Sprachgeschichte als Kulturgeschichte [Reprint 2012 ed.] 9783110807806, 9783110163735

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Sprachgeschichte als Kulturgeschichte [Reprint 2012 ed.]
 9783110807806, 9783110163735

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Sprachhistoriker als Soziologen. Über sprachwissenschaftliche Versuche zur Strukturierung sozialer Gemeinschaften
Verhalten und Veränderung. Ansatzpunkte einer ethologischen Grundlegung sprachlicher Kulturgeschichte
Individuelles Sprachverhalten und kulturelle Bedingungen in der deutschen Sprachgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts
Vornamen und Kulturgeschichte
Sprachgeschichte und Literatursprache
Sprachpatriotismus und Sprachnationalismus. Versuch einer historisch-systematischen Bestimmung am Beispiel des Deutschen
Deutsch als plurinationale Sprache im postnationalistischen Zeitalter
Nationale Sprach(en)kultur der Schweiz und die Frage der „nationalen Varietäten des Deutschen“
Grammatik und Kulturgeschichte. Die raison graphique am Beispiel der Epistemik
Der Gebrauch uneigentlicher Substantivkomposita im Mittel- und Frühneuhochdeutschen als Indikator kultureller Veränderung
Die kulturelle Dimension der Lexikografie. Am Beispiel der Wörterbücher von Adelung und Campe
Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch als Instrument der Kulturgeschichtsschreibung. Vom kulturhistorischen Sinn lexikographischer arbeit
Dialektgeographie als Kulturgeschichte. An Beispielen aus dem bairischen Dialektraum
Sprache, Kultur und Identität. Reflexionen über drei Totalitätsbegriffe
Kulturhistorische Dialektik und sprachliche Identität
Sprach-, Kultur- oder Willensnation? Über den beliebigen Umgang mit sprachgeschichtlichen Argumenten
Schafft Sprache kulturelle Identität?

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Sprachgeschichte als Kulturgeschichte

1749

1999

W G DE

Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben von Stefan Sonderegger und Oskar Reichmann

54

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999

Sprachge s chich te als Kulturgeschichte Herausgegeben von Andreas Gardt Ulrike Haß-Zumkehr Thorsten Roelcke

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999

Veranstaltet in Verbindung mit dem Internationalen Wissenschaftsforum der Universität Heidelberg und gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Sprachgeschichte als Kulturgeschichte / hrsg. von Andreas Gardt ... - Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (Studia linguistica Germanica ; 54) ISBN 3-11-016373-X

© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Oskar Reichmann gewidmet

Inhalt

Vorwort

1

Klaus J. Mattheier Sprachhistoriker als Soziologen. Über sprachwissenschaftliche Versuche zur Strukturierung sozialer Gemeinschaften 11 Thorsten Roelcke Verhalten und Veränderung. Ansatzpunkte einer ethologischen Grundlegung sprachlicher Kulturgeschichte 19 Gotthard Lerchner Individuelles Sprachverhalten und kulturelle Bedingungen in der deutschen Sprachgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts 41 Wilfried Seibicke Vornamen und Kulturgeschichte

59

Anne Betten Sprachgeschichte und Literatursprache

73

Andreas Gardt Sprachpatriotismus und Sprachnationalismus. Versuch einer historischsystematischen Bestimmung am Beispiel des Deutschen 89 Peter von Polenz Deutsch als plurinationale Sprache im postnationalistischen Zeitalter

115

Werner Koller Nationale Sprach(en)kultur der Schweiz und die Frage der „nationalen Varietäten des Deutschen"

133

Vilmos Agel Grammatik und Kulturgeschichte. Die raison graphique am Beispiel der Epistemik

171

Hans-Joachim Solms Der Gebrauch uneigentlicher Substantivkomposita im Mittel- und Frühneuhochdeutschen als Indikator kultureller Veränderung

225

Vili

Inhalt

Ulrike Haß-Zumkehr Die kulturelle Dimension der Lexikografie. Am Beispiel der Wörterbücher von Adelung und Campe 247 Jochen A. Bär/ Barbara Gärtner/ Mark Konopka/ Christiane Schlaps Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch als Instrument der Kulturgeschichtsschreibung. Vom kulturhistorischen Sinn lexikographischer arbeit

267

Peter Wiesinger Dialektgeographie als Kulturgeschichte. An Beispielen aus dem bairischen Dialektraum

295

Fritz Hermanns Sprache, Kultur und Identität. Reflexionen über drei Totalitätsbegriffe

351

Dirk Geeraerts Kulturhistorische Dialektik und sprachliche Identität

393

Frédéric Hartweg Sprach-, Kultur- oder Willensnation? Über den beliebigen Umgang mit sprachgeschichtlichen Argumenten

397

Christopher J. Wells Schafft Sprache kulturelle Identität?

411

Vorwort

1.

„Kultur" in der Sprachwissenschaft

Bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein war die Sprachgeschichtsschreibung weitgehend systemlinguistisch orientiert. Sowohl die historiografischen Ansätze der Junggrammatiker wie auch die des Strukturalismus zielten auf eine Beschreibung der einzelnen Ebenen des Sprachsystems des Deutschen, auch wenn die Sprachwissenschaft von Hermann Paul bereits als Kulturwissenschaft eingeordnet und damit von „Gesetzeswissenschaft" abgegrenzt worden war. Kulturelle Inhalte wurden aber allenfalls im Rahmen der Wortgeschichte mitbehandelt und ohne dabei den theoretischen Status von „Kultur" zu klären. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat die Sprachgeschichtsschreibung damit begonnen, ihren Gegenstandsbereich in die Sozialgeschichte auszuweiten. Indem Veränderungen des Sprachsystems in Korrelation zu gesellschaftlichen Veränderungen gesetzt werden, treten zunehmend Fragestellungen in den Blick wie ζ. B. das Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache oder die Auswirkungen schichtenspezifischer Verschiebungen in der Gesellschaft (z.B. der Herausbildung des Bildimgsbürgertums und des gewerbetreibenden Bürgertums in der Frühen Neuzeit) auf die Entwicklung der Sprache. In der jüngsten Zeit werden nun in der Sprachgeschichtsschreibung Überlegungen angestellt, den historiografischen Gegenstand über die Sozialgeschichte im engeren Sinne in die Kulturgeschichte zu erweitem. Dabei wird bzw. wurde der Kulturbegriff „verwissenschaftlicht", indem „Kultur" in einem umfassenden Sinne, nicht nur im Hinblick auf herausgehobene Kulturgüter wie ζ. B. die Schöne Literatur verstanden wird: als ein Netz von Bedeutungssystemen, anhand dessen sich Menschen die Welt und ihre Situation in ihr deuten und an dem sie ihr Handeln orientieren.' Sprachgeschichtsschreibung bedeutet danach, den Wandel sprachlicher Phänomene vor dem Hintergrund der Geschichte u.a. der Philosophie, der Religion, des politischen Denkens, der gesellschaftlichen Institutionen,

Mit dem Kultuibegriff befassen sich insbesondere die Beiträge von Solms, Haß-Zumkehr, Hermanns und Roelcke in diesem Band.

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Gardt/Haß-Zumkehr/Roelcke

selbstverständlich auch der Kunst (speziell der Literatur) und der Sozialgeschichte, bis hin zu einer Geschichte der „Mentalitäten" und einer .Alltagsgeschichte" zu beschreiben und zu1 beurteilen. Dabei sind diese Gegenstände und ihre Entwicklungen der Sprache nicht einfach nur vorgegeben, so dass Sprachgeschichte lediglich Spiegel der Kulturgeschichte wäre, sondern sie werden im gesellschaftlichen Diskurs, d.h. indem über sie sprachlich, mittels bestimmter Wörter und Redeweisen gehandelt wird, konstituiert. Eine solche Form der Sprachgeschichtsschreibung ist zwangsläufig interdisziplinär. Neuere Forschungen zeigen, dass vor allem mit geschichtswissenschaftlichen Ansätzen, die ihrerseits seit geraumer Zeit begrififs- und diskursgeschichtlich orientierte Methoden entwickelt haben, ein fruchtbarer Dialog zu führen ist.

2. Wandlungen des Kulturbegriffs Der Begriff der Kultur wurde im Verlauf der Germanistik- und Sprachwissenschaftsgeschichte unterschiedlich und auch verschieden scharf bestimmt. Da ist zum einen der Kulturbegriff der älteren Geisteswissenschaften, der konstitutiv war für die wissenschaftliche Begründung der deutschen „Kulturund Sprachnation". Zum zweiten wurde und wird „Kultur" auch in den Wissenschaften im gemeinsprachlichen Sinn verwendet, als gesellschaftlicher Bewertungsbegriff für sprachliche, literarische und sonstige Produkte (etwas ist „kulturell bedeutsam" oder „kultiviert"). An der Aufgabe einer Bildung von Sprachkultur hat die Sprachwissenschaft stets mitgewirkt. Zum dritten wird in den neueren Kulturwissenschaften (Kulturanthropologie, Kultursoziologie, Kulturgeschichte, Ethnologie usw.) ein eigener Kulturbegriff begründet. Danach bewegen sich die Angehörigen einer konkreten Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppe in einem differenzierten System sowohl sprachlicher als auch nicht-sprachlicher Zeichen, anhand dessen sie sich die Welt und ihre Situation in ihr deuten und ihr Handeln orientieren. Auf dieses aus mehreren Teilsystemen bestehende System, unter denen Sprache eine herausragende Rolle spielt, bezieht sich der moderne Begriff von Kultur; Kulturen sind somit immer auch selbstreferentielle Systeme. Nach dieser Auffassung weisen Kultur und Sprache wesentliche Gemeinsamkeiten (Zeichenhaftigkeit, Sozialität, Historizität, Selbstreferentialität) auf, die einen Vergleich geradezu herausfordern. Viertens wird von den modernen Naturwissenschaften, insbesondere in der Biologie, der Genetik und den Kognitionswissenschaften, die Frage nach

Vorwort

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Umwelt und Anlagen, mit anderen Worten: nach kulturellem Einfluss und vererbten Verhaltensdispositionen mittlerweile neu gestellt. Das Analogon zu dieser Entwicklung im Bereich der Sprachwissenschaft ist die Aufgabe, ihre zentrale theoretische Dichotomie von ,Sprachsystem' und .Sprachgebrauch' neu zu überdenken. Die Motive und Hintergründe der verschiedenen Bestimmungen von Kultur in- und außerhalb der Sprachwissenschaft zu klären, war eine der Aufgaben der Internationalen Konferenz, die vom 9. bis 11. Oktober 1997 im Internationalen Wissenschaftsforum der Universität Heidelberg stattgefunden hat und deren überarbeitete Beiträge in diesem Band veröffentlicht werden.

3. Neue Perspektiven für die Sprachgeschichtsschreibung Die gemeinsame Aufgabe der Autorinnen und Autoren dieses Bandes bestand darin, die Bedeutung des veränderten Kulturbegriffs - Kultur als umfassendes Orientierungssystem sprachlicher und nichtsprachlicher Zeichen - für die Sprachgeschichtsschreibung theoretisch zu umreissen und empirisch zu belegen. Den ersten thematischen Block bilden interdisziplinäre und solche Zugänge, die von außen, aus anderen gesellschaftlichen „Subsystemen" heraus auf die Sprachentwicklung blicken; beides ist für einen umfassenden, nicht auf Sprache beschränkten Kulturbegriff erforderlich. Nicht selten wurden und werden die generellen Beschreibungs- und Erklärungskonzepte von Sprachgeschichte der Methaphorik anderer Wissenschaften - der Geografie, der Psychologie, der Sozialwissenschaft entlehnt. Der erste Beitrag von Klaus J. Mattheier geht der Soziologie „in den Köpfen" der Verfasser von Sprachgeschichten nach, insbesondere den Vorstellungen, die Sprachhistoriker von gesellschaftlichen Strukturen, Schichtungen und Gruppen haben. Es wird deutlich, „in welchem Ausmaß ansatzweise soziologisch zu nennende Konzepte und Argumentationszusammenhänge zur Fundierung vorgefaßter sprachhistorischer Positionen gebraucht oder besser mißbraucht werden". Bisher noch ein weißer Fleck auf der Landkarte der interdisziplinären Bezüge der Sprachwissenschaft ist die Ethologie oder Verhaltensforschung, die Thorsten Roelcke auf Erklärungen des Verhältnisses von Sprache und Kultur hin befragt. Die Nähe von Biologie und Kultur ist begründet durch Zeichenhandeln und Umweltadaption aller Lebewesen in Abhängigkeit von der Evolution. Biologie und Sprachwissenschaft ist ferner gemeinsam, dass sie zwischen „Ererbtem" und „Erlerntem", d.h. zwischen anthropologischen

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Konstanten und kulturellen Spezifika unterscheiden und auch nach deren Wechselwirkungen fragen. Gotthard Lerchner untersucht die Rolle des Individuums in der Sprachgeschichte, u.a. durch Rückgriff auf sozialpsychologische und sozialphilosophische Theorien. Er zeigt, dass Zeiten des sozialen Umbruchs und kommunikativer Veränderungen, wie das Ende des 18. Jahrhunderts, besonders vielversprechend sind, um einerseits die objektiven Spielräume individuellen Sprachhandelns und andererseits die individuellen Sprachspiele als Ausdrucksformen kultureller, d.h. sozialer Identität zu untersuchen. Für Lerchner ist „kulturelle Identität" des Individuums die „begriffliche Verdichtung" mehrerer Faktoren, die durchaus in einem Spannungsverhältnis stehen. Die Einbeziehung psychologischer, rechtlicher, religionsgeschichtlicher Faktoren war fur die Vornamengeschichte immer selbstverständlich. „Vornamengeschichte ist Kulturgeschichte" - das führt Wilfried Seibicke in einem historischen Überblick vom Mittelalter bis in die Gegenwart vor. Besonders dominant scheinen hierbei die schichtenspezifischen und konfessionellen Faktoren. Aber die Namenforschung muss in Zukunft mit eingeschränkten Erkennismöglichkeiten rechnen: Der Datenschutz lässt seit einigen Jahren die Korrelierung von Vomamenwahl und Berufszugehörigkeit der Eltern nicht mehr zu. Literatur als Element von Kultur eröffnet mehrere Perspektiven auf ihre Rolle in der Sprachgeschichte. Anne Betten geht ihnen nach, indem sie einerseits darstellt, wie .Sprache in der Literatur' in der Sprachgeschichte bestimmt und eingeordnet wird, und andererseits den Einfluss der Sprache als literarisch eingeordneter Werke auf den allgemeinen Sprachgebrauch beschreibt. So fraglos der Bezug von Literatur auf einen wertenden Kulturbegriff ist, so problematisch erscheint die Grenzziehung zwischen Literatur- und Alltagssprache in der Vergangenheit und mehr noch in der Gegenwart. Normabweichung und Kreativität sind nicht auf die Literatur beschränkt. Der zweite Block umfasst das besondere Verhältnis von Politik- und Ideologiegeschichte zur Sprachgeschichte: Zunächst zeigt Andreas Gardt, wie die Größen Volk und Reich bzw. Nation in sprachideologischen Äußerungen von der frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert in einer Weise übereinander geblendet werden, „die eine analytische Trennung nahezu unmöglich macht". Wenn gesellschaftspolitische Faktoren einbezogen werden, wird dabei sichtbar, wie die Vergegenständlichung von Sprache, die Identifizierung wesenhafter Züge bzw. struktureller Merkmale einer Sprache mit (entsprechenden) Zügen des

Vorwort

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jeweiligen Volks bzw. der Nation zum Postulat der Überlegenheit des Eigenen und der Abwertung des Fremden fuhren. Peter von Polenz beleuchtet die Großgruppen-Identitäten der Deutschsprachigen unter dem Aspekt des Deutschen als plurinationaler Sprache. Die asymmetrische Sprachbewertung zugunsten der Reichs- bzw. Bundesdeutschen rief entsprechende separatistische Gegenreaktionen hervor. An historischen Beispielen wird gezeigt, dass die strukturlinguistische Definition von Varietät es bisher nicht zuließ, von verschiedenen Nationalvarianten des Deutschen zu sprechen; arealen Gliederungen hingegen wird in der Strukturlinguistik ein höherer Stellenwert eingeräumt als staatlichen. Tatsächlich spielt eine Nationalsprache in der Sprachbewusstseinsgeschichte eine wesentliche, soziolinguistisch zu bestimmende und identitätsrelevante Rolle, die in einer sozialhistorisch ausgerichteten Sprachgeschichte gut begründet werden kann. Werner Kollers Beitrag korrespondiert mit dem von v. Polenz, indem er dessen Forderung, u.a. das Schweizerhochdeutsch als „nationale Varietät" einzuordnen und entsprechend neben die Varietäten des deutschländischen und österreichischen Deutsch zu stellen, problematisiert. Koller argumentiert gegen eine „Nationalisierung" des Deutschen und fordert, dass die Linguistik der internen Variation der einen grenzübergreifenden und national unmarkierten Schriftsprache Deutsch Rechnung tragen soll. Die nationalstaatliche Dimension sei nur eine von vielen sozialen Dimensionen, die die interne Variation ausmachen; nur das gesprochene Schweizerdeutsch habe - neben der Viersprachigkeit als solcher - eine Schibboleth-Funktion, wohingegen das geschriebene Deutsch überstaatlich sei. Die Beiträge des dritten Blocks befassen sich mit den Folgen, die die Einbeziehung der Kategorie .Kultur' auf den Ebenen des Sprachsystems (Grammatik, Wortbildung, Lexik) bzw. in einzelnen sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen (Lexikografie, Dialektologie) hat oder haben könnte: Vilmos Ágel beschäftigt sich mit der scheinbaren „kulturellen Obdachlosigkeit" der Grammatik und macht die „schriftkulturerzeugte kopemikanische Wende dafür verantwortlich", dass „die Grammatik zu einem System quasi-naturwissenschaftlicher Formen, Strukturen und Techniken zugleich degradiert und hochstilisiert wurde". Im Zentrum der Argumentation steht die Epistemifizierung bei Sprechaktverben, deren Inventar sich im späten Frnhd. und frühen Nhd. stark ausdifferenzierte. Ágel führt die Epistemifizierung auf Literalisierung der Gesamtkultur zurück, betont aber, dass man Oralität gegenüber Literalität nicht als kulturell defizitär auffassen dürfe.

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Hans Joachim Solms fragt nach der kulturgeschichtlichen Dimension der Bildimg von Nominalkomposita, bei denen das Bezeichnungsmotiv die Schnittstelle von Sprache und Kultur markiert. Gemeinsam ist beiden Bereichen die Gründung auf Zeichenbildung bzw. Symbolisierungsprozesse in historischer Sicht. Dabei muss der Komposition eine andere kulturelle Funktion zugeschrieben werden als der Attribuierung: Komposita werden dekontextualisiert und in das raum-zeit-entbundene soziale Wissen der Sprecher integriert. Die Beobachtung, dass kulturelle Schlüsselwörter des Mhd. ausschließlich Simplizia, ab dem Fmhd. nahezu ausschließlich Komposita sind, lässt sich quantitativ untermauern und kulturell erklären: Substantivkomposita haben sich zuerst im Erfahrungsbereich der Realien und gebunden an die schriftsprachliche Vermittlung herausgebildet. Die kulturelle Doppelfunktion von Wörterbüchern als Instrument der Sprachkultur wie als sprachhistorisches Dokument beschreibt Ulrike HaßZumkehr am Beispiel zweier zeitlich benachbarter Werke, deren Verfasser allerdings unterschiedlichen soziokulturellen Milieus zugehören. Da Wörterbücher den Wortschatz ebenso wenig „abbilden", wie Sprache Welt „abbildet", sondern kulturspezifisch perspektivieren, müsste Kultur als Kategorie in die Lexikografietheorie eingeführt und bestimmt werden. Es wird gezeigt, dass nicht nur die Beispiele, sondern etliche andere konzeptionelle und methodische Entscheidungen der Lexikografen einer je spezifischen Kultur entsprechen und diese auch aktiv an die Wörterbuchnutzer vermitteln. Jochen Bär, Barbara Gärtner, Marek Konopka und Christiane Schlaps entfalten in ihrem Werkstattbericht zum Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (FWB) ein Panorama kulturgeschichtlicher Erkenntnisse, die in und durch lexikografische Arbeit allererst entstehen - wenn die Lexikografinnen und Lexikografen die kulturelle Dimension nicht negieren. Das FWB „[ist] durch die offensichtliche Bemühimg gekennzeichnet, die persönlichen Interpretationen und Wertungen des Lexikographen nach Möglichkeit als solche kenntlich zu machen und nicht als objektive Sachverhalte auszugeben." Dass die Dialektologie lange Zeit Laut- und Wortebene zur Geografie der Dialekte in Beziehung gesetzt hat und damit auch Verbindungen zwischen physikalischen und Naturgegebenheiten einerseits und sozialen wie kulturellen Faktoren andererseits zu ziehen gewohnt war, zeigt Peter Wiesinger im Rahmen seiner kurzen Dialektologiegeschichte. Allerdings sind heute kulturgeschichtliche Interpretationen von Dialekträumen und ihren Grenzen kein aktuelles Forschungsthema der Dialektologie mehr, weil man sie - zu Unrecht - nur auf mittelalterliche Verhältnisse bezogen glaubt. Wiesinger demonstriert aber die Reichweite kulturgeschichtlicher Aussagen der historischen Dialektgeografie an Beispielen aus dem Bairischen, die bis in die Neuzeit reichen.

Vorwort

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4. Sprache und kulturelle Identität Der letzte Block enthält die (z.T. erweiterten) Beiträge der Podiumsdiskussion, die das Rahmenthema unter der - bewusst provokativen - Fragestellung „Schafft Sprache kulturelle Identität?" durch drei außerdeutsche und einen deutschen Diskutanten beleuchtete. Mit „Identität" wird ein weiterer, zwischen öffentlicher Ideologie und wissenschaftlicher Terminologie schillernder Begriff eingeführt - nicht wenige der vorangehenden Beiträge verwenden ihn in fokussierender Weise, um das Verhältnis von Sprache und Kultur zu fassen. Man möchte die Frage stellen, ob der Begriff „kultureller Identität" nicht unter dasselbe Verdikt fällt, mit dem Hermann Paul 1886 den Begriff des „Volksgeistes" aus der Sprachwissenschaft verabschiedete. Die sog. Völkerpsychologie hatte seinerzeit einen letzten Versuch unternommen, mit dem Volksgeistbegriff sozial-kulturelle Phänomene zu verstehen. Darauf antwortete H. Paul: Das heisst durch Hypostasierung einer Reihe von Abstraktionen das wahre Wesen der Vorgänge verdecken. Alle psychischen Prozesse vollziehen sich in den Einzelseelen und nirgends sonst. Weder Volksgeist noch Elemente des Volksgeistes wie Kunst, Religion etc. haben eine konkrete Existenz, und folglich kann auch nichts in ihnen und zwischen ihnen vorgehen. Daher weg mit diesen Abstraktionen.2

Ist nicht auch Identität zunächst einmal etwas, das nur von Individuen gesagt werden kann? Und sind kulturelle, nationale Identitäten nicht Hypostasierungen oder Abstraktionen, „die sich störend zwischen das Auge des Beobachters und die wirklichen Dinge stellen"?' Die Kulturwissenschaften der letzten Jahrzehnte haben sich intensiv mit Bedingungen wie Möglichkeiten von Gruppenidentitäten befasst. Jan Assmann fasste jüngst die Diskussionen seit den 70er Jahren wie folgt zusammen: Identität ist eine Sache des Bewußtseins, d.h. des Reflexivwerdens eines unbewußten Selbstbildes. Das gilt im individuellen wie im kollektiven Leben. Person bin ich nur in dem Maße, wie ich mich als Person weiß, und ebenso ist eine Gruppe „Stamm", „Volk" oder „Nation" nur in dem Maße wie sie sich im Rahmen solcher Begriffe versteht, vorstellt und darstellt.4

„Identität" hat demzufolge durch Metaphorisierung eine weitere, neben die erste tretende Bedeutung erhalten. Das bedeutet allerdings, dass wir kollektive Identitäten nach dem Muster individueller Identitäten erfassen - und somit tatsächlich ein Stück weit hypostasieren und homogenisieren. Das Musterhafte ist aber gar nicht so abstrakt, wie Paul argwöhnt, denn es wird durch lexikalisch fixierbare Begriffe repräsentiert, mittels derer sich eine Kultur oder 2 3 4

Hermann Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, 9. unveränd. Aufl. Tübingen 1975, S. 11. H. Paul, ebd., in Fußnote. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München 1999, S. 130.

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eine Nation über ihr Selbstbild verständigt, „sich selbst weiß". Der Begriff der „(sozialen) Identität" ist für die Untersuchung der Selbstreferentialität von Kultur wesentlich und bildet gewissermaßen das Scharnier zwischen den Begriffen Sprache und Kultur. Allerdings sind Sprachgruppe und Kulturgruppe kaum jemals deckungsgleich, so betont Reichmann 1985: Dazu hat man sich zu vergegenwärtigen, daß zwischen Sprachgesellschaft (sich in gemeinsamer Sprache identifizierenden und nach außen abgrenzenden Gruppen) und Kulturgesellschaft (sich in gemeinsamen Kulturkomponenten identifizierenden und nach außen abgrenzenden Gruppen) trotz möglicher Überlagerungen deshalb ein prinzipieller Unterschied besteht, weil die Einzelgruppen einer Kulturgesellschaft mehrere Sprachen verwenden können und umgekehrt die Gruppen einer Sprachgesellschaft sich über den kulturellen Wechsel hinweg als Einheit identifizieren können.5

Die Außenperspektive der Podiumsteilnehmer ermöglicht, dass die Frage der kulturellen Identität zwar auch, aber nicht nur mit Bezug auf das Deutsche und (zunächst) auch nicht aus der Perspektive von Deutschen, Österreichern oder Schweizern behandelt wird. Ein Brite, ein Elsässer und ein Belgier legen hier die für ihre eigene Sprache und Kultur spezifische Sicht des Themas dar, auch im Kontrast zu ihrer Sicht der Verhältnisse im deutschsprachigen Raum. Fritz Hermanns' Beitrag stellen wir hier voran, weil er die Bedeutungen von Sprache, Kultur und Identität selbst ausführlich reflektiert, zueinander in Beziehung setzt und diese wie ähnliche andere Bezeichnungen als eigene semantische Klasse beschreibt. Seine Begriffskritik macht plausibel, inwiefern Sprache immer irgendeinen Teil der Kultur bezeichnet, allerdings einen sehr ,besonderen' Teil, der sein Ganzes, d.i. die Kultur erst konstituiert. Alle drei „Totalitätsbezeichnungen" verführen, auch die Lingusitik, zur Verdinglichung ihrer vermeintlichen Ganzheit, die in Wahrheit Diversitäten zusammenfasst. So wie es unbestritten viele sprachliche Existenzformen je Sprachgruppe und je Individuum gibt, so leben die Individuen auch mit vielen Partialidentitäten analog zu den Eigenschaften, die ein Mensch hat oder die ihm zugeschrieben werden; für Kultur gilt folglich ebenfalls: Jeder lebt in vielfaltiger kultureller Zugehörigkeit. Auch Dirk Geeraerts fragt kritisch: Welche Identität, und welche Sprache? Als gemeineuropäisch wird die Situation der Wahl zwischen einer (sozial und räumlich) beschränkten und einer übergreifenden Sprache, (Volkssprache/ Latein; Mundart/ Standard) charakterisiert. Dabei begegnen überall zwei Argumentationsmuster, die Geeraerts das ,Aufklärungsmuster" und das 5

Oskar Reichmann: Sprachgeschichte als Kulturgeschichte. Historische Wortschatzforschung unter gegenwartsbezogenem Aspekt, in: Alois Wierlacher (Hrsg.): Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik, München 1985, 111-122, hier 111.

Vorwort

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„romantische Muster" nennt, und aus deren Gegensatz Dialektik wird: Standard- bzw. „Hoch"sprache ist nach dem einen Muster neutrales Medium, nach dem anderen elitäres Instrument. Damit ist auch die kulturelle Identität, die der Hochsprache korrespondiert, eine multiple. Kulturelle Identität ist einem ideologischen Wertekonflikt unerworfen, den Sprachgeschichte in ihre Analysen mit einzubeziehen hat. Frédéric Hartweg zeigt an den sprachhistorischen Situationen des Eisass den Wandel der Sprachpolitik um 1789, die von einer historischen zu einer ideologischen Motivierung überging. Er arbeitet die argumentative Matrix der Sprachpolitik der Französischen Revolution heraus, die alle späteren Auseinandersetzungen festlegte. Dabei wechselten die einzelnen Argumente „nicht selten die Fronten" und fanden sogar Eingang in die „deutschen" Positionen eines Ε. M. Arndt oder J. G. Fichte. Christopher Wells beleuchtet das charakteristische Sprachverhalten in den Kulturen der beiden deutschen Staaten der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und kommt zu dem Schluss, dass , jede Kultur ein Erzeugnis der Ideologie ist, sprachlich untermauert und vermittelt". Es scheint, dass im Ausland (jedenfalls in Großbritannien) ein Zusammenhang gesehen wird zwischen einerseits der deutschen Teilung, einer doppelten und z.T. doppelbödigen Sprache und andererseits der als .sehr deutsch' geltenden Frage nach der „deutschen Identität". Der Tagungsbeitrag von Klaus-Peter Wegera ist auf dessen Wunsch nicht in den Sammelband aufgenommen worden und inzwischen an anderer Stelle erschienen.' Werner Koller konnte an der Tagung leider nicht selbst teilnehmen, hat seinen Beitrag dankenswerter Weise aber für die Publikation zur Verfugung gestellt. Wir danken Frau Dr. Brigitte Schöning vom Verlag Walter de Gruyter, dass sie den Band für die Reihe Studia Linguistica Germanica vorgeschlagen und sein Entstehen tatkräftig gefordert hat. Frau Dr. Theresa Reiter, Frau Gudrun Strehlow, Frau Doris Waschbüsch und den übrigen Mitarbeitern des Internationalen Wissenschaftsforums der Universität Heidelberg gebührt Dank für ihre so umsichtige wie freundliche Organisation, die die Tagung für alle Beteiligten atmosphärisch besonders angenehm machte. Stud. phil. Anne Spreckelsen hat nicht nur die Tagung organisatorisch begleitet, sondern auch die Druckvorlage mit verlässlicher Sorgfalt hergestellt; dafür möchten wir auch ihr herzlich danken. 6

Klaus-Peter Wegera: Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte des Alltags. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 1. Teilbd., 2. Aufl., hrgs. von Werner Besch, Anne Betten, Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger, Berlin, New York 1998, S. 139-159.

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Die Podiumsveranstaltung wie die Tagung insgesamt war von dem Wunsch getragen, die germanistische Sprachwissenschaft dem gesellschaftlichen Diskurs (wieder) anzunähern. In der Geschichte der Germanistik vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis 1945 und darüber hinaus ist ein solcher gesellschaftlicher Bezug mehrfach in problematischer Weise offensichtlich geworden und wurde nicht zuletzt dieser Erfahrungen wegen in der Folgezeit vielfach gänzlich abgelehnt. Die Beiträge dieses Sammelbands stellen die Frage des Gesellschaftsbezugs für die Gegenwart neu: Was vermag eine kulturbewusste Sprachwissenschaft dem gesellschaftlichen Interesse zu antworten, wo dieses Interesse sich auf den Bereich des Sprachlichen, darunter auch auf den der (sprach)kulturellen Identitätsfindung, richtet? Sprachgeschichte als Kulturgeschichte - in den thematischen Rahmen lässt sich das bisherige wissenschaftliche Werk Oskar Reichmanns stellen, zu dessen 60. Geburtstag die Herausgeber das Symposion veranstaltet haben. Ihm wurde daher dieser Band gewidmet. Heidelberg, im März 1999 Andreas Gardt, Ulrike Haß-Zumkehr, Thorsten Roelcke

Klaus J. Mattheier (Heidelberg)

Sprachhistoriker als Soziologen. Über sprachwissenschaftliche Versuche zur Strukturierung sozialer Gemeinschaften In einem inzwischen veröffentlichten Beitrag für die zweite Auflage des Handbuches Sprachgeschichte befindet sich ein Artikel mit dem Titel „Sprachgeschichte: Idee und Wirklichkeit". Sein Verfasser ist Oskar Reichmann (1998). Was in diesem Artikel geboten wird, kann man „Theorie der Sprachgeschichte" (vgl. Mattheier 1988, 1430f.) nennen, obwohl es sich grundsätzlich von Texten wie etwa den „Principien der Sprachgeschichte" unterscheidet, die Hermann Paul zuerst 1880 vorgelegt hat (Paul 1968). Während dort - zumindest im ersten Teil - die sprachlichen Veränderungen aus allgemeinen Prinzipien der Artikulation und Perzeption von Lauten quasi deduktiv abgeleitet werden, geht Reichmann ausdrücklich induktiv vor. Er gibt eine Übersicht darüber, auf welche Weise bisher deutsche Sprachgeschichte erzählt worden ist und gewinnt von dort aus eine Perspektive für die Formulierung allgemeiner Aussagen über Stmkturierungsmöglichkeiten sprachhistorischer Darstellungen. Da gibt es etwa Abschnitte über die in deutschen Sprachgeschichten erzählte Zeit, den erzählten Raum, das erzählte Sprachmedium und die Gewichtung der verschiedenen hierarchischen Ränge der Sprache. Ferner gibt es zwei Abschnitte, die sich mit der Rolle der Gesellschaft in den Sprachgeschichten beschäftigen: einen über „das erzählte sozialsprachliche Spektrum" und einen über „das erzählte soziosituative Spektrum". Mit dem Ausdruck „sozialsprachliches Spektrum" bezieht sich Reichmann auf die Tatsache, daß das Deutsche als historische Einzelsprache eine strukturiertheterogene Gesamtheit von sozialschichtigen und gruppenbezogenen Varietäten ist. Deren Verhältnis werde - so heißt es weiter - seit Moser (1957, 647ff.) gerne mittels des Bildes der Pyramide veranschaulicht. Genau an diesem Punkt möchte ich die Argumentation aufnehmen. Wenn wir induktiv durch einen vergleichenden Zugriff die verschiedenen sprachhistorischen Darstellungen in Beziehung setzen, stoßen wir auf generelle Beschreibungs- bzw. Erklärungskonzepte, die - oftmals in bildhafter Form - aus anderen Wissenschaften in unsere Sprachgeschichtsdarstellungen hineinragen. Das gilt für die Geographie und ihre Beziehung zur Dialektgeschichte ebenso wie für psychologisierende Argumentationsweisen bei der Bildung von Sprach-

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Klaus J. Mattheier

neuerungen und eben insbesondere für die Sozialwissenschaft, die etwa im Falle von Mosers Sprachgeschichte das Pyramidenmodell der Bevölkerungsschichtung liefert. Mit diesem Modell wird versucht, die gesellschaftlichen Beziehungen der Gruppen und Schichten von der Karolingerzeit bis zur Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts in der deutschen Sprachgeschichte ,in den Griff zu bekommen. Welche Problematik hinter diesem Vorgehen liegt, zeigt sich schon darin, daß sowohl die sozialschichtigen als auch die gruppenbezogenen Varietäten mit demselben Pyramidenmodell erfaßt werden. Das Konzept einer sozialen Schicht ist jedoch eng mit der bürgerlichen und städtischen Gesellschaft verbunden, in der tatsächlich die sozialen Beziehungen durch unterschiedliche Ränge sozialer Schichten auf einer Skala von Sozialprestige gestaltet werden. In einer geburtsständischen Feudalgesellschaft, die auch noch weitgehend agrarisch strukturiert ist, wird man es mit einem solchen Modell schwer haben. Auch fragt sich, wie etwa die berufsständisch-zünftlerisch strukturierte Gesellschaft spätmittelalterlicher Städte auf einer Skala unterschiedlichen Sozialprestiges erfaßt werden soll. Ich möchte nun, dem induktiven Zugriff Oskar Reichmanns folgend, durch eine vergleichende Betrachtung von deutschen Sprachgeschichten einige gesellschaftswissenschaftliche Vorstellungen und Theoriekonzepte umreißen, die - oftmals implizit - den sprachhistorischen Aussagen zugrundegelegt werden: es geht - wie der Titel sagt - um die Soziologie im Kopfe der Sprachhistoriker. Aber es geht natürlich letztlich auch um die zentrale Frage: auf welcher Ebene muß die Beschreibung eines einzelsprachigen Veränderungsprozesses ansetzen, wenn sie das gesellschaftliche Bedingungs- und Wirkungsgefüge mit berücksichtigen will (vgl. dazu auch Mattheier 1989). Aussagen über die Gesellschaft und ihre Strukturierungen bzw. ihre Entwicklungstendenzen kommen in deutschen Sprachgeschichten in der Regel in zwei relativ unabhängig nebeneinanderstehenden Zusammenhängen vor. Einmal finden sich in den Einleitungen der Sprachgeschichten häufig generelle Aussagen über die Rolle der gesellschaftlichen Gruppen und der Gesellschaftlichkeit überhaupt innerhalb der historischen Entwicklung von Sprachen. Und dann findet sich in der historischen Darstellung selbst ein mehr oder weniger dichtes Netz von soziologischen Einzelaussagen unterschiedlicher Art, die von Fall zu Fall als Erklärungshintergrund für sprachliche Entwicklungen herangezogen werden. In der Einleitung von Hermann Hirts 1925 in der 2. Auflage erschienenen „Geschichte der deutschen Sprache" heißt es, daß Sprache nicht etwa im Einzelmenschen geschaffen sei, sondern daß sie aus dem Mitteilungsbedürfnis Gleichstehender, durch gemeinsame Interessen und

Sprachhistoriker als Soziologen

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geregelten Verkehr miteinander verbundener Menschen erwachse. Otto Behagel skizziert in der Einleitung zu seiner Sprachgeschichte (1928) sogar einen recht komplexen vierfach gegliederten soziologischen Theoriezusammenhang als Grundlegung für sprachhistorische Entwicklung. Als ersten Gliederungsfaktor nennt Behagel sprachwirksame Vorgänge, die sich aus den allgemein gesellschaftlichen Vergesellschaftungsformen ergeben, wie etwa die Beziehung zwischen Vererbungsformen und Namensformen. Zweitens formuliert er die „äußerlichen" Vorgänge, wie die Wanderung der Völker oder die Übernahme fremder Techniken. Als dritten Faktor identifiziert Behagel sogenannte „seelische Vorgänge" beim Sprachwandel, meint jedoch unterschiedliche Grade der Bindung von Sprache an gesellschaftliche Zwecke, wie sie sich in den Begriffen „Ich-Sprache" und „Zwecksprache" zeigen (Behagel 1928, VIII). Als vierten Faktor nennt Behagel „geistesgeschichtliche Motivationen". Gemeint ist hiermit jedoch die Bindung der Sprachentwicklung an die Bildungsgeschichte und die Geschichte der alphabetisierten gesellschaftlichen Gruppen. Mit diesem Konzept einer Sprachgeschichte als Geschichte der schriftorientierten Bildung und ihrer gesellschaftlichen Trägergruppen nimmt Behagel ein bis in die 30er Jahre hinein weitverbreitetes Konzept von Sprachgeschichte als Bildungsgeschichte auf, das sich etwa auch bei Friedrich Kluge und Karl Vossler wiederfindet. Mit dem Hinweis darauf, daß sprachliche Veränderungen auch aus unteren Gesellschaftsschichten hervorgehen können, zeigt Behagel gleichzeitig die Gegenposition. Schon in der Klugeschen Sprachgeschichte tritt neben das Bildungskonzept das Volkstumskonzept, das dann besonders in den ersten Auflagen der Bachschen Sprachgeschichte entfaltet wird. Sprachgeschichte ist demnach Volkstumsgeschichte. Die verschiedenen im Volk sich ausbildenden Gruppen wirken zusammen in der gemeinsamen Arbeit an einer Volkssprache (Bach 1969). Aber auch der Ansatz von Theodor Frings ist hier zu nennen, der als Dialektologe dem Burdachschen Diktum von Sprachgeschichte als Bildungsgeschichte das Konzept Sprachgeschichte als Siedlungsgeschichte' entgegensetzt. In seinem genialen, wenn auch inzwischen problematisierten Entwurf von der Herausbildung der deutschen Standardsprache „aus dem Munde der bäuerlichen Kolonisten im ostmitteldeutschen Neusiedeiland im Zuge der Ostkolonisation" zeigt Frings, wie man sich Sprachveränderungen vorzustellen hat, die nicht ,νοη oben' sondern ,νοη unten' aus den bäuerlich-ländlichen Niederungen der Gesellschaft kommen. Allen derartigen, eher programmatischen Äußerungen zur Rolle der Gesellschaftlichkeit in der Sprachgeschichte folgen in den Darstellungen in der Regel recht magere ,Taten'. So greift etwa Hermann Hirt, der die Sprache an gesell-

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schañliche Verkehrskreise und Interessengruppen binden wollte, bei der Darstellung der mittelhochdeutschen Dichtersprache völlig unreflektiert auf populärsoziologische Elitetheorien zurück, wenn er feststellt: „(...) es liegt in der Natur der Sache, daß sich der Hofmann nach dem obersten Herrn richtet" (Hirt 1925, 122). Ein Blick auf diese eher impliziten und beiläufigen Bemerkungen zur Gesellschaftlichkeit in der Sprachgeschichte ist jedoch durchaus aufschlußreich. Denn aus dieser Perspektive kann man besser als über programmatische Äußerungen herausarbeiten, welche Vorstellungen von der Gesellschaftlichkeit des Menschen von Sprachhistorikern als bedeutsam angesehen werden. Zunächst sei die Sprachgeschichte von Hugo Moser (1950/69) vorgestellt, der, wie anfangs erwähnt, das Bild der Schichtenpyramide aus der Soziologie entlehnt. Im Zusammenhang mit der Diskussion um eine mittelhochdeutsche Dichtersprache erarbeitete Moser ein erstes soziologisches oder besser sozialhistorisches Konzept (1950/69, 122fF.). Für ihn ist die Trägergruppe der in den Dichtungen greifbaren mittelhochdeutschen Dichtersprache nicht die Gruppe der Dichter, sondern eine gesellschaftliche Formation, die er mit „Ritterschaft", „ritterlichen Kreisen", „Ministerialen" oder „höfischer Gesellschaft" bezeichnet. Diese Gruppe bildet aufgrund ihrer besonderen Lebensweise (Mobilität, Überregionalität) die Grundlage für die Ausbildung einer besonderen ritterlichen Verkehrssprache, die nun wiederum - in ihrer „staufischen", alemannisch-ostfränkischen Ausprägung - die Leitnorm für den Literaturstil des 12./13. Jahrhunderts gewesen ist. Zwar spricht Moser von einer ständisch beschränkten Sondersprache; welche Rolle das Ständekonzept dabei hat, wird jedoch nicht recht klar. Insbesondere auch deshalb, weil er im Zusammenhang mit dem Verfall des Rittertums von der Ausbildung ständischer Strukturen spricht, die sich etwa in Sondersprachen, wie die der Handwerker, des religiösen Bereichs oder der Kanzleien widerspiegeln. Seit dem späten Mittelalter sieht Moser den Gesellschaftsaufbau der deutschen Sprachgemeinschaft als eine Schichtenpyramide, in der die „oberen Schichten" bzw. die gebildeten Oberschichten die entscheidenden Weichen stellen, während die Sprache der Mittel- und Grundschichten in Derbheit befangen ist. Ein teils kovariierendes, teils kontrastierendes Konzept, die sozialen Wirkungen des Stadt/Land-Gegensatzes, wird nur selten herangezogen. Es zeigt sich etwa in der Moserschen These von der zentralen Bedeutung der gesprochenen Sprache der höheren städtischen Sozialschichten für die Ausbildung des Neuhochdeutschen. Diese insgesamt recht spärliche soziologische Fundierung der sprachhistorischen Darstellung von Moser, die weitestgehend mit unklaren und soziologisch nicht untermauerten Gesellschaftskonzepten arbeitet, erfüllt auch nicht

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ansatzweise, was in der Einleitung als Soziologisierung der Sprachgeschichte postuliert wird. Sprache erscheint dort als Ausdrucksform der Lebensäußerung einer Gruppe ,in innigem Zusammenhang mit deren Sonderart, Lebensart und Sonderbewußtsein'. Die sprachlichen Beziehungen zwischen den Gruppen sieht Moser geprägt durch den Nachahmungstrieb als wichtigste psychologische Triebkraft bei der Verbreitung sprachlicher Neuerungen. Und hier wird dann die unterschiedliche Position der einzelnen Gruppen innerhalb einer sozialen Schichtenpyramide bedeutsam - über deren Entstehung nichts gesagt wird. Die Grundschicht richtet sich - so Moser - weithin nach der Mittel- und Oberschicht; das Vorbild der Oberschicht ist entscheidend. In den unteren Schichten „entwickeln sich" Unterlegenheitsgefühle. Soweit die „soziologischen" Grundlagen der Sprachgeschichte von Hugo Moser. Die Sprachgeschichte von Adolf Bach stellt insofern eine Besonderheit dar, als auch die stark erweiterte 9. Auflage von 1969 immer noch insbesondere in ihren auf die Sprachgesellschaft bezogenen Passagen der Volkstumsideologie der ersten Auflage von 1938 verhaftet ist. Soziale Schichten sind für Bach Volksgruppen, die durch Verkehrsgemeinschaft charakterisiert sind. Sie unterliegen durchweg Ausgleichstendenzen in allen Bereichen psychischer Kollektiverscheinungen, also auch in der Sprachlichkeit, und sie bilden dadurch nach Ansicht von Bach eine Volksseele aus. Die Beziehungen zwischen den einzelnen sozialen Schichten des Volkes/Sprachvolkes werden durch eine im Text nicht weiter diskutierte gesellschaftliche Hierarchisierung der Verkehrsgemeinschaften und einen offenbar im Wesen des Menschen liegenden Nachahmungstrieb geregelt. Es ist die Rede von führenden Verkehrseinheiten, die von den führenden Kreisen bzw. Schichten, insbesondere von den kulturell führenden Verkehrsteilnehmern bestimmt werden und als vorbildliche Träger von Sprachformen empfunden werden. Im Rahmen der Standardsprachenbildung nimmt Bach dann mit den Gebildeten eine soziale Gruppe überragenden Ansehens und von nachhaltigstem Einfluß auf die Gesamtheit an, die insbesondere auch sprachlich führende Persönlichkeiten umfaßt und dadurch alle anderen Verkehrskreise des Sprachvolkes dominiert. In der Sprachgeschichte selbst werden diese soziologischen Zusammenhänge - ganz ähnlich wie auch bei Moser - insbesondere im Zusammenhang mit der Diskussion um eine mittelhochdeutsche Dichtersprache und in frühneuhochdeutscher Zeit thematisiert. Von einer breiten Masse, die bestimmt ist durch mundartlich-triebhaftes Sprachleben, wird eine gesellschaftlich führende Schicht unterschieden, die durch kulturelle Verfeinerung charakterisiert ist, und der der Formwille höchstes Lebensgesetz ist: das Rittertum, die Ritterkaste

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bzw. der Ritterstand. Die mittelhochdeutsche Dichtersprache in ihrer edlen Form konnte nach Ansicht von Bach nur „unter dem lebendigen Anhauch der Geisteshaltung des Rittertums gedeihen". Mit dem Verfall des Rittertums wurde die ritterliche Gemein- und Kunstsprache von dem „mundartlichungepflegten" städtischen Bürgertum und seiner Sprache überwuchert, die durch Verrohung des Ausdrucks und Verwilderung des Satzbaus gekennzeichnet ist. Für die frühe Neuzeit ergibt sich bei Bach ein völlig anderes soziologisches Tableau: Auch hier dominiert eine starke Hierarchisierung der Verkehrsgemeinschaften bzw. der sozialen Schichten. Von den unteren Schichten der Gesellschaft, die Bach in einer interessanten Neuprägimg „Mutterschichten der Gesellschaft" nennt, werden die höheren Schichten unterschieden: die sozialen Oberschichten. Diese bestehen für Bach aber offensichtlich nur aus .bildungsfrohen' Gruppen, aus den Gebildeten. Diese „Herrscher im Reiche des Geistes" sind die Träger der Höhen des Sprachlebens, aus denen sie die Hochsprache bilden, die dann in den folgenden Jahrhunderten von der , endlosen Schar der Unbekannten' übernommen wird. Hier wird deutlich, in welchem Ausmaß ansatzweise soziologisch zu nennende Konzepte und Argumentationszusammenhänge zur Fundierung vorgefaßter sprachhistorischer Positionen gebraucht oder besser mißbraucht werden. Unter den derzeit verwendeten Sprachgeschichten ist die vielbändige Sprachgeschichte von Hans Eggers (Eggers 1963) die am ehesten soziologisch zu nennende - sieht man von der gerade abgeschlossenen Sprachgeschichte von Peter von Polenz ab, auf die übrigens die meisten der hier formulierten Bedenklichkeiten nicht zutreffen. Eggers geht davon aus, daß für die Entwicklung der Sprache in jeder Epoche eine besondere gesellschaftliche Gruppe als „Gestalter" auszumachen ist. Das führt zu den bekannten vier führenden sozialen Gruppen: .Geistlichkeit' in althochdeutscher Zeit, .Rittertum' im Mittelalter, .Bürgertum' in der frühen Neuzeit und .Massengesellschaft' in der Neuzeit. In den einzelnen Epochen geben die geistig führenden Gruppen jeweils die Orientierungspunkte für die gesellschaftliche und auch die sprachliche Entwicklung an, da ihre Sprache auf weiterem Wissen und besserer Einsicht beruhe, als die Sprache des einfachen Mannes, die nur dem „lebensnahen Heute" verhaftet sei. Nur diese jeweils führenden Schichten sind nach Eggers an der ,3ewahrung der Erkenntnisse der Vergangenheit" und der „Bewältigung der großen Fragen der Zukunft" interessiert. „Daraus ergibt sich, daß zum mindesten Wortschatz und Ausdrucksmittel der Sprache führender Schichten in jeder menschlichen Gemeinschaft anders sein müssen als die der geführten Menge."

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Weiterhin nimmt Eggers für die Führenden in einer menschlichen Gesellschaft an, daß sie eine feinere geistige Struktur besitzen als die große Menge. Auf dieser Grundlage würden etwa bestimmte Intonationen und Lautgruppen von den Führenden als vulgär empfunden und deshalb von den höheren sozialen Schichten gemieden (Eggers 1963,1, 16). Diese pseudosoziologische Elitetheorie wird als loser Rahmen in die sprachhistorische Darstellung einbezogen. Wie sich Eggers vor diesem Hintergrund den Übergang von einer führenden sozialen Gruppe zu einer anderen vorstellt, das zeigt paradigmatisch seine Skizze des Überganges von der Rittergesellschaft zur Bürgergesellschaft. Durch das Aufblühen der Städte sei im späten Mittelalter die mittelalterliche städtische Ordnung von Geistlichkeit, Adel und Bauerntum gestört worden. Sprachlich spiegele sich das „in der hemmungslosen Zuwendung auch der Hof- und Adelskreise zu der derben ungezügelten Art der Sprache, die im Alltag der Städte herrschte". Als sich aber die Gesellschaft in einer neuen ständischen Struktur mit Fürsten, Adel, Städtern und Bauern konstituierte, wurde nach Ansicht von Eggers auch die verwilderte Sprache erneut in Zucht genommen. Was an der Sprache des Stadtvolkes echt war, verschmolz Luther mit dem, was die sprachliche Zucht der Humanisten an Gutem geleistet hatte. Auf diese Weise übernimmt das Bürgertum bei Eggers die intellektuelle Führerschaft und Gestaltung der Sprache. Innerhalb der städtischen Gesellschaft nahmen die Vertreter der Geistesmacht, die Gelehrten, ohne Zweifel den höchsten Rang ein. Sie standen den Höfen näher als jede andere bürgerliche Gesellschaftsschicht. Hier sollte deutlich geworden sein, welche seltsamen und besonders unter sozialhistorischer Perspektive eigenwilligen Deutungen sich aus den pseudosoziologischen Vorstellungen Eggers ergeben. Was ergibt sich nun aus dieser Reise durch die eigentümlichen Gesellschaftsvorstellungen deutscher Sprachgeschichten und ihrer Verfasser? Einmal wird deutlich, daß Sprachhistoriker offensichtlich weitgehend ohne klare Vorstellungen über die gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen, die die Soziologie und die Sozialgeschichte entwickelt haben, an die Analyse von sprachhistorischen Vorgängen gehen, die ohne ein soziologisches Grundgerüst nicht angemessen beschrieben werden können. Zugleich muß jedoch festgestellt werden, daß ein derartiger soziologischer Rahmen für Sprachgeschichte noch nicht erarbeitet worden ist. Zwar führen die Ansatzpunkte, Sprache als soziales Handeln aufzufassen, sicherlich auf den richtigen Weg. Es wird jedoch in den kommenden Jahren eine der zentralen

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Aufgaben der historischen Soziolinguistik sein, hier gesicherte sozialwissenschaftliche und sozialhistorische Grundlagen zu bekommen.

Literatur Bach, Adolf: Geschichte der deutschen Sprache. 9. Aufl. Heidelberg 1969 (LAufl. 1938). Behagel, Otto: Geschichte der deutschen Sprache. 5. Aufl. Berlin, Leipzig 1928. Eggers, Hans: Deutsche Sprachgeschichte. 4 Bde. Reinbek bei Hamburg 19631978. Frings, Theodor: Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache. Halle 1950. Hirt, Hermann: Geschichte der deutschen Sprache. 2. Aufl. München 1925. Kluge, Friedrich: Deutsche Sprachgeschichte. Werden und Wachsen unserer Muttersprache von ihren Anfangen bis zur Gegenwart. 2. Aufl. Leipzig 1925. Mattheier, Klaus J.: Das Verhältnis von sozialem und sprachlichem Wandel. In: U. Ammon u.a. (Hrsg.), Sociolinguistics (=HSK 3) Berlin, New York 1987/88, 1430-1452. Mattheier, Klaus J.: Sprachgeschichte als Sozialgeschichte. In: Bevölkerung, Wirtschaft, Gesellschaft seit der Industrialisierung. Festschrift für W. Köllmann. Dortmund 1990,293-310. Moser, Hugo: Deutsche Sprachgeschichte der älteren Zeit. In: DPhA Bd. 1, 1957,621-855. Moser, Hugo: Deutsche Sprachgeschichte. 6. Aufl. Tübingen 1969 (1. Aufl. 1950). Naumann, Hans: Versuch einer Geschichte der deutschen Sprache als Geschichte des deutschen Geistes. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur-und Geistesgeschichte 1 (1923), 139-160. Paul, Hermann: Prinzipien der Sprachgeschichte. 8. Aufl. Tübingen 1968 (1. Aufl. 1880). Reichmann, Oskar: Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung. In: W. Besch u.a. (Hrsg.): Sprachgeschichte (=HSK 3), 2. Aufl. Berlin, New York 1998, 1-41. Vossler, Karl: Geist und Kultur in der Sprache. Heidelberg 1925.

Thorsten Roelcke (Heidelberg)

Verhalten und Veränderung Ansatzpunkte einer ethologischen Grundlegung sprachlicher Kulturgeschichte 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Vorbemerkung Dualismus sprachlicher Natur und sprachlicher Kultur Sprach- und Kulturgeschichte als Wirklichkeitsadaption Biologische Grundlagen sprachlicher Kulturgeschichte Ethologische Ansätze zur Beschreibung sprachlicher Kulturgeschichte Schlußbemerkungen Literatur

1.

Vorbemerkung

Die Auffassung von Sprachgeschichte als Kulturgeschichte eröffnet bei einem weit gefaßten Kulturbegriff zahlreiche interdisziplinäre Ansatzpunkte. Zu diesen Ansatzpunkten gehört auch die Frage nach den naturwissenschaftlichen Grundlagen von Sprache und deren Geschichte. Die vorliegenden Überlegungen gehen auf mehrere Gespräche zurück, die ich bereits vor einigen Jahren mit Oskar Reichmann geführt habe. In dieser Zeit setzten wir uns unter sprachgeschichtlichen Gesichtspunkten durchaus strittig mit der Frage auseinander, inwieweit der Gebrauch von Sprache biologisch oder kulturell bestimmt sei. Wir kamen damals zu keinem Ergebnis, das beide Seiten hätte restlos befriedigen können, und unsere Gespräche führten uns in andere Bereiche. Der Problembereich der Natur- und Kulturabhängigkeit von Sprache und deren Geschichte hat indessen nichts von seiner Bedeutung verloren; im Gegenteil: Bei den Vorüberlegungen zu der Tagung „Sprachgeschichte als Kulturgeschichte" wurde deutlich, daß gerade der Kulturbegriff, der hier zur Diskussion steht, einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Lösung dieses Problems leisten kann. Unter der Annahme, daß sich die Fähigkeit zu sprechen im Laufe der Evolution erst verhältnismäßig spät herausgebildet hat und sich dabei auf einfachere biologische Strukturen gründet, liegt es nahe, sich der Frage nach den naturgeschichtlichen Grundlagen sprachlicher Kulturgeschichte von Seite der

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Biologie und hier insbesondere von Seite der Ethologie, das heißt der Verhaltensforschung her zu nähern.

2.

Dualismus sprachlicher Natur und sprachlicher Kultur

2.1 Sprache als Interaktionsmittel zwischen dem Individuum und dessen Umwelt Es erscheint heute als Allgemeinplatz, daß Sprache nicht etwa entweder als eine rein natürliche oder als eine rein kulturelle Erscheinung anzusehen ist. Sie wird vielmehr als ein Phänomen betrachtet, das sowohl natürlichen als auch (hierauf aufbauend) kulturellen Bedingungen unterliegt. So stark jedoch auch diese allgemeine Übereinstimmung hinsichtlich des Dualismus von sprachlicher Natur und sprachlicher Kultur als solchem ist: Mit der näheren Bestimmung von deren Verhältnis im einzelnen tut man sich demgegenüber oftmals recht schwer. Dies gilt insbesondere dann, wenn darüber hinaus noch sprachund kulturgeschichtliche Gesichtspunkte Berücksichtigung finden sollen. Der Grund hierfür liegt vermutlich darin, daß die Biologie und die verschiedenen philologischen Fächer in der Regel von einander fremden theoretischen und methodischen Grundsätzen ausgehen und somit nur unter gewissen Schwierigkeiten in einen gemeinsamen Dialog treten können. Um vor diesem Hintergrund nun einige Ansatzpunkte für eine nähere Bestimmung der biologischen Grundlagen sprachlicher Kulturgeschichte zu ermöglichen, ist es zunächst also erforderlich, von einer gemeinsamen und dabei auch möglichst einfachen theoretischen Basis für die Beschreibung natürlicher und kultureller Erscheinungen auszugehen. Eine solche gemeinsame Basis zeigt sich beispielsweise im Hinblick auf die semiotische Interaktion zwischen dem einzelnen Individuum und seiner Umwelt: Der Mensch kann hierbei sowohl von biologischer als auch von philologischer Seite her als ein Wesen aufgefaßt werden, das anhand von sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen zahlreiche verschiedenartige Informationen aus seiner Umwelt rezipiert, diese interpretiert und darauf in mehr oder weniger angemessener Weise reagiert - und sei es wiederum seinerseits durch Produktion weiterer Zeichen. Das Erkenntnisinteresse der Biologie (und hier insbesondere der Ethologie und der Zoosemiotik) gilt hierbei unter anderem den diversen Gemeinsamkeiten und Unterschieden, die zwischen der semiotischen Interaktion von Menschen und deijenigen anderer Lebewesen, seien es nun Primaten oder weiter entfernte Tierarten, festzustellen sind. Das Untersu-

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chungsziel der philologischen Fächer bezieht sich demgegenüber lediglich auf die semiotische Interaktion bei menschlichen Gemeinschaften, wobei der Betrachtung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden verschiedener Einzelsprachen und deren Varietäten eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Das „missing link" im Rahmen einer Untersuchung der biologischen Grundlagen sprachlicher Kulturgeschichte ist hiernach also in den Gemeinsamkeiten zu suchen, welche semiotische Interaktion von Lebewesen im allgemeinen und sprachliche Interaktion von Menschen im besonderen auszeichnen, um im Anschluß hieran die Besonderheiten sprachlicher Interaktion und deren Geschichte näher bestimmen zu können. Ein erster wichtiger Schritt auf diesem Weg besteht darin, sich den Gemeinsamkeiten und Besonderheiten sprachlicher gegenüber anderen Zeichen selbst zu widmen, um hiervon ausgehend die semiotischen Bedingungen sprachlicher Interaktion bestimmen zu können. 2.2 Anthroposemiotische Merkmale der Sprache Unter dem Blickwinkel der semiotischen Interaktion wird der Mensch also als ein Wesen betrachtet, das anhand von Zeichen Informationen verarbeitet. Diese semiotische Verarbeitung von Informationen stellt indessen nur eines von drei Verfahren der Informationsverarbeitung von Lebewesen dar. Diese sind: Erstens die genetische Informationsverarbeitung von Vererbungen auf der Basis der DNA, zweitens die neuronale Informationsverarbeitung von Umwelteinflüssen durch das Nervensystem und drittens schließlich die intellektuelle Informationsverarbeitung, die sich auf die Speicherung und Weitergabe von Informationen auf separaten, vom Individuum getrennten Informationsträgem gründet. Diese drei Verfahren bauen aufeinander auf, d.h. die intellektuelle Informationsverarbeitung ist ohne eine genetisch bedingte Veranlagung sowie eine entsprechende physiologische Wahrnehmungsverarbeitung nicht denkbar. Der Gebrauch von Zeichen ist im Rahmen dieser Einteilung als intellektuelle Verarbeitung von Informationen anzusehen, da deren Speicherung und Weitergabe nicht allein auf der Grundlage der DNA und verschiedener Umwelteinflüsse, sondern darüber hinaus über separate Informationsträger erfolgt. Das Zeichen selbst ist der Konzeption der intellektuellen Informationsverarbeitung nach als etwas anzusehen, das dem Zeichenbenutzer als Stellvertreter für etwas anderes dient. Somit entspricht dies der klassischen Zeichendefinition des „aliquid stat pro aliquo". Hier lassen sich wiederum verschiedenartige Unterscheidungen treffen, wobei sich im Rahmen biosemiotischer Fragestellungen etwa diejenige von Charles Sanders Peirce als besonders geeignet erweist. Hiernach sind drei Zeichentypen zu unterscheiden: Index (Kausalzu-

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sammenhang zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem, Symptom), Ikon (ÁhnlichkeitsZusammenhang zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem) sowie Symbol (Zuordnungszusammenhang zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem). Sprachliche Zeichen sind dieser Einteilung zufolge nun Symbole, da sie (von ikonischen Onomatopoetika wie Kuckuck oder Wauwau abgesehen) in der Regel weder in einem Kausal- noch in einem Ähnlichkeitszusammenhang zu dem jeweils Bezeichneten stehen. Die Einordnung sprachlicher Zeichen als Symbole ist zwar notwendig, nicht aber hinreichend, um sie von nichtsprachlichen Zeichen des Menschen und anderer Lebewesen zu unterscheiden. Vor diesem Hintergrund werden von seiten der Anthroposemiotik weitere Merkmale erörtert, die eine solche Abgrenzung ermöglichen sollen. Die bekannteste Zusammenstellung solcher Bestimmungsmerkmale stammt von Charles Hockett (1963). Hiernach zeichnet sich die Vermittlung von sprachlichen Zeichen durch eine Rundumübermittlung unter Nutzung des vokalisch-auditiven Kanals bei einem schnellen Verklingen der Zeichen aus; Sprecher und Hörer können ausgetauscht werden (Bidirektionalität der semiotischen Interaktion), wobei der Sprecher die Möglichkeit eines vollständigen Feedbacks hat; die sprachlichen Zeichen selbst sind durch Spezialisierung (auf Kommunikation), Semantizität, Arbitrarität und Diskretheit sowie eine sog. „doppelte Gliederung" des Inventars gekennzeichnet; der Redegegenstand kann räumlich oder zeitlich entlegen sein; der Gebrauch sprachlicher Zeichen erfolgt mit Produktivität und Tradierung; es besteht die Möglichkeit der Täuschung (Unwahrheit), der Reflexivität (Metasprache) und Lernbarkeit (fremder Sprachen). Es ist hier weder die Zeit noch der Ort, diese Aufstellung im einzelnen zu diskutieren. Wichtig ist in diesem Zusammenhang allein die Tatsache, daß nahezu alle diese Merkmale jeweils bei einzelnen Tierarten ebenfalls anzutreffen sind (vgl. bereits Thorpe 1972). Ausnahmen bilden dabei allein die „doppelte Gliederung" sowie die Möglichkeit von Täuschung und Reflexivität. Die Besonderheiten der Zeichen menschlicher Sprache sind im Vergleich zu Zeichen anderer Lebewesen somit also kaum absolut, sondern lediglich relativ in der Kombination und Komplexität der einzelnen Merkmale zu suchen. Folgt man der jüngeren Forschung, fallen hierbei vor allem diejenigen Merkmale von Sprache ins Auge, die in enger Verbindung, wenn nicht in wechselseitiger Abhängigkeit mit den sozialen und kognitiven Fähigkeiten des Menschen stehen (vgl. zusammenfassend zuletzt Franz Wuketits 1997): Zu diesen Merkmalen zählen unter anderem der hohe Abstraktionsgrad von Sprache zusammen mit der Möglichkeit der (räumlichen oder zeitlichen) Entlegenheit sowie der Unwirklichkeit oder Unwahrheit des sprachlich Bezeichneten, die Kombinierbarkeit der Sprachzeichen und die daran gebundene Möglichkeit der differenzierten Informationsübermittlung, sowie schließlich der sozial und kognitiv

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konstruktive Charakter von Sprache, d.h. deren Einfluß auf das Verhalten des Menschen und sein Erkennen. Aus anthroposemiotischer Sicht sind sprachliche Zeichen also Symbole im Rahmen einer intellektuellen Informationsverarbeitung: Sie zeichnen sich gegenüber anderen Arten von Zeichen durch ein weitgehendes Fehlen von Kausal- und Ahnlichkeitszusammenhängen zum Bezeichneten aus. Im Unterschied zu anderen Arten von Symbolen sind sie wiederum durch ein hohes Maß an Abstraktion und Differenzierung sowie hierauf aufbauend an Variabilität im Hinblick auf die Bewältigung der außersprachlichen Wirklichkeit (in epistemologischer und ethologischer Hinsicht) gekennzeichnet. Vor dem Hintergrund dieser Konzeption sprachlicher Zeichen tritt nun der Kulturbegriff der jüngeren Sprachwissenschaft und Philologie ins Blickfeld, dem zufolge Kultur nicht als Menge künstlerischer Höhenflüge, sondern vielmehr als Adaption einer menschlichen Gemeinschaft an deren Umwelt aufzufassen ist.

3.

Sprach- und Kulturgeschichte als Wirklichkeitsadaption

3.1 Philologische Gesichtspunkte Die herkömmliche Kulturkonzeption ist noch bis in unsere Tage in einem starken Maße durch politische oder durch künstlerische Gesichtspunkte geprägt. Im ersten Fall wird Kultur als Identifikationsmittel einer größeren menschlichen Gemeinschaft angesehen: Die Kultur einer wie auch immer weiter zu bestimmenden Nation gestattet somit deren Unterscheidung von anderen Nationen. Der Gesichtspunkt der nationalen Identifikation tritt dabei in der Wendung der „Sprach- und Kultumation" besonders deutlich zutage. Diese Wendung läßt darüber hinaus auch die hohe Bedeutung erkennen, die der Sprache als nationalem Identifikationsmittel zuerkannt wird. Hierbei ist zu beachten, daß „Sprache" nicht als akulturelle Erscheinung neben „Kultur" angesehen, sondern vielmehr als ein derart konstitutiver Anteil an der nationalen Kultur betrachtet wird, daß ihr hierbei eine herausragende Stellung zukommt. Die künstlerisch geprägte Konzeption von Kultur ist demgegenüber weniger durch den gruppen- oder nationalkonstitutiven Aspekt als vielmehr durch den Gesichtspunkt der Variabilität und Selbstreflexivität gekennzeichnet. Kultur gilt hierbei vor allem als das Ergebnis menschlicher Kreativität, die sich in ganz unterschiedlichen Bereichen äußern kann. Zu diesen Bereichen gehört unter anderem wieder der Gebrauch von Sprache, dessen herausragende

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Rolle nicht zuletzt auch durch die bis in die Antike und weiter zurückreichende Diskussion um die Poetizität literarischer Texte deutlich wird. Im Unterschied zu diesen beiden Ausprägungen der herkömmlichen Kulturkonzeption rückt nun die jüngere philologische und sprachwissenschaftliche Diskussion um den Kulturbegriff vor allem den Charakter der Adaption von Wirklichkeit in den Vordergrund. Kultur wird hierbei als ein System von Begriffen und deren Beziehungen aufgefaßt, vor dessen Hintergrund Informationen aus der Umwelt interpretiert werden, um in geeigneter Weise darauf zu reagieren. Kultur stellt somit ein kognitives und soziales Orientierungssystem dar, das es dem Menschen jeweils erlaubt, sich unter komplexen Daseinsbedingungen erfolgreich zurechtzufinden. Sie dient hiernach also nicht allein der gesellschaftlichen Identifikation, sondern trägt vielmehr bereits zur Ausbildung und Organisation menschlicher Gemeinschaften bei; und sie tritt nicht nur im Rahmen künstlerischer Kreativität, sondern in nahezu sämtlichen Lebensbereichen wie Religion, Wirtschaft, Familie oder zahlreichen Alltagssituationen zutage. Aus semiotischer und linguistischer Sicht kommt hierbei der Verwendung sprachlicher und nichtsprachlicher Zeichen insofern eine hohe Bedeutung zu, als die semiotische Interaktion dieses Orientierungssystem nicht allein widerspiegelt, sondern vielmehr bereits zu dessen Konstitution beiträgt. Kulturgeschichte läßt sich dieser jüngeren Kulturkonzeption nach als eine Veränderung des kognitiven und sozialen Orientierungssystems einer menschlichen Gemeinschaft bestimmen. Unter der Annahme, daß der Gebrauch von Sprache konstitutiv für dieses Orientierungssystem ist, kann Sprachgeschichte dann als Veränderung von dessen semiotischer Konstitution und somit als Grundlage der Kulturgeschichte angesehen werden: Die Beschreibung sprachlicher Veränderungen ist demzufolge als Beschreibung kultureller Veränderungen im Sinne von Veränderungen in dem kognitiven und sozialen Orientierungssystem einer menschlichen Gemeinschaft zu verstehen. Es ist an dieser Stelle weder möglich noch erforderlich, sämtliche Erklärungsmöglichkeiten für solche Veränderungen, die von sprachwissenschaftlicher Seite bislang vorgeschlagen wurden, zu diskutieren. Eine einzelne Beobachtung erscheint in diesem Zusammenhang jedoch wichtig: Diese besteht darin, daß Sprachgeschichte in der jüngeren Sprachwissenschaft entweder aus dem System einer Sprache selbst heraus erklärt wird (systemlinguistische bzw. strukturalistische Sprachwandeltheorien) oder auf verschiedenartige gesellschaftliche Bedingungen des Sprachgebrauchs zurückgeführt wird (soziopragmatische Sprachwandeltheorien). Systemlinguistische Sprachwandeltheorien tragen dabei in aller Regel recht wenig zu der Erklärung von Sprach- als Kulturgeschichte bei. Soziopragmatische Theorien leiten dagegen zumeist die sprachlichen Veränderungen lediglich aus kulturellen Veränderungen ab, ohne den Grund solcher Veränderungen selbst wiederum zu reflektieren: Vor dem Hintergrund des

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kulturkonstitutíven Charakters von Sprache verbleiben sie somit in einem Argumentationszirkel, indem durch die Beschreibung von Kulturgeschichte eben nur ein Stück der hierbei konstitutiven Geschichte von Sprache beschrieben, nicht aber letztendlich erklärt wird. Zu der Auflösung dieses (philologisch durchaus erhellenden) Argumentations- oder besser: Beschreibungszirkels ist ein gemeinsames Erklärungsmodell für Sprach- und Kulturgeschichte erforderlich. Ein solches Modell nun läßt sich auf der Grundlage einer biologischen bzw. ethologischen Konzeption sprachlicher Kulturgeschichte im Rahmen der semiotischen Interaktion entwickeln. 3.2 Biologische Gesichtspunkte Die Kulturkonzeption der jüngeren Biologie und hier insbesondere der (Human-)Ethologie (vgl. etwa Eibl-Eibesfeldt 1986) setzt vor allem an der Variabilität des Verhaltens einzelner menschlicher Gemeinschaften an. Danach wird art- bzw. humanspezifisches Verhalten als nichtkulturell, gruppenspezifisches Verhalten innerhalb der menschlichen Art hingegen durchaus bereits als kulturell aufgefaßt. Dabei werden im Hinblick auf deren Herkunft mindestens zwei verschiedene Typen gruppenspezifischer Verhaltensweisen unterschieden: Einerseits solche, die jeweils aus der unmittelbaren Erfahrung der einzelnen Individuen einer Gruppe entspringen, und andererseits solche, die von einzelnen Individuen einer Gruppe auf andere Individuen dieser Gruppe überliefert werden und somit eine Tradition bilden. Dabei baut die Tradition von Verhaltensweisen auf die unmittelbare Erfahrung der einzelnen Individuen, die diese durch Nachahmung übernehmen, auf. Einem engeren Verständnis zufolge ist Kultur dann allein als ein tradiertes gruppenspezifisches Verhalten zu betrachten. Der Gebrauch von Sprache schließlich zählt dabei zu den tradierten gruppenspezifischen Verhaltensweisen, da dessen gruppenspezifische Besonderheiten nicht allein individueller Erfahrung, sondern einer Überlieferung zwischen verschiedenen Individuen unterliegen. Bereits vor diesem Hintergrund erfährt das Thema der Tagung „Sprachgeschichte als Kulturgeschichte" auch aus biologischer Warte eine hohes Maß an Aktualität und bedarf somit einer etwas genaueren Erläuterung. Trotz aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Sprachen wird der Gebrauch von Sprache als solcher von nahezu sämtlichen Menschen (sofern sie nicht in entsprechender Weise körperlich oder geistig behindert sind) ab einem bestimmten Alter mehr oder weniger gut beherrscht. Hiernach darf von einer artspezifischen Fähigkeit des Menschen zum Gebrauch von Sprache ausgegangen werden: Der Mensch verfügt ganz offensichtlich über so etwas wie einen „Sprachinstinkt" (Pinker 1994), eine humanspezifische semiotische Verhaltensprädisposition, die in der Ausbildung und dem Gebrauch von Spra-

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che besteht. Dabei fällt des weiteren auf, daß verschiedene menschliche Gruppen oder Gesellschaften zwar unterschiedlich komplexe Formen des Zusammenlebens herausgebildet haben (also diverse Grade an Kultiviertheit zeigen), deren Sprachen jedoch jeweils ähnlich komplex und dabei strukturell miteinander vergleichbar sind (also keine Abhängigkeit von dem betreffenden Grad an Kultiviertheit zeigen). Demnach ist von so etwas wie einer „latenten Sprachstruktur" (Lenneberg 1972,457f.) auszugehen, einer humanspezifischen semiotischen Strukturprädisposition, auf deren Basis die Ausbildung und der Gebrauch von Sprache selbst erfolgen. Dieser Argumentation nach sind also sowohl die Fähigkeit des Menschen zum Gebrauch von Sprache als auch die allgemeine Struktur von Sprache selbst bei aller einzelsprachlichen Variation zunächst einmal artspezifisch universal. Die Sprache als solche (um mit de Saussure zu sprechen: die langage) stellt somit keine kulturelle Errungenschaft dar, sondern gehört zur natürlichen Ausstattung der menschlichen Art. Auf der Grundlage dieser natürlichen Ausstattung sind nun verschiedenartige Ausprägungen der menschlichen Sprache möglich: Das Bestehen einer humanspezifischen semiotischen Verhaltens- und einer entsprechenden Strukturprädisposition erzwingen eben nicht die Ausbildung von genau einer universellen Sprache, sondern lassen vielmehr die Ausbildung zahlreicher unterschiedlicher Einzelsprachen (nach de Saussure etwa im Sinne von langue) zu. Diese Ausbildung einzelner Sprachen erfolgt im Rahmen der semiotischen Interaktion der verschiedenen Individuen einzelner Lebensgemeinschaften unter den für sie jeweils spezifischen Umweltbedingungen, stellt also auch aus biologischer Sicht eine Adaption an die Wirklichkeit dar. Dabei fließen nicht allein gruppenspezifische Erfahrungen der Individuen, sondern hierauf aufbauend auch Überlieferungen zwischen den Individuen in das sprachliche Verhalten ein: Auf der Basis der humanspezifischen Prädispositionen semiotischen Verhaltens und sprachlicher Strukturen bestehen also im Rahmen der semiotischen Interaktion einzelner menschlicher Gruppen sozietätsspezifische semiotische Verhaltensweisen und Sprachstrukturen, in welche die Erfahrungen und Überlieferungen der betreffenden Gruppen jeweils eingehen. Nach dieser weitergehenden Argumentation ist somit also die artspezifische Universalität der menschlichen Sprachfähigkeit und Sprachstruktur um ein kulturelles Moment zu ergänzen, indem deren Ausbildung jeweils sozietätsspezifisch und dabei tradiert erfolgt. Der biologischen Kulturkonzeption zufolge ist sprachliche Kulturgeschichte schließlich als eine Veränderung der sozietätsspezifischen Prädispositionen semiotischen Verhaltens einschließlich der entsprechenden sprachlichen Strukturen zu charakterisieren. Die Beschreibung sprachlicher Veränderungen ist demnach als Beschreibung kultureller Veränderungen im Sinne von Veränderungen der semiotischen Prädispositionen einer menschlichen Gemeinschaft

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anzusehen. Im Gegensatz zu den Erklärungs- oder Beschreibungsmodellen der modernen Philologie, die sich hinsichtlich des Verhältnisses von Sprach- und Kulturgeschichte durch einen weitgehend zirkulären, wenn auch erhellenden Charakter auszeichnen, zeigt hier die Biologie durchaus die Möglichkeit einer gemeinsamen Grundlage der Beschreibung und Erklärung von Sprach- und Kulturgeschichte. Diese gemeinsame Grundlage findet sich im Rahmen der Evolutionstheorie und soll im Folgenden kurz umrissen werden. Zuvor ist es jedoch erforderlich, auf einige physiologische Grundlagen des Sprachgebrauchs einzugehen, ohne die evolutionstheoretische Erläuterungen zum Wandel von Sprache nur zum Teil verständlich wären.

