolf das Ende des Kriegs als Schmach, Salomon hingegen erlebt es als Befreiung. Während er sich in seine Bücher flüchtet und die Wirren der Zeit an der »rettungslos versunkenen Götterwelt« des Hellenismus misst (FG-ES, Briefe, S. 134), stürzt sie sich ins bunte Berliner Leben. Im Dezember 1918 beschreibt sie ihren Zustand als einen »fast sündhaften Taumel von Fröhlichkeit«, der ihre ganze Umgebung erfasst habe, ein Fest nach dem anderen hervorbringe, »obwohl wahrlich keine Veranlassung dazu da« sei (FG-ES, Briefe, S. 160). Gundolf bestärkt sie zwar in dieser wiedererwachten Lebenslust, warnt sie aber zugleich auch vor einer allzu intensiven Teilhabe an dem »Berliner Taumel« (FG-ES, Briefe, S. 173). Was er fürchtet, ist indes nicht etwa Gefahr für Leib und Leben der Geliebten, sondern ein Missfallen des George-Kreises an ihrem Tun und Treiben: »Liebes, verdirb es nicht mit den paar ernsthaften und wertvollen Menschen in Berlin durch Unmaaß oder Unbedacht. Ich will, daß meine Freunde dich gern haben und hoch halten …« (FG-ES, Briefe, S. 168).

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Gundolfs Befürchtung, dass die Eskapaden der Freundin ihrem Ansehen schaden könnten, erweist sich schließlich als richtig. Als Salomon zum Jahreswechsel 1918/19 an einer turbulenten Silvesterfeier teilnimmt, bringt ihr das bei den dort anwesenden George-Jüngern den Ruf eines Flittchens ein und stigmatisiert sie unwiderruflich bei George. Gundolf, der davon Kenntnis erhält, verbirgt diese massive Abwertung ihrer Person erfolgreich vor ihr, wenngleich es dieser Schonung vermutlich gar nicht bedurft hätte. Der Brief vom 10. Januar 1919, in dem Salomon Gundolf ihre Teilnahme an dem Fest – einem Gesamtkunstwerk vergleichbar – en détail beschreibt, ist alles andere als naiv. Er lässt nicht nur den Schluss zu, dass Salomon sich sehr wohl darüber im Klaren ist, wie ihr Verhalten auf Andere wirkt, sondern bezeugt auch, wie reflektiert sie eine wechselseitige Bedingtheit von hektischer Fröhlichkeit und politischer Gefährdung wahrnimmt, die das private Fest als politischen Tanz auf dem Vulkan erscheinen lässt: »Paradox ist das ja alles: diese tolle Ausgelassenheit (in ganz Berlin war eine noch nie zuvor gewesene Sylvesterwildheit) während das Reich in jeder Minute mehr zusammenkracht, während auf andern Straßen der Bürgerkrieg tobt« (FG-ES, Briefe, S. 175).38 Salomons Briefe protokollieren und kommentieren die Berliner Tagesereignisse vor dem Hintergrund von Spartakus-Aufstand, Inflationszeit und Formierung der Nationalsozialistischen Bewegung mit journalistischer Gelassenheit, im Unterschied zu Gundolf, dem die bewaffneten Straßenkämpfe aus der Ferne als nationale Heimsuchung anmuten: »die apokalyptischen Reiter haben ihre entsetzlichen Gäule lang genug geschont und nun sind sie kaum zu bändigen.« (FG-ES, Briefe, S. 180) Unaufgeregt mutet demgegenüber Salomons Schilderung eines zufälligen Hineingeratens in diese Kämpfe an: Die Berliner Strassenkämpfe sehen glaub ich vom Reich aus gefährlicher aus als von Berlin selbst, obgleich sie wirklich blutig sind wie eine Feldschlacht und das Gekrache der Gewehre und Kanonen kein Ende nimmt. Aber das sonderbare ist daß in einer Entfernung von 2 Minuten vom Kampfplatz das alltägliche Leben seinen ruhigen Gang weitergeht unbeteiligter fast als zur Zeit der grossen fernen Offensiven. Da ich durchaus nicht sensationslüstern bin halte ich mich natürlich von den Kampfplätzen fern. Nur einmal ging ich zur Universität als gerade Ecke Friedrichstr. u. Linden eine Schießerei beginnen sollte und die ankündigenden

38  Gundolf verkennt diese Dialektik, wenn er Salomons Verhalten wie folgt beschreibt: »Dein Brief vom 10. wird ein geschichtliches Dokument sein, wie eine Berlinerin mitten im Toben des Spartakusrummels kaltblütig an Feste, Tänze und Liebschaft denkt, während das Blut fliesst, das Wasser stockt, das Licht ausgeht und die Sterne weinen! O Ellichen, was bist du für ein unpolitisches Weib!« (FG-ES, Briefe, S. 186)

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Leuchtkugeln in die Höh stiegen. Ich war der einzige Passant zwischen den Parteien, hatte also nur die Wahl mitzumachen oder mich durchzuschlagen. Ich bat den Führer – von welcher Seite weiß ich nicht – höflich mich durchzulassen, er gebot dem Feuer Halt, gab mir einen Soldaten zum Geleit mit und ½ Minute danach krachten die Maschinengewehre los. Der Eindruck der Strasse ist der daß die Arbeiter höchst zufrieden damit sind faulenzen zu können und Skandal zu machen, überall bilden sich Gruppen agitierender und diskutierender Tagediebe die sich ohne jeden Ernst für irgend etwas ereifern, auf dem Wittenbergplatz war gestern ein mächtiges Autodafé bolschewistischer Propagandaliteratur, dazwischen feiert ein Taschenspieler die größten Erfolge und alles geschieht unter der musikalischen Begleitung zahlloser Leiermänner und Ziehharmonikaspieler. Alfred Weber hat die Studenten zum Kampf gegen Spartakus inflammiert […]. Die Universität ist jetzt auch tatsächlich geschlossen damit die Studenten mitkämpfen können, worüber ich sehr empört bin. Denn ich frage mich vergeblich was uns die Sache angeht: Ist es ein Lohnkampf der Proletarier dann sollen sie ihn allein ausfechten. Um den Unternehmer-Bourgeois ihre Profite zu sichern braucht kein Student sich totschießen zu lassen. […] Im allgemeinen ist alles so würdelos und inferior daß man sich nirgends mit gutem Gewissen dafür einsetzen könnte. Und es hat mich eigentlich noch niemals ein aktuelles oder politisches Geschehn so absolut kalt und gleichgültig gelassen, wie dieser Bürgerkrieg in meiner unmittelbarsten Nähe. (FG-ES, Briefe, S. 183 f.)

Es ist auffallend und vielleicht auch sehr bezeichnend, dass Gundolf sich auf solche Beschreibungen und Einschätzungen einer politisch erlebten Wirklichkeit kaum einlässt. Erstaunlich wenig Raum geben die Briefe auch dem Erlebnis des wachsenden Antisemitismus, von dem Gundolf zwar schon 1921 befürchtet, er könnte den Juden bald »so etwas wie ein Martyrium« bescheren (FG-ES, Briefe, S. 310), vor dem sich beide aber doch, einer unter den Juden weit verbreiteten Ansicht folgend, durch Bildung geschützt glauben. Mit den eigentlichen Antisemiten hast Du und ich nichts zu tun, [schreibt ihm Salomon im April 1921 aus Wien], und die Juden die es trifft sind zum großen Teil wirklich ein unerfreuliches Gesindel, z. B. die Juden aus Ungarn der Bukowina und Rumänien die hier in Insektenschwärmen auftreten sind zweifellos viel verächtlicher und gemeiner als die eigentlichen Völker dieser Länder. Nur die wenigen höher gearteten Juden aus Deutschland und vielleicht Russland sind besser als die übrigen Menschen ebenso wie die wenigen edlen Deutschen, auch bei ihnen ist der Durchschnitt minderer als der anderer Völker. Und nur wegen dieser paar Juden und Deutschen freuts mich ja so ungeheuer beides zu sein. (FG-ES, Briefe, S. 312)

Als Salomon Wien 1923 ohne die Zustimmung Gundolfs verlässt und nach Rom übersiedelt, gerät die Liebesbeziehung in eine ernste Krise. Ungewöhn-

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lich und für Gundolf schwer akzeptabel ist, dass Salomon für ihre Entscheidung politische Gründe geltend macht. Als scharf beobachtende Nationalökonomin besteht sie darauf, nicht länger einem Wirtschaftssystem zu dienen, das ihr als ein einziger egoistischer Sumpf erscheint, »verlogen und unmoralisch, unsozial und staatsfeindlich.« (FG-ES, Briefe, S. 352)39 Ihre Entscheidung für Rom verteidigt sie standhaft, obgleich Gundolf sich zunächst weigert, sie dort zu besuchen – und dies nicht aus privaten, sondern aus politischen Gründen: Nicht wegen der Kosten aber wegen der Würde. Wenn mein Deutschtum nicht nur eine blosse Phrase sein soll und mein Würdegefühl nicht der Liebe zum Opfer fällt, so gehört sichs nicht daß ich in eines der Länder gehe, die den Friedensvertrag von Versailles unterzeichnet haben, solang dieser Vertrag besteht. Sag, gingst du in ein Haus wo du befeindet oder mitleidig begönnert würdest? Als Deutscher, mit einer gewissen Verantwortlichkeit, aber würde das meine Situation in Italien sein. Ihr Weiblein seid Naturwesen und Staat, Vaterland u. dgl. sind für Euch allenfalls Gefühle, sehr lebhafte sogar, wie bei Dir, aber keine Verantwortungen. Wir Männer haben keine Gastfreundschaft bei Völkern anzunehmen, die uns geschändet oder verraten haben, solang die Folgen dieser Schändung noch dauern. Also komm du zu mir, wenn du mich im Sommer sehn willst! (FG-ES, Briefe, S. 416).

Salomon ist empört, bezeichnet seine Argumentation als »ganz theoretisch doktrinäres Gehirnerzeugnis«. Entschieden rückt sie ihm den Kopf zurecht: Da müßte ja nach jedem Krieg der Weltverkehr aufhören, denn einer unterliegt immer. Und überhaupt: es ist doch immer nur eine Kaste die Krieg od. Frieden von Versailles macht. […] Wenn Du da konsequent sein willst, darfst Du auch nicht in einem Deutschland wohnen, in dem der bei weitem überwiegende Teil der Bevölkerung antisemitisch ist u. Dich als einen lästigen Eindringling betrachtet. (FG-ES, Briefe, S. 418 f.)

39  Im Januar 1922 schreibt sie Gundolf aus Wien: »In England und Frankreich gilt die Wirtschaft nicht weniger als bei uns und doch ist der Staat dort noch ein eigener Wert und eine Macht. Die Wirtschaftsforderungen sind hier dringlicher, drum leuchtet mir die Verselbständigung schon ein. Ich begreife nur nicht daß man so schlecht wirtschaften kann als hätte man nur bis zum heutigen Abend zu denken. Die gesünderen Völker wirtschaften einfach besser und sie wissen auch noch daß sie es tun um die Nation zu erhalten und zu fördern« (FG-ES, Briefe, S. 357).

Friedrich Gundolf und Elisabeth Salomon

Wie häufig in ihrem Briefwechsel behält sie auch in dieser Frage das letzte Wort. Nicht zuletzt bewegen ihn ihre begeisterten Schilderungen des italienischen Lebens zum Nachgeben.40 Abschließend lässt sich festhalten: Der Liebesbriefwechsel zwischen Friedrich Gundolf und Elisabeth Salomon vermittelt erhellende Einblicke in das akademische Milieu einer Zwischenkriegsgesellschaft, die durch sich bis zum Bürgerkrieg zuspitzende politische Polarisierungen und ökonomische Krisen gekennzeichnet war. Er lässt exemplarisch erkennen, vor welche Herausforderungen sich das private Leben von Paaren infolge elitärer literarischer Inselbildungen wie dem George-Kreis, neuer Ehe- und Liebesvorstellungen und der Wandlung bzw. Neudefinition bürgerlicher Geschlechternormen gestellt sieht. Diese Umbrüche und Neubewertungen manifestieren sich in den von Gundolf und Salomon gewählten Lebensmodellen und finden Eingang in ihren Partnerschaftsentwurf. Als Briefpartner agieren sie in einem Schreibraum, in dem die von Gundolf als Durchdringen von »Privataffären« und »Weltgeschichte« (FG-ES, Briefe, S. 36) bezeichnete Wahrnehmung einer Verstrickung subjektiver und öffentlicher Ereignisse und Befindlichkeiten durch eigenwillige Selbstentwürfe, wechselseitige Zuschreibungen, spezielle Textstrategien und zahlreiche, für den Liebesdialog konstitutive, ästhetisch-literarische Anleihen eine sehr spezifische Ausprägung erfährt. Diese spiegelt, allgemein betrachtet, dennoch zugleich jene »Doppelheit von literarisch-ästhetischer Stilisierung und alltäglicher Information«, die Elke Clauss in ihrer anregenden Studie als typisch für Liebesbriefe erkannt hat41 und die Barbara Asen in einer neueren Studie als grundlegende Struktur an fünf weiteren Paarkorrespondenzen der Zwischenkriegszeit aufzeigt. Die soziale Herkunft scheint hierbei interessanterweise weniger maßgeblich zu sein, denn gemessen an dem Gelehrten- und Künstlermilieu, dem Gundolf und Salomon angehören, stammen Asens Fallbeispiele aus einer eher einfachen bildungsbürgerlichen Schicht.42 Die Untersuchung hat gezeigt, dass der briefliche Liebesdialog zwischen Gundolf und Salomon überraschend gut gelingt, obgleich er von zum Teil weit auseinanderliegenden Auffassungen getragen und auch in einem

40  Im März 1924 besucht Gundolf sie in Rom, hält sich mit ihr dort und in Neapel den gesamten April über auf. Im August und September 1925 weilen sie beide in Engadin und Venedig (vgl. FG-ES, Briefe, S. 479, 563). 41  Elke Clauss: Liebeskunst. Der Liebesbrief im 18. Jahrhundert. Weimar 1993, S. 12. 42  Vgl. Barbara Asen: »[…] nicht nur Gattin, sondern auch treue Kameradin«. Zur Konstruktion von Liebesbeziehungen in der Briefkommunikation von Paaren der Zwischenkriegszeit. In: Ingrid Bauer, Christa Hämmerle (Hrsg.): Liebe schrei­ben. Paarkorrespondenzen im Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts. Göttingen 2017, S. 139–170.

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unterschiedlichen Liebes-Code geführt wird. Gundolfs hochartifizielle Liebessprache reformuliert  – wenn auch nicht bruchlos  – das misogyne Geschlechtermodell des George-Kreises. Salomons Liebessprache folgt demgegenüber einem für die junge Generation der 1920er Jahre festgestellten Zug zur »neuen Sachlichkeit«, die eine Infragestellung der romantischen Liebe, eine Profanierung der Gefühle und eine Entemotionalisierung des Subjekts betreibt.43 Der briefliche Aushandlungsprozess von Liebe, der vor dem Hintergrund solcher gegenläufiger Positionierungen geführt wird, schmiedet am Ende eine die traditionellen Geschlechtergrenzen überschreitende, moderne Partnerschaft, in die Salomons weibliche Unabhängigkeit und Selbstbestimmung als hohes, auch durch die Heirat nicht infrage gestelltes Gut eingehen. Als Salomon nach langem Drängen Gundolfs im Mai 1926 in seinen Wunsch nach einer Eheschließung einwilligt, schreibt er ihr: Mein Liebstes! Ja, es ist recht so: mein Herz und mein Gewissen wollen es so, und wenn wir uns so lieben wie wir es tun, muß es gut werden, trotz allen Schwierigkeiten die nicht ausbleiben – du kennst sie ja selbst.. sie sind geringer als meine Liebe zu dir und wie ich glaube, deine Liebe zu mir.. und auf keine andre Weise können wir uns genugtun als durch die Ehe. Wir tun den Schritt nicht mehr wie Frühlingsliebespärchen aus Rausch und Wahn, sondern nach zwölf Jahren schmerzlicher Erfahrungen, die uns gegen Illusionen panzern und für Opfer reifen – unsre Liebe muß auch diese Probe noch bestehn, Liebstes auf der Welt! […] Ich liebe Dich und bleibe Dein getreuester Gundel (FG-ES, Briefe, S. 614 f.)

43  Vgl. ebd., S. 141 u. 144.

Chiara Conterno

Der Briefwechsel zwischen Karl Wolfskehl und Albert Verwey in der Zwischenkriegszeit I. Einführung In diesem Beitrag werde ich auf den Briefwechsel zwischen Karl Wolfskehl und Albert Verwey eingehen, wobei ich versuchen möchte, diese Briefe als Lebensraum im Medium der Schrift darzustellen; denn diese Korrespondenz wird zu einem umfassenden Raum, in dem sowohl unterschiedliche Aspekte des Privatlebens der Briefpartner als auch politische und gesellschaftliche Ereignisse beleuchtet werden. Dabei zeichnet sich eine Entwicklung in der Stellungnahme der Autoren – vor allem Wolfskehls – den Weltgeschehnissen gegenüber ab. Ferner findet hier ein reger Kulturaustausch statt, der wiederum einen produktiven kulturellen Raum eröffnet. Nicht zuletzt geben die Briefe auch die Stimmen der anderen Familienmitglieder wieder, wobei der Eindruck entsteht, einem polyphonen Chor beizuwohnen. Alles in allem wirken Privatleben, Weltgeschichte und Dichtung ineinander, woraus ein komplexes und buntes Mosaik einer Geistesepoche entsteht, die aus einer sehr persönlichen Perspektive betrachtet wird. Als Einstieg ins Thema muss ich zuerst die Vorgeschichte dieses Briefwechsels und vor allem seinen ersten Teil, d. h. die Jahre bis zu 1918, untersuchen, weil der Briefaustausch die Zeit von 1897 bis zu Verweys Tod im Jahr 1937 und darüber hinaus die Briefe von und an Verweys Frau Kitty bis 1940 umspannt. Dabei werde ich auch auf die Medialität und Materialität des Briefeschreibens eingehen.

