Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte. Band 1 Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte: Perspektiven der Germanistischen Sprachgeschichtsforschung 9783110236606

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Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte. Band 1 Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte: Perspektiven der Germanistischen Sprachgeschichtsforschung
 9783110236606

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Sprachgeschichte und Germanistik zwischen Hildebrandslied und Hypertext
Gegenwärtige Sprachgeschichtsforschung in Frankreich
Jüdische Sprachgermanisten und die deutsche Sprachwissenschaft (1930–1945)
Stand und Aufgaben der historischen Valenzforschung
Elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen
Kollokationen und ihre Funktion in der mittelhochdeutschen Syntax
Desiderata für eine historische Grammatik nicht flektierender Elemente
Dialektologie und Sprachgeschichte
Indogermanisch – Germanisch – Deutsch
Über die wechselseitigen Beziehungen zwischen Sprachgeschichte und Literaturgeschichte
Was erklärt die Diachronie für die Synchronie der deutschen Gegenwartssprache? Am Beispiel schwankender Fugenelemente
Zum Problem „Mündlichkeit – Schriftlichkeit“ in der deutschen Sprachgeschichte
Die Bedeutung des Niederdeutschen für die deutsche Sprachgeschichte
Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch
Stand und Perspektiven der Lexikographie des Althochdeutschen
Vergessene Wörter – frühe volkssprachige Lexik in lateinischen Traditionsurkunden
Überlegungen zu einer historischen „osthochdeutschen“ Sprachgeographie

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Perspektiven der germanistischen Sprachgeschichtsforschung

Jahrbuch für germanistische Sprachgeschichte Herausgegeben von Hans Ulrich Schmid · Arne Ziegler

Band 1 · 2010

De Gruyter

Perspektiven der germanistischen Sprachgeschichtsforschung Herausgegeben von Hans Ulrich Schmid

De Gruyter

Wissenschaftlicher Beirat: Elvira Glaser (Zürich), Rüdiger Harnisch (Passau), Nikolaus Henkel (Hamburg), Thomas Klein (Bonn) Jarmo Korhonen (Helsinki), Maxi Krause (Caen), Alexandra Lenz (Wien), Claudine Moulin (Trier), Stephan Müller (Wien), Damaris Nübling (Mainz), Uta Störmer-Caysa (Mainz), Jaromí Zeman (Brünn)

ISBN 978-3-11-022014-8 e-ISBN 978-3-11-022015-5 ISSN 1869-7038 e-ISSN 1869-7046 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorwort der Reihenherausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Vorwort des Bandherausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Arne Ziegler Sprachgeschichte und Germanistik zwischen Hildebrandslied und Hypertext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Odile Schneider-Mizony Gegenwärtige Sprachgeschichtsforschung in Frankreich. . . . . . . . . . . 18 Jörg Riecke Jüdische Sprachgermanisten und die deutsche Sprachwissenschaft (1930–1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Albrecht Greule/Christian Braun Stand und Aufgaben der historischen Valenzforschung . . . . . . . . . . . 64 Mathilde Hennig Elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen . . . . . . . . 76 Mechthild Habermann Kollokationen und ihre Funktion in der mittelhochdeutschen Syntax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Maxi Krause Desiderata für eine historische Grammatik nicht flektierender Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Anthony R. Rowley Dialektologie und Sprachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Rosemarie Lühr Indogermanisch – Germanisch – Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

VI Joachim Heinzle Über die wechselseitigen Beziehungen zwischen Sprachgeschichte und Literaturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Damaris Nübling/Renata Szczepaniak Was erklärt die Diachronie für die Synchronie der deutschen Gegenwartssprache? Am Beispiel schwankender Fugenelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Peter Ernst Zum Problem „Mündlichkeit – Schriftlichkeit“ in der deutschen Sprachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Robert Peters Die Bedeutung des Niederdeutschen für die deutsche Sprachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Ralf Plate Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Brigitte Bulitta Stand und Perspektiven der Lexikographie des Althochdeutschen . . . 269 Michael Prinz Vergessene Wörter – frühe volkssprachige Lexik in lateinischen Traditionsurkunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Hans Ulrich Schmid/Sabrina Ulbrich Überlegungen zu einer historischen „osthochdeutschen“ Sprachgeographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

Vorwort der Reihenherausgeber In Zeiten wie diesen ein Periodikum auf den umkämpften wissenschaftlichen Publikationsmarkt zu bringen, das zudem noch dezidiert zielgruppenorientiert ist, und das als Jahrbuch binnen Jahresfrist seine gesamte aufwendige Genese durchlaufen muss, ist sicherlich ein risikoreiches Unterfangen. Natürlich sind wir dennoch von der Überzeugung getragen, dass dieses Risiko lohnt und das Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte letztlich seinen festen Platz in der germanistischen Fachliteratur einnehmen wird. Im Hause de Gruyter haben wir zudem einen Partner gefunden, der nicht nur bereit ist, mit uns dieses Risiko zu gehen, sondern uns tatkräftig unterstützt und konstruktiv begleitet – dafür möchten wir uns aufrichtig bedanken. Mit dem Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte wird in der deutschsprachigen wissenschaftlichen Publikationslandschaft ein Periodikum etabliert, das sich ausdrücklich sprachhistorischen Inhalten, Methoden und Gegenständen sowie deren Relevanz im Rahmen einer zeitgenössischen Germanistik zuwendet und damit als Forum der aktuellen Sprachgeschichtsforschung fungiert. Während in vielen Periodika die germanistische Sprachgeschichte einen eher peripheren Stellenwert hat oder lediglich als ein Bereich unter anderen behandelt wird, stellt das Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte also Anliegen und Fragen sprachhistorischer Forschung und Lehre in den Mittelpunkt. Bis heute blieb ein solches Organ ein Desiderat der internationalen germanistischen Sprachgeschichtsforschung. Das Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte schließt diese Lücke. Insofern will das Jahrbuch auch den verschiedenen sprachhistorisch arbeitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Arbeitskreisen und Interessengemeinschaften, deren Tätigkeiten oftmals gegenseitig leider kaum zur Kenntnis genommen werden, ein zentrales Forum des wissenschaftlichen Austausches anbieten und soll in diesem Sinne als Mittlerorgan aller wirken, die in Bereichen der germanistischen Sprachgeschichte forschen oder lehren. Ein zentrales Anliegen des Jahrbuchs ist es dabei, die germanistische Sprachgeschichte in universitärer Forschung und Lehre sowie in Schule und Unterricht, aber auch in der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung zu unterstützen. Damit ist insgesamt das Ziel verbunden, die Relevanz einer aktuellen germanistischen Sprachgeschichtsforschung innerhalb einer

VIII in ihren Gegenstandsbereichen expandierenden Germanistik zu akzentuieren und nachhaltig zu verankern. Das Jahrbuch erscheint im Auftrag der Gesellschaft für Germanistische Sprachgeschichte e.V. (GGSG) und stellt gleichzeitig ihr wichtigstes Publikationsorgan dar. Es versammelt regelmäßig ausgewählte und ausgearbeitete Referate der Jahrestagungen der GGSG und macht diese einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Auf diese Weise soll der Leserschaft ein wechselndes, aber stets aktuelles Bild sprachhistorischer Forschung geboten und die laufende Diskussion in ausgewählten thematischen Bereichen reflektiert werden. Das Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte ist ein Periodikum mit Peer-Review-Verfahren, das durch einen wissenschaftlichen Beirat international ausgewiesener Expertinnen und Experten unterstützt wird. Das Jahrbuch verfolgt das Ziel, hochwertige Forschung im Bereich der germanistischen Sprachgeschichte zu fördern und gleichzeitig zur Verbesserung des Wissenstransfers sowie zur Fachkommunikation beizutragen. Verbunden mit unserem Dank an alle, die auf dem Weg zur Publikation des vorliegenden ersten Bandes des Jahrbuchs für Germanistische Sprachgeschichte beigetragen und die Arbeit daran unterstützt haben, ist der Wunsch nach einer weiteren intensiven und konstruktiven Zusammenarbeit im Bereich der germanistischen Sprachgeschichtsforschung. Leipzig und Graz, im Frühjahr 2010

Hans Ulrich Schmid, Arne Ziegler

Vorwort des Bandherausgebers Mit diesem Band liegt das erste Jahrbuch der Gesellschaft für Germanistische Sprachgeschichte vor. Es enthält im Wesentlichen die Beiträge der ersten Jahrestagung der Gesellschaft für Germanistische Sprachgeschichte, die vom 30. September bis 3. Oktober 2009 in den Räumen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften in Leipzig stattgefunden hat. Da es eines der Hauptanliegen der Gesellschaft für Germanistische Sprachgeschichte ist, der Themen- und Methodenvielfalt des Faches gerecht zu werden, und mit dem Jahrbuch ein adäquates Diskussions- und Publikationsforum zu bieten, sollte es das Ziel dieser Auftaktkonferenz sein, zunächst einmal das vielfältige Spektrum der germanistischen Sprachgeschichtsforschung resümierend, vor allem aber mit Blick auf künftig zu Leistendes zu dokumentieren, und zwar unabhängig von theoretischen Voreinstellungen, unterschiedlichen Zugängen und Erkenntnisinteressen. Erbeten waren deshalb Beiträge zu dem bewusst sehr weit gefassten Rahmenthema Perspektiven der Sprachgeschichtsforschung. Die Einzelbeiträge behandeln Themen zu den Bereichen Forschung und Forschungsgeschichte, Historische Grammatik, Deutsche Sprachgeschichte und Nachbarbereiche (hier kamen Vertreter der Dialektologie, der Indogermanistik, der Literaturwissenschaft und der Gegenwartsgrammatik zu Wort), Historische Sprachgeographie sowie Historische Lexikologie und Lexikographie. Dass in diesem Rahmen nicht sämtliche aktuellen Forschungsansätze zur Sprache kommen konnten, versteht sich von selbst. Fest eingeplante nachfolgende Jahrestagungen der Gesellschaft für Germanistische Sprachgeschichte werden in naher Zukunft die Gelegenheit bieten, auch enger gefasste Themen wie Historische Semantik, Historische Syntax, Historische Pragmatik in den Blickpunkt zu rücken. Der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig sei an dieser Stelle für die gewährte Gastfreundschaft gedankt. Dank sei auch der Fritz Thyssen-Stiftung ausgesprochen, die die Konferenz finanziell unterstützt hat. Leipzig, 1. Mai 2010

Hans Ulrich Schmid

Arne Ziegler (Graz)

Sprachgeschichte und Germanistik zwischen Hildebrandslied und Hypertext Überlegungen zu einem zeitgemäßen Umgang mit dem Unzeitgemäßen Sprachgeschichte ist im Grunde die schwärzeste aller ‚schwarzen‘ Künste, das einzige Mittel, die Geister verschwundener Jahrhunderte zu beschwören. Mit der Sprachgeschichte reicht man am weitesten zurück ins Geheimnis: Mensch. (Cola Minis)

1. Vorbemerkungen Die germanistische Sprachwissenschaft und als Teil davon die germanistische Sprachgeschichtsforschung haben sich in den vergangenen Jahrzehnten zu ausdifferenzierten Fächern mit teilweise völlig neu definierten Objektbereichen entwickelt. Typologie- und Grammatikalisierungsforschung, aber auch sprachpragmatische, interdisziplinäre und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Ansätze haben das Spektrum sprachhistorischer Forschungsperspektiven erheblich erweitert. Parallel dazu hat sich u.a. aufgrund von technologischen Fortschritten die philologische Datenlage und -präsentation qualitativ und quantitativ deutlich verbessert und neuere methodische Ansätze ermöglicht – man denke nur an die heute in vielen Bereichen bereits obligatorische korpuslinguistische und statistische Analytik. Der Titel des vorliegenden Beitrags ist daher nicht nur wegen der auffälligen Alliteration und seiner Verbindung zum germanischen Stabreim gewählt, sondern insbesondere deswegen, da er geeignet scheint, das breite Feld der Untersuchungsgegenstände einer modernen Germanistik, in dem sich schließlich auch die germanistische Sprachgeschichte verorten muss, zumindest anzudeuten. Somit wird gleichermaßen der Pluralismus der objektwissenschaftlichen Gegenstände sowie die damit verbundene Heterogenität der forschungsmethodischen und theoretischen Zugriffsweisen der

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Arne Ziegler

aktuellen Sprachgeschichtsforschung ins Auge gefasst. Während lange Zeit im Rahmen der Sprachgeschichtsforschung eine positivistisch-junggrammatische Orientierung vorgeherrscht hat – eine Orientierung übrigens, mit der wohl die meisten der gegenwärtig in der Sprachgeschichtsforschung Tätigen auch noch im eigenen Studium konfrontiert worden sein dürften –, präsentiert sich die Sprachgeschichte aktuell in einer ausgesprochenen Vielfalt unterschiedlicher Positionen. Die Folge ist eine deutliche Disparität innerhalb des Faches, die sich in einem Wettbewerb zahlreicher theoretisch und methodologisch divergierender Forschungsansätze niederschlägt. Die germanistische Sprachgeschichtsforschung zeigt sich heute also vollkommen neu dimensioniert. Jeder einzelne muss sich daher letztlich in diesem Spannungsfeld positionieren und seinen Weg wählen. Insofern fragt der Beitragstitel implizit natürlich auch nach geeigneten Wegen im Sinne von Quo vadis Sprachgeschichte? und nach einem zeitgemäßen Umgang mit dem vermeintlich Unzeitgemäßen. Wenn aber die Frage nach dem Weg der Sprachgeschichte gestellt und damit natürlich die Zukunftsperspektive der germanistischen Sprachgeschichtsforschung thematisiert wird, muss selbstverständlich festgehalten werden: Es gibt sicher nicht nur einen oder etwa den Weg! Insofern sollen die nachfolgenden Überlegungen vielmehr als eine Art Plädoyer verstanden werden, ein Plädoyer für ein lautes und kritisches Nachdenken über Perspektiven und Möglichkeiten der germanistischen Sprachgeschichtsforschung und die Frage, welcher Beitrag dazu beizusteuern ist. Allerdings implizieren Fragen nach Zukunftsperspektiven ja auch immer ein wenig ein unterstelltes vorläufiges Ende, ein angenommenes Dilemma, aus dem ein Ausweg gesucht werden müsse. Dies soll für die germanistische Sprachgeschichte ausdrücklich nicht unterstellt werden. Ganz im Gegenteil: An vielen Stellen sind gegenwärtig Überlegungen und Bemühungen im Gange, um die Stellung der germanistischen Sprachgeschichtsforschung nachhaltig zu stärken, zumindest findet aber vielerorts ein perspektivisches Nachdenken statt.1 Insofern sind die nachfolgenden Überlegungen auch vielmehr als ein Plädoyer zu verstehen, suboptimale Bedingungen, wo sie begegnen, zu verbessern. In diesem Zusammenhang soll ein konkreter Vorschlag unterbreitet werden.

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Es soll dies hier nicht ausführlich dargelegt werden, aber allein der Zuspruch, den sprachhistorische Tagungen in den vergangenen Jahren gefunden haben – so etwa auch jener, der der diesem Jahrbuch zugrundeliegenden Jahrestagung der Gesellschaft für germanistische Sprachgeschichte e.V. zuteil wurde – lassen hier deutliche Signale vernehmen.

Sprachgeschichte und Germanistik zwischen Hildebrandslied und Hypertext

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2. Quo vadis Sprachgeschichte? Grundsätzlich sind natürlich Antworten auf die Frage Quo vadis Sprachgeschichte? aus – zugegebenermaßen recht grob differenziert – zumindest zwei unterschiedlichen Perspektiven möglich. Zum einen sind dies Antworten hinsichtlich einer Positionierung der Sprachgeschichte in einer in ihren Gegenstandsbereichen expandierenden Germanistik im universitären, schulischen und damit im gesellschaftlichen Raum. In diesem Zusammenhang steht die Relevanz von Sprachgeschichte in einer sich modernisierenden Bildungslandschaft im Fokus. Zum anderen sind es Antworten hinsichtlich der Gegenstandsbereiche, Methoden und wissenschaftlichen Zugänge, denen sich eine aktuelle und zukünftige Sprachgeschichtsforschung annehmen könnte und sollte. Da sämtliche Beiträge des vorliegenden Jahrbuches den zweiten Bereich fokussieren, wendet sich dieser Beitrag im Folgenden explizit der ersten Perspektive zu, indem er die Relevanz der Sprachgeschichte und Sprachgeschichtsforschung in einer sich verändernden Bildungslandschaft stärker ins Auge fasst. Dies scheint insofern dringend geboten, da eine möglichst gelungene Positionierung in diesem Bereich sicher auch über die Zukunft der Sprachgeschichtsforschung mitentscheidet, zumal sich die germanistische Sprachgeschichte in der Öffentlichkeit – und nicht nur dort – bereits gegenwärtig mit einem erheblichen Reputationsverlust konfrontiert sieht und zunehmend unter Rechtfertigungsdruck gerät. Bis heute hat die Sprachgeschichtsforschung keine verbindlichen Antworten in Bezug auf die Frage nach der aktuellen gesellschaftlichen Relevanz von Sprachgeschichte vorgelegt, oder aber die Antworten wurden zumindest nicht laut genug nach außen kommuniziert. Diese Beobachtung verwundert, denn es darf wohl unterstellt werden, dass sich jeder der im Bereich eines geisteswissenschaftlichen Faches professionell Tätigen in einer stillen Phase der Selbstreflexion genau mit dieser Frage nachhaltig beschäftigt und sicher auch Antworten gefunden hat. Gerade aufgrund der disparaten Entwicklungstendenzen im Fach Germanistik ist es schließlich entscheidend, welche Konturen einer aktuellen Sprachgeschichtsforschung für die Außenwahrnehmung gezeichnet werden. Gerade diese Umrisse der germanistischen Sprachgeschichte kommen allerdings offensichtlich in den „nicht-sprachhistorischen Öffentlichkeiten“ der Gesellschaft nur unscharf und verschwommen an. Hier scheint ein erhebliches kommunikatives Versäumnis vorzuliegen. Warum sollen sich Studierende der Germanistik – oder auch Schüler – heute noch mit sprachhistorischen Gegenständen auseinandersetzen, wo doch die Ergebnisse der vielzitierten Pisa-Studien und ihrer Nachfolger auf ganz andere bildungspolitische und gesamtgesellschaftliche Problemfelder

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Arne Ziegler

hingewiesen haben; d.h. wo ist eigentlich der Gegenwartsbezug und die Praxisorientierung der Sprachgeschichtsforschung, die die bildungspolitisch Verantwortlichen seit jenen Zeiten gebetsmühlenartig in einer Form hochgradig redundanter Reform- und Innovationsrhetorik unablässlich fordern und die im Zuge der Universitätsneustrukturierungen zu nicht unerheblichen Konsequenzen für die germanistische Sprachgeschichte geführt haben und wohl auch noch führen werden. Die virulente Umstellung der Bildungssysteme hat in den vergangenen Jahren zu hunderten von Stunden administrativer Anpassungsarbeit gezwungen. Neue Fächer und Studienabschlüsse wurden kreiert, damit dem offensichtlich komplizierter und schneller gewordenen Leben in unserer Zeit auch von universitärer Seite aus Rechnung getragen werden kann. Gleichzeitig wurden die Schul- und Studiengangszeiten verkürzt (vgl. Wachter 1996, 11). Als eine Konsequenz der Universität Neu wird darüber hinaus gegenwärtig eine massive Stärkung des Berufsbezugs in der germanistischen universitären Ausbildung gefordert. Unter dem Schlagwort einer Professionalisierung mit dem Ziel der Handlungsqualifizierung für die Praxis wird eine enge Kopplung von Ausbildung und beruflichem Handeln angestrebt, wobei auf Wirtschaft, Technik und Medizin verwiesen wird – und wo bleibt da die germanistische Sprachgeschichte? Natürlich provozieren diese Forderungen aus sprach- und somit geisteswissenschaftlicher Sicht schon etliche Fragen, etwa (vgl. Ziegler 2006, Wachter 1996): –

Gewinnt man aus dieser geballten Ladung auch mehr oder tiefere Einsichten? – Ist die gewonnene Weltschau der Studierenden ganzheitlicher geworden? – Stehen Absolventen der Germanistik dem Anderen verständnisvoller gegenüber? – Schaffen Studienabgänger nunmehr den Zugang zum beruflichen Alltag leichter? – Wie ist das Verhältnis von Hochschulgermanistik und Praxis denn genau zu definieren? – Was bedeutet für ein geisteswissenschaftliches Fach eigentlich Professionalisierung? – Was ist überhaupt die originäre Aufgabe von Wissenschaft? usw. Wenn auch diese eher grundlegenden Fragen im Weiteren – obwohl es sicher sehr reizvoll wäre – nicht behandelt werden sollen, drängt sich unvermittelt der Eindruck auf, dass die germanistische Sprachgeschichte im Kanon der oben skizzierten Anforderungen der Zeit nicht so recht ihren Platz finden will, sieht sie sich doch geradezu permanent dem Vor-

Sprachgeschichte und Germanistik zwischen Hildebrandslied und Hypertext

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wurf der Praxisferne ausgesetzt; ein Vorwurf der bereits gegenwärtig dazu geführt hat, dass beispielsweise noch vor einigen Jahren obligatorische sprachhistorische Kurse des Germanistikstudiums vielerorts komplett aus den Curricula verschwunden sind. Ein Blick in die Studienpläne und Lehrveranstaltungsverzeichnisse deutschsprachiger Universitäten machen diesen Missstand überdeutlich, wenn festzustellen ist, dass im Rahmen vieler Germanistik-Studiengänge etwa das Fehlen von Einführungskursen in das Althochdeutsche, aber auch in das Mittelhochdeutsche usw. zu beklagen ist. Allerdings – und das wiegt im Grunde wesentlich schwerer – ist der Vorwurf der Praxisferne der Sprachgeschichte nicht nur von bildungspolitisch Verantwortlichen – wenn auch nur implizit formuliert – zu vernehmen, sondern ist auch immer häufiger aus sozusagen den eigenen Reihen, von ausschließlich gegenwartsorientiert arbeitenden Kolleginnen und Kollegen angrenzender Philologien, aber auch der Germanistik selbst, bis hin zu den Leitungsgremien der Universitäten zu hören. Dass dies wohl unter Druck des ökonomischen Diktats – oder doch eher der ökonomischen Diktatur – und vor dem Hintergrund eines Verteilungskampfes um die letzten Brocken der sich sukzessive leerenden Fleischtöpfe geschieht, erklärt den Vorwurf, macht ihn aber keineswegs sinnvoller. Ein Beispiel soll pars pro toto eine solche Gesinnungslage verdeutlichen. Bei Werner Ingendahl ist etwa zu lesen, „so interessant Sprachgeschichte und die Anwendungsnöte der Sprachwissenschaften sein mögen, so wenig lösen diese Ansätze die Reflexionsprobleme der Lernenden“ (Ingendahl 1999, 5). Abgesehen davon, dass Ingendahl ein einseitig verstandenes Konzept von Reflexion über Sprache vertritt, in dem das Grammatische nur eine untergeordnete Rolle spielt, und überdies unter Sprachwissenschaften und Sprachgeschichte in strukturalistischer Engführung lediglich Ansätze vermutet, die Sprache als System statischer Zeichen zu begreifen und nicht als System von Mitteln des Verständigungshandelns sowie der Selbstvergewisserung in der Arbeit des Denkens (vgl. Hoffmann 2000, 9), spiegeln Äußerungen wie diese eine Auffassung wider, die leider nicht selten anzutreffen ist. Von dem Meinungsbild der meisten Studierenden zur Bedeutung von Sprachgeschichte im Rahmen eines zeitgemäßen universitären Germanistikstudiums mal ganz zu schweigen. Welche Praxisrelevanz hat eigentlich das Hildebrandslied oder Wolfram von Eschenbach, das Althochdeutsche und Mittelhochdeutsche in der modernen Welt, wo wir uns doch eigentlich um moderne Dinge wie Hypertext und Kompetenzen in den Neuen Medien kümmern sollten? Selbst eine Beschäftigung mit Goethe und Schiller ist gegenwärtig ja bereits für viele ein reiner Anachronismus. Um es kurz zu machen: Das Argument, historische Sprachstufen des Deutschen wie auch mittelalterliche Literatur

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Arne Ziegler

und Ihre Erforschung sei nicht wirklich wichtig oder nicht gegenwartsrelevant – abgesehen davon, dass die Validität des Arguments bezweifelt werden darf –, sollte Vertretern philologischer Fächer und insbesondere der Germanistik nicht leicht von den Lippen gehen, stehen diese Fächer doch häufig selbst, wie die Geisteswissenschaft insgesamt, unter dem selben Legitimationsdruck. In den germanistischen Gegenstandsbereich gewendet wäre mit derselben Argumentation zu fragen: Sind denn eigentlich Schiller, Goethe, Lessing und Kafka heute noch wichtig? Steigert Berthold Brecht etwa die Wettbewerbsfähigkeit von Schul- oder Studienabgängern? Verbessern grundlegende Einsichten in generativer Grammatik irgendjemandes Berufsaussichten (vgl. Nitsche 2008)? Die Geisteswissenschaften sollten nicht versuchen, ihre eigene mitunter schwierige Verteidigung auf der Preisgabe eines vermeintlich (sic!) schwächeren Mitspielers aufzubauen, sondern vielmehr bemüht sein, auf ihrer eigenen Notwendigkeit zu beharren und ihre nicht zu unterschätzenden Potentiale – etwa Geschichtsbewusstsein, die Fähigkeit zur kritischen Lektüre, Flexibilität im Denken und Problemlösen, aber auch ein Widerstand gegen das Denken in ausschließlich ökonomischen Kategorien – zu pflegen und der Gesellschaft glaubhaft zu machen. Schließlich sind dies gerade jene Kompetenzen, die gemeinhin als Stärken einer geisteswissenschaftlichen Ausbildung gesehen werden und etwa Absolventen der Germanistik in der Vergangenheit auch für die Wirtschaft interessant werden ließen. Wenn das Hildebrandslied aus den Studienplänen gestrichen werden kann, weil sein Nutzen nicht quantifizierbar ist, dann können auch Schiller, Goethe, Lessing und Kafka gestrichen werden, und warum nicht überhaupt die Germanistik? Denn alle praktischen Anwendungen und eigentlichen Nebenprodukte der Germanistik wie Übersetzungstechniken, Fachsprachenausbildung, Deutschkenntnisse für die Tourismusbranche und internationale Wirtschaft lassen sich sicher anderswo schneller, besser und effizienter produzieren (vgl. ebd., Ziegler 2010). Solche und ähnliche Argumente2 gegen die Sprachgeschichte, und natürlich auch gegen die Mediävistik, wenden sich also zwangsläufig gegen die Germanistik selbst. Wesentlich interessanter und auch zielführender scheint es, sich darüber Gedanken zu machen, welche Argumente sich für eine stärkere Berücksichtigung sprachhistorischer Zusammenhänge und Gegenstände in Zeiten wie diesen finden lassen und welcher Nutzen 2

Etwa das immer wieder ins Feld geführte Argument der sprachlichen Hürde, das angeblich gegen z.B. das Althochdeutsche und Mittelhochdeutsche steht – dieselbe Argumentation hat u.a. auch dazu geführt, dass kaum jemand mehr Latein lernt; welche Konsequenzen dies etwa in Bezug auf die Grammatikkenntnisse von Schülern und Studierenden hat, ist hinlänglich bekannt.

Sprachgeschichte und Germanistik zwischen Hildebrandslied und Hypertext

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aus der unterrichtlichen Beschäftigung mit der Geschichte der deutschen Sprache gezogen werden kann.

3. Vom Nutzen der Sprachgeschichte in Schule und Universität Ganz allgemein kann zunächst einmal angeführt werden, dass ein Nutzen in der Auseinandersetzung mit Sprachgeschichte wohl jener ist, der im Grunde allen historischen Fächern zugesprochen werden kann. Als Supplement zur September-Ausgabe der Forschung und Lehre im Jahr 2009 lag ein lesenswerter Aufsatz des Pädagogen Andreas Dörpinghaus bei, mit dem vielversprechenden Titel „Bildung. Plädoyer wider die Verdummung“. Dort ist dieser Nutzen auf den Punkt gebracht: In die Geschichte zu blicken, ein Bewusstsein zu entwickeln für die eigene historische Situation, von der aus Verstehen stattfindet, bewahrt vor naiver Weltbegegnung. (Dörpinghaus 2009, 12)

Verstehen resultiert aus gelungener Kommunikation und kommuniziert wird primär mittels Sprache. Sprache aber ist Reflex von Kultur, und Kultur das – dynamische – Resultat der Geschichte. Sprache ist damit ebenfalls dynamisch, und ebenfalls Resultat, nämlich das der eigenen Geschichte – der Sprachgeschichte –, und diese ist wiederum der Reflex der Geschichte sowie der Kulturgeschichte (vgl. Wachter 1996, 11). Sprache ist insofern immer nur denkbar als überlieferte und lebt von Tradition. Volker Ladenthin schreibt dazu: Jeder neue Satz bedarf der alten Vokabeln. […] Ohne Tradition können wir uns nicht über Neues verständigen. […] Wir brauchen, um uns über die Zukunft verständigen zu können, eine durch Tradition abgesicherte Sprache […]. Eine Kultur ohne Tradition hat keine Zukunft. (Ladenthin 2004, 28f.)

In den linguistischen Gegenstandsbereich gewendet fällt einem in diesem Zusammenhang vermutlich zuerst das bekannte Zitat von Hermann Paul in § 10 der Einleitung zu seinen Prinzipien der Sprachgeschichte ein, das nachfolgend kurz in Erinnerung gerufen werden soll und in dem deutlich wird, dass Paul nur eine mögliche linguistische Sichtweise akzeptiert. Es ist eingewendet [worden], dass es noch eine andere wissenschaftliche Betrachtung der Sprache gäbe als die geschichtliche. […] Ich muss das in Abrede stellen. Was man für eine nichtgeschichtliche und doch wissenschaftliche Betrachtung der Sprache erklärt, ist im Grunde nichts als eine unvollkommen geschichtliche, unvollkommen teils durch Schuld des Betrachters, teils durch Schuld des Beobachtungsmaterials. Sobald man über das blosse Konstatieren von Einzelheiten

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Arne Ziegler

hinausgeht, sobald man versucht den Zusammenhang zu erfassen, die Erscheinungen zu begreifen, so betritt man auch den geschichtlichen Boden, wenn auch vielleicht ohne sich klar darüber zu sein. (Paul 1995, 20)

Natürlich soll hier nicht so weit gegangen und der synchronen Linguistik jegliche Daseinsberechtigung abgesprochen werden, aber sicher ist in diesem Zusammenhang ein wesentlicher und konkreter Nutzen der Sprachgeschichtsforschung angesprochen. Ein Nutzen übrigens, der sicher auch nicht in einer ausschließlichen Hinwendung zu lexikalischen und/ oder semantischen Aspekten einer historiolinguistischen Auseinandersetzung mit Sprache in unterrichtlichen Zusammenhängen zu sehen ist, wie sie häufig passiert und zudem auch noch explizit in den Curricula und Lehrplänen gefordert ist. So ist etwa in den Bildungsstandards für das Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss zu lesen, die Schüler sollen „ausgewählte Erscheinungen des Sprachwandels kennen und bewerten: z.B. Bedeutungswandel, fremdsprachliche Einflüsse“ (Bildungsstandards 2003, 16). Die Erkenntnis, dass Sprachwandel alle sprachlichen Ebenen erfasst, scheint hier weitgehend ausgeblendet. Eine auf Lexik – und überdies noch auf Fremdwörter – und Semantik reduzierte Sichtweise verengt und trivialisiert das Thema in geradezu fahrlässiger Weise, verschenkt Möglichkeiten und fördert eher sprachpflegerisch verkürzte Bewertungen von Sprachwandel, die in jedweder Entwicklung der Sprache sogleich einen drohenden Sprachverfall orten, als dass sie solche Betrachtungsweisen nivelliert (vgl. Siehr 2009, Keller 2004). Dabei kann gerade der historische Blick auf grammatische Entwicklungen Studierenden und auch Schülern – etwa im Grammatikunterricht der Sekundarstufe (so er denn stattfindet) – zu einer vertieften Reflexionsfähigkeit über Sprache verhelfen, indem sie etwa Antworten auf die Frage Wie entsteht Grammatik? erhalten und somit den Schritt von der deskriptiven Ebene der Betrachtung zur explanativen gehen können (vgl. Ziegler 2010). Eine Einsicht in die historische Vielfältigkeit der Sprache, der die dialektale, soziolektale usw. Vielfältigkeit der Gegenwartssprache entspricht, hilft, gegenwartssprachliche Entwicklungen nicht ausschließlich phänomenologisch zu betrachten, sondern Sprache als ein zu jedem Zeitpunkt (also auch heute) Veränderliches. Eine solche Einsicht – die überdies natürlich und in erster Linie auch den Lehrenden zu wünschen wäre – kann auch dazu beitragen, einen vor dem Hintergrund der Opposition richtig vs. falsch operierenden Unterricht, der offensichtlich vorrangig das Ziel verfolgt, als eine Art Normenkontrollinstanz für den Erwerb der korrekten sprachlicher Strukturen zu fungieren, zu vermeiden. Denn letztlich wird ein solcher Unterricht „von Lehrenden und Lernenden fest mit Falsch-Richtig-Entscheidungen, mit Fehlermachen/Fehlerahnden assoziiert und demzufolge als feindliches Gebiet wahrgenommen“ (Boettcher

Sprachgeschichte und Germanistik zwischen Hildebrandslied und Hypertext

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2009, S. XI, vgl. Ziegler 2010, Köpcke/Ziegler 2007). Dass ein solcher Unterricht schlicht an Sprachwirklichkeit vorbeiführt, ist offensichtlich, denn schließlich verhält es sich ja gerade so, „dass Sprachwandel trotz [Hervorhebung im Original] der Bemühungen der Schule um Stilpflege, Sprachbewusstheit und grammatischer Richtigkeit stattfindet“ (Bittner/ Köpcke 2008, 75); Sprachnormen können Sprachwandel verzögern, aufhalten können sie ihn aber nicht. Natürlich ist Sprachwandel im Deutschunterricht in erster Linie in Bezug auf die Frage, inwieweit eine sprachliche Variante im Rahmen der standardsprachlichen Norm zu bewerten ist, von Interesse. Aber auch hier gilt uneingeschränkt, dass die sprachhistorische Perspektive Lernenden dazu verhelfen kann, ein neues Verhältnis zu eigenen wie fremden sprachlichen Äußerungen zu gewinnen und letztlich erheblich dazu beitragen kann, die gelehrten und gelernten präskriptiven Grammatikregeln als Annäherungshilfe statt als Beschränkungen im Umgang mit der Sprache zu begreifen, indem nicht jedwede Entwicklung des Gegenwartsdeutschen vorschnell als ein Anzeichen für Sprachverfall interpretiert wird, sondern eine Auffassung Raum greift, die zu erkennen erlaubt, dass von mehreren miteinander konkurrierenden sprachlichen Ausdrücken eben nicht nur einer richtig sein kann, während die anderen falsch oder zumindest „schlechtes Deutsch“ sein müssen (vgl. Nilsson 2002, Nitsche 2003, Ulrich 2003, Elspaß 2007, Siehr 2009, Schmid 2009, Dürscheid/Ziegler/ Elspaß 2010). Bereits bei Jakob Grimm ist in seiner Akademierede Über das Pedantische in der deutschen Sprache zu lesen: In der sprache aber heiszt pedantisch, sich wie ein schulmeister auf die gelehrte, wie ein schulknabe auf die gelernte regel alles einbilden und vor lauter bäumen den wald nicht sehen. (Grimm 1864, 328f.)

Und ein wenig später konkretisiert er, was er damit meint: alle grammatischen ausnahmen scheinen mir nachzügler alter regeln, die noch hier und da zucken, oder vorboten neuer regeln, die über kurz oder lang einbrechen werden. (Grimm 1864, 329).

Die Einsicht, dass Sprachwandel ein wesentliches konstitutives Prinzip der Sprache ist und dass wir uns daher auch in jedem Augenblick „vor im Vollzug befindlichen Veränderungen befinden“ (Coseriu 1974, 99) und sich deshalb diese Veränderungen auch in den „Sprachzuständen“ (ebd.) widerspiegeln müssen ist also ebenso wenig neu, wie die Feststellung, dass allein ein synchroner Blick auf Sprache niemals Erklärungswert für eben diese Sprachzustände haben kann. Es scheint allerdings offensichtlich so, dass in jeder Generation das Bewusstsein aufs Neue für diese Zusammenhänge geschärft werden muss. Insofern ist die Forderung nach einer

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Arne Ziegler

emergenten Grammatik im Sinne Hoppers (1987, 139ff.), die dezidiert den künstlichen Gegensatz von Synchronie und Diachronie aufgehoben wissen will, auch für Lehr-Lern-Diskurse in Schule und Universität nachdrücklich einzufordern. In der Tat manifestieren sich die Veränderungen in der Synchronie, kulturell gesehen, in den „vereinzelten“ Formen, in den sogenannten „geläufigen Verstößen“ gegen die bestehende Norm und in den in einer Mundart feststellbaren heterosystematischen Modi; und funktionell gesehen, in der Gegenwart von fakultativen Varianten und isofunktionellen Verfahren in ein und demselben Sprechmodus. All das, was diachronisch betrachtet bereits Wandel ist, ist also von einem „Sprachzustand“ aus gesehen als kritischer Punkt des Systems und Auswahlmöglichkeit zwischen gleichwertigen Verfahren Bedingung für einen Wandel. (Coseriu 1974, 99)

3. Zu einer Didaktik der Sprachgeschichte Noch ein weiteres fällt auf und damit einhergehend soll der eingangs angekündigte konkrete Vorschlag formuliert werden. Gemessen an dem skizzierten Nutzen in der Auseinandersetzung mit Sprachgeschichte und Sprachgeschichtsforschung und der unterstellten Bedeutsamkeit, sind Überlegungen zu einer didaktisch-methodischen Fundamentierung des Faches absolute Mangelware. Schaut man sich um, findet man zwar umfängliche Abhandlungen etwa zu einer Didaktik des Stabhochsprungs (vgl. z.B. Kruber/Kruber/Lehnertz 1972, Weißpfennig/Simon 1980), eine systematische Darstellung einer Didaktik der Sprachgeschichte aber fehlt. So sucht man einerseits in aktuellen Überblicksdarstellungen zur Didaktik der deutschen Sprache das Stichwort Sprachgeschichte oder explizite Bezüge zu sprachhistorischen Gegenständen zumeist vergeblich (vgl. z.B. Bredel/Günther/Klotz/Ossner/Siebert-Ott 2003). Andererseits schweigt sich allerdings auch die Fachwissenschaft in ihren umfangreichen Handbüchern zu einer Didaktik der Sprachgeschichte vollständig aus und ein Hinweis auf didaktische Zusammenhänge ist nicht zu finden (vgl. Besch/ Betten/Reichmann/Sonderegger 1998; 2000; 2003; 2004). Natürlich gibt es seit längerer Zeit rühmliche Ausnahmen und Positionierungen im geforderten Sinne. So sind in den vergangenen Jahren immer wieder Hefte der Zeitschrift Der Deutschunterricht zu sprachhistorischen Themen erschienen. Verwiesen sei an dieser Stelle exemplarisch auf den von Stephan Elspaß herausgegebenen Jahrgang 3/2007 mit dem Titel Neue Sprachgeschichte(n), wo in der Ansprache an die Leserschaft der didaktische Nutzen der Sprachgeschichte explizit aufgegriffen wird (vgl. Der Deutschunterricht 3/2000, 2/2003, 3/2007). Auch ein Heft der Zeitschrift Praxis

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Deutsch hat jüngst das Thema Sprachwandel für die Didaktik entdeckt (vgl. Praxis Deutsch 215/2009). Daneben sind auch immer wieder kleinere Arbeiten zu finden, die sich der Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven nähern (vgl. z.B. Hofmeister 2005, Kilian 2008, Bittner/Köpcke 2008, Szczepaniak 2010) und Einzelinitiativen wie die vom Institut für deutsche Sprache und Linguistik der Humboldt-Universität im Rahmen der Schüleruni initiierte Vorlesung im Jahre 2009 Sprachgeschichte an der Schule. Sprachwandel – Eine Vorlesung zur Sprachgeschichte für Gymnasien. Insgesamt bleibt dennoch der Eindruck bestehen, dass hier nach wie vor eine unerfreuliche und große Lücke klafft und eine didaktische Sensibilisierung des Faches noch weitgehend aussteht, ganz sicher aber eine systematische Auseinandersetzung in dieser Richtung bis heute nicht vorliegt. Dieser Befund erstaunt aus mehreren Gründen. So ermöglicht aus didaktischer Perspektive zum einen ja gerade die historische Sprachbetrachtung eine Distanznahme zur eigenen Sprache und kann – wie oben angedeutet – Wege zum Aufbau der Sprachbewusstheit eröffnen. Zum anderen sind doch insbesondere jüngere Menschen, Schüler und Studierende, nicht ganz unbeteiligt an sprachlichen Veränderungen und zeigen demzufolge an diesem thematischen Feld überdies großes Interesse (vgl. Kilian 2008). Aber auch aus sprachhistorischer Perspektive darf gefragt werden, warum nicht mehr Anstrengungen in Richtung einer didaktischen Sensibilisierung des Faches unternommen werden. Denn abgesehen davon, dass Sprachgeschichte natürlich keine rein linguistische, sondern eine interdisziplinäre Angelegenheit ist, fordern doch gerade die Besonderheiten sprachhistorischer Arbeit, die u.a. in dem nahezu ausschließlichen Angewiesensein auf schriftliche Überlieferungsträger und den damit verbundenen Aspekten zu sehen sind, dezidiert didaktisch-methodische Überlegungen heraus. Gerade die Textbasiertheit der Sprachgeschichte einerseits und die Historizität der Texte andererseits, benötigen einen spezifischen Zugang, insbesondere wenn man von der Überzeugung getragen ist, dass die Arbeit an authentischen Texten und originären Quellen im Zentrum der Sprachgeschichtsforschung stehen sollte. Nun kann natürlich eingewendet werden – und die Auffassung ist gelegentlich zu hören: Braucht ein historischer Text Didaktik und Methodik, um verstanden zu werden? Spricht ein Text nicht für sich? Nun, vielleicht zu Eingeweihten. Aber wer schon einmal den Versuch unternommen hat und in einem sprachhistorischen Grundkurs den Tatian, einen Text von Walter von der Vogelweide, einen frühneuhochdeutschen Gebrauchstext oder auch einen Text eines wenig geübten Schreibers aus dem 19. Jahrhundert vorgelegt hat, weiß: Da ist nur Stille und niemand spricht zu den Studierenden, schon gar nicht der Text. Ganz zu schweigen von frustrierenden Versuchen mit Handschrif-

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ten oder deren Kopien zu arbeiten. Wer kann denn heute nach absolviertem Germanistik-Studium überhaupt noch Handschriften lesen? Die dazu notwendigen Fertigkeiten und Kenntnisse müssen schlicht vermittelt werden – natürlich am Text und natürlich methodisch gut vorbereitet. Einen nicht-didaktischen und nicht-methodischen Umgang mit Texten in sprachhistorischen Lehr-Lernprozessen kann es daher nicht geben (vgl. Ladenthin 2004). Die Forderung nach einer Didaktik der Sprachgeschichte wird überdies besonders evident, nimmt man die universitäre Klientel in den Blick. Zumindest in Deutschland sind dies in der überwiegenden Mehrheit angehende Lehrerinnen und Lehrer, d.h. in der Schlussfolgerung: Sprachgeschichte muss sich in den Rahmen einer aktuellen Lehrerausbildung sinnvoll verankern lassen. Gegenstand eines sprachhistorischen universitären Unterrichts sollte deswegen auch immer die Auseinandersetzung mit Prozessen der Vermittlung, Aneignung und Verwendung der zu vermittelnden Inhalte in und außerhalb der Schule sein. Doch auch zu dieser Verortung schweigt die Fachwissenschaft zumeist. Dabei böten sich unter Berücksichtigung der jeweiligen Bildungsstandards und Curricula zahlreiche Möglichkeiten. Ganz deutlich etwa im Lernbereich „Reflexion über Sprache“, wo sich die Chance, den Anwendungsbezug der Sprachgeschichte auch unter didaktischen Gesichtspunkten zu etablieren, nahezu aufdrängt. Die Bewusstmachung sprachlicher Prozesse ist und bleibt schließlich eine der wichtigsten Aufgaben des Deutschunterrichts (vgl. Nilsson 2002, 17). Grammatische Inhalte sind beispielsweise dabei – so unisono sämtliche Empfehlungen für unterrichtliches Handeln – nicht als fertige Produkte zu vermitteln, sondern sollen im Kontext der Prozesse erfahrbar gemacht werden, in denen sie Gestalt gewinnen. Dies betrifft natürlich auch die diachronen Prozesse. Denn schließlich zeigen auch die Spracherfahrungen im Laufe der sprachlichen Ontogenese eines jeden Mitglieds einer Sprachgemeinschaft, dass sprachliche Veränderungen und Sprachwandel nicht nur eine Erfindung der Sprachgeschichtsforschung sind. Diese Erfahrungen ungenutzt zu lassen, kommt einer Verschwendung intellektueller Ressourcen gleich, ist doch genau an dieser Stelle ein wesentlicher Anknüpfungspunkt für eine sprachliche Bildung zu sehen, die über ein sprachliches Lernen im engeren Sinne hinausweist (vgl. Kilian 2008). Angehenden Lehrenden ermöglicht die historische Linguistik darüber hinaus einen fundierten Zugang zur Struktur und vor allem zum Wandel von Strukturen der deutschen Sprache, der das Vermitteln von Grammatik im Deutschunterricht durchaus erleichtern kann. Man muss den Lernenden sicher nicht das Verbalsystem des Deutschen in aller Detailliertheit darlegen, also warum zum Beispiel, die starken Verben und die anderen,

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sogenannten unregelmäßigen Verben im Deutschen so sind, wie sie sind; es aber selbst zu wissen, erleichtert den eigenen Überblick – wenn es nicht gar einen Überblick überhaupt ermöglicht – und begründet glaubhaft den Ratschlag an die Schüler, beispielsweise an Lerner des Deutschen als Fremd- oder Zweitsprache, die unregelmäßigen Verben gegebenenfalls tatsächlich auswendig zu lernen, da das System, das sehr wohl hinter ihnen steckt, für die praktischen Zwecke der Schule vermutlich zu kompliziert ist (vgl. Nitsche 2008). Dies freilich setzt eine Kompetenz voraus, die sicher nicht überall gleichermaßen anzunehmen ist. Aus methodischer Sicht steht damit für den universitären Unterricht gleichzeitig eine Abkehr von der Funktion der reinen Stoffvermittlung hin zur Aufgabe der Initiierung, Organisation und Begleitung von Lernprozessen sowie eine Verknüpfung fallbezogener und begrifflich-systematischer Lehr-Lern-Prozesse im Zentrum. Gerade im Zusammenhang mit Fragestellungen der deutschen Sprachgeschichte ist dabei die Forderung nach Anschaulichkeit und Transfer der Erkenntnisse auch in gegenwartssprachliche Problemfelder im Rahmen des universitären Unterrichts nicht nur nützlich, sondern erscheint im Hinblick auf das häufig lediglich schwach bis gar nicht ausgeprägte Vorwissen der Lernenden bezüglich sprachhistorischer Bedingungen (Lautstand, Grammatik, Textsorten, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen sowie kulturelle Rahmenbedingungen usw.) oftmals zwingend erforderlich. Dies bedeutet gleichzeitig auch, dass ein Lernen an Sachverhalten und Problemen, die eine Entsprechung im Erfahrungsraum der Lernenden haben oder absehbar erhalten werden, im Vordergrund stehen sollte (vgl. Ziegler 2007). Geleistet werden kann dies u.a. dadurch, dass sprachliche Äußerungsformen der gegenwartssprachlichen Varietäten des Deutschen sowie deren situationale und kommunikative Kontextualisierung wo immer es möglich ist zum Ausgangspunkt der unterrichtlichen Auseinandersetzung gemacht werden, indem z.B. explizit von Problemen und Zweifelsfällen der Gegenwartssprache ausgegangen wird, um Erklärungen und Kenntnisse in der sprachhistorischen Auseinandersetzung zu gewinnen und vice versa ebenfalls ein Erklärungspotential für gegenwartslinguistische Fragestellungen resultieren kann (vgl. den Beitrag von Nübling in diesem Band). Kennzeichnend für eine solche Perspektive ist letztlich immer die Betonung der Frage nach dem Warum des Wandels von Sprache gegenüber einer rekonstruktiven Beschreibung vergangener Sprachzustände (vgl. von Polenz 2000). Und schließlich – vielleicht das wichtigste Argument für ein systematisches didaktisches Nachdenken – es muss doch ein zentrales Anliegen sein, ein nachhaltiges Interesse an der sprachhistorischen Arbeit zu wecken und Studierende für Sprachgeschichte zu begeistern. Gelingt dies nicht, haben

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wir in absehbarer Zeit ein erhebliches Problem in der Rekrutierung eines qualifizierten wissenschaftlichen Nachwuchses.

4. Fazit und Ausblick Im Vorangegangenen konnten natürlich nur Facetten eines außerordentlich komplexen Feldes aufgezeigt werden. Es sollte aber klar geworden sein, dass sich die germanistische Sprachgeschichte in Zukunft deutlich – vielleicht deutlicher als bisher – gegenüber einem blinden, sorglosen Fortschrittsoptimismus und einer durch den „Herrschaftsanspruch bildungsökonomischer Humankapitalerhebungen“ (Dörpinghaus 2009, 13) begründeten Apologie der Zukunftsfähigkeiten positionieren sollte. Für eine fachwissenschaftliche Disziplin wie die germanistische Sprachgeschichtsforschung ist es unter dem Anwendungs-Aspekt dabei sicher als eine Aufgabe anzusehen, eine didaktisch orientierte Modellbildung voranzutreiben. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass eine Grundannahme der Schule darauf beruht, dass theoretisches Wissen am Untersuchungsgegenstand expliziert auch sinnvoll in der Praxis gebraucht werden kann (vgl. Hoffmann 2000, 19). Will die Sprachgeschichte hier auch in Zukunft mitreden, wären intensivere Bemühungen in diese Richtung sicher sinnvoll. Natürlich – und dies sei einschränkend angeführt – ist klar, dass eine Didaktik der Sprachgeschichte selbstverständlich nicht geeignet ist, sämtliche eingangs skizzierten Probleme zu beseitigen – so soll der Beitrag auch nicht verstanden werden. So lange etwa bildungspolitsch Verantwortliche sich nicht scheuen, Humboldt als steinzeitliche Waffe zu deklarieren und öffentlich – wenn auch wohl wenig reflektiert – fordern: „Wir müssen ihn neu denken“ (Anette Schavan zitiert nach Forschung & Lehre 1/2010, 7), bei eben jenem Humboldt aber u.a. zu lesen ist „Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes“ (Humboldt 1963, 418), sind die Aussichten in tiefere Einsichten und daraus resultierende veränderte Ansichten noch nicht sehr rosig. Insofern wird mit dem vorangegangenen Plädoyer auch nur eine Möglichkeit gesehen, den Nutzen der Sprachgeschichte sinnvoll nach außen, in nicht involvierte Kreise zu kommunizieren, so dass für uns Selbstverständliches vielleicht auch dort ankommt und die oftmals vergessene Erkenntnis Raum gewinnt, dass der Verlust von Sprache und Geschichte – von Sprachgeschichte – gleichzeitig auch ein Verlust von überlieferter Handlungsorientierung oder von Handlungsorientierung durch Überlieferung ist (vgl. Ladenthin 2004, 27).

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Odile Schneider-Mizony (Strasbourg)

Gegenwärtige Sprachgeschichtsforschung in Frankreich 1. Zum Vergleich nationaler Forschungsformationen Der Vergleich zwischen der neueren französischen Historiolinguistik und der deutschen Sprachgeschichtsforschung soll aufzeigen, wie aus unterschiedlichen akademischen Traditionen heraus und unter aktuellen bildungspolitischen Zwängen und Umständen Forschung in Sprachgeschichtsschreibung gemeistert wird. Das Thema selber ist aus mehreren Gründen schwierig zu fassen und der Leser/die Leserin werden um Nachsicht bei folgenden Punkten gebeten: zuerst soll der Titel nicht streng als Gegenüberstellung französischer und deutscher Belange verstanden werden. Beim Wort „Deutschland“ geht es um germanistische Sprachwissenschaft aus der Innenperspektive des Muttersprachlers, und österreichische und schweizerische KollegInnen sind natürlich mitgemeint. Für Frankreich gilt dasselbe, weil es auch diachrone Forschung zum Französischen in Belgien gibt (Université libre de Bruxelles), in Kanada (Université du Québec, Montréal) oder in der Schweiz (Université de Neuchâtel). Zum Zweiten wich die anfängliche Unvoreingenommenheit der Autorin bald einer allmählichen Betretenheit bei der unvermeidlichen Wertung, die solche Vergleiche mit sich bringen, aber nicht im Sinne der ursprünglichen Untersuchung lagen. Auch wenn die eigene Kenntnis der Materie an diejenige der Evaluierungsexperten der AERES1 wahrscheinlich zumindest heranreicht, einer französischen Evaluierungsinstitution, bei der Juristen, Chemiker oder Sportwissenschaftler z.B. literaturwissenschaftliche oder sprachwissenschaftliche Forschungsvorhaben, Gruppen und Studiencurricula begutachten, und umgekehrt, sollten solche Analysen um so eher untermauert werden, als sie Urteile über einen ganzen Forschungszweig abgeben. Aber objektiv wissenschaftliche Ergebnisse können bei einer

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AERES: Agence pour l’Evaluation de la Recherche et de l’Enseignement Supérieur.

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punktuellen Studie kaum erwartet werden, in der Halo-Effekte, Bekanntheitsgrade und Zufälligkeit eine Rolle spielen. Für eine Beleuchtung der Materie, die trotz dieser Handicaps einen gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad beanspruchen könnte, wurden zwei „wissenschaftliche“ und ein hochschulpolitischer Teil vorgesehen, die folgendermaßen gerechtfertigt sind: neueste „Paradigmen“ und schultheoretische Ansätze in der französischen Historiolinguistik werden im ersten Teil vorgestellt und gegen germanistische abgehoben. Im zweiten Teil geht es um solche französische Forschungsdesigns, in denen Faktoren wie kulturelle Traditionen in der Gestaltung der Forschung eine Rolle spielen und die Unterschiede zur germanistischen Sprachgeschichtsforschung erklären können. Die eigene Schätzung spielt dabei eine Rolle und würde vielleicht nicht von jedem französischen Kollegen geteilt werden. Im dritten Teil wird politisch, bzw. hochschulpolitisch argumentiert, weil sowohl Reduzierung als auch Umpolung der verschiedenen Fachzweige der französischen Sprachgeschichtsforschung eine mögliche Ursache in der Einflussnahme durch französische, vielleicht auch europäische Hochschulpolitik finden.

2. Forschungsparadigmen zur Sprachgeschichte in Frankreich 2.1 Positivistisches Beschreibungsmodell und Grammatikalisierung Beschreibungen älterer Sprachstufen des Französischen werden in den letzten Jahren mit absteigender Tendenz verlegt (Buridant 2000, Picoche/ Marchello-Nizia 2001, Combettes 2003): die vier genannten Autoren sind emeritiert und finden kaum Nachfolger in praktischem Textexzerpieren. Der auf manuellen Corpora basierende philologische Ansatz hat vor allem lexikalische oder morphosyntaktische Arbeiten hervorgebracht, die ihr terminologisches und analytisches Instrumentarium aus der modernen französischen Grammatik entlehnen, weswegen manche ForscherInnen eher als GrammatikerInnen gelten denn als SprachgeschichtsforscherInnen. Das Durchsichten der Bibliographien ergibt wenige ausländische Inspirationsquellen, englische oder, seltener, deutsche Titel. Die forschungstheoretische Rechtfertigung wird z.B. durch den Bezug zu den Arbeiten von Gustave Guillaume und seiner Mechanik der Sprache geleistet,2 der in Frankreich trotz oder wegen großer Spezialisierung und entsprechender exklusiver Formulierung ein hohes Ansehen genießt. Modernität wird

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Z.B. Buridant.

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auch mit dem Rückgriff zu Grammatikalisierungstheorien erreicht,3 die als Erklärungsspekulationen für die lange Sprachgeschichte des Französischen einschließlich moderner Sprachstufen fungieren. Autoren, die wie Combettes den Rechtfertigungsdruck ihrer diachronen Forschung weniger stark verspüren, erklären Sprachwandel typologisch, also sprachintern, und liefern ganz interessante Mikro-Beschreibungen zum Französischen zwischen spätem Mittelalter (das sogenannte „moyen-français“) und Neuzeit („français préclassique“). Nach den Untersuchungen zum zeitgenössischem Sprachwandel des dritten Jahrtausends erfreut sich diese Sprachperiode zwischen 1350 und 1700 der größten Beliebtheit, während die Beschreibung älterer Sprachstufen des Französischen schrumpft und die sich damit beschäftigenden Kollegen als „Mediävisten“ abgewertet werden. 2.2 Bewusstseinsgeschichte und die These des Misserfolgs der Sprachgeschichtsforschung Bewusstseinsgeschichte ist es eigentlich nicht oder nicht nur; dieser Zweig, der seit gut zwanzig Jahren in Frankreich blüht, schreibt eine Geschichte der linguistischen Theorien, die in Frankreich, aber auch in anderen europäischen Ländern, den Diskurs zur Sprache in den jeweiligen Epochen geprägt haben, sei es in Form von kulturellen Statements, sei es in Form von Grammatikschreibung. Man fühlt sich an Gardts Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland erinnert, wobei es weniger genuin um Frankreich geht, oder höchstens um Frankreich als Verbreitungszentrum der Sprachphilosophie in der Barock- und klassischen Zeit. Ein Hauptvertreter ist Auroux, der eine philosophische Variante beansprucht, aber auch Jünger und Jüngere wie Chiss/Puech treten die Nachfolge an. Im HSK 18 zur Geschichte der Sprachwissenschaften in 3 Bänden, die zwischen 2000 und 2006 verlegt wurden, geht es sowohl um Sprachtheorien der betreffenden Epochen, als auch um Grammatikunterricht und Grammatikschreibung, um Sprachunterricht in der Mutter- und in Fremdsprachen, und um Normkonzepte zur nationalen Sprache. HSK 18,1 behandelt die historischen Zeiten bis zum 18. Jahrhundert, 18,2 das 19. Jahrhundert und 18,3 das 20. Jahrhundert. Im letzten Band wird von Murray die These vertreten, man hätte es am Ende des 20. Jahrhunderts mit einem allgemeinen Scheitern der diachronen Linguistik zu tun, der es nicht gelungen sei, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Sprachwandel nicht obligatorisch Sprachverfall bedeuten würde, was mangelndes Interesse am und

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Z.B. Marchello-Nizia.

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mangelnde Akzeptanz des Faches erklären würde. Es sei dem kanadischen Kollegen die Verantwortung für diese „definitive“ Aussage überlassen, sie deckt sich allerdings mit der impliziten Annahme des Monumentalwerks HSK 18 gut, bei der Unbeständigkeit sprachlicher Fakten lohne sich eher die Untersuchung von Sprachideen, die länger wirken. Eine kulturwissenschaftliche Ausführung der Bewusstseinsgeschichte à la Angelika Linke oder Beate Leweling wird in Frankreich nicht nennenswert vertreten. Auch konnten keine Arbeiten entsprechend der Sprachgeschichte von unten von Elspaß ausgemacht werden. Die französische Bewusstseinsgeschichte, die sich als „Ideengeschichte“ (histoire des idées) versteht, beschäftigt sich weniger mit Sprachkonzeptionen in der Öffentlichkeit oder in der Laienwelt als mit dem Expertendiskurs der Philosophen und Wissenschaftler. Schon die Grammatikschreiber einer bestimmten Epoche gelten als Techniker des Faches und entsprechend als weniger geeignet, die Sprachthesen ihrer Umwelt zu reflektieren. Folklinguistik ist in der französischen diachronen Sprachwissenschaft nicht beheimatet, was nicht heißen muss, dass kein modernes Forschungsparadigma die französische Historiolinguistik beflügeln würde. 2.3 Der soziolinguistische Paradigmenwechsel Der Begriff „Paradigmenwechsel“ wird zwar von mir im Bewusstsein davon gebraucht, dass nicht jede neue linguistische Schule gleich einen Paradigmenwechsel bedeutet, ist aber Zitat, weil die französischen Sprachwissenschaftler selber diese neuere Ausrichtung ihres Tuns als solchen Paradigmenwechsel reklamieren. Diesbezüglich wird eine charakteristische Aussage des hoffnungsvollsten Vertreters der gegenwärtigen französischen Sprachgeschichtsforschung, Gilles Siouffi, zitiert und übersetzt, der im Thesen-Papier eines Kolloquiums 2008 von seinem Fach behauptete: En France, la recherche en histoire de la langue, après s‘être longtemps focalisée sur des phénomènes évolutifs, en phonologie, en lexique, en syntaxe, s‘est ouverte aux inspirations variationnistes et sociolinguistiques. Les travaux de Labov, Romaine, Balibar, Chaurand, Branca-Rosoff, Lodge, Ayres-Benett ont apporté des avancées significatives sur ce terrain. Une question apparaît au centre de bien de ces travaux : celle du changement linguistique, saisi non pas au point d‘aboutissement d‘une évolution, mais au moment de la confrontation à un usage nouveau.4

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Argumentaire pour le colloque „Modes langagières dans l’Histoire. Processus et changements linguitiques“ Montpellier, Université Paul Valéry, 11-12-13 juin 2008. http://recherche. univmontp3.fr/dipralang/telecharger/prog_modes.pdf

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(In Frankreich hat sich die Sprachgeschichtsforschung nach langem Fokussieren der phonologischen, lexikalischen und syntaktischen Sprachwandelerscheinungen den soziolinguistischen Überlegungen zur Variation geöffnet. Die Arbeiten von Labov, Romaine, Balibar, Chaurand, Branca-Rosoff, Lodge, Ayres-Benett haben bedeutende Fortschritte auf diesem Gebiet erzielt. Die Frage nach dem Sprachwandel erscheint hier zentral, der nicht als Ergebnis betrachtet wird, sondern als Gegenüberstellung von ehemaligem und neuem Gebrauch.)5

Das Versehen der philologischen Arbeit mit negativer Konnotation („s’est focalisée“) und die Zuteilung positiver Werte an die soziolinguistische Schule, die eine Öffnung darstelle, erklären die zwei Hauptrichtungen im neuen Trend: a. Zum einen wird die französische Sprachgeschichte als die eines Wettbewerbs zwischen Französisch und Latein, dann zwischen Regionalsprachen (Balibar), und schließlich zwischen einer Leitvarietät und stigmatisierten Mundarten und Soziostilen (Branca-Rosoff ) neugeschrieben; es erklärt das heutige Interesse der französischen Linguisten an Jugendsprachen, „Vorstadt“-Varietäten und Kontakt zwischen den ImmigrantenSprachen und dem Französischen. Vertreter dieser Richtung sind Chiss 2007, der sein Hauptaugenmerk auf das 20. Jahrhundert legt, oder Lagorgette, die sich mit verbalem Schimpf seit dem Mittelalter beschäftigt. Es geht hierbei weniger um das Normfranzösisch als um gleichberechtigte Varianten des Französischen. Auch ein Monumentalwerk wie das 1500 Seiten dicke Mille ans de langue française (Rey/Duval/Siouffi 2007) spricht auf liebevolle Weise von all den Patois, die das böse Französisch auf seinem Marsch zur Weltsprache verdrängt hat. b. Die damit kohärente Erklärung von Sprachwandel als Wahl zwischen Varianten, sei es auf Grund von Moden oder von Prestigefaktoren, bringt eine erneute Beschäftigung mit der Geschichte der Norm in Frankreich, wobei das 17. und 18. Jahrhundert sich einer gesteigerten Aufmerksamkeit erfreuen: die Rolle der Académie française wird im Sinne eines nationkonstituierenden Mythos umgeschrieben, da die schwankenden Sprachurteile der Académie und die Tatsache, dass ihre Mitglieder in der klassischen Zeit in Personalunion auch als Grammatiker oder Sprachkritiker außerhalb dieser Institution auftraten, nie den autoritären Norm-Diskurs zustande gebracht haben, als der er später durch das 19. Jahrhundert gemalt wurde (Caron 2004). Die gewohnte Normhörigkeit der französischen Sprachgemeinschaft wird in Frage gestellt und auch für die Sprache der Gegenwart als Versuch einer sozialen Barriere entlarvt. Ideen des berühmten Soziologen Pierre Bourdieu werden auf sehr zivilisierte Weise

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Meine Übersetzung.

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in die Sprachbeschreibung eingeflochten: der Impetus dieser Fachrichtung ist eher politically correct als politisch und hat nichts mit achtundsechziger Radikalität zu tun. Kritische Töne zu Frankreichs Sprachimperialismus in der Fachwelt vertragen sich mit der Bitte der nämlichen Fachwelt, die im Conseil de la Francophonie vertreten ist, Französisch als Fremdsprache in der Welt zu unterstützen. Aber der prototypische französische Purismus erfreut sich eines geänderten und gestiegenen Interesses (Paveau/Rosier 2008) in Fachwelt und Öffentlichkeit. In neuester Zeit bearbeitet die Grammatikschreibung der französischen Klassik die sogenannten Remarqueurs, Zwittergestalten zwischen Grammatikern und Sprachkritikern, die ihre Bemerkungen (Remarques) zur Sprache und Grammatiko- und Lexikographie der Zeit verlegten. Ein Forschungsdefizit zur Kodierungsgeschichte des Französischen wird hier nachgeholt: Vaugelas, Furetiere, Malherbe sind Thema neulich erschienener Monographien, z. B. Rey 2006, die ihr Wirken neu interpretieren. Die historische und gegenwärtige Lexikographie des Französischen profitiert von den soziolinguistischen Arbeiten zu Attitüden und Kommentaren, wobei mit den Untersuchungen zu lexikographischen Markierungen (Glatigny 1998) versucht wird, ein methodisch stabiles Vorgehen zu entwickeln. Dagegen kann von keiner nennenswerten pragmatischen Sprachgeschichtsforschung in Frankreich zur Zeit ausgegangen werden: die Erforschung der Beziehungen zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit à la Ágel/Hennig oder die Rekonstruktion von Sprechsprache à la historische Dialogforschung (Kilian) sind unseres Wissens nicht vertreten. Vielleicht könnten die Arbeiten von Lagorgette zur historischen Pragmatik dazugezählt werden, auch wenn Schimpfkommunikation eine reduzierte Domäne historischer Kommunikation darstellt: größere Arbeiten stehen aber noch aus. Auch beschränkt sich ein eventuelles textlinguistisches Interesse auf die Literatursprache. Untersuchungen zu Fachtextsorten wie die Kanzleitexte oder die Stadttexte in der germanistischen Forschung lassen sich kaum finden, was zweierlei bedeuten kann: entweder hat sich die Theorie noch nicht richtig weg von der klassischen Normvariante bewegt, anders gesagt, das Interesse der französischen Forschung liegt immer noch in der sprachlichen Beletage; oder es ist die französische Literatursprache, die vom Hof auch gefördert wurde, tatsächlich die Hauptquelle für die bevorzugte Variante, die sich als Standard etabliert. Kognitive Interessen – man denke da an Überlegungen, ob Sprachwandel mit kognitiven Phänomenen zu tun haben könnte – bewegen sprachhistorische Forscher in Frankreich kaum. Eine einsame Arbeit eines französischen Wissenschaftlers konnte im Tagungsband des deut-

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schen Romanistentages in München6 entdeckt werden (Muller 2003). In Cambridge, wo die soziohistorischen Grammatiker des Französischen Juni 2009 tagten, wurde auf eine Frage bezüglich des kognitiven Ansatzes die Antwort gegeben, „für solche theorielastige Ansätze hätte man in Frankreich wenig übrig“, was eindeutig aus der Verlegenheit des Augenblicks entsprang, wie man es a contrario aus dem Wirken der Forschungsrichtung „Laboratoire des Théories linguistiques“ (vgl. I.2) sieht. Es lässt aber auf die Möglichkeit kulturbedingter Unterschiede der Forschung zwischen Frankreich und Deutschland schließen.

3. Forschungstraditionen und -stile Damit sollen keine ausgeprägt interkulturellen Erklärungsmodi bemüht werden, die irgendwann in einen wie auch immer gearteten Volksgeist münden, sondern historisch gewachsene Unterschiede zwischen dem französischen Forschungsbetrieb und dem deutschen. 3.1. Gegenseitiges Ignorieren der französischen und der deutschen Sprachgeschichtsforschung zum Französischen Französische akademische Tradition unterhält keinen eigenen Zweig zur Romanistik, im Gegensatz zur deutschen Romanistik oder Filologia romanza in Italien. Der französische Akademiker ist entweder „hispaniste“, „italianiste“, „lusitaniste“ oder eben „francisant“ und, da die entsprechenden Lehrstühle und Studiengänge fehlen, die die verschiedenen Tochtersprachen des Lateinischen miteinander in Verbindung bringen würden, sucht er Anschluss entweder in der Mediävistik oder in der allgemeinen französischen Sprachwissenschaft. So erklärt sich der stetige Versuch der Kollegen, aus ihren historischen Studien Verbindungen zum zeitgenössischen Französisch zu ziehen. Die Anbindung an die Mediävistik ist die weniger gern gesehene Variante, da die Forschungsgemeinschaft zu diesen älteren Stufen des Französischen immer kleiner wird. Der Kontakt zur zumindest bis vor kurzem gesunden deutschen Romanistik wird um so weniger gesucht als es, abgesehen von eventuellen Sprachproblemen der französischen Akademiker, die des Deutschen wenig mächtig sind, offensichtlich ein Abschotten der deutschen Romanisten 6

Aus der Sektion „Evolutions linguistiques et études cognitives“, XVII Deutscher Romanistentag 7.–10. 10. 2001 München.

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im Sinne einer splendid isolation gegen die französischen KollegInnen gibt oder gegeben hat. Die wissenschaftlichen Standardwerke, worin die Historiolinguistik des Französischen internationale Unterkunft hätte finden können, das Lexikon der Romanistischen Linguistik (LRL 1988–2003) und das HSK Romanische Sprachgeschichte 23, sind nicht nur fest in deutscher Herausgeberhand, sondern lassen auch kaum französische Wissenschaftler zu Worte kommen. Die nüchterne Betrachtung des LRL ergab, dass zwei Drittel der Beiträge auf Deutsch von deutschen Romanisten geschrieben wurden, und die anderen Beiträge in romanischen Sprachen vor allem auf italienisch, spanisch oder auf französisch, aber von portugiesischen oder rumänischen Kollegen verfasst sind. Im neueren HSK 23, dessen Publikation sich von 2003 bis 2008 erstreckte, ist zwar nur noch die Hälfte der Beiträge auf deutsch und von deutschen Romanisten, das Bild der Herkunftssprachen und Länder ist zu Ungunsten der französischen Forschung immer noch sehr unausgeglichen: wenige französische Mediävisten konnten darin ausgemacht werden, Marchello-Nizia 2008 zur Morphosyntax, Revol 2006 zur Literatursprache oder Buridant 2006, wobei letzterer um einen Beitrag zum religiösen Wortschatz gebeten wurde, obwohl seine Haupttätigkeit auf dem Gebiet der älteren Morphosyntax und Phraseologie liegt. Die Qualität der Artikel dieser beiden Standardwerke soll mit diesem Exzerpieren nicht in Frage gestellt werden, denn Deutschland hat anerkannte Forscher zur Geschichte der französischen Sprache, die sich darin, zum Teil mehrmals, ausgesprochen haben. Die deutsche Herausgeberleitung unterstützt die Rolle des Deutschen als Verkehrsprache in der romanistischen Forschung. Aber es ist zu vermuten, dass die fehlende Anerkennung durch die deutschen KollegInnen die Sprachbarrieren – nicht viele französische Kollegen lesen wissenschaftliche Artikel in deutscher Sprache – a posteriori rechtfertigen und das so gut wie völlige Ignorieren der deutschen Romanistik durch die französischen Kollegen erklärt und umgekehrt. Die internationale Forschungsanbindung wird einerseits traditionell in der Romania gesucht (Kanada, Schweiz, Belgien) und andererseits neuerdings in England, wo die Gesellschaft zur Erforschung der Grammatikschreibung des Französischen zur Zeit ihren turnusmäßigen Sitz in Cambridge hat.7 Als sprechende Anekdote, die diesen „Romanistikgraben“ dokumentiert, findet man in der deutschen Wikipedia einen vorzüglichen Artikel zur „Romanischen Sprachwissenschaft“, bzw. „Romanistik“, die höchstwahrscheinlich von (einem?) deutschen Romanisten

7

Prof. Wendy Ayres-Bennet, Projekt „Observations on the French Language“ Murray Edwards College, Cambridge.

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verfasst wurde: in der 47 Namen zählenden Liste bekannter Romanisten findet man einen schon längst verstorbenen Franzosen, Gaston Paris, 40 deutsche Romanisten, und einige auswärtige.8 Dagegen ist in der französischsprachigen Wikipedia die Autorschaft des Artikels zur Geschichte der französischen Sprache schwieriger auszumachen, werden doch belgische, deutsche (Wartburg und Weinrich ...), französische, italienische und kanadische Quellen genannt.9 3.2. Französische Sprachgeschichtsforschung zwischen Gegenwart und Geschichte, Allgemeiner Sprachwissenschaft und Mediävistik Die schon erwähnten Positionierungsschwierigkeiten der Fachkollegen der französischen Sprachgeschichtsforschung zwischen mittelalterlichem und zeitgenössischem Französisch resultieren aus dem doppelten Spagat zwischen eigenen und Nachbardisziplinen. Sein universitäres Dasein fristet das Fach als Hilfswissenschaft im Rahmen der Studien zur Muttersprache (Lettres Modernes und Lettres Classiques), die die Ausbildung der zukünftigen Gymnasiallehrer leisten. Soweit Texte aus dem frühen oder späten Mittelalter in der Ausbildung durchgenommen werden, ist der französische Mediävist ein Zwitter aus Sprach- und Literaturwissenschaftler, was die philologische Ausrichtung und den Hang zu Grammatik und Texteditionen erklärt. Für klassische Texte aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die heutzutage immer noch relativ verständlich sind, unterhalten nur die größeren Universitäten Unterrichtsmodule in älteren Sprachstufen, und Kollegen brauchen andere Unterrichts- und Forschungsschwerpunkte, die sie zum Teil bei zeitgenössischem Französisch suchen: hiermit ist die Wiederverwertbarkeit des akademischen Wissens in vorstädtischen Gymnasien gewährleistet und insofern eine Möglichkeit gegeben, den Studenten ein Interesse für das Fach nahezubringen. Allgemeine Sprachwissenschaft hat es im Anschluss an die schönen Entwicklungsjahre nach 1968 seit ungefähr 15 Jahren relativ schwer, die Erkenntnisziele des Faches an den Mann zu bringen: die „Jargon-Jahre“ haben das gesellschaftliche Interesse daran schwinden lassen und der Rechtfertigungsdiskurs tut sich schwer damit, eine heutige Nützlichkeit zu demonstrieren. Insofern ist die Analyse des Schimpfes der Kollegin Lagorgette schon eine geschickte Marktlücke zur Befriedung der sogenannten

8 9

http://de.wikipedia.org/wiki/Romanische_Sprachwissenschaft, am 18.02.10 abgerufen. „Histoire de la langue française“, http://fr.wikipedia.org/wiki/Histoire_de_la_langue_ française, am 18.02.10 abgerufen.

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„unzivilisierten“ Schüler. Linguistisch völlig unbedarfte Soziologen nehmen sich inzwischen auch des Themas „Sprechen als Gesellschafts- und Polit-Kitt“ an, das Subventionen locker macht,10 und decken damit eine großzügige Periode von zwei Jahrhunderten, die sie den französischen Sprachgeschichtsforschern streitig machen. Auch das Fach Geschichte spielt die Rolle einer benachbarten Disziplin, da ein Glaubensbekenntnis des Faches der Unterschied zwischen innerer und äußerer Sprachgeschichte ist. Diese von Picoche und Marchello-Nizia Ende der neunziger Jahre ausgearbeitete Unterscheidung bringt allerdings eine Spaltung der Fachrichtung, wonach die, die sich um interne Sprachgeschichte kümmern, immer grammatikalischer werden und die, die sich mit externer Sprachgeschichte profilieren, einen Hang zur historisierenden Erzählung von Sprachgeschichte kennen. Letztere sind sich der größeren Aufmerksamkeit des Publikums sicher, denn es lassen sich immer noch relativ ausführliche Geschichten der französischen Sprache verlegen. Eine leichte Populärwissenschaftlichkeit tut dabei den Leserzahlen keinen Abbruch. 3.3 Gemengelage zwischen Wissens- und Laiendiskurs Dieser Eindruck bezieht sich nicht auf die wissenschaftliche Ernsthaftigkeit der betreffenden Kollegen, und ist wahrscheinlich aus dem Kompromiss mit dem nicht spezialisierten Diskurs entstanden, der die notwendige Brücke zur Gesellschaft baut. Um das implizite Versprechen der Fachnützlichkeit einzulösen, müssen Vorworte von Monographien wie Sammelbänden zur französischen Sprache und Sprachgeschichte immer wieder betonen, dass sie für das breitere Publikum der sprachinteressierten Franzosen schreiben: L’ouvrage est destiné à tous les spécialistes de la langue, qu’ils soient enseignants, étudiants, rédacteurs, journalistes, correcteurs, mais aussi à ces passionnés du français, amoureux des mots et amateurs de tournures, qui nous ont fourni tant d’exemples et de sujets de réflexions.11 (Der Band wendet sich an alle Sprachspezialisten, seien sie Lehrer, Studenten, Redakteure, Journalisten, Lektoren, aber auch an alle Liebhaber von Französisch, die Wörter und Ausdrücke mögen und uns viele Beispiele und Motive zur Überlegung geliefert haben.)

10 Ein Beispiel für viele: Philippe Breton (2006): L’incompétence démocratique. La crise de la parole au coeur du malaise (dans la) politique, Paris. 11 Paveau/Rosier (2008, 14).

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So lässt sich eine „weichere“ französische Schreibweise feststellen, wenn man z. B. die Mille ans de langue française (Rey & alii, 2007) mit der Polenzschen Sprachgeschichte vergleicht: Im Konversationston wird einem erzählt, dass „einige“ Prälaten auf die Unkenntnis des Lateins im Volk Rücksicht nahmen, oder dass „die“ Kleriker zweisprachig latein-moyen-français waren (255). Selten wird man mit Zahlen oder Prozenten gelangweilt, die Fußnoten (die am Ende als Kapitelnoten erscheinen) enthalten nur die allernotwendigsten Verweise auf die Sekundärliteratur, die selber sehr begrenzt ist. Das ganze Werk bringt es bei Rey und Alii auf 25 Seiten Sekundärliteratur für tausend Jahre, während das Polenzsche Band II z. B. 40 Seiten Sekundärliteratur für das 17. und 18. Jahrhundert bietet. Der französische Schreibduktus scheint gänzlich bei den Geisteswissenschaften angekommen zu sein, vorbei sind die Zeiten der Rivalität mit den Naturwissenschaften, im Französischen auch exakte Wissenschaften, Sciences exactes, genannt.

4. Sprachgeschichtsforschung und Hochschulpolitik 4.1 Mentale Welten Die Sprachgeschichtsforschung ist in Frankreich von zwei Stigmata gleich befleckt, das der Unanwendbarkeit der Linguistik, wie schon oben erwähnt, und das der Unangebrachtheit von historischen Studien in der modernen Welt. Beide negativen Repräsentationen sind wahrscheinlich keine rein französischen Phänomene, werden aber seit der Jahrhundertwende im öffentlichen Diskurs zu den Geisteswissenschaften immer häufiger angewandt. Die Vereinigung der Sprachwissenschaften fühlte sich 2003 zum Abhalten eines Kolloquiums genötigt, das mit dem vielsagenden Titel „Mais que font les linguistes?“ gegen das Vorurteil der Lebensferne und der praktischen Unanwendbarkeit zu agieren versuchte.12 Umso schlimmer trifft es den historischen Sprachwissenschaftler unter einer Regierung, deren Präsident regelrechte Kreuzzüge gegen unmoderne Literatur, wie die Princesse de Clèves (1678) oder ältere Studien unternimmt. In der kostenlosen Zeitung 20 Minutes, die in öffentlichen Verkehrsmitteln verteilt wird, rechtfertigte der Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy den (noch nicht eingetretenen) Stopp jeglicher Finanzierung für Latein-Studiengänge am 16. April 2007 folgenderweise:

12 Jacquet-Pfau, Christine/Sablayrolles, Jean-François (Hg.) (2005): Mais que font les linguistes? Les Sciences du langage, vingt ans après. Actes du colloque 2003 de l’Association des Sciences du Langage, Paris.

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Le contribuable n’a pas forcément à payer vos études de langue ancienne. Les universités auront davantage d’argent pour créer des filières dans l’informatique, dans les sciences économiques. Le plaisir de la connaissance est formidable, mais l’Etat doit se préoccuper d’abord de la réussite professionnelle des jeunes. (Der Steuerzahler sollte ein Studium der älteren Sprachen nicht unbedingt finanzieren müssen. Universitäten werden mehr Geld haben, um informatische oder wirtschaftwissenschaftliche Studiengänge zu finanzieren. Das Wissen ist etwas Wunderbares, aber der Staat soll sich vor allem um den beruflichen Erfolg der jungen Leute sorgen.)

Der feindliche öffentliche Diskurs zwingt zwar die Sprachhistoriker nicht ganz in den Untergrund, erklärt aber vielleicht, warum die jeweiligen KollegInnen in Forschungsgruppen verstreut sind, deren Benennung nicht darauf hindeutet, dass sie sich auch mit älteren Sprachstufen befassen. Es ist der Fall mit ATILF Université de Nancy (Analyse et Traitement Informatique de la Langue Française: Combettes DILTEC (EA 2288) DIdactique des Langues, des TExtes & des Cultures: Chiss DIPRALANG (EA 739) in der Universität Montpellier (Di = Didaktik; PRA = Praxis; Lang für Sprachen): Siouffi HTL (UMR 7597) in Paris-VII (Histoire des Théories Linguistiques): Auroux, Puech ICAR (ENS Lyon) als Interactions Corpus Apprentissages Représentations: Christiane Marchello-Nizia LaTTiCe ENS Paris (UMR 8094) Langues Textes, Traitements informatiques, Cognition: Sophie Prévost LiLPa (EA 1339) Université de Strasbourg (LInguistique Langue et Parole): Buridant SYLED (EA 2290) Paris III-Sorbonne Nouvelle (Systèmes Linguistiques, Enonciation & Discursivité): Sonia Branca-Rosoff Diese acht Forschungsgruppen sind Beispiele für Forschungsformationen, aus denen französische Sprachgeschichtsforschung in Form von Tagungen und Publikationen hervorgeht, die aber keine institutionelle Sichtbarkeit erlangt. Der Verlust an akademischer Anerkennung des diachronischen Forschungskerns wirft ein beängstigendes Licht auf den Stellenwert der Fachrichtung, rührt aber keinesfalls aus einem freiwilligen Verzicht der Kollegen auf sprachgeschichtliche Identität, wie es die gegenteiligen Versuche zur Gestaltung eines diesbezüglichen Netzes immer wieder zeigen: die schon erwähnte Société Internationale de Diachronie du Français (SIDF)

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mit Sitz in Cambridge13 stellt sich als Ort der Zusammenkunft für alle diejenigen vor, die sich mit diachroner Linguistik des Französischen befassen „lieu de rencontre pour tous ceux qui s’intéressent à l’histoire de la langue française“; oder die dynamischen historiolinguistischen KollegInnen aus obengenannten Forschungsgruppen veranstalten im Zwei-Jahresrhythmus eine sprachgeschichtliche Tagung von nationalem Interesse mit dem Stichwort DIACHRO, von DIACHRO I (2002) bis DIACHRO V (2010 in Lyon). Es ist allerdings zu bedauern, dass tatsächliche Forschungsarbeit und -interessen an der Institution vorbei organisiert werden müssen. 4.2 Uneinsichtige staatliche Lenkung der Forschungsarbeit Nach dem berühmten Modell der Research Foundation in den Vereinigten Staaten wird französische Forschung von oben herab zu den Zielen gelenkt, die die französische Regierung von Interesse für die Zukunft sieht, wozu Sprachgeschichte des Französischen offensichtlich nicht gehört. Konkret sind folgende institutionelle Stellen für das Gedeihen von Forschung zuständig: – Mit der Agentur ANR (Agence nationale pour la Recherche) wird Forschungsgeld für Projekte von befristeter Dauer ausgegeben; – mit dem virtuellen IUF (Institut Universitaire de France) werden Deputatserleichterungen KollegInnen angeboten, die als Exzellenz-Forscher gelten; – In dem CNRS (Centre National de la Recherche Scientifique) werden Planstellen für reine Forscher bereitgehalten; – Im College de France werden die besten Forscher der Welt für eine Zeit zur Forschung und prestigereicher Lehre delegiert. Überall dasselbe Bild: Sprachforschung ist, wenn überhaupt, nur homöopathisch vertreten. Im College de France haben von 52 Lehrstühlen zwei entfernt mit Sprache zu tun, und keiner mit französischer Sprache: ein Lehrstuhl widmet sich der babylo-assyrischen Sprache und Geschichte, der andere den modernen Texten und Kulturen. Im CNRS geht es um Psycholinguistik, Software-Linguistik, Theoretische und formelle Linguistik und um Geschichte der Linguistik. Dem IUF gehörten seit der Gründung 1991 drei französische Sprachgeschichtler an (Lagorgette, MarchelloNizia, Siouffi), drei von ungefähr 770,14 die durch eine Verminderung

13 Webseite unter http://www.sidf.group.cam.ac.uk/ 14 Den Löwenanteil verzeichnen die Naturwissenschaften.

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des Lehrdeputats und zusätzliche Forschungssubventionen ausgezeichnet wurden. In der ANR werden die Thematiken vorgegeben und es liegt am Projektverantwortlichen, sein Forschungsvorhaben als Ausführung der Thematik anzubieten. Der Auswahlinstanz obliegt es zu urteilen, ob ein sprachhistorisches Projekt angepasst ist oder nicht. In den Geisteswissenschaften erfüllt diese Lenkung keine strategischen Ziele, sondern den nüchternen ökonomischen Zweck des Sparens: Subventionen werden von den Universitäten weg zu diesen Instanzen geführt, und wenige Projekte gelangen zum Subventionsziel. In den letzten Jahren wurden keine Thematiken angeboten, in denen Sprachgeschichte sich natürlich eingefügt hätte. Ohne Geld aber wenig Tagungen, wenig Publikationen, deren Sinn auch dadurch untergraben wird, dass nur eine Handvoll französischer Verlage als wissenschaftliche Verlage deklariert werden, deren Publikationen als „A“-Publikationen anerkannt werden und ihre(n) AutorIn als Exzellenz-ForscherIn ausweisen: Champion, de Boeck, Editions CNRS, PUF, Seuil. Durch dieses Nadelöhr kommen lediglich fünf Publikationen der in der Bibliographie gesammelten Titel, obwohl die anderen verlegten Werke oder Reihen ebenso Standardwerke der gegenwärtigen Forschung darstellen. Der desolate Zustand der wissenschaftlichen Verlage in Frankreich, die ökonomisch nicht rentabel arbeiten, weil sie zu wenige Exemplare der verlegten Titel absetzen, und andererseits massive Subventionseinbußen seitens des Staates erfahren, betrifft natürlich nicht nur die Sprachgeschichtsforschung, kann ihr aber keine Hilfestellung aus der Klemme der geringen gesellschaftlichen Wertschätzung bieten. Die neuerliche Politik verspricht sich viel von Online-Publikationen auf der Basis von Zahlung durch den Leser, um die Finanzierung vom Produzenten auf den Konsumenten umzuwälzen,15 scheint aber optimistisch davon auszugehen, dass die ganze Welt nur darauf wartet, wissenschaftliche Artikel durch ihre Beiträge mitfinanzieren zu dürfen.

5. E pur, si mueve? Die politische Determination des Faches reicht bis in seinen harten Kern hinein: durch dieses System von strukturellen Abhängigkeiten muss die Fachrichtung Nützlichkeit versprechen und öffentliche Akzeptanz erzeugen, was die Computerlinguistik von der Natur her besser schafft als die 15 Siehe die Studie „L’édition scientifique française en sciences sociales et humaines“, November 2009, unter: http://www.tge-adonis.fr/?Parution-de-l-etude-L-edition

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Sprachgeschichtsforschung, wenn dazu noch das Vorurteil herrscht, ältere Texte würden nicht mehr gelesen. So koppelt der französische Sprachforscher seine Schimpfanalyse des Mittelalters mit verbalem Streit heutzutage, interessiert sich für sprachliche Moden oder Normen damals wie heute, oder für syntaktischen Wandel, der die Sprache auch heute kennzeichnet, um Nützlichkeit zu demonstrieren. Eine Form von gesellschaftlicher Akzeptanz wird mit Bestsellern für das gebildete Bürgertum, bzw. Lehrerschaft mit den vielen Geschichten der Sprache gesucht. Das internationale Mithalten ist dann am leichtesten in den Domänen zu behaupten, wo Frankreich von jeher als Weltmeister galt: Purismus und Normgeschichte der Sprache.

Literatur Auroux, Sylvain/Koerner, E.F.K./Niederehe, Hans-Josef/Versteegh, Kees (Hg.) (2000– 2006): HSK History of the language sciences: an international handbook of the study of language from the beginnings to the present. HSK 18,1 (2000), HSK 18,2 (2001), HSK 18,3 (2006), Berlin/New York. Balibar, Renée (1985): L’institution du français, Paris. Branca-Rosoff, Sonia (Hg.) (2001): L’institution des langues. Du colinguisme à la grammatisation, Paris. Buridant, Claude (2000): Grammaire nouvelle de l’ancien français, Paris. Buridant, Claude (2006): Histoire du langage religieux dans la Romania: français et occitan, in: Ernst, Gerhard/Gleßgen, Martin-Dietrich/Schmitt, Christian/ Schweickard, Wolfgang (Hg.) (2003–2008): HSK Romanische Sprachgeschichte. 23,2, Berlin/New York, 215–231. Caron, Philippe (Hg.) (2004): Les remarqueurs sur la langue française du XVI° siècle à nos jours, Rennes. Chaurand, Jacques (Hg.) (1999): Nouvelle histoire de la langue française, Paris. Chiss, Jean-Louis (2007): La langue et l‘intégration des immigrants sociolinguistiques, Paris. Chiss, Jean-Louis/Puech, Christian (1999): Le langage et ses disciplines: XIX°–XX° siècles, Paris/Bruxelles. Combettes, Bernard (Hg.) (2003): Evolution et variation en français préclassique. Etudes de syntaxe, Paris. Combettes, Bernard /Marchello-Nizia, Christiane (Hg.) (2007): Etudes sur le changement linguistique en français, Nancy. Ernst, Gerhard/Gleßgen, Martin-Dietrich/Schmitt, Christian/Schweickard, Wolfgang (Hg.) (2003–2008): HSK Romanische Sprachgeschichte. Histoire linguistique de la Romania. HSK 23,1 (2003); HSK 23,2 (2006); HSK 23,3 (2008), Berlin/ New York. Glatigny, Michel (1998): Les marques d’usage dans les dictionnaires français monolingues du XIX° siècle, Tübingen. Guillaume, Gustave (1929): Temps et verbe. Théorie des aspects, des modes et des temps suivi de l’Architectonique du temps dans les langues classiques, Paris.

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Jörg Riecke (Heidelberg)

Jüdische Sprachgermanisten und die deutsche Sprachwissenschaft (1930–1945) Eine vernachlässigte Aufgabe der Sprachgeschichtsschreibung 1. Zu den Aufgaben der Sprachgeschichtsschreibung Mit der Gründung der „Gesellschaft für Germanistische Sprachgeschichte“ verbindet sich der Auftrag, auch über die Stellung und die Aufgaben unseres Faches nachzudenken.1 Dabei gehe ich davon aus, dass wir es in der Sprachgeschichte mit Texten zu tun haben und dass es unsere erste Aufgabe sein sollte, diese Texte zu verstehen und anderen diese Texte verständlich zu machen. Das Verständnis der Sprache eines Textes führt uns zur Betrachtung seiner sprachlichen Merkmale, zum Vergleich mit den sprachlichen Merkmalen anderer Texte und damit zu unserer zweiten Aufgabe, die Struktur der Sprache zu verstehen. Wenn wir auf der sprachlichstrukturellen Ebene hier bereits den Einzeltext verlassen, so tun wir das auch, wenn wir mit unserer dritten Aufgabe versuchen, die Formen der menschlichen Kommunikation zu verstehen, wie sie sich in Textsortenund Diskursgeschichten widerspiegelt. Diese drei Aufgaben, die wir heute im Idealfall im Zusammenhang betreiben, scheinen in der Geschichte des Faches Germanistik trotz vieler Überschneidungen zunächst in einer chronologischen Abfolge zu stehen. Es beginnt mit einer großen Zahl von Editionen und Kommentaren zu den deutschen Texten des Mittelalters seit der Gründung des Faches am Beginn des 19. Jahrhunderts. Den Versuch, diese Texte zu verstehen, betrachte ich als die erste, die philologische Aufgabe. Auch wenn es eine Zeitlang so aussah, als könne man diese Aufgabe getrost den Mediävisten überlassen, so stellen uns nicht erst die Veränderung von Lehrinhalten und Lernzielen an der gymnasialen Oberstufe und ein gewandeltes Bildungswissen unserer Studenten heute vor neue

1

Vgl. zu den Aufgaben der Sprachgeschichtsforschung ausführlicher und mit einem Anwendungsbeispiel Riecke (2009).