4.

Biologische Grundlagen sprachlicher Kulturgeschichte

4.1 Physiologische Gesichtspunkte Aus physiologischer Sicht ist hier zunächst an einige Besonderheiten des menschlichen Körperbaus zu denken, welche den Gebrauch von Sprache überhaupt erst ermöglichen: Hierzu zählen die Ausbildung der Sprechorgane (Entstehung der Stimmorgane, Senkung des Kehlkopfes, Rückbildung der Kiefer, Entwicklung der Gesichtsmuskulatur) und die Ausbildung der entsprechenden Sinnesorgane (insbesondere des Gehörs- und des Gesichtssinnes). Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang an einige weitere anatomische Besonderheiten zu denken, die dem Menschen ein vergleichsweise hohes Maß an Bewegungsfreiheit und -differenzierung einschließlich der Herstellung und des Gebrauchs von Werkzeugen gestatten, so etwa den aufrechten Gang, die Freiheit der Vorderextremitäten sowie die Spezifik der Daumenstellung. All diese Erscheinungen sind für den Gebrauch von Sprache von mehr oder weniger großer Bedeutung. Die mit Abstand wichtigste Besonderheit des menschlichen Körperbaus ist jedoch in der Beschaffenheit der Großhirnrinde zu sehen, welche sich im Laufe der menschlichen Entwicklungsgeschichte erheblich vergrößert und differenziert hat (Cerebralisation) und so erst die komplexen kognitiven Grundlagen von Sprache und Kultur bildet. Die Sprachfähigkeit des menschlichen Gehirns ist dabei nicht auf so etwas wie spezielle „Sprachgene" zurückzuführen, die eine bestimmte Gehimregion allein als spracheigentümlich erscheinen lassen. Es ist vielmehr lediglich von humanspezifischen genetischen Besonderheiten auszugehen, welche die Wachstumsgeschwindigkeit und -richtung verschiedener Organe und darunter auch des Gehirns während der Individualentwicklung (der Ontogenese) beein-

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Aussen. Das Gehirn ist hiernach nicht von vornherein als ein fertiges „Sprachorgan" anzusehen, sondern als ein flexibles Informationsverarbeitungsorgan, das im Rahmen individueller Entwicklungen unter anderem auch die Herausbildung von Sprache zuläßt. Die Sprachfähigkeit des Gehirns entwickelt sich dabei zum einen im Verlauf der individuellen Reifung spontan; zum anderen differenziert sie sich jeweils durch Verhaltensanpassung des betreffenden Individuums auf das sprachliche Verhalten anderer Individuen hin aus. Hierbei ist zunächst von humanspezifischen „mentalen Modulen" (Pinker 1996, 472) auszugehen, d.h. einzelnen kognitiven Lemsystemen, die bestimmten Hirnregionen zuzuordnen sind und den Erwerb lebenswichtiger Kenntnisse und Fähigkeiten gestatten. Bei dem Erwerb einer einzelnen Sprache (Erstspracherwerb) entstehen dabei dann spezifische Bahnungen im Gehirn, die als irreversibel zu gelten haben (vgl. zuletzt Schnelle 1996): Hat ein Individuum aufgrund seines cerebralen Spracherwerbsmoduls eine bestimmte Einzelsprache herausgebildet und somit entsprechende einzelsprachspezifische Bahnungen im Gehirn erzeugt, dann ist es nicht mehr in der Lage, eine andere Sprache in gleicher Weise herauszubilden und entsprechend andere Bahnungen festzulegen. Vor diesem Hintergrund zeigt der Erwerb einer einzelnen sozietätsspezifischen Sprache also eine hirnphysiologische Entsprechimg, indem hierbei Erfahrungen und Überlieferungen der betreffenden menschlichen Gemeinschaft auf die menschliche Ontogenese zurückwirken.

4.2 Evolutionstheoretische Gesichtspunkte Die Fähigkeit des Menschen zur Sprache und dessen entsprechende kognitiven Fähigkeiten beruhen also auf einer spezifischen physiologischen Anlage des menschlichen Gehirns, die bei anderen bekannten Lebewesen zumindest in dieser Komplexität nicht zu finden ist. Die Sprachfähigkeit ist somit als artspezifische kognitive Ausstattung des Menschen aufzufassen, die zusammen mit anderen seiner Besonderheiten sich im Zuge der Entwicklungsgeschichte als mehr oder weniger vorteilhaft erwiesen hat (zur Evolution kognitiver Fähigkeiten vgl. Riedl 1980; kritisch etwa: Sattler 1986, 181-209; zur Evolution kommunikativer Fähigkeiten vgl. etwa Müller 1990 sowie Hauser 1996). Dabei ist zu beachten, daß diese Entwicklung anthropologischer Grundzüge den Grundsätzen der Evolutionstheorie zufolge durch Mutation bestehender Merkmale und Selektion lebensdienlicher Merkmale erfolgt ist. Die phylogenetische Herausbildung von Sprache ist hiemach also nicht als zielgerichteter Prozeß, sondern als eine zufällige Entwicklung anzusehen, die sich für das Überleben der menschlichen Art als geeignet erwiesen und daher erhalten hat. Im Folgenden gilt es nun zu überlegen, welche Vorteile der Gebrauch von Sprache für den Menschen im Rahmen der Evolution bietet. Dabei spielt die

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Betrachtung von Sprache als Mittel der semiotischen Informationsverarbeitung eine ganz entscheidende Rolle. Denn der Gebrauch von Sprache erlaubt unter kognitiven Gesichtspunkten ein vergleichsweise hohes Maß an Anpassung hinsichtlich der betreffenden Lebensbedingungen. Dies gilt sowohl in Bezug auf den Differenzierungsgrad hinsichtlich einzelner Lebensbedingungen selbst als auch bezüglich der Differenzierungsverschiedenheit angesichts der zahlreichen Lebensbedingungen, unter denen einzelne menschliche Gemeinschaften jeweils zu leben haben: Der hohe Grad an Anpassung im Rahmen einzelner Lebensbedingungen liegt dabei bereits in der Komplexität des sprachlichen Zeichensystems selbst begründet, da diese Komplexität im Vergleich zu anderen Zeichensystemen derart hoch ist, daß es sich zur Verarbeitung zahlreicher und dabei recht verschiedenartiger Informationen aus der Umgebung als geeignet erweist. Die hohe sprachliche Anpassungsfähigkeit an verschiedenartige Lebensumstände wird dabei jeweils durch die Ausbildung der einzelnen Sprachen auf der Grundlage der allgemeinen Sprachbefahigung des Menschen ermöglicht, bei der die Anforderungen, die an die Informationsverarbeitung unter bestimmten Lebensbedingungen jeweils gestellt werden, durch Erfahrung und Überlieferung der Individuen Berücksichtigung finden. Der hohe Differenzierungsgrad, welcher der semiotischen Informationsverarbeitung durch Sprache eigen ist, gestattet über die kognitive Anpassung an verschiedene Lebensbedingungen auch ein hohes Maß an sozialer Differenzierung: So ist auf der Grundlage der sprachlichen Informationsverarbeitung eine starke Arbeitsteilung mit einer entsprechenden Spezialisierung der einzelnen Individuen möglich. Darüber hinaus gestattet die Verwendung von Sprache eine recht genaue Bestimmung der sozialen Rollen, die den einzelnen Individuen einer Gemeinschaft jeweils zukommen. Somit läßt die menschliche Sprache also auch die Bildung vergleichsweise komplexer sozialer Gemeinschaften zu, wobei der sprachlichen Überlieferung verschiedener Typen sozialer Rollen und deren gemeinschaftlicher Spezialisierungen eine starke Bedeutung zukommt, da diese so nicht von Generation zu Generation neu bestimmt werden müssen. Solche komplexen Gemeinschaften zeigen nun in der Regel wiederum eine recht differenzierte Anpassung an verschiedenartige Lebensbedingungen, so daß die Ausbildung von Sprache vor diesem Hintergrund ebenfalls als evolutiver Vorteil der menschlichen Entwicklungsgeschichte erscheint. Mit dem hohen Differenzierungsgrad der kognitiven und sozialen Anpassung ist ein weiterer Gesichtspunkt der Sprachentwicklung eng verknüpft: Anhand der Sprache kann eine weitaus größere Menge an Informationen vermittelt und verarbeitet werden als dies etwa im Rahmen der genetischen Vererbimg möglich ist. Dies gilt zum einen hinsichtlich der Erbsubstanz selbst, da zur Abspeicherung einer Sprache von etwa 10.000 Wörtern und deren mögli-

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cher Sätze von jeweils zehn Wörtern um die zehn Millionen Gigatonnen (1016 kg) DNA erforderlich wären (Lumsden/ Wilson 1981, 337). Angesichts einer solchen Menge wird schlagartig klar, warum der Mensch lediglich über eine kognitive Sprachbefähigung verfügt, auf deren Grundlage er dann im Verlauf der Ontogenese jeweils durch Erfahrung und Nachahmimg eine einzelne Sprache erwirbt. Die Informationsmenge, die durch den Gebrauch von Sprache verarbeitet werden kann, umfaßt zum anderen nicht allein unmittelbar diejenigen Erfahrungen, die ein einzelnes Individuum im Laufe seines Lebens erwirbt, sondern insbesondere auch mittelbar solche, die von der jeweils betreffenden Gemeinschaft zusammengetragen wurden und in die entsprechende Einzelsprache Eingang gefunden haben. Vor dem Hintergrund dieser beiden recht verschiedenartigen quantitativen Argumente kommt der Überlieferung von Sprache eine weitere entscheidende Rolle im Rahmen der menschlichen Entwicklung zu. Neben der hohen Differenzierung der kognitiven und sozialen Anpassung an verschiedenartige Lebensbedingungen sowie der großen Menge der hierbei verarbeiteten Informationen ist der Gebrauch von Sprache aus entwicklungsgeschichtlicher Sicht schließlich mit einem weiteren Vorteil verbunden. Dieser Vorteil besteht in der Anpassungsgeschwindigkeit des Menschen, die wiederum mit der vergleichsweise schnellen Verarbeitung komplexer Informationen durch den Gebrauch von Sprache zusammenhängt. Diese hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit zeigt sich zum einen in der Ergänzung der Erfahrung einzelner Individuen durch sozietätsspezifische Erfahrungen im Rahmen der sprachlichen Überlieferung. Zum anderen wird sie in der raschen Veränderung einzelner Sprachen offenbar: Während die organische Entwicklung des Menschen dessen allgemeine Sprachbefähigung seit etwa 40.000 Jahren weitgehend unberührt gelassen hat, zeigen sich sprachliche Veränderung innerhalb kürzester Zeiträume von zum Teil wenigen Jahrzehnten oder gar Jahren und gestatten so eine vergleichsweise flexible und differenzierte Vermittlung und Verarbeitung unterschiedlichster Informationen (vgl. Lenneberg 1972,463ff.). Diese Anpassungsgeschwindigkeit wird durch die weitere Tatsache unterstützt, daß es sich bei den einzelnen Sprachen jeweils um flexible semiotische Systeme handelt: Sprachgeschichte stellt eben keine Abfolge verschiedener in sich abgeschlossener semiotischer Systeme dar, sondern beruht auf Veränderungen, die sich jeweils aus dem Gebrauch dieser Systeme auf der Grundlage bereits bestehender Merkmale ergeben. Vor diesem Hintergrund erscheint es nun im übrigen durchaus möglich, Sprach- und Kulturgeschichte selbst unter dem Gesichtspunkt einer kulturellen Evolution zu beschreiben (Bayer 21996): Hiernach kann das Entstehen und Vergehen einzelner Sprachen und Kulturen als ein Prozeß betrachtet werden, welcher den Erfolg der betreffenden menschlichen

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Gemeinschaften im Hinblick auf ihre Umwelt im allgemeinen und angesichts anderer Gemeinschaften im besonderen widerspiegelt. Die allgemeine Sprachfähigkeit sowie die kulturelle Ausbildung einzelner Sprachen durch Erfahrung und Überlieferung stellen hiernach also einen entscheidenden evolutiven Vorteil des Menschen gegenüber anderen Lebewesen dar. Hierfür sind vor allem die hohe Qualität und Quantität der Informationsverarbeitung, die hiermit verbundene Sozialisation sowie deren hohe Veränderlichkeit verantwortlich zu machen: Die sprachliche Kulturgeschichte erlaubt es dem Menschen, sich vergleichsweise genau und rasch auf unterschiedlichste Lebensbedingungen einzustellen, d.h. sich an diese anzupassen und darauf Einfluß zu nehmen. Diese Anpassungs- und Gestaltungsfähigkeit im Rahmen sprachlicher Kulturgeschichte ist schließlich mit dafür verantwortlich zu machen, daß der Mensch nahezu sämtliche Lebensräume der Erde besiedelt und jeweils für sich nutzbar gemacht hat. Angesichts der zunehmenden Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen durch den Menschen selbst bleibt dabei jedoch aus kulturpessimistischer Perspektive durchaus noch abzuwarten, ob sich diese Fähigkeit letztenendes tatsächlich als erfolgreich erweisen wird oder nicht.

5.

Ethologische Ansätze zur Beschreibung sprachlicher Kulturgeschichte

5.1 Ethologische Konstanten des Sprachverhaltens Sprache kann also sowohl aus biologischer als auch aus philologischer Sicht als ein Mittel der semiotischen Interaktion eines Individuums mit seiner Umwelt im allgemeinen und anderen Individuen seiner Art im besonderen angesehen werden. Diese semiotische Interaktion durch Sprache ist ein Teil des artspezifischen menschlichen Verhaltens, das sich bislang im Hinblick auf die Einstellung des Menschen auf verschiedenartige Lebensbedingungen als ausgesprochen günstig erwiesen hat. Unter der Annahme, daß komplexe Systeme auf der Grundlage einfacher Systeme gebildet werden, ist nun davon auszugehen, daß der Sprachgebrauch des Menschen trotz dieser Artspezifik allgemeineren Verhaltensweisen entspricht, die auch bei Primaten oder gar weniger verwandten Tierarten zu beobachten sind. Vor diesem Hintergrund erscheint es als wichtige Aufgabe einer ethologisch begründeten Linguistik, die Verwendung von Sprache vor dem Hintergrund solcher allgemeinen Verhaltensgrund-

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sätze zu beschreiben und zu erklären. Unter der weiteren Annahme, daß die Artspezifik der menschlichen semiotischen Interaktion zum einen in der Komplexheit des sprachlichen Zeichengebrauchs und zum anderen in dessen kultureller Überlieferung besteht, stellt sich in diesem Zusammenhang dann die Frage nach den art- und kulturunspezifischen Verhaltensuniversalien oder besser: ethologischen Konstanten des Sprachgebrauchs. Diese Konstanten scheinen nun gerade auch im Bewußtsein der Sprachbenutzer in starkem Maße von kognitiven und sozialen Gesichtspunkten der einzelnen Kulturen überlagert zu sein: Ihre Aufdeckung erscheint vor diesem Hintergrund jedoch umso wichtiger. Denn sind die ethologischen Konstanten des Sprachgebrauchs erst einmal bestimmt, lassen sich vielfaltige Vergleiche der zahlreichen Kulturen durchführen, indem deren konkrete Ausbildung der Konstanten zunächst jeweils beschrieben und dann miteinander verglichen werden. Dabei sind neben dem Vergleich sprachlicher und anderer, nichtsprachlicher Kulturerscheinungen wenigstens zwei verschiedene Untersuchungsrichtungen zu unterscheiden: Zum ersten ein Vergleich verschiedener kultureller Ausprägungen von Sprache, die als mehr oder weniger zeitgleich zu gelten haben (synchrone Etholinguistik), und zum anderen ein Vergleich verschiedener Entwicklungsphasen ein und derselben kulturellen Ausprägung von Sprache (diachrone Etholinguistik). Die zweite dieser beiden Untersuchungsrichtungen kann auch als „etholinguistische Kulturgeschichtsschreibung" charakterisiert werden. Die Suche nach Universalien ist nicht allein der Biologie oder der Sprachwissenschaft, sondern auch zahlreichen anderen Wissenschaften wie etwa der Philosophie, der Mathematik und Logik oder der Physik eigen. Dabei scheint in diesem Zusammenhang insbesondere auch die Universalienforschung der Philosophie von besonderer Bedeutung zu sein, da sie sich ebenfalls um die Aufdeckung der Grundsätze menschlichen Erkennens und Handelns bemüht. Und so überrascht es nicht, daß etwa bereits von Konrad Lorenz (1973) Parallelen zwischen der biologischen Determination des menschlichen Erkenntnisvermögens vor dem Hintergrund der Ethologie einerseits und dessen philosophischer Determination im Rahmen der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants andererseits gezogen werden. 5.2 Ethologische Beschreibungsansätze Innerhalb der modernen Verhaltensforschung werden immer wieder ethologische Konstanten eingeführt - sei es nun vor dem Hintergrund, tatsächlich so etwas wie Verhaltensuniversalien postulieren zu wollen, oder sei es lediglich einer wissenschaftlichen Einordnungsmöglichkeit verschiedener Verhaltensbeispiele wegen. Wie auch immer: Eine Einigkeit über den Katalog an solchen

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ethologischen Konstanten besteht bislang noch nicht. Und so ist die etholinguistische Suche nach Konstanten sprachlichen Verhaltens auf die Betrachtung recht verschiedenartiger Ansätze und deren Kataloge angewiesen. Im Folgenden sollen drei dieser ethologischen Ansätze herausgegriffen und auf ihre Einbindung im Rahmen etholinguistischer Fragestellungen hin erörtert werden. Mit die einfachste Möglichkeit, menschliches (und nichtmenschliches) Verhalten einzuordnen, besteht darin, seine Merkmale jeweils unter einem einzelnen Kriterium zu bestimmen. Dabei wird im Bereich der Ethologie insbesondere auf zwei Kriterien zurückgegriffen (vgl. unter ethologischem Gesichtspunkt Argyle 1969, aus linguistischer Perspektive Säger 1995): Das erste dieser beiden Kriterien stellt der soziale Status der interagierenden Individuen dar. Es wird davon ausgegangen, daß dieser Status jeweils durch ein entsprechendes Verhalten repräsentiert wird, das zwischen den Dimensionen Dominanz einerseits und Submission andererseits bestimmt werden kann. Das zweite Kriterium besteht in der Stimmung, unter der sich die betreffenden Individuen begegnen. Dieser sog. „Zugang" wird hiernach ebenfalls durch ein entsprechendes Verhalten repräsentiert, das zwischen den Dimensionen Feindseligkeit und Freundlichkeit angesiedelt werden kann. Beide Kriterien können nun bei der Untersuchimg von Verhalten miteinander kombiniert werden, so daß sich ein Achsenkreuz mit vier jeweils weiter spezifizierbaren Bereichen bilden läßt: Dominant-feindseliges Verhalten, dominant-freundliches Verhalten, submissiv-feindseliges Verhalten sowie submissiv-freundliches Verhalten. Der Ansatzpunkt etholinguistischer Untersuchungen besteht vor dem Hintergrund dieser Einteilung zunächst einmal darin, sprachliche Handlungen hiemach einzuordnen und dabei diejenigen sprachlichen Erscheinungen zu beschreiben, die für die entsprechenden Verhaltensweisen jeweils charakteristisch sind. Des weiteren ist nun wie bereits dargelegt davon auszugehen, daß die Mitglieder verschiedener menschlicher Gemeinschaften oder Kulturen jeweils unterschiedliche sprachliche Verhaltensweisen zeigen, die dann wiederum unter synchronen wie auch unter diachronen Gesichtspunkten miteinander zu vergleichen sind. Auf der Grundlage zahlreicher anthropologischer Studien wurde Mitte der achtziger Jahre von dem Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt (1986) ein sog. „Ethogramm" des Menschen herausgearbeitet. Dieses Ethogramm umfaßt eine Vielzahl an menschlichen Verhaltensweisen, die als universell gelten dürfen, auch wenn sie wiederum sozietätsspezifische bzw. kulturelle Ausprägungen zeigen. Zu diesen Universalien zählen unter anderem auch der Gebrauch von Sprache sowie der Einsatz verschiedener Interaktionsmedien im Rahmen visueller, taktiler, akustischer bzw. olfaktorischer Verständigung. Hinzu treten zahlreiche nicht weniger bedeutsame Muster des menschlichen Verhaltens, die zum Teil eng mit dem Gebrauch von Sprache zusammenhän-

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gen, da sie hierdurch repräsentiert, wenn nicht gar konstituiert werden. Zu diesen Verhaltensmustern gehören nun unter anderem die Entwicklung kosmologischer und metaphysischer Vorstellungen, die Einrichtung und die Befolgung religiöser Rituale sowie Trauerzeremonien, die Trennung von Geschlechterrollen, die Entwicklung von Rangordnungen und ein dementsprechendes Dominanzverhalten (vgl. oben), eine Tendenz zu Gruppenbildung und Gruppenbewußtsein mit verschiedenen Strategien der Gruppenbindung, der Gebrauch von Begrüßungsritualen sowie Regeln der Mutter-Kind-Interaktion; es sei darauf hingewiesen, daß sich in dieser Auftsellung durchaus ethnologische Konstanten finden, die jedoch durchaus auch auf ethologische Konstanten zurückzufuhren sind. Angesichts dieser und weiterer Verhaltensuniversalien gilt es aus etholinguistischer Perspektive wiederum, zunächst die sozietätsbzw. kulturspezifischen Charakteristika von deren sprachlichen Repräsentationen im einzelnen zu beschreiben, um diese daraufhin einem synchronen sowie diachronen Vergleich zu unterziehen. Dabei können nun die vielfältigen Ergebnisse nutzbar gemacht werden, die hier bereits insbesondere vonseiten der Soziolinguistik gewonnen wurden: Der etholinguistische Zugriff besteht hierbei vor allem darin, diese soziolinguistischen Befunde auf die ethologischen Konstanten abzubilden und so die Grundzüge und Besonderheiten des sprachlichen Verhaltens als einer spezifischen Art der semiotischen Interaktion unter Lebewesen zu bestimmen. Die dritte Aufstellung etho- oder hier besser: ethnologischer Konstanten, auf die hier zumindest hingewiesen werden soll, stammt von dem Anthropologen Donald E. Brown (1991). Brown versucht anhand der Durchsicht zahlreicher ethnologischer Studien diejenigen Charakteristika zusammenzutragen, die sämtlichen bekannten Völkern und menschlichen Gemeinschaften dieser Erde gemeinsam sind. Dieser (im übrigen sehr umfangreiche) Katalog der „Universal People" umfaßt unter anderem sprachliche und damit verbundene kognitive Erscheinungen, nichtsprachliche bzw. weitere semiotische Phänomene, den Gebrauch von Werkzeugen, die Erhaltung eines individuellen oder familiären Intimbereichs, weitere psychische und insbesondere sexuelle Eigenheiten, Erscheinungen des privaten Soziallebens einschließlich der Mutter-KindBeziehung sowie solche des politischen Sozietätslebens. Browns Katalog ist ein weiteres Beispiel für die Aufstellung ethologischer Konstanten. Es ist hier wenig sinnvoll, ihn im Einzelnen zu diskutieren oder etwa neben denjenigen von Eibl-Eibesfeldt zu legen. - Wichtig ist an dieser Stelle allein die Tatsache, daß solche Aufstellungen überhaupt möglich erscheinen und so tatsächlich einige Ansatzpunkte für eine ethologische Grundlegung der Beschreibung sprachlicher Kulturgeschichte gewähren. Dabei obliegt die Beurteilung und Auswahl der einzelnen Konstanten zunächst der ethologischen Forschung

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selbst, da sich linguistische Untersuchungen dem hier vorgestellten Konzept nach vorerst einmal bewußt an die Ergebnisse der Ethologie anschließen. 5.3 Linguistische Beschreibungsansätze Doch genau an diesem Punkt der Argumentation stellt sich nun die Frage, ob nicht auch die Ergebnisse linguistischer Untersuchungen einen Beitrag zur Entdeckung von ethologischen Konstanten leisten können. Ein solcher Beitrag der Linguistik zur Humanethologie ist durchaus denkbar, sofern man die Annahme zugrunde legt, daß sich das kognitive und soziale Verheilten des Menschen durchaus im Gebrauch von Sprache widerspiegelt, wenn nicht gar partiell hierdurch erst konstituiert wird. Vor dem Hintergrund dieser Annahme eröffnet sich nun prinzipiell die Möglichkeit, von linguistischen Konstanten auf kognitive und soziale Konstanten des menschlichen Verhaltens zu schließen. Solche linguistischen Konstanten sind von der modernen Sprachwissenschaft bereits in zahlreichen und umfangreichen Untersuchungen dargelegt worden und stehen hier ebenfalls nicht im Einzelnen zur Diskussion. Um jedoch wenigstens an einige verschiedenartige theoretische Ansätze zu erinnern, seien folgende Beispiele genannt: Aus dem Bereich der Grammatik die zahlreichen Modelle der generativen Grammatik nach Noam Chomsky (1957; 1965 usw.), welche durchaus mit dem Anspruch einer zumindest humanspezifischen Universalität auftreten, sowie die Aufstellung von Wortstellungsuniversalien, die unter anderem auch die Unterscheidung zwischen einer prä- und einer postspezifizierenden Anordnung von (sprachlichen) Zeichen gestatten. Aus dem Bereich der sog. „Pragmatik" die Postulierung pragmatischer Universalien bzw. Sprechakttypen nach John Austin (1962) oder Jürgen Habermas (1971), derzufolge etwa kommunikative, konstative, repräsentative, regulative sowie institutionelle Sprachhandlungen zu unterscheiden sind, und die klassifikatorische Variante der Konversations- und Textlinguistik, nach deren funktional bestimmter Einteilung sprachlicher Einheiten ebenfalls sozietäts-, wenn nicht gar humanspezifische Verhaltensweisen voneinander unterschieden werden können. Aus dem Bereich der Lexik, auf dessen Kulturabhängigkeit von ethnolinguistischer Seite her bereits von Edward Sapir (1921) und Benjamin Lee Whorf (1956) hinreichend hingewiesen worden ist, seien schließlich die jüngeren Arbeiten von Anna Wierzbicka (1991; 1997) genannt, in denen anhand von Schlüsselwörtern und sog. „semantischen Primitiva" eine elementare und zugleich kulturübergreifende Beschreibungssprache entwickelt wird, mit der nun verschiedenartige Kulturen und deren Sprachen beschrieben und vor allem auch gut vermittelt werden können. Die Übertragung dieser und anderer linguistischer Beschreibungsansätze auf die semiotische Interaktion anderer Lebewesen hat nun jedoch als nicht

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unproblematisch zu gelten: Hierfür sprechen weniger einzelne Gesichtspunkte dieser Ansätze selbst, sondern bereits vielmehr das übergreifende Problem, daß diese im Hinblick auf die semiotische bzw. sprachliche Interaktion des Menschen entwickelt wurden und somit per se noch nichts zur Erkenntnis ethologischer Konstanten bei anderen Lebewesen (also allein zu einer solchen ethnologischer Konstanten) beitragen. Dies wäre erst dann möglich, wenn zunächst wiederum entsprechende ethologische Untersuchungen herangezogen und mit den linguistischen Ergebnissen abgeglichen würden. Ein solcher Abgleich erscheint vor dem Hintergrund der hier vorgetragenen Argumente als recht vielversprechend.

6.

Schlußbemerkungen

Um diese Argumente abschließend noch einmal zusammenzufassen: Der Versuch, sich den natürlichen Grundlagen sprachlicher Kulturgeschichte von biologischer und dabei insbesondere von ethologischer Seite her zu nähern, erscheint möglich, da Sprache sowohl vonseiten der Biologie als auch im Rahmen der Philologie und Linguistik als ein Mittel der Interaktion zwischen dem Individuum und seiner Umwelt aufgefaßt werden kann. Die Verhaltensgrundlage der semiotischen oder sprachlichen Interaktion hat dabei bei Menschen und anderen Lebewesen als prinzipiell gleich zu gelten, auch wenn sich der Gebrauch sprachlicher Zeichen selbst insbesondere im Hinblick auf deren Komplexheit und deren Tradiertheit als humanspezifisch erweist. Diese Komplexheit und Tradiertheit bringen nun den Kulturbegriff der jüngeren Philologie und Linguistik in den Blickpunkt. Danach ist Kultur nicht etwa als Mittel nationaler Identifikation oder als Menge künstlerischer Höhenflüge zu begreifen, sondern als kognitives und soziales Orientierungssystem einer menschlichen Gemeinschaft, das sich über weite Strecken sprachlich konstituiert und dabei der Adaption an die umgebende Wirklichkeit dient. Aus biologischer Warte verfügt der Mensch hierbei über eine allgemeine Sprachbefahigung, auf deren Grundlage sich dann sozietätsspezifische Einzelsprachen herausbilden, die einer ständigen Überlieferung und Veränderung unterliegen. Neben einigen physiologischen Voraussetzungen wie insbesondere der Beschaffenheit der menschlichen Großhirnrinde und deren Funktionen sind es vor allem evolutionstheoretische Gesichtspunkte, welche die Komplexheit und die Tradiertheit von Sprache und somit auch sprachliche Kulturgeschichte erklärbar machen: Hierzu zählen das hohe Maß an kognitiver wie sozialer Differenziertheit und Flexibilität des sprachlichen Orientierungssystems sowie die große Menge und die hohe Geschwindigkeit der sprachlichen Informationsverarbeitung, die

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zusammen eine vergleichsweise starke Anpassungs- und Überlebensfähigkeit des Menschen begründen. Vor diesem Hintergrund erscheint es nun recht vielversprechend, von allgemeinen Verhaltensgrundsätzen oder besser: ethologischen Konstanten, wie sie bereits verschiedentlich beschrieben wurden, auszugehen und diese auf ihre sozietätsspezifischen bzw. einzelsprachlichen Ausprägungen hin zu betrachten. Hierbei sind sowohl synchronisch als auch diachronisch orientierte Studien denkbar; im letzteren Falle handelt es sich dann um eine etholinguistische Kulturgeschichtsschreibung. Ein solcher (synchronischer oder diachronischer) etholinguistischer Kulturvergleich steht nun jedoch vor einigen nicht unerheblichen methodischen Problemen, die an dieser Stelle zumindest kurz erörtert werden müssen: Zum einen besteht das Problem von Argumentations- und Beschreibungszirkeln: Ethologische Universalien menschlichen Verhaltens können nur unter Vernachlässigung kultureller Unterschiede beschrieben werden. Das ist für den Menschen, der diese Beschreibung anhand von Sprache durchführt, jedoch allein auf der Grundlage eines selbst wiederum kulturell determinierten sprachlichen Systems möglich. Zu lösen ist dieses Problem allein durch die Anerkennimg des hermeneutischen Status, der solchen Universalien eigen ist und somit eine Argumentation mit möglichst hoher Plausibilität verlangt. Ein zweites Problem besteht im Hinblick auf sog. „Emergenzen": Bei der Beschreibung komplexer Systeme treten neuartige Strukturen in Erscheinung, die nicht vollständig durch einfachere Systeme beschrieben werden können. Dies gilt auch für die Beschreibimg sprachlicher Kultur und deren Geschichte: Diese können anhand ethologischer Grundsätze nicht hinreichend erfaßt werden, da sie tatsächlich zahlreiche weitere, neuartige Strukturen zeigen. Und dennoch erscheint es sinnvoll, wenn nicht gar wichtig, kulturelles und sprachliches Verhalten aus dieser biologischen Sicht heraus zu erörtern, um neben diesen Konstanten gerade solche Emergenzen herauszuarbeiten und somit fundierte Erkenntnisse über die Kultur von Sprache zu erhalten. Die Feststellung ethologischer Grundlagen menschlichen Verhaltens im allgemeinen und des Gebrauchs von Sprache im besonderen führt vor diesem Hintergrund nicht zu einer einseitigen Reduktion kultureller Erscheinungen auf biologische Phänomene. Im Gegenteil: Sie öffnet uns vielmehr den Blick auf die Einzigartigkeit sprachlicher Kulturgeschichte.

7.

Literatur

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Gotthard Lerchner (Leipzig)

Individuelles Sprachverhalten und kulturelle Bedingungen in der deutschen Sprachgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts 1. 2.

Problembeschreibung Voraussetzungen der Forschungslage: Interdisziplinäre Beschreibungsansätze kultureller Interaktionen 3. Konzeptioneller Zugriff 4. Individuelles Kommunikationsverhalten als kulturelle Existenzweise im 18./19.Jh. 4.1 Die Entwicklung der objektiven Spielräume individuellen Sprachhandelns 4.2 Individuelle Sprachspiele und kulturelle Identität 5. Sprachhistoriographischer Ertrag 6. Literatur

1.

Problembeschreibung

1.1. Die Thematik Sprachgeschichte als Kulturgeschichte eröflhet einen prinzipiell kulturanalytischen Beschreibungszugang auf sprachhistorische Sachverhalte, der in der Geschichte der Disziplin auf eine vielgestaltige Tradition gründet, nach ihrem aktuellen Selbstverständnis jedoch durchaus einer gewissen Problematisierung unterliegt: Zusammenhänge zwischen sozioökonomischen, im weiteren Verständnis kulturellen Entwicklungen einerseits und sprachlich-kommunikativen Veränderungen andererseits gelten zwar unbestritten, doch werden sie in der germanistischen Sprachhistoriographie weithin in einer externen, mehr oder weniger losen Korrelation zwischen äußerer und innerer Sprachgeschichte gefaßt (Maas 1987, 98). Das erscheint methodologisch folgenotwendig, wenn der Schwerpunkt des Beschreibungsinteresses auf ,rein sprachlichen', d.h. im wesentlichen systemgeschichtlichen Veränderungen liegt. Das Problem eines integrativen, d.h. Sprachgeschichte als Kulturgeschichte begreifenden deskriptiven Zugriffs besteht demzufolge konzeptionell

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Gotthard Lerchner

darin, Funktionsmechanismen von Sprachveränderungen unmittelbar in lebensweltlichen Kontexten zu modellieren und analysepraktisch sicherzustellen. Verbunden ist damit eine Akzentverlagerung hinsichtlich des sprachhistoriographischen Objekts auf die kommunikative Praxis der Angehörigen einer Sprachgemeinschaft, trivialerweise mit der Folge aspektueller Umorientierung hinsichtlich der Bestimmung bzw. Wichtung von Fragestellungen und Beschreibungszielen, die es im einzelnen zu begründen gilt. 1.2. Insofern die .kommunikative Praxis der Angehörigen einer Sprachgemeinschaft' Uniformität empirisch von vornherein ausschließt, bedürfen auch unter historischen Bedingungen die Parameter der Rekonstruktion ihrer je akteurbezogenen Funktionszusammenhänge methodologischer Differenzierung. Davon ausgehend, kann die deskriptive Schnittstelle individuellen sprachlich-kommunikativen Verhaltens im sprachhistorischen Kontinuum nicht nur eine bestimmte Legitimität beanspruchen, sondern rechtfertigt auch im Rahmen des kulturanalytischen Zugriffs die grundsätzliche Erwartung eines gewissen sprachhistoriographischen Ertrags. Zugespitzt formuliert, läßt sich auf dieser Grundlage sogar die These vertreten, daß jegliche Veränderung von Sprachpraxis letztlich vom Individuum ausgeht; eine ausdrückliche Ermutigung dazu kann man im übrigen schon bei Hermann Paul (1880, 17) finden.1 Andererseits darf darüber nicht aus dem Blickfeld geraten, daß Sprache Tradition und also ihrem Wesen nach sozial determiniert ist (Gauger 1995, 107).2 Der mit der Thematik des Beitrages avisierte Beschreibungsgegenstand ist also a priori in das antinomische Spannungsverhältnis gestellt zwischen Sprachgebrauch des Einzelnen und sozialer Bestimmung von Sprache durch ein Consozium. Daß dieses Verhältnis in der linguistischen Wissenschaftsgeschichte der letzten einhundert Jahre durchaus gesehen wurde, in Abhängigkeit von den jeweiligen sprachtheoretischen Positionen der einzelnen Schulen und Richtungen jedoch einigermaßen unterschiedliche Akzentuierungen erfahren hat, ist hinlänglich bekannt (Große 1994,6ff.). Autoritätsbeweise und entsprechende Zitate allein werden es also nicht tun, wenn das Problem einer konzeptionell

1

2

Wörtlich heißt es da: „Jede sprachliche Schöpfung ist stets nur das werk eines Individuums. Es können mehrere das gleiche schaffen. Aber der akt des schaffens ist darum kein anderer und das produkt kein anderes." „...alles, was das Individuum sprachlich besitzt, hat es von anderen, den Vorfahren Es gibt keine sprachliche Autonomie; Freiheit gibt es hier nur innerhalb sehr enger - durch die Vorfahren gesetzter - Grenzen. Aber frei waren auch schon die Vorfahren nicht."

Individuelles Sprachverhalten und kulturelle Bedingungen

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konformen, und das muß in bezug auf den hier gewählten Beschreibungsansatz heißen: kommunikationskulturell paßfahigen Lösimg zugeführt werden soll.

2.

Voraussetzungen der Forschungslage: Interdisziplinäre Beschreibungsansätze kulturgeleiteter Interaktion

Es liegt auf der Hand, daß die gesuchte .konzeptionell konforme' Lösung eines prinzipiell interdisziplinären Zuschnitts bedarf, um die unter dem Kulturbegriff subsumierten komplexen Interaktionsbeziehungen kommunikativ handelnder Akteure mehr als nur additiv übergreifen zu können. Dabei sind, abgesehen von dem in diesem Zusammenhang wohl nur wissenschaftsgeschichtlich, d.h. von der Fragestellung her signifikanten kulturmorphologischen Forschungsansatz (Große 1977. Grober-Glück 1982. Lerchner 1996), zumindest die folgenden methodologischen Vorleistungen einschlägig: 2.1. Die Applikation des informationstheoretischen KommunikationsbegrifFs u.a. in der Linguistik, der Medienforschung, der Ökonomie und der Massenkommunikationsforschung hat auch in neueren sozialwissenschaftlichen, pragmatischen und philosophischen Konzepten wesentliche Theoriezusammenhänge explizieren lassen für die Analyse der komplexen, im weitesten Sinne kulturellen Netzwerke, in denen Akteure handeln bzw. die deren mentale Potentiale (als Handlungsvoraussetzungen) konditionieren. Von dieser Grundlage ausgehend, lassen sich Ansätze ausmachen für die Analyse sprachhistorischer Veränderungen aus dem Gebrauch von Sprache in signifikanten interaktionellen Bedingungsgefügen, und zwar ausdrücklich sowohl für kommunikative Gemeinschaften als auch für kompetent sprachhandelnde Einzelne. 2.2. Im einzelnen kann sich die hier verfolgte Zielstellung methodologische Aspekte vor allem der folgenden Forschungsrichtungen zunutze machen: 2.2.1. Einbettungszusammenhänge menschlichen Sprachhandelns in soziokulturelle Bedingungsgefüge werden, wenngleich mit durchaus unterschiedlicher methodischer Stringenz, bekanntermaßen seit langem von den verschiedenen dialektologischen sowie von sozio- und pragmalinguistischen Konzepten thematisiert und beschrieben (vgl. Besch/Knoop et al. 1982f. Auer/di Luzio 1988). Als im gegebenen Zusammenhang erfolgversprechend erweisen sich dabei insbesondere Ethnographie bzw. Ethnomethodologie der Kommunikation: Während erstere Richtung in einem wohl eher phänomenologischen Ansatz

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den Zusammenhängen zwischen grundsätzlich als kulturell determiniert aufgefaßten kommunikativen Ereignissen und soziopsychischen Verhaltensmodalitäten der Sprecher nachfragt - und damit auch einen individuellen Verhaltensspielraum zumindet nicht ausschließt - (vgl. Hymes 1968. Gumperz/Hymes 1972), untersucht letztere anhand natürlicher Gespräche Prozesse der alltagsweltlichen Sinnkonstitution u.a. unter dem Gesichtspunkt, wie Mitglieder einer kommunikativen Gemeinschaft regelhaft vorgehen, wenn sie ihre soziale Welt konstruieren. Von da aus kann man, wenn man so will, einen Brückenschlag zu bestimmten Richtungen der Situationssemantik vornehmen, deren Annahme von typisierbaren Situationskontexten sprachlicher Äußerungen im Vorgang ihrer Sinnkonstituierung ihrerseits einen Zugang auf den funktionalen Zusammenhang von Sprachprozessen und deren letztlich kulturell konditionierenden Voraussetzungen sucht. 2.2.2. Als exakt aufeinander bezogene, d.h. einander wechselseitig determinierende Signifikationsprozesse explizierbar werden die Relationen zwischen kulturell-nichtsprachlichen Bedingungsgefügen von Interaktionen und sprachlichem Handeln im Beschreibungsrahmen kultursemiotischer Konzeptualisierungen menschlicher Kommunikation aufgefaßt (Lotman/Uspenskij 1971. Eco 1987. Posner 1991). Verdeutlicht man sich, daß der semiotische Kulturbegriff die sozialen, materialen und mentalen Domänen menschlichen Daseins per definitionem übergreift, erscheint die Thematisierung der Fragestellung folgerichtig, wie Gesellschaft (= soziale Seite der Kultur), Zivilisation (= materiale Seite der Kultur; repräsentiert durch Artefakte als „Texte" einer Kultur) und Mentalität (= mentale Seite der Kultur; repräsentiert durch Mentefakte) miteinander zusammenhängen. Daß dies grundsätzlich der Fall ist, stellt eine Grundannahme kultursemiotischer Sichtweise dar: Wenn eine Gesellschaft als Menge von Zeichenbenutzem, eine Zivilisation als Menge von Texten und eine Mentalität als Menge von Kodes definiert werden kann, so sind diese drei Bereiche notwendig miteinander verbunden, denn Zeichenbenutzer sind auf Kodes angewiesen, wenn sie Texte verstehen wollen. (Posner 1991, 53).

Daraus gewinnt für das hier gegebene Beschreibungsinteresse zumindest zweierlei an Bedeutsamkeit: (a) ein funktionaler, zeichentheoretisch auszubuchstabierender Zusammenhang zwischen den drei unterschiedenen kulturellen Bereichen und (b) die klare Positionsbestimmung des kulturell interagierenden Individuums als Zeichenbenutzer in einem komplexen Funktionsgefüge von Kultur. 2.2.3. Eine speziellere Konzeptionalisierung der Beziehungen zwischen sprachlicher Kommunikation und mentaler Verfassung von (kompetenten) Sprechern leisten schließlich neuere psycholinguistische Richtungen mit der

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analytischen Fokussierung prozessualer Aspekte des Sprechens, des Spracherwerbs und des Sprachverstehens in bezug auf die im Sprachverhalten operativen mentalen Instanzen. Insofern damit Kommunikation und Kognition als einander wechselseitig beeinflussende Faktoren in der geistigen Verfassung des Menschen begriffen werden, bietet sich eine Erklärungsmöglichkeit an dafür, wie dieser sich ein Weltbild aneignet und mit Hilfe sozialer Kreisläufe interaktiv penetriert. Dabei hat sich gezeigt, daß sich die psychophysischen Dispositionen von Sprechern gegenüber einer auf der Zeitachse beobachtbaren zunehmenden Beschleunigung der sozialen Kreisläufe beachtlich konservativ verhalten (Garman 1990. Klix 1996). Schlußfolgernd dürfte sich daraus ein gewichtiges Begründungspotential ergeben für die Annahme einer von individuellen Gegebenheiten und Voraussetzungen von Sprechern abhängigen Einflußnahme auf den sprachgeschichtlichen Prozeß.

3.

Konzeptioneller Zugriff

Wie grob und zugegebenermaßen einseitig skizziert sich die einzelnen - anmutungsweise attraktiven - kulturell-kommunikativ und damit interdisziplinär orientierten Beschreibungskonzepte auch ausnehmen und wie methodologisch im Detail voneinander verschieden sie sein mögen, ergibt sich (zunächst mehr oder weniger intuitiv) aus dem kursorischen Überblick über sie ungeachtet aller Divergenzen doch eine tendenzielle Gemeinsamkeit der Perspektive auf die kulturell determinierte Rolle von Akteuren in kommunikativen Prozessen. Diese sei, als Einstiegsmöglichkeit für die angestrebte Bewältigung der Vortragsthematik, zu der Ausgangshypothese kondensiert, zu der ich mich auf Grund der Forschungslage ermutigt und bis zu einem gewissen Grade auch berechtigt fühle: Die Individualitätsantinomie sprachlicher Tätigkeit kann sprachhistoriographisch produktiv gemacht werden durch die Annahme einer , kulturellen Existenz des Menschen ' (Schwemmer 1997), in der sozialsymbolische Repräsentationsformen und individuelle Identität zur Vermittlung gelangen. Ausgegliedert in die m.E. wichtigsten Facetten ihres beanspruchten Aussagepotentials heißt das: (1) Ausgegangen wird von der grundsätzlichen Hintergehbarkeit der Annahme einer (einseitigen) soziokulturellen Determination der Sprachtätigkeit von Einzelnen, und zwar durch die Thematisierung individuellen kommunikativen Verhaltens im Schnittpunkt heterogener Sozialsysteme und persönlichkeitsspezifischer Dispositionen, die insgesamt die jeweilige kulturelle Identität der einzelnen Sprecher ausmachen, wahrnehmbar in heterogenen symbolischen ( = zeichenhaften) Repräsentationsformen ihrer Existenz.

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(2) Es wird demgemäß für unzureichend gehalten, Sprachgestaltung und Sprachwandel ausschließlich aus sozialen und/oder funktionalen Zwecksetzungen der Kommunikation zu erklären. Die sprachhandelnden Individuen sind in ihrem kommunikativen Verhalten nicht einfach Objekte oder Produkte der sie jeweils so oder so bestimmenden soziokommunikativen Verhältnisse, sondern auf Grund ihrer spezifischen Verhaltensdispositionen in jedem kommunikativen Akt Subjekte von das konkrete Kommunikat mehr oder weniger unverwechselbar kennzeichnenden (sprachhistorisch veränderlichen) Auswahlvorgängen. Das läßt die Frage stellen nach der historisch variablen Realisierung dieser Subjekt-Objekt-Relation. (3) Bezogen auf das Beschreibungsziel, kann es, daraus folgend beide Komponenten grundsätzlich als funktionale Einheit aufgefaßt, nicht um die Rolle des Individuums im Kommunikationsprozeß schlechthin gehen, sondern um Gradationen von Individualität bei der Texterzeugung in der eo ipso sozialen Sprachtätigkeit einzelner unter je konkreten sprach- bzw. kommunikationsgeschichtlichen Bedingungen. Soziale und individuelle Faktoren „converge to govern the speaker's choice."' (4) Wenn es richtig ist, daß die objektiven Bedingungen der Kommunikation mit individuellen Verhaltensdispositionen ein Differential funktionaler Korrelationen eingehen, dann unterliegen diese wie jene auch historisch bedingten Veränderungen. Es macht insofern historiographisch Sinn, Entstehung, Formierung, Deformierung und Verfall ihres je konkreten Bezugsverhältnisses in der Geschichte der betreffenden Kommunikationsgemeinschaft zu untersuchen. Sprachwandel ist „Wandel im menschlichen Handeln und Handeln-Können" (v.Polenz 1980, 37) und damit unauflöslicher Bestandteil des „So-handeln-Könnens" auf Grund gesellschaftlich legitimierter Ausstattung, als das sich Kultur tätigkeitsorientiert bestimmen läßt (Hinnenkamp 1989). (5) Konkretisiert zur sprachhistoriographischen Aufgabe, ist für die jeweils interessierenden Zeitabschnitte der Entwicklung einer Sprache der „Kulturmechanismus" (Thurnwald 1936/37) zwischen sozialen Netzwerken der Kommunikation und kommunikativem Individualverhalten transparent zu machen. Auf diese Weise kann dann auch jener „Doppelaspekt" im Gebrauch jeder natürlichen Sprache für historische Epochen beschreibungswirksam werden, der in einer von Regeln beherrschten und die Regeln verändernden Kreativität sprachlichen Handelns besteht (Eco 1987, 215).

3

„That is, in short, the .collective' consciousness of the cultural models and the experiences of the individual, as they interlace in the network of the speaker and as they appear in his everyday linguistic choices" (Sobrero 1988, 197).

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4. Individuelles Kommunikationsverhalten als kulturelle Existenzweise im 18./19. Jahrhundert Es bedarf sicher keiner ins einzelne gehenden Begründung, daß sich als Untersuchungsfeld fur eine mögliche Validierung des entwickelten Konzepts sprachgeschichtliche Zeiträume sozialen Umbruchs und kommunikativer Veränderungen als ertragreich anbieten. Umgekehrt kann dann mit Hilfe der so gewonnenen Beschreibungsergebnisse möglicherweise (jedenfalls vom Anspruch her) eine genauere Kenntnis des sprachgeschichtlichen Objekts erreicht werden. Daß die Entwicklung im 18./19. Jahrhundert in diesem Sinne Attraktivität besitzt, konnte schon in einer ersten deskriptiven Annäherung des Verf.s an die Problematik deutlich werden (Lerchner 1992). Daran mit gewissen Modifizierungen anknüpfend, sei zunächst die Entwicklung objektiver Spielräume individuellen Sprachhandelns (als Gesichtspunkt soziokommunikativer Determination) ins Auge gefaßt, gefolgt sodann von einer Skizzierung individueller Sprachspiele als Ausdrucksformen persönlichkeitsspezifischer kultureller Identität von Sprechern. 4.1. Die Entwicklung der objektiven Spielräume individuellen Sprachhandelns Unter Spielräumen individuellen Sprachhandelns werden auf der Grundlage der angestellten Erörterungen verstanden Wahlmöglichkeiten für den Einzelnen bei der formbezogenen Gestaltung seiner Äußerungen im Verhältnis zur Gesamtheit der jeweils geltenden kommunikativen Normen des Consoziums. Sie bestehen unabhängig von seiner je konkreten kommunikativen Kompetenz, eben als funktionale Grundlage des , .Kulturmechanismus" einer kommunikationsgeschichtlichen Epoche. Sie für den ins Auge gefaßten Zeitraum detailliert zu beschreiben ist unter den Bedingungen dieses Redebeitrags verständlicherweise nicht möglich; da es sich zudem um weithin als bekannt vorauszusetzende Fakten handelt, genügt ohnehin der stichwortartige Abruf von im gegebenen Zusammenhang4 signifikanten Veränderungen. Als solche seien erinnert: (1) Tiefgreifende Umgestaltungen des historischen Netzwerkes soziokultueller Systeme (Schmidt 1989). Genannt werden müssen hier vor allem die explosive Entwicklung der Printmedien und die daraus folgenden Umbrüche in den Strukturen ihrer Distribution und sozialen Rezeption (soziale Adressaten; Zeitungswesen; Buchmarktentwicklung; Rezeptions-

4 Für eine ausführlichere Darstellung der entsprechenden Fakten sei auf die neueren sprachgeschichtlichen Handbücher verwiesen sowie auf Schmidt (1989).

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verhalten als .Leserevolution': Neufestlegung sozialer Rollen des Leseprozesses, Etablierung „des Lesers" als Rezeptionsinstanz und eines „Literaturverarbeiters" (Rezensenten) usw.); Säkularisierungsprozesse in der deutschen Literaturentwicklung (Schöne 1968), insbesondere die damit grundsätzlich gegebene und entsprechend ausgenutzte Möglichkeit einer intentional gesteuerten Überschreitbarkeit tradierter Textmuster und des Transfers sprachlicher Gestaltungsmittel zwischen bis dahin diskreten Anwendungsdomänen funktionaler sprachlicher Register; Veränderungen im Bildungssystem der Zeit, (neben Fortschritten im Schulwesen) insbesondere die Neubestimmung der Rolle der Frau im literarischen Prozeß, z.B. als Adressatin literaler Produktion, als Aktantin einer extensiven Briefkultur, als ideeller Mittelpunkt (.Organisator4) einer Salon- bzw. spezifischen Gesprächskultur; die mit dem Stichwort Pietismus angezeigte zeitgenössisch verstärkte Entwicklung von Formen individueller christlicher Frömmigkeit, ihrerseits verbunden mit spezifischen sprachlichen Erscheinungsweisen; die mit der aufklärerischen (atheistischen) Philosophie und der etwa gleichzeitig erfolgenden Ablösung der Rhetorik als anthropologischen Orientierungssystems gesetzte Etablierung des Individuums als höchster rationaler Instanz, d.h. die Bewußtwerdung des Menschen seiner selbst; in rechtsgeschichtlicher Hinsicht die mit der Einführung des Code Napoleon gewährleistete Sicherstellung der Rechte der Persönlichkeit. (2) Strukturelle Innovationen in der Sprachsituation. Resultativ signifikant hinsichtlich expandierender Spielräume individuellen Sprachhandelns erscheinen hier vor allem: der mit den veränderten soziokulturellen Strukturen induzierte „Modernisierungsschub" kommunikativer Bedingungen, Gebrauchsweisen und Instrumentarien (v.Polenz 1989, 229). Neue kommunikative Anforderungen und Inhalte müssen zunächst mit alten (,eingeübten') formalen Verkehrsformen kommuniziert und alsbald durch neue ergänzt werden. Das hat nicht nur eine massenhafte Transzendierung bisheriger (vor allem institutioneller) Ausdrucksmuster zur Folge, sondern auch eine revolutierende Erweiterung und Ausdifferenzierung des (literalen) Textsortenspektrums. Vor allem aber wird im Ergebnis dieses Prozesses die prinzipielle Fähigkeit von Textmustern erzeugt und auf Akteursseite eingeübt, außerhalb ihrer (originären) Situationskonstellationen gebraucht zu werden (vgl. de Beaugrande 1980, 18). Damit verlieren die veraltenden kommunikativen Netze weithin ihre soziale Identität und - dies von besonderer Bedeutsamkeit - die an diese gebundenen Sprachvarietäten ihre bisherige distributioneile Charakteristik als Rollenattribute;

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eine signifikante „Verdichtung der öffentlichen Kommunikation" (Wehler 1987, 303ff.). Damit sei die völlige Um- und Neugestaltung der potentiellen, sog. informellen, „feldformigen" kommunikativen Beziehungen des sprachhandelnden Einzelnen zur Befriedigung seiner subjektiven kommunikativen Bedürfnisse charakterisiert, die die linearen, sozial institutionalisierten Strukturen übergreifen (vgl. Hiebsch/Vorwerg 1969, 207f.). Konkret bezogen auf das deutsche Sprachgebiet in der zweiten Hälfte des 18. und zunehmend im 19. Jh.: Mehr oder weniger populäre naturwissenschaftliche oder cameralistische Texte etwa hatten den Universitätsgelehrten, den bildungsbeflissenen Stadtbürger oder den aufgeklärten Adligen ebenso zum Adressaten wie den „lesenden Landmann" (Wittmann 1973), und bei der zeitgenössischen „Modelektüre" gar reichte - „O Lust, allen alles zu sein" - das Rezipientenspektrum von der preußischen Königin bis zur letzten Dienstmagd (vgl. Reincke 1989). Voraussetzung dafür war u.a. auch die grundlegende Neustrukturierung des sprachlichen Diasystems, markante Kennzeichen etwa der Paradigmenwechsel hinsichtlich der Dominanz von Oralität zu Literalität und die „kulturelle Mindestüberdachung" der regionalen (schreib)sprachlichen Systeme, die in einem historisch längerwährenden Prozeß aus ihren sozialen und landschaftlichen Zuordnungsbeziehungen gelöst werden (van der Lee/Reichmann 1972) und im interessierenden Zeitraum zunehmend Standardisierungstendenzen unterliegen (Bellmann 1986). Dabei werden die soziolingualen Vertikalisierungsprozesse flankiert von sprachkulturellen Innovationen: Mit der zunehmenden Situationsentbindung von Kommunikation ergeben sich neuartige Inszenierungsmöglichkeiten interaktionaler Beziehungen. Sie stellen die Voraussetzungen dar sowohl für die Entfaltung des zeitgenössischen Stilsystems (Lerchner 1997) als auch für eine textgeschichtlich spezifische Vielfalt von Textmustermischungen (Lerchner 1990). Andererseits machen die Standardisierungstendenzen umfangreiche metasprachliche Aktivitäten erforderlich, die in großer Zahl und durchaus vielfältigen Formen in Erscheinung treten und die sozialen Ausformungen einer erweiterten „metasprachlichen Kompetenz" dokumentieren (wissenschaftliche Sprachbeschreibung; Anleitungen für die Bewältigung kommunikativer Aufgaben; schichtenspezifische - präskriptive - Normsetzungen des Sprachgebrauchs). Komplementär dazu wird eine starke Versprachlichungstendenz nonverbaler Kommunikationsformen beobachtbar, wie sie erst jüngst z.B. anhand sich wandelnden Grußverhaltens bürgerlicher Schichten - vom Compliment zum Gruß - genauer beschrieben worden ist (Linke 1996).

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(3) Mentalitätsgeschichtliche Umbrüche. Die zitierte Untersuchung von A. Linke hat plastisch herausgearbeitet, daß und wie die kommunikationsgeschichtlichen Veränderungen am Beginn der Moderne ein menatlitätsgeschichtliches Korrelat haben. Es manifestiert sich in veränderten Einstellungen zu Sprache und Sprachkommunikation, die auf einem Wandel in der Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit beruhen. Auf der Suche nach sprachlich manifesten Formen der (Selbst)Deutung bürgerlicher Lebenserfahrung werden Sprache und Sprachbewußtsein als Element eines Sozialkonzepts „Bürgerlichkeit" etabliert. Die von Linke in diesem Konnex beobachteten Realisierungsformen dieser Tendenz sind durchaus vielfältig und dadurch hinsichtlich des Stellenwertes der Gesamterscheinung um so überzeugender: z.B. Bewertung von orthographischer und grammatischer Richtigkeit sowie von Dialektgebrauch in sozial klassifizierender Funktion; Geselligkeit als kommunikative Leistung (Salongespräche als Selbstwert ohne signifikanten Inhalt), Etablierung neuer Interaktionsrituale wie z.B. die gutbürgerliche Visite (Linke 1996). Die - äußerst grob - skizzierten kommunikativen Veränderungen und Umbrüche als Gesamtheit genommen, läßt sich folgendes Fazit für die Charakterisierung der sprachhistoriographisch relevanten objektiven Spielräume für individuelles kommunikatives Handeln ziehen: Festzustellen sind in verallgemeinerter Aussageform eine tendenzielle Vergrößerung bzw. Erweiterung von Entscheidungsspielräumen kommunikativen Handelns sowohl hinsichtlich dessen gegebenen Umfangs wie auch seiner potentiellen Qualität; daraus unmittelbar resultierend eine tendenzielle Erhöhung der Anforderungen an das kommunikative (seiegierende) Verhalten des Einzelnen und an seine entsprechenden Leistungen; dessenungeachtet objektiv das tendenzielle Absinken des potentiellen Ausnutzungskoeffizienten eines zunehmend differenzierteren diasystematisch verfaßten Varietätengefüges durch den diglottisch handelnden Einzelnen; eine tendenzielle kommunikative Vereinzelung der Akteure mit der natürlichen Folge eines anwachsenden Orientierungsbedarfs an - in wachsendem Maße wiederum individuellen - Sprachvorbildern als normsetzenden Instanzen. Die unverkennbare Widersprüchlichkeit dieser Tendenzen in ihrer Gesamtheit läßt es geraten erscheinen, gegenüber verabsolutierenden Schlußfolgerungen wie etwa kommunikationsgeschichtliche Befreiung des Individuums zu sich selbst o.ä. größte Zurückhaltung zu beobachten: Beschreibbar ist zunächst eine soziokulturell und mentalitätsgeschichtlich konditionierte Umstrukturierung

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der zeitgenössisch signifikanten Netzwerke, die Gradationen individuellen kommunikativen Verhaltens im 18./19. Jahrhundert in erhöhtem Maße ermöglichen. Die tatsächliche Wahrnehmung dieser Möglichkeiten durch die einzelnen Akteure ist über die subjektive Verfügbarkeit des Einzelnen hinsichtlich dieser Möglichkeiten zu beschreiben, über seine konkrete Einbindung in bestehende Orientierungsfonnationen (Allgemeinbildung, Anteil am „Kulturbetrieb", philosophisch-weltanschauliche Festlegung) und seine individuelle (sozio)psychische Disposition - in der notwendigen begrifflichen Verdichtung ausgedrückt: über seine je spezifische kulturelle Identität. 4.2 Individuelle Sprachspiele und kulturelle Identität Um das in 3.(4) begründete Differential funktionaler Korrelationen von objektiven Bedingungen der Kommunikation und individuellen kommunikativen Verhaltensdispositionen in geregelter Weise darstellen zu können, bietet sich methodologisch die (modifizierende) Anknüpfung an Wittgensteins Sprachspielkonzept an (Wittgenstein 1976). Danach erlangen die „Werkzeuge der Sprache" ihre Bedeutung erst aus dem Handlungszusammenhang in komplexen sprachlich-nichtsprachlichen Kommunikationseinheiten, d.h. sie sind variabel in Abhängigkeit von den Wahmehmungsräumen, den Intentionen und den thematischen Orientierungen des jeweiligen Akteurs. Faßt man dann, diesem Verständnis vom Grundsatz her folgend, das je konkrete „Sprachspiel" als das sprachliche Handeln eines Akteurs in einer kulturell-kommunikativ gegebenen Situationskonstellation auf, können (intersubjektive) Regelsysteme des Sprachgebrauchs und (subjektive) kulturelle Identität qua individuelle Verhaltensdisposition als zur Vermittlung gebracht angesehen werden. Dabei soll beschreibungspraktisch die von Dittmar/ Schlobinski (1988, 157ff.) unter soziolinguistischem Aspekt getroffene Unterscheidung von habituell und strategisch bestimmtem individuellen Sprachverhalten adaptiert werden: habituelles Sprachverhalten ist gekennzeichnet durch mehr oder weniger unbewußte (unkontrollierte) durchschnittliche Sprachgebrauchsweise, von Kontext und Diskurs relativ unabhängige Performanz des Einzelnen; strategisches dagegen vor allem bestimmt durch die Merkmale Bewußtheit, Zweck- und Zielorientiertheit (Intentionalität) des jeweiligen kommunikativen Aktes.5 (1) Reflexe lebensweltlicher Kontexte im habituellen Kommunikationsverhalten des Einzelnen. Unter diesem Gesichtspunkt wären für den hier interessierenden Zeitraum der deutschen Sprachgeschichte, streng genommen, alle Fakten aufzuführen, 5

„The more explicitly speech behavior is guided by goals and ends, the more strategic it is." (Dittmar/Schlobinski 1988, 160).

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die mit Etablierung und Funktionsmechanismen dessen im Zusammenhang stehen, was in den neueren Sprachgeschichtsdarstellungen als bildungsbürgerliches Deutsch und Herausbildung einer spezifisch bürgerlichen Sprachkultur - durchaus in regionaler Differenzierung (v.Polenz 1989) - umfassend beschrieben worden ist (vgl. v.Polenz 1994). Das ist, zumal in diesem Kreis, selbstverständlich in indiskutabler Weise überflüssig - womit die Lizenz als erteilt angesehen werden kann für die von meiner Aussageintention bestimmten, also interessegeleiteten Beschränkung des Anzuführenden auf spezifische Akzentsetzungen. In diesem Sinne seien die folgenden Feststellungen aufgefaßt: Insofern Sprache als reflexiv operierendes Kommunikationssystem wiederkehrende Handlungen zu Symbolen generalisiert, bestimmt sich ihre Schlüsselrolle in (kulturellen) Identifikationsprozessen. Unter diesem Gesichtspunkt wird (soziale) Kommunikation dann jedoch nicht primär als Austausch von Informationen im Sinne der Nachrichtentechnik konzeptualisiert, sondern als konsensuelle Konstruktion von Orientierungsinteraktionen durch die interagierenden Akteure und damit als unmittelbare Lebenspraxis. Habituelles Sprachverhalten im Beschreibungszeitraum richtet sich demnach aus an den historischen Relevanzbereichen von Kommunikation, d.h. den konkreten Erfahningsfeldem der Akteure. Jene werden ihrerseits auf Grund des Erlebens von Welt als Normierungsdomänen, -instanzen und -Instrumentarien der verschiedenen soziokulturellen Bereiche von Kommunikation wahrgenommen und vom Einzelnen annehmbar als Merkmalbündel von Regelsystemen zu individuellen kognitiven Strukturen von Kultur verdichtet. Auf diese Weise können u.a. auch ethische Normen und Wertsysteme innerhalb eines Consoziums, Sitten, Rollenerwartungen und kommunikative Maximen in das habituelle sprachlich-kommunikative Verhalten des Einzelnen eingehen; das wird z.B. manifest, wenn man die ethnomethodologisch inspirierte Fragestellung /wer wann mit wem wo zu welchem Zweck mit welchen Mitteln kommunizieren kann, darf, soll oder muß/ beim einzelnen kommunikativen Ereignis für den Akteur in actu als (mehr oder weniger unbewußt) verhaltensregulierend begreift. Als unmittelbar sprachgeschichtlich signifikante Erscheinungsweise solcherart Prozesse stellt sich auf dieser Grundlage für das 18./19. Jh. eine stark veränderte sozialsymbolische Aufladung der Muster und Routinen sprachlicher Kommunikation dar. Sie wird greifbar z.B. in den weitreichenden Normierungs- und vor allem Kodifizierungsbemühungen für das bildvngsbürgerliche Deutsch, bekanntermaßen auf den verschiedensten Ebenen und mit einigermaßen unterschiedlichen Instrumentarien: neben „anständigen" geselligen Umgangsformen werden „richtiges" Sprechen

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und Schreiben im 19.Jh. ebenso wie konversationeile Gewandtheit und (am Ideal der Klassik) geschulter hoher stilistischer Ausdruck nachgerade zu kulturellen Identitätssignalen (vgl. Linke 1996, 170ff.) - wie alle Markierungen dieser Art natürlich nicht zuletzt gebraucht als Mittel der sozialen Ausgrenzung von „Nichtdazu-Gehörigen". Man macht es sich aber wohl zu leicht, wenn man den hierbei wirksamen Kulturmechanismus einfach auf das anwachsende Sozialprestige des Bürgertums zurückführt. Mit gutem Grund ist in den modernen Sprachgeschichtdarstellungen von bil¿ungsbürgerlichem Deutsch die Rede, und dieser Sprachgebrauch weist darauf, daß die sprachlich-kommunikativen Normierungsprozesse von der - in der Regel sozioökonomisch durchaus unterprivilegierten - (bürgerlichen) Intelligenz historisch verantwortet werden.6 Auf diese Feststellung wird in argumentativer Hinsicht Wert gelegt, weil damit eine grundsätzlich leichtere, im Verlauf des 19. Jh.s auch tatsächlich in größerem Umfang beobachtbare Überschreitbarkeit habitueller soziokommunikativer Restriktionen als im Falle linearer sozialer Rollenzuweisungen möglich angezeigt wird. (2) Regelbefolgung und Regeldurchbrechung im strategischen Kommunikationsverhalten des Einzelnen. Aus der massiven Erweiterung der objektiven Spielräume individuellen Sprachveihaltens ergibt sich in der Moderae und ihrer „Sattelzeit" im letzten Drittel des 18. Jh.s eine sprachgeschichtlich neue Qualität für das strategische Sprachspiel des Einzelnen im Sinne der kommunikationsaktorientierten Durchbrechung von Sprachgebrauchsnormen zur Erzielung eines je spezifischen Effekts. Diese neue Qualität drückt sich m.E. am deutlichsten aus in dem im 18.Jh. konstituierten stilistisch motivierten individuellen Sprachspiel, das nicht nur - wie bis dahin - funktionalen Erfordernissen des kommunikativen Aktes mit der Wahl funktional festgelegter sprachlicher Mittel folgt, sondern dem individuellen Gestaltungswillen Ausdruck zu verschaffen vermag. In den zeitgenössischen poetologischen Debatten der englischen Aufklärung ist dieser qualitativ neue Sachverhalt klarsichtig auf die dichotomische Formel des opting in (Streben nach Erfüllung von Gebrauchsnormen) gegenüber einem opting out (intentionale Durchbrechung von Gebrauchsnormen zur Erzielung eines individuell gewollten, insbesondere auch ästhetisch bestimmten kommunikativen Effekts) gebracht worden (Assmann 1986). Es konnte nicht ausbleiben, daß die damit etablierte qualitativ grundstürzend veränderte individuelle Sprachspielkompetenz alsbald auch von (großen) deutschen Schriftstellern der Zeit als Erfahrungswert ihres literari6

Sozialprestige darf „nicht einfach mit der sozial höchsten Gruppe assoziiert werden" (Haas 1978,95). In anderem Diskussionszusammenhang ist für eine dem beschriebenen Sachverhalt vergleichbare Erscheinung die Bezeichnungcovert prestige eingeführt worden (Herrgen 1986, 134).

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sehen Schaffens entdeckt und dann bewußt für die literarisch-künstlerische Gestaltung ihrer Texte eingesetzt worden ist - eindrücklichstes Zeugnis dafür m.E. Goethes kurze Abhandlung von 1788 über „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil". Dieser Vorgang hatte unmittelbare Auswirkungen auf die sprach- und kommunikationsgeschichtliche Situation des Deutschen in dieser Zeit. Als in dieser Hinsicht besonders markante Erscheinungsweisen von Modemisierungsschüben seien in diesem Zusammenhang wenigstens genannt das folgerichtige, ziemlich abrupte Ende der (antiken) Rhetorik um die Mitte des 18.Jh.s (in der für ein sprachgestalterisches opting out kein theoretisch annehmbarer Platz war), die Konstituierung des literarischen Diskurses als Orientierungs- und Leitvarietät normativen Sprachgebrauchs bis weit über die Mitte des 19. Jhs. hinaus sowie, im Zusammenhang damit, die Etablierung von individuellen Sprachvorbildern (im 19. Jh. insbesondere Schillers). Am Ende dieser Kette steht dann die Inanspruchnahme des individuellen Sprachspiels fur die Realisierung des kommunikationsethischen Rechts auf Persönlichkeitsverwirklichung, etwa in Kleists berühmtem Essay über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Nicht übersehen werden darf bei alledem freilich eine gewisse elitär eingefárbte Vergrößerung des sprachgeschichtlichen Abstandes zwischen aktiver und passiver Sprachgebrauchskompetenz beim „durchschnittlichen" Sprachteilhaber, die mit der tendenziellen Neuorientierung des individuellen Sprachspielverhaltens an der je spezifischen kulturellen Identität des Einzelnen verbunden ist.

5.

Sprachhistoriographischer Ertrag

Kurz gefaßt, läßt sich ein möglicher Nutzen aus der demonstrierten Zugriffsweise auf einen traditionell wohl weniger im Mittelpunkt sprachgeschichtlichen Interesses stehenden Gegenstand für die Sprachhistoriographie des Deutschen wie folgt denken: Die deutsche Sprachgeschichte des 18./19. Jh.s könnte in dieser oder jener ihrer Erscheinungsformen durchschaubarer gemacht worden sein. Die versuchte Explikation eines komplexen Zusammenwirkens von Kultur- und Sprachentwicklung zielte auf einen methodologischen Gewinn, der in dem Schritt von einer mehr oder weniger additiv gehandhabten Interdisziplinarität sprachgeschichtlicher Forschung zu einer modellfahigen Transdisziplinarität bestehen sollte. Mit allem Nachdruck wird das Axiom verfochten und damit zur künftigen Berücksichtigung empfohlen, daß Sprachhistoriographie ohne eine

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obligatorische funktionale Implementierung von geistes- bzw. mentalitätsgeschichtlichen Parametern unvollständig bleiben muß. Dies könnte den Impuls fur eine bestimmte Akzentuierung der anhaltenden Diskussion zu Ursachen und Mechanismen des Sprachwandels geben.

6.