II. Die Vorgeschichte Der niederländische Dichter, Denker und Kritiker Albert Verwey war einer der führenden Geister der literarischen Erneuerungsbewegung in Holland, die darauf abzielte, die in Konventionen erstarrte Poetik des 19. Jahrhunderts zu erneuern, die Beschränkung des Nationalen aufzuheben und sie ins Europäische auszuweiten.1 In diesem Kontext suchte Verwey nach geis-

1  Ab 1885 organisierte sich die Gruppe um die Literaturzeitschrift De nieuwegids [Der neue Führer], zu deren Redaktion Frederik van Eeden, Willem Kloos und Albert Verwey gehörten. 1904 gründete Verwey die Kulturzeitschrift De Beweging [Die Bewegung]. Dieses Blatt stellte sich

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tes- und gesinnungsverwandten Dichtern außerhalb Hollands. Durch die Blätter für die Kunst kam er mit Stefan George in Kontakt2 und durch George lernte er 1897 Karl Wolfskehl in Berlin kennen.3 Von Anfang an war Verwey von der überreichen, fast überschwänglichen Natur Wolfskehls angezogen, den er als einen »von Dionysos besessenen«4 bezeichnete. Der »ungestüme Karl und der besonnene Albert«5 ergänzten sich gegenseitig. Ihre Freundschaft, durch das Zusammenspiel von »Geben und Nehmen und die Äquilibristik von Anlehnung und Abgrenzung«6 geprägt, wurde dadurch verfestigt, dass Wolfskehl enge Kontakte mit Holland hatte, weil

weitgehend über die oder außerhalb der etablierten niederländischen Segmente und ist als liberal-humanistisch zu charakterisieren. Verwey, der als Übersetzer und Literaturwissenschaftler tätig war, prägte den Inhalt stark, indem er der Poesie einen wichtigen Platz einräumte. 2  Auf die Beziehung zwischen George und Verwey kann ich aus thematischen und räumlichen Gründen in diesem Artikel nicht weiter eingehen. Es sei aber daran erinnert, dass sich die zwei Dichter 1895 bei den Verweys in Noordwijk / Zee trafen. Da begann eine Freundschaft bzw. eine Bruderschaft, die so lange währte, bis sich eine Kluft zwischen den beiden auftat. Die langjährige Verbundenheit der beiden Dichter, die sich u. a. in gegenseitigen Übersetzungen äußerte, wurde von dem Maler Jan Toorop in einem immer wieder abgedruckten Porträt aus dem Jahr 1905 verewigt. Nach Georges Tod war Verwey erschüttert und verarbeitete seine Beziehung zum deutschen Kollegen im Essay Mein Verhältnis zu Stefan George. Erinnerungen aus den Jahren 1905–1928 (1936). Darin antwortete er auf Wolters Text Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, ein Buch, das laut Verwey durch persönliche Interpretation und Verklärung gefärbt war. In seinem Antwort-Essay ergriff der niederländische Dichter die Gelegenheit, die aus seiner Sicht bei Wolters verzerrte Beziehung zu George ins richtige Licht zu rücken. Zur Freundschaft zwischen Verwey und George siehe u. a. Wilfried de Pauw: De vriendschap van Albert Verwey en Stefan George. Pretoria 1960; Mea Nijland-Verwey (Hrsg.): Albert Verwey en Stefan George. De documenten van hun vriendschap. Amsterdam 1965; Rudolf Pannwitz: Albert Verwey und Stefan George zu Verwey’s hundertstem Geburtstag. Heidelberg 1965; Stefan George und Holland. Katalog der Ausstellung zum 50. Todestag. Amsterdam 1984; Freundschaftsdichtung in den Niederlanden. Jacques Perk – Willem Kloos – Albert Verwey (1880–1935), aus dem Niederländischen übertragen und mit einer Einführung versehen durch Rudolf Eilhard Schierenberg. Heidelberg 1996; Giorgio Faggin, Marco Prandoni: Albert Verwey. In: Hebenon, Quarta serie 9–10 (2012), S. 59–73. 3  Bei dieser Gelegenheit begegnete Verwey auch einem weiteren engen Freund von George, Melchior Lechter. 4  Vgl. Mea Nijland-Verwey: Vorwort. In: Karl Wolfskehl und Albert Verwey: Die Dokumente ihrer Freundschaft. 1897–1946. Hrsg. v. Mea Nijland-Verwey. Heidelberg 1968, S. 9–15, hier S. 9. Verwey äußerte sich am 16. Januar 1928 mit diesen Worten zu Wolfskehls Persönlichkeit: »… Wolfskehl ist die dionysischeste Persönlichkeit – passez moi le mot – die ich je gekannt habe.« Zit. aus Wolfskehl, Verwey: Die Dokumente ihrer Freundschaft, S. 223. 5  Mea Nijland-Verwey: Erinnerungen an Karl Wolfskehl. In: Jörg-Ulrich Fechner und Karlhans Kluncker (Hrsg.): Karl Wolfskehl Kolloquium. Vorträge – Berichte – Dokumente. Amsterdam 1983, S. 26–31, hier S. 26–27. 6  Ulrich Bornemann: Anlehnung und Abgrenzung. Untersuchung zur Rezeption der niederländischen Literatur in der deutschen Dichtungsreform des siebzehnten Jahrhunderts. Assen 1976.

Karl Wolfskehl und Albert Verwey

sein Schwiegervater, Willem de Haan, Komponist und Hof kapellmeister in Darmstadt, Holländer war.7 Nach der ersten persönlichen Begegnung begleitete eine immer herzlicher werdende persönliche Zuneigung die von beiden Dichtern gespürte Affinität, denn beide fühlten sich Befürworter eines »umfassenden Humanismus«.8 Jedoch folgten zuerst wenige Briefe, die in der Mehrheit kurz waren. Das hängt damit zusammen, dass Wolfskehl bis 1925 generell wenige Briefe schrieb. Die Gründe dafür waren: 1) die starke Sehschwäche, wegen der das Augenlicht für das Lesen aufgespart wurde; 2) die Neigung zum Schreibkrampf in der rechten Hand, die eine Spezialfeder nötig machte.9 Zudem hatte sich der Dichter der »Kunstform des lebendigen Ge­­ sprächs«10 verschrieben, und oft, auch in den Briefen, wiederholte er, kein Briefschreiber im wortwörtlichen Sinn zu sein.11 Die Neigung zum Gespräch kann überdies auf Wolfskehls Mitgliedschaft und Erfahrungen im GeorgeKreis zurückgehen, innerhalb dessen das Sprechen und Vorlesen zentrale Momente darstellten. Lautes Lesen war eine soziale und zugleich rituelle Performanz sowie eine gemeinschaftliche Praxis, in der die subjektive Versenkung in den Text wie in sich selbst, wie sie beim schweigenden Lesen geschieht, zurücktritt. Im Rahmen der Initiationsrituale, mit denen die neuen Jünger sich des Meisters und seines Kreises würdig erweisen mussten, spielte das Vorlesen eine entscheidende Rolle.12 Ebenso wurden das Sprechen und das laute Lesen während der bekannten Jours in seiner Münchner Wohnung und selbstverständlich während der »Lingualorgien«13 der Schwabinger Kosmiker geübt und gepflegt.

  7  Willem de Haan war nicht nur ein Musiker von vornehmer Gesinnung, sondern auch ein Kenner und Verehrer hoher Dichtung. Hanna, Willem und Albert waren also Wolfskehls konkrete Verbindungen zu den Niederlanden.   8  Nijland-Verwey: Vorwort, S. 11. Verwey versuchte, Wolfskehls Werk in Holland bekannt zu machen. In diesem Zusammenhang spielte seine Zeitschrift De Beweging eine große Rolle. Darin wurden Gedichte – manchmal ins Niederländische übersetzt – und Besprechungen veröffentlicht. Seinerseits war auch Wolfskehl als Übersetzer des niederländischen Freundes tätig.   9  Karlhans Kluncker: Karl Wolfskehl als Briefschreiber. In: Fechner, Kluncker (Hrsg.): Karl Wolfskehl Kolloquium, S. 177–186, hier S. 178 f. 10  Ebd., S. 179. 11  Vgl. einige Briefstellen: »ich bin ja kein Briefschreiber und wie alles liegt, kann ich nicht diktieren was ich Ihnen zu sagen hätte.« (Wolfskehls Brief an Verwey vom 15. September 1932; Wolfskehl, Verwey: Die Dokumente ihrer Freundschaft, S. 266); »Sie hören diesen Brief so wie ich ihn mehr niederspreche als niederschreibe. Auch alles was dabei mitschwingt. Das weiß ich.« (Wolfskehls Brief an Verwey vom 13. Dezember 1921; ebd., S. 161.) 12  Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer, Ute Oelmann (Hrsg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Band 2. Berlin 2012, S. 533–536. 13  Kluncker: Karl Wolfskehl als Briefschreiber, S. 179.

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Zu Wolfskehls Neigung zur mündlichen Äußerung trug wahrscheinlich ein weiterer Aspekt bei: Die Schrift, auch im Falle des Briefeschreibens, wurde im George-Kreis reglementiert. Der Meister führte seine besondere und eigentümliche Stilschrift ein, an die sich viele Mitglieder freiwillig anpassten, was dazu führte, dass ihre Handschriften voneinander nur schwer zu unterscheiden waren. Dieser Anpassung stellte sich Karl Wolfskehl entgegen, der weiter seine eigene Schrift benutzte.14 In Anbetracht dieser Widersprüchlichkeit könnte man vermuten, dass der Dichter das Lesen und das Sprechen dem Briefeschreiben vorzog. Außerdem könnte es insbesondere anfänglich für Wolfskehl undenkbar gewesen sein, die »Fülle des Wissens« sowie die »Lebendigkeit des Geistes« mittels der Briefform auszudrücken.15 Nachdem Wolfskehl seinen Unterhalt als Hauslehrer und Privatdozent bestreiten musste, veränderte sich die Lage. Als er ab 1925 wegen seiner beruflichen Aufgaben über eine Sekretärin verfügte, war die äußere Voraussetzung geschaffen, sein »epistolarisches Genie«16 zu entfalten. Zudem war der Dichter durch die europäischen Wanderjahre und später durch das Exil zum Brief gezwungen und auf ihn angewiesen, um den Kontakt mit den Freunden aufrechtzuerhalten.17 Die Modalität des Briefdiktats prägte die Jahre in Italien und dann in Neuseeland, wie Margot Ruben in ihren Erinnerungen erzählt: Wolfskehl habe langsam diktiert und Worte nebeneinander gereiht, wobei er sich schnell bewegt habe. Rhetorischer Schmuck und Rhythmisierung des Redeflusses seien der Evokationskraft zu verdanken, mit der Wolfskehl sich die fernen Angeredeten zu vergegenwärtigen gewusst habe. Wahrscheinlich eben wegen der Modalität des Briefdiktats behielten Wolfskehls Briefe teilweise einen Gesprächscharakter.18 Nach diesem kurzen Exkurs über Wolfskehls Modalität des Briefschreibens greifen wir die Entwicklung des Verhältnisses zwischen den Briefpart-

14  Aurnhammer, Braungart, Breuer, Oelmann: Stefan George und sein Kreis, S. 696–698, hier S. 728. 15  Kluncker: Karl Wolfskehl als Briefschreiber, S. 179. 16  Ebd. 17  Zu Wolfskehls Exil siehe Friedrich Voit: Karl Wolfskehl. Leben und Werk im Exil. Göttingen 2005. 18  Margot Ruben: Einleitung. In: Karl Wolfskehl: Zehn Jahre Exil. Briefe aus Neuseeland, 1938–1948, herausgegeben und eingeleitet von Margot Ruben; mit einem Nachwort von Fritz Usinger. Heidelberg 1959, S. 11–23, hier S. 13. In ihren Erinnerungen betont Ruben, dass Wolfskehl direkt in die Maschine diktierte, ohne ein Wort auszubessern. Margot Ruben: Karl Wolfskehl. Exul Immeritus. Erinnerungen an Neuseeland. In: Fechner, Kluncker (Hrsg.): Karl Wolfskehl Kolloquium, S. 45–60, hier S. 50. Vgl. den Brief vom 9. August 1928: »Lieber Albert, Ihr Brief an die Hanna dringt so stark auf mich ein, rüttelt an meinem Gewissen, läßt mich staunen und Halt machen, daß ich wie bei der lebendigen Zwiesprach augenblicklich dazu spreche« (Wolfskehl, Verwey: Die Dokumente ihrer Freundschaft, S. 229).

Karl Wolfskehl und Albert Verwey

nern wieder auf. Nach Verweys Münchener Besuch im Jahr 1902 verfestigte sich die Freundschaft zwischen den Dichtern und allmählich trat auch Wolfskehls Frau Hanna in den Briefwechsel ein. Ihre Briefe, die die gleiche Verehrung, Herzlichkeit und Lebenswärme wie die ihres Mannes aufweisen, sind teilweise heller und positiver und bringen den Zusammenklang von »geistiger Übereinstimmung und herzenswarmer Freundschaft«19 ans Licht. Wegen Wolfskehls Augenschwäche musste Hanna oft die von ihrem Mann diktierten Briefe schrei­ben. Kitty Verwey trat hingegen etwas zurück, weil sie die Hausfrau einer kinderreichen Familie war. Wie Verwey einmal schreibt, blieb sie die »Federlose«.20 Dessen ungeachtet nahm sie indirekt daran teil, indem sie ihrem Mann half, die handschriftlichen Briefe Wolfskehls zu entziffern, und einige davon in ihre klare Handschrift übertrug. Aktiv wurde sie erst, nachdem ihr Mann gestorben war und sie den Kontakt mit den Wolfskehls weiter pflegte. Den Zusammentreffen der gesamten Familien, dank derer sich die Freundschaft auf alle Familienmitglieder ausdehnte,21 folgte eine Zunahme des Briefwechsels an Umfang, Intensität und Nähe.22 Mit dem ersten Weltkrieg jedoch brachen der persönliche Kontakt und der Briefverkehr zeitweise ab. Der Grund lag in den unterschiedlichen Stellungen dem Konflikt gegenüber. Obwohl beide die Unterschiede in der Persönlichkeit, Stellungnahme und im Lebensstil respektierten, machte sich allmählich eine Entzweiung bemerkbar und der seelische Zusammenklang ging verloren. Vor allem nach Wolfskehls Öffentlichem Brief an Romain Rolland kühlte ihr Verhältnis ab. Es geht um den an Rolland adressierten Brief, den Wolfskehl am 12. Mai 1914 in der Frankfurter Zeitung veröffentlichte und in dem er den Krieg als eine »Notdurft« bzw. als ein von Gott gewolltes Ereignis bezeich-

19  Nijland-Verwey: Vorwort, S. 10. 20  »Meine Frau grüßt herzlich. Sie bleibt die federlose, freut sich aber sehr wenn Ihre Briefe einlaufen.« Albert Verwey an Hanna Wolfskehl, 8. Januar 1908. In: Wolfkehl, Verwey: Die Dokumente ihrer Freundschaft, S. 62. 21  Zum ersten Treffen der gesamten Familien kam es im Jahr 1906, als die Wolfskehls – Karl, Hanna und die zwei Töchter Renate und Judith  – die Sommerferien in Noordwijk / Zee verbrachten. In ihren Erinnerungen erzählt Mea Nijland-Verwey von den gemeinsamen Spaziergängen auf Dünengängen sowie von den Abendgesprächen, die meistens um Gedichte kreisten. Nijland-Verwey: Vorwort, S. 10. 1908, 1910 und 1912 verbrachten die Familien andere gemeinsame Sommerferien in Noordwijk / Zee. Im Januar 1910 trafen sich Karl, Hanna und Albert anlässlich einer Ausstellung von Lechters Glasgemälde im Westfälischen Landesmuseum in Münster. Im Herbst 1912 fuhren die Dichter gemeinsam nach Paris, wo einige Gedichte von Verwey entstanden. In demselben Jahr verfasste Verwey das Kandinsky gewidmete Gedicht De Schilder, das von Wolfskehl ins Deutsche (Der Maler) übersetzt wurde, was ihre Aufgeschlossenheit gegenüber der jüngsten bildenden Kunst bezeugt. 22  In den Briefen wurden nicht nur das dichterische Werk und die vielfachen literarischen und künstlerischen Interessen, sondern auch das Zeitgeschehen besprochen.

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nete.23 Hingegen bekannte sich Verwey, der in Di Beweging öffentlich Stellung nahm, zu Hollands Neutralität, und dies nicht nur in einem politischen Sinn. Gleichzeitig blieb seine freundschaftliche Gesinnung jenseits aller Meinungsverschiedenheiten unverändert, weil ihm klar war, dass jeder schließlich zu seinem Volk gehörte und dafür sprechen musste. Anfänglich war auch die Gegenseite so gestimmt.24 Allmählich wurde aber der Kontakt zu Verwey von den deutschen Kollegen abgebrochen, weil sein Eintreten für übernationales Menschentum, das den »deutschen Traum von Herrschermacht kontrastierte«, als »Verleugnung der Geistesgemeinschaft mit den deutschen Dichterfreunden«25 missverstanden wurde.

III. Die Zwischenkriegszeit Im Folgenden wird untersucht, wie sich die Beziehung zwischen Wolfskehl und Verwey in der Zwischenkriegszeit abspielte, als sich Wolfskehls Einstellung den Weltgeschehnissen gegenüber stark veränderte. Zentral ist in dieser Phase Wolfskehls Thematisierung seiner inneren Zerrissenheit als deutsch-jüdischer Autor. In dieser Hinsicht erweist sich die Produktivität des Briefwechsels, der Wolfskehls Reflexion und Entwicklung trägt und befördert, als Fundgrube. Lange hat es gedauert, bis der Kontakt zwischen Wolfskehl und Verwey nach der Unterbrechung im Ersten Weltkrieg wieder fest und herzlich wurde.26 Ein wichtiger Anlass für die Neubelebung der Freundschaft war Wolfskehls Bedürfnis, Deutschland zu verlassen, weswegen er am 13. Februar 1921 Verwey zu Rate zog. In demselben Brief gestand Wolfskehl aber auch, der Autor von Ein Abschied, an A. V. zu sein. Es geht um ein an Verwey gerichtetes Gedicht, das im Winter 1919 in Blätter für die Kunst veröffentlicht wurde, das Verwey verletzte und George ursprünglich zugeschrieben wor-

23  »Dieser ungewollte, uns aufgezwungene Krieg ist dennoch eine Notdurft, er hat hereinbrechen müssen, für Deutschland und die Welt europäischer Menschheit, um dieser Welt willen. Wir haben ihn nicht gewollt, aber er ist von Gott. Unser Dichter hat ihn gewußt. Er hat diesen Krieg und seine Not und seine Tugenden gesehen und verkündet […] Der ›Stern den Bundes‹ ist dieses Buch der Weissagung, dies Buch der Notwendigkeit und der Ueberwindung.« Karl Wolfskehl: Offener Brief an Romain Rolland. In: Frankfurter Zeitung, Nr. 253, 12.9.1914, S. 1–2, hier S. 2. 24  Beispielsweise gratulierten ihm Wolfskehl und die Kollegen des George-Kreises zum 50. Geburtstag und die Nummern von De Beweging wurden nach Deutschland geschickt. Nach und nach wurde die holländische Zeitschrift in Deutschland aber nicht mehr positiv empfangen. 25  Nijland-Verwey: Vorwort, S. 12. 26  Im Mai 1919 trafen sich Gundolf, Verwey und George in Heidelberg, wobei eine anscheinend wieder versöhnliche Stimmung zwischen den Dichtern zu herrschen schien.