Jüdische Sprachgermanisten und die deutsche Sprachwissenschaft (1930–1945)

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Aufgaben. Das sprachliche Verständnis der Texte Goethes und Schillers ist längst nicht mehr gewährleistet, schon Fritz Tschirch hat Anfang der 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erkannt, dass das Verständnis dieser Texte durch den Sprachwandel der letzten 200 Jahre so erschwert ist, dass sie einer neuen sprachlichen Verständnissicherung bedürfen.2 Wir sollten uns daher angewöhnen, das ganze ältere Neuhochdeutsche – etwa den Zeitraum von 1650 bis 1950 – als historisches Sprachstadium zu begreifen. Die philologische Aufgabe, das Verständlich-Machen von Texten, bekommt dann eine ganz neue, aktuelle Dimension.3 Die zweite Aufgabe, die Struktur von Sprache verständlich zu machen, muss an dieser Stelle nicht weiter erläutert werden. Diese linguistische Aufgabe gilt vielen Sprachwissenschaftlern heute in der Nachfolge oder in Auseinandersetzung mit Ferdinand de Saussure als Kernaufgabe. Man muss sich dabei nur vergegenwärtigen, dass eine Kern- oder Hauptaufgabe auch Teil- und Nebenaufgaben eröffnet. Etabliert und auch in zeitlicher Abfolge an dritter Stelle seit der „pragmatischen Wende“ steht als dritte Aufgabe das Verständlichmachen von Kommunikation. Unter dem Stichwort der „Sprachgeschichte als Kommunikations- oder Diskursgeschichte“ fügt sich die dritte, die pragmatische Aufgabe, hier nahtlos an. Dabei sollten wir allerdings nicht stehen bleiben. Eine vierte Aufgabe besteht darin, die Bedeutung der Sprache und der Texte für die von uns untersuchten Kulturgemeinschaften verständlich zu machen. Diese Aufgabe teilen wir uns, ähnlich wie die philologische Aufgabe, mit den Literaturwissenschaftlern, denen es hier um die Textebene geht. Unsere Aufgabe liegt in der Reflexion über die Bedeutung der Sprache. Es geht also vorrangig um die Sprache als Medium des Erkennens und der Erkenntnis. An diese sprachwissenschaftliche Reflexion über die Sprache anzugliedern ist auch die Reflexion über die Sprachwissenschaft und ihre Geschichte selbst. Wenn wir als Sprachhistoriker argumentieren, dass die Kenntnis der älteren Sprachstadien für das Verständnis der Gegenwart wesentlich wichtig ist, so sollte dies ebenso auch für die Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte unseres Faches gelten.

2 3

Siehe Tschirch (1960); vgl. auch Riecke (2007). Vgl. dazu exemplarisch die verständnissichernde Kommentierung eines zentralen Textes aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Feuchert/Leibfried/Riecke (2007).

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Jörg Riecke

2. Wissenschaftsgeschichte und Sprachgermanistik Eine zusammenhängende Geschichte der Sprachgermanistik steht allerdings noch aus. Die vorliegenden – überaus verdienstvollen Arbeiten – behandeln ausgewählte Bereiche, so vor allem die „Geschichte der theoretischen und anwendungsorientierten Beschäftigung mit Sprache in Deutschland“4 oder die Geschichte der Sprachtheorie seit de Saussure insgesamt.5 Reichlich Material für eine Geschichte der Sprachgermanistik bietet inzwischen das „Internationale Germanistenlexikon“ (IGL.), das einen unvergleichlichen Überblick über die Vertreter unseres Faches und ihre Forschungspositionen eröffnet.6 Es bietet erstmals systematisch die Möglichkeit, eine personenbezogene Übersicht über die germanistische Forschungslandschaft zu erarbeiten. Der personenbezogene Ansatz führt nicht unmittelbar und ausschließlich zu ausgewählten Sternstunden der Fachgeschichte, zu den anerkannt großen Würfen und ihren Wirkungen, wie sie etwa bei Gardt und Rolf beschrieben werden. Er rückt vielmehr auch diejenigen Fachvertreter ins Licht, die zu ihrer Zeit die alltägliche „Normalwissenschaft“ betrieben haben, also wesentlich an der Etablierung und Konsolidierung des Faches beteiligt waren. Nicht selten wird man hier auch auf zu Unrecht vergessene oder an den Rand gedrängte Wissenschaftler stoßen, die nicht im kollektiven Gedächtnis des Faches verankert sind. Das Lexikon wird so zu einer Fundgrube für die Fachgeschichte, ist aber für sich genommen nur ein Steinbruch, der einer interpretierenden Nutzung harrt. Da der Forschungsstand zur Geschichte der Sprachgermanistik weit hinter dem der Literaturgeschichte zurück bleibt, sind manche Lexikonartikel durchaus noch verbesserungsfähig. Da das IGL. zudem nicht auf Vollständigkeit angelegt ist, bedarf es auch weiterhin ergänzender personengeschichtlicher Forschungen.7 Selbstverständlich gibt es darüber hinaus noch viele Einzelstudien zu Themen und Phasen der Sprachgermanistik.8 Aber eine zusammenhängende Fachgeschichte ersetzen sie nicht. Eine solche Fachgeschichte soll nun mehr sein als eine Schilderung der Abfolge von Sternstunden der Sprachgermanistik, sie soll aber zugleich in keine lückenlose Auflistung disparater Einzelergebnisse ausufern. Es ist also vorab zu klären, welche Fragestellungen und Ergebnisse der Fachgeschichte heute noch kommen4 5 6 7 8

Gardt (1999, 1). Rolf (2008). IGL. (2003). Vgl. dazu auch Riecke (2006). Vgl. exemplarisch die wissenschaftsgeschichtlichen Beiträge im Handbuch Sprachgeschichte. Besch/Betten/Reichmann/Sonderegger (1998).

Jüdische Sprachgermanisten und die deutsche Sprachwissenschaft (1930–1945)

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tiert, gelehrt und beschrieben werden sollen. Entscheidend für die Wahl der Gegenstände können fachinterne und fachexterne Faktoren sein. Im Falle der jüdischen Sprachgermanisten versteht sich deren Behandlung in einer „Geschichte der Sprachwissenschaft“ eigentlich von selbst. Unabhängig von ihrer fachlichen Bedeutung kommt hier ein außersprachliches Motiv hinzu: die Verpflichtung des Erinnerns und Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Die Beschreibung und Beurteilung jüdischer Sprachgermanisten – wie auch die aller weiteren auszuwählenden Personengruppen und Gegenstände – soll dann aber nicht in Form einer Blütenlese, sondern vor dem Hintergrund einer möglichst vollständigen Beschreibung des jeweiligen Wirkungszeitraums erfolgen. Es ist wohl eigentlich stets die vollständige Untersuchung einer Epoche, einer wissenschaftlichen Strömung etc., die am Anfang stehen muss und auf deren Grundlage Auswahl und Urteile überhaupt erst möglich werden.

3. Wissenschaftsgeschichte und jüdische Sprachgermanisten Anlässlich einer Ausstellung über „Frankfurt und die Frankfurter Schule“ bringt die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 25. September 2009 unter der Überschrift „Konvertiert. Warum die Frankfurter Schule nicht über Juden sprach“ einen Artikel, der sich mit Maidon Horkheimer und dem Verhältnis der Frankfurter Schule zum Judentum befasst. Darin heißt es: „Die ersten Schüler der Frankfurter Schule waren ehemalige Wehrmachtssoldaten, Flakhelfer und Mitglieder der Hitlerjugend. Sie hatten kein Verständnis für den jüdischen Hintergrund der aus dem Exil zurückgekehrten Institutsmitglieder.“ Dann wird Jürgen Habermas zitiert: „Es bestand eine deutliche Sperre auch gegen das leiseste Beginnen, Juden von Nichtjuden, Jüdisches von Nichtjüdischem, und sei es nur dem Namen nach, zu unterscheiden: obwohl ich jahrelang Philosophie studiert habe, war mir […] nicht bei der Hälfte der genannten Gelehrten überhaupt ihre Herkunft bewusst. Solche Naivität halte ich heute nicht mehr für angemessen.“9 Während Jürgen Habermas diese Einsicht bereits vor über 40 Jahren formuliert hat, besteht in der Sprachgermanistik, wie wohl in der Germanistik insgesamt, noch deutlicher Nachholbedarf. In den vielzitierten Beiträgen zum Münchener Germanistentag von 1966, mit denen etwa zeitgleich zur Habermasschen Feststellung die germanistische Auseinandersetzung mit der Fachgeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus 9

Gross (2009).

38

Jörg Riecke

einsetzt, finden sich noch keine Hinweise auf das Schicksal der jüdischen Fachkollegen.10 Stattdessen ist in der öffentlichen Diskussion wiederholt eingewendet worden, dass ganz unklar sei, in welcher Bedeutung in diesem Kontext überhaupt von „jüdisch“ die Rede sei. So könnte auch eine „Geschichte der jüdischen Sprachgermanisten“ geradezu als Versuch einer erneuten Eingrenzung und Ausgrenzung gelesen werden. Wenn an die Stelle einer solchen Darstellung aber nur die erneute Tabuisierung „des Jüdischen“ tritt, ist damit nichts gewonnen. Das Unbehagen von „den Juden“ zu reden, könnte vielmehr mit Gershom Scholem als besonders „raffinierte Form des Antisemitismus“ aufgefasst werden.11 Vielleicht kann als Arbeitsgrundlage gelten, dass eine „Geschichte der jüdischen Sprachgermanisten“ nicht nach „Merkmalen des Jüdischen“ in der Sprachgermanistik sucht, sondern die Lebensleistung von Fachkollegen jüdischer Herkunft beschreibt, deren gemeinsame Grunderfahrung in der Ausgrenzung, Verfolgung und Vertreibung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt. Dass die Sprachgermanistik inzwischen einen wichtigen Beitrag für das Gedenken jüdischer Sprachwissenschaftler geleistet hat, verdankt sie vor allem Utz Maas, dessen Lexikon „Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933–1945“ neben vielen anderen, aus politischen Gründen emigrierten Wissenschaftlern, eben auch die jüdischen Sprachgermanisten enthält.12 Das Lexikon enthält ausführliche bio-bibliographische Angaben und fachgeschichtliche Einordnungen für Sprachwissenschaftler aller Fachrichtungen. Bisher liegen allerdings erst die Bände für die Buchstabenstrecke A bis P vor. Darüber hinaus haben nur Agathe Lasch und Sigmund Feist eine vorbildliche Würdigung erhalten.13 In welchem Ausmaß diese Arbeiten aber im Fach wahrgenommen wurden und werden, ist ungewiss. Es bleibt als Fazit: Eine Gesamtdarstellung der jüdischen Sprachgermanisten Deutschlands fehlt. Man könnte zum jetzigen Zeitpunkt zwar einwenden, dass noch nicht sicher sei, ob eine solche Darstellung aus linguistischer Perspektive überhaupt lohne. Man kann aber mehr als sicher sein, dass sie allein schon wegen der zuvor angesprochenen Verpflichtung zum Erinnern und Gedenken überfällig ist. So besitzen wir inzwischen dankenswerterweise zwar mit Ruth Römers „Rassenideologie und Na10 Lämmert/Killy/Conrady/von Polenz (1967). 11 Vgl. zu dieser Diskussion Barner/König (2001). 12 Maas (1996; 2004). Gerade bei Maas wird das „Jüdische“ als Anlass der Verfolgung in den Lexikonartikeln jedoch nur angedeutet. 13 Zu Agathe Lasch siehe zuletzt Kaiser (2007), Nottscheid/Kaiser/Stuhlmann (2009), zu Sigmund Feist Römer (1981) und (1993) sowie die Angaben in Kapitel 5.

Jüdische Sprachgermanisten und die deutsche Sprachwissenschaft (1930–1945)

39

tionalsozialismus“, Christopher M. Huttons „Linguistics and the Third Reich“ und Clemens Knoblochs „Volkhafter Sprachforschung“ drei zentrale Arbeiten zur – vereinfacht gesagt – Sprachwissenschaft der Täter,14 aber keine zusammenfassende Darstellung zu Leben und Werk, Rezeption und Erinnerung jüdischer Sprachgermanisten. Eine auf dieser Grundlage zu schreibende Geschichte der jüdischen Sprachgermanisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts könnte sich aus drei Teilen zusammensetzen. Da der Ausgangspunkt für die Behandlung einer wissenschaftsgeschichtlichen Spezialfrage nur die vollständige Untersuchung der gesamten (germanistischen) Sprachwissenschaft der betreffenden Epoche sein kann, sollte auch hier mit einer vollständigen Erfassung der Sprachgermanisten der Jahre zwischen etwa zwischen 1900 und 1945 begonnen werden. Das erste Kapitel der Untersuchung lautet also: „Deutsche Sprachgermanistik 1900–1945. Ein bio-bibliographischer Überblick“. Es folgt Kapitel 2: „Jüdische Sprachgermanisten“. Hier wären gewissermaßen das „Korpus“ zusammenzustellen und Namen wie die der schon erwähnten Agathe Lasch und Sigmund Feist zu nennen. Schließlich folgt 3. ein Kapitel zur Frage der Bedeutung und Wirkung der Arbeiten der jüdischen Sprachgermanisten. Im Folgenden soll nun – vorläufig und mit unterschiedlicher Ausführlichkeit – jeder der drei genannten Punkte in seinen Grundzügen skizziert werden.

4. Deutsche Sprachgermanistik 1930–1945 Eine erste Übersicht über die Personen, die zwischen 1900 und 1945 an deutschen bzw. deutschsprachigen Universitäten gelehrt haben, lässt sich mit Hilfe des Internationalen Germanistenlexikons erarbeiten. Weitaus aufwendiger ist dann die Beschreibung ihrer Arbeiten. Die bekannteren Namen der Fachgeschichte sind vergleichsweise leicht zu erfassen, viele Fachkollegen sind aber bisher kaum oder gar nicht Gegenstand reflektierender Untersuchungen geworden. Um am Ende des Unternehmens aber die Leistung der jüdischen Sprachgermanisten einschätzen zu können, genügt nicht die Kenntnis von Leuchttürmen wie Otto Behaghel oder Theodor Frings. Es gehört dazu auch eine ziemlich genaue Kenntnis des sprachgermanistischen Alltags. Die Datenermittlung erfolgt aus arbeitsökonomischen Gründen in zwei Schritten: 1. Sprachgermanisten 1930 bis 1945; 2. Sprachgermanisten 1900 bis 1930. Die folgende Tabelle zeigt den Stand der Ermittlung für den Zeitraum 1930 bis 1945. Die Liste enthält 14 Römer (1989), Hutton (1999), Knobloch (2005).

Jörg Riecke

40

Namen, die heute eher der älteren deutschen Literaturwissenschaft zugeordnet werden. Die Geschichte unseres Faches bringt es aber mit sich, dass ältere Literatur und Sprache meist von ein und derselben Person vertreten wurde. Die sprachwissenschaftlichen Aufsätze dieser Personengruppe sind später oft kaum noch rezipiert worden, deren Existenz rechtfertigt aber die Aufnahme dieser Kollegen in die vorliegende Liste. Die Namen von Fachkollegen, die wegen ihrer jüdischen Herkunft oder aus politischen Gründen ihr Amt verloren haben, sind an ihrem letzten deutschen Hochschulort kursiv markiert. Ein Sternchen tragen die Namen, die nicht im IGL. verzeichnet sind, ein Asterisk in Klammern verweist auf einen Eintrag auf der IGL.-CD. Ort

Name

Zeitraum

Position

Agram

Henning Brinkmann

1944/45

o. Prof.

Athen

Rudolf Fahrner

1939–1944

Staatsvertragsprof.

Basel

Andreas Heusler

1920–1936

o. Prof.

E. Hoffmann-Krayer

1909–1936

o. Prof.

Wilhelm Bruckner

1936–1940

Vertretungsprof.

Friedrich Ranke

1938–1950

o. Prof.

Ladislaus Weifert*

1935

Habilitation

1939–1943

Dozent

1943–1944

ao. Prof.

Samuel Singer

1910–1930

o. Prof.

Helmut de Boor

1930–1945

o. Prof.

Walter Henzen

1944–1945

Vertretungsprof.

Arthur Hübner

1927–1937

o. Prof.

Hans Fr. Rosenfeld

1928–1931

Priv.-Doz.

1931–1937

ao. Prof.

Wilhelm Wissmann

1930–1938

Assistent

Hans Neumann

1931–1933

Assistent

Richard Kienast

1934–1938

Priv.-Doz.

Hans Kuhn

1936–1937

Vertretungsprof.

1941–1945

o. Prof.

1920–1935

o. Prof.

Belgrad

Bern

Berlin

Gustav Neckel

Jüdische Sprachgermanisten und die deutsche Sprachwissenschaft (1930–1945)

Ort

Name

Zeitraum

Position

1937–1940

o. Prof.

1937–1938

Vertretungsprof.

1942–1945

Prof. (ohne Lehre)

Julius Schwietering

1938–1945

o. Prof.

Ulrich Pretzel

1938–1941

Habilitation

1941–1944

Dozent

Hans Fromm

1940–1941

Assistent

Siegfried Beyschlag

1940

Habilitation

Friedrich Ohly

1941–1944

Assistent

1944

Habilitation

Gerhard Cordes

1942–1945

Prof. (ohne Lehre)

– Akademie

Konrad Burdach

1902–1936

o. Prof.

– Spracharchiv

Eberhard Zwirner

1932–1940

Leiter, Dr. med.

Bonn

Rudolf Meißner

1913–1932

o. Prof.

1932–1948

Emeritus, o. Prof.

1927–1931

Priv.-Doz.

1931–1939

ao. Prof.

1939–1941

apl. Prof.

Heinrich Hempel

1928–1938

ao. Prof.

Wilhelm Will*

1930–1934

Assistent

Hans Naumann

1932–1945

o. Prof.

1944

Versetzung Breslau

Carl Wesle

1934–1935

o. Prof.

Josef Quint

1935–1938

apl. ao. Prof.

[Leo Weißgerber

1942–1967

Kelt. u. allg. Spr.]

Werner Betz

1941–1948

Priv.-Doz.

Karl Hoppe

1930–1932

Priv.-Doz.

1932–1945

o. Prof.

Henning Brinkmann

Adolf Bach

Braunschweig – Spracharchiv

Eberhard Zwirner

1940–1957

Leiter, Dr. med.

Breslau

Theodor Siebs

1929–1938

o. Prof.

41

Jörg Riecke

42 Ort

Name

Zeitraum

Position

Friedrich Ranke

1930–1937

o. Prof.

Josef Quint

1938–1945

o. Prof.

Walther Steller

1928–1937

ao. Prof. (unbesoldet)

W. Jungandreas

1933

Habilitation

1933–1940

Priv.-Doz.

1940

apl. Prof.

1933–1938

apl. Ass., Dozent

1937

Habilitation

1938

Vertretungsprof.

Ernst Scheunemann

Bukarest

Hermann Schneider

1943–1944

Gastprof.

Danzig

Walther Mitzka

1929–1933

apl. Prof.

Max Ittenbach

1933–1938

Lehrbeauftragter

1935

Habilitation

1939–1942

apl. ao. Prof.

Arnold Berger

1905–1933

Prof.

Friedrich Maurer

1928–1931

Lehrbeauftragter

Debrecen

Johann Weidlein

1940

Habilitation

Dresden

Adolf Spamer

1926–1936

ao. Prof.

Erlangen

Franz Saran

1913–1931

o. Prof.

Eduard Hartl (*)

1928–1931

Vertretungsprof.

Friedrich Maurer

1931–1937

o. Prof.

Fritz Stroh

1937

Vertretungsprof.

1938–1942

ao. Prof.

1942–1947

o. Prof.

Siegfried Beyschlag

1942–1948

Priv.-Doz.

Ewald Geißler

bis 1946

ao. Prof. Deutsche Sprachkunst

Ferd. Holthausen

1927–1932

Gastprof.

Max Ittenbach

1931–1933

Assistent

Julius Schwietering

1932–1938

o. Prof.

Darmstadt

Frankfurt/M.

Jüdische Sprachgermanisten und die deutsche Sprachwissenschaft (1930–1945)

Ort

Freiburg i.Br.

Freiburg (Schweiz)

Gent Gießen

Göttingen

Graz

Name

Zeitraum

Position

Henning Brinkmann

1938–1945

o. Prof.

1943/44

beurl. Istanbul

1944/45

beurl. Agram

Ludwig Wolff

1940

Vertretungsprof.

John Meier

1913–1945

Hon.Prof.

Friedrich Wilhelm

1920–1936

o. Prof.

Ernst Ochs

1927–1945

Dozent

Friedrich Maurer

1937–1966

o. Prof.

Wilhelm Wissmann

1940–1942

Direktor

Walter Henzen

1933

Habilitation

1933–1943

Priv.-Doz.

1943–1947

Tit., ao. Prof.

Lutz Mackensen

1940–1941

Gastprof.

Max Ittenbach

1941–1944

Gastprof.

Otto Behaghel

1925–1931

o. Prof., Emeritus

Alfred Götze

1925–1945

o. Prof.

Friedrich Maurer

1929–1931

apl. ao. Prof.

Fritz Stroh

1934

Habilitation

1934–1938

Priv.-Doz.

Kurt Wagner

1936–1945

apl. ao. Prof.

Edward Schröder

1927–1935

o. Prof., Emeritus

Gustav Neckel

1935–1937

o. Prof.

Friedrich Neumann

1927–1945

o. Prof.

Ludwig Wolff

1929–1937

ao. Prof.

Wolfgang Krause

1937–1950

o. Prof.

Wilhelm Wissmann

1938

Habilitation

Adolf Bach

1944/45

Lehrbeauftragter

Konrad Zwierzina

1912–1934

o. Prof.

Leo Jutz

1936–1940

ao. Prof.

1940–1950

o. Prof.

43

Jörg Riecke

44 Ort

Name

Zeitraum

Position

Eberh. Kranzmayer

1942–1945

ao. Prof.

Wolfgang Stammler

1924–1936

o. Prof.

Lutz Mackensen

1926–1933

Priv.-Doz.

1933–1942

beurlaubt

Hans-Fr. Rosenfeld

1937–1946

o. Prof.

Groningen

Ludwig E. Schmitt

1939–1941

Assistent

Halle

Otto Bremer

1928–1934

o. Prof., Emeritus

Georg Baesecke

1921–1948

o. Prof.

Kurt Wagner

1934/35

ao. Prof.

Karl Bischoff

1943

Habilitation

1943–1948

Priv.-Doz.

1943

Habilitation

1944/45

Dozent

1919–1938

o. Prof.

1939–1945

Emeritus

Salomon A. Birnbaum

1922–1933

Dozent für Jiddisch

Agathe Lasch

1926–1934

ao. Prof.

Hans Teske*

1934–1938

ao. Prof.

1938–1946 (?)

o. Prof.

1938

Habilitation

1938–1942

Priv.-Doz.

Willy Krogmann

1939–1967

Wiss.Mitarbeiter

Walther Niekerken*

1943–1969

ao. Prof.

Friedrich Panzer

1920–1935

o. Prof.

1935–1947

Emeritus

Hans Teske*

1928–1934

Priv.-Doz.

Richard Kienast

1938–1945

o. Prof.

Elfriede Stutz

1940–1945

Wiss. Hilfskraft Lehrbeauftragte

Greifswald

Alfred Zastrau Hamburg

Conrad Borchling

Gerhard Cordes

Heidelberg

Jüdische Sprachgermanisten und die deutsche Sprachwissenschaft (1930–1945)

Ort Innsbruck

Jena

Kaunas

Name

Zeitraum

Position

Wilhelm Wissmann

1941/42

Vertretung

Josef Schatz

1912–1939

o. Prof.

1939–1945

Emeritus

Leo Jutz

1926–1936

Priv.-Doz.

Kurt Hallbach

1940–1945

o. Prof.

Eduard Hartl(*)

1942–1944

Vertretungsprof.

Albert Leitzmann

1930–1935

o. Prof.

Henning Brinkmann

1930–1938

ao. Prof.

Carl Wesle

1935–1950

o. Prof.

Irmgard Weithase

1935–1947

Lekt. Sprechkunde

Gottlieb Studerus

1924–1934

Lektor

1934

Habilitation

1934–1940

Priv.-Doz.

1940

Priv.-Doz.

1942

Lehrstuhlleiter

Walther Vogt*

1921–1945

o. Prof.

Carl Wesle

1929–1934

o. Prof.

Otto Mensing

1931–1939

ao. Prof.

Otto Höfler

1935–1938

o. Prof.

Heinrich Hempel

1938/39

Vertretungsprof.

Walther Steller

1940–1945

apl. Prof.

Wolfgang Mohr

1941/42

Vertretungsprof.

1942–1957

o. Prof.

Hans Sperber

1925–1933

ao. Prof.

Edda Tille-Hankammer

1925–1933

Priv.-Doz.

Friedrich v. d. Leyen

1920–1937

o. Prof.

Ernst A. Philippson

1925–1931

Assistent

Konst. Reichardt

1930/31

Assistent

Hans Kuhn

1934–1936

Dozent

Edmund Baldauff* Kiel

Köln

45

Jörg Riecke

46 Ort

Name

Zeitraum

Position

1937/38

Dozent

Wolfgang Mohr

1938

Habilitation

Heinrich Hempel

1939/40

ao. Prof.

1940–1953

o. Prof.

1942

Habilitation

1942–1948

Priv.-Doz.

Heinr. M. Heinrichs

1942/43

Lehrbeauftragter

Friedrich Ranke

1921–1930

o. Prof.

Heinrich Ziesemer

1922–1945

o. Prof.

Irmgard Weithase

1933/34

Assistentin

Otto Maußer

1938–1942

ao. Prof.

Wilhelm Wissmann

1942/43

Vertretungsprof.

Otto Höfler

1943–1944

Präsident

Wolfgang Langen

1943–1945

Leiter germ. Abt.

E. Karg-Gasterstädt

1922–1933

Assistentin

1935–1951

Leitung Ahd. WB.

Theodor Frings

1927–1957

o. Prof.

Fritz Karg

1929–1934

ao. Prof.

Konstantin Reichardt

1931–1937

ao. Prof.

Ludwig E. Schmitt

1934–1938

Assistent

1941

Habilitation

1941–1943

o. Prof.

1944

Oberass.

Hans Kuhn

1938–1941

ao. Prof.

Ingeborg Schröbler

1938–1946

Doz., Ahd. WB.

1943

Habilitation

Werner Betz

1940

Habilitation

Gabriele Schieb

1943–1947

Ahd. WB.

Viktor Dollmayr

1916–1939

o. Prof.

August Langen

Königsberg

Kopenhagen (Dt. Wiss. Inst.) Leipzig

Lemberg

Jüdische Sprachgermanisten und die deutsche Sprachwissenschaft (1930–1945)

Ort

Name

Zeitraum

Position

Marburg

Karl Helm

1921–1936

o. Prof.

1936–1958

Emeritus

1923–1930

Priv.-Doz.

1930–1940

ao. Prof.

1940–1952

apl. Prof.

A. Bretschneider*

1924–1930

Assistentin

Kurt Wagner

1926–1934

ao. Prof.

Hans Kuhn

1931

Habilitation

1930–1933

Assistent

1933/34

Priv.-Doz.

Bernhard Martin

1933–1945

St. Dir. Sprachatlas

Walther Mitzka

1933–1947 [1948–1956]

o. Prof.

Ludwig Wolff

1936

Vertretungsprof.

1937–1960

o. Prof.

[Leo Weisgerber

1938–1942

Allg. u. idg. Sprw.]

Karl von Kraus

1917–1935

o. Prof.

Otto Maußer

1920–1938

ao. Prof.

Eduard Hartl (*)

1925–1935

ao. Assistent

1926–1931

Priv.-Doz.

1940–1946

apl. Prof.

Erich Gierach

1936–1943

o. Prof.

Otto Höfler

1938–1945

o. Prof.

Edmund Baldauff*

1938

Assistent

Eberh. Kranzmayer

1938–1940

Dozent

1940–1942

apl. Prof.

Wolfgang Langen

1940–1943

Assistent

Ludwig E. Schmitt

1944

Vertretungsprof.

Karl SchulteKemminghausen

1926–1934

Priv.-Doz.

1934–1945

ao. Prof.

Luise Berthold

München

Münster

47

Jörg Riecke

48 Ort

Name

Zeitraum

Position

Julius Schwietering

1928–1932

o. Prof.

Jost Trier

1932–1963

o. Prof.

Wolfgang Mohr

1940/41

Priv.-Doz.

William Foerste

1940–1944

Extraordinariat

1943

Habilitation

1944–1951

ao. Prof.

August Langen

1943/44

Vertretungsprof.

Lutz Mackensen

1941–1945

o. Prof.

W. Jungandreas

1941

Vertretungsprof.

1942–1945

ao. Prof.

Erich Gierach

1921–1936

o. Prof.

Ernst Schwarz

1924–1930

Priv.-Doz.

1930–1935

ao. Prof.

1935–1945

o. Prof.

1935

Habilitation

1935–1940

Priv.-Doz.

1940–1944

Dozent

1944–1945

apl. Prof.

1943

Habilitation

1944

Priv.-Doz. (Volkskunde)

Ulrich Pretzel

1944

apl. Prof. (nicht angetreten)

Preßburg

Gerd Eis

1943–1945

ao. Prof.

Riga (Herder Institut)

Ludwig Wolff

1931/32

ao. Prof.

Lutz Mackensen

1932/33

Reichsdozent

1933–1936

ao. Prof.

1936–1940

Auslandsprof.

Hermann Teuchert

1920–1946

o. Prof.

[Leo Weißgerber

1927–1938

Vergl. Sprachwiss.]

Posen

Prag (DU)

Gerd Eis

Franz Beranek*

Rostock

Jüdische Sprachgermanisten und die deutsche Sprachwissenschaft (1930–1945)

Ort

Name

Zeitraum

Position

Straßburg

Hermann Menhardt

1941–1944

ao. Prof.

Adolf Bach

1941–1943

Vertretungsprof.

1943–1944

Dir. Germ. Sem.

Hans Fromm

1941–1945

Assistent

Siegfr. Gutenbrunner

1943–1945

ao. Prof.

Klaus Ziegler

1944

Habilitation

Karl Bohnenberger

1921–1930

o. Prof.

Hermann Schneider

1921–1954

o. Prof.

Gustav Bebermeyer

1925–1933

ao. Prof.

Kurt Halbach

1931–1939

Priv.-Doz.

1939/40

ao. Prof.

Felix Genzmer

1940–1945

Lehrbeauftragter

Hermann Menhardt

1944/45

ao. Prof.

Rudolf Much

1906–1934

o. Prof.

Max Herm. Jellinek

1906–1934

o. Prof.

Dietrich von Kralik

1924–1957

o. Prof.

Anton Pfalz

1926–1945

ao. Prof.

Walter Steinhauser

1927–1935

Priv.-Doz.

1935–1945

ao. Prof.

1929–1939

Priv.-Doz.

1939–1945

ao. Prof.

Otto Höfler

1932–1934

Priv.-Doz.

Eberh. Kranzmayer

1933

Habilitation

1933–1938

Priv.-Doz.

Hermann Menhardt

1934–1941

ao. Prof., apl. Prof.

Siegfr. Gutenbrunner

1936–1941

Priv.-Doz.

Friedrich Kainz

1939–1950

ao. Prof. Sprachpsychologie

Franz Doubek

1927–1934

ao .Prof. (?)

Heinrich Anders*

1934–(?)

ao. Prof. (?)

Tübingen

Wien

Edmund Wießner

Wilna

49

Jörg Riecke

50 Ort

Name

Zeitraum

Position

Gottlieb Studerus

1940

Priv.-Doz.

Edmund Baldauff*

1940

Lektor

1941

Priv.-Doz.

Kazimieras Alminas

1940–1944

Dozent

Würzburg

Franz Rolf Schröder

1925–1959

o. Prof.

Zürich

Albert Bachmann

1900–1932

o. Prof.

Wilhelm Wiget

1932–1934

o. Prof.

Rud. Hotzenköcherle

1935–1938

ao. Prof.

1939–1969

o. Prof.

1940

Habilitation

1942–1946

Priv.-Doz.

Bruno Boesch

Diese Zusammenstellung kann nun nach mehreren Richtungen ausgewertet werden.15 Betrachtet man die Universitätslandschaft Deutschlands und Österreichs in den Grenzen von 1930, so stößt man mit Berlin, Bonn, Braunschweig, Breslau, Darmstadt, Dresden, Erlangen, Frankfurt/M., Freiburg, Gießen, Göttingen, Graz, Greifswald, Halle, Hamburg, Heidelberg, Innsbruck, Jena, Kiel, Köln, Königsberg, Leipzig, Marburg, München, Münster, Rostock, Tübingen, Wien und Würzburg auf 29 Universitäten. Bei den übrigen 17 Universitäten handelt es sich um Hochschulen außerhalb des deutschen Reiches, von denen einige auf eine sehr alte deutschsprachige Tradition zurückblicken, so die Deutsche Universität in Prag und die Universität Danzig. Dazu kommen Hochschulen in den nach 1933 besetzten Gebieten und die neu gegründeten „Deutschen wissenschaftlichen Institute“ im Ausland. Während die Neubesetzungen von Lehrstühlen an den Hochschulen der besetzten Gebiete den Wandel in der Hochschullandschaft forcieren sollen, bleiben die 29 alten Hochschulen Österreichs und des Reiches bis zuletzt in einem Spannungsfeld von Wandel und Kontinuität. Hier finden wir immerhin 13 Lehrstühle, die bereits vor 1933 besetzt waren und die dies auch bis 1945 blieben. Das spricht für eine nicht unerhebliche Kontinuität in der Fachgeschichte. Es handelt sich um Bonn (Hans Naumann), Braunschweig (Karl Hoppe), Gießen (Alfred Götze), Göttingen (Friedrich Neumann), Halle (Georg Baesecke), Kiel (Walther Vogt), Königsberg (Walther Ziesemer), Leipzig 15 Vgl. dazu Riecke (2008) mit einer ersten Version der Tabelle und weiteren Erläuterungen.

Jüdische Sprachgermanisten und die deutsche Sprachwissenschaft (1930–1945)

51

(Theodor Frings), Münster (Jost Trier), Rostock (Hermann Teuchert), Tübingen (Hermann Schneider), Wien (Dietrich von Kralik) und Würzburg (Franz Rolf Schröder). Dazu kommt Luise Berthold in Marburg, die dort von 1930–1940 ao. Professorin, von 1940–1952 apl. Professorin war. Da in die 12 Jahre des Nationalsozialismus auch einige Emeritierungen aus Altersgründen fallen – etwa Theodor Siebs in Breslau, Friedrich Panzer in Heidelberg oder Karl Helm in Marburg –, deren Ausscheiden also keine politischen Gründe hat, ist der Faktor Kontinuität insgesamt nicht zu unterschätzen. Er überwiegt bei fast der Hälfte aller germanistischen Institute. Utz Maas hat zudem herausgearbeitet, dass die Jahre nach 1933 auch für die Mehrzahl der Sprachgermanisten selbst keine gravierende Zäsur bedeutet haben.16 Den Faktor Wandel stärken dann aber 61 Neuberufungen im gleichen Zeitraum, an dem 45 Personen und 34 Standorte beteiligt sind.17 Sie erreichen einen ersten Höchststand um 1938, auf dem Höhepunkt der Konsolidierung des NS-Systems. Hier scheinen verstärkt Forscher berufen worden zu sein, deren Arbeit auf der Linie der Parteiführung lagen. Eine zweite Berufungswelle vollzieht sich nach 1942/43 mit der Besetzung von Lehrstühlen an den neuen und alten „Grenzlanduniversitäten“ in den besetzten Gebieten. Es folgt die Zahl der Berufungen in Kurzform: 1933: 2 (Mackensen, Mitzka); 1934: 5 (Menhardt, Schulte-Kemminhausen, Teske, Wagner, Wesle); 1935: 5 (Höfler, Neckel, Quint, Steinhauser, Wesle); 1936: 3 (Gierach, Jutz, Wagner); 1937: 5 (Krause, Maurer, Neckel, H.-Fr. Rosenfeld, Wolff ); 1938: 9 (Brinkmann, Höfler, Kienast, Kuhn, Maußer, Quint, Ranke, Schwietering, Stroh); 1939: 5 (Fahrner, Hallbach, Hempel, Ittenbach, Wießner); 1940: 5 (Hallbach, Hartl, Jungandreas, Kranzmeyer, Steller); 1941: 4 (Kuhn, Mackensen, Menhardt, Schmitt); 1942: 6 (Baldauff, Brinkmann, Cordes, Jungandreas, Kranzmeyer, Mohr); 1943: 7 (Bach, Eis, Gutenbrunner, Höfler, Langen, Niekerken, Weifert); 1944: 5 (Brinkmann, Eis, Foerste, Menhardt, Pretzel). Vereinzelte Neuberufungen betreffen die Nachfolge von jüdischen Sprachgermanisten, die ihr Amt niederlegen mussten; auch dies geht aus der Tabelle hervor. Für diese Personengruppe war jedwede Kontinuität radikal beendet.

16 Vgl. Maas (1996). 17 Vgl. dazu Riecke (2008, 607f.) sowie die hier abgedruckte Tabelle.

52

Jörg Riecke

5. Verfolgte Sprachgermanisten Die Tabelle scheint jedoch auch zu zeigen, dass die Zahl der jüdischen Sprachgermanisten in Deutschland gar nicht so besonders groß war. Ermittelt wurden nur fünf als Professoren oder hauptamtliche Dozenten an deutschen Universitäten beschäftigte Sprachgermanisten, die wegen ihrer jüdischen Abstammung oder „jüdischer Versippung“ ihre Ämter verloren: In Breslau Friedrich Ranke, der 1930 die Nachfolge Theodor Siebs angetreten hatte und 1937 wegen der jüdischen Abstammung seiner Ehefrau entlassen wurde.18 Ranke erhält 1938 einen Ruf nach Basel. In Hamburg Salomon A. Birnbaum als Dozent für Jiddisch19 und Agathe Lasch als planmäßige außerordentliche Professorin für Deutsche Philologie mit besonderer Berücksichtigung des Niederdeutschen.20 Birnbaum emigriert nach England, Agathe Lasch wird 1942 mit dem sog. 18. Osttransport nach Riga deportiert, wo sie wie die übrigen etwa 1000 Insassen unmittelbar nach der Ankunft auf dem Bahnhof Riga-Skirotava oder bei Massenerschießungen in den umliegenden Wäldern von Rumbula und Bikernieki ermordet wird.21 In Köln Hans Sperber als außerordentlicher Professor für Deutsche und Nordische Philologie22 sowie als Professor mit stärker mediävistischphilologischer Ausrichtung Friedrich von der Leyen. Ein Großvater seiner Ehefrau war jüdischer Abstammung. Obwohl er zumindest in den 20er Jahren völkischen und antisemitischen Positionen nicht fern stand, musste er sein Amt 1937 aufgeben, blieb aber weiter unbehelligt.23 Sperber emigriert über Schweden in die USA, wo er eine Professur an der Ohio State University erhielt. Konstantin Reichardt ist vermutlich das Beispiel für einen aus politischen Gründen emigrierten Wissenschaftler. Der aus St. Petersburg stammende Nordist, Germanist und Indogermanist war 1930/31 Assistent bei von der Leyen, wurde aber schon 1931 zum planmäßigen ao. Professor in Leipzig ernannt.24 1937 wandert er über Schweden in die USA aus. Über seine Lebensumstände ist (mir) wenig bekannt, das IGL.

18 Vgl. IGL. (3, 1460–1462) sowie Riecke (2008, 596) mit weiterer Literatur. Siehe auch Roth (2001), von See/Zernack (2004, 97). 19 Vgl. Riecke (2008, 595) mit weiterer Literatur. 20 Vgl. IGL. (2, 1060–1062), Kaiser (2007) sowie Riecke (2008, 595f.) mit weiterer Literatur. 21 Vgl. Kaiser (2007, 70), Nottscheid/Kaiser/Stuhlmann (2009, 21) sowie Gottwald/Schulle (2005, 255). 22 Vgl. Maas (1996a, 875f.), IGL. (3, 1767f.) sowie Riecke (2008, 596) mit weiterer Literatur. 23 Vgl. IGL. (2, 1082–1086) sowie Riecke (2008, 597f.) mit weiterer Literatur. Beispiele für sein nicht angepasstes Verhalten in den ersten Jahren nach 1933 bei Zernack (2008, 707f.). 24 Vgl. IGL. (3, 1475–1477) sowie Riecke (2008, 596) mit weiterer Literatur.

Jüdische Sprachgermanisten und die deutsche Sprachwissenschaft (1930–1945)

53

gibt an, er sei bis 1934 evangelisch, in den USA unitarisch gewesen. Seine 1969 erschienene Festschrift enthält keinerlei biographische Hinweise. Utz Maas gibt an, er habe sich geweigert, in seinen Lehrveranstaltungen antisemitischen Anweisungen zu folgen.25 Nach Julia Zernack sei er 1935 gegen die Entlassung von vier Leipziger Kollegen öffentlich aufgetreten.26 Entlassen wurde 1936 auch Wolfgang Stammler, nach Maas „politisch diszipliniert“.27 Stammler war von 1936–1939 Privatgelehrter in Berlin, bis 1945 Soldat und erhielt erst 1951 wieder einen Ruf auf eine ordentliche Professur an der Universität Fribourg.28 Auch an Wolfgang Fleischhauer ist hier zu erinnern, der 1932 als 22jähriger Student seinem Lehrer Sperber nach Ohio folgte.29 Dazu kommt als Privatdozentin in Köln die Frings-Schülerin Edda Tille-Hankammer30 sowie Ernst Alfred Philippson,31 der nach eigenen Angaben konfessionslos und calvinistisch erzogen wurde, als Assistent von der Leyens. Schließlich ist noch Hans Neumann zu nennen, der wegen der jüdischen Abstammung eines Großvaters seine Berliner Assistentenstelle und den Arbeitsplatz am Grimmschen Wörterbuch verliert.32 In den Gesichtskreis der Germanistik kommt auch der Indogermanist und Finno-Ugrist Hermann Jacobsohn, der nach dem krankheitsbedingten Ausscheiden Ferdinand Wredes 1929 zum kommissarischen Leiter des Marburger Deutschen Sprachatlasses ernannt wurde. Jacobsohn nahm sich in Erwartung der weiteren politischen Entwicklung im Deutschen Reich am 27.4.1933 das Leben.33 Bei der Auswertung der Tabelle muss bedacht werden, dass dort nur etablierte Forscher erfasst sind, die bereits in irgendeiner Form eine Anstellung an einer Hochschule gefunden hatten. Hinzu kommt, dass die 25 Vgl. Maas (1992, 460). Gelegentlich erscheint Reichardts Name im Briefwechsel Hermann Schneider – Andreas Heusler. Heusler am 23.1.1938: „Das Kapitel GNeck. [Gustav Nekkel] ist traurig, nach wie vor. Ich will heute nichts dazu beitragen. Konstantin R[eichardt] schrieb mir über seinen Casus, aber ohne die Art der leberlaufenden Laus genauer zu fixieren. Nur so ‚die janze Richtung passe ihm nicht‘. Der humane Lindroth hat ihm einen Unterschlauf in Gotenburg verschafft …“, zitiert nach von See/Zernack (2004, 92f.). Siehe auch ebd., 99. 26 Vgl. Zernack (2008, 708). 27 Vgl. Maas (1996, 49). 28 IGL. (3, 1783–1786). Hier heißt es: „entl. aufgrund § 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“. Weitere Vermutungen bei Lerchenmüller/Simon (1997, 75). 29 IGL. (1, 495f.). 30 Vgl. IGL. (3, 1886f.) sowie Riecke (2008, 596f.) mit weiterer Literatur. 31 Vgl. IGL. (2, 1405f.) sowie Riecke (2008, 597) mit weiterer Literatur. 32 Vgl. IGL. (2, 1323f.) sowie Riecke (2008, 597) mit weiterer Literatur. 33 Vgl. Maas (2004, 138–142). Seine germanistischen Arbeiten betreffen das Gotische und das Niederdeutsche.

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Jörg Riecke

national-konservative Ausrichtung des Faches und der latente Antisemitismus in weiten Kreisen der Eliten der Weimarer Republik vielen jüdischen Gelehrten eine Universitätslaufbahn versperrt hat. Ein prominentes Beispiel für einen Sprachwissenschaftler, dessen Karriere schon im Kaiserreich massiv behindert wurde, ist der 1865 geborene Mainzer Sigmund Feist. Ruth Römer hat seinen Forschungen in zwei großen Aufsätzen ein Denkmal gesetzt.34 Nach dem Studium der vergleichenden Sprachwissenschaft in Straßburg, das Feist 1888 mit der Promotion abschloss, wurde er Lehrer für Deutsch, Französisch und Latein in Bingen und Mainz. 1902 übernimmt er in Berlin die Leitung eines jüdischen Waisenhauses. In freien Stunden arbeitet er als Privatgelehrter, insbesondere an seinem großen „Vergleichenden Wörterbuch der gotischen Sprache“ sowie seinen Büchern zu Herkunft und Ausbreitung der Indogermanen und Germanen und der Bedeutung der Runenschrift. In Berlin kam er allerdings als anerkannter Fachmann in die Schriftleitung der „Jahresberichte über die Erscheinungen auf dem Gebiete der germanischen Philologie“, wo er in der „Alten Abteilung“ Rezensionen verfasste, ab 1908 auch als Herausgeber in Erscheinung trat. Feist, der in allen zentralen Forschungsfragen dem Zeitgeist begründet entgegentrat, zog sich den Hass germanisch-germanistischer Ordinarien vom Schlage Muchs und Neckels zu, so dass er 1928 ausscheiden musste. 1943 ist er im dänischen Exil gestorben. Ebenfalls nicht in der Tabelle enthalten sind die damaligen Nachwuchswissenschaftler, sofern sie vor 1933 – soweit ich sehe – noch nicht im Fach etabliert waren. Dazu kommen einzelne Frauen, die nicht nur auf Grund ihres Geschlechtes, sondern auch wegen ihrer jüdischen Herkunft benachteiligt wurden. Diese Personengruppe sollte im Lexikon „Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher“ enthalten sein. Utz Maas verzeichnet insgesamt 55 Forscher, die sich als Sprachgermanisten betätigt haben, sowie drei Jiddisten, die ich hier ebenfalls nennen möchte: Yechiel Bin-Nun (Fischer) (*1911), Salomon Birnbaum (*1891) und Leopold Schnitzler (*1895). In diesem Lexikon finden sich allerdings gleichermaßen aus politischen wie aus religiösen Gründen vertriebene, teils auch bereits vor 1933 aus rein wissenschaftlichen Erwägungen (Herbert Penzl) ausgewanderte Wissenschaftler. Maas selbst bietet eine Zusammenstellung der Namen jüdischer Wissenschaftler nicht und deutet – siehe Habermas – eher die Fragwürdigkeit einer solchen Zusammenstellung an.35 34 Siehe Römer (1981) und (1993) sowie Maas (1996, 265–268). Die Literaturangaben im IGL.-Artikel (1, 483f.) sind nicht vollständig. 35 Vgl. Maas (1996, 6). Im einleitenden Kapitel „Das ‚Corpus‘ der berücksichtigten Personen“ (S. 10–22) wird das Kriterium „jüdische Herkunft“ nicht explizit genannt. Siehe aber für allgemeine Hinweise den Abschnitt „Der Antisemitismus“ (S. 52–62).

Jüdische Sprachgermanisten und die deutsche Sprachwissenschaft (1930–1945)

55

In den Lexikonartikeln wird die Konfession im Kopf nicht genannt, sie erscheint aber im Artikelverlauf, wenn es sich um praktizierende Juden handelt. Als Ergänzung der Tabelle kommen aus dem Kreis der 55 Sprachgermanisten vor allem die folgenden in Betracht. Helene Adolf (*1895; IGL. 1, 10f.), Isaac Bacon (*1914), Fritz Braun (*1892), Sigmund Feist (*1865; IGL. 1, 483f.), Käthe Hamburger (*1896: IGL. 2, 657–660), Eva-Maria Lüders (*1909), Franz Heinrich Mautner (*1902; IGL. 2, 1177–1179), Fritz Mezger (*1893), Arnold Schirokauer (*1899; IGL. 3, 1593–1595), Otto Springer (*1905; IGL. 3, 1773f.) und Siegmund Aaron Wolf (*1912). Einige von ihnen, etwa Otto Springer, der 1927 von Bohnenberger in Tübingen mit einer namenkundlichen Arbeit promoviert wurde,36 waren 1933 noch zu jung, um bereits im System etabliert gewesen zu sein. Auch Arnold Schirokauer, Jahrgang 1899, und 1921 von Carl von Kraus mit einer Arbeit zur mittelhochdeutschen Reimgrammatik promoviert, besaß keine Universitätsstelle vor seiner Internierung in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald und der anschließenden Emigration nach Kuba und von dort in die USA.37 Mit den aus dem IGL. und dem Lexikon „Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher“ entnommenen Namen ist nun eine abgesicherte Gruppe von etwa 15 Personen ermittelt, die für eine Darstellung der „Geschichte der jüdischen Sprachgermanisten“ zu berücksichtigen wäre. Dazu kommt unter Umständen auch der Romanist Victor Klemperer, der sich durch sein LTI-Buch eher als die übrigen bisher genannten einen Platz im germanistischen Lektüre-Kanon erobert haben dürfte.

6. Zur Modernität jüdischer Sprachgermanisten Agathe Lasch hat die nationalsozialistische Verfolgung mit dem Leben bezahlt, die übrigen hier genannten Personen wurden aus dem Reich vertrieben. Ihre sprachgermanistischen Forschungen wurden behindert, in vielen Fällen führte die Emigration zu einer völligen wissenschaftlichen

36 Otto Springer: Die Flußnamen Württembergs und Badens. Tübinger germanistische Arbeiten 11. Stuttgart 1930. Das IGL. vermerkt als Jahr der Emigration bereits 1930, gibt aber keine Erläuterungen zu den Umständen und zur Religionszugehörigkeit. 37 Schirokauer, Stammler und Philippson begegnen einander in der Fachgeschichte als Begründer und Herausgeber der Reihe „Texte des späten Mittelalters“.

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Jörg Riecke

Umorientierung. Mit Ausnahme von Hans Neumann hat niemand mehr in der deutschen Germanistik Fuß fassen können oder wollen. Im germanistischen Alltag sind sie, auch wegen der Marginalisierung der historischen Sprachwissenschaft, kaum noch vertreten. Es bleibt daher die Frage, ob sich das Erinnern und Gedenken auf die allgemein-menschlichen Aspekte dieser Lebensschicksale beschränken soll oder ob auch in fachlicher Hinsicht Anlass besteht, an die Arbeiten der verfolgten und vertriebenen jüdischen Sprachgermanisten zu erinnern. Utz Maas hat diese Frage 1988 zunächst recht eindeutig beantwortet: Er kommt zu dem Schluss, dass das Gesamtprofil der deutschsprachigen Sprachwissenschaft durch den Nationalsozialismus „keine dramatischen Veränderungen“38 erfuhr. Für den Teilbereich der germanistischen Sprachwissenschaft stellt sich die Lage meines Erachtens jedoch weitaus differenzierter dar. Maas selbst hat zudem eingeräumt, dass er seine Einschätzung aus der Perspektive der „Affinität zu einer modernen Sprachwissenschaft im Sinne der strukturalistischen Entwicklung“39 trifft. Hier gilt es aber anzusetzen. Die Neuerungen, oder wenn man so will, die Modernität der hier genannten Forscher liegt durchweg auf anderen Gebieten. Dies ist inzwischen durchaus anerkannt im Falle von Agathe Lasch, deren Schicksal zudem als erste Germanistikprofessorin Deutschlands in den letzten Jahren auch außerhalb der Germanistik mit Interesse betrachtet wurde. Vor 100 Jahren wurde sie in Heidelberg von Wilhelm Braune mit einer Arbeit über die „Geschichte der Schriftsprache in Berlin bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts“ promoviert. Als die Arbeit im darauf folgenden Jahr im Druck erscheint, lobt die Fachwelt die Eigenständigkeit ihrer Methode, das heißt die Art, wie sie Sprachgeschichte aufs Engste mit der Kulturgeschichte und der politischen Geschichte zu verknüpfen verstehe. Hier legt sie die Grundlagen für ihre 1928 erschienene Arbeit „Berlinisch. Eine berlinische Sprachgeschichte“.40 Norbert Dittmar würdigt 1988 ihre Leistung, indem er hervorhebt, dass sie einen Bogen von den ersten Sprachzeugnissen im 13. Jahrhundert bis zum Berlinischen ihrer unmittelbaren Gegenwart spanne.41 Auch er betont ihren Blick für die Wechselbeziehungen zwischen historischen und sprachlichen Entwicklungsprozessen und hält fest, dass die moderne Stadtsprachenforschung Agathe Lasch wichtige Impulse verdanke. Sprachgeschichte wurde zuvor kaum einmal 38 Maas (1988, 266). 39 Ebd., 267. Maas schreibt auch später selbst – (1996, 23) –, dass die „dramatischste Zäsur in der Entwicklung der deutschsprachigen Sprachwissenschaft (…) durch die politische und/oder rassistische Verfolgung bedingt“ sei. 40 Vgl. Kaiser (2007, 18). 41 Dittmar (1988).

Jüdische Sprachgermanisten und die deutsche Sprachwissenschaft (1930–1945)

57

so klar als Sprachvariationsgeschichte gesehen und beschrieben. Auch ihre Beschäftigung mit dem Übergang vom Mittelniederdeutschen zum Neuniederdeutschen und die konsequente Verwendung von Gebrauchstexten im „Mittelniederdeutschen Lesebuch“ waren innovativ und wegweisend. Zwar haben auch ihre übrigen lexikographischen Arbeiten zum Mittelniederdeutschen Handwörterbuch und zur Grammatik des Niederdeutschen noch heute Gewicht, aber vor allem in der Stadtsprachenforschung erweist sie sich als richtungweisend; man darf sie heute als eine frühe Soziolinguistin bezeichnen. An dieser Stelle soll aber auch anerkennend hervorgehoben werden, dass die Niederdeutschforschung bereits recht früh sehr viel zum Andenken an Agathe Lasch getan hat.42 Wenn es um die Erkundung von neuen Teilgebieten des Faches geht, dann muss auch der Name Victor Klemperer fallen. Durch seine Tagebücher ist der Professor für Romanische Philologie an der Technischen Universität Dresden vielleicht zum berühmtesten Philologen seiner Zeit aufgestiegen, sein literaturwissenschaftliches Werk scheint jedoch heute in der Romanistik nur noch verhalten rezipiert zu werden. Damit müsste sich die Germanistik nicht befassen, wenn Klemperer, der eine literaturwissenschaftlich-germanistische Dissertation verfasst und seine sprachgermanistische mündliche Doktorprüfung 1913 bei Hermann Paul abgelegt hat43 und damit wie Agathe Lasch – allerdings mit vielfältigen Brechungen – aus einem junggrammatischen Umfeld stammt, nicht auch als Verfasser der LTI, der „lingua tertii imperii“ hervorgetreten und damit schließlich doch gewissermaßen ein Sprachgermanist wider Willen geworden wäre.44 Die LTI hat seit ihrer ersten Auflage 1946 Anfeindungen erlebt von politischer Seite, weil man es Klemperer in der Bundesrepublik übel nahm, dass er sich in den ersten Nachkriegsjahren in der DDR politisch engagierte. Von der politischen und ebenso von der strukturalistischen Sprachwissenschaft wurde der LTI wahlweise die richtige linguistische Methode, oder zumindest doch das richtige politische Bewusstsein abgesprochen.45 In Klemperers Charakterisierung der Sprache des Nationalsozialismus als „Gift“ und „Krankheit“ vermutete man eine – vielleicht unbewusste – Entschuldigung der Täter, die sich der Verführung durch die nationalsozialistische Propaganda gar nicht hätten entziehen können. Daran schloss sich der Vorwurf an, Klemperer habe Sprache, Denken und Wirklichkeit überhaupt in einem zu engen Verhältnis gesehen. Sprache ist aber nicht nur ein

42 43 44 45

Peters/Sodmann (1979). Klemperer (1996b, 40f.). Klemperer (1996a). Vgl. Schiewe (1998, 209–221); siehe auch Maas (2004, 178–184).

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System von Zeichen, sondern auch „ein fein strukturiertes Sozialgebilde, das mit dem Denken und unserer Auffassung von der Wirklichkeit, unserer Ordnung der Dinge, in einem Zusammenhang steht“.46 Hier zeigt sich das Potential der eingangs skizzierten „sprachreflexiven Aufgabe“ der Sprachwissenschaft. Erst langsam setzt sich zudem im Gefolge Siegfried Jägers47 die Erkenntnis durch, dass Victor Klemperer mit seiner von der Sprache ausgehenden kulturanalytischen Methode der Phänomenologie sprachlicher Ausdrucksformen als ein Gründer der modernen Diskursanalyse gelten kann. Noch genauer zu untersuchen wäre, in wie weit dafür die idealistische Schule seines romanistischen Lehrers Karl Vossler – in einem positiven Sinne und damit etwas anders als bei Jäger akzentuiert – einflussreich gewesen ist. Klemperer war nämlich nicht nur Empiriker, der Texte sammelte und zu verstehen suchte. Er hat sich dabei neben der fortdauernden Betrachtung einzelner Wörter immer häufiger und intensiver auch ganzen Texten gewidmet: „… das Einzelwort, die Einzelwendung können je nach dem Zusammenhang, in dem sie auftreten, höchst verschiedene, bis ins Gegenteil divergierende Bedeutung haben, und so komme ich doch wieder auf das Literarische, auf das Ganze des vorliegenden Textes zurück. Wechselseitige Erhellung tut Not, Gegenprobe von Einzelwort und Dokumentganzem …“.48 Seine Aufmerksamkeit richtet sich auf die Wirkung ganzer Texte, die komplexe gedankliche Zusammenhänge enthalten und ordnet die Texte dann dem zu, was er die „lingua tertii imperii“49 nennt, dem Sprachgebrauch im „Dritten Reich“, also mit anderen Worten, dem nationalsozialistischen Diskurs. Zum Abschluss möchte ich einen dritten Modernisierer herausheben: Hans Sperber.50 Sperber, am 25. März 1885 in Wien geboren, studierte an der dortigen Universität germanische und romanische Philologie und wurde 1907 – ausgerechnet – von Much51 mit einer Arbeit über dänische Volksballaden promoviert. Zur Fortsetzung seiner skandinavischen Studien erhält er ein Stipendium in Schweden, wo er dann von 1909 bis 1915 als Lektor an der Universität Uppsala tätig wird. Dort hat er

46 47 48 49

Vgl. Schiewe (1998, 219). Jäger (2001). Klemperer (1996a, 158). Vgl. dazu auch Schiewe (1998, 213f.). Hier zu lat. lingua im Sinne von ‚die Rede, das Reden‘ und nicht im Sinne von ‚Sprache (als System)‘. 50 Siehe Fleischhauer (1965). 51 Robert Much (1862–1936), ordentlicher Professor für „Germanische Sprachgeschichte und Altertumskunde“ gehörte zum Kreis der antisemitischen alldeutschen Bewegung Georg von Schönerers. Zu Schönerer vgl. Goodrick-Clarke (2004).

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seine Studien bei Adolf Noreen und Otto von Friesen fortgesetzt. Eine große Zahl von Aufsätzen zu sprachwissenschaftlichen und literarischen Fragen des Deutschen und Nordischen entstehen hier, ebenso Texte zur Mythologie, zur Namenkunde, zur Etymologie und Beiträge zur „Wörter und Sachen“-Forschung. In seinen Arbeiten verdichtet sich mehr und mehr die enge Verbindung von Sprach- und Kulturgeschichte. Auf den frühen Artikel „Über den Einfluß sexueller Momente auf Entstehung und Entwicklung der Sprache“ (Imago 1, 1912), der Sigmund Freuds Aufmerksamkeit erregte, folgten zwei Bücher, in denen er seine Ideen noch präziser formulieren konnte: „Über den Affekt als Ursache der Sprachveränderung. Versuch einer dynamologischen Betrachtung des Sprachlebens“ (Halle 1914) und „Studien zur Bedeutungsentwicklung der Präposition über“ (Uppsala 1915). Für Sperber ist die Ursache des Bedeutungswandels nicht in dem rational-begrifflichen Inhalt des Wortes zu suchen, sondern in seinem Gefühlston.52 Selbst ein Wort wie über, mit dem er – neben zur – seine Studien vorzugsweise einleitete, und das heute farb- und emotionslos scheint, kann in älterer Zeit einem Vorstellungskomplex angehört haben, der so affektbetont war, dass er das Wort „aus den Grenzen seiner ursprünglichen Bedeutung hinaustrieb“.53 In diesem Umkreis entstehen weitere Arbeiten wie: „Ein Gesetz der Bedeutungsentwicklung“, „Maxima und Minima im Wirken der sprachverändernden Kräfte“ sowie das Buch „Motiv und Wort. Studien zur Literatur- und Sprachpsychologie“, das er 1918 zusammen mit seinem Jugendfreund Leo Spitzer herausgibt. 1919 wechselt er nach Köln, habilitiert sich und wird Privatdozent für Deutsche und Nordische Philologie. In Köln schreibt er eine „Einführung in die Bedeutungslehre“ und die „Geschichte der deutschen Sprache“, die seit der 5. Auflage auf dem Titelblatt nur noch unter dem Namen Peter von Polenz’ erschienen ist. 1925 wird er schließlich zum außerordentlichen Professor ernannt. Aus seiner „Geschichte der deutschen Sprache“ gehen eine Reihe von Studien zur Sprache des 17. und 18. Jahrhunderts hervor, die völlig neue – von der junggrammatischen wie strukturalistischen Forschung unbeachtete – Regionen der Sprachgeschichte erschließen. Eine Verbindung seiner semantischen Interessen mit der Erforschung des älteren Neuhochdeutschen zeigt sich in seinem Entwurf zu einem neuen deutschen Wörterbuch, das im Gegensatz zum Grimmschen Wörterbuch auf die Bedeutung ausgerichtet und lesbar sein sollte. Wir kennen dieses Wörterbuch heute als „Trübners deutsches Wörterbuch“. Sperber hat dazu das Konzept entwickelt und anfangs noch viele Artikel verfasst,

52 So Fleischhauer (1965, 165). 53 Ebd.

60

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ohne dass er noch namentlich genannt werden sollte.54 Hans Sperber verließ Deutschland, ehe noch der erste Band erscheinen konnte. Am 20. April 1933 schrieb er an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln: „Ich bin jüdischer Herkunft, Demokrat und Pazifist, drei Tatsachen, die ich auch dann nicht verleugnen werde, wenn meine Existenz auf dem Spiel steht“.55 Über Schweden reist er in die USA, wo er 1933 Lecturer, 1936 Professor an der Ohio State University wird. Zur Linguistik seines dortigen Kollegen Bloomfield hatte er eine erfrischend klare Position: „Linguistics in a Strait-Jacket“ (Modern Language Notes 75, 1960). Sperber hat seine germanistische Forschung im amerikanischen Exil zwar nicht eingestellt, seine semantischen Untersuchungen hat er aber vor allem auf das amerikanische Englisch und der Sprache der Politik in den USA ausgeweitet. Sie gipfeln in: „American Political Terms. An Historical Dictionary“ (Detroit 1962). Auch deshalb ist er wohl, anders als sein Freund Leo Spitzer in der Romanistik, heute in der Germanistik weithin vergessen. Das IGL. hat nur einen etwas lieblosen Artikel, der von der Redaktion selbst erstellt wurde, weil man offensichtlich keinen Bearbeiter gefunden hatte. Dabei hat Sperber in der kurzen Zeit seines Wirkens in Köln so viele Anregungen gegeben, die bis heute noch lange nicht ausgeschöpft sind. Das IGL. nennt als seine Schüler nur Wolfgang Fleischauer (IGL. 1, 495f.) und Leland Richter Phelps (IGL. 2, 1404f.) an der Ohio State University. Beider Dissertationsthemen (Fleischauer: Kalf Arnason. Die Berührungen zwischen Heldenlied und Königssage; Phelps: „Metaphorical Systems in the Works of Johann Gottfried Herder“) verdeutlichen noch einmal Sperbers Spektrum. Nachzutragen wäre hier zumindest noch seine Kölner Schülerin Eva-Maria Lüders, deren Dissertation („Die Auffassung des Menschen im 17. Jahrhundert. Dargestellt anhand der Poetischen Wörterbücher“, Düsseldorf 1934) ebenfalls von Sperber angeregt und bis zu seiner Vertreibung betreut wurde. Eva-Maria Lüders emigrierte kurz darauf nach Schweden und arbeitete nach längeren Unterbrechungen als Archivmitarbeiterin am Deutschen Institut der Universität Uppsala, wo sie schließlich wieder philologisch arbeiten kann.56 Agathe Lasch, Victor Klemperer und Hans Sperber sind herausragende Beispiele dafür, dass von jüdischen Sprachforschern Impulse und Modernisierungsschübe ausgehen, die in einer Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland einen hervorragenden Platz einnehmen. Dabei spielt es

54 Vgl. dazu Mückel (2005). 55 Golczewski (1988, 115). 56 Siehe Maas (2004, 280f.). Das IGL. nennt sie nicht.

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vermutlich keine Rolle, ob der Mut zu neuen Ansätzen etwas mit ihrer jüdischen Herkunft zu tun hat. Vielmehr haben wohl gerade die Schwierigkeiten, denen die meisten jüdischen Wissenschaftler ausgesetzt waren, um anerkannt zu werden und im Fach voranzukommen, vor allem anderen dazu geführt, sich gerade nicht an die bereits vorgezeichneten Wege zu halten.

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Jüdische Sprachgermanisten und die deutsche Sprachwissenschaft (1930–1945)

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Albrecht Greule (Regensburg)/Christian Braun (Graz)

Stand und Aufgaben der historischen Valenzforschung1 1. Rückblick Vor gut 25 Jahren habe ich in dem Sammelband „Valenztheorie und historische Sprachwissenschaft“ angeregt, die Valenztheorie auf die Beschreibung der historischen Sprachstufen besonders des Deutschen zu übertragen und auszuweiten. Die Beschreibung der Verbvalenz und ihrer spezifischen Ausprägung auf den historischen Sprachstufen des Deutschen ist und bleibt eine Voraussetzung, um auch Valenzentwicklungen im Verlauf der gesamten deutschen Sprachgeschichte, also diachrone Aussagen treffen zu können. Es erscheint hilfreich zu sein, die heutige Forschungslage vor dem Hintergrund von Thesen zu beleuchten, die ich vor einigen Jahren an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Veszprém (29.04.2004) zur Diskussion gestellt habe. Dabei versuchte ich zusammenzufassen, welche Anforderungen an die historische Valenzforschung aus den Erfahrungen der bisherigen Forschung gestellt werden. Es handelt sich um folgende sieben Thesen: Erstens: Das Valenzkonzept, bei dem es im Kern um die Beschreibung der Regularitäten der Prädikatsumgebung geht, die zum großen Teil vom Verb gesteuert werden, ist auch auf die Beschreibung historischer Sprachen und Sprachstufen anwendbar. Zweitens: Genauso wie die Beschreibung der Verbvalenz Teil der auf die Gegenwartssprache bezogenen Grammatik ist, ist sie Teil der historischen Syntax. Der genuine Ort der Valenzbeschreibung in einer strukturellen Grammatik ist die Beschreibung der Strukturen des Einfachen Satzes, genauer: die Typologie der „Satzmodelle“. 1

Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um die verschriftlichten Ausführungen eines gemeinschaftlich auf der 1. Jahrestagung der GGSG in Leipzig gehaltenen Vortrags. Der erste Teil (1. Rückblick) wurde von Albrecht Greule, der zweite (2. Ausblick) von Christian Braun besorgt.

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Drittens: Man muss sich allerdings bewusst sein, dass der Status einer historischen Grammatik ein anderer ist als der einer gegenwartssprachlichen Grammatik, bei deren Abfassung der Deskribent auf Kompetenzurteile von Sprechern und auf sein eigenes zurückgreifen kann. Die historische Grammatik ist hingegen ausschließlich deskriptiv. Sie verfolgt nicht das Ziel anzuleiten, wie Sätze richtig gebildet werden. Sie dient eher dazu, die grammatischen Strukturen zu einer bestimmten vergangenen Zeit zu beschreiben und das Textverständnis zu befördern. Viertens: Die Abfassung einer historischen Syntax des Deutschen, die wir dringend brauchen und die durch das Forschungsprojekt „Diachrone Syntax Deutsch (DiSynDe)“ jetzt angestrebt wird, setzt die Erfassung des Valenzpotentials der wichtigsten historischen Sprachstufen voraus. Fünftens: Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Schaffung von Valenzwörterbüchern der Sprachstadien unabdingbare Voraussetzung (Valenzlexikographie). Sechstens: Wir dürfen in einer Zeit der knappen Forschungsressourcen nicht außer Acht lassen, für wen die Valenzwörterbücher abgefasst werden. Sie können nicht mehr so abgefasst werden, als dienten sie nur linguistischen Interessen. Wir müssen auch im Auge behalten, dass solche Wörterbücher beispielsweise auch von Literaturwissenschaftlern benutzt werden, im Falle des Alt-, Mittel- und Frühneuhochdeutschen etwa von Mediävisten. Diese Einsicht hat Folgen für die Darstellung der Ergebnisse der Valenzforschung in den Wörterbüchern (Problem der Rezipierbarkeit der Wörterbücher). Siebtens: Die Methode, nach der das Valenzpotential einer Sprachstufe erhoben werden kann, ist die der klassischen Korpusanalyse. Die Frage, wie ein quasi repräsentatives Korpus für ein Sprachstadium erstellt werden kann, ist noch offen. 1.1 Aktuelle Ergebnisse der Forschung Inzwischen gibt es neuere Forschungen zur historischen Valenz. Den aktuellen Stand dokumentiert das „Handbuch zur Dependenz und Valenz“, dessen 2. Halbband 2006 erschienen ist. Dieser Band enthält sechs markante historische Fallstudien und zwei Studien zum Valenzwandel. Neben den die historischen deutschen Sprachstufen (alt-, mittel-, frühneuhochdeutsch und altsächsisch) betreffenden Fallstudien gibt es im Handbuch überraschender Weise auch eine zur Valenz des Altfranzösischen, in der die Verfasser allerdings bekennen müssen, dass es keine Vorarbeiten zu diesem Thema gibt. Damit nicht der Eindruck entsteht, historische Valenz sei nur eine Sache der Germanistik (im weitesten Sinn), schließt wenigstens Tamás

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Albrecht Greule/Christian Braun

Forgács die Reihe der historischen Fallstudien ab mit einer Auswertung seines Verblexikons zum altungarischen Matthäus-Evangelium, das über 600 Stichwörter enthält. Sein optimistisches und anspornendes Fazit möchte ich mir hier als Zitat zueigen machen: Die Untersuchung (hat) eindeutig erwiesen, dass eine historische Valenzanalyse wirklich viele neue Erkenntnisse für die syntaktische und semantische Beschreibung älterer Sprachstufen einer Sprache bringen und die Forschungsmethodik mit zahlreichen neuen Aspekten bereichern kann. (Forgácz 2006, 1521)

Die Fallstudien konzentrieren sich auf Brennpunkte der historischen Valenz im Kontext der Grammatik der einzelnen Sprachstufen. Die Autoren reflektieren die methodischen Probleme, die sich bei der Übertragung der Valenztheorie auf historische Sprachzustände ergeben und adaptieren neuere Erkenntnisse der synchronen Valenztheorie. Es handelt sich um die Frage der sog. Ersatzkompetenz, um die Problematik der Ergänzung-Angaben-Abgrenzung und die quantitativen und qualitativen Vorschläge dieses Problems oder auch um die aufschlussreiche Anwendung des Konzepts der Mikro- und Makro-Valenz (Pfefferkorn/Solms 2006, 1486–1491). Neue Wege geht Rosemarie Lühr, indem sie den historisch-synchronen Vergleich mit nah verwandten Sprachen vorschlägt und ihn am Beispiel altsächsischer, althochdeutscher, altenglischer und altfriesischer Parallelen vorführt – mit dem Ziel einer westgermanischen Syntax (Lühr 2006). Ich darf diesen Gedanken in Richtung einer vergleichenden Valenzforschung der altgermanischen Sprachen insgesamt fortführen und daran erinnern, dass einerseits die Überlegungen zu einem „Lexikon der starken Verben des Altnordischen“ von Astrid van Nahl vorangetrieben wurden und dass es andererseits eine Fallstudie zu den Valenzeigenschaften des gotischen Verbs wairþan gibt, worin der Autor das „multidimensionale Valenzkonzept“ der IDS-Grammatik anwendet (Lénárd 2001). Die Diskussion eines weiteren, nämlich des zentralen Problems historischer Valenzforschung, der Korpus-Frage, zieht sich durch alle Darstellungen. Sie wird mit der für jede Sprachstufe größer werdenden Textmenge schwieriger zu lösen. Zumeist bezieht man sich auf einzelne Autoren bzw. begrenzte Texte (Otfrid, Heliand, Altsächsiche Genesis, Luther, altungarische Matthäus-Übersetzung) oder man wertet punktuell (zu den Themen „Imperativ“, „Verba impersonalia“, „Aktiv und Passiv“) – wie Oliver Pfefferkorn und Hans-Joachim Solms (2006) – ein Korpus von Textausschnitten aus, das wie das mittelhochdeutsche Bochumer Korpus eine ganze Sprachperiode repräsentiert. Nur am Rande wird der Zusammenhang von Valenzgrammatik und Valenzlexikographie thematisiert. Die Schnittmenge bilden – mit Jarmo

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Korhonen (2006b, 1495f.: frühneuhochdeutsche verbabhängige Modelle) gesprochen – die Satzmodelle und ihre Ausformung, die Verb für Verb im Valenzlexikon aufgelistet sein müssten. Über fertige Verb- oder Valenzwörterbücher, die aus größeren Textmengen abgeleitet sind, verfügen nur das Althochdeutsche (Greule 2006a) und das Altungarische (Forgács 2006). Mit dem Valenzwandel, der ureigentlich diachronen Dimension der historischen Valenzforschung, befassen sich im Handbuch Hansjürgen Heringer (2006, 1447–1461) und Jarmo Korhonen (2006a, 1462–1474): Heringer unter theoretischem, Korhonen unter dem praktischen Aspekt des deutschen Valenzwandels. Während Korhonen resümiert, was zum Valenzwandel in den Bereichen verbabhängige Ergänzungen, Valenzwandel einzelner Lexeme und Entwicklungstendenzen geforscht wurde, übt Heringer Methoden-Kritik und konstatiert unter anderem, dass es „der Valenzforschung bisher nicht gelungen (ist), den Wandel im Detail zu erklären. Die Vielfalt, Variation und Übergänge wurden bisher nicht durch ein Netz von Belegen demonstriert“ (Heringer 2006, 1456). Die Kritik an einer validen Belegmenge verstehe ich als Wasser auf die Mühle meiner Forderung nach der Schaffung von historisch synchronen und – darauf aufbauend – eines diachronen Valenzwörterbuchs des Deutschen. Ziel der Forschung sollte ein der „Diachronen Syntax Deutsch (DiSynDe)“ entsprechendes „Diachrones Valenzwörterbuch des Deutschen (DiValBu)“ sein. Bei seiner Abfassung wäre dann auch die Anwendbarkeit der von Hans-Jürgen Heringer (2006, 1459) aufgestellten Prinzipien einer kontrollierten Semantik zu beachten und ihre Verträglichkeit mit dem Prinzip der Rezipierbarkeit (s.o.) von so verfassten Wörterbüchern durch Nichtlinguisten zu hinterfragen. 1.2 Neuere Forschungen Dass der Valenzwandel nicht nur bezogen auf einzelne Lexeme beschrieben werden kann, sondern auch im Rahmen von Wortfeldern, zeigt die Dissertation von Nándor Csiky (2008), in der es um die Geschichte des Wortfeldes WACHSEN im Deutschen geht. Nach den Erfahrungen, die Csiky mit den Wörterbüchern als Teilen seines historischen Korpus machte, und meiner Erfahrung, dass auch das mittelhochdeutsche Bochumer Korpus, wenn man quantitativ arbeiten will/muss, seine Grenzen hat (Greule 2006b), lag der Versuch nahe, die Eignung von vorhandenen Wörterbüchern als Korpus der historischen Valenzlexikographie an der Diachronie eines Verbs (verzeihen) zu überprüfen – mit verhalten positivem Ergebnis (Csiky/Greule 2008).

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Zwei Forschungslinien sind damit vorgezeichnet: einmal das Austesten der historischen Wörterbücher des Deutschen als potentielle Quellen für ein historisches Valenzwörterbuch und – komplementär dazu – die historisch-synchrone Auswertung von Original-Quellen auf ihr Valenzpotential. Beides wurde exemplarisch in einem Workshop im Verlauf des Wintersemesters 2008/09 an der Universität Regensburg durchexerziert. Als Ergebnisse liegen vor Entwürfe zu einer Valenzgeschichte der Verben sitzen (Fiona Schmid), erhalten (Johannes Sift) und dolmetschen (Joanna Dziewulska) sowie die valenzielle Beschreibung der Verben eines bayerischen Originalbriefes vom Anfang des 14. Jahrhunderts (Rapp 2009). Ich schließe meinen Forschungsbericht mit in die Zukunft gerichteten, pointierten Feststellungen: Die für die historische Forschung zentrale Korpusfrage ist – unabhängig von der digitalen Verfügbarkeit von Korpora – noch immer nicht gelöst. Es ist richtig, wenn sich die Forschungsaktivitäten im Bereich der historischen Valenz nunmehr auf das Projekt DiSynDe konzentrieren. Aber das ist Grammatikographie; das Problem der Beziehung von Valenzsyntax und Valenzlexikographie ist empirisch noch immer nicht gelöst. Ceterum censeo: Wir brauchen das DiValBu!

2. Ausblick Nachdem das Resümee zum Stand der Valenzforschung mit einer klaren Zielvorgabe abgeschlossen wurde, werden nun einige Überlegungen zu künftigen Aufgaben der Valenzforschung vorgestellt. Hierbei wird auf zwei Aufgaben fokussiert, die beide wichtige Teilschritte auf dem Weg zu einem Diachronen Valenzwörterbuch des Deutschen darstellen. Es soll an dieser Stelle zuvor noch einmal angemerkt werden, dass die Funktion des vorliegenden Beitrages sich am Thema der ersten Jahrestagung der GGSG orientiert, so dass es hier nicht primär um das Aufzeigen der Ergebnisse der eigenen Forschungsleistungen – wie es üblicherweise Anliegen eines Tagungsbeitrages ist – gehen soll. Anlässlich der Konstituierung der GGSG wird auch im Hinblick auf die historische Valenzforschung einen Schritt zurückgetreten und ein eher resümierender und Perspektiven aufzeigender Blickwinkel eingenommen. Generell ist es wohl nicht falsch zu konstatieren, dass es zwar immer noch Publikationen zur Valenz und zur historischen Valenzforschung in beachtlicher Zahl gibt, dass aber der große Boom der achtziger Jahre vorbei zu sein scheint. Der Grund hierfür liegt ironischerweise im Erfolg des Ansatzes, gepaart mit der philologisch-empirischen Natur der Forschungs-

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aufgabe. Seriöse Valenzforschung ist korpusbasiert, empirisch, verbraucht Mittel und kostet vor allem Zeit und Energie. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, nach zwei oder drei Wochen Valenzforschung valide Ergebnisse vorzulegen – bei einem historischen Ansatz schon gar nicht. Der optimale Ort für Valenzforschung beschränkt sich somit auf Qualifikationsschriften und längerfristige und umfangreichere Projekte. Diese sind aber beide wiederum darauf angewiesen, innovatives Potenzial zu beinhalten, die Qualifikationsschrift aus wissenschaftlichen, das Projekt aus wissenschaftlichen und finanziellen Gründen. Nun ist es – aus diesen Gründen müsste man sagen: leider, aus wissenschaftlichen Gründen eher: Gott sei Dank – so, dass die Valenztheorie und auch die historische Valenztheorie bei allen Problemen, genannt sei nur das Stichwort Ersatzkompetenz, ein in sich gefestigter und erprobter Ansatz ist. Das Rad kann hier nicht mehr neu erfunden werden. Heutige Valenzforscherinnen und -forscher befinden sich somit nicht mehr in der Situation von Pionieren. Und es scheint in der Wissenschaft, zumindest dieses eine Mal, genau so zu sein wie im richtigen Leben: Es ist wesentlich einfacher, etwas zu beginnen, als etwas zu Ende zu führen. Nach diesen eher allgemeinen Überlegungen zu den Rahmenbedingungen werden im Folgenden zwei konkrete Aufgabengebiete der historischen Valenzforschung vorgestellt: 1. Zum einen fehlt spürbar ein syntaktisch-semantisches Valenzwörterbuch mittelhochdeutscher Verben. 2. Zum anderen liegen noch viel zu wenig diachrone Studien zu Einzelverben vor. Letztere können sowohl als Kohärenz stiftendes Mittel zwischen den synchronen Wörterbüchern der verschiedenen Epochen wirken, als auch Aufschluss über Metaphernphänomene, Funktionsverbgefüge, Tiefenkasusverschiebungen, idiomatischen Wendungen usw. geben. 2.1 Zu einem syntaktisch-semantischen Valenzwörterbuch mittelhochdeutscher Verben 2.1.1 Herausforderungen Zuerst zum Desiderat eines syntaktisch-semantischen Valenzwörterbuchs mittelhochdeutscher Verben, folgend mittelhochdeutsches Valenzwörterbuch genannt. Die Realisierung dieses Projekts stößt, neben den bereits genannten allgemeinen und rahmentechnischen, auch auf einige spezifische Schwierigkeiten. Die beiden dringlichsten sind a) die außerordentlich

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Albrecht Greule/Christian Braun

schwierig zu beantwortende Korpusfrage (s. auch 2.2.3) und b) die Frage nach den zu berücksichtigenden Lemmata. Beide Problemfelder basieren ganz schlicht auf dem allseits bekannten Interessenskonflikt zwischen arbeitsökonomischen Zwängen und validem Erkenntnisinteresse. Für die Materialgrundlage betrifft dies vor allem die Entscheidung nach zeitlichem Umfang und jeweiliger Belegdichte. Zudem muss kritisch geprüft werden, in wie weit bereits vorhandene Korpusdigitalisate zweckdienlich gemacht werden können, ob sie beispielsweise sämtliche Informationen transportieren, die für eine Analyse notwendig sind, ob die Belegfrequenz als ausreichend erachtet wird usw. So kann es durchaus sein, dass bestimmte Korpora aufgrund der für ihre Erstellung relevanten Interessen für syntaktisch-semantische Valenzanalysen nicht nutzbar sind, obwohl auf den ersten Blick Synergieeffekte vermutet werden könnten. Bevor man eine allumfassende empirische Studie in Angriff nimmt, wird es eventuell zweckdienlich sein, für einen ersten, gleichwohl aussagekräftigen Eindruck die umfangreiche Menge an potentiellen Quellentexten der Zeit zwischen 1050 und 1350 auf ein in einem vernünftigen Zeitmaß bearbeitbares, repräsentatives Korpus zu reduzieren.2 Auch hinsichtlich der anzusetzenden Lemmata ist erst einmal die Frage nach der Machbarkeit zu klären. Berücksichtigt man nur Simplizia? Welche Behandlung erfahren hochfrequent vorkommende Verben? Werden die Präteritopräsentien mitberücksichtigt? Eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung wird die Dauer des Projekts nach Monaten oder in der Tat Jahren beeinflussen. 2.2.2 Aufgaben Es zeichnet sich somit immer mehr ab, dass ein Vorhaben dieser Art nur in einem größeren Forscherinnen- und Forscherverbund mit zergliederter Bearbeitung einzelner Teilkorpora umsetzbar ist, wobei idealiter ein internationaler Zusammenschluss bewährter und nachwachsender Wissenschaftler anzustreben ist. In diesem Falle muss allerdings ein Konsens hinsichtlich der Aufgaben eines mittelhochdeutschen Valenzwörterbuchs hergestellt werden. Folgende Punkte zeichnen sich aus unserer Sicht ab:

2

Für diese Zwecke erhielt Albrecht Greule von Hans-Joachim Solms und Thomas Klein freundlicherweise das Einverständnis, auf das bekannte Bochumer Korpus zugreifen zu können.

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Die primäre Aufgabe ist zweifelsohne, die Analyse des synchronen Valenzzustandes einer zentralen Epoche der deutschen Sprache und Literatur zu leisten. Diese ist als wesentlicher Beitrag zu einer bereits mehrfach eingeforderten neuen mittelhochdeutschen Grammatik,3 insbesondere zu einer mittelhochdeutschen Syntax, zu verstehen. Sie trägt, da die Beschreibung der Umgebung der Verben im Schnittpunkt von Grammatik und Wörterbuch steht, darüber hinaus auch zur Verbesserung der mittelhochdeutschen Lexikographie bei. Zweitens ermöglicht ein mittelhochdeutsches Valenzwörterbuch im Zusammenhang mit Valenzwörterbüchern anderer Epochen des Deutschen, wie sie z.B. für das Althochdeutsche (Greule 1999) und Neuhochdeutsche (z.B. Helbig/Schenkel 21973) bereits vorliegen, wesentliche Erkenntnisse über die diachrone syntaktische und semantische Valenzentwicklung der Verben innerhalb der deutschen Sprache. Somit wäre das Wörterbuch ein essentieller Beitrag zur Geschichte der Sprachentwicklung und des Bedeutungswandels der deutschen Sprache. Unter diesem Aspekt fungiert es zudem als wichtiger Teilschritt auf dem Weg zu einem diachronen Valenzwörterbuch des Deutschen.

3. Darüber hinaus erscheint es sinnvoll, das mittelhochdeutsche Valenzwörterbuch auch als Hilfsmittel innerhalb der Mediävistik zu konzipieren. Durch die in ihm dargelegten Satzbaupläne, welche die formal-grammatischen und inhaltlichen Zusammenhänge von Verb/ Prädikat und Ergänzungen aufzeigen, wird die konkrete Textarbeit und Textinterpretation der mittelhochdeutschen Texte aus sprachlicher Perspektive unterstützt, eventuell sogar erst möglich gemacht. Somit würden wir einen Leserkreis ansprechen und hinzugewinnen können, der für uns nicht unbedingt selbstverständlich ist. Es geht hier natürlich nicht darum, die Historische Linguistik als Hilfswissenschaft der Mediävistik zu etablieren, sondern vielmehr darum, bewusst einen „Kollateralnutzen“ anzustreben und so den Mehrwert der Forschungsleistung gezielt zu steigern. Dem durch diese dreifache Anwendungsmöglichkeit zu erwartenden großen Rezipientenkreis müsste dann allerdings auch durch eine benutzerfreundliche, die Textinformation leicht zugänglich machende gedruckte Edition des Verbvalenzwörterbuchs Rechnung getragen werden.

3

Vgl. Wegera (22000, 1304), Meineke (1999, 180), Greule/Lénárd (2004, 24).

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Albrecht Greule/Christian Braun

2.2.3 Stand der Forschung Was den Stand der Forschung betrifft, sollen an dieser Stelle keine langen Ausführungen gemacht werden, das müsste mittlerweile innerhalb dieses Kreises hinlänglich diskutiert und bekannt sein. Einige kürzere Anmerkungen mögen genügen. Ab der 23. Auflage der Grammatik des Mittelhochdeutschen von Hermann Paul wählt Siegfried Grosse, der die Syntax in diesem Handbuch neu bearbeitete, die Valenzgrammatik „als ordnungserleichternde Leitlinie“. Er stellt damit das Verbum an die Spitze der syntaktischen Darstellung, „denn vom Verb aus erschließt sich dem Studierenden das Verständnis des fremden historischen Textes am schnellsten. Das konjugierbare Verb ist (…) der wichtigste Valenzträger, d.h. es eröffnet Leerstellen um sich herum, deren Füllung an Regeln gebunden ist und deshalb wesentlich den syntaktischen Bauplan des Satzes bestimmt“ (Paul/ Wiehl/ Grosse 231989, 287). Die Richtigkeit der von Siegfried Grosse und anderen vertretenen Auffassung erweist die neue Althochdeutsche Syntax von Richard Schrodt (2004), in der ebenfalls ausgehend von der Verbalgruppe die verbale Valenz auf eine weit schwierigere ältere Sprachstufe des Deutschen mit Erfolg angewendet wird (57ff.). Man kann also behaupten, dass die Beschreibung der Verbvalenz wesentlicher Bestandteil nicht nur der Syntax der Gegenwartssprache, sondern auch der Syntax der historischen Sprachstufen geworden ist. Für das Althochdeutsche steht das von Albrecht Greule besorgte Syntaktische Verbwörterbuch zu den althochdeutschen Texten des 9. Jahrhunderts (Greule 1999) der Forschungsgemeinde seit nunmehr zehn Jahren zur Verfügung. Das zentrale Problem der Korpusauswahl konnte Greule dahingehend lösen, dass er schlichtweg keine Auswahl getroffen hatte, sondern sämtliche Quellen des 9. Jahrhunderts berücksichtigte. Das war zwar keineswegs einfach, gleichwohl aber noch bewältigbar. Es ist schnell einzusehen, dass diese Lösung für das Mittelhochdeutsche (1050–1350) aufgrund der Fülle des Materials nicht in Frage kommen kann. Für das Mittelhochdeutsche befindet sich der Grammatikograph leider in der Lage, auf nur sehr wenige aus den Quellentexten authentisch erhobene Feststellungen zur Verbvalenz zurückgreifen zu können. In den vorhandenen kleinen und großen Wörterbüchern des Mittelhochdeutschen wird auf die Verbumgebung und damit auf die Valenz nicht oder nur allgemein eingegangen, so dass auch sie nicht als Quellen für die mittelhochdeutsche Verbsyntax dienen können.

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2.2 Einzelstudien Valenzorientierte Einzelstudien, diachron sowie synchron für eine historische Epoche, können eine Fülle von Zielrichtungen verfolgen. Als kleiner Ausschnitt sei nur die Analyse von Metaphern, Funktionsverbgefügen, idiomatischen Wendungen und ganz allgemein die Möglichkeit der Beobachtung von Tiefenkasusverschiebungen in festen Wendungen angeführt. Ganz prinzipiell könnte man Sememverschiebungen innerhalb desselben Verbs durch verschiedene Wertigkeiten und Satzbaupläne begründen. Insofern wäre es denkbar, nicht nur für die Primärbedeutung eines Verbs, sondern auch im Rahmen von Spezialfällen ein bestimmtes Verb vom Althochdeutschen über das Mittelhochdeutsche bis zum Neuhochdeutschen, also über einen Zeitraum von ca. 1200 Jahren, hinsichtlich der Entwicklung seiner Sememanzahl, seines Bedeutungswandels, der von ihm geforderten Leerstellen und ihrer Qualität und Quantität zu beobachten. Die Analyse mehrerer Fälle eines synchronen Sprachzustands unter den genannten Facetten ist selbstverständlich ebenfalls von Interesse. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Betrachtet man das Phänomen der Funktionsverbgefüge aus sprachgeschichtlicher Sicht, sind unter anderem Fragen nach den Ursachen des Bedeutungsschwundes des jeweiligen Funktionsverbs, nach der Art der Entstehung des semantischen Mehrwerts der Aktionsartmarkierung oder nach den Zusammenhängen zwischen der Valenz des Funktionsverbs und der des Nomen abstractum zu stellen. Die These, dass Funktionsverbgefüge ihren Ausgang von der konkreten Bedeutung der Funktionsverben und auch von deren Satzbauplänen nehmen, scheint plausibel. Es ist daher zu überprüfen, ob der Bedeutungsschwund der Funktionsverben nicht auf eine Tiefenkasusverschiebung bei einer regulär vom Verb geöffneten Leerstelle zurückgeführt werden kann. Verantwortlich hierfür wären eventuell konzeptuell-kognitive Metaphern im Sinne von Lakoff/ Johnson.4 Bei einem Bewegungsverb wie queman würde eine Konzeptmetapher wie folgt lauten: BEWEGUNG IST GLEICH ZEIT. Der konkrete Ziellokativ entspricht hierbei dem Semem des Nomen abstractum. Es seien kurz drei inchoative Funktionsverbgefüge angeführt:5 B 7,8: zi euuikemo libe dhuruhqhueman M 69,65; M 70,71: ze deru suonu queman O 1,18,6; O 5,12,87; O 5,23,225: zi ente queman 4 5

zum ewigen Leben gelangen (lat. pervenire) zur Sühne kommen zum Ende kommen

Vgl. Lakoff/ Johnson (1980). Diese Überlegungen sind an anderer Stelle deutlicher ausgeführt; vgl. Braun (2010).

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Albrecht Greule/Christian Braun

Man kann hier feststellen, dass die Funktionsverbgefüge eine von mehreren Variationen über den „normalen“ Satzbauplan von 1queman (+hum/ anim) sind: a kommt in (i.e. im Gebiet) b von c über d nach e. Bei den genannten Beispielen wird ausschließlich der Ziellokativ abstrahiert. Auf diese Weise findet sich das eigentliche Bewegungsverb queman nunmehr in der Rolle eines Funktionsverbs wieder, welches in den genannten Fällen einen inchoativen Beitrag leisten kann. Es ist abschließend davon auszugehen, dass der valenztheoretische Zugriff bei einer Fülle von Einzelstudien in obigem Sinne nutzbar gemacht werden kann.