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Wilfried Seibicke (Heidelberg)

Vornamen und Kulturgeschichte Vornamengeschichte ist Kulturgeschichte! Es bedarf also gar keines mehr oder weniger kühnen Brückenschlags, um die beiden Begriffe zusammenzubringen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil Vomamengebung und Vornamengebrauch elementar zum sprachlichen Handeln gehören und mit der Stellung der Menschen in der Gesellschaft und mit ihren Vorstellungen von der Welt, ihrer Ideenwelt aufs engste verknüpft sind. Im Grunde gilt diese Aussage für alle Arten von Personennamen. So ist ζ. B. die Einführung der Familiennamen ein kulturgeschichtlich bedeutsames Ereignis; denn bekanntlich ist das Führen eines erblichen Beinamens und die Art und Weise, wie er gebildet wird, nicht überall auf der Welt gleich, vielmehr kulturspezifisch. Meiner Ansicht nach hat die Einführung des Familiennamens nicht nur genealogische Beziehungen deutlich gemacht, sondern auch unseren Begriff von .Familie' im Sinne von .Gemeinschaft von Eltern und unverheirateten Kindern' mitgeprägt. Die einmal festgelegten Familiennamen sind Hann freilich weder kultur- noch sprachgeschichtlich von besonderem Interesse; ob beipielsweise Herr oder Frau Bekker im 17. oder im 20. Jahrhundert gelebt haben, ist - vom Namen her gesehen - ohne Belang. Erst Änderungen der Normen beim Erwerb, der Führung und Weitergabe eines Familiennamens sind wieder kulturgeschichtlich bedeutsam. Dabei steht nicht der Name selbst, sondern das Namensrecht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Erst im letzten Viertel unseres Jahrhunderts ist, aufgrund der verfassungsgemäßen Forderung nach der Gleichstellung von Mann und Frau, ein solcher kultureller Wandel in Deutschland angestoßen worden, der dazu geführt hat, daß Familienmitglieder nicht unbedingt mehr die gleichen Familiennamen tragen; und wohin die Entwicklung letztlich führen wird, ist eine offene Frage. Mit diesen Bemerkungen ist bereits angedeutet, daß der Begriff,Vorname' selbst ein kulturspezifisches Phänomen ist; denn er existiert in der uns gewohnten Bedeutung erst, seit es Familiennamen gibt. Er ist Bestandteil eines mehrteiligen oder polyonymen Personennamens, wie ihn - in jeweils anderer Weise - z.B. auch Slawen (Vorname + Vatersname + Familienname) oder Spanier (Vorname + Geburtsname des Vaters + Geburtsname der Mutter) kennen, im Gegensatz zum mononymen Personennamen der Frühzeit oder in anderen Kulturen. Mit diesem hat er jedoch gemeinsam, daß er nicht über-

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nommen wird (wie der Familienname), sondern vergeben wird, und mit den Fragen, wer zu welcher Zeit aus welchen Motiven welche Art von Namen auswählt, sind wir mitten in sozio-onomastischen und zugleich kulturgeschichtlichen Problemstellungen. Höchst aufschlußreich wäre jetzt ein weltweiter Vergleich der Vornamentypen und der Normen und Traditionen bei der Vomamengebung, aber dazu reichen meine Kenntnisse nicht aus. Ich beschränke mich deshalb darauf, einige Beobachtungen aus der deutschen Sprach- und Vornamengeschichte vor Ihrem geistigen Auge vorüberziehen zu lassen. Namengeber sind immer die Eltern. Daran hat sich seit Urzeiten nichts geändert. Weil es aber im Laufe der Jahrhunderte Veränderungen in den ausgewählten Vornamen gegeben hat, stellt sich die Frage, von welchen gesellschaftlichen Kreisen die Neueningen (Innovationen) ausgegangen sind und was sie verursacht haben könnte. Es ist oft die Rede gewesen vom „gesunkenen Kulturgut", womit die Richtung der Ausbreitung von der Spitze der Gesellschaftspyramide abwärts bezeichnet wurde. Zweifellos haben dynastische Namen vielfach als Vorbilder gewirkt, wie sich an der Häufigkeit von Namen wie Heinrich, Friedrich, Konrad, Otto, Adelheid, Mathilde/Mechthild im Mittelalter, Friedrich und Wilhelm in Preußen, August in Sachsen usw. feststellen läßt. Dabei ist allerdings zu fragen, auf welche Weise sie sich ausgebreitet haben: ob durch bloße Nachahmimg (die mehrere Stände oder Schichten überspringen, aber auch auch allmählich von „oben" nach „unten" ausgreifen kann) oder durch die der freien Wahl entzogene Mechanik der Benennung nach sozial höherstehenden Paten. Solche Neuerungen sind nur partiell, d.h., sie sind nur auf der übernehmenden Seite Neuerungen. Radikale Innovationen dagegen wie die Einführung bisher unbekannter oder ungebräuchlicher Namen oder einer neuen Namengebungsmotivation scheinen eher von emporstrebenden, ein erstarkendes Selbstbewußtsein zur Schau tragenden oberen und mittleren Schichten auszugehen. So ist etwa die einschneidende Neuerung der Namengebung nach biblischen Gestalten und Heiligen im ausgehenden Mittelalter beim Bürgertum am verbreitetsten, während der Adel sich zurückhält und die Landbevölkerung langsam „nachzieht" (cultural lag). Die Aufnahme griechischer und lateinischer Namen aus der klassischen Antike im Zeitalter des Humanismus ist verständlicherweise eine Angelegenheit des Bildungsbürgertums. Ganz anders ist die gesellschaftliche Situierung dagegen bei der Bildung neuer, selbstdeutiger Namen aus dem Wortschatz der Gegenwartssprache im 17. und 18. Jahrhundert; hier sind es vor allem gewisse, nicht unbedingt sozial eingrenzbare Kreise innerhalb des Protestantismus, die diesen kühnen Schritt vollziehen, und sie verbinden damit zugleich ein öffentliches Bekenntnis zu ihrer religiösen Einstellung (Demonstrativnamen). Der Wandel in der Vorna-

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mengebung unseres Jahrhunderts läßt sich meiner Ansicht nach ebenfalls nicht sozial „festmachen". Ich kenne jedenfalls keine Untersuchung, die in dieser Hinsicht zu eindeutigen Ergebnissen gelangt wäre. Vielleicht ist es ja auch Ausdruck unserer zum Individualismus neigenden Gesellschaft, daß es keine Gruppen oder Schichten mehr gibt, die als Maßstäbe setzend, vorbildlich oder sonstwie prägend gelten könnten. Ich wende mich nunmehr in einem zweiten Ansatz den Namen selbst zu; sie sind freilich von den Motivationen der Namengeber nicht streng zu trennen. Die ältesten überlieferten Rufnamen der großen indoeuropäischen Sprachenfamilie waren bekanntlich in der Regel aus zwei - meist nominalen - Namengliedern oder -Stämmen zusammengesetzt (dithematisch). Das trifft auch für die althochdeutschen Rufhamen germanischer Herkunft zu. Wie es zu dieser besonderen Art der Namenbildung kam, ist ungeklärt. Ungewiß ist auch, wie wir sie zu deuten haben. Formal stimmen sie mit appellativischen Komposita überein, und wir können heute fast jedem Namenglied eine appellativische Bedeutung zuordnen, aber wie die beiden Namenglieder syntaktisch und semantisch miteinander „verzahnt" waren, läßt sich kaum mehr feststellen. Die Wörter, die man hierfür verwendete, stammen vorzugsweise aus folgenden Bereichen: kriegerische Tugenden, Kampf und Ruhm, (Grund-)Besitz, Herrschaft und Schutz, Dienst und (Kriegs-)Gefolgschaft, Abstammung und Herkunft, Kult und Mythologie. Die unter den germanisch-deutschen Namenstämmen auffallend häufigen Tierbezeichnungen (Adler, Bär, Eber, Rabe, Schwan, Wolf) hängen wahrscheinlich mit mythologischen Vorstellungen zusammen; sie stehen für Eigenschaften, die den Tieren zugeschrieben wurden, und rücken damit vielfach in die Nähe von Bezeichnungen kriegerischer Tugenden. Beachtenswert ist ferner, daß in den altdeutschen Rufhamen eine Reihe von Wörtern fortbesteht, die der feierlichen Dichtersprache entnommen sind und im täglichen Sprachgebrauch unüblich waren. Auch sie stehen gewöhnlich ills Metaphern für kriegerische Fähigkeiten. Daneben gab es vereinzelt monothematische Namen wie z.B. Kraft, Ernst oder Friso, die meist aus Beinamen hervorgegangen waren. All diese Namen bzw. ihre Bestandteile spiegeln wesentliche Ausschnitte der Lebensumstände und -inhalte ihrer Träger und deren Zeitgenossen. Ursprünglich mögen sie in ihrer vollen „wörtlichen" Bedeutung verstanden und gegeben worden und mit viel Magie und Wunschdenken verbunden gewesen sein. Bereits in germanischer Zeit wird aber auch innerfamiliäre Nachbenennung nachweisbar, d.h., die Namen für die Neugeborenen werden entweder aus den Namenstämmen der Eltern oder Großeltern neu zusammengefügt, oder es werden die Namen der Vorfahren (meist der Großeltern) vollständig an die nachfolgende(n) Generation(en) weitergegeben. Auch hierbei dürften der Glaube an ein Weiterleben nach dem

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Tode, an die Übertragung positiver Eigenschaften oder an die schützende Kraft der Ahnen die wichtigsten Motive abgegeben haben. In beiden Fällen kann die wörtliche Bedeutung des Kompositums keine Rolle mehr gespielt haben; die Namen haben sich gleichsam aus dem Wortschatz „emanzipiert". Weitere Möglichkeiten, familiäre Zusammenhänge in den Namen kenntlich zu machen, sind etwa die Verwendung gleicher Namenbestandteile oder des Stabreims. All das weist auf eine starke verwandtschaftliche Bindung in der Rufnamengebung hin. Daß sie im Laufe der Geschichte abnimmt, ist vielleicht auch eine (indirekte) Folge der Einführung des Familiennamens; denn der Familienname stellt die genealogische Beziehimg so deutlich heraus, daß im Bereich der Vornamen darauf verzichtet werden kann. Kennzeichnend fur die Entwicklung der germanisch-deutschen Rufnamen im Mittelalter sind zwei Tendenzen: zum einen die Konzentration auf eine beschränkte Anzahl von Namengliedem und deren Kombination, zum anderen die lautliche Umgestaltung der Namen im mündlichen Gebrauch. Unter den bevorzugten Namen machen sich, wie schon erwähnt, vor allem dynastische Vorbilder bemerkbar. Auch hier liegt eine Form der Nachbenennung vor, bei der bestimmte Namensträger für die Wahl eines Namens maßgeblich sind. Zusammen mit der Nachbenennung innerhalb der Familie könnte dies zur Verringerung des tatsächlich benutzten Vornamenbestandes und zur „Egalisierung" der Namengebung beigetragen haben. Ob die Einfuhrung fester Namenzusätze, der Familiennamen, nach romanischem Vorbild eine direkte Folge der durch die Namenreduzierung erschwerten Differenzierung der Personen - vor allem im Bereich der Verwaltung und des Rechts - ist, sei dahingestellt, sicherlich aber hat diese Namensituation die neue bionymische Form des Namens einer Person gefordert. - Die erwähnten mundartlichen Varianten, nämlich Kurz- und Koseformen, werden hauptsächlich zu den häufigsten Rufhamen gebildet. Sie führen nochmals vor Augen, wie wenig die Bedeutung der Namen zählt; denn in den Verkürzungen und Umgestaltungen geht der Zusammenhang mit den ursprünglichen Wortstämmen und deren Etyma mehr und mehr verloren. Hier zeigt sich übrigens eine deutliche Trennung von Namengebung und Namengebrauch, denn die Varianten entstehen erst in der mündlichen Kommunikation. Man hat beobachtet, daß in Urkunden Kurz- und Koseformen eher für untere Schichten als für Adel, Patriziat und Klerus verwendet werden. Aus dieser Schreibregelung läßt sich indessen nicht ableiten, daß in den höheren Schichten weniger Kurz- und Koseformen gebraucht worden wären, sie spiegelt jedoch die gesellschaftliche Distanz in der Anrede zwischen Herrschenden und Untergebenen, welche in patriarchalischen Verhältnissen eine Art Kind-Status hatten. Eine vergleichbare Haltung manifestiert sich in späterer Zeit im Gebrauch des Vornamens zusammen mit dem Du gegenüber Dienstpersonal. Es scheint mir dennoch ein sozialer Unterschied darin

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zu bestehen, daß in höheren Schichten (noch heute) teilweise formellere Umgangsformen gelten, die auch ein distanzierteres Verhältnis zur Namenabwandlung einschließen. In der zweiten Häfte des 12. Jahrhunderts setzt jene Neuerung ein, die im weiteren Verlauf zu einer tiefgreifenden Umgestaltung des Vornamensystems und in der Vomamengebung fuhrt: Mehr und mehr werden biblische und andere fremdsprachige Namen aus der Religions- und Kirchengeschichte (sog. Heiligennamen) gebräuchlich. In Deutschland halten die neuen Namen zuerst am Rhein ihren Einzug und breiten sich von dort allmählich aus. Was auf den ersten Blick wie ein modisches Ausgreifen nach neuen, ungewöhnlichen Namen erscheint, ist in Wirklichkeit die Hinwendung zu einem ganz neuen Selektionsprinzip oder Namengebungsmotiv: der Nachbenennung nach einer geheiligten Gestalt - zunächst außerhalb jedes familiären Bezugs - , die zu Schutz und Schirm des Täuflings angerufen wird. Voraus geht ein Wandel im Ausdruck und in der Ausübimg der Frömmigkeit, nämlich die Entfaltung des Heiligen- und Reliquienkultes im Verlauf und Gefolge der Kreuzzüge. Landes·, Diözesan-, Stadt- und Kirchenpatrone beginnen die Namengebung größerer oder kleinerer Räume zu prägen. Dabei ist nicht auszuschließen, daß sowohl die familiäre Nachbenennung wie auch die Nachahmung höherer Gesellschaftsschichten zur Verbreitung der neuen Namen beigetragen hat, d.h., daß deren Wahl also nicht ausschließlich durch die Heiligenverehrung motiviert ist. Es fallt außerdem auf, daß gewisse Namenspatrone besonders beliebt sind, andere dagegen gemieden werden. Man kann also nicht vom Vorhandensein eines Kirchenpatrons auf die Verbreitung seines Namens im Ort und in der Umgebimg schließen. Anscheinend gibt es so etwas wie „modische" Heilige. Im übrigen ist das neue Auswahlprinzip ein großer Schritt in Richtung auf eine freie Vomamengebung, d.h. eine individuell motivierte Namenwahl. Erst dort, wo es üblich wird, den Heiligen des Geburts- oder des Tauftages zum Namenspatron zu bestimmen oder Namen aus der Familie nach alter Tradition weiterzugeben, tritt wieder eine gebundene Vornamenwahl ein. - Die neuen, ausländischen Rufnamen verdrängen nach und nach die einheimischen. Im 15./16. Jahrhundert erreicht ihr Anteil vielerorts 90% und mehr. Auch hier sind, wie gesagt, bestimmte Namen besonders begehrt, z.B. Johannes, Petrus, Michael, Georg, Margarethe, Elisabeth, Katharina, Anna, vom 16. Jahrhundert an auch Maria (wohingegen die Namen Jesus und Christus in Deutschland - anders als in Spanien, Italien und Griechenland - bis heute als Vornamen tabu geblieben sind; auch das ist ein interessanter kulturhistorischer Aspekt). Wie die germanisch-deutschen Namen werden auch die fremdsprachigen Rufnamen umgestaltet: angepaßt, abgeschliffen, verkürzt, mit KoseEndungen versehen und damit der deutschen Sprache einverleibt. (Die lange Zeit in der deutschen Namenkunde verfolgte etymologisierende Untersuchung

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des Verhältnisses von deutschen und nichtdeutschen Namen sagt eher etwas über die Wissenschaft und ihre Vertreter aus ills über die Namen selbst.) Lange Zeit bleiben diese Varianten der mündlichen Kommunikation vorbehalten, denn vor allem die katholische Kirche legt bei der Eintragung ins Taufbuch bis ins 20. Jahrhundert hinein Wert auf die unveränderte Namengestalt des Namenpatrons. In diese Zeit des Umbruchs in der Vomamengebung fallt noch eine andere folgenreiche Veränderung des gesamten Personenamensystems, nämlich das schon erwähnte Aufkommen der Familiennamen. Jetzt kommt also ein zweiter Personenname hinzu, der das Individuum in eine genealogische Gruppe einbindet, und aus dem Rufnamen im alten Sinne wird nun der moderne Vorname. Diese Neugestaltung des Personennamensystems zieht weitere Konsequenzen nach sich. Je mehr sich das Schwergewicht auf den Gruppen- oder Familiennamen verlagert, desto freier kann man den Bereich des individuellen Namens, des Vornamens also, gestalten. Mit anderen Worten: Man konnte einem Kinde nun statt éines Vornamens auch zwei oder drei Vornamen geben, und das kam eigentlich ganz gelegen. Denn bei der Konzentration auf wenige, immer wiederkehrende Rufnamen erleichterte die Hinzufügung eines zweiten Vornamens die Unterscheidung. Daß die sog. Doppelnamen auch tatsächlich als Einheit gebraucht wurden, zeigen Kontraktionsformen wie Liselotte ('aus Elisabeth Charlotte), Annemarie (aus Anna Maria), Annekätter (aus Anna Katharina), Marizebill (aus Maria Sibylla) usw. Schließlich führte die Entwicklung zu einem ganz neuen Begriff .Rufname'. Mit diesem Wort bezeichnen wir heute den tatsächlich gebrauchten von mehreren im Geburtenbuch eingetragenen Vornamen. Namenrechtlich gibt es diesen Begriff zwar seit einigen Jahren nicht mehr, aber in der Praxis ist er immer noch gebräuchlich und zweifellos auch von Nutzen. Die durchschnittliche Anzahl der Vornamen ist übrigens bis heute regional verschieden. Es zeigt sich hier ein deutliches Süd-Nord-Gefälle, das teilweise mit der Verteilung von Katholizismus und Protestantismus einhergeht. Überhaupt gibt es schon seit vordeutscher Zeit regionale Besonderheiten in der Bevorzugung bestimmter Rufhamen und Rufhamenstämme. Zusammen mit den dialektalen lautlichen Differenzierungen der Namenstämme und der Kurzund Koseformen wirken sie sich ebenfalls bis in die Gegenwart aus, werden jedoch zugunsten eines überregionalen und zum Teil sogar internationalen Ausgleichs im modernen, „modischen" Vornamenrepertoire immer stärker eingeebnet. Das trifft auch auf die konfessionsbedingten landschaftlichen Unterschiede zu, die sich nach der Reformation herausgebildet hatten, wenngleich ein Franz, Joseph oder Xaver noch immer eher im katholischen Bayern anzutreffen ist.

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Die Reformation brachte eine Abkehr von den Heiligennamen in protestantischen Kreisen mit sich. Man wandte sich nunmehr verstärkt wieder biblischen, besonders alttestamentlichen, aber auch den altdeutschen Rufhamen zu. Ein beredtes Zeugnis für die letztgenannte Bestrebimg ist das Martin Luther zugeschriebene „Namen Büchlein" von 1537, in dem altdeutsche - oder für altdeutsch gehaltene - Taufnamen von ihrem Ruf als „heidnisch" befreit und als den „christlichen" Namen ebenbürtig rehabilitiert werden. Und - das ist ganz entscheidend! - sie werden als sinntragend, aus der deutschen Sprache erklärbar vorgestellt Schon um 1600 entstehen in diesem geistigen Umfeld Neuprägungen wie Christfried analog zu Gottfried. Die pietistische Bewegung griff diese Anregung später auf und schuf mit den Mitteln des zeitgenössischen Wortschatzes neue Personennamen, deren Sinn sich jedermann sofort erschließt. Die Neubildungen sind meist zweiteilig (bithematisch) wie die altdeutschen Rufnamen, aber sie sind größtenteils Satznamen (wie Fürchtegott, Leberecht, Gotthilf usw.); sie halten zur rechten christlichen Lebensführung an oder sind als schützende Geleitworte über das Leben des Namensträgers gestellt. Fast zwei Jahrhunderte lang haben diese Namen die protestantische Namengebimg mitbestimmt; dennoch haben sie sich auf die Dauer nicht durchzusetzen vermocht - vielleicht gerade deshalb, weil sie in ihrer sprachlichen Durchsichtigkeit allzu aufdringlich, plakativ und für den Namengebrauch im Alltag zu anspruchsvoll wirkten. Außerdem sind die Satznamen nicht eindeutig männlich oder weiblich - diese Trennung ist auch ein kulturelles Spezifikum, das z.B. im Koreanischen nicht existiert - , und sie lassen kaum Koseformen, Verkürzungen und andere Umgestaltungen im vertraulichen Gespräch zu. Etwa im 16. Jahrhundert setzte erneut ein einschneidender Motivationswechsel ein: die Namengebung nach den Paten. Hierbei ist den Eltern die Entscheidungsfreiheit bei der Wahl der Vornamen weitgehend entzogen. Man entscheidet sich für Personen, nicht für Namen; deren Bedeutung spielt deshalb keine Rolle. Die neue Art der Namengebung begünstigt einerseits die Vergabe von mehr als einem Vornamen je Kind (je mehr Paten, desto solider die soziale Absicherung des Kindes), andererseits hatte sie eine weitere Kumulation der ohnehin bevorzugten Vornamen zur Folge, und - wie schon eingangs erwähnt - es konnten sich auf diese Weise bestimmte Namen von „oben" nach „unten" ausbreiten. Ein weitere Folge der Namengebung nach Paten ist das Entstehen movierter Frauennamen (Jakoba, Jakobea, Jakobine, Wilhelma, Wilhelmine usw.); sie werden vor allem von Protestanten genutzt. Den - vorläufig - letzten Einschnitt in der Geschichte der Vomamengebung sehe ich in der Einführung der Standesämter und des Bürgerlichen Gesetzbuches im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts. Von nun an übernimmt der Staat die vollständige Registrierung und die administrative Kontrolle aller

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Bürger, stellt gewisse Normen auf - zum Beispiel, daß ein Name nicht in beliebiger Form eingetragen und auch nicht willkürlich verändert werden darf und schafft so ein neues Namensrecht. Andererseits kümmert sich in den Ämtern niemand darum, welche Motivationen hinter der Wahl der Vornamen für ein neugeborenes Kind stehen, ob es familiäre oder dynastische oder religiöse Beweggründe für die Entscheidung der Eltern gibt. Die Eltern selbst werden damit zu „Herren" über die Namen; sie dürfen selbst-herrlich, ohne Rücksicht auf Traditionen oder ihre gesellschaftliche Umgebung Namen austeilen, solange deren „Ordnungsfunktion" gewährleistet ist, d.h., (1) die Vornamen als Vornamen kenntlich sind, (2) das Geschlecht des Namensträgers erkennen lassen und (3) ihn nicht dem Gespött oder der Verachtung preisgeben. Mit dem neuen Namensrecht wird eine Entwicklung begünstigt, die sich lange zuvor angebahnt hatte und die die gegenwärtige Vomamengebung beherrscht: der Übergang zur individualistischen Vomamengebung, bei der der Name selbst im Mittelpunkt steht. Ausschlaggebend ist meist der Wohlklang, also die Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens, aber auch die etymologische Bedeutung kann nun wieder ins Blickfeld rücken, und darüber hinaus dürfen alle denkbaren Assoziationen mit dem sprachlichen Zeichen bei der Entscheidung mitwirken, zum Beispiel Urlaubserinnerungen, Träume von fernen, exotischen Ländern, Gefühle, die eine Gestalt in einem Buch, einer Zeitungsmeldung, einem Film erregt hat, Wunschbilder von Talent, Glück, Erfolg und Reichtum (ich denke vor allem an sog. Idolnamen nach Schlager-, Rock- oder Popstars oder Sportlern) usw. usf. Letztlich stehen die Namen der ganzen Welt jedermann zur Verfugung, und es ist daher kein Wunder, daß unter den Vornamen für deutsche Kinder immer öfter Entlehnungen aus anderen, manchmal sehr entlegenen Sprachen anzutreffen sind. Namenentlehnungen hat es freilich - wie auch Wortentlehnungen - immer gegeben. Schon in germanischer Zeit wurde beispielsweise das Namenelement RIK, ahd. RIHH(I), aus dem Keltischen übernommen. Eine Flut fremsprachiger Namen brach später herein, als man dazu überging, die Namen nach religiösen Vorbildern auszuwählen. Das Motiv für die Entlehnung war damals allerdings nicht die Fremd- und Neuartigkeit der Namen, sondern die Verehrung der Personen, die mit den Namen verbunden waren. Das Zeitalter des Humanismus verschafft weiteren Namen aus dem klassischen Altertum Eingang in den Vornamenschatz für deutsche Kinder, z.B. Achilles, Claudius, Hektor, C(h)aritas, Crescentia, Sabina. Im 18. und 19. Jahrhundert kommen Namen aus dem Französischen dazu: Eduard, Emil, Jean, Louis, Charlotte, Babette, Henriette, Lisette, Louise u. a. m. Oft wurden die Rufnamen französisiert, auch wenn sie im Taufbuch in anderer Form eingetragen waren (man denke etwa an Johann Paul Friedrich Richter, der sich Jean Paul nannte oder

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an den preußischen Prinzen Louis [eigentlich Ludwig] Ferdinand). Im 18. und 19. Jahrhundert kommen vor allem englische Namen hinzu {Edith, Fanny, Molly, Alfred, Arthur, Edgar, Oskar, Willy), im 19. außerdem slawische (Olga, Wanda, Ludmilla, Fe(o)dor) und nordische (Sigrid, Ingrid, Helga, Gustav, Hjalmar, Knut). Gleichzeitig entsteht eine Gegenbewegung, die vor allem nach der Reichsgründung 1871 starken Auftrieb bekommt und vom 1885 gegründeten Allgemeinen Deutschen Sprachverein gefördert wird: Zurück zu den altdeutschen, germanischen Rufnamen! In der Tat nehmen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diese Vornamen deutlich zu, und es werden manchmal sogar neue nach altem Bildungsmuster geschaffen (z.B. Sonntraud, Schöntraud, Treuhilde). Diese Tendenz setzt sich in den dreißiger Jahren fort, ohne daß eine, dem Germanenkult der Nationalsozialisten entsprechende, durchgreifende „Germanisierang" der Namengebung stattgefunden hätte oder auch nur angestrebt worden wäre. Das eigentliche Interesse der Nationalsozialisten in der Vornamenfrage konzentrierte sich nämlich sehr bald einzig und allein darauf, die jüdischen Mitmenschen zu diskriminieren und zu isolieren. 1938 erging eine Verordnung, wonach jüdische Kinder nur noch Jüdische" Vornamen (was immer das sei) bekommen durften und alle Juden, die einen anderen Vornamen führten, einen weiteren Vornamen annehmen mußten, und zwar männliche Personen den Vornamen Israel, weibliche den Vornamen Sara. Wenige Wochen nach diesem Erlaß begannen die organisierten Gewalttätigkeiten gegen die jüdische Bevölkerung, die in einem millionenfachen Mord endeten. An dieser Stelle möchte ich - nicht zum ersten Mal - eine wissenschaftliche Aufarbeitung anmahnen, die gleichberechtigt neben der Untersuchung der christlichen Vornamengebung steht oder vielmehr stehen sollte, nämlich die der jüdisch-deutschen Vornamen, ich meine die Blümchen, Bräunchen, Gittl, Feile, Täubchen, Vögele, Ascher, Bär, Koppel, Liebmann, Hirsch, Meir/Meyer usw. Sie bilden in der deutschen Sprach- und Kulturgeschichte eine Welt für sich und sind doch noch immer so gut wie unerforscht. Leider fehlt es an Wissenschaftler/inne/n, die die nötigen Voraussetzungen auf den Gebieten der Hebraistik, Jiddistik und Germanistik mitbringen, um auf diesem vernachlässigten Feld arbeiten zu können. Zum Schluß gehe ich noch kurz auf ein Thema ein, das privat und öffentlich immer wieder Gegenstand lebhafter Gespräche ist und deshalb auch in der Presse regelmäßig aufgegriffen wird: die sog. Vornamenmode. Eine Mode, d.h. einen zeitlich begrenzten, statistisch signifikanten Anstieg eines gesellschaftlichen Phänomens, kann es in der Vornamengebung nur dort geben, wo die Vornamen frei gewählt werden. Deshalb sprechen wir z.B. bei der Nachbenennung nach Heiligen und im Geltungsbereich des Patennamenystems nicht von Moden, obgleich damals einige Vornamen Prozentanteile erreichten,

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die das Zehnfache eines heutigen „Modenamens" betrugen und gelegentlich sogar überstiegen. Andererseits gab es vorübergehend - und darauf habe ich vorhin bereits hingewiesen - durchaus auch „modische" Heilige und Heiligennamen. Im 20. Jahrhundert indessen ist die Vornamengebung weitgehend unabhängig von Traditionen und Konventionen, so daß sich die Frage gleichsam aufdrängt, ob und weshalb es irgendwann zu auffalligen „tektonischen Verwerfungen" oder zu Modewellen kommt. Nach meinen langjährigen Beobachtungen der deutschen Vornamengebung und der Vornamenliteratur lassen sich folgende Thesen zur Vornamengebung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufstellen: 1. Die Veränderungen in der Vornamengebimg gehen nicht sprunghaft vor sich, sondern allmählich und erstrecken sich über längere Zeiträume. Es ist nachweisbar, daß nicht wenige der beliebtesten Vornamen 20 bis 30 Jahre und länger zur Spitzengruppe gehören. Und selbst wenn sie dann hinter den 10. Rang zurückfallen, bedeutet das weder einen rasanten Absturz noch eine einschneidende Veränderung im Vomamenspektrum; denn 2. das steile Auf und Ab, das uns die üblichen Vornamenstatistiken vor Augen fuhren (s. Abb. 1 und 2), beruht auf einer Verzerrung der Proportionen. Ins richtige Verhältnis gebracht (s. Abb. 3), entsteht das Bild des leichten Kräuseins einer Wasseroberfläche und keineswegs das eines hohen Wellengangs. Die Spitzenreiter erreichen nämlich heute im Durchschnitt nur noch 3 bis 4,5 %, eben weil aufgrund der Tendenz zur individualistischen Namengebung die Zahl der unterschiedlichen vergebenen Vornamen - ich könnte auch sagen: die Zahl der selten vergebenen Vornamen - deutlich zugenommen hat und vermutlich noch zunehmen wird. Der scheinbar so dramatische Wandel spielt sich folglich innerhalb weniger Prozentpunkte ab, meist geht es sogar nur um Stellen hinter dem Komma. Wir haben es letzlich mit einer Zufallsstreuung ohne statistische Signifikanz zu tun. 3. Statt auf einzelne Namen zu schauen, wäre es meines Erachtens ratsamer, Namengruppen zusammenzustellen und deren Entwicklung zu beobachten. In Betracht kommen dabei a) Namenvarianten {Lukas, Luca, Luke, Luc; Mark, Marcus, Marco, Marceil; Anna, Anne, Anja, Annette, Anke usw.), b) Herkunftsbereiche (statt nordischer oder russischer Vornamen in den sechziger und siebziger Jahren findet man heute eher englische bzw. angloamerikanische, französische und italienische Formen), oder c) lautliche Merkmale (zur Zeit sind Vornamen, die mit L oder mit J beginnen, besonders häufig, erstere vor allem bei Mädchen: Laura, Lisa, Lena, Leonie, L(o)uisa, letztere vor allem bei Jungen: Jan, Jeremias, Jonas, Jonathan, Johannes, Jos(h)ua, Justus). 4. Die Vorbild-Wirkung der aus den Medien bekannten Stars und Idole auf die Vornamengebung ist geringer, als gemeinhin angenommen wird. Bekanntheit allein garantiert noch keine Vornamen-Nachfolge.

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Kevin scheint die große Ausnahme zu bilden. Doch hier standen gleich mehrere Vorbilder als mögliche Namenspaten zur Verfügung. Den Anstoß gab der englische Fußballspieler Kevin Keegan, der Ende der siebziger Jahre im Hamburger SV mitspielte. Danach breitete sich der Name im stillen weiter aus, auch dann noch, als Keegan längst aus den Schlagzeilen und Sportberichten verschwunden war, und erhielt in den neunziger Jahren nochmals kräftige Unterstützung sowohl durch den amerikanischen Filmschauspieler Kevin Costner als auch durch die „Kevin"-Filme und schließlich noch durch den Tennisspieler Marc-Kevin Goellner. Da war Kevin freilich bereits so bekannt, daß es so vieler Voibilder gar nicht mehr bedurft hätte, um den Namen in die Spitzengruppe aufsteigen zu lassen. Immer wieder kann man diesen Effekt beobachten: Ist ein Name erst einmal ,4ns Rollen" gekommen, zieht er eine wachsende Anzahl Gleichnamiger nach sich - freilich innerhalb der 3- bis 5-Prozentgrenze. Dabei kann der eigentliche Anlaß oder Urheber längst in Vergessenheit geraten sein. Was diesen Schneeball-Effekt (cum grano salis) aber auslöst und warum er gerade bei dem einen Namen und nicht bei irgendeinem anderen eintritt, darüber kann man nur spekulieren. Onomastische Untersuchungen stoßen da auf große Schwierigkeiten; denn zum einen enthalten die Geburtenbücher der Standesämter seit einiger Zeit keine Angaben mehr zur Berufsausbildung und/oder -ausübung der Eltern, zum anderen sind die wenigen noch vorhandenen Sozialdaten aus Gründen des Datenschutzes namenkundlichen Untersuchungen verschlossen. Befragungen der Eltern aber sind erstens sehr aufwendig, wenn man einigermaßen repräsentative Datenmengen erfassen will, und zweitens enthalten sie eine Reihe von Unsicherheitsfaktoren. Wir müssen uns also auf die Beobachtung und Analyse der Entwicklung der Vornamen selbst beschränken, und es wäre schon eine große Hilfe, wenn uns wenigstens einmal jährlich eine Vomamenstatistik aus nach demographischen Gesichtspunkten ausgewählten Standesämtern zur Verfügung stünde.

Vornamen und Kulturgeschichte

Abb, 2: DOR/ neue BundMttndv

4.0%

Anne Betten (Salzburg)

Sprachgeschichte und Literatursprache

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Literatursprache und Definitionen des „Poetischen" Abgrenzung zur „Literatursprache im weiteren Sinne" Spezielle Probleme des mittelalterlichen Literaturbegriffs Anmerkungen zur Literatursprache in der Moderne Schlußbemerkung zu Untersuchungsmöglichkeiten des Einflusses der Literatursprache auf die Allgemeinsprache Literatur

Es mag Sprachgemeinschaften geben oder gegeben haben, die keine Literatur besaßen, weder eine schriftliche noch eine mündliche, und dennoch kulturgeschichtlich interessant sind; andererseits aber waren die Vorstellungen von einer „Kultumation" oder einem „Kulturvolk" zumindest nach traditionellem Kulturverständnis stets eng mit der Existenz einer hochentwickelten Literatur verknüpft. Diese Auffassung ist nach wie vor gültig,' auch wenn unsere gegenwärtigen Kultur- und Literaturbegriffe weiter, heterogener und alltagsbezogener sind als z.B. im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts. Derartige Veränderungen des Literaturverständnisses sind jedoch kein neues Phänomen in der geschichtlichen Entwicklung. Über die Literatursprache(n) in ihrem Verhältnis zur Sprachgeschichte kann deshalb nicht unabhängig von der Frage gehandelt werden, was in den einzelnen Epochen jeweils überhaupt als Literatur betrachtet wurde. Ich werde mein Thema daher im folgenden auf dieses grundlegende methodische Problem eingrenzen und vor allem die verschiede-

1 Man vgl. etwa die Definition von Literatursprache bei Wilpert (1989, 832) unter „Schriftsprache": Die „Literatursprache im engeren Sinne oder Dichtersprache" ist eine „stilisierte Kunstsprache", die „nicht im alltägl. Schriftgebrauch, sondern nur in den dichter. Denkmälern e. Sprache erscheint" und „an bestimmte hochentwickelte Kulturformen gebunden ist, mit denen sie entsteht und wieder erlischt" Oder Best (1983) zu „Literatursprache": „auf Hochsprache und —> Schriftsprache beruhende Dichtersprache; sie ist in diesem Sinne immer Teil und Ausdruck einer hochentwickelten Kulturform."

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Anne Betten

nen Argumente der neueren Forschung rekapitulieren, welche Schwierigkeiten sich mit der Anwendung des heutigen Literatuibegriffs auf die gesamte Entwicklung unserer über 1200jährigen schriftsprachlichen Tradition ergeben.

1.

Literatursprache und Definitionen des „Poetischen"

Vorweggeschickt sei ein Satz aus der Dudenpreis-Rede von Helmut Henne, .Sprachliche Erkundung der Moderne': Die germanistische Sprachwissenschaft, insbesondere die Wissenschaft von der Sprachgeschichte wild uns das Spektrum literaturwissenschaftlicher Existenzformen nachzeichnen müssen - pauschal von ,Literatursprache' zu sprechen degradiert diesen Begriff hier zu einem Decknamen. (Henne 1996, 32)

Allerdings benützt auch Henne, wie die meisten (so auch ich schon im Titel dieses Referates), im überwiegenden Teil seiner Ausführungen nicht die trokken-fachsprachliche Pluralbildung „literatursprachliche Existenzformen", sondern doch die eingängigere Singularform, so etwa wenn ein früheres Kapitel mit den Sätzen beginnt: Was Literatursprache ist, Sprache in der Literatur, wissen ihre Leser. Sie bezieht sich auf eine vorgestellte und somit entworfene Wirklichkeit. (Henne 1996,22)

Und etwas später fährt er fort: Die Sprache in der Literatur ist eine gestaltete und insofern verdichtete Sprache, die andere sprachliche Existenzformen zur Grundlage hat und diese zugleich verändert. (Henne 1996, 22)

Es ist jedoch ganz offensichtlich, daß verschiedene Kriterien dieser Definition vornehmlich für die Literatursprache der Moderne (Hennes Thema) zutreffen. Hugo Steger, der einen wichtigen Teil seiner linguistischen Veröffentlichungen den „Existenzformen" des Deutschen und den dafür verwendeten Gliederungstermini gewidmet hat, hat 1982 in einem Heft der Freiburger Universitätsblätter zum Thema ,Wonach fragen Linguisten?' mit der Titelfrage geantwortet: ,Was ist eigentlich Literatursprache?' Hier, wie auch in den etwa gleichzeitig konzipierten elf Artikeln des Lexikons der Germanistischen Linguistik (LGL 1980) über ,Literarische Aspekte' - auf die sich noch kein Verweis in Stegers langem Literaturverzeichnis findet - , wurden einige wichtige Grundfragen fur eine diachrone Behandlung unseres Themas erörtert. Sowohl Günther Säße (1980) in einem allgemeinen Beitrag zur ,Literatursprache', der den epochenspezifischen Abhandlungen im LGL vorausgeht, als auch Steger unterscheiden zwei Typen von Definitionen der Literatursprache: zum einen die der älteren, „auf Hamann und Humboldt zurückgehenden Untersuchungen", die Literatursprache „gegenüber der ,Alltagssprache' mit Hilfe von Kategorien aus der philosophischen Ästhetik als die voll entfaltete Sprache" auf-

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faßten, und zum anderen die der neueren, „linguistisch ausgerichtete^] Untersuchungen", in denen Literatursprache als von der Alltagssprache abweichende Sprache bestimmt wird (Säße 1980,698). Säße und auch Roland Posner (1980) in seinem Artikel .Linguistische Poetik' konzentrieren sich auf das Abweichungsmodell, theoretisch vor allem gestützt auf Jakobson, Mukafovsky und Lotman. Sie ordnen die Abweichungen den drei Teildisziplinen der Semiotik (nach Morris) zu: der Syntaktik, Semantik und Pragmatik.2 Auf der Ebene der Pragmatik werden Abweichungen vor allem als Außerkraftsetzung der Griceschen Konversationsmaximen in poetischen Texten erklärt.3 Die Einbeziehung der Pragmatik erlaubt es ferner, auch solche Texte als literarisch zu betrachten, die weder durch besonders „vorbildliche", noch durch abweichende, entautomatisierende Verwendimg sprachlicher Mittel als „poetisch" oder „ästhetisch" zu definieren sind. Posner (1980, 691) betont das besondere Verdienst der sowjetischen Semiotiker um Lotman, als erste „außersprachliche semiotische Ebenen" vorgesehen zu haben: Auf diesem Wege gelinge es,, je nach Erfordernis den gesamten soziokulturellen Kontext in die Darstellung poetischer Kommunikation einzubeziehen", also z.B. auch das „Rollenverhalten des Senders", „die Rezeptionserlebnisse bestimmter Empfangergruppen", „Gepflogenheiten des Kunstmarktes" bis hin zu den „thematisierten Ausschnitten der Welt". Vor allem für frühere „Stadien der kulturellen Entwicklung" erscheint es ihm wichtig, diese Formen der Entautomatisierung bei der Definition eines Kunstwerks mitzuberücksichtigen, da die Thematisierung des Sprachsystems selbst „in der Geschichte der Literatur erst relativ spät" zu finden sei - nämlich eben in der sogenannten Moderne. Dagegen sei in „frühen Stadien der kulturellen Entwicklung [...] die Entautomatisierung des durch religiöse und moralische Kodes bedingten Welt- und Gesellschaftsbezugs vordringlicher" gewesen. Nur auf der Grundlage eines solchermaßen erweiterten Kodebegriffs lasse sich „ein gemeinsamer Nenner für die poetische Funktion etwa einer griechischen Tragödie, eines mittelalterlichen Versepos und eines Bühnenstücks von Pirandello oder Handke angeben." Auf dieser theoretischen Basis wäre nun eine Untersuchung der konkreten Literatursprachen in ihrem Verhältnis zur allgemeinen Sprachgeschichte in den einzelnen Uberlieferungsepochen zu erwarten bzw. wünschenswert. Im Lexikon der Germanistischen Linguistik wird dem in den folgenden Artikeln zwar chronologisch Rechnung getragen, nicht aber, wie häufig bei Handbuchartikeln, durch einen konsequenten Anschluß an das theoretische Konzept dieser Einführungsartikel.

2 Vgl. Säße (1980,698). 3 Säße (1980,703).

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Auch bei Steger (1982) wird der „neue DichtungsbegrifP' in Zusammenhang mit Jakobsons Modell diskutiert. Allerdings lehnt Steger Jakobsons Postulat einer poetischen Funktion und das sich daraus ergebende formale Konzept der poetischen Sprache ab. Adäquater erscheint ihm die „inhaltlichfunktionale Bestimmung des Poetischen" durch Mukafovsky und die Prager Schule.4 Interessant ist in unserem Zusammenhang aber vor allem, daß Steger Jakobsons Poetikauffassung als eine der späten Konsequenzen des sog. neuen Dichtungsbegriffes betrachtet, der mit „italienischen Renaissance-Denkern" wie Landino, Tasso, Scaliger beginne, die das „aus der Antike wieder aufgenommene Poetik-Konzept" des ,Autor[s] als Schöpfer" neu vorstellten (S. 17). Damit werde vor allem die ebenfalls in ihren Wurzeln aus der Antike stammende Mimesis-Theorie in ihrer in der frühen Neuzeit vertretenen Form problematisiert. Sie geht davon aus, daß der Autor „die göttliche Schöpfung nachahmt " (S. 17); Kunst wird also „als Nachahmung der Welt" (S. 16) gesehen. Die „daraus abgeleitete intentionale Zielbestimmung der Mimesis als Belehrung und Unterhaltung seit Horaz' Ars Poetica" habe keine klaren Merkmale für eine inhaltlich-funktionale Auftrennung sprachlicher Kulturerzeugnisse, etwa in religiöse, dichterische, philosophische, historische, empirisch-wissenschaftliche usw." geboten (S. 16).

In dieser .Ablösung des poeta-imitator-Gedankens der älteren Poetik durch den poeta-creator-Gedanken" ist nach Steger „das neuzeitliche Konzept von Dichtung, d.h. von Literatur im engeren Sinne" begründet, „das in vielen Stufen weiterentwickelt wurde" (S. 18). Für das in der Gegenwart bevorzugte Abweichungsmodell, nach dem die poetische Sprache anderen Gesetzen folgt als die Alltagssprache, sieht Steger schon Vorläufer im 18. Jahrhundert, etwa mit Klopstock, der den Dichter als „Priester und Prophet" versteht und für ihn eine „ausdrucksseitig überhöhende Abweichung von der Sprache" fordert (S. 22).

2.

Abgrenzung zur „Literatursprache im weiteren Sinne"

Wegen der im letzten Abschnitt dargelegten Entwicklungen in Theorie und Praxis erscheint Steger (1982, 14) das Konzept einer „Literatursprache im weiteren Sinne" nicht als „sinnvoller Untersuchungsausschnitt". Er will jedoch auch einen solchen weiteren Literatursprachenbegriff nicht mit dem Schriftsprachenbegriff gleichgesetzt sehen. Der Terminus Schriftsprache solle vielmehr „für jede Art - also literarische und nicht-literarische - geschriebene

4

S. Steger (1982,23-26); Zitat S. 24.

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Sprache'" festgehalten werden. Und ebensowenig wie „Literatursprache" gleich „Schriftsprache" sei, sei sie auch nicht gleich „Hochsprache", was vor allem von den früheren DDR-Germanisten vertreten wurde, die sich der seit dem 17./18. Jahrhundert (wieder) aufgekommenen Auffassung anschlossen, „die sprachlichen Mittel und Schreibweisen der besten Schriftsteller (= Dichter) sollten als beispielgebend, nachahmenswert und repräsentativ angesehen werden". Ich möchte die hier anklingende Auseinandersetzung mit der Verwendung des Begriffs Literatursprache vor allem in der russischen Linguistik und der DDR-Germanistik nicht in den Mittelpunkt meiner Ausführungen stellen, doch läßt sie sich nicht ganz umgehen. Ich beziehe mich im folgenden stellvertretend nur auf Mirra Guchmanns programmatischen Artikel ,Deutsche Sprachgeschichte und Literaturgeschichte' (1984). Bei aller grundsätzlichen Distanz zur Verwendung und Definition des von Guchmann zugrunde gelegten Begriffs von Literatursprache bleiben meiner derzeitigen Meinimg nach doch gewisse Aspekte diskussionswürdig, vor allem aus der Not heraus, die sich bei jedem Versuch ergibt, über die Konzentration auf die Neuzeit hinaus eine Geschichte der Literatursprache für die gesamte Zeit der schriftsprachlichen Überlieferung konzipieren bzw. deren Gegenstandsbereich mit klaren Kriterien abgrenzen zu wollen. Was Steger mit „Literatursprache im weiteren Sinne" meint, dürfte sich in etwa mit dem decken, was bei Guchmann mit Literatursprache als „höchstefm] Stratum des sprachlichen Verkehrs" (S. 22) in einem funktionalen Paradigma der verschiedenen Existenzformen der Sprache angesprochen ist. Beide verweisen auf dieselben Textgruppen, in denen sich diese Literatursprache manifestiere. Guchmann (S. 24) nennt als Beispiel für das 14./15. Jahrhundert, in dem die „funktional-stilistische Absonderung mit der Entwicklung der Multifunktionalität und der zunehmenden funktional-stilistischen Variabilität" einhergehe, den gehobenen Sprachstil - der schönen Literatur (,Ackermann von Böhmen', aber auch Übersetzungen von Wyle oder Eib) - der Traktate des Mystikers Seuse - der Kanzleiprosa - einiger Chroniken. Den hier zu beobachtenden Sprachstil betrachtet sie „als Modell einer Literatursprache". Eine sehr ähnliche Textsortenauswahl lag auch der verdienstvollen Publikationsreihe ,Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache (1470-1730)' des Zentralinstituts für Sprachwissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR in den 70er und 80er Jahren zugrunde. Das entscheidende Merkmal der Literatursprache ist für Guchmann (1984, 23) ihre Geformtheit, beruhend „auf einer gewissen Auswahl der sprachlichen

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Erscheinungen". Über letztere wird aber nicht viel mehr gesagt, als daß die Auswahlprinzipien ihrerseits „durch viele Faktoren bestimmt" seien, wie z.B. - das Entwicklungsniveau der Sprache - die Aufgaben, die durch die sprachlichen Erzeugnisse gelöst werden sollen - das Spektrum der in der jeweiligen Periode bestehenden literarischen Gattungen. Das konkrete Ergebnis eines solchen Auswahlprozesses bleibt unscharf; es wird nur im Kontrast zu den somit ausscheidenden sprachlichen Existenzformen und durch einige wenige Beispiele deutlicher zu skizzieren versucht: Im Kontrast nämlich „zur Spontanität des Dialekts und verschiedener Typen der Umgangssprache", was sich „in einer gewissen Reglementierung, die fur die Literatursprache charakteristisch" sei, äußere. Auch Steger (1982, 14 f.) stellt versuchsweise die Frage, ob es „gemeinsame sprachliche Merkmale" der durch den weiten Literaturbegriff zusammengefaßten Werke gebe. Ein Leitinteresse, das er sich dafür vorstellen könnte, wäre die Frage, „inwieweit die Ausrichtung/Zielgerichtetheit auf die Herstellung dauerhafter und zum Wiedergebrauch bestimmter Texte normenden Einfluß auf die konkrete Sprachgestaltung hatte und hat" und vice versa. Zusammen könnten diese dann unter Umständen „eine Klasse von literatursprachlichen Texten bilden, welche den Nicht-Literaturtexten, d.h. mündlichen und schriftlichen Texten, die sich im einmaligen/kurzfristigen Gebrauch erschöpfen (.verbrauchen'), gegenüberträte". Im folgenden formuliert Steger dann aber die Gründe gegen einen solchen Literatursprachenbegriff: Es würde doch erheblich ins Gewicht feilen, daß die gänzlich unterschiedlichen Verwendungszwecke ein sehr heterogenes Material unter dem gemeinsamen Titel Literatursprache zusammenbrächten: z. B. Texte für die Wisselschaften, für die Religion, für die Dichtung, für die Verwaltung, für das Recht, für die Technik usw. Für dieses Material sind aber sprachliche Differenzierungen und Eigenentwicklungen seiner einzelnen Bereiche längst bekannt. Dabei braucht man im Augenblick nur auf das deutlichste Beispiel, die Fachliteratur und damit die Fachsprachen in Verwaltung, Technik und Wissenschaften im 20. Jahrhundert hinzuweisen. In ihnen sind funktions-/zweckbedingt morphologisch, syntaktisch und lexikalisch ganz andere Normvorstellungen zum Tragen gekommen als z. B. in der Sprache je gleichzeitiger Romanprosa [...].

Kehren wir noch einmal zurück zu Guchmann: Außer dem Hinweis auf die infrage kommenden Texte des 14. und 15. Jahrhunderts gibt sie noch aus einer anderen Epoche, und zwar aus dem Althochdeutschen, einige Beispiele für konstitutive Merkmale der Zugehörigkeit zur Literatursprache, die „nicht nur Merkmale einer stilistisch geformten Sprache" seien, sondern auch dazu berechtigen, „dieser Sprache funktional-stilistische überlandschaftliche Charakteristika zuzuschreiben" (S.23), nämlich die „Sprachspezifik der epischen Dichtung", exemplifiziert durch

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- die strukturierende Wirkung des Stabreims - die Verwendung von Elementen des Formalstils (z. B. im ,Heliand') - die Aufnahme archaischer Lexik in das Hildebrandslied. Dagegen beruhe der überlandschaftliche Charakter der Sprache solcher Denkmäler wie der Schriften Notkers auf anderen funktional-stilistischen Merkmalen, wie etwa dem hohen Anteil an Neologismen. Wie gesagt, es scheint leicht, Guchmann ob der Unscharfe ihrer Auswahlkriterien zu kritisieren; schwierig ist allerdings, es besser zu machen. Oskar Reichmann (1998) hat in seinem programmatischen großen ersten Artikel der Neuauflage des Handbuchs Sprachgeschichte in dem Unterabschnitt „Die Rolle von Einzelpersonen, Einzeltexten und einzelnen Textgruppen" auf Übersichtstabellen dargestellt, wer bzw. was in zehn „neueren Darstellungen der dt. Sprachgeschichte" von Eggers (1963ff.) bis Straßner (1995) besonders herausgehoben und ausfuhrlich behandelt wird (ebd. 16ff.). An Personen mehrfach genannt werden für das Althochdeutsche Otfrid, Notker und Williram, an Texten jedoch meist die gesamte althochdeutsche Überlieferung. Die Nennung von Einzelpersonen - in der gesamten Liste steht Luther weit an der Spitze - hängt nach Reichmann mit Auffassungen wie denen von Bach (1970) zusammen, daß „Persönlichkeiten von individueller sprachlicher Schöpferkraft [...] als Führergestalten auf dem Gebiet der Sprache" betrachtet werden, was sprechend auch in Überschriften wie in Eggers' Sprachgeschichte „Dichter machen Sprachgeschichte" zum Ausdruck komme. Auf der anderen Seite aber wird - nicht unbedingt in anderen Darstellungen - die gesamte schriftsprachliche Überlieferung des Althochdeutschen auch in Literaturgeschichten behandelt. Harald Burger (1980, 707) beschreibt in seinem LGL-Artikel .Deutsche Literatursprache des Mittelalters' das Dilemma der Literaturgeschichten mit mittelalterlichen Texten folgendermaßen: Wenn wir „bei heutigen Texten von Fall zu Fall im Zweifel" seien, so mache doch wenigstens der pragmatische Rahmen den Text als Literatur erkennbar. Für mittelalterliche Texte müsse dieser Rahmen hingegen erst erarbeitet werden, sei aus zeitgenössischen Quellen und den Texten selbst zu rekonstruieren. Daher resultiere die „Unsicherheit in Fragen der Abgrenzung und der Wertung". Wenn für die althochdeutsche Periode „die Spärlichkeit der Überlieferung" dazu zwinge, „alles in deutscher Sprache Aufgeschriebene wenigstens als ersten tastenden Versuch in Richtung auf eine entwickelte Literatursprache zu werten", falle demgegenüber eine Rechtfertigung schwer, warum sich in der folgenden Periode alles nur auf die sogenannte mittelhochdeutsche Blütezeit konzentriere, während „die gesamte übrige literarische Produktion als subliterarisch bzw. als Werk von .Vorläufern' oder .Epigonen'" abgewertet werde. Allerdings hätten „die .Insider' durchaus ein Bewußtsein von literarischem Rang" gehabt, was sich z.B. an den berühmten Äußerungen Gottfrieds über

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Hartmann im ,Tristan' dokumentiere. So müsse in Fragen der Wertung auch bei mittelalterlichen Texten Publikumserfolg (nachgewiesen durch die große und lang anhaltende Überlieferung mancher Texte) nicht einfach gleichgesetzt werden mit Qualität, und „eine literatursoziologische und rezeptionsgeschichtliche Betrachtungsweise" zwinge uns daher „nicht zu völligem Relativismus in Fragen der Wertung". Angesichts dieser hier nur angedeuteten Problemlage erklärt Burger es für aussichtslos, „für das deutsche Mittelalter eine einheitliche Definition oder wenigstens Charakteristik von .Literatur' und .Literatursprache' zu versuchen". Er behandelt stattdessen „einige Gesichtspunkte", „die dem heutigen Rezipienten als spezifisch für literarische Kommunikation im Mittelalter erscheinen". Wir folgen hier Burger nicht weiter in Details. Stattdessen sei kurz an die Grundprobleme, vor denen speziell mittelalterliche Literatur- und Sprachgeschichte stehen, erinnert.

3.

Spezielle Probleme des mittelalterlichen Literaturbegriffs

3.1 Um den Rang „der" mittelalterlichen Literatursprache adäquat zu bestimmen, muß jeweils die Rolle des deutschsprachigen Schrifttums im Verhältnis zum Lateinischen mitbedacht werden. Für jedes Jahrhundert, vom Beginn der Überlieferung im Althochdeutschen an, ist getrennt zu fragen, welche Texte bzw. Textsorten Domänen des Lateinischen blieben und in welchen Bereichen das Deutsche verwendet wurde. Damit rückt der Adressat ins Licht. Es ist von Bedeutung, für wen und warum die Volkssprache benützt wird: Ist sie nur für den Lateinunkundigen gedacht, um ihm Zugang zu bestimmten Texten zu verschaffen? Bietet die Übersetzungsliteratur nur Texte für den Alltagsgebrauch (Kirche, Recht etc.) oder auch zur Unterhaltung, Erbauung etc.? Dahinter steht die Frage, welche Rolle Literatur im jeweiligen Verständnis und Konzept von Welt, Kunst und Leben überhaupt spielen kann und soll. Ferner ist wichtig, ob sich die autochthonen Texte in Inhalt und Form von den übersetzten unterscheiden: Füllen sie nur Lücken, wo es keine lateinischen Vorlagen gibt, oder entstehen eigenständige neue Textbereiche in der Volkssprache? 3.2 Weitere relevante Fragen betreffen die Repräsentation der mündlichen germanischen Überlieferung im volkssprachlichen Schrifttum: Werden die ererbten Formen aufgenommen und in der Schriftkultur weitergepflegt? Wie verhalten sich diese Formen zu anderen Ausprägungen des Schrifttums, etwa

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den aus dem Lateinischen übernommenen Formen? Hier sind auch Fragen der Oral Poetry berührt, die wohl in allen Kultursprachen der schriftlichen literarischen Überlieferung vorangeht, und in der spezielle Formen ausgebildet sind, die auf Wirkung im mündlichen Vortrag angelegt sind, aber auch das Memorieren erleichtern.5 3.3 Desweiteren ist die Rolle der Prosa neben dichterisch geformter Sprache in den verschiedenen Epochen zu analysieren. Zu fragen ist u.a., ob es eine klare Textsortenverteilung gibt. Die Prosa scheint zunächst ganz auf die sog. Alltagsbereiche beschränkt zu sein, während jedoch die verschiedenen Reimformen nicht, wie in der Neuzeit, auf die literarische Gattung Lyrik beschränkt sind, sondern ein weites Anwendungsfeld haben, das sich mit dem der frühen Prosa überschneiden kann. Wenn aber der moderne Gattungsbegriff nicht greift und andererseits Reim kein engeres Gattungsmerkmal ist, stellen sich z.B. die Fragen, was in der Anfangszeit gereimte Texte von solchen in Prosa unterscheidet und wann (und wie oft) sich dieses Verhältnis ändert, etc. Für die Debatte, was vom 13. bis 15. Jahrhundert als Literatur zu betrachten ist, waren Hugo Kuhns .Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters' (1980) nicht nur für die Mediävistik besonders wichtig und folgenreich. Kuhn - der bereits 1954 auch einen anregenden Aufsatz ,Zur modernen Dichtersprache', d.h. zur Lage nach der „Literaturrevolution" von 1884 veröffentlicht und sich somit auch als Kenner ganz anderer Literaturkonzepte ausgewiesen hat (= Kuhn 1969) - kritisiert, daß sich die germanistische Literaturgeschichte im Laufe des 19. Jahrhunderts auf einen Literaturbegriff „der .schönen Literatur', im Deutschen hypostasiert zur .Dichtung'", festgelegt habe, „gegründet auf Genie und Originalität als psychologische Wurzeln", der heute von vielen als zu eng und „historisch angewendet anachronistisch" betrachtet werde (S.l). Kuhns Grundgedanke ist der, daß jeder volkssprachliche Schrifttext des Mittelalters Teil einer schriftlichen Zwischenkultur sei. Jeder deutsche Text des Mittelalters sei nämlich „ein Vermittlungsprodukt zwischen mündlich volkssprachlicher Laien- und schriftlich lateinischer Klerikerkultur". Daher sei es die „erste, die philologische Aufgabe literarhistorischer Mediävistik", „eine Phänomenologie jedes überlieferten Textes zu liefern" (S.4). Danach aber stelle sich als eigentliche Aufgabe die .Ausgrenzung einer Literaturges c h i c h t e " (S. 8). Es sei hier nur am Rande daraufhingewiesen, daß dies in der linguistischen Frühneuhochdeutschforschung derzeit gerade zu vermeiden gesucht wird, so beispielsweise im Frühneuhochdeutschen Lesebuch von Reichmann/Wegera (1988), wo die Texte nach leitenden Sprachhandlungen zusammengruppiert 5 In Anbetracht der Fülle von Literatur zu diesem Themenbereich in jüngster Zeit sei hier nur auf den Uberblicksartikel von Raible (1994) verwiesen.

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werden. Allerdings könnte diese Präsentationsform wiederum dazu anregen, beim Vergleich der Texte gerade Überlegungen zur literarischen Qualität der einen bzw. zur Alltags- oder Fachsprachlichkeit etc. der anderen auszulösen und die Unterscheidungskriterien neu zu überdenken. Hugo Kuhn (1980, 28 f.) geht, beeinflußt von Wittgenstein, davon aus, daß sich Sache und Sprache „nicht so billig trennen" lassen, daß man eine „SachWertung" der Texte den Sachwissenschaften und eine „Sprach- und StilWertung der Literaturgeschichte" überlassen dürfte. So werden Textgruppen, vor allem neue, und die seit alters bekannten großen schriftstellerischen Persönlichkeiten der drei behandelten Jahrhunderte stets daraufhin befragt, wo „Qualtitätskriterien und literarhistorisch wertende Einordnung ansetzen" können (S. 35). Für Mechthild von Magdeburg im 13. Jahrhundert z.B. lauten diese Überlegungen in bezug auf die schwierige Überlieferung6 so: Während die Text- und Uberliefenmgsgeschichte [...] davon zeugt, daß im 13. Jahrhundert das deutsche Sach-Prosabuch noch isoliert, ja geradezu verloren sein konnte [...], gibt doch noch der Schleier der Ubersetzungen den Blick frei auf eine neue Originalität und Intensität der Sprache und ein besonderes Text- und Autorbewußtsein auf deutsch. Davon zeugt auch die Struktur des Buchs im Rahmen seiner Typologie [...]; sicher nicht ohne Anlehnung an einen schon länger bestehenden Kanon fester Vorstellungen [...]; aber in einer strömenden Prosa, durchsetzt mit Assonanzen, Reimen, Rhythmen wie ohne jede Feile. Das Zentrum all dieser Qualitäten ist wieder die .Summe' eines gelebten Lebens, hier eines inneren, dennoch Zeitzugewandten Lebens der Schauungen und Eingebungen, aber nun auf deutsch konzipiert als schriftlich überschaubar gewordene .Welt'. In ganz Europa stellen sich dem nur niederländische, aus gleicher Situation entstandene Texte (Hadewijch) an die Seite. (Kuhn 1980,35)

Besonderes Gewicht legt Kuhn jeweils auf die Kriterien für Stilwenden, ihre außersprachlichen Bedingungen und die Frage, ob nach Stilwenden (z.B. beim Übergang von Textsorten vom Vers zur Prosa) noch gleiche Qualitätskriterien gelten. Ob etwa die Behauptung, neue Texte in Prosa realisierten die Stilwende zum 14.Jahrhundert konsequenter und origineller als der späte Minnesang in seinen „äußerlich unveränderte[n]" Formen und Inhalten, „schon ein Qualitätsurteil" in sich berge, vielleicht nur ein unreflektiertes, von der bloßen Neuheit der Erscheinungen verführt? Versteckt sich dahinter nicht doch wieder das alte Epigonen-Schema für die spätmittelalterliche Ritterdichtung? Oder weist die Feststellung auf neue, objektivierbare Qualtitätskriterien hin? (Kuhn 1980, 53)

Ich bin der Ansicht, daß allein diese - oft unbeantwortet bleibenden - Fragen Kuhns mehr über die Problematik erhellen und anregendere Impulse fur eine historisch-stilistische Sprachforschung geben können als jede zu rasch errichtete neue, nach Einheitlichkeit strebende Theorie - etwa einer historischen Literaturstilistik oder wie auch immer sie genannt würde. 6 Original verloren, erhalten nur alemannische Ubersetzung des 14. Jhs. von einer lateinischen Überarbeitung.

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Hugo Kuhn ist es weniger um die Literatursprache gegangen als um das, was als Literatur zu betrachten ist. Aber auch bei den Überlegungen der Sprachwissenschaftler, deren Positionen ich hier zu vergleichen versucht habe, war andererseits evident, daß über Literatursprache nicht ohne vorherige Entscheidungen, was (jeweils) als Literatur zu werten ist, gehandelt werden kann.

4.

Anmerkungen zur Literatursprache in der Moderne

Für eine gründlichere Aufaibeitung allein der historischen Dimensionen des Problems „Literatursprache" wäre außer den bisher direkt oder indirekt durch die Sekundärliteratur zur Sprache gekommenen Gesichtspunkten noch viel Relevantes nachzutragen. Allein auf dem Wege von den regionalen Schreibsprachen, in denen die literarischen Textsorten des Frühneuhochdeutschen durchwegs noch abgefaßt sind, zur mehr und mehr standardisierten Schriftsprache der folgenden Jahrhunderte, in der sich auf nun grammatisch normierter Basis stilistisch eine immer weitere Ausdifferenzierung der literarischen Formen vollzog, gibt es eine Fülle epochenspezifischer Konstellationen, die jeweils separat zu betrachten bzw. überhaupt noch aufzuarbeiten sind.7 Ich möchte hier jedoch die ins Zentrum meines Beitrags gerückten Definitionsprobleme nur noch mit einigen wenigen Anmerkungen zur Situation in der Moderne beschließen. In meinen eigenen Arbeiten zur Dramensprache des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts, insbesondere seit der Literaturrevolution des Naturalismus,' ging es mir bei Untersuchungen zur Sprache speziell der naturalistischen, realistischen, neorealistischen Stücke darum, die Differenzqualität zwischen spontanem authentischem Sprechen und solchen literarischen Dialogsprachen aufzuzeigen, die vom Rezipienten zunächst als natürlich, „echt" empfunden wurden und werden, in Wirklichkeit aber mit meist sparsamen Mitteln aus den linguistischen Repertoires von Umgangssprache, Dialekten, Jargons etc. erarbeitet und durch den gezielten Einsatz dieser Mittel stark stilisiert sind. Für den Dramatiker Franz Xaver Kroetz z.B., den wohl wichtigsten Vertreter des sozialkritischen Volksstücks der 70er und 80er Jahre, läßt sich detailliert zeigen, wie die für ihn charakteristische, ebenso realistisch wie simpel, ja primitiv klingende Figurenrede durch Frequenz und Distribution bewußt gewählter Sprachmittel aus Dialekt, Umgangs- und Vulgärsprache sehr treffsicher kreiert wird, so daß eine der sicherlich am kunstlosesten wirkenden, 7 Kleine Ansätze zu Uberblicksdarstellungen finden sich bei Admoni (1990), der die syntaktischen Entwicklungen der Literatursprache immer mitzubetrachten bemüht ist, sowie in der dreibändigen Sprachgeschichte von v. Polenz (1991/1994/1999). 8 Genannt sei hier nur Betten ( 1985).

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aber doch am kunstvollsten gemachten Dialogsprachen der Dramenliteratur entstand. Denn genauere Analysen ergeben, daß alle sprachlichen Mittel so gewählt und kombiniert sind, daß sie die eigentlichen Themen dieser Stücke, nämlich die Sprachnot, die Kommunikationsprobleme, die Ausweglosigkeit der Figuren transparent machen und auf die Denk- und Verhaltensweisen verweisen, an denen sie scheitern. Verallgemeinernd kann wohl gesagt werden, daß die Sprache aller Autoren der Moderne - wie weit sie von dem vorbildlichen Gebrauch der überregionalen Schrift- oder Einheitssprache auch entfernt sein mögen - immer dann als künstlerisch gelungen zu betrachten ist, wenn Form und Gehalt, Sprache und Aussage bzw. Intention in einem nicht willkürlichen, sondern aufeinander abgestimmten, wenn nicht einander bedingenden Verhältnis stehen. Diese Auffassung läßt sich auch bestimmten Richtungen der Funktionalstilistik zuordnen. Es darf wohl davon ausgegangen werden, daß dieses Postulat auch auf ältere Texte verschiedenster Epochen erfolgreich angewandt werden kann, es entspricht ja auch der Grandannahme Hugo Kuhns. In meiner noch zu einfachen Formulierung schließt es allerdings noch nicht wohlgelungene nichtliterarische Texte aus. Um das zu gewährleisten, müssen die am Anfang genannten zusätzlichen Zusammenhänge „des semiotischen und des Kommunikationsprozesses, des kulturellen (gesellschaftlichen) Diskurses" zusätzlich einbezogen werden.'

5.

Schlußbemerkung zu Untersuchungsmöglichkeiten des Einflusses der Literatursprache auf die Allgemeinsprache

Ich habe im Vorangegangenen nur eine der möglichen Beziehungen zwischen Literatursprache und Sprachgeschichte berücksichtigt, nämlich die Stellung und Behandlung von Sprache in der Literatur in einer Sprachgeschichte des Deutschen. Das Verhältnis zwischen beiden kann natürlich auch in umgekehrter Richtung betrachtet werden. Dann hätte man sich mit der Wirkung der Sprache von Werken, die als Literatur populär/anerkannt/geschätzt/verehrt waren und sind, auf den allgemeinen Sprachgebrauch zu beschäftigen. Am besten nachprüfbar wäre hier in den Bereichen Wortschatz, Wortbildung, Phraseologie, Metaphern, welche zuerst in der Literatur auftretenden Phänomene Einzug in die Allgemeinsprache oder auch andere Existenzformen der Sprache gehalten haben. Schwieriger zu fassen bzw. in der Wirkung nachzu-

9 Zitat Weiss (1985,262).

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weisen ist ein sog. literarischer Sprachstil auf komplexeren Ebenen, z.B. in der Syntax oder im Zusammenspiel von Syntax und Wortbildung etc. So wenig die schon bei Kuhn genannten Epigonen in der Literaturgeschichte geachtet werden, so wertvoll sind sie fur die Beobachtung dessen, was an bestimmten Stilen geschätzt und daher imitiert und tradiert wurde. Ihnen begegnen wir vor allem nach Epochen, die auch uns Heutigen in ihrer sprachstilistischen Besonderheit auffallen. Das Sprachkonzept der Klassik, das zwar bereits kurz nach seiner Schaffung, schon vor seinem eigentlichen Höhepunkt, von den ersten Sprachrevolutionen, denen die erreichte Perfektion und Stimmigkeit zu groß und daher verdächtig war, in seiner Gültigkeit attackiert wurde, bestimmte dennoch bis tief in unser Jahrhundert hinein die sprachlichen Ideal-, aber auch Normalvorstellungen des Bildungsbürgertums. In einem Interviewprojekt mit deutschsprachigen Juden in Israel konnte ich mich davon überzeugen, wie stark diese an der Literatursprache der Klassik orientierten Normvorstellungen bis in die mündliche Ausdrucksweise der „gebildeten Kreise" noch in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts prägend waren und selbst heute, mehr als 60 Jahre nach der Emigration noch wirksam sind.10 Obwohl beispielsweise Thomas Bernhards „Heldenplatz" für diesen Personenkreis der Inbegriff eines guten neuen Theaterstücks sein müßte, würde es von den allermeisten kaum als „gute Literatur" erkannt, geschweige denn anerkannt: Etwas (oder wahrscheinlich vieles) an den pragmatischen Bedingungen zur Rezeption des nicht nach den Regeln der Klassik konstruierten dramatischen Codes stimmt hier nicht bzw. kann nicht vorausgesetzt werden. Vor allem fehlt es wohl an dem Bewußtsein für jene grundlegende Maxime, die alle Rezipienten modemer Kunst kennen und akzeptieren müssen: daß nämlich jedes Kunstmittel, das zum allgemeinen Kulturgut geworden ist, nicht mehr künstlerisch sein kann, da es der modernen Kunstforderung der Entautomatisierung nicht mehr dienen kann. Viele ursprünglich poetische Mittel werden heute in der Werbung angewandt, wandern von dort in Subsprachen oder auch mehr oder wenig kurzlebig in die Alltagssprache. Hier wird oft mehr mit den ausgewiesenen rhetorischen Mitteln gearbeitet als in der modernen Literatur. Aber so groß der Abstand zwischen der Rezeptionshaltung für Literatur und andere Kommunikationsbereiche ist, so intensiv ist heute wiederum auch der Austausch der sprachlichen Mittel in beiden Richtungen. Denn auch die moderne Literatursprache bzw. die sehr vielen verschiedenen modernen Literatursprachen leben und erneuern sich ständig von und durch Rückgriffe auf die Repertoires aller anderen sprachlichen Varietäten - von der vollständigen Verwandlung dieser Mittel bis zum postmodernen Zitat. 10 Vgl. den Textband Betten (1995), dem noch ein Analyseband folgen wild; zur stilistischen Analyse s. u.a. Betten (1998 ).

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6.

Literatur

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Sprachgeschichte und Literatursprache

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forschung, hrsg. v. Werner Besch, Anne Betten, Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger. 2. Aufl. 1. Bd. Berlin, New York 1998 (HSK 2.1), 1-41. Säße, Günther: Literatursprache. In: Lexikon der Germanistischen Linguistik 1980, 698-706. Steger, Hugo: Was ist eigentlich Literatursprache? In: Freiburger Universitätsblätter 76 [Themenheft: Wonach fragen Linguisten?], 1982, 13-36. Weiss, Walter: Anmerkungen zum Verhältnis von Literatur- und Sprachwissenschaft. In: Walter Weiss, Eduard Beutner (Hrsg.). Literatur und Sprache im Österreich der Zwischenkriegszeit. Polnisch-österreichisches Germanisten-Symposion 1983 in Salzburg. Stuttgart 1985, 257-265. Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. 7. verb. u. erw. Aufl. Stuttgart 1989.

Andreas Gardt (Heidelberg)

Sprachpatriotismus und Sprachnationalismus. Versuch einer historisch-systematischen Bestimmung am Beispiel des Deutschen1 1. Forschungsanliegen und Begriffsbestimmung 2. Kennzeichen von Sprachpatriotismus und Sprachnationalismus 2.1 Vergegenständlichung von Sprache 2.1.1 Alter und genealogische Reinheit des Deutschen 2.1.2 Ontologische (referentielle) Adäquatheit des Deutschen 2.1.3 Strukturelle Homogenität des Deutschen (Existenz sprachinhärenter Gesetze) 2.2 Identifizierung einer Sprachnatur mit einem Volks- oder Nationalcharakter 2.3 Postulierung der Überlegenheit des Eigenen und Abwertung des Fremden 3. Literatur

1.

Forschungsanliegen und Begriffsbestimmung

Ziel der folgenden Ausführungen ist ein Vorschlag zu einer systematischen Bestimmung der Begriffe des Sprachpatriotismus und des Sprachnationalismus. Die empirische Grundlage zu dieser Bestimmung ist historisch: Texte der Sprachwissenschaft und der gesellschaftlich, politisch, pädagogisch und ästhetisch motivierten Sprachpflege und Sprachkritik. Die Texte stammen aus verschiedenen Jahrhunderten und sind zumeist deutschsprachig. Zu den bekannteren ihrer Autoren zählen: Justus Georg Schottelius, Philipp von Zesen, Gott-

1 Der Beitrag stellt Überlegungen vor, die in Teilen auch in dem Aufsatz „Sprachnationalismus zwischen 1871 und 1945" (in: Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart, hrsg. v. A. Gardt, Berlin/New Yoric 1999.) vorgetragen werden. In der Systematik sowie in der Hinbeziehung von Material, das vor dem 19. Jahrhundert liegt, geht die vorliegende Darstellung allerdings über die letztgenannte hinaus. - Ich danke Anja Stukenbrock für einige bibliographische Hinweise.

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fried Wilhelm Leibniz, Johann Christoph Gottsched, Johann Christoph Adelung, Johann Gottfried Herder, Joachim Heinrich Campe, Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Johann Gottlieb Fichte, Wilhelm von Humboldt, Jacob und Wilhelm Grimm, August Schleicher, Heymann Steinthal, Franz Bopp, Friedrich Müller, Eduard Engel. An Textsorten sind vorwiegend vertreten: sprachtheoretische/sprachphilosophische Texte, grammatikographische Texte (vor allem deren Einleitungen und Vorreden), rhetorische Texte, pädagogischdidaktische Texte (z.B. zur Organisation des Schulwesens), programmatische Texte der Sprachpflege (etwa der Sprachgesellschaften und Akademien), Vorworte von Übersetzungen, Wörterbüchern u.ä. Die im folgenden gewählte systematische Perspektive unterscheidet sich von der in der Historiographie geläufigen darin, da£ dort vor allem die Bezeichnung Nationalismus auf einen einzelnen bestimmten Zeitraum bezogen wird, in aller Regel die Zeit ab dem 18. Jahrhundert. Ab Hann werde nationalpolitisches Denken erstmals nicht nur von kleinen Eliten, sondern von breiten Teilen der Gesamtbevölkerung getragen (die Französische Revolution ist das meistzitierte Beispiel; zur zeitlichen Festlegung des Nationalismus-Begriffs vgl. Winkler 1978, Alter 1985, Johnston 1990, Hermanns 1994). Der einzelne identifiziere sich dann nicht mehr vorzugsweise über seinen Stand bzw. seine soziale Klasse, seine Konfession, eine Dynastie oder einen (Territorial-)Staat, einen Stamm oder eine Landschaft, sondern eben über die Nation als gesellschaftliche Großgruppe (so Alter 1985, 14). Warum sich die einzelnen mit der Nation identifizieren, wird von ihnen z.T. mit gemeinsamer Geschichte und Abstammung, gemeinsamen Traditionen und Institutionen begründet - so der ethnisch-kulturell gefaßte Nationbegriff, wie er z.B. in Deutschland bis 1945 stark vertreten ist - , z.T. mit gemeinsamer politischer Willensbildung, wonach die Nation zuallererst eine Überzeugungs- und Handlungsgemeinschaft ist, so der voluntaristische Begriff der Nation, der traditionell etwa in Frankreich und den angelsächsischen Ländern begegnet.2 Die in der Forschung verbreiteten Begriffsdifferenzierungen sollen aber hier nicht weiter interessieren. Festzuhalten bleibt zweierlei: zum einen, daß der Beginn des Nationalismus zwar meist in das 18. Jahrhundert verlegt wird, aber keineswegs immer. Schon für die Frühe Neuzeit wird Nationalismus bzw. „Nationsbewußtsein" (z.B. Schnell 1989, aber auch andere in Ehlers 1989) angenommen, gelegentlich sogar für das Mittelalter (vgl. z.B. Arbeiten von Huizinga und Tipton). Zweitens, und vor allem für das folgende wichtig: Das Verhältnis von Ursache und Wirkung zwischen Nation und Nationalismus wird zunehmend weniger als das einer einfachen Nachordnung begriffen. Da-

2 Zur Definition von Nation vgl. die ausführliche Darstellung in Koselleck 1992.

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nach setzt der Nationalismus nicht das Vorhandensein einer Nation voraus, sondern bringt umgekehrt die Nation erst hervor (Gellner 1995, 87), zumindest stärkt und dynamisiert er sie zugleich, sei es zum Guten oder zum Schlechten. Nationen, und darin scheint sich die neuere Forschung zu recht einig, sind nicht einfach ,da', als historische Entitäten, sondern sie werden dort geschaffen, wo nach ihnen verlangt wird, sie werden - wie die pointierte deutsche Übersetzung des Titels von Benedict Andersons »Imagined Communities« lautet - erfunden (»Die Erfindung der Nation«), Allenfalls könnte man das Verhältnis zwischen Nation und Nationalismus als das einer dialektischen Wechselbeziehung beschreiben, in der sich beide Größen gegenseitig hervorbringen. Insgesamt zeigt die Diskussion der neueren Forschung, daß die zeitliche Bestimmung des Phänomens Nationalismus alles andere als eindeutig ist. Selbst dort, wo erst für die Zeit nach 1800 explizit von Nationalismus die Rede ist, wird nicht geleugnet, daß es lange zuvor bereits so etwas wie ,Nationalbewußtsein', .nationale Orientierungen', einen ausgeprägten Patriotismus o.ä. gegeben hat. Schon deshalb erscheint eine Untersuchung legitim, die nicht danach fragt, was die verschiedenen historischen Ausprägungen der Ideologisierung von Sprache unterscheidet, sondern danach, was sie gemeinsam haben. Mit all dem ist zugleich gesagt, daß hier nicht der Abriß einer Geschichte des Sprachpatriotismus/Sprachnationalismus in den deutschsprachigen Ländern gegeben werden soll. Eine solche Darstellung liegt noch nicht vor. Einen historischen Überblick zum Konzept der Nationalsprache dagegen - ein Konzept, das die Fragestellung von Sprachpatriotismus und -nationalismus stark berührt -, bieten Oskar Reichmanns Aufsätze „Deutsche Nationalsprache" und JVationalsprache als Konzept der Sprachwissenschaft" (Reichmann 1978 u. [demn.]).

2.