Karl Wolfskehl und Albert Verwey

den war. In seinem Antwortbrief vom 16. Dezember 1921 bedankte sich Verwey bei Wolfskehl für seine Ehrlichkeit, aber äußerte gleichzeitig seine Empörung über die Art und Weise, wie der ihm gewidmete Text publiziert worden war. Dessen ungeachtet wurde allmählich der Kontakt wieder intensiv. Wahrscheinlich waren beide Dichter sich dessen bewusst, dass jeder trotz der Meinungsverschiedenheiten die Freundschaft bewahrt hatte.27 Das erste Wiedertreffen fand 1922 bei Willem de Haan statt. Ein Zeichen der wieder gestifteten Freundschaft war Wolfskehls Umbenennung des Gedichts Ein Abschied, an A. V. in Nur wir. Von diesem Zeitpunkt an drückten die Briefpartner – vor allem der »ungestüme« Wolfskehl – ihre Freundschaftsgefühle mit großem Pathos aus: »Lieber Freund Albert – Ich nehme Ihre Hand in meine beiden Hände und nehme sie als Pfand für das Wiedersehn im Februar«, schreibt Wolfskehl am 22. Dezember 1921.28 Ein paar Monate später, am 11. Februar 1922, notiert Verwey: Karl und ich haben in einer Weise die ich in unserem Alter nie für möglich gehalten hätte, und die wohl nur seiner Natur zu verdanken ist, unser Herz völlig leer geschüttet, alle Mißverständnisse die sich seit Anfang des Krieges aufgehäuft hatten, beseitigt, und einen besseren Boden gewonnen zu fruchtbaren Unterredungen.29

In der Zwischenkriegszeit wird der Briefverkehr – vor allem für Wolfskehl – zu einer lebensnotwendigen Instanz. In diesen äußerst unsteten Jahren, in denen Wolfskehl kein festes Zuhause hatte, sondern ständig von einer Unterkunft zur anderen zog, wurde der Briefaustausch der einzige solide Bezugspunkt bzw. der einzige mögliche, freie und bewohnbare Lebensraum. Ein Lebensraum im Medium der Schrift. Gleichzeitig wurde der Briefverkehr zum Seismografen der persönlichen, künstlerischen Entwicklungen sowie der politischen Geschehnisse, ein Seismograf, der überdies dazu beiträgt, »das kostbare Erbe« einer verschwindenden Geistesepoche in allen ihren Aspekten »lebendig zu erhalten«.30 Im Folgenden konzentriere ich mich auf die zwei im Briefwechsel behandelten Hauptthemen: den Kulturtransfer und die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse.

27  Vermutlich ist der erneut angebahnte Kontakt auch Willem de Haan zu verdanken, der als Mittler zwischen den zwei Freunden wirkte. Eben bei ihm zu Hause (in Darmstadt) fand das erste Wiedersehen der Dichterfreunde im Februar 1922 statt. 28  Vgl. Wolfskehls Brief an Verwey vom 29. Juli 1922: »Ja lieber Albert, ich weiß es und fühle gewiß die Schicksalsgnade solcher Freundesnähe!« (Wolfskehl, Verwey: Die Dokumente ihrer Freundschaft, S. 180). 29  Verweys Brief an Hanna Wolfskehl vom 11. Februar 1922 aus Noordwijk / Zee; ebd., S. 165. 30  Nijland-Verwey: Vorwort, S. 13.

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III.I. Deutsch-niederländischer Kulturtransfer31 Der den Briefwechsel prägende deutsch-niederländische Kulturtransfer32 ging mit Übersetzungsprojekten und -fragen einher. Beachtenswert ist, dass das Übersetzen für Wolfskehl auch eine Möglichkeit des Verdienstes war, obwohl er selbst bemerkte, dass es sich um »kein sehr bebuttertes Brot«33 handelte.34 Über die Übersetzungsmethoden äußerten sich die Dichterfreunde mehrmals. Am 29. Juli 1922 aus Kiechlingsberger schrieb Wolfskehl, er ziehe Verweys Übersetzung von seinem Gedicht Vineta dem Original vor, weil die holländische Version dank Verweys Veränderungen den Text verbesserte:35 Es ist mir einmal – erinnern Sie? – so gegangen daß ich Verse in Ihrem holländischen Umguß lieber hatte als in meinem eigenen Wortlaut: wie Sie mir Ihre Übertragung von ›Vineta‹ lasen mit der kleinen bedeutsam bessernden Änderung – diesmal erlebte ich mindestens die ganze reine Freude wie wenn ein schönes Bild in klarem Kristallspiegel gesammelt und vollkommen wiederkehrt.36

Beim Übersetzen hatte Verwey das Bedürfnis gefühlt, Wolfskehls Gedicht seinen Landsleuten durch kleine Eingriffe näherzubringen,37 weswegen er sich etwas zu tun unterfing, was er sonst vermieden hätte. Er fügte in die

31  In diesem Beitrag konzentriere ich mich auf den literarischen Kulturtransfer, aber es muss darauf hingewiesen werden, dass auch die Musik und vor allem die Kunst eine wichtige Rolle im Briefwechsel spielen. Einerseits war Willem de Haan Dirigent, und manchmal wohnten die zwei Familien seinen Konzerten (z. B. im Februar 1922) bei. Andererseits schwärmten alle für die europäische Malerei und besuchten etliche Ausstellungen, über die sie dann in den Briefen schrieben. 32  Zum deutsch-niederländischen Kulturtransfer siehe Meindert Evers: Begegnungen mit der deutschen Kultur. Niederländisch-deutsche Beziehungen zwischen 1780 und 1920. Würzburg 2006. 33  Wolfskehls Brief an Verwey vom 21. Mai 1926 aus München; Wolfskehl, Verwey: Die Dokumente ihrer Freundschaft, S. 212. Bezüglich einiger Übersetzungsaufgaben sprach Wolfskehl in dem Brief vom 18. August 1930 an Verwey von »Frohnarbeit«; vgl. ebd., S. 244. 34  Manchmal arbeiteten die zwei Dichterfreunde an der Übersetzung desselben Textes, beispielsweise versuchten sie sich an einigen Ausschnitten aus den Carmina Burana (vgl. ebd., S. 174–176). Andere in den Briefen erwähnte und kommentiere Übersetzungsarbeiten betreffen beispielsweise Verweys Dante-Übertragung. 35  Es geht um ein Gedicht Wolfskehls, das dem Zyklus Die dumpfen Lieder. Nirwana entstammt und von Albert Verwey ins Niederländische übersetzt wurde. Das deutsche Original ist auf Seite 48 des ersten Bandes von Wolfskehls Werk zu lesen. Karl Wolfskehl: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Band I. Hrsg. v. Margot Ruben und Claus Victor Bock. Hamburg 1960. 36  Wolfskehls Brief an Verwey vom 29. Juli 1922; Wolfskehl, Verwey: Die Dokumente ihrer Freundschaft, S. 181. 37  Nijland-Verwey: Erinnerungen an Karl Wolfskehl, S. 30.

Karl Wolfskehl und Albert Verwey

Übertragung einiges hinzu, damit seine niederländischen Leser das Gedicht besser verstehen konnten, und veränderte einen ganzen Vers: aus »Also dem sinnen seltsam ohne scham« wurde »Deine Ruhe, oh Tod, betrachtet das, was er sich genommen hat«,38 wobei der Übersetzer eine Brücke zum vierten Vers des Gedichts schlägt, statt zum ersten, wie es im Originaltext der Fall ist. Sicher hätte Verwey so etwas nicht gewagt, wenn er mit Wolfskehl nicht derart eng befreundet gewesen wäre.39 Obwohl die verdeutlichende Übertragung weniger modern als das Original klang, war Wolfskehl mit Verweys Lösung zufrieden. Die »Wirkart« des Übersetzens ist nach Wolfskehl nämlich das Grundprinzip, das »der Erneuerung mit andersgearteten Mitteln aus andersgeartetem Gesetz, das Andere als das Erste, eine Verselbung – die als Möglichkeit, als dem Menschengeist erschlossne Übertragungskraft des Lebens von Bezirk zu Bezirk an sich höchster Bedeutung ist«.40 In Bezug auf seine Übersetzung von Ülenspiegel von De Coster betonte Wolfskehl, sich bemüht zu haben, »das so saftige und vielfältige Werk in ein entsprechendes Deutsch zu bringen, vor allen Dingen in ein lebendiges, sprechbares«.41 Statt auf die Gegenwartssprache zurückzugreifen, bediente sich Wolfskehl damals des rheinischen Dialekts und einer besonders in der Syntax bildnerisch eingreifenden mundartlichen Sprechsprache.42 Diese Verdeutschung wurde in der Neuen Rotterdamer Zeitung von Verwey positiv besprochen, wobei Letzterer Wolfskehls Vermittlung des sinnlichen Inhalts von De Costers Text lobte.43

38  Auf Niederländisch lautet der Vers: »Uw rust, o Dood, schouwt wat zij tot zich nam –«; Wolfskehl, Verwey: Die Dokumente ihrer Freundschaft, S. 351. Im Text habe ich die deutsche Übersetzung eingesetzt. Für zahlreiche Gespräche bezüglich der niederländischen Aspekte bedanke ich mich bei Dr. Marco Prandoni. 39  Wahrscheinlich hatte er sich mit dem Autor beraten. Das könnte wohl in jenen Noordwijker Sommerwochen 1906 geschehen sein. 40  Wolfskehls Brief an Verwey vom 19. Februar 1925; Wolfskehl, Verwey: Die Dokumente ihrer Freundschaft, S. 205. 41  Wolfskehls Brief an Verwey vom 11. Dezember 1926; ebd., S. 215 f. 42  Folgendes schrieb Wolfskehl an Verwey am 25. August 1927: »Ich bin auch froh daß Sie das Grundprinzip meiner Übertragung, die Ersetzung des im heutigen Deutsch unmöglichen, von mir in jedem Falle abgelehnten Altdeutschisieren, durch den rheinischen Dialekt, durch die besonders in der Syntax bildnerisch eingreifende mundartliche Sprechsprache gutheißen« (ebd., S. 220). 43  »So wie De Coster die Sprache Gargantuas kannte, so kennt Wolfskehl die saftigste und farbigste Sprache vieler deutschen Lande. Er hat nicht danach getrachtet archäisch zu sein, aber der sinnliche Inhalt von De Costers Sprache ist bei ihm zu einem gleich kunstvollen, einem gleich lebendigen und gleich eigenartigen Deutsch geworden …« (ebd., S. 219).

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Im Briefwechsel wird dann über die gegenwärtigen Interessen der Briefpartner berichtet, von Wolfskehls Studien der Renaissancepoesie44 bis Verweys Arbeiten über Vondel, die von Wolfskehl gepriesen werden.45 Der Kulturtransfer wurde natürlich auch durch einen regen Bücheraustausch verstärkt46 sowie durch die Übersendung ihrer eigenen Texte und Übersetzungen, die viel Material zur Diskussion lieferten. Es sei hier nur auf den Essay Mein Verhältnis zu Stefan George von Verwey verwiesen, in dem Verwey die Gelegenheit ergriff, die aus seiner Sicht verzerrte Beziehung zu George ins richtige Licht zu rücken,47 sowie auf das Gedicht Albert Verwey / Hollands großem Dichter zum 70. Geburtstag,48 in dem Wolfskehl Verwey herzlich huldigte.49 Zudem wurden die Neuerscheinungen oder die Nachwirkung der Klassiker zu beliebten Diskussionsthemen, beispielsweise kreisen einige Briefe um Goethes Rezeption in Holland.50 Nicht zuletzt sei auf die zahlreichen Rezensionen hingewiesen, ein Feld, in dem vor allem Verwey aktiv war und das einen optimalen Weg des Kulturtransfers darstellt.51 Überraschenderweise thematisieren die Briefe aber nicht  – oder nur ganz am Rande – den Aufschwung von Wolfskehls poetischer Kreativität in der Dichtung seiner letzten Lebensjahre. Über den Zyklus Die Stimme spricht hat sich Verwey dankend geäußert, aber die betreffenden Briefe sind leider verloren gegangen. Heute können wir nur Wolfskehls Antwortbrief vom 21. Dezember 1934 aus Florenz lesen, in dem er äußerst kritisch auf die damalige deutsche Öffentlichkeit einging, die »befehlsgemäß« schwieg: Die deutsche Öffentlichkeit, wie sichs versteht, schweigt ›befehlsgemäß‹, das ist unter den jetzigen Umständen auch mir nur erwünscht. […] Denn die ›Stimme‹ ist noch nicht verstummt. Die Gedichte dieser Reihe, wie sie nur ein

44  Vgl. Wolfskehls Brief an Verwey vom 21. Mai 1926; ebd., S. 212 f. Am 13. Juni 1926 reagiert Verwey mit folgenden Worten: »Ihre Renaissance-Studien interessieren mich sehr und auch auf andere Studien dieser Art bin ich sehr gespannt. Eben unser Literaturstudium ist noch sehr im Anfang. Gewiß wäre es recht schön wenn wir davon einiges austauschten« (ebd., S. 214). 45  Vgl. Wolfskehls Brief an Verwey vom 20. Juli 1929; ebd., S. 240. 46  Stellvertretend sei hier auf Hadewychs Vizioenen hingewiesen, wofür sich Hanna bei Verwey herzlich bedankt. Vgl. ebd., S. 180 und S. 182. 47  Hanna bot sich als Übersetzerin an, aber der Band war schon von Antoinette Eggink, einer in Meran lebenden Holländerin, übersetzt worden. Vgl. ebd., S. 300. 48  Wolfskehl: Gesammelte Werke. Band I, S. 235–236. 49  Wolfskehls Brief an Verwey vom 13. Mai 1935; Wolfskehl, Verwey: Die Dokumente ihrer Freundschaft, S. 305. 50  Um die Nachwirkung Goethes in Holland kreist Verweys Brief vom 23. März 1932; ebd., S. 254–256. 51  Zu Wolfskehls Das Buch von Wein schreibt Verwey am 16. Januar 1928: »… Wolfskehl ist die dionysischeste Persönlichkeit – passez moi le mot – die ich je gekannt habe. Es ließ sich denken daß sie sich in diesem Buche nicht unbezeugt lassen würde« (ebd., S. 223).

Karl Wolfskehl und Albert Verwey

kleiner Teil dessen sind, was seit 14 Monaten gebildet wurde, finden immer noch neues Geschwister. Der Kreis weitete sich; wie das Ganze am Ende ausschaut, weiß ich selber noch nicht, doch hängt alles inniger zusammen wie sonst. Freilich, die Harke mußte tief einjäten, bis es wieder zur Saat kommen konnte und zum Schnitt.52

Selbstverständlich geben die Briefe manchmal auch Wolfskehls Klage über seine »literarische Isolierung« wieder,53 die im Briefwechsel mit Verwey einigermaßen ein Gleichgewicht finden konnte. Das letzte Zusammentreffen, das 1935 in Meilen bei Zürich stattfand,54 wurde in Verweys In dem Haus zu Meilen verewigt: nochmals ein Beispiel von Kulturtransfer.55 Kurzum: Gegenseitige Inspiration und Austausch von Büchern, Texten und Übersetzungen bilden den Ursprung und Kern der Dichterfreundschaft. Umgekehrt erweist sich die Dichterfreundschaft als Hüterin, als Hort bzw. Schutzhort des literarischen Schaffens: »Ach Albert, wann haben wir wieder eines unserer Gespräche über Dichterisches? Nach dieser wesentlichen Richtung entbehrt mein Leben hier und überhaupt seit Jahren so ziemlich alles«, schreibt Wolfskehl am 21. Mai 1926 an Verwey.56

III.II. Politik und Gesellschaft In den ersten Nachkriegsjahren thematisierten viele Briefe die sich damals in Deutschland verbreitende Wirtschaftskrise. Beispielsweise beschwerte sich Wolfskehl am 13. Dezember 1921 über die Entwertung aller Vermögen, die ihn zwang, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Drei Jahre danach, am

52  Ebd., S. 303. 53  Vgl. Wolfskehls langen Brief an Verwey vom 25. August 1936 aus Recco: »In Deutschland selbst gibt es nur noch Wenige, mit denen ich mich finden kann oder auch nur finden darf. […] Fast der einzige Verbliebene ist heute Rudolf Pannwitz, der sich ja auch immer mehr zu einer serenen fast einer souveränen Klassizität in Schau und Laut ausformt. Unendliches haben wir gemeinsam, könnten wir zusammen leisten! Nur eben: er auf seiner Adria-Insel, ich an meinem tyrrhenischen Strand – und einer, der sich im geschriebenen Wort wirklich und ausreichend darbieten kann bin ich nun einmal nicht. Wenigstens aber erfahre ich viel durch ihn, und auch seine oft außerordentlichen, oft absonderlichen, immer aber reinen und edelst gewollten Werke, die ja auch in Ihren Händen sind, geben vielen Ersatz für den lebendigen Bezug. Durch ihn erfahr ich auch immer wieder von Ihrem Ergehen und Werken. Und seine Umdichtungen aus dem ›Lachenden Rätsel‹ sind doch überaus gelungen, nicht wahr? Ebenso der herrliche Forellenfischer, einer der mir nächsten, ein wirkliches Lieblingsgedicht, wie Sie wissen« (ebd., S. 319 f.). 54  Anwesend waren auch Kitty Verwey und Melchior Lechter. 55  Verwey starb 1937; ein Jahr danach floh Wolfskehl nach Neuseeland, wo er bis zu seinem Lebensende im Jahr 1948 blieb. 56  Wolfskehl, Verwey: Die Dokumente ihrer Freundschaft, S. 213.

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25. April 1924, zog er Verwey zu Rate, um sein auf der Filiale der Deutschen Bank in Amsterdam liegendes Geld auf einer anderen, rein holländischen Großbank unterzubringen,57 was Wolfskehls scharfe Wahrnehmung der wachsenden finanziellen Unsicherheit ans Licht bringt. Nach einer Deutschlandreise hatte auch Verwey im Brief vom 8. Februar 1922 an seine Tocher Mea den Zustand Deutschlands als »traurig« und scheinhaft bezeichnet: »Der Zustand in Deutschland ist übrigens traurig. Alles ist Schein. Mit wertlosem Papier als trügerischem Brückchen rollen die Menschen ihre Arbeit und ihren Besitz hin und her. Ich habe nun erst begriffen was es heißen will wenn Wert nicht länger gleich ist dem Zahlungsmittel.«58 Um Freundschaft und Europa kreiste ein Brief Wolfskehls an Verwey vom Juni 1924 aus Florenz.59 Trotz der Schwierigkeiten war er zu diesem Zeitpunkt zuversichtlich, dass die Krise des »europäischen Menschentums« hätte überstanden werden können. Was ihn besorgte, war vielmehr die innere, geistige Krise Deutschlands, die die menschlichen Beziehungen hätte »vergiften« können. Von Hanna und zu Hause erhalt ich Nachrichten die ohne unbefriedigend zu lauten dennoch die Sorgen nicht wegdrücken. Schlimmer noch als die wirtschaftlichen (momentan fürchterlich störenden) Schwierigkeiten sind die menschlichen Unzuträglichkeiten. In Deutschland scheinen Not, Bedrängung, Entmutigung und Verbissenheit furchtbar zu wüten, nach innen zu schlagen und Menschen und menschliche Beziehungen zu vergiften. Es gibt keinen Brief von wem auch immer in dem ich nicht glücklich gepriesen würde ›draußen‹ zu sein, nicht ermahnt würde fort zu bleiben. Und ein Gefühl so deutlich daß ich es nicht unterdrücken könnte sagt mir dasselbe.60

Später spiegelten die Briefe auch das Herannahen und das Hereinbrechen des Unheils im Jahr 1933 wider. Im Brief vom 29. September 1930 aus München äußerte Wolfskehl zum ersten Mal seine Befürchtungen vor dem Antisemitismus und fragte Verwey, ob ihm Holland seines Erachtens Zuflucht anbieten würde:

57  Wolfskehl fragt Verwey, ob sein Sohn, der Bankier ist, dieses Abheben und Neudeponieren besorgen könne und welche Vollmachten er zu diesem Behuf benötigte. Dann erzählt er, dass er sich dessen bewusst ist, dass Florenz nur die erste Etappe ist. Nach Deutschland würde er nicht zurückkehren (ebd., S. 189 f.). 58  Ebd., S. 168. 59  Zwischen dem 17. und dem 30. Juni. Ebd., S. 192–194. 60  Ebd., S. 193.