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Stand und Aufgaben der historischen Valenzforschung

75

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Mathilde Hennig (Gießen)

Elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen 1. Elliptische Junktion Gegenstand des vorliegenden Beitrags sind Koordinationsellipsen in näheund distanzsprachlichen Texten des 17. und 19. Jahrhunderts wie in den folgenden Beispielen:1 (1) Ach du mein Gott und mein Herr, wie mancher armer redtlicher ehrlicher Man hatt doch das Seinige musen verlasen und […] […] […] mit dem Rück ansehen […] (Bauernleben I, S. 69, Z. 19f.) (2) Beyderley Weise verursachet/daß auch die Kinder/sonderlich wenn Sie erwachsen sind/wiederumb Jhre Eltern entweder nichts achten/oder […] […] […] wohl gar hassen/und […] […] sich über Jhren Tod erfreuen. (Thomasius I, S. 12, Z. 19–28 – S. 13, Z.1–2) (3) wier musten aber Postenstehn und […] […] Patrollien gehen (Briefwechsel V, S. 101, Z. 10) (4) Wie nun der Philosoph […] zur Wirklichkeit des Daseins […], so verhält sich der künstlerisch erregbare Mensch zur Wirklichkeit des Traumes (Nietzsche V, S. 27, Z. 4) Koordinationsellipsen sind – wie Ellipsen überhaupt – ein Stiefkind der Sprachgeschichtsforschung (vgl. dazu bereits Hennig 2009; 2010). Die Notwendigkeit ihrer systematischen Untersuchung ergibt sich damit quasi von selbst. Was aber haben Ellipsen mit Junktion zu tun?

1

Die römischen Ziffern hinter den Belegangaben stehen für den Zeitabschnitt: I = 1650– 1700, V = 1850–1900. In den Belegangaben sind die elliptischen Konstituenten durch eckige Klammern markiert, die Bezugskonstituenten durch Kursivschreibung. Die Texte Bauernleben I und Briefwechsel V gelten als nähesprachliche Texte, die Texte Thomasius I und Nietzsche V als distanzsprachliche Texte (mehr dazu in Kapitel 2).

Elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen

77

Die folgenden Varianten von Beispiel (3) sollen als Diskussionsgrundlage dienen: (3a) Wir mussten Posten stehen. Wir mussten Patrouille gehen. (3b) Wir mussten Posten stehen und wir mussten Patrouille gehen. (3c) Wir mussten Posten stehen, […] […] Patrouille gehen. (3d) Wir mussten Posten stehen und […] […] Patrouille gehen. Die Variante (3a) enthält zwei isolierte Sachverhaltsdarstellungen. In (3b) werden die beiden Sachverhaltsdarstellungen durch den Konjunktor und verknüpft (im Folgenden = explizite Junktion). In (3c) sind Subjekt und Modalverb in der zweiten Sachverhaltsdarstellung elliptisch. Wenn ich im vorliegenden Beitrag von ‚elliptischer Junktion‘ spreche, so beruht dies auf der Auffassung, dass die Nichtrealisierung von aus Bezugskonjunkten rekonstruierbaren Konstituenten verknüpfende Funktion hat.2 In (3d) schließlich finden wir eine Kombination aus elliptischer und expliziter Junktion vor. Zur Begründung der Annahme, dass es sich auch bei der Verknüpfung von zwei Sachverhaltsdarstellungen durch Koordinationsellipsen um einen Fall von Junktion handelt, sei die Junktionsdefinition des Vaters der Junktionstheorie, Wolfgang Raible, zitiert: In dem Fall, der hier zur Debatte steht, ist die grundlegende Aufgabe die der Verknüpfung von kleineren zu größeren Einheiten. Die Einheiten, die in dem Schema vorausgesetzt sind, sind Satz-Einheiten oder Darstellungen von Sachverhalten. Diese Aufgabe habe ich ‚Junktion‘ genannt […]. Die beiden extremen Prinzipien, die in diesem Zusammenhang universell wirksam sind, sind diejenigen der Aggregation und Integration. (Raible 1992, 27f.)

Die Annahme elliptischer Junktion ist folglich aus Raibles Junktionsbegriff abgeleitet, ohne bei Raible selbst Gegenstand der Überlegungen zu sein. Elliptische Junktion stellt in diesem Sinne eine Form der Verknüpfung neben expliziter Junktion dar:3

2

3

Diese Überzeugung bildete die Grundlage für die Projektkonzeption des DFG-Projekts „Explizite und elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen“, das ich gemeinsam mit Vilmos Ágel von 2007–2009 an der Uni Kassel geleitet habe. Die im vorliegenden Beitrag vorzustellenden Überlegungen sind als gemeinschaftliches Gedankengut des genannten Projekts aufzufassen. Ich spreche hier von ‚Junktionsform‘, weil die Termini ‚Junktionsklasse‘ und ‚Junktionstechnik‘ bereits in Ágels Theorie der expliziten Junktion für deren Ausdifferenzierung verwendet werden (vgl. Ágel/Diegelmann 2009).

Mathilde Hennig

78 Sachverhaltsdarstellung 1: Posten stehen

Junktion

Sachverhaltsdarstellung 2: Patrouille gehen

Junktionsform 1: Juxtaposition Junktionsform 2: explizite Junktion Junktionsform 3: elliptische Junktion Junktionsform 4: explizite + elliptische Junktion Abb. 1: Möglichkeiten der Verknüpfung von Sachverhaltsdarstellungen durch verschiedene Junktionsformen

Im vorliegenden Beitrag soll die elliptische Junktion mit den von Raible genannten Prinzipien Aggregation und Integration in Verbindung gebracht werden. Bevor diese Prinzipien und ihre Relevanz für die Untersuchung elliptischer Junktion erörtert werden, soll jedoch auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede expliziter und elliptischer Junktion verwiesen werden. Die folgenden Beispiele bieten einen Überblick über für elliptische Junktion in Frage kommende Inhaltsrelationen: (1) Ach du mein Gott und mein Herr, wie mancher armer redtlicher ehrlicher Man hatt doch das Seinige musen verlasen u n d […] […] […] mit dem Rück ansehen […] (Bauernleben I, S. 69, Z. 19f.) (5) Nuhn bitte ich alle diejenige, so deise Geschicht lesen o d e r […] […] hören lesen, (Bauernleben I, S. 46, Z. 25) (6) Die hatte gefuhret ein Hertzog von Weinmar. […] War a b e r gestorben (Bauernleben I, S. 38, Z. 2f.) Die Beispiele lassen erkennen, dass elliptische Junktion eine kopulative Inhaltsrelation zulässt (1), eine disjunktive (5) und eine adversative (6).4 Allerdings kann lediglich in Bezug auf die kopulative Inhaltsrelation die Rede davon sein, dass die elliptische Junktion diese herstellt. Dies ergibt sich, wenn man in den Beispielen die Junktoren weglässt: 4

Prinzipiell möglich ist auch eine explikative Relation bei asyndetischer elliptischer Verknüpfung, vgl: Es ging alles und alles zu Scheidern. Die liebe außgestellete Frucht alle, das Vieh, alles in diesem Land (Bauernleben I). Es handelt sich dabei allerdings um Nachträge, vgl. die Diskussion in 3.1.

Elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen

79

(1a) Ach du mein Gott und mein Herr, wie mancher armer redtlicher ehrlicher Man hatt doch das Seinige musen verlasen, […] […] […] mit dem Rück ansehen […] (5a) Nuhn bitte ich alle diejenige, so deise Geschicht Lesen, […] […] hören lesen, (6a) Die hatte gefuhret ein Hertzog von Weinmar. […] War gestorben Lediglich in (1a) bleibt die kopulative Ausgangsrelation erhalten. Die disjunktive Relation in (5) und die adversative Relation in (6) werden durch die Eliminierung der Junktoren in (5a) und (6a) aufgehoben, (5a) und (6a) können nun ebenso wie (1a) nur noch als Beispiele für eine kopulative Verknüpfung gelesen werden. Aus diesem Grunde kann lediglich in Bezug auf die kopulative Relation davon gesprochen werden, dass diese durch die elliptische Junktion hergestellt wird. Die anderen genannten Relationen vertragen sich mit elliptischer Junktion, gehen aber auf das Konto der beteiligten Junktoren. Folglich lässt sich die kopulative Inhaltsrelation als Defaultfall elliptischer Verknüpfung bezeichnen. Damit wäre ein erheblicher Unterschied zwischen expliziter und elliptischer Junktion aufgezeigt: Während mit expliziter Junktion alle in Frage kommenden inhaltlichen Relationen hergestellt werden können,5 weist die elliptische Junktion eine klare Korrelation mit der kopulativen Inhaltsrelation auf. Ihr Anwendungsbereich ist somit gegenüber dem der expliziten Junktion erheblich eingeschränkt. Dennoch haben elliptische und explizite Junktion gemeinsam, dass sie sachverhaltsdarstellungsverknüpfend sind und dass dadurch eine inhaltliche Relation zwischen den verknüpften Sachverhaltsdarstellungen hergestellt wird. Das rechtfertigt die Annahme, dass es sich bei elliptischer Junktion auch um eine Junktionsform handelt – trotz eingeschränkterem Anwendungsbereich. Kommen wir auf die Frage zurück, was die Parameter ‚Aggregation‘ und ‚Integration‘ mit unserem Gegenstand zu tun haben. Wolfgang Raible modelliert die Dimension ‚Junktion‘ zwischen den Polen Aggregation und Integration. In Bezug auf das mit unserem Fall (3a) vergleichbare Beispiel (7) Peter ist krank. Er geht nicht in die Schule. stellt Raible fest:

5

Zu in Frage kommenden inhaltlichen Relationen siehe von Polenz (1985) sowie Fritz (2005).

80

Mathilde Hennig

Dabei handelt es sich um die aggregativste Form dessen, was ich Junktion nenne: Sätze werden unverbunden nebeneinander gestellt. Allein aufgrund dieses Nebeneinanders nimmt der Hörer die inhaltliche Operation der Junktion selbst vor. (Raible 1992, 15)

Raible nimmt nun weitere verschiedene Ebenen von Verknüpfungen durch Junktoren wie deshalb und nämlich über die Verknüpfung mit Hilfe einer Nebensatzkonstruktion bis hin zu nominalen Inkorporationen an und skizziert auf diese Weise den fließenden Übergang vom Aggregationspol zum Integrationspol. Diese Grundidee einer Aggregation-Integration-Skala soll hier auf den von Raible nicht berücksichtigten Phänomenbereich der elliptischen Junktion übertragen werden.6 Wenn es gelingt, die Raible’sche Grundidee auf den Phänomenbereich der elliptischen Junktion zu übertragen, so wäre damit ein weiteres Indiz für die Annahme von elliptischer Junktion gefunden. Bevor die mit der Übertragung des Aggregation-Integration-Gedankens verbundenen Überlegungen vorgestellt werden, soll jedoch der Untersuchungsrahmen skizziert werden.

2. Untersuchungsrahmen Die im Folgenden vorzustellenden empirischen Untersuchungen zur elliptischen Junktion im Neuhochdeutschen sind im Rahmen des von Vilmos Ágel und mir geleiteten DFG-Projekts „Explizite und elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen“ (Kassel 2007–2009) entstanden. Das Projekt verstand sich als Pilotprojekt für die Erstellung einer Sprachstufengrammatik des Neuhochdeutschen (vgl. Ágel o.J.). Dementsprechend stellt auch das im Projekt annotierte Korpus ein Teilkorpus des Korpus für die geplante Sprachstufengrammatik dar. Das konzeptionelle Leitprinzip der geplanten Sprachstufengrammatik und somit auch des den notwendigen empirischen Untersuchungen zugrunde liegenden Korpus ist die Fokussierung auf die Nähe/Distanz-Dimension, d. h. auf die Untersuchung grammatischer Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen konzeptionell mündlichen und konzeptionell schriftlichen Texten. Diesem Leitprinzip liegt die Überzeugung zugrunde, dass eine grammatikographische Erfassung des Neuhochdeutschen die Vielfalt des Varietätenspekt-

6

Zu einer Erweiterung des Ansatzes in Bezug auf die explizite Junktion siehe Ágel/ Diegelmann (2009). Zu einer Übertragung des Aggregation-Integration-Gedankens auf weitere grammatische Phänomenbereiche vgl. Ágel/Hennig (2006a), Ágel (2007) sowie Hennig (2009).

Elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen

81

rums zu berücksichtigen hat, weil gerade im Neuhochdeutschen viel eher vertikale Bewegungen7 bezüglich der Realisierung von grammatischen Kategorien und der syntaktischen Strukturierung zu erwarten sind als in älteren Sprachstufen. Da mangels medial mündlicher Quellen der methodische Zugriff auf historische Texte nur aus einer theoretischen Modellierung der konzeptionellen Mündlichkeit/Schriftlichkeit, d. h. der Nähe/Distanz-Dimension, hergeleitet werden kann, liegt der Korpuserstellung des Rahmenprojekts zur Sprachstufengrammatik des Neuhochdeutschen ein Erweiterungsvorschlag zum Nähe-Distanz-Modell von Koch/Oesterreicher (1985; 1994; 2007) zugrunde, der neben einer universalpragmatischen Neuorientierung eine Operationalisierung grammatischer Nähe- vs. Distanzmerkmale beinhaltet, die es erlaubt, Quellentexte auf dem Kontinuum zwischen Nähe und Distanz zu verorten (Ágel/Hennig 2006a, b; 2007).

Text

Nähetexte

Textsorte

Dialektraum

Nähewerte Mikro

Makro

Gesamt

Güntzer I

Lebensbericht

ohd

28,8

48,3

38,6

Bauernleben I

Chronik

mhd

26,2

44,4

35,3

Söldnerleben I

Lebensbericht

nhd

24,2

62,7

43,4

3,3

2,0

2,6

Distanzkontrolltext

Thomasius I

Nähetexte

Zimmer V

Tagebuch

ohd

14,7

43,2

29

Koralek V

Tagebuch

mhd

14,7

63,2

39

Briefwechsel V

Privatbriefe

nhd

41,8

36,7

39,3

4,9

3,4

4,1

Distanzkontrolltext

Nietzsche V

Abb. 2: Zusammensetzung des Korpus

7

Im Sinne Reichmanns (1988, 2003).

82

Mathilde Hennig

Als ‚Nähetexte‘ sind dabei solche Texte zu verstehen, die einen möglichst hohen Wert an Nähesprachlichkeit auf Mikro- und Makroebene aufweisen. Gemäß der in Ágel/Hennig (2006b) vorgestellten Methode zur Ermittlung der Nähesprachlichkeit eines Textes weisen alle als ‚Nähetexte‘ gekennzeichneten Texte einen Grad an Nähesprachlichkeit an etwa 30– 40% auf. Für schriftsprachlich überlieferte Texte ist dies ein hoher Wert, mit hundertprozentig nähesprachlichen Texten kann hier nicht gerechnet werden. Nähetexte sind also solche Texte, die deutlich nähesprachlicher als andere schriftsprachlich überlieferte Texte ihrer Zeit sind. Distanztexte sind dagegen solche Texte, die kaum Nähemerkmale enthalten. Während das Korpus im Nähebereich gleichmäßig auf die drei dialektalen Großräume verteilt ist, damit die Möglichkeit gegeben ist, eine eventuelle dialektale Prägung der Merkmale zu berücksichtigen, wird in Bezug auf den Distanzbereich auf eine solche Möglichkeit verzichtet, weil hier ohnehin kaum mit einer ausgeprägten dialektalen Prägung der Texte zu rechnen ist. Vielmehr haben die Distanztexte ausschließlich Kontrollfunktion in Bezug auf die Nähetexte, d. h., mit Hilfe der Distanztexte soll sichergestellt werden, dass solche Merkmale, die mit der Nähesprachlichkeit von Texten in Beziehung gesetzt werden, tatsächlich bevorzugt in nähesprachlichen Texten vorkommen. Aufgrund der Kontrollfunktion wird die Berücksichtigung eines Distanztextes pro Zeitabschnitt als ausreichend angesehen. Das Korpus wurde im DFG-Projekt „explizite und elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen“ annotiert. Die Annotation folgte dem Prinzip der Rekonstruierbarkeit junktionsrelevanter grammatischer Merkmale, d. h., annotiert wurden solche grammatischen Merkmale, die relevant für die Rekonstruktion von Junktionstechniken (vgl. Ágel/Diegelmann 2009) sind.

3. Untersuchungsparameter Die folgenden drei Untersuchungsparameter sollen im Folgenden im Hinblick auf ihre Relevanz für die Modellierung einer Aggregation-Integration-Skala elliptischer Junktion überprüft werden: 1. Anzahl der Ellipsen; 2. Vorwärts- und Rückwärtsellipsen; 3. Aggregative und integrative Koordinationsellipsen.

Elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen

83

3.1 Anzahl der Ellipsen Der Begriff ‚Ellipse‘ ist (mindestens) doppeldeutig: Einerseits bezeichnet er eine Form kommunikativer Minimaleinheiten (IDS-Grammatik 1997, 88ff.). In diesem Sinne ist die Ellipse eine selbständige syntaktische Einheit. Als ‚Ellipse‘ könnten auf diese Weise verschiedene Typen von kontextbezogenen über situationsbezogenen Ellipsen bis hin zu strukturell gefestigten Typen verbloser Sätze bezeichnet werden (vgl. etwa Klein 1993, Hoffmann 1997, Behr/Quintin 1996, Plewnia 2003). Es ist hier nicht der Ort, um in die Diskussion um die Typisierung von Ellipsen einzugreifen. Gegenstand der vorliegenden Überlegungen sind ausschließlich eigenaktive kontextbezogene Ellipsen, also so genannte ‚Koordinationsellipsen‘, da nur diese sachverhaltsjungierend sind.8 Der Verweis auf verschiedene Ellipsentypen sollte lediglich der Illustration des ersten einschlägigen Verständnisses von ‚Ellipse‘ als selbständige syntaktische Einheit dienen. In einem zweiten Verständnis werden mit ‚Ellipse‘ einzelne elliptische Konstituenten bezeichnet, so genannte ‚Einsparungen‘ (Duden-Grammatik 2005, 912ff.). Entsprechend dieses doppeldeutigen Ellipsenverständnisses könnte also in unserem Ausgangsbeispiel (3) sowohl die gesamte zweite Sachverhaltsdarstellung (Patrollien gehen) als Ellipse bezeichnet werden als auch die in dieser Sachverhaltsdarstellung elliptischen Konstituenten Subjekt und Modalverb. Um Missverständnissen vorzubeugen, wird im Folgenden Ellipsenverständnis 1 als ‚elliptische Sachverhaltsdarstellung‘, auch ‚elliptisches Konjunkt‘ und Ellipsenverständnis 2 als ‚elliptische Konstituente‘ bezeichnet. Beim Untersuchungsparameter 1 geht es in Bezug auf elliptische Sachverhaltsdarstellungen also um die Frage, wie viele elliptische Sachverhaltsdarstellungen ein Text im Verhältnis zur Gesamtzahl der Sachverhaltsdarstellungen enthält. In Bezug auf elliptische Konstituenten geht es dagegen darum, wie viele Konstituenten innerhalb einer Sachverhaltsdarstellung elliptisch sind. Mithilfe des folgenden Beispiels soll diese zweite Variante des Untersuchungsparameters erläutert werden: (8) Jn der Väterlichen Gesellschafft verderben entweder die Eltern ihre Kinder mit einer unvernünfftigen Affen-Liebe /und da sie dieser Thun und Laßen vernünfftig moderiren sollten /sind sie Sclaven auch ihrer unverständigsten Kinder; /oder aber sie empfinden auch nicht einmahl eine vernünfftige Liebe gegen ihre Kinder/sondern […] tractiren Sie viel 8

Zwar können auch Adjazenzellipsen als sachverhaltsjungierend betrachtet werden. Da sie in den schriftlich überlieferten, vorrangig monologisch organisierten Quellentexten aber sehr selten sind, werden sie hier nicht berücksichtigt.

84

Mathilde Hennig

härter als die Leibeigenen./Beyderley Weise verursachet /daß auch die Kinder /sonderlich wenn Sie erwachsen sind/wiederumb Jhre Eltern entweder nichts achten/oder […] […] […] wohl gar hassen/und […] […] sich über Jhren Tod erfreuen. (Thomasius I, S. 12, Z. 19–28 – S. 13, Z.1–2)9 Der Textausschnitt aus dem Korpustext Thomasius I enthält mehrere elliptische Sachverhaltsdarstellungen. Die Anzahl der elliptischen Konstituenten ist unterschiedlich, sie variiert von einer Konstituente in sondern […] tractiren Sie viel härter als die Leibeigenen über zwei in und […] […] sich über Jhren Tod erfreuen bis hin zu drei in oder […] […] […] wohl gar hassen. Denkbar sind aber auch elliptische Sachverhaltsdarstellungen mit vier oder fünf elliptischen Konstituenten, eine höhere Anzahl kommt äußerst selten vor. Als ‚Konstiuente‘ werden dabei gewertet a) unmittelbare, also satzgliedfähige Konstituenten; b) die einzelnen Bestandteile bei komplexen Prädikaten; c) Junktoren. Der Untersuchungsparameter ‚Anzahl elliptischer Konstituenten‘ ist deshalb relevant für die verfolgte Fragestellung nach einer Aggregation-Integration-Skala elliptischer Junktion, weil der Grad der Verknüpfung von zwei Sachverhaltsdarstellungen möglicherweise mit der Anzahl der elliptischen Konstituenten steigt: Je mehr Konstituenten elliptisch sind, desto stärker ist die elliptische Sachverhaltsdarstellung auf die zweite beteiligte Sachverhaltsdarstellung (im Folgenden: ‚Bezugskonjunkt‘) angewiesen. 3.2 Vorwärts- und Rückwärtsellipsen Eine einschlägige Unterteilung von Koordinationsellipsen in der Ellipsentheorie ist die in Vorwärts- und Rückwärtsellipsen (Klein 1993, 772ff.). Bei einer Einordnung einer Ellipse als Vor- oder Rückwärtsellipse geht es um die Richtung des Bezugs einer elliptischen Konstituente zu einer Bezugskonstituente. Zwei unserer Eingangsbeispiele seien erneut angeführt, um den Unterschied zu illustrieren:

9

Die Schrägstriche markieren die Grenzen von Sachverhaltsdarstellungen, wobei einschränkend zu bemerken ist, dass diese lineare Darstellungsweise nicht abbildet, dass Sachverhaltsdarstellungen auch in andere Sachverhaltsdarstellungen eingebettet werden können wie hier in daß auch die Kinder/sonderlich wenn Sie erwachsen sind/wiederumb Jhre Eltern entweder nichts achten.

Elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen

85

(3) wier musten aber Postenstehn und […] […] Patrollien gehen (Briefwechsel V, S. 101, Z. 10) (4) Wie nun der Philosoph […] zur Wirklichkeit des Daseins […], so verhält sich der künstlerisch erregbare Mensch zur Wirklichkeit des Traumes (Nietzsche V, S. 27, Z. 4) In Beispiel (3) folgt das elliptische Konjunkt auf das Bezugskonjunkt. In Beispiel (4) dagegen geht das elliptische Konjunkt dem Bezugskonjunkt voraus. Den Bezug von einer Bezugskonstituente zu einer elliptischen Konstituente wie in (3) bezeichnet man als ‚Vorwärtsellipse‘, den umgekehrten Bezug in (4) als ‚Rückwärtsellipse‘. Die Unterscheidung dürfte deshalb einschlägig für die Frage nach einer möglichen AggregationIntegration-Skala elliptischer Junktion sein, weil Rückwärtsellipsen einen höheren Verarbeitungsaufwand erfordern als Vorwärtsellipsen: Das zweite Konjunkt muss bereits geplant sein, um das erste Konjunkt durch elliptische Konstituenten auf dieses beziehen zu können. 3.3 Aggregative und integrative Koordinationsellipsen Bei der Unterscheidung von aggregativen und integrativen Koordinationsellipsen geht es um die Unterscheidung von Fällen wie (3) wier musten aber Postenstehn und […] […] Patrollien gehen (Briefwechsel V, S. 101, Z. 10) und (9) und Gott geben mach das Dier bei der Entbindung nichts weiter paßiert und […] glücklich die sache verleben machst (Briefwechsel V, S. 109, Z. 1). Der Unterschied liegt darin, dass die elliptischen Konstituenten und ihre Bezugsglieder in (3) kategorial identisch sind, während in (9) ein kategorialer Wechsel von Dativ zu Nominativ vorliegt. Das elliptische Konjunkt ist dadurch weniger stark in das Bezugskonjunkt integriert. Ellipsenbelege dieser Art weichen von den für das Gegenwartsdeutsche formulierten Regeln wie etwa der von Wolfgang Klein formulierten ab: […] dazu müssen zwei bis auf eine Konstituente gleichen Typs identische Sätze koordiniert sein; die identischen Teile werden bei einem der beiden Vorkommen weggelassen. (Klein 1993, 770, meine Hervorhebung, M.H.)

86

Mathilde Hennig

In Bezug auf ältere Sprachstufen liegen kaum Arbeiten vor, die Fälle der genannten Art aufarbeiten. Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Werner Schröder zu Auxiliar-Ellipsen bei Geiler von Kaysersberg und bei Luther (1985), in der Schröder in skriptizistischer und synchronizistischer Manier einschlägige Belege als ungrammatisch einordnet. Auch die grammatikographische Aufarbeitung des Phänomens ist spärlich. Zwar finden sich vereinzelt Hinweise auf aggregative Formen von Koordinationsellipsen in den einschlägigen historischen Grammatiken (Behaghel 1928; Paul/ Wiehl/Grosse 1989; Ebert 1993), da in diesen Arbeiten aber ohnehin keine systematische Aufarbeitung von Ellipsen erfolgt (verschiedene Fälle werden eher auf andere Kapitel wie asyndetische Verknüpfung oder afinite Konstruktionen verteilt), bleibt die Problematik aggregativer Koordinationsellipsen auch hier vage (Genaueres dazu in Hennig 2009; 2010). Während sich die Untersuchungsparameter 1 und 2 aus dem Gegenstand selbst (Anzahl der elliptischen Auslassungen) bzw. aus der Tradition der gegenwartsbezogenen Ellipsenforschung ergeben (Vor- vs. Rückwärtsellipse) und im vorliegenden Zusammenhang eine Anwendung auf historische Quellentexte erfahren, ist die Unterscheidung aggregativer und integrativer Koordinationsellipsen ein unmittelbares Ergebnis der Hinwendung zu einer historischen Nähegrammatik.10 Als integrative Koordinationsellipsen sollen solche Koordinationsellipsen gelten, die die in Auslassungsregeln wie der von Klein zitierten formulierten Bedingungen befolgen.11 Als aggregative Koordinationsellipsen dagegen sollen solche elliptischen Satzverknüpfungen gelten, bei denen im Konjunkt mit implizit gebliebenen Elementen Abweichungen vom Bezugskonjunkt zu verzeichnen sind. Diese Abweichungen können kategorialer, struktureller oder referentieller Natur sein. (Hennig 2010:952)

Dass die Unterscheidung aggregativer und integrativer Koordinationsellipsen relevant für die Bestimmung einer Aggregation-Integration-Skala elliptischer Junktion ist, liegt auf der Hand.

10 Die Notwendigkeit einer historischen Nähegrammatik habe ich in Hennig (2007) am Beispiel der Kategorisierung von so zu zeigen versucht. In Nähetexten des Neuhochdeutschen konnten mit dem Artikel son und mit so als eine Inhaltsrelation indizierender Junktor (der nicht auf eine Inhaltsrelation festgelegt ist, sondern sich chamäleonartig der Umgebung anpasst) zwei Gebrauchsweisen von so nachgewiesen werden, die einer die Nähe-DistanzDimension nicht berücksichtigenden Sprachgeschichtsforschung verborgen bleiben, weil sie ausschließlich in Nähetexten nachweisbar sind. 11 Auch Hoffmann spricht von „Bedingungen“ für das Auslassen von Elementen und benennt als solche „die Identität des Redegegenstandes“, „die Parallelität der Position“ sowie „die Kasusidentität als Markierung einer kongruenten Argumentstelle“ (Hoffmann 1997, 574).

Elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen

87

4. Untersuchungsergebnisse 4.1 Anzahl der Ellipsen Die folgende Übersicht gibt Auskunft über elliptische Sachverhaltsdarstellungen und elliptische Auslassungen: Anzahl Ellipsen pro SVD

17. Jahrhundert Nähetexte

19. Jahrhundert DT

Nähetexte

DT

GT

BL

SL

TH

ZI

KO

BW

NI

1 Ellipse

181

194

243

156

110

63

91

58

2 Ellipsen

84

116

144

134

73

59

67

84

3 Ellipsen

21

48

46

59

24

26

38

17

4 Ellipsen

5

18

5

7

5

8

16

6

5 Ellipsen

0

1

2

3

2

1

2

0

291

377

440

359

214

157

214

165

Gesamt Anteil an SVD Durchschnitt

15,6 % 22,6 % 21,7 % 19,6 % 11 % 1,5

1,7

1,6

1,8

1,7

8,1 % 10,3 % 12,9 % 1,9

1,9

1,8

Abb. 3: Anzahl elliptischer Auslassungen12

Die Anzahl elliptischer Sachverhaltsdarstellungen können wir der Spalte „Gesamt“ entnehmen. Die Spalte „Anteil an SVD“ lässt erkennen, wie hoch der Anteil an Sachverhaltsdarstellungen an allen Sachverhaltsdarstellungen eines Textes ist. In „Durchschnitt“ finden wir Angaben zur durchschnittlichen Anzahl elliptischer Konstituenten in einer Sachverhaltsdarstellung. Die Ergebnisse weisen insbesondere in Bezug auf die Anzahl elliptischer Sachverhaltsdarstellungen auf erhebliche Schwankungen zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert hin. Jedoch dürfte es voreilig sein, daraus abzuleiten, dass das 17. Jahrhundert ellipsenfreundlicher war als 12 Abkürzungen: SVD = Sachverhaltsdarstellung; DT = Distanztext; GT = Güntzer I; BL = Bauernleben I; SL = Söldnerleben I; TH = Thomasius I; ZI = Zimmer V; KO = Koralek V; BW = Briefwechsel V; NI = Nietzsche V.

88

Mathilde Hennig

das 19. Jahrhundert. Vielmehr dürfte die deutlich höhere Anzahl an elliptischen Sachverhaltsdarstellungen im 17. Jahrhundert zusammenhängen mit: 1. stilistischen Besonderheiten einzelner Texte; 2. einer Häufung von Nachträgen; 3. dem hohen Anteil an mikrorealisierten Subjekten. Ad 1. Während der Anteil von elliptischen Sachverhaltsdarstellungen in den Texten Güntzer I, Bauernleben I und Thomasius I als relativ konstant bezeichnet werden kann, fällt der Text Söldnerleben I mit einem überdurchschnittlichen Anteil an elliptischen Sachverhaltsdarstellungen aus dem Rahmen. Der Text ist insgesamt stark stichpunktartig aufgebaut, wie das folgende Beispiel illustrieren soll: (10) Alhir löfft der Rein durch den Bodenseh, von linde auff pregiedtz, auff Meifeldt, vber die stegk, In die pundte, auff Kohr, die haubtstat In die pundte, Reden schon Wellies, Ist lauter berg vndt tall, Auff den bergen, kombt den ganssen sommer der schneh nicht wegk, hatt wol vieh tzücht, Aber balt nichts von korn bauw, auch kein Weinwagchx, ein gar Rauhes landt, (Söldnerleben I, S. 35, Z. 1ff.) Die hohe Anzahl verbloser Strukturen wie aber balt nichts von korn bauw oder ein gar Rauhes landt führt nicht nur zur hier diagnostizierten hohen Anzahl elliptischer Sachverhaltsdarstellungen, sondern auch zu einem von den anderen Texten abweichenden Verhalten des Textes in Bezug auf andere grammatische Phänomenbereiche wie etwa Serialisierung im Verbalkomplex (vgl. Hennig 2009). Ad 2. Die hohe Anzahl an elliptischen Sachverhaltsdarstellungen in Texten des 17. Jahrhunderts lässt sich auch durch eine hohe Anzahl an Nachträgen wie im folgenden Beispielen erklären: (11) Alhir kauffte Ich mich ein buch halb wellies vndt halb deusch (Söldnerleben I, S. 35, Z. 15f.) Man könnte davon ausgehen, dass die Sachverhaltsdarstellung nach ein buch abgeschlossen ist, da alle Kriterien für einen Vollsatz (Vorhandensein eines finiten Verbs und seiner Komplemente, vgl. IDS-Grammatik 1997, 91) erfüllt sind. Anschließend präzisiert der Autor, um was für ein Buch es sich handelt. Es stellt sich die Frage, ob Nachträge dieser Art als Bestandteile des Bezugssatzes zu gelten haben oder als selbständige Einheiten, also kontextbezogene Ellipsen. Im DFG-Projekt „Explizite und elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen“ wurde eine Maximalanno-

Elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen

89

tation vorgenommen, d. h., es sollten möglichst alle potentiell als Ellipsen in Frage kommende Sachverhaltsdarstellungen erfasst werden. Ein hoher Anteil an Nachträgen führt dadurch zu einem hohen Anteil an elliptischen Sachverhaltsdarstellungen. Eine gesonderte Berücksichtigung von Nachträgen – die leider derzeit noch nicht vorliegt – ergäbe ein präziseres Bild.13 Ad 3. Mit der Bezeichnung ‚Mikrorealisierung des Subjektpronomens‘ wird eine valenztheoretische Perspektive auf die Subjektrealisierung eingenommen. Die Unterscheidung von ‚Makrovalenz‘ und ‚Mikrovalenz‘ wurde von Fritz Pasierbsky eingeführt (1981, 162f.; vgl. auch Ágel 2000, 220f.). Als mikrovalenzielle Valenzrealisierungen werden solche Valenzrealisierungen aufgefasst, bei denen ein Morphem die Funktion eines valenzgebundenen Aktanten übernimmt. Das bedeutet, dass ein Satz wie (12) Cerco una casa. nicht über kein Subjekt verfügt, sondern über ein als Flexiv mikrorealisiertes Subjekt. Im Gegenwartsdeutschen ist die Mikrorealisierung des Subjektpronomens an bestimmte pragmatische Faktoren gebunden (Mündlichkeit, bestimmte Textsorten), sie ist also keine Struktureigenschaft wie in vielen anderen europäischen Sprachen. M.a.W.: Die Makrorealisierung des Subjektpronomens ist der strukturelle Defaultfall im Gegenwartsdeutschen. Aus der Sprachgeschichtsforschung ist aber bekannt, dass die Realisierung des Subjektpronomens nicht immer selbstverständlich war (vgl. Ebert 1978, 53–57 sowie Ebert 1993, 345–347): Im Indogermanischen war das Personalpronomen zwar bereits vorhanden, seine Setzung aber nicht obligatorisch und eher emphatisch. Für das Althochdeutsche wird eine Zunahme im Gebrauch festgestellt.14 Aber auch für das Frühneuhochdeutsche konstatiert Ebert, dass Subjektpronomina „unter bestimmten stilistischen und kontextuellen Bedingungen“ erspart werden (1993, 345). Dass schließlich auch im Neuhochdeutschen eine Mikrorealisierung des Subjektpronomens noch möglich ist, zeigt Yana Andreyeyeva (2008) in ihrer empirischen Untersuchung zur Mikro- und Makrorealisierung des Subjektpronomens in Güntzer I. Von 1036 potentiell pronominalen

13 Einer solchen Untersuchung können die in Hennig (2009) vorgeschlagenen Kriterien zur Abgrenzung von Koordinationsellipsen und Nachträgen zugrunde gelegt werden. 14 Ebert weist darauf hin, dass althochdeutsche Sätze ohne Personalpronomen nur in einem oberflächlichen Sinne subjektlos waren, „denn es bestand eine Opposition der Person beim Verbum, die entweder allein durch die Verbalendung oder durch Subjektpronomen + Verbalendung ausgedrückt wurde“ (1978, 55).

90

Mathilde Hennig

Subjekten15 sind 353 mikrorealisiert (das entspricht 34,1 %) (vgl. die Gesamtübersicht in Andryeyeva 2008, 168). Die folgenden Beispiele aus Güntzer I sollen die Relevanz der Thematik für die Ellipsenfrage illustrieren: (13) Beynoeben hatte ich auch 12 fl., so ich zusamengelegt hab, waß mihr zu Zeitten von meinen Frindten ist vererdt worden undt mitt Zinstechen verdienet habe. (Güntzer I, 40v, 3f.) (14) Gab ihme darauff zurr Andwordt: Ich trag meinen Busser undt Gewoehr nicht auff das Gewilt in meiner Wandterschafft, sonder auff die Straßenreiber undt Merdter, dieweill es sonderlich vil in dißem Walt gibet, wie man dan der Zeichen undt Holzheiffen vil sicht, da die reißetn Leidt ermoerdtet sindt worden. Mache also den Merdter die Sell so haiß durch Reden, wie ewiglichen darinen Martter undt Plag werdten leidten undt austehen, wafehrn sie nicht werden Buße thun. (Güntzer I, 42c, 1ff.) (15) Kondte sie nicht mehr zusamenmachen, dieweil ich mich nicht darauff verstunde und nichts darauff halte (Güntzer I, 62r, 6f.) In Beispiel (13) weist die letzte Sachverhaltsdarstellung undt mitt Zinstechen verdienet habe ein mikrorealisiertes Subjekt auf. Beispiel (14) beginnt mit einem mikrorealisierten Subjekt in Gab ihme darauff zurr Andwordt, ein weiteres mikrorealisiertes Subjekt findet sich am Ende des Belegs in Mache also den Merdter die Sell so haiß durch Reden. In (15) findet sich eine Mikrorealisierung im koordinationselliptischen zweiten Kausalsatz und nichts darauff halte. Es ergibt sich die Frage, bei welchen mikrorealisierten Subjekten von einer Ellipse der Makrorealisierung auszugehen ist und bei welchen nicht. Die erste Mikrorealisierung in (14) weist kein Bezugselement im Linkskontext auf, da zuvor die Rede eines Anderen wiedergegeben wurde. Hier kann man also von einer echten bzw. eigentlichen Mikrorealisierung ausgehen:16 Das Subjekt ist tatsächlich ausschließlich aus der Verbalendung dekodierbar. Die anderen Fälle sind dagegen auch als elliptische Bezüge auf die makrorealisierten Subjekte in Bezugskonjunkten interpre15 Ich spreche hier von ‚potentiell pronominalen Subjekten‘, da nominale Subjekte nicht in die Analyse aufgenommen wurden. Da die Mikrorealisierungen keine tatsächlichen pronominalen Subjekte sind, fasse ich die pronominalen Makrorealisierungen und die Mikrorealisierungen als ‚potentiell pronominale Subjekte‘ zusammen. 16 Auers Unterscheidung zwischen ‚eigentlicher‘ und ‚uneigentlicher‘ Verbspitzenstellung (1993) erweist sich immer wieder als auf andere grammatische Fragestellungen übertragbares Muster (zur eigentlichen vs. uneigentlichen aggregativen Koordination siehe Hennig 2009; 2010).

Elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen

91

tierbar. Dabei weisen die Belege aber Abstufungen in ihrer koordinationselliptischen Eindeutigkeit auf: Lediglich Beispiel (15) kann völlig zweifelsfrei als elliptischer Bezug auf ein makrorealisiertes Subjekt betrachtet werden, da das makrorealisierte Subjekt dem mikrorealisierten Subjekt unmittelbar vorausgeht (es liegt eine Adjazenz von Bezugskonjunkt und elliptischem Konjunkt vor) und makro- und mikrorealisiertes Subjekt kategorial identisch sind. Letztere Bedingung ist in (13) nicht erfüllt: Hier weist das potentielle Bezugselement im vorausgehenden Konjunkt die Kasusmarkierung Dativ auf, es handelt sich also allenfalls um eine aggregative Form der Koordinationsellipse. Dadurch besteht eine stärkere Tendenz zur eigentlichen Mikrorealisierung als in (15). Auch der zweite Fall in (14) ist nicht ganz eindeutig, da hier möglicherweise ein Bezug hergestellt werden könnte zum makrorealisierten Subjekt in Ich trag meinen Busser. Allerdings legt die Erzählstruktur eher eine Parallelität zur eigentlichen Mikrorealisierung in Gab ihme darauff zurr Andwordt nahe. Aus der Beispieldiskussion lässt sich in Bezug auf die Interpretation der Anzahl elliptischer Sachverhaltsdarstellungen Folgendes ableiten: Die im Vergleich zum 19. Jahrhundert hohe Anzahl an elliptischen Sachverhaltsdarstellungen könnte mit einem Fortschreiten der Tendenz zum Abbau der Mikrorealisierung von Subjektpronomen zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert zusammenhängen. Folglich ist elliptischen Subjekten ein Sonderstatus bei der Betrachtung der Anzahl elliptischer Sachverhaltsdarstellungen und Konstituenten einzuräumen. Die gesonderte Auswertung elliptischer Subjekte und weiterer elliptischer Konstituenten dürfte ein differenzierteres Bild ergeben. Leider kann auch das gegenwärtig nur als Desiderat formuliert werden. Bezüglich der durchschnittlichen Anzahl an elliptischen Konstituenten pro Sachverhaltsdarstellung ist ein leichter Anstieg zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert zu konstatieren. Auch die Anzahl an elliptischen Konstituenten pro Sachverhaltsdarstellung im Distanztext aus dem 17. Jahrhundert, Thomasius I, liegt leicht über der Anzahl an elliptischen Konstituenten in den Nähetexten des 17. Jahrhunderts, der Text verhält sich diesbezüglich also eher wie die Texte aus dem 19. Jahrhundert. In diesen insgesamt aber geringen Unterschieden kann aber nur tendenziell eine Bestätigung der in 3.1 formulierten Hypothese gesehen werden, da auch dieses Ergebnis ja im Zusammenhang mit den beschriebenen Problembereichen ‚Nachtrag‘ und ‚Mikrorealisierung‘ stehen könnte. Als Fazit bleibt deshalb, dass bezüglich des Untersuchungsparameters ‚Anzahl elliptischer Auslassungen‘ noch weiterer Untersuchungsbedarf besteht.

Mathilde Hennig

92

4.2 Vorwärts- und Rückwärtsellipsen Die folgende Übersicht gibt Auskunft über die Verteilung von Vorwärtsund Rückwärtsellipsen in den untersuchten Texten: SVDen mit

17. Jahrhundert Nähetexte

Vorwärtsellipsen

19. Jahrhundert DT

Nähetexte

DT

GT

BL

SL

TH

ZI

KO

BW

NI

277

359

433

269

211

140

199

137

96 %

95 %

98 %

75 %

98 %

89 %

93 %

83 %

Rückwärtsellipsen

13

18

7

90

3

17

15

28

4%

5%

2%

25 %

2%

11 %

7%

17 %

Gesamt

291

377

440

359

214

157

214

165

Abb. 4: Vorwärts- und Rückwärtsellipsen

In der Tabelle wird unter ‚Rückwärtsellipsen‘ angegeben, wie viele der elliptischen Sachverhaltsdarstellungen mindestens eine rückwärtselliptische Konstituente enthalten. In ‚Vorwärtsellipsen‘ sind diejenigen elliptischen Sachverhaltsdarstellungen erfasst, die nur Vorwärtsellipsen enthalten. Demnach weisen die Distanztexte eine stärkere Tendenz zu rückwärtselliptischen Bezügen auf als die Nähetexte: In Nietzsche V enthält jede sechste elliptische Sachverhaltsdarstellung eine rückwärtselliptische Konstituente, in Thomasius I sogar jede vierte. In den Nähetexten liegt der Anteil an elliptischen Sachverhaltsdarstellungen mit rückwärtselliptischen Konstituenten dagegen meist unter 10%. Tendenziell lässt sich in den Nähetexten ein leichter Anstieg an rückwärtselliptischen Konstituenten vom 17. bis zum 19. Jahrhundert beobachten, was eine Folge der Verschriftlichung sein könnte (dazu mehr in 4.3). 4.3 Aggregative und integrative Koordinationsellipsen Der folgenden Übersicht ist die Verteilung von aggregativen und integrativen Koordinationsellipsen im untersuchten Korpus zu entnehmen:

Elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen

Elliptische Konstituenten

aggregativ

integrativ

Gesamt

17. Jahrhundert Nähetexte

93

19. Jahrhundert DT

Nähetexte

DT

GT

BL

SL

TH

ZI

KO

BW

NI

57

65

144

13

11

8

20

1

13 %

10 %

21 %

2%

3%

3%

5%

0,3 %

375

582

556

631

347

288

393

300

87 %

90 %

79 %

98 %

97 %

97 %

95 % 99,7 %

432

647

700

644

358

296

413

301

Abb. 5: aggregative und integrative Koordinationsellipsen

Während die Untersuchungsergebnisse bezüglich der Vorwärts- und Rückwärtsellipsen auf die Gesamtanzahl der elliptischen Sachverhaltsdarstellungen bezogen wurden, wurden hier elliptische Konstituenten ausgewertet. Die Ergebnisse lassen klar erkennen, dass aggregative Koordinationsellipsen ein Phänomen der Nähetexte des 17. Jahrhunderts sind: In allen Nähetexten des 17. Jahrhunderts liegt der Anteil über 10 %, in Söldnerleben I ist sogar jede fünfte elliptische Konstituente eine aggregative Koordinationsellipse. Dass der Distanztext aus dem 17. Jahrhundert sich bezüglich dieses Untersuchungsparameters wie die Texte aus dem 19. Jahrhundert verhält, spricht einmal mehr für die Relevanz der Einbeziehung der NäheDistanz-Dimension in die Sprachgeschichtsforschung. Die Nähetexte aus dem 19. Jahrhundert weisen einen deutlich geringeren Anteil an aggregativen Koordinationsellipsen auf als die Nähetexte aus dem 17. Jahrhundert. Wie ist dieser Abbau zu erklären? Ich gehe davon aus, dass der Abbau nähesprachlicher Merkmale im Kontext der Verschriftlichung zu sehen ist: Unter ‚Verschriftlichung‘ ist die Anpassung sprachlicher Muster an die Bedingungen des Distanzsprechens zu verstehen (vgl. Oesterreicher 1993, 272, Koch/Oesterreicher 1995, 587). Ich vermute, dass der Nähebereich in Zeiten, in denen schriftsprachliche Sprachverwendung gesellschaftlich einen hohen Stellenwert hat und einer Mehrzahl der Mitglieder der Sprachgemeinschaft zugänglich ist,17

17 Der Stellenwert der Schrift im Leben der Sprachteilhaber hat zweifelsohne zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert massiv zugenommen. Die Ergebnisse der diesbezüglichen soziopragmatischen Sprachgeschichtsforschung habe ich in Hennig (2009) als Hintergrund für die Erklärung des Abbaus bestimmter nähesprachlicher Muster zusammengefasst.

Mathilde Hennig

94

nicht unbeeinflusst von der Verschriftlichung bleibt: Im Zuge der Verschriftlichung etablierte sprachliche Muster können in den Nähebereich eindringen und funktionsäquivalente nähesprachliche Muster verdrängen. Verschriftlichung führt zu einer Reorganisation des Nähebereichs.18 Aufschlussreich ist auch die Korrelation der Parameter ‚Vorwärts- und Rückwärtsellipse‘ und ‚aggregative und integrative Koordinationsellipse‘, zusammengefasst in der folgenden Übersicht: Richtung der Ellipse

17. Jahrhundert

19. Jahrhundert

Gesamt

GT

BL

SL

TH

ZI

KO

BW

NI

Vorwärts

55

64

144

5

11

7

17

0

303

Rückwärts

2

1

0

8

0

1

3

1

16

Gesamt

57

65

144

13

11

8

20

1

319

Abb. 6: Anteil der Vorwärts- und Rückwärtsellipsen an den aggregativen elliptischen Konstituenten

Es lässt sich eine klare Korrelation von aggregativen Koordinationsellipsen und Vorwärtsellipsen konstatieren: Aggregative Koordinationsellipsen sind in der Regel Vorwärtsellipsen, nur jede 20. aggregative Koordinationsellipse ist eine Rückwärtsellipse. Von den insgesamt 16 rückwärtselliptischen aggregativen Koordinationen entfällt die Hälfte auf den Text Thomasius I. Dieser Text verhält sich somit atypisch: Die Mehrzahl (drei Fünftel) der in ihm identifizierten aggregativen Koordinationsellipsen sind rückwärtselliptisch. Ebenso ist bei Nietzsche V die einzige nachgewiesene aggregative Koordinationsellipse rückwärtselliptisch. M.a.W.: Die Koordinationsellipsen in Distanztexten sind zwar in der Regel integrativ, wenn sich aber doch aggregative Koordinationsellipsen finden, wird dieses Grundprinzip nicht befolgt. In Nähetexten dagegen durchbrechen die ohnehin seltenen Rückwärtsellipsen nicht die Grundtendenz eines vorwärtselliptischen Bezugs bei aggregativen Koordinationen. Mit Hilfe eines Beispiels aus Thomasius I soll versucht werden, diesen Befund zu deuten:

18 Diese Hypothese kann sprachwandeltheoretisch mit Peter Kochs Annahme eines Zusammenhangs zwischen Sprachwandel und Variation begründet werden (2004; 2005). Die Ausbuchstabierung dieses sprachwandeltheoretischen Erklärungszusammenhangs für den Abbau bestimmter nähesprachlicher Muster erfolgte ebenfalls in Hennig (2009).

Elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen

95

(16) indem die Tugend verachtet […] und ausgelachet […] und im Gegentheil die offenbaresten Laster oder zum wenigsten die Schein-Tugenden æstimiret […] und vorgezogen werden; (Thomasius I, 7, Z. 27–29) Hier liegen vier Sachverhaltsdarstellungen vor, die alle am Vorhandensein eines Vollverbs erkennbar sind (verachtet, ausgelachet, æstimiret und vorgezogen). Das Passivauxiliar werden ist im letzten Konjunkt realisiert und stellt das Bezugselement für die nicht realisierten Passivauxiliare in den vorangegangenen drei Konjunkten dar. Da in den ersten beiden Konjunkten ein Subjekt im Singular vorhanden ist, hätte aufgrund der Kongruenzbeziehung auch das finite Verb im Singular stehen müssen. Diese Bedingung wird durch den rückwärtselliptischen Bezug auf ein finites Verb im Plural verletzt. Dass es sich bei den meisten aggregativen Koordinationen in den Distanztexten um Rückwärtsellipsen handelt, ist aber m. E. nicht nur durch den hohen Anteil dieser Ellipsenform in diesen Texten zu erklären. Auch die Nähetexte enthalten Rückwärtsellipsen, hier ist die Anzahl der aggregativen Koordinationen aber fast vernachlässigbar. Der Text Thomasius I zeichnet sich durch eine ausgesprochene Neigung zu aufwändigen Strukturen aus. M.E. können die aggregativen Strukturen hier als eine Folge der aufwändigen rückwärtselliptischen Strukturierung interpretiert werden: Der Autor wird hier quasi selbst Opfer seines Bestrebens um einen komplizierten kanzleisprachlichen Stil.

5. Operationalisierung: Profile elliptischer Junktion Im einleitenden Kapitel zur elliptischen Junktion wurde als Ziel für den vorliegenden Beitrag die Bestimmung einer Aggregation-Integration-Skala festgelegt. Aus den vorgestellten Untersuchungsergebnissen sollen deshalb nun Überlegungen zur Ermittlung von Aggregations- und Integrationswerten von Quellentexten bezüglich ihres elliptischen Junktionsverhaltens abgeleitet werden. Um eine Skala zwischen Aggregation und Integration modellieren zu können, müssen die Endpunkte der Skala festgelegt werden, damit diese im Anschluss die Bezugspunkte für die Verortung weiterer Untersuchungsobjekte bilden können. Auf das Verfahren der Festlegung von als prototypisch anzusehenden Beispieltexten als Endpunkte einer Skala haben Vilmos Ágel und ich bereits bei der Operationalisierung der Nähe-Distanz-Theorie zurückgegriffen (Ágel/Hennig 2006b). Da wir mit einer prinzipiellen Korrelation von

Mathilde Hennig

96

Nähe und Aggregation sowie Distanz und Integration rechnen, bietet sich eine Übertragung dieses Verfahrens auf die hier verfolgte Fragestellung an. Als prototypischer Nähetext wurde die Transkription eines Radio-phoneins (Daniel Domian VII) verwendet, als prototypischer Distanztext Kants Prolegomena (Kant III). Auf den Text ‚Daniel Domian VII‘ kann hier allerdings nicht zurückgegriffen werden, da dieses gegenwartssprachliche Transkript einige für die Bestimmung des Junktionsprofils relevante aggregative Merkmale nicht aufweist, da es sich um historische Nähemerkmale (Hennig 2009) handelt. Das gilt in unserem Zusammenhang insbesondere für die vorgestellten aggregativen Koordinationsellipsen. Aus diesem Grunde wurde hier mit ‚Bauernleben I‘ ein Text aus dem 17. Jahrhundert verwendet, der über einen hohen Anteil an aggregativen Merkmalen verfügt.19 Für die Operationalisierung der Untersuchungsergebnisse wird hier ein additives Skalensystem gewählt. Das bedeutet, dass für einzelne Untersuchungsparameter einzelne Skalen ermittelt werden, aus deren Durchschnittsberechnung dann ein Gesamtwert abgeleitet werden kann. Ein additives Skalensystem kann prinzipiell eine offene Anzahl an Skalen beinhalten. Ich werde mich hier auf Skalen zu den Untersuchungsparametern 2 und 3 (Vorwärts- und Rückwärtsellipsen sowie aggregative und integrative Koordinationsellipsen) beschränken, da der Untersuchungsparameter 1 (Anzahl an Ellipsen) aufgrund der in 4.1 beschriebenen Probleme derzeit noch kein zuverlässiges Bild bieten kann. Die als Poltexte festgelegten Texte ‚Bauernleben I‘ und ‚Kant III‘ verhalten sich bezüglich der verbleibenden beiden Untersuchungsparameter folgendermaßen: Bauernleben I

Kant III

Elliptische SVDen gesamt

377

302

Davon Rückwärtsellipsen

18

83

Quotient

20,94

3,64

Abb. 7: Anteil der Rückwärtsellipsen an den elliptischen Sachverhaltsdarstellungen

19 Knapp 40% aller Nähemerkmale dieses Textes sind Merkmale des Zeitparameters, der derjenige Parameter des Nähe-Distanz-Modells ist, mit dem Aggregationsmerkmale erfasst werden.

Elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen

Bauernleben I

Kant III

Ellipsen gesamt

647

662

Davon AK

65

4

Quotient

9,95

165,5

97

Abb. 8: Anteil der aggregativen Koordinationsellipsen an den elliptischen Konstituenten

Bei der Festlegung der Skalen wird im Falle des Untersuchungsparameters ‚Vowärts- und Rückwärtsellipsen‘ der Quotient als Skalenendwert festgelegt (der besagt, dass jede 21. elliptische Konstituente in Bauernleben I rückwärtselliptisch ist, in Kant III dagegen dritte bis vierte), im Falle des Untersuchungsparameters ‚aggregative und integrative Koordinationsellipsen‘ dagegen der absolute Wert, weil sich durch den hohen Abstand der Anteilswerte (9,95 bei Bauernleben I und 165,6 bei Kant III) zu hohe Schwankungen auf der Skala ergeben würden. Die beiden Skalen werden deshalb wie folgt definiert: Skala 1: Anteil an Rückwärtsellipsen Aggregationspol: Bauernleben I

Integrationspol: Kant III

20,94

3,64

Skala 2: Anzahl aggregativer Koordinationen Aggregationspol: Bauernleben I

Integrationspol Kant III

65

4 Abb. 9: Bestimmung des Aggregations- und Integrationspols

Die folgende Beispielrechnung soll illustrieren, wie die festgelegten Polwerte den Ausgangspunkt für die Verortung der untersuchten Quellentexte bieten können: Der Text Bauernleben I weist 65 aggregative Koordinationen auf, der Text Kant III 4. Der Abstand zwischen den Poltexten bildet demnach 61. Der Text Güntzer I enthält 57 aggregative Koordinationen,

Mathilde Hennig

98

der Abstand dieses Textes zum Aggregationspol beträgt somit 8. Diese Werte bilden die Grundlage für die Verortung des Textes auf der Skala: 61 8 ----- = ---100 x

x = 13,1

Da der Text Güntzer I bezüglich der Skala ‚Anzahl aggregativer Koordinationen‘ einen geringen Abstand vom Aggregationspol aufweist, hat er bezüglich dieser Skala mit 86,9 einen hohen Aggregationswert und mit 13,1 einen geringen Integrationswert, verhält sich also stark aggregativ. Die Berechnung sämtlicher Aggregationswerte in der beschriebenen Form führt zu folgendem Gesamtergebnis: 17. Jahrhundert

19. Jahrhundert

GT

SL

TH

ZI

KO

BW

NI

Skala 1: Anteil an Rückwärtsellipsen

91,1

100

1,6

100

26

55,3

11

Skala 2: Anzahl an aggregativen Koordinationen

86,9

100

14,8

11,5

6,6

26,2

0

Durchschnitt

89,0

100

8,2

55,7

16,3

40,7

5,5

Abb. 10: Aggregationswerte der Korpustexte

Die Tabelle weist im Gegensatz zu den anderen tabellarischen Übersichten keine Spalte für den Text Bauernleben I auf, weil dieser ja den Poltext bildete, für den automatisch ein Aggregationswert von 100 angenommen wird. Wie wir der Tabelle entnehmen können, verhält sich der Text Söldnerleben I ebenso zu hundert Prozent aggregativ,20 auch der dritte Nähetext aus dem 17. Jahrhundert erhält einen hohen Aggregationswert. Die Distanztexte weisen beide einen niedrigen Aggregationswert auf, wobei der Aggregationswert des Distanztextes aus dem 17. Jahrhundert aufgrund des Vorhandenseins von 13 aggregativen Koordinationen etwas über dem 20 Die Festlegung von Endpunkten der Skala führt dazu, dass Werte, die außerhalb der Skala liegen, automatisch mit 100 des jeweiligen Skalenendes gleichgesetzt werden. Dadurch erhält der Text Söldnerleben I in Bezug auf die Skala ‚Anzahl an aggregativen Koordinationen‘ den Wert 100, obwohl der Text mehr aggregative Koordinationen enthält als der Poltext Bauernleben I. Eine solche Lösung lässt sich bei der Festlegung eines Beispieltextes als tertium comparationis nicht vermeiden.

Elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen

99

Aggregationswert des Distanztextes aus dem 19. Jahrhundert liegt. Die beiden Distanztexte sind somit bezüglich der elliptischen Junktion als stark integrativ ausgewiesen. Dass die Nähetexte aus dem 19. Jahrhundert niedrigere Aggregationswerte aufweisen als die Nähetexte aus dem 17. Jahrhundert, kann nicht pauschal auf eine der beiden Skalen zurückgeführt werden. Vielmehr müssen hier eher spezifische Ausprägungen der einzelnen Texte konstatiert werden: So enthält beispielsweise der Text Zimmer V keine einzige Rückwärtsellipse, was zu einem Aggregationswert von 100 auf dieser Skala führt. Der Text Koralek fällt mit einem sehr niedrigen Aggregationswert etwas aus dem Rahmen der Nähetexte des 19. Jahrhunderts. Insgesamt verhalten sich die Nähetexte des 19. Jahrhunderts bezüglich des Parameters ‚Anteil an Rückwärtsellipsen‘ aber aggregativer als bezüglich des Parameters ‚Anzahl an aggregativen Koordinationen‘, was eine Folge des durch die vorliegende Untersuchung nachgewiesenen Abbaus der aggregativen Koordinationsellipsen ist. Die Untersuchung führt zu folgender Verortung der Quellentexte auf der Aggregation-Integration-Skala:

Aggregationspol

BL GT

Integrationspol

ZI

BW

KO TH NI

SL

Abb. 11: Verortung der Korpustexte auf der Aggregation-Integration-Skala

Somit konnte nachgewiesen werden, dass sich auch die elliptische Junktion mit der Raible’schen Grundidee eines fließenden Übergangs zwischen dem Aggregationspol und dem Integrationspol in Einklang bringen lässt.

100

Mathilde Hennig

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Sekundärliteratur Ágel, Vilmos (2000): Valenztheorie, Tübingen. Ágel, Vilmos (2007): Was ist „grammatische Aufklärung“ in einer Schriftkultur? Die Parameter ‚Aggregation“ und ‚Integration“, in: Feilke, Helmuth/Knobloch, Cle-

Elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen

101

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Mathilde Hennig

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Elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen

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Mechthild Habermann (Erlangen)

Kollokationen und ihre Funktion in der mittelhochdeutschen Syntax 1. Was sind Kollokationen? Kollokationen sind seit geraumer Zeit in der Lexikographie, computergestützten Korpuslinguistik und Fremdsprachendidaktik zu einem zentralen Untersuchungsgegenstand avanciert. In der historischen Sprachwissenschaft wurden mehr oder weniger feste Wortverbindungen, wenngleich nicht unter dem Terminus „Kollokation“, von Anfang an insbesondere unter lexikographischen Fragestellungen beachtet. Neuere korpusgestützte Arbeiten zur historischen Kollokationsforschung fehlen jedoch fast völlig. Eine gewisse Ausnahme bildet zum einen die diachrone Untersuchung von Béatrice-Barbara Bischof zu Kollokationen zum Französischen und zum anderen das von Natalia Filatkina geleitete Projekt „Historische Formelhafte Sprache und Traditionen des Formulierens (HiFoS)“ an der Universität Trier.1 Die Untersuchung von Kollokationen anhand von großen, aus Textkorpora gewonnenen Datenmengen ist für die deutsche Sprachgeschichte leider noch immer nur eingeschränkt möglich, bietet aber einen vertieften Einblick in den Bereich mehr oder weniger fester Syntagmen, die gemeinsam mit den freien Konstruktionen die Syntax des Deutschen in Geschichte und Gegenwart wesentlich konstituieren. Unbekannt ist das Phänomen der Kollokation dabei keineswegs geblieben. Es gibt zum einen eine Reihe verwandter Fachtermini, wie den des Phraseologismus, der sich mit dem Kollokationsbegriff überschneidet.2 Zum anderen erfahren Kollokationen gegenwärtig eine Neuverortung in der Konstruktionsgrammatik, in deren Rahmen sie zu einem grundlegen-

1 2

Bischof (2007), Filatkina et al. (2009); vgl. hierzu auch http://www.hifos.uni-trier.de [Zugriff: 14.02.2010] Zum aktuellen Stand der Phraseologieforschung vgl. Burger (2010) und Burger/Dobrovol’skij/Kühn/Norrik (2007).

Kollokationen und ihre Funktion in der mittelhochdeutschen Syntax

105

den Inventar von Grammatik anstelle von Regeln, d. h. Transformationen oder Prinzipien, geworden sind.3 1.1 „Kollokation“ in sprachwissenschaftlichen Nachschlagewerken „Kollokation“ heißt „Anordnung“. Nach dem Lexikon der Sprachwissenschaft von Hadumod Bußmann handelt es sich um einen Terminus für charakteristische, häufig auftretende Wortverbindungen, deren gemeinsames Vorkommen auf einer Regelhaftigkeit gegenseitiger Erwartbarkeit beruht, also primär semantisch (nicht grammatisch) begründet ist: Hund : bellen, dunkel : Nacht. (…) Im weiteren Sinne: Synonyme Verwendung für syntaktischsemantische Verträglichkeitsbedingungen.4

Diese Definition wird kaum der Vielfalt der Definitionsversuche, was „Kollokation“ denn eigentlich sei, gerecht. Das Metzler Lexikon Sprache von Helmut Glück definiert „Kollokation“ als „erwartbares Miteinandervorkommen (Kookkurrenz)“ von Lexemen aufgrund von Sachrelation der Denotate (z. B. Rabe ↔ schwarz), semantischer Assoziation (groß ↔ klein), lexikalischer Solidarität (blond ↔ Haar), phraseologischer Verbindung (Anordnungen treffen vs. Befehle erteilen) oder konzeptueller Stereotypie (glänzende Karriere). Man spricht auch von Kollokationen „bei Syntagmen, deren polyseme Glieder sich (ggf. wechselseitig) monosemieren (kaputte → Birne, saftige ← Ohrfeige, saftige ↔ Birne)“.5 Beide Definitionen beschränken Kollokationen auf die Beziehung zweier Wörter; in der zweiten Definition kommt der Aspekt der ein- oder wechselseitigen Monosemierung noch zusätzlich hinzu. 1.2 „Kollokation“, „Phrasem“, „Phraseologismus“ Als für eine lexikalische Einheit charakteristische syntaktische Verbindung konkurriert der Begriff mit einer Reihe ähnlicher Termini, deren Abgren-

3

4 5

„Entscheidend ist, dass die Konstruktionsgrammatik diese Sichtweise nicht auf das Lexikon beschränkt, sondern – im Gegensatz zu vielen anderen, aktuellen Theorien – auf die Syntax ausdehnt. So stellt sich das Sprachsystem als Kontinuum vom Lexikon über idiomatische und halbidiomatische Fügungen bis zu abstrakten grammatischen Strukturen dar. Entsprechend dem Begriff des sprachlichen Zeichens werden Form und Bedeutung in der Konstruktionsgrammatik als direkt miteinander verbunden betrachtet“ (Fischer/ Stefanowitsch 2006, 3; vgl. auch Knobloch 2009). Bußmann (2008, 345; s. v. Kollokation). Glück (2005, 327f., s. v. Kollokation).

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Mechthild Habermann

zung voneinander Lexikologie und Phraseologie seit langem beschäftigt. 2006 brachte Jesko Friedrich ein Phraseologisches Wörterbuch des Mittelhochdeutschen heraus, in dem er eine Reihe von Redensarten, Sprichwörtern und „andere(n) feste(n) Wortverbindungen“ aus Texten von 1050– 1350 zusammenstellte. In seiner Einleitung definiert er das Phrasem als feste Wortverbindung; Wortverbindung, die als Ganzes Teil des Sprachschatzes ist, also als Einheit in der Langue vorliegt und nicht erst in der Parole aus Einzelelementen zusammengestellt wird.6

Es handelt sich hierbei um eine sehr weite und nicht unproblematische Definition. Im Nachfolgenden unterscheidet er zahlreiche Untergruppen, bei deren Klassifikation syntaktische, semantische und pragmatische Kriterien eine wichtige Rolle spielen.7 Aus Friedrichs Zusammenstellung, die 6 7

Friedrich (2006, 4); vgl. auch Friedrich (2007). Nachfolgend die Überschriften der Unterkapitel von „Typen von Phrasemen“ (zitiert nach Friedrich 2006, 23–44): 1. Satzwertige Phraseme, kontextunabhängig: Sprichwörter (z. B. Alt schult lît und rostet nit) 2. Satzwertige Phraseme, kontextabhängig: Feste Phrasen (z. B. und waren sîne tage zalt) 3. Nicht satzwertige Phraseme: Nominale Syntagmen (z. B. goldes wert sîn) 4. Nominale Syntagmen, Sondergruppe: Onymische Phraseme (z. B. daz tôt mer) 5. Nicht satzwertige Phraseme: Verbale Syntagmen (z. B. daz kriuze an sich nëmen) 6. Verbale Syntagmen, Sondergruppe: FVG (Funktionsverbgefüge: ze rede wërden) 7. Verbale Syntagmen, Sondergruppe: Kinegramme (z. B. darnach nam er in in sein arm) 8. Nicht satzwertige Phraseme: Adverbiale Syntagmen (z. B. bî hant, zuo hant, under hande) 9. Synsemantische Phraseme (z. B. sît her „seither“) 10. Sondergruppe Routineformeln – Schwüre, Bekräftigungs- und Beteuerungsformeln (z. B. sô mir got, deist unlougen) – Eindringlichkeit; Aufforderung, die Wahrheit zu sagen (z. B. durch got) – Begrüßungen, Ehrbezeigungen zur Begrüßung (z. B. got grüez dich, lieber) – Dankesformeln (z. B. got danke iu) – Ausrufe, die Erstaunen, Schrecken, Schmerz oder Trauer ausdrücken (z. B. ô wê) – Verwünschungen, Flüche (z. B. der tiuvel dich hie schende!) – Gute Wünsche, meist zum Abschied (z. B. gehabe dich wol) 11. Sondergruppe: Paarformeln, Drillingsformeln (...) – Synonyme Paarformeln (z. B. angest unde nôt) – Antonyme Paarformeln: komplementäre Elemente (z. B. alt unde junc) – Antonyme Paarformeln: polar strukturierende Elemente (z. B. vom houbet unze an die vüeze) – Aufzählende Paarformeln, Aufzählungen (z. B. silber unde golt) 12. Sondergruppe: Vergleiche (komparative Phraseme) – Nur eine, nämlich eine wörtliche Lesart: freie Wortverbindung (z. B. ist dicke als eyn finger) – Nur eine, nämlich eine übertragene Lesart (z. B. Ik lope alzo eyn bakaven „Ich schwitze wie ein Backofen“) – Zwei Lesarten, nämlich eine wörtliche und eine übertragene (z. B. er […] facht als ein lewe) 13. Sondergruppe: Phraseologische Termini (z. B. ze sînen tagen komen) 14. Sondergruppe: Bildliche Negation (z. B. niht ein ei)

Kollokationen und ihre Funktion in der mittelhochdeutschen Syntax

107

von großer Heterogenität gekennzeichnet ist und zu einem sehr unspezifischen Phraseologiebegriff führt, wird Folgendes deutlich: – Im Bereich der syntagmatischen Beziehungen gibt es ein fließendes Kontinuum zwischen freier(er) und fester Wortverbindung. Auf dieses Kontinuum hat die Phraseologieforschung bislang keine befriedigenden Antworten gefunden. – Das Kontinuum betrifft Zeichen als Form-Bedeutungspaare. Das heißt, nicht nur die formale Seite, die Ausdrucksseite, weist fließende Übergänge auf, sondern auch deren Bedeutung, die Inhaltsseite. Auf dieser ist ein fließender Übergang zwischen durchsichtigen und mehr oder weniger idiomatisierten Wortverbindungen feststellbar. – Ein entscheidendes Kriterium für eine feste Wortverbindung ist das Vorhandensein einer gewissen Häufigkeit und damit Geläufigkeit, Bekanntheit einer Wortverbindung. Bei den herkömmlichen Klassifikationskriterien zu „Phraseologismen“ spielen vor allem die Polylexikalität – d. h. sie bestehen aus mehr als einem Wort – die Festigkeit, d. h. die mehr oder weniger gegebene syntaktische Stabilität, und die Idiomatizität, d. h. die semantische Irregularität, eine entscheidende Rolle.8 1.3 „Kollokation“ in neueren Forschungen Auf den Begriff der „Kollokation“ verzichtet Friedrich in seinem Phraseologischen Wörterbuch ganz. Jenseits der dort aufgeführten Phraseologismen (in engerem Sinne) gibt es aber auch höchst unspektakuläre Wortverbindungen wie etwa Zähne putzen oder eine Tür öffnen, deren Bedeutung sich kompositionell aus den einzelnen Bestandteilen ergibt. Diese semantisch unauffälligen Wortverbindungen spielten bislang insbesondere in der Lexikographie und Fremdsprachendidaktik eine entscheidende Rolle: Sie erlangen nun aber im Rahmen der kognitiven Wende in konstruktionsgrammatischen Ansätzen eine neue Bedeutung, denn es stellt sich die Frage, inwieweit Grammatik in ihrer kognitiven Repräsentanz aus der Reproduktion mehr oder weniger fester komplexer Einheiten, „Patterns“, besteht, die im Erstspracherwerb gelernt werden. Neben Wortverbindungen wie eine Tür öffnen oder Zähne putzen, die Kollokationen im engeren Sinne darstellen, gibt es darüber hinaus Routineformeln wie es war einmal. Hierbei handelt es sich um Formulierungs-

8

Nach Burger (2010, 11–32).

108

Mechthild Habermann

routinen, deren Nutzung in der Textproduktion Stephan Stein als „Weg des geringsten kognitiven Aufwandes“ bezeichnet: Der kompetente Textproduzent setzt auf Formulierungsroutinen, d. h. auf sprachliche Routinen und/oder auf konzeptionelle Routinen, die als mikrostrukturelle bzw. als makrostrukturelle Verfestigungen mental gespeichert sind und die als Formulierungsstereotype bzw. als Formulierungsmuster in Erscheinung treten.9

Beispiele des Typs eine Tür öffnen, Zähne putzen und es war einmal werden von Friedrichs weiter Definition von Phrasem ebenfalls abgedeckt. Ihre Erfassung und Beschreibung ist aber sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht von einer gesamthaften, elektronisch basierten Auswertung eines Korpus abhängig, was auch im Interesse einer integrativen Grammatikbeschreibung – etwa im Rahmen konstruktionsgrammatischer Ansätze – ist. In der an der Gegenwartssprache orientierten Kollokationsforschung10 dominieren zurzeit zwei Ansätze, die aus unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen stammen: zum einen der im lexikographischen Kontext stehende Ansatz von Franz Josef Hausmann und zum anderen der korpusgestützte Ansatz von John Sinclair. F. J. Hausmann definiert Kollokation als „typische, spezifische und charakteristische Zweierkombination von Wörtern“.11 Neben diesem „Konzept der Kollokation im Sinne einer zwar semantisch weitgehend transparenten, aber dennoch etablierten Wortkombination“12 ging auch ein größerer Einfluss von dem statistisch orientierten Ansatz John Sinclairs aus, der die Auffassung vertritt, eine Kollokation sei die mehr oder weniger feste Wortverbindung von Wörtern innerhalb eines Satzes, ohne dass auf die semantische Dimension Wert gelegt wird. Sinclair/Jones definieren als Kollokation „the co-occurrence of two items in a text within a specified environment“.13 Bei einem rein formalen Kollokationsbegriff sind dann nicht nur Zähne putzen oder eine Tür öffnen Kollokationen, sondern auch es war einmal. Die Relevanz von Kollokationen in der kognitiven Grammatik unterstreichen schließlich Croft/Cruse.14 Sie verorten Kollokationen zwischen den Idiomen (idiomatically combining expressions) und den selectional re-

9 10 11 12 13 14

Stein (1995, 301); vgl. zum Mittelhochdeutschen auch Habermann (2010, 461–464). Einen ausführlichen Forschungsbericht bietet Bischof (2007, 25–76). Hausmann (1985, 118). Herbst/Klotz (2003, 84). Sinclair/Jones (1974, 19). Nach Croft/Cruse (2004, 229–256).

Kollokationen und ihre Funktion in der mittelhochdeutschen Syntax

109

strictions, also denjenigen Restriktionen, die durch die Bedeutung der einzelnen Wörter bestimmt sind. Kollokationen sind nach ihnen combinations of words that are preferred over other combinations that otherwise appear to be semantically equivalent. (...) Typically, collocations are expressions that can be interpreted more or less correctly out of context, but cannot be produced correctly if the conventional expression is not already known to the speech community (...). In other words, collocations are encoding idioms.15

Kollokationen wie Zähne putzen oder eine Tür öffnen müssen als Kollokationen im Spracherwerb eigens gelernt werden. Die Bedeutung ergibt sich in diesen Beispielen kompositionell aus den einzelnen Teilen. Es darf aber insgesamt nicht übersehen werden, dass die Abgrenzung zwischen Kollokationen und idiomatisierten Wortverbindungen (Phraseologismen) fließend ist. Für die folgende Untersuchung zur mittelhochdeutschen Grammatik stehen Wortverbindungen im Fokus, die – korpusbezogen über eine signifikante Frequenz verfügen, – formal mehr oder weniger stabil und – semantisch weitgehend transparent sind.

2. Kollokationen in der historischen Grammatik Für historische Sprachperioden, für die das Fehlen einer native-speakerKompetenz kennzeichnend ist, muss der Frequenz eine besondere Rolle zugewiesen werden. Über die historische Lexikographie hinaus erlaubt eine auf Quantifizierung beruhende Untersuchung der Kollokation eine Überprüfung unseres heutigen Bildes von mittelhochdeutscher Syntax und Textlinguistik sowie von Sprachwandel überhaupt. Eine solche Erfassung und Beschreibung ermöglichen text- und textsortenspezifische Aussagen zur quantitativen und qualitativen Verteilung der Kollokationen – diatopisch und diachron. Dementsprechend sind Antworten auf folgende Fragen erwartbar: – In welchem Ausmaß verändern sich die Kollokationen zwischen dem Alt- oder Mittelhochdeutschen und der Gegenwart? – Welche Veränderungen gibt es in formaler Hinsicht, welche in semantisch-inhaltlicher Hinsicht? – Welcher Konstruktionswandel lässt sich z. B. in der Syntax der Kollokation (Valenz, präpositionale Anschlüsse) beobachten?

15 Croft/Cruse (2004, 249f.).

Mechthild Habermann

110 –



Wie stabil und wie frequent sind mittelhochdeutsche Kollokationen im Vergleich zur Gegenwartssprache? Wie groß ist der Spielraum formaler Varianz? – Wie polysem sind Kollokationen? Sind sie nur in konkretem oder nur in abstraktem Sinn gebraucht oder sowohl konkret als auch abstrakt? – In welchem Ausmaß können Metaphorisierungs- und Metonymisierungsprozesse nachgezeichnet werden? Wie vollziehen sich die Idiomatisierungsprozesse von durchsichtigen zu undurchsichtigen Wortverbindungen im Einzelnen? Inwieweit ist eine funktionalstilistische Gebundenheit von Kollokationen feststellbar, die eventuell sogar wesentlich einen Text oder eine Textsorte prägt?

Am Beispiel der Kollokationsbasis Hand, mhd. hant,16 in der deutschen Urkundensprache des 13. Jahrhunderts und im Nibelungenlied sollen Ergebnisse der Kollokationsanalyse unter textsortenspezifischen Gesichtspunkten skizziert werden. 2.1 Kollokationen mit hant in der mittelhochdeutschen Urkundensprache Laut WMU17 ist Hand im Gesamtkorpus der mittelhochdeutschen Urkundensprache ca. 1.550 mal belegt. Der erste Band des Wilhelmkorpus umfasst nach eigener Auswertung 256 Belege (Doppelbelegungen in Dublettenurkunden nicht mitgerechnet).18 Lediglich in 27 Belegen kommt hant in einer 1 mal belegten Verbindung vor. In den übrigen 229 Belegen steht hant in Verbindungen, die mindestens 2 mal belegt sind. Die nachfolgende Übersicht19 zeigt Wortverbindungen mit hant in der Urkundensprache (Band 1) auf:

16 Friedrich (2006, 193–201, s. v. Hand). In gleicher Weise verhält es sich mit dem Befund bei Röhrich (2, 1991, Sp. 638–655, s. v. Hand). Zu Hand vgl. auch AWB (IV, Sp. 678–689, s. v. hant), BMZ (I, 627–631, s. v. hant), Lexer HWB (I, Sp. 1170–1172, s. v. hant) und Diehl (2000, 397f.). 17 WMU (I, 797–799, s. v. hant). 18 Es handelt sich um die Urkunden 1–564, die den Zeitraum von 1227 bis 29. Dezember 1282 abdecken. Die Quellennachweise beziehen sich im Folgenden auf die Urkundennummer und Belegzeile. 19 Die Systematik der Tabelle orientiert sich am Lemma-Aufbau des WMU (vgl. Anm. 17) und DRW (4, Sp. 1540–1600, s. v. Hand). Nur die mehr als einmal belegten Verbindungen werden mit Beispielen aufgeführt.

Kollokationen und ihre Funktion in der mittelhochdeutschen Syntax

Subkategorisierungsrahmen20

111

Belegzahl in Verbindungen

Belegzahl in einmal belegten Verbindungen

229

27

als Körperglied überhaupt (DRW A.I)



5

die bewaffnete Hand (DRW A.IX)

8

1

mit (un)gewâfenter hant ‚Waffe‘ in der (lerzen) hant

6 2

als Körperteil zur Orientierung in der Außenwelt (DRW A.II)

2

ze der rehten hant

2

die Strafe an der Hand (DRW A. XIV), in Zusammenhang mit der Strafe des Handverlustes

15

die hant abe slahen die /‚possessiv. Artikel‘ hant verliesen

11 4

in sonstigen strafrechtlichen Kontexten

10

über hals unde hant/an den hals oder an die hant ‚Zahladj.‘ pfunt oder die hant / bî ‚Zahladj.‘ pfunt oder bî der hant die hant abe nemen

3

die schwörende Hand (DRW A.XII)

10

mit ‚possessiv. Artikel‘ eines/einiges hant („ohne Eidhelfer“)

10

die gelobende, versprechende Hand (DRW A. XI)

3

die Hand des lebenden Menschen, im eigentlichen Sinne und übertragen (DRW A)

1

2

5 2

geloben in/ane iemannes hant

3

die gebende/nehmende/habende Hand in Besitzkontexten DRW A.VII.1: allgemein (bei Besitzwechsel), A. VIII, A. IX

48

ûfgeben in/ane iemannes hant sich verzîhen/en(t)zîhen in iemannes hant behalten in ‚possessiv. Artikel‘ hant komen in/ane/ûzer iemannes hant haben in ‚possessiv. Artikel‘ hant enphâhen von iemannes hant bezzern in iemannes hant antwürten in iemannes hant tuon ane/in gemeiniu hant (Gemeinnutzung)

15 9 5 4 5 3 2 2 3

20 Nach Croft /Cruse (2004, 255).



2



9

Mechthild Habermann

112

Subkategorisierungsrahmen

Belegzahl in Verbindungen

Belegzahl in einmal belegten Verbindungen

die gebende Hand (DRW A.VII.2: Mitwirkung, Wille, Zustimmung)

74

4

geben mit iemannes hant geben mit vrîer hant ûfgeben mit iemannes hant tuon mit/âne iemannes hant sîn reht tuon mit einer hant sich verzîhen mit iemannes hant (ge)vertigen mit iemannes hant beschehen/geschehen mit iemannes hant verlîhen/gelîhen mit iemannes hant machen mit iemannes hant gesetzet werden/sîn mit iemannes hant mit gesamenter hant

21 2 9 8 3 5 2 3 3 2 2 14

als Maß und Art (DRW A.III)

52

aller hande/allerhande Substantiv (s)welher hande Substantiv keiner hande Substantiv deheiner hande Substantiv einiger hande Substantiv

34 5 7 3 3

adverbial in präpositionaler Verbindung: ze hant

7

3



Wortverbindungen mit hant im mittelhochdeutschen Urkundenkorpus (Band 1)

Der Befund der Kollokationen für die Urkundensprache zeigt, dass hant erwartungsgemäß in rechtlichen Zusammenhängen gebraucht ist. Insgesamt konnten 37 unterschiedliche Wortverbindungen ermittelt werden; davon sind jeweils 9 Verbindungen zwei- (z. B. ze der rehten hant) oder dreifach (z. B. enphâhen von iemannes hant) belegt, deren Kollokationsstatus erst in weiterreichenden Korpusanalysen zu untermauern ist. Sechs Verbindungen sind zwischen 10 und 34 mal belegt. Abgesehen von allerhande, das eine vollständig idiomatisierte Bildung in der Bedeutung von „jeder, jedes; alle; allerlei“ darstellt, handelt es sich um Wortverbindungen, die dem in dieser Untersuchung zugrundegelegten Kollokationsbegriff entsprechen. Unter den höher frequenten Wortverbindungen begegnen dabei sowohl Präpositionalphrasen (z. B. mit gesamenter hant; 14 Belege) als auch Syntagmen, in denen hant als Nominal- (z. B. die hant abe slahen; 11 Belege) oder Präpositionalphrase (z. B. mit iemannes hant geben; 21 Belege) vorkommt.

Kollokationen und ihre Funktion in der mittelhochdeutschen Syntax

113

Es ist besonders auffällig, dass ein und derselbe Vorgang durch unterschiedliche Kollokationen zum Ausdruck gebracht wird, die sich in ihrer Frequenz erkennbar unterscheiden. In Zusammenhang mit Straftaten bzw. Rechtsformeln steht hant beim „Handverlust“ als Strafe für ein Verbrechen: die hant abe slahen (15 Belege) (1) dem sol man dar vmbe wirt er gevangen abe slahen die hant

Ur. 26A, 31f.

die hant verliesen (6 Belege) (2) Swelich man den anderen bel(meth · v] wert he is verwunnen met den screimannen na rechte · he heuet sine hant verlorn · Ur. 2, 22f. Am häufigsten ist hant in der Präpositionalphrase mit jmds. Hand metonymisch gebraucht, und zwar für die Person, mit deren Zustimmung der Rechtsakt vollzogen wird: mit iemannes hant geben (21 Belege) (3) V] diz gNt gab er dem gotshvse ze Th=sse · mit sinre hant v] sinre wirtinne · v] sins svnes hern Diethelmes · v] hvges · v] alre sinre kindon Dise eigenschaft gaben sv deme klostere mit des schvltheisssen hant von wintertur· Ur. 202, 9–11 mit iemannes hant ûfgeben (11 Belege) (4) alse gib ich es/in/aber uf/mit mines wirtes viuianes hant Ur. 199, 32 Durch den Wechsel der Präposition können Kollokationen eine völlig andere Bedeutung erhalten, wie z. B. mit ↔ in/ane iemannes hant ûfgeben oder auch mit ↔ in iemannes hand sich verzîhen zur Kennzeichnung des Übergangs des Besitzrechts oder der Verfügungsgewalt und Entscheidungsbefugnis: in/ane iemannes hant ûfgeben (15 Belege) (5) v] han diz alles uf gegeben lidic v] lere/an des vor genanten appetes hant · ime v] der samenunge. Ur. 110, 7f. 20

20

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Mechthild Habermann

2.2 Kollokationen mit hant im Nibelungenlied Grundlage der Kollokationsanalyse des Substantivs hant im Nibelungenlied bildet die Konkordanz von Hermann Reichert, die dieser auf der Grundlage der St. Galler Handschrift des Nibelungenliedes (Mitte des 13. Jahrhunderts) erstellt hat.21 Zunächst ist grundsätzlich festzustellen, dass eine Vielzahl der bei Friedrich verzeichneten Phraseme bis auf wenige Ausnahmen im Nibelungenlied nicht zu finden sind. Der Vergleich mit der Urkundensprache zeigt darüber hinaus erhebliche textsortenspezifische Abweichungen. Im Folgenden werden nicht alle Wortverbindungen mit hant aus dem Nibelungenlied angeführt, sondern nur diejenigen, die entweder im Nibelungenlied in einer gewissen Regelmäßigkeit wiederkehren oder in der Literatur zu mittelhochdeutschen Phraseologismen als frequente Muster bereits bekannt sind. Da das Nibelungenlied ein poetischer Text ist, bei dem der Wortgebrauch auch vom Versmaß abhängig ist, soll zunächst ein Überblick über die Verteilung von hant (und seinen Flexionsformen) in der jeweiligen Position der Langzeile erfolgen. 2.2.1 Versmaß und Flexionsformen von hant Hinsichtlich der Verteilung der morphologischen Formen und ihrer jeweiligen Position in dem durch Zäsur getrennten An- und Abvers der Langzeile des Nibelungenliedes ergibt sich folgender Befund: hant handen hende henden hande

182 Belege davon im Abvers am Versende: 177 Belege 32 Belege davon im Anvers vor der Zäsur: 28 Belege 32 Belege davon im Anvers vor der Zäsur: 18 Belege 6 Belege davon im Anvers vor der Zäsur: 5 Belege 7 Belege davon im Anvers vor der Zäsur: 1 Beleg

21 Reichert (2006). Die Beispiele der Kollokationen sind der normalisierten Edition des Nibelungenlieds von Reichert (2005) entnommen. Ein Vergleich von Handschrift und Edition ergab, dass Unterschiede auf die phonologisch-graphematische Ebene beschränkt bleiben und an keiner Stelle die strukturell-inhaltliche Seite der Kollokationen betreffen.

Kollokationen und ihre Funktion in der mittelhochdeutschen Syntax

115

Hieraus folgt: 1. Die Häufigkeit von hant im Abvers am Versende zeugt auch davon, dass ein gewisser metrischer Zwang in der Wahl des Substantivs hant nicht ausgeschlossen werden kann, reimt sich doch hant auf bant, vant, lant usw. (NL 2358–2359). 2. In der St. Galler Handschrift ist noch weitgehend der voralthochdeutsche Primärumlaut gewahrt, der im Dat./Gen. Singular und Nom./ Akk./Gen. Plural ahd. henti, mhd. hende lautet und im Dativ Plural ahd. hantum, mhd. handen. Ansätze von Analogieausgleich finden sich in den sechs umgelauteten Formen des Dativs Plural: henden. 3. Die Verteilung des Einsilbers hant und der zweisilbigen Formen handen, hende, henden ist wesentlich durch ihre Position im Vers gesteuert. Grundsätzlich ist der letzte Takt des Abverses bei diesem Beispiel durch eine Silbe, nämlich hánt, charakterisiert (männliche Kadenz), während im Anvers der letzte Hauptton im vorletzten Takt wie etwa bei hánden, hénde, hénden liegt (klingende Kadenz). In einzelnen Fällen variiert dementsprechend die formale Struktur der Kollokation in Abhängigkeit der Stellung von hant im Vers, so dass z. B. zwischen der einsilbigen und zweisilbigen Form im Dativ Singular der i-Stämme, hant und hende, unterschieden wird, vgl.: (6) (7)

Dieterîch von Berne der nam in bî der hant. dô nam in bî der hende diu maget lobelîch.

NL 2359,1 NL 0466,2

Insgesamt wird deutlich, dass formale Varianten von hant auf unterschiedliche Stellungen in der Langzeile zurückzuführen sind. 2.2.2 Kollokationen und semantische Frames Kollokationen mit hant können im Nibelungenlied mindestens drei unterschiedlichen Subkategorisierungsrahmen zugeordnet werden. Diese begegnen zwar auch in der Urkundensprache, sind dort aber in vielen Fällen durch andere Kollokationen gefüllt: 1. die gebende Hand: „die Hand gibt, teilt etw.“ 2. die strafende Hand: „die Hand straft, schlägt jmdn.“ 3. die schwörende Hand: „die Hand zum Eid bieten“

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Mechthild Habermann

zu 1: die gebende Hand die Hand gibt etw. (8) sînen swertgenôzen den gap do vil sîn hant. (9) sô manege gâbe rîche gap des heldes hant: (10) von golde und von sîden, daz geben sol mîn hant,

NL 0037,3 NL 0513,2 NL 0518,3

die Hand teilt etw. (für jmdn.) (11) mit guote michel êre. Des teilte vil ir hant. NL 0027,3 (2 Belege) (12) si wânde, ez zen Hiunen teilen solde ir hant, NL 1268,2 (13) daz solde in allez teilen des küenen Sîvrides hant. NL 0090,4 In den meisten Kollokationen ist hant metonymisch für die Person gebraucht und übernimmt deshalb die Rolle des Subjekts im Satz.22 Während in der Urkundensprache die metonymischen Verwendungsweisen von Präpositionalphrasen, eingeleitet mit der Präposition mit oder in, vorherrschend sind, dominieren im Nibelungenlied Metonymien als Nominalphrasen in Subjektsposition. zu 2: die strafende Hand von der Hand/von jmds. Hand 23 (14) sô seht ir helme houwen von guoter helde hant. (15) die truogen bluotes varwe von der Burgonden hant. (16) verrucket mit den swerten von vnser zweier hant. (17) Sîvrit ist vngerochen von der Dieterîches hant.

NL NL NL NL

0193,3 0216,4 1836,3 1899,4

jmds. Hand straft/schlägt 24 (18) den ê hete betwungen diu Sîvrides hant NL 0875,3 (19) einen linttrachen, den sluoc des heldes hant. NL 0098,2 (20) si sprach des zîhet in niemen in sluoc diu Hagenen hant. NL 1108,1 Derartige Kollokationen sind heute allenfalls poetisch; noch üblich ist insbesondere getötet durch Feindeshand. Während im Nibelungenlied hant auch für die strafende Person metonymisch gebraucht in Subjektsposition überaus häufig belegt ist, begegnet der Sachverhalt im 1. Band der Urkun-

22 Als Akkusativobjekt ist hant bei teilen in jâ sol si mit mir teilen mîner lieben brüeder hant (NL 0693,4) gebraucht. 23 Die Präpositionalphrase mit hant ist mit verschiedenen Verben, die jedoch nicht ausschließlich aus dem strafenden Kontext stammen, insgesamt 16 mal belegt. 24 Die Nominalphrase mit hant ist mit verschiedenen Verben, die nicht ausschließlich aus dem strafenden Kontext stammen, insgesamt 30 mal belegt.

Kollokationen und ihre Funktion in der mittelhochdeutschen Syntax

117

densprache zwar auch, aber nur mit hant (nicht metonymisch) in einer Präpositionalphrase (1 Beleg, keine Kollokation): (21) Swer ?ch den andern mit der hant slát · r?fet ald vreuenlich kriphet ald an grifet Ur. 26A, 24–26 Im Nibelungenlied findet sich darüber hinaus: den Tod an der Hand haben (3 Belege) „des Todes sein“25 (22) swelche dar gerîtent, die habent den tôt an der hant. NL 1537,4 (23) wand erreichet mich Hagene, ich hân den tôt an der hant. NL 1980,4 (24) wande erreichet iuch dort Hagene, ir habt den tôt an der hant. NL 2018,4 zu 3: die schwörende Hand etw. in/an jmds. Hand loben „jmdm. etwas per Handschlag versprechen“26 (25) „Daz lob ich“, sprach dô Gunthêr, Sîvrit, an dîne hant. NL 0332,1 (26) daz lobte der vil küene in vroun Kriemhilde hant. NL 0372,4 (27) dô lobte si alsô balde in Blœdelînes hant NL 1900,2 Diese Kollokation ist in der Urkundensprache des Wilhelmkorpus (Band 1) mit drei Belegen nachweisbar. die Hand zum Eid bieten (28) Sîvrit der vil küene zem eide bôt die hant.