Kennzeichen von Sprachpatriotismus und Sprachnationalismus

Die Lektüre der eingangs erwähnten Quellentexte auf die unterschiedlichen Formen der Ideologisierung von Sprache hin führt zu drei Kennzeichen, die in sprachpatriotischen und sprachnationalistischen Argumentationen - dabei stets das erwähnte systematische Verständnis der Begriffe zugrundelegend - immer wieder begegnen: 1. das emphatische Lob der eigenen Sprache und zugleich ihre Vergegenständlichung, d.h. ihre Hypostasierung zu einer Größe jenseits historischer und

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sozialer Bezüge; dieser Größe wird eine von den Sprechern irgendwie unabhängige Natur (Charakter, Wesen, Kraft, Geist, Genie/Genius etc.) zuerkannt; die hypostasierte Sprache besitzt inhärente Gesetzmäßigkeiten und ist entsprechend diesen Gesetzmäßigkeiten von den Sprechern zu verwenden; sie wird häufig in organischer (botanischer) Begrifflichkeit beschrieben (Sprache als Pflanze, die blüht, verblüht etc., Wörter als Früchte, Knospen etc.); als ihre charakteristischen Eigenschaften gelten: hohes Alter, genealogische Reinheit und strukturelle Homogenität; da der hypostasierten Sprache eine von den Sprechern unabhängige Natur zugesprochen wird, spielen bei ihrer Beschreibung die Konzepte von Arbitrarität und Konventionalität nur eine sehr untergeordnete Rolle; 2. das Übereinanderblenden - oft assoziativ und argumentativ nicht schlüssig, dabei ins Mythologische und Sakrale ausgreifend - der Bereiche des Sprachlichen mit denen des Kulturell-Ethnischen (Sprache - Volk!Kulturl Nation etc., mit dem Sonderfall des Ethisch-Moralischen: Sprache - Sitte/Moral etc.), des Politischen (Sprache - Nation!ReichtLand etc.), in Teilen auch des Anthropologischen (Sprache - Stamm/Rasse/Volk, vor allem in sprachnationalistischen Kontexten); Resultat dieses Übereinanderblendens ist die Identifizierung eines Sprachcharakters (bzw. einer Sprachnatur, eines Sprachwesens etc.) mit einem Volks- oder Nationalcharakter. Als zusätzliche Kennzeichen lediglich des Sprachnationalismus können gelten: 3. die pointiert bis aggressiv formulierte Behauptung der Überlegenheit der eigenen Sprache und damit, aufgrund des erwähnten Übereinanderblendens, der eigenen kulturell-ethnischen (u.a. ethisch-moralischen), anthropologischen und politischen Gemeinschaft über andere Gemeinschaften sowie (implizit oder explizit) die Behauptung der Gefahrdung der Integrität bzw. Identität der eigenen Sprach-, Volks- und Kulturgemeinschaft durch fremde Sprachen, Völker, Rassen, Nationen und Kulturen; als Folge dieser Behauptungen die z.T. aggressive Abwertung des sprachlich (und zugleich kulturell-ethnisch, anthropologisch und politisch) Fremden. Der Übergang zwischen den drei Kennzeichen ist fließend.

2.1 Vergegenständlichung von Sprache Die Vergegenständlichung von Sprache begegnet in jeder sprachideologischen Argumentation (sprachideologisch wird im folgenden als Überbegriff für sprachpatriotisch und sprachnationalistisch verwendet). Sie impliziert die Auffassung, daß Sprache mehr ist als ein Werkzeug des sie souverän und nach

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seinem Belieben einsetzenden Menschen, der sich mit ihrer Hilfe die Welt intellektuell aneignet. Vielmehr wird Sprache in der Hypostasierang zu einer Größe, die dem Menschen als eigenständige Entität gegenübertritt, die auf sein Denken, Fühlen und Handeln Einfluß zu nehmen vermag und dabei seinem individuell-willentlichen Zugriff zumindest in Teilen entzogen ist. Begrifflich schlägt sich die Vergegenständlichung von Sprache in der erwähnten Rede vom Genie einer Sprache, von ihrem Wesen, ihrer Natur, ihrer Kraft etc. nieder (bzw., in anderen Sprachen: genius linguae, génie de la langue, genius of the language etc.). Das ist zunächst noch völlig unideologisch, dann nämlich, wenn unter dieser Sprachnatur das lexikalisch oder grammatisch Typische einer Sprache verstanden wird. Sprachnatur (bzw. Genie, Wesen etc.) bedeutet dann in etwa ,Sprachtyp'. Für das Deutsche werden an solchen Speziflka als Ausdruck seiner inneren Natur, also des Sprachtyps, zunächst sehr häufig die Wortbildung genannt - die hohe Flexibilität des Deutschen bei der Bildung von Komposita ist ein der Natur unserer Sprache gegründetes" (Schottelius 1663, 46; ähnlich noch Adelung 1809, 171) -, ab dem 18. Jahrhundert dann zunehmend syntaktische Merkmale, mit dem Aufkommen der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert vor allem die strukturellen Kennzeichen des Deutschen als flektierende Sprache im Unterschied zu den agglutinierenden und isolierenden Sprachen. Eine deutlich andere Qualität erhält das Konzept der Sprachnatur dann, wenn mit ihm qualitative Bewertungen verknüpft sind bzw. wenn die sprachtypologischen Spezifika mit gesellschaftlichen, moralischen, ästhetischen und sonstigen Werturteilen einhergehen. Charakteristisch fur das Lob des Deutschen (d.h. seiner Natur, seines Wesens etc.) z.T. über Jahrhunderte hinweg ist dabei dreierlei: 1. der Hinweis auf sein hohes Alter und seine genealogische Reinheit, 2. die Behauptung seiner ontologischen (zeichentheoretisch gesprochen: referentiellen) Adäquatheit, d.h. seiner Zuverlässigkeit bei der Abbildung von Welt und 3. die Annahme einer inneren Homogenität des Deutschen und der Existenz sprachinhärenter Gesetze. Diese drei Kennzeichen sprachideologischer Argumentation - alle ermöglicht durch die erwähnte Hypostasierung von Sprache - seien im folgenden kurz angesprochen.

2.1.1 Alter und genealogische Reinheit des Deutschen Bis zum Beginn der Aufklärung ist die Behauptung von der Entstehung des Deutschen beim Turmbau zu Babel ein Gemeinplatz der Sprachreflexion.' Das

3 Ein Beleg von vielen: Das Deutsche ist eine der wenigen Sprachen, die „ihre erste zier und jungferschaft vom Babelschen turne [= Turme, A.G.] her noch fürzuweisen weis" (Zesen 1651,

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Deutsche, unter der Hand mit dem Gennanischen, stellenweise sogar mit dem Keltischen identifiziert, soll aufgewertet werden, indem es mit Hilfe etymologischer Spekulation auf eine Stufe mit den heiligen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Lateinisch gestellt wird. In zahlreichen Sprachenharmonien (harmoniae linguarum) werden durchaus richtig erkannte Verwandtschaftsverhältnisse zwischen indogermanischen Sprachen (z.B. lat. caput - dt. Haupt) als Beleg für die biblische Abstammung der Muttersprache gesehen. Einzelne Wörter des Deutschen werden kühn auf biblische Zusammenhänge zurückgeführt, allen voran das Wort deutsch, das lautgeschichtlich sogar von dem Namen Ascenas, einem Urenkel Noahs hergeleitet wird (vgl. etwa Zesen 1651, 230).4 Die Identifizierung des Deutschen mit dem Germanischen bleibt auch nach Wegfall des biblischen Rahmens bestehen, bis in das 19. Jahrhundert hinein. Noch Jacob Grimm bezeichnet das Germanische als Deutsch und dementsprechend unter anderem das Englische, Niederländische, Schwedische, Dänische als „deutsche Sprachen". Die biblische Legitimation der Muttersprache - die im Rahmen des europäischen Humanismus natürlich auch für andere Sprachen in Anspruch genommen wird, je nach Herkunft oder Interessenlage des Gelehrten - wird bereits früh durch eine ethnische ergänzt: Das Deutsche gilt als die Sprache der tapferen und heldenhaften Vorfahren, der Germanen. Die Ende des 15. Jahrhunderts wiederentdeckte »Germania« des Tacitus wird dann kulturpatriotisch gelesen. Was etwa italienischen Kommentatoren des Textes als Beleg für die zivilisatorische Rückständigkeit der Deutschen gilt, bewerten deutsche Gelehrte anders: Die von Tacitus festgestellte Abwesenheit von Kultiviertheit und Urbanität bei den Germanen gilt ihnen als Ausdruck von Natürlichkeit, Unverfalschtheit, Aufrichtigkeit. Die Abitursrede von Martin Opitz (»Aristarchus, sive de contemptu linguae Teutonicae«, 1617), der die Germanen für die Erhabenheit ihrer Gesinnung (celsitudo animi), ihre Redlichkeit (candor), ihre Tugend (virtus) U.S.W. lobt, ist ein frühes Beispiel (1617,57). Den Germanen entspricht ihre Sprache: Wie ihre Sprecher ist sie edel, natürlich, unverfälscht, aufrichtig, nicht verschandfleckt, eine Sprache voll ,/auher wilder Freyheit" (Schottelius 1663, 178), den Nachfahren „rein / vnd von aller fremden Befleckung frey" hinterlassen (Meyfart: Teutsche Rhetorica, Vorrede). Dem Alter von Sprache und Volk entspricht wiederum das Alter des zugehörigen politischen Körpers. Für die Mitglieder der deutschen Sprachgesell206). Zur Frage des Sprachuisprangs vgl. Borst 1957-1963, Gessinger/v. Rahden 1989, Gardt 1994. 4 Diese Herleitung überschneidet sich - wie so viele der zeitgenössischen Etymologien - mit einer zweiten, wonach Ascenas auf Ascanius, einen Sohn des Äneas, zurückzuführen sei. Ascanius habe das Geschlecht der Askanier begründet, die im Gebiet des Fürstentums Anhalt ansässig gewesen seien. Beide Deutungen versuchen, das Deutsche durch Anschluß an eine ausgewiesene Tradition aufzuwerten, sei es die biblische, sei es die griechisch-römische.

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Schäften des Barock etwa ist die gegenwärtige deutsche Sprache, jenseits aller Veränderungen, ihrer Natur nach, „dieselbe uhralte weltweite Teutsche Sprache" wie vor „tausend Jahren" (Schottelius 1663, 48). Das politische Ideal bleibt, bei aller Loyalität gegenüber dem Landesfürsten, ein starkes, einheitliches Reich, das „von frömder Macht gäntzlich unbezwungen" und „von frömden Sprachen unverworren" (Schottelius 1663, 123) ist. Dieses göttlich und aus der Geschichte legitimierte Reich, an dessen Spitze eine Persönlichkeit wie Karl der Große stehen sollte, möge „Vaterland" (Ertzschrein, 239) fur alle Deutschen über die Binnengrenzen der Territorien hinweg sein. In der bisherigen Darstellung klang bereits an, was sprachideologische Äußerungen grundsätzlich kennzeichnet: das Übereinandeiblenden der Größen Sprache, Sprecher {Volk) und Sprachraum (Reich bzw. Nation), in einer Weise, die eine analytische Trennung nahezu unmöglich macht. Dieses Ubereinanderblenden begegnet über die Jahrhunderte hinweg, bis ins 20. Jahrhundert. Die Auffassung, daß die „deutsche Muttersprache [...] der breiteste und festeste unter den Grundpfeilern [ist], auf denen das deutsche Reich beruht" (so Felix Rudolph in einem 1888 erscheinenden Beitrag mit dem Titel »Die nationale Bedeutung unserer Sprache«), durchzieht etwa die Beiträge der Zeitschrift des 1885 gegründeten Allgemeinen Deutschen Sprachvereins bis in die Zeit des 2. Weltkriegs. Auch der Gennanenmythos hält sich über Jahrhunderte und nimmt nach 1871 die Form eines regelrechten Pangermanismus an (dazu Römer 1989, 94ff.). Die Entwicklung von Mediae zu Tenues in der germanischen Lautverschiebung (b, d, g > p, t, k) z.B. wird selbst von Jacob Grimm mit „Mut" und „Stolz" der Germanen begründet (Gesch. der dt. Sprache, 2. Bd., 4. Aufl., 1880, Nachdruck 1970, 292, 306). Andere Autoren begründen die Veränderung der Akzentverhältnisse mit einer „gewaltigen Willensregung" der Germanen (Otto Briegleb: Spracherstarrung und Tonverschiebung. Leipzig 1926, 71; zit. nach Römer 1989,91).

2.1.2 Ontologische (referentielle) Adäquatheit des Deutschen Die Behauptung, daß das Deutsche besser als andere Sprachen geeignet ist, die Gegegenstände und Sachverhalte der Welt zu bezeichnen, ist charakteristisch für den Sprachpatriotismus des Barockzeitalters. Sie basiert auf der Annahme einer umfassenden onomatopoetischen Motiviertheit des deutschen Wortschatzes. Aufgrund ihrer lautmalenden Eigenschaften seien die Stammwörter des Deutschen in der Lage, ihre außersprachlichen Bezugsgegenstände nicht nur hinreichend zur Identifizierung abzubilden, sondern zugleich deren inneres „Wesen" zum Ausdruck zu bringen. „In rerum natura" (Schottelius 1663, 48),

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in der Natur der Dinge seien die deutschen Wörter verwurzelt, eben weil sich die „Natur [...] hierin [d.h. in der deutschen Sprache, A.G.] völlig und aller dinges ausgearbeitet hat". Das Deutsche ist damit sozusagen von vornherein, noch vor jeder Verwendung, .wahrer' als andere Sprachen, erlaubt einen unmittelbareren Zugriff auf die Wirklichkeit als etwa das Französische oder das Italienische, die ihm als sog. abgeleitete Sprachen - abgeleitet vom Lateinischen - unterlegen sind. Diese heutzutage sehr eigenartig anmutende Auffassung ist letztlich metaphysisch begründet. Ihr liegt die Annahme einer lingua adamica als einer vollständig motivierten Ursprache des Paradieses zugrunde, in der sich sämtliche Eigenschaften eines bezeichneten Gegenstandes im einzelnen Zeichen mitteilen. Dank seines vermuteten hohen Alters enthält das Deutsche noch Spuren dieser ersten Sprache der Menschheit. Die Annahme einer Nähe der Sprache zur bezeichneten Wirklichkeit läßt auf eine ganz andere Weise als die über den Germanenmythos verlaufende Argumentation das Bild vom Deutschen als einer irgendwie soliden, semantisch zuverlässigen Sprache entstehen. Selbst dort, wo die damit einhergehende metaphysische Begründung fehlt, setzt sich dieses Bild fort. So schreibt immerhin der Frühaufklärer Leibniz, das Deutsche verfuge, anders als die romanischen Sprachen, über einen ihm eigenen „Probierstein der Gedanken". Angesichts des Fehlens einer eigenständigen deutschen Fachterminologie im Bereich der abstrakten Wissenschaften macht Leibniz aus der Not eine Tugend: Dieser Mangel, so bedauerlich er einerseits sein mag, sei andererseits Beleg dafür, daß sich nur substantielle Dinge auf deutsch ausdrücken ließen. ,,[L]eere Worte" dagegen, wie sie manche Spielarten der Philosophie produzieren, nehme „die reine Teutsche Sprache nicht an" (1697, 330f.). Das Argument hat zumindest ansatzweise auch eine syntaktische Seite. Im 18. Jahrhundert wird unter französischen und deutschen Grammatikern ausführlich die Frage eines ordo naturalis diskutiert. Ausgangspunkt ist die Überlegung, daß die menschlichen Gedanken die Gegenstände der Wirklichkeit und ihre Verknüpfungen in ihrem objektiven Gegebensein abbilden und daß die Einheiten der Sprache wiederum diese Gedanken ausdrücken. Die Frage ist nun, ob es eine Entsprechung zwischen der Reihenfolge der Gedanken und der Reihenfolge der syntaktischen Einheiten in der Sprache gibt, zumindest auf einer tiefenstrukturellen Ebene. Und, wenn ja, ob es Sprachen gibt, deren syntaktische Ordnung natürlicher und damit .wahrheitsgemäßer' als die anderer Sprachen ist. Französische Autoren begründen eine Überlegenheit ihrer Sprache u.a. mit der Abfolge von Substantiv und Adjektiv: Daß im Französischen das Substantiv dem Adjektiv vorausgehe, decke sich mit der Tatsache, daß den Eigenschaften eines Dinges (z.B. rouge) die Substanz des Dinges selbst (z.B. pomme) vorausgehe, daher pomme rouge und nicht 'rouge pomme.

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Zugleich decke sich diese Reihenfolge mit der Wahrnehmung durch das erkennende Subjekt, das zuerst den Gegenstand selbst wahrnehme, dann erst seine Eigenschaften. In Deutschland setzt sich unter anderem Johann Christoph Gottsched mit dieser Position auseinander. Zwar stellt er fest, daß von der Syntax keiner Sprache gesagt werden könne, sie sei „der Natur der Gedanken die gemäßeste" (1762, 457), doch kann er nicht umhin, dem französischen Lob der Muttersprache die Vorzüge des Deutschen entgegenzuhalten: Und wie könnte z.H. ein Franzos wohl sagen, das sey die natürlichste Art zu reden, wenn er saget: Je vous dis: ich euch sage. Sollte nicht, nach dem SubjecteicA, erst das Zeitwort sage, und sodann erst, wem ich es sage, folgen? Daher reden wir [d.h. die Deutschen, A.G.] ja der Natur der Gedanken viel gemäßer, ich sage dir.

2.1.3 Strukturelle Homogenität des Deutschen (Existenz sprachinhärenter Gesetze) Was bislang zum Konzept der Sprachnatur und damit zur Hypostasierung von Sprache festgestellt wurde, läßt als durchgehenden Zug sprachideologischer Argumentationen erkennen, daß Sprache stets aus ihren pragmatischen Bezügen herausgelöst wird. An die Stelle der Überzeugung, daß Sprache zunächst und vor allem Werkzeug der Kommunikation ist, tritt ihre Sicht als eigenständige, mehr oder weniger monolithische Größe. Diese Größe wird nun entweder als statisch beschrieben - man beachte die zahlreichen Darstellungen des Deutschen als „Gebäude", mit den Stammwörtem als „Eck- und Grundsteinen", wie sie vor allem in den mechanistisch geprägten Sprachkonzeptionen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts begegnen - oder aber als dynamisch, sehr häufig dann in organischer, meist botanischer Begrifflichkeit, wie sie ab dem 18. bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein dominiert: Sprache als Baum, die Stammwörter als saftvolle Wurzeln, als Samen, die nach den Regeln der Komposition und Derivation stets neue Wörter generieren, neue Sprößlinge, neue Früchte hervortreiben; Sprache blüht, blüht auf, verblüht, man darf ihr keine fremden Wörter einpfropfen, Fremdwörter gelten als Schädlinge, als Unkraut etc. Ob Gebäude oder Pflanze: In jedem Fall ist die homogene Sprache eine letztlich ahistorische Größe, da sprachliche Veränderungen nicht an die Sprecher zurückgebunden, sondern als Ausdruck sprachinhärenter Gesetze interpretiert werden. Die Vorstellung der Homogenität von Sprache kann sich auf die Gesamtsprache, aber auch auf eine einzelne Varietät beziehen. So sind sich die Grammatiker des 17. und frühen 18. Jahrhunderts natürlich der regionalen Heterogenität des Deutschen bewußt; die Diskussion darüber, welche Varietät

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die Grundlage des Hochdeutschen bilden solle - etwa das Meißnische - , zeugt eben davon. Dieselben Grammatiker aber, die die Abwesenheit einer einheitlichen deutschen Sprache beklagen, schreiben ganz selbstverständlich von ,dem* Deutschen, wenn es darum geht, die eigene Sprache gegen die fremde - etwa gegen das Französische - aufzuwerten. In der sprachpatriotischen Argumentation wird ,das Deutsche' schlagartig zur „Kernsprache", die schon immer dagewesenen Gesetzen folgt und deren Variantenreichtum lediglich einen ärgerlichen Beleg für den fehlerhaften Gebrauch der an sich „grundrichtigen" Sprache darstellt. Diese Tendenz zur Darstellung der eigenen Sprache in einer idealisierten Einheitlichkeit läßt sich in sprachpatriotischen Kontexten immer wieder beobachten. Jacob Grimm etwa, getragen vom revolutionären Impetus seiner Zeit, beschließt das Vorwort zum »Deutschen Wörterbuch« mit den Worten: Deutsche geliebte landsleute, welches reichs, welches glaubens ihr seiet, tretet ein in die euch allen aufgethane halle eurer angestammten, uralten spräche, lernet und heiliget sie und haltet an ihr, eure volkskraft und dauer hängt in ihr. noch reicht sie über den Rhein in das Elsasz bis nach Lothringen, über die Eider tief in Schleswigholstein, am ostseegestade hin nach Riga und Reval, jenseits der Karpathen in Siebenbürgens altdakisches gebiet. Auch zu euch, ihr ausgewanderten Deutschen, über das salzige meer gelangen wird das buch und euch wehmütige, liebliche gedanken an die heimatsprache eingeben oder befestigen, mit der ihr zugleich unsere und euere dichter hinüber zieht [...].

Angesichts des großen nationalen Anliegens des Wörterbuchs der Deutschen kennt der Lexikograph, so könnte man pointiert formulieren, keine sprachlichen Parteien mehr. Grimms Vorwort soll auch dazu dienen, den Gedanken des sprachlichen Gesetzes nochmals kurz zu beleuchten. Immer wieder spricht Grimm davon, daß die deutsche Sprache ihren eigenen Gesetzen folge, in unabänderlichem Gang. Am Anfang ihrer lexikalischen Entwicklung stehen die sog. Urbegriffe, die ursprünglichen Bedeutungen der Wörter. Der Urbegriff ist der nicht mehr hintergehbare Fixpunkt, von dem aus die Entwicklung in die lexikalische Vielheit führt, aufgrund eben jenes „allgemein waltenden gesetz[es] der [...] sprachen". Der Lexikograph, der diese Entwicklung gegen die Zeitachse und über die sozialen, regionalen, fach- und gruppensprachlichen Varietäten des Deutschen und die Systeme anderer Sprachen nachvollzieht, gelangt dabei, ,je weiter er aufwärts klimmen kann", an zunehmend unverdorbene Sprachzustände. Umgekehrt geht der Sprache vom Althochdeutschen über das Mittelhochdeutsche zum Neuhochdeutschen Reinheit verloren. Die Vorstellung eines festen, geradezu überzeitlichen Bedeutungskernes, verbunden mit dem Bild sprachinhärenter Abläufe und Gesetzmäßigkeiten, die organische (botanische) Begrifflichkeit und die damit einhergehende Überzeugung von der inneren Korrespondenz sämtlicher Elemente des Organismus Sprache - all diese Konzepte kommen ohne den Menschen als das sprachschaf-

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fende Subjekt aus. So ist die beeindruckende historische Lexikographie der Grimms auf eine andere Weise wieder ahistorisch: Die Sprache, ihre Wörter und Bedeutungen scheinen sich selbst zu generieren, ihren eigenen, schon immer dagewesenen, natürlichen Gesetzen folgend, unabhängig vom Menschen als einem gesellschaftlichen Wesen. Das Konzept des sprachinhärenten Gesetzes begegnet im 19. Jahrhundert natürlich auch in den zahlreichen Klassifizierungen von Sprachen in den Arbeiten der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft. Erwähnt sei hier lediglich die Unterscheidung der Brüder Schlegel in organische und unorganische Sprachen. Diese zunächst rein typologische Differenzierung wird nun zur Basis einer Festlegung der Sprachqualität. Die organischen, d.h. die flektierenden Sprachen gelten den nicht-organischen (d.h. den agglutinierenden und isolierenden) gegenüber als überlegen, weil ihre Formen nicht „mechanisch durch angehängte Worte und Partikeln", sondern „durch Flexionen oder innre Veränderungen und Umbiegungen des Wurzellauts", also aufgrund spracheigener Bildungskräfte (Friedrich Schlegel: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier, 1808) entstehen. Das Urteil ist charakteristisch für die hohe Bewertung des Organismus-Konzeptes und die Abneigung gegenüber den als mechanistisch empfundenen Ordnungskonzepten bei den Autoren der Zeit. Seine Implikationen - etwa daß das Chinesische „auf der untersten Stufe" stehe - werden an anderer Stelle noch eine Rolle spielen. Sprachtheoretisch gehen mit der Hypostasierung von Sprache die Ablehnung der Konzepte der Arbitrarität und Konventionalität einher. Als mehr oder weniger autarke Größe ist Sprache dem Menschen vorgegeben, sei es aus religiösen Gründen (Präsenz der göttlichen Ursprache in der Muttersprache), sei es aus naturgesetzlichen Gründen (die Muttersprache als natürlicher, einzelkulturell geprägter Organismus). In keinem Falle ist Sprache irgendwie zufallig oder frei vereinbar. Mit der Mythologisierung von Sprache und ihrer metaphysischen Anreicherung - die Rede vom Heiligtum der Muttersprache, von ihrem Geheimnis, ihrem Charakter als heiligem Gut, gegen das man sich versündigen kann, vom Sprachgewissen, das es aufzurütteln gilt etc. ist von der Frühen Neuzeit an bis in die ersten Jahrzehnte 20. Jahrhunderts geradezu ein Gemeinplatz sprachpatriotischer Darstellung - geht letztlich die Preisgabe der aufklärerischen Überzeugung von der Kontrolle der Sprache durch den Menschen als vernünftiges gesellschaftliches Wesen einher. Wenn im Vorangehenden festgestellt wurde, daß sich die Mechanismen der Hypostasierung von Sprache zu unterschiedlichen Zeiten gleichen, dann ist damit natürlich nicht gesagt, daß sich auch die historischen Anlässe für diese Argumentationsformen des Sprachpatriotismus gleichen. Bei den Mitgliedern der barocken Sprachgesellschaften sind diese Argumentationsformen zum

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einen Ausdruck der Verunsicherung angesichts politisch-ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels in den Territorien. Der Stand der Gelehrten, die in humanistischer Tradition stehen, sieht das eigene Bildungs- und Erziehungsideal durch die galanten und politen Vertreter einer neuen, sich französischer Kultur, Sprache und Lebensart öffnenden Schicht bedroht. Ob man daher in ihrem altdeutsch anmutenden Kulturpatriotismus eher trotzige Selbstbehauptung sehen sollte oder vielleicht aber die ersten Anzeichen eines frühbürgerlichen, nationalen und damit gegen den partikularistischen Territorialadel gerichteten Selbstbewußtseins, sei dahingestellt. Daß der Sprachpatriotismus in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nationalpolitisch motiviert ist, ist offensichtlich. Die Lebensgeschichte etwa der Grimms, ihre Zugehörigkeit zu den Göttinger Sieben, Jacobs Mitgliedschaft in der Frankfurter Nationalversammlung sprechen für sich. Daß damit allerdings nicht die Notwendigkeit begründet ist, den aufgeklärten Sprachduktus der zeitgenössichen Kritik an den bestehenden Verhältnissen zugunsten eines pathetisch-mythologisierenden aufzugeben - Grimms Rede vom Heiligtum der Sprache, vom Wörterbuch als einem hehren Denkmal des Volks etc. ist bekannt - ist ebenfalls offensichtlich. Vielleicht erschien den Grimms Begeisterung für eine nationale Sache nur mit dem entsprechenden Pathos erreichbar. Daß schließlich die hypostasierenden Beschreibungen von Sprache im Sprachnationalismus des wilhelminischen und nationalsozialistischen Deutschland eine wieder ganz andere Funktion besitzen - letztlich die der kulturellen Legitimierung einer aggressiven Expansionspolitik - braucht kaum ausführlich begründet zu werden. Dennoch läßt sich ein gemeinsamer Nenner der unterschiedlichen historischen Erscheinungsformen des Sprachpatriotismus und -nationalismus formulieren: Wo eine Sprache als Ausdruck politischer und kultureller Identität dienen soll, werden die ihr zugesprochenen Qualitäten nicht dadurch relativiert, daß diese Sprache als Niederschlag sich wandelnder Interessen von Sprechergruppen betrachtet wird. Was als verbindlicher Orientierungspunkt dienen soll, kann nicht - so das Argument - dem gesellschaftlichen Diskurs eingegliedert werden. Auf ahistorische Vergegenständlichungen sind sprachideologische Argumentationen in ihrer eigenen Logik geradezu angewiesen.

2.2 Identifizierung einer Sprachnatur mit einem Volks- oder Nationalcharakter Daß mit dem Lob der Sprache das Lob der Sprechergemeinschaft als kulturellethnischer, politischer und in Teilen auch anthroplogischer Größe einhergeht,

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wurde bereits im Zusammenhang mit der Darstellung des Germanenmythos deutlich. Schon in ihren Definitionen werden die Größen verknüpft; als ein Beispiel fur viele sei an die Definition des Volkes durch Jacob Grimm erinnert: „ein Volk ist der Inbegriff von Menschen, welche dieselbe Sprache reden. Das ist fur uns Deutsche die unschuldigste und zugleich stolzeste Erklärung". Eine patriotische Zuspitzung erfahren die Darstellungen dort, wo Sprache und Sprechern die erwähnten Charaktereigenschaften zuerkannt werden: Weil die Deutschen natürlich und aufrichtig sind, weil ihr „hertz, wort und thaten die warheit [erfordern]" (Ertzschrein, 268), „reden [sie] / wie sie es meinen" (Stieler 1681, 11/170) und ist auch das Deutsche selbst natürlich, wahrhaftig, ohne „pralhafte Redearten" (ebd.) und modische Affektiertheit. Ein Vergleich der Tugendkataloge, die im Zusammenhang mit der deutschen Sprache und ihren Sprechern zu verschiedenen Zeiten, über Jahrhunderte hinweg auftauchen, zeigt den topischen Charakter dieser Argumentationen. Historisch gesehen stehen sie in einer Tradition, die massiv in der Frühen Neuzeit, mit der Aufwertung der Volkssprachen gegenüber dem Lateinischen einsetzt.5 Der erste bedeutende Text zu dieser Thematik ist Dantes »De vulgari eloquentia« um die Wende zum 14. Jahrhundert. In all diesen Argumentationen steht die jeweilige Volkssprache an lexikalischer Fülle (copia) und stilistischer Eleganz unter dem Lateinischen, ist jedoch die dem Sprecher intuitiv näherstehende Sprache, in besonderer Weise geeignet, seinem Denken und Fühlen unmittelbaren Ausdruck zu verleihen. Diese Nähe der Sprecher zu ihrer Sprache wird gut deutlich in dem verbreiteten Bild von der Muttersprache als der mit der Muttermilch (cum lacté) aufgenommenen Sprache, also nicht einer, wie das Lateinische, aus rationaler Distanz erlernten Sprache ( - interessanterweise setzt sich diese Vorstellung von der Muttersprache als der dem Sprecher von Natur aus zukommenden Sprache auch nach der Verdrängung des Lateinischen durch das Deutsche fort; dann nimmt die Rolle, die früher das Lateinische einnahm, das Hochdeutsche ein, während die Rolle der .deutschen Muttersprache' von den Dialekten eingenommen wird, die nun als die dem Menschen .natürlich' zukommenden Varietäten gelten; die Auseinandersetzung zwischen Johann Christoph Gottsched und den Schweizern Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger über den Status des Alemannischen gegenüber dem meißnischen Hochdeutschen etwa belegt dies eindringlich).

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Das Lob des Volkes und seiner Eigenschaften begegnet natürlich schon früher. Ein Blick etwa in das Approbationsschreiben Otfrids von Weissenburg an den Mainzer Erzbischof Liutbert (um 868, dazu s. auch unten), in dem er seine Bevorzugung der Volkssprache Deutsch (d.h. Fränkisch) vor dem Lateinischen in seiner Evangelienharmonie begründet, enthält bereits die topischen Elemente des Lobs des eigenen Landes (Landschaft, Fruchtbarkeit etc.) und seiner Bewohner.

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Diese Aufwertung der Volkssprachen wird historisch durch unterschiedliche Faktoren gestützt. Zwei dieser Faktoren sind im Rahmen sprachpatriotischer Argumentation von besonderer Bedeutung, zum einen die Kritik an bestimmten Erscheinungsformen der Rhetorik, wie sie seit der Antike begegnet. Rhetorisch aufwendige Sprachgestaltung gilt danach als Ausdruck von Unaufrichtigkeit, so, also solle mit der schönen Form ein Mangel des Inhalts überdeckt werden. Da sich rhetorisches Bemühen über lange Zeit nur auf das Lateinische richtete, wurde die Sprache selbst als Medium raffiniert-artifizieller Formulierungskunst kritisiert. Im Umkehrschluß galt die schlichte Volkssprache als die aufrichtigere und damit letztlich wertvollere. In ersten Ansätzen deutet sich diese Argumentation bereits bei Otfrid von Weissenburg um die Mitte des 9. Jahrhunderts an, wenn er die Bevorzugung des Fränkischen gegenüber dem Lateinischen für seine Evangelienhannonie damit verteidigt, daß Gott nicht an der Schmeichelei glatter Worte („verborum adulationem politorum"), nicht an einem leeren Lippendienst („labrorum inanem servitiem") interessiert sei, sondern an echter Frömmigkeit.6 Der zweite Faktor, der die Aufwertung der Volkssprachen stützt, ist der Protestantismus. Martin Luthers Haltung in dieser Frage ist bekannt, sie durchzieht seine gesamten Äußerungen zu seiner Bibelübersetzung. Die exegetischen Bemühungen seiner katholischen Gegner sind auf die lateinische Fassung des Bibeltextes gerichtet und werden größtenteils auf Latein vorgetragen. Luther kritisiert sie als „Teuffels werck, also Zeuberey, Abgötterey, geucherey [d.i. Schwindel, A.G.]".7 Die „simplex et aperta Veritas"', die schlichte und offenkundige Wahrheit des Bibeltextes ist bei Luther in der Volkssprache Deutsch formuliert, nur in ihr, so Thomas Müntzer, kann man reden „aus des herzens abgrund". All diesen Ansätzen der Aufwertung des Deutschen ist gemein, daß in ihnen eine besondere Nähe der Sprecher zu ihrer Muttersprache postuliert wird. Die thematisch einschlägigen Äußerungen begegnen bis in das 20. Jahrhundert in den unterschiedlichsten Formen, von Schottelius' Feststellung 1663, der Verstand der Deutschen sei in Richtung ihrer Sprache „genaturet" (1663, 13), über die Bemerkung Heymann Steinthals Ende des 19. Jahrhunderts, die deutsche Sprache sei zwar nicht „aus jedem von uns hervorgewachsen; aber sie ist unserm Geiste wie eingepfropft, so daß die Lebenssäfte aus dem Stamme in den

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Die Zitate sind dem Approbationsschreiben Otfrids entnommen (vgl. Anm. S), in: [Otfrid von Weissenburg]: Otfrids Evangelienbuch. Hrsg. v. O. Erdmann. 5. Aufl., besorgt v. L. Wolff. Tübingen 1965. 7 D. Maitin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar, 1883ff. (.Weimarer Ausgabe'), Bd. 53,594. 8 Weimarer Ausgabe Bd. 18,721.

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Zweig und aus diesem zurück in jenen fließen" (1880, 104), ein Austausch, der mit einer fremden Sprache nicht stattfinden kann, denn diese ist „für uns kalt". Eine Möglichkeit, die zahlreichen Äußerungen dieser Art zu gliedern, ist ihre Kategorisierung nach physischen und psychischen Faktoren. In die erste Kategorie, in der die Verbindungen von Sprache und Sprecher anhand physischer Zusammenhänge erklärt werden, gehört die sog. Klimatheorie und ihre Fortsetzung in der ethnologisch orientierten Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Danach wird die Spezifik einer Sprache mit bestimmten Gegebenheiten der Landschaft, des Klimas und der Ernährung erklärt. Einige wenige Belege: Johann Christoph Adelung schreibt 1806, ein kaltes und feuchtes Klima bedinge eher harte Konsonanten und tiefe Vokale (S. 318); Wilhelm Schmidt hebt etwa ein Jahrhundert später hervor, daß in arktischen Gegenden aufgrund der witterungsbedingten Mundstellung häufiger mehrkonsonantischer Anlaut vorkäme (1927, 295); die Kehllaute des Alemannischen werden gerne als Ausdruck der geographischen Bedingungen, gelegentlich als Produkt des kieshaltigen Wassers gedeutet (wie etwa durch Johann Augustin Egenolff, in seiner »Historie der Teutschen Sprache« von 1716). Solche Textstellen mögen heute kurios wirken, ideologisch geprägt sind sie nicht. Sie können es allerdings leicht werden, dann nämlich, wenn die psychische Konstitution der Sprecher einbezogen wird. Berühmt ist die Unterscheidung August Wilhelm Schlegels (1798/99, Par. 49) in einen südlichen und einen nördlichen Sprachtyp, dem ein analoger Menschentyp zugewiesen wird: Nach der allgemeinen Analogie der klimatischen Einflüsse auf die menschliche Organisation läßt sich voraussetzen, daß die gemäßigten milderen Himmelsstriche für die Bildung schöner Sprachen am günstigsten sind und dies bestätigt auch die Erfahrung. Die gemäßigten Klimate haben im ganzen genommen die schönsten und geistvollsten Menschen und auch die schönsten Sprachen hervorgebracht, so die griechische und späterhin zum Teil die lateinische, italienische und französische Sprache und einen großen Teil der orientalischen Sprachen, und so auch bei ungebildeten Sprachen.

Tendenziell gilt der südliche Sprachen- und Menschentyp in den Texten der Zeit als sinnlich, geistvoll, flexibel und ästhetisch ansprechend, der nördliche als bestimmt und markant. Schlegel selbst geht nicht über die zitierten Aussagen hinaus, aber es wird deutlich, wie einfach der Übergang zum negativen nationalen Stereotyp ist: Aus der vermeintlichen Leichtigkeit des Französischen und Italienischen und ihrer Sprecher wird dann Oberflächlichkeit und Unehrlichkeit, aus der vermeintlichen Härte germanischer Sprachen und ihrer Sprecher wird moralische Geradlinigkeit und Aufrichtigkeit ( - oder aber es werden, bei gegenteilig gelagerten Interessen, die deutsche Sprache und ihre Sprecher für vermeintliche Primitivität und Unkultiviertheit kritisiert und verspottet, während eine romanische Sprache und deren Sprecher für ihre Eleganz gelobt werden).

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Komplexer als solche eher atmosphärischen Beschreibungen des Verhältnisses von Sprachen und Sprechern verlaufen die Diskussionen innerhalb der vergleichenden Grammatikographie des frühen 19. Jahrhunderts. Als Beispiel seien die Arbeiten Wilhelm von Humboldts herangezogen. Gleich an mehreren Stellen formuliert Humboldt diejenige sprachphilosophische Position, die als These von der sprachlichen Weltansicht bzw. später als sprachliches Relativitätsprinzip oder einfach als Weltbildthese bekannt wurde. Humboldt geht dabei von der Annahme aus, daß Sprache das Denken nicht einfach abbildet, sondern erst konstituiert (sie ist „das bildende Organ des Gedankens", 1836), intellektuelle Tätigkeit und Sprechen sind „unzertrennlich voneinander". Die Welt wird von den Individuen so erkannt, wie dies die lexikalischen Inhalte und die grammatischen Strukturen ihrer jeweiligen Sprachen nahelegen; nicht den Gegenständen und Sachverhalten der Wirklichkeit, sondern der Sprache kommt das erkenntnistheoretische Apriori zu. Jede Einzelsprache bedingt so ein ganz bestimmtes Denken über die Wirklichkeit, in jeder Sprache kommt eine je „eigentümliche Weltansicht" zum Ausdruck (ebd., 53f.). Diese Parallelisierung eines „Sprachgeistes", wie Humboldt schreibt, mit einem „Volksgeist" begegnet in der Geschichte der Sprachtheorie in den unterschiedlichsten Formen und Zuspitzungen. Sie findet sich in Johann Gottfried Herders Sprachursprungsschrift ebenso wie in Arbeiten Fichtes und der Schlegels, zahlloser Sprachwissenschaftler des 19. Jahrhunderts und ebenso vieler Ethnologen aus der Frühzeit der Disziplin, bis hinein in das 20. Jahrhundert, wo die These der sprachlichen Relativität von linguistischer Seite ihre letzte prägnante Ausformulierung in den Arbeiten Benjamin Lee Whorfs und in Deutschland in der inhaltsorientierten Grammatik Leo Weisgerbers und Jost Triers erfahren hat. Hier soll lediglich ein Aspekt dieser Auffassung interessieren, nämlich ihre mögliche Nähe zu sprachideologischen Darstellungen. Ausgangspunkt sei die Diskussion der bereits erwähnten Differenzierung in isolierende, agglutinierende und flektierende Sprachen. Humboldt, für den die Grammatik „unsichtbar in der Denkweise des Sprechenden vorhanden" ist (1826, 128), gesteht nur den flektierenden, indogermanischen Sprachen einen optimalen Einfluß auf die „Ideenentwicklung" eines Volkes zu (z.B. 1822, 58). Das dem isolierenden Sprachtyp angehörende Chinesische z.B. ist ihm (1827, 68; in diesem Sinne auch 1822, 78) ohne jeden Zweifel als Organ des Denkens jenen Sprachen weit unterlegen, die in gewissem Grade ein System vervollkommnet haben, das dem chinesischen entgegengesetzt ist.

Sätze des Chinesischen seien aufgrund fehlender Angaben zu den Beziehungen zwischen den Wörtern - Angaben, die in anderen Sprachen durch die Flexion gemacht werden - syntaktisch mehrdeutig. Die syntaktische Mehrdeutigkeit bewirke, daß unterschiedliche Aussagen aus den Sätzen entnommen werden

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können. In Umkehrung des Satzes, daß in einer Sprache all dasjenige ausgedrückt werde, was die Sprecher „lebhaft und klar" denken, gelte nun für die Sprecher des Chinesischen, daß die sprachlich nicht eindeutig bezeichneten grammatischen Verhältnisse „von dieser Nation nicht mit Klarheit und Präzision gefühlt" werden (ebd., 38). Schon Adelung hatte diesen Gedanken formuliert, weniger zurückhaltend als Humboldt: „Der Chinese hat sich durch seine steife Einsylbigkeit den Weg zu aller weitern Cultur des Geistes verschlossen" (»Mithridates«). Auch Friedrich Schlegel schreibt ähnliches, und wie Adelung und Humboldt sieht er sich mit einem Problem konfrontiert: Die morphologische und syntaktische Struktur der chinesischen Sprache ist von einer Art, die die Entwicklung einer Hochkultur eigentlich unmöglich machen müßte, da den Sprechern die notwendige kognitive Leistungsfähigkeit zur Bildimg einer solchen Kultur durch die Sprachstruktur versagt bleibt. Angesichts der offensichtlichen Existenz einer solchen hochentwickelten Kultur in China aber müssen nun strukturelle Gegenargumente gefunden werden: Gerade weil das Chinesische, so Humboldt, weit weniger grammatische Informationen als die flektierenden Sprachen vermittle, veranlasse es seinen Benutzer zur Konzentration auf die Begriffe selbst und stimuliere so eine „auf das blosse Denken gerichtete Geistesthätigkeit" (1826, 141). Auch Friedrich Schlegel sieht das Problem, weiß aber keine Lösimg anzubieten. „Die Welt der Sprache", so schreibt er, „ist zu umfassend reich und groß und bei höherer Ausbildung zu verwickelt, als daß sich die Sache so einfach durch einen schneidenden Richterspruch ausmachen ließe" (1808, 163). Wohlgemerkt: Bei Persönlichkeiten wie Humboldt, den Schlegels, Indogermanisten wie Franz Bopp, August Friedrich Pott oder Heymann Steinthal begegnen keine kruden sprachideologischen Zuspitzungen. Was sich findet, ist einerseits das oft diffuse Übereinanderblenden von Größen wie Volksgeist, Nationalgeist, Nationalsprache, Sprachgeist u.s.w., andererseits teils sprachphilosophische, teils grammatikographische Theoreme, die eine ideologische Interpretation ermöglichen können. Expliziter Sprachnationalismus nimmt hier erst seinen Ausgangspunkt und steigert die vorgegebenen Argumentationsmuster in extremis. Allerdings: Ohne diese argumentativen Voraussetzungen ist er nicht möglich. In der Verbindung von Sprachwissenschaft und Ethnologie/Anthropologie im 19. und frühen 20. Jahrhundert bieten sich Möglichkeiten eines solchen expliziten Sprachnationalismus. Auch hier muß abgewogen werden: Nicht die Einbeziehung des Konzeptes der Rasse in die sprachwissenschaftliche Diskussion ist das Problem, sondern die damit einhergehenden Bewertungen. So schreibt Alexander von Humboldt um die Mitte des 19. Jahrhunderts:

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Die Sprachen als geistige Schöpfungen der Menschheit [...] haben, indem sie eine nationelle Form offenbaren, eine hohe Wichtigkeit für die zu erkennende Ähnlichkeit oder Verschiedenheit der Racen. Die haben diese Wichtigkeit, weil Gemeinschaft der Abstammung in das geheimnisvolle Labyrinth führt, in welchem die Verknüpfung der physischen (körperlichen) Anlagen mit der geistigen Kraft in tausendfältig verschiedener Gestaltung sich darstellt, (zit. nach Römer 1989, 138).

Wieder findet sich das zuvor erwähnte Übereinandeiblenden von Sprache, Nation und Geist, diesmal unter Einbeziehung der Rasse. Zugleich aber betont Humboldt, ganz in aufklärerischer Manier, die prinzipielle Gleichheit aller Rassen. Eben mit dem Urteil in dieser Frage steht und fallt die heutige Bewertung des ideologischen Charakters einer Argumentation. Die Texte der linguistischen Rassenlehre des 19. Jahrhunderts haben aus der Perspektive der Gegenwart durchaus ihre kuriosen Seiten. So erfahrt man, daß bestimmte morphosyntaktische Komplexitäten nordamerikanischer Indianersprachen damit zusammenhängen, daß der tage- oder wochenlang einsame Wälder durchstreifende Jäger [...] dort eben Zeit und Muße [hat], sich in seinem Geist alle die künstlich ineinander geschlungenen Sentenzen zurechtzulegen, die er dann beim Wigwamfeuer langsam und feierlich zur Äußerung bringt (Bastian 1872, 161, zit. nach Römer 1989, 132).

Ahnlich kurios mutet heutzutage die ethnolinguistische Differenzierung in Friedrich Müllers »Grundriß der Sprachwissenschaft« von 1876ff. an, in der die Sprachen nach den Haarformen ihrer Sprecher unterteilt werden; die einzelnen Kapitel lauten: „Die Sprachen der wollhaarigen Rassen" oder „... der schlichthaarigen Rassen" (nach Römer 1989,129). Ganz anders dagegen der Ton in den Arbeiten Arthur Gobineaus, etwa in seinem »Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen«, aus dessen 5. Auflage 1939/40 lediglich der „allgemein[e] Grundsatz' des Verfassers zitiert werden soll: „Die Rangordnung der Sprachen entspricht der Rangordnung der Rassen". Gobineau wird im späten 19. Jahrhundert noch aus dem Fach selbst heftig widersprochen - u.a. von Georg von der Gabelentz -, aber es ist offensichtlich, daß von seinen Arbeiten der Weg zum .rassischen Sprachbegriff des Nationalsozialismus fuhrt. Nebenbei wird an der Person Gobineaus deutlich, daß sich das zitierte Gedankengut nicht auf deutsche Autoren beschränkt. Hinzu kommt, daß sich zahlreiche Äußerungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gar nicht als nationalistisch im engeren Sinne des Wortes bezeichnen lassen, vielmehr als eurozentrisch, da sie die flektierenden Sprachen - zu denen eben die meisten europäischen zählen - und ihre Sprecher über strukturell andere, in der Regel außereuropäische Sprachen und deren Sprecher stellen. Was die Position deutscher Autoren betrifft, so erfahrt allerdings die ideologisch motivierte Rassenlehre nach der Jahrhundertwende und nochmals verstärkt in der Zeit des Nationalsozialismus eine deutliche Zuspitzung. In der Begrifflichkeit vermischen sich die Kategorien arisch, germanisch und nor-

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disch, schließlich auch deutschblütig, in den einschlägigen Arbeiten kommt es immer wieder zu einer Identifizierung von Rasse mit Volk und damit zur Biologisierung einer vorwiegend kulturellen Größe. Dasselbe gilt für die Einbeziehung sprachlicher Phänomene: In mehreren Schüben - um die Zeit des deutsch-französischen Kriegs 1870/1871, in der Zeit vor und während des ersten Weltkriegs, vor allem schließlich im Nationalsozialismus - verschärft sich der Sprachnationalismus in Deutschland drastisch.

2.3 Postulierung der Überlegenheit des Eigenen und Abwertung des Fremden Mit der Postulierung der Überlegenheit des Eigenen und der Abwertung des Fremden geht die patriotische Wertschätzung der eigenen Sprache und Kultur in den Sprachnationalismus über. Am Beispiel der Einstellung gegenüber dem französichen Sprach- und Kultureinfluß in Deutschland sei dies im folgenden illustriert. Auch hier unterscheiden sich die historischen Gründe fur die Einnahme einer Position, während sich die Argumentationsmuster wiederum ähneln. Betrachtet man sich einschlägige Äußerungen aus der Barockzeit, so findet man bereits diese Muster vorgegeben. Die Mitglieder der barocken Sprachgesellschaften beschreiben den französischen Einfluß als Gefährdung der sittlichmoralischen Integrität der Deutschen wie ihrer nationalen Identität: Wo „keusche deutsche Herzen [junger Frauen] mit geilen französischen Worten beredet werden", leiden die Menschen wie die Sprache. Werden französische Sitten importiert, dann besteht Gefahr, daß „die Teutsche Trew / Glaub vnd Redlichkeit auß Teutschland [zieht]" (Schorer 1643, 11). Was zuvor in Deutschland galt - „Ja war ja / vnd Nein war nein" (ebd., 11; bezeichnend ist die biblische Anspielung) -, läßt sich nach Ansicht der Autoren in dieser alamodischen, von den Höfen und ihrem Umfeld getragenen Kommunikationskultur nicht mehr beibehalten. Immer wieder wird die Verkehrung der Verhältnisse in der sprachlichen Darstellung kritisiert: Franzosen bzw. die französelnden Deutschen stellen die Dinge völlig anders da, als sie eigentlich sind. Die Furcht vor Lüge, Täuschung und Betrug durchzieht die Texte wie ein roter Faden: Die Franzosen sind Gauckler, wie ihre Zungen von einer „weichlichen Schlupferigkeit" (Kramer, g3r) sind, so sind ihre Worte wie „ein Gifft [...] unter Liljen" (Langjahr 1697, A3v) etc. (Schottelius 1663, 138): und [es] wird durch solche beliebte Frömdsucht / auch das sonst den Teutschen ins gemein angebohme ehr- und redlich seyn und gutes einheimisches Wesen / in hochfahrenden Wankelsinn und in eine schädliche ausländische Wunschgier verendert [...].

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Die Identifizierung der Sprecher mit ihrer Sprache, von der schon mehrfach die Rede war, fuhrt nun dazu, daß kritisierte Eigenheiten des Sprachverhaltens auf die Sprache selbst übertragen werden: Die Wörter des Französischen besitzen eine „heimliche Kraft", durch die „die Rede / und der Teutsche Geist entfremdet / die rechte Art / verunartet" wird (Hille 1647, 3). Durch die Sprachverderbnis wird „Teutscher Geist und Teutsches Hertze [...] zerstükkt" (Neumark 1668, 23). Der Bedrohung der moralisch-sittlichen Integrität und der kulturellen Identität der Sprecher entspricht wiederum die Bedrohung des politischen Körpers: „Machst du die Sprach zur Magd: So wirst du werden Knecht" (Sigmund von Birken, in Neumark 1668, b6r); der Angriff auf das Land im Dreißigjährigen Krieg wird zum Angriff auf die Sprache in Parallele gesetzt. Sprachpflege bedeutet danach „über unseres Vaterlandes / und unserer Sprache Freyheit zu halten" (Hille 1647,78*). Genau das ist die zentrale Behauptung des Sprachnationalismus: daß das Fremde durch seinen Einfluß auf das Denken und Fühlen der Menschen die als natürlich gesehene Richtigkeit politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse in ihr Gegenteil verkehrt und so die Identität der eigenen Sprach-, Kultur- und Volksgemeinschaft aufs äußerste gefährdet. Die sprachnationalistischen Äußerungen in den Texten des 17. Jahrhunderts sind - abgesehen davon, daß sie quantitativ hinter sprachpatriotischen Äußerungen deutlich zurückstehen - nicht das kulturelle Pendant einer aggressiven, auf Expansion ausgerichteten Politik. Ihre historische Begründung wurde an anderer Stelle kurz angesprochen. Jenseits ihrer historischen Spezifik lassen diese Argumentationen aber sehr wohl die eingangs genannten Kennzeichen sprachideologischer Darstellung erkennen. Dabei sei noch einmal kurz der Blick auf Äußerungen gelenkt, wonach der sprachliche Fremdeinfluß „deutschen Geist und deutsches Herz" zerstücke, die rechte Art verunarte etc. Was hier vorliegt, ist eine trivialisierte Form des Konzeptes sprachlicher Relativität, der sprachlichen Weltansicht. Wenn dieses Konzept in der Frühaufklärung (etwa bei Leibniz) als Frage der Konstitution von Erkenntnis sprachphilosophisch und völlig unideologisch diskutiert wurde, bei Humboldt dann auf der Grundlage empirischer Sprachstudien, so wird es in den eben zitierten Äußerungen zu sprachideologischen Zwecken funktionalisiert. Die Geschichte der Angriffe auf französisches Wortgut illustrieren das in zunehmender Schärfe: „Jene Wälschworte", beschreibt Friedrich Ludwig Jahn 1833 französische Fremdwörter, so Seelengift einschwäizen, unsere Grundansicht verdüstern, die Lebensverhältnisse verwirren, und durch andersartige, sittliche, rechtliche, und staatliche Begriffe das Deutschthum verunstalten, entstellen und schänden (Jahn 1833,206, zit. nach Stiaßner 199S, 264).

Ahnlich in einem fast zeitgleichen Text, der den Zustand nach der Reinigung des Deutschen von Fremdwörtern beschreibt (»Warum muß die Französische

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Sprache weichen und wo zunächst«, Gießen 1814, 28f.; zit. nach Straßner 1995,204): Mit der [französischen] Sprache wird sich dann zugleich verlieren der Geist, der in ihr wohnt, Lebensart und Manieren, welche daraus hervorgehn, die Empfindungsweise, die Anschauung der Natur und die Ansicht der Geisteswelt, die ihr eingeboren sind, von denen sie nur der Abdruck ist, die ganze Französische Natur mit ihrer Äusserlichkeit und Oberflächlichkeit im untrüglichsten Ebenbild.

Als letzter Beleg sei ein Ausschnitt aus einem Beitrag in »Muttersprache. Zeitschrift des Deutschen Sprachvereins« von 1933 zitiert, der im Kontext einer Diskussion über das „Erbübel der Ausländerei" steht: Die Sprache als Schöpfung des Volkes, dem du angehörst, hat ein inneres Gesetz, das in deinem Blute widerklingt. Blut und Boden, Rasse und Seele gelangen zum Ausdruck und werden Gestalt in der Kunst, vor allem auch in dem Wunderwerk der deutschen Sprache.

Daß ideologische Auslegungen der Weltbildthese bis in die Zeit nach 1945 reichen, soll ein abschließendes Zitat aus einem Text der englischen KafkaÜbersetzerin Willa Muir zeigen. Muirs Ausführungen, die vom Einfluß der Struktur der deutschen Sprache, vor allem der Satzklammer, auf das , Wesen' der deutschen Sprecher handeln, verdeutlichen die ganze Unsinnigkeit, zu der Ideologisierungen sprachtheoretischer Konzepte fuhren können (Muir 1959, 93ff.): Ich habe den Eindruck, daß die Gestalt der deutschen Sprache das Denken derjenigen beeinflußt, die sie verwenden, und sie dazu veranlaßt, Autorität, Willenskraft und zielgerichtete Dynamik überzubewerten. In seiner Betonung von Unterordnung und Kontrolle ist der deutsche Satz zwar nicht so radikal wie der lateinische, aber sowohl im Deutschen wie im Lateinischen scheint mir die Struktur der Sprache das Denken, welches durch sie ausgedrückt wird, zu prägen. Dementsprechend muß die Sprache eine unmittelbare Beziehung zu den Absichten und Vorstellungen derjenigen haben, die sie verwenden. Eine Sprache, die Kontrolle und rigide Unterordnung betont, muß dazu neigen, dasjenige zu formen, was wir Machtmenschen nennen. Die Dynamik, die klare zielgerichtete Dynamik der lateinischen Sprache ist der klaren, zielgerichteten Dynamik der römischen Straßen bemerkenswert ähnlich. Man könnte die Vermutung wagen, daß sich aus der Verwendung von ut mit Konjunktiv das römische Reich ableiten ließe. Könnte man dementsprechend Hitlers Reich aus der weniger radikalen Form des deutschen Satzes ableiten? Ich denke, man könnte es, und eben darum habe ich eine Abneigung gegen den deutschen Satz entwickelt.

3.

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Andreas Gardt

Vereins; bis 1925 unter dem Titel: Zeitschrift des Deutschen Sprachvereins; von 1925 bis 1939 unter dem Titel: Muttersprache. Zeitschrift des deutschen Sprachvereins; von 1939 bis 1943 unter dem Titel: Muttersprache. Zeitschrift für deutsches Sprachleben mit Berichten aus der Arbeit des Deutschen Sprachvereins und des Deutschen Sprachpflegeamts; seit 1949 unter dem Titel Muttersprache. Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache]. Neumark, Georg: Der Neu-Sprossende Teutsche Palmbaum. Oder Ausführlicher Bericht / Von der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft Anfang / Absehn / Satzungen / Eigenschaft / und demselben Fortpflantzung[...]. Weimar o.J. (Widmung gezeichnet den 33. VIII. 1668). Nachdruck. München 1970. Opitz, Martin: Aristarchus, sive dem contemptu linguae Teutonicae (1617). In: Martin Opitz. Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. G. SchulzBehrend. Bd. 1. Stuttgart 1968, 51-75. - Dt. Übers.: Martin Opitzens Aristarchus sive dem contemptu linguae Teutonicae und Buch von der Deutschen Poeterey. Hrsg. v. G. Witkowski. Leipzig 1888. Reichmann, Oskar: Deutsche Nationalsprache. In: Germanistische Linguistik 2/5, 1978, 389-423. Reichmann, Oskar: Nationalsprache als Konzept der Sprachwissenschaft. In: Gardt 1999a. Römer, Ruth: Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland. 2. Aufl. München 1989. Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über philosophische Kunstlehre (1798/1799). In: A. W. Schlegel. Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Hrsg. v. E. Behler in Zusammenarbeit mit F. Jolies. Bd. 1. Paderborn etc. 1989, 1177. Schlegel, Friedrich: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier (1808). In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. E. Behler, unter Mitwirkung v. J.-J. Anstett u. H. Eichner. 8. Bd. München etc. 1975, 105-433. Schmidt, Wilhelm: Rasse und Volk. Eine Untersuchung zur Bestimmimg ihrer Grenzen und zur Erfassung ihrer Beziehungen. München 1927. Schnell, Rüdiger: Literatur und deutsches Nationsbewußtsein in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Ehlers 1989, 247-320. Schorer, Christoph: Der Vnartig Teutscher Sprach-Verderber. Beschrieben Durch Einen Liebhaber der redlichen alten teutschen Sprach. Ohne Ort 1643. Schottelius, Justus Georg: Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache [...]. Braunschweig 1663. Nachdruck. Hrsg. v. W. Hecht. 2 Teile. Tübingen 1967.

Sprachpatriotismus und Sprachnationalísmus

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Peter ν. Polenz (Trier)

Deutsch als plurinationale Sprache im postnationalistischen Zeitalter 1 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Großgruppen-Identitäten Asymmetrie und Sprachdominanz Sprachseparatismus Österreichisches Deutsch Deutschländisches und DDR-spezifisches Deutsch Nationalvarietäten und Regiolekte Gleichgewicht im neuen Europa? Literatur

1.

Großgruppen-Identitäten

Zur Sprachkultur gehört am Ende des 20. Jahrhunderts - anders als bei der Sprachkultivierung im 17./18. Jahrhundert (v. Polenz 1994, Kap. 5.5, 5.6; v. Polenz 1995) - Toleranz und Gegenseitigkeit in Bezug auf andere Sprache und Sprache der Anderen. In der deutschen Sprachgeschichte des 20. Jahrhunderts haben wir es dabei u.a. mit verschiedenen Nationen mit deutscher Sprache zu tun. Die deutsche Sprache war niemals eine .Nationalsprache' im Sinne des westlich-aufklärerischen Begriffs ,Staatsbürgemation', der seit der Amerikanischen und Französischen Revolution politisch konkretisiert worden und heute in der westlichen politischen Kultur weitgehend akzeptiert ist. Der alte, intellektuelle WunschbegrifF .Kulturnation' (vgl. Gardt in diesem Band) hat in den vergeblichen Bemühungen deutschsprachiger Nationalpatrioten um die Gründung eines Nationalstaates noch bis 1848/49 eine sinnvolle Rolle gespielt. Dominierend war aber noch immer der Territorialpatriotismus des Untertanenstaates. Spätestens seit der .kleindeutschen' Reichsgründung von 1871 gerieten diese drei Großgruppen-Identitäten der Deutschsprachigen (v. Polenz 1998a) in einen sprachpolitisch brisanten Widerspruch zueinander, wurde die deutsche Sprache eine zunehmend plurinationale Sprache.

116

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2.

Asymmetrie und Sprachdominanz

Das Thema Deutsch in mehreren Nationalstaaten, Deutsch als Sprache mehrerer Staatsnationen ist heute durch zahlreiche Veröffentlichungen österreichischer und schweizerischer Germanisten und Ulrich Ammons Uberblicksmonographie (Ammon 1995) fachwissenschaftlich aktuell geworden. Die traditionelle Germanistik hatte sich hierin sehr abstinent verhalten, da sich die Germanisten an die Fiktion der .Kultumation' aller Deutschsprachigen gebunden fühlten. Es gab nur einen Aufsatz von Otto Behaghel über „Deutsches Deutsch und Österreichisches Deutsch" aus dem Jahre 1915. In den 60er Jahren ließ Hugo Moser zwar Einzelstudien über sog. Besonderheiten" der deutschen Sprache in Österreich, in der Schweiz, in Luxemburg, in der DDR usw. anfertigen, aber nicht über die Eigenheiten der Sprache des Deutschen Reiches bzw. der Bundesrepublik Deutschland. Man tat in Deutschland so, als gäbe es mudas gemeinsame ,Hochdeutsch' als Einheit, identifizierte aber dieses Gemeindeutsch stillschweigend mit dem eigenen Reichsdeutsch bzw. Bundesdeutsch, das man z.T. monozentrisch mit neuer Metaphorik ,Binnendeutsch' nannte. .Besonderheiten' sollten nur die Anderen ,da draußen' haben, die eben .abweichend' oder .regional' sprachen; und das hieß im Grunde: Nur man selbst verfügte über das .eigentliche' Deutsch. Der Erste, der diese asymmetrische Sprachbewertung systematisch kritisierte, war der australische Germanist Michael Clyne, der dazu u.a. durch die österreichische Herkunft seiner Eltern motiviert war. In seinem Buch „Language and society in the German speaking countries" (1984. Neubearbeitung als Clyne 1995) entwickelte er, nach einem theoretischen Ansatz von Heinz Kloss 1978, das Modell „German as a pluricentric language" (so auch in: Clyne 1992), wonach die Normen der deutschen Sprache nicht nur monozentrisch vom Reichsdeutschen oder Bundesdeutschen her bestimmt werden, sondern von mehreren Zentren her, unter denen (außer einflußreichen städtischen Zentren und Ballungsgebieten) eben die verschiedenen deutschsprachigen Staaten eine bedeutende Rolle spielen. Statt nur .Besonderheiten' als .Abweichungen' von einem Zentralstandard zu beschreiben, stellte er mehrere Varietäten des Deutschen in den Vordergrund, die er - mit dem staatsbezogenen englischen Begriff national - „national varieties" nannte, wobei er auch die lexikalischen Ost-West-Unterschiede im geteilten Deutschland, nicht ohne Fragezeichen, als national varieties" bezeichnete: „West German / East German / Austrian German / Swiss German", alles auf der Ebene der Standardsprache, nicht der Dialekte oder Regiolekte. Michael Clyne als Soziolinguist machte vor allem auf die asymmetrisch dominante Sprachbewertungshaltung der Deutschen

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gegenüber Österreichern und Deutschschweizern aufmerksam. Sprachliche Rechthaberei der Deutschen in Bezug auf geringer bewertete Lautungen, Wörter und Wortverwendungen nannte er (polemisch übertreibend) „linguistic imperialism", das entsprechende österreichische Unterlegenheitsbewußtsein (ebenso zugespitzt) Jinguistic cringe". In der Tat gibt es seit Gottscheds Besuch bei Maria Theresia in Wien (1749), bei dem sich die Kaiserin bei dem Leipziger Sprachgelehrten (norddeutscher Herkunft) für das vermeintlich schlechte Deutsch der Österreicher entschuldigte, zahlreiche Zeugnisse fur mittel- und norddeutsche oder preußisch-reichsdeutsche Neigimg zu Sprachhegemonie, für entsprechende österreichische Verunsicherung (Wiesinger 1995) und seit Bodmer und Breitinger für deutschschweizerische Distanzierung gegenüber den aus dem Norden kommenden Sprachnormen. Wir wissen heute auch aus der Aufarbeitung der sprachpolitischen Geschichte des deutschen Nationalismus Genaueres über den rigorosen Sprachchauvinismus und Sprachimperialismus vor allem von der späten Bismarckzeit bis zu Hitler und Himmler, mit seinem übertriebenen Vereinheitlichungswahn und Sprachpurismus, mit rücksichtsloser Diskriminierung und Verdrängung von Minderheitensprachen, Bestrafung und Verfolgung von deren Sprechern (s. v. Polenz 1998b; 1999, Kap. 6.4).

3.

Sprachseparatismus

Das problematische Verhältnis zwischen mehreren Nationen mit teilweise verschiedenem Anteil an der deutschen Sprache wurde im 20. Jahrhundert krisenhaft deutlich durch zwei bedenkenswerte zentrifugale Reaktionen auf den preußisch-deutschen Sprachimperialismus in Luxemburg und in der Schweiz. Die besondere, auch von französischer Sprachenpolitik geprägte Entwicklung im Elsaß muß ich hier ausklammem (s. Hartweg 1987). Die Luxemburger, denen das deutsche Besatzungsregime im Zweiten Weltkrieg die traditionelle deutsch-französische Zweisprachigkeit und die sprachliche Eigenkultur mit brutalen Mitteln austreiben wollte, haben im Widerstand der Sprachbevölkerung und mit konsequenter Sprachplanung ihre moselfränkische Alltagssprache zur neuen Nationalsprache Lëtzebuergesch entwickelt und die deutsche Standardsprache in einer erstaunlichen Dreisprachigkeit oder Triglossie auf den dritten Platz verwiesen, einen Platz außerhalb ihrer nationalen sprachlichen Identität (Dosiert 1985, Hoffinann 1979, 1988). Das Lëtzeburgische gehört von vornherein nicht zu den Varietäten der deutschen Standardsprache, denn es ist aus Notwehr gerade gegen das hegemoniale Reichsdeutsch

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etabliert worden, gegen den Status einer bloßen Varietät (v. Polenz 1999, 150152,167-169). Diese separatistische Lösung eines sprachpolitischen Ausstiegs wäre auch im deutschsprachigen Teil der Schweiz möglich gewesen, kam aber nicht zustande wegen der antizentralistischen schweizerischen Sprachgesinnung, nach der an jedem Ort, in jedem Kanton strikte territoriale Autonomie der Sprache besteht, die eine schweizerdeutsche Gemeinsprache über den Dialekten nicht zuläßt. Außerdem stand dem die alte Loyalität der Bildungselite zur neuhochdeutschen Schriftsprache entgegen. Die schweizerische Lösung besteht in einer scharfen Diglossie zwischen dialektnaher Ausbausprache als Nationalsprache im mündlichen Verkehr (in allen sozialen und funktionalen Domänen) und einer fast als .Fremdsprache' empfundenen, in der Schule gelernten gemeindeutschen Schriftsprache ohne nationalen Identitätsweit, mit schweizerischen Varianten in Aussprache und Wortschatz. Seit der wilhelminischen Zeit gab es wachsenden Unmut gegen reichsdeutsche Sprachüberfremdung und Bemühungen zur weiteren Aufwertung des Dialekts im öffentlichen Leben, sowie Widerstand gegen die stark norddeutsch orientierte reichsdeutsche Hochlautung. Zur Zeit der nationalsozialistischen Bedrohung verstärkte sich die Kampagne zur Redialektisierung teilweise auch radikal unter dem Schlagwort „geistige Landesverteidigung" mit dem Ziel einer eigenen schweizerdeutschen Orthographie, also etwa in Richtung auf die luxemburgische Lösung, aber ohne Erfolg. Der deutschschweizerische Sprachseparatismus blieb sozusagen auf halbem Wege stehen. Diese Entwicklung ist beschrieben in den Arbeiten und Sammelpublikationen Ammon 1995, 229ff., Clyne 1995, 41ff„ Koller 1992, Löffler 1986, 1994, Lötscher 1983, Ris 1979, 1980, Rupp 1983, Schläpfer 1982, Sonderegger 1985, v. Polenz 1999,442-451.

4.

Österreichisches Deutsch

Den Österreichern lag Sprachseparatismus dagegen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges ganz fern. Das österreichische Deutsch nimmt bis heute vielmehr vollgültig und in allen soziolinguistischen Hinsichten an der modernisierenden Weiterentwicklung der deutschen Standardsprache teil, wenn auch mit einigen hundert bewußten eigenen Varianten (Wiesinger 1988, 243f.). Aber seit der Konsolidierung des österreichischen Nationalbewußtseins, vor allem seit dem Staatsvertrag von 1955, wächst in Österreich das sprachliche Eigenbewußtsein und das Bedürfiiis nach sprachlicher Identität gegenüber dem übermächtigen bundesdeutschen Spracheinfluß, der sich in sprachlichen Folgen des vorwie-

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gend bundesdeutschen Tourismus, aber noch empfindlicher in bundesdeutscher Mediendominanz äußert, z.B. in der bundesdeutsch orientierten Synchronisierung fremdsprachiger Filme und Fernsehsendungen und im intoleranten Verhalten von (nicht nur bundesdeutschen) Verlegern gegenüber österreichischen Autoren in Bezug auf spezifisch österreichischen Sprachgebrauch. Seit der frühen Nachkriegszeit gab es sprachpatriotischen Widerstand, vor allem durch Sammlung und Kodifizierung des in Österreich üblichen Standardwortschatzes im Sinne einer gleichberechtigten Varietät „österreichisches Deutsch". Seit der 35. Neubearbeitung des „Österreichischen Wörterbuchs" (1979) benutzen die österreichischen Lexikographen dazu auch ein sprachpolitisches Distanzierungsmittel: die Markierung mit einem Sternchen fur deutschländische, vor allem norddeutsche Ausdrücke, die man in Österreich von deutschen Touristen und in den Medien immer häufiger hört oder liest, die z.T. auch in Österreich üblich wurden, die man aber als unerwünscht femhalten will, indem man sie als .unösterreichisch' kennzeichnet. Zur kontroversen Diskussion über das österreichische Deutsch s. Ammon 1995, 117ff., Bodi 1995, Clyne 1995, 3 Iff., Hornung 1987, Muhr 1993, 1996, Muhr/Schrodt/Wiesinger 1995, Pollak 1992, 1994, Reiffenstein 1983, Wiesinger 1985, 1988, 1990, 1995,1997, v. Polenz 1999,435-442. Die Brisanz der österreichischen sprachlichen Distanzienmgsversuche widerspiegelte sich 1994 symptomatisch darin, daß Österreich im Protokoll 10 der Beitrittsverhandlungen zur Aufnahme in die Europäische Union 23 gastronomische Austriazismen europaamtlich anerkennen ließ (Pollak 1994, 146ff.). Als handelspolitisch naiver Germanist darf man wohl fragen, warum die Republik Österreich nur 23 Wörter hat anerkennen lassen. Wäre es nicht sinnvoller und wirksamer gewesen, bei dieser Gelegenheit einfach das ganze „Österreichische Wörterbuch", das ohnehin vom Wiener Unterrichtsministerium autorisiert ist, als mit entsprechenden Wörterbüchern aus Deutschland gleichberechtigt erklären zu lassen?

5.