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Lieber Albert, dieser Brief ist sehr vertraulich! Sie sehen die Entwicklung der politischen und wirtschaftlichen Dinge in Deutschland. Sehr eingreifende Veränderungen des jetzt noch geltenden Status stehen von der Thür. Zunächst Maßregeln jeder Art gegen die Juden, neben dem vermutlich sehr stark einsetzenden faktischen Terror noch Berufs- und Bewegungsbeschränkungen schärfsten Charakters. Ich bin wie Sie wissen Jude. Ich frage Sie: halten Sie es für möglich daß Holland im Falle einer dringlich werdenden Flucht (warum solle ich mich scheuen dies Wort zu gebrauchen?) mir und den Meinen Aufenthaltsschwierigkeiten macht? Ich bitte Sie Ihre Antwort etwas verhüllt zu halten. Ich halte es für möglich daß meine Briefe schon unter Beobachtung stehen.61

Trotz der für die Juden bedrohlichen Entwicklungen blieb Wolfskehls Zuversicht noch unerschüttert. Gleichzeitig sehnte er sich nach Verweys milde lenkendem Wort, eine Sehnsucht, die mehrmals in den Briefen zur Sprache gebracht wird.62 Folgendes schrieb er am 13. April 1932 aus Florenz: In diesem Jahr! Fast scheut man sich über den nächsten Tag vorzuplanen, so ungewiß ist alles. An wie wenig, an wie dünnen Fäden hängt bei uns Sicherung und halbe Gewißheit. Meine Zuversicht ist unerschüttert, wer aber nur ins Nächste hineinblickt, mit ihm rechnen muß, dem kann wohl bange werden. Dennoch glaube ich wie je an unser Menschentum und an den lebendigen Geist, der Europa geschaffen hat und nicht fallen läßt. Lieber Albert, so lang ist der Brief schon geworden und so unendlich vieles noch möchte ich Ihnen zusprechen. Beim Wiedersehen Ihres Briefes habe ich es gemerkt, nicht nur, wie einsam ich im Grunde bin, sondern wie ungeheuer die Sehnsucht ist nach Gesprächen mit Albert Verwey! Es ist so fürchterlich schwer, die Worte herabstimmen, die Gedanken frisieren oder halb verschleiern zu müssen. Es ist mehr als lästig. Man erstickt fast dabei. Und doch muß ich dies meis-

61  Ebd., S. 245. Im Brief ist auch Folgendes zu lesen: »O wie waren Leben und Ende des herrlichen Menschen Willem de Haan gesegnet! Er starb vielleicht im letzten guten Augenblick den Deutschland auf unabsehliche Zeit hat. Eine Ära deren heller und freundlicher Repräsentant er war ist vorüber. Incipit Chaos et Regnum Barbarum. Allen herzlichen Dank für die Übermittlung von Obbinks trefflichem Aufsatz. Wie frei und verständnisvoll! Antworten Sie mir bitte bald. Halten Sie die Bank Mees in Amsterdam jetzt noch für die sicherste und beste? (Auf diese Frage erbitte einfach Bestätigung im positiven oder andern Sinn!) Viele Grüße Ihres Karl W.« 62  »O Albert, ich habe oft Sehnsucht nach Ihrem milde lenkenden Wort, nach Ihrer sicheren und tiefen Erkenntnis. Kommen Sie nie mehr über die Alpen? – Sie wissen daß Renate hier ist (die Hälfte der Familie also sich im Ausland durchschlägt) sie hat sich richtig und rund entwickelt und ist innerlich und äußerlich lebensgesichert, sehr frisch und klug und herzhaft.« Wolfskehls Brief an Verwey vom Juli (zwischen 17. und 30.) 1924 aus Florenz (ebd., S. 194). Am 9. Juli 1929 schreibt Wolfskehl an Verwey: »Albert, wann sehen wir uns wieder? Ich habe große Sehnsucht und Unendliches wäre gemeinsam zu berühren, zu betrachten. Treten Ihre Ferien wieder einmal über die Landesgrenze?« (ebd., S. 239).

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tens seit Gundolfs Tod. Jeder der in meine Jahre kommt, erfährt dies, aber für mein Temperament ist diese Erkenntnis fast unerträglich. Meine Hauptäußerungsform ist und bleibt nun einmal das gesprochene Wort. Und gerade dies erhält und schafft sich nur unter Gleichen! Ist gar keine Möglichkeit, daß Sie in diesem Jahre nach Deutschland kommen?63

Am 15. September 1932 schickte Wolfskehl Verwey einen eigenhändig geschriebenen Brief aus Muttenz bei Basel, der in Bezug auf die Reflexionen über das Judentum zentral ist. Der Inhalt sprengte die Möglichkeit des diktierten Briefs: Wolfskehl hätte fast aufgegeben, weil er nicht alles hätte diktieren können, was er dem fernen Freund sagen wollte.64 Deswegen entschloss er sich dann, eigenhändig zu schrei­ben. Auf die innere Zerrissenheit des deutschen Volkes und insbesondere der deutschen Juden ging er mit folgenden Worten ein: Zwar vollziehn sich die Geschicke in Deutschland anders wie in politischen Nationen, schleppender, dumpfer, undeutlicher: aber der Deutsche selber, zumal in meinen Jahren, zumal in meiner Stellung zwischen Zeitaltern und als Walter eines Erbes und Mithelfer am Kommenden – und zumal wie ich als Jude, fühlt sich aufs fürchterlichste bedrängt, nicht bedroht, aber beklemmt, manchmal dem Ersticken nah.65

Stark betroffen war er von dem tief gespürten und deutlich wahrgenommenen Hass gegen Juden: Der Haß, wahllos, zügellos gegen den ›Juden‹, gegen diesen chimärischen, doch so blutgetränkten Begriff, diese deutsche, der jungen Bewegung ihren Geschmack ja ihre Stoßgewalt leihende Unmenschlichkeit, die nicht sieht, keine Organe des Aufnehmens, des Scheidens besitzt, die nur wild ist, nur gierig, nur bös: wie soll ich mich vor ihr abkapseln und mir gemäß weiter sein?66

Vor allem aber fühlte er sich von seiner innerlichen Situation, die unausweichlich war, bedrängt.67 Seinerseits verstand Verwey Wolfskehls Konflikt

63  Ebd., S. 258. 64  Ebd., S. 266. 65  Wolfskehls Brief an Verwey vom 15. September 1932 (ebd., S. 267). 66  Ebd., S. 267. 67  »Aber das Schlimmere Unausweichliche und ganz Erstickende ist die innerliche Situation in die ich mich geworfen fühle: die ist nicht zu überwinden, wenigstens nicht durch meine Kraft und mit gar keinen Vernunftgründen« (ebd., S. 267).

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völlig und gestand ihm seine Solidarität.68 Je privater und intensiver das Gespräch wurde, desto mehr vermisste Wolfskehl einen mündlichen Dialog mit dem Freund. Insbesondere über die jüdische Frage war er nicht mehr imstande, schriftlich seine Stellung zu äußern, was die Grenzen der Briefkommunikation ans Licht bringt: »eben die Form des Judenhasses. Hier kann ich nicht erklären, wenigstens nicht in den kurzen Zeilen eines Schreibens, wie mir damit das Letzte weggezogen wird, wie ich damit von mir selber, in meinem Land, in der Sprache für die ich mitbildend gelebt, ja wie ich selbst an meine heiligsten Götter und Güter den Anspruch bedroht fühle.«69 Oder hing vielleicht Wolfskehls Knappheit und Zurückhaltung mit der Befürchtung zusammen, dass die Post kontrolliert wurde, worauf er in mehreren Briefen (von 1930 bis 1933) einging? »Ich bitte Sie Ihre Antwort etwas verhüllt zu halten. Ich halte es für möglich daß meine Briefe schon unter Beobachtung stehen«,70 schrieb er am 29. September 1930. Auf diese Befürchtung geht er am 12. Juni 1933 wieder ein: »Sein [von Dr. Gerbrand Dekker, C. C.] kurzer Aufenthalt in Holland gibt mir damit Gelegenheit ein paar Dinge zu streifen oder zu erklären, die man heut der Post einfach nicht anvertrauen kann. Es ist so daß nach der allgemeinen Überzeugung auch die von Ausland zu Ausland gehende Post, falls sie durch Deutschland geht unter Kontrolle ist, ja daß wenigstens in den Nachbarländern des Reichs ein wohlorganisierter Spitzel- und Überwachungsstab arbeitet.«71

Sicher ist, dass die dramatischen Umwälzungen eine tiefe Reflexion über seine doppelte Identität als Deutscher und als Jude einleiteten. Ausschlaggebend ist Wolfskehls soeben zitierter Brief vom 12. Juni 1933 aus Meilen bei Zürich: »Mein Judentum und mein Deutschtum ja mein Hessentum – das sind keine biologischen Antagonismen, es sind Ströme einander befruchtenden Lebens. – Freilich was mit mir die Geschicke wollen, wohin der Weg führt, wann und ob ich wieder rückkehre in die jetzt mir faktisch entfremdete Heimat – ach was weiß ich darüber?«72 In diesen Worten sind Deutschtum und Judentum keine getrennten Identitäten, sondern sie wirken aufeinander und beeinflussen sich. Wolfskehl ließ die zwei Koordinaten einander in seinem Sein und Schaffen bedingen. In diesem Sinne folgte er

68  »Ihr Brief war sehr ernst, Karl, und sicher haben Sie recht: ich fühle ganz wie Ihr Konflikt mit der Welt zugleich ein Konflikt mit Ihnen selber ist.« Brief vom 22. September 1932 (ebd., S. 269). 69  Wolfskehls Brief an Verwey vom 26. Oktober 1932 (ebd., S. 271). 70  Ebd., S. 245. 71  Ebd., S. 284. 72  Ebd., S. 286.

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seiner Bahn bis in alle Peripetien und eben diese mutige Bahn verlieh seinem Œuvre neuen Sinn und schrieb ihm ein Amt zu als prophetischer Sprecher und Mahner, Bote und Tröster unter den verfolgten deutschen Juden. Wie Frederik P. Bargebuhr zeigt, ist die Entschlossenheit, mit der er dieses Doppelerbe als Gegebenheit annahm, in sich selbst ein Teil seines JüdischSeins.73 Eben dem Bewusstsein, Deutscher und Jude zu sein, entstammte seine Kraft. Trotz allem fühlte sich Wolfskehl als ein »Kind der Situation«, das verpflichtet war, »jeder Lage gewachsen [zu] sein«: »Erinnern Sie wie ich Ihnen vor 10 Jahren, von Florenz aus, als ich Broterwerb zu lernen, meine Kenntnisse ›auszumünzen‹ begann, schrieb: ›ich fange an, ein hoffnungsvoller junger Mann zu sein.‹ Heut, 10 Jahre danach stehe ich vor demselben Problem, unter erschwerten Umständen. Aber, auch das danke ich der Geschichte und der Tugend und der Kraft meiner Herkunft: ich bin ein Kind der Situation und muß jeder Lage gewachsen sein. So ist zwar alles ungewiß aber ich bin voller Zuversicht.«74 Seinerseits wollte Verwey alles wissen, was Deutschland und die Schicksale seiner Freunde anging. Für ihn war es Lebenssache.75

73  Frederick P. Bargebuhr: Karl Wolfskehl. Deutscher Dichter und Jude. Zum Druck besorgt und eingeleitet von Elisabeth Höpker-Herberg. In: Fechner, Kluncker (Hrsg.): Karl Wolfskehl Kolloquium, S. 32–44, hier S. 36. Zu Wolfskehls Verhältnis zum Judentum siehe Alfred Bodenheimer: Wandernde Schatten. Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne. Göttingen 2002, S. 89–107; Claudia Sonino: Karl Wolfskehl e il »duplice volto« dell’ebraismo. La problematica ebraico-tedesca nella prospettiva del carteggio dell’esilio. In: Cultura Tedesca 20 (2002), S. 165–183; Richard Faber: Karl Wolfskehl, ein deutsch-jüdischer Antiintellektueller. In: Gert Mattenklott (Hrsg.): Verkannte Brüder? Stefan George und das deutsch-jüdische Bürgertum zwischen Jahrhundertwende und Emigration. Hildesheim, Zürich, New York 2001, S. 117– 133; Paul Hoffmann: Karl Wolfskehls Identität. In: Karl Wolfskehl Tübinger Symposion zum 50. Todestag. Hrsg. von Paul Hoffmann in Zusammenarbeit mit Klaus Bruckinger. Tübingen, 1999, S. 79–108; Paul Hoffmann: »– jüdisch, römisch. Deutsch zugleich.« Karl Wolfskehl. In: Gunter E. Grimm, Hans-Peter Bayerdörfer (Hrsg.): Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur des 20. Jahrhundert. Frankfurt / Main 1996, S. 98–123. 74  Brief an Verwey vom 12. Juni 1933. Wolfskehl, Verwey: Die Dokumente ihrer Freundschaft, S. 286. Die hier gefühlte Zuversicht verschwand völlig in den Exiljahren in Neuseeland. 75  Von Georges Tod war er tief erschüttert und von seinem Begräbnis ließ er sich von Hanna Wolfskehl erzählen. Im Brief vom 9. Juli 1933 fragte er nach Georges Einstellung, weil er noch nicht verstanden hatte, wo Georges »geistiges Deutschland« war, das dem wirklichen Deutschland gegenüberstehen sollte: »Aber das Wissen um Verhältnisse und Zustände mit denen ich seit so vielen Jahren verflochten bin, ist mir Bedürfnis, weil meine geistige Stellungnahme Deutschland gegenüber Lebenssache für mich ist. Daß George mehr »deutsch« wurde geschah teilweise unter meinem Einfluß. Mein Wirken in Holland sagte ihm etwas, gerade in der Zeit als er sich von den Pariser Einflüssen losmachte und noch nicht wußte wie er im eignen Land fußen konnte. Das Wachsen des Nationalen in ihm habe ich später fortwährend beobachtet. Das Ausland ließen wir nicht los, er nicht und ich nicht – ich nie – aber bald flößte es mir Sorge ein daß in seinem Nationalen sich etwas Anmaßendes einschlich. Ein intolerantes Profetisches war es, das beim Ausbruch des Krieges einen politischen Anstrich bekam. Nach dem Krieg war ich bei Wolters Zeuge einer nationalen Propaganda die mich entsetzte. Zur selben

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IV. Schlussbemerkungen Die zwei thematischen Fäden des Briefwechsels verliefen nicht getrennt voneinander, sondern verschränkten sich, was die Produktivität des Briefwechsels ans Licht bringt, der als freier und unentäußerbarer Lebensraum den wirklichen und unbewohnbaren fast ersetzt. Ausschlaggebend ist in dieser Hinsicht der Rückgriff auf den literarischen Kulturtransfer als Reaktion und Opposition zur dramatischen Verschlimmerung der politischen und gesellschaftlichen Lage. Beispielsweise schickte Wolfskehl Verwey am 10. Mai 1933 aus Orselina ein Gedicht über den Zustand Deutschlands, das von einer deutschen Frau verfasst wurde. Wolfskehl erwähnte ihren Namen nicht, weil es gefährlich gewesen wäre.76 Da der Text in Deutschland nicht publiziert werden durfte, bat Wolfskehl Verwey, ihn in den Niederlanden zu veröffentlichen, was der Freund umgehend machte, wobei er auch einen kurzen Kommentar hinzufügte.77 Eine weitere Überschneidung zwischen Kulturtransfer und politischer Reflexion liefern die Briefe über Verweys Gedichtband Het lachende raadsel und insbesondere über sein Gedicht Joden. Am 26. Mai 1935 aus Florenz schickte Wolfskehl dem Brieffreund seine Die Juden betitelte Übersetzung von Verweys Gedicht. Ein paar Monate danach bat er Verwey um die Erlaubnis, seine Verdeutschung im Almanach des Schocken Verlags zu publizie-

Zeit behauptete George daß man sein ›Deutschland‹ nicht mit dem wirklichen Deutschland verwirren sollte. Aber wo war sein Deutschland? Ich habe es nirgends gefunden. Wohl sah ich das Hakenkreuz, das Symbol der Blätterausgaben, als Symbol eines sehr wirklichen Deutschland auf kommen. Können Sie mir diese rezente Geschichte des Hakenkreuzes klarmachen? Wie stand George zu Wolters, wie Wolters zu – sagen wir Göbbels? Welche Fäden mehr gibt es die man kennen soll um klarer zu sehen in die Geschichte dieser nationalen ›Erhebung‹? Als Der siebente Ring erschien witterte ich Geister die darin gebannt wären, welche die auch in andrer, welche die nur in deutscher Luft lebten. Ich ponierte daß der Schwarm, nun hier, dann dort, aufs unversehenste ausbrechen könnte: Engel sowohl wie Kobold. Hatte ich Recht, und besteht jetzt ein Verhältnis zwischen heutigen Geistern und den damals gespürten? Sie, lieber Karl, sind vielleicht der Einzige, der mich über dies Alles belehren könnte. Machen Sie sich über die Post keine Sorge. In Maschinenschrift und nicht unterzeichnet kann alles mir zukommen. Sie verstehen doch wie bedeutend es für mich, für meine Arbeit, für meine Welt vielleicht ist, daß ich deutlich sehe. Herzlich Ihr Albert Verwey« (ebd., S. 287). 76  Wahrscheinlich handelte es sich um Marie Bertels-Nöggerath. Vgl. ebd., S. 283, Fußnote 1. 77  Am 24. Mai 1933 erschien in Neue Rotterdamer Zeitung der Artikel Ein Deutsches Gedicht von Heute. In diesem Das dritte Reich betitelten Gedicht geht es um den Gegensatz zwischen den Erwartungen, die Hitlers Versprechungen bei dem Volk erweckt hatten, und der enttäuschenden Wirklichkeit. Am Ende spricht die Autorin die Ernüchterung mit inhaltreichen Worten aus, woraus Verwey die Einsicht gewinnt, dass die Dichter immer noch das Gewissen der Völker sind (ebd., S. 280–282).