NL 0857,1

Während bei Friedrich die Wendung jmdm. in sîne hant swërn „sich jmdm. verpflichten“ bezeugt ist,27 hat das Nibelungenlied die Hand schwört (jmdm.) etwas (29) er sprach: „ir sult gedenken, des mir swuor iuwer hant, NL 0605,1 2.2.3 Kollokationen als besondere Syntagmen Im Nibelungenlied ist insgesamt 7 mal etw. an der Hand tragen bezeugt (vgl. NL 2245,2) und 8 mal etw. bei der Hand nehmen (... und nam in bî der hant; NL 1734,3). Daneben gibt es

25 Vgl. Friedrich (2006, 198f.). 26 Vgl. Friedrich (2006, 197f.). 27 Vgl. Friedrich (2006, 198).

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etw./jmdn. an die Hand nehmen (6 Belege) (30) der übermüete verge nam selbe daz ruoder an di hant. NL 1550,4 (31) dô nam der degen widere den schilt an die hant NL 1833,2 (32) dô nam ir ietwedere den schilt an sîne hant NL 1829,2 an die Hand nehmen ist in diesen Beispielen nicht mit Personen im Akkusativobjekt verbunden, sondern mit Gerätschaften (Waffen, Ruder etc.). Von kulturhistorischem Interesse ist dabei die Verwendung der Präposition an, die deutlich macht, dass der Schild und das Ruder an und nicht in die Hand genommen werden.28 Bemerkenswert sind auch die Adjektivattribute zu hant, die in jedem einzelnen Fall als pars pro toto für Eigenschaften der gesamten Person stehen: die weiße Hand für die adelige Blässe einer Frau29 (33) Wart iht dâ vriuntlîche getwungen wîziu hant NL 0292,1 (2 x; davon 1 mal ir wîziu hant; NL 1355,2) (34) si huop sîn houbet schœne mit ir vil wîzen hant. NL 1008,2 (3 x; davon 1mal: mit ir vil wîzer hant)30 die ellenhafte hant, die „tapfere Hand“, die für einen tapferen Krieger steht: (35) diu elliu hât betwungen sîn vil ellenthaftiu hant. NL 1232,4 (36) und sluoc im slege grimme mit sîner ellenthafter hant NL 2047,4 (2x) (37) ê si die tür gewunnen mit ellenhafter hant NL 2071,3 Hingegen kommt die edle Hand nur 1 mal in einem Beleg aus einer direkten Rede vor, d. h. aus einer Gesprächssituation, die den direkten Bezug zum Besitzer der edlen Hand erlaubt: (38) daz sol helfen prüeven iuwer edeliu hant. NL 0355,2 Die Kollokation milde Hand, deren neuhochdeutsche Entsprechung freigiebige Hand eine übliche Kollokation darstellt, gibt es nicht, dafür aber: (39) ouch begie dâ michel wunder des milten Rüedegêres hant. NL 1369,4 In allen anderen Fällen ist mhd. edele ein Adjektivattribut zu einer Personenbezeichnung, die ihrerseits Genitivattribut zu hant ist:

28 Allerdings gibt es auch Belege mit dem Akkusativ der Person: Der fürste von Berne nam an die hant Gunthêren den vil rîchen von Burgonden lant. NL 1801,1f. 29 Vgl. Friedrich (2006, 195). 30 Darüber hinaus ist auch noch mit sinen wîzen handen (NL 1682,3) und mit vil wîzen handen (NL 1698,2) nachweisbar.

Kollokationen und ihre Funktion in der mittelhochdeutschen Syntax

(40) (41) (42) (43)

Diu lieht begunde bergen des edelen küneges hant. des sicherte dâ mit eiden des edelen küneges hant dar nâch neic dô Gunthêr des edelen Rüedegêres hant. sô mac iu wol gedienen des edelen Ortliebes hant.

119 NL NL NL NL

0630,1 1678,2 1692,4 1912,4

In gleicher Weise ist auch die kühne Hand nicht bezeugt, aber Kollokationen mit küene als Adjektivattribut zu einer Personenbezeichnung, die ihrerseits Genitivattribut zu hant ist: (44) dâ worhte michel wunder des küenen Sîvrides hant. NL 0225,4 (45) dâ vrumte manegen tôten des küenen Hagenen hant. NL 0232,3 (46) daz sich weren wolde der küenen Nibelunge hant. NL 1092,4 (47) dâ tet michel wunder des küenen Gîselhêres hant. NL 1967,4 Es ist zu bezweifeln, dass metrische Gründe für die Bevorzugung des personellen Bezugs bei edel und kühn den Ausschlag gegeben haben. Vielmehr ist zu vermuten, dass in den zitierten Fällen ein relativ starres Formulierungsmuster vorliegt, in dessen Rahmen kaum Varianz gegeben ist. Zum Neuhochdeutschen hin können hier Sprachwandelprozesse, wie der der metonymischen Übertragung, beobachtet werden: von der Person und der ihr zugeschriebenen Eigenschaft (z. B. die edle Frau, der kühne Mann) hin zum Körperteil und der ihm zugeschriebenen Eigenschaft (die edle Hand, die kühne Hand). Edel und kühn sind Adjektive, die ursprünglich wohl primär bei Personen stehen können. Zumindest im Nibelungenlied zeigt sich ein stimmiges Bild: Hier scheinen Kollokationen von edel und kühn mit ihren semantisch primären Bezugswörtern greifbar zu sein.

3. Resümee Allein der Gebrauch der Kollokationen mit hant führt zu markanten Unterschieden zwischen dem Nibelungenlied als Heldenepos auf der einen Seite und der mittelhochdeutschen Urkundensprache als Sachprosa auf der anderen Seite. Im Vergleich mit dem gegenwartssprachlichen Befund zeigen sich charakteristische Divergenzen, die sowohl den Kollokationsrahmen als auch konstruktionelle Unterschiede betreffen: Offensichtlich sind manche neuhochdeutschen Adjektiv-Substantivkollokationen mit hant, die Ergebnis von Metonymisierungsprozessen sind, im Mittelhochdeutschen noch nicht in der heutigen Breite gegeben, obwohl das Substantiv auch im Mittelhochdeutschen eine ausgeprägte Metonymie erkennen lässt. Im Rechtswesen hingegen hat die Übernahme des Römischen Rechts und die damit eingetretene Veränderung des Rechtswesens zu einem Veralten

120

Mechthild Habermann

vieler mit dem mittelalterlichen Rechtssinn überlagerten Kollokationen geführt. Auch wenn nur ein kleiner Ausschnitt von hant-Kollokationen angeführt werden konnte, so zeigt sich doch, dass die historische Kollokationsforschung unter korpuslinguistischer Perspektive noch manche überraschenden Einsichten verspricht. Unumstritten ist der große Erkenntniswert korpusgestützter Kollokationsanalysen für die Sprachgeschichte des Deutschen. Erst dann, wenn korpusbasierte EDV-Analysen von historischen Texten auf breiter Basis eine Auswertung des Materials in quantitativer und qualitativer Hinsicht erlauben, können pro Text, Textsorte, Zeitstufe, Sprachlandschaft, Autor etc. „Kollokationsprofile“ erstellt werden. Hierunter verstehe ich eine Klassifikation der ermittelten Kollokationen als syntaktische Konstruktionen und nach semantischen Klassen (semantische Kasus, Frames etc.), die einen Vergleich in vielfältiger Hinsicht erlauben. Erst dann wird sichtbar, in welchem Ausmaß die Grammatik des Deutschen durch feste und weniger feste Verbindungen geprägt war und ist.

Literatur Quellen und Nachschlagewerke AWB = Althochdeutsches Wörterbuch, auf Grund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftrag der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, begründet v. Elisabeth Karg-Gasterstädt u. Theodor Frings, hrsg. v. Rudolf Große, Bd. IV: G–J, Berlin 1986. BMZ = Benecke, Georg F./Müller, Wilhelm/Zarncke, Friedrich, Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Bd. 1: A–L, Leipzig 1854 (Nachdruck Hildesheim 1963). DRW = Deutsches Rechtswörterbuch (Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache), hrsg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Vierter Band: geleitlich bis Handangelobung, Weimar 1939–1951. Friedrich, Jesko (2006): Phraseologisches Wörterbuch des Mittelhochdeutschen. Redensarten, Sprichwörter und andere feste Wortverbindungen in Texten von 1050–1350, Tübingen (RGL 264). Lexer = Lexer, Matthias, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. I: A–M, Leipzig 1872 (Nachdruck 1992). Reichert, Hermann (Hg.) (2005), Das Nibelungenlied. Nach der St. Galler Handschrift hrsg. u. erläutert v. Hermann Reichert, Berlin/New York. Reichert, Hermann (2006): Konkordanz zum Nibelungenlied nach der St. Galler Handschrift, 2 Bde., Wien (Philologica Germanica 27, I/II). Röhrich, Lutz (1991): Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 2. Bd., Freiburg u.a. Wilhelm, Friedrich (Hg.) (1932): Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300, Bd. I: 1200–1282, Lahr/Baden.

Kollokationen und ihre Funktion in der mittelhochdeutschen Syntax

121

WMU = Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache auf der Grundlage des Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300. Bearb. v. Bettina Kirschstein u. Sibylle Ohly, I: Schreibortverzeichnis, Berlin 1991; II: Bd. 1 ab bis hinnen, Berlin 1994 (Veröffentlichungen der Kommission für Deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften).

Sekundärliteratur Bischof, Béatrice-Barbara (2007): Französische Kollokationen diachron. Eine korpusbasierte Analyse. Diss. Univ. Stuttgart [http://elib.uni-stuttgart.de/opus/volltexte/2008/3418/pdf/Franzoesische_Kollokationen.pdf ] [Zugriff: 14.02.2010]. Burger, Harald (2010): Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen, 4., neu bearb. Aufl., Berlin (Grundlagen der Germanistik 36). Burger, Harald/Dorovol’skij, Dimitrij/Kühn, Peter/Norrick, Neal R. (Hg.) (2007): Phraseologie. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung, 2 Halbbde., Berlin/New York (HSK 28,1/2). Bußmann, Hadumod (2008): Lexikon der Sprachwissenschaft, 4., durchges. u. bibliographisch erg. Aufl. unter Mitarbeit von Hartmut Lauffer, Stuttgart (Kröners Taschenausgabe 452). Croft, William/Cruse, D. Alan (2004): Cognitive Linguistics, Cambridge. Diehl, Gerhard (2000): Vorstellung des Probeartikels hant. Mit einer Einführung in die Leitlinien der Artikelgestaltung, in: Gärtner, Kurt/Grubmüller, Klaus (Hg.): Ein neues Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Prinzipien, Probeartikel, Diskussion, Göttingen (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen I. Philologisch-Historische Klasse Jahrgang 2000, Nr. 8), Probeartikel: 397f.; Beitrag: 399–405. Filatkina, Natalia/Gottwald, Johannes/Hanauska, Monika/Rößger, Carolin (2009): Formelhafte Sprache im schulischen Unterricht im Frühen Mittelalter: Am Beispiel der sogenannten ‚Sprichwörter‘ in den Schriften Notkers des Deutschen von St. Gallen, in: Sprachwissenschaft 34, 341–397. Fischer, Kerstin/Stefanowitsch, Anatol (2006): Konstruktionsgrammatik: Ein Überblick, in: Fischer, Kerstin/Stefanowitsch, Anatol (Hg.): Konstruktionsgrammatik. Von der Anwendung zur Theorie, Tübingen, 3–17. Friedrich, Jesko (2007): Historische Phraseologie des Deutschen, in: Burger, Harald/ Dorovol’skij, Dimitrij/Kühn, Peter/Norrick, Neal R. (Hg.): Phraseologie. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung, 2. Halbbd., Berlin/New York (HSK 28,2), 1092–1106. Glück, Helmut (Hg.) (2005): Metzler Lexikon Sprache, Unter Mitarbeit von Friederike Schmöe, 3., neubearb. Aufl., Stuttgart/Weimar. Habermann, Mechthild (2010): Pragmatisch indizierte Syntax des Mittelhochdeutschen, in: Ziegler, Arne (Hg.): Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen. Traditionen, Innovationen, Perspektiven. Bd. 1: Diachronie, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Berlin/New York, 451–469. Hausmann, Franz Josef (2005): Kollokationen im deutschen Wörterbuch. Ein Beitrag zur Theorie des lexikographischen Beispiels, in: Bergenholtz, Henning/Mugdan, Joachim (Hg.), Lexikographie und Grammatik, Akten des Essener Kolloquiums

122

Mechthild Habermann

zur Grammatik im Wörterbuch 28.–30.6.1984, Tübingen (Lexikographica. Series Maior 3), 118–129. Herbst, Thomas/Klotz, Michael (2003): Lexikografie, Paderborn/München/Wien/ Zürich (UTB 8263). Knobloch, Clemens (2009): Einladung und Einleitung. ZGL-Workshop ‚Konstruktionsgrammatik‘ am 29./30. Januar 2009, in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 37.3, 385–401. Sinclair, John M./Jones, Susan (1974): English lexical collocations. A Study in computational linguistics, in: Cahiers de lexicologie 24/1974, 15–61. Stein, Stephan (1995): Formelhafte Sprache. Untersuchungen zu ihren pragmatischen und kognitiven Funktionen im gegenwärtigen Deutsch, Frankfurt a.M. u.a. (Sprache in der Gesellschaft 22).

Maxi Krause (CRISCO (EA 4255)/Université de Caen Basse-Normandie)

Desiderata für eine historische Grammatik nicht flektierender Elemente 1 Einleitung – oder: Besteht hier überhaupt Bedarf? Als invariable Elemente bezeichnen wir Signifikanten, die unter keinen Umständen flektierbar sind, syntaktisch jedoch unterschiedliche Funktionen haben (können): Adpositionen, Adverbien und trennbare oder untrennbare Verbalpartikeln. Einen ersten Eindruck dessen, was darunter zu rechnen ist, bietet Tabelle 1. Die Tabelle zeigt (in Auswahl) nur die Gruppe der primären Invariablen (Ausnahme: neben < in ebene) sowie ihre Kombinationen mit ebenfalls primären Elementen wie da, hin und her. Sie stehen hier stellvertretend deshalb im Mittelpunkt, weil sie erstens die einzigen sind, die bisher (teilweise) Gegenstand systematischer Untersuchungen waren, zweitens auffällig sind aufgrund ihrer Neigung zur Kombination untereinander und mit anderen Elementen und drittens polyfunktional. Hier nicht beachtet, aber unbedingt mit einzubeziehen sind alle übrigen Invariablen (primär oder nicht), z.B. jene vom Typ dort, dorthin, vorne, hinten, ferner solche wie heute, gestern, wiederum sowie schließlich Signifikanten wie vorwärts, nebenan, nebenbei, womit, wonach, hiermit, deshalb etc. ebenso wie solche jüngeren Datums, die aus Ableitungen oder durch Lexikalisierung von Syntagmen (meist mit Präposition) entstanden sind. Mit dem Begriff ,historische Grammatik‘ ist hier eine diachrone Beschreibung gemeint; eine solche setzt voraus, dass es für unterschiedliche Sprachstadien komplette synchrone Beschreibungen gibt. Wünschenswert wäre, dass diese synchronen Bestandsaufnahmen immer nach dem gleichen Deskriptionsmodell verfahren. 1 2

1 2

Kursivdruck: Als Adverb geführt aufgrund der Überlegungen in Krause (2007c, 474 f.). Dazu Krause (2002d, 44).

Maxi Krause

124 Adpositionen

Adverbien (ohne X + (Y oder Z))

Verbalpartikeln trennbar und untrennbar

+ Ø1

DA-

HIN-

HER-

ab an auf

ab an auf

hinab (hinan) hinauf

herab heran herauf

aus

aus

Ø daran, dran darauf, drauf daraus

hinaus

heraus

bei durch gegen hinter in Ø

bei durch gegen hinter Ø [inne(n)]

dabei dadurch dagegen dahinter darin, drin ?

Ø hindurch hingegen Ø Ø hinein

herbei Ø Ø Ø Ø herein

mit nach neben über

mit nach neben über

Ø Ø Ø hinüber

Ø hernach Ø herüber

um unter

um unter

Ø hinunter

herum herunter

vor zu

vor zu

damit danach daneben darüber, drüber darum, drum darunter, drunter davor dazu

Ø hinzu

hervor herzu

ab-/heraban-/heranauf-/herauf-/hinauf-/ draufaus-/heraus-/hinaus-/ drausbei-/herbeidurchgegenhinterØ ein-/herein-/hinein-/ dreinmit- (nur 1 Verb !)2 nachneben- ( ?) über-/herüber-/ hinüberum-/herumunter-/herunter-/ hinuntervor-/hervorzu-/hinzu-

Tab. 1: Nicht flektierende Elemente heute (Auswahl)

Als Beispiel existierender synchroner Beschreibungen dient hier die von Wilhelm Braune begründete Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte, und zwar die Althochdeutsche Grammatik I und II (AHDGr), die Mittelhochdeutsche Grammatik (MHDGr) sowie die Frühneuhochdeutsche Grammatik (FNHDGr). 1.1 Bestandsaufnahme: Grammatiken Die genannten Grammatiken gliedern sich im Allgemeinen in die Großkapitel Lautlehre, Formenlehre und Syntax (fürs Althochdeutsche erstmals 2004). Semantisches bleibt weitgehend ausgespart, kommt − wenn über-

Desiderate für eine historische Grammatik nicht flektierender Elemente

125

haupt − nur sehr indirekt vor und nur in Teilaspekten, z.B. unter ,Satzarten‘ in der MHDGr § 175: ,Als Einleitung k o n z e s s i v e r Sätze fungieren: (…).‘ Am stärksten beachtet werden semantische Befunde in der AHDGr II, die als erste (und einzige) Grammatik auch den Invariablen als einer besonderen Klasse ausführlicher Beachtung schenkt. Eine Grammatik, die schon seit längerem einen Syntaxteil besitzt, ist die Mittelhochdeutsche Grammatik,3 sie mag hier als erstes Beispiel dienen. 1.1.1 Mittelhochdeutsche Grammatik Das Inhaltsverzeichnis kündigt für den Syntaxteil ein Kapitel IV an mit dem Titel ,Wortarten‘, dessen erster, größerer Teil den Declinabilia gewidmet ist (355–385), der zweite (386–387) den Indeclinabilia, in der danebenstehenden Klammer auch als Partikeln bezeichnet. Dieser zweite Teil behandelt Präpositionen, Konjunktionen und Subjunktionen sowie Interjektionen. Warum die Wortart ,Adverb‘ hier ausgespart ist, wird nicht begründet. Diese taucht nur als Kapitel IV im Teil Formenlehre auf (206–209), allerdings eingeschränkt auf Adjektivadverbien, Substantivadverbien und Steigerungsadverbien; ein viertes Unterkapitel beinhaltet die Komparation der Adjektivadverbien. Behandelt werden also ausschließlich Signifikanten, die von nominalen Basen abgeleitet oder mit solchen kombiniert sind. Im Deutschen von Beginn an invariable Elemente wie Ortsund Zeitadverbien haben kein eigenes Kapitel und auch keinen eigenen Paragraphen. Dasselbe gilt für Pronominaladverbien. Nähert man sich der Behandlung der Invariablen über das Wortregister, ist der Befund folgender – als erstes Beispiel sei hier da(r) herausgegriffen: dâ (nur Verweis auf dâr); da mite und (Konjunktion; temp. S 173,13; S 179 A.1); dâr, dar, dâ, dô (Adv.): dô, duo (Verweis auf Lautlehre 41; -r L 90); – dar M 50; dâ, dar (relativierende Partikel S 115; S 121; relat. Adv.: S 162); dar(e) (Lautlehre) + (relat. Adv. S.162, relativierende Partikel: S 115, S 121); dar bî, derbî (Adv. Satzton E 21,4); dârinne, darinne, drinne (Adv. : Satzton E 21,4; -r- L 90; M 50); dar mite, dermite (Adv.: Satzton E 21,4); darumbe (Adv. M 50); darûze, drûze (Adv.: Satzton E 21,4); da wider und (Konjunktion: adversativ S 179 A 1).

3

Paul (252007).

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Maxi Krause

Nur die beiden als Konjunktionen bezeichneten Kombinationen da mite und sowie da wider und, ferner das relative Adverb dâ, dâr, dar(e) sowie die gleichlautende relativierende Partikel werden überhaupt im Syntaxteil behandelt. Alle anderen im Register genannten Einheiten scheinen allein im Hinblick auf ihren lautlichen bzw. morphologischen Aspekt von Interesse zu sein. Allerdings enthält der mehrfach erwähnte Paragraph 50 im Morphologieteil nicht morphologische Informationen, sondern informiert über syntaktische Funktionen, angereichert mit kurzen Hinweisen auf die Semantik der genannten Elemente (in Form neuhochdeutscher Entsprechungen): 1. […] Das Rel.-Pron. wird im Mhd. oft durch die Partikeln dar, dâ, der verstärkt: dër dâ, dêr dar usw. (vgl. S. 121) 2. Relativsätze können ferner eingeleitet werden durch Adv. wie dâ ,wo‘, dannen ,woher‘, dar ,wohin‘, darinne ,worin‘, darumbe ,worum‘, dô ,damals‘, sô, alsô, als(e) ,wie‘, sam, alsam ,wie‘, dô ,als‘, dannen ,wenn‘ und ebenso mit der Konjunktion unde (s. S. 162f.). 3. […] (MHDGr S. 223f.) Die Formulierung ,Adv[erbien] wie (…)‘ im zweiten Absatz gibt zu verstehen, dass auch noch andere Adverbien Relativsätze einleiten können, verrät jedoch nichts über deren Zahl und deren Gestalt. Für hër(har), har, hier, hie, hin(e), die als Adverbien bezeichnet werden, gibt es ausschließlich Verweise auf die Lautlehre. Bei den einzelnen Präpositionen im Wortregister erfolgen Verweise auf die Lautlehre sowie auf die Paragraphen S 67, S 88, S 94, S 96 im Syntaxteil (cf. infra). Das Sachregister schließlich eröffnet ebenfalls nur begrenzten Zugriff auf invariable Elemente. Es verzeichnet unter dem Stichwort ,Präposition‘: E 21,1 (Verschmelzung mit Artikel; Prokl.); M 31 A. 1 (als Grundform zu Komp. und Sup.); M 35; M 36,4 (präp. Verbindung als Adv.; vgl. M 38 A. 2); M 45 (Instr. diu nach Präp.); Präposition als Wortart S 140; verbunden mit dem Gen. S 88; mit Dat. S 94; mit Akk. S 67; gestrandete Präpositionen S 164,3. – Zu einzelnen Präpositionen s. Wortregister. (MHDGr S. 565) Es erfolgt also wie im Wortregister Verweis auf die Paragraphen S 67, S 88, S 94, allerdings nicht auf S 96, der auf einer halben Seite den Instrumental behandelt und die Präpositionen, die mit diesem Kasus auftreten können – ohne jeglichen Hinweis auf die semantische Funktion des Kasus oder

Desiderate für eine historische Grammatik nicht flektierender Elemente

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bestimmter Präpositionen mit diesem Kasus.4 Paragraph S 140 enthält 16 Zeilen Text mit ganz allgemeinen Aussagen zur Entstehung, Entwicklung und Funktion von Präpositionen. Paragraph S 164 behandelt nur relative Anschlüsse, an denen Präpositionen beteiligt sind.5 Bleiben die bereits erwähnten Paragraphen S 67, S 88 und S 94. Zwei, nämlich S 67 und S 94, beschränken sich darauf, die Präpositionen aufzuzählen, die mit dem Akkusativ bzw. dem Dativ auftreten können (gegebenenfalls mit dem Hinweis in Klammern, welchen − oder welche − Kasus eine Präposition des weiteren toleriert); beide Paragraphen umfassen jeweils weniger als eine Seite. Paragraph S 88 bietet einen 6-zeiligen Kommentar, unterscheidet sich ansonsten in Umfang und Aufbau nicht von den anderen. An keiner Stelle ist davon die Rede, unter welchen Bedingungen bei Kasuswahl der eine oder der andere Fall bevorzugt wird, welche Art von Relationen die Präpositionen ausdrücken können (räumliche, zeitliche oder abstrakte, dynamische oder statische?), für welche Präpositionalgruppen ein entsprechendes Pronominaladverb mit da(r) und/ oder hin/her existiert und welche Relationen ein solches ausdrücken kann.

4 5

Auch der einleitende § S 54 gibt darüber keine Auskunft. Wir geben hier den Wortlaut wieder mit Kurzkommentaren unserer Hand in eckigen Klammern. „Tritt ein relativischer Anschluss in Verbindung mit einer Präp. auf, sind drei Varianten möglich: 1. Präp. + Rel. Pron. in dem von der Präp. geforderten Kasus (,Rattenfängerkonstruktion‘ wie im Nhd.); das Bezugswort im übergeordneten Satz kann unterschiedlichen Bezeichnungsklassen (± belebt) angehören: [Folgen drei Beispiele (an + DAT., 2x) + von (+ DAT., 1x)]. 2. da(r) + Präp. in direkter Nachstellung; das Bezugswort im übergeordneten Satz ist in aller Regel eine Sachbezeichnung bzw. ein Abstraktum.: [Folgen 2 Beispiele, eines mit da von, eines mit dar an]. 3. da(r) + Präp. in Fernstellung, wobei die ,gestrandete‘ Präp. normalerweise vor dem finiten Verb bzw. vor dem ersten Teil des Verbalkomplexes des Nebensatzes steht. Das Bezugswort im übergeordneten Satz ist wiederum eine Sachbezeichnung oder ein Abstraktum: [Folgen 4 Beispiele; das erste Beispiel enthält inne, welches im Wortregister fehlt]. Der sterne sprichet diu heilige schrift. der ne begab siv nie. unze daz er gestuont ob dem huse; d a daz kindelin i n n e was. HoffPr 27v vñ lege den mist an di stat. d a daz pluot v z rinnet. Barthl 8rb; diz ist daz riche d a r dv z u horis. vnde dar dv bist erbe gemachit. Salhus 22 Ich sehe ein swert vffe mir hangen d o din blut a n e gesprenget ist.HermFri 18r. [Hervorhebung durch M. Krause]. Stellungsbesonderheiten: die Präp. steht noch vor einer Angabe: want er ist daz ware osterlich lamp. d a ir m i t hiut scult gespiset uñ gefuort werden. unt da ir scult nemen. die wirtscaft der ewigen urstende. RothPr 19b; die Präp. steht innerhalb des Verbalkkomplexes: (…) unt wuorden durch ir ungehorsam verstozen der gnaden. da sie got het z u o geschaffen HoffPr 30r; in verschränkter Konstruktion: suilich man den da heime svchit (…) mit so getanin dingen d a ein menschi willin heit dimi andiren m i t e zv nemini lib vnde eri Mühlh 4r.“ [Fettdruck durch M.Krause, mit 〈o〉 überschriebenes 〈u〉 wurde aufgelöst zu 〈uo〉].

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Unter ,Adverb‘ verweist das Sachregister nur auf Paragraphen zur Lautlehre und zur Formenlehre. Stichworte wie ,Anapher‘, ,Katapher‘, ,Deixis‘, ,Referenz‘ oder ,Verweis(-)‘ bzw. die entsprechenden Adjektive sind nicht vorhanden, ebenso fehlt ein Eintrag ,Pronominaladverb(ien)‘ oder ‚Präpositionaladverb(ien)‘. Der Systematisierungsvorschlag von J. Wiktorowicz zu den temporalen Adverbien erscheint zwar in der Bibliographie, wird aber − es sei denn, ich hätte etwas übersehen − weder im Kapitel IV der Formenlehre (Adverbien), noch in Kapitel IV (Unterkapitel 11) im Syntaxteil (Indeclinabilia) erwähnt. 1.1.2 Frühneuhochdeutsche Grammatik Das Sachregister6 sieht auf den ersten Blick vielversprechend aus, allerdings erfährt man auch hier nirgendwo, unter welchen Bedingungen eine Präposition X mit Kasuswahl sich mit einem Kasus Y verbindet (nur etwas längere Listen in jeweils einem Paragraphen), welche Relationen es überhaupt gibt, welche Relationen auch von Pronominaladverbien getragen werden können; ebenso vermisst man eine genaue Definition dessen, was als Präpositionaladverb angesehen wird und was unter Präfix zu verstehen ist. Beide werden anscheinend als austauschbar angesehen: § S 200 (unter dem Titel „zur Wortstellung in Objektsätzen“): 3. Bei Verben mit Präpositionaladverb (trennbarem Präfix) findet sich in Hauptsätzen die Abfolge Präfix vor Infinitiv: (…) dornach hebt er aller erst sein noth a n zu ertzel) M. v. Weida 51, … stiege ich zu ihm ins Grab hinunter/und fieng ihn a n zu schütteln/zu küssen und zu liebeln Simpl. 36. § 245 (unter dem Titel „Sätze mit Nachfeld (Ausklammerung)“) Ein Nachfeld entsteht in Fällen, wo Elemente nach dem finiten Verb bzw. Verbalkomplex im Nebensatz oder nach den infinitiven Verb6

P r ä p o s i t i o n : S 5; 88; 128–156; 267f; mit Gen. S 90; 132; mit Dat. S 105; 132; 134; mit Akk. S 125; mit Infinitivergänzung S 188; Ersparung der von der Präp. abhängigen Größe S 130; s. auch Postposition, Zirkumposition; nachfolgende Flexion des Adjektivs M 40. P r ä p o s i t i o n a l a d v e r b : S 11 [Dort taucht der Terminus Präpositionaladverb nicht auf, es ist nur von Possessiva „und anderen Pronomina“ die Rede, für die auf S 16 verwiesen wird. Anm. M. Krause]; 94; 200; 236; 244f.; 248. P r ä p o s i t i o n a l g r u p p e S 2; 18; 22; 41; 52; 72; 95; 128–156; 225; 231; 246f.; 249f.; bei Präposition S 135; prädikativ S 155; adverbial S 156; Präpositionalattribut S 1; 50–52; Präpositionalfügung mit für/vor als Variante neben dem Dat. S 97, Anm. 1, als Variante neben dem Akk. S 115; Präpositionalaobjekt S 62; 66; 70; 73; 84; 94; 111; 117; 120f.; 131; 142–154; 183; 216; 231; 280.

Desiderate für eine historische Grammatik nicht flektierender Elemente

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formen bzw. nach dem trennbaren Präfix (Präpositionaladverb) im Hauptsatz stehen: …daz du mich nie versmeht hast in meinem leiden C. Ebner 18, welre pfaffe ouch wider sü rette, der mohte kume genesen vor dem volke Closener 119, die juden hi waren gesessen zu mittelst auf dem platz Stromer 25. Quelle

engere Thematik

Adpositionen

DA-/HIER- / HIN-/HER- + X bzw. X + …

Verbalpartikeln

AHDGr II

Syntax

+





Semantik

+





Inventar mögl. Relationen

+





Distributionsregeln

+





mögl. Funktion von Pron.- Adv.







Syntax

(+)

(+) (sehr begrenzt) (nur zu DA; nichts zu den übrigen)



Semantik







Inventar mögl. Relationen







Distributionsregeln







mögl. Funktion von Pron. Adv.







MHDGr + FRNHGr

+ = wird behandelt; − wird nicht behandelt Tab. 2: Bestandsaufnahme Grammatiken

130

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Keines der letzten drei Beispiele enthält ein trennbares Präfix oder ein Präpositionaladverb. Keine der drei genannten Grammatiken behandelt Zusammenhänge zwischen Adposition und Partikelverben, z.B. von Typ über die weiße Linie fahren – die weiße Linie überfahren u. ä. Im Bereich der Grammatiken besteht also unbestritten Bedarf. 1.2 Bestandsaufnahme: Wörterbücher Wörterbücher kümmern sich um Wörter − können aber nicht umhin, auch die Umgebung von Wörtern mit in ihre Beschreibung einzubeziehen. Insofern sollten sie sich auf Grammatiken stützen können − was, wie oben erwähnt, gerade im Bereich der Invariablen fast nicht möglich ist, so dass die Lexikographie (auch die der zur Zeit entstehenden Wörterbücher) nolens volens versuchen musste bzw. muss, ohne eine solche Grundlage zurechtzukommen. 1.2.1 Mittelhochdeutsches Wörterbuch (BMZ) Das große mittelhochdeutsche Wörterbuch von Benecke/Müller/Zarncke, welches hier parallel zu einer mittelhochdeutchen Grammatik als Beispiel herangezogen wird, widmet den einzelnen Invariablen zum Teil sehr lange Artikel, die auch Hinweise auf ihr syntaktisches Verhalten und ihre Semantik enthalten, leistet also teilweise das, was eigentlich Aufgabe einer Grammatik ist. Die Darstellung bleibt jedoch isoliert bezogen auf den jeweiligen Signifikanten, so dass dessen Zugehörigkeit zu Systemen nicht zu erkennen ist und damit auch nicht deutlich wird, wo sich möglicherweise − im Verhältnis zu anderen Signifikanten − Komplementarität, Kooperation oder Konkurrenz ergibt. 1.2.2 Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (FRNHDWB) Das im Entstehen begriffene Frühneuhochdeutsche Wörterbuch hat Bildungen mit da- bereits vollständig publiziert, stellt dort allerdings explizit keine Beziehung her zu den entsprechenden Adpositionen. Beispiel AN: Für die Präposition folgt der Wörterbuchartikel dem Schema (1–4) raumbezogen, (5–10) zeitbezogen, (11–16) kaum oder nicht mehr mit Raum- oder Zeitaspekten assoziierbar. Für DARAN ist die Reihenfolge: (1) Lokaladv. zum Ausdruck der Situiertheit (…),

Desiderate für eine historische Grammatik nicht flektierender Elemente

131

(2) Lokaladv. zum Ausdruck der Bewegungsrichtung (…), (3) zum Ausdruck der Ausrichtung eines Geschehens (4) Temporaladv. (5) Kausaladv. (6) Lokaladv. zum Ausdruck der Situierung eines Gegenstandes (…) auf der Oberfläche einer Bezugsgröße. Eine strikte Einteilung nach Domänen findet also nicht statt, sowohl am Anfang wie am Ende wird eine Verwendung als Lokaladverb behandelt. 1.3 Bestandsaufnahme: Überblicksartikel Grundlage ist hier das von W. Besch u.a. herausgegebene vierbändige Werk Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Befragt wurden Artikel zum Sprachwandel allgemein, zur Lexikologie und Lexikographie, zu Graphetik und Graphemik, zur Morphologie sowie zur Wortbildung. Invariable Elemente finden dort fast keine Erwähnung. Eine Ausnahme bildet der Artikel von E. Leiss,7 in dem sie u.a. einen Mangel feststellt: „Wortstellungsregularitäten sind gut untersucht, doch fehlen Untersuchungen zur syntaktischen Distribution von freien grammatischen Morphemen, d.h. Auxiliaren, die im weiteren Sinne auch Präpositionen und Artikel umfassen“ (852). Dort ist an späterer Stelle auch zumindest von Präpositionen die Rede. Allerdings thematisiert keiner der befragten Artikel8 das, was heute noch als Forschungslücke dringend der Aufarbeitung bedarf (cf. infra, Abschnitt 6).

2. Ziel einer systematischen Deskription Ziel der Beschreibung sind Erkenntnisse zu – S y n t a x u n d S e m a n t i k d e r I n v a r i a b l e n : (a) Dazu gehört als erstes, das Signifikat eines einfachen invariablen Elements herauszuarbeiten, da davon auszugehen ist, dass dieses Signifikat in Kompositionen erhalten bleibt, und seien es auch nur einige seiner Merkmale. So hat nhd. an das Signifikat ,Kontakt‘ (welches das Konzept ,unmittelbare Nähe‘ mit einschließt).9 Dieses Signifikat bleibt in abstrakten Verwendungen sowohl in daran wie in heran erhalten, ebenso in der Verbalpartikel an-. (b) Es genügt nicht, nur festzustellen, dass eine Adposition unterschiedliche Kasus

7 8 9

HSK 2.1, Nr. 48. Cf. Bibliographie Krause (1994, 128f.).

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AB

AN

Zahl der Abschnitte im WB

Zahl der Abschnitte im WB

Zahl d. Abschnitte im WB (Reduktion von… auf…)

Domäne Raum Zeit Abstraktes

Präp. 2 – 3

DA + X 1 – 3

Präp.

Raum Zeit Abstraktes

4 6 6

2 1 1

→ DA + X

AB

5 → 3

AN

16 → 5

DARAN

AUF 16 → 6

DARAUF

DARAB

AUF

gesamt

BEI

Raum Zeit Abstraktes

4 2 13

3 1 1

BEI 19 → 5

DABEI

Raum Zeit Abstraktes

5 5 5

2 1 1

IN

15 → 4

DARIN

IN

(hier nicht berücksichtigt: darein, darinnen) Tab. 3: Selektierendes Verhalten von DA + X (am Beispiel des FRNHDWB)10:

regiert. Häufig betrifft dies nicht nur eine Adposition, sondern mehrere und häufig sind auch die Regeln, nach denen eine Kasuswahl erfolgt, für mehrere Adpositionen dieselben (z.B. Akkusativ bei spatialen direktiven Relationen des Sytems B, cf. infra). (c) Es genügt ferner nicht, sich auf die Feststellung zu beschränken, dass zu einem einfachen Element X auch eine zusammengesetzte Einheit DA + X oder HIN + X existiert. Denn selbst wenn eine solche Einheit existiert, kann sie nicht in allen Fällen für ein X + Nomen eintreten. So entspricht zwar einem Vo n d e r e n S c h e i d u n g hab ich ja gar nichts gewusst ein D a v o n hab ich ja gar nichts gewusst, einem v o n 1 9 4 5 bis 1989 steht allerdings ein v o n d a a n bis 1989 gegenüber und nicht * d a v o n bis 1989; genau so wenig existiert eine Entsprechung im räumlichen Bereich: Er ist v o m S t u h l gefallen – 10 Die Tabelle beschränkt sich auf die Signifikanten, zu denen im September 2009 der jeweilige Artikel zur morphologisch entsprechenden Adposition bereits erschienen war.

Desiderate für eine historische Grammatik nicht flektierender Elemente

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*Er ist d a v o n gefallen, allerdings kann durch ein HER + Y substituiert werden: Er ist h e r u n t e r gefallen.11 Deutlich wird das im FRNHDWB, man vergleiche dazu die Tabelle 3, die zeigt, dass die Zahl der Verwendungsmöglichkeiten für die DA + X-Bildungen sehr viel geringer ist als die Zahl der für die Präposition festgestellten. Derartige Einschränkungen im Gebrauch lassen sich allerdings nur feststellen, wenn es ein festes Raster an Relationen gibt, das heißt eine Systematik der Relationen. – D i s t r i b u t i o n d e r S i g n i f i k a n t e n : Eine Facette des Problems der Distribution wurde oben bereits angesprochen. Allgemeiner lässt es sich umschreiben mit den Begriffen Konkurrenz, Komplementarität12 und Kooperation. Dies gilt es herauszuarbeiten. So gibt es z.B. im Ahd. Konkurrenz zwischen furi und fora im spatialen Bereich, heute ist allein vor noch in der Lage, spatiale Relationen auszudrücken, für dagegen spezialisiert auf temporale und abstrakte Relationen.13 Konkurrenz herrscht nhd. zwischen den Kombinationen hinter + DAT. + her und DAT. + nach beim Ausdruck des Verfolgens mittels Blick oder Stimme. Diese Konkurrenz ist meist aufgehoben, wenn es um Verfolgung mittels Fortbewegung geht.14 Komplementarität herrscht zum Beispiel zwischen temporal gebrauchtem in + DAT. und an + DAT.,15 so steht nicht austauschbar am Donnerstag, aber im Sommer. Kooperation16 schließlich lässt sich zum Beispiel beobachten für nhd. Verben mit der Partikel ein-, die ein Einwirken(wollen) ausdrücken und die Präposition auf + AKK., welche das Nomen einführt, das die Person oder den Gegenstand benennt, die diesem Prozess ausgesetzt sind: z.B. einreden, -flüstern, -schreien, -schlagen, -prügeln, -wirken + auf (Akk.). Zum Ausdruck des Kontaktverlusts gibt es die komplementär verteilten Elemente ab- (Verbalpartikel) und von (Präposition), die allerdings auch kooperieren können: Die alten Tapeten v o n d e r Wa n d kratzen − die alten Tapeten a b kratzen − die alten Tapeten v o n d e r Wa n d a b kratzen. – F u n k t i o n d e r S i g n i f i k a n t e n : Diese ist relativ leicht festzustellen für einfache primäre Elemente wie an, in, auf etc. Tauchen diese in Ver-

11 Herunter ist in dem Fall als Adverb (Substitut) zu betrachten und nicht als Verbalpartikel, dazu Krause (1998, 207f., 2007b, 19f.). 12 Im Sinne von ,komplementär distribuiert‘. 13 Letzter Abglanz seiner spatialen Vergangenheit ist die lexikalisierte Fügung Schritt für Schritt sowie der etwas altertümliche Liedtext Ich ging im Walde so für mich hin… (Goethe). 14 (System A, Sub-System des Verfolgens) „…“ rief er hinter ihr her/rief er ihr nach. Dazu Marcq (1988a, 111, Anm. 3) 15 System II (mit linearer Bezugsgröße), statische Relation; dazu Krause (1997, 236). 16 Heute hat sich dafür der Terminus ,Kollokation‘ eingebürgert, Coseriu (1967) sprach von ,lexikalischen Solidaritäten‘.

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bindung mit nachfolgenden Nomina auf, handelt es sich um Präpositionen. Komplizierter liegen die Dinge bei Nachstellung, da hier durchaus umstritten sein kann, ob man es mit Postpositionen zu tun hat oder mit Verbalpartikeln (z.B. im Falle von nach),17 mit Zirkumpositionen oder Verbalpartikeln. Komplizierter wird es auch für mehrteilige Signifikanten (Zirkumpositionen). In der FRNHDGr zum Beispiel wird in S 135, Abs. 4 zwar begründet, warum bestimmte Kombinationen als Zirkumpositionen zu betrachten seien (z.B. von…wegen, um…willen), eine Begründung für die Feststellung in S 128 − „Den Anschein von Zirkumpositionen haben Verbindungen aus Präpositionalgruppe und nachgestelltem Adverb, z.B. auf/gegen/nach + Nominalgruppe + zu, von + Nominalgruppe + aus/an (…).“ − fehlt jedoch. Die Aussage ist unseres Erachtens auch nicht haltbar (cf. dazu Desportes 1984). Bezüglich der mit her oder hin zusammengesetzten Signifkanten stellt sich die Frage, ob man es mit dem zweiten Teil einer Zirkumposition, einer Postposition, einem Substitut oder einer Verbalpartikel zu tun hat,18 bei den mit dar zusammengesetzten ist zu klären, ob sie als Pro-Form (Substitut) fungieren oder als Konnektor oder als Verbalpartikel. Für Substitute, vor allem auch die Verbindungen mit da, wo, und hier ist zu klären, welche Relationen sie im einzelnen tragen können (cf. supra) und worauf sie referieren können (anaphorisch, kataphorisch, exophorisch? Auf Belebtes oder Unbelebtes? etc.). Die folgenden Beispiele mögen diese Fragestellungen nochmals illustrieren: (1) Ein Tisch. Darauf eine Zeitung… „Die Zeitung bitte da drauf.“ (2) Ein Berg. *Sie gehen darauf. Sie gehen hinauf / rauf / da hinauf / da rauf. (3) Von 1945 bis heute. *Davon bis heute. (4) Er kommt von Köln. Dem entspricht nicht Er kommt davon. Er kommt da°von [Verbalpartikel]. (= wird wieder gesund) Das °kommt davon. [Substitut] (= nämlich vom Rauchen) Von Che°mie / °davon verstehe ich nichts. [Substitut] etc. [° markiert den Hauptton] (5) Am Fenster stand ein Tisch, daneben ein Gummibaum. *hierneben ein Gummibaum.19

17 Dazu Marcq (1988a, 17, 111, Anm. 3); Krause (1998, 244ff.). 18 Cf. Krause (1998b) und (2007c). 19 Obwohl die Dudengrammatik (72005 sowie 82009) die Existenz von hierneben und

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Vermutlich sind Bildungen mit hier- spezialisiert auf nicht-spatiale Relationen. Genau diese Fragen stellen sich auch bei diachronischer Perspektive. Und hier ist die Notwendigkeit einer Systematik noch deutlicher zu machen. Dazu das Beispiel DA + X:20 Rein phonetisch betrachtet gehen DA + X-Bildungen zurück auf Kombinationen von thar(a) + invariables Element. Allerdings gehen nicht alle DA + X-Bildungen auch semantisch auf thar(a) + X zurück, sondern auf thar(a) + Y oder Z, oder aber auf ganz andere Kombinationen, was schon ein beliebiger Blick in Schützeichels Wörterbuch verdeutlicht: Dort steht zum Beispiel unter t h a r ( a ) z u a : Adv. dazu, hinzu; dahin, dorthin; daran, darauf; dafür, damit; außerdem, sowie unter t h a r m i t ( i ) : Adv., damit, dabei, dazu; zugleich, außerdem; daher, folglich. Daraus ist im Umkehrschluß zu folgern: Semantischer Vorgänger von damit ist – neben tharmit(i) – auch tharzua, also rein morphologisch betrachtet der Vorgänger von dazu. Deren Äquivalenz tritt aber erst dann zutage, wenn ich die von ihnen getragenen Relationen metasprachlich genau definiert habe. Diese kurze Gegenüberstellung dürfte genügen, um die Notwendigkeit einer systematischen Untersuchung zu illustrieren.

3. Grundgedanken Eine Grammatik der Invariablen sollte einige Grundsätze berücksichtigen. Dazu gehören: Ein invariabler Signifikant X hat im Prinzip ein einziges Signifikat, d.h. eine Menge von distinktiven Merkmalen, die entweder alle gleich-

herzwischen behauptet (mit dem Kommentar „äußerst selten“), findet sich für hierneben im dwds ein einziger Beleg (aus dem Jahre 1916, nicht spatial), im Leipziger Wortschatz keiner, Cosmas Iweb (alle öffentlichen schriftlichen Korpora) verzeichnet 5 Treffer, davon keinen mit spatialer Bedeutung; zu hierzwischen verzeichnen alle drei genannten Quellen null Treffer. Für nicht als selten gekennzeichnetes, in den (nicht überzeugenden) Beispielen allerdings verwendetes hierein verzeichnet das dwds nach Anmeldung drei Treffer (wobei einer als Zitat aus dem Jahre 1590 stammt, die beiden anderen beide nicht spatial verwendetes hierein illustrieren, aus den Jahren 1927 und 1954), der Leipziger Wortschatz bietet zwei Treffer; Cosmas IIweb [geschriebene Sprache, alle öffentlichen Korpora] zeigt 23 Treffer an (davon sind vier aus dem 19. Jh. − mit zwei identischen Belegen; zwei geben das gleichlautende Zitat aus einer Ilias-Übersetzung wieder; zwei mit Sicherheit, ein dritter Treffer mit großer Wahrscheinlichkeit resultieren aus unbeabsichtigten Zusammenschreibungen von hier und unbestimmtem Artikel ein, so dass 14 Treffer übrig bleiben, wobei nur vier eindeutig konkret spatial sind. Zum Vergleich die Trefferzahlen des dwds für darin: 19.856, drin 2.369, herein: 2.762. 20 Dazu Krause (2003) sowie (2007c).

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zeitig oder aber auch nur teilweise aktualisiert werden und zwar je nach Funktionsbereich (Raum, Zeit, Abstraktes), nach Zugehörigkeit zu einem System oder Subsystem von Relationen sowie nach Erscheinungsweise (als Adposition, Adverb oder Teil von Adverbien, trennbare oder untrennbare Verbalpartikel). Polysem ist im Allgemeinen nicht die Adposition, sondern die ganze Präpositionalphrase.21 Relationen lassen sich systematisieren nach Funktionsbereich (= ,Anwendungsbereich‘) − Raum, Zeit, Abstraktes − sowie nach nach bereichsspezifischen Kriterien (z.B. ± Achsenbezug (Raum); lineare oder punktuelle Bezugsgröße (Zeit) und noch zu entwickelnden Kriterien (Abstraktes)). Systematisierung ist unabdingbar für den Vergleich, sei es unterschiedlicher Sprachen (synchron, kontrastiv), sei es unterschiedlicher Sprachstadien (diachron). Im Bereich der Diachronie: Erst die Systematisierung gestattet präzise Aussagen zu Sprachwandelprozessen. Erstes Beispiel: Das Deutsche verfügt über die Möglichkeit, mittels Verbalpartikeln auszudrücken, dass ein Prozess ohne bestimmtes Ziel, ohne bestimmte Orientierung realisiert wird. Im NHD leistet dies vor allem herum- (cf. herumsitzen, -lesen, -wurschteln etc.),22 welches sich mit einer Unmenge von Vollverben verbinden kann. Im 16. Jahrhundert konnte dasselbe durch einfaches vmb- ausgedrückt werden.23 Laut FRNHDWB24 − aber das ist ein Zufallsfund! − konnte dies auch durch after und darafter geleistet werden, die beide zum Nhd. hin verschwunden sind. Zweites Beispiel: Erst ein feststehendes Raster bestehender spatialer und temporaler Relationen gestattet es, genau festzustellen, was ahd. after in den verschiedenen Bereichen ausdrücken kann und wodurch es nach und nach ersetzt wurde (nämlich durch nach, hinter + DAT. + her)25 und, siehe oben, durch herum bzw. umher. Drittes Beispiel: In der FRNDHDGr in S 90 ist zu lesen: „Der Genitiv war im Mhd. nach Präpositionen verhältnismäßig selten. Es fanden sich meist neutrales des oder Genitive der Personalpronomina bei Präpositionen, die vorwiegend mit Dativ oder Akkusativ konstruiert waren. Dieser

21 22 23 24 25

Dazu Krause (2009b). In geringerem Maße auch umher (schriftsprachlich). Cf. Krause (2007a, 31f.); bei Nachtgall ist noch kein herumb- in dieser Funktion vorhanden. Bd. I, Spalte 681, Ziffer 9 (after) sowie Bd. V, Lieferung 1, Spalte 174, Ziffer 1 (darafter). Zur Geschichte der räumlichen Relationen cf. Desportes (1984).

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Gebrauch begegnet noch frnhd. bei mehreren lokalen und temporalen Präpositionen, z.B. after des, binnen des (…).“ Der Verdacht drängt sich auf, dass man es mit Entsprechungen zu früheren Kombinationen mit Instrumental zu tun hat − eine Überprüfung ist aber auch hier nur möglich, wenn man innerhalb genau umrissener semantischer Raster bleibt. Temporale und abstrakte Relationen lassen sich in den allermeisten Fällen ableiten aus spatialen Relationen, weshalb es sinnvoll ist, mit der Beschreibung der spatialen Relationen zu beginnen. Dieser Ansicht scheint auch das FRNHDWB zuzuneigen, denn es kommt zu Aussagen wie (z.B. bezüglich bei): „Die Raumpräposition kann als Ausgangspunkt für Übertragungen auf zeitliche, modale (usw.) Verhältnisse angesehen werden (…).“ (Bd. 3, Spalte 842). Morphosyntaktische Faktoren sind von Bedeutung für den semantischen Wert eines einfachen X oder eines X in Zusammensetzung. Das heißt, von Belang sind: – die interne Struktur von Präpositionalphrasen, wobei wiederum eine Rolle spielen kann, ob ein Determinativum vorhanden ist oder nicht, ob die Nominalphrase Attribute aufweist (und wenn ja: links oder rechts von N?), auch die Struktur der Attribute kann die Distribution regeln. Ein einziges Beispiel mag hier genügen: (6) vor Angst/Wut/Freude/Kälte zittert sie [− Determinativ: der Auslöser einer Reaktion liegt im Menschen selbst] vor diesem (strengen) Professor/dieser kniffligen Frag zittert sie/läuft sie davon [+ Determinativ: der Auslöser einer Reaktion liegt außerhalb des Menschen] – der Numerus von N26 (7) durch den Baum [= der Baum hat (oder bekommt) ein Loch; frz. ‚passer par/à travers‘]27

26 Der Vergleich mit dem Französischen lässt hier deutlicher werden, dass es sich um zwei unterschiedliche Konstellationen handelt, deshalb sind die Übersetzungen in Klammern mit angegeben. 27 Marcq (1988a, 22) ordnet es dem System II (Sub-System des Ausweichens) zu, Krause (1998, 189f.) ebenfalls, allerdings dem Sub-System des Ausweichens.

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(8) durch die Bäume [= zwischen den Bäumen (hin)durch; frz. passer entre]28 – die Einbettung der Präpositionalphrase/des Adverbs, wobei eine Rolle spielen kann, ob sie (oder es) Teil einer Nominalphrase ist oder einer Verbalphrase und welche Positionen jeweils möglich sind: (9) Er hat dabei (sogar) gelacht. [temporal] Dabei hat er (doch) gelacht. [oppositiv; dann nur satzeinleitend] – die Semantik der umgebenden Teile (d.h. sowohl Ko-Text wie KonText): Erstes Beispiel: (10) auf das Haus [ambig ohne Kontext] Er blickt auf das Haus. [spatial; System A, Sub-System der Annäherung; dynamisch]29 Der Baum stürzte auf das Haus. [spatial; System B, Achse oben – unten, direktiv]30 Er freut sich auf das Haus. [temporal; Relation des Erwartens]31 Der Artikel nimmt ausdrücklich Bezug auf das Haus. [abstrakt; Herstellen eines Verhältnisses zwischen A und B]32 Zweites Beispiel: (11) Er hat sie gestern angefahren. [ambig ohne Kontext] die Kohlen hierher transportiert. Emil hat die alte Frau verletzt. seine Frau angebrüllt. die Maschine in Gang gesetzt.

4. Etappen der Deskription Es hat sich als sinnvoll erwiesen, in folgender Reihenfolge zu verfahren: (1) Adpositionen, (2) Adverbien, (3) Verbalpartikeln.

28 Cf. Krause (1998, 194f.) System II, Sub-System INTER (durch fehlt in dieser Verwendung bei Marcq 1988). 29 Dazu Krause (1998, 29f.). 30 Dazu Krause (1998, 37f.). 31 Dazu Krause (1998, 71f.). 32 Dazu Krause (1998, 88f.).

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4.1 Beschreibung der Adpositionen [sowie z.T. Ø + NP im Akk./Gen.] Diese Elemente an den Beginn jeder Untersuchung zu stellen, ist fürs Deutsche insofern sinnvoll, als sie eine sehr große Bandbreite an Verwendungsweisen besitzen, d.h. ihr Auftreten ist syntaktisch und semantisch breiter gestreut als das der Adverbien, wie oben bereits gezeigt wurde. Für die von Adpositionen getragenen räumlichen und zeitlichen Relationen ist ein Modell für eine Systematik bereits vorhanden (cf. infra). Adverbiale Nominalgruppen sollten in die Systematik mit einbezogen werden (z.B. temporale Akkusative und Genitive), da sie z.T. konkurrierend auftreten. So steht z.B. im Gegenwartsdeutschen der Akkusativ in Konkurrenz zu an + DAT. beim Ausdruck der statischen Relation im System II der temporalen Relationen (letzten Montag – am letzten Montag). 4.2 Beschreibung der Adverbien Adverbien erst an zweiter Stelle zu untersuchen bietet sich deshalb an, weil einfache und zusammengesetzte Adverbien oft nur bestimmte Facetten der morphologisch völlig oder teilweise identischen Adpositionen realisieren (cf. supra die Anmerkungen zu da + x und hier + x). Die große Menge der übrigen Adverbien lässt sich teilweise in das vorgeschlagene Raster von Relationen einordnen, z.T. ist die Systematik auch erst zu erarbeiten (vor allem was den Bereich des Abstrakten betrifft). Hier wären unbedingt auch die beiden Bände von J. Wiktorowicz zu den temporalen Adverbien im Mhd. und Frnhd. mit einzubeziehen. 4.3 Beschreibung der Verbalpartikeln Verbalpartikeln lassen sich erst nach der genauen Beschreibung von einfachen/zusammengesetzten Adverbien und Adpositionen präzise isolieren. Schon allein deshalb ist es sinnvoll, ihre Beschreibung jener der beiden anderen Klassen nachzustellen, umso mehr, als die Abgrenzung Adposition (mit Ellipse) – Adverb (2.Teil in Distanzstellung?) − Verbalpartikel umstritten ist. Beispiel: heraus kann Adverb sein und einer einfachen Präpositionalphrase aus + DAT. entsprechen: (12) Mit vereinten Kräften zogen sie sie aus dem Wasser. Mit vereinten Kräften zogen sie sie heraus.

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Es kann aber auch Verbalpartikel33 sein: (13) Hast Du herausgekriegt, wo sie wohnt? Zu vermeiden sind sowohl für die Adverbien wie für die Verbalpartikeln Corpora, die auf sog. ,normalisierter‘ Schreibung beruhen bzw. eine Normalisierung der Schreibung in der Grammatik,34 wie z.B. in der MHDGr. Radikaler formuliert: für eine diachrone Grammatik ist jegliche Normalisierung im Grunde ein Akt der Verschleierung. Die Diskussionen um die Rechtschreibreform sowie die Diskussion zur Abgrenzung von Verbalpartikeln − beide das Neuhochdeutsche betreffend − haben gezeigt und zeigen, dass weder im einen noch im anderen Bereich Einigkeit herrscht. Eine Geschichte der Getrennt- und Zusammenschreibung steht m.W. noch aus. Eine ,Normalisierung‘ ist also ein Ding der Unmöglichkeit zum jetzigen Zeitpunkt (und möglicherweise überhaupt). Eine auf den morphologisch identischen ,freien‘ Invariablen (Adpositionen und Adverbien) basierende Deskription der Verbalpartikeln − und damit: der entsprechenden Partikelverben − hätte u.a. den Vorteil, dass sich daraus Einteilungen ergeben, die es gestatten, gruppenspezifisch semantisch-syntaktisches Verhalten herauszuarbeiten und damit von einer rein wörterbuchmäßigen, eher atomistischen Beschreibung der Verbvalenz zu Valenzgruppen zu gelangen und damit eine sehr viel größere Anzahl von Verben zu erfassen als dies in Valenzwörterbüchern der Fall ist.35 4.4 Beschreibung getrennt nach Anwendungsbereichen Da räumliche Relationen von fundamentaler Bedeutung36 sind, ist es sinnvoll, immer in der gleichen Reihenfolge zu verfahren: Raum, Zeit, 33 Zu deren Abgrenzung cf. Krause (2007b). 34 Auf die sich Heinz-Peter Prell im Vorwort zur Überarbeitung des Syntaxteil der MHDGr beruft. Allerdings präzisiert er nicht, nach welchen Kriterien diese ,Normalisierung‘ vorgenommen wurde: „Die neu aufgenommenen P r o s a b e l e g e werden im Prinzip nach der Handschrift wiedergegeben, allerdings mit etlichen Lesehilfen (Auflösung eindeutiger Abbreviaturen und Nasalstriche; teilweise Normalisierung der Distribution von u und v, vor allem im Anlaut; N o r m a l i s i e r u n g v o n G e t r e n n t - u n d Zusammenschreibung bei Präpositionen, Präfixen, ,Komposita‘ u n d k l i t i s c h e n P r o n o m i n a ; Vereinfachung, jedoch keine Modernisierung, der Interpunktion). Vorhandene Editionen wurden zu Rate gezogen.“ (Paul 252007, VIII; Hervorhebung durch M. Krause). 35 Cf. dazu Krause (1988) sowie die jeweiligen Kapitel in Krause (1994) und (1998). 36 Mit Ausnahme von seit und während beruhen alle heute mittels Adpositionen und Adverbien ausgedrückten temporalen Relationen auf spatialer Metaphorik (cf. Krause 2008). Dass spatial verwendete Adpositionen sich auf den Ausdruck nicht-spatialer

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Abstraktes (etwas, was im FRNHDWB teilweise so realisiert ist). Bei Verbalpartikeln liegt die Sache etwas komplizierter: Jede Verbalpartikel verhält sich anders und so ist auch die Beschreibung jeder einzelnen Partikel ein jeweils neu zu bedenkender Akt. Allerdings hat sich herausgestellt,37 dass die unterschiedlichen semantischen Funktionen einer Partikel mit wenigen Ausnahmen38 ableitbar sind aus einem einzigen Signifikat, welches übereinstimmt mit jenem der morphologisch identischen Adposition oder des entsprechenden Adverbs. Dieses Signifikat ist in den allermeisten Fällen spatial verankert (auch wenn es so abstrakt ist wie jenes von auf: ,Direktivität‘).39 Innerhalb eines jeden Anwendungsbereichs sollte die Deskription geordnet nach Systemen und Sub-Systemen vorgenommen werden, jeweils mit Blick auf das syntaktische Verhalten des Signifikanten und seiner Umgebung sowie auf die semantischen Besonderheiten der Partner.

5. Modell einer möglichen Systematik Als Modell für eine systematische Beschreibung bietet sich die Systematik von Philippe Marcq an. Sie entstand aus einer Untersuchung der spatial verwendeten Präpositionen im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen und führte zu einer ersten Systematik aller in den untersuchten Texten auffindbaren räumlichen Relationen und zu einer ersten Systematik der heute bestehenden Relationen.40 Später hat Marcq auch die temporalen Relationen systematisiert.41 Eine Systematik der abstrakten Relationen steht noch aus. Aufbauend auf Marcq hat Desportes 1984 die diachrone Studie der spatial verwendeten Präpositionen vom 13. bis ins 20. Jahrhundert fortgesetzt und Marcq hat in Einzeluntersuchungen bestimmte Signifikanten in ihrer Verwendung als Adposition und als Verbalpartikel

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Relationen spezialisieren (und nicht mehr für Räumliches zur Verfügung stehen), ist historisch belegt: So nhd. für. Dass eine Adposition, die ursprünglich nur temporale oder abstrakte Relationen ausdrückte, die Fähigkeit erworben hätte, auch räumliche Relationen auszudrücken, ist mir nicht bekannt. Sowohl in der Beschreibung gotischer wie bei der Beschreibung ahd./mhd. und nhd. Verbalpartikeln, cf. Marcq (1980, 1982, 1983, 1988b, 1984, 1992) und Krause (1987, 1994, 1998, 2002a, c). Dazu gehören z.B. die Homonyme unter (cf. lat. infra) und unter (cf. lat. inter). Cf. Marcq (1988b, 40), Krause (1998, 131ff.). Marcq (1972); sie wurde bislang übernommen bzw. als Basis für eine Auseinandersetzung mit dem Thema verwendet von Desportes (1984), Krause (sowohl diachron wie synchron und für das Gotische), Romare (2002) und Schrodt (2004). Sie ist zudem Grundlage der gerade im Entstehen begriffenen Reihe Spatiale Relationen kontrastiv (Tübingen). Marcq (1978) (zum Tatian) und (1988a) (zum Gegenwartsdeutsch), bislang übernommen von Krause (synchron und diachron) und Schrodt (2004).

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sowohl synchron als auch diachron untersucht.42 Ebenfalls in Anlehnung an Marcq umschließen unsere eigenen Arbeiten bislang synchrone Studien zu den Adpositionen und Verbalpartikeln des Gotischen, zu den temporalen Relationen des Gotischen und Althochdeutschen, ferner synchrone Studien zu den Adpositionen, DA+X- sowie HIN-/HER-+X-Bildungen und Verbalpartikeln im Frühneuhochdeutschen und Gegenwartsdeutschen sowie diachrone Untersuchungen temporaler Akkusative und Genitive, der DA + X-Bildungen und schließlich grundsätzliche Überlegungen zu deren Geschichte. Das Marcq’sche Modell soll hier nur stichwortartig skizziert werden: RAUM Die spatialen Relationen lassen sich in 4 Systeme gliedern:43 S y s t e m A 44 ( ← S y s t e m I I ) Hier wird ohne Bezug auf die drei euklidschen Achsen lokalisiert, wozu grundsätzlich zwei Teilnehmer gehören, die belebt oder unbelebt sein können und einander als Bezugsgröße dienen. Dieses System besitzt 4 Sub-Systeme: Sub-System INTER (5 Relationen/6 Konstellationen) Sub-System des Verfolgens (6 Konstellationen) Sub-System der Annäherung dynamische Perspektive: 7 Phasen statische Perspektive: 5 Phasen (mit insges. rund 20 Konstellationen)

42 Marcq (1978) und Fußnote 37. 43 Im Folgenden wird der Terminus ,Konstellation‘ verwendet für die Kombination ,Relation + Determination‘; unter ,Determination‘ ist zu verstehen, dass Raumteile ,determiniert‘ werden, wobei ein solcher Raumteil entweder selbst Teil der Bezugsgröße ist (z.B. das Innere, determiniert durch in, durch und aus, die Oberfläche z.B. durch auf etc.) oder nur in Bezug auf die Bezugsgröße determiniert wird (z.B. durch vor oder hinter). Allgemein bekannte Relationen wären z.B. die direktive (ins Haus) oder die ablative (aus dem Haus) Relation, neben denen jedoch eine große Anzahl anderer Relationen existiert. 44 Wie von Marcq selbst immer wieder betont (u.a. in 1988a, 14), ist das zentrale System nicht das ursprünglich als ,System I‘ (nach der Geschichte seiner Entdeckung mit der Ziffer I versehen), sondern das später erkannte ,System II‘. Um dem leidigen Umstand aus dem Weg zu gehen, jedesmal neu erklären zu müssen, warum System II eigentlich das grundlegende, System I aber das nachgeordnete System ist, habe ich die Systeme − mit Einverständnis von Ph. Marcq − umbenannt in System A (ohne Bezug auf die euklidschen Achsen) und System B (mit Bezug auf die euklidschen Achsen). Innerhalb des Systems A kommt dem Sub-System der Annäherung zentrale Bedeutung zu.

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Sub-System des Ausweichens (2 Möglichkeiten mit insgesamt 6 Konstellationen) System B (←System I) Es handelt sich dabei um Sonderfälle des Systems A, die entstehen, wenn man in die Konstellationen von System A (Sub-System der Annäherung) die drei euklidschen Achsen einführt. Es entsteht so ein Raster von einerseits drei Determinationspaaren, die den Achsen oben/unten, hinten/vorne und (links) neben/(rechts) neben entsprechen, für die jeweils vier Typen von Relationen existieren, nämlich die statische (von Marcq ,lokativ‘ genannt, UBI?), der drei dynamische Relationen gegenüberstehen, nämlich die direktive (QUO?), die perlative (QUA?) und die ablative (UNDE?) Relation. Das ergibt insgesamt rund 24 Konstellationen. Mini-System der Lokalisierung in Bezug auf eine Grenze mit insgesamt 3 Relationen (6 Konstellationen), die alle statisch sind. System der Kookkurrenz (Neutralisatoren) Dies ist ein System, welches Signifikanten vereinigt, die ungenau lokalisieren und damit in der Lage sind, scharfe Oppositionen aufzuheben. (2 bzw. 4 Relationen) An der Schnittstelle zwischen System A und System B existiert im Nhd. eine Anzahl sehr komplexer Relationen45 (z.B. an + DAT. hinauf-/herunter etc.; zu + Dat. hinein/heraus etc.). ZEIT Temporale Relationen sind abstrakter Natur, aber gut von den übrigen abstrakten Relationen abzugrenzen.46 Sie gliedern sich in vier Systeme, mit vier Haupt-Typen von Relationen: Statisch, direktiv, perlativ, ablativ. Die Unterscheidung ,punktuelle Bezugsgröße‘/,lineare Bezugsgröße‘ ist abhängig von der Intention des Sprechers, nicht von der zeitlichen Ausdehnung dessen, was als Bezugsgröße herangezogen wird: In vor/nach den Ferien ist Ferien punktuelle Bezugsgröße, in in den Ferien/während der Ferien lineare Bezugsgröße. Dieselbe Unterscheidung gilt für vor/nach diesem Augenblick/dieser Auseinandersetzung und in diesem Augenblick/während dieser Auseinandersetzung.

45 Krause (2010). 46 Cf. Marcq (1988a, 34–54); wie eine Geschichte der temporalen Relationen aussehen könnte, wird in Krause (2009a) skizziert.

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System I: Auf der Achse der Zeit wird in Bezug auf eine punktuelle Bezugsgröße lokalisiert. System II: Auf der Zeitachse wird in Bezug auf eine lineare Bezugsgröße (Segment) lokalisiert. Dieses System ist besonders reich an Signifikanten, deren Distribution allerdings recht genau geregelt ist.47 S y s t e m d e r K o o k k u r r e n z (Neutralisatoren) System des Erwartens und Aufeinanderfolgens ABSTRAKTES Eine Systematisierung abstrakter Relationen steht noch aus, scheint aber zumindest für einen großen Teil der Relationen möglich zu sein. Man hat es zu einem großen Teil mit Raum-Metaphern zu tun, die entweder transparent sind (anstelle von, gegenüber) oder erst auf den zweiten Blick transparent.48 Dazu kommen jüngere, meist von flektierenden Einheiten abgeleitete Bildungen wie wegen, kraft, dank, trotz, trotzdem etc. Die diachrone Perspektive hat z.B. aufzudecken, wann der Genitiv des neutralen Demonstrativpronomens (des) seine Fähigkeit verloren hat, allein Kausalität auszudrücken, so dass Unterstützung durch wegen und halb notwendig wurde (deshalb/deswegen). Eine synchrone Beschreibung beispielsweise des Mhd. sollte zudem erhellen, ob des und darumbe beim Ausdruck der Kausalität austauschbar waren oder unter unterschiedlichen Bedingungen auftraten.

6. Schlussbemerkung und Desiderata Wenn man Grammatik in ihrem ursprünglichen Sinne, nämlich als „Sammelname für alle mit dem Schreiben und Auslegen von Texten befaßten Künste“ (Glück/Knobloch in Glück 32005, 237) begreift, dann hat sie u.a. die Aufgabe, das Verständnis zu erleichtern; Grammatiken vergangener Sprachstadien haben vorrangig diese Funktion. Wo es aber um Verständnis geht, darf Semantik nicht fehlen und eine Grammatik/ein Syntaxteil, die/der nicht explizit herausarbeitet, aufgrund welcher Bedingungen eine

47 Dazu Krause (1997). 48 Beispiel: Man kann die Menschen auch übers Radio informieren: Die im Spatialen von über + Akk. ausgedrückte Perlativität wird hier erstens genutzt, um den Informationsweg zu benennen und − zweitens − damit auch das WIE und WOMIT der Information.

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sprachliche Einheit X (sei sie nun einfach oder komplex bis hin zum Satz) so zu verstehen ist und nicht anders, wird dieser Aufgabe nur unvollständig gerecht. Syntax ist kein Selbstzweck an sich, sie ist nur sinnvoll, wenn sie, wie es Marcq formulierte, „im Dienste der Semantik“ steht.49 Hier wäre ein erstes Desiderat anzuschließen: Insgesamt halte ich es für wünschenswert, auch die Grammatiken älterer Sprachstufen − und damit am Ende auch eine diachrone Grammatik − stärker onomasiologisch auszurichten, so dass beispielsweise mit einem einzigen Suchvorgang sämtliche Möglichkeiten, ein konzessives Verhältnis auszudrücken (Subjunktion + Nebensatz, Juxtaposition von Sätzen, Konnektoren, Adverbien, Präpositionalgruppen und möglicherweise noch anderes) erfassbar werden, sei es auch nur durch Verweise auf die entsprechenden Stellen in anderen Kapiteln oder Abschnitten. Ein Beispiel, wie so etwas aussehen könnte, liegt in Buscha et al. (1998) vor. Ungeklärt, da ungeschrieben, sind bis heute − und damit ein Desiderat der Forschung: – die Geschichte der temporalen Relationen (unz an den sibenden tac – bis zum…), d.h. der entsprechenden Nominalgruppen (Akkusativ/ Genitiv/vereinzelt auch Dativ), Adpositionen und Adverbien (einfache und zusammengesetzte); – eine Systematik der abstrakten Relationen und ihre Geschichte; – die Geschichte der DA + X-Bildungen (DA + Präp. oder DA + Adv.? Semantik? Funktion(en)?); – die Geschichte der HIN-/HER- + X-Bildungen (HIN/HER + Präp. oder HIN/HER + Adv.? Semantik? Funktion(en))? – die Geschichte der Getrennt- und/oder Zusammenschreibung nicht flektierender Elemente untereinander und in Kombination mit flektierenden Elementen − zum Beispiel von darauf und da rauf; da raufsteigen, da hinaufsteigen50 einerseits und drauflegen, draufgehen andererseits − und zwar unter Berücksichtigung möglicher semantischer und/ oder funktionaler Differenzierung (eine Problematik, die in Artikeln zur Graphematik in HSK 2 nicht angesprochen wird); – die Geschichte der Verbalpartikeln (u.a. in der Abgrenzung zu Adverbien und in ihrem semantischen Bezug zu Adpositionen und Adverbien).

49 Marcq (1992). 50 Die Zusammenschreibung von Adverb und Verb ist zwar eingebürgert, aber nicht sehr sinnvoll.

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Eine ideale Grammatik sollte also − was die Indeclinabilia angeht − heute eine Grammatik der Relationen (im weitesten Sinne) sein, und nicht eine Grammatik der Wörter. Dies kann nur von der Grammatikographie geleistet werden. Eine Beschreibung der Relationen ist die notwendige Grundlage für die Beschreibung der Wörter, d.h. für die Lexikographie − eine Grundlage, die bislang in weiten Teilen fehlt.

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Anthony R. Rowley (München)

Dialektologie und Sprachgeschichte Eine Unterscheidung zwischen einer ‚historischen Grammatik‘ (die es auf die Büchersprache abgesehen hätte) und einer gerade noch wissenschaftlich geduldeten ‚Mundartforschung‘ (die nur die gesprochene Sprache der einzelnen Landschaften behandelte), wie sie noch kürzlich ein Vertreter der historischen Grammatik vorzubringen wagte, ist ein ebenso befremdlicher wie abwegiger Anachronismus. Beide Gebiete sind ohne einander nicht denkbar und, allein betrieben, zur Verkümmerung verurteilt – auch die historische Grammatik.

So empört sich Adolf Bach,1 der ja beide Gebiete in Personalunion darstellte. Mancher Junggrammatiker verstand die Dialektologie sogar als Unterdisziplin der Sprachgeschichte. Die Dialektologie hat sich – wie die Sprachwissenschaft überhaupt – aus der junggrammatischen Gleichschaltung befreit. Die Dialektologie hat die Soziolinguistik für sich erschlossen, inzwischen tummeln sich da auch Sprachtypologen. Aber Dialektologen und Sprachhistoriker haben immer noch eine ganze Reihe von gemeinsamen Erkenntnisinteressen, und Dialektologen wie Jan Goossens, Peter Wiesinger und andere machen noch heute eine Menge Sprachgeschichte. Viktor Schirmunski begründet seine „Mundartkunde“ damit, „daß sich eine wissenschaftliche Geschichte der deutschen Sprache auf der Mundartkunde aufbauen und daß sich eine historische Grammatik der deutschen Sprache auf die vergleichende Grammatik der deutschen Mundarten stützen muß“.2 Wer einen oberdeutschen Dialektatlas aufschlägt, findet eine Gliederung nach mittelhochdeutschen Lauten; im „Schweizerischen Idiotikon“ oder im neuen „Bayerischen Wörterbuch“ (um nur zwei Beispiele zu nennen) stehen Belege aus historischer Zeit und solche aus heutiger Mundart nebeneinander im Wortartikel. Heute untersuchen Kollegen den Sprachwandel im sozialen Kontext oder in dessen Ausbreitung durch die Sprachgemeinschaft. Dialektologen nehmen also die Sprachgeschichte durchaus ernst.

1 2

Bach (1969, 7). Schirmunski (1962, XI).

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Und wo sollte man die Sprachgeschichte eines bestimmten Ortes, einer Region suchen, wenn nicht in der dialektologischen Orts- oder Gebietsmonographie – zum Beispiel von Agathe Lasch (1927) für Berlin oder von Karl Spangenberg (1993) für Thüringen? Es steht auch außer Frage, dass Sprachhistoriker die Dialektologie ernst nehmen. Beispielsweise enthält die zweite Auflage des Handbuchs Sprachgeschichte3 eine Reihe von regionalen Sprachgeschichten, die den Dialektologen sehr entgegenkommen. Manche Sprachhistoriker sind gleichzeitig Dialektologen – auch unter den Teilnehmern unserer Tagung findet man unschwer entsprechende Namen. Im Tagungsort Leipzig darf der Name von Theodor Frings nicht unerwähnt bleiben. Auch sein heutiger Nachfolger hat eine dialektologische Phase durchlaufen und plant ein Projekt, das sprachhistorische und sprachgeographische Komponenten vereint. Die Gemeinsamkeiten der Dialektologen und der Sprachhistoriker erschöpfen sich keineswegs darin, dass Dialektmonographien auch über die Sprachgeschichte eines Ortes oder einer Region berichten. Ein wichtiges Thema, das beide Gruppen beschäftigt, ist der Sprachwandel und besonders das Aufkommen sprachlicher Neuerungen und deren Ausbreitung. Eng damit verbunden ist die Möglichkeit der vergleichenden Rekonstruktion früherer Sprachstufen aus differierenden heutigen Varianten. Im Folgenden soll insbesondere dieses Thema im Mittelpunkt stehen. Die Beispiele sind vor allem dem Südosten des Sprachraums entnommen, der Ecke, in der sich der Verfasser am besten auskennt. Die innige Beziehung von Dialektologie und Sprachgeschichte reicht zurück in die Anfangszeit der deutschen Philologie. „Was i s t findet in dem, was w a r, und dieses in jenem seine natürlichste Erklärung“; so schreibt Johann Andreas Schmeller, der Gründungsvater der Dialektologie, 1827 in den „Nothwendigen Vorbemerkungen“ zu seinem „Bayerischen Wörterbuch“.4 Seit Anbeginn der Dialektologie also war die Sprachgeschichte, Schmellers „was war“, mit im Boot. Ja historische Fragestellungen insgesamt standen schon vorher im Mittelpunkt. Johann Ludwig Prasch, der Regensburger Bürgermeister, der anno 1689 ein „Glossarium Bavaricum“ zusammenstellte – wohl die erste solche Sammlung in Deutschland –, wollte damit zunächst weitere Indizien für seine historischen Spekulationen über die Herkunft des Bayernstammes finden. Aber zurück zu Schmeller. Schmellers Darstellungen sind im Grunde deskriptiv; seine zimbrische Grammatik zum Beispiel5 ist weitgehend synchron. Für

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Besch/Betten/Reichmann/Sonderegger (2003). Hier nach Schmeller (²1872, VII). Schmeller (1838).

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manche der Junggrammatiker, seiner Nachfolger, grenzte das fast an eine Themaverfehlung. Schmeller wählt aber dazu immer auch die Retrospektive und blickt von den lebenden Mundarten aus in die Sprachgeschichte zurück. Denn: „Was i s t “ wird erklärt durch das, „was w a r “ . Mit anderen Worten: „Erklärungen“ liefert die Sprachgeschichte. Für diese eine der beiden Erklärungsrichtungen Schmellers haben das andere auch so gesehen. In der zweiten, sozusagen „strukturalistischsten“ Auflage seiner „Historical Linguistics“ schreibt zum Beispiel Winfried Lehmann: „It has often been said that the explanation for linguistic forms can only be found in earlier forms“.6 Schmeller formuliert auch einen anderen Glaubenssatz der Dialektologen, dem man noch heute begegnen kann, wenn er in einem Brief an Jacob Grimm von den Dialekten schreibt: „Mir scheinen sie einen Grad von Folgerichtigkeit bewahrt zu haben, der aller Ehren werth ist. Sie haben, obwohl mit manichfaltiger Modificierungen des Materiellen nach Zeit & Ort, wol alle Haupt-Analogien & Parallelismen treu fortgeführt“.7 Die Standardsprache dagegen sei durch mannigfaltigen Ausgleich und künstliche Normierung erst von oben eingeführt worden. Hermann Paul formuliert es in seiner Grammatik folgendermaßen: „Ein der Norm mehr oder weniger angenäherter Sprachtypus ... trat neben eine ältere mundartliche Sprechweise als eine künstliche Sprache neben die natürliche“.8 Die „natürliche“ Sprachgeschichte sei also die des Dialekts. Der prototypische junggrammatische Dialektologe sucht sich folgerichtig als Informanten möglichst sogenannte NORMs,9 also die ältesten seit Generationen ortsansäßigen Bauern, die außerdem keine längeren Abwesenheit aus dem Ort hatten. Sie sind zwar nicht typisch für die Sprachgemeinschaft als ganze,10 aber man hofft, dass sie der „künstlichen Sprache“ fern stehen und quasi den musealen „echten Bauerndialekt“ sprechen und daher ausnahmslose Lautgesetze bezeugen werden. Es klappt immerhin so gut, dass, wie Ingo Reiffenstein im Handbuch Dialektologie betont,11 die Grammatiken der Junggrammatiker eine sehr taugliche Basis für weiterführende Studien bieten.

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Lehmann (1973, 16). In der Edition von Winkler (1989, I, 445). Paul (1916, 134). „Non-mobile Older Rural Male“, der Begriff schon seit der ersten Auflage von Chambers & Trudgill (1980, 33). 10 Vier alte Frauen aus einer Straße nahe dem Hafenviertel stehen zum Beispiel in Sivertsens „Cockney Phonology“ (1960) für den Dialekt der englischen Hauptstadt gerade. 11 Reiffenstein (1982, 34).

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Denn die Junggrammatiker waren auf dem Gebiet der Dialektologie sehr produktiv. Von ihnen stammt die große Mehrzahl der Monographien. Wolfgang Putschke schreibt im Handbuch „Dialektologie“ über diese Zeit: „Das grundlegende Interesse der damaligen Linguistik an der Sprachgeschichte lenkte die Dialektologie in eine überwiegend historische Betrachtungsweise“.12 Manchmal ging man da wohl fast ein bisschen zu weit, der historische Bezugsrahmen wurde zur Fessel. Manchem fiel es in seiner Dialektgrammatik gar nicht auf, dass etwa der Genitiv ausgestorben war; August Gebhard in seiner Nürnberger Grammatik13 war bemüht, möglichst wenige Laute zusammenfallen zu lassen, die im Mittelhochdeutschen auseinandergehalten wurden.14 Er ignoriert zum Beispiel völlig die mitteldeutsche Konsonantenschwächung, die alle anderen Forscher für Nürnberg verzeichnen. Aber die Dialektologen unter den Junggrammatikern trugen auch maßgeblich zur Diskussion sprachhistorischer Themen mit bei. Wer von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze ausgeht, braucht ja erhebliche Zusatzannahmen, um wegzuerklären, was auf den ersten Blick doch Ausnahme zu sein scheint, das fördert ja die Kreativität.15 Wer einige weitere wichtige Einsichten systematisch zusammentragen wollte, könnte gut bei einem Schlagwort von William Labov beginnen: „The use of the present to explain the past“.16 Die Dialektologie bietet hier verschiedene Verfahren, die auf Schmellers oben zitierter Einsicht beruhen, dass die Gegenwart die Vergangenheit erhellen kann. Zunächst der plakativste Fall: Dialekte können unbestritten altertümliche Sprachformen beibehalten. Sie kommen also an sich schon als Quellenmaterial für sprachgeschichtliche Studien in Frage. Um Theodor Frings jetzt mal zu schonen: Johannes Hubschmid (1951) findet Zeugnisse der vorindogermanischen Bevölkerungen Europas nicht in den heutigen Standardsprachen, sondern in sardischen, alpenromanischen und alpenoberdeutschen Mundarten. Es gibt eine oberdeutsche Abart dieses Falles, auf die ich etwas näher eingehen möchte. Nennen wir es überspitzt „Rekonstruktion älterer Sprachstufen durch Endeckung muttersprachlicher Sprecher“. Der Wiener Dialektologe Eberhard Kranzmayer hat da zum Beispiel eine Regel formuliert, die man „Kühlschrankeffekt“ nennen könnte: „je höher 12 13 14 15

Putschke (1982, 233). Gebhardt (1907). Vgl. dazu Klepsch (1988, 18f.). Zunächst natürlich die Zusatzannahme der „Analogie“. Typischerweise postuliert man ferner neben dem Lautwandel, der unbewusst und lautgesetzlich sein soll, auch Lautwechsel, der in bewusster Übernahme besteht und von der Dialektgeographie gut erfasst werden könne. Man vergleiche etwa die feinsinnigen Unterscheidungen in den Schriften von Seidelmann (1987, 1992). 16 Titel von Labov (1975).

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eine Landschaft liegt, desto älter wird der Dialekt“,17 also umso näher komme man an die Sprachzustände des Mittelhochdeutschen, der Sprache des 12. Jahrhunderts, heran. Bewohnte Dreitausender fehlen leider im deutschen Sprachraum, aber die Höhenmeter stehen ja nur als Indiz für die geographische Isolation, und die räumliche Abgeschnittenheit einer Sprachinsel kann einige hundert Höhenmeter wieder wettmachen. Die sogenannten zimbrischen „Bauernsprachinseln“ in Oberitalien spielen als „historische Quellen“ in Kranzmayers Konzept für das „Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich“18 eine wichtige Rolle. Ja man hat sie „lebende Sprachmuseen“ genannt, die noch heute Auskunft erteilten über den Sprachstand der Besiedlungszeit. Die Wiener Mundartforscherin Maria Hornung hat sich sogar einmal die Frage gestellt: „Ist die „zimbrische“ Mundart der Sieben Gemeinden althochdeutsch?“19 Dialektologen, die nicht aus der Wiener Schule um Kranzmayer stammen, war die angebliche Musealität der zimbrischen Sprachverhältnisse schon immer suspekt. Sehr milde schreibt etwa der Innsbrucker Germanist Karl Kurt Klein, der selbst aus Siebenbürgen stammte: „Sprachliche Entwicklung kommt auch in ‚echten Sprachinseln‘ niemals zum Stillstand; Versteinerung ist bloß ein Sonderfall solcher Entwicklung“.20 Aus soziolinguistischer Sicht ist es eigentlich der Sonderfall der Versteinerung, der erklärungsbedürftig ist, nicht der normale Sprachwandel, den es überall gibt. Und der große romanische Einfluss wird da fast völlig ausgeklammert. Für philologische Zwecke also ist dieser Fall fragwürdig. Aber die oben zitierte Maria Hornung ist nicht die einzige, deren Begeisterung für solche Dialekte in deren Beharrsamkeit fundiert ist. Kein geringerer als der sonst immer stocknüchterne Johann Andreas Schmeller ließ sich von der Altertümlichkeit des Zimbrischen hinreißen: Als er in Begleitung Einheimischer erstmals auf die Hochebene hinaufstieg und sein zimbrischer Führer vom herrlichen Vollmond sagte: Der Mano leüchtΩt aso hüpesch, da, so notiert Schmeller in seinem Tagebuch, „war mir als sey ich hinaufgestiegen in das Land und in die Zeit der Minnesänger, ja in die der Notkere und Otfriede“.21 Auch der Autor dieser Zeilen gesteht offen, sich immer wieder an der Konservativität der südbairischen Sprachinseln zu erfreuen. Und auch Laien kann man mit Altertümlichkeit für die Arbeit der Dialektologen begeistern; wenn man etwa in Bayern Dialektsprechern erzählt, dass ihre dialektalen

17 Kranzmayer (1960b, 162). 18 WBÖ (I, 23). 19 So der Titel von Hornung (1987). Hornungs Antwort – im Kern lautet sie „eigentlich nicht“ – ist sogar fast richtig. 20 Klein (1956, 212). 21 In der Edition von Ruf (1956–1957, II, 174).

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Wochentagsnamen Irta und Pfinzta für ‚Dienstag‘ und ‚Donnerstag‘ über das Gotische aufs Griechische zurückgehen, dann sieht man die Zuhörer oft in patriotischer Ehrfurcht vor soviel Altehrwürdigkeit erstarren. Aber diese Gleichung „abgelegener Dialekt ist gleich altertümliche Sprachform“ ist doch sehr eindimensional und mancherorts auch wenig hilfreich. Wir müssen doch zugeben, dass entsprechende Höhenmeter in großen Teilen des deutschen Sprachraums fehlen. Daher gibt es verschiedene Grade der methodischen Verfeinerung. Die erste nenne ich das „Hineinlesen diachroner Abläufe in synchrone Verbreitungsbilder“. Es gibt ja in der Dialektgeographie unterschiedliche Konstellationen von Isoglossenverläufen mit teils „infanterisch“22 angehauchten Bezeichnungen wie „Keil“, „Trichter“, „Vorposten“ und so weiter.23 In solche sprachgeographische Gebilde sprachhistorische Aussagekraft hineinzuinterpretieren, vor allem was die Ausbreitung von sprachlichen Neuerungen angeht, hat eine lange Tradition. Solche Isoglosseninterpretationen bleiben aber ziemlich eindimensional. Erweitert werden kann dieses Verfahren durch den Vergleich mehrerer Kartenbilder für die gleiche Erscheinung entweder in Echtzeit – zum Beispiel zwischen dem Deutschen Sprachatlas aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert und heute, immerhin über hundert Jahre Sprachgeschichte – oder in scheinbarer Zeit, zum Beispiel wie im Japanischen oder im Rheinischen Sprachatlas, wo am gleichen Ort sowohl die ältere als auch die jüngere Generation als Gewährspersonen dienten. Die Dialektgeographie der Marburger Schule hat auch große Verdienste um die sprachexterne Erklärung von Verbreitungsbildern, indem sie deren Abhängigkeit von älteren Territorialgrenzen betont hat – ja manchmal meint man, die Dialektforschung sei zu einer Hilfswissenschaft der Lokalgeschichte verkommen. Es kursiert also der Vorwurf, dass die Dialektgeographen bei der Ursachenforschung die sprachinterne Seite völlig aus den Augen verloren hätten. Zum Teil ist der Vorwurf berechtigt. Schon Viktor Schirmunski kritisierte die Fetischierung der Isoglossen von Einzelwörtern,24 und Ingo Reiffenstein bekräftigt in seiner Übersicht im Handbuch Dialektologie den Vorwurf des Atomismus gegen die Junggrammatiker insgesamt.25 Wir ziehen daraus die Lehre, dass wir uns nicht oder nicht nur auf ein einziges sprachliches Phänomen beschränken dürfen. Die Zusammenschau bringt’s. Ein solches Verfahren könnten wir „Verglei22 So Walter Haas im eröffnenden Plenumsvortrag der Tagung der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen 2009 in Zürich. 23 Eine zusammenende Übersicht bei Gluth/Lompa/Smolka (1982). 24 Schirmunski (1962, 65f.). 25 Reiffenstein (1982, 35).

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chende Rekonstruktion älterer Sprachstufen aus der Zusammenschau in der synchronen Sprachgeographie“ nennen – der Romanist Hans Goebl26 meint sogar, mit seiner „Dialektometrie“ lege er in Frankreich sprachliche Raumbilder des ersten Jahrtausends frei. Ich will mich auf einen anderen Weg begeben: „Sprachwandel und Sprachgeographie“.27 Auch das ist nicht neu, und bekanntlich war das Projekt des Deutschen Sprachatlasses zum Teil durch Georg Wenkers Interesse an einer genauen Erfassung der Auswirkungen der Zweiten Lautverschiebung im Rheinland und an der Überprüfung der These von „klaren Dialektgrenzen“ motiviert.28 Peter Wiesinger hat immer wieder den Nutzen sprachgeographischer Gesetzmäßigkeiten als Quellen für die Sprachgeschichte hervorgehoben. In einem neueren einschlägigen Beitrag schreibt er: Der ... positivistische Standpunkt, dass sich Sprachgeschichte allein auf die schriftlichen Quellen zu stützen habe, führt ... dazu, sich mit der Lückenhaftigkeit der historischen Überlieferung und damit vielfach der Unmöglichkeit einer Rekonstruktion der einzelnen Lautentwicklungen zufrieden zu geben.29

Wiesinger will aber „das Erkenntnisinstrumentarium durch Methodenkombination ... erweitern und damit breitere Zugänge ... erreichen.“30 Wie? Zum Beispiel folgendermaßen: Auf dem Gebiet des dialektalen Vokalismus ermöglicht die strukturelle Dialektologie im Rahmen der diachronen Phonologie die Rekonstruktion der einzelnen Entwicklungsschritte als interlinguale Kausalität.

Hier hören wir wieder von den bereits genannten sprachgeographischen Regularitäten der Ausbreitung von Neuerungen: Meist zeichnet sich die chronologische Entwicklungsabfolge dialektgeographisch als Raumprojektion mit Peripherie und Zentrum ab, indem die Ränder konservativ verbleiben und die älteren Zustände bewahren, während gegen die Mitte die jüngeren Entwicklungen erfolgen und somit die Kernräume fortgeschrittener und moderner sind. Die Dialektgeographie erweist sich also in vielen Fällen als sprachhistorische Strukturgeographie. Dadurch wird es möglich, die mit Hilfe der diachronen Phonologie und Phonogenetik rekonstruierten Zwischenstufen zu belegen und damit die Rekonstruktion zumindest teilweise auf eine reale Basis zu stellen.31

26 Vgl. etwa Goebl (2005). 27 So der Titel von Haas (1978), einer Studie zur Lautgeschichte der Mundarten in der Schweiz. 28 Vgl. Knoop/Putschke/Wiegand (1982, 47). 29 Wiesinger (2008, 24). 30 Ebd. 31 Ebd., 26.