Deutschländisches und DDR-spezifisches Deutsch

In der Zwischenzeit ist eine sprachpolitische Veränderung im Verhältnis der staatsorientierten Varietäten der deutschen Standardsprache passiert (vgl. v. Polenz 1999, Kap. 6.11): Die DDR ist 1990 verschwunden und damit die reale Existenz des DDR-spezifischen Deutsch, einer mindestens staatlichen Sprachvarietät, die bei längerem Bestehen zu einer staatsnationalen hätte werden können. Durch die Neuvereinigung Deutschlands wurde das sprachpolitisch

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neutralisierende Dreierverhältnis zwischen westdeutschen und ostdeutschen DUDEN-Wörterbüchern und dem Österreichischen Wörterbuch hinfällig. Statt des Clyne'schen Viererverhältnisses West German, East German, Austrian German, Swiss German gibt es seit 1990 plötzlich nur noch ein Dreierverhältnis mit einem neuen German German als quantitativ gestärkter, dominierender Varietät. Dafür deutsches Deutsch zu sagen, klingt zumindest vom Standpunkt der Österreicher und Deutschschweizer möglicherweise sprachhegemonial im Sinne von .deutscheres Deutsch', .eigentliches Deutsch', genauso wie es fur das nationalkulturelle Identitätsbewußtsein vieler Österreicher und Deutschschweizer mindestens störend wirkt, wenn österreichische oder deutschschweizerische Schriftsteller einfach unter deutsche Schriftsteller subsumiert werden. Jedenfalls sollte in der sprachwissenschaftlichen Terminologie die sprachpolitisch brisante Polysemie des Wortes deutsch vermieden und sorgfältig unterschieden werden zwischen dem staatlichen Begriff deutsch und dem überstaatlichen Begriff deutschsprachig, ähnlich wie bei englisch und anglophon, französisch und frankophon. Für das Deutsch in Deutschland könnte man heute Bundesdeutsch sagen; aber dies würde sprachgeschichtlich nur fur die Zeit nach 1949 gelten, also das sog. Reichsdeutsch der Zeit von 1871 bis 1945 ausschließen, ebenso das DDR-Deutsch bis 1990. Als bessere Benennung des Deutsch in Deutschland, in Gegenüberstellung zum Deutsch in Österreich bzw. in der Schweiz, bietet sich nun die terminologische Neubildung deutschländisches Deutsch an, die schon einige österreichische und schweizerische Sprachexperten gelegentlich verwendet haben (s. v. Polenz 1996, 210). Ich kann nicht einsehen, warum man diese zu saarländisch, münsterländisch, niederländisch, neuseeländisch usw. völlig analoge Wortbildung nicht verwenden sollte. Die Bezeichnung deutschländisch hat auch den politisch-semantischen Vorteil, daß ihr Basislexem Deutschland durch die internationalen Verträge 1989/90 für Gegenwart und Zukunft territorial und institutionell endlich eindeutig geworden ist, im Gegensatz zu dem nach wie vor vage oder asymmetrisch verwendeten Adjektiv deutsch (Hermanns 1996). Zum deutschländischen Deutsch gehört sprachgeschichtlich, außer dem alten Reichs- und Bundesdeutsch, auch das DDR-spezifische Deutsch vor 1990, aber auch alles, was seit 1990 davon weiterlebt, sowohl der jetzt nicht mehr aktuelle, aber literarisch und feuilletonistisch weiterbenutzte politisch-institutionelle DDR-Wortschatz als auch Wörter, Wendungen, Sprachwitze und Sprachverhaltensweisen, die weiterhin zum sprachlichen Identitätsbewußtsein der neuen Bundesbürger gehören und z.T. in alltäglichen Kommunikationskonflikten und sprachlichen Diskriminierungen eine Rolle spielen (Schröder/Fix 1997, Glück 1995, Habscheid/Klemm 1997, Reiher/Läzer 1996, Schiewe 1997, vgl. v. Polenz 1999, 424-435, 562-571). Helmut Glück 1995, 205f. hat diese lexikalischen Varianten (ironisch) „Ossizis-

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men" genannt. Zum heutigen deutschländischen Deutsch gehören aber auch die Redeweisen des westdeutsch dominierten Neuvereinigungsdiskurses dazu, die Glück (ebenso ironisch) als „Wessizismen" bezeichnet (z.B. abwickeln, Wiedereinrichter, Aufschwung Ost, blühende Landschaften, Ostalgie, Buschzulage). Alles das gehört heute zur staatsnationalen Varietät des Deutsch in Deutschland, mit der nur die Deutschen zu tun haben, nicht die Österreicher oder Deutschschweizer. Es sind Symbole und Symptome ihrer staatsnationalen Identität. Identität, sich identifizieren mit, jemanden identifizieren als sind als soziolinguistische Begriffe nicht auf positive Bewertung beschränkt. Auch in Polemik- und Spott-Wörtern wie Ossi, Wessi, Rote Socken, Blockflöten, Wendehals, Besserwessi, plattmachen sind die Schwierigkeiten der jüngsten Geschichte der Deutschen identitätsstiftend sprachlich festgehalten. Solche Teile des deutschländischen Deutsch werden von den Lexikographen teilweise unangemessen behandelt: In der vom neuvereinigten DUDENVerlag bald herausgebrachten ersten gesamtdeutschen Neuausgabe des Rechtschreib-DUDENs (1991) ist der DDR-spezifische Wortschatz zwar nicht unter den Teppich gekehrt, aber teilweise sprachpolitisch verfremdet dargestellt worden, indem von den zahlreichen beibehaltenen DDR-Wörtern ein großer und gerade der weiterlebende Teil nur als „regional" oder gar nicht markiert wurde (vgl. Schaeder 1994). Ich möchte Beispiele lieber aus dem anspruchsvolleren DUDEN-Universalwörterbuch von 1996 geben: Die meisten politischen und institutionellen DDR-Wörter, die heute keinen gegenwärtigen Sachbezug mehr haben, sind korrekt mit „ehem. DDR" markiert (z.B. Aktiv, Brigade, Genossenschaftsbauer, Intershop, Kader, Leistungsprämie, Republikflucht, volkseigen, ...). Viele noch heute im privaten, beruflichen oder Konsumleben gelegentlich vorkommende Wörter werden nur mit „regional" markiert (z.B. Broiler, Datsche, Feinfrost, Grillette, Jugendweihe, orientieren auf, Plaste) oder werden gar nicht markiert (z.B. Einraumwohnung, der Fakt, Hausgemeinschaft, Kollektiv, Magistrale, Objekt .Gebäude', sich einen Kopf machen, Werktätige) oder werden gar nicht gebucht (z.B. abnicken, andenken, Bückware, Elternaktiv, Feierabendbrigade, Kaufhalle, Krusta .Pizza', Sättigungsbeilage, auf dieser Strecke, Urlaubsplatz, Zielstellung). Gerade Wörter und Wendungen, an denen die neuen Bundesbürger ihre Identität erkennen und an denen diese Identität auch von Westdeutschen, z.T. auch von Nichtdeutschen erkannt wird, und so wohl noch viele Jahre oder Jahrzehnte lang, sind lexikographisch nicht zutreffend gebucht. Auch in Ulrich Amnions Auflistung von Varianten der Bundesrepublik Deutschland ist der fortlebende Teil des DDRWortschatzes nur ungenügend, nämlich in einem knappen historischen Exkurs berücksichtigt. Wenn die deutschsprachige Lexikographie den weiterexistierenden Teil des DDR-spezifischen Sprachgebrauchs als politische Historismen oder Archaismen einstuft und den alltagssprachlich noch relevanten Teil zu

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Regionalismen herabstuft, so ist diese auf den ersten Blick praktikable Lösung allzu sehr vereinfacht und soziolinguistisch unzutreffend. Statt „regional" wäre eine Markierung wie „nB" (neue Bundesländer) angemessener, denn diese Varianten haben einen anderen arealen und soziopragmatischen Status als herkömmliche Regionalismen, etwa norddeutsche, berlinische oder obersächsische Varianten. Dies wird beispielsweise daran deutlich, daß in den neuen Bundesländern jemand eine berufliche Anstellung nicht erhält, weil er noch Plaste statt Plastik sagt, oder daß ostberliner Brathähnchenverkäufer für ihre populäre Ware mit dem Schild werben:, flier dürfen Sie noch Broiler sagen". Wenn man nun alle lexikalischen Varianten des deutschländischen Deutsch mit einem mißverständlichen bildungssprachlichen Ismus als Teutonismen bezeichnet, wie Ulrich Ammon und andere es tun, müßten die alten und die bleibenden DDR-Wörter als DDR-Teutonismen bezeichnet werden, was recht eigenartig klingt; man müßte dann darüber nachdenken, wie wenig oder wie sehr teutonisch die DDR denn eigentlich war. Vier Argumente gegen den leichtfertig pauschalierten Terminus Teutonismus sind geltend zu machen (v. Polenz 1996,210ff.): 1. Ismen dieser Art stehen unvermeidlich mit den hier als Basislexem verwendeten Ideologie- oder Mentalitätsbezeichnungen in semantischer, mindestens assoziativer Beziehung, und Teutonen ebenso wie teutonisch wird noch heute öfters im politisch-polemischen Gebrauch im Sinne des historischen deutschen Radikalnationalismus verwendet und verstanden. 2. Ismen als linguistische Bezeichnungen von Elementen aus anderen Sprachen wurden seit der Humanistenzeit in sprachkritischem Sinne verwendet für Sprachelemente, die man als ,fremd' und .eigentlich' nicht zugehörig zur eigenen Sprache einstuft, von Graecismen über Gallicismen bis zu Anglizismen und Jargonismen. 3. Die Bezeichnung Teutonismus ist nachweislich zuerst von österreichischen und deutschschweizerischen Sprachexperten und Sprachpatrioten verwendet worden als sprachkritische Benennung von reichsdeutschen Spracheinflüssen, gegen die man sich sprachpolitisch wehrte. 4. Der bildungssprachliche Zwang, zur Bezeichnung von Varianten unbedingt einen Ismus zu verwenden, ist unwissenschaftlich und sprachpolitisch irreführend. Der sprachkritische Ausdruck Teutonismus ist also ungeeignet für eine nichtpolemische, systematische Inventarbeschreibung der staatsnationalen Sprachvarietät deutschländisches Deutsch, die ja nicht nur in der Außensicht, sondern primär im Sinne der Selbstidentifizierung der Sprachbevölkerung des heutigen Deutschland zu verstehen ist.

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Zum Hauptbestand des deutschländischen Deutsch gehören in einer weiteren sprachhistorischen Perspektive nicht nur die alten reichsdeutschen Besonderheiten des öffentlich relevanten Wortschatzes gegenüber den österreichischen und deutschschweizerischen (z.B. Abitur / Matura / Abitur; Bürgersteig, Gehweg / Trottoir, Gehsteig; Krankenhaus / Spital; Mietshaus / Zinshaus/ Renditenhaus; Rückfahrkarte / Retourbillet, -karte; Umgehungsstraße / Umfahrung / Umfahrungsstraße; Vernehmung / Einvernahme usw.). Dazu gehört vor allem auch der neuere Wortschatz des öffentlichen Lebens im weitesten Sinne, von Politik, Verwaltung, Schule und Rechtswesen über Verkehr und Berufsleben bis zur privaten Konsum- und Freizeitkommunikation, nämlich hunderte oder tausende von Wörtern und Wendungen, die in den bald 50 Jahren des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland neugebildet oder entlehnt wurden oder eine spezifisch bundesdeutsche Bedeutung erhalten haben, die aber von unseren Lexikographen unmarkiert gebucht werden, als seien sie gemeindeutsch, also auch in Österreich und in der Schweiz üblich und gültig. Davon ist auch in Ammons „Teutonismen"-Liste noch zu wenig enthalten. Die (z.B. für Deutsch als Fremdsprache wünschbare) Herausgabe eines Taschenbuchs „Wie sagt man in Deutschland ?", die Ammon seit 1994 mit Recht anmahnt, als notwendiges Komplement zu den Taschenbüchern „Wie sagt man in Österreich / in der Schweiz?" (Ebner 1980, Meyer 1989), hat der DUDEN-Verlag bisher leider unterlassen. Die Entwicklung des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945 ist jetzt sehr aufschlußreich in Stötzel/Wengeler 1995 untersucht worden. Es wird dabei aber kaum deutlich, welche Teile dieses Wortschatzes deutschlandspezifisch, welche auch in Österreich und in der Schweiz üblich und identitätsrelevant sind. Beispielsweise bei folgenden Wörtern mit dem Anfangsbuchstaben A in den Registern bei Stötzel/Wengeler kann man zwar feststellen, welche bundesdeutschen Politschlagwörter im Österreichischen Wörterbuch (37. Aufl. 1990) nicht gebucht sind: ABMMaßnahme, AKW, Alibi-Frau, Alleinvertretungsanspruch, Alleinerziehende, ein Alternativer, Altlasten, Altparteien, Anwerbestop, Asylant, Aufschwung Ost, Ausländerfeindlichkeit, außerparlamentarische Opposition, Aussiedler, die Autonomen. Aber da das Österreichische Wörterbuch einen nur geringen Vollständigkeitsgrad hat und wir für deutsche Standardsprache in der Schweiz kein hinreichendes Nachschlagwerk haben, können wir nur sehr unsicher vermuten, welche dieser Wörter deutschlandspezifisch sind, welche nicht. Wegen dieser asymmetrischen Unklarheiten zwischen den nationalen Varietäten der deutschen Standardsprache ist es sehr zu begrüßen, daß Ulrich Ammon im vergangenen Jahr zusammen mit einem österreichischen und einem schweizerischen Sprachexperten die Planung für ein übernationales Forschungs- und Dokumentationsprojekt „Wörterbuch der nationalen Varietäten" in Gang ge-

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bracht hat, in dem ein Höchstmaß an Gegenseitigkeit die Materialgewinnung und -Zuordnung bestimmen soll.

6.

Nationalvarietäten und Regiolekte

Gegen das Konzept nationaler Varietäten der deutschen Sprache sind drei grundsätzliche Einwände erhoben worden. Ingo Reiffenstein 1983, 23 und Peter Wiesinger 1997, 48f. machen das strukturlinguistische Argument geltend, daß man erst dann von einer Varietät sprechen könne, wenn die Varianten ein „eigenes, in sich kohärentes Normensystem" in allen Teilsystemen der Sprache bilden; ein paar hundert nur lexikalische Besonderheiten genügten dafür nicht, zumal beispielsweise die Austriazismen nach dem jetzigen Dokumentationsstand nur etwa 2% des Gesamtwortschatzes darstellen. Gegen diese systemlinguistische und von der traditionellen Auffassung von Dialekt und Regiolekt beeinflußte Kritik wäre einzuwenden, daß der Begriff .nationale Varietät' einen anderen Status hat als etwa .Dialekt', nämlich einen soziolinguistischen im Bereich der Sprachbewußtseinsgeschichte: Nationalvarietäten sind ,Soziolekte' wie etwa Handwerkersprache, Seemannssprache, Fachjargon, Jugendsprache, die ebenfalls fast nur aus lexikalischen und phraseologischen Elementen, kaum grammatikalischen oder phonologischen bestehen; und diese wenig systematischen Soziolektismen-Mengen stellen ebenfalls jeweils nur wenige Prozent der Sprachkompetenz der betreffenden Handwerker, Seeleute, Fachleute oder Jugendlichen dar und wirken nur in bestimmten thematischen und situativen Kontexten als Identifizierungssignale für die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur betreffenden Gruppe. Eine auf soziolektale Identifizierungsfunktion herabgestufte, auf mehr Gegenseitigkeit orientierte Auffassung des Begriffs Nationalvarietät scheint mir heute hilfreich zu sein für ein postnationalistisches Bewußtsein vom noch immer bestehenden komplementären Verhältnis zwischen den staatsnationalen und den kultur- und sprachnationalen Beziehungen der Deutschsprachigen zueinander. Auch die arealen Unterschiede innerhalb einer Nationalvarietät sind kein erhebliches Gegenargument. Es gibt heute so viel überareales Sprachwissen, daß beispielsweise rheinische, sächsische oder schwäbische Besonderheiten nicht daran hindern, jemanden aufgrund seines Sprachgebrauchs als einen Deutschen und nicht einen Österreicher oder Schweizer zu identifizieren; ebenso ist es wohl auch mit der gegenseitigen regiolektalen Toleranz zwischen östlichen und westlichen Österreichern, zwischen Wienern und dem Rest der Österreicher.

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Ein drittes Argument gegen den Ansatz nationaler Varietäten ist die von oberdeutsch orientierten Forschern (Reiffenstein 1983, Wiesinger 1997, 48, Wolf 1994, 74) auch für die Gegenwart behauptete sprachgeschichtliche Priorität von arealer vor staatlicher Gliederung des Deutschen. Wiesinger 1997, 49 stellt fest: Die dialektalen und kulturräumlichen Regionen der deutschen Sprache sind es auch, die die areale Gliederung in Jahrhunderte alten Entwicklungen bis heute bestimmen, während die gegenwärtigen Staatsgebilde trotz längerer Vorgeschichte als solche wesentlich jünger sind.

Dies scheint mir sozusagen unhistorisch gedacht nach einer abstrakten, mechanischen Diachronie, mit der die soziokulturelle Entwicklung rein quantitativ nach Zeitverlaufsproportionen gemessen wird. Durch Französische Revolution, Industrialisierung, Verstädterung, Alphabetisierung, Massenmedien und Massenkonsum hat sich das Entwicklungstempo soziokultureller Veränderungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts derart beschleunigt wie nie zuvor in Jahrtausenden, wobei gerade das neuartige Geschichtsbewußtsein über Akzeleration und unumkehrbare Veränderung seit 1789 zu einem wirksamen Faktor der politisch-sozialen Entwicklung selbst wurde (Koselleck 1989, 67ff., 260fF.). Als Sprachsozialhistoriker haben wir zu berücksichtigen, daß die Bedingungen der alltäglichen Kommunikationspraxis der Sprachbevölkerung in West- und Mitteleuropa im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts sich von agrargesellschaftlich-arealen Bindungen immer stärker auf kommerzielle, staatliche, administrative, politische, jedenfalls immer großräumigere, institutionalisierte verschoben haben, vor allem auch durch eine enorm gestiegene Mobilität und Bevölkerungsmischung, in Deutschland in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts noch weitaus mehr als in Österreich und der Schweiz. Im Nachkriegsdeutschland, im Westen ebenso wie im Osten, kann ein beträchtlicher Teil der Sprachbevölkerung heute in seiner alltäglichen Sozialkommunikation nicht mehr über die lokale oder regionale Sprachvarietät aktiv verfügen. Zum Kriegsende und in den Jahren danach haben etwa 12 Millionen Flüchtlinge, Vertriebene und Ausgesiedelte ihre regionale Heimat für immer aufgeben und sich in ihnen fremden deutschen Sprachregionen eingewöhnen müssen. Etwa 3 Millionen Republikflüchtige aus der SBZ und DDR kamen hinzu, auch Übersiedler seit 1989. Diese regionalsprachlich Entwurzelten und ihre Nachkommen haben sich, vor allem in Großstädten und Ballungsgebieten, großenteils nicht oder nur sehr fragmentarisch und passiv in autochthone Regiolekte eingewöhnt. Dazu kam weitere Bevölkerungsmobilität aus beruflichen und familiären Gründen. Man muß damit rechnen, daß in Deutschland etwa 20 bis 30% der erwachsenen Bevölkerung, außer in rein ländlichen Gegenden, nicht in den Sprachregionen leben und arbeiten, in denen sie aufgewachsen sind. Das gilt sogar für süddeutsche Zentren wie Stuttgart oder München. Für Deutschland allgemein gilt, daß die breite, vielfaltige Mobilitätsschicht, die im

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beruflichen und öffentlichen Leben durchaus sozial akzeptiert und einflußreich ist, nach längerem Eingewöhnen zwar eine hinreichende passive Kompetenz und Vertrautheit in Bezug auf den ortsüblichen Regiolekt erwerben, mitunter auch einige Schibboleths als Signale der Anpassungsbereitschaft erlernen kann, aber nur sehr begrenzt eine neue regionalsprachliche Identität findet. Der weitgehende Verlust aktivierbarer regionalsprachlicher Identität in großen Bevölkerungsteilen Deutschlands hatte eine stärkere Popularisierung standardsprachlichen Sprachgebrauchs auch im öffentlichen Alltagsleben zur Folge, was schon oft von Sprachexperten und nach Deutschland reisenden deutschsprachigen Auswanderern oder Aussiedlern festgestellt wurde. Das Schwinden regionalsprachlicher Identifizierungsfahigkeit und -bereitschaft ließ also eine soziolinguistische Lücke entstehen: Das Bedürfiiis nach sprachlicher Großgruppenidentität kann, wenn die regionale ausfallt, nicht allein mit soziopragmatisch steriler Standardsprache befriedigt werden. Diese Lücke kann durch überregionalen Substandard und das vertraute Inventar staatsnationaler Sprachvarianten gefüllt werden. Dies scheint für Deutschland in höherem Maße zu gelten als für Österreich und die Schweiz. Die zunehmende soziolinguistische Bedeutung der (oft relativ jungen) heutigen Staatsgrenzen ist für den Abbau älterer Dialekt- oder Regiolektkontinua durch unterschiedliche Standardsprachbedingungen beiderseits der Staatsgrenze nachgewiesen durch Arbeiten von Hennann Scheuringer (1990ab) an der deutschösterreichischen Grenze im bayerischen Dialektkontinuum, von Hans-Peter Schifferle (1990, 1995) und Erich Seidelmann (1983) an der deutsch-schweizerischen Grenze im alemannischen Dialektkontinuum. Überall zeigte sich, daß die Staatsgrenzen auf der Standard- und Substandardebene heute eine stärkere Rolle spielen als auf der regionalsprachlich-dialektalen, und daß auf der deutschländischen Seite dialektale und regiolektale Varianten im Allgemeinen einen niedrigeren soziolinguistischen Status haben als auf der österreichischen bzw. schweizerischen. Wiesinger (in: Löffler 1986, 102ff.) hat auch auf Ahnliches hingewiesen zwischen Vorarlberg und der angrenzenden Schweiz trotz des gemeinsamen alemannischen Basisdialekts. Nach Reiffenstein 1983, 20 geht auf österreichischer Seite im Salzburgischen der (in Altösterreich recht sorgfaltige) Standardsprachgebrauch in öffentlichen und halböffentlichen Situationen heute deutlich zurück, und die regionale Umgangssprache sei wesentlich homogener und regionaler als etwa in und um München, da die Bevölkerung Österreichs nach 1945 wesentlich homogener geblieben sei ajs die der Stadtlandschaften in Deutschland. Der in der Dialektologie überbetonte areale Faktor ,Regionalität' tritt ohnehin in neueren empirischen Forschungen über .Umgangssprache', .Substandard', ,Stadtsprache' hinter mehr soziolektalen, funktionalen und situativen Kriterien zurück (vgl. v. Polenz 1999,457-459).

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7.

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Gleichgewicht im neuen Europa?

Auch für das neue Europa, das in einer neuen politischen Kultur eine Gemeinschaft gleichberechtigter, nicht mehr nationalistischer Nationen werden soll, erscheint die traditionelle kultumationale Fiktion eines homogenen Gemeindeutsch mit ,Binnendeutsch'-Dominanz und nur .regionalen' Unterschieden nicht mehr angemessen. Da muß die von Michael Clyne 1993 gestellte Frage „Who owns the German Language?" konkret und fair beantwortet werden, auch mit Einbeziehung der Ostmitteleuropäer, die aus alter Tradition und heute wieder Wert auf den Gebrauch des Deutschen als Lingua franca legen; und bei der Antwort auf die Frage, wem insgesamt die deutsche Sprache gehöre, ist besonders auch an die Ungarn zu denken, die, weil sie keine slawische Sprache sprechen, viel dazu tun, daß im Verkehr zwischen den ostmitteleuropäischen Ländern das Deutsche als Zweitsprache künftig nicht ganz dem Englischen weichen muß. Sie können, zusammen mit ihren Nachbarn, dabei frei entscheiden, wie sie sich gegenüber der Konkurrenz zwischen deutschländischen und österreichischen Varianten verhalten. Möglicherweise haben die Deutsch als Zweitsprache sprechenden Ostmitteleuropäer einen Einfluß darauf, ob die traditionellen Dominanzverhältnisse zwischen den Nationalvarietäten der deutschen Standardsprache sich im neuen Europa fortsetzen oder ändern werden. Michael Clyne (1993) läßt in seiner Prognose die Frage offen, ob die neuen politischen Verhältnisse in Europa und die „Revitalisierung" der zentraleuropäischen Region die Dominanz des in der Europäischen Gemeinschaft wohletablierten „Standard German German" bestehen lassen oder zu einer „Verschiebimg des Gleichgewichts in den Machtverhältnissen hinsichtlich der Sprache fuhren", etwa in der Weise, daß die Wiederbelebung älterer kultureller, wirtschaftlicher und politischer Beziehungen „will afford more functions and greater status as a lingua franca to the Austrian variety of Standard German" (Clyne 1993, 357, 363). Sollte dies zutreffen, wäre die Formulierung „postnationalistisches Zeitalter" in meinem Thema stärker gerechtfertigt. Zur Uberwindung des Nationalismus in Mitteleuropa gehört auch der Abbau sprachlicher Monokultur und sprachnormerischer Dominanz.

8.

Literatur

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Werner Koller (Bergen/Norwegen)

Nationale Sprach(en)kultur der Schweiz und die Frage der „nationalen Varietäten des Deutschen"

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Einleitung Sprach(en)kultur in einer mehrsprachigen Nation Demokratische Sprachenkultur am Beispiel der Revision des Sprachenartikels der schweizerischen Bundesverfassung (1996) Schweizerhochdeutsch ist keine nationale Varietät des Deutschen Die schweizerische Sprachenkultur und ihre Probleme Literatur

1.

Einleitung1

Damit ein demokratischer Nationalstaat wie die Schweiz, der mehrere Sprachund Kulturgemeinschaften umfaßt, politisch und sozial (einigermaßen) funktionieren kann, müssen bestimmte historisch-kulturelle, (sprach-)politische und ideologische, soziale und ökonomische Voraussetzungen gegeben sein. In diesen Voraussetzungen, die in diesem Beitrag nur angedeutet werden können, liegt die Erklärung für die Entwicklung und Wirksamkeit einer Sprach(en)kultur, die ein wesentliches (vielleicht sogar zentrales) Element des nationalen Selbstverständnisses der Schweiz ist. Eine dieser Voraussetzungen muß aber genannt weiden: Den vier Sprachregionen entsprechen keine politischrechtlichen Größen oder Einheiten; grundlegend fur die politische Struktur der

1 Ich danke meinem Kollegen und Freund Dr. Heinrich Hänger, Domach, herzlich für zahlreiche krítísch-konstruktive Kommentare inhaltlicher und sprachlicher Art. Daß wir die in diesem Beitrag behandelten Themen und Probleme zum Teil unterschiedlich sehen und bewerten, mag als Hinweis darauf dienen, wie notwendig eine intensive sprachwissenschaftliche, sprach-, kultur- und bildungspolitische Diskussion der Frage der „nationalen Varietäten des Deutschen" ist.

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Werner Koller

Schweiz sind (neben den Gemeinden) die Kantone, die über eine weitreichende Autonomie verfügen (von den 26 Kantonen und Halbkantonen sind 17 deutschsprachig, 4 französischsprachig, 1 italienischsprachig, 3 zweisprachig französisch/deutsch, 1 dreisprachig deutsch/rätoromanisch/italienisch). Westschweiz und Deutschschweiz sind soziokulturell, konfessionell und ökonomisch heterogene Gebiete. Die Unterschiede innerhalb der Kantone (und auch zwischen ihnen) werden als größer erachtet als die zwischen den Sprachregionen. Zugleich sind die Sprachregionen als ganze kulturell und sprachlich auf vielfältige Weise mit den angrenzenden Sprach- und Kulturgemeinschaften verknüpft. In den letzten zwanzig, dreißig Jahren haben sich allerdings die Zeichen gemehrt, daß sich sprachgebietsbezogene Identitäten entwickeln, die neben die kantonale und die nationale Identität treten; dies gilt in stärkerem Maße für die Westschweiz (Romandie) als fur die Deutschschweiz. Wie wichtig eine entwickelte, stabile und zugleich flexible Sprachkultur für dieses Land ist, leuchtet ein, wenn man sich die demographischen Verhältnisse vergegenwärtigt: Deutsch ist Mehrheitssprache, Französisch große, Italienisch kleine und Rätoromanisch verschwindend kleine Minderheitssprache.3 Die schweizerische Sprachkultur sichert den (relativen) Sprachenfrieden zwischen den so ungleichgewichtigen Sprachgemeinschaften. Damit soll natürlich nicht behauptet werden, daß es zwischen den Landesteilen nicht Konflikte und Auseinandersetzungen gibt, die ihre Ursache in der sprachlich-kulturellen, mentalitätsmäßigen, demographischen und zum Teil wirtschaftlichen Verschiedenheit der Landesteile haben.3 Genau genommen kann nicht einmal die recht 2 Laut Volkszählung von 1990 ergibt sich folgende Sprachenverteilung (unter .Wohnbevölkerung' werden Schweizer Bürger und niedergelassene Ausländer zusammengefaßt): Wohnbevölkerung Schweizer Bürger (in Tausend) (in Tauend) im ganzen 6'874 100% 5'628 100%

3

Deutsch

4'375

63,7%

4Ί31

73,4%

Französisch

Γ322

19,2%

Γ156

20,5%

Italienisch

524

7,6%

229

4,1%

Rätoromanisch andere Sprachen

40 613

0,6% 8,9%

38 74

0,7% 1,3%

Ein typisches Beispiel: in 24 Heures (auflagenstärkste Westschweizer Tageszeitung) vom 28.5.1998 wird unter der UberschriftL'allemand, langue unique de La Poste? (Untertitel:Le déséquilibre linguistique de son aréopage n'émeut pas le gouvernement) berichtet, daß der Verwaltungsrat der Post aus neun Mitgliedern bestehe, nur eines davon aber Romand sei, wodurch das Prinzip des sog. Sprachenproporzes verletzt werde. Dieses verlangt nämlich, daß bei der Besetzung wichtiger Stellen in Regierung und Verwaltung die Sprachgruppen anteilmäßig zu berücksichtigen sind. Schlimmer noch: zwei Mitglieder, eine Deutsche und ein Deutsch-

Nationale Sprach(en)kultur der Schweiz

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eigentlich existentielle gesamtschweizerische Sprachenproblematik als gelöst gelten - man denke an die schwierige Situation des Rätoromanischen und teilweise auch des Italienischen. Die Sprachkultur der mehrsprachigen Schweiz ist als Sprachenkultur zu bestimmen, und wenn von ihr gesagt wird, daß sie (im großen und ganzen) funktioniert, so ist damit gemeint, daß in der Regel Mittel und Wege bestehen, wenn nicht Problemlösungen, die alle befriedigen, so doch Kompromisse zu finden. Im Extremfall - der allerdings gar nicht so selten auftritt - besteht der Kompromiß darin, daß man das Problem unter den Teppich kehrt; dabei spielt das Argument, es sei besser, schlafende Hunde nicht zu wecken, eine nicht unwichtige Rolle. Die Notwendigkeit von Konfliktlösungsstrategien fuhren die Probleme vor, die darum ungelöst oder nur unbefriedigend gelöst sind, weil das politische Instrumentarium unzureichend oder überhaupt nicht vorhanden ist. Das hat der Jura-Konflikt gezeigt, der übrigens immer noch nicht ganz gelöst ist (vgl. Schwander 1991, 85ff., 102ff.): Erst nach jahrzehntelangen, zum Teil schweren Auseinandersetzungen konnte sich 1978 der französischsprachige Jura als eigener Kanton vom (auch heute noch zweisprachigen) Kanton Bern lösen, und zwar mit Argumenten ethnisch-sprachlicher Art, die im Konfliktlösungsinstrumentarium der Schweiz (insbesondere: föderalistisches Prinzip, Volksabstimmungen auf kommunaler, kantonaler und nationaler Ebene) nicht vorgesehen sind. Immerhin ist anzumerken, daß sich in anderen Staaten solche Konflikte entweder als die staatliche Existenz bedrohend oder als Grund zur Unterdrückung und Diskriminierung von Minderheiten erwiesen haben.4 Amerikaner, würden über keinerlei Französischkenntnisse verfügen, was das Mehrsprachigkeitsprinzip ad absurdum führe: „Belle langue de travail, celle qui vous condamne à ne pas être compris de deux personnes sur neuf et qui vous prive ainsi de votre impact!" - Es ist allerdings nicht zu übersehen, daß Probleme, die ihre Ursache etwa im wirtschaftlichen Bereich haben, auf Sprach- und Kulturunterschiede projiziert werden. Auch macht es den Anschein, daß eine ganze Reihe von Konflikten, die auf den sog. „Graben" zwischen deutscher und französischer Schweiz zielen, zumindest in ihrem Ausmaß Medienprodukte sind. 4 Auf die Versuche, das (relative) Gelingen der Koexistenz der vier Sprach- und Kulturräume in der Schweiz zu erklären, gehe ich ein in Koller (1999). - Man kann alles auch ganz anders sehen - beispielsweise so, wie es der in seiner Radikalität kaum zu überbietende Friedrich Dürrenmatt getan hat, der in seiner „Dramaturgie der Schweiz" (1968/70) u.a. folgendes ausführt: „Wir behaupten immer wieder, wir hätten das Zusammenleben verschiedener Kulturen gelöst, und stellen uns als europäisches Vorbild hin. Die Jurakrise beweist, daß diese Behauptung nicht stimmt, wir leben nicht mit den französischen und italienischen Schweizern zusammen, sondern beziehungslos nebeneinander her. Der Welschschweizer wurde zur Hauptsache aus religiösen Gründen Schweizer, jetzt, da die religiöse Frage nicht mehr ins Gewicht fällt, ist auch der Grund weggefallen, der ihn zum Schweizer machte, er weiß nicht, weshalb er eigentlich Schweizer ist, ja, er ist manchmal dem Franzosen gegenüber leicht geniert, Schweizer zu sein. [...] Für den Deutschschweizer ist die Schweiz eine wesentlich deutschschweizerische Angelegenheit, immer noch eine Gründung der alemannischen Urkantone. Er fühlt sich dem

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Werner Koller

Ein Resultat der funktionierenden Sprachenkultur besteht darin, daß zwischen den Sprach- und Kulturgruppen eine Art von Gleichgewichtszustand herrscht. Veränderungen dieses Zustande müssen aufmerksam verfolgt werden; sie werden denn auch in den Massenmedien aufgegriffen und von einer kritischen Öffentlichkeit (nicht zuletzt in Leserbriefen) kommentiert und gewertet. Bei Eingriffen in die Sprachenlandschaft der Schweiz, die den Stellenwert einer der Sprachen verändern, sind immer die Folgen fur die Struktur der viersprachigen Schweiz im ganzen zu bedenken; so wurde der in einzelnen Kantonen gemachte Vorschlag zur Einführung des Englischen parallel zur zweiten Landessprache oder sogar als erste Fremdsprache zum nationalen Politikum. Vor diesen Hintergrund sind die Überlegungen zu stellen, das Schweizerhochdeutsche als „nationale Varietät" des Deutschen - gleichberechtigt und gleichrangig neben den nationalen Varietäten des (bundesdeutschen und des österreichischen Deutsch - zu etablieren und der Deutschschweiz den Status eines „nationalen Zentrums" einer schweizerischen Deutschen gegenüber politisch überlegen und kulturell gleichwertig. [...] Der Welschschweizer fühlt sich oft dem Franzosen gegenüber kulturell minderwertig; da der Franzose nach Paris ausgerichtet ist, richtet auch er sich nach Paris aus, er bekommt dann manchmal etwas Provinzlerisches. [...] Den Minderwertigkeitskomplex Frankreich gegenüber reagiert er mit einem Uberlegenheitsgefühl dem Deutschschweizer gegenüber ab. Da seine Kultur hauptsächlich rhetorisch ist, begründet er diese Überlegenheit hauptsächlich damit, daß er das Schweizerdeutsche als eine minderwertige Sprache betrachtet. Da er vom Deutschen keine Ahnung hat, es meistens haßt und es so lernt, wie der Deutschschweizer etwa Lateinisch, daß heißt, ohne es zu sprechen, hat er auch keine Ahnung von der sprachlichen Chance des Deutschschweizers, in der Spannung zwischen einer Redesprache und einer Schriftsprache zu leben, und wird noch dadurch unterstützt, daß die meisten Deutschschweizer davon auch keine Ahnung haben. [...] Das Problem sind nicht die Gegensätze, die Gegensätze sind natürlich, schwer wiegt nur, daß man die Chance nicht nützt, diese Gegensätze zu haben, daß der Deutschschweizer und der Welschschweizer aneinander nicht interessiert sind. [...] Das behauptete Zusammenleben ist eine Aufgabe, die nicht dadurch gelöst werden kann, daß man sich vor ihr drückt." (in: Gesammelte Werke Bd. VII, 828ff.). Selbst wenn in diesem provokativen Statement ein nicht zu leugnender Kem von Wahrheit steckt: Erwartet Dünenmatt nicht sehr viel - zu viel - von Sprach- und Kulturgemeinschaften, wenn sie wie Individuen in einer Partnerschaft nicht nebeneinander, sondern miteinander leben sollten? Ist mit dem friedlichen Nebeneinanderleben nicht schon sehr viel erreicht, jedenfalls gewiß mehr als mit dem unfriedlichen Miteinanderleben? Und ist nicht das Nebeneinanderleben von sprachlich-kulturell und mentalitätsmäßig unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in einer Nation eine Kunst, die eine nicht zu unterschätzende politische Kultur voraussetzt? Dabei sollte man allerdings nicht vergessen, daß zwischen den von Politikern proklamierten Idealen und der Wirklichkeit ein großer Abstand bestehen kann: „Im offiziellen schweizerischen Diskurs werden Zweisprachigkeit und Bikulturalismus weithin als Ideale hingestellt, z.B. im Munde von Politikern; die praktischen Maßnahmen [...] sind aber meist kaum geeignet, diesem angeblichen Ideal näher zu kommen. Im Gegenteil, sie gehen letztlich von der Vorstellung aus, daß man potentielle Sprachkonflikte am sichersten dadurch vermeidet, daß man die Sprachkontakte so weit wie möglich reduziert." (Kolde/Näf 1996,410).

Nationale Sprach(en)kultur der Schweiz

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Standardvarietät des Hochdeutschen zu verleihen. In diesem Beitrag soll neben Überlegungen zur Sprachenkultur in der Schweiz - auf dieses Konzept und seine sprachpolitischen Implikationen sowohl im Kontext der Sprachsituation in der Deutschschweiz als auch der Gesamtschweiz (d.h. im Verhältnis zu den anderen Sprachregionen) eingegangen werden. Vorweggenommen sei, daß ich diesem Konzept höchst kritisch gegenüberstehe; u.a. sehe ich die Gefahr, daß es mit seiner verführerischen National-Terminologie („nationales Zentrum", „nationale Varietät", der Unterscheidung von „nationalen" und horribile dictu - „fremdnationalen" Ausdrücken) eine „nationale" Eigendynamik entwickeln könnte, die aus meiner Sicht für die deutsche Schweiz sprachund kulturpolitisch bedenklich und für den Sprachenfrieden in der Schweiz belastend wäre. Diese Belastung erachte ich mindestens tendenziell als gleich groß, wie wenn ein konstruiertes Gemein-Schweizerdeutsch zur offiziellen Schrift- und Nationalsprache der Schweiz gemacht würde.5 Daß der Autor dieses Beitrags eine diametral andere Position als Ulrich Ammon vertritt, aber auch den Überlegungen von Peter von Polenz (siehe den Beitrag in diesem Band) teilweise kritisch gegenübersteht, sei hier schon angemerkt.

2.

Sprach(en)kultur in einer mehrsprachigen Nation

Nationale Sprachenkultur muß, wie aus Abschnitt 1 hervorgeht, in einem mehrsprachigen Land wie der Schweiz etwas anderes sein als Pflege der Sprache als nationale Größe. Gewiß, es mag (vielleicht) einleuchten, daß Länder wie Frankreich oder Norwegen es als staatliche Aufgabe betrachten, ihre Nationalsprachen Französisch oder Norwegisch (bzw. die beiden norwegischen Standardsprachen) als „nationale Güter" zu hegen und zu pflegen. Diese Sprachpflege, von (halb-)öffentlichen Institutionen getragen, beschäftigt sich bekanntlich in erster Linie mit dem, was sie für sprachlichen Wild-, Krummund Fehlwuchs hält und besonders im öffentlichen (politischen) Raum und in den Medien ortet. Der Kampf gilt „schlechter Sprache" und dem Sprachzerfall allgemein; die Sprache - oder bei noch anspruchsvollerer Zielsetzung: die Kommunikation - in den verschiedensten Bereichen (Behörden, Politik, Technik und Wissenschaft) soll verbessert werden. Voraussetzung dieser Art von Sprachpflege ist Sprach- und Kommunikationskritik (beispielsweise in der Politik; vgl. dazu etwa Holly 1985); indem sich der Linguist vornimmt, die S Die Erfolgsaussichten eines solchen Projekts dürften zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht besonders groß sein; immerhin ist in Erinnerung zu rufen, daß es in unserer Zeit gelungen ist, eine rätoromanische Schriftsprache, das Rumänisch Grischun, auf der Basis der fünf romanischen Schriftidiome zu schaffen.

138

Werner Koller

politische Kommunikation zu kultivieren, stellt er sich zugleich in den Dienst der „politischen Aufklärung".6 Im Visier der traditionellen „nationalen" Sprachpflege sind bekanntlich in erster Linie die Fremdwörter, um beim Bild aus der Botanik zu bleiben, könnte man von Fremdwuchs sprechen. (Es wäre lohnenswert zu untersuchen, ob der Kampf gegen lexikalische Eindringlinge mit Xenophobie und Einwandereifeindlichkeit korreliert; daß (Sprach)Nationalismus und Purismus zusammengehen, ist hinreichend belegt.) Bei dieser Art Sprachpflege wird implizit oder explizit davon ausgegangen, daß nur gerade jeweils eine Nationalsprache (verstanden als geschriebene und gesprochene Standardsprache) Gegenstand der pflegerischen Bemühungen ist - im Falle der Schweiz hätte man es bei einem solchen Verständnis von Sprachenkultur aber mit nicht weniger als vier Nationalsprachen zu tun.7 In einem umfassenderen Sinne, weil auf die Sprache als Ganzes und nicht nur auf punktuelle Erscheinungen wie Fremdwörter bezogen, wird unter (nationaler) Sprachkultur Sprachkultivierung verstanden, d.h. die Entwicklung und insbesondere Höherentwicklung der (nationalen) Schrift- und Einheitssprache. Diese Auffassung kommt etwa im Untertitel von Erich Straßners Buch deutsche Sprachkultur. Von der Baibarensprache zur Weltsprache" (1995) zum Ausdruck. Schaut man jedoch genauer hin, so ist auch die so definierte Sprachkultivierung letztlich Sprachpflege in einem zwar nicht engen, aber doch engeren Sinne: in Straßners „Sprachkulturgeschichte" geht es um „ihr [nämlich der Deutschen] Ringen um Sprachrichtigkeit, Sprachreinheit und Sprachschönheit" (viii). Sprache kultiviert sich aber nicht selbst, dies wird von besonders kultivierten Meistern des Wortes und Sprachpflegern und -kritikern getan; so legt es jedenfalls die Definition von Lebsanft (1997, 81) mit dem Hinweis auf den „Tätigkeitsaspekt" nahe - denn keine Tätigkeit ohne Täter: Sprachpflege als Tätigkeit, die auf die Verbesserung von Sprechen und Sprache zielt, entspricht dem ,Tätigkeitsaspekt' der Sprachkultur. Sprachpflege ist auf Kultiviertheit zielende Kultivierung von Rede und Sprache. Das Ergebnis erfolgreicher Sprachpflege ist Sprachkultur.

Zu den Deutschen, von deren „Streben vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart" Straßners Buch handelt, gehören offensichtlich auch die Schweizer, genauer: die Deutschschweizer. Nun mag es angehen, Notker von St. Gallen als Deutschen zu bezeichnen, aber im Fall von Johann J. Breitinger und Johann J. Bodmer läßt sich das nur schwer rechtfertigen, bei Gottfried Keller, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt u.a. ist es unmöglich. Sie sind keine deutschen

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Und dies auf mehr oder weniger bevormundend-belehrende Art und Weise, geht es doch nicht bloß um die Verbesserung des Sprechens, sondern der Sprecher bzw. deren politischer Moral... (vgl. Strauß/Zifoun 1985,211). 7 Dabei könnte die absurde Situation eintreten, daß französische Fremdwörter im Deutsch der Deutschschweizer als „fremdnational" einzustufen wären, obwohl das Französische ja zugleich Nationalsprache ist.

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Autoren, sondern „nur" deutschsprachige. Es gehört freilich zu den Alltagskategorisierungen, daß Menschen mit französischer Muttersprache Franzosen, solche mit norwegischer Muttersprache Norweger und Deutschsprachige eben „eigentlich" Deutsche sind: Sprache, Nation und Nationalität gehören zusammen. Für die Schweiz mit ihren vier Sprachen gilt das allerdings nicht, mehr noch: die Alltagskategorisiemng wird geradezu konterkariert. Um es überspitzt zu formulieren: dort ist jemand, der in einer Alltagssituation (Hoch-)Deutsch spricht, gerade kein (Deutsch-)Schweizer. Paradoxerweise ist fur den Deutschschweizer die Sprache aber trotzdem ein nationales Erkennungszeichen', diese Sprache ist aber nicht die „deutsche Sprache", sondern es sind die schweizerdeutschen Mundarten in ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit. Nach Sonderegger (1990, 119) ist der Dialekt „Wesensmerkmal des Deutschschweizers, der ohne seine Mundart eben kein Deutschschweizer mehr wäre". Und konsequent weiter gedacht: Er wäre, ohne sein Schweizerdeutsch, auch kein „richtiger" Schweizer mehr. Amüsant-grotesk wird dieser Sachverhalt illustriert in Friedrich Dürrenmatts „Mondfinsternis",' dem „Vorstoff' zum ,3esuch der Alten Dame". Die Bauern des Dorfes Flötingen besuchen eine landwirtschaftliche Ausstellung; sie besichtigen die Maschinen und Traktoren, die sie sich mit dem Geld kaufen wollen, das ihnen der Kanadaschweizer Walt Loteher für den gemeinschaftlichen Mord an ihrem Dorfgenossen Döufix Mani verspricht. Herumgeführt werden sie von einem Benno von Lafrigen, der hochdeutsch spricht® und das damit erklärt, daß er, Auslandschweizer" sei. Die Bauern sind unzufrieden: Wenn er nur besser Schriftdeutsch verstünde, murrt Res Stierer. Warum die denn einen fremden Fötzel schicken müßten, er habe noch nie gehört, daß ein Schweizer ,νοη Lafrigen' heiße, mault Geißgrasers Ludi ganz laut und ungeniert; und der alte Geißgraser, der auch mitgekommen ist, meckert, mit der Schweiz gehe es bachab. (GW VI, 238).

Wer nicht Schweizerdeutsch spricht, ist ein „fremder Fötzel"; daß er .Auslandschweizer" sei, wird dem hochdeutsch sprechenden von Lafrigen nicht abgenommen: die Kombination von Ausland und Schweizer stellt - in diesem Weltverständnis - ohnehin eine contradictio in adiecto dar. Wer eine „fremdnationale" Varietät des Deutschen spricht, ist auch ein „Fremdnationaler"... Doch zurück zu den Deutschschweizern und deren Mitwirkung bei der Kultivierung des Deutschen: Daß auch sie ihr Scherflein dazu beigetragen haben, 8 In: „Labyrinth. Stoffe I-III", 1981/1990, in den „Gesammelten Werken", Bd. VI. 9 „ ,Das ist ein Laferi, dieser Lafrigen,' sagt Hermännli Zurbrüggen." (GW VI, 235). EinLaferi ist jemand, der viel und inhaltslos spricht - der Name spielt auf das Stereotyp vom viel und schnell sprechenden Deutschen an, der mit seiner Eloquenz den Schweizer „überfährt". Wenn von Lafrigen dann auch noch „die Hacken zusammenschlägt", so ist ein weiteres Stereotyp angesprochen, das Deutschschweizer mit „den Deutschen" verbinden. Zu diesen Stereotypen und zum Sprachleben (und -leiden!) von Deutschen in der Deutschschweiz, s. Koller ( 1992).

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dürfte unbestritten sein. Aber die Leistung der Deutschschweizer Autoren betrifft nicht die Sprache der Deutschen, auch nicht (oder jedenfalls erst sekundär) das Hochdeutsch (oder, wie es auch genannt wird, Schriftdeutsch) der Deutschschweizer, sondern die geschriebene deutsche Standard- und Literatursprache der Deutschsprachigen, die - mit einigen Besonderheiten, oder besser: deutschschweizerischen Varianten und Besonderheiten - auch geschriebene Sprache der Deutschschweizer ist. Und niemand käme wohl auf die Idee, daß dieser Beitrag nur gerade darin besteht, daß die Deutschschweizer Autoren schweizerische Besonderheiten (eben sogenannte Helvetismen) in die deutsche Standard- und Literatursprache eingeführt haben. Daß sie das auch getan haben, liegt auf der Hand, und es ist als Fortschritt zu werten, daß solche Ausdrücke, soweit sie sich durchgesetzt haben, in die großen deutschen Wörterbücher aufgenommen worden sind und im besten Fall nicht einmal mehr mit einem schweizerisch markiert werden. „Im besten Fall" darum, weil diesen Ausdrücken durch die Nicht-Markierung allgemeine standardsprachliche Geltung zugebilligt wird (was nicht zuletzt heißt, daß sie, wie andere Varianten aus dem südlichen Teil des deutschen Sprachgebiets auch, von Norddeutschen als standardsprachlich anerkannt werden müssen). Die Frage der Akzeptanz von Varianten ist (neben der Fremdwörterfrage) zentral für die Sprachpflege bzw. Sprachkultur im traditionellen Sinne. So heißt es im „Vorwort" zum „Deutschen Universalwörterbuch" (Duden, 2. Aufl. 1989), daß es sich „ganz bewußt" in den „Dienst der Sprachkultur" stelle, weil es dazu beitragen wolle, „daß die deutsche Sprache nicht in Varianten zerflattert, sondern weiterhin als Trägerin der politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklung verläßlich bleibt". So merkwürdig dieser Satz klingt und so seltsam die Begründung ist (die Sprache als verläßliche Trägerin der wissenschaftlichen Entwicklung - wie ist das zu verstehen?), an der Notwendigkeit und Legitimität des sprachkultivierenden Auftrags, die Kodifizierungsaufga.be ernst zu nehmen, ist nicht zu zweifeln. Nur stellt sich das Problem der Kriterien: Variantenreichtum und Heterogenität sind Wesensmerkmale jeder Erscheinungsform der Sprache (vgl. Steger 1988), auch der geschriebenen Standardsprache. In Anbetracht der regionalen, soziolektalen, stilistischen und historischen Schichtung des sprachlichen Repertoires ist es aber nur schwer nachvollziehbar, daß zum Beispiel das Kriterium der kommunikativen Reichweite (d.h. für die Standardsprache der Bekanntheitsgrad einer lexikalischen Variante oder Besonderheit im ganzen deutschsprachigen Raum) als wichtigstes oder gar einziges Kriterium gelten soll. Auch das Argument der kommunikativen Notwendigkeit ist nur begrenzt gültig: Selbst wenn mit der Einführung des Wortes Güsel in die deutsche Standardsprache keine semantische Differenzierung erreicht wird, heißt das noch lange nicht, daß dieses Wort nicht aus anderen Gründen standardsprachliche Geltung beanspruchen könnte

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(daß es neben Samstag auch Sonnabend gibt, trägt ebenfalls nichts zur semantischen Differenzierung bei).10 Es gehört aus schweizerischer Sicht zu den ärgerlichen Dingen, wenn die Kultur der Deutschschweiz von der deutschen Kultur(-nation) vereinnahmt wird. Daß es sich dabei teilweise um Überempfindlichkeit des „kleinen Bruders" handelt, liegt auf der Hand. Denn wenn ein Deutscher von Frisch als einem deutschen Autor spricht, meint er mit deutsch einfach deutschsprachig (vorausgesetzt, er weiß überhaupt, daß es sich um einen Schweizer handelt). Aber gerade mit Deutschen möchte der Durchschnitts-Deutschschweizer nicht verwechselt werden (was mit dem gestörten Verhältnis von Deutschschweizern zu Deutschen zu tun hat). Deutschschweizer sind ebenso wenig ,irgendwie" Deutsche wie französischsprachige Schweizer „irgendwie" Franzosen und italienischsprachige Schweizer „irgendwie" Italiener sind. Fragwürdig ist auch die gelegentlich vertretene Auffassung, der Romand sei Franzose und Schweizer, der Deutschschweizer Deutscher und Schweizer. Gemeinsame Geschichte (besser wäre von einem gemeinsamen Geschichtsbewußtsein mit gemeinsamen nationalen Mythen zu sprechen), schweizerisches Alltagsleben (mit denselben Warenhäusern, denselben Produkten, alle nur drei- oder viersprachig beschriftet), schweizerische Lebensläufe, die sich von deutschen, französischen und italienischen unterscheiden, und das jahrhundertelange Zusammenleben in einem Staat haben die vier Kulturen der Schweiz „schweizerisch" geprägt, man könnte sagen: verschweizert. Es gibt, auch wenn man das Wort fast nicht mehr in den Mund nehmen kann, eine schweizerische Identität, zu deren Wesensmerkmalen die - zugegebenermaßen für viele Schweizer mehr oder weniger fiktive - Vorstellung der Teilhabe an den Kulturen der verschiedenen Sprachräume gehört. (Daß es sich hierbei um eine Idealvorstellung, ja um Ideologie handelt, sei gerne zugestanden - aber nationale Identität ist nun einmal ein ideologisches Produkt, das die Wirklichkeitsauffassung der Menschen mitbestimmt.) Nur ist gleich hinzuzufügen: Zu diesem schweizerischen Selbstverständnis gehört auch, daß die deutschen, französischen und italienischen Sprachregionen auf die angrenzenden Sprach- und Kulturräume hin orientiert sind, und daß diese Außenorientierungen neben der Binnenorientierung die Identität der 10 Hinter dem Argument des „Zerflattems" scheint das Konzept der Einheitssprache als einer möglichst einheitlichen Sprache auf, die als Nationalsprache Identität und Einheit stiftet oder bestätigt. So wie politischer Partikularismus die staatliche Einheit gefährdet, gefährden - nach dieser Auffassung - Varianten die Einheit der Sprache. Darum kann der Kampf gegen Varianten wie auch gegen Fremdwörter als nationale Aufgabe betrachtet werden. Gilt die Stoßrichtung im ersten Fall der Erhaltung der Einheit, geht es im zweiten Fall um die „Reinheit". Die Kodifizierang stützt sich dabei auf die Unterscheidung von vorbildlichem und nicht vorbildlichem Sprachgebrauch, wobei kaum je gefragt wird, welchen Stellenwert die nicht vorbildlichen Varianten im Sprachleben der Sprecher (bzw. bestimmter Sprechergruppen) haben.

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Schweiz prägen. Für die deutsche Schweiz bedeutet das, daß sie - neben ihrer Zugehörigkeit zur viersprachigen und vierkulturellen Schweiz als Ganzes sprachlich, kulturell und mentalitätsmäßig mit der deutschsprachigen Sprachund Kulturgemeinschaft verbunden ist. Diese Verbundenheit und Verwandtschaft ist aber geprägt von spezifisch schweizerischen historisch-kulturellen, sozialen und politischen Erfahrungen. Diese Erfahrungen haben sich in nationalen wie sprachgebietsbezogenen Stereotypen niedergeschlagen, durch die auf eine zwar vage, aber durchaus reale Weise ein schweizerischer Volks- und Nationalcharakter faßbar wird." Daß diese Erfahrungen, verstanden als kollektiv geprägte und verdichtete Lebenserfahrungen im Verlauf der Geschichte der Schweiz, die deutsche Sprache in der Schweiz (und zwar nicht nur in ihren mündlichen, dialektalen Formen, sondern auch die Schriftsprache) zu einer „anderen" deutschen Sprache als die deutsche Sprache in Deutschland oder Österreich machen, liegt auf der Hand; nur sind diese Unterschiede nicht an lexikalischen Oberflächenphänomenen, wie es die Helvetismen sind (schweizerhochdt. Estrich vs. bundesdeutsch Dachboden), festzumachen. Sie fungieren auf einer tieferen Ebene kommunikativ-pragmatischer Strukturen, Formen und Inhalte, die sich erschließen lassen, wenn man das Alltagssprachleben in der deutschen Schweiz analysiert. (Einen ersten und fruchtbaren Zugang dazu bieten die Texte von Schweizer Autoren). In diesem Zusammenhang ist an Gottfried Kellers „Grüner Heinrich" zu erinnern: Der junge Heinrich Lee macht sich zu Beginn der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts von Zürich auf den Weg, um in München seine Ausbildung zum Künstler zu vervollkommnen. Im Postwagen kommt er an den Rhein. Er stellt fest, daß die badische Seite nicht sehr verschieden ist von der schweizerischen. Jedoch beflügelt ihn der Gedanke, daß dort „seine Sprache rein und so gesprochen (wurde), wie er sie aus seinen liebsten Büchern kannte" - Keller macht allerdings sogleich einen Vorbehalt: „so glaubte er wenigstens". Und er fahrt fort: „und er freute sich darauf, sie nun ohne Ziererei auch mitsprechen zu dürfen". Auf die Sprache freut er sich, gewiß - mehr noch aber auf die Begegnung mit der deutschen Literatur, die er ohne Wenn und Aber auch als die eigene Literatur auffaßt und verehrt. In Deutschland erklärt er seinem Reisebegleiter, warum er eine schweizerische (d.h. also nationalschweizerische) Kunst und Literatur ablehnt: „Das Alpenglühen und die Alpenrosenpoesie sind aber bald erschöpft..." Was Sprache und Kultur anbelangt, läßt Heinrich Lee-Gottfried Keller keine Grenze zwischen Deutschland und der deutschen Schweiz gelten; handgreiflich wird der „grüne Heinrich" dann allerdings auf die Unterschiede in der politischen Kultur aufmerksam gemacht. Er betritt eine Gaststätte und wird dort von ein paar Zechbrüdern aufgefordert, die Mütze abzunehmen; begründet 11 Vgl. dazu Koller (1998), mit der dort angeführten Literatur.

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wird das damit, ihnen als Beamten sei die nötige Ehrerbietung zu erweisen, seien sie doch Stellvertreter des Königs. Noch schlimmer ergeht es Heinrich Lee, dem überzeugten Republikaner und Demokraten, am ersten Abend in München: Da schlägt ihm ein Fremder die Mütze mit den Worten vom Kopf: „Warum gaffen Sie mich an und grüßen nicht? Was ist das für eine Ungezogenheit?" Worauf Heinrich antwortet, er kenne sein Gegenüber ja nicht; darauf wird er belehrt, er habe es mit dem König selbst zu tun... Für Keller ist die Schweiz ganz offensichtlich eine Nation, deren Einheit politisch begründet ist; es ist die Formel von der Einheit bei gleichzeitiger sprachlicher, kultureller und mentalitätsmäßiger Vielheit. Der Darstellung Kellers zufolge war im 19. Jahrhundert die Orientierung der Landesteile auf die jeweiligen Kulturräume gleich stark; heutzutage ist das anders:'2 Die Verbundenheit mit dem deutschen Sprach- und Kulturraum spielt für die Deutschschweizer eine viel weniger wichtige Rolle als die Verbundenheit des Romand mit dem französischen, des Italienischschweizers mit dem italienischen Sprach- und Kulturraum.13 Die Zugehörigkeit der deutschen Schweiz zum deutschen Kulturraum war Gottfried Keller eine Selbstverständlichkeit, Privileg und Notwendigkeit zugleich. Seine Position wird, wenn sie in unserem Jahrhundert auf vereinnahmende Weise von Deutschen vertreten wird, von Deutschschweizern als Ausdruck eines sprachlich-kulturellen Hegemonieanspruchs, ja einer Art Imperialismus aufgefaßt.'4 Das zeigte sich besonders stark vor und während des zweiten Weltkriegs, als es der „Geistigen Landesverteidigung"15 um ideologische Abwehr und nationale Selbstbesinnimg ging. Die Abgrenzung gegenüber Deutschland und der Nazi-Ideologie wurde in der Deutschschweiz dadurch betont, daß die schweizerische nationale Identität festgemacht wurde am Schweizerdeutschen, das zwar nicht de iure, wohl aber de facto zur Nationalsprache (und nicht nur zum Nationaldialekt) erhoben wurde. (Parallel dazu wurde 1938 das Rätoromanische in einer Volksabstimmung zur Nationalspra-

12 Das spiegelt sich in den Sympathiegefühlen gegenüber den „Hinterländern": Deutschland wird am negativsten bewertet; am meisten Sympathie gibt es gegenüber Frankreich und Italien (Bikkel/Schläpfer 1994, 158f.). 13 S. dazu Bickel/Schläpfer (1994,70), mit anschaulichem Diagramm. 14 Deutschschweizer dürften doch etwas überrascht sein, wenn sie in „Königs Erläuterungen und Materialien" zu Gottfried Kellers „Der grüne Heinrich" (Reiner Poppe), 2. Aufl. 1989, folgende Sätze lesen: „Gottfried Kellers Werk spiegelt deutschen Geist und deutsches Wesen. Mehr noch als durch die gemeinsame Sprache ist die deutsche Schweiz [...] durch das gleiche Blut mit dem früheren Mutterlande, von dem es sich 1648 politisch löste, verbunden." Deutschland ist Kellers „grosses Vaterland", er ist ein „Schweizer Dichter deutschen Geblüts" (13f.). 15 Es ist hier nicht der Ort, auf die fragwürdigen Aspekte der „Geistigen Landesverteidigung" einzugehen; deren Blut-und-Boden-Schlagseite ist in kritischen historischen Werken und in der Schweizer Literatur aufgearbeitet worden.

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che erklärt)." An der schweizerischen Landesausstellung von 1939 war der Dialekt überall präsent (nicht zuletzt auf der Bühne). Am weitesten in Richtung einer kulturellen und sprachlichen „Nationalisierung" der Deutschschweiz geht die Forderung nach einer eigenen deutschschweizerischen Nationalsprache auf der Basis der schweizerdeutschen Dialekte; in den letzten Jahren scheint es wieder etwas stiller geworden zu sein um diesen Vorschlag (vielleicht auch deshalb, weil die Schattenseiten der zunehmenden Dialektalisierung der Deutschschweiz inzwischen stärker hervortreten, besonders in gesamtschweizerischer Perspektive). Zwar nicht ganz so weit, aber in dieselbe Richtung geht meines Erachtens das Konzept des Schweizerhochdeutschen als „nationaler Varietät" des Deutschen in der Schweiz, mit dem die Absage an das Konzept einer einzigen deutschen Gemeinsprache (womit natürlich keine „Einheitssprache" gemeint ist) mit regionalen Besonderheiten und die Etablierung eines eigenen nationalschweizerischen Zentrums des Schweizerhochdeutschen einhergeht. Was also ist unter Sprachenkultur in einem Land mit (offiziell) vier Nationalsprachen zu verstehen? Um Sprachkultivierung im Sinne von Sprachpflege kann es sich nicht handeln, jedenfalls nicht in erster Linie. Allerdings kann Sprachpflege durchaus eine Teilaufgabe sein, wenn es - bezogen auf die deutsche Gemeinsprache - um Fragen der Kodifizierung von spezifisch deutschschweizerischen Ausdrücken (Helvetismen) oder spezifisch deutschschweizerischen Gebrauchsweisen geht. Daß Deutschschweizer Autoren weiterhin ihren Beitrag zur Entwicklung dieser deutschen Gemeinsprache leisten werden, steht außer Frage - genau so, wie das die französischsprachigen Schweizer Autoren für das Französische, die italienischsprachigen für das Italienische und die romanischsprachigen für das Rätoromanische tun. Der Begriff der Sprachkultur als Sprachenkultur hat für die Schweiz nur dann einen Sinn, wenn er weiter und fundamentaler gefaßt wird:17 als (politische) Kultur des Umgangs mit der Sprachsituation des Landes, wobei unter Sprachsituation die Gesamtheit der sprachlichen Verhältnisse, des Sprachverhaltens, der Spracheinstellungen etc. verstanden wird. Sprachenkultur kann bestimmt werden als Kultur des sprachlichen Umgangs der Angehörigen der verschiedenen Sprachgruppen untereinander und miteinander und als politische Kultur des Umgangs mit der Sprachsituation des viersprachigen Landes." 16 In diesem Zusammenhang zeigt sich, wie wichtig es sein kann, ob eine Sprachform als Sprache oder als Dialekt betrachtet wird: für das faschistische Italien der Irredenta ist das Rätoromanische ein italienischer Dialekt und das rätoromanische Sprachgebiet gehört damit „eigentlich" zu Italien (vgl. Im Hof 1988,64f.). 17 Linke (1996) zeigt auf m.E. überzeugende Weise, wie fruchtbar und perspektivenreich eine Konzeption von Sprachkultur ist, bei der gefragt wird, „ob und auf welche Weise die Formen des sprachlichen Austausches der symbolischen Konstruktion sozialer Ordnungen dienen" (2). 18 Vgl. dazu Scharnhorst (1995) zu Sprachsituation und Sprachkultur als Forschungsgegenstand.

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Grundlegend für diese Sprachenkultur ist ein dreifacher Bezug: ein Außenbezug: im Falle des Deutschen in der Deutschschweiz der Bezug auf die deutsche Standardsprache, wie sie in Deutschland geschrieben und gesprochen wird (das Deutsch, wie es in Österreich geschrieben und gesprochen wird, ist in der Deutschschweiz viel weniger präsent), und ein doppelter Innenbezug·. einerseits der Bezug auf die gesamtschweizerische sprachlich-kulturelle Situation (hier wären auch die „anderen Sprachen", d.h. die Nicht-Nationalsprachen, in der Schweiz zu berücksichtigen),19 andererseits der Bezug auf die deutschschweizerische Sprachsituation mit ihrer (medialen) Diglossie Standardsprache - Dialekt(e). Wollte man die schweizerische Sprachenkultur in allen ihren relevanten Aspekten beschreiben, müßte man die schweizerische Sprachsituation darstellen und die Bewertung dieser Sprachsituation durch die Schweizer analysieren, die Art und Weise, wie das Zusammenleben der vier Sprachgruppen funktioniert, welche geschriebenen und ungeschriebenen Regeln und Gesetze des sprachlichen Umgangs innerhalb und zwischen den Sprachgmppen es gibt, welche Methoden der Konfliktlösung bestehen und versucht werden, wie sich die verschiedenen Sprachgruppen zu den Angehörigen der nicht nationalsprachlichen Bevölkeningsgruppen verhalten, wie mit dem Dialekt-Standardsprache-Problem umgegangen wird, wie das Verhältnis zu den „großen" Nachbarn und den Sprachzentren ist usw. Das ist in diesem Beitrag nicht zu leisten;20 immerhin soll am Beispiel der Revision des Sprachenartikels der Bundesverfassung von 1996 dargestellt werden, wie Sprachenkultur als Teil der politischen Kultur der Schweiz funktioniert (Abschnitt 3). Zum Außenbezug gehört auch der Bezug zu den sprachkultivierenden Zentren, wobei kultivierend in diesem Zusammenhang in eingeschränktem Sinne von kodizifierend verstanden wird. Drei der vier Nationalsprachen - Deutsch, Französisch und Italienisch - haben ihre (kodifizierenden) Zentren außerhalb des Landes (falls die deutsche Schweiz zu einem eigenen Zentrum der deutschen Sprache würde, wäre das eine Veränderung des Gleichgewichtszustandes). Die vierte Landessprache, das Rätoromanische mit seinen fünf Idiomen,

19 Die Zahl der Sprecher, deren Muttersprache keine der vier Landessprachen ist, übersteigt die Zahl der Italienisch- und Rätoromanischsprechenden bei weitem. In der Schweiz leben mehr Menschen mit englisch-amerikanischer Muttersprache als mit rätoromanischer, über doppelt soviel mit portugiesischer und dreimal soviel mit serbokroatischer wie auch spanischer Muttersprache (s. Niedeihauser 1997,1841, Dürmüller 1996,83ff.). 20 Vgl. dazu Sonderegger (1991), Schläpfer (Hrsg.) (1982), Niederhauser (1997), Haas (1988), Koller (1999), Kolde (1986), Löffler (1997), Knecht/Py (1997), Bischofsberger (1997), Solèr (1997).

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hat weder in der Schweiz noch im angrenzenden Ausland ein eigentliches Zentrum.21 Speziell ist die Situation des Deutschen in der Schweiz: Als geschriebene deutsche Standardsprache hat es sein kodifizierendes Zentrum außerhalb der Schweiz; Schweizerdeutsch als gesprochene Sprache ist in seiner dialektalen Vielfalt zwar ohne kodifizierendes Zentrum, wohl aber wird es, wenn auch nur in Teilbereichen, intensiv kultiviert (und nicht zuletzt: dokumentiert): in einer literarisch zum Teil hochstehenden Dialektliteratur (anders als das Gottfried Keller beschrieben bzw. befürchtet hat)-, in Dialektgrammatiken und -Wörterbüchern (zentral das monumentale „Schweizerdeutsche Wörterbuch"; es ist dies ein Wörterbuch der „schweizerdeutschen Spracht, wie es im Untertitel heißt) und im „Sprachatlas der deutschen Schweiz" (8 Bände, der letzte Band ist eben erschienen). Wenn man sich vergegenwärtigt, daß das Schweizerdeutsche recht eigentlich nationales Identifikationsmerkmal der Deutschschweizer ist (siehe unten, Abschnitt 4), so stellt die Landesgrenze nicht nur eine pragmatische und sprachsoziologische Grenze hinsichtlich Gebrauchsbedingungen und Spracheinstellungen dar (vgl. Ris 1980, 120), sondern ist auch ein „nationale" Sprachgrenze, indem die deutsche Standardsprache fur Deutsche nationales Identifikationsmerkmal ist, für die Deutschschweizer aber nicht - auch nicht in ihrer „schweizerhochdeutschen" Form. Diese Überlegungen dürften deutlich gemacht haben, daß Sprachenkultur nicht nur ein beschreibend-wertneutraler Begriff ist, sondern auch eine wertend-ethische Komponente hat: Von Sprachenkultur kann nur gesprochen werden, wenn mit einer Sprachsituation auf kultivierte Weise umgegangen wird, und das heißt, daß sprach(en)relatierte Probleme und Konflikte auf eine einvernehmliche, respektvolle und demokratische Art angegangen werden.2' 21 Ausgerechnet die Sprache, die aus Uberlebensgründen ein Zentrum in der Schweiz haben sollte, ist ohne Zentrum. Das hängt mit der Zersplitterung des rätoromanischen Sprachgebiets zusammen. Ob mit der „konstruierten" Standardsprache Rumänisch Grischun die Voraussetzungen für ein zukünftiges Zentrum geschaffen worden sind, wird sich zeigen. 22 Allein für die bemdeutsche Mundartliteratur verzeichnet Ris (1989a) über 2000 Titel. 23 Um den Begriff der Sprachenkultur, wie er hier verstanden wird, zu verdeutlichen, könnte man den der Eßkultur heranziehen. Gemeint ist damit der kultivierte Umgang mit den Speisen - von der Zubereitung bis zum Verzehr. Der Kampf gegen Auswüchse bei der Zubereitung (Gebrauch von Fertigsaucen, Fastfood usw.), d.h. das, was man Eßpflege nennen könnte, ist nur ein Teilbereich der Eßkultur. Eßkultur heißt auch Kultur des Eßveihaltens in konkreten Eßsituationen; es geht um den kultivierten Umgang der essenden Menschen nicht nur mit den Speisen, sondern auch mit den Mit-Essenden. Die Regeln, die diesen kultivierten Umgang ermöglichen, sind ein wichtiger Teil der Eßkultur. Eine solche Eßkultur funktioniert, solange über die Regeln ein (gewisser) Konsens besteht; hier zeigen sich dann allerdings auch die Grenzen: Viele Regeln der Eßkultur sind keineswegs begründbar, geschweige denn auf demokratische Weise veränderbar. Kein Wunder, daß die nationalen (oder regionalen) Eßkulturen einer harten Belastungsprobe ausgesetzt sind, sobald sie mit anderen Eßkulturen zusammenstoßen; dann

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Resultat dieses kultivierten Umgangs mit der schweizerischen Sprachsituation ist - wie in Abschnitt 1 angedeutet - ein sprachlich-kultureller Gleichgewichtszustand, der zugleich (relativ) stabil und (relativ) veränderlich ist. Die Stabilität zeigt sich u.a. darin, daß sich die Sprachgrenzen und -gebiete (mit Ausnahme des rätoromanischen Gebiets) seit Bestehen der Schweiz als viersprachiges Land im großen und ganzen wenig verändert haben. Auch hinsichtlich der Sprachenverteilung sind die Verschiebungen in den letzten hundert Jahren geringfügig (s. die Zahlen in Niederhauser 1997, 1840).34 Veränderungen betreffen u.a. den politischen Status der vier Sprachen; am augenfälligsten zeigen sie sich in den Revisionen des Sprachenartikels der schweizerischen Bundesverfassung.

3.

Demokratische Sprachenkultur am Beispiel der Revision des Sprachenartikels der schweizerischen Bundesverfassung (1996)

Die Schweiz ist erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein offiziell mehrsprachiges Land. Die sog. Alte Eidgenossenschaft, d.h. die Schweiz von 1291 bis zur Besetzung durch Napoleon und der Errichtung der Helvetischen Republik im Jahre 1798, war ein Bund deutschsprachiger Staaten. Die nicht deutschsprachigen Gebiete waren Untertanengebiete oder nur locker an die Eidgenossenschaft angegliedert. Die italienisch-, rätoromanisch- und französischsprachigen Kantone kamen erst zwischen 1803 bis 1815 hinzu. (Eine Ausnahme ist der zweisprachige Kanton Freiburg, der 1481 in die Eidgenossenschaft aufgenommen wurde. Nach Kolder/Näf (1996,390) ergaben sich daraus aber „kaum größere Sprachprobleme", galt doch nun für den offiziellen Schriftverkehr das Deutsche.) Die moderne Schweiz als demokratischer, dreisprachiger Bundesfehlen oft die Konfliklösungsstrategien. Bestimmte Regeln stellen sich aus der Sicht einer anderen EBkultur nicht nur als sinnlose, gar als unkultivierte Rituale heraus. Eine Eß-Multikultur kann nur funktionieren, wenn Varianten und Unterschiede nicht nur akzeptiert, sondern als fruchtbar und spannungsvoll aufgefaBt werden. Von der Mehrheit sind Toleranz und Lembereitschaft, ja Lernfreude gefordert, von der Minderheit ein Selbstbewußtsein, das es ihr erlaubt, auf ihren Varianten zu beharren. Auf die Sprache übertragen: Die Vertreter der sprachlichen Mehrheit - in unserem Fall: die Deutschen als (Haupt-)Verwalter des kultivierenden Zentrums der deutschen Sprache - bauen Uberlegenheitsgefühle und Arroganz ab, die Minderheiten erwerben ein Selbstbewußtsein, das sie davor bewahrt, zu glauben, sie müßten sich ständig für ihre möglicherweise unkorrekte Sprache entschuldigen oder rechtfertigen. 24 Dies gilt allerdings nur für die Schweizer Bevölkerung; bezieht man die gesamte Wohnbevölkerung mit ein, lassen sich bei den Nicht-Landessprachen und beim Italienischen beträchtliche Veränderungen feststellen.

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Staat wurde 1848 gegründet. Die Gleichberechtigung der Sprachen und damit die offizielle Mehrsprachigkeit der Schweiz wurde damals in einem Artikel der Bundesverfassung mit folgendem Wortlaut verankert: Die drei Hauptsprachen der Schweiz, die deutsche, französische und italienische, sind Nationalsprachen des Bundes.

Der Sprachenartikel der Bundesverfassung ist seither zweimal verändert worden: 1938 (siehe dazu oben, Abschnitt 2) und 1996. Daß die demokratischen Mühlen langsam mahlen, hat die Revision von 1996 gezeigt. Schon 1985 reichte der Bündner Nationalrat Bundi eine Motion im Nationalrat ein, die eine Neufassung des Artikels 116 der Bundesverfassung verlangte, wobei die Stärkung der vierten Landessprache, des Rätoromanischen, im Vordergrund stand. Nachdem diese Motion von National- und Ständerrat überwiesen (d.h. angenommen) worden war, setzte der Bundesrat eine Arbeitsgruppe ein, die den Auftrag hatte, die rechtlichen, historischen und sprachwissenschaftlichen Aspekte, die mit einer Revision zusammenhingen, zu beurteilen und eine Neufassung des Sprachenartikels zu erarbeiten. Diese Abklärungen fanden ihren Niederschlag in einem Bericht mit dem Titel „Zustand und Zukunft der viersprachigen Schweiz", der zusammen mit einem Materialienband 1989 (ZUSTAND 1989, 1989M) vorgelegt wurde. Dieser Bericht, in dem zwei Varianten des zukünftigen Sprachenartikels vorgeschlagen wurden, ging dann in die sog. Vernehmlassung, d.h. alle Kantone sowie Verbände und Organisationen, die vom Sprachenartikel berührt sind, wurden um Stellungnahme gebeten. Bis zum Ende der Vernehmlassungsfrist (April 1990) gingen 88 Stellungnahmen ein, in denen zahlreiche Modifikationen vorgeschlagen wurden; keine der Varianten fand die Zustimmung einer Mehrheit. Eine verwaltungsinterne Arbeitsgruppe erhielt den Auftrag, einen neuen Entwurf des Verfassungsartikels zu erarbeiten. Dieser wurde in der „Botschaft über die Revision des Sprachenartikels" (BOTSCHAFT 1991) des Bundesrates an die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 4. März 1991 vorgelegt. Die fast vierzig Seiten zählende BOTSCHAFT, die auf dem Bericht der Arbeitsgruppe (ZUSTAND 1989) basiert, beleuchtet die Mehrsprachigkeitssituation der Schweiz in ihrer ganzen Breite; aufschlußreich sind dabei nicht nur die praktischen Angaben und Erläuterungen zur Sprachsituation in den vier Landesteilen, sondern auch deren Einbettung in die historische, ideologische, sprach- und kulturpolitische Situation der Schweiz im ausgehenden 20. Jahrhundert. Die Überzeugung wird zum Ausdruck gebracht, daß „Unterschiedlichkeit und Vielfalt der kulturellen und sprachlichen Traditionen" grundlegendes Merkmal der nationalen Zusammengehörigkeit der Schweiz ist (BOTSCHAFT 1991, 5); die Mehrsprachigkeit der Schweiz ist „nationales Identitätsmerkmal" (BOTSCHAFT 1991, 6). Hervorgehoben wird, daß nicht unterschieden werde zwischen „großen" und „kleinen" Landesspra-

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chen, zwischen Mehrheits- und Minderheitssprachen, denn die vier Sprachen seien alle „vollwertig und gleichberechtigt" (BOTSCHAFT 1991,28). In der BOTSCHAFT werden die vielfaltigen Gefahren aufgelistet, die das Zusammenleben der verschiedenen Sprach- und Kulturgemeinschaften in der Schweiz - und damit das „Land in seiner Nationalität" (BOTSCHAFT 1991, 2) - in Frage stellen: Eine zunehmende „Gleichgültigkeit gegenüber der Mehrsprachigkeit" drohe die „Formel von der schweizerischen Einheit in der Vielfalt" zur „hohlen Phrase" verkommen zu lassen; in der Bundesverwaltung werde das Deutsche zunehmend zu Lasten der romanischen Sprachen verwendet; der verstärkte Gebrauch des Schweizerdeutschen erschwere die innerschweizerische Verständigung; die Kenntnis der anderen Landessprachen gehe zurück, während die Attraktivität des Englischen als Weltsprache zunehme; die Existenz des Rätoromanischen stehe recht eigentlich auf dem Spiel, unterstützungsbedürftig sei aber auch das Italienische. Die Fassung, die in der BOTSCHAFT vorgeschlagen wird,25 wird aber im Parlament nach eingehender Diskussion noch einmal verändert; im Artikel, der am 6. Oktober 1995 vom Parlament gutgeheißen wird (Nationalrat 152:19, Ständerat: einstimmig), bleiben von der ursprünglich intendierten neuen Sprachenpolitik, die in der Verfassung verankert werden sollte, nur noch die wichtigsten und unbestrittenen Aufgabenstellungen: Förderung der Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften und Unterstützung des Rätoromanischen und Italienischen. Dem Stimmbürger wird vor der Abstimmung Informationsmaterial ausgehändigt: In den „Erläuterungen des Bundesrates" zu den fünf Abstimmungsvorlagen der Volksabstimmung vom 10. März 1996 (siehe Abb. 1) wird auf 4 Seiten der Sprachenartikel, der von Parlament und Bundesrat zur Annahme empfohlen wird, erläutert. Er lautet folgendermaßen: 1 2

Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch sind die Landessprachen der Schweiz.

Bund und Kantone fordern die Verständigung und den Austausch unter den Sprachgemeinschaften.

25 Diese Fassung hat folgenden Wortlaut: 'Die Sprachenfreiheit ist gewährleiste! 2 Das Deutsche, das Französische, das Italienische und das Rätoromanische sind die Landessprachen der Schweiz.3 Bund und Kantone sorgen für die Erhaltung und Förderung der Landessprachen in ihren Verbreitungsgebieten. Die Kantone treffen besondere Massnahmen zum Schutze von Landessprachen, die in einem bestimmten Gebiet bedroht sind; der Bund leistet ihnen dabei Unterstützung.4 Bund und Kantone fördern die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften und die gesamtschweizerische Präsenz aller vier Landessprachen.5 Amtssprachen des Bundes sind das Deutsche, das Französische und das Italienische. Im Verkehr zwischen dem Bund und rätoromanischen Bürgerinnen und Bürgern sowie rätoromanischen Institutionen ist auch das Rätoromanische Amtssprache. Die Einzelheiten regelt das Gesetz.