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ren.78 Das Gedicht preist die enge Beziehung zwischen dem jüdischen Volk und der Bibel, die einen Anker in allen Lebensumständen darstelle. Zurückgreifend auf den Brief vom 6. Juni 1933, in dem Verwey auf das enge Verhältnis zwischen den Juden und dem Buch – bzw. der Bibel – eingeht und den schrecklichen Umstand der Judenverfolgung und Bücherverbrennung unterstreicht, wird der in Joden / Die Juden implizite Bezug auf den Freund Karl Wolfskehl deutlich: Ich versäumte in einem vorigen Brief ihm [Wolfskehl] zu danken für seinen bibliofilischen Aufsatz. Der hat mich sehr interessiert und mich an vieles erinnert, das Bezug hat auf seine Bücherliebe. Die Bücher – wie wird er [Wolfskehl] sie vermissen, und welch schöner Teil sind sie des Lebens das uns entgangen ist. Daß Bücher und Juden jetzt beide gehaßt werden, soll ihm eine schmerzliche Ehre sein. »Dem deutschen Geist diene ich wie je«, schrieb er mir vor kurzem. Es ist aber nicht ohne Grund daß man die Juden das Volk des Buches nannte, und jüdischer Geist ist von jeher bedeutender für die Welt gewesen als deutscher.79

Auf diese Zeilen, hinter denen Heinrich Heines berühmter Satz »Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen« nachklingt, antwortet Wolfskehl am 12. Juni 1933 aus Meilen bei Zürich: »Es geht, wenn auch noch mit voller Wucht und Wut gegen diesen bequemsten Popanz, längst nicht mehr gegen die Juden allein – aber freilich heben Sie sehr richtig heraus wie symbolisch diese Wendung ›gegen Juden und Bücher‹ ist und wie sonderbar sie in meiner Persona sich vereint!«80 Insgesamt erscheinen die zwei Briefpartner unterschiedliche Rollen im Briefwechsel zu spielen. Der »ungestüme« Wolfskehl schüttete Verwey sein Herz aus und zog ihn zu Rate. Letzterer war der unerschütterliche Bezugspunkt, jemand, der zuhörte, Ratschläge gab und sich ständig über den Zustand Deutschlands informierte. Für beide war der Briefwechsel Freundschaftsraum und Inspirationsquelle. Für Wolfskehl war er überdies ein unabdingbarer Zufluchtsort. Obwohl die Briefpartner nicht immer derselben Meinung waren, wurden die Hindernisse und Schwierigkeiten beseitigt. Neben den geteilten Bestrebungen inspirierten auch die Unterschiede das poetische Schaffen der zwei Dichter, sodass das Zeitgeschehen und die kom-

78  Vgl. Wolfskehls Brief an Verwey vom 5. August 1935; ebd., S. 309. Vgl. das Kapitel Dichterische Verflechtungen: Stefan George – Albert Verwey – Karl Wolfskehl. In: Els Andringa: Deutsche Exilliteratur im niederländisch-deutschen Beziehungsgeflecht. Berlin 2014, S. 88–99, hier S. 96–98. 79  Verweys Brief an Hanna Wolfskehl vom 6. Juni 1933 aus Noordwijk / Zee; Wolfskehl, Verwey: Die Dokumente ihrer Freundschaft, S. 283–284. 80  Ebd., S. 285.

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plexen persönlichen Beziehungen tief in ihre Werke eindrangen. Zusammenfassend spiegelt der Briefwechsel den Kampf wider, poetische Fragen mit zeitgebundenen Positionen zu vermitteln, wobei diese Briefe zeigen, dass die nationalen und persönlichen Differenzen ein höchst produktives Spannungsfeld bedingen, in dem sich diese Ego-Dokumente einer übernationalen Dimension öffnen.

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Die deutschsprachigen Briefe der polnischen Dramatikerin Stanisława Przybyszewska Die polnische Schriftstellerin Stanisława Przybyszewska (1901–1935) ist in Deutschland fast unbekannt, obwohl ihr Drama Die Sache Danton internationale Aufmerksamkeit errang. Das 1929 entstandene Stück inszenierten zu ihren Lebzeiten zwei polnische Theater ohne einen größeren Publikumserfolg; dieser war erst einer Aufführung am Polnischen Theater in Wrocław im Jahr 1967 beschieden. Er lässt sich u. a. mit der Sichtweise auf die Französische Revolution erklären, die in der sozialistischen Geschichtsschreibung dominierte und in der die Jakobinerdiktatur als Vorform der sozialistischen Revolution angesehen wurde. Przybyszewskas Stück kam diesem Bild entgegen, da es, basierend auf der sogenannten jakobinischen Geschichtsschreibung der Französischen Revolution von Albert Mathiez, ein idealisiertes Bild von Maximilien de Robespierre zeichnet.1 Bis in die 1980er Jahre hinein wurde Die Sache Danton an polnischen Theatern mehrmals mit großem Erfolg aufgeführt, u. a. 1975 von Andrzej Wajda, einem der bekanntesten polnischen Filmregisseure, der das Stück auch außerhalb Polens – in Belgrad, Bukarest, Budapest – zeigte und 1978 in Sofia sogar selber inszenierte. Die Entstehung der Solidarność im Sommer 1980 führte zu einer unmittelbaren Aktualisierung des Stücks – in einer Aufführung im November 1980 am Teatr Wybrzeże in Gdańsk (Danzig). Aus dieser Inszenierung entwickelte Wajda dann seinen Danton-Film, der 1982 in einer polnisch-französischen Kooperation entstand. Spätestens durch diesen Film wurde Przybyszewskas Revolutionsdrama berühmt; nach der Übersetzung ins Tschechische von 1978 folgten nun eine schwedische, englische, französische und italienische Fassung sowie weitere Aufführungen außerhalb Polens.2 Seine deutsche Erstaufführung erlebte es erst 1994 unter der Regie

1  Vgl. Marion Brandt: Zum Revolutionsbegriff von Stanisława Przybyszewska. In: Holger Böning, Hans Wolf Jäger, Andrzej Kątny und Marian Szczodrowski (Hrsg.): Danzig und der Ostseeraum. Sprache, Literatur, Publizistik. Bremen 2005, S. 209–228. 2  L’affaire Danton. Übers. v. Daniel Beauvois. Lausanne 1983. The Danton Case, Thermidor. Übers. v. Boleslaw Taborski. Northwestern University Press 1989. 1978 erschien Dantons Tod im Prager Verlag Dilia in der Übersetzung von Mojmira Janišova, am 18.10.1982 fand im Teatro Stabile del Friuli Venezia Gulia in Triest die italienische Uraufführung in der Regie von M. Karpiński statt (vgl. Tomasz Lewandowski: Kalendarz życia i twórczości Stanisławy Przybyszewskiej. Z dziejów pośmiertnych. In: Stanisława Przybyszewska: Listy. Bd. 2. Gdańsk 1983, S. 616). Im März 1986 führte Unga Klara das Stück im Stadttheater Stockholm auf, im Juni

Die deutschsprachigen Briefe Stanisława Przybyszewskas

von Frank Castorf an der Berliner Volksbühne, obwohl Die Sache Danton seit 1930 in einer deutschen Übersetzung vorlag, an der die Schriftstellerin noch selbst mitgearbeitet hat. Andere Dramen und auch Prosawerke Przybyszewskas stießen bei Regisseuren und Verlegern auf geringeres Interesse. Eine Erzählung und zwei weitere Dramen aus dem Umfeld der französischen Revolution wurden 1958 sowie 1975 veröffentlicht, und zum 80. Todestag der Schriftstellerin erschien 2015 ein Erzählband.3 Größere Beachtung fanden im Vergleich dazu die mehr als 200 Briefe, die Przybyszewska zum großen Teil in nur wenigen Jahren (von 1927 bis 1934) an Verwandte, Freunde, Literaturkritiker, Redakteure und Regisseure schrieb. Sie wurden von 1978 bis 1985 in drei Bänden veröffentlicht und gelten neben dem Danton-Drama als zweites Hauptwerk der Schriftstellerin.4 Als Ego-Dokument, das Auskünfte über ihren Alltag vermittelt, ein Zeugnis ihres Selbst- und Weltbilds und ihres Ringens um künstlerische Kreativität darstellt, wurden sie zur Basis von mehreren Literarisierungen der Schriftstellerin. So entstanden zwei Fernsehinszenierungen und ein Film über ihr Leben5, auch wurde beim Danziger Festival der Straßentheater 2012 das Stück Thermidor roku 143 (Thermidor des Jahres 143) mit Przybyszewska als Protagonistin aufgeführt. Thomas Haaf und Andrzej Margowski inszenierten im »Team Theater Tankstelle« in München 2008 das Stück Baracke 12 über »die letzten Stunden in ihrem Leben«.6 Ein weiteres Werk, in dem sie als literarische Figur auftritt, ist der Roman Uwiedzeni (Die Verführten, 2009) von Anna Bolecka, und im Jahr 2015 wurde sie zur Hauptfigur einer Oper und eines darauf basierenden Comic – diese beiden letzten Werke gab die Stadt Danzig zum 80. Todestag der Dramatikerin in Auftrag.7 Was Schriftsteller und Regisseure an ihr interessiert, ist neben der nur schwer verständlichen Idealisierung eines

desselben Jahres inszenierte es auch die Royal Shakespeare Company in London (vgl. Kazimiera Ingdahl: A Gnostic Tragedy. A Study in Stanisława Przybyszewska’s Aesthetic and Works. Stockholm 1997, S. 12). 3  Stanisława Przybyszewska: Ostatnie noce ventôse’a. Kraków 1958; Dies.: Dramaty. Gdańsk 1975; Dies.: Sprawa Dantona. Kraków 2003; Dies.: Cyrograf na własnej skórze. Gdańsk 2015. 4  Stanisława Przybyszewska: Listy. 3 Bde. Gdańsk 1978, 1983, 1985. 5  Sprawa Przybyszewskiej. Szenarium: Hanna Sarnecka-Partyka. Regie: Jerzy Krasowski. Premiere: 8.10.1971; Stanisława Przybyszewska – Listy. Szenarium und Regie: Krzysztof Bukowski. Premiere 1989; Sprawa Przybyszewskiej, Fernsehdokumentation, Szenarium und Ausführung: Joanna Cichocka-Gula, Premiere 1996. Vgl. Janusz R. Kowalczyk: Stanisława Przybyszewska. URL: http://culture.pl/pl/tworca/stanislawa-przybyszewska [letzter Zugriff: 16.8.2017]. 6  Thomas Haaf, Andrzej Margowski: Baracke 12/Baraque 12. San Bernardino 2014 (Zitat aus der Ankündigung auf dem Buchumschlag). 7  Olimpia z Gdańska. Komposition: Zygmunt Krauze, Libretto: Krystyna und Blaise de Obaldia. Uraufführung: Opera Bałtycka, Gdańsk 20.11.2015; Piotr Szulc (Text)/Jakub Babczyński (Zeichnung): Olimpia z Gdańska. Gdańsk 2015.

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Robespierre vor allem ihre rückhaltlose Hingabe an das künstlerische Schaffen, die sie auf den Weg in die Autodestruktion führte. Als Przybyszewska starb, war sie 34 Jahre alt. Auf ihrem Totenschein stand als Todesursache »Lungenschwindsucht«, doch litt sie seit mehreren Jahren nicht nur an Atembeschwerden, sondern auch an Hunger und rheumatischen Anfällen. Unmittelbare Ursachen für ihre gesundheitlichen Probleme waren ihre Wohnsituation (sie lebte in einer schwer beheizbaren Holzbaracke, die zu verlassen sie sich weigerte) und ihre Morphiumabhängigkeit, die sie – trotz der Unterstützung von Verwandten, Bekannten und trotz Stipendien – in eine unhaltbare finanzielle Lage brachte und sie zunehmend daran hinderte, ausreichend für lebenswichtige Dinge zu sorgen. Wenn ich in diesem Beitrag die deutschsprachigen Briefe von Przybyszewska vorstelle, frage ich danach, inwiefern sie die kulturelle Differenz zwischen dem Deutschen und dem Polnischen thematisieren, aber auch, in welchem Maße sie repräsentativ für das Briefwerk insgesamt sind. Ehe ich mich ihnen zuwende, schicke ich einige Informationen über Stanisława Przybyszewskas Begegnungen mit der deutschen Sprache und Kultur voraus. 1901 in Krakau als uneheliche Tochter der Malerin Aniela Pająkówna und des Schriftstellers Stanisław Przybyszewski geboren, verlebte Stanisława Przybyszewska ihre Kindheit in mehreren europäischen Ländern. Ab 1909 wohnte die Mutter mit ihr nach kurzen Aufenthalten in Wien, München und Gries bei Bozen in Paris. Nach dem Tod der Mutter im Jahr 1912 kam Stanisława zunächst zu Bekannten in die Schweiz, später zu einer Tante (der Schwester der Mutter) nach Österreich. In beiden Ländern besuchte sie deutschsprachige Schulen. Sie erinnerte sich später an einige Schullektüren, u. a. an die starken Eindrücke, die Werke von Johann Wolfgang von Goethe (Wilhelm Meister, Egmont) und Friedrich Schiller (Wallenstein) bei ihr hinterlassen hatten.8 Während des Ersten Weltkriegs gingen ihre Verwandten nach Polen zurück. Nachdem Stanisława Przybyszewska die Volljährigkeit erreicht und in Krakau das Abitur abgelegt hatte, zog sie zu ihrem Vater nach Poznań. Dort lernte sie ihren späteren Ehemann, den Maler Jan Panieński, einen Verehrer ihres Vaters, kennen. Przybyszewski lud beide 1923 nach Danzig ein, wo Panieński als Lehrer am Polnischen Gymnasium zu unterrichten begann. Nach seinem Tod im Jahr 1924 lebte Przybyszewska bis zu ihrem Tod im Jahr 1935 allein in der Stadt. Sowohl Posen (Poznań) als auch Danzig (Gdańsk) gehörten durch die Teilungen Polens bis 1918 zum Deutschen Reich. Die jungen Künstler, deren

8  Vgl. hierzu Marion Brandt: Robespierres Verwandte. Stanisława Przybyszewskas deutschsprachige Lektüren. In: Marion Brandt (Hrsg.): Grenzüberschreitungen. Deutsche, Polen und Juden zwischen den Kulturen (1918–1939). München 2006, S. 125–141.

Die deutschsprachigen Briefe Stanisława Przybyszewskas

Bekanntschaft Przybyszewska in Poznań machte und die neben dem Vater wohl den größten Einfluss auf ihre künstlerische Entwicklung nahmen, hatten nicht nur eine deutsche Schulbildung abgeschlossen, sondern ließen sich auch künstlerisch durch den deutschen Expressionismus inspirieren, arbeiteten sogar bis zum sowjetisch-polnischen Krieg 1920 mit Berliner Künstlern um die Zeitschriften Die Aktion und Der Sturm zusammen.9 In Danzig wiederum, das seit 1920 als Freie Stadt unter dem Patronat des Völkerbundes stand, dominierte auch nach dem Ersten Weltkrieg die deutsche Kultur. Um 90 % der Bevölkerung waren Deutsche, um 10 % Danziger Bürger polnischer Herkunft bzw. in der Stadt lebende polnische Staatsbürger.10 Przybyszewska, die in einer Baracke auf dem Schulhof des Polnischen Gymnasiums wohnte, vor allem zu einigen Lehrern dieses Gymnasiums näheren Kontakt und eine enge Beziehung zur Frau des Schuldirektors hatte, bewegte sich nicht nur in dieser polnischen Enklave. Sie las u. a. zeitgenössische deutschsprachige Literatur und bis Ende der 1920er Jahre auch deutsche Zeitungen, sah sich in den Kinos deutsche Filme an, war bei einem deutschen Arzt in Behandlung. In der deutschsprachigen Literatur, konkret in Georg Büchners Dantons Tod und im Werk von Thomas Mann, fand sie entscheidende Inspirationen für ihr Schaffen.11 Ihre Briefe verfasste sie überwiegend in polnischer Sprache, einige auf Französisch, manche Passagen auch auf Englisch und Deutsch. An vier ihrer Briefpartner bzw. Adressaten schrieb sie in deutscher Sprache (aber auch in diesen Briefen ging sie manchmal ins Französische oder Englische über): an die Halbschwester Iwi Bennet, an Joseph Heinz Mischel, mit dem zusammen sie Die Sache Danton ins Deutsche übersetzte, an die Publizistin Elga Kern und an Thomas Mann.12

  9  Siehe dazu den BUNT. Ekspresjonizm Poznański 1917–1925. Poznań 2003. 10  Vgl. Peter Oliver Loew: Danzig. Biographie einer Stadt. München 2011, S. 195. 11  Zu Thomas Mann vgl. Brandt: Robespierres Verwandte, zu Büchner vgl. Karol Sauerland: Przybyszewskas Dantondrama. Mit Blick auf Georg Büchner und Romain Rolland. In: Acta Universitatis Nicolai Copernici, Fil. Germ., H.XVIII. Toruń 1993, S. 11–32, sowie Marion Brandt: Stanisława Przybyszewskas Drama Sache Danton im intertextuellen Dialog mit Georg Büchners Dantons Tod. In: Burghard Dedner, Matthias Gröbel, Eva-Maria Vering (Hrsg.): Georg Büchner Jahrbuch 12 (2009–2012). Berlin, Boston 2012, S. 303–317. 12  Darüber hinaus schrieb sie zwei Briefe an ihren Arzt Paul Ehmke, die hier nicht berücksichtigt werden. Ehmke verschrieb ihr das Morphium und versuchte ihren Morphiumverbrauch zu kontrollieren; er war auch der Arzt, der ihren Totenschein ausstellte. Im Brief vom 16.11.1930 bittet sie ihn um eine Unterhaltung, um mit ihm auch persönliche Probleme zu besprechen; im Brief vom 20.3.1933 legt sie ihre Gründe für die Ablehnung einer Entziehungskur dar. Przybyszewska: Listy. Bd. 2, S. 252 f., 452.

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Iwi Bennet Einen ihrer intensivsten Briefwechsel führte Stanisława Przybyszewska über einen Zeitraum von fast acht Jahren mit ihrer Halbschwester Iwi Bennet (1897–1990). Die Korrespondenz wurde unter der polonisierten Namensform von Iva bzw. Iwi Bennet veröffentlicht, der die Verfasserin hier folgt. Die beiden Briefpartnerinnen verband nicht nur der gemeinsame Vater, sondern auch eine ähnliche Familiengeschichte. Iva Dorotea Bennet Dahlin (Przybyszewska Westrup) war die Tochter von Dagny Juel, der ersten Frau von Stanisław Przybyszewski. Vier Jahre nach ihrer Geburt kam sie nach dem tragischen Tod ihrer Mutter in die Familie ihrer Tante Gudrun Juel Westrup, von der sie später adoptiert wurde. Ihr Vater nahm erst 1923 Kontakt zu ihr auf, vermutlich um Erbschaftsangelegenheiten zu regeln, und sie fuhr damals zu der einzigen Begegnung mit ihm nach Polen. Beide Frauen verloren also früh ihre Mütter und wuchsen in Ersatzfamilien auf; beide verehrten den unerreichbaren, berühmten Schriftstellervater, den sie erst als erwachsene Frauen kennenlernten. So wie Przybyszewska hatte auch Iwi Bennet eine enge Beziehung zur deutschen Kultur. So hatte sie während des Ersten Weltkriegs in Dresden Klavier studiert.13 Zur ersten und wohl auch letzten Begegnung zwischen den Schwestern kam es im November 1927 auf dem Begräbnis des Vaters. Einen Monat später begann mit einem Brief Iwi Bennets ihre bis zum Tod von Przybyszewska anhaltende Korrespondenz.14 Erhalten geblieben und publiziert wurden 47 Briefe der Schriftstellerin.15 Iwi Bennet initiierte den Briefwechsel mit Fragen nach dem von ihr verehrten Vater. Sie bewunderte ihn als Schriftsteller und erwog die Übersetzung einiger seiner Texte ins Schwedische. Stanisława Przybyszewska bemühte sich, ihr die Illusionen über den Vater zu nehmen. Offen schrieb sie von ihrem eigenen Verhältnis zu ihm, ihrer früheren Verehrung, der dann folgenden Enttäuschung und dem Zerwürfnis mit dem Vater, als dieser sich über ihre Verehrung für Robespierre lustig gemacht hatte und sie seinen abfälligen Äußerungen entgegengetreten war.16 Sie schickt der

13  Anders als Przybyszewska hatte sie jedoch eine Familie gegründet. Seit 1918 war sie mit dem schwedischen Baron Fredrik Bennet verheiratet und lebte mit ihm und ihren zwei Söhnen in Malmö. 14  Die Tante Helena Barlińska fand nach Przybyszewskas Tod in der Handtasche der Verstorbenen den letzten Brief Iwi Bennets an sie (Helena Barlińska an Iwi Bennet, 24.7.1936, PAN Archiv Poznań, AAN 51). 15  Nach dem Tod von Stanisława Pryzbyszewska erbat Iwi Bennet von Helena Barlińska ihre Briefe zurück. Überzeugt davon, dass die Briefe ihrer Schwester von literarischer Bedeutung sind, schickte sie diese an Barlińska (Iwi Bennet an Halina Barlińska, 25.5.1936 und 11.8.1936, PAN Archiv AAN 51). 16  Przybyszewska: Listy. Bd. 3, S. 4–8 (20.12.1927), 42–44 (19.2.1928).