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Wiesingers Habilitationsschrift32 ist ein Paradebeispiel, wie ertragreich für die Geschichte des Deutschen eine gründliche dialektgeographische Studie sein kann, ihm war Eberhard Kranzmayers eigenwillige „historische Lautgeographie“ des bairischen Dialektraums33 vorausgegangen, in der Kranzmayer mit meist hoher Plausibilität die Abfolge der Lautentwicklungen festlegen und (mit Rückgriff auf die schriftliche Überlieferung) größtenteils sogar datieren kann. Kranzmayer gibt seiner Überzeugung Ausdruck: „Die lautgeographischen Verhältnisse eines Dialektes versteht man erst richtig, wenn sie historisch untermauert sind und wenn man sie sprachgeschichtlich begründen kann“.34 Heutzutage würden Forscher wie William Labov oder Peter Trudgill hinzufügen, dass dies auch für manche Fälle von Variation innerhalb der Sprachgemeinschaft zutrifft. Zugegebenermaßen kann der dialektgeographische Zugriff zwar durchaus das Sprachmaterial erweitern, er macht auch oft die Zwischenstationen eines Entwicklungsweges klar, er ist aber nicht unbedingt problemlösend beziehungsweise er hilft oft nicht wirklich bei der Ursachenforschung. Und je weiter wir zurückgehen, das wissen wir auch von den Indogermanisten, umso schwieriger wird es mit der vergleichenden Rekonstruktion. Im multipolaren Stellungskrieg um die Zweite Lautverschiebung kämpfen Sprachgeographen an fast allen Fronten mit. Alle genannten Methoden beruhen darauf, dass man eine dynamische Interpretation statischer Kartenbilder vornimmt. Man versucht, einzelne Karten als Standbilder in einem dynamischen Vorgang zu verstehen und liest Abfolgen von Karten als (mit einem Begriff von Theodor Frings) „Kinematogramme“.35 Mit viel Glück und guter Materialgrundlage gelingt sogar etwas, was man „filmische Rekonstruktion der Ausbreitung sprachlicher Neuerungen aus der Zusammenschau von Einzelkartenbildern“ nennen könnte. Peter Wiesinger hat hier eine Paradestudie auf der Grundlage von Karten des „Deutschen Wortatlasses“ vorgelegt.36 Gehen wir mit der „Wiener“ Schule der Dialektforschung davon aus, dass der bairische Dialektraum von einer Reihe von Neuerungen überrollt wurde, die alle von einem Zentrum ausgehen. Dieses „Zentrum“ ist hier natürlich Wien. Man betrachte zuerst einige Wortschatzneuerungen wohl des frühen 20. Jahrhunderts – es geht um die Neuerungen Donnerstag und kummen (‚kommen‘) gegenüber den älteren

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Wiesinger (1970). Kranzmayer (1956). Ebd., III. Hier zitiert nach Hard (1972, 31). Wiesinger (1988). Die Abfolge der Karten ist zur Verdeutlichung im Folgenden genau umgekehrt als bei Wiesinger.

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Dialektformen Pfingsttåg und kemen. Die Neuerung hat nur den näheren Umkreis der Stadt Wien erfasst. In der nächsten Karte geht es um die Neuerungen Traid statt Korn für ‚Roggen‘, um die Wörter Schnittling ‚Schnittlauch‘ und Schnürriemen. Hier tangieren die Neuerungen zum Teil schon Niederösterreich und Kärnten. Wiesinger datiert diese Neuerungen zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert.37

Abb. 1: Wiener Wortschatzneuerungen wohl des frühen 20. Jahrhunderts, die den näheren Umkreis der Stadt Wien erfasst haben, nach Wiesinger (1988, K. 18).

Abb. 2: Wiener Neuerungen des 16. bis 19. Jahrhunderts, die bis nach Niederösterreich und Kärnten hineinreichen, nach Wiesinger (1988, K. 17).

In der dritten Karte geht es beispielsweise um die Lautung Pfingsttåg mit Velarnasal statt Pfinztåg für den ‚Donnerstag‘ oder um das Wort Ågrås(el) für die ‚Stachelbeere‘. Hier liegen die Grenzen einzelner Neuerungen schon vor Salzburg. Diese Fälle datiert Wiesinger zwischen dem 14. Jahrhundert (im Falle von Pfingsttåg) und dem 18. Jahrhundert.38

37 Ebd., 599f. 38 Ebd., 596ff.

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In einer Reihe von Fällen wie Ribisel ‚Johannisbeere‘ oder bloßfüßig und so weiter gegenüber bårfuß und ähnlich pendelt sich die Trennlinie im Bereich des Inns, der heutigen Grenze zu Deutschland, ein.

Abb. 3: Wiener Neuerungen ab dem 14. Jahrhundert, bis nach Oberösterreich ausgreifend, nach Wiesinger (1988, K. 16).

Abb. 4: Einpendeln der Isoglossen im Bereich von Inn und Salzach, nach Wiesinger (1988, K. 14).

Die letzte und älteste Gruppe, darunter Fåsching gegenüber Fås(e)nåcht oder Göt gegenüber Töt(e) ‚Pate‘, hat auch Bayern schon mehr oder weniger überspült. Der Fall Fasching ist etwas komplizierter,39 aber entsprechende Wörter wie Göt oder Anze (‚Gabeldeichsel‘) lassen sich recht präzise als Wiener Neuerungen des 13. Jahrhunderts datieren.40

39 Vgl. ebd., 587f. 40 Vgl. Kranzmayer (1960a, 15, 17).

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Abb. 5: Neuerungen, die auch in Bayern gelten, nach Wiesinger (1988, K. 13).

Diese letzten Phänomene, so können wir uns vorstellen, haben im Laufe der Jahrhunderte alle als Neuerungen im Umland von Wien begonnen und sich allmählich über Österreich und dann Bayern ausgebreitet, also die in P. Wiesingers Karten dargestellten Verbreitungskonstellationen durchlaufen. Was wir hier in scheinbarer Abfolge gesehen haben, hat Gerhard Hard übrigens versucht, in einem Modell der Ausbreitung von Neuerungen im Rheinland nachzubauen – einem sogenannten „Monte Carlo“-Modell, weil man die Ergebnisse im Zeitalter vor dem Großrechner schlicht ausgewürfelt hat.41 Diese kleine Auswahl sollte veranschaulichen, dass sich die Interessensgebiete von Dialektologen und Sprachhistorikern in verschiedenen Bereichen wie Ortsgrammatologie berühren, die Beispiele waren vor allem einem einzigen aber wichtigen Bereich entnommen, in dem es um Sprachwandel, um die „vergleichende Rekonstruktion“ aus der Sprachgeographie heraus und um die Ausbreitung von Neuerungen geht. Recht

41 Vgl. Hard (1972).

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hatte er, der eingangs zitierte Adolf Bach, als er von Dialektologie und Sprachgeschichte sagte: „Beide Gebiete sind ohne einander nicht denkbar und, allein betrieben, zur Verkümmerung verurteilt“.42

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42 Bach (1969, 7).

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Rosemarie Lühr (Jena)

Indogermanisch – Germanisch – Deutsch Einleitung Von den beiden Polen aus betrachtet impliziert die Sprachenfolge Indogermanisch – Germanisch – Deutsch zwei unterschiedliche Untersuchungsrichtungen. Entweder: Man blickt vom Indogermanischen über das Germanische auf das Deutsche oder man nimmt die umgekehrte Richtung: Man verfolgt das Deutsche über das Germanische bis ins Indogermanische. Bei der ersten Betrachtungsweise könnte man z.B. den Formenreichtum des Indogermanischen zum Ausgangspunkt nehmen und zu erklären versuchen, warum das Deutsche etliche grammatische Kategorien des Indogermanischen verloren hat, etwa den Dual beim Nomen und Verb, den Aorist, Konjunktiv und Injunktiv beim Verb. Spricht man aber vom Formenreichtum des Indogermanischen kann nur das Indogermanische auf graeco-arischer Basis gemeint sein. Das Anatolische mit dem Hauptvertreter Hethitisch bleibt dann ausgeklammert; denn je nach Auffassung ist dieser Sprachzweig entweder keine „Schwester“ zu den anderen indogermanischen Sprachfamilien, sondern die „älteste Tochter“ der Grundsprache, oder das Anatolische ist eine Schwestersprache des Indogermanischen. Beide Sprachen müssten dann auf eine gemeinsame Grundsprache zurückgehen, die Sturtevant „Indo-Hittite“ nannte.1 Welcher Ansicht man sich auch anschließt, die Sonderstellung des Anatolischen wird am deutlichsten am Verbalsystem: Die älteste indogermanische Sprache Hethitisch hat gegenüber der zweitältesten Sprache Altindisch keinen Injunktiv, Konjunktiv und Optativ, nur Indikativ und Imperativ, keinen Aorist und kein Imperfekt, nur Präteritum. Gegenüber dem graeco-arischen Modell des Indogermanischen fehlen also dem Deutschen zum Teil ähnliche grammatische Kategorien wie dem Hethitischen. Doch besitzt das Deutsche auch grammatische Kategorien, die im Indogermanischen nicht vorhanden waren. So haben sich die Modalverben erst allmählich in

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Zeilfelder (2001, 9ff.), Oetttinger (2009).

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Rosemarie Lühr

den germanischen Sprachen ausgebildet. Warum das Germanische solche Verben hat, hat mehrere Gründe. Ein Grund ist sicher, dass der Abbau der formalen Kennzeichnung des Konjunktivs durch analytisch gebildete Formen, u.a. Modalverben, kompensiert wird, wie innerhalb des Bereichs Nicht-Wirklichkeit schon im Althochdeutschen.2 Einen anderen Grund für das Aufkommen von Modalverben, der bislang noch nicht gesehen wurde, möchte ich unter den Begriff „Involitionalität“ subsumieren. Es handelt sich um die Bezeichnung einer Patiens-Eigenschaft, die stellvertretend auch für andere Patiens-Eigenschaften steht. „Involitionalität“ betrifft aber nicht nur Modalverben, sondern auch das Passiv und unpersönliche Konstruktionen im Germanischen, Kategorien, die das Indogermanische ebenso wenig wie ein System von Modalverben

2

In „realen Wunschsätzen“ mit scal, mag, muaz, wili: (1a) Otfrid L 25 thes scal er góte thankon (1b) Otfrid L 26 thes thánke ouh sin githígini ‚dafür danke auch sein Gefolge‘ (2)(a) Otfrid I 26,2 hiar mag er lérnen ubar ál, wio er gilóuben scal ‚hier lerne er durchaus, wie er glauben soll!‘ (2)(b) Otfrid IV 5,51 Mag únsih thera férti gilústen mit giwúrti ...! ‚Mögen wir uns nach ihrem [von den Märtyrern] Los sehnen ...!‘ (3)(a)Otfrid L 93 Níazan múazi thaz sin múat, io thaz éwiniga gúat ‚Möchte er der ewigen Seligkeit teilhaftig werden!‘ (3)(b)Otfrid L 92 thaz nieze Lúdowig io thar thiu éwinigun gótes jar! (4)a)Otfrid III 20,132 bimídan thu ni wólles, suntar thu ímo folges! ‚Du mögest ihm nicht ausweichen, sondern ihm folgen!‘ (4)(b) Otfrid III 17,20 thu unsih ni héles wiht thes ...! ‚verheimliche uns das nicht ...!‘ Zu der Frage, warum bei sculan und magan im „realen Wunschsatz“ der Indikativ erscheint und bei muazan nur der Konjunktiv I, vgl. Lühr (1994). Zum „irrealen Wunschsatz“ mit wolti vgl.: (5) Otfrid I 31,21 Uuólti gót hábetîn uuír dehéina (für lat. atque utinam esset ulla) ‚Dass wir doch eine [libertatem] hätten!‘ Vgl. ferner Nebensätze mit Modalverben im Konjunktiv: (6)(a) Otfrid I 20,19 Ira férah bot thaz wíb, thaz iz múasi haben líb ‚Ihr Leben bot die Frau an, damit es [das Kind] sein Leben behalten kann‘ (wörtlich: ‚könne‘) (6)(b) Otfrid IV 24,21f. Wir eigun kúning einan, ánderan nihéinan,/joh wanen wáltan wolle ther kéisor ubar álle (für lat. ‚non habemus regem nisi Caesarem‘) ‚Wir haben einen König, keinen anderen, und wir meinen, dass er über alle herrscht‘ (nicht: ‚... dass er über alle herrschen will‘). Der Konjunktiv des Vollverbs waltan (walte), wie er nach wanēn zu erwarten wäre, ist an dieser Stelle durch eine Modalverbfügung wálten ... wolle ersetzt, wobei das Modalverb in eigentlich redundanter Weise im Konjunktiv steht; vgl. Behaghel (1928, 588), Schrodt (1983), Erdmann (1874, 37), Lühr (1994; 1997; 1997a): zur Substitution des Konjunktivs durch Modalverben. Zu weiteren Bereichen des Konjunktivs im älteren Deutsch vgl. Petrova (2008, 71ff.).

Indogermanisch – Germanisch – Deutsch

165

besessen hat. Da über deren Aufkommen bislang wenig bekannt ist, werden sie im Folgenden untersucht. Erstens geht es um die Begriffserklärung von „Involitionalität“, zweitens um zugehörige Kategorien im Indogermanischen, Germanischen und Deutschen, also um das Passiv, unpersönliche Verben und um bestimmte Modalverben.

1. „Involitionalität“ Der Begriff „Involitionalität“ steht dem Begriff „Volitionalität“ gegenüber. Dies ist eine typische Agens-Eigenschaft. Da mit dem Agens verbundene Eigenschaften in weit stärkerem Maß diskutiert werden als die PatiensEigenschaften, werden zuerst die Agens-Eigenschaften als Kontrast zu den Eigenschaften des Patiens angeführt und dann die Patiens-Eigenschaften aus diesen Agens-Eigenschaften abgeleitet. Maßgeblich ist hier die Theorie von Dowty (1991), wie sie Engelberg (2000, 193f.) kritisch referiert: Die zentrale Eigenschaft der Agentivität liege darin, dass eine Handlung nicht ohne mentale Einflussnahme oder Teilnahme durch den Agens zustande kommt. Diese Eigenschaft spiegle sich in Begriffen wie Kontrolle, Bewusstheit („sentience“), Intentionalität im Sinne von Gerichtetheit mentaler Eigenschaften oder Prozesse auf bestimmte Inhalte und Ereignisse und schließlich Volitionalität, d.h. Wille, Absicht, wider. Tpyische PatiensEigenschaften sind diesen Agens-Eigenschaften demnach entgegengesetzt: – Kontrolle, – Bewusstheit, – Intentionalität, – Volitionalität.3 Bei den drei zu untersuchenden Kategorien Passiv, unpersönliche Verben und Modalverben ist das Auftreten eines Elements mit der Eigenschaft „involitional“ beim Passiv am meisten offensichtlich: Der Patiens erscheint als Subjekt bevorzugt bei Handlungsverben, wobei ein menschlicher Agens impliziert wird.4 Auch unpersönliche Konstruktionen wie (1) got. mik huggreiþ, dt. mich friert, lat. me taedet (alicuius rei), me. him remembreth of something 3

4

Dowty (1991, 576) formuliert Argument-Selektionsprinzipien in der Weise, dass „bei Verben mit Subjekt und Objekt das Argument mit den meisten Agens-Eigenschaften Subjekt wird und das mit den meisten patienstypischen Eigenschaften Objekt“; Vgl. Engelberg (2000, 192). Shibatani (1998, 126).

Rosemarie Lühr

166

mit einem oftmals dativischen oder akkusativischen Experiencer haben in diesen Kasusformen ein Element mit der Eigenschaft „involitional“. Ein Merkmal für „fehlende Volitionalität“ ist, dass solche Konstruktionen nicht in den Imperativ gesetzt werden können.5 Mehr Diskussionsbedarf für das Merkmal „involitional“ ist bei Modalverben vorhanden. Doch gibt es auch hier einschlägige Fälle, nämlich die Modalverben dürfen, müssen, sollen. Bei diesen Verben ist in nichtepistemischer Verwendung die Quelle des Redehintergrunds extrasubjektiv.6 So befindet sich in den Beispielen (2) das volitionale Subjekt außerhalb der Modalverbkonstruktion: (2)(a) Ich muss studieren. Meine Eltern wollen es. (extrasubjektiv-volitiv) (2)(b) Mutter zu Tochter: Du darfst diesen jungen Mann nicht mit hierher bringen; ich will es nicht. (2)(c) Das Ende der „Who“ scheint inzwischen eingeläutet: Townshend und seine Mitarbeiter wollen noch eine LP einspielen, noch einmal auf Tournee gehen, und dann soll Feierabend sein.7

2. Passiv 2.1 Im Indogermanischen Im Indogermanischen hat es kein morphologisches Passiv gegeben. Eine Neubildung auf -ya- begegnet im altindischen Präsenssystem: (3) RV VII 76,b uৢƗࡾ uchántƯ

ribhyate

Morgenröte: NOM.SG.F

wird gelobt: 3SG.IND.PRES.PASS

aufleuchtend: PRT.PRES.ACT.NOM.SG.F

vásiৢ৬haiত Vasi৬has: INSTR.PLM

‚Die Morgenröte, das Glänzen, wird von den Vasiৢ৬has gelobt‘ Auch ein Aorist Passiv kommt im Altindischen vor: (4) RV VI 20,2b asuryàূ devébhir

dhƗyi

víĞvam

Herrschaft: NOM.SG.N Götter: INSTR.PL wurde eingerichtet: 3SG.IND.AOR.PASS ganz: NOM.SG.N

5 6 7

Haspelmath (2001). Kratzer (1981). Strecker/Hoffmann/Zifonun (1997, 1890f.).

Indogermanisch – Germanisch – Deutsch

167

‚Die gesamte Herrschaft wurde von den Göttern eingerichtet‘ 8 Im Griechischen haben nur Aorist und Futur im Passiv eigene Formen. Und im Hethitischen treten sogar aktivische Verben für das Passiv ein, etwa statt eines Passivs zu kuen- ,töten‘ das Verb ak- ,sterben‘ (5) CTH 291.I.a: Gesetze, TAFEL I § 6 14 [ták]-ku LÚ.ULÙLU-as LÚ-as na-as-ma SAL-za ta-ki-ya URU-ri a-ki … ‚[We]nn ein Mensch – ein Mann oder eine Frau – in einer anderen Stadt getötet wird ...‘ (eigtl. ,stirbt‘) Sonst aber werden im Hethitischen, Altindischen und Griechischen Medialformen passivisch verwendet. Ein belebter Patiens ist in dem altindischen Beispiel (6) bezeugt: (6) RV I 92,7 bhásvati

netrí

snjnr஭ tƗnƗm

divá

leuchtend: NOM.SG.F

Heribeiführerin: NOM.SG.F

Gaben: GEN.PL.N

Himmel: GEN.SG.M

stave

duhitá

gótamebhiত9

wird gepriesen: 3SG.IND.PRES.MED

Tochter: NOM.SG.F

Gotamas: INSTR.PL.M

‚Als glanzvolle Bringerin der Schenkungen wird die Tochter des Himmels von den Gotamas gepriesen‘10 Ebenso im Griechischen: (7) Il ǽ 398 IJo૨ (’HİIJíȦvoȢ) ʌİȡ į੽‚ șȣȖȐIJȘȡ

਩Ȥİș’

dessen: GEN.SG.M

wurde gehalten: 3SG.IND.IPF.PASS

ૠEțIJoȡȚ Hektor: DAT.SG.M

eben

ja

Tochter: NOM.SG.F

ȤĮȜțoțoȡȣıIJૌ. erzgepanzert: DAT.SG.M

‚dessen Tochter wurde von dem erzgepanzerten Hektor (als Frau) gehalten‘ Sogar die erste und zweite Person erscheinen als Patiens. In den folgenden Beispielen ist die Person in der Verbalendung enthalten – Griechisch und Altindisch sind pro drop-Sprachen:

8 Lühr (2004). 9 Ein Element wird im Passiv umso seltener hinzugefügt, je typischer es Agens ist. Diese Agens-Hinzufügung beruht auf der „Reverse Empathy Hierarchy“: (2) natural force > instrument > institution > generic human > specific human > 3rd person > SAPs (speech act participants); vgl. Shibatani (1998, 135f.), Vogel (2006, 55). 10 Kümmel (1996, 131ff.), Hettrich (1990, 78).

Rosemarie Lühr

168 (8) Il T 136 o੝ įȣvȐȝȘv

ȜİȜĮșȑıș’

૓AIJȘȢ

nicht

vergessen: INF.AOR.MED

Ate: GEN.SG.F

konnte: 1SG.IND.IPF.MED



ʌȡ૵IJov

ਕȐıșȘv

durch welche: DAT.SG.F

vorher

wurde verblendet: 1SG.IND.AOR.PASS

‚Ich konnte nicht die Ate vergessen, durch die ich vorher verblendet wurde‘ (9) RV VI 35,5ab tám ā´

nunámࡦ

vrࡢ jánam

diese: ACC.SG.M

jetzt

Gemeinschaft: ACC.SG.M

her

cic /

chū´ro

sogar

Held: NOM.SG.M

anyáthā auf andere Weise

yác

chakra



dúro

da

Mächtiger: VOC.SG.M

auseinander

Tor: ACC.PL.F

grଜ ʙnīৢé wirst begrüßt: 2SG.IND.PRES.PASS

‚Her zu dieser Gemeinschaft [komm] jetzt wie sonst, da du, Mächtiger, begrüßt wirst als Held, der die Tore auf[schließt]‘ 11 Im Vergleich mit dem Deutschen ist dieser Befund auffällig. Denn im Deutschen ist das Subjekt in Passivsätzen zumeist ‚unbelebt‘ und ‚nichtmenschlich‘.12 Warum in den altindogermanischen Sprachen demgegenüber häufig Belebtes im Subjekt des Passivsatzes bezeichnet wird, hat jedoch folgenden Grund: Intransitiv und Passiv haben die gleiche Argumentstruktur, nämlich „unakkusativ“. 13 So kann ein und dasselbe Verb sowohl passivisch als auch intransitiv gedeutet werden: (10) Od į 495 ʌoȜȜoì μèv

Ȗàȡ

IJ૵v

Ȗİ

viele: NOM.PL.M

denn

von ihnen: GEN.PL.M

fürwahr

aber

įȐȝİv,

ʌoȜȜoì

įè

wurden getötet: 3PL.IND.AOR.PASS/kamen um: 3PL.IND.AOR.MED

viele: NOM.PL.M

aber

ȜȓʌovIJo· blieben übrig: 3PL.IND.AOR.MED

‚viele von ihnen wurden getötet/kamen um, viele blieben übrig‘

11 Kümmel (1996, 36). 12 Koo (1997, 117f.). 13 Benedetti (2004). Vgl. dazu Grimshaw (1990, 122), Baltin (2001, 227f.), Engelberg (2000, 56f.), Lühr (2009).

Indogermanisch – Germanisch – Deutsch

(11) ʌoȜȜoì many 1 2

PASSIVE įȐȝİv were killed P P

Passivische Interpretation von (10)

by somone F (unspecifed) 1

169

UNACCUSATIVE ʌoȜȜoì įȐȝİv many perished 1 P 2 P Unakkusativische Interpretation von (10)

(1 = Subjekt; 2 = Direktes Objekt; P = Prädikat) 2.2 Im Germanischen Im Germanischen sind in den nord- und westgermanischen Sprachen Reste der indogermanischen mediopassiven Flexion nur bei dem Verb ,heißen‘ bezeugt: (12) altwestnord. heite, runennord. ha[i]te-ka, haite, haitika, altschwed. hæti, ae. 1.3.sg.ind.präs.prät. hātte, 3.pl.ind.präs.prät. hātton, mndd., mndl. hette ,wird genannt‘ ,werden genannt‘, ,wurde genannt‘, ,wurden genannt‘ Demgegenüber hat das Gotische ein vollständiges Paradigma, und zwar im Indikativ und Optativ Präsens.14 Was nun die Funktion des gotischen Mediopassivs angeht, so wird diese Diathese in der einschlägigen Literatur als echtes Passiv eingestuft.15 Diese Auffassung ist aber unzutreffend. Man findet genau die Bedeutung von Unakkusativen, und zwar Medium und Passiv.16 14 Während die 3. Personen auf Indikativ -ada, -anda, Optativ -aida, -aindau häufig erscheinen, gibt es nur wenige Belege für die 1. und 2. Person: 1.sg.ind. fraqimada, 2.sg.ind. haitaza; 1.pl.ind. þreihanda, 2.pl.ind. tiuhanda; 1.sg.opt. fragibaidau, 2.sg.opt. haitaizau; 1.pl.opt. bigitaindau, 2.pl.opt. fraqimaindau. Auch die gotischen Imperative liugandau und lausjadau gehören zum Mediopassiv. 15 Z.B. Braune/Ebbinghaus (1981, 106) verwenden den Terminus „mediopassiv“ nicht länger für die entsprechende Diathese, weil es keine mediale Bedeutung gebe. 16 Für die Semantik des Mediums hilft die Klassifizierung nach Situationstypen, wie sie Kemmer (1993) innerhalb Langacker’s „Cognitive Grammar“ vorgenommen hat, weiter: I. Reflexive middle: A participant has two participant roles. These roles are nearly indistinguishable. a. verbs of grooming or body care: German sich waschen, English wash, Latin lavor b. verbs of non-translational movement: German sich strecken, English to stretch out, Latin revertor c. verbs of change in body posture: German sich setzen, English to sit down, Greek ʌȑIJİıșĮȚ ,fly‘ d. verbs of locomotion: German sich entfernen; English to remove e. indirect middle: German sich etwas mieten, English to rent a house for oneself, Greek ʌȠȡȓȗİıșĮȚ ,to provide for oneself‘ II. Middle of emotion and cognition: The participant roles are not distinguishable. a. verbs of emotion: German sich erschrecken, English to get frightened, Latin irascor b. emotive speech acts: sich beschweren, English to complain, Latin queror, Greek ੑį઄ȡİıșĮȚ

Rosemarie Lühr

170

So erscheinen im Gotischen z.B. mediale Verben der Gemütsbewegung, also typische Bezeichnungen von medialen Situationstypen:17 (13) Römer 14,15 iþ jabai in matis broþar þeins

gaurjada, ju ni bi friaþwai

aber wenn

sich kränkt

wegen Speise

Bruder

dein

mehr nicht aus

Liebe

gaggis. gehst

,Wenn aber dein Bruder um deiner Speise sich kränkt, so wandelst du schon nicht nach der Liebe‘ (14) Lukas 6,21 audagai jus gretandans

nu,

unte

ufhlohjanda.

selig

jetzt

denn

lachen

ihr

weinend

,Selig seid ihr, die ihr hier weint; denn ihr werdet lachen‘ Für das Passiv genügt nur ein Beispiel, denn diese Bedeutung ist unbestritten:

,to lament‘ c. verbs of cognition: German sich überlegen, English to consider, Latin meditor III. reciprocal middle: identification of events and participant roles. a. natural reciprocal events: German sich umarmen, English to embrace, Latin amplector b. natural collective events: German sich versammeln, English to assemble IV. Spontaneous and passive situation types and faciliative: No realization of a participant role/of a participant a. spontaneous events: German sich bilden, English to evolve b. passive events: frz. La forge s’allume , English The torch inflames c. facilitative: German Das Buch verkauft sich gut, English The book sells well. 17 Weiterhin ist die Bedeutung von bigitaindau mit der von griech. ijĮȓvoȝĮȚ ,ich erscheine‘ vergleichbar, ein Verb, das eine nicht-translationale Bewegung bezeichnet: (a) 2 Korinther 5,3 jabai sweþauh gawasidai, ni naqadai bigitaindau. wenn wengistens bekleidet nicht nackt erscheinen: ‚weil wir dann bekleidet und nicht bloß erscheinen‘ Auch „faciliatives“ kommen vor: (b) 1 Korinther 13,5 ni aiwiskoþ, ni sokeiþ sein ain, ni ingramjada nicht

verhält sich ungeziemend

nicht

sucht

ihr

eigen

nicht

ist sie erzürnbar

‚sie stellt sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern‘

Indogermanisch – Germanisch – Deutsch

171

(15) Johannes 16,32 qimiþ ‫ڝ‬eila jah nu qam,

ei

distahjada

‫ڝ‬arjizuh

du

kommt

dass

wird zerstreut

jeder

in

Stunde

und

nun

ist gekommgen

seinaim Seine

,Es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeglicher in das Seine‘ Wieso nun das synthetische Mediopassiv im Germanischen untergegangen ist, könnte an einer besonderen Eigenschaft des Mediums im Indogermanischen gelegen haben: Wie das Altindische und Griechische zeigen, hat diese grammatischen Kategorie nur im Präsens mediale Endungen, im Aorist und Perfekt aber aktivische: (16) Präsens Medium

Aorist Aktiv

Perfekt Aktiv

altind. vártate ,wendet sich‘

3.sg.ind. avart, 3.pl.ind. avrֈ tan

vavárta

revertī 18

lat. revertor ,ich kehre zurück‘ vgl. ferner: griech. ੆ıIJĮ-ȝĮȚ ,ich trete‘ ਩ıIJȘv IJȒțo-ȝĮȚ ,ich schmelze‘

IJȑIJȘ-ț-Į

19

Insbesondere der Umstand, dass im Perfekt, der Kategorie, von der das Germanische einen Großteil des Präteritums bildet, keine formalen Kennzeichnungen des Mediums vorhanden waren, könnte zum Untergang des ererbten Mediopassivs geführt haben, sobald Konkurrenten aufkamen, nämlich Konstruktionen mit Reflexivpronomen, die schon im Gotischen lexikalisierten na-Verben und das waírþan-, wisan-Passiv, die Vorläufer unseres Vorgangs- und Zustandspassivs. Vorbild für diese Passiva waren wohl Paare mit waírþan und wisan + Adjektiv, bei denen Telizität und Atelizität bezeichnet wurde: (17)(a) Markus 7,27 let faurþis sada wairþan lass zuvor satt werden ,Lass zuvor die Kinder satt werden‘

barna Kinder

18 Hoffmann (1975, 248). 19 Lühr (2008), Rijksbaron (1984, 144ff.), Kaufmann (2004, 132). Warum ein Medium und Aktiv in einem Paradigma zusammen vorkommen, ist unklar (dazu Bakker 1993). Möglicherweise beruht die Koexistenz darauf, dass im Präteritum ein Nachzustand ausgedrückt wird.

Rosemarie Lühr

172 (17)(b) Galater 3,3 swa unfroþans sijuþ? so unverständig seid ,Seid ihr so unverständig?‘

Beim Passiv erfolgt dabei ein Wandel in der Struktur der thematischen Rollen: Der ursprüngliche Agens wird eliminiert oder an die Peripherie gesetzt und eine Entität mit der Eigenschaft „involitional“, eben der Patiens, wird Subjekt, während bei reflexiven Konstruktionen wie vorher beim indogermanischen Medium die thematische Rolle Subjekt erhalten ist. Bei dieser Konstruktion wird also wie bei den deutschen reflexiven Verben des Typs sich waschen, sich ärgern ein aktives Subjekt defokussiert und der Patiens fokussiert,20 also ebenfalls eine „involitionale“, nicht-kontrollierende Entität.21 2.2.3 Deutsch Im heutigen Deutsch sind neben dem Vorgangs- und Zustandspassiv schon wieder Varianten im Gebrauch. Wie Vogels (2003) Untersuchung des Passivs in deutschsprachigen Chats gezeigt hat, wird das bekommenPassiv (69%) dem kriegen-Passiv (31%) vorgezogen. Eine aktivische Variante begegnet in: (18)(a) Wie bekomm ich mein cdrom gemounted? (18)(b) Dummerweise kriege ich den nicht mal auf x86 compiled. Im Chat erscheint auch eine Kombination von sein + zu + Infintiv mit können-Modalität und einem Agens mit Präp. von, wie er sonst nur bei müssen-Modalität vorkommt. (19) [Das] ist sogar von einem Geisteswissenschaftler zu bedienen.

20 Fagan (1992, 78). 21 Givón (1993, 46).

Indogermanisch – Germanisch – Deutsch

173

3. Unpersönliche Konstruktionen Allgemein nimmt man an, dass subjektlose Experiencer-Konstruktionen des Typs mich ärgert im Indogermanischen weit verbreitet waren. Auf den ersten Blick stimmt dies zu den Gegebenheiten des morphologiereichen Indogermanischen: Denn „die overte Markierung der Experiencer-Funktion durch einen obliquen Kasus setzt ... eine „leistungsfähige Morphologie“ voraus.22 Gemäß der These, dass „der Abbau ,subjektloser‘ Konstruktionen“ als typisches Symptom für ein Entwicklungsstadium von Sprachen zu bewerten ist“,23 müssten dann die Experiencer-Konstruktionen zu den meisten modernen Sprachen hin verschwunden sein. Denn, wie am konsequentesten das Englische zeigt, verläuft der Wandel zu einem Sprachtypus mit möglichst fixen Wortstellungsmustern und einem verfestigten System obligatorischer und einheitlich markierter syntaktischer Funktionen.24 3.1 Indogermanisch In einem solchen Szenario macht aber gerade der Befund des Indogermanischen Probleme: Denn Gleichungen für subjektlose Konstruktionen gibt es nicht. Dies gilt zunächst für die Denotierung von Naturvorgängen („Wetterverben“); vgl. die nullstelligen Verben: (20) heth. lukkatta ‚es tagt, wird morgens hell‘, hé-e-u-wa-ni-eš-ki-it ‚es regnete‘, lat. gelat, vesperascit, fulget Zuweilen wird ein entsprechendes Subjekt hinzugefügt: (21) aind. (vāࠢto) vāࠢti ,der Wind weht‘, griech. (ZİȪȢ) ੢İȚ, lat. (Iuppiter/ caelum) pluit/tonat/fulgurat ,(Jupiter/der Himmel) regnet/donnert/blitzt‘ Auch einwertige und zweiwertige Konstruktionen mit einem belebten Experiencer sind nur einzelsprachlich; vgl.

22 Seefranz-Montag (1995, 1277f.). 23 Seefranz-Montag (1983, 253). 24 Seefranz-Montag (1995, 1278).

Rosemarie Lühr

174

(22) lat. decet me; vitae me taedet Da es also keine Gleichungen bei subjektlosen Konstruktionen gibt, scheint das Indogermanische eine „subjektprominente“ Sprache gewesen zu sein.25 In einer solchen Sprache sind Form und Vorkommen von Verbergänzungen, insbesondere von Subjekten, einheitlich geregelt. Subjekte kongruieren mit dem Verb und können definit oder indefinit, belebt oder unbelebt sein.26 Auch satzförmige Subjekte kommen vor, und zwar in Verbindung mit prädikativen Substantiven, Adjektiven, Adverbien; vgl.: (23) Il O140f. ਕȡȖĮȜȑov į੻/

ʌȐvIJȦv

ਕvșȡȫʌȦv

૧૨ıșĮȚ

schwierig

aller: GEN.PL.M

Menschen: GEN.PL.M

schützen:

PART

INF.PRES.ACT

ȖİvİȒv

IJİ

IJȩțov

IJİ.

Geschlecht: ACC.SG.F

und

Nachkommenschaft: ACC.SG.M

und

,es wäre wohl schwierig, aller Menschen Stamm und Geschlecht vom Tode zu retten‘ (24) ŚB 4,1,4,6 tát tád avaklଜptám evá yád brāhmanò ’rājanyáত ‚so (daher) ist das ganz passend, dass ein Brahmane ohne König sei‘ (25) Plautus Aulularia 624 temerest,27 quod corvos cantat mihi nunc ab laeva manu ‚Es ist ohne Grund, dass der Rabe mir jetzt von der linken Hand singt‘ Fragt man sich aber, wie Experiencer-Konstruktionen in den altindogermanischen Sprachen aufgekommen sein können, so kann eine Satzstruktur mit prädikativem Adjektiv wie in (26) der Ausgangspunkt gewesen sein. Denn wird ein Experiencer hinzugefügt, ergibt sich ein Satzmuster für eine unpersönliche Konstruktion: (26) Il A 107 Įੁİȓ IJoȚ

IJ੹

țȐțૃ

ਥıIJ੿

immer

das: ACC.PL.N

Schlechte: ACC.PL.N

ist: 3SG.IND.PRES.ACT

dir: DAT.SG

25 Dazu passt, dass für das Indogermanische wahrscheinlich SOV-Stellung als Basiswortstellung, also keine „freie“ Wortstellung, anzunehmen ist. Darauf deuten das Altlatein, die altindoiranischen Sprachen und Hethitisch, auch mit der Präferenz für Postpositionen. Die abweichende Wortfolge im Griechischen, nämlich SVO, ist dann wohl mit der Entwicklung zu einer diskurskonfigurationalen Sprache zu deuten; vgl. Matić (2003; 2003a), Keydana (2008). 26 Sasse (1995, 1066). 27 Der unpersönliche Ausdruck enthält ein prädikatives Adverb; vgl. Hoffmann (1976).

Indogermanisch – Germanisch – Deutsch

ijȓȜĮ

ijȡİı੿

ȝĮvIJİȪİıșĮȚ,

lieb: NOM.PL.N

Herz: DAT.SG.F

verkünden: INF.PRES.MED

175

,immer ist es dir lieb, das Schlechte mir zu verkünden‘ Der nächste Schritt ist, dass die Verbindung prädikatives Substantiv/Adjektive/Adverb + ist durch ein Verb ersetzt wird, und man hat auf einmal ein unpersönliches Verb: (27) Plautus, Mostellaria Promitte: ego ibo pro te, si tibi non libet28 3.2 Germanisch Das Germanische besitzt wie andere altindogermanische Sprachen nullstellige Wetterverben: (28) got. rigneiþ, aisl. várar ,es wird Frühling‘, gall ,es schallte‘, lýste ,es wurde hell, es dämmerte‘; ahd. plecchazit ,es blitzt‘; ae. norđan sniwde; ahd. reganot Im Gotischen und Altisländischen kommen auch Instrumentale und Dative bei Wetterverben vor: (29)(a) Lukas 17, 29 iþ þammei daga usiddja Lod us Saudaumim, rignida swibla(DAT) jah funin(DAT) us himina ,An dem Tage aber, als Lot aus Sodom ging, da regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel‘ (29)(b) dríft hagle(INSTR) ,es stiebt mit Hagel‘ Im Germanischen wird der ergänzungslose Konstruktionstyp dann durch Konstruktionen mit obligatorischem ae. hit, ahd. iz, isl. þađ/hann ersetzt; vgl. mit stellungsbedingten Formalsubjekten:

28 Solche Konstruktionen können dann durchaus andere Konstruktionen mit einem nichtkanonischen Subjekt verdrängt haben, wie es zeitweise für das Mittelenglische nachweisbar ist. So hatte das Mittelenglische reflexive Konstruktionen, die dem indogermanischen Medium vergleichbar sind. Vgl. das aus dem Französischen entlehnte, reflexive Verb in (a): (a) a man shal remembre hym of his synnes (Chaucer) Daneben trat die Experiencer-Konstruktion: (b) ceres, thee remembreth wel (Chaucer) (Seefranz-Montag 1995, 1279).

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(30)(a) ae. Ælfic, Gramm 22 hit snîwþ (30)(b) ahd. T 228,2 uuanta iz abandet inti intheldit ist iu ther tag ,quoniam advesperascit et declinata est iam dies‘ (ahd. âbandên ,Abend werden‘) (30)(c) N 1,595,14 sô iz wât, sô wágôt iz (30)(d) N 1,1713 únde iz náhtêt ,ac nox funditur desuper in terram‘ (ahd. nahtên ,Nacht werden‘) (30)(e) N 1,63,19 sô iz kestirnet íst ,edita stelliferis noctibus‘ (ahd. stirnēn ,gestirnt sein‘) (30)(f ) nisl. þađ/hann snjóar ,es schneit‘, þađ dimmir ,es wird dunkel‘ (nú dimmir ,jetzt wird es dunkel‘) Und mit nicht mehr stellungsbedingten (obligatorisch werdenden) Formalsubjekten: (31) ae. Mt. VII 27 þa rinde hyt ,da regnete es‘ Doch kann das dummy-Subjekt noch weit bis ins Mittelenglische, Mittelhochdeutsche/Neuhochdeutsche fehlen: (32)(a) ahd. Notker I 38,29 sô heiz uuirt ze sumere (32)(b) nhd. bald wird Sommer Einwertige Verben sind in den germanischen Sprachen ebenfalls belegt: (33)(a) got. J 6,35 þaurseiþ mik (33)(b) J 10,25 þana gaggandan du mis ni huggreiþ (33)(c) ae. (hit) me ofþinkþ ,das missfällt mir‘, me. that me repentes ,das reut mich‘; aisl. ugger mik ,mir bangt‘, lyster mik ,mich gelüstet‘, syfiar mik ,mich schläfert‘, nisl. mig langar ,ich wünsche‘ (33)(d) aisl. Hkr. 2,287 eptir þat batnaði Agli ,danach ging es Egill besser‘29 (33)(d) ahd. T 55,7 zít ... in thero imo bazeta ,horam ... in qua melius habuerit (ahd. bazên ,besser werden‘) (33)(e) N 1,155,30 únz ímo sô únmáhta (ahd. unmahten ,kraftlos werden‘) (33)(f ) N 1,145,19 nemág tie rîchen nîeht ... túrsten na ,num sitire non possunt‘ (vs. T 208,1 ih thurstu ,sitio‘; ahd. dursten ,dürsten‘)

29 Seefranz-Montag (1983, 43f., 54ff., 118ff., 202ff.).

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Ebenso zweiwertige: (34)(a) me. me(ACC) likeþ wel þi wordes(GEN), him(DAT) remembreth of something(PP) (34)(b) isl. mig(ACC) dreymdi draum(ACC) (34)(c) ahd. O I 27,33 nirthróz se thero wórto (ahd. bi-/irdriozan ,überdrüssig sein‘) (34)(d) N 1,324,13 álde uuâr spûot is ímo zeirfárenne (ahd. (gi-)spûoen ,gelingen, glücken‘)30 (34)(e) frühnhd. mich verlanget eines dinges31 Der Bestand an für das Germanische anzunehmenden Gleichungen ist aber insgesamt gering: regnet, hungert, dürstet, schmerzt. D.h., die germanischen Einzelsprachen haben sich ihre unpersönlichen Konstruktionen meist von einander unabhängig geschaffen. 3.3 Deutsch Im heutigen Deutsch gibt es einen Restbestand unpersönlicher Konstruktionen; sie gelten als archaisch oder dialektal. Konstruktionen, die dafür eingetreten sind, sind: (35)(a) Nominativierungen: ich träume, ahne (ahd. T 78,2 sie wuntarôtun) (35)(b) periphrastische haben- und sein-Konstruktionen: mich gelüstet > ich habe Lust auf; mich hungert > ich habe Hunger, ich bin hungrig (35)(c) Präfigierungen: mich dauert > ich bedauere (35)(d) Reflexivierungen: mich wundert > ich wundere mich darüber32 Doch verläuft der Abbau der unpersönlichen Konstruktionen im Deutschen wesentlich langsamer als im Englischen. Vielmehr befindet sich das Deutsche auf dem Entwicklungsstand des Mittelenglischen im 14. bis 16. Jh.,33 während das Isländische noch heute eine Fülle von ExperiencerKonstruktionen hat.34 Von den vielen Erklärungen für die Ausbildung

30 31 32 33 34

Behaghel (1924), Hennig (1957). Seefranz-Montag (1983, 45). Seefranz-Montag (1995, 1283). Seefranz-Montag (1983, 178, 201, 251). Dieser gegenüber dem Englischen langsamere Abbau der unpersönlichen Konstruktionen kann nicht mit dem größeren Formenreichtum des Deutschen begründet werden. Denn die morphosyntaktisch konservativste germanische Sprache, eben das Isländische, hat keine

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und die verschiedenen historischen Erscheinungsformen der Impersonalia in den germanischen Sprachen sei hier nur eine genannt: Möglicherweise hängt die unterschiedliche Distribution von Experiencer-Konstruktionen in den heutigen germanischen Sprachen mit einem Wandel von TopikProminenz zu Subjekt-Prominenz beziehungsweise der Beibehaltung der Topik-Prominenz zusammen.35

4. Modalverben 4.1 Indogermanisch Für die Wiedergabe der „Involitionalität“ beim Adressaten oder bei dritten Personen, wie sie von den deutschen Modalverben dürfen, müssen, sollen bezeichnet wird, stehen im Indogermanischen die Modi Imperativ und Konjunktiv, im Hethitschen auch Indikativ + Prohibitivpartikel lē zur Verfügung. (36) KUB VI 41 IV (Vertrag mit Kupanta-DKAL, D Version) 13 i-da-la-wa-ah-ti-ma-an lí-e ku-it-ki ,tue ihm nichts Böses‘36 Fügungen mit Modalverben wie im Deutschen kennt das Indogermanische, wie gesagt, dagegen nicht. Ein Mittel, die Inhalte DÜRFEN, MÜSSEN, SOLLEN auszudrücken, sind aber unpersönliche Konstruktionen wie im Griechischen: (37) Il Ȅ 212 o੝ț ਩ıIJ’ nicht

o੝į੻ ਩oȚțİ

ist: 3SG.IND.PRES.ACT nicht

IJİઁv

਩ʌoȢ

ziemt: 3SG.IND.PF.ACT dein: ACC.SG.N Wunsch:ACC.SG.N

ਕȡvȒıĮıșĮȚ· verweigern: INF.AOR.MED

,Nein, ich könnte und dürfte auch nicht dir den Wunsch verweigern‘ (eigtl. ,nicht ziemt es sich‘)

Nominativierungen durchgeführt. Vielmehr wird im Isländischen die oblique Markierung von Experiencern sogar durch den Dativ morphologisch aufgebaut, aber gleichzeitig dieser Experiencer syntaktisch zum Subjekt umgepolt: Experiencer kontrollieren Reflexivierungen und sind in Koreferenz zu Nominativsubjekten tilgbar; vgl. Seefranz-Montag (1995, 1284). 35 Fischer (2004). 36 Zeilfelder (2005, 134).

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Und im Altindischen findet man die Fügung sein + Infinitiv wie im Deutschen für MÜSSEN: (38) RV 10,182,3 tápurmūrdhā

tapatu

rakৢáso



Glutköpfig: NOM.SG.M

soll verbrennen: 3SG.IMP.PRES.ACT

Unholde: ACC.PL.N

brahmadvíৢaত

Ğárave

hántavƗ´

welche: NOM.PL.M

Religion hassend: NOM.PL.M

Geschoss: DAT.SG.F

zu töten

u PART

,Der Glutköpfige verbrenne die Unholde; diejenigen, die die Religion hassen, sind von dem Geschoss zu töten‘ Wird hier die infinitivische Fügung verneint, ergibt sich die Bedeutung NICHT DÜRFEN: (39) RV IX 53,3 ásya vratā´ni

nā´dhr´ࡢ e

pávamānasya

dessen: GEN.SG.M

nicht=heranzuwagen

Pavamāna: GEN.SG.M

dūঌhyƗ`

Vorschriften: NOM.PL.N

böse gesinnt: INSTR.SG.M

,Diese Vorschriften Pavamānas sind von keinem Übelgesinnten anzutasten‘37 Die Bedeutung NICHT DÜRFEN ist also aus einer Bezeichnung einer NOTWENDIGKEIT ableitbar. Eine modalverbartige Fügung zum Ausdruck von DÜRFEN entwickelt das Altindische jedoch in der Fügung arhati + Infinitiv. Aus negiertem na arhati + Infinitiv kann dabei nichtnegiertes arhati + Infinitiv in der Bedeutung MÜSSEN oder SOLLEN abgeleitet werden: (40) Pancatantra 1,15,30 tat tasya vadhopƗyam darum

dessen: GEN.SG.M

anuti‫ܒ܈‬hato

Tötung(sinstrument):ACC.SG.M.

beistehend/folgend: GEN.SG.M.PART.PRES.ACT.

me

sƗhƗyyaۨ

kartum

arhasi

mir: GEN./DAT.SG

Hilfe: ACC.SG.N.

tun: INF

kannst/darfst/bist verpflichtet: 2SG.IND.PERS.ACT

,Darum sollst du mir bei der Ausführung der Straftat Beistand leisten‘38

37 Lühr (2000, 330). 38 Lühr (2000, 332).

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4.2 Germanisch39 Auch das Gotische setzt zum Ausdruck der „Involitionalität“ beim Adressaten und bei 3. Personen bestimmte Modi, Imperativ und Konjunktiv, ein. Zum Konjunktiv vgl. (41) L 8,38 baþ þan ina sa wair af þammei þos unhulþons usiddjedun, ei wesi miþ imma ,Es bat ihn aber der Mann, von dem die bösen Geister ausgefahren waren, dass er bei ihm sein dürfte‘ Daneben kommt die unpersönliche verneinte Konstruktion ni skuld ist ,es ziemt sich nicht, man darf nicht‘ vor: (42)(a) Mc 2,26 jah hlaibans faurlageinais matida, þanzei ni skuld ist matjan niba ainaim gudjam skuld ,und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester‘ (42)(b) J 18,31 unsis ni skuld ist usqiman manne ainummehun ,Wir dürfen niemand töten‘ Auch bejaht findet sich skuld ist, und zwar in der Bedeutung ,darf‘: (43) Mc 10,2 jah duatgaggangds Fareisaieis frehun ina, skuldu sijai mann qen afsatjan ,Und es traten Pharisäer zu ihm und fragten ihn, ob ein Mann sich scheiden dürfe von seiner Frau‘ Im althochdeutschen Tatian erscheint hier auch der Konjunktiv: (44) T 53,12 inti forhtun inti batun ín thaz hér fuori fon iro entin. [L 8, 35] et timuerunt [Mt. 8, 34] et rogabant ut transiret a finibus eorum. oder arloubit ist:

39 Zum Folgenden vgl. Lühr (1997).

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(45)(a) T 194,3 uns nist erloubit zi slahanne einingan (J 38,31 nobis non licet interficere quemquam) (45)(b) T 68,3 inti áz inti gáb then thie mit imo uuarun, thiu erloubit ni uuarun imo zi ezzanne, nibi then einun heithaftun mannon? (L 6,3 sumpsit et manducavit et dedit his qui cum eo erant, quos non licebat ei manducare, nisi solis sacerdotibus?) (45)(c) T 100,2 ist arloubit manne zi uorlazzanna sina quenun fon sihuuelicheru sachu? (Mt 19,3 si licet homini dimittere uxorem suam quacumque ex causa?) Neben arloubit ist kommt auch gilimpfit vor; es gibt lat. licet oder oportet est ,es ist nötig‘ wieder: (46)(a) T 69,6 Mihhiles bezira ist ther man themo scafe. Bithiu gilimphit in sambaztag uuola zi tuonne (Mt 12,12 Quanto magis melior est homo ove? Ideoque licet sabbato bene facere) ,Wieviel mehr ist der Mensch als ein Schaf! Darum darf man am Sabbat Gutes tun‘ (46)(b) T 12,7 ni uuestut ir, thaz in then thiu mines fater sint gilimphit mir uuesan? (L 2,49 nesciebatis, quia in his quae patris mei sunt oportet me esse?) got. L 2,49 niu wisseduþ þatei in þaim attins meinis skulda wisan? Ein weiterer Ausdruck für MÜSSEN ist im Tatian die Wiedergabe von lat. necesse habere mit thurfti habƝn, nôtdurft ist: (47)(a) T 80,2 Tho quad ín ther heilant: sie ni habent thurfti zi faranne Mt. 14,16 Ihesus autem dixit illis: non habent necesse ire ,Aber Jesus sprach zu ihnen: Es ist nicht not, dass sie hingehen‘ (47)(b) T 125,3 thorph coufta ih inti nôtthurft haben ih ûzziganganne inti gisehen iz L 14,18 villam emi et necesse habeo exire et videre illam ,Ich habe einen Acker gekauft und muss hinausgehen und ihn ansehen‘

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Im Gotischen erscheint hier þarf:40 (48) L 14,18 land bauhta jah þarf galeiþan ja saiσan þata Doch kommt im Althochdeutschen muazan schon im Sinne von MÜSSEN und DÜRFEN vor: (49) O 1,28,1ff. Mit állen unsen kréftin bíttemes nu drúhtin, .../Tház .../wir únsih in then ríuon ni múazin io biscówon;/... Tház .../Wir únsih muazin sámanon zen gotes drútthéganon,/... Joh múazin mit then drúton thes hímilriches níoton,/... Joh wir thar múazin untar ín blíde fora góte sin ... ,Mit allen unseren Kräften bitten wir nun den Herrn, ... dass ... wir uns nie im Unglück umsehen müssen; ... dass ... wir uns zu den lieben Dienern Gottes gesellen dürfen ... und mit den Heiligen das Himmelreich genießen dürfen ... und wir da zwischen ihnen froh vor Gott sein dürfen ...‘ Auch dürfen ist im Althochdeutschen schon in der heutigen Bedeutung belegt: (50) O 4,5,42 then weg man fórahten ni thárf! ,den Weg [der Märtyrer] darf man nicht scheuen!‘ Dass sich bei müssen und dürfen die im heutigen Deutsch gebräuchlichen Bedeutungen verfestigt haben, liegt aber wohl an dem Modalverb sollen. Dieses ist eindeutig „involitional“. Es bedeutet im Gotischen und Althochdeutschen ,müssen‘: (51)(a) got. J 19,7 weis witoþ aihum jah bi þamma witoda unsaramma skal gaswiltan (51)(b) ahd. T 197,6 uuir habemes euua, inti after euu sal her sterban J 19,7 nos legem habemus, et secundum legem debet mori ,Wir haben ein Gesetz und nach diesem (unserem) Gesetz muss er sterben‘

40 þarf hat im Gotischen auch die Bedeutung ,bedürfen‘: J 16,30 nu witum ei þu kant alla, jah ni þarft ei þuk σas fraihnai T 176,2 Nu uuizumes thaz thu allu uueist inti nist dir thurft thaz thih íoman frage (J, 16,30. Nunc scimus quia scis omnia et non opus est tibi ut quis te interroget) ,Nun wissen wir, dass du alle Dinge weißt und bedarfst nicht, dass dich jemand frage‘

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Verneint bedeutet skulan auch ,nicht dürfen‘: (52) 2. Kor 12,4 jah hausida unqeþja waurda, þoei ni skulda sind mann rodjan. ,und hörte unaussprechliche Worte, welche ein Mensch nicht sagen darf‘ Im Laufe der Zeit wurde sollen aber infolge von Reimwortbildung eine Konverse von wollen: (53) O 1,25,10 kundta imo, er iz wólta, iz ouh so wésan scolta ,er sagte ihm, dass er es wollte, dass es auch so geschehen sollte‘ Durch sollen kam dann zum Ausdruck, dass eine (vom Kontext gelieferte) Quelle will, dass der mit der Infinitivkonstruktion bezeichnete Sachverhalt eintritt. Dadurch wurde sollen als Träger der Bedeutungen ,müssen‘ und ,dürfen‘ ungeeignet. Denn MÜSSEN drückt aus, dass eine (vom Kontext) gelieferte Quelle nur eine solche Möglichkeit zulässt.41 Was den epistemischen Gebrauch der „involitionalen“ Modalverben angeht, so etabliert sich das System epistemischer Verwendungsweisen erst während der frühneuhochdeutschen Periode.42 Es handelt sich also um eine weitere Neuerung in den germanischen Sprachen. 4.3 Deutsch Im Neuhochdeutschen hat sich brauchen der Gruppe der „involitionalen“ Modalverben angeschlossen. In Anlehnung an die Modalverbkonjugation erscheint gelegentlich auch die endlungslose Form brauch nicht nur in der 1. Person Singular, wo sie sich durch e-Tilgung erklären lässt, sondern auch in der 3. Person Singular Indikativ Präsens anstelle von standardsprachlichem braucht: (54) Wer einmal eine wissenschaftliche Arbeit verfasst ... hat, dem *brauch man es nicht mehr zu sagen: Nur wer seine Daten regelmäßig auf externe Datenträger sichert, ist im Zweifelsfall auf der sicheren Seite. (Tagesspiegel 2000)43

41 Öhlschläger (1989, 162, 172, 249, 144). 42 Axel (2001, 46). 43 Fabricius-Hansen (2006, 465).

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5. Fazit Vergleicht man rückblickend Indogermanisch, Germanisch und Deutsch auf den hier untersuchten Begriff der „Involitionalität“ und seine sprachlichen Umsetzungen, so standen in der indogermanischen Grundsprache dafür nur die synthetisch gebildeten Modi Imperativ und Konjunktiv und mediale Konstruktionen zur Verfügung, wobei das Medium auch passivisch verwendbar war. Experiencer-Konstruktionen wie mich ärgert gab es nicht. Im Germanischen existierten demgegenüber eine Fülle von unpersönlichen Konstruktionen; das analytisch gebildete Passiv war am Entstehen ebenso wie das System der Modalverben für „involitionales“ dürfen, müssen, sollen. Zum Neuhochdeutschen hin sind nur bestimmte Typen von unpersönlichen Konstruktionen zurückgegangen. mich ärgert, dass ist durchaus auch in der gesprochenen Sprache gebräuchlich. Die vom Indogermanischen über das Germanische bis ins Deutsche beobachteten Sprachwandelprozesse sind nun in einen größeren Zusammenhang einzuordnen: Für das indogermanische reflexive und passivisch verwendbare Medium kommen im Germanischen unpersönliche Konstruktionen – ich freue mich ĺ mich freut – und (unpersönliche) Passivkonstruktionen auf. Und der indogermanische Konjunktiv und Imperativ wird teils durch die Modalverben sollen, müssen, dürfen, brauchen ersetzt. Es handelt sich jedesmal um die erste Stufe im Grammatikalisierungsprozess, um die Periphrase. Diese mündet über die Fusion in die Erosion, dann beginnt dieser Kreis von neuem.44 Warum aber verwenden Sprecher Periphrasen? Eine Antwort ist: Sie verwenden sie, um Missverständnisse zu vermeiden. Für das Merkmal „involitional“, einer Anti-Agens-Eigenschaft, hat sich dieser Sprachzustand im Germanischen erstaunlich lange gehalten.

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44 Croft (2003, 271).

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Joachim Heinzle (Marburg)

Über die wechselseitigen Beziehungen zwischen Sprachgeschichte und Literaturgeschichte „Man arbeitet Rücken an Rücken“. Mit diesem einprägsamen Bild hat unlängst Hans-Martin Gauger das Verhältnis zwischen Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft beschrieben.1 In der Ordnung unserer Universitätsfächer hausen die Disziplinen traditionell unter den Dächern der Nationalphilologien zusammen. Die Tradition stammt aus der Entstehungszeit des philologischen Fächerkanons in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nicht anders als heute gab es damals unterschiedliche Konzeptionen von Philologie, doch schloß der Begriff immer die Vorstellung eines irgendwie gearteten Zusammenhangs zwischen der Erforschung der Sprache und der Erforschung der Literatur ein. In der sich konstituierenden Germanistik wurde die Sicht Jacob Grimms maßgeblich, für den alle philologische Tätigkeit unter dem Primat der Sprachforschung stand. So gebrauchte er, als er auf der berühmten Germanisten-Versammlung von 1846 über „die wechselseitigen Beziehungen und die Verbindung der drei in der Versammlung vertretenen Wissenschaften“2 sprach, die Begriffe „Sprachforschung“ und „Philologie“ synonym.3 Die Sprachforschung war

1 2 3

Gauger (2009). Grimm (1847). – Ob die Formulierung von Jacob Grimm stammt, ist unklar. In den Versammlungsakten findet sie sich nur im Inhaltsverzeichnis (S. V). Der Vortrag selbst bleibt dort ohne Titel. So heißt es einleitend: „Ich erlaube mir Einiges über die Gegenstände selbst zu sagen, um derentwillen wir gegenwärtig versammelt sind, und obgleich ich meine geringen Kräfte dem vaterländischen Recht und der vaterländischen Geschichte zuweilen zugewandt habe, so ist mir doch die Sprachforschung am geläufigsten; es dürfte auch an sich nicht unpassend erscheinen, weil sie das allgemeine uns verknüpfende Band heißen kann, daß ich eben vom Standpunkt der Sprache aus mein Auge auf die anderen Wissenschaften richte, welche hier vertreten werden sollen“ (S. 11). Bei einer späteren Aufzählung der drei „germanistischen“ Wissenschaften ist der Begriff „Sprachwissenschaft“ dann wie selbstverständlich durch „Philologie“ ersetzt: „Soviel geht hieraus hervor, daß das deutsche Recht [...] innig mit dem Betrieb der vaterländischen Geschichte und Philologie zusammenhängt und die Verbindung dieser drei Wissenschaften in unserer Versammlung eine höchst natürliche und angemessene erscheint“ (S. 17). [Hervorhebungen in den Zitaten von mir.]

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für ihn auch das „verknüpfende Band“,4 das die Einheit einer Germanistik begründete, in der die Wissenschaft von der deutschen Sprache mit den Wissenschaften von der deutschen Geschichte und vom deutschen Recht zusammenwirken sollte, um das deutsche „Wesen“ zu ergründen.5 Die Imagination einer auf die Sprachforschung gegründeten umfassenden Wissenschaft vom deutschen Wesen war pure Ideologie. Geschichtswissenschaft und Rechtswissenschaft sind von Anfang an eigene Wege gegangen, und Literaturwissenschaft und Sprachwissenschaft haben sich im gemeinsamen Haus immer weiter auseinandergelebt. Gewiß: Gaugers Bild stimmt nicht ganz. Es gibt nach wie vor Gelehrte, die in Personalunion Sprach- und Literaturwissenschaftler sind. In der Geschichte der Philologien schien im Werk solcher Gelehrter die Einheit der Fächer buchstäblich verkörpert. Aber diese Einheit war bloß „sozialbiographisch“6 gegeben. Spätestens mit dem Siegeszug der ‚Linguistik‘ seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ist die disziplinäre Eigenständigkeit der Fachteile unübersehbar geworden. Die Folge war, daß sich immer weniger Fachvertreter in beiden Disziplinen betätigten. Man arbeitet Rücken an Rücken. Doch muß man sich bisweilen umdrehen. Wer über mittelhochdeutsche Literatur arbeitet, braucht ein mittelhochdeutsches Wörterbuch und eine mittelhochdeutsche Grammatik. Und auch der Neugermanist ist nicht schlecht beraten, wenn er gelegentlich ein Wörterbuch konsultiert. Sonst kann es ihm passieren, daß er auf falsche Gedanken kommt, wenn Gretchen dem Faust mit Augenaufschlag erklärt, sie sei kein „Fräulein“. Oder daß er sich ratlos fragt, wonach es wohl riechen mag, wenn in Hölderlins ‚Friedensfeier‘ die „Freudenwolk“ „um grüne Teppiche duftet“. Wörterbücher und Grammatiken zu machen, gehört, wie man heute sagt, zum ‚Kerngeschäft‘ der Sprachwissenschaft. Dafür braucht sie ihrerseits die Literaturwissenschaft. Denn Wörterbücher und Grammatiken beruhen auf Texten, und es sind gewöhnlich Literaturwissenschaftler, die als Editoren die Texte bereitstellen und sie als Kommentatoren dem Verständnis erschließen. Wie elementar die wechselseitige Abhängigkeit ist, mag ein Beispiel aus dem neuen Mittelhochdeutschen Wörterbuch zeigen. Es verzeichnet ein Substantiv anestrich ‚Anstrich‘ mit nur einem Beleg aus dem ‚Nibelungenlied‘.7 Gunther ruft im Kampfgetümmel Hagen zu (Str. 2004,2ff.):8 4 5 6 7 8

Grimm (1847, 11); vgl. Anm. 3. Vgl. Meves (1994, 30). Oesterreicher (2009, 93). Gärtner/Grubmüller/Stackmann (2006, 288). Zit. nach de Boor (1979).

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hoert ir die doene, Hagene, die dort Volkêr videlt mit den Hiunen, swer zuo den türn gât? ez ist ein rôter anstrich, den er zem videlbogen hât. Der Fiedelbogen, den Volker hier führt, ist sein Schwert. Demnach muß anstrich ein musiktechnischer Terminus sein, der metaphorisch auf den Schwertkampf übertragen ist. Das Wörterbuch paraphrasiert: ‚Substanz, mit der etw. bestrichen wird‘ (hier: Blut statt Harz). Die Erklärung stammt offensichtlich aus den Anmerkungen in der Ausgabe von Helmut de Boor: „anstrich stm., das was auf den Bogen gestrichen wird, Harz, Kolophonium. Das blutgerötete Schwert wird mit dem geharzten Bogen verglichen.“9 Diese Erklärung ist sehr wahrscheinlich falsch. Im Neuhochdeutschen ist das Wort als Terminus für die Führung des Geigenbogens belegt, und die Kontextanalyse zeigt, daß auch im ‚Nibelungenlied‘ der Bogenstrich gemeint sein dürfte, der die Saiten zum Klingen bringt – übertragen: der Schwerthieb, der blutige Wunden schlägt.10 Die Anmerkungen de Boors gelten als Standardkommentar zum ‚Nibelungenlied‘. Daher ist dem Bearbeiter des Artikels im neuen Wörterbuch kein Vorwurf daraus zu machen, daß er sich ihm anvertraut hat. Es geht mir überhaupt nicht um Kritik. Ich möchte nur an einem konkreten Fall aus der philologischen Alltagspraxis zeigen, wie sich die Disziplinen aufeinander verlassen müssen. Herkömmlicher Weise erwartet man vom Lexikographen, daß er die Kontextanalyse, aus der die Bedeutung abzuleiten ist, selbst vornimmt. So sind unsere großen Wörterbücher entstanden, und so wird in den Wörterbuch-Redaktionen auch heute noch gearbeitet. Doch ist es bei einem Unternehmen wie dem Mittelhochdeutschen Wörterbuch, dessen Erstellung „auf Grund bindender Auflagen der Geldgeber unter hohem Zeitdruck“ steht,11 gar nicht möglich, jeden Beleg so zu prüfen, wie es nötig wäre. Niemand konnte dem Bearbeiter des Artikels anestrich abverlangen wollen, sich durch eingehende Lektüre mit der Fiedelmetaphorik im ‚Nibelungenlied‘ vertraut zu machen und die Spezialliteratur zu konsultieren. Hier ist die Literaturwissenschaft gefordert: Sie muß brauchbare Kommentare bereitstellen. Was sie da in die sprachliche Analyse investiert, wird sie in Form verläßlicher Wörterbücher zurückerstattet bekommen. Für den Literarhistoriker ist die Sprachgeschichte, für den Sprachhistoriker die Literaturgeschichte eine ‚Hilfswissenschaft‘. Das ist prekär,

9 de Boor (1979, 314). 10 Vgl. Schwab (1991, 95). 11 Gärtner/Grubmüller/Stackmann (2006, V).

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denn selbstverständlich versteht sich jede der beiden Disziplinen mit allem Recht selbst als ‚Hauptwissenschaft‘. So ediert der Literarhistoriker seine Texte nicht für den Sprachhistoriker. Aus seiner Sicht kann es angebracht sein, einen mittelhochdeutschen Text in einer ‚normalisierten‘, d.h. regulierten Sprachgestalt zu präsentieren. Das Verfahren zielt nicht etwa auf Rekonstruktion einer historischen Sprachrealität, wie oft unterstellt wird, sondern auf Operationalisierkeit der Texte: Sie sollen im Rahmen eines literarischen Traditionszusammenhangs vergleichbar sein und sie sollen sich problemlos an Grammatik und Wörterbuch anschließen lassen, die notgedrungen mit normalisierten Formen arbeiten. Die Normalisierung repräsentiert als ‚strukturerhaltende Abbildung‘ die graphische und lautliche Struktur des Textes, indem sie mittels konventionalisierter Zeichen ein Bild von ihr erstellt.12 Das bedeutet, daß eine solche Edition etwa für graphematische Untersuchungen nicht verwendbar ist (wohl aber, wenn sie sich an heutige Standards hält, für morphologische, syntaktische, lexikalische). Für graphematische Untersuchungen benötigt der Sprachhistoriker diplomatische Abdrucke oder Faksimiles einzelner Handschriften. Mit denen aber ist dem Literarhistoriker nicht gedient. Auf der anderen Seite verfaßt der Sprachwissenschaftler seine Grammatiken nicht (nur) als Hilfsmittel für das Verständnis von Texten. Was ihn interessiert, ist die Erfassung und Darstellung von Sprachzuständen. Auch hierzu ein Beispiel. Das Partizip des Präsens hat, so liest man es in den Grammatiken, aktive Bedeutung. Steht es als Attribut, bezeichnet es „die dadurch bestimmte Größe als das Subjekt des Zustandes oder des Vorgangs, der Handlung, die durch das Part. ausgedrückt wird“.13 Allerdings gibt es im älteren Deutsch (und in einigen erstarrten Wendungen bis heute) einen Gebrauch des Partizips, der sich damit nicht recht vereinbaren läßt. Es sind Fälle wie ane sehendez leit ‚Leid, das (an-) gesehen wird‘ (‚das sichtbar, offenbar ist‘) oder windende hende ‚Hände, die gerungen werden‘. Jacob Grimm hatte einst umstandslos formuliert, das Partizip sei hier „passivisch gesetzt“.14 Otto Behaghel war zurückhaltender: Er sprach in seiner großen Syntax von bloß „scheinbar passiver Bedeutung“15 und räumte im Syntax-Teil der mittelhochdeutschen Grammatik von Hermann Paul nur ein, man könne „ein solches Partizip [...] bisweilen passivisch übersetzen“.16 In Ingeborg Schröblers Darstellung des 12 13 14 15 16

Vgl. Heinzle (2003, 6f.). Behaghel (1924, 377). Grimm (1837, 64). Behaghel (1924, 379). Behaghel bei Paul (1963, 230).

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Sachverhalts in der 20. Auflage dieser Grammatik, die bis in die aktuelle Auflage unverändert geblieben ist, kam dann der Begriff „passivisch“ gar nicht mehr vor, und aus der Beispielreihe wurde der noch bei Behaghel hervorgehobene Fall entfernt, bei dem man um die passivische Auffassung am wenigsten herumkommt: die windenden hende, die nun einmal „Hände“ sind, „die gerungen werden“.17 Es geht mir nicht um die Frage, wie dieser Gebrauch des Partizip Präsens tatsächlich zu erklären sei.18 Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, wie sich von Grimm über Behaghel zu Schröbler eine Tendenz durchgesetzt hat, den Normalfall, in dem das Partizip Präsens eben aktive Bedeutung hat, stark zu machen. Es entspricht der Logik der Sprachwissenschaft, ihr Interesse auf die sprachliche Normalität zu richten, die einen bestimmten Sprachzustand prägt. Der Literarhistoriker aber muß den einzelnen Text, die einzelne Stelle verstehen. Wenn die Grammatik Anomalitäten – tatsächliche oder vermeintliche – wie die windenden hende ausblendet, hat er das Nachsehen. Die Beziehungen zwischen Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft erschöpfen sich nicht in der Pragmatik wechselseitiger Hilfsdienste, sie betreffen auch die Konzeption von Fragestellungen und Lösungsansätzen. Was das methodologisch und für das Selbstverständnis der Disziplinen bedeutet, ist in den letzten Jahren wiederholt erörtert worden. Zuletzt hat Wulf Oesterreicher einen umfassenden Problemaufriß vorgelegt, der in einen dringlichen Appell für ein Zusammenwirken der Disziplinen mündet.19 Mir geht es im folgenden weder um irgendeine Systematik der Beziehungen noch um großartige Kooperationsprogramme. Ich möchte nur anhand von Beispielen einige der konzeptionellen Probleme zwischen den Disziplinen zur Sprache bringen, mit denen man es im Philologenalltag zu tun hat. Meine Perspektive ist die der mediävistischen Literaturwissenschaft. Meine Stichworte sind: ‚Korpusbildung‘, ‚Periodisierung‘, ‚Literarische Sprachgeschichte‘. Die neue Mittelhochdeutsche Grammatik, als deren erster Band soeben die Darstellung der Wortbildung erschienen ist,20 ist eine Korpusgrammatik. Die Konstituierung des Korpus ist im Vorfeld intensiv diskutiert worden. Dabei konnte man auf den Erfahrungen aufbauen, die man bei der Arbeit an der von Hugo Moser organisierten Fortführung der Früh-

17 18 19 20

Schröbler bei Paul (1969, 378). Vgl. Thim-Mabrey (1990). Oesterreicher (2009). Klein/Solms/Wegera (2009).

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neuhochdeutschen Grammatik von Virgil Moser gemacht hatte.21 Das Ergebnis war das unter der Leitung von Klaus-Peter Wegera erstellte ‚Bochumer Korpus‘, das ca. 350 Handschriften enthält, „die für eine grammatikographische Basis als geeignet angesehen werden“.22 Das Korpus ist chronologisch, sprachräumlich und texttypologisch strukturiert. In einer weiterentwickelten Fassung liegt es der neuen Grammatik zugrunde. Das Korpus folgt dem „Prinzip der Handschriftentreue“, d.h. es berücksichtigt „nur Hss. und keine Editionen“.23 Die Handschriften werden nach Kriterien der „grammatikographischen Tauglichkeit“24 ausgewählt. Sie sollen „einigermaßen sicher (möglichst außersprachlich) und nicht kontrovers lokalisierbar und datierbar“ sein; ihre Sprache soll „nicht in der Sekundärliteratur bereits als Mischsprache“ gelten; ihre Entstehung soll „nicht zu lange“ – nicht wesentlich mehr als fünfzig Jahre – „nach der Entstehung des Textes“ liegen.25 Diese Korpusbildung liefert ein schönes Beispiel für die ‚hilfswissenschaftliche‘ Unterstützung der Sprachgeschichte durch die Literaturgeschichte. Die Datierung der Texte ist das Ergebnis literarhistorischer Arbeit, und auch die Datierung der Handschriften, die so gut wie ausschließlich paläographisch (also „außersprachlich“) begründet ist, stammt in der Regel von Literarhistorikern. Konzeptionell entspricht die Korpusbildung dem linguistischen Standard. Sie wirft aber einige Probleme auf, die mit dem besonderen Status des Mittelhochdeutschen zu tun haben. Wenn man das Korpus durchgeht, stellt man fest, daß nicht wenige Texte aus dem Literaturkanon der ‚Blütezeit‘, die man zu allererst erwarten würde, nicht vertreten sind, z.B. das ‚Rolandslied‘, Hartmanns ‚Gregorius‘, Wolframs ‚Willehalm‘. Eine Berücksichtigung dieser und einer Reihe weiterer kanonischer Texte, die fehlen, wäre im Rahmen der Korpuskonstruktion durchaus möglich gewesen. Andere sind definitorisch ausgeschlossen durch die Bestimmung, daß zwischen der Entstehung des Textes und der Entstehung der Handschrift nicht mehr als fünfzig Jahre liegen sollen. Diese Bestimmung soll „Verzerrungen“26 in Grenzen halten, die als Folge des Abschreibeprozesses befürchtet werden. Sie schließt nicht nur einzelne zentrale Texte wie Hartmanns ‚Armen Heinrich‘ (und natürlich den ‚Erec‘) oder Türlins ‚Krone‘ aus, sondern auch so gut wie die gesamte Lyrik einschließlich der Gedichte Walthers von der Vogelweide.

21 22 23 24 25 26

Vgl. Wegera (1987, 32ff.). Wegera (2000, 1311). Ebd., 1306. Ebd., 1309. Ebd., 1310. Ebd., 1310 und 1311.

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Den Literarhistoriker muß das irritieren, aber er kann nichts einwenden, wenn sich der Sprachhistoriker auf den Standpunkt stellt, daß das „literaturwissenschaftliche Argument“27 hier nicht gilt. Es bleibt freilich die Frage, ob der Ausschluß dieser Texte nicht Einsichten in den sprachlichen Ausbau verwehrt, den das Deutsche in den Jahrzehnten um 1200 erfahren hat (und der offenbar entscheidend über den literarischen Diskurs vorangetrieben wurde: ich komme darauf zurück). In jedem Fall berührt der Ausschluß kanonischer Texte die disziplinären Interessen auch der Sprachwissenschaft, sofern ihr an Forschungskontinuität und Außenwirkung gelegen ist. Wegera hat das gesehen. Er ist sich der Tatsache bewußt, daß „die großen Denkmäler [...] die Basis aller bisherigen mhd. Grammatiken“ bilden und „eine Vergleichbarkeit des Materials [...] ohne sie kaum noch zu gewährleisten“ wäre. Und er täuscht sich auch nicht darüber, daß ihr Ausschluß „dem vorherrschenden Benutzerinteresse an einer neuen Mhd. Grammatik“28 zuwiderläuft. Wegera sieht zwei Möglichkeiten, das Problem zu lösen: „1. Die großen Denkmäler bleiben, da sie als Quellen problematisch sind, im ersten Schritt ausgeschlossen und werden erst in einem zweiten Schritt vor dem Hintergrund des übrigen Materials beschrieben [...] 2. Die großen Denkmäler werden in das Korpus eingebaut, und zwar so, daß die Verzerrung durch die Kopialhs. berücksichtig wird. Während eine Hs. wie Iwein B etwa die Schreibung und Lautung des bair.-alem. Übergangsgebietes im zweiten Viertel des 13. Jhs. repräsentiert, stehen Morphologie und Syntax eher für das Hartmannsche Alemannisch der 2. Hälfte des 12. Jhs. Das könnte bedeuten, daß man den gleichen Text je nach der zu beschreibenden grammatischen Ebene in verschiedenen Rasterfeldern des Korpus führen kann.“29 Im Wortbildungsband der neuen Grammatik sind diese Überlegungen nicht umgesetzt worden. Doch stützt sich die Darstellung dort nicht allein auf das Korpus. Diesem ist ein Inventar „korpusexterner Quellen“30 zur Seite gestellt, die von Fall zu Fall herangezogen werden. Hier erscheinen nun einige der kanonischen Texte, die der Literarhistoriker im Korpus vermißt, so das ‚Rolandslied‘, Wolframs ‚Willehalm‘, die Lieder Neidharts. Die Ergänzungsliste hat freilich nicht den Zweck, literarhistorische Interessen zu befriedigen. Sie ist nötig, weil das Korpus offensichtlich keine hinreichende Grundlage für die Beschreibung der Sprachzustände bietet. Das gilt zumal für den Zeitraum der Jahrzehnte um 1200. Thomas Klein hat es drastisch ausgedrückt: „Die mittelhochdeutsche Überlieferung vor 27 28 29 30

Ebd., 1311. Ebd. Ebd. Klein/Solms/Wegera (2009, 31ff.).

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dem Ende des 12. Jh.s (also vor den großen Vorauer, Millstätter, Wiener Sammelhss.) ist, korpuslinguistisch gesehen, immer noch die der ahd. Zeit: zwischen einer Kleinkorpus- und einer ‚Trümmer‘-Sprache. Grundsätzlich ändert sich das auch in der 1. Hälfte des 13. Jh.s nicht.“31 In voller Schärfe stellt sich die Problematik allerdings nur für die Darstellung von Lautung und Schreibung, die sich allein auf die Handschriften stützen kann. Für die anderen Bereiche gilt die strikte Bindung an die Handschriften nicht. Es ist sehr wohl möglich, seriöse Aussagen über Phänomene der Wortbildung oder der Syntax um 1200 anhand von Texten zu machen, die deutlich später überliefert sind. Voraussetzung ist, daß die Überlieferung im Blick bleibt und das in den Editionen gespeicherte philologische Wissen genutzt wird. Wünschenswert wäre statt der Ergänzungsliste ein komplementäres Korpus, das nicht auf Handschriften, sondern auf Texten basierte, bei deren Auswahl auch literarhistorische Kriterien eine Rolle spielen könnten und sollten. Doch wird es beim Verfahren der unsystematischen Ergänzung bleiben. Methodologisch gesehen, ist dieses Verfahren ein Sündenfall, weil es das Korpusprinzip aufweicht. Als Literarhistoriker möchte man die Autoren der neuen Grammatik ermuntern, in den folgenden Bänden kräftig weiter zu sündigen. Nicht weniger empfindlich als die Frage der Korpusbildung berührt die Frage der Periodisierung das Verhältnis von Sprach- und Literaturgeschichte. Ich will das am Beispiel der zeitlichen Definition des Mittelhochdeutschen erörtern. Sie ist unproblematisch, was die obere Grenze betrifft: „Die Abgrenzung gegenüber dem Althochdeutschen ergibt sich aus der Überlieferungslücke größerer Texte im 11. Jh. quasi von selbst. Mit dem Erscheinen von Willirams Hohelied-Paraphrase ist ein anderer, neuer Sprachstand erreicht.“32 Unproblematisch ist die Abgrenzung auch insofern, als hier die sprachhistorische und die literarhistorische Epochenbildung übereinstimmen. An der unteren Grenze, die das Mittelhochdeutsche vom (Früh-) Neuhochdeutschen scheidet, verhält es sich anders. Das neue mittelhochdeutsche Wörterbuch und die neue mittelhochdeutsche Grammatik ziehen diese Grenze um 1350.33 Die Abgrenzung ist „forschungspragmatisch“34 mit Rücksicht auf die bereits vorliegenden 31 Thomas Klein brieflich. Für die Erlaubnis, die Stellungnahme zu zitieren, möchte ich Thomas Klein auch an dieser Stelle herzlich danken. – Vgl. auch Thomas Klein (1991, 5f.). 32 Wegera (2000, 1307). 33 Vgl. Gärtner/Grubmüller/Stackmann (2006, V); Klein/Solms/Wegera (2009, 17). 34 Wegera (2000, 1307).

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Handbücher vorgenommen worden: Das Wörterbuch führt bis an das ‚Frühneuhochdeutsche Wörterbuch‘ von Oskar Reichmann, die Grammatik bis an die ‚Grammatik des Frühneuhochdeutschen‘ von Virgil Moser/ Hugo Moser heran, die beide um 1350 einsetzen.35 Der Zeitschnitt um 1350 ist in der Forschung nicht konkurrenzlos. Es gibt andere Ansätze für die Grenzlinie zwischen dem Mittelhochdeutschen und dem (Früh-)Neuhochdeutschen.36 Das liegt in der Natur der Sache, denn Periodisierung ist ein Erkenntnisinstrument und daher abhängig vom jeweiligen Erkenntnisziel. Es gibt nicht unendlich viele, aber (fast) immer mehrere sinnvolle Möglichkeiten, Epochen abzugrenzen. Der Historiker Erich Hassinger hat das mit dem Bild der Landschaft verdeutlicht: Wie die räumlichen Landschaften gewisse Charakteristika aufweisen, die es dem Geographen ermöglichen, sie überhaupt als Einheiten zu begreifen – wobei aber diese Einheiten je nach den gewählten Gesichtspunkten verschieden ausfallen und Übergangszonen zwischen ihnen bestehen –, so verhält es sich auch mit den geschichtlichen Perioden als einer Art zeitlicher Landschaften. Es gibt sie nicht unabhängig vom Betrachter. Unabhängig von ihm ist nur eine unendliche Fülle von geschichtlichen Erscheinungen da, von denen stets eine Anzahl irgendwie enger miteinander zusammenhängt, die sich aber erst unter diesem oder jenem Gesichtspunkt, mit dem der Historiker an sie herantritt, zu Ereigniskomplexen, Stilen u. dgl. zusammenordnen.37

Bei aller Konkurrenz der Ansätze ist in der Forschung indes eine klare Präferenz für den Schnitt um 1350 festzustellen, wobei man in Ermangelung konsistenter sprachlicher Befunde auf „sprachexterne Faktoren“ wie den Beginn einer „Universitätsgründungsbewegung im Reich (Prag 1348)“ oder die Ausfertigung der Goldenen Bulle (1356) „als Magna Charta des dt. Territorialwesens“ rekurriert.38 Die Position ist forschungsstrategisch im Vorteil, weil sie in den großen Handbüchern festgeschrieben ist. Die normative Kraft des Faktischen, die die Grammatiken und Wörterbücher des Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen entfalten, verleiht ihr ein Gewicht, das die anderen Ansätze nachrangig werden läßt. Forschungsgeschichtlich gesehen, ist das ein Triumph Wilhelm Scherers, der vor fast anderthalb Jahrhunderten das Frühneuhochdeutsche als Epoche der Sprachgeschichte eingeführt und ihm die Zeitspanne von ca. 1350 bis ca. 1650 zugewiesen hat. Scherers Konstrukt beruht auf einer fixen Idee: auf der Annahme, daß sich die Geschichte der deutschen Sprache über zwei Jahrtausende hin regelhaft in Schritten von jeweils etwa 35 36 37 38

Vgl. Reichmann (1989, 36f.); Moser (1929, 1). Tabellarische Übersicht bei Roelcke (1998, 804ff.). Hassinger (1964, 393). Vgl. Heinzle (1983, 210f.). Hartweg/Wegera (2005, 26f.).

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dreihundert Jahren vollzogen hat (150 v. Chr.–150 n. Chr.: „Römerzeit“, 150–450: „Gothische Zeit“, 450–750: „Merovingerzeit“, 750–1050: „Althochdeutsche Zeit“, 1050–1350: „Mittelhochdeutsche Zeit“, 1350–1650 „Uebergangs- oder frühneuhochdeutsche Zeit“, ab 1650: „Neuhochdeutsche Zeit“).39 Ich will gar nicht in Frage stellen, daß die heutigen Befürworter einer sprachhistorischen Periodengrenze um 1350 stichhaltige Argumente vorzubringen haben. Aber es muß ihnen klar sein, daß sie faktisch die Rechtfertigung eines Ansatzes nachreichen, der einem Wahnsystem entsprungen ist. Man sollte auch wissen, daß es sich bei diesem System keineswegs um eine genuin sprachhistorische Konstruktion handelt, sondern um eine literarhistorische. Scherer hat es im Rahmen seiner ‚Geschichte der deutschen Dichtung im elften und zwölften Jahrhundert‘ von 1875 entworfen,40 1878 in der 2. Auflage seiner Studien ‚Zur Geschichte der Deutschen Sprache‘ auf die Sprachgeschichte übertragen41 und 1883 dann in seine berühmte ‚Geschichte der Deutschen Litteratur‘ übernommen.42 Das ist auch ein Kapitel aus der Geschichte der wechselseitigen Beziehungen zwischen Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft. In Scherers Literaturgeschichte erscheint die uns interessierende Epoche von ca. 1350 bis ca. 1650 in der Zeittafel (den „Annalen“) wiederum als „Frühneuhochdeutsche oder Uebergangs-Zeit“, in der Darstellung als „Ausgehendes Mittelalter“.43 Die Epochengrenzen markieren der Einbruch der Pest in Europa und die Gründung der Universität Prag im Jahr 1348 auf der einen, das Ende des dreißigjährigen Krieges im Jahr 1648 auf der anderen Seite: „Die Geiselfahrten [!]“ als Reaktion auf die Pest „und die Gründung der ersten deutschen Universität stehen bedeutungsvoll am Eingang einer dreihundertjährigen Epoche, die bis zum westfälischen Frieden reicht und alle religiösen und politischen Bewegungen umfaßt, welche die Reformation vorbereiteten und aus der Reformation hervorgingen.“44 Die Literarhistoriker haben sich auf diese Konstruktion nicht eingelassen. Das literarhistorische Spätmittelalter wird heute meistens auf den Zeitraum von ca. 1220/30 oder von ca. 1300 bis ca. 1500/1520 eingegrenzt.45 Für die Binnengliederung gibt es unterschiedliche Ansätze,46 auch die Marke

39 40 41 42 43 44 45 46

Scherer (1878, 10ff.). Scherer (1875, 2ff.). Scherer (1878, 10ff.). Scherer (1883, 779ff.). Ebd., 782 und 242ff. Ebd., 242. Vgl. Janota (2001, 397ff.); Dorothea Klein (2006, 127ff.). Vgl. Janota (1983); Dorothea Klein (wie Anm. 45).

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1350 spielt noch eine Rolle,47 aber sie hat nicht annähernd die Bedeutung, die sie in der Sprachgeschichte hat. Die maßgebliche Darstellung der deutschen Literatur dieser Zeit von Johannes Janota umgreift den Zeitraum von ca. 1280/90 bis 1380/90.48 Daß die Sprachgeschichte das Mittelalter um 1350, die Literaturgeschichte aber im frühen 16. Jahrhundert enden läßt, nötigt den Literarhistoriker, mit zwei Wörterbüchern und mit zwei Grammatiken zu hantieren. Das ist lästig, aber man kann damit leben. Gravierender ist die konzeptionelle Problematik. Wenn Sprachgeschichte und Literaturgeschichte unterschiedliche Zeitschnitte privilegieren, begünstigt das eine Wahrnehmungsperspektive, in der die Entwicklung der Sprache und die Entwicklung der Literatur auseinanderlaufen. Was das für das Verständnis der historischen Prozesse hier wie dort bedeutet, ist völlig ungeklärt. Da besteht dringender Gesprächsbedarf zwischen den Disziplinen. Mein drittes Stichwort: ‚Literarische Sprachgeschichte‘ habe ich dem monumentalen ‚Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung‘ entnommen.49 Es dient dort als Überschrift für eine Reihe von Artikeln, die sich mit Fragen der Sprachverwendung in der Literatur befassen. Dabei wird grundsätzlich vorausgesetzt, daß sich literarische Sprache (im weitesten Sinn) von nicht-literarischer Sprache abheben läßt. Wenn das möglich ist, wenn man die Sprache der Literatur als sprachliches Subsystem (oder als Komplex von sprachlichen Subsystemen) beschreiben kann, eröffnen sich spezifische Erkenntnismöglichkeiten für den Literarhistoriker wie für den Sprachhistoriker. Der Literarhistoriker kann die Differenz bzw. die Spannung zwischen literarischer und nicht-literarischer Sprachverwendung als konstitutives Moment eines Textes (oder einer Textgruppe) bestimmen und beschreiben. Der Sprachhistoriker kann untersuchen, ob die literarische Sprachverwendung auf die nicht-literarische eingewirkt, die Literatursprache also die allgemeine Sprachentwicklung beeinflußt hat. So verstanden, ist ‚Literarische Sprachgeschichte‘ ein ideales Feld für die Zusammenarbeit der Disziplinen. Im Mittelalter sind dem allerdings enge Grenzen gesetzt. Kurt Gärtner, der in dem Handbuch den Mittelalter-Abschnitt verfaßt hat, muß seine Übersicht mit der ernüchternden Feststellung beginnen, daß „eine Ab-

47 Z.B. bei Brunner (1997), der um 1350 die „ältere Epoche der frühneuhochdeutschen Literatur“ beginnen läßt (S. 35). Die Epochenbezeichnung, die in der Literaturgeschichtsschreibung sonst nicht üblich ist, deutet darauf hin, daß es sich bei dieser Periodisierung um eine Rückübertragung aus der Sprachgeschichte handelt. 48 Janota (2004). 49 Besch/Betten/Reichmann/Sonderegger (2004, 3002ff.).

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grenzung der Sprache literarischer Texte von der Sprache nichtliterarischer Texte [...] für die überlieferten Zeugnisse des mittelalterlichen Deutsch vom 8. bis 11. Jh. kaum und im Hochmittelalter nur in eingeschränktem Maße möglich“ ist; „erst die Expansion dt. Schriftlichkeit im Zuge eines im 12./13. Jh. einsetzenden allgemeinen Schriftlichkeitsschubs und die mit diesem zusammenhängende Ablösung des Lat. als universaler Schriftsprache auch im Bereich der nichtliterarischen Textsorten (Urkunden, Geschäftsschrifttum)“ ermöglichten „Vergleiche mit der Sprache literarischer Texte auf breiterer Basis“.50 Machen wir uns am Beispiel der Jahrzehnte um 1200 klar, was das bedeutet. Diese Jahrzehnte, die ‚Blütezeit‘ der höfischen Literatur, gelten nach allgemeiner Auffassung als Zeit eines massiven sprachlichen Entwicklungsschubs. In der ‚Geschichte der deutschen Sprache‘ von Peter von Polenz – um beliebig eine der gängigen Sprachgeschichten herauszugreifen – wird er unter der Überschrift „Ritterliche Dichter- und Standessprache“ eingehend beschrieben.51 Als kennzeichnend für diese Sprache gilt der Einfluß des Französischen, der mit der Übernahme der französischen Kultur und Literatur durch die adlige Führungselite verbunden war. Er manifestiert sich nach Polenz in Lehnwörtern wie Abenteuer, Lanze, Plan, Preis, Tanz, in Lehnprägungen wie hövesch (nach courtois), in Lehnsuffixen wie -îe (prophezîe, vilanîe) und -ieren (parlieren, loschieren), in der Wahl der 2. Person Plural als Höflichkeitsform der Anrede. Bezeugt sind die Neuerungen ausschließlich in der Literatur. Insofern sind sie zunächst einmal Erscheinungen der „Dichtersprache“. Es besteht aber kein Grund, daran zu zweifeln, daß sie auch in der „Standessprache“, im gesprochenen Soziolekt der Herrenschicht, verwendet worden sind, denn in der späteren Entwicklung des Deutschen bis in unsere Gegenwart haben sie gemeinsprachliche Geltung. In welchem Verhältnis „Dichtersprache“ und „Standessprache“ zueinander standen, entzieht sich allerdings unserer Kenntnis. Wir können nicht wissen, inwieweit die „Dichtersprache“ die „Standessprache“ abgebildet hat und inwieweit umgekehrt die „Standessprache“ unter dem Eindruck der „Dichtersprache“ entwickelt worden ist, diese also – im Sinne des Sprachausbau-Modells – als „Ausbausäule“ fungierte: als Diskurstradition, in der die fraglichen Ausdrucksmittel „erprobt und sukzessive generalisiert“ wurden.52 Gewiß läßt sich zeigen, daß die französischen Lehnwörter „nicht nach dem Buchstaben, sondern nach dem Hören eingedeutscht worden“ sind, „mit regelrechten Lautsubstitutionen

50 Gärtner (2004, 3018). 51 Polenz (1978, 53ff.). 52 Oesterreicher (2009, 109).

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(z.B. loschieren mit sch aus frz. logier) und mit z.T. erhaltener frz. Betonung (-íeren,- î´e)“.53 Daraus folgt aber keineswegs, wie Polenz anzunehmen scheint, daß die „Standessprache“ der „Dichtersprache“ vorausging. Auch die Dichter können ihre Französischkenntnisse nur im lebendigen sprachlichen Austausch erworben haben, und die Texte selbst, die französischen wie die deutschen, waren gerade für den Vortrag bestimmt. Man kommt um die Einsicht nicht herum, daß das Konzept ‚Literarische Sprachgeschichte‘ hier an eine harte Grenze stößt. Wie schmerzlich das sein kann, zeigt die Diskussion über die ‚unhöfischen‘ oder ‚altertümlichen‘ Wörter in der Epik der Zeit um 1200, die einst Karl Lachmann angestoßen hatte. In Edmund Wiessners Darstellung des Wortschatzes der „höfischen Blütezeit“, in der 3. Auflage der ‚Deutschen Wortgeschichte‘ im ‚Grundriß der germanischen Philologie‘ von 1974, liest man dazu: „Wenn [...] die Ritterdichtung dem gesamten deutschen Wortschatze ihrer Zeit einen erklecklichen Reichtum an neuem Stoff zuführt [...], so bringt sie doch auch ein Verkümmern, ja Verdorren so mancher Worttriebe mit sich, die in der gleichzeitigen Heldenepik noch volle Lebenskraft beweisen.“54 Wiessner nennt knapp fünfzig solcher Wörter. Zu ihnen gehören vor allem Helden-Bezeichnungen wie helt, degen, recke, wîgant und entsprechende Epitheta wie balt ‚kühn‘, ellenthaft ‚tapfer‘, snel im Sinne von ‚stark‘, weiter Wörter aus der Sphäre des Kampfes wie wîc ‚Kampf, Krieg‘, ecke ‚Schneide‘ (einer Waffe), marc ‚Streitroß‘, dürkel ‚durchlöchert‘, verch ‚Leib, Leben(skraft)‘, aber auch Wörter wie künne ‚Geschlecht‘ oder gemeit ‚froh‘. Daß diese Wörter um 1200 aus dem lebendigen Sprachgebrauch ausscheiden oder schon ausgeschieden sind, ist eine sprachhistorische Aussage. Daß die Heldenepen, allen voran das ‚Nibelungenlied‘, an ihnen festhalten, ist ein literarhistorischer Befund, der eine literarhistorische Deutung erfordert. Friedrich Panzer hat sie schon 1903 gegeben und 1955 noch einmal formuliert.55 Demnach sind diese Wörter, die der „Umgangssprache“ nicht mehr angehört haben sollen, „Wörter der gehobenen Rede“ geworden, „‚poetische Wörter‘, wie etwa unser Leu, Aar, Lenz, Haupt und dergleichen. Poetische Wörter sind im allgemeinen veraltete Ausdrücke, die durch ihr ehrwürdiges Alter, durch den Edelrost, den sie tragen, eine idealisierende Wirkung üben“.56 Damit scheint ein faszinierender Einblick in die zeitgenössische Wahrnehmung der Texte gewonnen zu sein – scheint: denn schon die sprachhistorische Aussage, die der literarhistorischen Deutung zugrundeliegt, läßt sich nicht 53 54 55 56

Polenz (1978, 57). Wiessner/Burger (1974, 229f.). Panzer (1903, 16ff.; 1955, 125ff.). Panzer (1955, 125f.).