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Volksabstimmung vom 10. März 1996 Erläuterungen des Bundesrates W orum VÎOrUm

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Jura 9 e " ,un epistemisch' erscheint die Theorie von Rudi Keller, daß sich das parataktische (epistemische) weil aus dem hypotaktischen (sog. faktischen) weil herausgebildet habe (Keller 1993a, 7ff.; s. auch ders. 1995, 239-252) plausibel. Sprachhistorisch wäre sie jedoch erst Hann abgesichert, wenn die Epistemifizierung der kausalen Schwesterkonjunktion denn belegt werden könnte. Obwohl dies zur Zeit nicht möglich ist, gibt es (bisher kaum beachtete) Anzeichen dafür, daß denn einen vergleichbaren Bedeutungswandel durchgemacht haben könnte wie (möglicherweise erst später) weil. Eroms (1980, 106f.) weist nämlich daraufhin,

15 Das universelle Raster, das von Bybee/Pagliuca/Perkins (1991, 29) (auf der Basis der Untersuchung von 75 Sprachen) für die Verbindung von Modalität und Futur formuliert worden ist, könnte ganz neue Perspektiven für die Erforschung der Geschichte von dt. werden eröffnen. Nach den Autoren sind es nämlich die nichtepistemischen Bedeutungen von Modalverben, aus denen sich Futurbedeutungen entwickeln können (s. auch die Geschichte von dt. müssen, sollen, wollen), die sich ihrerseits zu epistemischen Modalveibbedeutungen entwickeln können. Da wie erwähnt epistemische Modalverbbedeutungen auch unmittelbar aus den nichtepistemischen entstehen können, stellt sich die Frage, wiewerden, das Futurauxiliar und epistemisches Modalverb ist, das aber keine nichtepistemische Modalverblesart hat, zu dem universellen Szenario paßt. Daß die nichtepistemische Modalverblesart ausgestorben ist, kann ausgeschlossen werden, denn sie ist überhaupt nicht belegbar (s. etwa Schieb 1976, 77). Im Prinzip bieten sich daher m.E. zwei Erklärungsmöglichkeiten an: (1) Das werrfen-Futur entsteht aus dem ingressiven Typ wird/ward tuend (auch Aspektmarker entwickeln sich oft zu Futurmarkem, s. etwa Bybee/Pagliuca/Perkins 1991, 20-22). Diese altbekannte Erklärung hat jedoch den wunden Punkt, daß es semantisch völlig unwahrscheinlich ist, daß sich ein aus einem Aspektmarker entstandener Futunnarker zu einem epistemischen Modalverb entwickelt. (2) Die Futurbedeutung von werden ist entlehnt. Diese Theorie, die von Elisabeth Leiss (1985) stammt, schließt die semantische Weiterentwicklung zum epistemischen Modalverb nicht aus. Außerdem erklärt sie, warum werden nie eine nichtepistemische Modalverblesart hatte.

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daB denn zu Anfang [!], wenn auch nicht in der gleichen Häufigkeit wie weil, so doch aber mehr als zufällig und im gesamten deutschen Sprachgebiet [!] als Nebensatz-Konjunktion vorkommt. Erst später wird denn als Nebensatz-Konjunktion aufgegeben.

Wie erwähnt, sind die kulturellen Bezüge der Grammatik auf der Ebene der Raumzeitgebundenheit zu suchen. Fragen, die die Kulturbezogenheit der Epistemifizierung und somit auch der Epistemik betreffen, sind beispielsweise: Ist die Epistemifizierung im Deutschen an bestimmte Sprachstufen oder Zeiträume gebunden? Ist sie eher dialektal oder eher überregional lokalisierbar? Weist sie markante soziopragmatische Gebundenheiten auf? Gibt es im Bereich der Epistemik Sprachwandelphänomene, die dem universellen Raster trotzen? Noch spannender und weiterführender wird die Problematik, wenn die eine oder die andere Kulturbezogenheit auch erklärt werden kann. Denn durch die Erklärungskomponente geht es nicht mehr nur um Grammatik und Kultur, sondern um Grammatik und Kulturgeschichte. Wir sind weit davon entfernt, die obigen Fragen beantworten zu können, denn eine gezielte, korpusbasierte Untersuchung der Epistemifizierung vom Ahd. bis heute steht noch aus. Daten müssen daher aus Arbeiten entnommen werden, die - teils oder ganz - mit anderen Zielsetzungen geschrieben worden sind. Ich gehe im folgenden relativ ausführlich auf zwei Datengruppen - Modalwörter und Modalverben - ein, um die primär grammatische Epistemifizierung (= Herausbildung und Grammatikalisierung von sprachlichen Mitteln für den Ausdruck von Urteilen über den Wahrheitsgehalt von Propositionen) zu untersuchen. Zur Kontrolle wird eine dritte Datengruppe - assertive Sprechaktverben - herangezogen, die aber nur stichprobenartig analysiert wurde. Assertive Sprechaktverben stehen für die primär wohl eher lexikalische Epistemifizierung (= Herausbildung und Lexikalisierung von sprachlichen Mitteln für den Ausdruck von Urteilen über den Wahrheitsgehalt von Propositionen). Aber auch bei der primär wohl eher lexikalischen Epistemifizierung ist ein deutlicher Grammatikalisierungsanteil (= Syntaktifizierung der formalen Ausdrucksmöglichkeiten, s. 2.4) zu beobachten. Sollte nachgewiesen werden können, daß grammatische und lexikalische Epistemifizierung (mehr oder weniger) parallel verlaufen, wäre dies ein (mehr oder weniger starkes) Argument gegen die scharfe Trennimg von Grammatik und Lexik und somit auch gegen die Idee der .kulturlosen' Grammatik. 2.2 Epistemische Modalwörter Untersuchungen zur Veränderung des Modalwortbestandes liegen von Schildt (1987; 1990; 1992) vor.

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In Schildt 1987 wurden 70 Leipziger Drucke der ersten Hälfte des 16. Jhs., darunter 20 Drucke von Luther-Schriften, untersucht. In Schildt 1990 und 1992 ging es um den Vergleich der Zeiträume 1570-1630 und 1670-1730." Für den ersten Zeitraum wurden 35 Texte, für den zweiten 39 Texte, verteilt auf sechs Textgruppen mit jeweils verschiedenen Textsorten und auf alle Sprachlandschaften, herangezogen. In die statistischen Angaben zur Gebrauchshäufigkeit der einzelnen Modalwörter in den einzelnen Zeiträumen wurde die Anzahl der Vorkommen der einzelnen Modalwörter in den einzelnen Texten nicht einbezogen. Was statistisch zählt, ist, ob ein Modalwort in einem Text vorkommt oder nicht. Wenn also z.B. das Modalwort χ in 35 Leipziger Drukken je einmal vorkäme (= 35 Belege), bekäme es einen prozentualen Wert von 50% und gälte nach Schildt als ein häufiges Modalwort. Wenn es aber nur in 7 Drucken, dafür jedoch in jedem einzelnen Druck 5mal vorkäme (= ebenfalls 35 Belege), erhielte es trotzdem nur einen prozentualen Wert von 10% und gälte nach Schildt als ein seltenes Modalwort. Schildt untergliedert den Modalwortbestand in drei Typen. Dabei bilden die epistemischen Modalwörter weder einen einzigen Typ noch eine einzige Untergruppe innerhalb eines Typs. Sie sind verteilt auf zwei Untergruppen innerhalb des Typs I: Typ I: „Modalwörter, die das Verhältnis des Sprechers/Schreibers zur Realität der Aussage ausdrücken" (Schildt 1992,422). Der Typ hat drei Untergruppen: (a) vermutende, (b) verstärkende und (c) bejahende/verneinende. Alle Modalwörter der Untergruppe (a) sind epistemisch, aber auch in Untergruppe (b) finden sich epistemische Modalwörter wie bestimmt und sicher. Wir müssen nun versuchen, die Untersuchungsergebnisse zu den epistemischen Modalwörtern herauszufiltern. Das ist insofern nicht hoffnungslos, als die Modalwörter des Typs I in jedem Zeitraum überwiegend epistemisch waren. Verallgemeinernde Aussagen zum Typ I können also grosso modo als verallgemeinernde Aussagen zur Epistemik aufgefaßt werden. Der Frage, ob zwischen 1500-1730 im Bereich der Modalwörter ein Epistemifizierungsprozeß stattfand, werden wir also nachgehen können (obwohl die fehlenden Angaben zur Vorkommenshäufigkeit einen gewissen Risikofaktor darstellen). Wir werden jedoch keine verbindlichen Aussagen über die soziopragmatischen und dialektalen Details der Veränderungen im epistemischen Bereich machen können. Hierzu sind noch weitere, methodisch gut vorbereitete und auf die Epistemik zielende Untersuchungen notwendig.

16 Schildt 1990 stellt eine Art Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse dar, die in Schildt 1992 ausführlich erörtert werden.

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(1) Makroanalyse: In den Leipziger Drucken kommen insgesamt 14 Modalwörter vor, davon 7 epistemische (s. etwa die Tabelle in 1992,465): sicherlich, ohne Zweifel, förwahr, gewißlich, wohl, vielleicht, wahrlich. Ihre prozentuale Verteilung (1987, 399-401): vielleicht in 50% aller Quellen (überhaupt das .häufigste' unter all den 14 Modalwörtern), wahrlich 40% (überhaupt an zweiter Steile),förwahr 28,5% (zusammen mit dem zum Typ Π gehörenden leider an dritter Stelle), gewiß(lich) 25,7%, wohl 18,5%, ohne Zweifel 8,5%, sicherlich 1,4% (= eine Quelle). 1570-1630 sind 32 Modalwörter belegt, davon 12 epistemische" (vgl. etwa die Tabelle in Schildt 1992,433): wohl (82,9%), gewiß(lich) (80%), vielleicht (62,9%), ohne Zweifel (57,1%), förwahr (40%), wahrlich (34,3%), billig (34,3%), meines Erachtens (5,8%), meines Bediinkens, in Wahrheit, wahrhaftig und vermutlich (alle 2,9% = ein Text). Unter den epistemischen Modalwörtern von 1570-1630 gibt es nach Schildt (1992, 442) 5, „die offensichtlich neu in Gebrauch kommen": meines Erachtens, vermutlich, in Wahrheit, wahrhaftig (alle wmd.), meines Bedenkens, meines Erachtens (beide omd.). 1670-1730 sind 43 Modalwörter belegt, davon 23 epistemische (vgl. etwa die Tabelle in Schildt 1992,455): wohl (69,2%), ohne Zweifel (69,2%), gewiß(lich) (53,8%), billig (51,3%), vermutlich (30,8%), vielleicht (64,1 %), förwahr (23,1%), wahrlich (20,5%), wahrhaftig (15,4%), in Wahrheit (10,3%), meines Erachtens (10,3%), sicherlich (7,6%), traun (7,6%), dem Vermuten nach (5,2%), meiner Meinung nach (5,2%), billigermaßen, meines Bedenkens, doch", etwa, mutmaßlich, unfehlbar, unstreitig und wahrscheinlich (alle 2,6% = ein Text). Von den epistemischen Modalwörtern von 1670-1730 stellen nach Schildt (1992, 462) 7 Neubildungen dar: billigermaßen, etwa, meiner Meinung nach, mutmaßlich, unfehlbar, wahrscheinlich, dem Vermuten nach. (2) Mikroanalyse: Soziopragmatisches: Leipziger Drucke: Die Leipziger Drucke wurden nicht nach Textgruppen und -Sorten aufgeschlüsselt, sondern nach der Gesamtzahl der Modalwörter in den einzelnen Texten - von Texten ohne Modalwörter bis hin zu Texten mit sieben oder 17 Eigentlich müßte man von 13 epistemischen ausgehen, denn sicherlich, das 1570-1630 nicht belegt ist, ist sowohl in den Leipziger Drucken als auch 1670-1730 belegt. 18 In der epistemischen Bedeutung .wenn man es genau nimmt, alles genau bedenkt, dann...' ist doch erst 1670-1730 belegt (man vergleiche S. 425 mit S. 443 in Schildt 1992).

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mehr Modalwörtern - gruppiert (Schildt 1987,402-416). Da der Gebrauch der drei Typen von Modalwörtern nicht getrennt ausgewertet wurde, beziehen sich die folgenden Feststellungen auf den Modalwortgebrauch im allgemeinen. Die Häufigkeit des Modalwortgebrauchs in den Leipziger Drucken hängt nach Schildt (1987, 415) vor allem von dem dem dargestellten Gegenstand „gemäßen Funktionalstil, dem inneren Beteiligtsein des Autors am Inhalt des jeweiligen Textes und damit von der Intention, mit der eine Schrift verfaßt wird" ab. „Erst in zweiter Linie ist die Größe des Adressatenkreises von Bedeutung." Darüber hinaus sieht Schildt (ebd., 416) einen Zusammenhang zwischen der „Art des Adressatenkreises" und den eingesetzten stilistischen Mitteln: spezifischer Adressatenkreis - wissenschaftlich-fachlicher (nüchterner) Stil; soziologisch heterogener und breiterer Adressatenkreis - aufgelockerter Stil. Schildt nennt hier nicht drei, sondern eigentlich fünf Faktoren, von denen die ersten drei nach ihm offensichtlich eng zusammenhängen: gegenstandsangemessener Stil, inneres Beteiligtsein, Autorenintention; Größe des Adressatenkreises, Art des Adressatenkreises. Ich meine, daß die beiden letzten Faktoren, die unter dem Stichwort .Adressatenspezifik' zusammengefaßt werden könnten, nicht weniger eng zusammenhängen: Je heterogener (= weniger fachspezifisch) und größer der vom Autor anvisierte Adressatenkreis ist, desto natürlicher und allgemeinverständlicher ist der Stil und desto häufiger treten Modalwörter auf. Aufgrund der Interpretation der Daten durch Schildt könnte man nun den Eindruck gewinnen, daß die nüchtern informierende Sach- und Fachliteratur relativ arm an Modalwörtern sein müßte. Allerdings befinden sich unter den Texten mit vier bis sechs Modalwörtern - die Gruppe mit dem zweitstärksten Modalworteinsatz - vier Schriften, „die philosophisch-theologische Fachprobleme behandeln" (1987, 410). Philosophisch-theologische Fachtexte .dürften' jedoch nur vergleichsweise wenig Modalwörter enthalten. Die sonstigen philosophisch-theologischen Fachtexte in den Leipziger Drucken enthalten zum Großteil im Durchschnitt in der Tat nur zwei Modalwörter. Darüber hinaus gibt es welche ohne Modalwörter, welche mit einem Modalwort und welche mit drei Modalwörtern. Schildt, in dessen Konzept die vier Fachtexte mit relativ ausgedehntem Modalwortgebrauch nicht passen, entwirft eine Erklärung, die wenig überzeugend ist: Da drei der vier Texte aus den dreißiger Jahren des 16. Jh. [1531, 1534, 1534 - V.Á.], also aus der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraumes stammen, könnte es möglich sein [...], daß gegen Ende des Untersuchungsabschnitts der Gebrauch von Modalwörtern allgemein zunimmt. (1987,410)

Daß der vierte Text, ein Luther-Sermon,

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„bereits aus dem Jahre 1S20 stammt, dürfte dieser Annahme nicht grundsätzlich entgegenstehen, da [...] Luther ohnehin häufiger als seine Zeitgenossen Modalwörter verwendet." (Ebd.)

Diese Erklärung ist einerseits deshalb wenig überzeugend, weil Schildt unter den philosophisch-theologischen Fachtexten ohne Modalwörter ausgerechnet zwei Beispiele nennt, die aus den Jahren 1534 und 1529 stammen (1987,404). Warum sind dann diese Texte, die ebenfalls aus der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraumes stammen, modalwortlos? Andererseits ist sie deshalb nicht einsichtig, weil in Leipziger Frühdrucken aus der ersten Hälfte des 16. Jhs. epistemisches mögen in religiösen Schriften häufiger ist als in allen anderen von Roswitha Peilicke untersuchten Texttypen (Peilicke 1987, 363). Sollte durch Modalwörter ausgedrückte epistemische Modalität gegen und durch Modalverben ausgedrückte epistemische Modalität fur den sachlichen Stil arbeiten? Wie wir sehen, sind abgesicherte Aussagen über die Soziopragmatik des Modalwortgebrauchs im Omd. der ersten Hälfte des 16. Jhs. nicht zu machen und schon gar nicht über die Soziopragmatik der Epistemifizierung. Etwas günstiger ist die Situation in den Zeiträumen 1570-1630 und 1670-1730, da hier die Ergebnisse nach Textgruppen und -sorten bzw. nach allen drei Typen von Modalwörtern aufgeschlüsselt wurden. Wir konzentrieren uns auf Typ I, der ja überwiegend epistemische Modalwörter umfaßt. Zeitraum 1570-1630: Unter den Textgruppen gibt es - mit Ausnahme der Rechtstexte - keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Zahl der Modalwörter des Typs 1 (Schildt 1992,436): Unterhaltende Texte (12 Modalwörter des Typs I), Chronikalische und Berichtstexte (11), Sach- und Fachliteratur (10), Religiöse Texte (10) Privattexte (= Briefe) (10), Rechtstexte (3). Für die Textsorten gilt - mit Ausnahme der Zeitungen und der Rechtstexte im wesentlichen das gleiche (ebd.): Chroniken (11), Roman (9), Volksbuch (9), Fachliteratur (9), Sprachtexte (8), Reisebeschreibung (7), Sprichwörter (7), Hausväterliteratur (6), Zeitungen (3). (Die Textgruppen .Religiöse Texte' und .Rechtstexte' wurden nicht weiter in Textsorten gegliedert, die Textgruppe .Privattexte' umfaßt nur Briefe.) Hier ist schon mehr als auffallend, daß die nüchtern und eher informierend sein sollende Sach- und Fachliteratur und deren Textsorten den anderen Textgruppen und -sorten keinesfalls hinterherhinken. Es ist ebenfalls auffallend, daß den letzten Platz die Zeitungen und die Rechtstexte, die nach den .Leipziger' Faktoren .gegenstandsangemessener Stil', .inneres Beteiligtsein', , Autorenintention' und .Adressatenspezifik' wohl nicht sehr viel gemein haben dürften, gemeinsam belegen.

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Daß sich die frühen Zeitungen auf die „reine Berichterstattung" konzentrieren (1992, 437) und insofern einen nüchternen Stil haben, mag noch stimmen. Daß sie sich aber in krassem Gegensatz zu den Rechtstexten, die Spezialistenwissen an Spezialisten vermitteln, an einen breiten und heterogenen Adressatenkreis wenden, steht wohl außer Frage. Zeitraum 1670-1730: Bei den Textgruppen (Schildt 1992, 458) fuhrt hinsichtlich der Zahl der Modalwörter des Typs I die Sach- und Fachliteratur (21), gefolgt von den Unterhaltenden Texten (17) und den Privattexten (= Briefe + Lebensbeschreibungen) (17). Weitere Reihenfolge: Chronikalische und Berichtstexte (10), Religiöse Texte (8), Rechtstexte (8). Bei den Textsorten (ebd.) führt die Fachliteratur (19), gefolgt von Roman (15) und Sprachtexten (13). Weitere Reihenfolge: Briefe (12), Lebensbeschreibungen (12), Zeitungen (10), Reisebeschreibung (6), Chroniken (1). (Die Textgruppen .Religiöse Texte' und .Rechtstexte' wurden auch hier nicht weiter in Textsorten gegliedert.) Es fallt nicht nur die Dominanz der Sach- und Fachliteratur (bzw. der Textsorte .Fachliteratur') auf, sondern auch, daß Textgruppen und -Sorten vergleichbare Werte aufweisen, die aufgrund der .Leipziger' Faktoren eher stark abweichen müßten. Gibt es etwa neue Faktoren für die Zeit von 15701730? Schiidts diesbezügliche Ausführungen (1992,477-79) enthalten keine Überraschungen, denn wie schon bei den Leipziger Drucken sollen auch in der Zeit von 1570-1730 der gegenstandsangemessene Stil, das innere Beteiligtsein und die Intention des Autors bzw. der anvisierte Adressatenkreis maßgebend sein. Dabei scheint für Schildt die Gegenüberstellung von sachlicher Informierung und engagierter Beeinflussung paradigmatisch zu sein: Für den Stil von Texten und Textsorten, in denen vorwiegend sachlich informiert und beschrieben wird, [...] ist das Fehlen oder ein äußerst geringer Hinsatz von Modalwörtern typisch. Das gilt ζ. B. für Rechtstexte - Ordnungen und Satzungen - sowie Chroniken. Für Texte dagegen, in denen EinfluB auf die Menschen genommen werden soll, [...] sind Stilmuster charakteristisch, in denen von Modalwörtern häufiger Gebrauch gemacht wird. Das zeigt sich ζ. B. im unterhaltenden Schrifttum oder in den Privattexten in beiden Zeiträumen, in den Zeitungen sowie in der Sach- und Fachliteratur des 2. Untersuchungszeitraumes. (1992,477)

Dieser Teil des Resümees enthält einerseits Feststellungen, die durch die eigenen Daten nicht untermauert werden. Andererseits werden hier bestimmte Zusammenhänge unterschlagen, was sich auf das Festhalten an einer Präkonzeption schließen läßt:

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(1) Hinsichtlich des gesamten Modalwortgebrauchs stehen Chroniken unter den Textsorten von 1570-1630 an zweiter Stelle (hinsichtlich des epistemischen Modalwortgebrauchs sogar an erster), erst im Untersuchungszeitraum 1670-1730 fallen sie auf die letzte Stelle zurück. (2) Die Sach- und Fachliteratur weist bereits im Zeitraum 1570-1630 mehr Modalwörter (und genauso viele epistemische Modalwörter) auf als (wie) die Privattexte. Im Zeitraum 1670-1730 wird der Abstand noch größer. (3) Die Zeitungen belegen im Zeitraum 1570-1630 nicht nur bei Typ I, sondern auch hinsichtlich des gesamten Modalwortgebrauchs - zusammen mit den Rechtstexten - den letzten Platz. (4) Die zum unterhaltenden Schrifttum gezählte Textsorte ,Reisebeschreibung' weist im Zeitraum 1670-1730 wesentlich weniger Modalwörter auf als die Rechtstexte (dies gilt auch fur die epistemischen Modalwörter). Im zweiten Teil der Zusammenfassimg geht Schildt auf die Frage der innovativen Textgruppen und -Sorten beim Typ I ein (1992,478): Vorreiter in der Herausbildung neuer Modalwörter des Typs I seien die unterhaltenden Texte und im 2. Zeitraum die Zeitungen. Erst an einer späteren Stelle der Arbeit (1992, 484) erwähnt Schildt zusätzlich noch die Privattexte sowie im Zeitraum 1670-1730 die „Fachschriften". Es ist wiederum symptomatisch, wie zögerlich Schildt die ihm nicht zusagende Vorreiterrolle der Sach- und Fachliteratur zugibt. Das belegt nicht nur das obige Resümee, in dem die Vorreiterrolle dieser Textgruppe nicht erwähnt wird. Auch an einer anderen Stelle der Arbeit zeigt der Autor sich geradezu skeptisch gegenüber den eigenen Ergebnissen: Das Ausmaß der Bewertungen und Einschätzungen hat in dieser Textgruppe, fiir die an sich nüchterne Sachverhaltsdarstellungen typisch sind [Hervorhebung von mir - V.A.], im 2. Zeitraum erheblich zugenommen. Damit sind Texte dieser Gruppe zwischen 1670 und 1730 produktiv geworden für die Ausbildung neuer sprachlicher Ausdrucks mittel in diesem Umfeld. (1992,473)

Dialektales: (1) Häufigkeit: Hinsichtlich des Modalwortgebrauchs registriert Schildt keine signifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen Sprachlandschaften (Schildt 1992, 440; 462; 479). Dies gilt im wesentlichen auch für die Epistemik. (2) Innovationen: Die dialektale Verteilung der (wahrscheinlichen) Neubildungen ergibt kein zuverlässiges Bild: Im Zeitraum 1570-1630 sind es das Wobd. und Omd., in denen epistemische Modalwörter „offenbar neu in Gebrauch kommen" (1992, 442). Oobd. Sach- und Fachliteratur wurde allerdings nicht ausgewertet, das Nrdd. kaum berücksichtigt (ebd., 441). (Neue nichtepistemische Modalwörter kommen vor allem im Oobd. auf.)

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Im Zeitraum 1670-1730 seien nach Schildt (1992, 462) offenbar alle Sprachlandschaften an der Ausbildung neuer Modalwörter beteiligt. Dies stimmt aber nicht, falls man der Neubildungsliste von Schildt (ebd.) Glauben schenken darf. Denn die Liste enthält keine oobd. Neubildungen (obwohl in diesem Zeitraum oobd. Texte aus allen sechs Textgruppen herangezogen wurden). Im Bereich der Epistemik lassen sich - natürlich abgesehen vom Oobd. in allen Sprachlandschaften (vermutliche) Neubildungen dokumentieren. Zusammenfassung zum epistemischen Modalwortgebrauch von 1500-1730: Der Vergleich der Daten zur Epistemik in den drei Zeiträumen läßt folgende Interpretation zu: Im 16./17. Jh. und frühen 18. Jh. fand im Deutschen ein intensiver Epistemifizierungsprozeß statt,19 der aller Wahrscheinlichkeit nach bereits im älteren Frnhd. einsetzte.20 Möglicherweise entstanden in der Zeit von ca. 1550-1730 wenigstens 12 neue epistemische Modalwörter, von denen manche heute noch zum Kernbestand der Epistemik gehören (vermutlich, wahrscheinlich, meiner Meinung nach). Über den soziopragmatischen Verlauf der Epistemifizierung kann die Schildtsche Textgruppen- und Textsortengliederung keinen Aufschluß geben. Auch die Faktoren, die nach Schildt den Modalwortgebrauch regulieren, können in ihrer Gesamtheit die Veränderungen im Modalwortgebrauch nicht erklären. (Damit soll aber nicht gesagt werden, daß sie überhaupt keinen Einfluß ausübten.) Wären diese Faktoren entscheidend, hätte z.B. der Abstieg von Chroniken vom ersten auf den letzten Platz nicht vorkommen dürfen. Oder die Textsorten .Fachliteratur', .Briefe' und ,Roman' dürften keine vergleichbaren Werte haben. Und vor allem dürfte die Textgruppe .Sach- und Fachliteratur' gar nicht den ersten Platz von 1670-1730 belegen. Was für den soziopragmatischen Verlauf des Epistemifizierungsprozesses gültig ist, gilt verstärkt für dessen eventuellen dialektalen Verlauf: Wir verfügen weder über verläßliche Daten noch über verläßliche Erklärungen.

19 Schildt registriert die Zunahme der Zahl und der Häufigkeit der Modalwörter in den Leipziger Drucken zum Ende des Untersuchungszeitraumes hin, d.h. auch innerhalb des Untersuchungszeitraumes (s. vor allem 1987,426-431). Im Vergleich der Untersuchungszeiträume 1570-1630 und 1670-1730 stellt er fest (1992, 471): „Die wesentlichen Veränderungen haben sich bei jenen Modalwörtern vollzogen, durch die das Verhältnis des Sprechers zur Realität der Aussage ausgedrückt werden kann." 20 Schildt (1987, 391) verzeichnet die Zunahme der Modalwörter im Vergleich zum Mittelalter, was sicherlich auch für die epistemischen Modalwörter gilt. Nach Valentin (1984, 193) gelte für die Geschichte der „Modalisatoren" (= epistemischen Modalwörter) im wesentlichen das gleiche wie für die „Modalisationsverben" (= epistemisch verwendeten Modalverben), nämlich, daß sie vor dem Frnhd. nur spärlich belegt sind.

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2.3 Epistemischer Gebrauch von Modalverben Zwar enthalten die vorhandenen Arbeiten einerseits wertvolle Hinweise auf allgemeine Entwicklungstendenzen und deren zeitliche Einordnung (vor allem Valentin 1984; Gamon 1993 [nur mögen und müssen] und Fritz 1997, 94-110), andererseits synchrone Bestandsaufnahmen fur einzelne Texte und Textsorten des Fmhd. (vor allem Jäntti 1991 und Fritz 1991), doch existiert bis heute noch keine korpusunterstützte Längsschnitt-Untersuchung, von der ausgehend man sich an eine Erklärung heranwagen könnte. Daten sind noch am ehesten der großangelegten Arbeit von Schieb (1976) zum Verbalkomplex von 1470-1730 (mit den Untersuchungszeiträumen 1470-1530 und 1670-1730) zu entnehmen. Dabei ist nur eine Makroanalyse möglich, da einschlägige soziopragmatische und dialektale Angaben fehlen. (1) Modalverben im zweigliedrigen Verbalkomplex: Zeitraum 1470-1530: Typ wird tun (1976, 77): 144 Belege (= 2,82% aller zweigliedrigen Verbalkomplexe): 143mal Futurauxiliar, einmal epistemisches Modalverb (= 0,02%); Typ will tun (1976, 77f.): 536 Belege (= 10,46% aller zweigliedrigen Verbalkomplexe): 533 nichtepistemisch, 3 epistemisch (= 0,06%); Typ soll tun (1976, 78): 622 Belege (= 12,2% aller zweigliedrigen Verbalkomplexe): 617 nichtepistemisch, 5 epistemisch (= 0,1%); Typ kann tun (1976, 78): 99 Belege (= 1,9% aller zweigliedrigen Verbalkomplexe), nur nichtepistemisch; Typ mag/vermag tun (1976, 78f.): 223 Belege (= 4,4% aller zweigliedrigen Verbalkomplexe): 217 nichtepistemisch, 6 epistemisch (= 0,12%); Typ darf tun ,kann tun, wagt zu tun' (1976, 79): 14 Belege, nur nichtepistemisch. Typ muß tun (1976, 79): 274 Belege, nur nichtepistemisch; Typ muß nicht tun (1976, 79f.): 10 Belege, nur nichtepistemisch; Typ darf/bedarf nicht tun .braucht nicht zu tun' (1976, 80): 9 Belege, nur nichtepistemisch; Typ darf nicht tun ,darf nicht tun' (1976, 80): 20 Belege, nur nichtepistemisch. Zeitraum 1670-1730: Typ wird tun (1976, 146): 147 Belege (= 5,9% aller zweigliedrigen Verbalkomplexe): 127mal Futurauxiliar, 20mal epistemisches Modalverb (= 0,8%); Typ will tun (1976, 146): 200 Belege (= 8% aller zweigliedrigen Veibalkomplexe), nur nichtepistemisch;

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Typ soll tun (1976, 147): 102 Belege (= 4,1% aller zweigliedrigen Verbalkomplexe): 97 nichtepistemisch, 5 epistemisch (= 0,2%); Typ kann tun (1976, 147): 199 Belege (= 8% aller zweigliedrigen Verbalkomplexe), wahrscheinlich nur nichtepistemisch (kein Kommentar von Schieb). Typ mag/möchte tun (1976, 147): 45 Belege (= 1,88% aller zweigliedrigen Verbalkomplexe): 28 nichtepistemisch, 17 epistemisch (= 0,7%); Typ darf tun (nichtepistemisch): ,wagt zu tun' (1976, 147): 2 Belege (im Verschwinden); .darf (nicht) tun' (1976,148): 10 Belege; Typ dürfte tun (neu) (1976, 148): 3 Belege, nur epistemisch; Typmußtun 1670-1730(1976, 147): 118 Belege, nur nichtepistemisch;. Typ muß nicht tun 1670-1730(1976, 147): 11 Belege, nur nichtepistemisch; Typ darf nicht tun .braucht nicht zu tun' (1976, 148): 1 Beleg, nichtepistemisch. Der Vergleich der beiden Zeiträume zeigt folgendes (verglichen wurden nicht die absoluten Zahlen, sondern die Proportion von Nichtepistemik und Epistemik): neuer epistemischer Verbalkomplex: dürfte tun·, radikale Zunahme der epistemischen Verwendung: wird tun, mag/möchte tun-', deutliche Zunahme der epistemischen Verwendung: soll tun; statistisch vollkommen irrelevante Abnahme der epistemischen Verwendung: will tun. (2) Modalverben im dreigliedrigen Verbalkomplex: Schieb listet hier die Modalverben nicht einzeln auf, sondern subsumiert sie unter Konjugationstypen. Zeitraum 1470-1530: Typ will getan haben (1976, 111): 40 Belege (= 8,4% aller dreigliedrigen Verbalkomplexe): 24 wollen, 12 sollen und je einmal können, mögen, müssen, dürfen. „Zur Bezeichnung des Grades nicht erwiesener Realität begegnet dieser Verbkomplex noch nicht."; 21 Peilicke, die können und mögen in Leipziger Frühdrucken der ersten Hälfte des 16.Jhs. und in der Zeit von 1570-1730 untersucht hat, stellt fest, daß epistemisches mögen (= bei ihr mit der Bedeutung .hypothetische Möglichkeit') im Vergleich zum mittelalterlichen Dt. „verstärkt herangezogen zu werden (scheint)" (1987, 379). Der prozentuale Anteil von epistemischem mögen wächst auch zwischen den Untersuchungszeiträumen 1570-1630 und 1670-1730 sehr deutlich. Man vergleiche die Belegzahlen zur Epistemik (Peilicke 1992, 364) mit der Gesamtzahl der Belege in beiden Zeiträumen (ebd., 350).

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Typ will gekommen sein (1976, 111): 14 Belege (= 2,9% aller dreigliedrigen Verbalkomplexe): 6 wollen, 6 sollen, je einmal können, mögen. 13mal nichtepistemisch, einmal epistemisch; (Zum Vergleich: Typ hat tun wollen (1976, 106); 38 Belege; Typ hat tun gewollt (1976, 105): 2 Belege.) Zeitraum 1670-1730: Typ will getan haben (1976, 179): 8 Belege (= 1,2% aller dreigliedrigen Verbalkomplexe): 3 wollen, 3 sollen, 2 müssen. 4mal nichtepistemisch, 4mal epistemisch; Typ muß gewesen sein (1976, 179): 2 Belege (= 0,3% aller dreigliedrigen Verbalkomplexe), nur epistemisch. (Zum Vergleich: Typ hat tun wollen (1976, 173): 27 Belege; Typ hat tun gewollt ist nicht mehr belegt.) Wie wir sehen, entfallt im Zeitraum 1470-1530 ein einziger epistemischer Beleg auf 53 nichtepistemische. Im Zeitraum 1670-1730 entfallen hingegen 6 epistemische Belege auf 4 nichtepistemische. Dabei ist der Rückgang der älteren Konstruktionstypen mit Perfektpartizip (will getan haben; will gekommen sein) keineswegs überraschend, denn schließlich stellt die Herausbildung der analytischen Tempusformen von Modalverben einen wichtigen Schritt in der Grammatikalisierung des Tempussystems dar. Auf den ersten Blick überraschend ist nur, daß die älteren, im Tempussystem funktionslos gewordenen Konstruktionstypen nicht gänzlich verschwanden. Dies zeugt von einem großen Bedarf an neuen epistemischen Ausdrucksmöglichkeiten. Schieb selbst zieht aus dem Vergleich der beiden Zeiträume folgendes Fazit: Neben /hat tun wollen/ mit 7,1% [aller dreigliedrigen Verbalkomplexe zwischen 1670-1730 V.Á.] steht der historisch ältere umgekehrte Typ mit gleichen syntaktisch-semantischen Merkmalen /will getan haben/ mit 1,2%, wovon aber nur noch die Hälfte als eigentliche Systemvariante zu werten ist, da der Verbkomplex ebenso häufig wie den Grad noch ausstehender Realisierung [Nichtepistemik - V.A.] den Grad nicht erwiesener Realität [Epistemik - V.A.] kennzeichnet, so daB sich eine semantische Differenzierung der beiden Typen anbahnt. (Schieb 1976,204; s. auch ebd., 222f.)

Mit der epistemischen Refunktionalisierung der älteren Konstruktionstypen begann eine qualitativ neue Epoche in der Grammatikalisierung der epistemischen Ausdrucksmöglichkeiten: Zum ersten Mal in der Geschichte des Deutschen entstand ein grammatisches Paradigma (mit der Phasenopposition ,unvollzogen/vollzogen') im Dienste der Epistemik (Typ soll tun vs. Typ soll getan haben).

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2.4 Assertive Sprechaktverben Assertive Sprechaktverben sind .Argumentationswörter*' (von Polenz 1988), mit denen Urteile über den Wahrheitsgehalt von Propositionen ausgedrückt werden können. Im heutigen Deutsch ist ihr Bestand derart ausgedehnt, daß die Lexikologie und die Lexikographie wohl noch gar nicht alle analysiert bzw. inventarisiert haben. Z.B. ist mir erst nach der Lektüre der Arbeiten von Tregidgo (1982, 76) und Sweetser (1990, 69) bewußt geworden, daß nicht nur engl, to insist, sondern auch dt. bestehen auf zweideutig ist: Es kann sowohl nichtepistemisch (Wollen, Insistieren) wie auch epistemisch (als assertives Sprechaktverb) gebraucht werden: (a) Der Augenzeuge besteht darauf, daß ihm alle Verdächtigten vorgeführt werden. (b) Der Augenzeuge besteht darauf, daß der Mann mit der Nr. 7 der Täter war. Da die Wörterbücher die Lesarten (a) und (b) nicht trennen, bleibt die Sprechakt-Lesart sozusagen automatisch unbeachtet. Dies gilt auch für die großen historischen Wörterbücher (DWB, Paul 1992), weshalb die Herausbildung der epistemischen Lesart bei diesem Verb nicht nachgezeichnet werden kann." Ich habe aufs Geratewohl 10 assertive Sprechaktverben ausgewählt und die Wörterbuchangaben zu ihnen im DWB, in Paul 1992 und - soweit schon erschienen - im FWB eingesehen. Ergänzt werden konnten diese Recherchen durch die einschlägigen Analysen von Peter von Polenz (1988) zu Texten von Thomas Müntzer (der untersuchte Text stammt aus dem Jahre 1524), Georg Forster (1792), Christian Thomasius (1691) und Christian Wolff (1713 und 1724):25 (1) annehmen .hypothetisch voraussetzen, vermuten': Im FWB ist die epistemische Bedeutung nicht belegt.

22 Bezeichnenderweise führt weder das DWB noch Paul 1992 Belege mit „performativen Obersätzen"/,,Vollzugsausdrücken" (von Polenz 1985, 214) wie X besteht darauf, daß... an. Die Möglichkeit eines „epistemischen Insistierens" (d.h. die der Lesart ,auf der Meinung bestehen, daß...') bleibt auf diese Weise verdeckt. 23 Die Liste der Aigumentationswörter bei Müntzer und bei Forster findet sich auf S. 191, die der Sprachhandlungsverben bei Thomasius und Wolff auf S. 194 in der Arbeit von v. Polenz (1988). In der letzteren Liste, die Peter von Polenz aus der Trierer Magisteraibeit von Ulla Biehl übernommen hat, ist nicht gekennzeichnet, ob ein bestimmtes Verb nur bei Thomasius, nur bei Wolff oder bei beiden belegbar ist. Deshalb benutze ich unten an den einschlägigen Stellen die Formulierung Thomasius und/oder Wolff.

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Die Erstbelege des DWB in der epistemischen Bedeutung stammen von Klinger, Goethe, Gotter und Kant. (Die Zuordnung des Partizipialattribut-Belegs von Hagedom - „mit angenommener traurigkeit" (DWB I, 415) - zur Epistemik ist eher fraglich.) Nach Paul 1992 ist die Verwendung annehmen, daß... in der Bedeutung .hypothetisch voraussetzen' seit Christian Wolff, in der Bedeutung .vermuten' seit Goethe belegt. In den von Peter von Polenz untersuchten Texten ist epistemisches annehmen nur bei Georg Forster belegt. (2) behaupten ,eine Meinimg, Vermutung aufstellen': Nach dem FWB kommt das Verb überhaupt erst im mittleren und späteren Frnhd. auf. Die epistemische Bedeutung ist zuerst in Form einer Worterklärung in einem Wörterbuch aus dem Jahre 1564 belegt. Belege mit performativen Obersätzen gibt es erst aus dem 17. Jh. Nach dem DWB, das die Bedeutung ,eine meinung/etw. behaupten' an letzter Stelle unter den Bedeutungen erwähnt und das einen Kant-Beleg anführt, kommt das Verb erst im 17. Jh. auf. Angesichts des FWB-Belegs aus dem Jahre 1564 gilt diese Einschätzung als überholt. Paul 1992 beruft sich aufs DWB und fuhrt denselben Kant-Beleg an. In den von Peter von Polenz untersuchten Texten ist epistemisches behaupten bei Georg Forster bzw. bei Thomasius und/oder Wolff belegt. (3) beobachten .wahrnehmen (Observativ), bemerken, feststellen (Spekulativ oder Deduktiv)': Nach dem DWB kommt das Wort erst im 17. Jh. auf (bestimmt von lat. osservare/frz. observer). Der Kommentar in Paul 1992 - „,auf etw. achten' häufig auf wiss. Tätigkeit bezogen" (ebd., 112) - legt nahe, daß sich im 17.Jh. nur die observativepistemische Bedeutung herausbildete. In den von Peter von Polenz untersuchten Texten ist beobachten nicht belegt. (4) denken .meinen, glauben': Die einschlägige Bedeutungsangabe des DWB („glauben, vermuten, dafür halten, sich vorstellen, opinari, in mentem ducere, sentire", DWB II, 935) ist recht großzügig - so wie es auch unter den Belegen viele nicht epistemische gibt. Sicher epistemische Frühestbelege mit performativem Obersatz stammen aus der Luther-Bibel, von Hans Sachs, Logau und Geliert. Paul 1992, 167f.: Die Bedeutung .meinen' ist nicht angeführt.

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In den von Peter von Polenz untersuchten Texten ist epistemisches denken nicht belegt. (5) einräumen ,als zutreffend eingestehen, zugeben, anerkennen': Das DWB gibt Stieler 1535 als frühesten Fundort an, bringt jedoch keinen Beleg (was kein Zufall ist, da Kaspar Stieler erst im 17. Jh. geboren wurde34). Es führt auch keinen einzigen Beleg mit performativem Obersatz an (nur jmd. räumt (jmdm.) etw. ein). Nach Paul (1992, 208) ist das Verb in der Bedeutung ,zugestehen' schon bei Luther belegt. Mit der Bedeutungsangabe .zugestehen' ist jedoch noch nicht geklärt, ob der formaljuristische Akt der Zuerkennung eines Rechts oder die epistemische Bedeutung ,als zutreffend eingestehen, zugeben, anerkennen' gemeint ist (s. von Polenz 1988, 217). Das synonyme zugestehen ist in der epistemischen Lesart erst ab Ende des 17. Jhs. belegt, während die juristische Bedeutung bereits frnhd. ist (ebd.). In den von Peter von Polenz untersuchten Texten ist einräumen bei Thomasius und/oder Wolff belegt. Bei Forster sind jedoch die Synonyma zugeben und bekennen (.zugeben, einräumen') belegt. (6) glauben »vermuten, fur wahr/wahrscheinlich halten': Die Erstbelege des DWB sind von Tauler und von Heinrich v. Hesler (erste Hälfte des 14. Jhs.). Ansonsten wird noch ein Kant-Beleg angeführt. Nach Paul 1992 ist epistemisches glauben frnhd. In den von Peter von Polenz untersuchten Texten ist epistemisches glauben bereits bei Müntzer (sogar dreimal) belegt. Auch bei Forster kommt es häufig (fünfmal) vor, während es bei Thomasius und Wolff nicht belegt ist. (7) meinen .glauben, der Ansicht sein': Nach der Bedeutungsangabe .glauben, dafürhalten, wähnen' des DWB findet sich ein Hinweis auf Josua Maaler (16.Jh.), aber kein Beleg.35 Strukturell konnte die Bedeutung sowohl ohne als auch mit performativem Obersatz realisiert werden. Die Struktur ohne performativen Obersatz (jmd. meint jmdn./etw...., z.B. „ich meinte ihn schon über alle berge", DWB VI, 1931) ist bei Stieler, Luther, S. Brant und Fleming belegt. Die Struktur mit performativem Obersatz findet sich in der dt. Städtechronik, der Luther-Bibel, bei Geliert und bei Lessing. Nach Paul 1992 ist die epistemische Bedeutung schon bei Luther vorhanden (für mhd. waeneri). 24 Diesen Hinweis verdanke ich Christiane Schlaps (Heidelberg). 25 In Maalers „Die Teütsch spraach" von 1S61 findet sich auf S. 287 v ein einschlägiger Beleg: „Was Meinst du das darauß werde."

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In den von Peter von Polenz untersuchten Texten ist epistemisches meinen sowohl bei Müntzer wie auch bei Forster wie auch bei Thomasius und/oder Wolff belegt. (8) schätzen ,denken, meinen': Nach dem DWB stammt der erste Beleg mit performativem Obersatz (also nicht: jmd. schätztjmdn. etw.) aus dem „Simplicissimus" (17.Jh.). Nach Paul 1992 wird epistemisches schätzen seit dem Frnhd. verwendet. In den von Peter von Polenz untersuchten Texten ist epistemisches schätzen nicht belegt. (9) scheinen {jmd. scheint...(zu) sein/jmdm. scheint, daß.../es scheint (jmdm.), daß...) ,den Eindruck machen/den Eindruck haben': Die DWB-Erstbelege sind alle frnhd.: scheinen ohne zu+Inf. bei Luther; scheinen mit zu+Inf. im Reineke Fuchs; es scheint mit als-ob-Satz in der Luther-Bibel und es scheint mit daß-Sstz bei Rompier v. Löwenhalt (1647). Die Struktur mit Datiwalenz des Obersatzverbs (es scheint jmdm., daß.../jmdm. scheint, daß...) wird nicht nachgewiesen. Paul 1992 belegt die Konstruktion mit zw+Inf. (Er scheinet ein ehrlicher Mann zuseyn) bei Stieler. Die Konstruktionen mit performativen Obersätzen (jmdm. scheint, daß...les scheint (jmdm.), daß...) bilden sich jedoch erst im 18. Jh. heraus. In den von Peter von Polenz untersuchten Texten ist epistemisches scheinen nicht belegt. Nachgewiesen werden konnten hingegen die Synonyma dunken (Müntzer), halten fiir (Forster, Thomasius und/oder Wolff), erkennen fiir (Forster) und dajürhalten (Thomasius und/oder Wolff). (10) vermuten .annehmen, mutmaßen, für möglich halten': Das DWB belegt die epistemische Bedeutung bei Opitz, Goethe, Lessing und Kant. Das Wort ist nach Paul 1992 überhaupt erst seit dem 16. Jh. belegt. Aus Paul 1992 geht aber nicht hervor, ob die epistemische Verwendung in performativen Obersätzen bereits im 16.Jh. belegt ist. Dies ist allerdings sehr wahrscheinlich, denn die „heutige argumentative Bedeutung" ist nach von Polenz (1988, 196), der auch weitere Wörterbücher konsultierte, bereits im 16.Jh. nachweisbar. In den von Peter von Polenz untersuchten Texten kommt vermuten bei Forster bzw. bei Thomasius und/oder Wolff vor. Diese Stichproben deuten daraufhin, daß die Epistemifizierung erst im Fmhd. einsetzte und daß sie im späteren Frnhd. bzw. im frühen Nhd. qualitativ und

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quantitativ neue Ausmaße annahm Unter qualitativ neuen Ausmaßen verstehe ich einerseits die starke Ausdiiferenzierung des epistemischen Sprechaktwortschatzes, d.h. eine bemerkenswerte Zunahme von Nuancierungssmöglichkeiten für den Ausdruck von Wahrscheinlichkeit und epistemischer Möglichkeit. Andererseits verstehe ich darunter eine deudiche Syntaktifizierungstendenz: Grammatische Strukturen, die keine formale Trennung von Handlungsgehalt (Sprecherhandlung inkl. Sprechereinstellung) und Aussagegehalt (Proposition) ermöglichen, werden zunehmend durch Strukturen mit performativem Obersatz abgelöst. Man vergleiche: (a) Wie alt [...] schätzen Sie ihn? (Schiller, nach Paul 1992, 723) (b) Was schätzen Sie, wie alt er ist? (a) Ich meinte ihn schon über alle Berge. (b) Ich meinte, daß er schon über alle Berge ist. Die (b)-Sätze repräsentieren den stärker syntaktifizierten Strukturtyp, der sich auch später herausbildet. Eher in die Rubrik ,quantitativ neue Ausmaße' gehört scheinbar der Befund, daß sich Forster, Thomasius und Wolff viel stärker auf den neuen epistemischen - bzw. generell: auf den argumentativen - Wortschatz stützen als Müntzer. In Wirklichkeit geht es aber auch hier um eine qualitative Veränderung, die Peter von Polenz im Hinblick auf den Unterschied zwischen Müntzer und Forster wie folgt charakterisiert: Gewandelt hat sich die bevorzugte Wahl von Handlungstypen und Handlungsbezeichnungen in bestimmten Textsorten; es ist Stilwandel, dessen Triebkräfte primär vom Wandel des Verständnisses von Rollen- und Adressatenbeziehungen herkommen, (von Polenz 1988, 197f.)

Den „Wandel des Verständnisses von Rollen- und Adressatenbeziehungen" würde ich einen kommunikativen Bewußtseinswandel nennen: Zunehmend wird man (= diejenigen, die professionell mit Schrift/Schreiben zu tun haben) sich dessen bewußt, daß Sprechen (= Schreiben + Sprechen) die Welt und die eigenen Gedanken nicht einfach abbildet, sondern daß es realitäts(mit)enzeugend ist. Indem man zunehmend auch über die eigenen Aussagen reflektiert, schafít man eine neue Kommunikationskultur, die sich in der Aufklärungszeit herauskristallisiert und die die Philosophie und Dichtung insbesondere des 20. Jhs. prägt. Diese neue Kultur des (auch) metakommunikativen Sprechens ist in der Diktion der großen Dichter und Wissenschaftler des 20. Jhs. bereits so tief verwurzelt, daß sie massiv auch auf die mündliche Ausdrucksweise übergreift, wie die feinfühlige Analyse von Georg Stötzel (1978), der ein Böll-Interview untersucht hatte, besonders eindrucksvoll belegt.26 26 Ich danke Fritz Hermanns (Heidelberg/Bayreuth), der mich auf den Aufsatz von Georg Stötzel aufmerksam gemacht hat.

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Die Frage ist ,nur', wo der „Wandel des Verständnisses von Rollen- und Adressatenbeziehungen", wo die neue Kultur des metakommunikativen Sprechens selbst herkommt. 2.5 Epistemifizierung und Literalisierung Die Zusammenstellung der Befunde zu den epistemischen Modalwörtern, zum epistemischen Gebrauch der Modalverben und zu den assertiven Sprechaktverben legt trotz der ungünstigen Forschungssituation die folgende vorsichtige Interpretation der Sachlage nahe: Im nachmittelalterlichen Deutsch setzte ein Epistemifizierungsprozeß ein, der im 16.-18.Jh. eine deutliche Intensivierung erfuhr.27 Im Bereich der Modalität, die sich „zwischen der objektorientierten Modifikation und der subjektorientierten Modalisation" (Koller 1995, 42) bewegt, fand also eine auffällige konzeptuelle Verschiebung in Richtung Subjektorientiertheit statt. Vergleichbares gilt übrigens auch für das Englische, wo die Epistemifizierung im wesentlichen im späten Mittelenglischen anfing, aber erst im späten Frühneuenglischen bzw. im Neuenglischen größere Ausmaße annahm (Shepherd 1982, 317f.; Traugott 1989,35-48). Es stellt sich nun die Frage, wie dieser Epistemifizierungsprozeß erklärt werden kann. Die Aufgabe ist methodisch insofern diffizil, als es kaum möglich sein dürfte, auf direktem empirischen Wege Argumente für irgendeine Erklärung zu sammeln. Ich halte es jedoch für möglich, das Problem sozusagen indirekt empirisch zu behandeln. Dazu soll von folgender Hypothese ausgegangen werden:

27 Mit Einsetzen meine ich natürlich nicht, daß im mittelalterlichen Dt. kein einziges Sprachzeichen epistemisch gebraucht worden wäre. Von den Modalverben konnte mögen (ahd. mugan) bereits im Ahd. epistemisch verwendet werden (Gamon 1993, 148f.; Fritz 1991,45; Fritz 1997, 94f.). Die epistemische Verwendungsweise von dürfen soll nach Valentin (1984, 189) im „Nibelungenlied" (als dorfte) belegt sein. (Fritz (1997, 10) meint hingegen, sie sei erst um 1500 nachweisbar.) Bekannt ist auch das assertive Sprechaktverb wähnen (mhd. waenen), das etwa im BMZ (III, 496) in der Bedeutung .meinen, glauben, vermuten' angeführt wird. Entscheidend für ein .Einsetzen' ist vielmehr, daß Type- wie Token-Frequenz einen Wert erreichen, den man nicht mehr als die bloße Summe von vereinzelten individuellen Neuerungen (im Sinne von Coseriu) interpretieren kann. Wohl in diesem Sinne ist auch Valentin (1984, 190) zu verstehen, nach dem „es in der älteren Sprache kein Verb mit einer ausgesprochen modalisierenden Gebrauchsweise bzw. Bedeutung (gegeben hat)." Fritz (1991, 45) stellt fest, daß das Repertoire an epistemischen Verwendungsweisen von Modalverben in den Zeitungstexten von 1609 „dasjenige des Mhd. deutlich übertrifft". S. hierzu auch Anm.20.

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Epistemifizierung ist an die zunehmende Literalisierung der Gesamtkultur, ihre Intensivierung an die Herausbildung und Verbreitung der typographischen Kultur gebunden. M.a.W. ist die Epistemifizierung im Deutschen eng verbunden mit dem in Deutschland um 1400 eingeleiteten und „bis heute andauemde(n) Papier-, Schreib- und Druckzeitalter" (von Polenz 1991, 114). Somit kann die Epistemifizierung als eine Erscheinungsform der raison graphique, einer „nouvelle forme de technologie intellectuelle", einer „nouvelle forme de rationalité" (Auroux 1996, 58f.), die an die Schriftkultur gebunden ist, angesehen werden.21 Bevor ich versuche, diese Behauptungen zu begründen, möchte ich darauf verweisen, daß sich in den zitierten Untersuchungen von Schildt eine durchaus vergleichbare Auffassung findet: (1) Um die Zunahme der Modalwörter in der ersten Hälfte des 16. Jhs. im Vergleich zum Mittelalter zu begründen, formuliert Schildt (1987, 391) folgende Hypothese: Die Zunahme der Zahl von Modalwörtern bzw. auch als Modalwörter verwendeter Lexeme in der geschriebenen Literatursprache des 16. Jhs. hängt mit dem wachsenden Grad der Verschriftlichung des Kommunikationsprozesses zusammen [...].

(2) Zur Erklärung der Intensivierung des Modalwortgebrauchs 1S70-1730 schreibt er in der Zusammenfassimg von 1990 (gleicher Wortlaut auch in Schildt 1992,483) folgendes: Es bildeten sich auch neue Formen der Kommunikation aus. Dabei ist besonders daran zu denken, daß - unterstützt durch die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Gutenberg [Hervorhebung von mir - V.Á.] - vor allem die schriftliche Kommunikation einen bedeutenden Aufschwung erlebte. Es entwickelten sich spezifische, für die schriftliche Kommunikation charakteristische Verhaltensmuster und Verfahrensweisen. (1990,161)

Und nun zurück zu meiner Hypothese: Es gilt zu begründen, daß Epistemifizierung mit der sukzessiven Ablösung der oralen Kultur des Mittelalters verbunden ist. Dazu müssen wir zuerst den Versuch unternehmen, uns in das ,Weltbild', in das Denken von oralen Menschen2' hineinzuversetzen. Aus der 28 Der treffende Ausdruck raison graphique wurde von den französischen Übersetzern von Jack Goodys "The Domestication of the Savage Mind" als Buchtitel eingeführt. Der Originaltitel wurde in der Ubersetzung von J. Bazin und A. Bensa zum Untertitel: „La raison graphique. La domestication de la pensée sauvage." (Im übrigen ist der Ausdruck the Savage Mind in Goodys Buchtitel eine Anspielung auf „La Pensée sauvage" von Claude Lévi-Strauss. Mit der französischen Ubersetzung von Goodys Arbeit Schloß sich also auch ein französisch-englischfranzösischer ,Titelzirkel'.) 29 In der Heidelberger Diskussion des Vertrags wurde mit Recht daraufhingewiesen, daß es den oralen Menschen nicht gibt. Dazu möchte ich folgendes hinzufügen: Obwohl die Konstruktion ,oraler Mensch' eine hochgradige Idealisierung darstellt, ist sie jedoch - im Gegensatz etwa zum .durchschnittlichen Sprecher* - methodologisch nicht inadäquat. Unter .oralen Menschen' (ohne nähere Kennzeichnung) verstehe ich Menschen, die weder schreiben noch lesen können, keine Schulausbildung gehabt haben und deren Muttersprache überhaupt nicht verschriftet ist

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Sicht unserer Problemstellung scheinen mir dabei zwei miteinander zusammenhängende Charakteristika oralen Denkens von Bedeutung zu sein: (1) „Orale Kulturen besitzen keine vom Schreiben abhängigen analytischen Kategorien, die das Wissen aus der Distanz zur gelebten Erfahrung strukturieren könnten." (Ong 1987,47).

Es ist nämlich die Schrift, die die Unterscheidung zwischen autonom Gegebenem/Formalem und dessen Inhalt/Interpretation erst schafft (das ist die sog. „given-interpretation distinction", vgl. Olson 1991a). (2) „Orale Kulturen pflegen Begriffe in einem situativen, operativen Bezugsrahmen anzuwenden, der wenig abstrakt ist, so daß sie dem Leben der Menschen nahe bleiben." (Ong 1987,54).

Greenfield (1972, 169) spricht vom kontextdependenten Denken der oralen Menschen, das in engem Zusammenhang mit ihrem kontextdependenten Sprechen stehe. Um diese zwei Merkmale oralen Denkens zu veranschaulichen, möchte ich auf drei unabhängige Untersuchungen verweisen: (a) Oralen - genauer: auditiv-taktilen - Menschen gelingt es nicht, einem Film zu folgen (experimentiert wurde mit Eingeborenen von Ghana, s. McLuhan 1995, 48f.). Erstens können sie nicht in die „passive Rolle eines Konsumenten" (ebd., 48) gezwungen werden, sie wollen sich beteiligen. Zweitens erfassen sie die Story eines Films nicht richtig, weil sie als Nichtalphabetisierte auf einen globalen (visuellen) „Systemraum" hin nicht sozialisiert wurden. Sie haben monadenhafte Eindrücke von bestimmten unwesentlichen Szenen, die einem alphabetisch Visualisierten erst gar nicht auffallen. Der Raum, in dem sie leben, ist kein „Systemraum", sondern eher ein (auditiv-taktiler) .Aggregatraum", wie er für nichtzentralperspektivische Darstellungsweisen in der Malerei - etwa für die altägyptische Kunst oder für Cézanne - charakteristisch ist.30 (b) In seinen äußerst erhellenden Experimenten mit nichtliteralisierten Bauern in Rußland hat Lurija (engl. Luria) nachgewiesen, daß diese deduktiver Schlüsse unfähig sind. Z.B. stellte er die folgenden Prämissen zur Diskussion

(die folglich auch keinerlei Kontakt zu .literalen Menschen' ihrer Sprachgemeinschaft haben können, da es ja deren gar keine gibt). Solche ,prototypisch' oralen Fleisch-und-BlutM en sehen gab es und gibt es wohl noch immer ungeachtet der unbestreitbaren Tatsache, daß sie zu verschiedenen Zeiten lebten/leben und daß sie in ganz unterschiedlichen Ländern und Kulturen heimisch waren/sind. Daß es verschiedene Grade/Abstufungen und Ausprägungen der Oralität - von maximaler/,prototypischer' bis hin zur minimalen/residualen Oralität - gibt, kann und soll natürlich nicht in Abrede gestellt werden. 30 Die Begriffe ,Systemraum' und ,Aggregatraum' stammen von dem Kunstwissenschaftler Erwin Panofsky (Koller 1993,21 und 24). Mehr dazu in Abschnitt 4.

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(Luna 1976,108): „Im hohen Norden, wo es Schnee gibt, sind die Bären weiß. Novaja Zemlja liegt im hohen Norden, und dort ist stets Schnee. Welche Farbe haben die Bären?" Eine typische Antwort lautete (ebd., 109): „Ich weiß nicht. Ich habe einen schwarzen Bären gesehen. Andere kenne ich nicht... Jeder Ort hat seine eigenen Tiere [...]." (Auch historisch ist das Aufkommen von Syllogismen an frühe Schriftkulturen gebunden, s. Goody 1987,278f.) (c) In ihrer Studie verglich Patricia M. Greenfield (1972, 172f.) senegalesische Wolofkinder mit und ohne Schulausbildung.,' Die Kinder hatten die Aufgabe, Bilder oder Gegenstände zu sortieren. Dann wurden sie nach dem Grund ihrer Entscheidung befragt. Ausschlaggebend war dabei die Frageformulierung der Versuchsleiterin. Die Frage „Warum sagst (oder meinst) du, daß diese [Bilder/Gegenstände] einander ähnlich sind?" stieß bei den oralen Kindern auf allgemeines Unverständnis, sie reagierten auf sie mit Schweigen. Wenn hingegen gefragt wurde „Warum sind diese [Bilder/Gegenstände] einander ähnlich?", gab es plötzlich keine Kommunikationsschwierigkeiten mehr, diese Art von Frage konnte von den Kindern problemlos beantwortet werden. Greenfield zieht aus diesen und anderen Untersuchungsergebnissen den Schluß, daß orales Denken egozentrisch ist in dem Sinne, daß orale Menschen die eigene Denkperspektive verabsolutieren. Ihnen fehlt das Ichbewußtsein, das notwendig wäre, einerseits um zwischen den eigenen Gedanken und Aussagen über einen Sachverhalt und dem Sachverhalt selbst zu unterscheiden, andererseits um sich in die Perspektive von anderen Personen hineinzuversetzen. Kurz: Greenfield ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die Erlernung der Schrift wesentlich zur Ausbildung des reflexiven Denkens und der persönlichen Identität beitrage, weil durch die Beherrschung der Schrift das perspektivische Sehen, die Begründung persönlicher Standpunkte und die Antizipation anderer Denkpositionen gefördert werde. (Koller 1988, 169; Hervorhebungen von mir - V.Á.) S. hierzu auch Reiss 1986,59-91.

Aus der Sicht unserer Problemstellung enthalten diese Untersuchungsergebnisse eine ganze Reihe wichtiger Hinweise: Orale Menschen wollen nicht und können wohl auch nicht Ereignisse (abstrakt) darstellen, beschreiben, sie wollen und können nur die Ereignisse (konkret) leben. Daraus folgt einerseits, daß sie kein Bedürfnis haben, Informationen über die Welt auf logischem Wege zu gewinnen. Sie stützen sich lieber auf eigene Erfahrungen. Andererseits folgt daraus, daß fur sie das Sprechen im wesentlichen keinen Inhalt hat.35 Es gibt nicht die Ereignisse auf der einen

31 Es gab drei Altersgruppen: 6- bis 7jährige, 8- bis 9jährige und 11- bis 13jährige. 32 Die Einschränkung im wesentlichen ist notwendig, denn einfache Formen des Sprachbewußtseins sind auch bei oralen Sprachgemeinschaften zu beobachten. Die ,orale Metasprache' enthält normalerweise Ausdrücke für .sprechen', .sagen',,fragen', ,Lied' und dergleichen, jedoch

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Seite, auf die auf der anderen Seite mit sprachlichen Zeichen (Formen + Inhalten) referiert wird. Sprechen ist Handeln, eine scharfe Trennung zwischen Sprache und referierter Welt existiert nicht. Da orale Menschen in einem .Aggregatraum" leben und kein Ichbewußtsein im modernen Sinne haben, wird ihnen nicht bewußt, daß ihre Wahrnehmung individuell und daß ihr Denken egozentrisch ist, d.h., daß ihre Wahrnehmung und ihr Denken in perspektivischer Opposition zu der Wahrnehmung und zu dem Denken von anderen stehen." Somit haben sie weder eine persönliche Identität im modernen Sinne noch das Bedürfiiis, individuelle Standpunkte zu thematisieren und zu begründen. Die Verbindung zum Epistemifizierungsproblem scheint mir ganz offensichtlich. Epistemik ist mit Äußerungsbegründung (s. Eroms 1980, 92-97) verbunden, d.h., sie setzt eine Trennung zwischen Proposition und Sachverhalt voraus. Ohne die schriftkulturelle, d.h. alphabetisch-visuelle, Idee eines vom Handlungszusammenhang losgelösten Äußerungsinhalts kann man sich die Herausbildung der Epistemik schlecht vorstellen. Durch die Schrift geraten wir nicht nur in eine größere analytische Distanz zu der Sprache, sondern auch zu dem, was sprachlich objektiviert und mitgeteilt wird. (Koller 1988, 1S6)

Ebenfalls schlecht vorstellbar ist die Herausbildung der Epistemik ohne das Bewußtsein der persönlichen Identität des Sprechers, das ja die Voraussetzung für die Begründung persönlicher Standpunkte darstellt. Bei der Herausbildung der Epistemik müssen die neu erworbene Fertigkeit zur analytischen Distanzhaltung und das neu erworbene Bewußtsein der persönlichen Identität eng .zusammenarbeiten': Ein oraler Mensch würde nie Sätze äußern wie: Er muß ein tapferer Mensch sein, denn er hat neulich zwei Bären erlegt. Er ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein tapferer Mensch, denn er hat neulich zwei Bären erlegt. Eine epistemische Kategorie wie etwa ,evidenzgestützte Notwendigkeit' steht nämlich gar nicht mit der „gelebten Erfahrung" im Zusammenhang, sondern vielmehr - so paradox es auch klingen mag - mit deren .subjektiver Objektivierung', die nur aus der visuell und abstrakt geschulten Distanzhaltung eines Ichbewußtseins möglich ist. Epistemik ist ein gutes Beispiel für die Trennung des Wissenden - des reflektierenden Sprechers - vom Wissensstoff - der „ge-

keine Bezeichnungen etwa für .feststellen', .annehmen', .erklären', .schlußfolgern', .glauben' (Olson 1991b, 262f.). S. auch Anm.34. 33 Der hier verwendete Egozentrismusbegriff hat nichts zu tun mit dem Asozialität assoziierenden Alltagsbegriff, sondern ist im Sinne des Egozentrismusbegriffs der Piaget-Schule zu verstehen. Vgl. hierzu Abschnitt 4.

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lebten Erfahrung" - , wie sie nach Ong (1987, 50f.) in oralen Kulturen undenkbar ist.34 Schließlich: Wer deduktiver Schlüsse nicht fähig ist oder wer sich aus Gründen seiner (auditiv-taktilen) Sozialisierung auf sie nicht einläßt, ist induktiver Schlüsse, die ja für das epistemische Denken unabdingbar sind, erst recht nicht fähig. Dem situativen, operativen, handlungsbezogenen Denken sind logische Verfahren des Denkens, die die Trennung des Wissenden von der gelebten Erfahrung voraussetzen, vollkommen fremd. Daß die Kultur des Mittelalters weitestgehend oral geprägt war, dürfte unumstritten sein." Der Übergang von der Mündlichkeit des Mittelalters zur Schriftlichkeit der Neuzeit wird von der Historikerin Hanna Vollrath sogar als „Kulturbruch" gekennzeichnet (Vollrath 1981, 573).M Daß der mittelalterliche Mensch ein durch und durch oraler Mensch war, braucht demnach nicht besonders betont zu werden." .Ausnahmen' wie Notker von St. Gallen oder Williram von Ebersberg bestätigen mit hoher Wahrscheinlichkeit die Regel, denn es ist anzunehmen, daß die ersten tastenden Anfange der Epistemik in den großen Übersetzungswerken des Mittelalters zu finden sind. Überhaupt liegt die Vermutung nahe, daß es vor allem die Übersetzer aus dem nachplatonischen Griechischen und dem klassischen Latein waren, die mit dem Problem der Epistemik zuerst konfrontiert wurden. Nach der Typographisierung der Alphabetkultur dürfte dann eine breite Schicht von Literalisierten, Verfasser von Fach- und Sachtexten genauso wie Verfasser von Romanen, die Ausbauarbeit geleistet haben.

34 Selbst die Verwendung eines einfachen asseitiven Sprechaktverbs wie to think hängt vom Grad der Literalisiertheit des Sprechers ab. Greenfield (1972, 173) beruft sich auf Arbeiten von Loban und Bernstein, die gezeigt haben, daß performative Obeisätze wie / think von Mittelklassensprechera häufiger benutzt weiden als von Unterklassensprechern (die Daten wurden in Kalifornien und in England gesammelt). Nach Untersuchungen von P. McCormick (zitiert nach Olson 1991a, 157) gibt es im Quechua überhaupt keine indigenen assertiven Sprechaktverben für .glauben', ,denken/meinen' und dergleichen. Bilinguale Quechua-Sprecher benutzen die entsprechenden spanischen Ausdrücke. 35 Deshalb bestehen auffällige Parallelen zwischen den heutigen oralen Kulturen (z.B. in Indien, China, Mittel- und Süd-Amerika, Zentral-Afiika) und der Kultur des europäischen Mittelalters (Carothers 1959, 314; Vollrath 1981,573ff. und 584). 36 Sie spricht von einem Kultur¿>rucA natürlich nicht in dem Sinne, daß der Ubergang von der oral zur literal geprägten Kultur abrupt erfolgt wäre. Vielmehr will sie mit dem Ausdruck darauf hinweisen (und sie argumentiert auch dafür, s. ebd. 575-586), daß Mündlichkeit und Schriftlichkeit derart konstitutiv für Kultur sind, daß sich ihre kulturprägende Wirkung in nahezu allen Bereichen des sozialen Lebens zeigt. 37 Literalisiert waren im Mittelalter die Geistlichen, aber auch sie erlagen immer wieder dem „Sog der mündlichen Kultur" (Vollrath 1981, 589). Beim Adel und bei der städtischen Kaufmannschaft veibeitete sich Lesen und Schreiben sehr langsam seit dem 12.Jh., während die Bauern bis in die Neuzeit schriftlos lebten (ebd., 572).

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Daß der mittelalterliche Mensch ein durch und durch oraler Mensch war, ist aber nicht nur an der fehlenden oder nur rudimentär vorhandenen Epistemik, sondern natürlich auch an anderen Merkmalen seiner Sprache abzulesen. Der zweite Teil meiner indirekt empirischen Argumentation besteht gerade darin, die sukzessive Ablösung der oralen Kultur des Mittelalters auch aus einigen anderen Bereichen der Grammatik zu belegen:3' (1) Schildt (1987, 389) stellt fest, daß es im Vergleich zum 16. Jh. im Hochmittelalter relativ wenig Modalwörter gibt (gemeint sind hier nicht nur die epistemischen Modalwörter). Die insgesamt verhältnismäßig geringe Zahl von Modalwörtern im hochmittelalteilichen Deutsch (läßt sich) möglicherweise daraus erklären, daß sich die Kommunikation im Mittelalter im wesentlichen in mündlicher Form vollzog, so daß neben im Schrifttum sicher vorhandenen Modalwörtern vor allem Gestik, Mimik und Stimmführung die Funktion der Signalisierung von Einstellungen hatten. (Ebd.)

(2) Nach Fleischmann (1973, 318) kann im Mhd. deshalb von keinem formalen, sondern nur von einem rhythmischen Satzgefüge gesprochen werden, weil die Eingliederung des Noch-nicht-Nebensatzes in den Noch-nicht-Hauptsatz in Nachstellung durch die Erstplazierung des HauptsatzSnitums noch nicht erfolgt ist. Rhythmische Äußenmgsfiigung statt formaler Syntax ist nun ein typisches Merkmal oraler Sprache, in der die Syntax von mnemonischen Zwängen bestimmt ist: Ein längerer oral geprägter Gedankengang tendiert sogar dann zu hochgradiger Rhythmisierung, wenn er sich nicht der Versform bedient, denn der Rhythmus unterstützt die Erinnerung, auch physiologisch. (Ong 1987,40)

(3) Die sog. Inversion nach und ( Wir wollen fort und soll die Hasenjagd angehn (Goethe), nach Fleischmann 1973, 291) war vom Ahd. bis ins 17.Jh. genauso normal wie die heute übliche Zweitstellung (Ebert 1986, 103). Im Verlauf des 18. Jhs. kommt sie zunehmend außer Gebrauch, bei Lessing, Schiller und Goethe ist sie nur noch vereinzelt belegt (Behaghel 1932, 31; 33f.). Die bisherigen Erklärungen sind mit einer Ausnahme typisch schriftkulturgeleitet: Behaghel (1932, 31) meinte, und hätte ursprünglich .demgegenüber' bedeutet. Daher stehe das Finitum nach diesem adverbialen und eigentlich gar nicht auf der Erst-, sondern ganz normal auf der Zweitstelle. Ahnlich urteilte nach Fleischmann (1973, 29Iff.) auch Wustmann mit dem Unterschied, daß er als Bedeutung ,und folglich/und dabei' annahm Eine andere Erklärungshypothese bietet sich auf der Basis der Untersuchungsergebnisse 38 Eine Liste von charakteristischen grammatischen Unterschieden zwischen primär oralen und verschriftlichten Sprachen findet sich in Akinnaso 1982, 104-111 und Goody 1987, 263f. (In Anlehnung an Koch/Oesterreicher (1994, 587) benutze ich den Terminus ,verschriftlichen/Verschriftlichung' - im Gegensatz zu ,verschriften/Verschriftung' - im konzeptionellen Sinne.)

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zum Übergang von der Hör- zur Leserezeption an (Betten 1993, 135ff.): Bis ins 16. Jh. überwog die Hörrezeption. Die Ereignisgrandierung (Vordergrund vs. Hintergrund) erfolgte nicht mit Hilfe einer klaren Unterscheidung von Haupt- und Nebensatz, sondern z.B. durch die Einfügung von Konnektoren wie da und und. Nach den Untersuchungen von Claudia Riehl zeigt und in der Periode der Hörrezeption „den Fortbestand der momentanen Grundierung an (Vordergrund oder Hintergrund), während da die Vordergrundkenntnisse kennzeichnet." (Betten ebd., 137f.). Hieraus folgt meine Hypothese: Und ohne Inversion zeigt den Fortbestand der momentanen Grundierung an, und mit Inversion kennzeichnet analog zu da die Vordergrundkenntnisse. Nach dem Übergang zur Leserezeption und der Herausbildung der klaren Hauptsatz/Nebensatz-Unterscheidung kommt es nach einer Zeit der Übergeneralisierung des traditionellen, jedoch funktionslos gewordenen Musters, nach der .Blütezeit' im 17. Jh., zu dessen Untergang. (4) Der orale Sprachstil ist eher additiv als subordinierend (Akinnaso 1982, 104; Goody 1987, 264; Ong 1987, 42-44). Dies hat sicherlich mit dem ausgeprägten Handlungscharakter und der unauflöslichen Situationsverbundenheit oralen Sprechens zu tun. Wie Anne Betten (1987, 87ff.) am Beispiel von Prosaauflösungen mhd. Versdichtungen im 15. Jh. gezeigt hat, wurde die eher additive, durch ,polyseme'3' Satzkonnektoren gekennzeichnete Äußerungsfügung des Mhd. durch eine eher subordinierende, durch eindeutigere und abstraktere Satzkonnektoren gekennzeichnete Syntax in den Prosaauflösungen ersetzt. (5) Ausgliederung von Konjunktionaladverbien und Relativa durch die Aufhebung der (aus der Sicht des Literalisierten konstatierten) Polyfunktionalität von d/s- und w-Konnektoren: Noch im älteren Frnhd. wurden d/s- und w-Konnektoren wie z.B. dafiir, daher, darum und so bzw. weswegen, wofür, wie - ganz im Sinne der Fleischmannschen Auffassung vom rhythmischen Satzgefüge - regelmäßig mit Verbzweit und mit Verbletzt gebraucht (s. Fleischmann 1973, 115-119 mit vollständiger Liste der einschlägigen Konnektoren). Folglich konnten sowohl die d/s- als auch die w-Konnektoren relativisch eingesetzt werden. Die Systemumwandlung ¿¿^-Adverbien vs. w-Relativa findet nach Fleischmann (1973, 142; 204) bis Mitte des 16. Jhs. statt. 39 .Polysemie' stellt eine typische, aber unangemessene Projektion eines literalen Begriffs auf die .orale Semantik' dar. Polysem erscheinen die Sprachzeichen nur dem hypostasierenden Literalisierten. Für den oraler Sprecher hat der jeweilige Satzkonnektor nur in dem jeweiligen konkreten Handlungszusammenhang einen Wert. Und in diesem Handlungszusammenhang ist er eben vollkommen .monosem'.