Die deutschsprachigen Briefe Stanisława Przybyszewskas

Schwester in einer eigenen Übersetzung einen Artikel des bekannten polnischen Literaturkritikers Tadeusz Boy-Żeleński über ihre Mutter Dagny Juel.17 Von den literarischen Werken ihres Vaters schätzt sie, wie sie schreibt, nur diejenigen, die bis zur Jahrhundertwende entstanden sind: Przybyszewski sei ein Schriftsteller des 19.  Jahrhunderts geblieben. Zur Übersetzung ins Schwedische empfiehlt sie nur sein autobiografisches Werk Moi współcześni.18 Die Kritik an den Werken ihres Vaters nimmt sie in ihren Briefen zum Anlass, um ihre eigenen Vorstellungen von gelungener Literatur darzulegen, die für sie Autoren wie Herbert George Wells, George Bernard Shaw, Georges Bernanos und Gilbert Keith Chesterton verkörpern. Auf diese Weise entwickelt sich die Korrespondenz zu einem Austausch über Lektüren, in dem sich die Briefpartnerinnen auch gegenseitig anregen.19 Przybyszewska etwa fragt die Schwester, die lange Zeit in Rom gelebt hat und Italienisch spricht, nach ihren Ansichten über die moderne italienische Literatur. Diese wiederum möchte ihre Meinung zu Sigrid Undset und dem Roman La Grand Meaulnes von Alain-Fournier erfahren und schickt ihr das Buch zu, als sich herausstellt, dass Przybyszewska es nicht kennt.20 Die Kommentare literarischer Werke werden für Przybyszewska darüber hinaus zu einer Folie für die Reflexion über ihr wichtige Fragen. So erörtert sie am Beispiel von Wells und Meyrink in geradezu essayistischer Form ihre Gedanken zu Materialismus und Metaphysik in der Literatur, kommt von dort zu Überlegungen über Mystik und Religion, die sie wiederum anhand von Kommentaren zum Werk von George Bernanos entwickelt.21 Andere Themen, deren Diskussion sich auch von den konkreten Lektüren entfernen kann, sind Pädagogik und Przybyszewskas Meinung zum Sozialismus, nach der sich Iwi Bennet erkundigt.22 Die Briefe an die Schwester werden so zu einem Ort, an dem die Schriftstellerin ihre Gedanken zu verschiedenen Problemen ausführlich darlegen und entfalten kann. Eine weitere Thematik der Briefe ist das eigene künstlerische Schaffen, das die Schwestern verbindet. So tauschen sie sich über Musik aus, aber vor allem nimmt Przybyszewska die Kommentare zum Werk ihres Vaters und anderer Schriftsteller zum Anlass, um Elemente ihrer Poetologie darzulegen. Daraus entsteht eine weitere inhaltliche Linie des Briefwechsels, die in den Schrei­ben von Przybyszewska allmählich sogar an die erste Stelle rückt.

17  Ebd., S. 203 (26.9.1928). 18  Dt. Ausgabe: Ferne komm ich her … Erinnerungen an Berlin u. Krakau. Leipzig, Weimar 1985. 19  Ebd., S. 9–11 (20.12.1927), 31–42 (19.2.1928). 20  Ebd., S. 93 (3.5.1928), 121 (6.6.1928). 21  Ebd., S. 31–40 (19.2.1928), 104 f., 109–111 (27.5.1928). 22  Ebd., S. 195 f. (23.7.1928), 295 (25.8.1929).

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Sie vermittelt Einblicke in ihre literarische Werkstatt, referiert den Inhalt der Werke, an denen sie aktuell arbeitet, und charakterisiert einige der von ihr geschaffenen Figuren.23 Diese Passagen haben teilweise die Funktion einer Selbstinterpretation, teilweise scheinen sie als Reflexionen über das im Entstehen begriffene Werk dem Schreibprozess zuzuarbeiten. Przybyszewska informiert die Schwester auch über ihre Versuche, Interessenten für die beiden Dramen Das Jahr 93 und Die Sache Danton zu finden, schreibt über das quälende Warten auf Reaktionen der angeschriebenen Regisseure und dann, im Sommer 1929, über ihren Stolz, als Leon Schiller, einer der bekanntesten polnischen Theaterleute jener Zeit, das Stück lobt und zur Aufführung annimmt. Sie berichtet der Schwester auch über die Arbeit an der deutschen Übersetzung und die Aufführung des Stücks am Teatr Polski in Warschau 1933.24 Der Ausgangspunkt der Korrespondenz, also der Austausch von Meinungen und Informationen über den Vater und dessen literarisches Werk, mündet zudem in eine Thematisierung des Verhältnisses beider Briefpartnerinnen zu Polen. Iwi Bennet fühlt sich der polnischen Kultur verbunden, entdeckt an ihr viel Liebenswertes und beabsichtigt sogar, die polnische Sprache zu erlernen. Stanisława Przybyszewska gesteht ihr offen, dass sie Polen ebenso hasse wie den Vater. Beide seien für sie Synonyme.25 Ihrer Meinung nach besitze Polen keine nationale Kultur und selbst seine großen Schriftsteller würden lediglich andere Literaturen plagiieren.26 Davon abgesehen, dass der Bruch mit ihrem zuvor sehr stark idealisierten Vater Przybyszewskas negatives Polenbild beeinflusst hat, lässt sich dieses scharfe Urteil auch aus der historischen Situation Polens erklären. Die mehr als 100 Jahre währende politische Abhängigkeit, die Polen 1918 abwarf, wurde vonseiten der deutschen, aber auch der russischen Teilungsmacht von einem Kolonialdiskurs begleitet, in dem der polnischen Nation jegliche Kulturfähigkeit abgesprochen wurde. Przybyszewska, die in Westeuropa aufgewachsen war, hatte offensichtlich Teile dieses Diskurses bis zum Selbsthass verinnerlicht. Hinzu kommt, dass sie sich als Künstlerin einer transkulturellen Moderne definierte und die Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft generell als Beengung empfand.

23  Ebd., S. 54–64 (1.3.1928), 125–137 (20.6.1928), 150–167 (23.-24.6.1928), 280–286. (29.11.1928) u. a. Nachdem sie im März 1928 mit der Arbeit an Die Sache Danton begonnen hat, datiert sie die Briefe teilweise – wie sie es auch in einigen anderen Korrespondenzen tat – nicht nach dem Julianischen Kalender, sondern nach dem der Französischen Revolution. 24  Ebd., S. 238–242 (3.-29.10.1928), Bd. 1, S. 264–266 (29.11.1928), Bd. 3, S. 289 (31.7.1929), Bd. 2, S. 121–122 (22.3.1930), Bd. 3, S. 297 f. (18.-29.9.30), 321 f. (28.-29.10.1933). 25  Przybyszewska: Listy. Bd. 3, S. 53 (1.3.1928). 26  Ebd., S. 181 f. (10.7.1928).

Die deutschsprachigen Briefe Stanisława Przybyszewskas

Vergleicht man ihre Schrei­ben an Iwi Bennet mit der übrigen Korrespondenz, so fällt auf, dass sie in ihnen zwar Themen berührt, die sie auch gegenüber anderen Briefpartnern wie der Tante oder ihrem früheren Verlobten anspricht, doch in keinem anderen Briefwechsel führte sie einen solch intensiven partnerschaftlichen geistigen Austausch. Kein anderer wird auch so wie dieser zu einem Ort, an dem sie ihre Gedanken zu verschiedenen Themen ausführlich entwickelt. Von Vertrautheit zeugt, dass sie nicht nur über ihre Probleme mit dem Vater, sondern auch über die mit den Posener Künstlerfreunden schreibt und von der sehr schmerzhaften, destruktiven Geschichte ihrer Verlobung erzählt. Dennoch stößt die Korrespondenz an eine Grenze, wie mindestens sieben nicht abgeschickte Briefe und größere Schreibpausen bereits ab Juni 1928 bezeugen.27 Vermutlich aus Scham vermied Przybyszewska es zu diesem Zeitpunkt noch, der Schwester einen Einblick in ihren oftmals sehr beschwerlichen Alltag zu geben. In mehreren Briefen, die sie nicht abschickt, beschreibt sie ihre körperliche Situation sehr konkret. Im Februar 1928 verfasst sie nach einem solchen Brief einen zweiten, in dem sie vor allem über Literatur nachdenkt und ihre zuvor eingehend beschriebene Krankheit, eine halbseitige Gesichtslähmung, nur noch kurz und die Kälte, unter der sie litt, gar nicht mehr erwähnt.28 Briefe vom Januar und Februar 1929, in denen sie ebenfalls von der unerträglichen Kälte, mehrere Seiten lang über das Reinigen des Ofens und die Schwierigkeiten des Heizens schreibt, schickt sie nicht ab, sondern entschuldigt im März ihr langes Schweigen und berichtet nur kurz über die Probleme, die ihr dieser extrem kalte Winter mit Temperaturen von bis zu 38 Minusgraden bescherte.29 Neben diesen nicht abgeschickten Alltagsbriefen gibt es eine zweite Art von Schrei­ben, die sie verwirft und oftmals auch abbricht. In ihnen nehmen ihre Reflexionen über Lektüren auch drittrangiger Werke und Berichte von Kinobesuchen zusammen mit den Alltagsinformationen einen fast tagebuchartigen Charakter an, sodass sie selber der Meinung ist, deren Lektüre sei für einen Leser eine Zumutung.30 Solche Briefe entstehen jeweils über mehrere Tage von Mai bis Juli 1928 und nehmen ein Ausmaß von bis zu 16 einzeilig beschriebenen Schreibmaschinenseiten an. Przybyszewska nennt diese Art des Schreibens ein »fieberhaftes Geschwätz«31 und schreibt der Schwester:

27  Die Zahl der nicht abgeschickten Briefe lässt sich leider nur indirekt, aus dem Inhalt der Briefe, bestimmen. 28  Ebd., S. 29–45, 19.2.1928 (der nicht abgeschickte Brief ist auf den 18.2.1928 datiert) 29  Ebd. (12.3.1928). 30  Ebd., S. 90–111 (3.5.1928). 31  Ebd., S. 124 (20.6.1928).

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Ich sollte dich lieber verschonen und ein Tagebuch führen; aber dazu bin ich einfach nicht imstande. Ich habe schon versucht. Um zu schrei­ben, muss ich mir wenigstens vorstellen können, dass jemand es lesen wird. Die Vorstellung, die Möglichkeit genügt jedoch vollkommen: Du brauchst also nicht aus Höflichkeit alles zu lesen. Es wäre ja nicht menschenmöglich.32

Da sie als Grund für dieses monologische Schrei­ben, diese »Geschwätzigkeit«, ihre Einsamkeit nennt,33 lässt sich das Endlosschreiben möglicherweise aus der Besonderheit der brieflichen Kommunikation erklären, die ein Gespräch, eine raumzeitliche Nähe zum Gesprächspartner ja nur simuliert. Aus dieser Perspektive betrachtet, würde Przybyszewska versuchen, sich Nähe zu erschreiben, indem sie über jedes Detail ihres Alltags berichtet, den zeitlichen Abstand zwischen dem Erleben und dem Schrei­ben immer mehr verkürzt und dann – aus der Einsicht in die Unmöglichkeit, die Einsamkeit auf diese Weise aufzuheben – den Brief abbricht und verwirft. Ihre Schrei­ben entstehen so in mehreren Anläufen: Teile der nicht abgeschickten Briefe nimmt sie oftmals in die folgenden mit auf oder fasst das vorher Geschriebene in späteren zusammen. Als sie der Schwester einmal von einem solch »verunglückten«34 Brief berichtet, bittet diese, ihn ihr noch im Nachhinein zu schicken. Sie beruhigt Przybyszewska auch, indem sie schreibt, dass es sie keineswegs störe, ausführliche Inhaltsangaben von deren Werken zu lesen, im Gegenteil: sie sei sehr daran interessiert. In solchen Gesten und Worten zeigen sich Iwi Bennets Einfühlungsvermögen und ihre Zuneigung für die Schwester, von der sie später schreibt, dass ihr nicht nur deren »durchdringende Intelligenz« »unerhört imponiert«, sondern dass sie diese durch die Korrespondenz auch »lieb bekommen« habe.35 Sie hatte Przybyszewska bereits im Februar 1928 geschrieben, dass sie kürzere Texte publizistischen Charakters von ihr ins Schwedische übersetzen und zur Publikation vermitteln möchte. Als ihr die Wohnverhältnisse der Schwester klar werden, lädt sie diese zu sich nach Malmö ein. Schon zu Beginn des Briefwechsels bietet sie ihr finanzielle Hilfe an. Sie schickt der Schwester zwei Jahre lang monatlich 50 Kronen und hilft ihr auch später, nach einer eigenen finanziellen Katastrophe, auf Bitten ab und zu mit Geldsendungen aus, einmal schickt sie sogar Schmuck. Im Brief vom 28.7.1933 gesteht Przybyszewska, dass sie ohne die Hilfe von Iwi Bennet Die Sache Danton nicht hätte schrei­ben können und dass Iwi sie zweimal vor dem

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Ebd., S. 280 f. (29.11.1928). Ebd., S. 96 (3.5.1928). Przybyszewska: Listy. Bd. 1, S. 140 (15.6.1928). Iwi Bennet an Helena Barlińska, 25.5.1936, PAN Archiv Poznań AAN 51.

Die deutschsprachigen Briefe Stanisława Przybyszewskas

Hungertod bewahrt habe.36 Durch die langen Schreibpausen, die aufgrund der nicht abgeschickten Briefe entstehen, verliert der Briefwechsel bereits ab 1929 an Intensität und beschränkt sich fast ausschließlich auf Informationsaustausch, Dank- und Bettelbriefe bzw. auf Briefe, in denen Przybyszewska um Verständnis für ihre finanzielle Situation wirbt.

Joseph (Josef) Heinz Mischel Der 1899 in Galizien geborene und in den 1920er Jahren in Berlin lebende Joseph Heinz Mischel war als Übersetzer polnischer Literatur und Publizist tätig,37 schrieb u. a. für das Berliner Tageblatt, Die literarische Welt sowie die Frankfurter Zeitung und arbeitete mit polnischen Literaturzeitungen und -zeitschriften zusammen. Er emigrierte nach 1933 in die USA und schrieb ab 1944 Drehbücher für Hollywood. Er starb 1954. Auf Empfehlung des Chefredakteurs der Wiadomości Literackie (Literarische Nachrichten) wandte er sich im November 1929 an Przybyszewska, um ihr den Vorschlag zu unterbreiten, Die Sache Danton ins Deutsche zu übersetzen. Diese nahm das Angebot an und zwischen Mai und Dezember 1930 erarbeiteten beide gemeinsam die deutsche Textfassung, indem sie sich wechselseitig einzelne Dramenteile mit ihren Anmerkungen zuschickten. Przybyszewska überarbeitete bestimmte Textstellen in der Übersetzung, d. h. sie formulierte einige Stellen gegenüber dem polnischen Original neu, und ihre Änderungen korrigierte noch einmal Mischel. Neben dieser Arbeitskorrespondenz schrieb sie ihrem Übersetzer zwischen 1929 und 1931 mindestens fünf Briefe, in denen sie auch Persönliches mitteilte (vier von ihnen blieben erhalten). Ihnen lässt sich entnehmen, dass Mischel nicht nur Die Sache Danton übersetzte, sondern auch versuchte, deutsche Verleger und Regisseure für das Stück zu interessieren. Am 20.2.1931 schrieb er an Przybyszewska, dass Adam Kuckhoff, der Chefdramaturg des Staatlichen Schauspielhauses, das Stück sehr schätze und es noch im selben Jahr aufführen wolle, allerdings unter der Bedingung, dass etwa die Hälfte des Textes gekürzt wird. Obwohl er sie mehrmals für diesen Vorschlag zu gewinnen suchte, konnte sich die Autorin nicht zu der Kürzung entschließen. Auch mit Artur Kahane, dem Chefdramaturgen der Reinhardt-Bühnen, sprach Mischel. Dieser lehnte

36  Przybyszewska: Listy. Bd. 3, S. 318 (28.7.1933). 37  Er übersetzte Teile von Stanisław Przybyszewskis Erinnerungen (Moi współcześni), Erzählungen von Maria Nałkowska und für die Weltbühne eine Reiseimpression von Juliusz Kaden-Bandrowski: Julius Kaden-Bandrowski: British Museum. In: Die Weltbühne 26/1 (1930), S. 25–28, Zofja Nalkowska: Der Tag der Heimkehr. Berlin 1932.