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sichern, weil man eben „bei älteren Sprachstufen nur über eine eingeschränkte, vermittelte Sprachkompetenz verfügt“.57 In der Terminologie von Peter von Polenz: „Man müßte den Wortschatz der ritterlichen Standessprache“ kennen, um den Wortgebrauch in der „ritterlichen Dichtersprache“ beurteilen zu können. Das heißt nicht, daß sprachhistorische Analysen hier nicht zu belastbaren Hypothesen führen könnten. Im Einzelfall ist das durchaus möglich. Ein solcher Fall ist der des Heldenworts recke, dem Dagmar Gottschall 1999 eine einläßliche Untersuchung gewidmet hat. Sie versucht zu zeigen, daß das Wort vom frühen zum hohen Mittelalter eine Bedeutungsentwicklung durchgemacht hat, die von einer ursprünglichen Bedeutung ‚Fremder unterwegs‘ über die Bedeutung ‚Fremder auf Kriegszug‘ zur Bedeutung ‚Krieger, Held‘ führte. Um 1200 sind die mutmaßlich älteren Bedeutungen noch belegt, waren also im Sprachbewußtsein zumindest der Dichter und ihres Publikums weiterhin präsent. Gleichzeitig erscheint das Wort im ‚Nibelungenlied‘ in der neuen Bedeutung ‚Krieger, Held‘, und zwar so gut wie ausschließlich in dieser Bedeutung und in massiver Häufung. In der Heldenepik des 13. Jahrhunderts wird es in der neuen Bedeutung dann zum gattungstypischen „Modewort“,58 und von der Heldenepik scheint im Spätmittelalter über die Vorstellung ‚gewaltiger Mensch‘ die gemeinsprachliche Bedeutungsverschiebung zu ‚Riese‘ auszugehen. „Warum sich die vollständige Ablösung des Lexems recke von seiner Ursprungsbedeutung ‚Fremder unterwegs‘ gerade im ‚Nibelungenlied‘ abspielt“,59 bleibt vorderhand im dunkeln. Immerhin kann man begründet vermuten, daß das ‚Nibelungenlied‘ über seine Vorbildwirkung für die Entwicklung des Genres die weitere Geschichte des Wortes wesentlich bestimmt hat. Der Fall zeigt, daß es bei aller Quellenproblematik grundsätzlich möglich ist, sprachhistorische und literarhistorische Befunde so zusammenzuführen, daß sich – im Sinne einer ‚Literarischen Sprachgeschichte‘ – Einsichten in das Verhältnis von literarischer Sprachverwendung und allgemeiner Sprachentwicklung ergeben. Soviel zu wechselseitigen Beziehungen zwischen Sprach- und Literaturgeschichte. Mein Fazit ist trivial. Selbstverständlich arbeitet man Rücken an Rücken. Die Literaturwissenschaftler machen Editionen für Literaturwissenschaftler, die Sprachwissenschaftler machen Grammatiken für Sprachwissenschaftler. Das ist nicht nur legitim, es ist unumgänglich, wenn sie

57 Splett (1987, 112). 58 Gottschall (1999, 276). 59 Gottschall (1999, 279).

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Joachim Heinzle

dem Anspruch ihrer Disziplinen gerecht werden wollen. Ebenso trivial ist aber auch die Tatsache, daß man einander braucht und also darauf angewiesen ist, sich zu verständigen. Hier sehe ich Defizite, die zu beheben des Schweißes der Edlen würdig wäre. Ich wünsche mir so etwas wie eine ‚Service-Kultur‘, ein sozusagen habituelles Bemühen auf beiden Seiten, die Bedürfnisse der jeweils anderen Seite mit zu bedenken und nach Maßgabe des Möglichen zu bedienen. Das hieße etwa, daß in einer mittelhochdeutschen Grammatik die literarhistorisch bedeutsamen Texte über das Maß hinaus berücksichtigt werden, das für die Beschreibung des Sprachzustandes nötig ist; oder: daß der Herausgeber eines mittelhochdeutschen Textes die Sprache seiner Leithandschrift über das Maß hinaus dokumentiert, das für die Herstellung seines Textes nötig ist. Und ich wünsche mir auch eine Gesprächskultur, eine Bereitschaft, sich in konzeptionellen Fragen wie der Epochenbildung oder der Modellierung literatursprachlicher Vorgänge auszutauschen. Ob das Wünschen hilft? Wir haben es in der Hand.60

Literatur Behaghel, Otto (1924): Deutsche Syntax. Eine geschichtliche Darstellung, Bd. 2 (Germanische Bibliothek, I/1/10,2), Heidelberg. Besch, Werner/Betten, Anne/Reichmann, Oskar/Sonderegger, Stefan (Hg.) (2004): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2., vollständig neu bearb. und erw. Aufl., Teilbd. 4 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 2.4), Berlin/New York. de Boor, Helmut (Hg.) (1979): Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch, 21. Aufl., Wiesbaden. Brunner, Horst (1997): Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters im Überblick (Universal-Bibliothek, 9485), Stuttgart. Gärtner, Kurt (2004): Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte des deutschen Mittelalters, in: Besch, Werner/Betten, Anne/Reichmann, Oskar/Sonderegger Stefan (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2., vollständig neu bearb. und erw. Aufl., Teilbd. 4 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 2.4), Berlin/New York, 3018–3042. Gärtner, Kurt/Grubmüller, Klaus/Stackmann, Karl (Hg.) (2006): Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. 1, Doppellieferung 1/2, Stuttgart. Gauger, Hans Martin (2009): Sprache und schöne Sprache, in: FAZ Nr. 167 vom 22. Juli, N 4.

60 Eine erste Fassung dieses Beitrags durfte ich im November 2009 an der Universität Paderborn vortragen. Die engagierten Diskussionsbeiträge haben mir geholfen, einige Probleme besser zu verstehen. Mein besonderer Dank gilt Stephan Müller und Elke Krotz.

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Gottschall, Dagmar (1999): Recke. Zur althochdeutschen Vorgeschichte eines Schlüsselwortes der mittelhochdeutschen Heldendichtung, in: ZfdA 128, 251–281. Grimm, Jacob (1837): Deutsche Grammatik, Tl. 4, Göttingen. Grimm, Jacob (1847): [Über die wechselseitigen Beziehungen und die Verbindung der drei in der Versammlung vertretenen Wissenschaften], in: Verhandlungen der Germanisten zu Frankfurt am Main am 24., 25. und 26. September 1846, Frankfurt a.M., 11–18; wieder in: Grimm, Jacob, Kleinere Schriften, Bd. 7, Berlin 1884 (Nachdruck Hildesheim 1966), 556–563. Hartweg, Frédéric/Wegera, Klaus-Peter (2005): Frühneuhochdeutsch. Eine Einführung in die deutsche Sprache des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit (Germanistische Arbeitshefte, 33), 2., neu bearb. Aufl., Tübingen. Hassinger, Erich (1964): Das Werden des neuzeitlichen Europa 1300–1600 (Geschichte der Neuzeit, [1]), 2. Aufl., Braunschweig. Heinzle, Joachim (1983): Wann beginnt das Spätmittelalter?, in: ZfdA 112, 207–223. Heinzle, Joachim (2003): Zur Logik mediävistischer Editionen. Einige Grundbegriffe, in: editio 17, 1–15. Janota, Johannes (1983): Das vierzehnte Jahrhundert – ein eigener literarhistorischer Zeitabschnitt?, in: Haug, Walter/Jackson, Timothy R./Janota, Johannes (Hg.): Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Dubliner Colloquium 1981 (Reihe Siegen, 45), Heidelberg, 9–24. Janota, Johannes (2001): Grundriß zu einer Geschichte der deutschen Literatur im Spätmittelalter 1220/30–1500/20, in: PBB 123, 397–427. Janota, Johannes (2004): Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, hg. von Joachim Heinzle, Bd. III/1: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit (1280/90–1380/90), Tübingen. Klein, Dorothea (2006): Mittelalter. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart/Weimar. Klein, Thomas (1991): Zur Frage der Korpusbildung und zur computerunterstützten grammatischen Auswertung mittelhochdeutscher Quellen, in: ZfdPh 110, 3–23. Klein, Thomas/Solms, Hans-Joachim/Wegera, Klaus-Peter (2009): Mittelhochdeutsche Grammatik, Teil 3, Tübingen. Meves, Uwe (1994): Zur Namensgebung ‚Germanist‘, in: Fohrmann, Jürgen/Voßkamp, Wilhelm (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar, 25–47 Moser, Virgil (1929): Frühneuhochdeutsche Grammatik, Bd. 1/1 (Germanische Bibliothek, I/17,1,1), Heidelberg. Oesterreicher, Wulf (2009): Der Weinberg des Textes: Die Philologien und das Projekt ‚Textwissenschaft‘ im Horizont einer sozialen Semiotik, in: GRM N.F. 59, 81–118. Panzer, Friedrich (1903): Das altdeutsche Volksepos. Ein Vortrag, Halle a.S. Panzer, Friedrich (1955): Das Nibelungenlied. Entstehung und Gestalt, Stuttgart/Köln. Paul, Hermann (1963): Mittelhochdeutsche Grammatik (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte, A 2), 19. Aufl., bearb. von Walther Mitzka, Tübingen. Paul, Hermann (1969): Mittelhochdeutsche Grammatik (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte, A 2), 20. Aufl. von Hugo Moser und Ingeborg Schröbler, Tübingen. von Polenz, Peter (1978): Geschichte der deutschen Sprache. Erweiterte Neubearbeitung der früheren Darstellung von Prof. Dr. Hans Sperber (Sammlung Göschen, 2206), 9., überarb. Aufl., Berlin/New York.

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Joachim Heinzle

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Damaris Nübling (Mainz)/Renata Szczepaniak (Hamburg)

Was erklärt die Diachronie für die Synchronie der deutschen Gegenwartssprache? Am Beispiel schwankender Fugenelemente* 1. Zweifelsfälle im Allgemeinen Zu dem Strauß der Bindstrichlinguistiken gesellt sich derzeit ein weiteres, besonders interessantes und vielversprechendes Exemplar, die sog. Zweifelsfall-Linguistik. Ihre Entstehung kann man mit dem Linguistik online-Heft „Sprachliche Zweifelsfälle. Theorie und Empirie“ (herausgegeben von Wolf Peter Klein) auf das Jahr 2003 datieren. Hier wurde den Zweifelsfällen, die bisher eher Gegenstand der Sprachberatung waren, die linguistische Weihe verliehen, d.h. sie werden seither als „linguistischer Gegenstand“ (so der Titel der Einleitung) mit theoretischem Anspruch gesehen (s. hierzu auch Klein 2009 mit dem Titel „Zweifelsfälle als Herausforderung für die Sprachwissenschaft“). In der erwähnten Einleitung von Klein (2003) erfolgt die Definition des sprachlichen Zweifelsfalls: Ein sprachlicher Zweifelsfall ist eine sprachliche Einheit (Wort/Wortform/Satz), bei der k o m p e t e n t e S p r e c h e r (a.) im Blick auf (mindestens) zwei Varianten (a, b...) i n Z w e i f e l g e r a t e n (b.) können, welche der beiden Formen (s t a n d a r d s p r a c h l i c h ) (c.) korrekt ist (vgl. Sprachschwankung, Doppelform, Dublette). Die beiden Varianten eines Zweifelsfalls sind f o r m s e i t i g o f t t e i l i d e n t i s c h (d.) (z.B. dubios/dubiös, lösbar/löslich, des Automat (sic)1/ des Automaten, Rad fahren/radfahren, Staub gesaugt/staubgesaugt/gestaubsaugt). (Klein 2003, 2; Sperrungen im Original).

Die gesperrten Begriffe werden als die wesentlichen Bedingungen für einen Zweifelsfall gewertet: (a.) Kompetente Sprecher geraten in Zweifel, nicht SprachwissenschaftlerInnen und auch nicht (Erst-/Zweit-) SpracherwerberInnen. Auch muss der Zweifel ein (b.) metasprachliches Bewusstsein * 1

„Dieser Beitrag ist im Rahmen des Mainzer Forschungsprojekts ‚Determinanten sprachlicher Variation‘ entstanden.“ Gemeint ist wohl Automats.

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Damaris Nühling/Renata Szczepaniak

erkennen lassen. Weiter ist der Zweifelsfall (c.) in der Standardsprache zu verorten (wie immer diese zu fassen sein mag, zumindest muss sie intendiert sein). Mit der (d.) formseitigen Teilidentität ist v.a. die Grammatik angesprochen, die im Zweifelsfall nur minimal unterschiedliche Varianten generiert. Klein (2003, 4) nennt hierfür Beispiele: „Stellt Friede oder Frieden die korrekte Wortform dar? Gehört in das Kompositum Kriegführung ein Fugen-s? Muss im Genitiv Kindes oder Kinds gesagt werden?“. Aus historisch-linguistischer Perspektive handelt es sich sehr häufig um Fälle sich gegenwärtig vollziehenden Sprachwandels, d.h. was heute an seismischen Bewegungen registriert wird, hat seinen Herd, um in diesem Bild zu bleiben, oft im Frühneuhochdeutschen oder noch früher. Im universitären sprachgeschichtlichen Unterricht erreicht man mit dieser Sichtweise auch die letzten an der Nützlichkeit der Sprachgeschichte Zweifelnden (es sind allerdings viel weniger, als man glauben möchte), d.h. Seminare mit diesem Thema muss man in der Regel teilen, da der Andrang zu groß ist. Gerade für die zukünftigen LehrerInnen ist es wichtig, von der richtig/falsch-Zentriertheit von Zweifelsfällen wegzukommen und stattdessen der Ratio dieses Phänomens näherzukommen (um dann bessere Anleitungen geben zu können). In Veranstaltungen zu Zweifelsfällen erlangt man übrigens eine beträchtliche diachrone Tiefe, d.h. die Bereitschaft, sich in das Problem, seine Genese und seinen Hintergründe einzuarbeiten, ist erfreulich hoch. Interessant (und noch nicht erforscht) ist dabei die unterschiedliche Salienz grammatischer Zweifelsfälle: Während die Fugensetzung sofort als Zweifelsfall erkannt und bestätigt wird, ist es bei der schwankenden Flexion zweier koordinierter Adjektive im Dativ ohne Determinans (unter großem finanziellem?/finanziellen? Aufwand) anders. Auch wenn die Korpora die Schwankung zwischen Parallel- und Wechselflexion zweifelsfrei als Zweifelsfall ausweisen (ca. zwei Drittel Wechselflexion, ca. ein Drittel Parallelflexion), so erreicht diese Flexionsunsicherheit keinen hohen Bewusstheitsgrad. Die höchste Salienz erreichen übrigens orthographische Zweifelsfälle (wie die im Zitat genannten Getrennt-/Zusammenschreibungen), danach Wortbildungsprobleme wie die (Un-)Trennbarkeit von Präfixen vom Typ gedownloadet/downgeloadet. Was die Kenntnis der Sprachgeschichte für solche synchronen Zweifelsfälle neben ihrer Erklärung leistet, ist die Angabe der Richtung des Wandels: Was gegenwärtig in beide Richtungen gleichermaßen ausschlagen kann, erweist sich aus diachroner Perspektive langfristig als ein Übergang von a > b mit synchroner a/b-Varianz. Übrigens kann sich eine solche Varianz über Jahrhunderte erstrecken, was ein Blick in die Sprachberatungsbücher des 19. und 20. Jhs. bzgl. der Parallel-/Wechselflexion erweist (z.B. Wustmann 1891, Matthias 1906, Andresen 1923, Steche 1925 und 1927). Auch die Grammatiken dieser Zeit behandeln diese Fälle oft sogar sehr ausführlich.

Was erklärt die Diachronie für die Synchronie der deutschen Gegenwartssprache

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Wie Klein (2009) ausführt, gilt es mehrere Faktoren für die Entstehung bzw. Existenz von Zweifelsfällen zu unterscheiden: Die Schriftsprachlichkeit, die Varietätenvielfalt (je mehr Varietäten, desto mehr Zweifelsfälle) sowie der Grad des metasprachlichen Bewusstseins in einer Kultur (das durch die Schriftkultur wiederum gefördert wird). Einige dieser Faktoren sind bekanntlich auch für Sprachwandel verantwortlich, allen voran die Varietätenvielfalt (interner Sprachkontakt). Im Folgenden soll anhand des Zweifelsfalls der Fugensetzung gezeigt werden, in welche Tiefen man mit der konsequenten Frage nach dem Warum gelangt – und wie schnell man auch erkennen muss, dass es an Forschung dazu fehlt. Da Zweifelsfälle, wie erwähnt, standardsprachlich vorkommen müssen, lassen sie sich auch relativ einfach in standardsprachlichen Korpora wie Cosmas II des IDS nachweisen, meist sogar – je nach Größe des Korpus – zahlreich, was die Suche nach ihren Determinanten u.U. erleichtert (etwa bei der Frage nach der Bedingtheit von Parallel- vs. Wechselflexion bei zwei koordinierten Adjektiven im Dativ). Diese Nachweisbarkeit in Datenbanken gehört zu den Identifikationsmöglichkeiten von Zweifelfällen, wie sie in Klein (2003, 6ff.) genannt werden. Dazu gehören auch Erfahrungsberichte von Sprachberatungsstellen. An diesen lassen sich gut die unterschiedlichen Salienzgrade von Zweifelsfällen ablesen. In Bezug auf Zweifelsfälle morphologischer Art lassen sich derzeit die folgenden 10–15 größeren „Baustellen“ identifizieren: – Silbische vs. unsilbische starke Genitivendung: des Buch(e?)s;2 – Genitivendung vs. Null: des Iran(s?), des Kosovo(s?), des Präteritum(s?); – Partitiver Genitiv: eine Tasse frischgebrauten Kaffees?/... frischgebrauter Kaffee? – Genitiv-/Dativ-Rektionsschwankungen bei Präpositionen (in beide Richtungen): gemäß dem?/des? Autor(s); während des?/dem? Spiel(s); – Fugenelemente: Schaden(s?)ersatz, Interessen(s?)bekundung, Respekt(s?)person; – Starke vs. schwache Adjektivflexion meist bei Zeitangaben: Ende dieses?/diesen? Monats; – Starke vs. schwache Adjektivflexion bei Koordination ohne Artikelwort: unter großem finanziellem(?)/finanziellen(?) Aufwand; – Flexion von Deadjektiva nach Personalpronomen: wir Deutsche?/wir Deutschen? wir Arbeitslose?/wir Arbeitslosen?

2

Was die Varianz der starken Genitivendung -es/-s betrifft, so liegt mit Szczepaniak (im Druck a) die erste korpusbasierte Untersuchung dieses Phänomens vor.

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– – – –

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Substantivflexion: des Eisbären/Eisbärs? des Autors/Autoren? Pluralschwankungen vom Typ die Pizzas/Pizzen, die Wagen/Wägen, die Worte/Wörter, die LKW/LKWs etc. Verbalmorphologie: Hier sind vielfältige stark/schwach-Schwankungen in verschiedenen Stadien erkennbar, z.B. beim Imperativ (ess!/iss!), in der Wechselflexion (du fragst/frägst), im Präteritum (er buk/backte), im Konjunktiv (sie stünde/stände, gewönne/gewänne), im Partizip Perfekt (gegärt/gegoren, aber auch angewandt/angewendet); Adjektivkomparation: krummer/krümmer?, kranker/kränker? Superlative komplexer Adjektive: das beachtetste?/meist beachtete? Buch; Trennbarkeit von Partikelverben: downgeloadet?/gedownloadet? Fugenelemente innerhalb von Komposita: Seminar(s?)arbeit, Hauptseminar(s?)arbeit, Referat(s?)besprechung, Präteritum(s?)schwund; dieser Zweifelsfall soll im Folgenden beleuchtet werden.

2. Der Zweifelsfall im Besonderen: Schwankende Fugenelemente 2.1 Fugenschwankungen im „Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle“ (Duden Band 9) Das ausführlichste, aus langjähriger Sprachberatung schöpfende Verzeichnis sprachlicher Zweifelsfälle ist der Duden-Band 9 „Richtiges und gutes Deutsch – Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle“ (2007 in der 6. Auflage). Selbstverständlich besteht sein primäres Ziel darin, Handlungsanleitungen zu geben und weniger dem Phänomen linguistisch oder gar sprachhistorisch auf den Grund zu gehen. Genau dies sollte Gegenstand der Disziplin einer Zweifelsfall-Linguistik sein, wie diese von Klein (2003; 2009) initiiert wurde. Dennoch gehen wir zunächst von der Darstellung dieses Zweifelsfalls im „Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle“ (2007) aus, um zu sehen, was hier als problematisch dargestellt wird. Neben den konkreten Zweifelsfällen (z.B. Schiff-/Schiffs- als schwankendes Erstglied etwa in Schiff(s?)bau oder Schweine-/Schweins- in Schwein(e?/s?)braten) werden auch die von Schwankungen betroffenen Themen lemmatisiert. Handelt es sich dabei um sehr häufig nachgefragte Komplexe, dann wird zu dem Thema ein ganzer, oft mehrseitiger Überblicksartikel eingestellt. Wenn man also dem Thema „Fugensetzung“ nachgehen will, findet man unter „F-“ sowohl den Eintrag „Fugen-s“, dem ein dreiseitiger Überblicksartikel gewidmet ist, als auch „Fugenzeichen“, dessen Bedeutung in dem betreffenden Lemmaartikel abgehandelt wird, also weniger exponiert wird.

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Genau diese Hierarchie entspricht auch unseren Beobachtungen bzw. den Sammlungen von Fugenschwankungen,3 die deutlich machen, dass es praktisch nur ein Fugenelement gibt, das in Schwankungen involviert ist, nämlich das Fugen-s. Der Eintrag zu „Fugenzeichen“ erläutert dagegen nur den grammatischen Status von Fugenelementen, nämlich Komposita zu gliedern, aber keine inhaltliche Funktion zu tragen. Außerdem wird die Entstehung von Fugenzeichen aus früheren Flexionselementen (Genitivkonstruktionen) sowie ihre spätere analogische Ausdehnung beschrieben, hier am Beispiel von Bischofsmütze, das tatsächlich auf des Bischofs Mütze zurückgehen könnte, im Gegensatz zu Bischofskonferenz, wo dies auszuschließen ist, da sich hier eine potentielle Genitivlesart verbietet. Schließlich erfolgt ein Verweis auf den Artikel „Fugen-s“. Dieser Überblicksartikel ist dreigeteilt: 1. Komposita mit Fugen-s, 2. Komposita ohne Fugen-s, 3. Komposita mit schwankendem Gebrauch des Fugen-s. Im Allgemeinen nehmen Fugen-s „Komposita mit bestimmten Erstgliedern“ wie z.B. Armut, Bahnhof, Liebe, Hilfe, Geschichte, dann substantivierte Infinitive als Erstglied (z.B. Verbrechensbekämpfung) und schließlich Erstglieder mit den Ableitungssuffixen -tum, -ing, -ling, -heit, -keit, -schaft, -ung, -ion, -ität, -at und -um. Ohne Fugen-s stehen in der Regel einsilbige feminine Erstglieder oder solche auf -e, -ur, -ik, schwache Maskulina als Erstglieder, Erstglieder auf -er und -el sowie solche auf -[s], -[6] oder -[st]. Als schwankend, aber gleichermaßen berechtigt ausgewiesen werden Komposita mit -steuer (z.B. Körperschaft(s?)steuer) und -straße (z.B. Freiheit(s?)straße) als Zweitglied. Besonders bei deverbalen Zweitgliedern (Verbalabstrakta, Partizipien) werden Schwankungen erwähnt, wobei wegen des Objektcharakters des Erstglieds keine Fugensetzung empfohlen wird: „Hilfeleistung, Kriegführung4 (aber: Kriegserklärung)“; „verfassunggebend (seltener: verfassungsgebend); (substantiviert): Vertragschließende; Gewerbetreibende. Ausnahmen kommen vor (kriegsentscheidend, staatserhaltend)“ (337). Schließlich nehmen „häufig“ mehrgliedrige Komposita in der sog. „Hauptfuge“ ein Fugen-s: „So heißt es Friedhofstor gegenüber der zweigliedrigen Bildung Hoftor, Mitternachtsstunde gegenüber Nachtstunde“ (337). Ein letzter Absatz betrifft die Bindestrichschreibung und erlaubt

3 4

Für die Versorgung mit Fugenschwankungen danken wir herzlich Yvonne Goldammer, Franziska Münzberg und Melanie Kunkel von der Duden-Sprachberatung. Interessanterweise wird hier mit unverfugtem Kriegführung ein gerade nicht schwankendes Kompositum dokumentiert, während Klein (2003) genau dasselbe Kompositum – Krieg(s?)führung – als Beispiel für das Gegenteil, eine Fugenschwankung, anführt. Tatsächlich handelt es sich um einen geradezu klassischen Zweifelsfall, der sich einer informellen Googlerecherche (vom 4.1.2010) wie folgt verhält: Krieg+s+führung: 251.000, Krieg+Ø+führung: 142.000, d.h. 64%:36%.

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sie nach einem Fugen-s nur in Ausnahmefällen „aus Gründen der Übersichtlichkeit“ (337) (〈Stadtverwaltungsoberinspektorin/StadtverwaltungsOberinspektorin〉). Soweit die Duden-Empfehlungen. 2.2 Zweifelsfälle der s-Verfugung Eine hier ansetzende Zweifelsfall(s?)linguistik betrachtet die typischen Schwankungsfälle als die Spitze des Eisbergs, versucht dabei aber, den unsichtbaren, viel größeren Eisberg auch in den Blick zu nehmen und die Regularitäten hinter den Schwankungen sichtbar zu machen. Eine diachrone Linguistik geht noch eine Dimension weiter und ist an dem dahinterliegenden Sprachwandel interessiert, wenn es sich denn um einen solchen handelt (und nicht nur um einen synchronen Regelkonflikt). Insgesamt ist u.E. gerade in Hinblick auf die Fugenschwankungen der folgenden Ermahnung von Wegener (2005, 157) zuzustimmen: Die Fugenelemente sind ein Paradebeispiel dafür, dass man manchmal ohne historisches Wissen, ohne Kenntnis früherer Sprachstufen, nicht auskommt und zu hoffnungslosen Fehldeutungen verleitet wird.

Tabelle 1 listet einige besonders virulente und nach Ausweis verschiedener Korpora stark schwankende Beispiele auf, wobei wir uns hier nur auf N+N-Komposita beschränken. Doch scheinen sich Komposita mit adjektivischen Zweitgliedern ebenso zu verhalten. Insgesamt dürfte die Zahl fugenschwankender Komposita in die Hunderte gehen, doch wurden sie bis dato noch nicht erschöpfend erfasst.5 Abitur(s?)feier Antrag(s?)formular Interessen(s?)vertretung Präteritum(s?)schwund Seminar(s?)arbeit Referat(s?)besprechung Subjekt(s?)pronomen

Schaden(s?)ersatz Mehrwert(s?)steuer Erbschaft(s?)steuer Krieg(s?)führung Dreieck(s?)tuch Arbeit(s?)nehmer Schifffahrt(s?)unfall

Datum(s?)angabe Denkmal(s?)pflege Gewicht(s?)heber Stellung(s?)nahme Lehramt(s?)kandidat Respekt(s?)person Widerrufsrecht(s?)belehrung

Tab. 1: Einige Zweifelsfälle der s-Verfugung

5

Absichtlich haben wir auf solche (häufig vorkommenden) Zweifelsfälle verzichtet, deren Zweitglied mit einem s [z] beginnt (wie Advent(s?)singen, Antrieb(s?)system), um auszuschließen, dass es sich nur um graphematische Umsetzungsprobleme eines akustischen Problems handelt.

Was erklärt die Diachronie für die Synchronie der deutschen Gegenwartssprache

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Grau hinterlegt wurde ein besonderer, bereits erwähnter Fall von Fugenschwankung, der diaphasisch bedingt zu sein scheint (und den wir im Folgenden ausblenden): Es kommt immer wieder vor, dass Komposita fachsprachlich unverfugt bleiben, während sie gesprochen- und umgangssprachlich verfugt werden. Dazu gehören die vom Duden Band 9 hervorgehobenen Komposita mit -steuer als Zweitglied, es gibt aber noch mehr solche Fälle aus der juristischen Fachsprache, z.B. Schaden(s?)ersatz, Sorgerecht(s?)prozess, Sachstand(s?)anfrage. Aus der Linguistik kennt man Fälle wie Namenkunde oder Präteritumschwund, die außerhalb dieser Disziplin fast immer zu Namenskunde, Präteritumsschwund verfugt werden. Zum Fall Schiff(s?)bau schreibt Duden Band 9: „Schiffbau wird besonders im Ingenieurwesen ohne Fugen-s gebraucht; daneben kommt auch Schiffsbau vor“ (793). Bei der Frage nach der Richtung des Wandels geben auch diese Fälle Auskunft, wenn man die fachsprachliche Version, was sinnvoll ist, als die konservativere Form betrachtet: Der Weg führt eindeutig von der Nullzu s-Fuge. Was die Null- oder Nichtverfugung betrifft, so ist diese als der unmarkierte Normalfall zu betrachten: Ca. 58% aller Komposita werden nach Kürschner (2003), der ein Zeitungskorpus untersucht hat, nicht verfugt (bei Erzählprosa kommen Ortner at al. 1991 sogar auf 72,8%). Es folgt dann schon mit 25% die s-Fuge und mit 11% die (e)n-Fuge. Die restlichen 6% verteilen sich auf die er-, die es-, die -(e)ns und die e-Fuge. Da diese 6% unproduktiv sind, vernachlässigen wir sie im Folgenden (zu Näherem s. Augst 1975, Fuhrhop 1996, 1998, Eisenberg 2006, Nübling/Szczepaniak 2008, 2009). Relativ einfach lässt sich das Verhalten der (e)n-Fuge beschreiben, die fast nur schwache Substantivklassen betrifft und dabei dem Erhalt bzw. der Erzeugung von Trochäen dient: An einsilbige bzw. finalbetonte Erstglieder tritt silbisches -en-, an zweisilbige nichtsilbisches -n- (Fráu+en+forschung, Hérr+en+schokolade, Soldát+en+treffen vs. Dáme+n+abteilung, Kúnde+n+dienst).6 Das Fugenelement besteht dabei genau in dem Material, das zur Nom.Sg.-Form hinzutritt, wenn das betreffende Nomen als Bestimmungswort in ein Kompositum eingeht. Dabei kommt es nicht selten dazu, dass ein und dasselbe Nomen unterschiedliche Fugenelemente nehmen kann, je nach dem folgenden Grundwort, vgl. Kind ĺ Kind+er+wagen, Kind+es+wohl, Kind+Ø+bett, Kind+s+kopf. Wie an diesem Beispiel auch deutlich wird, alterniert die s-Fuge nicht in der Weise mit der es-Fuge, wie dies die n- mit der en-Fuge tut: Dies s-Fuge steht oft auch nach Einsilbern, d.h. die Trochäenerzeugung

6

Ab jetzt folgen wir der Konvention, die Fugenelemente durch „+“ vom Stamm abzutrennen.

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ist nicht das leitende Prinzip. Da diese Elemente nicht miteinander austauschbar, sondern fest distribuiert sind (*Kind+es+kopf, *Kind+er+wohl, *Kind+s+wagen), handelt es sich auch nicht um Zweifelsfälle. 2.3 Der lange Weg der s-Fuge von der Syntax bzw. der Flexion in die Wortbildung ... Bei den s-verfugten Komposita lässt sich der Weg von einer einstigen Genitivphrase (a) über die Reanalyse (b) zu einem (Genitiv-)Kompositum (c) nach Demske (2001) wie folgt skizzieren:7 a) [[desDet BischofsN]NP Mütze]NP 〉 b) [desDet [Bischofs Mütze]N]NP 〉 c) [dieDet [Bischofsmütze]N]NP

Diese Lexikalisierung von Phrasenstrukturen findet im Frühnhd. statt (s. auch Pavlov 1983). Dabei geht die Lesart der ersten (Genitiv-) Konstituente von einer referenziellen in eine generische über (Demske 2001). Dieser neue Genitiv-Kompositionstyp, der ein neues Wortbildungsmuster eröffnet, wird in der Literatur, zurückgehend auf Jacob Grimm, als „uneigentliches Kompositum“ bezeichnet (s. hierzu auch Nitta 1987, Sattler 1992, Solms 1999). Mit der Kongruenz des Artikels mit dem Kern- bzw. Kopfnomen ist der Übergang zum Kompositum vollzogen: Der Artikel wechselt vom Gen.Mask. des (Bischofs) zum Nom.Fem. die (Mütze). Das anzusetzende Zwischenstadium (b), in dem sich die Struktur von (a) aufzulösen beginnt, lässt sich dabei nur erschließen, nicht belegen (Groß-/ Klein- sowie Zusammen-/Getrenntschreibungen sind zu frühnhd. Zeit wegen ihrer starken Variabilität kaum als Indikatoren zu werten, s. hierzu Wegera/Plett 2000, 1597). Möglicherweise bilden hier solche Phrasen die Brückenfunktion, die mehrdeutig sind, d.h. in denen der Artikel formal gleich bleibt wie etwa bei einem femininen Genitiv (der) und einem maskulinen Nominativ (der). Allerdings funktioniert dies nicht mit dem Genitiv-s, da sich dieses (bis heute) nicht an Feminina heftet (von Eigennamen abgesehen), sondern nur mit dem Genitiv-(e)n oder, bei den starken Feminina, mit Null: a) [[derDet SonnenN]NP Tag]NP 〉 b) [derDet [Sonnen Tag]N]NP 〉 c) [derDet [Sonnentag]N]NP 7

Bzgl. der sich im Frühnhd. erst vollziehenden Großschreibung folgen wir dem nhd. Stand.

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Auch im Genitiv Plural (der) wäre eine solche Brückenfunktion denkbar, allerdings wieder ohne das s-Flexiv: a) [[derDet PfaffenN]NP Stand]NP 〉 b) [derDet [Pfaffen Stand]N]NP 〉 c) [derDet [Pfaffenstand]N]NP

Nur bei artikellosen Phrasen vom Typ [[Feuers] Flammen] 〉 [Feuersflammen] kommt auch das s-Flexiv in Frage. – Um eine katalysatorische Wirkung dieser zweiten und dritten Rekonstruktion plausibel zu machen, müsste man korpusbasiert nachweisen, dass solche Konstruktionen mit gleichbleibender Artikelform denen mit wechselnder Artikelform zeitlich vorangehen. Dies ist bisher nicht geschehen. Insgesamt gilt, dass bis dato viel zu wenig diachrone Kompositions- und Fugenforschung geleistet wurde. Nach Demske (2001, 299) steigt „im 16., besonders aber im 17. Jh. [...] die Frequenz von Genitivkomposita sehr schnell an“. Tatsächlich verwendet Luther noch kaum solche Genitivkomposita (Wilmanns 1899, Henzen 1965). In einem zweiten, entscheidenden Schritt werden nun die morphologisierten s-Elemente produktiv, was sich zweifelsfrei erst dann nachweisen lässt, wenn sie nicht mehr nur an starken Maskulina und Neutra haften, sondern auch an schwachen (Bauer+s+mann), wenn sie auf pluralisch zu interpretierende Erstglieder und vor allem wenn sie auf Feminina übergehen. Ab hier verbietet es sich, noch von Genitivkomposita zu sprechen. So fällt die Bischof+s+mütze durchaus unter den früheren Typ des Genitivkompositums, doch keinesfalls mehr die Bischof+s+konferenz, der Freund+es+kreis oder der Dreikönig+s+tag, da die Erstglieder nur eine Plurallesart erlauben. Auch im Fall singularischer Erstglieder verbietet sich oft eine Genitivlesart: So ist ein Liebling+s+getränk keineswegs ein ‚Getränk des Lieblings‘. Massenhaft breiten sich indessen diese mittlerweile nur noch als Fugenelemente zu bezeichnenden Grenzmarker auf Feminina aus: Abfahrt+s+zeit, Geschicht+s+bewusstsein, Weihnacht+s+gans, Betreuung+s+zeit etc. Regelmäßig verfugt werden, wie unter 2.1 bereits erwähnt, ausgerechnet feminine Derivationssuffixe wie -heit, -(ig)keit, -schaft, -ung, -ion, -ität, und dies schon früh, d.h. bereits ab dem 16./17. Jh.: Wilmanns (1899, 531f.) dokumentiert für Autoren des 16. und 17. Jhs. Verfugungen wie Authorität+s+discurse, Religion+s+vergleichung etc. All diese aus ihren ursprünglichen Kontexten losgelösten s-Elemente sind sog. unorganische (Henzen 1965) oder unparadigmische Fugenelemente (Fuhrhop 1996, Eisenberg 2006). Sie sind in jedem Fall von der Flexionsmorphologie entkoppelt, ihre genus- und flexionsklassengebundene Konditionierung haben sie abgebaut. Die Frage, die sich nun stellt, ist,

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worin ihre Konditionierung heute besteht, d.h. wie die Fugengrammatik, über die wir alle verfügen, beschaffen ist. 2.4 ... und der Weg heute von der Wortbildung in die Phonologie: Das Fugen-s als rechter Wortrandverstärker Dass der s-Fugenwandel heute noch in vollem Gang sein muss, belegen die vielen Zweifelsfälle. Die anderen Fugenelemente sind davon nicht annähernd so stark betroffen, d.h. sie tradieren eher ihre angestammten Distributionsregeln. Der bisherige Stand der Fugenforschung bzgl. des Gros der Schwankungsfälle bestand darin, Fugenelemente als Anzeiger morphologischer Komplexität zu sehen: In dem Maße, in dem die morphologische Komplexität des Erstglieds zunimmt, nimmt auch – grob gesagt – die Fugensetzung zu (Henzen 1965, Ortner et al. 1991, Fuhrhop 1996; 1998, Gallmann 1998, Eisenberg 2006). Dies deutet auch das Duden-Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle an, wenn es unter „mehrgliedrige Komposita“ schreibt: Hier wird häufig, aber nicht immer die Hauptfuge durch das Fugen-s gekennzeichnet. So heißt es Friedhofstor gegenüber der zweigliedrigen Bildung Hoftor, Mitternachtsstunde gegenüber Nachtstunde. Aber ohne Fugen-s: Fußballmeister, Kindbettfieber u.a. (337)

Die Beispiele in Tabelle 2 legen ein solches Prinzip tatsächlich nahe: Es lassen sich sehr viele Beispiele für diesen Effekt finden. Erst Kürschner (2003) entdeckte in seiner korpusbasierten Untersuchung, dass nicht jegliche morphologische Komplexität des Erstglieds zu vermehrter Fugensetzung führt (s. Tabelle 3): Gerade dann, wenn das Erstglied seinerseits aus einem Kompositum besteht (und damit morphologisch besonders komplex ist), verhält sich die Fugensetzung wie bei jedem einfachen Kompositum, indem die Nullfuge dominiert (hier sogar noch stärker als im Durchschnitt). Nur bei derivationell komplexen Erstgliedern kehren sich die Verhältnisse um, d.h. hier wird zu 67,5% s-verfugt und nur zu 29% nullverfugt (s. Tabelle 3).

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Nr.

monomorphematisch

polymorphematisch

1 2 3 4 5 6 7 8 9

Hoftor Marktbude Werkzeug Fallbesprechung Kaufpreis Rufname Fahrtzeit Schlagkraft Fangarm

Friedhof+s+tor Jahrmarkt+s+bude Handwerk+s+zeug Verfall+s+datum Verkauf+s+preis Beruf+s+name Abfahrt+s+zeit Vorschlag+s+recht Anfang+s+gehalt

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Tab. 2: Mono- und polymorphematische Erstglieder und Fugensetzung

Fugenelement

Alle Komposita

Komposita mit morphologisch komplexen Erstgliedern Erstglied = Kompositum

Erstglied = Derivat

Null

58%

66%

29%

-s-

25%

27%

67.5%

Tab. 3: Abhängigkeit der Fugenelemente Null und -svon der morphologischen Komplexität des Erstglieds (nach Kürschner 2003)

Diese Tatsache sowie ein Blick auf unser Korpus der Zweifelsfälle, das außerdem ausweist, dass auffällig viele Fremdwort-Erstglieder in die Schwankungen involviert sind (s. Tabelle 1), hat uns in der Vermutung bestärkt, dass es phonologische Faktoren sein müssen, die das s-Fugenverhalten heute steuern. So haben wir in Nübling/Szczepaniak (2008) eine Korpusuntersuchung durchgeführt, indem wir anhand einer Zufallsauswahl 40 derivationell komplexe Erstglieder gewonnen haben und sämtliche Komposita mit diesen Erstgliedern auf ihr Fugenverhalten hin untersucht haben (Korpus: Cosmas II, Gesamtarchiv der geschriebenen Sprache mit über 1 Milliarde Wörtern). Etwa die Hälfte dieser Erstglieder hatte unbetonte Präfixe, die andere Hälfte betonte. Diese sind in Tabelle 4 aufgeführt.

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Unbetonte Präfixe (21) Bedarf+ Geduld+ Bedenken+ Geflügel+ Befehl+ Gelenk+ Bestand+ Gesang+ Bezirk+ Verbrechen+ Entgelt+ Verbund+ Entscheid+ Verdeck+ Entsetzen+ Verfall+ Entwurf+ Verkauf+ Entzug+ Zerfall+ Geburt+

Betonte Präfixe (19) Anfahrt+ Überleben+ Anfang+ Übermaß+ Anrecht+ Überschrift+ Ansicht+ Übersicht+ Aufsehen+ Umland+ Aufsicht+ Umtausch+ Aufstand+ Umwelt+ Auftritt+ Umzug+ Aufzucht+ Überfall+ Übergang+

Tab. 4: Korpus der derivationell komplexen Erstglieder

Das Ergebnis, das Tabelle 5 enthält, war eindeutig: Erstglieder mit unbetonten Präfixen werden zu 85% verfugt, solche mit betonten Präfixen nur zu 36% (nach Tokens; die Untersuchung der Types erbrachte ähnliche Resultate). Erstglieder mit ... unbetontem Präfix

betontem Präfix

Tokens:

85% (von insg. 495.887 Komposita)

36% (von insg. 324.503 Komposita)

Types:

82% (von insg. 17.999 Komposita)

37% (von insg. 11.325 Komposita)

Tab. 5: Das Fugenverhalten der derivationell komplexen Erstglieder

Damit haben die entscheidenden Kontrastpaare nicht Hof+Ø+tor vs. Friedhof+s+tor zu lauten, sondern Beruf+s+wunsch vs. Anruf+Ø+beantworter (neben Ruf+Ø+mord) oder Verfall+s+datum vs. Überfall+Ø+kommando (neben Fall+Ø+beispiel). Selbstverständlich gibt es Ausreißer in beide Richtungen, wie die Zahlen oben ausweisen. Auch gibt es darunter einige Zweifelsfälle, z.B. Gewicht(+s+?)heber8 und Antrag(+s+?)formular aus Ta-

8

Dass Gewicht(+s+?)heber schwankt, liegt an seinem deverbalen Zweitglied. Diesen fugenhemmenden Faktor, der vom Zweitglied ausgeht, vernachlässigen wir in diesem Beitrag. Ihm wird an anderer Stelle nachgegangen.

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belle 1. Da wir es bei der s-Fuge mit einem in vollem Gang befindlichen Sprachwandel zu tun haben, ergeben sich keine harten Regeln, aber sehr deutliche Tendenzen: D a s F u g e n v e r h a l t e n w i r d h e u t e p h o n o logisch gesteuert, und zwar in direkter Abhängigkeit v o n d e r p h o n o l o g i s c h e n Wo r t q u a l i t ä t d e s E r s t g l i e d s . Je besser seine phonologische Wortqualität, desto weniger wird s-verfugt – und je schlechter seine phonologische Wortqualität, desto eher wird sverfugt. Dies illustriert Abbildung 1. phonologische Wortqualität: schlecht

gut

Produktivität der s- Fuge: stark

schwach

.........viele Zweifelsfälle............. Derivate mit unbetontem Präfix oder mit nebenbetontem Suffix Beruf+s+wunsch, Berufung+s+zusage

Derivate mit betontem Präfix, Komposita: Anruf+Ø+beantworter, Weckruf+Ø+funktion

Fremdwörter Station+s+ärztin Respekt+s+person Präteritum+s?+schwund Abb. 1: Die Abhängigkeit der s-Fugensetzung von der phonologischen Wortqualität des Erstglieds

Abbildung 1 hat auch die Fremdwörter integriert, die auffallend häufig s-verfugt werden, im Falle der Suffixe -ität und -ion sogar regelhaft, denn alle diese Wörter weichen maximal vom idealen phonologischen Wort des Deutschen ab, das in einem Trochäus mit Reduktionssilbe besteht (Typ Mutter, Leute, Brunnen, Schlüssel). Nur wenn solche Erstglieder deverbal, also mit Infinitiven homophon sind, werden sie über des Fugen-s nominalisiert, d.h. hier steht die s-Fuge regelhaft: Leben+s+mittel, Essen+s+ration, Wissen+s+durst (s. auch die Regel im Duden-Wörterbuch der sprachlichen

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Zweifelsfälle unter 2.1). Wörter auf -ität und -ion weichen maximal vom phonologischen Wortideal ab: Sie enthalten weit mehr als zwei Silben, ja sogar in der Regel mehrere Füße (mit unbetonten Silben, die Vollvokale enthalten), und statt einer finalen Reduktionssilbe enthalten sie eine finale Volltonsilbe (vgl. Internationalität+s+kriterium, Integration+s+debatte). Dies gilt auch für andere finalbetonte Fremdwörter, vgl. Bibliothek+s+verwaltung, Institut+s+versammlung, Dekanat+s+besetzung etc., wenngleich sich hierunter auch viele Zweifelsfälle befinden, konkret die folgenden aus Tabelle 1: Abitur(+s+?)feier, Seminar(+s+?)arbeit, Referat(+s+?)besprechung, Respekt(+s+?)person. Auch für native Wortbildungen gilt obligatorische Verfugung, wenn sie auf voll- oder nebenbetonte Suffixe enden, daher die Regel, dass Wörter auf -heit, -(ig)keit, -schaft, -tum und -ung immer verfugt werden: Einheit+s+brei, Geschwindigkeit+s+begrenzung, Bereitschaft+s+dienst, Eigentum+s+wohnung, Einigung+s+vertrag. Speziell dem Fugenverhalten bei Fremdwörtern sind wir in einem weiteren Aufsatz nachgegangen (Nübling/Szczepaniak 2009). Selbst wenn die letzte Silbe unbetont ist, aber einen Vollvokal enthält, wird oft verfugt – und genau auf dieser Stufe befinden sich besonders viele unserer Zweifelsfälle: Präteritum(+s+?)schwund, Datum(+s+?)angabe, Subjekt(+s+?)pronomen, aber auch verdunkelte Komposita sind prosodischphonologisch nicht weit davon entfernt wie z.B. Denkmal(+s+?)pflege, Merkmal(+s+?)analyse, Haushalt(+s+?)gerät. Der Zweifelsfall Interessen(+s+?) vertretung ist durch seine Vokaltilgung schon dicht an einem Trochäus, doch enthält er eine prätonische Vollsilbe. Am wenigsten verfugt werden dem phonologischen Wortideal nahestehende Trochäen und Einsilber: Brunnen+Ø+rand, Schlüssel+Ø+brett, Mutter+Ø+sohn, Hof+Ø+tor, Tür+Ø+schloss. Diese lange und fein abgestufte Skala zwischen schlechter und guter Wortqualität, die in Abbildung 1 nur angedeutet ist, wird detailliert in Nübling/Szczepaniak (2008, 2009) präsentiert und diskutiert. Damit ist festzuhalten: Das Fugen-s reagiert auf die Qualität des phonologischen Worts des Erstglieds und ist ein Indikator für schlechte phonologische Wortqualität: Je größer die Distanz zum Trochäus, desto eher wird verfugt. Doch nicht nur das: Zentral ist die Tatsache, dass das Fugen-s immer eine Verstärkung des rechten Wortrands bewirkt, sei es, dass es den Rand nur erweitert und damit komplexer macht (Eigentum+s+wohnung, Einigung+s+vertrag, Religion+s+unterricht), sei es, dass es gar extrasilbischen Status erlangt, indem es den abnehmenden Sonoritätsverlauf im Endrand konterkariert (Bereitschaft+s+dienst, Stabilität+s+pakt, Geschwindigkeit+s+begrenzung). Damit „versiegelt“ das Fugen-s das Erstglied. Dies erklärt auch, weshalb sich auffällig viele auf Plosiv endende Erstgliedkomposita (die grundsätzlich jeweils zwei phonologische Wörter bilden) unter den Zweifelsfällen befinden: Lehramt(+s+?)

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kandidat, Schifffahrt(+s+?)unfall, Dreieck(+s+?)tuch, auch Seehund(+s+?) bank etc. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet das -s diese Karriere gemacht hat und kein anderes Fugenelement. 2.5 Die typologische Perspektive: Die s-Verfugung als Ausweis zunehmender Wortsprachlichkeit Die s-Fuge hat ihre Domäne in der Wortbildung (Komposition) und dient hier als Grenzsignal. Damit liefert sie dem Hörer wichtige Informationen, sie bildet eine Dekodierungshilfe. Umgekehrt stellt die s-Fuge immer eine Ausspracheerschwernis dar, auch wenn schlichte Populärliteratur das Gegenteil annimmt.9 Das heißt, auf der Sprecherseite verursacht die s-Fuge Kosten. Da die deutschen Sprecher jedoch komplexe Wortränder gewohnt sind, fällt dieser weitere Komplexitätszuwachs kaum auf. Damit ist ein Zusammenhang angesprochen, der ein Leitmotiv der deutschen Sprachgeschichte seit mittelhochdeutscher Zeit bildet und erstmals von Szczepaniak (2007) beschrieben wurde: Das Deutsche hat sich typologisch grundlegend gewandelt. Es hat sich von althochdeutscher Silbensprachlichkeit zu (früh)neuhochdeutscher Wortsprachlichkeit entwickelt. Exponiert und optimiert das Ahd. die Sprecheinheit Silbe, so exponiert das Nhd. die Informationseinheit Wort. Der Umbruch erfolgt im Mittelhochdeutschen und ist stark durch die Nebensilbenabschwächung bedingt, aber auch durch eine Reihe weiterer Faktoren, die sich hier nicht exhaustiv darstellen lassen (für einen Überblick s. neben Szczepaniak (2007) auch Szczepaniak (2008; 2009, im Druck b). Nur stichwortartig seien einige diesbezüglich zentrale Unterschiede zwischen der ahd. Silbenund der nhd. Wortsprachlichkeit aufgeführt: – Die ahd. Silbenstrukturen sind weitaus einfacher und dem CV-Ideal näher als im Nhd. (s. auch Werner 1978 zu einer Untersuchung der phonotaktischen Komplexitätszunahme des Endrands wortfinaler Silben vom Mhd. zum Nhd.). Epenthesen dienen im Ahd. der Herstellung von CV (ahd. burug ‚Burg‘), während sie im (Früh-)Nhd. den rechten Wortrand verstärken (niemand, Obst etc.) und andere mor-

9

So lautet denn bei Bastian Sick der Ratschlag: „Dort, wo das Fugen-s unaussprechlich wäre, gehört es auch nicht hin. Es soll ja die Fuge zwischen zwei Wörtern glätten, nicht dieselbe zu einer Zungenhürde machen. Sprechen Sie einmal Verwaltunggebäude, Entwicklunghilfe und Kündigunggrund ohne „s“ aus, und Sie werden feststellen, dass es nicht nur blöde klingt, sondern auch schwerer zu artikulieren ist. Das Fugen-s wurde auch deshalb eingefügt, um das Wort leichter über Zunge und Lippen zu bringen. Eine Aussprachehilfe, gewissermaßen“ (Sick 2004: 103).

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– –

– – –

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phologische Grenzen anzeigen (etwa systematisch die vor dem Suffix -lich, sofern auf [n] folgend: ordentlich, namentlich, versehentlich). Da -lich noch heute ein eigenes phonologisches Wort bildet, handelt sich bei diesem t-Einschub um nichts anderes als ein Fugenelement. Auch der ahd. i-Umlaut (sowie andere Vokalharmonien) war silbenbezogen und erleichtert die Aussprache durch die artikulatorische Annäherung benachbarter Silbennuklei. Davon waren gleichermaßen die Fugenvokale ahd. Komposita betroffen, die noch keinerlei wortsegmentierende Funktion hatten und leicht assimiliert (und auch elidiert) wurden (magazogo statt maguzogo; klasougi 〈 klasaougi). Der (qualitative wie quantitative) Vokalismus war im Ahd. noch weitgehend symmetrisch, d.h. von der Akzentposition unabhängig, während im Nhd. eine Segregation besteht zwischen 18 Vollvokalen (einschl. Diphthongen) gegenüber zwei sog. Reduktionsvokalen ([] und [n]), streng korrelierend mit Haupt- vs. Unbetontheit der betreffenden Silben. Phonetische und phonologische Prozesse waren im Ahd. silbenbezogen (s. etwa die 2. Lautverschiebung), während sie heute wortbezogen sind. Auch hat zum Nhd. hin eine Regulierung des phonologischen Wortes auf einen zweisilbigen Trochäus stattgefunden. Geminaten optimieren Silbengrenzen und galten noch für das Ahd.; sie sind heute abgebaut und durch ambisilbische Konsonanten ersetzt worden, die schlechte Silbenkontakte bilden. Die kontinuierlichen Sonoritätsverläufe innerhalb der Silben werden zum Frühnhd. hin durch die Entstehung extrasilbischer Konsonanten an den Worträndern verschlechtert (oft bedingt durch die Synkope) und mutieren damit zu einer wortpositionellen Information (vgl. Stadt [6t-], Witz [-ts]). Gegenwärtig entstehen in unbetonten Silben, ebenfalls synkopebedingt, massenhaft silbische Nasale und Liquide, die jenseits optimaler Silbenkerne stehen. Auch der weitere Konsonantismus verhält sich zunehmend wortbezogen, erkennbar etwa an der Aspiration anlautender Plosive oder der Auslautneutralisierung. Der sog. harte Vokaleinsatz, der Glottisverschlusslaut, hat im Ahd. noch nicht bestanden – er tut dies aber heute und markiert dabei den Wortanfangsrand. Manche silbensprachlichen Dialekte wie das Schweizerdeutsche haben ihn bis heute nicht ausgebildet (s. hierzu Nübling/Schrambke 2004). Wann er im Deutschen aufkommt, ist bis heute ungeklärt.

Was erklärt die Diachronie für die Synchronie der deutschen Gegenwartssprache

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Genau in diesen Kontext fügt sich die Entstehung und vor allem Ausweitung des Fugen-s ein. Wie mehrfach gezeigt, verschlechtert es durch seinen extrasilbischen Status den Sonoritätsverlauf im Endrand, d.h. eine silbenoptimierende Funktion kommt ihm keinesfalls zu. Es dient nur der Anzeige schlecht zu erkennender Wörter, die von der idealen Wortphonologie zu stark abweichen. Diente es deren wortphonologischer Größenoptimierung, so wäre die Nutzung der silbischen es-Fuge zu erwarten. Dies ist jedoch nicht eingetreten (die es-Fuge tritt nur sehr begrenzt auf und ist nicht produktiv). Ein solcher Effekt lässt sich durchaus für das nächst häufige Fugenelement ausfindig machen, nämlich -(e)n, das tatsächlich komplementär distribuiert ist, indem es bereits bestehende Trochäen durch +n+ bewahrt (Pflanze+n+beet) und nicht bestehende in solche überführt (Frau+en+sport); -s als das produktivste und innovativste aller Fugenelemente hat diese Möglichkeit jedoch nicht genutzt (vgl. Wirt+s+haus, Kind+s+kopf, Schiff+s+kapitän). Es lassen nicht einmal Zweifelsfälle finden vom Typ *Referat+es+besprechung, *Gewicht+es+heber oder *Krieg+es+führung. Vielmehr hat Wegener (2006) festgestellt, dass -s umso eher an Einsilber tritt, je mehr Extrasilbizität es erzeugt: Einsilber, die auf Plosiv enden, werden deutlich öfter s-verfugt (Ort+s+tarif, Wirt+s+haus) als solche, die auf Sonoranten enden (Wein+Ø+flasche). Damit dient das Fugen-s nicht nur als Indikator für schlechte phonologische Wörter, vielmehr stellt es eine Art Maßnahme zur Herstellung bzw. Verstärkung derselben dar. Das Fugen-s stärkt also den rechten Wortrand und exponiert für den Hörer das Ende des (wegen seiner geringen Wortqualität schlecht zu erkennenden) Erstglieds.

3. Fazit Ein aktueller und stark nachgefragter Zweifelsfall, die schwankende s-Verfugung, wurde als gegenwärtiger Vollzug sprachlichen Wandels identifiziert: Zahlreiche, vermutlich in die Hunderte gehende Komposita wechseln derzeit von der Null- zur s-Verfugung und generieren dadurch Zweifelsfälle (Seminar+Ø+arbeit 〉 Seminar+s+arbeit). Anhand einer Korpusrecherche haben wir gezeigt, dass es nicht die morphologische Komplexität ist, die das derzeitige Fugenverhalten steuert, sondern die phonologische Komplexität: Je schlechter die phonologische Wortqualität des Erstglieds, d.h. je größer seine Distanz zum Trochäus mit Reduktionssilbe, desto eher wird es verfugt. Heute operiert die s-Fuge im Mittelbereich, d.h. dort generiert sie die meisten Zweifelsfälle. Die besonders stark vom Trochäus mit Reduktionssilbe abweichenden Wörter werden bereits obligatorisch sverfugt und verursachen daher kaum Zweifelsfälle. Dazu gehören v.a. die

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Derivate mit unbetontem Präfix (Gebrauch+s+anweisung). Derivate mit betontem Präfix sowie Komposita und zahlreiche Fremdwörter erzeugen das Gros der heutigen Fugenschwankungen. Die generelle Tendenz geht zu vermehrter Komposita-Verfugung. Damit hat die s-Fuge einen langen Weg zurückgelegt von einem (frühneuhochdeutschen) Flexionssuffix innerhalb eines syntaktischen Gefüges, das als Grenzmarker reanalysiert wurde und in die Wortbildung abwandert ist, um sich dort zu einem phonologischen Wortendrandverstärker zu entwickeln: Wie gezeigt, signalisiert das Fugen-s nicht nur schlechte Wortqualität, es trägt seinerseits zu ihrer Erhöhung bei. Aus typologischer Perspektive bestätigt die Existenz und weitere Ausdehnung dieses Fugenelements die prosodisch-phonologische Drift des Deutschen von einstmals einer Silben- zu heute einer Wortsprache. Ohne die Kenntnis der Diachronie, dies sollte dieser Beitrag deutlich gemacht haben, wäre die gegenwärtige synchrone Fugenschwankung nicht zu verstehen.

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Peter Ernst (Wien/Leipzig)

Zum Problem „Mündlichkeit – Schriftlichkeit“ in der deutschen Sprachgeschichte Ein Vorschlag für ein neues Kommunikationsmodell in Diachronie und Synchronie 1. Ausgangslage Für einige linguistische Teildisziplinen hat sich die Doktrin vom Primat der gesprochenen Sprache bekanntlich nicht durchgesetzt. Dazu gehören vor allem Orthografie, Grammatik und Sprachgeschichtsschreibung. Die Historische Sprachwissenschaft gehorcht dabei der Not, dass für den überwiegenden Teil der Sprachgeschichte nur schriftliche Zeugnisse zur Verfügung stehen. Aber auch seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, als erstmals Gesprochenes in einer einigermaßen akzeptablen Qualität konserviert werden kann und systematisch gesammelt wird, ist eine deutliche Konzentration auf schriftliche Quellen zu erkennen. Dies hängt nicht nur mit Forschungstraditionen zusammen, sondern auch mit dem schwer wiegenden methodologischen Problem, wie gesprochene Sprache als „langue“ einzuordnen ist. Letztlich fehlt aber auch ein zeitgemäßes Kommunikationsmodell, auf dessen Basis die mündlichen und schriftlichen Kommunikationsvorgänge zuallererst beschrieben werden müssten. Im Jahr 1900 wurde das Phonogrammarchiv der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu Wien, weltweit die erste Einrichtung dieser Art, gegründet. Aus ihren Beständen stammen die folgenden beiden Mitschriften von Redeausschnitten, die anlässlich der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts 1906 im Wiener Reichsrat gehalten worden sind.1

1

Historische Stimmen aus Wien, Booklet (1996, 8–9).

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Peter Ernst

Victor Adler, Schriftsteller und Reichsratsabgeordneter: Heute darf man sagen, dass die Wahlreform fertig ist und dass die Grundlage der Österreichischen Verfassung das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht ist. Der Arbeiterklasse vor allem, ihrer Fähigkeit, ihrer Energie, ist dieser Erfolg (zu) zu verdanken. Ihr wird auch zunächst die Frucht dieses Sieges zufallen. Wenn sie aber nun eine neue Waffe in ihrem Klassenkampf hat, werden wir [ihr]* durch diese neuen Kampfhandlungen auch neue Pflichten und schwere, schwere Aufgaben auferlegt. Sie wird ihre Aufgaben aber nur lösen können, wenn sie auch in der Zukunft bewährt, was bis zum heutigen Tage führen musste: Treue den Prinzipien der Sozialdemokratie, Ernst und (un) unbeugsame ‚Energie in der Verfolgung ihrer Ziele‘. *Adler meint wohl: ihr (steht auch im Protokoll) Engelbert Pernerstorfer, Schriftsteller und Reichsratsabgeordneter: Nach mühsamen Kämpfen, die über ein Jahr gedauert, die gesamte Öffentlichkeit Österreichs in Atem gehalten und weit über die Grenzen unseres Landes hinaus das allgemeine politische Interesse wach gehalten haben, kann man heute, am Zwanzigsten Dezember Neunzehnhundertsechs wohl mit völliger Bestimmtheit sagen, dass das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Österreich zur Tatsache geworden ist. Damit ist ein Werk vollbracht, das die Möglichkeit einer Wiedergeburt unsres arg in Unordnung geratenen, ja fast zerrütteten Vaterlandes ahnen lässt. Denn mit diesem Werke ist nicht nur eine absolute Notwendigkeit des Bestehens Österreichs in die Wege geleitet: die völlige (Demokr) Demokratisierung unserer Staatseinrichtungen; es ist mit ihm auch der Anfang der nationalen Verständigung gemacht worden. Das Parlament des allgemeinen, gleichen Wahlrechtes hat nunmehr die Aufgabe, die Demokratie zur Wahrheit zu machen und auf ihrem Boden die völlige nationale Autonomie der Völker Österreichs durchzuführen.

Die Reden wurden nicht frei gehalten, sondern von einem Manuskript abgelesen; dies war im österreichischen Parlament vorgeschrieben (wohl um spontane Meinungsäußerungen a priori zu verhindern). Für die Tonaufnahmen mussten sich die Redner zudem ins Gebäude der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften begeben, da die Aufnahmegeräte natürlich noch nicht transportabel waren, im Gegenteil, sie zeigten eine beeindruckende Größe. All diesen Umständen sind wohl die Verleser zu verdanken, die in den Mitschriften zwischen runde Klammern (und einmal, bei einem Lesefehler Adlers in eckige Klammern) gesetzt sind. Für den Sprachhistoriker stellt sich nun die Frage, wie diese Zeugnisse einzuordnen und zu beurteilen sind. Die Texte wurden schriftlich niedergelegt, aber den Rezipienten vorgelesen. Handelt es sich um gesprochene oder geschriebene Sprache? Das Problem ist nicht unwesentlich, denn danach richtet sich die gesamte Interpretation und sprachgeschichtliche Einordnung. Das Beispiel steht für viele andere diese Art und wird letztlich auch für die Kommunikation unserer Tage relevant.

Zum Problem „Mündlichkeit – Schriftlichkeit“ in der deutschen Sprachgeschichte

227

2. Beschreibungsversuche Eines der bekanntesten und leistungsfähigsten Modelle zur Erfassung des Unterschieds zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation ist jenes von Peter Koch und Wulf Oesterreicher. Es unterscheidet u.a. zwischen „Medium“ und „Konzeption“,2 sodass sich ein fließendes Kontinuum zwischen „konzeptionell mündlich“ (Prototyp: familiäres Gespräch) und „konzeptionell schriftlich“ (Prototyp: Gesetzestext) ergibt:

Abb. 1: Koch/Oesterreicher, Schrift und Schriftlichkeit, S. 588.

Obwohl der Aspekt Schriftlichkeit/Mündlichkeit nur ein Kriterium dieses Modells neben anderen darstellt, lassen die Ausführungen aber darauf schließen, dass es m. E. für die Beschreibung historischer Sprachzustände weniger gut geeignet ist. Schließlich können wir über die „Konzeption“ von Texten, die nicht (mehr) in gegenwärtige Kommunikationsvorgänge eingebunden sind, keine genauen Aussagen treffen – etwa über jene der „Merseburger Zaubersprüche“. Auch erscheint mir der kontinuierliche Übergang von einem Ende der Skala zum entgegengesetzten prinzpiell das Problem der Ungenauigkeit zu beinhalten: Wo sollen etwa zwischen Brief, Leserbrief, Zeitungsbeitrag die Grenzen gezogen werden?

2

Koch/Oesterreicher (1994, 595).

Peter Ernst

228

Die Ungenauigkeiten beginnen dabei schon bei dem gängigen Kommunikationsmodell, das heute in der Linguistik verbreitet ist. Es stammt in seiner ersten Fassung aus dem Jahr 1949 und sieht vereinfacht etwa folgendermaßen aus:

Abb. 2: http://www.mediamanual.at

Entwickelt und veröffentlicht unter dem Titel The mathematical Theory of Communication,3 zeigt es sofort seinen Ursprung, nämlich technische Überlegungen, basierend auf dem Funkverkehr, der in dem kurz zuvor zu Ende gegangenen Zweiten Weltkrieg überlebensnotwendige Bedeutung hatte. Daher werden auch stets zwei Kommunikationsteilnehmer, manchmal auch als „Sender“ und „Empfänger“ bezeichnet, mit einbezogen, nach Harald Weinrich die „Kommunikative Dyade“.4 Entscheidend ist darüber hinaus die Unterscheidung zwischen „Medium“ und „Kanal“, die in der Literatur oft fälschlicherweise gleichgesetzt und synonym gebraucht werden. Das widerspricht aber der ursprünglichen Beschreibung. Das Medium ist als das materiell-physikalische „Mittel“ zu verstehen, das die Kommunikation trägt: Bei mündlicher Kommunikation die Luft mit den Schallwellen, bei schriftlicher Kommunikation Papier, Tinte usw. Innerhalb des Mediums gibt es verschiedene Stränge, über die die einzelnen Kommunikationsvorgänge laufen können. Am besten kann man sich dies wie bei einem Radio verstellen, dessen Medium die Luft ist, und das verschiedene Programme auf unterschiedlichen Frequenzen (hier wirklich „Kanäle“ genannt) übermittelt. Bei mündlicher Kommunikation kann ein solcher Kanal etwa ein Hörsaal sein, in dem ein Vortrag gehalten wird. Störungen wirken sich innerhalb des Mediums auf einen oder mehrere Kanäle aus, andere Kanäle (etwa weitere Vorträge in anderen Hörsälen) müssen nicht von der Störung betroffen sein.

3 4

Shannon/Weaver (1949). Weinrich (2007, 18).

Zum Problem „Mündlichkeit – Schriftlichkeit“ in der deutschen Sprachgeschichte

229

Das einfache Kommunikationsmodell kann weiter ausgebaut werden. Für die linguistische Beschreibung sind wohl zwei Faktoren am wichtigsten: 1. Menschliche Sprache bedarf bei der Kommunikation der Kodierung und der Dekodierung. 2. Beide Vorgänge setzen voraus, dass die Kommunikationsteilnehmer über einen gemeinsamen „Kode“, also eine gemeinsame Sprache, verfügen.

Abb. 3: Ernst, Kommunikationstheorie II, S. 4.

Für die Beurteilung jeglicher Form der Kommunikation ist demnach der Vorgang der Kodierung/Dekodierung zentral.

3. Zeitgemäße Kommunikation Die Schwierigkeiten des Kommunikationsmodells von Shannon/Weaver zeigen sich auch daran, dass es modernen Formen der Kommunikation, wie sie vor allem im Internet abläuft, nicht gerecht werden kann. Grundproblem dabei ist die Tatsache, dass die „face-to-face-Kommunikation“ oder die „Kommunikative Dyade“ dort außer Kraft gesetzt werden. In diesem Sinn können die Worte von Leonard Bloomfield, die diesen 1933 veröffentlicht hatte, geradezu als prophetisch gesehen werden:

Peter Ernst

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Die wichtigsten sprachlichen Unterschiede innerhalb einer Gemeinschaft beruhen auf Unterschieden in der K o m m u n i k a t i o n s d i c h t e [...] Man möge sich eine riesige Karte mit einem Punkt für jeden Sprecher in der Gemeinschaft denken und sich vorstellen, dass jedesmal, wenn ein Sprecher einen Satz äußert, in die Karte ein Pfeil von seinem Punkt zu den Punkten jedes seiner Hörer eingetragen wird. Am Ende eines vorgegebenen Zeitraums, etwa von siebzig Jahren, würde uns die Karte die Kommunikationsdichte innerhalb dieser Gemeinschaft zeigen. Es würde sich herausstellen, dass sich manche Sprecher in dichter Kommunikation befinden: Es gäbe viele Pfeile von einem zum anderen, und da wären ganze Gruppen von Pfeilen, die sie über einen, zwei oder drei dazwischen liegende Sprecher verbinden würden. Als anderes Extrem gäbe es weithin isolierte Sprecher, die einander nie sprechen gehört haben und nur durch lange Ketten von Pfeilen über viele dazwischen liegende Sprecher hinweg verbunden sind. Wenn wir die Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zwischen verschiedenen Sprechern in der Gemeinschaft erklären oder, was auf dasselbe hinausliefe, den Ähnlichkeitsgrad für zwei beliebige Sprecher vorhersagen wollten, wäre unser erster Schritt, die Pfeile und Pfeilgruppen, die ihre Punkte verbinden, zu zählen und zu bewerten. [...] Diese von uns gedachte Karte kann unmöglich gezeichnet werden. Eine unüberwindliche Schwierigkeit, und noch dazu die wichtigste, stellt der Faktor Zeit dar: Beginnend bei gegenwärtig lebenden Menschen, wären wir gezwungen, einen Punkt für jeden Sprecher, dessen Stimme jemals irgendjemand anderen gegenwärtig Lebenden erreicht hat, zu verzeichnen, und dann einen Punkt für jeden Sprecher, den dieser Sprecher jemals gehört hat, und so weiter, zurückreichend bis in die Tage von König Alfred dem Großen und bis über die früheste Geschichte hinaus, zurück bis in die ursprüngliche Morgendämmerung der Menschheit: Unsere Sprache beruht zur Gänze auf der Sprache der Vergangenheit. Da wir unsere Karte nicht zeichnen können, sind wir stattdessen auf die Untersuchung indirekter Ergebnisse angewiesen und gezwungen, uns mit Hypothesen zufriedenzugeben. Wir glauben, dass die Unterschiede in der Kommunikationsdichte innerhalb einer Sprachgemeinschaft nicht nur persönlicher und individueller Natur sind, sondern auch, dass die Gemeinschaft in verschiedene Systeme von Untergruppen zerfällt, die so geartet sind, dass Personen innerhalb einer Untergruppe viel mehr miteinander als mit außenstehenden Personen sprechen.5

Beachtenswert ist neben dem Begriff der „Kommunikationsdichte“ auch die Berücksichtigung der Diachronie, also der Gedanke, dass bei einer vollständigen Sprachbeschreibung auch der zeitliche Aspekte eine Rolle spielt, während sich die meisten Kommunikationsmodelle auf einen synchronen, punktuellen Ausschnitt beziehen.

5

Bloomfield (2001, 75–77).

Zum Problem „Mündlichkeit – Schriftlichkeit“ in der deutschen Sprachgeschichte

231

Abb. 4: Rauner, Total vernetzt, S. 30.

Abbildung 4 sieht auf den ersten Blick wie die von Bloomfield beschriebene Karte aus. Es handelt sich aber um die höchst moderne Darstellung der Kommunikation eines einzelnen, mit Handy telefonierenden Mobilfunkteilnehmers (im schwarzen Kreis) mit einer Entfernung bis zu sechs Kontakten. „Eine Linie wird gezogen, wenn zwei Personen sich gegenseitig je einmal angerufen haben. Die [hier nicht darstellbare, P.E] Farbe zeigt die Gesprächsdauer während einiger Wochen an. [...] Diese ist ein Maß für die Stärke der Beziehung“.6 Die Darstellung entstammt einer Studie eines Mobilfunkbetreibers, der anhand von sieben Millionen anonymisierter Daten ermitteln wollte, wer wie lange mit wem telefoniert. Was wir aus dieser Studie lernen bzw. übernehmen könnten, ist die Stellung eines einzelnen Kommunikationsteilnehmers im Zentrum, um den sich alle anderen Kommunikationsvorgänge gruppieren. Dies scheint mir den modernen, zeitgenössischen Kommunikationsformen wie Internet, Rundfunk, Fernsehen u.a.m. am besten zu entsprechen. Nicht mehr die „Kommunikative Dyade“, sondern der einzelne Kommunizierende ist der Mittelpunkt der Kommunikation. Und um verbal kommunizieren zu können, muss er seine Mitteilungen kodieren und andere dekodieren. Diese Vorgänge sind so grundlegend, dass sie meines Erachtens ebenfalls im Zentrum des Kommunikationsmodells stehen müssten. Der Einzelne kodiert und dekodiert, und diese Vorgänge sind durch Medium, Kanal,

6

Rauner (2009, 30).

232

Peter Ernst

Textsorte, Rezipienten, Kostenerwartungen und vieles andere mehr beeinflusst.

4. Vorschlag für ein neues Kommunikationsmodell aus linguistischer Sicht

Abb. 5: Der einzelne Kommunizierende

Nach allem Vorgebrachten erscheint es sinnvoller, in das Zentrum der Kommunikationsvorganges nicht zwei Kommunikationsteilnehmer zu stellen, sondern einen einzelnen. Der einzelne Kommunizierende entscheidet allein über Zahl und Art der Kommunikationsvorgänge, die er durchführen will. Im oben gezeigten neuen Kommunikationsmodell ist er durch den äußeren Kreis dargestellt, der die Kommunikationsmöglichkeit in alle Richtungen (wie in Abb. 5 angeführt) symbolisiert. Der kognitive Prozess des Kommunizierens läuft im Inneren des einzelnen Sprachteilnehmers ab (für ihn steht der innere Kreis), ob er weiterhin eine „black box“ bleibt, wird die Entwicklung der Kognitiven Linguistik zeigen. Im einzelnen Sprachteilnehmer laufen die Prozesse der Rezeption (nach innen weisender Pfeil) und der Produktion (nach außen weisender Pfeil) ab, wobei sie einander beeinflussen können (dafür steht der kleine Doppelpfeil).7 Die Anzahl der gleichzeitig stattfindenden Kommunikationsprozesse ist nicht festgelegt, wofür die leeren Pfeile stehen. Es ist auch nicht festgelegt, dass auf jede Produktion eine Gegenproduktion erfolgend muss:

7

Diese Idee der gegenseitigen Beeinflussung verdanke ich einem Gespräch mit Paul Rössler (Wien/Regensburg). Vgl. auch Schröder (1991, 22).

Zum Problem „Mündlichkeit – Schriftlichkeit“ in der deutschen Sprachgeschichte

233

Abb. 6: Singuläre Produktion (links) und singuläre Rezeption (rechts)

Die „Kommunikative Dyade“ oder das herkömmliche Modell nach Shannon/Weaver würde in der neuen Darstellung so aussehen:

Abb. 7: Die „Kommunikative Dyade“ in neuer Darstellung

Worin besteht nun aber der Nutzen dieses Modells für die Sprachgeschichte? Nach unserer Ansicht ermöglicht es, Kommunikationsvorgänge genauer zu erfassen und zu beschreiben als bisher, indem es folgende Faktoren der Kommunikation voneinander isoliert 1. Im Mittelpunkt steht der einzelne Kommunikationsteilnehmer. 2. In ihm laufen alle kommunikativen Vorgänge ab. 3. „Einseitige“ Kommunikation (etwa das Verfolgen einer Fernsehsendung) ist ebenso darstellbar wie interpersonale. 4. Für jeden einzelnen Kommunikationsvorgang steht nur ein einziger Pfeil. 5. Es können beliebig viele Pfeile gezeichnet werden, etwa für Kommunizierende, die zugleich eine Fernsehsendung verfolgen, eine Zeitung lesen und sich mit einem anderen unterhalten. 6. Die gegenseitige Beeinflussung der Rezeptions- und Produktionsvorgänge kann dargestellt werden. 7. Das Modell ist für synchrone und diachrone Kommunikation gleichermaßen geeignet, ja sogar für die gleichzeitige Darstellung beider Typen (etwa durch verschiedene Pfeilformen und/oder -farben)

234

Peter Ernst

8. Jeder Pfeil kann mit einer beliebigen Anzahl selbstgewählter linguistischer Beschreibungsmerkmale (etwa sprachinterner und sprachexterner Art) markiert werden. 9. Korrespondieren Rezeptions- und Produktionspfeile (wie in Abbildung 7) können mit korrespondieren Merkmalen kombiniert werden. Auf diese Weise kann beschrieben werden, ob ein Kommunikationsvorgang erfolgreich ist oder nicht. Damit steht dieses Modell nicht im Widerspruch zum Modell von Shannon/Weaver, sondern versteht sich als Ergänzung bzw. als Verlagerung der linguistischen Beschreibungsmöglichkeiten.

5. Praktisches Anwendungsbeispiel Wenn wir diesen Überlegungen auf die konservierte Rede Viktor Adlers anwenden, könnte sich folgendes Bild ergeben. Angenommen, die Tondatei der Compact Disc wird drei zugleich anwesenden Zuhörern vorgespielt. Es ergibt sich diese grafische Darstellung:

Abb. 8: Abspielen der Aufnahme von Viktor Adlers Rede vor drei schweigenden Zuhörern

Mit dem blauen Pfeil von Viktor Adler können diese Merkmale verbunden werden: 1. Audiodokument, Medium: mündlich, Kanal: Vorspielen vor drei Zuhörern (Ort, Datum, Uhrzeit) 2. Produzent ist nicht anwesend 3. schriftlich fixierte Vorlage 4. Notation von Verlesern 5. Anführen von phonetischen, lexikalischen, phraseologischen, textlinguistischen, pragmatischen und weiteren Merkmalen (etwa charakteristischen Ausspracheweisen des historischen österreichischen Deutsch)

Zum Problem „Mündlichkeit – Schriftlichkeit“ in der deutschen Sprachgeschichte

235

6. Inhalt des Dokuments 7. Historische Umstände seiner Produktion 8. Gegenwärtige Umstände seiner Reproduktion etc. Dasselbe kann bei jedem der drei gelben Pfeile der Rezipienten durchgeführt werden. Auf diese Weise kann auch der Umstand, dass die konservierte Rede einer historischen Persönlichkeit von drei heute lebenden Menschen gehört wird, Rechnung getragen werden. Art und Zahl der linguistischen Beschreibungsmerkmale sind prinzipiell keine Grenzen gesetzt.

Abb. 9: Kommunikation in zwei Kanälen

Selbstverständlich kann mit dem neuen Modell, ähnlich wie in Abbildung 4, Kommunikationsvoränge in mehreren Kanälen zum selben Zeitpunkt oder zu unterschiedlichen Zeitpunkten dargestellt werden. Abbildung 9 zeigt die oben beschriebene Situation (das Abspielen des Tondokuments von Viktor Adler vor drei Zuhörern) und eine gleichzeitige Kommunikation zwischen drei Teilnehmern in einem anderen Kanal, etwa einem anderen Raum oder einem Teil desselben Raums, von denen einer nur produziert und einer nur rezipiert (in einer etwas modifizierten grafischen Notationsweise). Es bleibt zu hoffen, dass diese Überlegungen zur Klärung der unterschiedlichen Kommunikationssituationen, ihrer Beschreibung und Verwertbarkeit für die Sprachgeschichtsschreibung beitragen.

236

Peter Ernst

Literatur Aufermann, Jörg (1971): Kommunikation und Modernisierung. Meinungsführer und Gemeinschaftsempfang, München-Pullach/Berlin. Beck, Klaus (2007): Kommunikationswissenschaft, Konstanz. Bloomfield, Leonard (2001): Die Sprache, Deutsche Erstausgabe. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Peter Ernst und Hans Christian Luschützky, Wien. Dürscheid, Christa (2006): Einführung in die Schriftlinguistik, 3. Aufl., Göttingen. Ernst, Peter (1999): Kommunikationstheorie II: Entwicklung eines Kommunikationsmodells, in: Ernst, Peter (Hg.): Einführung in die synchrone Sprachwissenschaft, 2. Aufl., Wien. [Kapitel 4 mit eigener Seitennummerierung] Historische Stimmen aus Wien, Vol. 2 (1996): Reden zur Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts 1906, Wien. [Compact Disc] http://www.mediamanual.at/mediamanual/workshop/kommunikation (24.9.2009) Klein, Wolfgang (1985): Gesprochene Sprache – geschriebene Sprache, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 15, 59, 9–35. Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (1994): Schriftlichkeit und Sprache, in: Günther, Hartmut/Ludwig, Otto (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, 2. Teilband, Berlin/New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 10.2), 587–604. Löffler, Heinrich (2000): Gesprochenes und Geschriebenes Deutsch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, in: Besch, Werner/Betten, Anne/Reichmann, Oskar/Sonderegger, Stefan (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2. Teilband, 2. Aufl., Berlin/New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.2), 1967–1980. Rauner, Max (2010): Total vernetzt, in: ZeitWissen Nr.1/Dezember 2009, 28–36. Reiß, Katharina/Vermeer, Hans J. (1991): Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 2. Aufl., Tübingen. (Linguistische Arbeiten 147) Schröder, Ingrid (1991): Die Bugenhagenbibel. Untersuchungen zur Übersetzung und Textgeschichte. Köln/Weimar/Wien. Shannon, Claude E./Weaver (1949 [u.ö.]): Warren, The mathematical Theory of Communikation, Urbana. Sieber, Peter (1998): Parlando in Texten. Zur Veränderung kommunikativer Grundmuster in der Schriftlichkeit, Tübingen. (Reihe Germanistische Linguistik 191) Strohner, Hans (2006): Kommunikation. Kognitive Grundlagen und praktische Anwendungen, Göttingen. Weinrich, Harald (2007): Textgrammatik der deutschen Sprache, unter Mitarbeit von Maria Thurmair, Eva Breindl und Eva-Maria Willkop, 4. Aufl., Hildesheim/ Zürich/New York.

Robert Peters (Münster)

Die Bedeutung des Niederdeutschen für die deutsche Sprachgeschichte Das so formulierte Thema setzt voraus, dass das Niederdeutsche in der deutschen Sprachgeschichte eine gewisse Relevanz hatte; es ist nach der Art der Bedeutung zu fragen. War diese eher groß oder eher gering? Der Beitrag besteht aus drei Teilen: Zuerst wird ein kurzer Abriss der Geschichte der sprachlichen Verhältnisse in Norddeutschland gegeben. Anschließend werden die Einflüsse des Niederdeutschen auf das Hochdeutsche dargestellt; aus diesen resultiert die Bedeutung des Niederdeutschen in der deutschen Sprachgeschichte. Abschließend folgen einige Bemerkungen über den Status der Sprachen Niederländisch, Niederdeutsch und Hochdeutsch und über das Verhältnis dieser Sprachen zueinander. Hieraus ergeben sich Folgerungen für die Sprachgeschichtsschreibung.

1. Die Geschichte der sprachlichen Verhältnisse in Norddeutschland Die Sprachgeschichte des niederdeutschen (nd.) Raumes ist hauptsächlich durch das Neben- und Gegeneinander der Sprachen Latein, Niederdeutsch und Hochdeutsch bestimmt. Dreimal fand ein durch externe Faktoren bedingter Sprachenwechsel statt, zweimal in der Schreibsprache – zuerst vom Latein zum Mittelniederdeutschen, dann vom Mittelniederdeutschen zum (Früh-)Neuhochdeutschen –, einmal in der Sprechsprache, vom Plattdeutschen zur hochdeutschen Umgangssprache. Hinzu kommt der interne Sprachwandel vom Altsächsischen zum Mittelniederdeutschen im 12. Jh. In den Stadien zwischen den wechselnden Varietätenspektren entsteht Mehrsprachigkeit.1 Die Sprachvorgeschichte, die Zeit, aus der noch keine schriftlichen Zeugnisse überliefert sind, reicht bis zum Ende des 8. Jhs. Die Wohnsitze 1

Peters (1998, 110).

Robert Peters

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der Sachsen – ihr Name ist erstmals bei Klaudios Ptolemaios im 2. Jh. belegt – dürften ursprünglich im heutigen Holstein gelegen haben. Zwei geschichtliche Vorgänge waren für die Sprachgeschichte des sächsischen Stammes von großer Bedeutung: „1. Die Abwanderung der Angeln und eines Großteils der Sachsen nach Britannien im 5. Jahrhundert hat die endgültige räumliche Trennung der ausgewanderten Angeln und Sachsen einerseits und der auf dem Festland zurückgebliebenen Sachsen und Friesen andererseits herbeigeführt und stellt somit einen Terminus post quem non für die Herausbildung gemeinsamer Neuerungen des Englischen, Sächsischen und Friesischen in den Bereichen Lautstand und Flexion dar.“2 2. Bei ihrer Ausdehnung nach Süden und Südwesten überlagerten die Sachsen istwäonische und herminonische Bevölkerungsgruppen im späteren Westfalen, Engern und Ostfalen. Nach der Landnahme in Norddeutschland konstituierte sich im Stammesstaat des 7. und 8. Jhs. eine sächsische Sprachgemeinschaft.3 Das Sächsische ist Teil eines ingwäonischen bzw. nordseegermanischen Neuerungsverbandes, zu dem außerdem die Vorstufen des Altenglischen, des Altfriesischen und zum Teil auch des Altniederländischen gehören. Die ingwäonischen Innovationen dringen, wohl mit der sächsischen Ausbreitung, von Norden nach Süden vor. Die erste Phase der Sprachgeschichte Norddeutschlands beginnt mit dem Einsetzen der lateinischen Schriftlichkeit gegen 800 und reicht bis zum Ende ihrer alleinigen Geltung um 1300. In den „Sachsenkriegen“ Karls des Großen (772–804) ging der sächsische Stammesstaat zugrunde. Sachsen wurde Teil des Karolingerreiches, die Bevölkerung wurde christianisiert. Eine Folge der Christianisierung war das Aufkommen der Schriftlichkeit, das sich als Übernahme der lateinischen Sprache und des lateinischen Schriftsystems darstellt. Zwischen 800 und dem Ende des 13. Jhs. wurde in Norddeutschland fast ausschließlich lateinisch geschrieben. Aus der Missionierung ergab sich die Notwendigkeit, die Volkssprache zu verschriftlichen. Das Altsächsische bzw. Altniederdeutsche bildet die erste Sprachstufe des Niederdeutschen. Sein Zeitraum beginnt mit dem Einsetzen volkssprachiger Überlieferung nach 800 und endet im 11. Jh. Nach dem Ende der altsächsischen Überlieferung wurde ca. 150 Jahre, bis in die erste Hälfte des 13. Jhs., ausschließlich lateinisch geschrieben. Im Bereich der gesprochenen Sprache vollzog sich im 12. Jh. der Sprachwandel vom Altsächsischen zum Mittelniederdeutschen, der zweiten Sprach-

2 3

Krogh (1996, 109f.). Peters (1998, 111).

Die Bedeutung des Niederdeutschen für die deutsche Sprachgeschichte

239

stufe des Niederdeutschen. In ihm sind die nordseegermanischen Züge weithin zurückgetreten, doch ist eine eigene nd. Sprachstruktur erhalten. Durch die Ostsiedlung des 12. und 13. Jhs. entstand das ostnd. Sprachareal. Der Sprechsprachenwechsel des elb- und ostseeslawischen Gebiets resultierte aus der Siedlung niederdeutscher und niederländischer Sprecher sowie aus dem Sprachenwechsel der slawischen Bevölkerung. Die Fernhandelskaufleute der Städte des Altlandes und der neu gegründeten Ostseestädte schlossen sich in der Hanse zusammen. In der zweiten Phase der norddeutschen Sprachgeschichte – sie umfasst das 14. bis 16. Jh. – bildet sich eine volkssprachige Schriftlichkeit aus. Neben die lateinische Schriftsprache traten mittelniederdeutsche (mnd.) Schreibsprachen, die das Latein in den meisten Funktionsbereichen zurückdrängten. Im Bereich der Stadtrechte erfolgte der Wechsel oft noch in der zweiten Hälfte des 13. Jhs. Später, in der Mitte des 14. Jhs., fand der Übergang zum Niederdeutschen in den Urkunden statt. Das Mittelniederdeutsche existiert als Gruppe regionaler Schreibsprachen. Es sind dies das Westfälische, das Ostfälische mit dem Elbostfälischen, im Norden das Nordniederdeutsche und im Südosten das Südmärkische. Charakteristisch für die frühmnd. Periode (1200–1370) ist die große inter- wie intraschreibsprachliche Variantenvielfalt. Im 15. Jh. gibt es Ansätze zu gesamtsprachlichem Ausgleich. Auch im westnd. Altland, das den Plural der Verben im Präs. Sg. auf /-et/bildet, setzt sich nach 1400 der Plural auf 〈-en〉 durch. Die Pronominalform uns verdrängt das nasallose us. Die Annahme, eine hansische Schriftsprache auf lübischer Grundlage habe sich nach 1400 im gesamten nd. Sprachraum durchgesetzt, hat sich als Mythos herausgestellt. Ihre Existenz würde bedeuten, daß das Niederdeutsche im Vergleich zum Niederländischen und Hochdeutschen, die ja noch als Schreibsprachen mit regionalen Vereinheitlichungstendenzen existierten, in der Entwicklung in Richtung auf die modernen Schriftsprachen um eine Epoche fortgeschrittener gewesen wäre.4

Die dritte Phase (ca. 1500–ca. 1650) behandelt den Schreibsprachenwechsel vom Mittelniederdeutschen zum (Früh-)Neuhochdeutschen. Die nd. Schreibsprachen wurden durch die im Entstehen begriffene deutsche Schriftsprache verdrängt. In den Kanzleien Norddeutschlands erfolgten die meisten Übergänge zum Hochdeutschen in den zwei Jahrzehnten von 1540 bis 1560. Als Ursachen sind das Sprachverhalten und -bewusstsein im Umfeld der Lan-

4

Peters (1998, 118f.).

Robert Peters

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desfürsten sowie die kommunikativen Notwendigkeiten im Verkehr mit den Institutionen des Reichs (Reichskammergericht, Reichstage) besonders wichtig.5 Im Verkehr mit den genannten Institutionen wurde für die norddeutschen Juristen und Diplomaten die Beherrschung des Hochdeutschen in Wort und Schrift zwingend erforderlich. Es ist eine Besonderheit der nd. Sprachgeschichte gegenüber der nl. und der hd., dass die Entwicklung zu einer modernen Schriftsprache durch sprachexterne Faktoren abgebrochen wurde. In der vierten Phase der norddeutschen Sprachgeschichte (ca. 1650– ca. 1850) herrscht dann eine mediale Diglossie mit hd. Schrift- und nd. Sprechsprache. Das Übergreifen des Sprachwechsels auf die Sprechsprache führte zur Zweisprachigkeit der Ober- und Bildungsschichten. Gesprochene Sprache der breiten Bevölkerungsschichten blieben die nd. Mundarten. Diese Sprachlage blieb bis in die zweite Hälfte des 19. Jhs. stabil. Im fünften und letzten Abschnitt, der von der Mitte des 19. Jhs. bis zur Gegenwart reicht, setzte der Wechsel von der nd. (plattdt.) zur hd. Sprechsprache ein; es entstanden regionale Varianten des Hochdeutschen, die norddeutschen Umgangssprachen.