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Eine derartige ikonische Systemumwandlung ist m.E. ohne eine gewisse Visualisierung der Sprachkultur, genauer: ohne die Phonemisierung des Signifiants infolge der Buchstabenschrift (s. Anm.9), kaum vorstellbar. Man bedarf schon einer Art analytischen Distanz, d.h. hier: des Bewußtseins der Möglichkeit einer analogischen Anordnung von umfangreichen Sprachzeichenklassen, um auf die ,Idee' (im Reichmannschen Sinne) zu kommen, eine funktionale Opposition bei einer ganzen Reihe von Satzkonnektoren durch dieselbe Anlautopposition zu markieren. (6) Hans-Joachim Solms (in diesem Band) argumentiert dafür, daß die Kontextabhängigkeit der Bedeutung von Nominalkomposita seit dem Mhd. zunehmend abnimmt. In diesem Zusammenhang soll an Greenfields Diktum (s. den Anfang dieses Abschnitts) erinnert werden, daß das Denken und Sprechen von oralen Menschen kontextdependent sei. Zum Abschluß der indirekt empirischen Argumentation, aber schon ,außer Konkurrenz', möchte ich noch auf eine weitere Untersuchung aufmerksam machen. In ihr geht es zwar nicht um ein Beispiel für die Ablösung der oralen Kultur des Mittelalters, doch sind die Untersuchungsergebnisse auch aus der Sicht unserer Problemstellung relevant: Jürgen Erich Schmidt (1993) konnte empirisch nachweisen, daß in den letzten ca. ISO Jahren ein subtiler Sprachwandel im Nachfeld der deutschen NP vor sich geht. Bei Sprachteilhabern mit relativ hoher Leseerfahrung findet eine Syntaktifizierung der Reihenfolge der postnominalen Attribute (nach dem Prinzip der monotonen Dependenz) statt, während von Sprachteilhabern mit relativ niedriger Leseerfahrung das NP-Nachfeld weiterhin semantisch interpretiert wird. Hier zeigt sich, daß selbst in relativ stark literalisierten Kulturen mit einem bedeutenden Einfluß residualer oder (sozial bedingter) .wiederkehrender' Oralität gerechnet werden muß. Es war nämlich die kulturelle Spannung gerade zwischen dieser Art von Oralität und der Literalität, die einen Keil in die strukturelle Interpretation des NP-Nachfeldes trieb und somit zu deren Vertikalisiening (.Soziologisierung') führte.

3.

Spekulationen über Kausalkonnektoren und Genitivrückgang

Nicht mehr zum zweiten Teil der indirekt empirischen Argumentation, sondern nur noch in den Bereich der Spekulationen gehört, wenn ich auf zwei weitere

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Grammatikwandelprozesse hinweise, bei denen zu überlegen wäre, ob sie nicht wenigstens zum Teil auf das Konto der Literalisierung gehen: (1) Systemwandel bei den Kausalkonnektoren: Die eingehende Analyse des Sprachwandels im Bereich der Kausalkonnektoren durch Eroms (1980) zeigt überdeutlich, wie ratlos rein systemfunktionale Erklärungsversuche einem vermeintlich zirkulären Grammatikwandel gegenüberstehen. Scheinbar geht es hier nämlich darum, daß das mhd. System mit sowohl parataktischem als auch hypotaktischem wan(de) durch das frnhd. denn/weilSystem abgelöst wurde, um Hann im (gesprochenen) Nhd. zum alten mhd. System mit nunmehr sowohl parataktischem als auch hypotaktischem weil zurückzukehren. Die Sache hat jedoch m.E. nicht nur einen Haken, sondern möglicherweise wenigstens zwei: Rein systemfunktionale Erklärungsversuche rechnen (a) weder mit den oralen Grundzügen des .abzulösenden' (mhd.) Systems (b) noch mit der zunehmenden Literalisierung des .ablösenden' (frnhd.) Systems. Zu (a): Das Wesen des Übergangs vom mhd. zum frnhd. System besteht nicht darin, daß die vorhandene Parataxe/Hypotaxe-Opposition zusätzlich zur Wortstellung auch noch durch die redundante Opposition zweier Satzkonnektoren abgesichert wurde. Wenn man nämlich davon ausgeht, daß der nachmittelalterliche „Kulturbruch" auch hier seine Wirkung zeigt, so liegt es nahe, eher das Umgekehrte anzunehmen: Im Mhd. gab es gar keine durch die Wortstellung systemhaft markierte Parataxe/Hypotaxe-Opposition (Stichwort: rhythmisches Satzgefüge). Die Einführung des dennAveil-Systems könnte gerade ein Anfang gewesen sein, unter dem Druck der zunehmenden Literalisierung den Versuch zu unternehmen, eine solche Opposition aufzubauen. Somit wäre das dennAveil-System gar keine unerklärliche Hypermarkierung einer bestehenden Opposition, sondern vielmehr stellte es einen der ersten Schritte in dem langen und bis heute andauernden (schriftsprachlichen) Prozeß zur strukturellen Trennung zwischen Haupt- und Nebensatz dar (zu den Einzelheiten dieses Prozesses s. Ágel 1999). Zu (b): Das neue denn/weil-System fügt sich in den Epistemifizierungsprozeß: Die relativ deutliche Trennung zwischen der Markierung der Äußerungsbegründung (denn) und der Markierung der Sachverhaltsbegründung (weil) stellt eine Etappe in der Grammatikalisierung der Epistemik dar. Es ist aufgrund des Charakters oralen Denkens und Sprechens zu vermuten (wäre aber noch an Texten zu überprüfen), daß es zur Zeit des mhd. wa/i(ife)-Systems keine grammatikalisierte, d.h. hier: wortstellungsgesteuerte, Möglichkeit gab, eine

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(eventuelle) Äußerungsbegründung durch wan(de) anders als eine (eventuelle) Sachverhaltsbegründung durch wan(de) zu markieren. (2) Rückgang des Objektsgenitivs: Es gibt zwar eine Reihe von vielversprechenden neuen Erklärungsansätzen zum ab dem 15.Jh. relativ abrupt und massiv einsetzenden Genitivschwund (z.B. Donhauser 1990; Leiss 1991; Schrodt 1992), doch sind diese alle ,entsoziologisiert' in dem Sinne, daß sie stillschweigend davon ausgehen, daß der gleiche Systembegriff auf das Ahd./Mhd. und das Frnhd./Nhd. applizierbar ist. Anders formuliert: Sie wenden unsere literale Idee vom System auch auf das eher orale Ahd./Mhd. an. Meinen Spekulationen über den Genitivrückgang sollen folgende Gedanken von Walter J. Ong vorausgeschickt werden: Das Sehen isoliert, das Hören bezieht ein. [...] Im Gegensatz zum Sehen, dem zergliedernden Sinn, ist [...] das Hören ein vereinender Sinn. Ein typisches visuelles Ideal ist Schärfe und Deutlichkeit, die Zerlegbarkeit. [...] Das auditive Ideal dagegen ist Harmonie, das Zusammenfügen. (Ong 1987,75)

Ich möchte nun folgende Hypothese aufstellen (die, falls sie empirisch unterstützt werden könnte, die bisherigen Erklärungsversuche nicht ersetzen, sondern ergänzen würde): Die Literalisierung geht mit der Objektivierung und Syntaktifîzierung der Relationen zwischen Verb und Kasusformen durch zunehmende Abkoppelung der Kasus- von den Verbbedeutungen einher. In Sätzen des Typs Ich pflege dein/Ich vergesse dein nie wird das orale Ideal der Harmonie und des Zusammenfügens durch die liebevolle - ich würde, wenn es kein literaler Begriff wäre, sagen: semantische - Zuwendung der Kasusform zur Verbbedeutung noch miterzeugt. Die Visualisierung durch Literalisierung verlangt nach einer neuen, .abstrakteren' Relation zwischen Verb und Kasusform, die eher mit der prototypischen Kategorie der Transitivität (Hopper/Thompson 1980) beschrieben werden kann: Falls mit dem betreffenden Verb stärker transitive Sätze gebildet werden sollen und können, weicht der Genitiv dem Akkusativ, falls schwächer transitive, weicht er einer PP. In oralen Kulturen haben Kasusformen noch eine Art eigenen Handlungsgehalt (.Bedeutung'), in literalen eher nur noch abstrakte Funktionen.40 40 Die Syntaktifîzierung der Relationen zwischen Verb und Kasusformen beschränkt sich natürlich nicht auf den Genitiv. In der intensivsten Phase der Verschriftlichung des Deutschen, in der Zeit zwischen dem 16. und 18. Jh., vollzog sich der Prozeß der Generalisierung der Subjektskodierung (z.B. mich friert > ich friere), der eine zunehmende Loslösung von grammatischer Funktion (Subjekt) und semantischer Rolle (Agens) bewirkte (s. hierzu Ágel 1999). Die Grammatikalisierung der Subjektfunktion scheint mir ein paradigmatisches Beispiel für eine fortgeschrittene (=typographisch bereits massiv unterstützte) Deoralisiemng einer Varietät zu sein.

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4.

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Die ,Macht' der Alphabetkultur

Jeder, der von einer (relativ) neuen/ungewöhnlichen Idee fasziniert (oder gar besessen) ist, neigt dazu, überall sichere Anzeichen der Bestätigung dieser Idee zu erblicken. Der Kognitivist sieht überall Universalien, der Kulturüberzeugte überall Kulturbezüge. Um einer derartigen Einseitigkeit möglichst vorzubeugen, habe ich im vorliegenden Aufsatz den Versuch unternommen, das Universale mit dem Kulturellen zu verbinden und dabei möglichst empirisch zu argumentieren (bzw. das Nichtempirische des 3. Abschnitts gegenüber dem Empirischen des 2. - auch sprachlich (Spekulationen) - deutlich abzuheben). Die Grundidee dieses Aufsatzes läßt sich am einfachsten - freilich auch etwas vereinfacht - in der Begrifflichkeit Bühlers formulieren: Die Ablösimg der oralen und die Herausbildung der literalen Kultur bedeuten, daß der Mensch nunmehr nicht nur Sprechhandlungen vollzieht, sondern auch Sprachwerke schafft," und daß diese Sprachwerke über grammatische (und sonstige sprachliche) Merkmale verfügen, über die Sprechhandlungen nicht verfügen (und vice versa). Wird nun aber durch die Anbindung des Bühlerschen Begriffs des Sprachwerkes an die Literalität der Alphabetkultur nicht zuviel,Macht' eingeräumt? Ich denke kaum, sondern bin vielmehr davon überzeugt, daß wir den Einfluß der Literalität auf unser Denken immer noch stark unterschätzen. Zum Schluß soll daher auf vier voneinander scheinbar vollkommen unabhängige Typen von „Kulturbrüchen" hingewiesen werden, die sich bei näherem Hinsehen vielleicht als .Variationen auf desselbe - nämlich auf unser - Thema' erweisen. Diese Beispiele sollen eventuelle weiterbestehende Bedenken, daß Grammatik und Oralität/Literalität methodisch sinnvoll aufeinander bezogen werden könnten, abbauen helfen, indem sie zeigen, wie unerwartet ausgedehnt und vielfältig die Einflußzone von Oralität/Literalität sein kann. (1) Weltbild: Es ist auffallend, daß sich das ptolemäische (geozentrische) Weltsystem bis zur Renaissance (Kopernikus, 1473-1543) hält, obwohl die Grundzüge eines heliozentrischen Weltsystems bereits 265 v.u.Z. (von Aristarchos, 310-230) ausgearbeitet wurden. Ist das kirchliche Dogma Erklärung genug hierfür oder muß auch die Erklärung erklärt werden?

41 „Das Sprachwerk als solches will entbunden aus dem Standort im individuellen Leben und Erleben seines Erzeugers betrachtbar und betrachtet sein." (Bühler 1934, 53f.). Zur Interpretation des Bühlerschen Modells im Spannungsfeld von Oralität und Literalität s. auch Raíble 1994,4ff.

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Walter J. Ongs Charakterisierung des oralen .Weltbildes' legt nahe, daß sich orale Menschen schlecht mit der Vorstellung anfreunden könnten, daß „der Nabel der Welt" außerhalb ihres eigenen Erfahrungsbereichs liegt: In einer primär oralen Kultur existiert das Wort nur als Klang. Die zentrierende Kraft des Klanges (das Klangfeld wird nicht vor mir ausgebreitet, sondern umgibt mich überall) beeinflußt das menschliche Weltbild. Orale Kulturen stellen sich den Kosmos als ein fortlaufendes Ereignis mit dem Menschen als Mittelpunkt vor. Der Mensch ist der umbilicus mundi, der Nabel der Welt [...]. (Ong 1987,76)

Es ist wohl auch kein Zufall, daß die erste Ausarbeitung des heliozentrischen Weltsystems durch Aristarchos in die nachplatonische Zeit des bereits stark literalisierten antiken Griechenland fallt (s. hierzu Havelock 1963). Bahnbrechende wissenschaftliche Innovatonen müssen eben auch kulturhistorisch interpretiert werden.42 (2) Bildende Kunst: Die sog. aspektivische Darstellungsweise (Prototyp: altägyptische Malerei) wird in der Renaissance durch die zentralperspektivische (prototypischer Vertreter in Deutschland: Dürer) abgelöst. Die beiden Darstellungsweisen können wie folgt charakterisiert werden: Die aspektivische Objektivationsweise denkt prinzipiell ganz von den darzustellenden Dingen her bzw. von dem Wissen, das über die jeweiligen Dinge vorliegt. Vernachlässigt wird darüber die Raumdarstellung bzw. die Einbettung der Dinge in die spezifische räumliche Konstellation, die sich für die Subjekte von einem bestimmten Sehepunkt ergibt. (Koller 1993,20)

Der Raum der aspektivisch dargestellten Bilder ist nach Panofsky ein .Aggregatraum", weil die Raumdarstellung eigentlich ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt der Darstellung der Dinge sei, die mehr oder weniger additiv nebeneinander gestellt würden (ebd., 21). Die zentralperspektivische Darstellungsweise der Renaissance versucht nun ausdrücklich, sehbildgetreue Bilder herzustellen, wobei sie ausdrücklich auf geometrische und optische Gesetze Bezug nimmt. (Ebd., 23)

Den zentralperspektivisch dargestellten Raum bezeichnet Panofsky als einen „Systemraum". Typisch für den Systemraum sei, daß nun die dargestellten Dinge zu einer Funktion des Raumes würden bzw. zu einer Funktion des Sehepunktes, den das wahrnehmende Subjekt einge-

42 Warum ist manch ein Kognitivist immer noch fest überzeugt davon, daß das menschliche Gehirn talsächlich wie ein Computer arbeitet? Wohl nur deshalb, weil er die recht abwechslungsreiche Kulturgeschichte der gehirnbezogenen Metaphorik - vom Katapult (Griechen) über die Mühle (Leibniz) und das Telegrafensystem (Sherrington) bis hin zur Telefonschaltzentrale (Vorkriegszeit) - nicht kennt. Leider braucht man kein Prophet zu sein, um vorauszusagen, daß es in SO, 100 oder ISO Jahren neue Generationen von Wissenschaftlern geben wird, die fest davon überzeugt sein werden, daß das menschliche Gehirn tatsächlich wie χ (x = aktuelle technische Innovation) arbeitet.

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nommen habe. Auf diese Weise komme es zu einer .Objektivierung des Subjektiven' [...]. (Ebd., 24)

Die entscheidenden Merkmale der aspektivischen Darstellungsweise sind demnach objektorientiert (kein persönlicher Standpunkt) und synthetisch (harmonisch, zusammenfugend), die der zentralperspektivischen Darstellungsweise subjektorientiert (persönlicher Standpunkt) und analytisch (zergliedernd, scharf und deutlich). Dieser Gegenüberstellung ist unschwer zu entnehmen, daß die aspektivische Darstellungsweise genau die Merkmale einer oralen, die zentralperspektivische genau die Merkmale einer visuell-literalen Kultur aufweist (s. insbesondere Greenfields in Abschnitt 2.5 und Ongs in Abschnitt 3 zitierte Aussagen). (3) Psycho- und Kulturgenese: Nach Piaget vollzieht sich in der kognitiven Entwicklung des Kindes ab etwa dem 7. Lebensjahr eine Art .Kopernikanische Wende' (angesichts der Verbindung zu (1) ist der Ausdruck Kopernikanische Wende fast keine Metapher!), die die sog. Stufe der konkreten Operationen (das dritte große Entwicklungsstadium der Herausbildung der Intelligenz nach Piaget) einleitet. Dabei geht es darum, daß das siebenjährige Kind sich von seinem sozialen und intellektuellen Egozentrismus zu lösen beginnt und mithin zu neuartigen Koordinationen fähig wird, die sowohl für den Verstand als auch für das Gefühl die größte Bedeutung erlangen werden. Was den ersteren betrifft, so geht es eigentlich um die Anfänge der Logik selbst: Die Logik stellt eben jenes System von Zusammenhängen dar, das die Koordination von Gesichtspunkten ermöglicht, und zwar von Gesichtspunkten verschiedener Individuen ebenso wie von solchen, die aufeinanderfolgenden Wahrnehmungen oder Intuitionen ein und desselben Individuums entsprechen. Was das Gefühlsleben anbelangt, so erbringt dasselbe System sozialer und individueller Koordinationen eine Moral der Kooperation und der persönlichen Autonomie im Gegensatz zur intuitiven, heteronomen Moral der Kleinkinder. (Piaget 1974, 185f.)

Was um das 7. Lebensjahr herum passieren soll, ist also die sukzessive Auflösung des kleinkindlichen Egozentrismus, der darin wurzelt, daß das Kind noch kein ,Gefühl' fur die inhärente Perspektivität des Wahrnehmens und des Denkens entwickelt hat. „Das Kind nimmt unbewußt an, daß alle Erfahrung identisch ist und vom anderen geteilt wird." (Szagun 1993, 244) Es assimiliert die .Außenwelt vom Standpunkt eines Ichs, das sich seiner selbst wenig bewußt ist." (Ebd., 250) (Zur Erläuterung und kritischen Diskussion des Egozentrismusbegriffs von Piaget s. ebd., 242-249.) Was ist nun die Erklärung fiir die .Kopernikanische Wende' in der Psychogenese des Kindes? Überraschend (oder nicht mehr?) sind zunächst einmal die auffälligen Parallelen zum einen zwischen den Merkmalen von Oralität, aspektivischer Darstellungsweise in der Bildkunst und dem Egozentrismus des präoperationellen Kindes, zum anderen zwischen denen von Literalität, zentralperspektivischer

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Darstellungsweise und dem Plurizentrismus des operationellen Kindes. Diese Merkmalsparallelen können jedoch kaum zufällig sein: (a) Die Auflösung des Egozentrismus fällt zeitlich mit dem Erlernen des Alphabets und der Schrift zusammen. (b) Piaget und seine Mitarbeiter experimentierten mit Kindern aus literalen Kulturen. (c) Kleinkinder malen ,altägyptisch', d.h., ihre Raumdarstellung entspricht der der aspektivischen Darstellungsweise in der Bildkunst (Koller 1993,20). (d) Das präoperationelle Kind scheint sprachlich zwischen sog. icA-Fakten (= nur der Sprecher hat etwas wahrgenommen/erfahren) und sog. vw'r-Fakten (= Sprecher und Hörer haben gemeinsame Kenntnis von etwas) nicht unterscheiden zu können. Weydt und Hentschel (1981,331-335) konnten am Beispiel der Modalpartikeln aber und vielleicht experimentell nachweisen, daß sich die Fertigkeit, das Wissen des Gesprächspartners zu antizipieren und mit zu berücksichtigen, zwischen 7 und 11 Jahren herausbildet. Die Autoren bringen diese sprachliche Entwicklung explizit mit der Aufgabe der egozentrischen Perspektive des Kleinkindes im Sinne von Piaget in Verbindung (ebd., 335). (e) Ein (primär) oraler Erwachsener entspricht - scheinbar kognitiv, in Wirklichkeit jedoch soziokulturell - in etwa einem vorliteralen (egozentrischen) Kind von 7-8 Jahren (Carothers 1959, 316f.; Scholes/Willis 1991, 228). Hallpike (1986, 52) kommt zu dem Schluß, daß die kollektiven Vorstellungen primitiver Gesellschaften üblicherweise den Kriterien des präoperativen Denkens entsprechen und daß [...] ein beträchtlicher Prozentsatz der Individuen solcher Gesellschaften die Stufe der konkreten Operationen nicht zu erreichen scheint.

M.a.W. endet die Psychogenese von oralen Menschen zwar wohl nicht mit der (von Piaget) sog. präoperationellen Stufe der Herausbildung der Intelligenz, sehr wohl aber ihre Kulturgenese. Die Fähigkeit der Manipulation mit abstrakten Symbolen (wie z.B. mit Zahlen) ist also psychogenetisch, die Fertigkeit der Manipulation mit abstrakten Symbolen ist kulturgenetisch untrennbar verbunden mit der Literalität (s. auch Goody 1977, 12 und ders. 1987, 277f.). Beispielsweise verfugt das von Goody untersuchte LoDagaa (Nord-Ghana) zwar über ein abstraktes Zahlensystem, die Sprecher zählen jedoch - ähnlich den Kindern - an Gegenständen wie z.B. an Muscheln (ebd., 13).43 Es gibt aber 43 Das Vorhandensein von abstrakten Zahlenbegriffen in eineroralen Sprache bedeutet jedoch nicht, daß in oralen Kulturen Zahlen als logische Klassen aufgefaßt werden würden (Hallpike 1986,284).

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auch orale Sprachen, die nur über ein rudimentäres Zahlensystem verfügen. Beispielsweise soll es im Xhosa, einer der bedeutenden Bantu-Sprachen, nur die Numeralia-Entsprechungen für eins, zwei, drei und vier geben. Die übrige Pluralität wird mit viel bezeichnet (Auroux 1996,345).*· (4) Sprachreflexion: Das Aufkommen der Sprachreflexion ist an die Schrift, das Aufkommen der analytisch-formalisierenden, mit Tabellen, Paradigmen (und später mit Strukturbäumen) arbeitenden Sprachreflexion an die phonetische Schrift gebunden (Auroux 1996, 60-65). Die Schrift objektiviert das Sprechen in dem wörtlichen Sinne des Wortes, daß sie es zum Untersuchungsobjekt, zu einem scheinbar objektiv beobachtbaren Ensemble von Formen macht. Somit transformiert die Schrift das „savoir épilinguistique" des oralen Menschen in ein „savoir métalinguistique" (ebd., 6 If.). La naissance des sciences du langage est le passage d'un savoir épilinguistique à un savoir métalinguistique."(Ebd., 61)

Der Höhepunkt der Durchliteralisierung der Sprachreflexion in Deutschland fallt zeitlich mit der Endphase der Herausbildung der Schriftsprache zusammen. Dies ist gewiß kein Zufall. Das rationalistische Deutlichkeitskonzept (bzw. Eineindeutigkeitskonzept) eines möglichst ungebrochenen Entsprechungsverhältnisses zwischen Sachen/Sachverhalten, Gedanken und Sprachzeichen (s. vor allem Reichmann 1992 und 1996) stellt nämlich die paradigmatische (= extreme) Umsetzung des (metalinguistisch-)visuellen Ideals der „Schärfe", „Deutlichkeit" und „Zerlegbarkeit" dar (Ong 1987, 75). Die von den Aufklärern abgewertete Synonymie und Polysemie sind in oralen Gesellschaften notwendige Bestandteile der Alltagskommunikation, die sich nicht an Formen, sondern an .Inhalten' orientiert, da das epilinguistische Wissen keine Formen kennt und da die wortwörtliche Wiedergabe einer Geschichte mnemotechnisch ohnehin nicht möglich wäre (Auroux 1996, 55). Hingegen stellen Synonymie und Polysemie (bzw. Homonymie) für die sich an Formen, am .Wortlaut', orientierenden literalisierten Aufklärer Hindemisse für den adäquaten Ausdruck von Gedanken dar. Die rationalistische Formorientiertheit und das Prestige des Deutlichkeitsideals setzen sich in der strukturalistischen Linguistik des 20. Jhs. ungebrochen fort (Auroux 1996, 77; Reichmann 1996, 27). Dies ist wohl auch die Erklärung für eines der auffälligsten Paradoxa in 44 Um Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen, daß orale Menschen abstrakten Denkens sehr wohl fähig sind (s. in diesem Sinne auch Goody 1977, 13). Von ihrer kognitiven Potenz her sind also orale Menschen gerade nicht vergleichbar mit Kleinkindern. Ihnen fehlen nur das .kulturelle Werkzeug', an dem das abstrakte Denken geschult werden könnte, bzw. die mit diesem .Werkzeug' verbundenen kulturellen Motivationen/Verpflichtungen, abstrakt zu denken.

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der modernen Linguistik (mit „a group of human beings who..." sind die Linguisten gemeint): It is strange that a group of human beings who probably spend more time reading and writing than they do speaking and listening, have been so oblivious to the social and psychological implications of their craft. (Goody 1987,261)

Was zu den Punkten (1) - (4) gesagt wurde, kann gewiß nicht einmal eine indirekt empirische Argumentation genannt werden. Es sind aber auch mehr als Spekulationen. Es handelt sich um Wahrscheinlichkeiten, genauer: um epistemische Möglichkeiten, von deren Perspektive aus die indirekt empirische Argumentation des 2. bzw. die theoretischen Überlegungen des 1. Abschnitts vielleicht gar nicht mehr so gewagt, sondern geradezu langweilig erscheinen. M.a.W.: Die Behauptungen, daß Grammatik eine literale Idee ist bzw. daß die Kulturgeschichte nicht nur auf die Lexik, sondern auch auf die Grammatik Einfluß nimmt, sollten zu Topoi werden. Denn auch wenn der Leser in manch einem Punkt der von mir unterstellten ,Macht' der Literalität skeptisch gegenübersteht, wird er die perspektivische Relevanz des Problems .Grammatik und Kulturgeschichte' fur die Grammatiktheorie, Sprachtheorie und Sprachphilosophie bzw. für eine Reihe von sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen von der Allgemeinen Sprachwissenschaft über die Sprachgeschichtsforschung (inkl. der Theorien des Sprachwandels!) bis hin zur Dialektologie und Soziolinguistik wohl nicht abstreiten wollen. Obwohl der letzte Satz als Schlußwort geeignet gewesen wäre, müssen die Schlußgedanken derjenigen Implikation gewidmet werden, die den gesamten Aufsatz bestimmt (und die auch die Heidelberger Diskussion des Vortrage beherrscht hat): Wird hier nicht eine geschichtliche Höherentwicklung und somit eine Zwei-Klassen-Menschheit konstruiert? Impliziert meine Argumentation nicht, daß Literalität eine höhere Kulturform darstelle als Oralität und daß demnach orale Menschen weniger zivilisiert oder 'wilder1 seien als literalisierte? Thesenartig soll hierzu Folgendes gesagt werden: (1) Von einer Höherentwicklung könnte nur dann sinnvoll gesprochen werden, wenn die historisch jüngere gegenüber der historisch älteren Kulturform ausschließlich Vorteile hätte. Dies ist gewiß nicht der Fall, dazu zwei Beispiele: (a) In der Fachliteratur zur Oralität/Literalität ist man sich einig, daß Literalität zum Gleichgewichtsverlust der Sinne führt (der Gesichtssinn beginnt die anderen Sinne zu dominieren und läßt diese langsam verkümmern);

Grammatik und Kulturgeschichte

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(b) In der Fachliteratur zur Oralität/Literalität ist man sich einig, daß orale Menschen unglaublicher Gedächtnisleistungen fähig sind (von denen literalisierte nur träumen können). Was nun den (wertenden) Vergleich von Sprachmerkmalen von (primär) oralen Sprachen mit denen von Schriftsprachen anbelangt, so wäre ein solcher Vergleich nicht nur unsinnig, sondern methodisch auch absurd: (a) Man müßte Tausende und aber Tausende von Sprachmerkmalen vergleichen, einzeln als Vorteil/Nachteil klassifizieren und miteinander verrechnen. (Somit käme diesem Vorteil allein selbst dann keine Bedeutung zu, wenn man annähme - was in der Heidelberger Diskussion angeklungen war - , daß die Epistemifizierung eine kulturelle Errungenschaft darstelle.); (b) Es gibt keine oral/literal neutralen Kriterien für +/-Vorteilhaftigkeit. Die Kriterienraster, die wir anwenden könnten, wären also notwendigerweise literal geprägt. (Epistemifizierung stellt daher nur aus der Perspektive manch eines Literalisierten eine kulturelle Errungenschaft dar. Oder erlebt das präoperationelle Kind das Fehlen bzw. das nur rudimentäre Vorhandensein von Modalisationsformen in seiner Sprache etwa als ein kulturelles Defizit?) (2) Von einer Zwei-Klassen-Menschheit (in geschichtlicher oder synchroner Perspektive) könnte nur dann sinnvoll gesprochen werden, wenn orale Menschen (biologische) Eigenschaften und (kognitive) Fähigkeiten hätten, die eine Literalisierung verhinderten, wenn also orale Menschen von ihren biologischkognitiven Potenzen her ,wild' wären. Dies zu behaupten, würde aber den Tatsachen widersprechen (man denke nur an die senegalesischen Wolofkinder). Würden wir behaupten, daß orale Menschen mangels einer erlernbaren, aber nicht erlernten Fertigkeit (die ihrerseits den Erwerb weiterer Fertigkeiten ermöglicht) .wilder' seien als literalisierte, müßten wir femer dieses Denkmuster folgerichtig auf alles Analoge ausdehnen: Wer kein Auto fahren kann, ist .wilder' als der, der es kann; wer nicht stricken kann, ist .wilder' als der, der es kann; wer sich im Internet nicht auskennt, ist .wilder' als der, der es kann... eine Welt voller Savage Minds, deren Domestizierung noch aussteht.

5.

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Grammatik und Kulturgeschichte

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Hans-Joachim Solms (Halle/Saale)

Der Gebrauch uneigentlicher Substantivkomposita im Mittel- und Frühneuhochdeutschen als Indikator kultureller Veränderung

0. 1. 1.1 1.2 2.

Vorbemerkung Sprachwandel als Indikator fur Kulturwandel Lexikalisch-semantischer Wandel Formal-struktureller Wandel Bildung und Gebrauch von Substantivkomposita im Mittel- und Frühneuhochdeutschen 2.1 Quantitative Veränderung des Substantivkompositumgebrauchs 2.2 Komposition und Attribuierung bei Luther 3. Kulturinterpretatorische Wertung zunehmender Komposition 4. Literatur

0. Vorbemerkung Gegenstand der kleinen Studie ist der Versuch, einige Beobachtungen zur Statistik der Substantivkomposition im Mittel- und Frühneuhochdeutschen auf eine darin aufscheinende kulturgeschichtliche Dimension hin zu befragen.

1

Für den vorliegenden, im Oktober 1997 abgeschlossenen Beitrag konnten zwischenzeitlich publizierte, einschlägige Forschungsergebnisse des MPI ,Neurolinguistik' (Nijmegen) nicht mehr berücksichtigt werden. Der im vorliegenden Beitrag formulierte und aus der Analyse empirischer Sprachdaten gewonnene Ansatz einer Beziehung von Sprachstruktur und Wahrnehmung scheint durch neuere neurolinguistische Untersuchungen gestützt zu werden (vgl. Pederson/Levinson (1998). Semantic Typology and Spatial Conceptualization. In: Language 74, Nr. 3).

226

Hans-Joachim Solms

Damit rückt zugleich ein formales und strukturbildendes Merkmal der Sprache in den Mittelpunkt des Interesses, semantische Aspekte bleiben unberührt.

1. Sprachwandel als Indikator für Kulturwandel Mit den Begriffen .Sprache' und .Kultur' sind im Zusammenhang einer klassifizierenden Phänomenologie von ,Welt' zwei Konzepte benannt, deren wechselseitige Bezogenheit seit jeher ein besonderes Interesse gefunden hat und Gegenstand zahlloser Arbeiten geworden ist (vgl. Gipper 1984, 8). Von der grundsätzlichen Bestimmung ausgehend, „daß jede sprachliche Wandlung nicht einfacher Naturvorgang, sondern der sprachliche Reflex einer Kulturströmung sei"2, geht es dabei zumeist um den Versuch, mittels der empirisch zugänglichen Sprache und ihrer Veränderung zu einer adäquaten „Erkenntnis des Ganges der Kulturentwicklung" oder -Veränderung zu gelangen3. Solchen explanativen Versuchen ist jedoch stets die Klärung der Frage vorausgesetzt, „von welcher [konkreten] Art denn der hierbei angenommene Zusammenhang [zwischen Kultur und Sprache] sei, mit welchem Recht und mit welchem Grad an Sicherheit man von dem einen Bereich aus Schlüsse auf den anderen ziehen könne" (Weisgerber 1934, 104). Die Antwort darauf liegt im jeweils zugrunde gelegten Kulturbegriff selbst, die angewandte Methode ist stets deduktiv: Aus dem gewählten Kulturbegriff werden Funktion und Stellenwert von Sprache für Kultur deduzierbar; im jeweils nächsten Schritt wird dann versucht, die deduzierte Beziehung auch empirisch zu erweisen. 1.1 Lexikalisch-semantischer Wandel Ganz unabhängig von der Schwierigkeit, den hinsichtlich des konstatierten „Verlusts aller theoretischen Konturen" (Geertz 1987, 9) sowie auch hinsicht2 Konrad Burdach, Die Wissenschaft von deutscher Sprache. Berlin/Leipzig 1934, 126, zit. nach Heibig 1974,26. 3 Weisgerber 1934, 104. Es ist grundsätzlich problematisch, im diachronen Zugriff auf Sprache und Kultur generell von .Entwicklung' zu sprechen. .Entwicklung' bezeichnet gerade nicht ein nur chronologisches, sondern qualitatives Voranschreiten von einer auf die nächste Stufe: Wenn .entwickeln' durch .entfalten' (vgl. DWB, s.v.) bzw. ,sich stufenweise herausbilden' (Duden-Brockhaus, Deutsches Wörterbuch, s.v.) semantisch paraphrasiert wird, dann ist darin der Aspekt der Vervollkommnung evident. In der Regel liegt dahinter die Vorstellung einer Teleologie, die das jeweils im Jetzt und Heute Erreichte als Zielpunkt historischer Veränderung begreift (für einen knappen Übelblick über Entwicklungskonzepte insbesondere seit dem 18. Jh. vgl. Prechtl/Burkaid 1996, 128). Insofern ist es angemessener, statt von Entwicklung nurmehr von .Veränderung' zu reden (vgl. auch Schildt 1983,35).

Der Gebrauch uneigentlicher Substantivkomposita

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lieh seines inflationären Gebrauchs (vgl. Hannerz 1993) weitgehend diffus gewordenen Kulturbegriff konkret zu fassen, ist evident, daß .Kultur'4 als das übergeordnete Konzept zu gelten hat; in einer Art sektionaler Differenzierung wird ihr die Sprache unter- bzw. zugeordnet. Schon nicht mehr evident und also die Formulierung eines Standpunktes ist die Annahme, daß die Hervorbringung, Sicherung und Tradierung von Kultur zu einem wesentlichen Teil an Sprache gebunden ist, so daß diese zugleich als eine spezifische Bedingung von Kultur erscheint5. Die Annahme einer solch eigentümlichen Wechselbeziehung zwischen Kultur und Sprache sowie die Ablehnung einer „Uberbetonung der äußeren Sprachform" (Heibig 1974, 29) hat in der Sprachwissenschaft dieses Jahrhunderts zu einer Fokussierung des ,Sprachinhalts' geführt, über den einerseits die Beziehung insbesondere zur materiellen oder Sachkultur hergestellt wird (vgl. Weisgeiber 1934, 103), der andererseits auch selbst erst durch Berücksichtigung der kulturellen Dimension angemessen erfaßt werden kann. Im onomasiologischen Zugriff der .Wörter und SachenForschung', bei dem nach der lexikalischen Versprachlichung von Sachverhalten gefragt wird, ist Sprachgeschichte explizit als Kulturgeschichte verstanden worden (vgl. Heibig 1974, 29). In diesen Kontext einer Rückbindung von Sprache in den Bereich der materiellen oder Sachkultur gehört jeder Versuch, Wort- und Wortschatzgeschichten im Zusammenhang kulturgeschichtlicher Erscheinungen zu werten'. Es sind somit die Wörter, die gemeinhin zum empirischen .Prüffeld' für den allgemeinen und theoretisch formulierten Zusammenhang von Sprache und Kultur werden (vgl. Schild 1983, 29): Einzelwörter oder Gruppen von Wörtern, die aufgrund gemeinsamer semantischer Merkmale zusammengeordnet sind. Entsprechend dieser bedeutungsbezogenen, sprachinhaltlichen Sicht liegen für Gipper (1984, 12f.) schon „in den Bezeichnungsmotiven des normalen Wortschatzes [...] Beweise" der sprachlichen Wirkung des Zusammenhangs von Kultur und Sprache „für jeden vor, der Ohren hat zu hören". Gipper sieht Sprache und Kultur in einem eindeutigen 4 Hier verstanden im weitesten und als Komplementärbegriff zu .Natur' verstandenen Sinne all dessen, „was der Mensch selbstgestaltend hervorbringt" (Prechtl/Burkard 1996, 279; vgl. auch Hansen 1995, 17). 5 Statt einer relationalen Bezogenheit nahm die historisch-materialistische Sprach- und Kulturwissenschaft eine nur eindimensionale Bezogenheit von Sprache und Kultur an. In der „Entwicklung [...] der Kultur4', der „Hebung des Kulturniveaus der Bevölkerung" wurde die Ursache für zahlreiche Veränderungen der Sprache gesehen (Serébrennikow 1973,36If.). 6 Bezogen auf die Wortbildung wäre hier z.B. die Entwicklung der -leren-Verben im Hochmittelalter zu nennen (z.B. .buhurdieren' im König Rother, .tjostieren' oder ,baizieren' in Veldekes .Eneit', vgl. Prell/Schebben-Schmidt 1996,33f.), die Indiz fur die Adaptation insbesondere der höfischen Kultur aus Frankreich sind; ein weiteres Beispiel wäre der bis zum 16. Jh. vollzogene Untergang der auf dem Rechtsverhältnis der alten Markgenossenschaft beruhenden Kollektivbildung .Gebauer' (ahd. ,gibûr' = .Mitbewohner, Bauer'), der Ergebnis und Indiz „der veränderten Organsiationsform der Landwirtschaft" ist (Huber 1976,44).

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Voraussetzungsverhältnis. Da Kultur als der „ständige Prozeß materiellen und geistigen Schaffens" nie planlos ist, da Planung im Denken stattfindet, da alles Denken unabdingbar an Sprache gebunden ist, ist Sprache somit die „Bedingung der Möglichkeit allen Planens und sinnvollen Handelns" (Gipper 1984, 11). Dabei ist jedoch Kultur mehr und anderes als nur ein wertneutral zu bestimmender .Prozeß materiellen und geistigen Schaffens'. Indem Kultur zugleich auch ethisch positiv gewertet wird, liegt hier ein .substantieller' Kulturbegriff vor, bei dem Kultur „selbst zu einer übergeordneten Größe" wird (Hansen 1995, 195, vgl. auch 204f.). Der Sprache kommt dabei eine entscheidende Funktion zu, da die Möglichkeit eines kulturellen Fortschritts wesentlich an ihren Gebrauch gebunden wird: „Die Sprache kann - und sollte - die kulturelle Entwicklung fordern, ob sie das aber tut, das hängt stets von der Gesinnung derer ab, die sie gebrauchen" (Gipper 1984, 13). Damit rückt der Sprecher und sein Verhalten in den Vordergrund, er ist es, der mit .Sprache' eine besondere, kulturelle Wirkung erzielen will und kann. Und dieser Zusammenhang scheint in den Bezeichnungsmotiven einzelner Wortschatzelemente auf, so z.B. in Marienkäfer oder Greifvogel. Aber: Indem das empirische Prädikat für die Schnittstelle von Sprache und Kultur im Bezeichnungsmotiv solcher Wortschatzeinheiten gesehen wird, scheint die Beziehung von Sprache und Kultur nur im Zeitpunkt der Bildung des jeweiligen Wortes auf, realisiert sich die Beziehung von Sprache und Kultur insbesondere nur im Zeitpunkt der Bildung des jeweiligen Wortes; der spätere Gebrauch ist dann - sofern nicht eine bewußte Verwendung z.B. von Greifvogel statt Raubvogel vorliegt - letztlich nurmehr tradierte Konvention. Die von Gipper hinsichtlich seines Kulturkonzepts als exemplarisch genannten Wörter sind allein hinsichtlich der an ihnen aufscheinenden Intention zur bewußten Handlungssteuerung durch Sprache typisch und insofern in den Bereich sog. .Schlüsselwörter' einzuordnen7: Gemeint sind Wörter, hinter denen z.T. offensichtlich, z.T. auch sehr subtil der Werte- und für Gipper damit auch der Kultur-Horizont einer Sprechergemeinschaft erfahrbar wird. Man hat in diesem Sinne einer kulturinterpretatorischen Wertung bestimmter Wörter oder Wortschatzbereiche gerade auch für das Mittelalter eine „Wortgeschichte als Problemgeschichte" betrieben (Wiessner/Burger 1974, 190) und versucht, die Werte- und Vorstellungswelt der Zeit über solche Schlüsselbegriffe zu entschlüsseln: so u.a. über die Begriffe Leid, Freude, tumpheit, minne oder Glück (vgl. Wiessner/Burger 1974, 190-195). Bemerkenswerterweise taucht bei den mittelalterlichen Zentralbegriffen kein Kompositum auf, obwohl für das Mhd. „eine Unmenge" von ihnen als neu entstanden ausgewiesen werden (Wiessner/Burger 1974,222): so z.B. wunschleben, geiselruote, sateltuoch 7 Vgl. Gipper 1984, 8; zu .Schlüssel-' oder auch .Wertwörtern' vgl. Glück 1993, s.v. .Inhaltsanalyse'.

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oder haberbrôt (vgl. Wiessner/Burger 1974, 223). Demgegenüber handelt es sich bei den (wenigen) für die Gegenwartssprache benannten Beispielen Gippers um Komposita; und tatsächlich sind auch die charakteristischen Schlüsselwörter (und .Schlagwörter') der jüngeren Geschichte nahezu ausnahmslos Komposita: so z.B. Energielücke, Entsorgungspark, Blockadehaltung, Steuerreform, Solidaritätszuschlag1. 1.2 Formal-struktureller Wandel Statt der bei Gipper u.a. vorliegenden Fokussierung insbesondere nur des lexikalisch-inhaltlichen Aspekts der Sprache für eine kulturinterpretatorische Wertung führt der in der neueren Kulturwissenschaft profilierte, ,semiotische' Kulturbegriff (vgl. Hansen 1995, 209ff.) zur notwendigen und sinnvollen Einbeziehung auch der Formseite der Sprache. Der dem semiotischen Kulturkonzept vorausliegende (konstruktivistische) Grundgedanke definiert Kultur als „ineineinandergreifende Systeme auslegbarer Zeichen"9, in denen eine spezifische, einem jeweiligen Kollektiv eigene und charakteristische Sicht auf und von Welt erscheint: Menschen machen sich eine .Vorstellung', ein ,Bild' der Wirklichkeit, und dieser Vorstellung, diesem Bild werden „sprachliche Zeichen oder sonstige Symbole zugeordnet" (Hansen 1995, 212). Als Symbolsystem eigener Art ist Sprache nicht nur Teil von Kultur, sondern kann paradigmatisch für das stehen, was Kultur ist, wie und wozu sie funktioniert: Im Prozeß der Sprachbildung (i.e. des sprachlichen Zeichens) wird zugleich der Prozeß der Kulturbildung (i.e. der Symbolisierung) offensichtlich und erfahrbar, das Verständnis und Verstehen von Sprache und ihrer Bildimg führt zu einem Verständnis und Verstehen von Kultur und ihrer Bildung (vgl. Hansen 1995, bes. 60ff). So erscheint Kultur als „Deutungssystem", das sich in seinen „auskristallisierten Formen", i.e. den Symbolen zeigt; doch sind diese keine (idealistischen) Konstrukte der Ideenwelt, sondern „aus der Erfahrung abgeleitete, in wahrnehmbare Formen geronnene Abstraktionen" jenes Deutungssystems (Geertz 1987, 49f.). Kultur ergibt sich somit als jener Prozeß, in dem ein Kollektiv seine konkrete Welterfahrung und Weltvorstellung symbolisiert und damit sehr spezifische „Standardisierungen des Denkens" (Hansen 1995, 211) 8

Es verwundert natürlich nicht, daß auch das .Wort des Jahres 1997' und das .Unwort des Jahres 1997' Komposita sind: Reformstau und Wohlstandsmüll. 9 Geertz 1987, 21; vgl. auch Hansen 199S, 210. Hier ist ein Gedanke aufgenommen, den u.a. schon auch Ernst Cassirer in einem andersartigen Kontext formuliert hat: „Der Mensch lebt in einem symbolischen und nicht mehr in einem bloß natürlichen Universum [...]. Er lebt so sehr in sprachlichen Formen, in Kunstwerken, in mythischen Symbolen oder religiösen Riten, daB er nichts erfahren oder erblicken kann, außer durch Zwischenschaltung dieser künstlichen Medien" (Was ist der Mensch, Stuttgart 1960, S. 39, zit. nach Prechtl/Burkard 1996,281).

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leistet; solche Standardisierungen sind dann nur fur konkret diese und nur diese Gemeinschaft bezeichnend, eine Übereinstimmung mit einer entsprechend entstandenen Symbolisierung anderer Kollektive ist - wenn überhaupt nur zufallig. Im jeweils herausgebildeten und also gefugten Symbolsystem wird die Erfahrung dann verfügbar, mental beziehbar, vermittelbar, tradierbar; das kulturelle Handeln manifestiert sich im ,3ilden, Auffassen und Verwenden symbolischer Formen" (Geertz 1987, 49). Ein Verständnis von Kultur ergibt sich somit über das Verständnis des Bildens, Auffassens und insbesondere des Verwendens symbolischer Formen, hinter denen die den Menschen eines Kollektivs eigentümliche Aneigung und Organisation von Welt aufscheint. Somit werden symbolische Formen und ihr Gebrauch zwangsläufig zum primären Gegenstand jeder Kulturanalyse und jeden Kulturverständisses. Da sich über die konkreten Symbolisierungen der „Zugang zur Gedankenwelt" der Menschen, die im Rahmen dieser Symbole und mit diesen Symbolen handeln, „erschließt" (Geertz 1987, 35), ist semiotische Kulturanalyse stets der Versuch, diesen Zugang zu finden und die jeweils spezifische Gedankenwelt zu erfassen. Dieser Zugang kann am ehesten über die Sprache gelingen: in ihren Einzelwörtern, in ihrem Wortbestand wie auch im Gesamtbereich der Strukturen ihres signifikativen wie distinktiven Systems. Eine jede Veränderung des Einzelsymbols, eine jede Veränderung im Inventar und in der Struktur des Gesamtbestandes, eine jede Veränderung sogar auch im grammatischen System (vgl. Hansen 1995, 66; Schild 1983, 29) ist insofern Indiz einer Veränderung in der Gedankenwelt und einer Veränderung in der begrifflichen Organisation der „sogenannten Wirklichkeit" (Hans-Ulrich Wehler, ZEIT 44/1996, 46). Woher die Veränderung in der Gedankenwelt rührt, ist dabei zuerst einmal offen: Entdeckungen oder Erfindungen machen es nötig, daß das bisher Unbekannte durch Symbolisierung zu etwas Bekanntem wird; zugleich kann aber auch eine nur veränderte Wahrnehmung bereits vorhandener und entsprechend schon benamter Erfahrungsbereiche vorliegen. Da kein anderes Symbolsystem so gut tradiert und also in seiner historischen Veränderung beobachtbar ist wie die Sprache, schließt sich dann auch der Kreis zur konkreten Sprachgeschichte10: Die Sprachgeschichte kann die empirischen Daten liefern, über die der gewünschte Zugang zur Gedankenwelt gelingen kann. Jedoch tritt statt des im onomasiologischen Kontext zentralen Einzelsymbols der Prozeß der Symbolisierung sowie auch das daraus entstehende System der Symbole in den Vordergrund des Interesses. Wenn im kulturellen Handeln und im daraus entstehenden Symbolsystem die „Wahrnehmungsstruktur [...]" der Menschen aufscheint (Daniel 1993, 92), dann wird damit 10 „Es gibt keinen Zweig der Kultur, bei dem sich die Bedingungen der Entwicklung mit solcher Exaktheit erkennen lassen als bei der Sprache" (Paul 1975, § 3).

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- schon der Akt der Symbolisierung bzw. umgekehrt das Faktum einer Beibehaltung vorhandener Symbole - sowie die formale Art der Symbolisierung selbst zum Symbol, wird zum spezifischen kulturellen Signum des Kollektivs. Mit anderen Worten: An der Art und Weise seiner Symbolisierung ist ein Kollektiv und seine Art, die Wirklichkeit wahrzunehmen, zu erkennen. Die Struktureigenschaften der Wahrnehmung werden sowohl als Prozeßeigenschaft der sprachlichen Symbolisierung als auch als Struktureigenschaft des sprachlichen Symbolsystems empirisch erfahrbar und erschließbar. Damit werden nun auch die Prozeß-, System- und Struktureigenschaften zum eigentlichen Gegenstand der Betrachtung: Nicht nur die inhaltliche Einzelwortanalyse vermag .Bedeutung' zu erschließen, sondern auch die Analyse der jeweiligen Form des Einzelsymbols sowie die Analyse der Struktur des Symbolsystems". Da im Prozeß der Symbolisienmg und natürlich auch in jedwedem Symbolgebrauch jeweils neu und aktuell die Umsetzung der Wahmehmungsstruktur stattfindet, wird somit allein schon die Tatsache der Sprachbildung zum Indiz für eine sich verändernde oder verändert habende Wahmehmungsstruktur.

11 Die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens verleitet zu der irrigen Annahme, es sei gänzlich irrelevant, ob ein bestimmter Sachbezug durch z.B. Kopf oder houbet, durch óheim oder Onkel (vgl. Weisgeiber 1934, 108), durch Schrank und entsprechende Differenzierung als Kleiderschrank, Bücherschrank oder nur einzellexematisch isoliert durch wardrobe bookcase bezeichnet werde (vgl. Hansen 1995, 61). Die Arbitrarität gilt nur hinsichtlich des jeweiligen Sachbezugs. Tatsächlich sind „Die Wörter der Sprachen [...] nicht neutral [...]; sie dienen nicht sine ira et studio dem Objekt, sondern versuchen, zwischen Subjekt und Objekt zu vermitteln" (Hansen 1995, 61): Die VermittlungsInstanz ist der jeweils gänzlich verschiedene „begriffliche Aufbau" der einen gegenüber der anderen Sprache (Weisgerber 1934, 108) und damit die durchaus unterschiedliche Vorstellungswelt / Wahmehmungsstruktur der jeweils verschiedenen Kollektive. Es soll an dieser Stelle nur darauf verwiesen sein, daß der Angehörige eines jeweiligen Kollektivs, der von diesem und in diesem sozialisiert und enkulturiert worden ist, damit selbstredend den spezifischen (hier jedoch nur diffus anzudeutenden) .Weltbezug' eben dieses Kollektivs als eigen besitzt. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Konzept einer .Muttersprache' sein besonderes Gewicht nicht nur für die Frage einer wie auch immer bestimmbaren Identität; .Muttersprache' sei hier verstanden als Sprache des Selbstbezugs und der Selbstreflexivität, die in der Regel die von Kindheit an erlernte Sprache ist (aber nicht sein muß). In besonders beeindruckender und wirklich erschütternder Weise schildert Victor Klemperer die Unaufhebbarkeit des Bezugs von Sprache und selbstreflexivem .Weltbezug', wenn er die Fähigkeit, sich in verschiedenen Sprachen zu äußern, als „Hotelstil", als unpersönlich und dürr bezeichnet, wohingegen er für sich sagt: „ich müsse deutsch ausdrücken, was ich deutsch fühle" (Victor Klemperer Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1941. Hrsg. v. Walter Nowojski. Berlin 1995, 91).

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2. Bildung und Gebrauch von Substantivkomposita im Mittelund Frühneuhochdeutschen Mit dem Hinweis auf einen semiotíschen Kulturbegriff ist der Rahmen bestimmt, in dessen Zusammenhang strukturelle und formale Entwicklungen kulturinterpretatorisch beurteilt werden können. Im Zusammenhang des nun in den Vordergrund rückenden Symbolisierungsprozesses erweist sich hinsichtlich der Wortschatzerweiterung durch Komposition insbesondere der statistische Befund als wesentlich und nicht nur marginal. Denn mit Symbolisierungsprozeß ist gerade nicht nur der Prozeß der Symbolbildung, sondern auch und gerade der der permanenten Symbolverwendung gemeint. Insofern muß es darum gehen, erststellig die im allgemeinen Gebrauch aufscheinenden Eigenschaften zu erfassen und nicht so sehr das in einzelnen Wortbildungen aufscheinende Ergebnis sprachschöpferischer Kreativität einzelner Autoren (wie für das Mhd. versucht). Ganz im Sinne der Definition, daß Kultur „die Gesamtheit der Gewohnheiten eines Kollektivs" ist (Hansen 1995, 15), muß der gewöhnliche Symbolgebrauch und damit das in der Gewohnheit realisierte System erfaßt werden12. Dies kann jedoch nur anhand eines Gebrauchswortschatzes gelingen, aus dem ersichtlich wird, was, in welcher Häufigkeit, wo gebraucht ist. 2.1 Quantitative Veränderung des Substantivkompositumgebrauchs Bezüglich der als .Schlüsselwörter' genannten Beispielwörter wurde als auffallig markiert, daß es sich für die Neuzeit nahezu ausschließlich um Komposita handelt, wohingegen für das Mhd. im Zusammenhang der Zentralwörter allein Simplizia genannt sind. Es ist zu zeigen, daß für die Neuzeit nicht allein die Bildung von Komposita, sondern besonders auch die Tatsache ihres allgemeinen und d.h. nicht nur varietätendifferenziert beobachtbaren Gebrauchs typisch ist; eben dies gilt für das Mittelhochdeutsche noch nicht, der neuzeitliche Usus wird erst im Verlauf des Frühneuhochdeutschen herausgebildet. Bezüglich des historischen Verlaufs der Entwicklung sind genauere Beobachtungen bisher kaum gemacht worden. Zwar wurde als der „auffallendste Un-

12 Ähnlich argumentiert auch Zutt (1985, 1160): Die grundsätzliche Aufgabe liege darin, „die Entwicklung des Wortbestandes [...] unter dem Gesichtspunkt kulturgeschichtlicher Bedingungen" zu beschreiben; daher rücke insbesondere „der Aspekt der Verwendung" von Wortbildungsresultaten in den Vordergrund.

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terschied" des Mhd. gegenüber dem Nhd. der „geringe Anteil abgeleiteter oder zusammengesetzter Wörter" (Zutt 1985, 1160) konstatiert, ohne daß dies jedoch anhand exakten Zahlenmaterials hätte genauer ausgewiesen werden können. Da Daten für das Mittel- wie Frühneuhochdeutsche weitgehend fehlen, wurden hier einige wenige mhd. und frnhd. Texte exemplarisch auf das Verhältnis von Komposita zum Gesamt des jeweiligen Substantivwortschatzes hin ausgezählt13; dabei darf das fur das Frühneuhochdeutsche ausgewählte Korpus den Anspruch erheben, eine nicht weiter zu bestimmende durchschnittliche Gebrauchsrealität' und damit auch einen ,Gebrauchswortschatz' abzubilden. Aufgrund der relativen Häufigkeit wurden allein die substantivischen Determinativkomposita mit substantivischem, adjektivischem oder verbalem Bestimmungswort ermittelt14: 13 Für das Fmhd. wurden jeweils 5 der gespeicherten Texte aus der jeweils zweiten Hälfte des 14., 15., 16. und 17. Jh.s des bekannten ,Bonner-Korpus', das Korpusgnindlage der Arbeiten zur .Grammatik des Frühneuhochdeutschen' war (vgl. z.B. Dammers et al. 1988, 14-19), zufällig ausgewählt (u.a.: die sogenannte „Mainauer Naturlehre" der Basler Hs. Β VIII 27, ohchal. Ende 14.Jh.; Das Buch der Cimrgia des Hieronymus Brunschwig, Straßburg 1497; Sermon des [...] Johannis Tauler, Leipzig 1498; Vonn Warer [...] Gegenwertigkeit des Leybs [...] Christi [...] durch Iohannem Groppererum, Köln 1556). Für das Mhd. wurden einige Texte des sog. .Bochumer-Korpus' ausgewählt. Beim ,Bochumer-Korpus' handelt es sich um eine strukturierte Textzusammenstellung, die als Grundlage für eine später zu erarbeitende Mittelhochdeutsche Grammatik dienen soll; da mit den Vorarbeiten für eine solche Grammatik in Bochum, Bonn und Halle inzwischen begonnen wurde, liegen einige wenige Texte bereits in einer Form vor, die einfache Auszählungen schon erlaubt. Es handelt sich dabei ausschließlich um wenige md. Texte: ,Amsteiner Marienlied', Hs.Abt. 3004 C 8 Staatsarchiv Wiesbaden (mfr., 2.Hälfte 12.Jh.); .Frankfurter Predigtfragmente Ι.Γ, Fragm.1.1 StUB Frankfurt (hess thür., 2.Hälfte 12.Jh.), ,Reinisches Marienlob', Cod. I 81,1-93 (rip., l.Hälfte 13.Jh ), ,Tundahis', mgq Bibl.Jagl.Krakau (wmd., l.Hälfte 13.Jh), .Graf Rudolf Fragmente a-d/A-K Frahm.36 StB Braunschweig und Cod.Ms.philo. 184,7 SBUB Göttingen (hess.-thür., l.Hälfte 13.Jh.), .Die Lilie', Cod.68,3r-26v (Prosa), 27v-115r (Vers) LB Wiesbaden (rip., 2.Hälfte 13.Jh.). 14 Bei der Zählung tritt eine Reihe von grundsätzlichen Problemen auf, die hier nur am Rande erwähnt seien. Schon die Frage nach den Kriterien der Identifizierung eines Kompositums (und seine Abgrenzung zur Zusammenrückung und Zusammenbildung) ist nicht unumstritten, da die graphische Realisierung einer Worteinheit in hoch- wie auch noch in spätmittelalterlichen Handschriften nicht unbedingt gegeben ist; zwar ist Zusammenschreibung ein hinreichender Hinweis auf vorliegendes Kompositum, jedoch darf nicht gefolgert werden, der kompositionelle Charakter sei erst parallel der Zusammenschreibung (oder „Sprechkonituität") entstanden (Brogmann 1981, 136, 167). In diesem Sinne sind auch Syntagmen wie z.B. uater land (Jdu hast uns aufgetan] daz un e rehte uater lant, sog. ,Arnsteiner Marienlied', vgl. Anm.13, Vers 234) als Kompositum mitgezählt; im Sinne Bmgmann (1981, 159, 177), der dies erststellig für entsprechende Verben formuliert hat, könnte man hier von einem Distanzkompositum sprechen (vgl. auch Paul ( 1981, 179)). Da es für historische Sprachstufen grundsätzlich schwer ist (wenn nicht sogar unmöglich), die ein Kompositum zwingend definierende semantische Interpretation als eines ,„Ganzwort[es]' zu leisten, dessen Inhalt sich nicht einfach aus einer Summe der Glieder ergibt" (Brinkmann 1981, 198; vgl. auch Brugmann 1981, passim sowie

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Durchschnittlicher Anteil der Substantivkomposita am Gesamt des Substantivwortschatzes (Lexeme) eines Textes 6, 8 % 2.H.12.Jh. l.H.13.Jh. 6,4 % 2.H.13.Jh. 5,7 % 2.H.14.Jh. 10,3 % 10,2 % 2.H.15.Jh. 12, 1 % 2.H.16.Jh. 18,4% 2. H.17.Jh. Die Auszählung zeigt eine relative Stabilität des Anteils der Substantivkomposita innerhalb der mhd. Texte. Die Nutzung nimmt zum und im Frnhd. zwischen insbesondere dem 16. und 17. Jh. deutlich zu; in Fortsetzung dieser Entwicklung wird für die Gegenwartssprache ein Anteil von ca. 25,2% erreicht (vgl. Wellmann et al. 1974, 363). Die ausgewiesenen Daten sind jedoch noch wenig aussagekräftig, da Verhältniszahlen nichts über den jeweiligen Gesamtwortbestand eines Textes aussagen. Um die Dynamik der Substantivkomposition im Zusammenhang der Statik/Dynamik des Wortbestandes sowie im Zusammenhang der jeweiligen Textlänge zu ermitteln, wird der Gebrauch der Substantivkomposita im Vergleich zum jeweils gebrauchten Gesamtsubstantivwortschatz ermittelt; dabei wird ein Index15 verwendet, der - bezogen auf Paul 1981, 186), müssen rein formale Gesichtspunkte als hinreichend betrachtet werden (vgl. z.B. Reagan 1981, 74ff. und besonders Nitta 1987): Dazu zählt u.a. Juxtaposition, möglichst Belegung einer Zusammenschreibung in zumindest einem Beleg, bei Zusammensetzungen mit adjektivischem Bestimmungswort z.B. das Fehlen jeder Binnenflexion (z.B. nicht: der Hohepriester aber den Hohenpriester), bei Artikelgebrauch (bzw. flektiertem attributivem Adjektiv) die Inkorporation des als solches identifizierten Bestimmungswortes zwischen Artikel und ,Grundwort' sowie eindeutiger grammatischer Bezug des Artikels nur auf das angenommene Grundwort (eindeutig z.B. die goti Jgnadin, auszuklammern z.B. durch diner muter liebe im ,Graf Rudolf, vgl. Anm.13). Gerade das letztgenannte Kriterium ist unabdingbar nötig, um Voranstellung des Genitivattributs vom (möglichen) Kompositum unterscheiden zu helfen. Denn die zentripetale, dem Kern der Substantivgruppe vorangehende Stellung des Genitivattributs ist eine in mhd. Texten noch mögliche und zudem durch die Textform bevorzugte. So zeigen der Prosa- und Versteil der .Lilie' (vgl. Anm.12) ein entsprechend unterschiedliches Verhalten: Der Versteil zeigt in ca. 63,4% aller einschlägigen Fälle eine Voranstellung des (möglichen) Genitivattributs (das möglicherweise auch Kompositum sein könnte und aufgrund der Zweifelhaftigkeit hier nicht als solches gewertet wurde), z.B. Der lilien kam he i jouch lane (5,14) gegenüber z.B. Der ham derliljen is reth (3,10); im Prosateil liegt dieser Anteil bei nur 40,4%. 15 Es handelt sich dabei um eine völlig abstrakte Kennzahl, die einen Wert nur für den Vergleich der Texte untereinander besitzt. Sie soll ein Maß für die Lexemvariation in einem Text in Abhängigkeit von der Textlänge sein. Dazu wurde die Anzahl der unterschiedlichen SubstantivLexeme eines Textes mit der Anzahl aller belegten Substantive des Textes gewichtet. Eine ma-

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eine jeweils vergleichbar große Textmenge - den Grad der lexikalischen Variation innerhalb eines Textes ausdruckt:

Durchschnittliche Lexemvariation (A) und Kompositumvariation (B) je Text (.Variationsindex', max.Variation bei 1, 0)

Mhd. 2.H.14.Jh. 2.H.15.Jh. 2.H.16.Jh. 2.H.17.Jh.

A 0, 110 0,210 0,241 0, 295 0, 364

Β 0,010 0, 022 0,024 0,039 0,060

Der Index erweist, daß chronologisch voranschreitend bei der Formulierung eines jeweils gleichlangen Textes ein zunehmend differenzierterer Wortschatz Anwendung findet; zugleich wird sinnfällig, daß der Gebrauch unterschiedlicher Komposita deutlich stärker ansteigt als der Gebrauch unterschiedlicher Substantive: Der Substantivindex erfahrt vom Mhd. zur 2. Hälfte des 14. Jh. einen Anstieg um ca. 91%, wohingegen er bei den Komposita um ca. 120% ansteigt; von der zweiten Hälfte des 15. zur zweiten Hälfte des 16. Jh.s betragen die Vergleichswerte 22% und 63%, von der zweiten Hälfte des 16. zur zweiten Hälfte des 17. Jh.s schließlich 23% und 74%. Bezüglich der ermittelten Werte muß insbesondere für das Mhd. mit einer Relativierung des Befundes gerechnet werden, da das hier grundgelegte Quellenmaterial in keinem Fall angemessen umfangreich und hinsichtlich einer thematischen und Textsortenvielfalt differenziert ist. Eine gesicherte Datenbasis könnte nötige Klarheit hinsichtlich der bis jetzt uneinheitlichen Einschätzung der Wortbildungs- und insbesondere Kompositionsproduktivität in mhd. Zeit schaffen: Behagel (1928, 28) schätzt „die Neigung, neue Wörter zu bilden" als „nicht sehr groß" ein, wohingegen Wiessner/Burger (1974, 222) in der mhd. Blütezeit „eine Unmenge neuer [...] Komposita" in der Literatursprache entdecken. Es ist zu erwarten, daß eine genauere Untersuchung beide Einschätzungen bestätigen wird, je nachdem auf welche Texte oder Textbereiche die Einschätzung jeweils bezo-

ximale (und völlig unwahrscheinliche) Variation liegt beim Wert , 1 ' vor, d.h. jedes belegte Substantiv des Textes kommt nur ein einziges Mal vor; beim komplementären und gegen ,0' strebenden (ebenso unwahrscheinlichen) Extremwert liegt nur ein einziges Lexem vor, so daß dieser Wert jeweils als 1/N (N=Anzahl der Substantivbelege) angebbar ist. Der Index wird hier jeweils für Substantivlexeme insgesamt sowie auch für die Komposita ermittelt.

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gen wird". Tatsächlich kann es jedoch für eine kulturhistorische Wertung nicht primär darum gehen, die möglicherweise außerordentliche und wie auch immer zu bewertende Kreativität einzelner Autoren in der Schaffung neuer Komposita zu beurteilen; daran wird die potentielle Produktivität und also Lebendigkeit einzelner Wortbildungsmuster und -typen offenbar, die kulturelle Wirklichkeit ist damit jedoch nicht erfaßt. Denn wenn Kultur als „Gesamtheit der Gewohnheiten eines Kollektivs" bestimmt ist (Hansen 1995, 15), dann gehört der abgeschlossene Prozeß der Sozialisierung unabdingbar zur Kultur und also zählt nicht die individuelle und beim einzelnen Autor aufscheinende Kreativität, sondern allein die im Gebrauch durchscheinende und somit sozial gewordene Normalität (Gebrauchswortschatz)". Bezüglich einer ansatzweise versuchten Differenzierung des Befundes nach Texten bzw. Textsorten und der in den verschiedenen Textsorten verschrifilichten Lebensbereiche zeigte sich fur die Texte noch des 16. Jh.s: - Substantivkomposita treten insbesondere in Sachdarstellungen auf; - einen durchschnittlichen Gebrauch weisen Erzählungen, Reisebeschreibungen und besonders auch mündlich orientierte Texten (z.B. Drama, Kömodie) aus; - in theologischen und kirchlichen Texten sind Substantivkomposita selten. Zugleich zeigt sich aber auch, daß solche Unterscheidungen in der zweiten Hälfte des 17. Jh.s nur sehr viel undeutlicher möglich sind, daß die häufige 16 Eine auf der Grundlage der Indizes/Konkordanzen zum Nibelungenlied (vgl. Bäuml/Fallone 1976) und zu Walther (vgl. Hefiher/Lehmann 1950) vorgenommene Auszählung zeigt für das Nibelungenlied einen Anteil von 16,92% Substantivkomposita (123 von insgesamt 727 verschiedenen Substantivlexemen), bei Walther liegt der Anteil bei 10,78% (90 von insgesamt 83S). Die Zahlen zeigen bereits eine bei Walther vorliegende größere Lexemvarianz (Index der Lexemvariation = 0,169), der Index der Kompositumvariation (0,019) liegt unterhalb deijenigen, die für die Texte der zweiten Hälfte des 14.Jh.s durchschnittlich ermittelt wurden; aufgrund des sehr wortreichen Nibelungenliedes liegt der Index der substantivischen Lexemvariation bei nur 0,062, der für die [Composita ermittelte Wert von 0,011 entspricht nahezu gänzlich dem für die mhd. Texte ermittelten Wert (vgl. Tab.2). Nur am Rande sei vermerkt, daß der für das Nibelungenlied ermittelte Wert die große Distanz des mittelhochdeutschen Werkes von der germanischen Heldendichtung erweist. Deren ,,begriffliche[s] Gerüst" kennt {Composita nur als Ausnahme (Scardigli 1988, 198). Da die Komposition als „Gipfel der poetischen Steigerung" gewertet wird (Scardigli 1988, 197), erscheint das mittelhochdeutsche Nibelungenlied erststellig als eine poetische, hochmittelalterliche Bearbeitung des Stoffes. 17 Die Daten zeigen nichts als nur eine Tendenz, sie erweisen jeweils durchschnittliches Verhalten. Im Einzelfall können die Verhältnisse gänzlich anders aussehen als durch den Durchschnittswert suggeriert: So hat z.B. der Text .Mainauer Naturlehre' (vgl. Anm.13) aus der Mitte des 14.Jh.s einen so hohen Anteil an Substantivkomposita, wie er später erst wieder im ,Buch der Cirurgia' späten 15.Jh. erreicht wird. Umgekehrt ist der Anteil der Substantivkomposita in der Groppers .Gegenwertigkeit des Leibs Christi' (Köln 1556) so gering wie in kaum einem Text des 14.Jh.s; den geringsten Anteil an Substantivkomposita weisen die 1498 in Leipzig gedruckten Predigten des Mystikers Johannes Tauler auf.

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Nutzung der Komposition im 17. Jh. zu einem Merkmal der Schriftsprache insgesamt und somit auch Merkmal einer in der Schriftlichkeit schon erreichten Varietätennivellierung geworden ist. Zuerst besonders herausgebildet im Erfahrungsbereich der Realien und insofern gekoppelt an einen übergeordneten Prozeß zunehmend empirisch begründeter Welterfahrung und -erkenntnis scheint die durch Komposition erfolgende Lexembildung schon im 17. Jh. somit weitgehend zum Inventar und zu den Möglichkeiten der Schriftsprache generell zu gehören; die eher seltene Verwendung von Komposita in einem dramatischen Text des 17. Jh.s läßt eine Differenzierung hinsichtlich stärker mündlich geprägter vs. stärker schriftsprachlich geprägter Erfahrungsbereiche vermuten. Damit könnte sich die Komposition als eine besonders auf die medial schriftsprachliche Vermittlung bezogene Symbolisierungsweise zeigen. Die Selbstverständlichkeit der Komposition erweist sich schließlich auch in der „Konsolidierung ihrer formalen Strukturen", die für das späte Fmhd. konstatiert wird". Die statistische Zusammenstellung erweist, daß es sich bei den für die Neuzeit typischen Schlüsselwörtern erwartbar und selbstverständlich um Komposita handelt, wohingegen sie fur das Mittelhochdeutsche aufgrund ihrer im .Gebrauchswortschatz' mangelnden Verankerung noch keinesfalls als typisch zu bezeichnen sind. Es kann somit die Wortschatzerweiterung insgesamt und im besonderen bei den Substantiven die durch Komposition erfolgende Wortschatzerweiterung im Sinne einer kulturinterpretatorischen Wertung als charakteristisch bestimmt werden. Hiermit tritt nun nicht mehr eine .sprachinhaltliche', sondern eine ,sprachformale' Betrachtung in den Vordergrund. 2.2 Komposition und Attribuierung bei Luther Die Selbstverständlichkeit der Komposition bedeutet zugleich die relative Rückdrängung der konkurrenten attributiven Konstruktionen. Dies zeigt sich nicht allein als eine im Deutschen diachron nachvollziehbare Veränderung/ Entwicklung, sondern zugleich auch als sprachtypisch gegenüber dem Latein: Spätmittelalterliche fachsprachliche Übersetzungen zeigen, daß attributive Konstruktionen des Lateinischen im deutschsprachigen Text vorwiegend durch Komposita übertragen sind19. In dieser Entwicklung und sie zweifellos auch 18 Pavlov, Vladimir M.: Die Form-Funktion-Beziehungen in der deutschen substantivischen Zusammensetzung als Gegenstand der systemorientierten Sprachgeschichtsforschung. In: Andreas Gardt et al. (Hrsg.). Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Tübingen 1993, zit. nach Polenz 1994,283. 19 Vgl. Haage 1974, 127: Zur Illustration der herausgebildeten Rezeptfachsprache gibt Haage einige lateinische Konstruktionen und deren deutschsprachige Entsprechungen; von den sechs beispielhaften lateinischen Attributskonstruktionen werden vier als Komposita übertragen (z.B.

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befördernd steht Luther, für dessen Bibelübersetzung Komposita gebucht werden, an deren Stelle z.B. Anton Sorg (Augsburg 1477) noch Genitivattribute verwendet (Schwarz 1989, passim). So ist auch die geläufig gewordene Wortbildung Morgenland erstmals für Luthers Bibelübersetzung (Wittenberg 1522) gebucht (vgl. Erben 1959, 462): Da Jheßus geporn war zu Bethlehem, yhm Judißchen land, tzur tzeyt des konigs Herodis, ßihe, da kamen die weyßen vom morgenland [...] (Matthäus 2,1). Der Komplementärbegriff .Abendland' taucht bei Luther nicht auf, das ,Frühneuhochdeutsche Wörterbuch' bucht einen singulären Beleg bei Hans Sachs (Reichmann 1989, 54). Durch die beiden ins 16. Jh. gehörenden Wortbildungen werden insbesondere die aus dem Lateinischen entlehnten und bis ins 16.Jh. üblichen Bezeichnungen orient und occident ersetzt20; daneben kennt das Mhd. auch die Beichnungen Westerland und ôsterlant, wobei ôstarlant schon auch im Ahd. mehrfach belegt ist (vgl. Ahd.Wtb., s.v.). Luther hätte somit in seiner Übersetzung (für gr. anatol ) die eingeführten und tradierten Bezeichnungen ebenso verwenden können wie auch die wörtliche Übersetzung durch die Konstruktion mit Genitivattribut auffgang der sonnen; diese Lösung ist im Nachdruck Basel 1523 bei Adam Petri gewählt, in dieser Weise war schon in der Koberger-Bibel (Nürnberg 1483) sowie auch in der Lübecker Bibel von 1494 verfahren worden (vgl. Reagan 1981, 276). Die Mentel-Bibel von 1466 verwendet an den entsprechenden Stellen nur die Bezeichnung osten, Koberger gebraucht in Varianz zur Attributskonstruktion auch orient. Die katholischen Übersetzungen des 16. und noch 17. Jh.s benutzen das Wort Auffgang: Eck (Ingolstadt 1537), Ulenberg (Köln 1630) und auch noch Dietenberger (Köln 1738). Obwohl Luther mit seiner Lösung ohne Nachahmung bleibt, setzt sie sich jedoch durch. Luthers Übersetzung bleibt auch im Vergleich zur ebenfalls aus dem Griechischen geleisteten englischen Übersetzung William Tyndales einzigartig: Tyndale, „chief creator" der volkssprachig-englischen Übersetzung des NT (Bluhm 1984, 113), liefert 1526 seine Übersetzung, die hinsichtlich Übersetzungsmethode („to translate clearly and idiomatically" (Bluhm 1984, 114)) sowie insbesondere auch hinsichtlich der Auflösung der Konstruktionen mit Genitivattribut sehr stark durch Luther beeinflußt ist (vgl. Bluhm 1984, 114ff.). An dieser Stelle übersetzt Tyndale jedoch [...] Beholde there came wyse men from the Eest to Jerusalem [...]. Das Einzelwortbeispiel bestätigt an einem markanten Wort die bereits in den Statistiken deutlich aufscheinende Tendenz zur Komposition; sie stellt

rosenöl für oleum rosatum) und nur zwei erscheinen ebenfalls als Attributskonstraktion (z.B. versigelt erd für terra sigillata). 20 Die Bezeichnungen orient und occident sind insofern üblich als für das Mittelhochdeutschen häufig gebucht (vgl. Lexer, Mhd.HWB, s.v.).

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eine für die Zeit typische und charakteristische Symbolisierung dar31. Luthers Übersetzung trifft in besonderer Weise die sprachliche Entwicklung, fur die seine Vorgänger wie aber auch die katholische Parallelübersetzer seiner Zeit offensichtlich weniger sensibel waren; insgesamt zeigt Luther einen um ca. 30% höheren Anteil an Komposita als vergleichbare Bibelübersetzungen des späten 15. und frühen 16. Jh.s (Reagan 1981, 120).

3.