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aber bereits die Lektüre des »zu langen« Stücks ab. Dass es ein bereits von Georg Büchner bearbeitetes Thema aufgreift, schlug ihm nicht nur in seinen Augen zum Nachteil aus. Wie Mischel schrieb, erschwere es auch die politische Situation, ein aus dem Polnischen übersetztes Stück aufzuführen.38 Seine Versuche, Gustav Kiepenheuer und Samuel Fischer für eine Publikation zu gewinnen, schlugen fehl. In der Korrespondenz mit Mischel thematisiert Przybyszewska ihr Verhältnis zu Polen, aber auch das zu Deutschland, in ähnlicher Weise wie in den Briefen an Iwi Bennet. Sie möchte wissen, wie er ihre Aussichten auf dem deutschen Buchmarkt einschätze, mehr noch, wie sie es schaffen könnte, »aus der polnischen in die deutsche Literatur umzusteigen«.39 Die Antwort Mischels ist nicht bekannt. Für ihre Entscheidung zum Sprachwechsel, die seit dem Sommer 1929, in der langen Zeit des Wartens auf eine Einschätzung ihres Dramas durch Leon Schiller, in ihr gereift war, benötigte Przybyszewska sie wohl auch nicht mehr.40 Bereits im Februar 1930 schrieb sie ihre ersten Prosatexte in deutscher Sprache; diesen folgten weitere Novellen und Romane, die allerdings zumeist Fragment, oft auch nur Entwurf blieben.41 Im Zusammenhang mit dieser Entscheidung für das Deutsche äußert sie sich Mischel gegenüber bereits in ihrem ersten Brief sehr abwertend über die polnische Kultur. Dass sie sich für das Schrei­ben in polnischer Sprache entschieden hat, bezeichnet sie als einen Fehler, denn diese Sprache sei »unentwickelt; kann daher dem Gedanken eines erwachsenen Nachkriegsmenschen nicht genügen«.42 Noch prägnanter drückt sie sich in einem Brief an ihre frühere Lehrerin Julia Borowa aus, in dem sie das Deutsche als eine »reife, über Jahrhunderte mentaler Entwicklung geformte Sprache« bezeichnet und dem Polnischen als einer »kindliche[n] Mundart« gegenüberstellt, »die man erst mit Gewalt ausdehnen, verbreitern, vertiefen und verfeinern« müsse.43

38  Przybyszewska: Listy. Bd. 2, S. 386. Anmerkung 2 zum Brief Przybyszewskas vom 24.9.1931 an Mischel. 39  Ebd., S. 158 (8.4.1930). 40  Zum ersten Mal erwägt sie den Übergang in eine andere Sprache im Brief vom 2.7.1929 an Helena Barlińska (Przybyszewska: Listy. Bd. 2, S. 600). 41  Bereits am 21.12.1929 teilt sie Iwi Bennet ihren Entschluss mit, »von nun an auf Deutsch zu schrei­ben: zuerst gleichzeitig mit dem Polnischen, dann aber, wenn es irgend geht – das heißt wenn ich in Deutschland eine Aussicht finde – ausschließlich in dieser intellektuell entwickelten, vollwertigen, modern-europäischen Sprache« (Przybyszewska: Listy. Bd. 2, S. 102). Die ersten deutschsprachigen Werke begann sie im Februar 1930 zu verfassen. 42  Przybyszewska: Listy. Bd. 2, S. 85 (6.12.1929). 43  Ebd., S. 10 (3.10.1929).

Die deutschsprachigen Briefe Stanisława Przybyszewskas

Ein weiterer Grund für ihren Wunsch, ins Deutsche zu wechseln, sei »das allgemeine Niveau« der polnischen Kultur, aus dem sie nur einige Intellektuelle und Künstler herausragen sieht, die in Polen »Türen einrennen […], von denen im Westen auch nicht die Pfosten mehr übriggeblieben sind.« Als Beispiele dafür nennt sie Klerikalismus und »Große-Männer-Abgötterei«.44 In diesen Äußerungen lässt sich also nicht nur, wie in den Briefen an Iwi Bennet, eine Verinnerlichung kolonialer Bilder, sondern auch eine Kritik konservativen Denkens erkennen. Sie dokumentieren den Wunsch, aus einer als minderwertig angesehenen Kultur in eine höher stehende zu migrieren. Wie sehr Przybyszewska in ihrem Emanzipationsprojekt die deutsche Kultur auf Kosten der polnischen idealisierte, zeigt sich in ihren Ansichten zum Nationalismus in beiden Ländern. An Polen, schreibt sie 1929 in einem Brief an die Tante Halina Barlińska, hasse sie am meisten den aggressiven und kindlichen Chauvinismus. Dagegen hätten sich »gerade sie [die Deutschen], und vielleicht nur sie« nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs vom Nationalismus befreit.45 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch ein Missverständnis in der Korrespondenz mit Mischel. Er hatte geschrieben, dass die Aufführungschancen von Die Sache Danton in Deutschland gering seien, denn bei der »gegenwärtigen Orientierung auf den deutschen Geist herrscht aus verschiedenen […] Gründen großes Misstrauen gegenüber allem, was fremder Herkunft ist«.46 Przybyszewska las hier, dass ihr Stück es deshalb schwer haben werde, weil es literarisch ungewöhnlich sei: »Sie schrei­ben vom augenblicklich (nur?!) herrschenden Misstrauen gegen alles, was die hergebrachte Bahn verlässt. Das interessiert mich – es kommt mir vor, als sei die deutsche Literatur gerade sehr reich an ungewöhnlichen Formen.«47

Elga Kern Die deutsch-jüdische Publizistin, Frauenrechtlerin und Pazifistin Elga Kern (1888–1955)48 gehörte zu den wenigen deutschen Intellektuellen in der Weimarer Republik, die über Polen mit Sympathie und Verständnis schrie-

44  Ebd., S. 84 (6.12.1929). 45  Ebd., S. 57 f. (18.-25.11.1929). 46  Ebd., S. 161 (7.3.1930), Anmerkung, übersetzt von d. Verf., da das Original im PAN-Archiv nicht mehr verfügbar ist. Hervorhebung von d. Verf. 47  Ebd., S. 158 (8.4.1930). Hervorhebung von d. Verf. 48  Ihre Buchpublikationen: Elga Kern: Führende Frauen Europas. München 1928 (Neuauflage 1999); dies.: Wie sie dazu kamen. 35 Lebensfragmente bordellierter Frauen nach Untersuchungen in badischen Bordellen. München 1928 (Neuausgabe 1985); dies. (Hrsg.): Wegweiser in der Zeitenwende. Selbstzeugnisse von Bertrand Russell [u. a.]. München 1955.

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218

Marion Brandt

ben. Sie übersetzte aus dem Polnischen und versuchte, mit ihren Publikationen zwischen beiden, nach dem Versailler Vertrag im Konflikt stehenden Ländern zu vermitteln.49 Wegen ihrer polenfreundlichen Haltung stand sie unter Beobachtung des Auswärtigen Amtes.50 In den 1930er Jahren wohnte sie längere Zeit in Polen; wie und wo sie den Zweiten Weltkrieg überlebte, ist nicht bekannt. In der kurzen, nur wenige Briefe umfassenden Korrespondenz verständigen sich Elga Kern und Stanisława Przybyszewska über ihr gemeinsames Engagement für eine Ausländerin, die in einem der lautesten Gerichtsprozesse der Zweiten Polnischen Republik des Mordes angeklagt wurde. Ein Artikel, in dem sich Elga Kern öffentlich für die Beschuldigte einsetzte, weckte das Interesse von Stanisława Przybyszewska, die ebenfalls von deren Unschuld überzeugt war und etwas für ihre Verteidigung unternehmen wollte. Die des Mordes Angeklagte, Emilia Margerita Gorgon (geb. 1901), war eine Serbin oder Kroatin, die durch Heirat nach Polen gekommen war, nach der Ausreise ihres Mannes in die Vereinigten Staaten aber ihren Unterhalt als Kindermädchen und Haushälterin verdienen musste. Aufgrund von Indizienbeweisen wurde sie des Mordes an der Tochter ihres Arbeitgebers und zugleich Geliebten beschuldigt und im Mai 1932 von einem Geschworenengericht zum Tode verurteilt. Dieses Urteil hob das Oberste Gericht wegen Mängeln in der Prozessführung auf, sodass der Fall im März / April 1933 erneut verhandelt wurde. Auch das zweite Gericht erklärte Rita Gorgon des Mordes schuldig und verurteilte sie zu einem achtjährigen Gefängnisaufenthalt. Ihr Prozess weckte großes öffentliches Interesse und wurde von xenophoben Kommentaren begleitet. Der Artikel Elga Kerns Prawda o procesie Gorgonowej [Die Wahrheit über den Prozess der Gorgonowa] erschien nach dem ersten Urteilsspruch in den Wiadomości Literackie. Przybyszewska schrieb der Verfasserin im September 1932 und publizierte in derselben Zeitschrift den Artikel Rita Gorgon, ofiara zastępcza [Rita Gorgon – ein Sündenbock].51

49  Elga Kern: Vom alten und neuen Polen. Zürich, Leipzig, Stuttgart 1931; dies.: Niemcy wczorajsze i dzisiejsze. Warszawa 1934; dies.: Marja Piłsudska, Matka Marszałka. Wizerunek życia. Warszawa 1935; Elga und Rudolf Kern: Ola i Arno. Elementarz dla szkół powszechnych mniejszości niemieckiej. Warszawa 1938. 50  Siehe dazu Jürgen Röhling: »Sollten wir nicht versuchen, Frau K. endlich das Handwerk zu legen?« Elga Kerns Buch Vom alten und neuen Polen und die Akte Elga Kern im Auswärtigen Amt Berlin. In: Marion Brandt (Hrsg.): Grenzüberschreitungen. Deutsche, Polen und Juden zwischen den Kulturen (1918–1939). München 2006, S. 171–186. 51  Elga Kern: Prawda o procesie Gorgonowej. In: Wiadomości Literackie, 19.6.1932 (442), S. 4 f.; Stanisława Przybyszewska: Rita Gorgon – ofiara zastępcza. In: Wiadomości Literackie, 12.3.1933 (483), S. 1

Die deutschsprachigen Briefe Stanisława Przybyszewskas

In dem einzigen erhalten gebliebenen, elf Druckseiten umfassenden Brief an Elga Kern vom 18./19. Februar 1933 schreibt Przybyszewska, dass sie dem bekannten Literaturkritiker Tadeusz Boy-Żeleński eine Kurzfassung ihres Artikels und Briefe an die Verteidiger geschickt habe. Sie legt ihre Überlegungen zum taktischen Vorgehen bei der Verteidigung der Angeklagten ausführlich dar, um Elga Kern, von der sie fürchtet, sie würde ihre Idee »nicht hoch genug einschätzen, um sie auszunutzen«,52 von ihrer Argumentation zu überzeugen. Der Brief enthält auch Hinweise zur Motivation für ihr Engagement. So schreibt sie, dass Rita Gorgon als »junge Ausländerin und Konkubine« ein »Fressen für die niedrigsten Zerebralbegierden des kleinen Provinzspießers« sei,53 ein »appetiterzeugendes Objekt […] für den Haß der Menge und den Ehrgeiz der Juristen, froh über die Sensation«.54 Tadeusz Lewandowski, Biograf der Schriftstellerin und Herausgeber der meisten ihrer Werke, ist sicherlich zuzustimmen, wenn er von einer »emotionalen Identifikation«55 Przybyszewskas mit der Angeklagten spricht: »In der Situation der Gorgonowa sah sie die Geschichte einer zu Tode gehetzten, heimatlosen Ausländerin, die zur Beute des da­­ mals wachsenden aggressiven Chauvinismus wurde, die Geschichte einer von der Gesellschaft abgelehnten und gebrandmarkten Frau.«56 In der Tat verstand sich Przybyszewska zu diesem Zeitpunkt als eine abgelehnte Künstlerin und ungeschützte Heimatlose. Nur mit Verachtung äußerte sie sich über die Masse, über deren Aggressivität und Primitivität; einen durch Nietzsche inspirierten Gegensatz zwischen dem schöpferischen Genie und dem gewöhnlichen Menschen konstruiert sie allerdings – ähnlich wie ihr Vater – bereits in ihrem Künstlerkonzept.57 Dass gerade eine in Polen wirkende deutsche Publizistin und eine in Danzig lebende, von der deutschen Kultur geprägte polnische Schriftstellerin ihre Stimme für Rita Gorgon erhoben, lässt sich möglicherweise nicht nur durch die Solidarität und emotionale Nähe zu einer Frau erklären, die in einer fremdkulturellen Gesellschaft in eine prekäre Situation geraten war. Zu ihrem Einspruch kann die beiden mit der deutschen Kultur ver-

52  Przybyszewska: Listy. Bd. 2, S. 431 (18.-20.2.1933). 53  Ebd., S. 427 (18.-20.2.1933). 54  Ebd., S. 433 (18.-20.2.1933). 55  Tadeusz Lewandowski: Dramat intelektu. Biografia literacka Stanisławy Przybyszewskiej. Gdańsk 1982, S. 199. 56  Tadeusz Lewandowski: Wstęp. In: Przybyszewska: Listy, Bd. 2, S. VII. 57  Vgl. Marion Brandt: Gegen den Vater geschrieben. Das Werk von Stanisława Przybyszewska. In: Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Akten des XII. Internationalen Germanistenkongresses Warschau 2010. Frankfurt / Main 2012, S. 307–311.

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220

Marion Brandt

bundenen Autorinnen auch die in der Publizistik der Weimarer Republik verbreitete Justizkritik angeregt haben.

Thomas Mann An Thomas Mann, den in der Zweiten Republik Polen am stärksten präsenten deutschen Schriftsteller, schrieb Przybyszewska von Dezember 1932 bis November 1934 acht Briefe, von denen sie aber nur zwei abschickte. Sie sind vor allem Hilferufe an eine literarische Autorität, der sie sich geistig nahe fühlte und von der sie glaubte, sie habe die Möglichkeit, sie zu verstehen, und die Macht, ihr zu helfen. Ihre Wendung an Thomas Mann begründete sie mit dem Satz: »Ihnen allein kann ein Leben wie das meine – diese Entwicklungslinie, diese Bedürfnisse und voraussichtlichen Ziele wohlbekannt sein.«58 Vor allem ihre deutschsprachigen Prosatexte zeigen eine deutliche Inspiration durch das Mann’sche Werk, etwa in der Verschränkung des Künstler- und Krankheitsmotivs oder in der Wahl eines Sanatoriums in den Alpen als Handlungsort. Ihre Briefe legen nahe, dass es die Opposition Geist / Leben oder Kunst / Bürgerlichkeit war, von der sie sich angesprochen fühlte. Da Thomas Mann ihren Vater kennengelernt hatte, konnte sie damit rechnen, dass er ihren Brief mit besonderer Aufmerksamkeit lesen würde. Während des Empfangs des polnischen PEN-Clubs zu Ehren Thomas Manns am 12. März 1927 hatte Stanisław Przybyszewski eine Rede für den Gast aus Deutschland gehalten. In seiner Erinnerung an die Reise nach Polen, veröffentlicht in der Zeitschrift Pologne Littéraire, schrieb Thomas Mann darüber: […] und denke ich der eindringlichsten Worte des Abends, der Rede Przybyszewskis, die er mit einer herzlichen Umarmung beschloss, so überkommt mich heute noch ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit und Rührung. Seltsamerweise hatte ich Przybyszewski, der ja lange in Deutschland, zuletzt sogar in München gelebt hat, niemals kennengelernt, und darum suchte ich schon durch einen Nachmittagsbesuch bei ihm nachzuholen, was sich bisher nicht gefügt hatte.59

58  Przybyszewska: Listy, Bd. 2, S. 409 (9.12.1932). 59  Thomas Mann über seine Reise nach Warschau. In: Pologne Littéraire 7, 15.4.1927. Wiederabdruck in: Tomasz Mann w krytyce i literaturze polskiej. Antologia tekstów i dokumentów. Wybór i opracowanie Roman Dziergwa. Poznań 2003, S. 89–93, hier S. 91.

Die deutschsprachigen Briefe Stanisława Przybyszewskas

Den ersten Brief, den sie im Dezember 1932 an Thomas Mann schrieb, schickte Przybyszewska nicht ab; erst im Februar 1933 versandte sie zwei nicht erhalten gebliebene Briefe. Als Antwort erhielt sie vom Fischer-Verlag Werbeprospekte und erfuhr, dass Thomas Mann nicht mehr in Deutschland lebte.60 Von den Schrei­ben, die sie danach an ihn richtete, verschickte sie keines mehr. Die Frage, ob der blockierte Zugang zu ihm, die fehlende Antwort auf die ersten Briefe oder mangelnder Mut der Grund dafür waren, lässt sich ebenso wenig beantworten wie die, inwieweit sie sich aufgrund dieser Situation an ein reales oder fiktives Gegenüber wandte. Im Brief vom 28. Juli 1934 bezieht sie sich auf die Novelle Tod in Venedig, indem sie schreibt: »Gott segne Sie für jenes Kapitel, das mit dem spielenden Kind am Meerufer beginnt. Ich las heute früh diese Seiten, und was dort vom Leiden gesagt wird, kräftigte mich in der Stunde meiner Not.«61 Gleichzeitig polemisiert sie mit Mann. Dieser irre, wenn er die Sünde unterschätze, »das nackt menschliche Grauen vor ihr für unbedingt falsch« halte, und wenn er die Heiligen nicht »gebührend« achte.62 Laut Lewandowski spielte Przybyszewska mit diesen Worten auf die Homoerotik an, die in der Novelle nicht als Sünde verurteilt wird, und auf das Bild des Hl. Sebastian, einer Allegorie für Aschenbachs Existenz. Wie das Wort »Sünde« signalisiert und wie auch in einigen Werken und Werkentwürfen aus ihren letzten Lebensjahren deutlich wird, situierte Przybyszewska die Künstlerproblematik zu dieser Zeit tatsächlich – anders als Thomas Mann – in einen religiösen Kontext. Vor allem ihre letzten Briefe sind erschütternde Hilferufe. Sie schreibt von einer »Todesnot«,63 die durch ihre finanzielle Situation, aber auch durch Krankheitssymptome wie Atemnot und Herzbeschwerden ausgelöst wird, und bittet Thomas Mann um Geld. Im Januar 1934 erbittet sie Hilfe für Rita Gorgon und in den letzten zwei Briefen vom Oktober und November 1934 schreibt sie von der Angst, dass ihr die Wohnung, ihr Versteck, ihre Freiheit, genommen werde. Sie fleht: »Meister: erwirken Sie mir den Tod! Erbarmen Sie sich: lassen Sie mich nicht den Menschen ausgeliefert werden«.64 Grund für ihre Angst kann der geplante Abriss der Baracke gewesen sein, in der sich ihre kleine Wohnung befand. Die Direktion des Gymnasiums traf im Dezember 1934 die immer wieder hinausgeschobene Entscheidung für einen Abriss im Frühjahr 1935 – tatsächlich erfolgte dieser aber erst nach dem Tod der Schriftstellerin.

60  61  62  63  64 

Vgl. Przybyszewska: Listy. Bd. 2, S. 491 (6.8.1933). Ebd., S. 531 (28.7.1934). Ebd., S. 531 f. Ebd., S. 490 (6.8.1933). Ebd., S. 539 (27.10.1934).

221

222

Marion Brandt

Fazit Die deutschsprachigen Korrespondenzen von Stanisława Przybyszewska weisen ein recht breites Spektrum an Formen und kommunikativen Funktionen auf, die zugleich für das gesamte Briefwerk der Schriftstellerin repräsentativ sind. Neben eher monologischen Briefen, die von Selbstauskünften zu Selbstverständigungen übergehen und stellenweise den Charakter eines Tagebuchs erhalten, stehen Briefe, in denen der geistige Austausch und die gegenseitige Anregung dominieren. Während einige Briefe Züge von Essays über ästhetische und weltanschauliche Fragen annehmen, also als Orte betrachtet werden können, an denen Przybyszewska Gedanken entwickelt und im Entstehen begriffene Texte reflektiert, dienen andere dem Informationsaustausch oder sind Arbeitskorrespondenzen; wieder andere enthalten Bitten um Geld bzw. Dank für erhaltene Geld- und Sachsendungen oder sind existenzielle Hilferufe. Als ein Zeugnis für die Grenzen der brieflichen Kommunikation können die verworfenen Briefe in der Korrespondenz mit der Schwester angesehen werden, also gerade desjenigen Briefwechsels, den Vertrautheit und geistiger Austausch am stärksten charakterisiert. Die Korrespondenz Przybyszewskas vermittelt einen Einblick in die Selbstverortung der Dramatikerin in einem zwischen Polen und Deutschland imaginierten kulturellen Raum. Sie dokumentiert den Entwurf einer durch transkulturelle Sozialisation vorgeprägten, aber auch bewusst ge­­ wählten Existenz im kulturellen Zwischenraum und verdeutlicht, welche Möglichkeiten sich der Autorin in diesem dritten Raum eröffneten. Die Briefe zeigen, auf welche Weise Przybyszewska ihr Emanzipationsprojekt mit den Vorstellungen von einer Hierarchie der Kulturen verband. An ihnen lässt sich zugleich verfolgen, wie der kulturell hybride Raum für sie aus einem Möglichkeitsraum zu einem prekären Ort, einem Niemandsland zwischen den Kulturen wurde.