2. Die Einflüsse des Niederdeutschen auf das Hochdeutsche Die folgende Darstellung setzt im 14. Jh. ein, klammert also die Beziehungen zwischen dem Altsächsischen und dem Althochdeutschen aus. Zudem ist anfangs vom Sprachwechsel vom Elbostfälischen zum Ostmitteldeutschen die Rede. Im südlichen Elbostfalen setzte in der zweiten Hälfte des 14. Jhs. ein Schreibsprachenwechsel vom Elbostfälischen zum Ostmitteldeutschen ein. Die Merseburger Urkunden sind seit 1350, die Mansfelder seit 1370, die Zerbster und Dessauer seit etwa 1400 hd. In Halle hören die nd. Eintragungen der Schöffenbücher 1417 auf, in Eisleben ist noch 1430 auf dem Amt nd. geschrieben worden.6

Im südlichen Elbostfalen wird also schon vor der Mitte des 15. Jhs. ostmd. geschrieben. Das höhere Prestige des Ostmitteldeutschen ist in der kulturellen, politischen und ökonomischen Machtstellung des Wettiner-Staates begründet. Die Wettiner erwarben 1423 das Kurfürstentum Sachsen-

5 6

Peters (1998, 122). Gabrielsson (1983, 137).

Die Bedeutung des Niederdeutschen für die deutsche Sprachgeschichte

241

Wittenberg und dehnten so ihren Herrschaftsbereich nach Norden in das südliche elbostfälische Gebiet aus.7 Beeinflussungen des Hochdeutschen durch das Niederdeutsche hat es im 14. und 15. Jh. „vor allem zwischen bestimmten Kommunikationsgruppen im Bereich der Fachwortschätze gegeben“,8 im maritimen Lebensbereich, im Handel und im Recht. „Die Beispiele sind bekannt, es können mithin nicht allzu viele sein.“9 Ufer, Deich, Hafen, Strand sind nd. Ursprungs. Wörter des hansischen Handels – z.T. stammen sie aus dem Mittelniederländischen – sind Fracht, Kladde, Laken, makeln/Makler, Stapel, Ware, Unkosten. Makler und Ware breiten sich durch ostmd. Vermittlung nach Süden aus.10 Im Bereich der Rechtssprache übte der Sachsenspiegel (1221–1224) Einfluss aus. Zu nennen sind echt, Gerücht, berüchtigt, Vormund. Pranger gelangte als branger 1507 in die Bambergische Halsgerichtsordnung und 1532 als branger und pranger in die Carolina, die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V.11 Gerhard Ising lieferte 1965 und 1968 Sprachkarten, die den Einfluss des nd. Sprachgebiets auf die Herausbildung des schriftsprachlichen deutschen Wortschatzes verdeutlichen sollten.12 Seine Auswahl zeigt zum einen den Nord-Süd-Gegensatz im deutschen Wortschatz um 1500. Nd. Wörter, die ins Mitteldeutsche übernommen wurden, sind etwa Ufer gegenüber oberdt. Gestade, Lippe gegen Lefze, fett gegenüber feist, Wehmut. Neben dem Nord-Süd-Gegensatz zeichnet sich auch ein Ost-West-Gegensatz ab,13 omd.-ond. scheune/schüne, borne/burne, liebe/leve, ostfäl.-omd. sperling sowie das Adjektiv klug. Ergänzend hierzu ist an den Schreibsprachenwechsel im südlichen Elbostfalen zu erinnern, hier schreibt man in der zweiten Hälfte des 15. Jhs. ostmd., spricht aber weitgehend elbostfäl. Mundart. Nd. Wörter können aus noch bestehender nd. Sprechsprache in den Wortschatz des nördlichen Ostmitteldeutschen eingebaut worden sein und sich mit diesem ausgebreitet haben. So könnte der ostnd.-ostmd. Kontakt als Einfluss von nd. Mundart auf die hd. Schreibsprache dieses Raumes gedeutet werden; der Sprachkontakt wird vertikalisiert.14 Martin Luther kommt aus der nd.-omd. Übergangslandschaft, in der in der ersten Hälfte des 15. Jhs. der Schreibsprachenwechsel zum

7 8 9 10 11 12 13 14

van der Elst (1985, 1392). Peters (1999, 162). Menke (1998, 175). Richter (1976, 199ff.). Schröter (1976, 215–261). Ising (1965, 1968). Ising (1965, 8). Zum Begriff „Vertikalisierung“ vgl. Reichmann (1988).

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Hochdeutschen stattgefunden hatte. Im Elternhaus wurde thüringisch gesprochen,15 doch sind nd. Sprachkenntnisse anzunehmen. Das Niederdeutsche, das in der Grafschaft Mansfeld gesprochen wurde, war elbostfäl. Mundart, die stark im Rückgang begriffen war. Ising nennt Beispiele, bei denen sich Luther im Falle eines Nord-Süd-Gegensatzes für das nd.-md. Wort entscheidet: „Luther entscheidet sich für nördliches Ufer gegenüber südlichem Gestade, für Lippe gegen Lefze, für Ernte gegen Schnitt, für pflügen gegen ackern und eren, für krank gegen siech.“16 In einigen Fällen hat also Luthers Entscheidung für md.-nd. Wörter diesen zur Schriftsprachlichkeit verholfen, „meist aber wohl, weil sie md. waren bzw. weil sie zur Zeit der Ausgleichsprozesse in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bereits md. waren.“17 Sonst ist das Mittelniederdeutsche an den Vereinheitlichungsprozessen der ersten Hälfte des 16. Jhs. eher unbeteiligt. Das liegt am sprachlichen Abstand zwischen Niederdeutsch und Hochdeutsch. „In die hd. wie die nd. Ausgleichsvorgänge konnte wegen des sprachlichen Abstands die jeweils andere Schreibsprachengruppe nicht einbezogen werden.“18 Um 1500 begann in Norddeutschland, wie bereits ausgeführt, der Wechsel von den nd. Schreibsprachen zur nhd. Schriftsprache. Die nach dem Schreibsprachenwechsel in Norddeutschland herrschende mediale Diglossie mit hd. Schrift- und nd. Sprechsprache führte zu einer neuartigen Kontaktsituation. Der Sprachkontakt findet zwischen zwei Sprachschichten im Varietätenspektrum eines Raumes statt, also im vertikalen Kontakt. Eine solche Kontaktsituation war für das 15./16. Jh. schon für das südliche Elbostfalen beschrieben worden, sie herrscht nun im gesamten nd. Sprachraum. Das Niederdeutsche blieb als Sprechsprache fast aller Schichten bis weit ins 19. Jh. bestehen. So existierte ein über zwei bis drei Jahrhunderte andauernder Kontakt zwischen dem gesprochenen Niederdeutschen und der hd. Schriftsprache. Nachdem sich seit dem 17. Jh. in Norddeutschland eine hd. Sprechsprache der Ober- und Bildungsschichten ausgebildet hatte, wurden auch Einflüsse von der nd. auf die hd. Sprechsprache möglich. Nd. Wörter wurden vom 17. bis zum 19. Jh. in das geschriebene wie das gesprochene norddeutsche Hochdeutsch integriert. Das Sachverzeichnis des Etymologischen Wörterbuchs von Kluge und Mitzka führt in der 20. Auflage unter dem Stichwort ‚Niederdeutsch‘ 256 Wörter auf.19 Wörter nd. Herkunft sind häufig an ihrer Lautgestalt zu 15 16 17 18 19

Stellmacher (1984, 77). Ising (1969, 143), zitiert nach Stellmacher (1984). Peters (1999, 165). Peters (1999, 164). Kluge/Mitzka (1967, 908).

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erkennen,20 etwa am unverschobenen Lautstand: hapern, humpeln, knapp, Pranger, pumpen, pusten, Stapel; Kante, platt, Talg, Torf; Laken, Luke, mäkeln, spuken; Damm, Deich. Nd. Provenienz verraten die geminierten Medien bb, dd, gg, so in Ebbe, knabbern, Krabbe, Robbe, schrubben; Kladde, Paddel; Bagger, Egge, Kogge, schmuggeln. Auch der Lautwandel ft zu cht verrät nd. Ursprung: echt, Gerücht, Nichte, sacht, Schacht, Schlucht. Schließlich ist der erhaltene wr-Anlaut, der im Hochdeutschen schon früh vereinfacht wurde, ein Zeichen nd. Herkunft (Wrack, Wrasen ‚Dunst‘, wringen). In einer Reihe von Fällen haben sich Wortdubletten erhalten. Hier ist „im Laufe der Zeit häufig eine semantische oder zumindest stilistische Differenzierung eingetreten“:21 feist/fett, Loch/Luke, sanft/sacht, Schaft/Schacht, schlaff/schlapp, Schaufel/Schippe, Schüppe, Staffel/Stapel. Der Anteil der nd. Wörter an der nhd. Lexik soll nicht überbewertet werden. „Es ist aber deutlich, dass nd. Einflüsse auf den hd. Wortschatz in der Zeit des ‚vertikalen‘ Kontakts […] größer sind als v o r dem Schreibsprachenwechsel vom Mittelniederdeutschen zum Neuhochdeutschen.“22 Für die Einwirkung des Niederdeutschen auf die Grammatik des Neuhochdeutschen „gibt es wohl nur einen Beleg“,23 nämlich die Pluralbildung einiger Substantive auf -s, die wohl nd. Herkunft ist. Im 18. Jh. ist sie „ins Ostmitteldeutsche eingedrungen und wird dort vorwiegend verwendet, um den Plural von Personen zu bezeichnen: die Ministers, die Kerls.“24 Heute ist diese Pluralbildung vorwiegend eine Erscheinung der norddeutschen Umgangssprachen (z.B. die Jungens). Eine größere Bedeutung hatte das Niederdeutsche bei der Entwicklung einer korrekten Aussprache des Deutschen, der Hoch- bzw. Standardlautung. In diesem Bereich besitzt es eine „Dominanzposition.“25 Hierfür werden zwei Gründe genannt. 1. In Norddeutschland musste das Hochdeutsche quasi als Fremdsprache gelehrt und gelernt werden. Man richtete sich in der Aussprache nach den Buchstaben, gemäß dem Grundsatz „Sprich, wie du schreibst“. Das hd. Graphemsystem wurde mit den Lautwerten realisiert, die im Niederdeutschen üblich waren. Das norddeutsche Hochdeutsch erhielt so im Wesentlichen eine nd. Artikulationsbasis. Oskar Schmidt und Theo Vennemann sind zu dem Ergebnis gekommen,

20 21 22 23 24 25

Sanders (1982, 189ff.), Gernentz (1980, 75–77). Sanders (1982, 191). Peters (1999, 167). Gernentz (1980, 78). Ebd.; Öhmann (1961/62, 228–236). Besch (1987, 51).

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„daß die strukturellen Eigenschaften der standardsprachlichen Lautung besonders gut mit denen niederdeutscher Mundarten übereinstimmen.“26 Unter diesen Umständen ist es folgerichtig, daß sich zwischen 1600 und 1800 gerade nd. Gelehrte für die hd. Grammatik interessieren. […]. In der Tat stammen in jener Zeit der Herausbildung des nhd. Standards die maßgeblichen Grammatiker aus dem Nd. Georg Schottelius (1612–1676) aus Einbeck markiert den Anfang, Johann Christoph Adelung (1732–1806) aus der Gegend von Anklam in Pommern das Ende dieses Zeitraums.27

Die nd. Mundarten haben nun – das ist der zweite genannte Grund für die „Dominanzposition“ – die Phonemopposition stimmlos-stimmhaft bei den Verschlusslauten, die in den mdt. und oberdt. Mundarten infolge der Konsonantenschwächung ganz überwiegend aufgehoben ist, erhalten. Die konservative Schreibung des Hochdeutschen, mit ihrer Bewahrung der nicht mehr gesprochenen Opposition 〈p t k〉 〈b d g〉, trifft in Norddeutschland auf den Erhalt der Opposition stimmlos-stimmhaft. Die konservative Schreibung konnte also problemlos „vermündlicht“ werden.28 Dass der zuerst genannte Grund wohl schwerer wiegt als der zweite, wird daran deutlich, dass im Niederdeutschen inlautend nicht /b/gilt, sondern der alte westgermanische Spirant /g/bewahrt geblieben ist (mnd. farwe ‚Farbe‘). Auch das /g/wird in vielen nd. Mundarten als Spirant und nicht als Verschlusslaut gesprochen. „Dennoch hat diese Aussprache sich in der Standardsprache nicht durchgesetzt, sondern die drei Grapheme werden in allen Umgebungen als Verschluß realisiert.“29 Dies zeigt, dass es sich bei der norddeutschen Aussprache des Hochdeutschen um eine Leseaussprache handelt,30 „die der Niederdeutsche ohne Rücksicht auf sein eigenes Dialektsystem vorgenommen hat.“31 Die konservative hd. Schreibung hielt auch im Vokalismus an Graphemoppositionen fest, „die oft nur noch in Randgebieten wirklich auf Phonemoppositionen zu beziehen waren: So hielt die Schreibsprache überall an der Unterscheidung zwischen 〈i〉 und 〈ü〉 sowie 〈e〉 und 〈ö〉 fest, während fast alle Sprecher hochdeutscher Mundarten infolge der Entrundung nur noch /i(:)/und /e(:)/kannten. Für die Niederdeutschen, Niederrheiner, Ostfranken und Hochalemannen aber, die keine Entrundung kannten, bedeutete der archaische Schreibbrauch eine korrekte Verschriftlichung

26 27 28 29 30 31

Schmidt/Vennemann (1985, 169). Bichel (1985, 1868f.). Peters (1999, 168). Schmidt/Vennemann (1985, 166). Kirch (1952, 56f.). Schmidt/Vennemann (1985, 166).

Die Bedeutung des Niederdeutschen für die deutsche Sprachgeschichte

245

ihrer Sprechsprache.“32 Im Bereich des Vokalismus konnten die Norddeutschen das Schreibsystem mühelos vermündlichen. „So war – wohl im 17. Jh. – die norddeutsche Aussprache des Hochdeutschen entstanden, die sich am archaischen Schriftbild orientierte.“33 Früh bildete sich die Überzeugung aus, dass ein Niederdeutscher die hd. Sprache am reinsten aussprechen könne. So schreibt der Berliner Rektor Johann Bödiker 1698: „Ein gebohrener Niedersachse/Märker/Pommer/ Westphaler/Braunschweiger/usw. kan die Hochdeutsche Sprache am reinsten außsprechen/besser als die Oberländer.“34 Heute ist es Teil des kollektiven Bewusstseins, das beste Hochdeutsch werde in Norddeutschland, genauer gesagt in und um Hannover, gesprochen. Erst an der Wende vom 19. zum 20. Jh. wurden die Ausspracheregeln allgemein verbindlich gemacht.35 „Die gewählte Aussprache entsprach vorwiegend der niederdeutschen Aussprache der Schriftsprache.“36 Vor allem für die Verschlusslaute wurde die in Norddeutschland übliche Aussprache empfohlen. Natürlich hat es, vor allem in Artikulation und Wortschatz, Einflüsse der nd. Mundarten auf die norddeutschen Umgangssprachen gegeben.37 Für die Bedeutung des Niederdeutschen in der dt. Sprachgeschichte lässt sich das folgende Resümee ziehen: Vor und in der Grundlegungsphase des Hochdeutschen war sie gering; das Mittelniederdeutsche spielte bei den Ausgleichs- und Vereinheitlichungsprozessen keine Rolle. Nur in der Lexik konnten einzelne Fachtermini im ond.-omd. Kontakt die Nordgrenze der 2. Lautverschiebung überwinden. Nach dem Schreibsprachenwechsel zum Hochdeutschen haben die nd. Mundarten im vertikalen Sprachkontakt für die Lexik der Schriftsprache eine etwas größere Bedeutung gehabt. Im Bereich der Standardlautung besitzt die norddeutsche Aussprache des Hochdeutschen eine „Dominanzposition“. In den regionalen norddeutschen Umgangssprachen gibt es ein nd. Substrat. – Der Ruhm, der der „hansischen Schriftsprache“ wegen ihrer angeblichen Normiertheit zuteil geworden ist, ist verblichen, denn das Mittelniederdeutsche lebt auch im 15. Jh. als Gruppe von Schreibsprachen mit regionalen Normierungsansätzen. Die größte Bedeutung des Niederdeutschen für die dt. Sprachgeschichte liegt paradoxerweise in der Aufgabe seiner Schriftsprachlichkeit.

32 33 34 35 36 37

Haas (1994, 200f.). Peters (1999, 169). Hartweg/Wegera (1989, 83). Siebs (1898). Mangold (1985, 1498). Lauf (1996).

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Der Beitritt Norddeutschlands zum Hochdeutschen kann in seiner Bedeutung für die dt. Sprachgeschichte nicht überschätzt werden. Er war „von ganz entscheidender Bedeutung für die Durchsetzung einer überregionalen Schriftsprache.“38 „Ausschlaggebend für das weitere Schicksal einer gesamtdeutschen Schriftsprache war der rasche Beitritt Norddeutschlands zum Hochdeutschen meißnischer Prägung […]. Dadurch erweiterte sich das Geltungsareal der in der Grundlegungsphase erreichten Form der neuen Schriftsprache in entscheidender Weise, wobei man ‚entscheidend‘ in seinem eigentlichen Wortsinn verstehen muss, nämlich die Entscheidung herbeiführend. Sonst hätte der lange Widerstand im traditionsreichen und weithin katholisch gebliebenen Oberdeutschland gegen die ‚Luthersprache‘ vielleicht doch einen z.T. anderen Gang der dt. Sprachgeschichte bewirkt, allein schon von den Geltungsarealen her.“39 Das Hochdeutsche trat ja – außer in den östlichen Niederlanden, die zum Niederländischen übergingen – nicht nur in Norddeutschland, sondern auch im Baltikum und als internationale Verkehrssprache in den skandinavischen Ländern die Nachfolge des Mittelniederdeutschen an.

3. Der Status des Niederdeutschen und die Folgen für die Sprachgeschichtsschreibung Es stellt sich – nach dem bisher Gesagten – die Frage, ob die Sprachgeschichte des nd. Raumes überhaupt zur dt. Sprachgeschichte gehört. Das Niederdeutsche ist eine historische westgermanische Einzelsprache. Die Sprachgeschichte des Niederdeutschen bildet eine eigene Disziplin, die nd. Sprachgeschichte. Der Gegenstandsbereich dieser Disziplin ist die Geschichte der sprachlichen Verhältnisse im nd. Sprachraum mit den Sprachstufen Altsächsisch und Mittelniederdeutsch. Die zeitliche Begrenzung der nd. Sprachgeschichte ist durch den Abschluss des Schreibsprachenwechsels zum Hochdeutschen in der Mitte des 17. Jhs. gegeben. Der nd. Sprachraum besteht aus verschiedenen Teilräumen. Es können regionale nd. Sprachgeschichten geschrieben werden, und sie sind auch geschrieben worden. Erinnert sei an Ulrich Scheuermanns „Sprachliche Grundlagen“ in der „Geschichte Niedersachsens“40 und an Jan Goossens’ Beitrag „Sprache“ in der „Westfälischen Geschichte“.41 Hinzuweisen ist

38 39 40 41

Besch (2003, 2275). Besch (2003, 2283). Scheuermann (1977, 167–258). Goossens (1983, 55–80).

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auf die regionalen Sprachgeschichten im dritten Band der zweiten Auflage des Handbuchs „Sprachgeschichte“42 und auf die Rheinisch-Westfälische Sprachgeschichte.43 Dieses Konzept – nd. Sprachgeschichte bzw. regionale Sprachgeschichten der nd. Sprachlandschaften – trägt bis in die Mitte des 17. Jhs. Nach dem Schreibsprachenwechsel zum Hochdeutschen fungieren die nd. Mundarten als Sprechsprache in einem norddeutschen Varietätenspektrum. Die Beschreibung der sprachlichen Verhältnisse Norddeutschlands seit der Mitte des 17. Jhs. gehört zum Gegenstandsbereich der Sprachgeschichte des Deutschen. Dementsprechend gilt für den Nordwesten des mnd. Areals, die heutigen östlichen Niederlande: Vor dem Schreibsprachenwechsel zum Niederländischen gehören die regionalen Schreibsprachen zur Sprachgeschichte des Niederdeutschen, nach dem Wechsel zum Gegenstandsbereich der nl. Sprachgeschichte. Seit der Mitte des 17. Jhs. bildet die Sprachgeschichte des ostnl.-nd. Raumes in seinem größeren Teil eine regionale Sprachgeschichte des Deutschen, in seinem kleineren Teil eine regionale Sprachgeschichte des Niederländischen. Auch das Niederländische und das Deutsche existieren bis zur Herausbildung der neuzeitlichen Schriftsprachen als Gruppen von regionalen Schreibsprachen. „Im Grunde genommen gibt es vor der Neuzeit keine – im modernen Sinne – deutsche Sprachgeschichte, ebensowenig wie eine niederländische.“44 Weiter heißt es: „Es dürfte deutlich geworden sein, daß erst mit der Etablierung der Hochsprache ihre eigentliche Geschichte anfängt.“45 Erinnert sei an Sebastian Helber, der 1593 vier bzw. sechs deutsche Drucksprachen unterscheidet: im Norden das Niederländische, Niederdeutsche und das Kölnische, im Süden das Hochdeutsche, das in drei Sprachen unterteilt wird: das Ostmitteldeutsche, das Gemeine Deutsch und das Schweizerdeutsche. Viererlei Teǎtsche Sprachen weiß ich, in denen man Bǎecher druckt, die C=lnische oder Gǎlichische, die S(chsische, die Fl(mmisch od’ Brabantische, vnd die Ober oder Hoch Teǎtsche. Vnsere Gemeine Hoch Teǎtsche wirdt auf drei weisen gedruckt: eine m=chten wir nennen die Mitter Teǎtsche, die andere die Donawische, die dritte H=chst Reinische.46 Die „Schwestervarietäten“, wie Luc de Grauwe sie genannt hat,47 wurden wechselseitig einfach als „ander deutsch“ betrachtet, wie es

42 43 44 45 46 47

Sprachgeschichte (2003). Sprachgeschichte (2000). von Polenz (2000, 101). Ebd. Helber (1593, 24). de Grauwe (2003, 131).

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im Kölner „Schryfftspiegel“ von 1527 heißt: Eyn schriver wilcher land art der in duytzscher nacioin geboren is/sal sich zo vur vyß flyssigen/dat he ouch ander duitsch/dan als men in synk land synget/schriven lesen und vur nemen moeg.48 Für die Sprachgeschichtsschreibung bedeutet dies die Aufforderung, eine Sprachgeschichte des kontinentalwestgermanischen Schreibsprachenkontinuums zu schreiben. Im Hoch- und Spätmittelalter lauten die Bezeichnungen für die Volkssprache im Süden und in der Mitte Deutschlands diutesch, im Norden dudesch, in den nordwestlichen Gebieten duutsc(h) bzw. dietsch.49 Es ist zu beachten, „daß es sich um absolute Lautvarianten ohne jeglichen Bedeutungsunterschied handelt.“50 Luc de Grauwe schlägt für dieses Kontinuum die Bezeichnung „theodisk“ vor.51 „Die Erforschung aller Aspekte dieses Kontinuums […] könnte entsprechend ‚Theodistik‘ genannt werden. Erst sie schafft die Grundlagen für die eigentliche Germanistik und Niederlandistik.“52 Die zweite Möglichkeit besteht darin, für die Zeit bis etwa 1650 drei Sprachgeschichten zu schreiben, je eine der nl., nd. und hd. Schreibsprachenräume. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, zwei Sprachgeschichten zu schreiben, und zwar eine des unverschobenen und eine des verschobenen kontinentalwestgermanischen Raumes. Zwar war wohl die Benrather Linie keine echte Verstehensbarriere. Bereits in ahd. Zeit wird die Benrather Linie „für Sprachstruktur und Sprachbewußtsein schon damals ähnlich bedeutungslos gewesen sein wie heute.“53 Für de Grauwe ist es „nicht direkt ersichtlich“,54 warum man zwei getrennte Kontinua annehmen sollte. Im Raum nördlich von Köln verläuft aber nicht nur die Benrather Linie, sondern auch die Südgrenze ingwäonischer Sprachmerkmale. Hinzu kommen die vokalischen und morphologischen Verschiedenheiten zwischen dem Hochdeutschen und dem Niederdeutschen. Das Linienbündel der Erscheinungen kann als Sprachgrenze zweiten Grades, als Grenze zwischen Sprachen genetisch gleichen Ursprungs, angesehen werden.55 Eine Geschichte der nördlichen wie der südlichen Schreibsprachengruppen ist durchaus bedenkenswert, wobei – mit Sebastian Helber – das Ripuarische

48 49 50 51 52 53 54 55

Müller (1882/1969, 383). de Grauwe (2003, 132f.). Ebd. Ebd., 149. Ebd. Klein (1990, 40). de Grauwe (2003, 138f.). Goossens (1977, 53f.).

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eher dem Norden als dem Süden zuzurechnen wäre. Eine Stütze findet die Ansetzung eines nördlichen und eines südlichen Kontinuums in den Sprachbezeichnungen der frühen Neuzeit, in den Gegensatzpaaren niederländisch/oberländisch und niederdeutsch/hochdeutsch, „mit der völligen Austauschbarkeit der Termini nederlandsch/nederduutsch bzw. nedderlendisch/nedderdüdisch.“56 In den meisten Sprachgeschichten des Deutschen werden das Niederländische und das Niederdeutsche zwar erwähnt, sie werden jedoch äußerst knapp, auf etwa ein bis zwei Seiten, abgehandelt. Gegenüber dieser Praxis ist es ein enormer Fortschritt, dass im „Handbuch Sprachgeschichte“ die älteren Sprachstufen des Deutschen und des Niederdeutschen gleichberechtigt behandelt werden. Auch unter den regionalen Sprachgeschichten ist das Niederdeutsche gut vertreten. Allerdings finden das Alt- und das Mittelniederländische keine Berücksichtigung, und unter den regionalen Sprachgeschichten ist als einzige, da heute vom Hochdeutschen überdacht, die niederrheinische vertreten.57 Bei einer solchen Praxis wird die Zugehörigkeit bzw. die Nichtzugehörigkeit der historischen regionalen Schreibsprachen zur deutschen Sprachgeschichte von der Gegenwart her definiert. Da der norddeutsche Raum heute zum Gegenstandsbereich der deutschen Sprachgeschichte gehört, werden die historischen Sprachstufen des Niederdeutschen, das Altsächsische und das Mittelniederdeutsche, ebenfalls zu ihrem Bestandteil erklärt. Der niederländischen Standardsprache werden dementsprechend das Alt- und Mittelniederländische zugeordnet. Die teleologische Sprachgeschichtsschreibung erklärt sich dadurch, dass die Herausbildung der Standardsprache als das zentrale Problem der deutschen wie der niederländischen Sprachgeschichte gilt. Nach den Vereinheitlichungsprozessen des 16. und 17. Jhs. gibt es – anstatt sechs – im kontinentalwestgermanischen Raum noch zwei Schriftsprachen, das Niederländische und das Deutsche. Für die Beschreibung der sprachlichen Verhältnisse seit der Mitte des 17. Jhs. im niederländischen und deutschen Schriftsprachenraum gibt es die Disziplinen niederländische und deutsche Sprachgeschichte. Zu ersterer gehört auch die Geschichte der sprachlichen Verhältnisse in den östlichen Niederlanden, zu letzterer die Geschichte der sprachlichen Verhältnisse in Norddeutschland. Im norddeutschen Varietätenspektrum bleibt der linguistische Abstand zwischen Niederdeutsch und Hochdeutsch bewahrt. Dennoch sollte eine Bezeichnung „niederdeutsch“ für die niederdeutschen sprachlichen Äußerungen von den Anfängen der Überlieferung bis

56 de Grauwe (2003, 138). 57 Eickmans (2003).

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250

zur Gegenwart benutzbar bleiben. Sie ist unverzichtbar als gemeinsame Bezeichnung für die älteren Sprachstufen Altsächsisch und Mittelniederdeutsch und die Dialekte im Norden Deutschlands, die vom Hochdeutschen überdacht werden; unverzichtbar einmal zur Darstellung der linguistischen Prozesse, die vom Altsächsischen bis zu den heutigen plattdeutschen Dialekten in den einzelnen sprachlichen Teilstrukturen abgelaufen sind, zum anderen zur Darstellung der kommunikativen Verhältnisse, an denen niederdeutsche Sprachäußerungen, ganz gleich mit welchem Status, beteiligt sind.

mnl.

mnd.

mnl.

mnd.

mhd./ frühnhd.

mhd./ frühnhd.

Abb. 1: Das kontinentalwestgermanische Schreibsprachenkontinuum

Abb. 2: Mittelniederländische, mittelniederdeutsche und mittelhochdeutsch/ frühneuhochdeutsche Sprachgeschichten

nl./nd.

nl.

(nd.) dt. hd./frühnhd.

Abb. 3: Sprachgeschichten der Abb. 4: Geschichten der neuzeitlichen unverschobenen und der verschobenen Schreibsprachen Deutsch und Niederländisch kontinentalwestgermanischen Schreibsprachen (seit ca. 1650)

Der neuen Gesellschaft für germanistische Sprachgeschichte ist zu wünschen, dass sie auch die Sprachen der nördlichen Kontinentalwestgermania – bis zur Herausbildung der modernen Schriftsprachen Deutsch und Niederländisch – zu ihrem Gegenstandsbereich zählt.

Die Bedeutung des Niederdeutschen für die deutsche Sprachgeschichte

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1730). Untersucht an ausgewählten Konkurrentengruppen unter Leitung von Joachim Dückert. Berlin, 173–214. Sanders, Willy (1982): Sachsensprache, Hansesprache, Plattdeutsch. Sprachgeschichtliche Grundzüge des Niederdeutschen. Göttingen. Scheuermann, Ulrich (1977): Sprachliche Grundlagen, in: Patze, Hans (Hg.): Geschichte Niedersachsens. I. Grundlagen und frühes Mittelalter. Hildesheim, 167–258. Schmidt, Oskar/Vennemann, Theo (1985): Die niederdeutschen Grundlagen des standarddeutschen Lautsystems, in: PBB (T) 107, 157–173. Schröter, Ulrich (1976): ‚Strafe‘ und ein Vergleich der Ergebnisse mit ‚Pranger‘ und ‚Vormund‘. Lexikalische Untersuchungen zu Rechtsbegriffen, in: Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache auf der lexikalischen Ebene (1470– 1730). Untersucht an ausgewählten Konkurrentengruppen unter Leitung von Joachim Dückert. Berlin, 215–261. Siebs, Theodor (11898; 191969): Deutsche Bühnenaussprache. Deutsche Aussprache: Reine und gemäßigte Hochlautung mit Aussprachewörterbuch. Berlin. Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hg. von Werner Besch/Oskar Reichmann/Stefan Sonderegger. 2 Halbbände. Berlin/New York 1984; 1985 (HSK 2.1; 2.2). Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2., vollständig neu bearb. und erw. Aufl. Hg. von Werner Besch/ Anne Betten/Oskar Reichmann/Stefan Sonderegger. 4 Teilbände. Berlin/New York 1998; 2000; 2003; 2004 (HSK 2,1; 2,2; 2,3; 2,4). Stellmacher, Dieter (1984): Martin Luther und die niederdeutsche Sprachgeschichte, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 56, 73–92. Trenschel, Walter (2000): Standardaussprache und Bühnenaussprache in ihrer nordund niederdeutschen Prägung, in: Niederdeutsches Jahrbuch 123, 103–114. van der Elst, Gaston (1985): Siedlungsbewegung und Sprachentwicklung im ostmitteldeutschen Raum, in: Sprachgeschichte, 1389–1398. von Bahder, Karl (1925): Zur Wortwahl in der frühneuhochdeutschen Schriftsprache. Heidelberg, Kap. I: Luthers Wortschatz und das Niederdeutsche. von Polenz, Peter (1991; 2000): Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. I: Einführung. Grundbegriffe. 14. bis 16. Jahrhundert, 2., überarbeitete und ergänzte Aufl., Berlin/New York.

Ralf Plate (Trier)

Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch Bearbeitungsstand 2009, Erfahrungen und Perspektiven Das neue Mittelhochdeutsche Wörterbuch (MWB), das seit 1994 von zwei Arbeitsgruppen in Trier und Göttingen vorbereitet worden ist, hat 2006 zu erscheinen begonnen. Die Publikation der dritten Doppellieferung im Herbst 2009 bietet willkommenen Anlass, den Stand der Realisierung des ehrgeizigen Vorhabens zu bilanzieren und dabei einige Erfahrungen und Perspektiven zu formulieren, die für die sprachgeschichtliche Forschung insgesamt von Interesse sind.

1. Der W ö r t e r b u c h p l a n sei mit wenigen Hauptpunkten kurz ins Gedächtnis gerufen.1 Das MWB soll als Belegwörterbuch für die Zeit von 1050 bis 1350 die Lücke schließen zwischen dem Althochdeutschen Wörterbuch (AWB) und dem Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (FWB), die sich bereits seit längerer Zeit in Ausarbeitung befinden. Das MWB ersetzt für diesen Zeitraum die beiden Vorgängerwörterbücher des 19. Jahrhunderts – also die Werke von Benecke/Müller/Zarncke (BMZ) und von Matthias Lexer – durch eine Darstellung des mittelhochdeutschen Wortgebrauchs, die selbständig neu aus den Quellen erarbeitet wird. Eine wesentliche Grundlage hierfür bietet eine umfangreiche digitale Textsammlung, aus der durch halbautomatische Lemmatisierung ein digitales Belegarchiv gewonnen wurde; das digitale Belegarchiv soll einen möglichst großen Teil der benötigten Belege bereitstellen, die übrigen sind bei laufender Ausarbeitung des Wörterbuchs zu exzerpieren. Die Ausarbeitung des Wörterbuchs wird von zwei Akademiearbeitsstellen an der Universität Trier 1

Eine ausführlichere Darstellung findet sich zuletzt in Plate (2007), Erläuterungen zur lexikographischen Konzeption an Artikeln aus der ersten und dritten Doppellieferung in Plate (2005/2009b).

Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch

255

(Mainzer Akademie) und in Göttingen durchgeführt. Dabei wird ein gemeinsames internetbasiertes Redaktionssystem eingesetzt, in dem die Verbindung zwischen Wörterbuch, Belegarchiv und Textarchiv stets erhalten bleibt und das die Ausgabe der Arbeitsergebnisse im Druck wie online im Internet ermöglicht. Im Druck soll das MWB vier Bände zu 1000–1200 Seiten umfassen, die in Doppellieferungen erscheinen, zu denen jede der beiden Arbeitsstellen jeweils eine Lieferung beisteuert. Im Internet wird das MWB kostenfrei zusammen mit den ihm zugrundeliegenden Materialien publiziert, wobei dank der fortschrittlichen Politik des Verlags S. Hirzel, der die Internetausgabe nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung der Druckausgabe ansieht, jeweils nur eine kurze Schutzfrist von einem halben Jahr einzuhalten ist bis zur Freigabe der zuletzt im Druck erschienenen Strecke. Für die Ausarbeitung des Wörterbuchs stehen in den beiden Arbeitsstellen zur Zeit jeweils zweieinhalb Redaktorenstellen zur Verfügung, für die EDV-Arbeiten (einschließlich der Herstellung der Druckvorlagen) eine Stelle zusätzlich in Trier. Die Fertigstellung des Wörterbuchs ist für das Jahr 2025 vorgesehen.

2. Die e l e k t r o n i s c h e n M a t e r i a l i e n , die nach dem dargestellten Plan die Wörterbuch-Basis (bzw. ihren Kern) bilden, werden bereits seit dem Start von MWB Online mit der ersten Doppellieferung komplett – also für das gesamte Wörterbuch, nicht nur für den bereits ausgearbeiteten Teil – zugänglich gemacht; ihre Ausgabe auf MWB Online wird bei Einstellung neuer ausgearbeiteter Wörterbuchstrecken jeweils aktualisiert. Diese Materialien bestehen aus der Stichwortliste und den schon genannten Komponenten Textarchiv und Belegarchiv. Die S t i c h w o r t l i s t e umfasst zur Zeit rund 84.000 Einträge. Sie wurde aus den Vorgängerwörterbüchern des 19. Jahrhunderts und dem Trierer ‚Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz‘ kompiliert und ist mit diesen drei Werken, die als ‚Mittelhochdeutscher Wörterbuchverbund‘ (MWV) im Internet zugänglich sind, elektronisch verknüpft. Die Stichwortliste wurde bei der Vorbereitung des Wörterbuchs benötigt für die halbautomatische Lemmatisierung der Quellentexte, und sie ist eine wichtige Grundlage für die Arbeitsplanung bei der Ausarbeitung des Wörterbuchs. Eine zentrale Rolle kommt ihr zu als Einstiegsort in das Online-Angebot des Wörterbuchs, und ferner als Ausgang und Eingang für die bidirektionale Verknüpfung mit externen lexikographischen Hilfsmitteln, die online zugänglich sind. Darauf ist unten unter 4. noch näher zurückzukommen.

256

Ralf Plate

Das d i g i t a l e Te x t a r c h i v umfasst zur Zeit rd. 210 Quellen mit zusammen rd. 7 Mio. laufenden Wortformen. Bei diesen E-Texten handelt es sich durchweg um Volltexte, nicht um Auszüge. Ihnen liegen Textausgaben zugrunde, die in den meisten Fällen nach sehr überlieferungsnahen Editionsprinzipien gearbeitet sind, und die E-Texte des MWB wiederum geben diese philologisch gesicherten Editionstexte ohne weitere Bearbeitung wieder, haben also ausgabendiplomatischen Charakter.2 Aus dem Textarchiv, genauer gesagt, aus seinem Kernbestand, ist durch halbautomatische Lemmatisierung der einzelnen Texte die dritte Komponente der Materialsammlung des MWB gewonnen worden, das d i g i t a l e B e l e g a r c h i v. Das Belegarchiv wird durch Nachlemmatisierung von Quellentexten ständig ergänzt. Zur Zeit umfasst es rund 1.425.000 Textstellen für rund 27.000 Wörterbuchartikel.

3. Daten zum S t a n d d e r A u s a r b e i t u n g u n d Pu b l i k a t i o n des Wörterbuchs im Herbst 2009 enthält die in Abb. 1 wiedergegebene Statistik. Bislang sind die ersten drei von insgesamt 20 Doppellieferungen des Wörterbuchs erschienen. Diese drei Doppellieferungen enthalten auf zusammen knapp 1500 Spalten die Strecke bis zum Anfang von E. Die Umfangsunterschiede zwischen den drei Doppellieferungen (Position 1 der Statistik) beruhen zum einen darauf, dass in der ersten Doppellieferung eine kürzere Stichwortstrecke als in den beiden folgenden bearbeitet ist (3600 statt 4000 Artikelkandidaten), zum anderen ergeben sie sich daraus, dass in den ersten beiden Doppellieferungen nach ihrer Fertigstellung und vor der Publikation z.T. rigide Kürzungen durchgeführt wurden. Die Position 2 der Statistik ist aufschlussreich für das Verhältnis des neuen Wörterbuchs zu den Vorgängerwörterbüchern. Dort sind für jede Lieferung gegenübergestellt die Zahl der Artikelkandidaten in der Stichwortliste, die aus den Vorgängerwörterbüchern kompiliert ist (vgl. oben unter 2), und die Zahl der tatsächlich im neuen Wörterbuch erscheinenden Artikel. Ihr Verhältnis ist, wie die Aufstellung zeigt, über die drei Lieferungen hinweg konstant geblieben und dürfte für das Gesamtwerk gelten: Die Anzahl der Wörterbuchartikel ist im MWB um ein Drittel 2

Zu beachten ist jedoch, dass die E-Texte des Wörterbuchs das editorische Beiwerk der Buchausgaben nicht enthalten (z.B. Einleitung, Variantenapparate, Erläuterungen, Glossare usw.), und dass auch die Abbildung der Texte selbst vereinfacht sein kann. Zum Verhältnis der E-Texte zu den ihnen zugrundeliegenden gedruckten Editionen vgl. Gärtner/Plate (2009).

11.994 4.820 7.174 34.294 11.994

5. Hintergrundmaterial davon benutzt

2.292 1.229

3. Artikel (ohne Verweisartikel) davon mit Datenbank-Belegen

4. Artikelbelege insgesamt Datenbank-Belege Exzerpte

3.600 2.292

416

2. Artikelkandidaten MWB-Artikel

1. Spalten

50.380 16.736

16.736 7.072 9.664

2.662 1.212

4.000 2.662

490

100% 33%

100% 42% 58%

100% 46%

100% 67%

2. Doppellieferung (2007) besingen – bluotekirl

Abb. 1: Statistik

100% 35%

100% 40% 60%

100% 54%

100% 64%

1. Doppellieferung (2006) a – balsieren

52.128 17.902

17.902 9.717 8.185

2.651 1.502

4.000 2.651

572

46.632 100% 21.609 46% 25.023 54%

7.605 100% 3.943 52%

11.600 100% 7.605 66%

1.478

Gesamt

100% 136.802 100% 34% 46.632 34%

100% 54% 46%

100% 57%

100% 66%

3. Doppellieferung (2009) bluoten – ebentiure

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Ralf Plate

niedriger als jene der Vorgängerwörterbücher. Die Minderung ergibt sich nur zum kleinen Teil aus abweichenden Lemmatisierungsprinzipien, z.B. daraus, dass Lexers Wörterbuch häufig eigene Artikel für substantivierte Infinitive und Adjektive hat, die das MWB in der Regel unter den Verben und Adjektiven mitbearbeitet. Der Hauptgrund für die geringere Anzahl ist der engere Quellenzeitraum des MWB, denn Lexer hatte den BMZ besonders stark durch Nachsammlung aus Texten des späten 14. und des 15. Jahrhunderts ergänzt, die jetzt zum Quellenbereich des FWB gehören und im MWB nicht mehr mitbearbeitet werden. Die Verhältniszahl gibt also einen Hinweis auf die Rolle der jüngeren Überlieferung für die alten Wörterbücher, zunächst für den Anteil des in ihnen dokumentierten Wortschatzes, der nur in jüngeren Quellen von der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts an bezeugt ist, darüber hinaus aber überhaupt auf das starke Gewicht der jüngeren Überlieferung, insbesondere bei Lexer. Umgekehrt ergibt sich daraus für das neue Wörterbuch, dass es eine wesentlich höhere Belegdichte für den beschriebenen Zeitraum aufweist als die alten Wörterbücher, denn es fällt ja nicht weniger umfangreich aus als sie – im Gegenteil –, beschränkt sich aber auf zwei Drittel des alten Stichwortbestands, und in den Artikeln für diese Stichwörter wiederum auf die Belege aus den älteren Quellen. Die Positionen 3 und 4 der Statistik zeigen die Ergiebigkeit der elektronischen Materialsammlung im Verhältnis zu den insgesamt benötigten Belegen. Sie konnte während der Ausarbeitung der drei Lieferungen kontinuierlich gesteigert werden durch Digitalisierung und Nachlemmatisierung von Quellen, lässt aber immer noch zu wünschen übrig, wie die Zahlen für die Stichwortbelegung in Position 3 und zur Gesamtzahl der Belege in Position 4 zeigen: Auch in der dritten Doppellieferung waren noch über 40% aller Artikel ohne Beleg im elektronischen Belegarchiv („Datenbankbelege“ in der Aufstellung), und dasselbe gilt für die Gesamtzahl der in den Artikeln der dritten Doppellieferung zitierten oder mit einer Stellenangabe vertretenen Belege: 54% konnten aus dem elektronischen Belegarchiv bezogen werden, aber 46% mussten einzeln nachexzerpiert, das heißt meist aus den gedruckten Textausgaben in die Artikeldateien abgetippt werden. Die nachexzerpierten Belege haben gegenüber den Datenbankbelegen auch ganz abgesehen von dem Aufwand, der für ihre Erhebung bei laufender Artikelarbeit getrieben werden muss, verschiedene Nachteile, von denen hier nur der gravierendste für Lexikographen wie für Benutzer des Wörterbuchs hervorgehoben werden soll: Die Exzerpte haben keinen Volltext hinter sich, den man als Artikelbearbeiter im Redaktionssystem oder als Benutzer der Online-Fassung des Wörterbuchs aufrufen könnte, um den Textzusammenhang über den exzerpierten Ausschnitt hinaus zu prüfen. – Hierzu sei eine Seitenbemerkung gestattet, die von allgemeine-

Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch

259

rem methodischen Interesse für die historische Linguistik ist. Als wir in den 1990er Jahren damit begannen, das elektronische Text- und Belegarchiv für das neue Wörterbuch einzurichten, wurde die Diskussion über den nötigen Umfang stark von der Befürchtung einiger Beteiligter bestimmt, dass schnell Belegmengen entstehen könnten, die nicht mehr bearbeitbar wären und geeignet, das eigentliche Vorhaben, die Ausarbeitung des Wörterbuchs, lahmzulegen. Dies betrifft tatsächlich jedoch nur eine kleine Gruppe von höchstfrequenten Lexemen; für sie müssen bei der halbautomatischen Lemmatisierung geeignete Filter oder Sperren eingebaut werden. Der größte Teil des Wortschatzes dagegen bedarf einer sehr großen Textmenge, um angemessen in der Belegsammlung vertreten zu sein. Der Aufbau einer umfassenden elektronischen Quellensammlung für die deutsche Sprachgeschichte ist aber leider immer noch ein dringendes Desiderat; es sollte heute nicht mehr Aufgabe einzelner Projekte sein, sich die elektronischen Corpora für ihre Untersuchungszwecke selbst zu erarbeiten. Die letzte Position der Statistik (5.) gilt dem Nutzungsgrad des Hintergrundmaterials insgesamt, also aller Belege, die überhaupt gelesen und interpretiert worden sind. Ihre Zahl kann nur annäherungsweise ermittelt werden und ist in der vorliegenden Statistik eher mit einem unteren Wert angegeben, der sich nur auf die Belege der eigenen Sammlung bezieht, seien sie bereits in elektronischer Form vorhanden gewesen, seien sie nachträglich durch Einzelexzerption eingebracht worden. Das Verhältnis der im ausgearbeiteten Wörterbuch zitierten oder mit einer Stellenangabe nachgewiesenen Belege zum Gesamt des Hintergrundmaterials ist in allen drei Doppellieferungen konstant: ungefähr ein Drittel der Belege des Hintergrundmaterials sind tatsächlich auch für die Darstellung im Wörterbuch benutzt. Dies scheint eine vernünftige Relation zu sein und jedenfalls nicht dafür zu sprechen, dass unsere Materialsammlung im Verhältnis zu ihrem Nutzen zu groß ist.

4. Zum Bericht über den Stand der Ausarbeitung und Publikation des Wörterbuchs gehört auch die Internet-Ausgabe MWB Online, in der das Wörterbuch zusammen mit seinen Materialien und verknüpft mit externen Hilfsmitteln frei zugänglich ist. MWB Online ist bereits weit ausgebaut, alle zur Grundausstattung eines Wörterbuchangebots im Internet zu zählenden Komponenten3 sind vorhanden: außer dem ausgearbeiteten Teil 3

Vgl. dazu die systematische Darstellung in Plate (2009a).

260

Ralf Plate

Abb. 2: MWB Online: Komponente Lemmaliste

des Wörterbuchs selbst die Stichwortliste, das Belegarchiv, das Quellenverzeichnis und das Textarchiv. Die Verknüpfung mit externen Hilfsmitteln ist exemplarisch realisiert für den ‚Mittelhochdeutschen Wörterbuchverbund‘ (MWV), der die Vorgängerwörterbücher des 19. Jahrhunderts (BMZ, Lexer) mit dem Quellenverzeichnis dazu von E. Nellmann und mit dem Supplement des ‚Findebuchs zum mittelhochdeutschen Wortschatz‘ enthält; eine ausgefeilte Version wird auf CD als Verlagsprodukt vertrieben, eine einfachere Version ist kostenfrei im Internet zugänglich als Teil eines Wörterbuchnetzes, in dem die Ergebnisse von Retrodigitalisierungsprojekten des Trierer ‚Kompetenzzentrums für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften‘ bereitgestellt werden. MWB Online ist bidirektional mit dem MWV im Internet verknüpft. Die Komponenten von MWB Online selbst sind auf vielfältige Weise untereinander verknüpft. Ein kurzer Durchgang anhand eines Beispiels

Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch

Abb. 3a: Artikel abbet (Druckfassung)

261

Abb. 3b: MWB Online: Artikel abbet

mag einen Eindruck von den Benutzungsmöglichkeiten geben. Zentraler Einstiegsort für die meisten Benutzungsanliegen dürfte die Stichwortliste sein, deren Anfang in Abb. 2 aufgeschlagen ist. Angenommen sei eine Benutzerfrage, die auf das Stichwort abbet ‚Abt‘ bezogen ist. Zu ihm finden sich in der Stichwortliste drei als Hyperlink gestaltete Angaben, nämlich die Zahl der Belege für dieses Stichwort im elektronischen Belegarchiv (26) und Hinweise auf das Vorkommen von Artikeln zu diesem Stichwort im MWB und in den Vorgängerwörterbüchern (MWV). Durch Anklicken dieser Angaben gelangt man ins elektronische Belegarchiv und zu den entsprechenden Artikeln des MWB und der Vorgängerwörterbücher. Die Stichwortliste selbst hat aber noch weitere Nutzungsmöglichkeiten. Erstens: Wie auch auf der Abbildung zu erkennen sein sollte, erscheinen die Stichwörter auf dem Bildschirm in unterschiedlicher Schriftstärke: Normal dann, wenn das Stichwort wie im Fall von abbet im neuen Wörterbuch mit einem Artikel vertreten ist, ausgegraut dann, wenn es nur in den alten Wörterbüchern vorkommt, wie im Falle von âbe, abe ackern, abe æhten usw. Die Stichwortliste zeigt also auf der im MWB bereits bearbeiteten Strecke implizit an, ob ein Wort erst spätmittelhochdeutsch bzw. im älteren Frühneuhochdeutsch belegt ist oder bereits davor. Zweitens: Die Stichwortliste ist nicht nur bis zum Ende des bereits ausgearbeiteten Teils des neuen Wörterbuchs eingestellt, sondern zusammen mit dem elektronischen Belegarchiv vollständig für das gesamte Alphabet,

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Ralf Plate

Abb. 4: MWB Online: Volltextanzeige eines Wörterbuchbelegs (‚Trierer Ägidius‘ v. 763)

und sie ist auch bereits durchgehend mit den Vorgängerwörterbüchern im MWV verknüpft. Die Stichwortliste ist also bereits heute der zentrale Einstiegsort für lexikographische Informationen zum Mittelhochdeutschen im Internet. Drittens: Die Stichwortliste bietet sich daher unabhängig von dem Fortgang der Ausarbeitung des MWB als Verknüpfungspunkt für weitere externe Hilfsmittel an, die den mittelhochdeutschen Wortschatz bearbeiten oder mitbearbeiten. Zur Zeit wird dies vorbereitet für die Salzburger ‚Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank‘ (MHDBDB), das Deutsche Rechtswörterbuch (DRW) und – zunächst nicht öffentlich – für die Lemmaliste der neuen Mittelhochdeutschen Grammatik und ihrer Digitalisierungsprojekte. Wenn man bei dem Stichwort abbet dem Link ins MWB folgt, erscheint der in Abb. 3b wiedergegebene Wortartikel auf dem Bildschirm. Links daneben steht in Abb. 3a zum Vergleich der Artikel im Druck. Hier soll weder inhaltlich auf den Artikel eingegangen noch sollen die Vorzüge und Nachteile der beiden Darstellungen diskutiert werden. Worauf es ankommt, sind die weiterführenden Benutzungsmöglichkeiten des

263

Abb. 5: MWB Online: Komponente Belegarchiv, Konkordanz der Belege für abbet

Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch

Bildschirmartikels, die sich in farblich hervorgehobenen Links andeuten. Sie sind auf der Abbildung durch Unterstreichungen kenntlich gemacht und betreffen einmal die Quellensiglen, zum anderen die Stellenangaben. Die Quellensiglen sind durchgehend mit Links versehen, die zu den bibliographischen Angaben im Quellenverzeichnis führen, die Stellenangaben dann, wenn es sich um lemmatisierte Belege aus den Quellen des elektronischen Textarchivs handelt; durch Anklicken des Links kann dann eine elektronische Version der Textausgabe an der betreffenden Textstelle aufgeschlagen werden. Für den ersten Beleg des Artikels nach der Bedeutungsangabe, der aus dem ‚Ägidius‘ stammt, einer fragmentarisch erhaltenen

264

Ralf Plate

frühmittelhochdeutschen Verslegende, zeigt das die Abb. 4. Wie die Pfeile auf der Abb. andeuten, kann man beliebig weit im Kontext zurück- und voranblättern (bzw. rollen). Ein anderer Weg führt aus der Stichwortliste in das elektronische Belegarchiv, wenn man die in Klammern angegebene Zahl der Datenbankbelege anklickt. Die Belege werden dann in der Form einer KWICKonkordanz ausgegeben, wie es wiederum das Beispiel abbet Abb. 5 zeigt mit 26 Textstellen, die jeweils die Form des Stichworts in der Mitte mit einer voreingestellten Menge Kontext links und rechts davon anzeigen. Die Kontextlänge ist variabel, und wie im Wörterbuchartikel kann durch Klicken auf die Textsiglen und Stellenangaben wieder der bibliographische Eintrag im Quellenverzeichnis bzw. der Volltext aufgerufen werden. Die genauere Vorführung der anderen Komponenten von MWB Online und ihrer jeweiligen Verknüpfungen kann hier erspart werden. Hingewiesen sei zum Schluss dieses kurzen Durchgangs aber auf die jüngste Neuerung vom April 2010, die eine länger angekündigte Ergänzung realisiert: Über die Komponente Quellenverzeichnis/Textarchiv sind nunmehr die E-Texte des Wörterbuchs auch selbständig (also ohne den Weg über einen Artikel oder das Belegarchiv) einsehbar, und zwar nicht nur online (wie in Abb. 4), sondern auch in einer frei herunterladbaren PDF-Fassung, und über die Funktion ‚Suche‘ steht das komplette E-Textarchiv nunmehr für Volltextrecherchen zur Verfügung.

5. Abschließend sei auf zwei Aufgabenfelder für die sprachgeschichtliche Forschung hingewiesen, die sich aus unseren Erfahrungen ergeben. Das erste wurde oben unter 3. bereits angesprochen: Ein dringendes Desiderat ist der Aufbau eines umfassenden digitalen Textarchivs für das mittelalterliche Deutsch, das nach Möglichkeit auch schon die Standard-Annotation für sprachgeschichtliche Abfragen aufweisen, mindestens aber lemmatisiert sein sollte. Aussicht darauf versprach vor einigen Jahren die Initiative ‚Deutsch Diachron Digital‘, die sich zum Ziel gesetzt hatte, ein Referenzcorpus für Forschungen zur deutschen Sprachgeschichte von den Anfängen bis in die Frühe Neuzeit zu erarbeiten. Diese Initiative ist leider aus verschiedenen Gründen gescheitert. An ihre Stelle sind Einzelprojekte zu den Sprachstufen getreten, die engere Zielsetzungen haben und zum Teil auf bestimmte Fragestellungen und Forschungsrichtungen ausgerichtet sind. Die historische Beleglexikographie, die im Kreis der Teildisziplinen der historischen Linguistik den größten Bedarf an philologisch gesicherten Sprachdaten hat, mit ihrer Textbezogenheit aber zugleich auch weitere

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Nutzerinteressen der kulturhistorischen Wissenschaften vertritt, ist an diesen Projekten leider nicht beteiligt. Das MWB wirbt jedoch weiterhin dafür, Mittel und Wege zu finden, um auf diesem Gebiet voranzukommen. Dabei können wir darauf verweisen, dass im Falle des MWB Fortschritte bei der Materialbereitstellung immer auch zugleich der interessierten Fachöffentlichkeit zugute kommen, weil die Materialien des Wörterbuchs auf MWB Online zeitnah frei zugänglich verfügbar gemacht werden. Das zweite Aufgabengebiet ergibt sich aus der stark ausgeprägten Arbeitsteilung der Lexikographie des mittelalterlichen Deutsch, die dringend nach Möglichkeiten der Synthese und des Überblicks verlangt.4 Dies ist nicht nur, aber insbesondere auch ein sprachgeschichtliches Anliegen. Gemeint ist das Nach- und Nebeneinander der drei großen Epochenwörterbücher zum Althochdeutschen, Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen mit drei Großwörterbüchern, die auf den Gesamtzeitraum des Deutschen bzw. des älteren Deutschen bezogen sind und das mittelalterliche Deutsch mitbearbeiten, und zwar teilweise aufgrund ausgedehnter eigener Belegsammlungen, nämlich das Grimmsche Wörterbuch (DWB) und seine Neubearbeitung bis zum Buchstaben F (2DWB), das DRW und das Schweizerische Idiotikon. Bereits zwischen den drei Epochenwörterbüchern gibt es erhebliche Überschneidungen der Quellenbereiche – das ist zum Teil in der Natur der Sache begründet, zum Teil aber auch nicht. Das Abgrenzungsproblem zwischen althochdeutscher und mittelhochdeutscher Lexikographie ist bekannt. Es betrifft zum einen eine Reihe von Texten aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, die in beiden Wörterbüchern bearbeitet werden, vor allem die Hohelied-Paraphrase Willirams von Ebersberg, die eine reiche Überlieferung in mittelhochdeutscher Zeit hat; zum anderen und vor allem aber betrifft es die Überlieferung althochdeutscher Glossen in mittelhochdeutscher Zeit. Von ihrem Umfang kann man sich auf jeder Spalte des Althochdeutschen Wörterbuchs einen Eindruck verschaffen, denn auf diese junge Überlieferung wird im Formteil der Artikel mit Datierungsangaben stets ausdrücklich hingewiesen; wenn ausschließlich junge Überlieferung aus mittelhochdeutscher Zeit für ein Lexem zur Verfügung steht, dann wird dies im Althochdeutschen Wörterbuch sogar durch den Ansatz in mittelhochdeutscher Normalisierung angezeigt. So gibt es z.B. für die Komposita mit dem Bestimmungswort ahd. erda ‚Erde‘ im AWB zwei Reihen von Artikeln: eine erste, umfangreichere, die von erd-amphar (‚Erdampfer‘) bis erd-uuurz (3,370–383) für den Auslaut des Erstglieds die althochdeutsche d-Schreibung hat, und eine zweite, weniger umfangreiche

4

Vgl. dazu Plate (2007, 78–81, 90f.), und Plate (2009a, 136f.).

266

Ralf Plate

von ert-ber-blat bis ert-vrosch, die sich 50 Spalten später findet (3,431f.), weil sie ausschließlich auf mittelhochdeutschen Belegen beruht und daher mittelhochdeutsch normalisiert ist, also u.a. mit t-Schreibung für den verhärteten Auslaut des Bestimmungsworts. Noch viel umfangreicher ist die Überschneidung im Falle der Quellenbasis von MWB und FWB, denn das MWB definiert seinen Quellenbereich nach der Entstehungsdatierung der Texte, das FWB aber nach der Datierung ihrer Überlieferung. Im Ergebnis wird eine sehr große Zahl von Texten aus dem 14. Jahrhundert, deren erhaltene Überlieferung aus der Zeit nach der Mitte des 14. Jahrhunderts stammt, in beiden Wörterbüchern bearbeitet. Beispiele für die Mitbearbeitung des mittelalterlichen Deutsch in den drei genannten historischen Großwörterbüchern (DWB, DRW, Idiotikon) erübrigen sich. Es soll hier auch gar nicht um stärkere Abgrenzung gehen, die sich zum Teil aus pragmatischen, zum Teil aber auch aus sachlichen Gründen kaum verwirklichen ließe, und rückwirkend sowieso nicht, sondern, wie schon gesagt, um Möglichkeiten der Zusammenschau. Am ehesten realisierbar wäre sie auf dem Wege der Vernetzung der betreffenden Wörterbücher und ihrer Materialien im Internet. Wie das geht, zeigt modellhaft der Verbund der älteren mittelhochdeutschen Wörterbücher (MWV) und seine Verknüpfung mit MWB Online, oder z.B. die bereits etablierten Verweise des Online-Angebots des DRW in den MWV und das DWB. Die Vernetzung kann dezentral und sukzessive etabliert werden, und sie muss nicht unbedingt gleich beim Wörterbuchtext selbst ansetzen, sondern kann auch mit einzelnen Komponenten eines OnlineAngebots wie einer Stichwortliste oder dem Quellenverzeichnis/Textarchiv beginnen. Wo die Wörterbucharbeitsstellen selbst sich aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage sehen, Schritte in diese Richtung zu tun, könnten auch sprachgeschichtliche oder mediaevistische Professuren die Initiative ergreifen, zum Beispiel durch Anregung entsprechender Qualifikationsarbeiten; jedenfalls handelt es sich um eine anspruchsvolle Aufgabe für Philologen und Linguisten, nicht so sehr für Informatiker. Alles, was bessere Übersicht über die historischen Sprachdaten verschafft, sollte der sprachhistorischen Forschung willkommen sein. MWB Online wird diesen Weg im Rahmen der Möglichkeiten der Trierer Arbeitsstelle weiter beschreiten.

Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch

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Wörterbücher a) gedruckt: [AWB:] Althochdeutsches Wörterbuch. Auf Grund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig bearb. und hg. [ab Bd. 2: begründet] von Elisabeth KargGasterstädt und Theodor Frings [ab Bd. 2: hg. von Rudolf Grosse, ab Bd. 5: hg. von Gotthard Lerchner, Hans-Ulrich Schmid]. Bd. 1ff., Berlin 1968ff. [BMZ:] Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearb. von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1854–1866 mit einem Vorwort und einem zusammengefassten Quellenverzeichnis von Eberhard Nellmann sowie einem Alphabetischen Index von Erwin Koller, Werner Wegstein und Norbert Richard Wolf. 4 Bde. [Bd. I, II,1+2, III) und Indexband, Stuttgart 1990. [DRW:] Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Bd. 1ff., Weimar 1932ff. [DWB:] Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 33 Bde., Nachdruck München 1984. [2DWB:] Deutsches Wörterbuch der Brüder Grimm. Neubearbeitung. Hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1ff., Leipzig 1983ff. [Findebuch:] Kurt Gärtner/Christoph Gerhardt/Jürgen Jaehrling/Ralf Plate/Walter Röll/Erika Timm (Datenverarbeitung: Gerhard Hanrieder): Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz. Mit einem rückläufigen Index, Stuttgart 1992. [FWB:] Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hg. von Robert R. Anderson/Ulrich Goebel/Oskar Reichmann, Bd. 1ff., Berlin/New York 1989ff. Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1872–1878 mit einer Einleitung von Kurt Gärtner, Stuttgart 1992. [MWB:] Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. 1, Lfg. 1/2 ff., Stuttgart 2006ff. Nellmann, Eberhard: Quellenverzeichnis zu den mittelhochdeutschen Wörterbüchern. Ein kommentiertes Register zum ‚Benecke/Müller/Zarncke‘ und zum ‚Lexer‘. Stuttgart/Leipzig 1997. Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache, Bd. 1ff., Frauenfeld 1881ff.

b) im Internet/auf CD DRW Online: http://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drw/ DWB auf CD: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Elektronische Ausgabe der Erstbearbeitung. Bearbeitet von Hans-Werner Bartz u.a. Frankfurt/M. 2004. – Online: http://www.dwb.uni-trier.de/

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Ralf Plate

[MHDBDB:] Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank: http://mhdbdb.sbg.ac.at:8000/ index.html MWB Online: http://www.mhdwb-online.de/ [MWV = Mittelhochdeutscher Wörterbuchverbund (BMZ und Lexer mit dem Quellenverzeichnis von E. Nellmann, Findebuch):] Auf CD: Thomas Burch/ Johannes Fournier/Kurt Gärtner, Mittelhochdeutsche Wörterbücher im Verbund. Stuttgart 2002. – Online: http://www.mwv.uni-trier.de/

Literatur Gärtner, Kurt/Plate, Ralf (2009): Wörterbuchwege zum Text, in: Hofmeister, Wernfried/Hofmeister-Winter, Andrea (2009): Wege zum Text. Überlegungen zur Verfügbarkeit mediävistischer Editionen im 21. Jahrhundert. Grazer Kolloquium 17.–19. September 2008, (Beihefte zu editio. 30.), Tübingen, 31–42. Plate, Ralf (2005): Historische Beleglexikographie heute. Zu ihrer Theorie und Praxis am Beispiel des Mittelhochdeutschen Wörterbuchs, in: Plate, Ralf/Rapp, Andrea zusammen mit Fournier, Johannes/Trauth, Michael (Hg.): Lexikographie und Grammatik des Mittelhochdeutschen. Beiträge des internationalen Kolloquiums an der Universität Trier, 19. und 20. Juli 2001 (Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 2005, 5). Mainz, 11–40. Plate, Ralf (2007): Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch: Beleglexikographische Konzeption, EDV, Vernetzungspotentiale. In: Lexicographica 23, 77–95. Plate, Ralf (2009a): Zur Online-Lexikographie des mittelalterlichen Deutsch und ihrer Vernetzung. Zwischenbilanz 2008, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 138, 136–139. Online: http://www.zfda.de/beitrag. php?id=782&mode=maphilinet Plate, Ralf (2009b): Wortbedeutung, Gebrauchstyp und Textverständnis in der historischen Beleglexikographie. Am Beispiel von mhd. bûwen und seinem Gebrauch im ‚Tristan‘ Gottfrieds von Strassburg, in: Ackermann, Christiane/Barton, Ulrich (Hg.) unter Mitarbeit von Auditor, Anne/Borgards, Susanne: Texte zum Sprechen bringen. Philologie und Interpretation. Festschrift für Paul Sappler, Tübingen, 365–384.

Brigitte Bulitta (Leipzig)

Stand und Perspektiven der Lexikographie des Althochdeutschen 0. Vorbemerkung Mit dem Beitrag „Neuere Entwicklungen der althochdeutschen Lexikographie und Erschließung der Glossographie“ von Rolf Bergmann und Stefanie Stricker ist 2007 ein vollständiger, aktueller Überblick über die Nachschlagewerke des Althochdeutschen aus der Sicht wissenschaftlich arbeitender Wörterbuchnutzer erschienen, der in eine kritische Beurteilung der lexikographischen Aufarbeitung des Althochdeutschen mündet.1 Zielsetzung und inhaltliche Struktur der vorhandenen Wörterbücher werden darin ausführlich beschrieben und kommentiert. Auch der Anteil, den das von 1952 bis heute bis zur Hälfte gediehene Leipziger Althochdeutsche Wörterbuch als das erste Großvorhaben zur Erforschung des frühdeutschen Wortgutes auf moderner Editionsgrundlage an der Ausbildung der gegenwärtigen lexikographischen Landschaft hat, kommt dabei mehrfach zur Sprache. Das Leipziger Wörterbuch soll in der hier folgenden Darstellung den methodisch-theoretischen Ausgangspunkt bilden, in der aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht das Entstehen der Wörterbuchlandschaft nachgezeichnet und die Diversität althochdeutscher Wörterbücher bezüglich ihrer Materialgrundlage und ihrer Zugriffsstrukturen erklärt werden.2 Lässt man einmal offen, was genau ein „althochdeutsches Wörterbuch“ ist, kann man sich mit Alain Kirkness3 durchaus über die „hohe Zahl der verschiedenen Nachschlagewerke“ – er selbst rechnet elf Werke 1

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Bergmann/Stricker (2007). Die für die Glossenüberlieferung relevanten Teilen wurden 2009 im Handbuch Glossographie nochmals abgedruckt (Bergmann/Stricker 2009b). Von den darin beschriebenen laufenden lexikographischen Vorhaben sind seither der vierte Band des EWA (Lloyd/Lühr 2009), der zweite Band des Chronologischen Wörterbuchs mit dem 9. Jahrhundert (Seebold 2008) und die Lieferungen 12 bis 18 des Althochdeutschen Wörterbuchs (2008 u. 2009) erschienen. Weitergehende, detailliertere Informationen zu den Wörterbüchern sind im oben genannten Beitrag sowie in zahlreichen Rezensionen zu finden. Kirkness (2007, 16).

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dazu – „relativ zu dem im Vergleich etwa zum Neuhochdeutschen kleinen Umfang des Wortschatzes und zu den doch als begrenzt anzusetzenden Interessenten- und Benutzergruppen“ wundern. Damit ist die Frage aufgeworfen, wann eine Sprachepoche lexikographisch ausreichend aufgearbeitet ist. Selbst wenn dies letztlich von den Forschungsbedürfnissen abhängt, wäre in diesem Zusammenhang auch ein quantitativer und qualitativer Vergleich mit der lexikographischen Aufarbeitung der frühesten Überlieferung anderer europäischer Sprachen aufschlussreich. Dazu versteht sich dieser Beitrag als eine Vorarbeit.

1. Überlieferungsbedingungen und lexikographische Spezialisierung Die noch näher zu beschreibende Vielzahl und -gestaltigkeit der Wörterbücher zum Althochdeutschen, das den größten Anteil am Frühdeutschen hat, erklärt sich wesentlich aus den Besonderheiten der Überlieferung. Sie birgt besondere Fragestellungen, wie sie in späteren Sprachperioden des Deutschen nicht mehr bzw. nicht mehr in diesem Maße hervortreten. Frühdeutsch (Düdisch) meint hier sämtliche dem heutigen Deutschen und Niederländischen vorausgehende Sprachausprägungen, also alle althochdeutschen, altniederdeutschen und altniederfränkischen Schreibdialekte mit ihren jeweils eigenen lautlichen, grammatischen und lexikalischen Systemen, soweit sie aus den erhaltenen Zeugnissen erschließbar sind. Aus sprachsystematischen wie überlieferungsbedingten Gründen gibt es Übergänge und Vermischungen. Als Folge der angelsächsischen Missionierung findet sich auch altenglisch beeinflusstes Deutsch in mancher Quelle. Dies erschwert lexikographischen Vorhaben die Abgrenzung ihres Objektbereichs und verlangt besondere Darstellungsverfahren. So spezialisieren sich verschiedene Wörterbücher auf einzelne Sprachräume: auf das Altniederdeutsche4 mit einem Anteil von schätzungsweise 15 bis 20 % am bekannten Frühdeutschen, auf das Altniederfränkische mit einem Anteil von etwa 10 % oder schließlich auf das Althochdeutsche, das mit etwa 70 % den größten Anteil an der frühdeutschen Überlieferung hat. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass das Altniederdeutsche in seiner Gesamtüberlieferung grundlegend neu von Heinrich Tiefen-

4

„Altniederdeutsch“ wird hier mit „Altsächsisch“ gleichgesetzt. Dem Verständnis der Begründer des Althochdeutschen Wörterbuchs nach war „Altniederdeutsch“ dagegen der Oberbegriff für „Altsächsisch“ und „Altniederfränkisch“.

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bach aufgearbeitet wurde.5 Ebenso gibt es seit 2009 mit dem am Institut für niederländische Lexikologie in Leiden entstandenen „Oudnederlands Woordenboek“ eine vollständige lexikographische Darstellung des Altniederfränkischen, die online abrufbar ist.6 Als eine weitere Schwierigkeit seien hier die verschiedenen Vorkommensarten frühdeutschen Wortgutes genannt, die sich auf Möglichkeiten und Sicherheit seiner Interpretation auswirken. So unterscheidet die Forschung traditionell Wörter, die in fortlaufenden Texten vorkommen (etwa ein Drittel des überlieferten Wortgutes, d. h. etwa 10.000 von ca. 30.000 bislang lexikographisch erschlossenen Ansätzen) von den Wörtern in Glossen bzw. Glossaren (etwa zwei Drittel des Bestandes), also den lateinischen Texten oder Glossaren beigegebenen Worterklärungen in deutscher Sprache. Einen dritten Bereich bilden schließlich die sogenannten Einsprengsel. Ihr Umfang ist noch nicht genauer quantifizierbar, da ihre lexikographische Erschließung erst begonnen hat, beläuft sich aber sicher auf mehrere hundert Ansätze.7 Einsprengsel sind im weiteren Sinne alle in lateinische Texte eingebauten, teilweise latinisierten und oftmals schwer entstellten Wörter. Im engeren Sinne erfolgt eine Eingrenzung auf das Vorkommen vor allem in Urkunden-, Berichts- und Rechtstexten. Auch hier gibt es Spezialisierungen bestimmter Wörterbücher, die sich auf die Erfassung der Wörter einer bestimmten Vorkommensart konzentrieren. Eine letzte Besonderheit stellt schließlich die große Abhängigkeit des Frühdeutschen von der lateinischen Sprache dar. Lateinisch war die Sprache, in der die neuen, Fortschritt versprechenden Glaubens- und Wissensinhalte (Christentum und septem artes liberales) verbreitet wurden. Diese sollten mittels der deutschen Sprache im eigenen Herrschaftsbereich fruchtbar gemacht werden. So ist schriftliches Deutsch der karolingischottonischen Zeit zum überwiegenden Teil „Übersetzungsdeutsch“. Deshalb eröffnet die lexikographische Erschließung des Vorlagenlateins einen ganz wesentlichen Zugang zum frühdeutschen Wortgut.

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Die Publikation des Werkes ist für das Frühjahr 2010 angekündigt. Das Wörterbuch ist von der Startseite des Instituts (http://www.inl.nl) aus erreichbar. Zu Begriff und Vorkommen vgl. Seebold (2001, 62–67) und (2008, 113–115), die Beiträge Nr. 48 bis 51 im Handbuch Glossographie (Bergmann/Stricker 2009a, 938–991) sowie den Beitrag von Michael Prinz in diesem Band.

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2. Aufbau des Überblicks Mit Blick auf das Leipziger Althochdeutsche Wörterbuch werden im Folgenden nur die quellenübergreifend angelegten Werke zur Sprache kommen, insgesamt werden es dreizehn sein. Einzelwerkbezogene Arbeiten, die häufig als „Glossare“ direkt den edierten Werken beigegeben wurden oder nachträglich entstanden, werden ebensowenig in die Betrachtung einbezogen wie reine Wortindizes8 oder lexikologisch spezialisierte Wörterbücher bzw. Wortschatzuntersuchungen.9 Ein grundlegender Unterschied wird zwischen den „vormodernen“ Wörterbüchern und den „modernen“, auf textkritischen Editionen beruhenden Werken gemacht, wobei erstere auch heute noch mit gewissen Einschränkungen nutzbringend sind. Die modernen Werke werden weiter aufgegliedert in zwei Gruppen: die alphabetisch-semasiologischen und die mit besonderen Zugriffsstrukturen, d. h. etymologisch, morphologisch, lateinisch-althochdeutsch, syntaktisch, chronologisch oder onomasiologisch10 ausgerichtete Wörterbücher.

3. Die „vormodernen“ Wörterbücher Das erste quellenübergreifend angelegte Wörterbuch mit Belegzitaten ist der von 1834 bis 1842 in sechs Bänden erschienene Althochdeutsche Sprachschatz von Eberhard Gottlieb Graff.11 Ihm standen philologischkritische Editionen noch nicht zur Verfügung, viele Handschriften hatte er für seine Materialsammlungen selbst autopsiert. Nicht nur wegen der unzureichenden Textgrundlage galt dieses Werk schon bald nach seinem Erscheinen als veraltet. Als unzeitgemäß und hinderlich empfand man auch das Prinzip der Lemmaanordnung nach Sanskritwurzeln bzw. Wortstämmen. Man wünschte sich stattdessen ein Wörterbuch, das alphabetisch zugriffsfähig und vor allem semantisch aussagefähiger war. Ein solches Wörterbuch sollte ursprünglich Elias von Steinmeyer erarbeiten, doch widmete er sein ganzes Leben den dafür noch nötigen editorischen Vorarbeiten und der Anlage eines umfassenden Belegarchivs.12 Aufbauend auf seine Sammlungen begann erst eine Generation später unter der

8 Vgl. z. B. Heffner (1961). 9 Gemeint sind hier auf die Erfassung bestimmter Wortarten oder Wortbildungstypen, auf Sachbereiche bzw. Wortfelder oder auf den Lehnwortschatz gerichtete Arbeiten. 10 Auf diese kann hier nicht näher eingegangen werden, vgl. dazu den Überblick in Bergmann (2005) und (2009b). 11 Graff (1834–1842). 12 Vgl. dazu Köppe (1999, 74f.).

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Leitung von Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings in Leipzig die Erarbeitung eines Althochdeutschen Wörterbuchs als Nachfolgewörterbuch von Graff. Das 1866 bzw. in den Jahren 1872–1882 in einer zweiten Auflage erschienene zweibändige Altdeutsche Wörterbuch von Oskar Schade13 musste ebenfalls noch auf den unkritischen Textausgaben aufbauen. Es erfüllte zwar die Forderung nach einer alphabetischen Anordnung der Lemmata, doch seiner primär etymologischen Zielsetzung gemäß waren den Ansätzen, die überdies aus allen germanischen Sprachen genommen waren, nur knappe Bedeutungsangaben beigefügt. Belegzitate und Stellennachweise fehlten. 3.1 Die Anfänge der modernen Lexikographie des Frühdeutschen Die Anfänge der modernen lexikographischen Erschließung der frühdeutschen Sprache stehen in engstem Zusammenhang mit der Entstehung neuer textkritischer Werkausgaben mit Lesartenapparaten nach dem Vorbild der klassischen Philologie. Diese sollten das noch junge Fach Deutsche Philologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf eine verbesserte wissenschaftliche Grundlage stellen. So wurden seit den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts die veralteten, eklektischen Ausgaben ersetzt. Den Editionen wurden nicht nur Grammatiken, sondern auch Glossare bzw. Wortregister beigegeben. Nach und nach entstanden so im 19. Jahrhundert Glossare zu allen größeren althochdeutschen Texten: zu Otfrids Evangelienbuch (1856) und (1884/21887), zu Tatian 1872 (21892), zu den Murbacher Hymnen 1874, zu Willirams Paraphrase des Hoheliedes 1878, zu den Monseer Fragmenten 1890 und zu Isidor 1893.14 Als erste textübergreifende semantische Wortschatzerschließungen sind die den althochdeutschen Textsammlungen beigegebenen Wörterverzeichnisse anzusehen wie z. B. das in Braunes Althochdeutschem Lesebuch von 1875.15 Die textkritisch wie lexikographisch insgesamt schwerer zu erschließende Glossenüberlieferung wurde deutlich später16 angegangen. Wie schon bei der Textüberlieferung galt das damalige Interesse der Sprachforschung vorrangig der Grammatik und erst dann der Lexik. Während es schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert grammatische Darstellungen

13 Schade (11862–1866; 21872–1882). 14 Kelle (1856) und Piper (1884/21887), Sievers (1872/21892), Sievers (1874), Seemüller (1878), Hench (1890) und (1893). 15 Braune (11875). 16 Vgl. Bergmann (2009a).

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zu Glossendenkmälern gab,17 setzte ihre Wortschatzuntersuchung erst in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein.18 Den Editionen lateinischer Scriptores-, Leges- und Diplomata-Texte der Monumenta Germaniae Historica wurden seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eigene Register, „Glossaria verborum vernaculorum“, für die volkssprachigen Einsprengsel beigegeben.

4. Die „modernen“ Wörterbücher 4.1 Alphabetisch-semasiologische Wörterbücher Das erste moderne Großwörterbuch zum Frühdeutschen ist das auf die Steinmeyerschen Sammlungen aufbauende, von Karg-Gasterstädt und Theodor Frings begründete Althochdeutsche Wörterbuch der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, von dem seit 1952 die ersten fünf Bände mit den Buchstaben A bis L im Druck erschienen sind.19 Es wurde in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Ziel konzeptioniert, das gesamte erhaltene frühdeutsche Wortgut auf philologisch gesicherter Basis zu versammeln und unter sprachsystematischen Aspekten abfragbar zu machen. Man sah sich dem Anspruch verpflichtet, ein Forschungsinstrument für nachfolgende Generationen zu schaffen, das seiner Materialgrundlage nach „vollständig“ und seiner Darstellung nach „endgültig“ sein sollte, wobei man den Thesaurus Linguae Latinae und das Middelnederlands Woordenboek als Vorbild vor Augen hatte.20 Um diesem Anspruch und den Schwierigkeiten des zu bearbeitenden, damals zum großen Teil noch unerforschten Materials gerecht zu werden, entschied man sich für eine besondere Wörterbuchstruktur und Arbeitsweise. Während andere Sprachperiodenwörterbücher nur einen Bedeutungsteil haben, weist das Althochdeutsche Wörterbuch einen diesem gleichberechtigten Formenteil auf, denn es müsse, so seine Begründer, „neben der klar herausgearbeiteten Bedeutungsentwicklung für den Sprachwissenschaftler auch das Material für eine Entwicklungsgeschichte der Formen zusammentragen“.21 Im Formenteil eines Artikels sind alle überlieferten

17 Vgl. z. B. Ottmann (1886) mit einer Darstellung der Sprache des althochdeutschen Glossars Rb. 18 Vgl. z. B. Katara (1912) mit einer Untersuchung zu den Glossen des Trierer Seminarcodex. Das „Glossar der deutschen wörter“ enthält Stellennachweise, Wortartangaben, Wortformenbestimmung, Bedeutungsangaben und Erläuterungen. 19 Zur Geschichte, Konzeption und Durchführung des Vorhabens vgl. Köppe (1999, 73–90). 20 Vgl. schon Karstien (1934, 208). 21 Vgl. Karg-Gasterstädt/Frings (1936, 155).

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Schreibformen versammelt und interpretiert, und zwar nicht mechanisch nach Übereinstimmung der Graphie oder gleicher Zugehörigkeit zu einem grammatischen Paradigma wie sonst üblich. Es wird vielmehr versucht, die Formen unter Rückgriff auf die Erkenntnisse der historischen Grammatik so anzuordnen, dass dadurch eine zeitliche Entwicklung und räumliche Verbreitung eines Wortes ablesbar wird. Im Bedeutungsteil werden alle Belege der Grundüberlieferung22 semantisch interpretiert und einem aus dem gewonnenen Befund entwickelten Bedeutungsgefüge zugeordnet. Bei der Bedeutungsermittlung kommt dem Wörterbuch zugute, dass es Glossen- und Textüberlieferung vereint, dass es die Kontexte und lateinischen Vorlagentexte berücksichtigt, dass es wortfamilienbezogen arbeitet, dass es die überlieferten Bedeutungen späterer Sprachstufen und anderer germanischer Sprachen vergleichend zur Kenntnis nimmt, und dass es auch sach- und kulturgeschichtlichen Zusammenhängen nachgeht. Um Wortwahl, Wortgebrauch und syntaktische Strukturen zu illustrieren, werden zugehörige deutsche wie lateinische Kontexte zitiert und durch Stellenangaben ausgewiesen. Ein dritter obligatorischer Artikelbestandteil ist der Artikelkopf, bestehend aus dem normalisierten Lemma, das aus den Wortformen abstrahiert wurde, mit Angabe der Wortart und der Bildungsentsprechungen, die die Verbreitung des Wortes in anderen germanischen Sprachen und sein Fortleben im Deutschen ablesbar machen. Herkunftsangaben finden sich nur bei Lehnwörtern (in der Regel aus dem Lateinischen). Der Artikel schließt mit der Zusammenstellung der zum Ansatz gehörenden Weiterbildungen im Wortbildungsteil. In begründeten Fällen werden noch Literaturhinweise angeführt. Eine weitere Besonderheit ist das Thesaurusprinzip, nach dem im Wörterbuch grundsätzlich jeder Beleg innerhalb des durch die Sammlungen Steinmeyers vorgegebenen Rahmens, also auch die gesamte Parallelüberlieferung, so genau wie möglich nach Form und Bedeutung bestimmt und zugeordnet wird, um nicht durch das Ausgrenzen von Material einen Beleg für eine womöglich sonst nicht mehr greifbare sprachliche Erscheinung zu verlieren und die Beurteilungsgrundlage in Zweifelsfällen etwas sicherer zu machen. Findet ein Benutzer einen Beleg nicht unter dem erwarteten Ansatz, soll er daraus den Schluss ziehen können, dass der Beleg anders lemmatisiert wurde. Intention der Begründer war es, von den Anfängen deutscher Schriftlichkeit im 8. Jh. bis zu Spätbelegen alter Überlieferungstradition des

22 Die im Formenteil abgehandelten, rein graphischen Varianten der Parallelüberlieferung werden im Bedeutungsteil nicht wiederholt, nur lexikalische Varianten werden besonders vermerkt.

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14./15. Jh. einen beleggestützten „Überblick über den gesamten altdeutschen Sprachschatz (hochdeutsch und niederdeutsch)“ zu geben,23 der nur durch das Heliand-Wörterbuch von Sehrt (1925) ergänzt zu werden brauchte. Der Bereich der Einsprengsel sollte wegen seiner sprachgeschichtlichen Relevanz ursprünglich einbezogen werden, doch gelang es trotz langjähriger Bemühen nicht, ihn in gleicher Weise wie das andere Material aufzuarbeiten.24 Steinmeyer selbst hatte nur Ansätze zu seiner Verzettelung hinterlassen.25 Deshalb sollte dieser Überlieferungsbereich zu gegebener Zeit ergänzt und in einem Supplementband vorgelegt werden. Die in althochdeutschen Texten und Glossen vorkommenden Eigennamen waren ebenfalls gesammelt worden, um das darin enthaltene Sprachmaterial zu erschließen. Doch wurden auch die Namen dem morphologischen Prinzip des Wörterbuchs gemäß einem eigenen Band zugedacht, in dem sie zusammen mit ihren Weiterbildungen unabhängig von ihrer Wortart behandelt werden sollten. Die umfassende Konzeption und akribische Arbeitsweise des Leipziger Thesaurus bedingten das langsame Voranschreiten des Werkes. Schon bald nach Erscheinen der ersten Lieferungen in den 50er Jahren war klar, dass das bestehende Bedürfnis nach einem von A bis Z reichenden althochdeutschen Wörterbuch auf lange Zeit hin nicht befriedigt werden würde. Zudem war die politische Situation ungünstig, es war nicht erkennbar, ob das Wörterbuch unter den Bedingungen des DDR-Staates zu Ende geführt werden würde. So entstanden neben dem alphabetisch-grammatisch-semasiologisch angelegten Leipziger Thesaurus in der Folgezeit vier alphabetisch-semasiologische Wörterbücher, die ausschnitthafter, spezieller und zusammenfassender ausgerichtet waren. 1969 erschien das einbändige Althochdeutsche Wörterbuch von Rudolf Schützeichel26 in der ersten Auflage. Es war als kompaktes Übersetzungswörterbuch ausschließlich zu althochdeutschen Texten konzipiert, deren Wortschatz es auf knappem Raum erschließt. Die zeitlich-räumli23 Althochdeutsches Wörterbuch 1 (1968, V). 24 Vgl. dazu Köppe (1999, 77). 25 In der Vorrede zu seiner Edition der Kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler tat er seine Ansicht kund, dass die in mittellateinische Texte eingestreuten Wörter in „ein Verzeichnis deutscher Bestandteile lateinischer Werke“ gehörten (Steinmeyer 1916, IV). Deshalb hat er diese Wörter auch nicht für das Belegarchiv des Althochdeutschen Wörterbuchs verzettelt. Aus dem lateinischen Versroman „Ruodlieb“ (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 19486, 11. Jh.) nahm er nur die vier interlinearen und marginalen Glossen auf, nicht die eingestreuten deutschen bzw. latinisierten Wörter (vgl. Steinmeyer/ Sievers Bd. 2 (1882), 607, 10–12/ 21–22, Nr. DCCCXXIX). Lateinisch-deutsche Texte wie „Kleriker und Nonne“ sind dagegen im Korpus des Althochdeutschen Wörterbuchs enthalten. 26 Schützeichel (11969).

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chen Grenzen wurden im Vergleich zum Leipziger Thesaurus enger gesteckt. Niederdeutsches und Spätalthochdeutsches wie die späten Beichten27 oder Notkers Psalmen nach der Wiener Handschrift (um 1100) blieben ausgeklammert, wohingegen Willirams Hoheliedkommentar in einer späteren Auflage (51995) schließlich doch Aufnahme fand.28 Auf der Ansatzebene stehen Wortvarianten in ihrer Grundform ohne wortbildungsmorphologische Normalisierung. Die angegebenen Bedeutungen sind ohne weitere Strukturierung und ohne Zuordnung zu Quellen summarisch aufgelistet, gegebenenfalls aber mit knappen syntaktischen Angaben versehen. Zugehöriges Latein und genaue Stellenangaben fehlen, am Ende eines Artikels weisen jedoch Siglen die belegtragenden Quellen aus. Die letzte Auflage (62006) wurde um Verweiseinträge auf den weiter unten vorgestellten Althochdeutschen und altsächsischen Glossenwortschatz von 200429 erweitert. Während dieses Wörterbuch sich auf den literarischen Wortschatz spezialisierte, versammelte das von 1972 bis 1990 erschienene, in Amerika erarbeitete einbändige Althochdeutsche Glossenwörterbuch von Taylor Starck und John C. Wells30 ausschließlich das in Form von Glossen überlieferte Wortgut. In diesem Werk sind sämtliche bei Steinmeyer/Sievers (1879–1922) edierte Glossen sowie spätere Glossenneufunde bis Mitte der 80er Jahre des 20. Jh. lemmatisiert. Viele schwierige Belege wurden hier zum ersten Mal gedeutet, was eine große Pionierleistung war. Der Objektbereich ist an der Grenze zum Altsächsischen und Mittelhochdeutschen sowie durch die Aufnahme „latinisierter Wörter und Namen germanischen Ursprungs“ gegenüber dem Leipziger Wörterbuch weiter gesteckt. Das Wörterbuch versteht sich primär als Stellenindex.31 Aus pragmatischen Gründen werden daher nicht mehr als drei neuhochdeutsche Bedeutungsentsprechungen und drei lateinische Bezugswörter herausgegriffen und den Stellennachweisen vorangestellt. Mit diesen beiden Werken waren Text- und Glossenwortschatz erstmals in ihrem Lemmabestand erschlossen und die Voraussetzungen für

27 Diese Texte werden vom Leipziger Thesaurus berücksichtigt, weil sie Bestandteil der Steinmeyerschen Sammlungen sind und sie die frühalthochdeutschen Beichtformulare textgeschichtlich fortführen. 28 Die von Schützeichel als Parallelüberlieferung zur althochdeutschen Interlinearversion der Regula Benedicti in der Handschrift St. Gallen 916 berücksichtigte sogenannte Goldastsche Benediktinerregel (gedruckt 1606) wurde von Masser (2009) mit neuen Argumenten als ungültiger Textzeuge erwiesen. Bereits Steinmeyer (1916, 282, Anm. 1) hatte diesem Werk einen selbständigen Quellenwert begründeter Weise abgesprochen. 29 Siehe dazu weiter unten zu Schützeichel (2004). 30 Starck/Wells (1972–1990). 31 Vgl. Starck/Wells (1972–1990, XI).

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ein überschaubares, zusammenfassendes, alphabetisch-semasiologisches Wörterbuch gegeben. Ein solches Wörterbuch hätte das Wörterbuch des althochdeutschen Sprachschatzes von Gerhard Köbler,32 einem Rechtshistoriker, aus dem Jahr 1993 werden können, der bereits seit den 70er Jahren mit einer Reihe automatisierter Wörterlisten zu Einzelwerken den Missstand der frühdeutschen Lexikographie auf eigene Art und Weise zu beheben versuchte. Aufgrund des unkritischen, kompilatorischen Umgangs mit dem Material und der Unzuverlässigkeit der Angaben ist das Werk für wissenschaftliche Zwecke jedoch nicht zu gebrauchen.33 Eine sorgfältige Umsetzung des im Vorwort formulierten Arbeitsprogramms, neben lexikographischen Grundinformationen „in aller Kürze“ auch Angaben zu Belegzahlen, lateinische Entsprechungen, Verweise auf Weiterbildungen, Quellensiglen, Angaben zu Lehnbezügen, Etymologien und nachalthochdeutschen Fortsetzern zu liefern, hätte einen Fortschritt in der althochdeutschen Lexikographie bedeuten können. An letzter Stelle dieser Gruppe ist schließlich ein Werk zu nennen, das sich wie schon das Wörterbuch von Starck/Wells (1972–1990) auf den Überlieferungsbereich der Glossen beschränkt, nämlich der 2004 in zwölf Bänden erschienene Althochdeutsche und Altsächsische Glossenwortschatz von Rudolf Schützeichel.34 Lange angekündigt war auch eine vollständige Aufarbeitung der Einsprengsel, die letztlich doch unterblieb. Die Materialgrenzen sind im Vergleich zu Starck/Wells im Bereich des Altostniederfränkischen enger, im Bereich der mittelhochdeutschen Überlieferung dagegen weiter gesteckt. Als neueres Werk ist der Glossenwortschatz aktueller als Starck/Wells und der Leipziger Thesaurus in seinen etwa bis J erschienenen Teilen.35 Die Belege, darunter zahlreiche Korrekturen und Neufunde, werden nicht in ihrer tatsächlich überlieferten Form, sondern nur als normalisierte Konstrukte abgedruckt, so dass sie im Einzelnen nicht weiter überprüfbar oder auswertbar sind. Belegzitate werden sowohl als überflüssig als auch zu zeitaufwendig eingestuft und daher weggelassen.36 Lateinische Entsprechungen werden dagegen bei jedem Beleg zusammen mit einer Sigle der Quelle angegeben, was eine Erweiterung gegenüber Starck/Wells darstellt. Eine tiefergehende Aufarbeitung des Materials nach semantischen oder morphologischen Gesichtspunkten wird nicht angestrebt. So werden keine Bedeutungen, sondern lediglich

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Köbler (1993). Vgl. u. a. die Rezension von Eckhard Meineke (1994). Schützeichel (2004). Zur genaueren Abgrenzung gegenüber dem Leipziger Althochdeutschen Wörterbuch vgl. auch Bulitta (2007) bzw. (2009). 36 Vgl. dazu den Vorspann in Schützeichel (2004, Bd. 1, 5).