Kulturinterpretatorische Wertung zunehmender Komposition

Hinter der im Vergleich z.B. zum Englischen häufigen Bildung und Nutzung von Komposita, die auch im Unterschied zwischen Luthers und Tyndales Übersetzung aufscheint, wird kein erststellig sprachtypologischer oder sprachstruktureller Unterschied gesehen, sondern eine „sprachideologische Vorliebe für vollmotivierte Wörtef" vermutet (v.Polenz 1994, 281, 285). Doch ist das Phänomen damit nur unzureichend beschrieben: Denn eine „Vorliebe" kann beliebig sein, kann so oder auch anders ausfallen, sie entzieht sich zumeist jedem Versuch einer Erklärung. Tatsächlich stellt sich die wesentliche Frage, „ob hinter anderen Formen der Darstellung nicht vielleicht auch andere Logiken von Wahrnehmung stecken könnten" (Czerwinski 1996, 170; vgl. auch Anm.10). Diese Frage zielt auf die Kritik einer Vorstellung „von einer ewig gleichen menschlichen Wahrnehmung", in der Czerwinski (1993, 104) nichts anderes als den „alte[n], unreflektierte[n] Ethno-/Logozentrismus" sieht. Im Zusammenhang eines semiotischen Kulturbegriffs zielt diese Frage zugleich auf die deduzierte Einsicht des Zusammenhangs von Symbolisierung und die sie steuernde Wahrnehmung; dahinter steht zugleich die Einsicht in die grundsätzliche Historizität nicht nur der Symbolisierung („Formen der Darstellung"), sondern auch und insbesondere der Wahrnehmung. In eben dieser Weise darf hinter der im alltäglichen Sprachgebrauch durchgesetzten neuen Symbolisierung mittels Komposita und d.h. hinter den sozial durchgesetzten und akzeptierten neuen „Standardisierungen des Denkens" ebenfalls eine veränderte Wahrnehmung vermutet werden (im Sinne des ,selbstreflexiven Weltbezugs', vgl. Anni. 11), die in der Komposition einen adäquaten Ausdruck

21 Weitere Hinweise liegen auch in den vielfältigen Lehnwortbildungen und Eindeutschungsversuchen seit dem späten 17. Jh. vor: Beispiele sind die aus engl. Attributsgruppen entstandenen Komposita wie Preßfreiheit für freedom of the press oder auch Zeitgeist für genius of the time (vgl. v.Polenz 1994, 105); Beispiele liefert auch Philipp Zesens Verdeutschungsarbeit, so Grundstein für Fundament, Trauerspiel für Tragödie, Tagebuch für Journal, Augenblick für Moment, Krautbeschreiber für Botaniker oder Weiberburg für Harem (vgl. v. Polenz 1994, 121).

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gefunden hat. Indem Wahrnehmung und Symbolisierung als quasi isomorph angenommen werden, können dann auch die die Wortbildung beschreibenden Kategorien zu beschreibenden Kategorien der Wahrnehmung und d.h. zu Kategorien von Kultur (verstanden als „Deutungssystem") werden. Was sind die beschreibenden Kategorien der konkreten Wortbildung, was ist, was leistet z.B. das Determinativkompositum Morgenland im Unterschied zur Angabe der Himmelrichtung Osten in der Mentelbibel oder Eest bei Tyndale; welcher Unterschied liegt zwischen dem Kompositum Morgenland und der Attributsgruppe auffgang der sunnenl Determinativkomposita leisten eine Ausdifferenzierung schon bestehender Begriffe22; damit konstituieren sie aber auch zugleich einen spezifischen begrifflichen und d.h. kategoriellen Rahmen („begrifflicher Aufbau", vgl. Anm.ll), der oberhalb der einzelnen, individuellen Entität als Vorstellung existiert und die Gesamtheit der zugehörigen Entitäten organisiert: So „wie es Obst nicht gibt, sondern nur einzelne Äpfel und Birnen", so ist z.B. auch Schrank (vgl. Anm.l 1) nur „eine Vorstellung" (Hansen 1995, 61); tatsächlich wird aber hier die den unterscheidbaren Entitäten inhärente Gemeinsamkeit abstrahiert und kategorisiert, so daß die einzelnen Entitäten als der Kategorie zugehörig gedeutet und entsprechend symbolisiert werden können. Im Einzelsymbol und insbesondere in seiner im Gebrauch erwiesenen Akzeptanz ist die Sozialisierung erfolgt, so daß es zum typischen und charakteristischen Merkmal des Kollektivs geworden ist. Solche Beschreibungsparameter der Wortbildung sind nun unproblematisch auf die vorausliegende Wahrnehmungsstruktur der in der Symbolisierung kulturell handelnden Sprecher zu übertragen: Neue Erfahrungstatbestände werden in den Kontext bekannter Erfahrung eingeordnet, wobei zugleich das Kategorielle als das den Erfahrungen identische abstrahiert wird. Insofern solche neuen und d.h. bisher unbekannten Tatbestände nur als Spezifizierung schon vorhandener Tatbestände eingeordnet werden, werden sie somit zugleich gedeutet. Indem eine bisher nicht benamte, eine unbekannte Entität nun im Wort konventionalisiert und damit sozialisiert ist, ist sie zugleich auch für die Sprachgemeinschaft als solche verfugbar, gehört zum spezifischen Wissensvorrat dieser Sprachgemeinschaft. Luther bezeichnet in seiner Wortbildung einen in der Vorstellung lokalisierbaren Raum, sein Morgenland ist kein ,Nicht-Ort', kein ,ou topos', kein .Nirgendwo'; sein Morgenland ist ein konkretes und in der Vorstellung von Territorialität bestimmbares Land. Und dieses Land kann sich der zeitgenössische Rezipient als eine Wirklichkeit vorstellen, so wie er z.B. ein Schwabenland, ein Engelland, ein Niderland oder Oberland kennt (vgl. DWB, s.v.). Das

22 Bei Determinativkomposita handelt es sich um Wortgebilde, bei denen das zweite Glied die begriffliche Gnmdlclasse angibt; in diese wird eine neu zu bezeichnende Entität eingeordnet, sie wird dieser zugeordnet; das erste Glied gibt die spezifizierenden Merkmale an (vgl. Erben 1993,91).

Der Gebrauch uneigentlicher Substantivkomposita

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unterscheidende Merkmal dieses Landes gegenüber den anderen Ländern wird vor dem Hintergrund der alltäglichen Erfahrung und des Lebenshorizontes benannt; es liegt dort, wo der Morgen lokalisierbar ist23. Im Wort Morgenland ist zugleich seine Existenz als unterscheidbare Entität ausgedrückt; da es zum definierenden Merkmal der Wörter als Zeichen gehört, sozial zu sein, ist die im Wort realisierte Vorstellung zugleich auch sozialisiert und insofern entkontextualisiert, sie ist quasi objektiviert. In der konkreten Wortbildung und ihrer internen hierarchischen Struktur wird zugleich auch das Verstehen des Wortes sowie das Verstehen des dahinterliegenden Konzepts präskribiert. Ganz anders funktioniert die Attribuierung. Es gehört zu ihrem Wesen, im Rahmen der kollokativen Möglichkeiten kontext-, situations- und sprechergebunden zu sein. In der Attribuierung werden vom Sprecher jeweils auf einen konkreten Kontext bezogen zwei oder mehrere an sich selbständige Begriffseinheiten zueinander in Beziehung gesetzt; solche Verbindungen gehören aber nicht zum sozialen Wissensvorrat der Sprecher („Standardisierungen des Denkens", s.o.), sie sind quasi flüchtig wie der Kontext, in dem sie genannt sind, sie sind zudem subjektiv wie der Sprecher, der sie gebraucht. Beides, Attribuierung und Komposition, sind im Sinne der sprachlichen Symbolisierung verschiedene Formen kulturellen Handelns. Die im 16./17. Jh. typische Komposition aber weist im jeweils eineindeutig abgegrenzten Symbol auf eine in der Wahrnehmung ebenfalls ,eineindeutig' zu nennende Differenzierung der Welt, deren Einzelteile in gleicher Weise systemisch aufeinander bezogen sind, wie im Determinativkompositum nur die Spezifizierung des einordnenden Begriffes stattfindet; die konkrete Wortbildung spiegelt den Prozeß grundlegender Begriffsbildung, die ihrerseits eine spezifische Form der Wahrnehmung und Aneignung von Welt darstellt. Eben diese spezifische Art des begrifflich organisierenden Zugriffs auf Welt scheint dann auch auf anderen Ebenen des sprachlichen Systems auf. So spricht Ágel hinsichtlich des Modalverbgebrauchs im 16./17. Jahrhundert von einem intensiven Epistemifizierungsprozeß im nachmittelalterlichen Deutsch24. Die an der Art der Wortbildung und ihrer Nutzung beobachteten Verhältnisse stimmen zu der von Giesecke aus kommunikationstheoretischer Perspektive gewonnenen Einsicht in den im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit vollzogenen Medienwandel (vgl. Giesecke 1992, passim) als Ausdruck neuer Formen der Erfahrungsgewinnung und -darstellung. Auf eine schon junge, das „anschauliche Wissen [...] in Form von erinnerbaren Bildern (ikonisch)" reprä23 Im Wort Morgenland schwingen auch weitere, von Luther durchaus bewußt assoziierte Konnotationen mit: Jesus als der Morgenstern (Offenbarung 22,16), der Morgen als Symbol für Heil, Anfang (2.Mose 16,7f.) und Überwindung des Dunkels durch das Licht (vgl. auch morgenrôt im Nibelungenlied 281). 24 Vgl. den Beitrag von Vilmos Ágel in diesem Band.

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sentierende Phase (Giesecke 1992, 82) folgt eine Phase, „in der weder der Sachverhalt, auf den referiert wird, noch der Kommunikationspartner anwesend sind": Hier liegt notwendig eine Situation vor, bei der das zu vermittelnde Wissen „durch Symbolisierung [...] dekontextualisiert" werden muß (Döring/Eichler 1996, 5). Es liegt nahe, daß Komposita eben dies aufgrund ihrer Struktureigenschaften in besonderer Weise vermögen. Gemessen am späten 17. Jh. zeigt das Mhd. ein doch gänzlich anderes Bild. Nicht nur, daß die Komposition wesentlich weniger stark ausgebildet ist, auch in anderer Weise erweist das Mhd. eine .unklarere', eben nicht eineindeutige Symbolisierung. Schon Wiesner/Burger (1974, 197) registrieren bei einzelnen Wörtern eine mangelnde Eindeutigkeit, eine »extreme Vieldeutigkeit'. Im Zusammenhang der Entwicklung der Verbprafìgierung konnte gezeigt werden, daß im Mhd. sehr häufig eine funktionale Äquivalenz zwischen Simplex und Präfixverb vorliegt, die erst durch eine in frnhd. Zeit erfolgte Informationsumschichtung vom Simplex auf das Präfixverb aufgehoben wird (vgl. Solms 1991, 116); dies ist als Aufhebung von Polysemie beschrieben und insofern in einen Prozeß tendenzieller Monosemierung hineingestellt worden. Im Ergebnis ist der bei der Komposition zu beobachtende Prozeß ähnlich zu beschreiben25. Aufgrund solcher Beobachtungen zum Frnhd. und auch Mhd., aufgrund der Rückkoppelung des Symbolisierungsprozesses an eine zugrundeliegende Wahmehmungsstruktur ist die Schlußfolgerung erlaubt, die Welterfahrung und Wahrnehmung des hohen Mittelalters als eine aggregativ-ganzheitliche und rezeptive, die Welterfahrung und Wahrnehmung der frühen Neuzeit als eine analytische und produktive zu bezeichnen26. Wenn in der Symbolisierung der Sprache Struktureigenschaften der Wahrnehmung, der Welterfahning und der Organisation von Wirklichkeit aufscheinen und damit auch als solche der Wahrnehmung, der Welterfahrung und der Organisation von Wirklichkeit plausibel sind, dann müssen sich eben solche und in identischer Weise zu beschreibende Spiegelungen auch in anderen Symbolisierungsbereichen zeigen27. Es gehört zu den Topoi der Rennaissance-Forschung, daß sich „die Entdeckung der äußeren Welt [...] als das neue perspektivisch-räumliche Sehen"

25 Tschirch (1989, 78) sieht den zunehmenden Gebrauch von Zusammensetzungen parallel zur Entwicklung vom synthetischen zum analytischen Formenbau. Hinsichtlich der im Kompositum neu ereichten morphologischen Stabilität scheint hierin gerade das Gegenteil dessen eingetreten. 26 Czerwinski (1993, 110, 114) sieht zwei Pole der Wahrnehmungsformen: die zum Alten gehörende noch „unmittelbare Gewißheit eines noch ganz ins Sein versenkten Bewußtseins" (mit den charakterisierenden Beschreibungen „Aggregation, Sichtbarkeit, Konkretion, Körperlichkeit") und die zum Neuen gehörende „Subjekt-Objekt-Dialektik der sich vollziehenden Reflexivität" (mit den charakterisierenden Beschreibungen .Abstraktion, System, Begriff). 27 Tatsächlich wird auch die seit dem IS. Jh. beobachtbare formale Veränderung „in den Büchern der Zeit" auf eine .Änderung der Betrachtungsweise" zurückgeführt (Wellmann 1990,264).

Der Gebrauch uneigentlicher Substantivkomposita

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und d.h. als eine neue Art der Wahrnehmung zeigt (Wundram/Hubala 1993, 15, 20). Dieser neuen Wahrnehmung entspricht jedoch nicht nur die Linearoder Zentralperspektive der darstellenden Kunst, sondern „das neue perspektivische-räumliche Sehen [schlug sich] auch im Geistigen nieder: in Religion und Philosophie" (Wundram/Hubala 1993,20) und ganz zweifellos auch in der Ausdrucksseite der Sprache. Das Charakteristische der Zentralperspektive ist, daß sie einerseits einen Systemzusammenhang innerhalb der dargestellten Welt zum Ausdruck bringt, daß sie andererseits auch standortgebunden ist und also den Betrachter als erkennendes und beschreibendes Subjekt emst nimmt (vgl. Wundram/Hubala 1993, 19). In der nahezu vollständigen Übereinstimmung dieser Bestimmung zu der der Wortbildung Morgenland wird deutlich, daß sich die hinsichtlich eines semiotischen Kulturbegriffs definierte kulturelle Spezifik der Zeit in der Wortbildung wie auch in anderen Produkten kulturellen Handelns zeigt. Wenn Czerwinski (1993, 114) die Zentralperspektive als eine „reinkorporierende Aggregation" bezeichnet, die - anders als die spätere Luftperspektive - das Prinzip der Darstellung noch aggregativ als Teil der Darstellung selbst aufnimmt, dann entspricht auch diese begriffliche Bestimmung gänzlich der des Determinativkompositums. Insofern scheint deudich, daß ein Verständnis von Kultur kaum gelingen kann, ohne auch die adäquate Berücksichtigung der formalen Seite der Sprache.

4.

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Der Gebrauch uneigentlicher Substantivkomposita

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Ulrike Haß-Zumkehr (Heidelberg/Mannheim)

Die kulturelle Dimension der Lexikografie. Am Beispiel der Wörterbücher von Adelung und Campe

1. 2. 3. 4.

Einleitung Kultur - normativer oder analytischer Begriff? Kultur in der Wörterbuchbeschreibung Kulturkonzept und lexikografische Methodik Adelung und Campe 4.1 Stichwortauswahl, Kommentare, Bedeutungsgliederung, Beispielformulierung und Rolle der Diachronie 4.2 Briefliche Grußformeln 5. Fazit 6. Literatur

1.

Einleitung

Lexikografen aller Zeiten und Länder haben ihre Arbeit als stumpfsinnig geschmäht und sich selbst als Sklaven verflucht.1 Dafür aber winkte ihnen bisher ein Lohn, von dem wissenschaftliche Autoren normalerweise nur träumen können: Denn diese Sklavenarbeit wird am Ende regelmäßig zu einer natio-

1 Z.B. In seiner Wörterbuch- Vorrede von 1691 kolportiert und übersetzt Stieler aus dem Lateinischen: „Wen strengen Richters Spruch zur langen Qual verteilt/ sein Leben kümmerlich mit Ach und Weh zurädern: [...]/ Man laß' ein Wörterbuch nur den Verdammten schreiben./ Dies Angst wird wol der Kem von allen Martern bleiben." Z.B. Johnson im Vorwort seines Wörterbuchs von 17SS, O.S. (=1): .Among these unhappy mortals is the writer of dictionaries; whom mankind have considered, not as the pupil, but the slave of science, the pioneer of literature, doomed only to remove rubbish and clear obstructions from the paths of Learning and Genius, who press forward to conquest and glory, without bestowing a smile on the humble drudge that facilitates their progress."

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nalen Tat, zu einer herausragenden gesellschaftlichen Leistung erklärt, als Zeiten überdauerndes Kulturgut oder wenigstens als kulturhistorisches Dokument bewahrt und als Symbol nationaler, regionaler oder ethnischer Identität gerühmt. Gleichwohl bleibt die Frage, ob die kulturelle Auszeichnung wohl Entschädigung genug ist für ein entsagungsreiches Lexikografenleben. Auch Oskar Reichmann hat die kulturelle oder gesellschaftliche Bedeutung der Lexikografie immer wieder betont und in wissenschaftlicher Praxis auch sichtbar gemacht. Aber er hat dies nun gerade nicht (nur) in der Weise getan, wie in Festreden und Staatsverträgen auf die Relevanz der Lexikografie hingewiesen wird, um sie anschließend den öffentlichen Geldgebern besser ans Herz legen zu können, sondern Reichmann hat wohl als erster die kulturelle Rolle der Lexikografie als wissenschaftliche und zugleich gesellschaftlich relevante Praxis in die theoretisch-methodische Reflexion dieser Teildisziplin integriert. Das Nachdenken über die kulturelle Dimension der Lexikografie gehört ins Zentrum ihrer Theorie hinein.2 In der lexikografischen Einleitung des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs (1986, 110) etwa werden im 12. von 22 Abschnitten die sozial- und bildungsgeschichtlichen Prädispositionen des mitteleuropäischen Lexikografen bestimmt, weil nämlich in diesen literarische und ideengeschichtliche Wissensbestände über technische oder ökonomische dominieren mit der Folge, dass die Konzepte des einen Wissensbereiches im Wörterbuch semantisch differenzierter als die des anderen entfaltet werden. Mit anderen Worten: die geistigen und, wie man hinzufugen kann, auch die affektiven Orientierungen eines Lexikografen haben unmittelbare Auswirkungen auf die methodisch-allgemeinen wie auf die praktisch-konkreten Entscheidungen der Wörteibucharbeit. Was Reichmann für die Reflexion eines lexikografischen Subjekts vorgeführt hat, möchte ich fruchtbar machen fur eine analytische Beschreibung von Wörterbüchern aus der historischen oder kulturellen Distanz. Denn dies ist ja einer der beiden Hauptzwecke der theoretischen Lexikografie, das Modell einer kritischen Rezeption vorhandener Werke zu liefern. Der andere produktionsbezogene Zweck besteht darin, das Modell einer kontrollierten Praxis bereitzustellen; ich gehe hier aber nur auf ersteren ein.

2 Zur kulturanalytischen Tradition in der Geschichte der Sprachwissenschaft seit dem 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl. Maas (1987, 87ff.).

Die kulturelle Dimension der Lexikografie

2.

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Kultur - normativer oder analytischer Begriff?

Zunächst gilt es, den einigen sicher immer noch (oder: schon wieder) allzu schillernd oder gar modisch erscheinenden Begriff der Kultur näher zu bestimmen.3 In der einen, vor allem alltagssprachlichen Verwendung ist der Begriff Kultur stets ein wertendes Prädikat. Gleichgültig ob die politische oder Wohnkultur beschworen wird, oder ob der Kulturetat einer Stadt neben der Hochkultur auch deren alternative Kultur subventionieren soll, oder ob wir uns in Gesprächen über die Kulturlosigkeit der einen und über den Kulturpessimismus der anderen Mitmenschen beklagen: Allen diesen Verwendungen liegt ein Werturteil zugrunde, das bestimmte sozial relevante Handlungen und deren Produkte einer tradierten Norm unterwerfen. Kulturelle Normen konstituieren Konzepte, nach denen Dinge oder Menschen von hoher, niedriger und von gar keiner Kultur sind. Dieser normative Kulturbegriff lag der traditionellen Kulturgeschichte zugrunde, in die auch Wörterbücher immer wieder eingeordnet worden sind. Eine Kulturgeschichte etwa der Germanen, der halleschen Salinen oder der Schraube* zu verfassen, bedeutet wohl noch heute, eine Aufwertung des betreffenden Gegenstandes vorzunehmen.5 Es bedeutet zugleich, andere als im engeren Sinne politische Aspekte ins Zentrum der jeweiligen Geschichte zu stellen.6 Bei dieser Vorstellung von Kulturgeschichte, die charakteristisch für die Selbstvergewisserung des Bürgertums im späten 19. Jahrhundert war, gehen die impliziten kulturellen Normen eine Verbindung ein mit der jeweiligen Auffassung von Geschichte und ihrer Aufwärts- oder Abwärtsgerichtetheit, so dass solche Kulturgeschichtsschreibung das Gefüge der kulturellen Normen bestätigt. Hiernach gab bzw. gibt es also kulturell hochstehende bzw. wichtige und entsprechend zu vernachlässigende Werke in der Literatur so gut wie in der Lexikografie. 3

4

5

6

Eine umfangreiche und neuere, vor allem kulturanthropologische Ansätze diskutierende Definition des Kulturbegriffs stellt Hansen 199S dar. Äußerst knapp bestimmt Maas (1987, S. 90) Kultur ,4m ,weiten' Sinne der Kulturanthropologie [...] als sozial vorgegebene Form (besser: Aggregat von Formen), worin die Menschen ihre Praxis gestalten." Vgl. auch HaßZumkehr (1995), Kapitel 3 und 5. Die Beispiele stammen aus einer rund 1200 Titel umfassenden Liste von Buchtiteln aus dem Online-Katalog des Südwestdeutschen Bibliotheksveibunds (swbopac), die das Titelsuchwort „Kulturgeschichte" aufweisen. Anschaulich wird die Aufwertungsabsicht etwa in folgendem Buchtitel aus dem Jahr 1900: „Aus dem Leben der deutschen Juden im Mittelalter, zugleich als Beitrag für deutsche Culturgeschichte, nach gedruckten und ungedruckten Quellen von Abraham Berliner". Berlin. Vgl. Artikel Kulturgeschichte in Brockhaus Enzyklopädie, 14. Aufl., 10. Bd. 1894; dass, in Brockhaus Enzyklopädie 19. Aufl., 12. Bd. 1990.

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In dem Augenblick aber, in dem die Existenz kultureller Werte und Normen wissenschaftlich wahrgenommen wird - und das passiert, beeinflusst von den französischen Geschichtstheoretikern der Annales seit dem Zweiten Weltkrieg, seit einiger Zeit in allen ehemaligen Geisteswissenschaften - , wird Kultur zu einem analytischen Begriff umgewandelt, so dass die kulturellen Nonnen selbst und ihre Handhabung durch Menschen zum Gegenstand einer Wissenschaft werden können. Mithilfe dieses analytischen Kulturbegriffs wird der Blick auf die Orientierungen gelenkt, mit denen soziale Gruppen sich selbst und ihre materielle wie nichtmaterielle Umgebung zu einem halbwegs sinnvollen Ganzen machen. Diese kulturellen Orientierungen bilden nun wohl kein Konglomerat, sondern eher eine Art System, in dem die Erzeugnisse einer Kultur im normativen Sinne, etwa die Literatur, die Architektur, die wissenschaftliche Rationalität usw. mit nicht oder niedrig bewerteten Ergebnissen sozialer Praxis wie Alltagsritualen, Stereotypen und mit Techniken wie Lesen und Schreiben in Beziehung zueinander gesetzt sind. Dieses System der Kultur muss in sich keineswegs abgeschlossen und widerspruchsfrei sein und seine Elemente müssen kaum sämtlich zusammenhängen, sondern können oft schon fur sich genommen symbolische Zeichen einer kulturellen Ordnung sein. Ich nenne das kulturelle Orientierungssystem auch das Kulturkonzept eines Individuums oder einer sozialen Gruppe. Dieser analytische Kulturbegriff, den wir in der heutigen Lexikografietheorie (und Lexikografiegeschichte) brauchen, hat den normativen Kulturbegriff, seine Genese und die Fülle seiner Folgen, zum Gegenstand. Mit anderen Worten: Wörterbücher sind erstens als Elemente kultureller Orientierungssysteme zu beschreiben und dank einer solchen Beschreibung auch besser zu verstehen, und zweitens werden in Wörterbüchern die Orientierungen einer sozial konstituierten Kultur in fokussierender Weise nicht allein gespiegelt, sondern vermittelt.7 Wörterbücher sind in hiltuanalytischer Hinsicht als gleichwertig zu betrachten, weil sie alle ihre spezifische Funktion innerhalb eines Orientierungssystems haben und dementsprechend Orientierendes anbieten. Reichmann (1986, 23) hat dies die kulturpädagogische Funktion genannt, Ripfel (1989) die normative Wirkung deskriptiver Wörterbücher. Auch wenn grundsätzlich alle Texte als Elemente eines kulturellen Orientierungssystems gelesen werden können, so kommt Wörterbüchern doch eine herausragende Orientierungsfunktion zu, denn in ihrer Textsortencharakteristik ist der Aspekt des Orientie7 Von einer einfachen Repräsentation oder Spiegelung gehen viele begriffsgeschichtliche Untersuchungen aus, die den Wandel von Konzepten anhand von Enzyklopädien und Wörterbüchern beschreiben, z.B. der Pädagoge Wolfgang Klafki in einem Sammelband zur Geschichte des Bildungsbegriffs, zit. in Haß (1991, S. 588f.). Differenziert hingegen Frevert (1995).

Die kulturelle Dimension der Lexikografie

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ren-Wollens und -Sollens konstitutiv. In Anbetracht einer Lexikografiegeschichte, die die Dokumentations- und Thesaurusfunktion der Wörterbücher stets in den Mittelpunkt gestellt hat, soll nun - wie es sich aus der Bestimmung von Kultur als analytischer Kategorie zwingend ergibt - ihre Symptomfunktion und ihre mindestens implizite Appell- und Orientierungsfunktion stärker gewichtet werden. Wörterbücher vermitteln also Orientierungen, die sich zunächst auf sprachliche Regeln, auf Sprachbildung konzentrieren. Zugleich gehen sie aber immer ein mehr oder weniger großes Stück darüber hinaus und vermitteln auch Orientierungen über die Welt. Man kann den Weltbezug der Orientierungen Ideologie nennen, wenn man diesen Ausdruck wertneutral verwendet, oder Propaganda, wenn das Wörterbuch in offen appellativer Weise zur Durchsetzung einer relativ neuen Ideologie beitragen soll, die bei den Benutzern noch nicht breit akzeptiert und internalisiert ist (vgl. Haß-Zumkehr, demn.). In diesem Zusammenhang von politischen Absichten, von Propaganda oder von Ideologie im üblichen, d.h. wertenden Sinne zu sprechen, mag manchem übertrieben scheinen. Tatsache ist jedoch, dass die kulturelle Spezifik eines Wörteibuchs letztlich nur in der Perspektive eines interpretierenden Subjekts von der gezielt ideologischen, d.h. propagandistischen Ausrichtung zu trennen ist. Die Prädikate Ideologie und Propaganda drücken Distanz, wenn nicht Ablehnung des Interpreten aus; Distanz fordert aber jede Analyse der Kulturspezifik eines Wörterbuchs. Überspitzt formuliert: Man kann Wörterbücher nicht danach klassifizieren, ob sie Kulturdokument oder Propagandainstmment sind - immer sind sie beides. Man kann nur die vermittelten Orientierungssysteme vor dem Hintergrund allgemein historischer Kenntnisse als eher traditionell etabliert oder als eher neu und unvertraut einordnen und danach, ob sie mit einem totalitären Selbstverständnis verbunden als geschlossene Systeme erscheinen oder als relativ offene Entwürfe.'

3.

Kultur in der Wörterbuchbeschreibung

Die lexikografisch-kulturanalytisch zentrale Frage lautet nun: Wie werden die Orientierungen vermittelt und welche sprachpädagogischen und darüber hinaus 8 Martin (1989, 60S): „Certain dictionnaires se présentent comme engagés, et l'auteur peut le manifester clairement dans le choix des examples. [...] Mais même dans ceux qui se veulent neutres, les exemples, en tant que discours sur le monde, restituent forcément ,les centres d'intérêt et les jugements communs de la société dont la langue et décrite' (Rey-Debove 1971, 272)".

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gehenden ideologischen Intentionen drücken Lexikografen in ihnen aus? Die Lexikografiegeschichte hat naturgemäß ihr Augenmerk verstärkt auf die Sprachtheorien und Sprachbildungskonzepte gerichtet, die sich etwa aus Wörterbuchprogrammen oder aus der Lemmazeichen-Auswahl ablesen lassen. Aus dem analytischen Kulturbegriff ergibt sich aber nun, dass die ganze Liste der lexikografischen Informationsarten daraufhin geprüft werden muss, welche sprachbezogenen und welche weltbezogenen Orientierungen mit der Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Informations art und mit ihrer jeweiligen Umsetzung in die Praxis ausgedrückt werden. Die kulturellen Bezüge wie z.B. die des Lemmaansatzes in der barocken Stammwortlexikografie sind uns geläufig, ebenso wie diejenige der Einbeziehung fachsprachlicher Wortschätze im Werk Johann Leonhard Frischs, oder auch die propagandistische Funktion von Bedeutungsangaben in den Wörterbüchern der nationalsozialistischen Zeit (vgl. Müller 1994, Kohlmayer 1997, Haß-Zumkehr, demn.). Weniger gefragt wurde bisher nach der kulturellen Orientierungsleistung all der anderen Informationsarten und methodischen Entscheidungen, wie den Angaben zur onomasiologischen Vernetzung, den Beispielen, den Belegen und auch der Entscheidung über die anzusetzenden Einzelbedeutungen oder Verwendungsweisen. Besonders interessant für die kulturelle Analyse von Wörterbüchern ist die Wahl der selbstformulierten und die einem Text- oder Belegkorpus entnommenen, zitierten Beispiele, wie ja auch Nicht-Lexikografen die Beispiele unmittelbar als kulturspezifische Äußerungen zu verstehen wissen.' Die linguistischen, philologischen und enzyklopädischen Funktionen der Beispiele und Belege zu bedenken, ist der lexikografischen Theorie nichts neues. Aber über den objektsprachlichen Sinn, den sie neben ihrem metasprachlichen Sinn immer auch noch besitzen, hat als erster Hermanns (1988) nachgedacht. Danach sind sowohl belegte Beispiele aus der Literatur als auch Kompetenzbeispiele, die sich Lexikografen selbst ausdenken, Zitate aus einem kulturellen Kontext, und es ist bei einem gegenwartsbezogenen Wörterbuch in gewisser Weise unerheblich, ob es sich dabei um einen fingierten oder um einen authentischen Kontext handelt, weil beide Kontextarten im übergeordneten Kontext der Umgebungskultur des Lexikografen aufgehoben sind, oder besser gesagt, in dessen Auffassung seiner Kultur.

9 Anschaulich: Pusch( 1983).

Die kulturelle Dimension der Lexikografie

4.

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Kulturkonzept und lexikografische Methodik bei Adelung und Campe

Ich möchte nachfolgend an einem Beispiel aus der Geschichte zeigen, wie kulturelle Orientierungen im Sinne sprach- und weltbezogener Bildung lexikografisch vermittelt werden können. Die Beispielsätze und -syntagmen werden dabei eine wichtige, aber keineswegs die einzige Rolle spielen. Das Beispiel ist das Wörterbuch der Deutschen Sprache von Joachim Heinrich Campe, dessen fünf Bände 1807 bis 1811 in Braunschweig erschienen und das erklärter Absicht zufolge die Fehler des Grammatisch-kritischen Wörterbuchs der Hochdeutschen Mundart von Johann Christoph Adelung korrigieren wollte, das in 2. Auflage in Leipzig von 1793 bis 1801 erschienen war. Die erste Auflage von Adelungs Wörterbuch, der „Versuch" war 1766 bis 1786 entstanden, der 1. Band 1774 erschienen (Strohbach 1984, 5). Nach Henne (1975a, 130) liefen die Änderungen in der 2. Auflage auf eine Optimierung der „eigenen linguistischen und literarischen Positionen" hinaus, nach dem nur der „bleibende Reichthum", nicht aber die Neuschöpfungen der literarischen Bewegungen seit 1770 zu registrieren seien. Das Wörterbuch konzentrierte sich „sprachsoziologisch-stilistisch auf die Sprache der ,obern Classen'".10 .Adelungs Theorie von der klassischen Literaturepoche von 1740 bis 1760, während der die Obersachsen das literarische Feld beherrschten", bestimmte die Quellen -und Belegauswahl (Henne 1975a, 117). Campe wird seit Jacob Grimm in erster Linie als Purist und epigonaler Lexikograf gesehen, wenn inzwischen auch klar ist, dass sein Purismus volksaufklärerisch und nicht nationalistisch motiviert war und keineswegs in Widerspruch zu seiner Begeisterung für die Französische Revolution stand (Schiewe 1988). Folgerichtig begnügte er sich nicht mit einem Verdeutschungswörterbuch, sondern wandte sich einem dem gegenwärtigen Zustande unserer Sprache gemäßen Deutschen Wörterbuch" zu. Dass Adelungs hoch angesehenes Werk möglicherweise nicht ganz gegenwartsadäquat sei, hatten auch noch andere öffentlich diskutiert, unter anderen Johann Heinrich Voß. Die Wörterbücher Campes wie Adelungs sind somit nicht Produkte einer bloß individuellen Weltsicht. In Campes Fall sorgte dafür schon Theodor Bernd, ein jüngerer Philologe, der die Wortartikel aller fünf Bände zwar nach Campes Konzept und unter dessen korrigierender Aufsicht, im Detail aber praktisch allein geschrieben hat. Dennoch will ich im Folgenden wie gewohnt von Campe als dem prägenden Lexikografen dieses Werkes sprechen.

10 Adelung, Umständliches Lehrgebäude, 1. Bd., 1782, S. LX, zit. nach Henne 1975a, 114. 11 Campe, Vorrede zum Wörterbuch der Deutschen Sprache, 1. Theil, 1807, S. III.

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Meine Untersuchungen zur Kulturspezifik beider Wörterbücher beruhen auf 16 parallelen Teilstrecken, die jeweils die Artikel zu einem Simplex wie z.B. dienen mit den Artikeln der dazugehörigen Ableitungen und rechtserweiternden Kompositen wie Dienst und Dienstpflicht umfassen: Adel, Adels Bürger,... dienen,... edel,... gemein, ... Gesellschaft,... Herr,... Klasse,...

Knecht, ... Magd,... Mensch,.. Obrigkeit, Pöbel,... Staat,... Stand,... Untertan,.

Diese 16 Simplizia mit ihren Rechtserweiterungen repräsentieren den gesellschaftlich-politischen Wortschatz als einen der kulturell zeichenhaften und relevanten Bereiche. 4.1 Stichwortauswahl, Kommentare, Bedeutungsgliederung, Beispielformulierung und Rolle der Diachronie Der Tatsache, dass Campe ein durchschossenes Handexemplar von Adelungs Wörterbuch zum Ausgangspunkt seiner Korrekturen und Ergänzungen gemacht hat, wird ihm bis heute moralisch angekreidet, stellt für meine Zwecke aber einen einzigartigen Glücksfall dar, weil wir damit in Campe zugleich einen Leser des Adelungschen Wörterbuchs vor uns haben, der in den Korrekturen und Ergänzungen seine Interpretation des Adelungschen Kulturkonzepts zu verstehen gibt. Wo Campe einen Wortartikel einfügt, muss er ihn aus einem möglicherweise nicht bloß sprachtheoretischen Grund vermisst haben, ebenso wie da, wo er Zahl und Anordnung der Einzelbedeutungen verändert, eine Bedeutungsangabe und ein Kompetenzbeispiel umformuliert, streicht oder ergänzt und einen Beispielbeleg ersetzt oder hinzufügt. Einen Teil der Gründe, die Campe zu Änderungen veranlasste, kennen wir aus der Wörterbucheinleitung und anderen Schriften: Es waren erstens ein volksaufklärerischer Purismus und zweitens die Ausweitung des zu behandelnden Wortschatzes auf die „feinere Umgangs-" und „Gemeinsprache [...] in allen Deutschen Ländern",13 mithin eine im Vergleich zu Adelung stärkere Ausrichtung am Sprachgebrauch bürgerlicher Adressaten. Campes Änderungsmotive sind also sprachbezogen, nicht sprachsystembezogen, und zielen 12 Campe in Vorrede zum Ersten Theil des Wörterbuchs der Deutschen Sprache, 1807, S. VIII.

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auf den Zusammenhang von Sprache und Gesellschaft. Über seine gesellschaftspolitischen Vorstellungen, insbesondere über sein Modell sozialer Schichtung teilt der Lexikograf Campe nichts explizit mit. Sehen wir uns also an, welche impliziten Vorstellungen über den Aufbau der Gesellschaft die beiden Wörterbücher vermitteln und in welchen Artikelpositionen das geschieht. Campe verzeichnet doppelt bis dreimal soviele Lemmata wie Adelung, was ihm den Tadel der künstlichen Aufblähung eingetragen hat. Zieht man von diesem Überschuss die puristisch motivierten Neuprägungen, die nichtlexikalisierten und die literarisch nur singulär belegten Lemma-Zeichen ab, so bleibt immer noch eine ganze Reihe von Wörtern übrig, die kulturell relevante Konzepte repräsentieren, z.B. Adelsinn, Adelstolz, adelsüchtig, Bürgerkrieg, Gemeinsinn, Gemeinwohl, Gesellschaftsvertrag, Herrendiener, Knechtsgeist, Menschenwürde, Menschenrecht, Menschen(ge)denken, Staatsbürger und viele andere. Alle diese Lemmata, für die Campe in den meisten Fällen auch Belege beibringt - im hier untersuchten Wortschatz übrigens auffallend häufig von Herder - , fehlen bei Adelung. Am Beispiel von Gemeinsinn erläutert Campe in seiner Vorrede (S. XIV), dass das Kompositum „nicht durch gemeiner Sinn, sondern durch Sinn für das Gemeinsame oder Gemeinnützliche umschrieben werden muß". Das Fehlen des Lemmas bei Adelung interpretiert Campe als Fehlen eines gesellschaftlichen Wertkonzeptes: Gleichsam als wenn wir für eine Sache, die so selten bei uns ist, auch kein Wort gebrauchen! Aber wir kommen doch zuweilen in den Fall, von dem Gemeinsinn der Engländer, der Nordamerikaner u. s. w. reden zu müssen! (Campe 1807, Vonede, S. VIII, Anm.)

Bei der Gestaltung des semasiologischen Feldes hat Campe nicht unwesentliche Veränderungen an Adelungs Ordnung vorgenommen nach der ausdrücklichen Absicht, die gesammten Bedeutungen der Wörter auf eine den Regeln der Vernunftkunst gemäßere Weise zu unterscheiden und zu ordnen (Campe, Vorrede, S. X).

Praktisch hat Campe die Nummerierung häufig gestrafft und vor allem die im Vergleich doch beträchtlich erscheinende diachrone Komponente in Adelungs Wortartikeln13 gestrichen bzw. gekürzt und ans Artikelende verschoben. Es handele sich dabei um „geschichtliche Nachrichten", denen die Beschreibung der jetzt „gewöhnlichen Bedeutungen" voran zu gehen habe, so Campe in der Wörterbuchvorrede.14 Es werden aber auch Einzelbedeutungen gestrichen, die 13 Dies vor dem Hintergrund, dass Adelungs Wörterbuch v.a. im Unterschied zu denen seiner Vorgänger Frisch und Stieler gemeinhin als gegenwartsbezogen charakterisiert wird, vgl. Henne 1975a. 14 „IndeB hat man meist in Fällen, wo die wahrscheinlich ursprüngliche Bedeutung veraltet ist, dieselbe nicht vorangesetzt, sondern sie nur am Ende, nachdem das Wort in seinen noch jetzt gewöhnlichen Bedeutungen abgehandlet war, als geschichtliche Nachricht beigefügt." Campe,

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nicht geschichtlich sind, sondern deren Bedeutungsangabe Campe offensichtlich nicht übernehmen mochte. Dies ist etwa der Fall in Adelungs Bedeutungsstelle 2)e) im Wortartikel gemein: Sich mit jemanden [sie] gemein machen, eine allzu große und dem Ansehen nachtheilige Vertraulichkeit gegen einen Geringem blicken lassen. (Adelung, Theil 2,1796, Sp. 549)

Adelung drückt hier die Perspektive eines gesellschaftlich Höher- gegenüber einem Niedrigerstehenden aus und formuliert indirekt eine pragmatische Regel, nach der man mit dem Ausdruck sich gemein machen mit jmd. diesen Jemand als zu den niederen Ständen gehörig abwertet. Das ist hervorragend beschrieben, und doch hat Campe hier den Eindruck gehabt, Adelung warne Gleichgestellte vor Image-schädigendem Verhalten, stelle sich neben die höhere Person und schaue mit ihr auf Menschen niederer Stände herab. Diese Perspektive will er nicht übernehmen. Aber Campe will den Ausdruck sich gemein machen mit jmd. und die auch sonst mit gemein verbundenen Wertungsmöglichkeiten keineswegs unterschlagen und integriert entsprechende Kommentare in eine andere Bedeutungsstelle: Sich mit jemand gemein machen, mit einem Geringem oder Niedern vertraut umgehen, mit dem Nebenbegriffe, daß man es für unschicklich oder entehrend hält. (Campe 1808, 2. Theil, S.299)

War das Verhalten, das der Verbalausdruck bezeichnet, für Adelung wirklich ein Image-schädigendes Verhalten, so relativiert Campe zwar nicht die soziale Ungleichheit an sich, aber doch die moralischen Urteile der Höheren über die Geringeren. Wo Adelung angegeben hatte, gemein bezeichne den „zahlreichste(n) und zugleich niedrigste(n) Theil einer bürgerlichen Gesellschaft, [...]. Es ist nur ein gemeiner Mensch, von niedrigem Stande." (Adelung 1796, Theil II, Sp. 548), eliminiert Campe die abwertende Funktion, indem er schreibt: „der zahlreichste Theil der bürgerlichen Gesellschaft" und streicht Adelungs Beispiel, das wiederum die Äußerung eines sozial höher stehenden Sprechers über eine niedriger stehende Person darstellt (Campe 1808, 2. Theil, S. 299). Die geänderten Formulierungen einer Bedeutungsangabe, die Änderungen der pragmatischen Markierung durch einen relativierenden Kommentar und die Umfonnulierung bzw. Ersetzung von Kompetenzbeispielen folgen bei Campe scheinbar immer dem gleichen Motiv, das darin besteht, die soziostilistische Ebene des Wortgebrauchs vom Adel weg zum Bürgertum hin zu korrigieren. Im Artikel bürgerlich lässt sich dies veranschaulichen (linke

Vorrede, S. XI, in der ersten Anmerkung. Beim Lemma edel betrifft dies die ersten vier Bedeutungsstellen; Campe beginnt erst mit Adelungs sechster und subsummiert ihr die fünfte. Vgl. Henne (1975a, 127).

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Spalte Adelung (Bedeutung 2b); rechte Spalte Campes von mir rekonstruierte Korrekturen): In der Sprache der ¡großen Welti bedeutet b. |figûrlich| oft so viel, als von Γ feinen Sitten entfernet, |den Ge wohnheitea—des—Hoflebens| und

ISehr bürgerliche Sitten haben].

I Adeligen —I uneigentlich sogenannten —I der höfischen Art Ι—I den Gewohnheiten der Adeligen I—I Bürgerlich leben; schlecht und recht, einfach

Adelungs Tendenz zur Hypostasierung des Adels als Welt, Lebensform oder Stand setzt Campe eine radikale Personalisierung entgegen; für ihn gibt es nur die Adeligen und ihr Verhalten. Adelungs Artikel gibt den Blick eines selbstbewussten adeligen Sprechers auf die Bürgerlichen wieder, während Campe genau umgekehrt den Ausdruck bürgerlich als positive Selbstbezeichnung reklamiert. Den „Pöbel" allerdings stufen beide Lexikografen gleich niedrig ein, akzentuieren aber je andere Merkmale. Für Adelung sind Größe und Niedrigkeit die zwei gleichwichtigen Eigenschaften dieser Bevölkerungsgruppe, die er den „größte(n) und niedrigste(n) Haufe(n) in einem Staate" nennt, und denen zwei gleichwichtige evaluative Merkmale entsprechen: die „bürgerliche(n) so wohl als sittliche(n) Niedrigkeit", d.h. der Pöbel ist für ihn gekennzeichnet durch eine niedrige gesellschaftliche Position und eine damit zwangsläufig verkoppelte niedrige Moral (Adelung 1798,3. Theil, Sp. 796). Campe ersetzt Haufe durch das wertneutrale Theil und unterscheidet zwischen der Größe der Gruppe und ihrer Wahrnehmung in moralischer Hinsicht. Pöbel bezeichnet hier „den größten Theil eines Volkes oder einer Gemeinheit, von Seiten seiner Niedrigkeit, Rohheit und Ungebildetheit" (Campe 1809, 3. Theil, S. 666). Campe bringt das moralische Verhalten also mit fehlender Bildung in Zusammenhang, ein Gedanke, der Adelung nicht kommt. In beiden Wörterbüchern wird schließlich die metaphorische Verwendung des Ausdrucks Pöbel beschrieben. Adelung will ihn auf „Personen ohne Tugend und vorzügliche(r) Denkungsart" bezogen wissen und ergänzt, man könne „zuweilen wohl von dem Pöbel in allerley Ständen" sprechen (Adelung 1798,3. Theil, Sp. 796). Aber Campe wird konkreter, ja moralisch anklagend: Auch nennt man Personen höheres Standes, welche ungeachtet ihrer äußern Ausbildung sich über den rohen niedrigen Haufen nicht erheben, Pöbel, und da giebt es Pöbel in allen Ständen, vornehmen Pöbel &c. (Campe 1809,3. Theil, S. 666).

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Während Adelungs moralische Maßstäbe mit den Ausdrücken Tugend und vorzügliche Denkungsart bezeichnet werden, bedient Campe sich einer Variante des im Wortartikel zuvor schon verwendeten Bildungsbegriffs, der äußern Ausbildung, bei der die .wahre' und .innere' Bildimg als Gegenpol implizit mit aufgerufen wird. Es bleibt also nicht bei der Änderung der sozio-stilistischen Perspektive, aus der heraus die Verwendung eines Wortes beschrieben wird. Mit der Änderung vor allem von Bedeutungsangaben und Kommentaren werden partiell andere Konzepte präsentiert, denen andere soziale, moralische und politische Orientierungen zugrunde liegen. Dabei scheint die Verschiedenheit der sozialen und politischen Orientierungen deutlich größer als die der moralischen, wie das Beispiel Obrigkeit zeigt. Adelung (linke Spalte) fuhrt als Bedeutung 2) Folgendes an (Bed. 1 ist als veraltet markiert); Campe (rechte Spalte) (Unterstreichungen von mir, UHZ): Personen, welche im gemeinen Wesen die Gewalt zu gebiethen und zu verbiethen und die Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden haben. [...] Jemanden bei der Obrigkeit verklagen. [..] Der Obrigkeit gehorchen. (Adelung 1798,3. Theil, Sp. 571)

Personen, welche im gemeinen Wesen çinç ihnen von demselben übergebene Obergewalt d. h. die Gewalt zu gebieten und zu verbieten, über streitige Fälle zu entscheiden &c. haben. [··] Sich der rechtmäßigen Obrigkeit widersetzen. (Campe 1809, 3. Theil, S. 541)

Während Adelung über die Legitimation der Obrigkeit nichts sagt, ist Campes Obrigkeit gewissermaßen demokratisch legitimierungsbedürftig. Für die eine scheint prototypisch, dass man ihr gehorcht, für die andere eher, dass man sich ihr trotz Legitimation widersetzt. Durch gemeinschaftlichen Willen legitimiert sein müssen bei Campe ebenso Vorsteher und Pfarrer einer Kirchengemeinde (s.v. Gemeinde), nicht so bei Adelung. Die Legitimationspflicht hat Campe natürlich auch im Konzept des Staates verankert, der als eine Gesellschaft von Menschen bestimmt wird, die „sich gleiche Verfassung und Gesetze gegeben und unter einerlei Regirung begeben haben" (Campe 1810, 4. Theil, S. 565). Die Bedeutungsangabe ist hier mehr als doppelt so lang als bei Adelung, arbeitet mit Ausdrücken wie Zweck, Verfassung, Regirende und Regirte und unterscheidet obendrein explizit zwischen Ideal und Wirklichkeit: [...] wo dann die Regirenden wie die Regiiten zum Staate gehören, nicht aber der oberste Regirende ein vom Staate verschiedenes Wesen ist oder wenigstens nicht sein sollte (Campe ebd.)·

Signifikant sind die jeweils beigefügten Beispiele etwa für den Plural Staaten mit einem spezifizierenden Adjektiv. Adelung (1801, 4. Theil, Sp. 259) nennt

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„Die Europäischen", „Die Preußischen Staaten", „Seine Staaten vermehren"; Campe zusätzlich u.a. „Die vereinigten Staaten von Amerika, die zu einem Ganzen vereinigten Freistaaten in Nordamerika" und „Die Freistaaten oder Bundesstaaten der Schweiz" (Campe 1810,4. Theil, S. 565). Offensichtlich geht es bei solchen Beispielsyntagmen keineswegs nur um die Veranschaulichung sprachlicher Regeln; es scheint, als ginge es hier in erster Linie sogar um ganz etwas anderes, nämlich um soetwas wie die Etablierung prototypischer Assoziationen, die in die politischen Orientierungen passen. Die Vorbildfunktion des Beispiels, die für die Lexikografie der Aufklärung typisch ist, erstreckt sich bei Campe auch auf politische Vorbilder wie die USA und die Schweiz. Vor dem Hintergrund solcher Konzeptänderungen ist die Tatsache, dass die Strecke der Rechtserweiterungen von Staat bei Adelung 30 Lemmata - darunter Staatsengel, Staatsdame und Staatsnaht, die bei Campe 172 Lemmata umfasst, kaum mit puristischen Absichten zu erklären, sondern muss als Zeichen des Gewichts interpretiert werden, die die Idee des republikanisch verstandenen Staates in Campes gesamten Kulturkonzept besaß. Genau so kann der Ansatz des Lemmas Gesellschaftsvertrag nicht allein mit der Befolgung von Lexikalisierungs- oder Belegungsprinzipien erklärt, sondern muss auf die Intention zurückgeführt werden, schon in der Lemmaliste die zentralen kulturellen Konzepte zu verankern, mit denen sich der Lexikograf identifiziert und die er auch seinen Adressaten zur Identifikation anbietet. 4.2 Briefliche Grußformeln Ich komme nun zu einem Wortschatzbereich, bei dem der weitgehend normierte Sprachgebrauch das Acien Régime abbildet und in krassem Widerspruch zu Cmapes Gesellschaftsutopie stand, und bei dem es für ihn nicht leicht gewesen sein kann, die sozio-stilistische Perspektive der semantischen und pragmatischen Kommentare in Richtung auf eine selbstbewusste Bürgerlichkeit zu ändern. In den Wortartikeln dienen, Diener, Herr, Knecht, Magd, untertänig waren nämlich die Verwendungsweisen dieser Ausdrücke in brieflichen und zum Teil dialogisch konventionalisierten Grußformeln zu behandeln. „Ich bin ihr ergebener, gehorsamer u. s. f. Diener. Ihre unterthänige Dienerinn." (Adelung 1793, 1. Theil, Sp. 1486) - solche und ähnliche Formeln werden von Adelung meist eingeordnet als ein bloßer Ausdruck der modischen Höflichkeit, „wobey man nichts denket" (ebd.). ,31oß ein Höflichkeitswort" schreibt an der entsprechenden Stelle (1807, 1. Theil, S. 716) auch Campe15, 15 Höflichkeitswort wird auch verwendet s.v. Dienstschuldig, Campe 1807,1. Theil, S. 720.

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aber da er schon in der Bedeutungserläuterung ein etwas anderes Konzept des Dieners präsentiert hatte, nach dem ein Diener zwar verpflichtet und abhängig von einem anderen sei, „ohne ihm jedoch mit seiner Person unterwürfig und zugehörig zu sein" (Campe ebd.), so muss Campe nun auch die Haltung dessen, der sich aus Höflichkeit eines anderen Diener nennt, als eine selbstbewusste, nicht als eine unterwürfige Haltung charakterisieren. Adelung verzeichnet regelmäßig gerade solche Grußformeln, die noch am häufigsten in den Unterschriften der Briefe „von Vornehmem an Geringere" (Adelung s.v. Dienstbeflissen Dienstergeben, Dienstwillig, Magd) gebraucht werden. Überhaupt legt er großen Wert auf eine differenzierte Angabe der hierarchischen Konstellation, die über die Wahl eines Anrede- oder Titellexems entscheidet. So s.v. Herr. In weiterer Bedeutung ist dieses Wort, so wie das weibliche Frau, auch ein Ehrenwort oder Titel, welchen alle männlichen Personen von einigem Stande, so wohl von Geringem, als von Personen ihres Standes und von Vornehmem zu bekommen pflegen, wenn man sie anredet, oder auch ihrer mit Achtung erwähnet. Der Herr Graf von N. [...] mein Herr Verleger u.s.f. [...] Ich bin des Herren ergebener Diener. Bei Personen, welche schon über den Herrenstand erhaben sind, dergleichen Kaiser, Könige, Herzöge und Fürsten sind, pfleget man das Herr dem Nahmen ihrer Würde oder ihrem eigentümlichen Nahmen nicht mehr vorzusetzen, obgleich solches ehedem üblich war. [...] Indessen geschiehet solches doch noch in einigen Kanzelleyen, wo man noch der Herr Erbprinz, des Herrn Herzogs Durchlaucht u.s.f. spricht und schreibt (Adelung 1796,2. Theil, Sp. 1132).

Campe hingegen streicht oder entdifferenziert diese, die Standesunterschiede betonenden Angaben, es sei denn, es handelt sich um eine Person unterbürgerlicher Schichten: In noch weiterer Bedeutung nennt man Herr jede erwachsene Person männliches Geschlechts, die nur nicht ganz niedrigen Standes sein darf, sonst ohne Rücksicht auf Stand, Rang, Ansehen, Alter &c. (Campe 1808,2.Theil, S. 655)

Es fallt aber auf, dass Adelung viele Höflichkeitsformen als ,noch üblich' kennzeichnet und sie dann oft dem Schreibusus nicht näher bestimmter Kanzleien zuweist; nur ganz vereinzelt äußert er sich sogar kritisch über Merkmale solchen Kanzleistils. Der Gebrauch von untertänig im höflichen-ergebenen Briefstil war, nach der Beleglage des Deutschen Wörterbuchs zu urteilen, um 1800 längst nicht mehr allgemein üblich, galt vielmehr als typisch für einen „schwülstigen kanzleistü".16 Der Ausdruck und das damit bezeichnete Verhalten war Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts Anlass zu Kritik und Satire (ebd.), wie ja überhaupt schon in Brieflehren aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, etwa von Geliert, das Ideal des natürlichen Briefstils der prächtigen oder kanzleiförmigen Schreibart gegenübergestellt worden war:

16 DWB Bd. 24 (1936), Sp. 1869f.

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Wenn ich zum Exempel an einen großen Herrn schreibe, und ihn um etwas bitte: so kann und darf ich zwar nicht ganz so reden, als wenn ich vor ihm stünde. Allein man fasse einmal diese Bitte in einer prächtigen, oder in einer kanzleyförmigen Schreibart ab: so werden tausend Leute sagen, daß der Brief nicht natürlich ist, und bald mit der Antwort fertig seyn, daß man im gemeinen Leben nicht so zu reden pflege.'7

Insbesondere eine Schlussformel wie „daß ich mich nenne Ew. Exzellenz unterthänigen und gehorsamsten Knecht" verwirft Geliert schon 1751 als unnatürlich, kindisch und falsch (ebd. 68f.). So weit allerdings geht Adelung noch 50 Jahre später nicht. Campe markiert zwar Veraltetes generell und streicht auch einen Teil der Verwendungsweisen, die schon bei Adelung als nicht mehr gebräuchlich gelten, aber Campe kann oder will offensichtlich die traditionellen Höflichkeitsformen nicht einfach als veraltet abtun, weil die Wörterbuchbenutzer sich sonst sozialen Nachteilen aussetzen könnten. Er greift infolgedessen zu relativ umfangreichen pragmatischen Kommentaren, in denen die Stilnormen der Kanzleien und Briefsteller keine Rolle mehr spielen. In diesen Kommentaren wird oft genug auf die Herkunft der Höflichkeitskonventionen aus dem Ancien Régime hingewiesen - hier passt ihm die Diachronie einmal zur volksaufklärerischen Absicht - und darauf, dass sich die Symptomatik verändert hat. S.v. Magd hebt Campe hervor, dass eine Frau, die einen Brief mit „unterthänigste Magd" unterzeichnet, weder leibeigen noch Sklavin ist, über ihren Ehestand nichts mitteilt und obendrein mehr Demut bezeugt als angemessen: Ehemals wurde auch eine leibeigene weibliche Person und eine Sklavinn eine Magd genannt, von welcher Bedeutung noch der Gebrauch in Unterschriften zeugt, da nämlich weibliche Personen, sie mögen unveiheirathet sein oder nicht, in übergroßer Demuth an sehr vornehme Personen sich unterthänigste Magd unterschreiben. (Campe 1809, 3. Theil, S. 183)

Ein weiteres Beispiel s.v. Unterthänig: In weiterer Bedeutung gebraucht man unterthänig als einen Ausdruck der gesellschaftlichen Höflichkeit und der Ehrerbietung, welche man sehr vornehmen Personen bezeigen will, auch wenn man ihnen auf keine Art unterworfen ist. (Campe 1811,5. Theil, S. 218)

Die Normen brieflicher Höflichkeit zu kennen, rechnen also Adelung und auch Campe zu deijenigen Sprachbildung, die ein Wörterbuch zu vermitteln hat. Aber die Normen werden von beiden doch recht unterschiedlich begründet und verteidigt, weil sie für Adelung im Wesentlichen noch mit der vertrauten Sozialordnung übereinstimmen, fur Campe hingegen längst ein Missverhältnis zwischen den Titulaturnormen und dem sich im Umbruch befindlichen Gesellschaftssystem besteht.

17 Chr. F. Geliert, Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, 1751, zit. nach: Brieftheoriedes 18. Jahrhunderts 1990, S. 61.

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5.

Fazit

Die Wörterbücher von Adelung und Campe repräsentieren trotz zeitlicher Nähe unterschiedliche kulturelle Ordnungen und Identitäten. Auf der einen Seite haben wir den mit Sekretariatsaufgaben vertrauten und rechtlich privilegierten Beamten Adelung, den gegenüber der Obrigkeit grundsätzlich loyalen Staatsdiener, der die sozialen Umbrüche seiner Zeit eher ablehnend registriert und die Ideen der Französischen Revolution langfristig nicht für wirklichkeitsprägend hält. Verglichen mit den Ergebnissen der Sozialgeschichte lassen sich seine Anschauungen völlig mit denen des frühen Bildungsbürgertums zur Deckung bringen, deren Mitglieder als erste den Weg zum Staatsbürger beschritten und dennoch weiter an altständischen Vorrechten und Symbolen hingen (Wehler 1989,210). Nonngebend ist für Adelungs Bürgertum nicht nur in sprachlicher, sondern auch in kultureller Hinsicht die große Welt des Adels, auch wenn diese Welt bürgerliche Ideen wie Bildung in sich aufzunehmen beginnt und neben die alten Ideale der Tugend und Vornehmheit setzt. Adelungs Wörterbuchstil ist deskriptiver als der Campes, weil er auf etwas Vorhandenes bzw. Gewesenes blicken kann. Auf der anderen Seite haben wir Campe, den vielseitigen Pädagogen und Schriftsteller ohne feste Anstellung, der einer der herausragenden Verbreiter revolutionären Gedankenguts in Deutschland war und dies in der lexikografischen Arbeit blieb." Die Welt des Ancien Régime ist dem nur vierzehn Jahre nach Adelung Geborenen definitiv Vergangenheit, und wo sie es nicht ist, bekämpft er sie; längst ist er mit dem Ausbau der neuen Welt beschäftigt, in der das gebildete Bürgertum den Ton angibt. Dieses sich eigener Werte bewusste Bürgertum wird von Campe als Normalfall auch des Wörterbuchbenutzers vorausgesetzt. In der Emanzipation vor allem des dritten, nicht des vierten Standes, bündeln sich alle seine Intentionen, auch die lexikografischen. Weil Campe immer wieder Ideen und Utopien beschreiben muss, ist sein lexikografischer Stil appellativer. Beide repräsentieren mit ihren Orientierungen wesentliche Teile des Bildungsbürgertums um 1800, das, wie wir gesehen haben, heterogener war als oft wahrgenommen. Beide vennitteln ihre Kulturkonzepte mit allen lexikografischen Mitteln, die zur Verfügung stehen; keine Informationsart ist davon ausgenommen. Es sollte sogar deutlich geworden sein, dass selbst methodische Entscheidungen, wie Adelungs Aufnahme älterer Bedeutungen in die Be-

18 Wie Abdelfettah (1989) an den Wortschätzen des Parlaments, der Verfassung, Verwaltung und politischen Gruppierungen, der revolutionären Justiz, des Wirtschafts- und Finanzwesens in Zeitschriften zeigt, war Campe keineswegs der einzige Lexikograf, der die lexikalischen Folgen der Rezeption der Französischen Revolution im Deutschen veizeichnete.

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Schreibung oder Campes ausfuhrliche pragmatische Kommentierung brieflicher Höflichkeitsformeln, vom jeweiligen Kulturkonzept her bestimmt werden und nicht etwa primär aus einer bestimmten Sprachtheorie heraus entstanden sind. Campes Orientierungsabsicht kommt zwar deutlicher zum Ausdruck als die Adelungs, dennoch kann man nicht von einem Propagandainstrument hier und einem Kulturdokument dort sprechen. Nein, beide Lexikografen liefern kein Abbild des Wortschatzes. Der Vergleich zeigt vielmehr, dass der Topos vom Abbild des Wortschatzes in Wörterbüchern wohl als ebenso naiver Realismus gelten muss wie die Auffassung, Sprache bilde Welt ab. Wörterbücher scheinen hingegen den Wortschatz ausschnitthaft und in einer bestimmten kulturellen Perspektive darzustellen, verbunden mit mehr oder weniger expliziter Werbung für diese Perspektive. Die kulturelle Dimension eines Wörterbuchs umfasst die Zusammenschau aller in ihm vermittelten Orientierungen, einschließlich der sprachlichen. Dann aber hat die Lexikografiegeschichte nicht nur die sprachtheoretischen und sprachgeschichtlichen Traditionen nachzuzeichnen, sondern auch zu zeigen, fur welche kulturpädagogischen Ziele die Sprachreflexion der Lexikografinnen und Lexikografen jeweils funktional ist. Positiv gesprochen: Erst mithilfe eines analytischen Kulturbegriffs kann auch die kulturelle Leistung der Lexikografie im Sinne der Erfüllung kultureller Normen erfasst und dokumentiert werden.

6.

Literatur

Abdelfettah, Ahcène: Die Rezeption der Französischen Revolution durch den deutschen öffentlichen Sprachgebrauch. Untersucht an ausgewählten historisch-politischen Zeitschriften (1789-1802). Heidelberg 1989 (= Sprache Literatur und Geschichte; 1) Adelung, Johann Christoph, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Leipzig 1793-1801. Nachdruck hg. und mit einer Einl. versehen v. Helmut Henne, Hildesheim 1975. J.C. Adelung/ Hofrath und Ober-Bibliothekar zu Dresden/ Von dem GeschäftsStyle, und besonders/ von dem Kanzelley- und Curial-/Style/ In: Niedersächsisches/ Archiv/ für Jurisprudenz / und/ juristische Literatur./ In Gesellschaft mehrerer / herausgegeben/ von/ D.J.C. Koppe./ Erster Band./ Leipzig,/ bey Ε. M. Gräff. 1788, 105-123. (nach Henne 1975a, 140; auch Strohbach 1984, 25) - Ist Separatdruck eines Teils von „Ueber den Deutschen Styl", 1785, und bei Strohbach 1984,41 nachgedruckt.

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Ulrike Haß-Zumkehr

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Die kulturelle Dimension der Lexikografie

265

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Jochen A. Bär / Barbara Gärtner / Marek Konopka / Christiane Schlaps (Heidelberg)

Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch als Instrument der Kulturgeschichtsschreibung Vom kulturhistorischen Sinn lexikographischer arbeit

1. Vorbemerkungen 2. Das Wörterbuch als kulturgeschichtliche Fundgrube 2.1 Kulturgeschichtlicher Informationsgehalt der Wörterbuchartikel 2.1.1 Bedeutungserläuterung 2.1.2 Onomasiologische Vernetzung 2.1.3 Wortbelege 2.2 Fragen der Kulturgeschichte an Texte der Frühen Neuzeit 2.3 Beispiel: giraffe 3. Lexikographie als Forum der Kulturgeschichtsschreibung 3.1 Kulturgeschichtsauffassung in der Konzeption des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs 3.2 Kulturgeschichtsauffassung und Kulturgeschichtsschreibung im Wörterbuchartikel 3.2.1 Direkte Indizien für kulturhistorische Ansichten des Lexikographen 3.2.2 Indirekte Indizien für kulturhistorische Ansichten des Lexikographen 4. Schlußbemerkung 5. Literatur 5.1 Quellen 5.2 Wörterbücher und Lexika 5.3 Sekundärliteratur

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Jochen A. Bär/ Barbara Gärtner/ Marek Konopka/ Christiane Schlaps

1.

Vorbemerkungen

Wörterbücher können in zweierlei Hinsicht Instrument der Kulturgeschichtsschreibung sein. Zum einen können sie dem Kulturhistoriker als Fundgrube und Nachschlagewerk dienen, indem sie kulturhistorische Daten und Fakten in einer - tendenziell - übersichtlichen, komprimierten und leicht zugänglichen Weise präsentieren. Zum anderen stellen sie für ihren Autor ein Instrument dar, mit dem er seine Sicht der Kulturgeschichte vermittelt: Er wählt kulturhistorische Daten und Fakten in einer bestimmten Weise aus, ordnet sie an und kommentiert sie. Es sind mithin zwei entgegengesetzte Perspektiven, die für die Erfassung der kulturhistorischen Relevanz der Lexikographie ins Gewicht fallen: Der Wôrterbuchèenwizer kann bestimmte Informationen im Wörterbuch finden", der WörterbuchmacAer kann bestimmte Informationen im Wörterbuch darbieten. Diese beiden Funktionen von Wörterbüchern - Fundgrube und Forum der Kulturgeschichtsschreibung - werden im folgenden an einigen Beispielen veranschaulicht. Im Zentrum der Ausführungen steht dabei das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch (FWB), mitbegründet, mitherausgegeben und in Teilen bearbeitet von Oskar Reichmann. Der Beitrag entstammt der lexikographischen Praxis - die Verfasserinnen waren mehrere Jahre als Mitarbeiterinnen in der Heidelberger FWB-Arbeitsstelle beschäftigt - und versteht sich daher nicht als Versuch einer erschöpfenden Darstellung des Themas, sondern als skizzenartiger Werkstattbericht.

2.

Das Wörterbuch als kulturgeschichtliche Fundgrube

Die kulturhistorisch relevanten Informationen, die ein Wörterbuch bieten kann, sind vielfaltig; ihre Art und Beschaffenheit hängt dabei jeweils vom Wörterbuchtyp und darüber hinaus von der speziellen makro- und mikrostrukturellen Gestaltung eines Wörterbuchs ab. Das FWB ist typologisch gesehen ein semantisches Sprachstadienwörterbuch; es beschreibt die deutsche Sprache der Zeit von ca. 1350 bis ca. 1650, wobei »die« deutsche Sprache keine einheitliche Größe darstellt, sondern sich als ein Ensemble von Varietäten präsentiert: Sie variiert - um nur die für ein Langue-Wörterbuch1 wichtigsten Aspekte zu nennen - räumlich (dialektspezi-

1 Der Terminus Langue-Wörterbuch wird hier im Sinne von Wiegand 1984, 591 und Wiegand 1993 [1994], 231 f. verwendet. Wiegand spricht zwar nicht von Langue-Wörterbüchern, aber von »langue-Lexikographie« bzw. »Langue-Lexikographie«.

Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch als Instrument der Kulturgeschichtsschreibung

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fisch), zeitlich (innerhalb der ca. 300jährigen Gesamtepoche), sozial (schichten- und gruppenspezifisch) und textsortenspezifisch. Auf der Ebene der Makrostruktur des Wörterbuchs gibt zunächst schon die Lemmaliste ein buntes und vielschichtiges Bild der Frühen Neuzeit in ihrer Zusammensetzung aus realienbezogenen Wörtern über Bezeichnungen aus dem Empfindungswortschatz bis hin zu den verschiedensten zeitgenössischen Fachtermini usw. Auf der im folgenden näher behandelten Ebene der Mikrostruktur liefern die einzelnen Artikelpositionen verschiedene Informationsbeiträge.2 2.1 Kulturgeschichtlicher Informationsgehalt der Wörterbuchartikel Die Artikel bieten neben Informationen über die Wortverwendung standardmäßig Angaben zu Wortfeldern (die sog. onomasiologische Vernetzung), Angaben zur Grammatik (Flexion, Wortbildung, Syntagmen), Angaben zu Symptomwerten (Raum, Zeit, Textsorte); darüber hinaus Informationen über die hinter den Wörtern, den Texten, dem gesamten sprachlichen Handeln stehende historische Realität, also Sachinformationen jeder Art. Anhand von drei verschiedenen Informationspositionen soll dies exemplarisch gezeigt werden. 2.1.1 Bedeutungserläuterung Den Kern des einzelnen Artikels bildet die Bedeutungserläuterung, die durch einen lexikographischen Kommentar ergänzt werden kann. Unter dem Stichwort begine etwa folgt der in Häkchen (>mit einem Wohnsitz belehnt; wo ansässigjn. beherbergen, als Gast aufnehmen^ schließlich die bedeutungsverwandten Lexeme anherbergen, ätzen 1, aufhalten 9, behalten 18, beherbergen 1, behofen 1, heimen, hofen und hegen (FWB III/2, 751 f.). Die Artikelposition verdeutlicht also, welche semantischen Komponenten (Erb-/Lehensrecht; Verpflegung, Schutz) die Verwendung dieses Wortes in der Frühen Neuzeit prägten. 2.1.3 Wortbelege Besonderes Gewicht liegt im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch auf dem Belegblock mit den ausführlichen Belegzitaten und den ergänzenden Belegstel-

Das Frähneuhochdeutsche Wörterbuch als Instrument der Kulturgeschichtsschreibung

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lenangaben - ein Faktum, das seinerseits eine Besonderheit des FWB gegenüber anderen historischen Wörterbüchern des Deutschen darstellt. Gelegentlich wird die Wichtigkeit der Belege im lexikographischen Kommentar eigens erwähnt. So schließt dieser bei den beiden oben angeführten Beispielen bader 1 und begine jeweils mit dem Hinweis, die Belege verdeutlichten das zeitgenössische gesellschaftliche Ansehen dieser Berufsgruppen (FWB II, 1679 sowie III/2, 616). Die Bedeutung der Originaltexte zeigt sich weiterhin darin, daß längere Belegblöcke sich durchaus auch bei nur einer noch dazu unproblematischen - Bedeutung finden lassen, etwa im Fall von 1 beil i. S. v. >kleine AxtGiraffeGiraffeAnstrengung und Mühe der Gottsuche, Askese, religiöse Heiligung, Andachtsübung< [...]. - Vorw. älteres und mittleres Frnhd.; vorw. obd.; vor allem mystische und scholastische Texte (FWB II, 35).

Demgegenüber wird bekanntlich bereits in der Formenübersicht und durch den gesamten etymologischen Teil des Wortartikels im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm eine ungebrochene Kontinuität der sprachlichen Entwicklung suggeriert, die das >Deutsche< (gemeint ist im Zweifelsfall eher das Gesamtgermanische) gegenüber geschichtlichen und territorialen Veränderungen als konstant erscheinen läßt. In den (fließend in die formenbezüglichen und etymologischen Kommentare übergehenden) semantischen Kommentaren kommt dann die Vorstellung von der Stabilität des >Wesens< der Sprache unmißverständlich zum Ausdruck. Man stößt im Deutschen Wörterbuch immer wieder auf Sätze, die den Eindruck vermitteln, ein Wort sei im Grunde genommen eine Art Protolexem, welches trotz formaler Veränderungen und semantischer Differenzen zwischen den konkreten Ausdrücken sein >Wesen< auch über die Grenzen einer Einzelsprache hinweg behalte: rabota bedeutet arbeit, knechtsarbeit, frondienst [...]. hier haben wir es blosz mit rabota und arbeit zu thun, die unbedenklich dasselbe Wort sind, selbst das si. t deckt sich mit dem goth. ]J in arbeite und ahd. d in aiapeid. (DWB 1,539)

An einer anderen Stelle des Artikels arbeit wird auch die Existenz von sich >organisch< entwickelnden übereinzelsprachlichen Konzepten suggeriert. Die sich auf diese Konzepte beziehenden Wörter verschiedener Sprachen müssen nach Jacob Grimm ähnliche Bedeutungen entwickeln: namentlich heiszt reise eine arbeit, das franz. travail hat im engl, travel geradezu diesen Sinn überkommen; so drückt unser arbeit wo nicht die reise selbst, doch die anstrengung und ermattung der reisenden aus: eine sauere arbeit (bei besteigung des Vesuvs) (ebd. 540).

3.2.1.2 Bisweilen äußern sich Lexikographen in semantischen Kommentaren nicht nur zur Frage nach der Geschichtlichkeit von Sprache bzw. von sprachlichen Einheiten, sondern auch zu ihrem eigenen allgemeinen Verständnis der Semantik. Im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch werden die Kommentare zur Semantik sogar systematisch in die einzelnen Artikel eingebaut, indem etwa regelmäßig die Offenheit der Bedeutungsansätze zueinander betont wird. Die Bearbeiter weisen in den einzelnen Wortartikeln immer wieder daraufhin, daß es so etwas wie klar voneinander abgrenzbare Bedeutungen nicht gibt; darüber

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hinaus darauf, daß es sich beim Bedeutungsansatz um eine Interpretation handelt, die als solche verstanden werden will." Ein gutes Beispiel dafür liefert der Kommentar zur Gliederung des semasiologischen Feldes s. v. arm (Adj.): Das Bedeutungsfeld ist besonders schwer gliederbar; 1-3 zur Kennzeichnung der Besitzlosigkeit, der nicht gegebenen Verfügbarkeit über Materielles und Geistiges; 4-8 zur Kennzeichnung sozialer Abhängigkeit, ihrer Formen und der mit ihr verbundenen bzw. ihr zugeschriebenen Folgen; 9 eine polare Paarformel, die auf 1-3 und 4 beruhen kann; 10-14 zur Kennzeichnung allgemeiner und spezieller (natürlicher, rechtlicher, religiöser) Mitleidswürdigkeit; 15 und 16 zur Kennzeichnung der Minderwertigkeit von Sachen. Die einzelnen Bedeutungen und Belegblöcke sind in besonderer Weise offen zueinander. Oft gaben geringe Nuancierungen den Ausschlag für die Zuordnung zu einer der angesetzten Bedeutungen. (FWB II, 100)

3.2.2 Indirekte Indizien für kulturhistorische Ansichten des Lexikographen Zwar standen in den bisherigen Erörterungen direkte Hinweise auf die Kulturgeschichtsauffassung des Lexikographen im Vordergrund, doch wurden mitunter auch schon indirekte Hinweise angesprochen, etwa der Umfang einzelner Artikelpositionen. So läßt wie gesagt die Tatsache, daß Jacob Grimm zu Beginn des Wortartikels umfangreiche etymologische Erläuterungen anfuhrt, unabhängig von seinen direkten Äußerungen dazu bereits die Vermutung aufkommen, daß er eine Einheit der Sprache von den Anfangen bis zur Gegenwart annimmt und dem Leser vor Augen fuhren möchte. Besonders reich an indirekten Hinweisen auf die allgemeine Vorstellung des Lexikographen von Sprache ist die Art, wie er das semasiologische Feld gliedert.24 Ein Hinweis auf eine stärker von logisch-rationalen Kriterien geleitete Sicht der Sprache kann eine hierarchische Strukturierung des Bedeutungsspektrums sein, wie sie dem Leser oft im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm, im Leipziger Althochdeutschen Wörterbuch, bei Adelung und Sanders begegnet. Im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch hingegen kommt die Überzeugung, daß in der Sprache keine durchgängige innere Logik walte, in der linearen Anordnung der Bedeutungsansätze zum Vorschein (vgl. dazu die Übersicht im Anhang). Aber nicht nur das den Einzelbedeutungen zugrundeliegende allgemeine Strukturierungsmuster kann aufschlußreich sein, sondern allein schon das Vorhandensein oder Unterbleiben eines bestimmten Bedeutungsansatzes25: Bei arbeit wird im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch beispielsweise eine eigene Bedeutung arbeit 3 (»Anstrengung und Mühe der Gottsuche, Askese, religiöse

23 Vgl. dazu auch Reichmann 1989, 113 f. 24 Ausführlich zu den Gliederungsmöglichkeiten Reichmann 1989, 102-107. 25 Eine intensive Diskussion der in diesem und dem folgenden Absatz angeschnittenen Problematik findet sich bei Reichmann 1989, 107 ff., insbes. 114.

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Heiligung, Andachtsübunganstrengende Tätigkeit [...]; [...] mühevolles geistiges Schaffen, psychische Anspannung zur Erreichung eines Zieles