Personenregister A

Bertram, Ernst  35–37

Adorno, Gretel  97, 124

Blei, Franz  82 f., 85, 90

Adorno, Theodor W.  8, 93–97, 107 f.,

Bloch, Else (geb. von Stritzky)  102, 104

110 f., 113, 118, 120, 124–126, 128 f., 134–136, 139–161

Bloch, Ernst  13 f., 93–124, 129

Agard, Olivier  8

Blume, Bernhard  19

Alain-Fournier, Henri  211

Bodenhausen, Dora von  66

Andrian-Werburg, Leopold Frhr.

Bodenhausen, Eberhard von  65–67

von  68–70

Boehringer, Robert  169

Ansorge, Arnulf  172

Bohrer, Karl-Heinz  9

Apfel, Alfred  44

Bolecka, Anna  207

Apollinaire, Guillaume  111

Borchardt, Rudolf  62 f., 75–78

Aragon, Louis  120

Borowa, Julia  216

Arendt, Hannah  89, 91 f., 128

Boteran, Frits  53, 57

Asen, Barbara  185

Boy-Ed, Ida  38

Auernheimer, Raoul  74

Boy-Żeleński, Tadeusz  211, 219 Brandt, Marion  15, 206 Brecht, Bertolt  7, 114, 122, 125,

B

128–131, 133 f., 136, 147

Bab, Julius  30 Bahr, Hermann  62 f., 70

Brecht, Walther  32, 63

Bargebuhr, Frederik P.  202

Bredel, Willi  122

Barlińska, Halina  210, 213, 216 f.

Brentano, Franz  146

Barthes, Roland  163

Breton, André  73 f., 108

Bartram, Graham  81, 84

Broch, Hermann  12 f., 80–92, 123

Bataille, Georges  108

Brod, Max  13, 123, 127, 137 f.

Becher, Johannes R.  7, 122

Brody, Daniel  83–85

Beck, Oscar  52, 55

Brokoph-Mauch, Gudrun  85 f.

Beer-Hofmann, Richard  63, 71 f., 74 f.

Bronnen, Arnolt  121

Benda, Julien  114

Buber, Martin  12, 101, 109, 140, 156

Beneš, Edvard  120

Büchner, Georg  209, 216

Benjamin, Dora Sophie  100, 102

Budzislawski, Hermann  122 f.

Benjamin, Walter  8, 11–14, 59, 79, 93–124, 125–139, 141, 146 f.,

Burckhardt, Carl Jacob  63 f. Burdach, Konrad  63

154–156, 158 Bennet, Iwi  209–214, 216 f.

C

Benn, Gottfried  7, 121

Caillois, Roger  114

Berg, Alban  144

Canetti, Elias  85

Bernanos, Georges  114, 211

Cassirer, Paul  104

Bertaux, Félix  27

Castorf, Frank  207

224

Personenregister

Chamberlain, Houston Stewart  36

Fitzmaurice, Iren  48

Chesterton, Gilbert Keith  211

Fontane, Theodor  39

Citrine, Walter  121

Förster-Nietzsche, Elisabeth  56, 89

Clauss, Elke  185

Foucault, Michel  61

Cohn, Alfred  96

Frank, Bruno  123

Conterno, Chiara  12, 15, 187

Freud, Sigmund  73

Corino, Karl  85

Frey, Alexander Moritz  123

Coster, Charles de  195

Friedländer, Salomo  102 Friedmann, Georges  121

D

Frisé, Adolf  85

Dacqué, Edgar  52 f.

Fuchs, Eduard  122

Dahlem, Franz  122

Fuchs, Georg  43

Dangel-Pelloquin, Elsbeth  15 Dante, Alighieri  194

G

Degenfeld, Ottonie von  63–67

Garber, Klaus  96

Dekker, Gerbrand  201

García Lorca, Federico  123

Deleuze, Gilles  15

Gehlen, Arnold  158

Dieterle, Bernard  58

Gellert, Christian Fürchtegott  162

Dilthey, Wilhelm  34, 51, 55, 106

George, Stefan  12, 34, 165–171, 173–176, 178–182, 185–186,

Döblin, Alfred  9, 122 f.

188–190, 192, 196, 202–204

Dostojewski, Fjodor Michailowitsch  56 Durieux, Louis  45 Durzak, Manfred  82

Gide, André  84, 114, 120 f. Gödde, Christoph  93 Goebbels, Joseph  203 Goethe, Johann Wolfgang von  27, 37,

E

39, 55, 106 f., 115, 165, 167, 196, 208

Ebert, Friedrich  49, 57

Gontard, Susette  173

Edinger, Ottilie  167

Gorgon, Emilia Margerita  218 f., 221

Eeden, Frederik van  187

Grautoff, Otto  28

Eggink, Antoinette  196

Grünbaum, Melitta  167

Eichendorff, Joseph von  33

Guattari, Félix  15

Einstein, Alfred  123

Gumbel, Emil Julius  120

Elisabeth von Österreich  173

Gumpert, Martin  123

Eloesser, Arthur  18, 20, 26 f., 37

Günderrode, Karoline von  173

Erdmann, Benno  106

Gundolf, Friedrich  8, 15, 162–186, 200

Essig, Rolf-Bernhard  39 H F

Haaf, Thomas  207

Faesi, Robert  33

Haan, Willem de  189, 193 f., 199

Fessard, Gaston  114

Haas, Willy  46 f., 72

Feuchtwanger, Lion  120, 122

Habermas, Jürgen  8, 111

Fischer, Samuel  26, 32, 216

Hamburger, Käte  37

Personenregister

Haring, Ekkehard W.  13 f.

Jean Paul  61, 79, 115

Harnack, Adolf von  50 f.

Joyce, James  29, 83 f., 92

Hatvany, Ludwig  45

Juel, Dagny  210 f.

Hauptmann, Gerhart  41

Juel Westrup, Gudrun  210

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  51,

Jünger, Ernst  121

143, 145, 148 f., 158 f. Heidegger, Martin  12, 81, 89–92, 111,

Jünger, Friedrich Georg  47 Junkers, Hugo  49 f.

156 Heine, Heinrich  204

K

Helbing, Lothar  168, 171

Kaerrick, Less  56

Helbling, Carl  29

Kafka, Franz  12–15, 83 f., 125–139,

Helmholtz, Hermann von  106

160

Henkel, Markus  50, 57

Kahane, Artur  215

Herrigel, Hermann  156

Kahler, Fine von  167, 170, 172

Herz, Ida  25

Kaiser, Georg  123

Hesse, Hermann  10, 31, 123

Kandinsky, Wassily  191

Heym, Stefan  122

Kant, Immanuel  106, 115, 143, 159

Hildebrandt, Kurt  172

Kantorowicz, Gertrud  178

Hiller, Kurt  123

Karlauf, Thomas  165

Hilscher, Eberhard  28

Karl I. (Kaiser)  70

Hindenburg, Paul von  180

Kern, Elga  209, 217–219

Hitler, Adolf  43, 122

Kessler, Harry Graf  63

Hocke, Gustav René  9

Kessler, Michael  81

Hofmannsthal, Gerty von  78

Keyserling, Hermann Graf  55

Hofmannsthal, Hugo von  9, 15, 61

Kiepenheuer, Gustav  216

Hölderlin, Friedrich  173

Kierkegaard, Søren  89–91, 143–146,

Hollender, Gabi  22

148–150, 160

Hölz, Max  44 f.

Kippenberg, Anton  64

Horkheimer, Max  94 f., 113, 115,

Kiss, Endre  90

119 f., 128, 147, 151 f., 155, 160

Klara, Unga  206

Horváth, Ödön von  123

Kleist, Heinrich von  26, 31, 173–174

Hoser, Paul  58

Kleopatra  173

Hühn, Lore  160

Kloos, Willem  187

Hünefeld, Ehrenfried Günther

Klöres, Hans  51

Freiherr von  47 Husserl, Edmund  91

Köhl, Hermann  47 Kolb, Annette  123 Kommerell, Max  121

J Jakobson, Roman  28

Kracauer, Siegfried  8, 93, 96, 104 f., 109 f., 112, 116 f., 140–161

Janišova, Mojmira  206

Kraft, Werner  125, 134, 136

Janson, Gerhard von  57

Krause, Robert  12 f.

Jaspers, Karl  9, 156

Kraus, Karl  70

225

226

Personenregister

Křenek, Ernst  7

Maulnier, Thierry  121

Krochmalnik, Daniel  101

Mayer, Agnes E.  24

Kuckhoff, Adam  215

Mayer, Hans  123, 125, 137 May, Karl  106, 112

L

Meier-Graefe, Julius  77

Landmann, Georg Peter  169

Merlio, Gilbert  54

Landmann, Julius  174

Meyer, Daniel  9, 12, 15, 49, 58

Landmann, Michael  99, 104

Meyer, Richard Moritz  32

Landor, Walter Savage  76

Meyrink, Gustav  211

Lassalle, Ferdinand  181

Michels, Volker  10

Lechter, Melchior  188, 191, 197

Mischel, Joseph Heinz  209, 215–217

Legay, Kleber  121

Misch, Georg  51, 55

Leibniz, Gottfried Wilhelm  106

Moeller van den Bruck, Arthur  53

Lettow-Vorbeck, Paul von  57

Moers, Walter  19

Lewandowski, Tadeusz  219, 221

Molo, Walter von  40

Liegle, Josef  172

Morgenstern, Soma  144

Lonitz, Henri  93

Müntzer, Thomas  96 f., 103–105, 109

Löwenthal, Leo  143 f., 156

Muir, Willa (Pseudonym für Agnes Neill Scott)  83 f.

Lukács, Georg  104, 109 f., 116, 144 f. Luther, Martin  69

Musil, Robert  12 f., 80–92, 123

Lützeler, Paul Michael  81, 85, 90

Mussolini, Benito  180

M

N

Maaß, Sebastian  58

Nadler, Josef  63

Mahler, Alma  144

Napoléon Bonaparte  53

Maier, Nani  83

Negt, Oskar  123

Malachow, Agathe  167, 170

Nietzsche, Friedrich  35 f., 55 f., 89, 155, 219

Mann, Heinrich  8, 38–40, 120, 122 f. Mann, Klaus  122 f.

Nijland-Verwey, Mea  188 f., 191 f., 194

Mann, Thomas  8, 13–15, 17–37,

Nobel, Nehemia Anton  140

38–48, 82, 92, 120, 122–124, 149,

Nostitz, Helene von  63

209, 220 f.

Novalis (d. i. Friedrich von Hardenberg)  34

Marcuse, Herbert  120 Marcuse, Ludwig  120, 122 Margowski, Andrzej  207

O

Martersteig, Max  56

Obenauer, Karl Justus  40

Marx, Friedhelm  9, 15, 29

Offenbach, Jacques  151 f., 155, 158

Marx, Karl  109, 114, 119, 122, 125,

Oppenheimer, Yella  64, 70

128, 133, 147, 152 Masaryk, Tomáš Garrigue  120 Mathiez, Albert  206 Mattenklott, Gert  13, 93, 97

Oprecht, Emil  117, 123 Ossietzky, Carl von  122

Personenregister

P

Ruben, Margot  190

Pająkówna, Aniela  208

Rychner, Max  32

Panieński, Jan  208 Pannwitz, Rudolf  63 f., 197

S

Panofsky, Erwin  155

Sacco, Nicola  45

Pauschardt, Heike  11

Salin, Edgar  172

Péguy, Charles  98

Salinger, Jerome David  19

Pelletier, Lucien  94, 101

Salomon, Elisabeth  8, 15, 162–186

Peter, Hans Armin  28

Sartre, Jean-Paul  123

Platon  147, 173

Schäffer, Albrecht  165

Prandoni, Marco  195

Scheerbart, Paul  102

Przybyszewska, Stanisława  15

Scheler, Max  90

Przybyszewski, Stanisław  208–212,

Schelling, Friedrich Wilhelm

215, 219 f.

Joseph  106 f.

Puttkamer, Gerda von  167

Scherer, Wilhelm  27

Pynchon, Thomas  19

Schickele, René  123 Schiffermüller, Isolde  10, 12

Q

Schiller, Friedrich  208

Querido, Emanuel  117

Schiller, Leon  212, 216 Schlegel, August-Wilhelm  31

R

Schlegel, Friedrich  31

Rabinson, Anson G.  102

Schlesinger, Otto  45

Raćz, Gabriella  81, 85

Schlubach, Roderich  54

Rang, Florens Christian  11

Schmidt, Burghart  119

Rathenau, Walther  49 f., 168

Schmidt, Erich  26 f. 34

Raulet, Gérard  8, 12–14, 93

Schnitzler, Arthur  63, 68

Rauschning, Hermann  123

Schocken, Salman  137 f.

Reck-Malleczewen, Friedrich  60

Schoen, Ernst  12, 94, 96, 98 f.

Redlich, Josef  63 f., 70, 75

Scholem, Escha (geb. Burchhardt)  103

Reuschel, Dorothea  170

Scholem, Gershom (Gerhard)  93–104,

Reusch, Paul  57–58 Rickert, Heinrich  110

106, 109, 112, 125, 127–134, 136–138

Riess, Curt  123

Schönberg, Arnold  144

Rilke, Rainer Maria  10

Schöttker, Detlev  10

Rizzo, Roberto  91

Schröder, Rudolf Alexander  63, 72

Robert Musil  80–90, 92

Schuster, Jörg  63, 163

Robespierre, Maximilien de  206, 208,

Schwab, Philipp  160

210

Schweitzer, Albert  49

Rohrbach, Paul  50 f.

Serge, Victor  121

Rolland, Romain  121, 191

Shakespeare, William  165, 167

Rosenzweig, Franz  156

Shaw, George Bernard  211 Sieber-Rilke, Ruth  62

227

Personenregister

Silone, Ignazio  123

Verwey, Albert  15, 187–205

Simmel, Georg  51, 107 f.

Verwey, Kitty  187, 191, 197

Smuts, Jan  56–58

Vietta, Dorothea  91

Sombart, Werner  167

Vietta, Egon  91 f.

Soupault, Philippe  73

Vietta, Silvio  91

Spengler, Oswald  9, 12, 15, 49–60

Vondel, Joost van den  196

Spinoza, Baruch  99

Voßler, Karl  30

Sprecher Thomas  38 Stalin, Josef  121, 123

W

Stauf, Renate  8, 12, 15

Waetzold, Lili  167

Sternheim, Carl  103

Wagner, Richard  48, 112

Stier, Hans Erich  54

Wajda, Andrzej  206

Storm, Theodor  34

Wassermann, Jakob  123

Strasser, Gregor  53

Weber, Alfred  183

Strauss, Leo  14 f.

Weber, Max  103, 181

Strauss, Richard  62, 68–70, 79

Weill, Kurt  7

Stresemann, Gustav  40, 49, 56–58

Weininger, Otto  175

Strobel, Jochen  10, 13 f., 41

Welk, Ehm  127

Stuart, Maria  173

Wells, Herbert George  211 Wendelstadt, Julie von  66

T

Wenghöfer, Walter  172

Thälmann, Ernst  122

Werfel, Franz  9

Thies, Christian  158

Winnig, August  56

Thormaehlen, Ludwig  171 f.

Witkop, Philipp  30–32

Tiedemann, Rolf  94

Wittkowski, Georg  32

Toller, Ernst  42–44, 48

Wolfskehl, Hanna  189–191, 196, 198, 202

Toorop, Jan  188 Trotzki, Leo  121

Wolfskehl, Judith  191

Tucholsky, Kurt  9, 43, 122

Wolfskehl, Karl  15, 187–205 Wolfskehl, Renate  191

U

Wolters, Friedrich Wilhelm  167, 171 f., 175, 188, 202 f.

Ulbricht, Walter  122 Undset, Sigrid  211

Wurmser, André  121 Wysling, Hans  28

V Vallentin, Berthold  172

Z

Vanzetti, Bartolomeo  45

Zifferer, Paul  63, 73, 77

Vellusig, Robert  10

Zola, Émile  40



Kulturwissenschaft in der edition text+kritik

SACHE EINE ÄSTHETISCHE LEITDIFFERENZ IN DER MEDIENKULTUR DER WEIMARER REPUBLIK

/

Oliver Jahraus, Michaela Nicole Raß, Simon Eberle

DING Oliver Jahraus / Michaela Nicole Raß / Simon Eberle (Hg.)

Sache/Ding Eine ästhetische Leitdifferenz in der Medienkultur der Weimarer Republik 2017, 391 Seiten, s/w-Abb. € 48,– (D) ISBN 978-3-86916-639-1

Medienpluralismus ist das zentrale Kennzeichen der Kultur der Weimarer Republik. Dramatisch beschleunigte medientechnische Entwicklungen führen zu einem Bewusstsein von Medienkonkurrenz, auf das neben bildender Kunst, Oper und Theater auch die Literatur mit produktiven Verwandlungen, mit avantgardistischen Tendenzen oder Krisen reagiert. U. a. in der feuilletonistischen Kritik, in Manifesten und poetologischen Reflexionen werden immer wieder zwei antagonistische ästhetische Prinzipien genannt: auf der einen Seite Sache, Sachlichkeit, Versachlichung, auf der anderen Seite Ding, Dinglichkeit, Verdinglichung. Der Band liefert neue Interpretationen zu kanonischen Texten und zu Autorinnen und Autoren wie Ernst Jünger, Erich Kästner, Irmgard Keun, Siegfried Kracauer, Fritz Lang oder Rainer Maria Rilke.



Film

in der edition text+kritik

FILMEXIL SOWJETUNION CHRISTOPH HESSE

Hesse

FILMEXIL SOWJETUNION

Deutsche Emigranten in der sowjetischen Filmproduktion der 1930er und 1940er Jahre

Christoph Hesse

Filmexil Sowjetunion Deutsche Emigranten in der sowjetischen Filmproduktion der 1930er und 1940er Jahre 2017, 670 Seiten, s/w-Abb. € 49,– (D) ISBN 978-3-86916-552-3

Wenn man von einer Anti-Hitler-Koalition auch in der Filmgeschichte sprechen darf, dann ist Moskau ihre erste Station. Anders als in Hollywood, Paris oder London sollen dort schon ab 1933 antifaschistische Filme entstehen, und es sind auch Emigranten aus Deutschland, die hier ihren Beitrag zu leisten versuchen. Die vorliegende Studie bietet eine erste umfassende Darstellung: eine Filmproduktionsgeschichte, die auch die zahlreich dokumentierten Projekte und Pläne berücksichtigt, die sich aus vielsagenden Gründen nicht verwirklichen ließen. Dieser Zusammenhang erst gibt dem Begriff Filmexil seine politische Bedeutung.