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neuhochdeutsche Übersetzungswörter in alphabetischer Reihenfolge ohne inhaltliche Strukturierung geboten. Diese beruhen teils auf eigenständiger Interpretation, teils auf Übernahmen aus der Sekundärliteratur. Daher können Belege aus Parallelhandschriften zu ein- und derselben Belegstelle an verschiedenen Stellen zu stehen kommen.37 Vom lexikographischen Instrument der Verweisung wird im Gegensatz etwa zu Starck/Wells kein Gebrauch gemacht. Deshalb kann sich zum Beispiel ein- und derselbe strittige Beleg unter verschiedenen, auch alphabetisch entfernt voneinander stehenden Ansätzen wiederfinden, ohne dass der Benutzer einen Hinweis darauf erhält.38 Nützlich ist der Index mit den lateinisch-deutschen Wortgleichungen im Anhang, obwohl die lateinischen Ansätze nicht normalisiert wurden und die althochdeutschen Entsprechungen demgemäß alphabetisch verstreut sind. 4.2 Wörterbücher mit besonderen Zugriffsstrukturen Aufbauend auf die vorhandenen Wörterbücher entstehen seit Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts Spezialwörterbücher mit besonderen Zugriffsmöglichkeiten auf das frühdeutsche Sprachmaterial. So setzt sich das in den USA begründete, seit 2003 an der Sächsischen Akademie beheimatete Etymologische Wörterbuch des Althochdeutschen von Albert L. Lloyd und Otto Springer† (1988ff.),39 ab Band 2 unter Mitarbeit und Herausgeberschaft von Rosemarie Lühr, einerseits zum Ziel, den Wortbestand der althochdeutschen Text- und Glossenüberlieferung nach wortgeschichtlichen Gesichtspunkten zusammenfassend zu charakterisieren und andererseits die Grundwörter anderen alt- und indogermanischen Sprachen vergleichend gegenüberzustellen sowie sie mittels Rekonstruktion historisch so weit als möglich zurückzuverfolgen. Dokumentiert werden darüberhinaus auch die Fortsetzer im neueren Deutschen. Der Sprachraum des Niederdeutschen und Niederfränkischen sowie die Überlieferungsform der Einsprengsel bleiben ausgespart. Das Etymologische Wörterbuch des

37 Vgl. s. v. martirlîh adj. die Glosse einer Handschriftengruppe zu lat. noxialis, das einmal mit ‚für die Folter bestimmt‘ und einmal mit ‚schmerzverursachend‘ übersetzt ist (Schützeichel 2004, Bd. 6, 290). 38 Vgl. z. B. die Ansätze louhhesfasa sw. f. und louhhesfaso sw. m. ‚Lauchfaser‘. Sieht man sich die zugehörigen Belege an, stellt man fest, dass sie jeweils identisch sind. Da nicht nur die Ansatzform, sondern auch die Belegformen auf den Nominativ normalisiert sind, erkennt man erst beim Nachschlagen der Editionen, dass nur oblique Formen belegt sind, die keinen Zuordnungsentscheid zulassen bzw. den Ansatz eines Pluraletantums nahelegen. 39 Lloyd/Springer (1988ff.).

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Althochdeutschen ist auf etwa zehn Bände angelegt und hat den vierten Band bis zum Buchstaben H abgeschlossen. Die beiden folgenden Wörterbücher gehen von morphologischer Seite an den frühdeutschen Wortbestand heran. Das einbändige Rückläufige morphologische Wörterbuch des Althochdeutschen von Rolf Bergmann aus dem Jahr 1991 analysiert und systematisiert den Lemmabestand der literarischen Denkmäler ausgehend von Schützeichels Althochdeutschem Wörterbuch in der vierten Auflage von 1989 listenartig unter verschiedenen Aspekten: zum einen alphabetisch rückläufig nach Wortarten und Suffixen, zum anderen vorwärts und rückwärts alphabetisch nach den Konsonantengerüsten der ermittelten Grundmorpheme und schließlich noch alphabetisch nach Präfixen. Aus dem Vorhanden- bzw. Nichtvorhandensein von Strukturverwandten oder dem Vergleich mit ihnen lassen sich sprachwissenschaftliche Rückschlüsse ziehen. Das 1993 in drei Bänden erschienene Althochdeutsche Wörterbuch von Jochen Splett40 bereitet den althochdeutschen Textwortschatz bis Notker zusammen mit dem Glossenwortschatz nach seiner morphologischstrukturellen Zugehörigkeit zu Wortfamilien auf. Die niederdeutschen sowie niederfränkischen Quellen sind ausgeklammert, ebenso die Einsprengsel. Unter einem Wortfamiliengrundwort werden sämtliche Weiterbildungen mit Angabe von Bedeutungen und Strukturformeln zum Wortaufbau versammelt. Wortformen- oder Belegzitate und lateinische Entsprechungen brauchen der Zielsetzung gemäß nicht geboten zu werden. Ob eine Text- oder Glossenquelle vorliegt, wird durch Symbole markiert. Ein alphabetischer Index erschließt den Zugang zu den Wortartikeln und bietet innerhalb des gesteckten Rahmens erstmals einen gesamthaften Überblick über den hochdeutschen Wortbestand des Frühdeutschen nach dem damaligen Forschungsstand. Im gleichen Jahr wie das Splettsche Wörterbuch bzw. in erweiterter Form 1999 erschien das erste textsortenübergreifende wissenschaftliche Wörterbuch zur Erschließung des volkssprachigen Vokabulars von lateinischer Seite aus, das Lateinisch-althochdeutsch-neuhochdeutsche Wörterbuch von Heinrich Götz, einem langjährigen Mitarbeiter am Leipziger Thesaurus. Es entstand aus eigenen Verzettelungen der literarischen Denkmäler und den seinerzeit publizierten Wörterbuchteilen von A bis Hi, so dass Glossen nur innerhalb dieses Bereichs erfasst sind. Auch auf die am Vorhaben befindlichen Materialien, den Steinmeyerschen handschriftlichen lateinisch-deutschen Blattkatalog sowie den nach Formen geordne-

40 Splett (1993).

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ten Sieverschen Zettelkatalog zu den Althochdeutschen Glossen,41 konnte zurückgegriffen werden. Das Wörterbuch bietet althochdeutsche Übersetzungsentsprechungen nach den Gebrauchsmöglichkeiten des lateinischen Lemmas und hebt oft ganze Syntagmen aus, um die Übersetzungsleistung nachvollziehbar zu machen. Auch hier wird durch Siglen und Symbole das Vorliegen einer Text- oder Glossenquelle ausgewiesen. Das bislang einzige Wörterbuch, das eine syntaktische Fragestellung an althochdeutsches Material heranträgt, ist das einbändige Syntaktische Verbwörterbuch zu den althochdeutschen Texten des 9. Jahrhunderts von Albrecht Greule aus dem Jahr 1999.42 Der Rahmen wurde bewusst eng gesteckt, um das Material systematisch unter valenzgrammatischen Aspekten, also nach Art und Zahl der belegten Verbergänzungen, auswerten zu können. Abschließend ist das Chronologische Wörterbuch des deutschen Wortschatzes von Elmar Seebold zu nennen.43 Das Wörterbuch, von dem die ersten beiden Bände zum 8. und 9. Jh. 2001 und 2009 erschienen sind, arbeitet das gesamte als Frühdeutsch (Düdisch) erkennbare Wortgut einschließlich der runischen Überlieferung streng chronologisch in Vierteljahrhundertschritten unter systematischer Berücksichtigung des Dialekts und der diffizil unterschiedenen Textsorten44 auf. Westgotisch, Friesisch und Langobardisch sind als nicht zum Kontinuum gehörige Sprachausprägungen ausgeschlossen. Erstmals wird der Einsprengselwortschatz in latinisierter wie nichtlatinisierter Form systematisch einbezogen. Das Material ist nach Wortfamilien gegliedert, um ihren Aus- wie Abbau im Laufe der Zeit sichtbar zu machen. Neben Bedeutungsangaben werden auch lateinische Bezugswörter und Wortformenzitate geboten, bei Einsprengseln noch Belegzitate. Ziel ist eine Beleggeschichte des deutschen Wortschatzes oder anders gesagt, ein Erstbelegwörterbuch, in dem man auch vom Neuhochdeutschen ausgehend das Alter und den Dialekt des frühesten Belegs nachschlagen oder chronologisch suchen kann. Die besprochenen Wörterbücher bieten vielfältige Zugriffe auf das frühdeutsche Sprachmaterial. Sie unterscheiden sich wesentlich in ihrer Materialgrundlage, was aus dem Begriff „Althochdeutsch“ im Titel nicht

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Vgl. Steinmeyer/Sievers (1879–1922). Greule (1999). Seebold (2001) und (2008). Für die Beurteilung der Sicherheit eines Beleges ist die Kenntnis des spezifischen Quellentyps von großer Wichtigkeit: ein Beleg aus einer abschriftlichen Glosse in einem alphabetisierten Textglossar kann einen anderen Stellenwert als eine Textglosse aus Primärüberlieferung haben, ein Textwortbeleg aus der Reimdichtung gegenüber dem aus einem Prosatext eine Sonderbedeutung aufweisen usw.

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ohne weiteres ersichtlich wird. Fünf der vorgestellten Wörterbücher sind textsortenspezifisch angelegt, d. h. erfassen nur Wortschatzausschnitte. Um Wörterbücher zur Textüberlieferung handelt es sich bei Schützeichel (11969/62005), Bergmann (1991) und Greule (1999), um Wörterbücher zur Glossenüberlieferung bei Starck/Wells (1972–1990) und Schützeichel (2004). Die sechs anderen vorgestellten Wörterbücher sind textsortenübergreifend angelegt, aber auch hier gibt es abweichende Grenzziehungen sprachräumlicher oder gegebenenfalls anderer Art. Den Text- und Glossenwortschatz erfassen das auf den Sammlungen Steinmeyers fußende Althochdeutsche Wörterbuch von Karg-Gasterstädt/Frings (1952ff.) (unter Berücksichtigung altsächsischer, altniederfränkischer, altenglischer, mittelhoch- und mittelniederdeutscher Anteile), das von Lloyd/Springer (1988ff.) begründete Etymologische Wörterbuch des Althochdeutschen (unter Ausschluss erkennbar nichtalthochdeutscher Ansätze), das unphilologisch erarbeitete Wörterbuch des althochdeutschen Sprachschatzes von Köbler (1993) (unter Einbezug des nicht zum deutschen Mundartkontinuum gehörenden Langobardischen45 sowie unbelegter Formen), das Althochdeutsche Wörterbuch von Splett (1993) (unter Ausschluss der Texte nach Notker sowie des Altsächsischen und Altniederfränkischen) sowie das Lateinisch-althochdeutsch-neuhochdeutsche Wörterbuch von Götz (1999) (unter Einschluss der Glossen nur bis H). Am weitesten greift das Chronologische Wörterbuch des deutschen Wortschatzes von Seebold (2001, 2009ff.) aus, das systematisch die Erstbezeugung des gesamten Frühdeutschen aus Text-, Glossen- und Einsprengselüberlieferung sowie den Runeninschriften erfasst.

5. Perspektiven der althochdeutschen Lexikographie 5.1 Perspektiven des Leipziger Thesaurus Der Leipziger Thesaurus bietet zum jetzigen Zeitpunkt über mehr als 13.500 bzw. über ca. 45 % seiner im Belegarchiv vorhandenen Ansätze Auskunft, doch werden erst mit erfolgreichem Abschluss auch der zweiten Alphabetstrecke die konzeptionell vorgesehenen Abfragemöglichkeiten in vollem Umfang nutzbar sein. Vorauszusetzen ist dafür auch die Einarbeitung der kontinuierlich für die gedruckten Bereiche gesammel-

45 Vgl. dazu Seebold (2001, 5).

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ten Nachtragsbelege46 und Korrekturen. Als mehrbändiges, philologisch ausgerichtetes Grundlagenwerk mit genauen Wortformenzitaten aus wissenschaftlichen Editionen, mit repräsentativ ausgewählten, zitierbaren Belegausschnitten der Text- und Glossenüberlieferung einschließlich des gegebenenfalls zugrundeliegenden, aufwendig ermittelten Vorlagenlateins eignet sich der Thesaurus besonders für die Erstellung von Korpora zu weiterführenden lexikologisch-lexikographischen Spezialuntersuchungen, seien sie auf bestimmte Wortarten bzw. Flexionsklassen (z. B. ên-Verben), auf bestimmte Bildungstypen (z. B. gi-Präfigierungen), Sachbereiche (z. B. Wörter für ‚Geschwindigkeit‘) oder auch auf syntaktische Fragestellungen (z. B. Subordination im Ahd., unpersönlich gebrauchte Verben usw.) gerichtet. Denn bei der Erstellung seines Ausgangskorpus erhält der Wörterbuchbenutzer abgewogene Informationen, die er dank des ausgebreiteten Materials einer ersten Prüfung unterziehen kann. Auch für die räumlichzeitliche Einordnung neu entdeckter Sprachzeugnisse ist das Wörterbuch aufgrund seiner angestrebten Genauigkeit ein wertvolles Hilfsmittel. Die Formenteile des Wörterbuchs sollen nach Fertigstellung des Werkes eine Grundlage für eine mehrbändige, textsortenübergreifende Grammatik47 des frühdeutschen Wortgutes nach räumlichen und zeitlichen Gesichtspunkten bieten. So werden sich z. B. alle graphischen Realisationen der intervokalischen Geminate/gg/in jan-Verben nachschlagen lassen. Oder man kann sich sämtliche Wörter zusammenstellen, die Flexionsklassen-48 bzw. Genuswechsel49 aufweisen. Von den morphologischen Formenbe46 Nach der aktuellen Aufstellung in Stricker (2009, 1644–1654) ist derzeit mit wenigstens 5.200 noch unedierten Glossenfunden zu rechnen. Ca. 3.000 davon könnten für den Leipziger Thesaurus relevant sein. 47 Zur Relevanz der bislang erst ansatzweise ausgewerteten Glossenüberlieferung für die grammatische Beschreibung des Frühdeutschen vgl. Ernst/Glaser (2009) und Bergmann/ Moulin (2009). Seltenes und daher oft mangels anderer Erklärungsmöglichkeiten als „Schreiberversehen“ Abgetanes kann sich als ein systematisches Phänomen entpuppen (z. B. als Reflex der Sprechsprache), bisher zeitlich oder räumlich nicht genau Festlegbares wird auf einmal doch näher bestimmbar usw. Denn: „Die Glossenüberlieferung deckt räumlich und zeitlich den Bereich des Althochdeutschen wesentlich kontinuierlicher ab als die Textüberlieferung, und sie ist in manchen Fällen, wenn Entstehungsort und Provenienz der Handschrift übereinstimmen und nichts gegen die Eintragung der Glossen ebenda spricht, mit größerer Genauigkeit sprachgeographisch zu bestimmen“ (Ernst/Glaser 2009, 997). 48 Vgl. z. B. karra st. sw. f. neben karro sw. m. (aus lat. carrus entlehnt), deren Formen aufgrund von Kasussynkrasien nicht alle eindeutig zuweisbar sind. 49 Das frequent belegte Substantiv ahd. lîb ‚Leben‘ tritt sowohl als Maskulinum wie als Neutrum auf. Das Durchpflügen der Materials nach sicheren Belege ergibt eine so deutliche, räumliche Verteilung der Maskulina auf den oberdeutschen und der Neutra auf den niederdeutschen Sprachraum, dass man die Genusverteilung sogar als Kriterium für die sprachräumliche Zuordnung eines Textes heranziehen könnte. Eine aufschlußreiche Unsicherheit im Gebrauch weisen der Weißenburger Katechismus und der (nur in später

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stimmungen (vgl. „1. sg.“ etc.) ausgehend, lassen sich genaue Flexionsparadigmen erstellen und Lücken ermitteln, die teils überlieferungs-, teils systembedingt sein können. Da die frühalthochdeutschen Belege konsequent durch Siglen bzw. Handschriftensignaturen ausgewiesen werden, könnte man davon ausgehend Laut- und Formenlehren zu Einzelwerken wie z. B. zu Jc generieren. Der Bedeutungsteil informiert unter anderem darüber, welche Gebrauchsweisen für einen Wortschatzbestandteil, z. B. huggen ‚etw. im Sinn haben‘, überhaupt ermittelbar sind, und welche Quellen an welchen Stellen diese aufweisen.50 Die lateinischen Vorlagenwörter und lexikalischen Varianten aus der Parallelüberlieferung sind jeweils erfasst. Über diese und weitere Positionen könnten paradigmatische Wortschatzstrukturen erfasst werden, z. B. bedeutungsgleiche oder -ähnliche Verben für ‚erinnern‘ im Frühdeutschen, und für die Beschreibung von Sprachwandelerscheinungen nutzbar gemacht werden. Bedeutungsangaben und Belegzitate erlauben differenzierte sach-, kultur- und begriffsgeschichtliche Auswertungen, wie bereits in früheren Aufsätzen aus dem Vorhaben aufgezeigt wurde.51 Auch der Syntax wird ein hoher Stellenwert eingeräumt. Der Leipziger Thesaurus hat, wie auch andere Belegzitatwörterbücher zu historischen Sprachstufen, durch die syntaktische Strukturierung des Materials in den Wörterbuchartikeln und Publikationen außerhalb des Wörterbuchs wichtige methodisch-theoretische Vorarbeiten für die Syntaxforschung geleistet. Besonders hinzuweisen ist auf die Aufarbeitung der grammatischen Wörter bzw. Synsemantika.52 Bei Verben, wie z. B. bei huggen, werden variierende Konstruktionsmöglichkeiten (Infinitiv statt Akkusativ), reflexiver Gebrauch u. a. beschrieben.53

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Abschrift überlieferte) Niederdeutsche Glauben auf, die eine sichere Maskulinum- und eine sichere Neutrum-Form nebeneinander verwenden. Das lässt sich als Lokalisierung in ein Grenzgebiet interpretieren, wo man von einem zum anderen Genus überging, oder als eine Umarbeitung z. B. im Rahmen einer Abschrift. Zum Problem der Ermittlung von Bedeutungen im Althochdeutschen und ihrer Darstellung im Althochdeutschen Wörterbuch vgl. Köppe (1998, 57ff.) mit Literaturhinweisen in den Fußnoten 1 und 3. Vgl. Große/Köppe (2000), Köppe (2007). Für die Behandlung der grammatischen Funktionswörter sei exemplarisch auf die Artikel thâr und thaz verwiesen. Die ausführliche Beschreibung der syntaktischen Gebrauchsweisen ermöglicht vergleichende Untersuchungen mit anderen Funktionswörtern (vgl. dazu noch Köppe 1999, 89 mit weiteren Literaturhinweisen). So ließen sich alle Verben, die den Genetiv regieren, ermitteln. Allerdings ist zu beachten, dass eine explizite Angabe fehlen kann, wenn der althochdeutsche Ansatz die gleichen Konstruktionseigenschaften wie die neuhochdeutsche Bedeutungsentsprechung aufweist. Das Vorhandensein mehrerer Konstruktionsmöglichkeiten ist in der Regel aufgeschlüsselt.

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5.2 Zur Frage der Digitalisierung des Leipziger Thesaurus Während es einerseits Wissenschaftler gibt, die ein Wörterbuch nicht gebrauchen können, wenn es, wie z. B. das neu erschienene Oudnederlands Woordenboek, nur digital54 und nicht auch im Druck verfügbar ist, nimmt andererseits die Zahl derer zu, deren Benutzergewohnheiten sich mehr und mehr an digital verfügbaren Nachschlagewerke ausrichten, wo sich bequem Suchanfragen starten lassen und mit schnellen, zielgenauen und (hoffentlich) vollständigen Suchergebnissen zu rechnen ist. Das zeitaufwendige, langwierige Lesen und Suchen in Wörterbüchern, das ebenfalls mit der Ungewissheit einhergehen kann, etwas übersehen zu haben, stößt mehr und mehr auf Ablehnung. So konstatiert Kirkness (2007, 17), dass sich die fehlende digitale Verfügbarkeit althochdeutscher Wörterbücher, die meist nur schwer zugänglich in Fachbibliotheken aufgestellt seien, durchaus negativ auf ihre Benutzung auswirke. Seiner Ansicht nach liegt die Zukunft der Lexikographie zum Althochdeutschen nicht in neuen lexikographischen Nachschlagewerken, sondern in der (Retro-) Digitalisierung und Vernetzung der bereits vorhandenen und in Arbeit befindlichen.55 Als vorbildlich gilt in dieser Hinsicht die historische Lexikographie des Mittelhochdeutschen. Am Vorhaben Althochdeutsches Wörterbuch gab es bereits vor zehn Jahren konkrete Überlegungen, die vorliegenden Bände zu digitalisieren.56 Einem entsprechenden Antrag wurde seinerzeit nicht stattgegeben. Die Vorteile einer gut gemachten digitalen Version, die beim Suchen im Wörterbuch Zeit sparen und neue Auswertungsmöglichkeiten eröffnen würde, brauchen hier nicht weiter ausgeführt werden. Die Probleme liegen in ihrer Realisierung. Um zu einer zufriedenstellenden digitalen Version zu gelangen, ist für die Aufhebung der komplexen Verdichtungsverfahren und für die nachträgliche manuelle Auszeichnung nur implizit vorhandener Informationen ein kaum abschätzbar hoher Arbeitsaufwand nötig. Eine Digitalisierung ohne wissenschaftliche Begleitung durch Vorhabenmitarbeiter wäre nicht sinnvoll. Werden personelle Kapazitäten dafür abgezogen, wird dies mit einer Verlangsamung der Publikationsgeschwindigkeit einhergehen. Zeitverluste werden auch bei einer Umstellung der jetzigen Publikationsroutine entstehen, die mit einer Digitalisierung des Vorhandenen einhergehen wird. Gleichwohl sind Bemühungen im Gange, das

54 Vielleicht wird es zu einem späteren Zeitpunkt daneben noch eine Printversion geben. 55 Vgl. daneben aber auch kritische Stimmen wie z. B. Lobenstein-Reichmann (2007). 56 Vgl. dazu Köppe/Mikeleitis-Winter (1999); Mikeleitis-Winter (2000).

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bereits Ausgearbeitete und auch die künftigen Artikel zu gegebener Zeit allgemein digital verfügbar zu machen. 5.3 Weitere lexikographische Projekte Das Leipziger Vorhaben selbst stellt im Vorwort zum ersten Band 1968 drei lexikographische Ergänzungen in Aussicht, zu denen es Materialsammlungen besitzt: einen lateinisch-althochdeutschen Index zum gesamten althochdeutschen Wortschatz, ein Eigennamenwörterbuch und einen Supplementband zu den Einsprengseln. Ein vollständiges lateinisch-althochdeutsches Wörterbuch, nicht einfach nur ein Wortindex, bleibt ein Desiderat. Es setzt sinnvollerweise die vollständige Aufarbeitung des Materials von althochdeutscher Seite aus voraus. Dann könnte es, aufbauend auf die internen Hilfsmittel und auf die theoretischen wie praktischen Vorarbeiten, insbesondere das oben vorgestellte Wörterbuch von Heinrich Götz, realisiert werden. Ein solches Wörterbuch wäre überdies eine Hilfe bei der Edition althochdeutscher Sprachzeugnisse und hätte großen Wert für die mittellateinische Wortund Wortschatzforschung, dokumentieren doch gerade die volkssprachigen Glossen das Verständnis eines lateinischen Vorlagenwortes in mittelalterlicher Zeit. Weiterhin verfügt das Vorhaben über Materialsammlungen für ein Wörterbuch der Eigennamen und des Einsprengselwortschatzes. Diese könnten bei entsprechendem Ausbau gegebenenfalls in eigenen Projekten weiter genutzt werden.57 Von germanistischer Seite wünschenswert wären weitere spezielle Wortschatzuntersuchungen zum Frühdeutschen, die quellen-,58 wortartbezogen oder onomasiologisch ausgerichtet sein und möglichst nach dem Vollständigkeitsprinzip verfahren sollten. Die mittellateinische Lexikographie wäre aufgerufen, mit einer Erfassung der lateinischen Glossierungen in Handschriften mit volkssprachigen Glossen einen Beitrag zu einem besseren Verständnis der frühdeutschen Überlieferung und ihrer kulturellen Zusammenhänge leisten. 57 Im Althochdeutschen Glossenwörterbuch (Starck/Wells 1972–1990) sind latinisierte Namen germanischen Ursprungs (z. B. Berhtoldus, Burgundia) zusammen mit latinisierten Wörtern (z. B. burgarius, falco) separat erfasst. Für die Textüberlieferung gibt es bislang keine werkübergreifenden Zusammenstellungen. Problematisch ist, dass morphologisch Zugehöriges oft nur lateinisch überliefert ist, vgl. ahd. kolchisc adj. neben der Einwohnerbezeichnung lat. Colchi bei Notker. 58 Aus Sicht des Leipziger Thesaurus wären grammatisch-lexikalische Aufarbeitungen von Teilüberlieferungen wie z. B. dem Glossar Jb (Oxford, Bodleian Library, Junius 25, Blatt 87–107) hilfreich, zu denen noch keine monographischen Untersuchungen vorliegen.

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6. Abschließende Überlegungen Langzeitvorhaben wie der Leipziger Thesaurus berücksichtigen kontinuierlich neue Quellen und Forschungsergebnisse, um einen erreichbaren Stand an Aktualität und Vollständigkeit zu wahren. Das führt zu gewissen Abweichungen zu weiter zurückliegenden Publikationen, auch wenn Anpassungen an den modernen Forschungsstand nur äußerst behutsam vorgenommen werden. Die Abhängigkeit von den Forschungsergebnissen anderer, die zugleich wiederum die eigenen Forschungsergebnisse benötigen, sowie die Ungleichzeitigkeit der Bearbeitungsstände sind ein grundsätzliches Problem, mit dem sich jedes wissenschaftliche Vorhaben konfrontiert sieht. Bezogen auf die Sprachperiodenlexikographie besteht eine solche Interdependenz zwischen Wörterbüchern, Editionen und grammatisch-lexikologischen Spezialuntersuchungen (auch der Dialektologie). Die Ungleichzeitigkeit der Bearbeitungsstände – bei Wörterbüchern kommt noch das Problem der unterschiedlichen Makrostruktur und Publikationsgeschwindigkeit dazu – lässt sich kaum vermeiden, auch nicht bei einer besseren Koordination. Eine pauschale Begrenzung von Projekten auf Maximallaufzeiten kann dieses Problem ebenfalls nicht grundsätzlich lösen. Früher brachte man die Geduld auf, die Fertigstellung eines benötigten Werkes abzuwarten. So schob Steinmeyer die Bearbeitung seines dritten Glossenbandes zu den Glossaren um mehrere Jahre hinaus, bis die Corpus-Glossariorum-Latinorum-Bände erschienen waren.59 Nachträge und Korrekturen veröffentlichte man in Form von listenförmigen Anhängen oder überarbeiteten Auflagen, was heute mehr und mehr auf digitalem Wege geschieht.60 Eine digitale Vernetzung von Wörterbüchern eröffnet zwar die Möglichkeit, die Grenzen der Anlage eines Werkes zu überschreiten und Informationen aus anderen Quellen verfügbar zu machen. Sie muss allerdings sicherstellen, dass Veränderungen bzw. Aktualisierungen für den Benutzer sichtbar bzw. nachvollziehbar bleiben. Trotz aller berechtigter Kritik an den Schwierigkeiten der althochdeutschen Lexikographie bleibt festzuhalten, dass auf dem Gebiet des Frühdeutschen in den letzten Jahren unter den verschiedensten Aspekten auf59 „darum erschien es angezeigt, das in vorbereitung begriffene Corpus glossariorum latinorum abzuwarten: auf seiner basis würde, so hoffte ich, die lösung mancher schwierigkeiten gelingen. ... Inzwischen waren mehrere bände des Corpus glossariorum latinorum veröffentlicht worden. ihre durchsicht enttäuschte mich in hohem grade. ... auf der andern seite ersah ich, dass von der klassischen philologie weitere aufschlüsse über provenienz und werdeprocess der meisten sonst in betracht kommenden glossengruppen vorläufig nicht zu erhoffen ständen. so entfiel jeder stichhaltige grund, die fortsetzung meines werkes noch länger hinauszuschieben“ (Steinmeyer/Sievers Bd. 3 (1895), V–VI). 60 Die vierte Auflage des Oxford English Dictionary wird nur noch online verfügbar sein.

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fallend rege gearbeitet wird. Diese erfreuliche Entwicklung beweist nicht nur die Relevanz dieser Sprachperiode für die sprachhistorische Forschung, sondern darf auch als Verdienst der lexikographischen Werke zum Althochdeutschen gedeutet werden, die solide wissenschaftlichen Grundlagen für diese Forschungen gelegt haben und noch legen werden.

Literatur Althochdeutsches Wörterbuch. Auf Grund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig begründet von Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings. Bd. 1 (Bearb. u. hrsg. von Elisabeth Karg-Gasterstädt/Theodor Frings): A – B (1952– 1968, Reprint 2007), Bd. 2 (Hg. von Rudolf Große): C – D (1970–1997, Reprint 2007), Bd. 3 (Hg. von Rudolf Große): E – F (1971–1985, Reprint 2007), Bd. 4 (Hg. von Rudolf Große): G – J (1986–2002, Reprint 2007), Bd. 5 (Hg. von Gotthard Lerchner, Hans Ulrich Schmid): K – L (2002–2009), Berlin. Bergmann, Rolf (1991): Rückläufiges morphologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. Auf der Grundlage des Althochdeutschen Wörterbuchs von Rudolf Schützeichel, Tübingen. Bergmann, Rolf (2005): Kulturgeschichtliche Aspekte des althochdeutschen Glossenwortschatzes, in: Hausner, Isolde/Wiesinger, Peter (Hg.): Deutsche Wortforschung als Kulturgeschichte. Beiträge des Internationalen Symposiums aus Anlass des 90-jährigen Bestandes der Wörterbuchkanzlei der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien, 25.–27. September 2003 (Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Bd. 720), Wien, 49–66. Bergmann, Rolf (2009a): Geschichte der Glossenforschung, in: Bergmann, Rolf/Stricker, Stefanie (Hg.): Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch. 2 Bde., Berlin/New York, 33–52. Bergmann, Rolf (2009b): Semasiologie und Onomasiologie, in: Bergmann, Rolf/Stricker, Stefanie (Hg.): Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch. 2 Bde., Berlin/New York, 1094–1102. Bergmann, Rolf/Moulin, Claudine (2009): Flexionsmorphologie, in: Bergmann, Rolf/ Stricker, Stefanie (Hg.): Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch. 2 Bde., Berlin, New York, 1020–1029. Bergmann, Rolf/Stricker, Stefanie (2007): Neuere Entwicklungen der althochdeutschen Lexikographie und Erschließung der Glossographie, in: Lexicographica. International Annual for Lexicography, 23/2007, 39–76. Bergmann, Rolf/Stricker, Stefanie (Hg.) (2009a): Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch, 2 Bde., Berlin/New York. Bergmann, Rolf/Stricker, Stefanie (2009b): Lexikographie, in: Rolf Bergmann/Stefanie Stricker (Hg.): Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch, 2 Bde., Berlin/New York, 1161–1181. Braune, Wilhelm (11875ff.): Althochdeutsches Lesebuch. Zusammengestellt und mit einem Glossar versehen. 1. Aufl., Halle (Saale) (später Tübingen).

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historischen und dialektologischen Wörterbüchern. Beiträge zu einer Arbeitstagung der deutschsprachigen Wörterbücher, Projekte an Akademien und Universitäten vom 7. bis 9. März 1996 anläßlich des 150. Jubiläums der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Stuttgart/Leipzig (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Phil.-Hist. Klasse, Bd. 75, Heft 1), 57–64. Köppe, Ingeborg (1999): Das Althochdeutsche Wörterbuch, in: Penzlin, Heinz (Hg.): Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Geschichte ausgewählter Arbeitsvorhaben, Stuttgart/Leipzig, 73–90. Köppe, Ingeborg (2001): Wörter im Wörterbuch – versunkene Schätze, in: Barz, Irmhild/Fix, Ulla/Lerchner, Gotthard (Hg.): Das Wort in Text und Wörterbuch, Stuttgart/Leipzig (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Bd. 76, Heft 4), 145–156. Köppe, Ingeborg (2007): Das Althochdeutsche Wörterbuch. Konzeption und Materialkorpus – Bedeutungswörterbuch und Kulturgeschichte, in: Althochdeutsches Wörterbuch, Bd. 1 (Reprint), 5–11. Köppe, Ingeborg/Mikeleitis-Winter, Almut (1999): Auf dem Weg ins Internet. Das Leipziger Althochdeutsche Wörterbuch. Vorstellung der Digitalisierungspläne im Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier im Juni 1999. Lloyd, Albert L./Springer, Otto (1988ff.): Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. Bd. 1: a – bezzisto (1988), Bd. 2 (von Albert L. Lloyd, Rosemarie Lühr, Otto Springer†): bî- – ezzo (1998), Bd. 3 (von Albert L. Lloyd, Rosemarie Lühr): fadum – fûstslag (2007), Bd. 4 (von Albert L. Lloyd, Rosemarie Lühr): gâba – hylare (2009), Göttingen/Zürich. Lobenstein-Reichmann, Anja (2007): Allgemeine Überlegungen zur Retrodigitalisierung historischer Wörterbücher des Deutschen, in: Lexicographica. International Annual for Lexicography 23, 173–198. Masser, Achim (2009): Melchior Goldast und das Phantom einer zweiten Handschrift der Lateinisch-althochdeutschen Benediktinerregel, in: Sprachwissenschaft 34, 207–225. Meineke, Eckhard (1994): Gerhard Köbler, Wörterbuch des althochdeutschen Sprachschatzes, Paderborn – München – Wien – Zürich 1993, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 123, 230–236. Mikeleitis-Winter, Almut (2000): Wörterbuchtexte im Wandel, in: Barz, Irmhild/Fix, Ulla/Schröder, Marianne/Schuppener, Georg (Hg.): Sprachgeschichte als Textsortengeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gotthard Lerchner, Frankfurt am Main u. a., 73–91. Ottmann, Eduard (1886): Grammatische Darstellung der Sprache des althochdeutschen Glossars Rb, Berlin. Piper, Paul (Hg.) (1884/21887): Otfrids Evangelienbuch. Mit Einleitung, erklärenden Anmerkungen und ausführlichem Glossar. II. Theil: Glossar und Abriss der Grammatik. 1. Aufl. 1884, 2., erw. Ausg. Freiburg (Breisgau)/Tübingen. Raven, Frithjof (1963, 1967): Die schwachen Verben des Althochdeutschen. 2 Bde, Giessen (Beiträge zur deutschen Philologie 18, 36). Schade, Oskar (11862–1866; 21872–1882): Altdeutsches Wörterbuch. 1. Aufl.; 2., umgearbeitete. und vermehrte Aufl. 2 Bde. Halle (Saale).

Stand und Perspektiven der Lexikographie des Althochdeutschen

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Schützeichel, Rudolf (11969; 21974; 31981; 41989; 51995; 62006): Althochdeutsches Wörterbuch, 1. bis 6. Aufl. Tübingen. Schützeichel, Rudolf (2004): Althochdeutscher und Altsächsischer Glossenwortschatz. 12 Bde., Tübingen. Seebold, Elmar (2001): Chronologisches Wörterbuch des deutschen Wortschatzes. Der Wortschatz des 8. Jahrhunderts (und früherer Quellen), Berlin/New York. Seebold, Elmar (2008): Chronologisches Wörterbuch des deutschen Wortschatzes. Zweiter Band: Der Wortschatz des 9. Jahrhunderts, Berlin/New York. Seemüller, Joseph (Hg.) (1878): Willirams deutsche Paraphrase des Hohen Liedes. Mit Einleitung und Glossar, Straßburg (Quellen und Forschungen 28). Sehrt, Edward H. (1925): Vollständiges Wörterbuch zum Heliand und zur altsächsischen Genesis, Göttingen (Hesperia 14). Sievers, Eduard (Hg.) (1872/21892): Tatian. Lateinisch und altdeutsch mit ausführlichem Glossar. 1. Aufl./2., neubearb. Ausg. Paderborn (Bibliothek der ältesten deutschen Literatur-Denkmäler 5). Sievers, Eduard (Hg.) (1874): Die Murbacher Hymnen, Halle (Saale). Splett, Jochen (1993): Althochdeutsches Wörterbuch. Analyse der Wortfamilienstrukturen des Althochdeutschen, zugleich Grundlegung einer zukünftigen Strukturgeschichte des deutschen Wortschatzes. Bd. I,1: Einleitung. Wortfamilien A–L. Bd. I,2: Wortfamilien M–Z. Einzeleinträge. Bd. II: Präfixwörter. Suffixwörter. Alphabetischer Index, Berlin/New York 1993. Starck, Taylor/Wells, John C. (1972–1990): Althochdeutsches Glossenwörterbuch (mit Stellennachweis zu sämtlichen gedruckten althochdeutschen und verwandten Glossen), Heidelberg (Germanische Bibliothek. 2. Reihe). Steinmeyer, Elias von (Hg.) (1916): Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, Berlin. Steinmeyer, Elias von/Sievers, Eduard (Hg.) (1879–1922): Die althochdeutschen Glossen. Bd. 1 (1879), Bd. 2 (1882), Bd. 3 (1895), Bd. 4 (1898), Bd. 5 (1922), Berlin. Stricker, Stefanie (2009): Übersicht über unedierte Glossen, in: Bergmann, Rolf/Stricker, Stefanie (Hg.): Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch. 2 Bde., Berlin/New York, 1643–1655.

Michael Prinz (Helsinki)

Vergessene Wörter – frühe volkssprachige Lexik in lateinischen Traditionsurkunden 1. Volkssprachiges in lateinischen Texten Blendet man bei der Frage nach der Entstehung „des Deutschen“ überlieferungsgeschichtliche Aspekte aus und lässt sich allein von innersprachlichen Faktoren leiten, so zeichnen sich etwa seit dem sechsten Jahrhundert1 weitreichende Innovationen2 innerhalb des germanophonen Verbunds ab, durch die sich eine im Wesentlichen zentraleuropäische Sprechergemeinschaft vom bisherigen westgermanischen Kontinuum abhob und eigenständige Konturen ausprägte: Der hochdeutsche Dialektverbund entstand. Da ein Textkorpus erst um (allenfalls: kurz vor) 800 verfügbar ist,3 liegt das Hochdeutsche die erste Hälfte seiner postulierten Dauer nur als sog. Trümmersprache vor.4 Für diese frühe Phase stellen volkssprachige Einschlüsse im lateinischen Text – nachfolgend als „Inserte“5 * 1

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Der Beitrag entstand während eines von der Alexander von Humboldt-Stiftung geförderten Forschungsaufenthalts am Germanistischen Institut der Universität Helsinki. Hilfreiche Anregungen verdanke ich Frau Dr. Brigitte Bulitta vom „Ahd. Wörterbuch“ (Leipzig). Zur kontroversen Frage der Lautverschiebungsdatierung zuletzt etwa Reiffenstein (2003, 331f.) und AhdGr §87 Anm. 5. Selbst die nach herrschender Meinung im Anschluss an /t/und /p/anzusetzende Verschiebung des Tektalplosivs dürfte nach Ausweis von langob. ‘Ρισιο૨λϕοȢ bei Prokop (vgl. Wagner 2001) und alem. dorih auf der Lanzenspitze von Wurmlingen (vgl. Nedoma 2004, 281–288) noch in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts erfolgt sein. Dazu zählt neben der Lautverschiebung als zentralem phonologischem Schibboleth auch die umfassende Restrukturierung der von der westgermanischen Apokope betroffenen Flexionsparadigmen (dazu Klein 2004, 241 u. 260). Vgl. etwa ChWdW8, Kap. II. Etwas älter sind einige Glossen und die Inschriftenüberlieferung des 6./7. Jahrhunderts (s. Anm. 6). Verwendet man als Kriterium hierfür mit Untermann (1983, 12) die Ermittelbarkeit einer Art Basisgrammatik und -lexik, dürfte der Umschlagpunkt kaum wesentlich früher anzusetzen sein, auch wenn z.B. Eigennamen oder die Paulusglossen der Winithar-Handschrift Cod. Sang. 70 bereits einige Jahrzehnte zuvor Charakteristika der zeitgenössischen Phonologie und Morphologie erkennen lassen. Der Terminus ist unmittelbar verständlich und lässt wortfamilieninterne Handlungsbezeichnungen zu. Mit „Insert“, „inserieren“, „Insertion“ wird eine komplementäre Termi-

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bezeichnet – neben den wenigen und zudem lexikographisch unergiebigen6 südgermanischen Runeninschriften und den zahlreicheren Eigennamen die hauptsächliche Quelle dar. Es verwundert somit nicht, dass die Germanistik von Beginn an ein lebhaftes Interesse an diesen frühen, trümmersprachlichen Inserten gezeigt hat. Der Schwerpunkt der Forschung lag zunächst auf den frühmittelalterlichen Leges barbarorum,7 aus deren oft hocharchaischen Rechtswörtern noch heute ein kümmerlicher Glanz der sonst kaum überlieferten germanischen Rechtssprachen durch den lateinischen Rechtstext hindurchschimmert. Allerdings ist diese Überlieferungsform volkssprachiger Lexik keineswegs exklusiv für die Frühzeit. Auch während der korpussprachlichen Phase der althochdeutschen Sprachepoche wurde Vernakulares in ähnlicher Weise in lateinische Texte inseriert. Diesem Material fehlt jedoch angesichts einer rasch anschwellenden Textund Glossenüberlieferung der Reiz des Frühen und Raren. Neben dem leges-Wortschatz fanden vor allem die volkssprachigen Inserte in karolingischen Diplomen und Kapitularien Beachtung;8 punktuelle Untersuchungen existieren überdies für den Bereich der Viten9 und der heilkundlichen Überlieferung.10 Ganz allgemein unterliegen Inserte aber keinen grundsätzlichen Restriktionen in Bezug auf die lateinische Textsorte. Elmar Seebold, dessen „Chronologisches Wörterbuch“ als einziges Wörterbuch des Deutschen das entsprechende Material in nennenswertem Umfang berücksichtigt (s. Abschnitt 3), nennt für das Frühmittelalter folgende Überlieferungssegmente als Träger volkssprachiger „Einsprengsel“:11

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nologie zu „Glosse“, „glossieren“, „Glossierung“ verfügbar (ausführlich zur Terminologie: Prinz 2011). Vgl. ChWdW8, 16. Sprachlich erweisen sich die Inschriften weitgehend als konservativvoralthochdeutsch (Nedoma 2004, 17f.). Zur umfangreichen Forschungsliteratur vgl. etwa Tiefenbach (2009, 959–966) und die einschlägigen Artikel im RGA (s.vv. Leges, Leges Alamannorum, Lex Baiuvariorum etc. und Volksrechte), zum Frankenrecht zuletzt u.a. Seebold (2007a/b; 2008), zur Lex Baiwariorum Tiefenbach (2004). Tiefenbach (1973; 2009, 967–971) und Sousa Costa (1993). Prominent ist die Liste von Monats- und Windnamen aus der Karlsvita, deren volkssprachige Bestandteile bei Schützeichel (2004; 2006: Sigle EVK bzw. EV) aufgenommen wurden, beim AWB dagegen für einen Ergänzungsband vorgesehen sind (dazu Bulitta 2007b, XV u. Bergmann 2009). Auf Inserte in natur- und heilkundlichen Schriften wurde in den letzten Jahren verstärkt hingewiesen (Stricker 2003, 104–111; 2009), zur umfangreichen Literatur zu Hildegard v. Bingen vgl. etwa Schreiber (2002) und Riecke (2004, I, 41 u. 503–505). Vgl. ChWdW8, 62–67, u. ChWdW9, 113–115.

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A. Rechtstexte 1. Leges 2. Capitularia 3. Concilia B. Formulare und Diplome C. Quellen zur Geschichte (Gregor v. Tour, Fredegar etc.) D. Viten E. Briefe F. Dichtung G. Fachliteratur (Medizin) Es fehlt dabei ein Bereich, der von der germanistischen Forschung bislang weniger gut ausgeleuchtet wurde, nämlich Privaturkunden und verwandtes Rechts- und Geschäftsschriftgut. Auf ersteren wird in der Folge der Fokus liegen. Der Zeitrahmen ist bewusst weit vom 8. bis 13. Jahrhundert gespannt.

2. Volkssprachiger Urkundenwortschatz Die Rede von mittelalterlichen Urkunden evoziert beim heutigen Zuhörer häufig falsche Vorstellungen von ehrwürdigen Privilegien in diplomatischer Minuskel, versehen mit Herrschersiegel oder Papstbulle. Zwar enthalten solche Texte, die gewissermaßen das Premiumsegment der mittelalterlichen Urkundenproduktion darstellen, durchaus in einem erheblichen Umfang volkssprachigen Wortschatz.12 Die typische Urkunde des 8. bis 12. Jahrhunderts ist allerdings, sofern man die reinen Quantitäten betrachtet, eine Privaturkunde, die in der Regel als schmucklose und oft sehr knappe Traditionsnotiz innerhalb eines meist ebenso schmucklosen Codex erscheint. Solche Traditionsnotizen, benannt nach den Besitzübertragungen (Tradierungen von Liegenschaften oder Zensualen), die sie üblicherweise festhalten, sind nur in Ausnahmefällen als separate Originale überliefert. Meist wurden sie abschriftlich zu sog. Traditionsbüchern zusammengefasst, als Kompilation älterer Sammlungen, durch sporadischen, gruppenweisen Eintrag oder durch protokollarische Dokumentation aktuell anfallender Rechtsgeschäfte.13

12 Der prozentuale Anteil von Diplomen mit Lexik volkssprachiger Herkunft nimmt allerdings im Laufe der Zeit ab, zwischen Karlmann und Lothar II. z.B. kontinuierlich von 67% auf 25% (vgl. Tiefenbach 1973, 111). 13 Vgl. Prinz (2007a, 127f.) mit weiterer Lit.

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Traditionsbücher spielen in der germanistischen Sprachgeschichtsforschung eine unbedeutende Rolle. Sie haben – anders als Siegelurkunden, Urbare oder Lehenbücher – die spätmittelalterliche Literalitätsexplosion im Segment der volkssprachigen pragmatischen Schriftlichkeit nicht mehr erlebt14 und werden deshalb fast ausschließlich in onomastischen Zusammenhängen diskutiert. Hier stellen Traditionsbücher für manche Regionen den wichtigsten Überlieferungskontext früh- und hochmittelalterlicher Siedlungs- bzw. Personennamen dar.15 Eine Beschäftigung mit dieser Quellengattung lohnt sich indes auch im Hinblick auf das appellative Lexikon des Deutschen, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen, angeordnet in chronologischer Reihenfolge vom 8. bis 13. Jahrhundert: (a) Im Jahr 768 erhielt das oberösterreichische Kloster Mondsee eine Zuwendung von einem Schenker namens Hildiroh. Eine kopial vom Ende des 9. Jahrhunderts überlieferte Urkunde im klösterlichen Traditionscodex hält diesen Vorgang schriftlich fest. Sie nennt als Gegenstand der Schenkung zwei Zeidler (cidlarios) samt Familien und der dazugehörigen Mark im niederbayerischen Künziggau.16 Zusätzlich wird die Berufsbezeichnung von der betreffenden Notiz auch in genuin althochdeutscher Gestalt überliefert, der Text ist nämlich mit DE CIDLARON überschrieben. Dabei handelt es sich fraglos um das betreffende Appellativ und nicht etwa um einen Siedlungsnamen.17 Obgleich zīd(a)lari somit in die früheste Überlieferungsschicht des korpussprachlichen Althochdeutschen zurückreicht und die Mondseer Notiz zumindest in der historischen Forschung einige Beachtung gefunden hat,18 sind die Belege für das Wort in keinem historischen Wörterbuch des Deutschen verzeichnet – latinisiertes cidlarios ebenso wenig wie der volkssprachige Dativ Plural der Überschrift.19

14 Allerdings haben sich Urbare, Lehenbücher und Auslaufregister wohl z.T. aus der Praxis der Traditionsbuchführung entwickelt (vgl. etwa Wild 1999, 76f.). 15 Vgl. allg. Prinz (2003). 16 Rath/Reiter (1989, Nr. 38). Die frühen Drucke bei Pez (VI/1: 1729, Sp. 17f., Nr. 14) und Lidl (1748, 15) erfolgten noch ohne die althochdeutsche Überschrift; diese erst im OÖUB (I: 1852, 23f., Nr. 38). 17 So auch Rath/Reiter (1989) in der Vorbemerkung zur fraglichen Urkunde. 18 Vgl. etwa Wagner (1895, 4); Brinkmann (1912, 16); Luschin von Ebengreuth (1914, 67 Anm. 11); Schmitt (1977, 142); Jahn (1991, 237) und Faussner (1997, 184f.). 19 Vgl. Prinz (2007b, Anm. 14 mit Nachweisen): Die mittelhochdeutsche Lexikographie liefert für das Wort Belege seit den 1230er Jahren; von den Wörterbüchern für die althochdeutsche Epoche verweist immerhin das älteste von Graff auf Urkundenbelege des 10. Jahrhunderts (cidalariis). Auf diesen Formen beruht dann auch die Einschätzung, das Wort sei ab dem 10. Jahrhundert nachweisbar (so etwa Kluge 242002, s.v. Zeidler). Der lateinische Beleg aus Mondsee erscheint z.B. im MLW (II: 1999, Sp. 573, s.v. cidlarius); den althochdeutschen Beleg erwähnt immerhin Bauer (1992, 44).

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(b) Im Jahr 824 wurde in Freising, angeleitet durch den presbiter Cozroh, mit der Sichtung und Abschrift des damals bereits sehr umfangreichen Urkundenbestands begonnen. Der daraus resultierende Cozroh-Codex enthält eine Tradition von 793, durch die ein comes Helmoinus mit Einwilligung König Karls Teile seines Amtsgutes an das Hochstift übereignet hatte.20 In der Schenkungsurkunde findet sich im Kontext einer Beschreibung des betroffenen Gebiets folgender Passus, der an den Duktus der berühmteren Markbeschreibungen aus Würzburg oder Hammelburg erinnert: tendit in iusu iuxta riuolum usque ad magnum rubum quod uulgo dicitur nidar pi deru lahhun za deru mihilun eihi ‚erstreckt sich abwärts bei dem Bächlein bis hin zur großen [Eiche], in der Volkssprache: abwärts bei dem Wassergraben bis hin zur großen Eiche‘. Im Unterschied zum vorherigen Beispiel ist der volkssprachige Bestandteil hier syntaktisch mehrteilig und zudem metakommunikativ markiert (quod uulgo dicitur). Der althochdeutsche Abschnitt übersetzt – beginnend mit nidar für (in) iusu21 – die lateinische Vorlage recht akkurat, was in der Vergangenheit oft übersehen wurde.22 Auffällig ist die Entsprechung rubum : eihi,23 die auf einer Verwechslung mit robur beruhen wird,24 auch wenn sie eine Parallele in Rubilocus, der frühmittelalterlichen Latinisierung des Namens Eichstätt hat.25 Bei der Verwechslung mag der vulgärlateinische Zusammenfall26 von betontem altem /ō/und /u/in einem geschlossenen ͕-Laut eine Rolle gespielt haben – immerhin ist auch iusu ein Vulgarismus. Das Syntagma, welches immerhin acht althochdeutsche Wortformen umfasst und für lahha sogar den Erstbeleg liefert, wurde bislang von prak-

20 BayHStA München, Hochstift Freising Lit. 3a, fol. 131. Gedruckt bei Bitterauf (1905, Nr. 166a) und Bauer (1988, 166f.); Regest bei Kraft/Guttenberg (1943, 113). Zu älteren Ausgaben s. unten Anm. 28 und 36. Zur Entstehung des Codex und zur Anlage des betreffenden Abschnitts vgl. Krah (2007, 420). 21 Zu iusu = deorsum vgl. MLW (III: 2007, Sp. 337, der Beleg in Abschnitt II.B.2). Während Roth (1854, 52, Anm. 9) zunächst noch einen Schreibfehler für in visu angenommen hatte [„im Gesichte (d.h. soweit der Blick reicht)“, so dann auch Kraft/Guttenberg (1943, 113): „in Sehweite“], übersetzte er wenig später: „in iusu [d.h. abwärts]“ (Roth 1856, 53). Vgl. auch Schnetz (1950, 94, Anm. 3). 22 Siehe Anm. 30. Selbst in jüngerer Zeit wurde dies z.T. nicht gesehen, so bei Geary (2000, 180) und vermutlich bei Vitali (2007), angesichts der Einsparung von in iusu und der Bemerkung auf S. 302. 23 Ahd. eih steht in der Regel für quercus, robur, ilex oder aesculus, nicht aber rubus, dem vielmehr brāma (und Verwandtes) bzw. allgemeiner auch busc, thornstūda etc. entsprechen (vgl. AWB III: 1985, s.v. eih und Götz 1999, 578f.). 24 So auch Reitzenstein (1986, 123) und Stotz (1996–2004, Bd. II, 255 = VI §19.3 Anm. 41). 25 Zu den Belegen vgl. Reitzenstein (1986, 121). 26 Dazu etwa Vitali (2007, 165–167).

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tisch keinem Wörterbuch berücksichtigt.27 Dies hängt entscheidend mit der Editionsgeschichte der Urkunde zusammen. Die Stelle erschien nämlich in der von Carl Meichelbeck verantworteten editio princeps mit einer den Sinn grob verschleiernden Verlesung als: „juxta rivolvolum usque ad magnum rubum, qui vulgo dicitur in Darpidern, Lachin, Zoder, Michilm, Eichi“.28 Jacob Grimm bemerkte als erster den volkssprachigen „Subtext“ und lieferte 1841 in einer Miszelle über ahd. Sintarfizilo beiläufig eine Emendation: „Meichelbeck zeigt seine unkenntnis der alten sprachen öfter […] man lese dar pî deru lâchin zô deru michilun eichi“.29 Eine Verkettung von Flüchtigkeitsfehlern führte jedoch zu einer Fehlinterpretation, die für lange Zeit den Blick auf die korrekte Lesung und Bedeutung des Syntagmas verstellen sollte.30 Zudem hatte Meichelbeck die Helmoinus-Tradition gar nicht aus dem Cozroh-Codex ediert, wo die fragliche Stelle schwerlich derart zu verlesen gewesen wäre, sondern aus der 1187 unter Conradus Sacrista angefertigten illuminierten Abschrift.31 Der Passus findet sich dort fol. 31r und lautet (erneut mit normalisierten Wortgrenzen): tendit in iusu iuxta riuoluolum usque ad magnum rubum quod uulgo dicitur nidar pi deru lachin ze der michilin eichi. Dabei hat der hochmittelalterliche Schreiber seine Vorlage offenkundig partiell modernisiert. Er übernahm die ersten drei volkssprachigen Wörter zunächst vorlagengetreu (pideru in beiden Handschriften zusammengeschrieben), fuhr dann aber mit ze der statt za deru fort und verwendete in lachin und michilin 〈i〉 als typische Schwachtongraphie seiner Zeit und 〈ch〉 statt der altertümlichen Schreibungen der Vorlage.

27 Zwar ist immerhin lahhun bei Schmeller (I: 21872, Sp. 1432; fehlt noch in der 1. Aufl.: II: 1828, 431) und im DRW (VIII: 1991, Sp. 237) gebucht, jedoch fälschlich unter dem Lemma lacken ‚einen Baum markieren‘ bzw. Lach(e) ‚Grenzmarkierung‘ (zu den Gründen s. Anm. 30). Erwähnt wird die Stelle allerdings bei Kaufmann (1923, 319 Anm. 1); Tiefenbach (1973, 35 u. 142 [zu lahha]; 1999, 4 [lahhun als begrenzender Wassergraben]; 2009, 971); Stotz (1996–2004, Bd. I: 156 = I §65.3; dazu auch Vollmann 2004, 118) und Vitali (2007, 301), daneben mehrfach in onomastischen Kontexten: Förstemann (1863, 226); Schatz (1928, 3); Schnetz (1950, 94); Bach (1953–1954, II/1, 26); Sonderegger (1960, 184); Bauer (1988, 172/1992, 48) und Wiesinger (1992, 361). 28 Meichelbeck (1724–1729, I/2, 85). 29 Grimm (1841, 5 Anm. 1). 30 Meichelbeck druckte „qui vulgo dicitur“ anstelle von eindeutigem quod der Vorlage (qđ in beiden Hss.), was den Charakter des althochdeutschen Syntagmas als Übersetzungsäquivalent verdunkelte. Als Grimm dann den lateinischen Text zudem nur verkürzt wiedergab (ohne „juxta rivolvolum“), war die Entsprechung von riuolum : lahhun nicht mehr zu erkennen. Die Forschung (Schmeller, DRW) ging in der Folge von einem Grenzbaum (mhd. lâche F.) aus. Außerdem übersah Grimm – wohl nicht ganz zufällig – die vermeintliche Präposition zu Beginn des Syntagmas (bei Meichelbeck noch: „in Darpidern“), woraus sich „dar“ statt nidar erklärt. 31 BayHStA München, Hochstift Freising Lit. 3c (= Hs. A’ bei Bitterauf 1905).

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Das Grimmsche Corrigendum ging zu einem ungünstigen Zeitpunkt, dem Todesjahr Eberhard Gottlieb Graffs, in Druck. Der sechste und letzte Band von dessen „Althochdeutschem Sprachschatz“ erschien im Folgejahr (1842) mit zahlreichen Ergänzungen zu den vorherigen Bänden, jedoch ohne einen Hinweis auf die neu aufgetauchten Belege. Zwar blieb Grimms Entdeckung nicht unbemerkt. Sie veranlasste etwa Karl Müllenhoff dazu, eine Neuedition der Urkunde zu fordern, da sich hinter der Stelle fraglos ein „heiliger baum“32 verbergen müsse. Außerdem war sie wenig später Ernst Förstemann lobender Erwähnung wert.33 Leider konnte Grimm selbst seine „Deutschen Rechtsalterthümer“ anlässlich der zweiten Auflage 1854 nur unverändert vorlegen, so dass die fragliche Stelle keinen Eingang in das Standardwerk fand und vermutlich auch deshalb in der historischen Forschung kaum diskutiert wurde.34 Ein handschriftlicher Nachtrag Grimms belegt indes, dass er sie bei einer Neubearbeitung im Abschnitt über die Grenzbäume zitieren wollte.35 Dafür gab Karl Roth im gleichen Jahr die Freisinger Tradition neu heraus, nun erstmals nach dem Zeugnis des Cozroh-Codex und mit korrekten Lesungen.36 Da Roths Edition jedoch kaum wahrgenommen wurde,37 geriet die Stelle bis zur Neuedition der Freisinger Urkunden durch Theodor Bitterauf zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend in Vergessenheit. Hinzu kommt ein unscheinbares Wort in der letzten Zeile von fol. 131v: Deinde per locas terminatas, id est in longitudine antlanga Caozeslahhun usque ad Caozesprunnun ‚weiterhin entlang der Grenzpunkte, das heißt in der (vollen) Länge die ganze C. bis nach C.‘. Bei antlanga handelt es sich um ein althochdeutsches Hapax legomenon. Heutiges entlang ist ein Lehnwort aus dem Niederdeutschen und fand erst im 18. Jahrhundert den Weg ins Hochdeutsche.38 Der Beleg hat einige präpositionale wie adjektivische Parallelen im West- und Nordgermanischen: as. antlang Adj. ‚ganz‘ (antlangana dag Akk. Sg. ‚den ganzen Tag‘); ae. andlang, andlong Adj. ‚ganz [Tag, Nacht]‘, Adv./Präp. + Gen. (selten Akk., Dat.) ‚entlang, 32 33 34 35

Müllenhoff (1849, 530). Förstemann (1863, 226). Vgl. jüngst immerhin Esders/Mierau (2000, 223, Anm. 154) und Geary (2000, 180). Grimm (1899/1992, 73): „usque ad magnum rubum qui vulgo dicitur dar pi deru lachin (?lâchi), zo der(u) michilin eichi. Meichelb. 111“. Erkennbar ist das Befremden, das vermeintlich ahd. lachin ausgelöst hatte. 36 Roth (1854, Nr. 8, fraglicher Passus auf S. 49), der das Stück außerdem in seinem „Verzeichniss der freisinger Urkunden“ erwähnte (Roth 1855, 17, Nr. 134) und wenig später erneut abdruckte (Roth 1856, 23f., Nr. 230). 37 So wird die Stelle bei Förstemann und Schmeller (s. Anm. 27) immer noch nach Meichelbeck und Grimm zitiert; anders immerhin Quitzmann (1860, 72, Anm. 2). 38 Vgl. Desportes (1984, 110f.) und DWB2 (VIII/Lfg. 1/2: 1995, Sp. 1429f.); zu mnd. entlank (Postposition) zuletzt Romare (2004, 259f.).

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der Länge nach‘; aisl. andlangr M. (nominalisiert) als eddischer Name für den zweiten Himmel, end(i)langr Adj. ‚der Länge nach, ausgedehnt?‘;39 afr. ondleng, -ling Adv./Präp. + Gen. ‚entlang, der Länge nach‘.40 Im Hinblick auf -a ist ahd. antlanga allerdings nicht als Präposition,41 sondern als femininer Akk. Sg. eines stark flektierten Adjektivs und damit als Attribut zu -lahhūn aufzufassen. Der althochdeutsche Beleg ist weithin unbekannt.42 Eduard Sievers hielt das Wort für „im Hochdeutschen unbelegt“,43 auch das „Etymologische Wörterbuch des Althochdeutschen“, welches germ. *andlanga- unter dem Lemma antlingen ‚antworten‘ mitbehandelt, stellt bündig fest: „ahd. nicht belegt“.44 Lediglich das „Wörterbuch der Tiroler Mundarten“ verzeichnet den Freisinger antlanga-Beleg.45 Für die umstrittene Etymologie46 von *andlanga- wäre die althochdeutsche Form, bei der es sich um den ältesten Appellativbeleg überhaupt handeln dürfte, indes nicht ganz unbedeutend. Würde sie doch die Analyse als präpositionales Rektionskompositum47 bekräftigen, sofern man antlanga als semantische Parallele zu in

39 Vgl. etwa Lühr (1980, 56f.: ‚entlang, langgestreckt‘) und EWA (I: 1988, Sp. 278: ‚in seiner ganzen Ausdehnung‘). 40 Für das altenglische Material vgl. Bosworth/Toller (I: 1898, 40; II: 1921, 40) und DOE (2007, s.v. andlang) mit zahlreichen Belegen, z.B. andlang [= Präp.] Mæse ‚entlang der Maas‘ (Peterborough Chronicle zu a. 882). Zum Altisländischen vgl. Egilsson/Jónsson (1931, 12) und de Vries (1962, 9), zum Altsächsischen Sehrt (1925, 33), zum Altfriesischen Hofmann/Popkema (2008, 367). 41 So FörstON (dazu Anm. 42) und Bauer (1988, 172). 42 Ein Grund dafür dürfte die Großschreibung bei Meichelbeck (1724–1729, I/2, 85) gewesen sein, wegen der das Wort als Eigenname aufgefasst und mit dem oberösterreichischen Gewässernamen Antalanga (dazu Anm. 49) verwechselt werden konnte (so z.B. bei FörstON 11859, 67 und Schiffmann 1922, 40 Anm. 1). Bereits in der 2. Auflage seines „Altdeutschen Namenbuchs“ verbesserte Förstemann den Fehler: „gar kein name, sondern in den worten der hds. in longitudine antlanga caozeslahhun wird das lateinische in long. durch die deutsche praeposition entlanga (entlang) gedeutet“ (FörstON 21872, Sp. 79). 43 Sievers (1888, 110). 44 EWA (I: 1988, Sp. 277). Zum gleichen Urteil kommt jüngst Romare (2004, 260). 45 Schatz (1955–1956, I, 26 s.v. antlengzäun). Der Verf. kannte den Freisinger Beleg und hatte ihn zuvor bereits als Beispiel bemüht (Schatz 1907, §38). Zwar bringt auch Köbler (1993, 48) ein aus einem Urkundenbeleg gewonnenes Lemma „antlanga“, das aber als Substantiv gewertet wird und nach Ausweis des nachgestellten Asterisks „in einer nicht dem Ansatz entsprechenden Form bzw. Schreibweise bezeugt“ sei (Vorwort). Da Datierungs-, Bedeutungs- und Quellenangaben fehlen, bleibt der Ansatz nebulös. 46 Vgl. Lühr (1980, 55–57); EWA (I: 1988, Sp. 277–280) und Heidermanns (1993, 361f.) mit der älteren Lit. 47 Bei and- wird allgemein an die in got. and ‚entlang‘, as. ant ‚bis zu‘ und afr. and(a) ‚in, an‘ noch selbstständig belegte Präposition angeknüpft, die als Präfix in der gesamten Germania verbreitet war. Dagegen wurde der zweite Teil im Anschluss an Sievers (1888, 113) meist als Richtungsadjektiv ‚sich erstreckend‘ analysiert (so noch Heidermanns 1993, 361f.). Da jedoch die bezeugten Formen alle eine Bedeutung ‚der Länge nach‘ voraussetzen (EWA I:

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longitudine aufzufassen bereit ist. Auch unter dem Aspekt eines vermuteten angelsächsischen Einflusses48 auf die althochdeutschen Grenzbeschreibungen könnte der Beleg diskutiert werden. Allerdings sichern der oberösterreichische Gewässername ahd. Antalanga49 und die in österreichischen Quellen bezeugte Nominalisierung frnhd. antlang M. ‚Zaun längs eines Privatbesitzes‘50 die ursprüngliche Existenz des Adjektivs für das Bairische. (c) Eine weitere Grenzbeschreibung findet sich in der Überlieferung von St. Emmeram in Regensburg. Im Jahr 819 ließ Bischof Baturih als Antwort auf vorherige Besitzentfremdungen die Grenzen der Mark Cham während eines Gerichtsverfahrens durch eine Begehung genau feststellen. Die betreffende Urkunde hält dazu fest: Haec sunt nomina eorum, qui audierunt rationem istam et cauallicauerunt illam commarcam et fuerunt in ista pireisa ‚Dies sind die Namen derer, die dieses Urteil gehört haben und die genannte Grenze abgeritten sind und bei dieser pireisa dabei waren‘.51 Morphologisch gibt sich pireisa als Nomen actionis zu einer circumlativen Präfixvariante von reisōn zu erkennen (der ‚Um-Ritt‘).52 Da das Nomen im Deutschen sonst nicht bezeugt ist,53 liegt erneut ein Hapax legomenon vor. Auch das betreffende Verb begegnet im Wesentlichen erst wieder ab dem 18. Jahrhundert,54

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1988, Sp. 278), ist mit Lühr (1980, 57) von *langa- ‚die Länge‘ und somit von einem als Rektionskompositum gebildeten Adjektiv auszugehen. Vgl. Bauer (1988, 273f.) und Tiefenbach (2009, 971). Belegt zum Jahr 776 (Kopie 817–847) ad fluenta Antalanga (Widemann 1943, Nr. 4). Die Wörterbücher belegen das Wort seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, v.a. in österreichischen Weistümern: DWB (I: 1854, Sp. 500); Lexer (I: 1872 und III [Nachträge]: 1878, s.v. antlanc); DRW (I: 1914–1932, Sp. 751); Schatz (I: 1955, 26) und FWB (I: 1989, Sp. 1527, s.vv. antlang, antling); vgl. auch Goldmann (1912, 52). Der vermutliche Erstbeleg antlang findet sich in einem Weistum von 1413 (Hs. 16. Jh.) – freundlicher Hinweis von Dr. Elisabeth Groschopf vom „Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich“ (Wien). BayHStA, Regensburg-St. Emmeram Lit. 5 1/3, fol. 78v. Aktuelle Drucke: Widemann (1943, Nr.16); Ay (1974, Nr. 102) und Bauer (1988, 129f.). Für das in nominalen Bildungen betonte Präfix (AWB I: 1968, Sp. 953) dürfte eher ‚um etw. herum‘ anzusetzen sein (wie bei ahd. bifāhan ‚umfangen, umfassen‘, biwintan ‚umwickeln‘ etc., als Nominalpräfix in bízūna ‚umzäuntes Grundstück‘ zu bizūnen) als eine adlative Bedeutung wie in biqueman ‚gelangen, herankommen‘ (zum funktionalen Spektrum des Verbalpräfixes vgl. Schwarz 1986, 104ff. und MhdGr III, §V12f.). In Betracht kommt auch eine Bildung mit bī- (dazu Schwarz 1986, 118f.). Es dürfte jedoch Grundlage des Waldnames Pireist (Püraist) östlich von Lasberg im Mühlviertel (Oberösterreich) gewesen sein (dazu Schiffmann 1935, I, 102; 1940, 66). Schriftliche Belege existieren seit dem 15. Jahrhundert, z.B. in einem Lehenbucheintrag von 1455: 1 holz, genant die pirrais (Chmel 1854, 402). Vgl. etwa Breuninger (1719, 283): „die Donau/so weit sie in den Würtembergischen Gräntzen lauffet/selbsten zu bereisen“, weitere Belege seit dem späten 18. Jahrhundert im DWB (I: 1854, Sp. 1497). Ein vereinzelter Beleg aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts bei Heinrich v. Mügeln (MWB I/Lfg. 2: 2007, Sp. 594 = FWB III:

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etwa zeitgleich mit dem Siegeszug der von der älteren Sprachkritik als „inhuman“ gescholtenen transitivierenden be-Verben.55 Während pireisa in allen modernen Wörterbüchern des Althochdeutschen fehlt, wurde der St. Emmeramer Beleg bereits im 18. Jahrhundert lexikographisch erfasst, und zwar in Charles du Canges „Glossarium mediae et infimae Latinitatis“. Dort findet sich das Lemma zwar noch nicht in den ältesten Auflagen, da die Urkunde 1721 erstmals gedruckt wurde.56 Ab der sechsbändigen „Editio nova“ durch die Mauriner weist das Wörterbuch dann aber ein Lemma pireisa auf, wegen der waghalsigen Anknüpfung an gr. ʌİȓȡĮıȚȢ ‚Prüfung, Versuchung‘ allerdings mit einer Bedeutungsangabe „prolusio, Gall. Tentative, velitatio, Escarmouche“.57 Daran nimmt auch das von Johann Christoph Adelung besorgte „Glossarium manuale“ noch keinen Anstoß.58 Erst in der Ausgabe von G.A. Louis Henschel wird schließlich auf den einschlägigen Graff-Artikel verwiesen und pireisa mit „Landtleita“ gleichgesetzt.59 Der Germanistik ist das Wort durch Jacob Grimm bekannt gemacht worden, der den St. Emmeramer Beleg 1828 in seinen „Deutschen Rechtsalterthümern“ kommentierte.60 Wenig später (1836) fand pireisa Eingang in das erwähnte Wörterbuch von Graff und in Johann Andreas Schmellers „Bayerisches Wörterbuch“.61 Über die Erwähnung in den „Rechtsalterthümern“ hat sich das Wort schließlich auch einen kurzen Eintrag im „Deutschen Rechtswörterbuch“62 gesichert und Eingang in zahlreiche historische63 (v.a. rechtsgeschichtliche), allerdings kaum in germanistische64 Arbeiten der letzten 150 Jahre gefunden. (d) Ebenfalls in der Überlieferung von St. Emmeram findet sich ein Bericht über eine Schenkung, die zwischen 1010 und 1020 stattgefunden haben

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2002, Sp. 1383: der anger was bereist) zeigt die für das mittelhochdeutsche Simplexverb bereits bezeugte Bedeutung ‚herrichten‘. Vgl. dazu Polenz (II: 1994, 294–296). Pez (I/3: 1721, Sp. 203). DuC-Maur (V: 1734, 499). DuC-Adel (V: 1778, 311). DuC-Hensch (V: 1845, 265). Grimm (1828, 546; 1899/1992, II, 74). Im DWB (I: 1854, Sp. 1497) fehlt s.v. bereisen ein Hinweis. Graff (II: 1836, Sp. 5[42], s.v. reisa); Schmeller (III: 1836, 127: „entspricht wohl einem Verb pireison... die Grenze beraisen“). DRW (I: 1914–1932, Sp. 1568). Darunter etwa Maurer (1866, 8); Howard (1889, 215); Brinkmann (1912, 34); Jahn (1991, 216); Geary (2000, 181) und Freund (2004, 322–324). Der Beleg ist immerhin als volkssprachig erwähnt bei Tiefenbach (1989, 415).

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dürfte.65 Ein Wohltäter vermachte damals dem Kloster locum ad onerandas naues aptum, teutonice ladastat dictum. Neben der metakommunikativen Formel teutonice ... dictum enthält der Eintrag eine Bedeutungsangabe, die durchaus als lexikographische Definition durchgehen könnte (locus ad onerandas naues aptus). Etwa zur selben Zeit erscheint das Wort auch in der Überlieferung des oberbayerischen Klosters Ebersberg (area quam vocant ladastat).66 Wegen der Unsicherheit über den Appellativstatus des Ebersberger Belegs fand dieses ladastat Aufnahme in einige Ortsnamenbücher.67 Zu Beginn des 12. Jahrhunderts (Kopie 1175/77) wird im Regensburger Damenstift Obermünster allerdings ein weiteres Insert überliefert, das aufgrund des definitorischen Kontexts kategorial eindeutig erscheint: nauali statione, quam rustici ladastat dicunt.68 Durch diese Insertbelege dürfte ein spät-althochdeutsches Kompositum lada-stat ‚Stapelplatz (für Schiffe)‘ zumindest für den bair. Sprachraum erwiesen sein. Obwohl die drei Belege in der Ausgestaltung der Kompositionsfuge althochdeutschen Sprachstand zeigen,69 fehlt das Lemma in allen althochdeutschen Wörterbüchern. Graff übersah das Wort, vermutlich weil Schmeller70 das St. Emmeramer Insert zuvor unglücklich unter lâßen versteckt hatte. Und obwohl ebendieser Beleg Matthias Lexer später immerhin ein vollständiges Zitat wert erschien, fehlt er im Rechtswörterbuch, welches Lad(e)statt erst ab 1275 nachweist, meist in kontrahierter Form als lastat o.ä. und stets aus oberdeutschen Quellen.71 Die übrigen Wörterbücher liefern für das betreffende Wort weitere oberdeutsche Nennungen ab dem 15. Jahrhundert.72 Verschiedentlich wurde ein Zusammenhang mit dem Schifffahrtsterminus Lastadie (mlat. lastadium, lastagium, mnd. lastadie, mnl. lastaedse, frz. lestage, engl. lastage) erwogen, der im Ostseeraum auch als Werftbezeichnung in Gebrauch war und entsprechend noch in einigen Städten heute als Straßenname aufscheint. Das „Etymologische Wörterbuch“

65 Gedruckt bei Widemann (1943, Nr. 290, auch in Nr. 298 aufgenommen) und Ay (1974, 250). 66 Hundt (1879, 144, Nr. 46); laut Register: „Ladastat am Donauufer bei Aschach, Bez. Efferding in OÖ“. Zum historischen Hintergrund: Weber (1999, 121). 67 Vgl. Oesterley (1883, 372) und FörstON (II: 31916, Sp. 2). 68 Wittmann (1856, 167, Nr. 19); zum Codex ausführlich Prinz (2007a, 28–40). 69 Ahd. lada-stat dürfte (anders als etwa kouf-stat) ein verbales Bestimmungswort enthalten, da entsprechende Verbalnomina im Deutschen nur spärlich nachzuweisen sind (z.B. mhd. -lad F. ‚Ladung‘). Vermutlich liegt also eine Bildung des Typs lesa-rihti ‚Satzkonstruktion‘ vor; zur Diskussion um diesen Kompositionstyp vgl. Carr (1939, 175–196) und Kienpointner (1985, 271–280 u. 312 zu mhd. lade-stat). 70 Schmeller (II: 1828, 496). 71 Lexer (I: 1872, Sp. 1811); DRW (VIII: 1984–1991, Sp. 268). 72 Vgl. FWB (IX/Lfg. 1: 2000, Sp. 43); DWB (VI: 1885, Sp. 52); SchweizId (11.2: 1952, Sp. 1752) etc.

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von Friedrich Kluge73 etwa enthielt im Artikel Lastadie einen Hinweis auf ahd. ladastat. Seit der von Elmar Seebold verantworteten 22. Auflage ist der Artikel als Teil des überrepräsentierten peripheren Wortschatzes der Seemannssprache allerdings gestrichen.74 Auch Hermann Pauls „Deutsches Wörterbuch“ wies früher einen Eintrag für das niederdeutsche Wort auf, „das über mlat. lastadium auf mhd. lāstat, ahd. ladastat“ zurückzuführen sei.75 Diese Darstellung ist allein deshalb schon unplausibel, weil das Kompositum lediglich im Oberdeutschen verbreitet war und im Niederdeutschen und Niederländischen nicht existierte. Zudem begegnet das mittellateinische Wort in britischen Quellen als lestagium (ab dem 11. Jahrhundert), lastagium (ab 1200) zunächst als Abgabenbezeichnung, erst ab dem ausgehenden 13. Jahrhundert auch in der Bedeutung ‚Schiffsballast‘.76 Französische Belege (lastage, liestage etc.) bezeugen im 14. Jahrhundert beide Bedeutungen.77 Ab dem 14. Jahrhundert lässt sich dann eine d-Variante aus niederländischen, norddeutschen und dänischen Quellen ergänzen.78 Während der frühen Zeit fehlt das Wort in Quellen aus dem deutschen Sprachgebiet völlig.79 Die ältesten Formen lestagium/lastagium erweisen das Wort als eine typische Ableitung auf -agium, dem Modesuffix der hochmittelalterlichen lateinischen Rechtssprache, mit dem üblicherweise Abgabenbezeichnung gebildet wurden – auch von volkssprachigen Basen (friscingagium, skippagium etc.).80 Grundlage von lestagium/lastagium waren offenbar Kontinuanten von germ. *hlast-i- ‚Last, Ladung‘ (ae. hlæst, afr. hlest etc.). Die jüngeren d-Formen erklären sich als Suffixvarianten mit -adium aufgrund des lautlichen Zusammenfalls81 von /gi/und /di/. An der späteren Durchsetzung dieser d-Form in mnd. lastadie und dem Auftreten der Bedeutung ‚Werft‘ (bzw. der Verdrängung der älteren Bedeutung durch ballast ab dem

73 Vgl. z.B. Kluge (201967, 425). 74 Vgl. Kluge (221989, XI). 75 Paul (1966, 385). Die Gleichsetzung mit lâstat < ladestat zuvor bereits bei Lübben/Walther (1888: 198). 76 Belege bei Latham (1965, 270); Latham/Howlett (I: 1975–1997, 1562) und Niermeyer (I: 22002, 762). 77 Vgl. FEW (XVI: 1959, 445 f.). 78 Vgl. LNed (V: 1994, Sp. 48f.); LDan (fasc. V: 1999, 403); Kluge (1911, 516f.); Schröder (1917, 124) und Wossidlow/Teuchert (IV: 1965, Sp. 849). 79 Im Material des Mittellateinischen Wörterbuchs an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften findet sich kein einziger Beleg (freundliche Mitteilung von Dr. Martin Fiedler/München). 80 Vgl. Stotz (1996–2004, Bd. II, 330 = VI §70.11). 81 Dazu Stotz (1996–2004, Bd. III, 211 = VII §174.1).

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14. Jahrhundert),82 mag eine volksetymologische Eindeutung von stad/stat beteiligt gewesen sein. Ahd. lada-stat ist jedenfalls fernzuhalten. (e) Ein von keinem Wörterbuch bislang berücksichtigtes frühmittelhochdeutsches Syntagma enthält die in der Bamberger Staatsbibliothek verwahrte „Alkuinbibel“ (Msc. Bibl. 1), eine jener karolingischen Musterbibeln aus der turonischen Schreibschule, die für die Durchsetzung der Vulgata im Frankenreich bedeutsam geworden sind. Die Bamberger Handschrift dürfte allerdings nicht in Tour selbst, sondern um 834/37 im Nebenkloster Marmoutier entstanden sein.83 Im 11. Jahrhundert wurden in Bamberg an freien Stellen (fol. 174v und 379v) zwei Traditionsnotizen eingetragen, von denen die etwas jüngere, um die Jahrhundertmitte anzusetzende, ein volkssprachiges Insert enthält, das bereits mehrfach gedruckt worden ist: „daz niuge uang unte daz holz daz man riutit“.84 Mit der fraglichen Notiz übergab Otto von Schweinfurt, der Herzog von Schwaben, seiner Tochter Albrata und ihrem Dienstmann Bero die curtis Döringstadt im heutigen Kreis Lichtenfels (Bayern). Zu dieser gehörte eine Reihe von Gütern, die in der Urkunde genau aufgelistet werden, zuletzt die beiden zitierten Örtlichkeiten, die sich nicht sicher identifizieren lassen.85 Während der sonstige Besitz mittels eindeutiger Eigennamen aufgezählt wird, drückt sich in der Endstellung des Inserts und in seiner konsequenten volkssprachigen Realisierung (gegenüber vorausgehendem silvas Vrberch) eine deutliche Sonderrolle aus; es scheint sich hierbei nicht um Nomina propria zu handeln. Möglicherweise waren aus Aktualitätsgründen – die Rodung war gerade im Gange – für den betroffenen Besitz noch keine Eigennamen verfügbar. Festzuhalten ist zunächst, dass derartige Umschreibungen für Örtlichkeiten durchaus in den Zuständigkeitsbereich der Appellativlexikographie fallen.86 Zudem ist der Passus sprachlich nicht uninteressant. Für riuten liefert er einen der ältesten Belege, jedenfalls aber den ersten, bei dem das Verb im Syntagma begegnet.87 Als schwierig erweist sich „daz niuge

82 Vgl. Schröder (1917, 125). 83 Vgl. die Handschriftenbeschreibung unter http://www.staatsbibliothek-bamberg.de/sondersammlungen/hs/hs15.php (Zugriff am 12.2.2010). 84 Der Passus jedenfalls bei Fischer (1908, 1) und Guttenberg (1930, 339; 1963, 131f.; 1969, 103). 85 Guttenberg (wie Anm. 84) vermutete hinter dem holz daz man riutit die heutige Flur Groit südlich von Döringstadt. Eine Gleichsetzung von „daz niuge uang“ und Neudorf bei Nöth (1986, 32) ist sachlich (vgl. Fastnacht 2007, 114*f.) und sprachlich zweifelhaft; Guttenberg (1969, 229) hatte noch eine Wüstung angenommen. 86 Vgl. etwa Bulitta (2007a). 87 Älter sind vier Glossen des 10. Jahrhunderts (StSG II, 319,38; I, 379,27; II, 767,24: riutit, 2x riuti, riutta), deneben präfigiertes arriuton ‚extirpauerunt‘ in Rf (StSG I, 487,5).

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uang“, das wie eine noch nicht univerbierte Präformation des späteren Kompositums frnhd. neufang M. anmutet (‚das neue Fang‘?). Damit wäre 〈g〉 in niuge Hiatustilger88 für ausgefallenes /w/, vergleichbar it Nîugiv (zu ite-niuwe) in dem vielleicht ähnlich alten, möglicherweise auch im Raum Bamberg entstandenen Prosastück „Himmel und Hölle“.89 In der Bedeutung ‚Neubruch‘ lässt sich neufang jedoch erst ab dem 15. Jahrhundert nachweisen.90 Vor allem aber erscheint das Nomen actionis germ. *fangaim Deutschen, für das das Bamberger Insert der Erstbeleg wäre, wie in der übrigen Westgermania mit maskulinem Genus (ae. fang ‚Beute‘, as. fang, mhd. vanc, mnd. vank, mnl. vanc ‚Fang‘, afr. fang, feng ‚Griff; Anteil am Wergeld‘).91 In Wirklichkeit verbirgt sich hinter dem Bamberger Insert ein Hapax legomenon frühmhd. niu-gevang stN., ein Ad-hoc-Kompositum, das neben andere im Kontext des hochmittelalterlichen Landesausbaus entstandene Neubruch-Bezeichnungen zu stellen ist. Nach dem gleichen Muster sind im Oberdeutschen etwas später das ephemere niu-gilenti stN. (nur 12. Jahrhundert) ‚Neubruch‘92 und das lexikalisierte niu-geriute stN. (seit dem 13. Jahrhundert) ‚durch Rodung gewonnenes Neuland‘93 gebildet, wenn auch als ja-Stämme. Der Ansatz niu-gevang erklärt zwanglos Genus94 und g-Schreibung des Bamberger Inserts und steht auch nicht im Widerspruch zur Getrenntschreibung, die lediglich auf die Herausgeber zurückgeht und keine Stütze in der Handschrift hat: niuge steht am Ende der siebten Zeile, die Folgezeile beginnt mit uang. Auch die Wortbildung ist völlig angängig. Beim Bestimmungswort stand niu- seit alters neben w-haltigen Formen.95 Notker hat bereits aus-

88 Vgl. AhdGr §110 A.3. 89 Gedruckt u.a. bei Steinmeyer (1916, 154 Anm.15). Zur strittigen Frage der Entstehung vgl. etwa Wilhelm (1960, 65) und McLintock (1983). 90 DRW (IX: 1992–1996, Sp. 1446f.), als Bergbauterminus bereits seit dem 13. Jahrhundert. 91 Für das Deutsche vgl. Lexer (III: 1878, Sp. 17); DWB2 (IX/Lfg. 1/2: 2001, Sp. 128ff.) und WMU (Lfg. 21: 2005, 2010). Aisl., aschw. fang ‚Fang, Beute‘ ist dagegen entsprechend der gängigen Genusverteilung Neutrum (vgl. Krahe/Meid 1969, §68.2). – An ahd. (*)wang ‚Feld‘, das vereinzelt auch als Neutrum bezeugt ist (vgl. Schmeller II: 21877, Sp. 956f.; DWB XIII: 1922, Sp. 1747ff.), ist nicht zu denken. In der betroffenen Traditionsnotiz wäre 〈u〉 für /w/singulär und insgesamt ungewöhnlich (vgl. AhdGr §105 Anm. 2). 92 Im 12. Jahrhundert bezeugt in Glossen: alem. nivgilendi, bair. nuigelenti (s. Anm. 95). 93 Im 13. Jahrhundert bezeugt in Glossen: nůwegirut[i], bair. niugrut ‚nouale‘ (Schützeichel 2004, VII, 114), durch urkundliche u. urbarielle Belege: alem. mit nv´gerv´te, nordbair. vnser newgereuth, bair. fumf niwgereute (WMU II: 2003, 1316; DRW IX: 1992–1996, Sp. 1448); im 14. Jahrhundert dann häufiger, u.a. bair. ein niugeriute, schwäb.-alem. nûwegerût (BMZ II/1: 1863, 749a; Lexer III: 1878, Sp. 331). 94 Derartige Bildungen haben üblicherweise neutrales Genus (vgl. Wilmanns 1899, §159). 95 Vgl. etwa im 8. Jahrhundert alem. niuplot ‚cruor‘, im 9. Jahrhundert alem. niuseccida ‚nouella oliuarum‘, im 11. Jahrhundert bair. níup(re)chana ‚recentis‘, alem. niuruti ‚nouales‘,

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schließlich niu-, das spätestens im 12. Jahrhundert die dominante Form wird.96 Angesichts von Gozenniuseza in der Bamberger Notiz entspricht niu- genau dem Erwartbaren. Allerdings ist das Grundwort erst deutlich später isoliert zu fassen. Für das Ostoberdeutsche lässt sich seit dem 16. Jahrhundert ein Gefang N. ‚eingefriedetes Ackerland; Gehege‘97 belegen; für das Alemannische ist das Wort um 1600 in der Bedeutung ‚Umfang, Umkreis‘98 nachgewiesen. Allerdings verwendet bereits Otfrid ein neutrales Verbalabstraktum gi-fang in der Bedeutung ‚Gewand, Umhüllung‘,99 das eine formale Entsprechung in got. ga-fah* ‚Fang‘ findet. Die textile Lesart bei gi-fang und anderen *fanga-Bildungen (vgl. aisl. fang ‚Frauenkleid‘, ahd. gifengidi ‚Mantel, Umhang‘, mānōthphengida ‚Neumond‘, eigentlich „Mondverhüllung“)100 wurde verschiedentlich als Lehnbedeutung nach afrz. robe ‚Raub, Beute; langer Rock‘ interpretiert,101 da eine Verbalbedeutung ‚umfangen, einfassen‘, die beide Formen erklären würde, für ahd. gi-fāhan nicht bezeugt ist.102 Entsprechend ist die Bedeutung von niugevang nicht sicher zu bestimmen, zumal frnhd. Gefang leicht von dem deutlich frequenteren Bifang ‚(neugerodetes) eingefriedetes Stück Land etc.‘ semantisch beeinflusst sein kann. Ausgehend von ‚fangen, ergreifen, an sich nehmen‘ für ahd. gi-fāhan, mhd. ge-fāhen ließe sich daz niugeuang unte daz holz daz man riutit vielleicht auch verstehen als ‚das bereits gerodete Land und der noch im Rodungsprozess befindliche Wald‘. (f ) Im Verlauf des Hochmittelalters stieg die Zahl volkssprachiger Inserte in Traditionsnotizen beträchtlich an, vor allem wegen des im 12. Jahrhundert aufkommenden Usus einer Verzeichnung von Beinamen und Berufsbezeichnungen bei Urkundszeugen. Ohnehin durchlebten die meisten westeuropäischen Schriftregionen im 12./13. Jahrhundert eine Phase des Umbruchs, in der sich die „Physiognomie“ der lateinischen Urkundentexte durch die lexikalische Interferenz mit den Volkssprachen radikal veränderte.103 Zeitgleich mit der stärkeren grammatischen Normierung des Ur-

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im 12. Jahrhundert alem. nivgilendi ‚nouellum‘, bair. nivlenti ‚nouale‘, nuigelenti ‚noualia‘ (Nachweise bei Schützeichel 2004, VII, 113–116). Vgl. Gröger (1911, 130f.). Vgl. Unger (1903, 272f.) und FWB (VI/Lfg.1: 2003, Sp. 416f.): wan einer ain zaun oder gefang macht. SchweizId (I: 1881, Sp. 856). AWB (III: 1985, Sp. 560). Davids (2000, 205). Vgl. zuletzt Casaretto (2004, 76, Anm. 230); dagegen Grimm (1819–1837, III, 446): „das was den Leib umfängt“. Vgl. AWB (III: 1985, Sp. 503ff.). Vgl. Vitali (2007, 1 u. 198f.).

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kundenlateins ist eine zunehmende Verwendung (mehr oder weniger stark assimilierter) volkssprachiger Wörter zu konstatieren.104 Stellvertretend seien hier nur einige rechtssprachliche Belege aus dem Traditionsbuch des Benediktinerklosters Biburg angeführt,105 die bislang von keinem Wörterbuch des Deutschen berücksichtigt wurden. So überliefert beispielsweise eine Notiz von 1273 den Erstbeleg für mhd. tangel-korn ‚Getreide als Schmiedelohn‘: frumentum... quod tangelchorn appellatur, ein sonst erst im 14. Jahrhundert nachweisbares Kompositum.106 Ein Eintrag aus den 1190er Jahren enthält die vermutlich zweitälteste Erwähnung von mhd. satzunge ‚Satzungspfand‘: vadimonium, vulgariter sazzunge dictum.107 Eine Notiz vom Jahr 1241 liefert einen der ältesten Belege für mhd. visch-weide ‚Fischereirecht‘ zusammen mit einer präzisen Bedeutungsparaphrase für das volkssprachige Wort: ius in captura piscium, quod vulgaliter wischeweid [!] appellatur.108

3. Inserte im Wörterbuch Von den im vorigen Abschnitt vorgestellten elf Inserten mit insgesamt 25 alt- und mittelhochdeutschen Wortformen (davon ca. 16 Autosemantika) werden lediglich vier Belege (lahhun, antlanga, pireisa, ladastat) von Wörterbüchern verzeichnet, lahhun zudem unter falschem Lemma. Die Tatsache, dass einige lexikographische Projekte noch nicht abgeschlossen sind, fällt dabei kaum ins Gewicht. Die höchste Ausbeute zeigt noch Schmellers „Bayerisches Wörterbuch“ mit drei Belegen. Im „Rechtswörterbuch“ sind 104 Vgl. Vitali (2007, 201, 264 u. 268ff.). 105 Der Codex wurde um 1189/90 angelegt und danach protokollarisch weitergeführt. Nachdem er lange Zeit verschollen war, tauchte er in Cheltenham (Sammlung Phillipps) wieder auf und befindet sich seit 1913 in München (vgl. Walter 2004). 106 Walter (2004, Nr. 163, dort irrtümlich -choru). Lexer (II: 1876, Sp. 1424); DRW (II: 1932–1935, Sp. 694 u. 781, s.vv. Dangel-, Dengel-) und DWB2 (VI: 1983, Sp. 646) zitieren als ältesten Beleg: nach 1311 tengelchorn aus dem niederbayerischen Herzogsurbar, außerdem Weistumsbelege des 15. Jahrhunderts aus Cadolzburg (tangelkorn) und Schönfeld (ein metzen dängelkorn); vgl. auch FWB (V/Lfg. 1: 2006, Sp. 439). Die unterschiedlichen Ansätze des Bestimmungsworts (mit -a- und -e-) resultieren aus dem Nebeneinander von nominalem tangol (ahd.) und verbalem tengelen (mhd.). 107 Walter (2004, Nr. 122). Das DRW (XI: 2003–2007, Sp. 1591) zitiert ein Freisinger Insert zu 1189; sonst weisen die Wörterbücher das Wort ab dem 13. Jahrhundert nach. Auch der Beleg aus der Millstätter Interlinearversion zum Psalter dürfte nach 1200 anzusetzen sein (vgl. Schneider 1987, 37). 108 Walter (2004, Nr. 133). Den Erstbeleg scheint ein Insert von 1219 (vishweide) in einer Urkunde Bf. Ottos v. Würzburg zu liefern (WUB III: 1871, Nr. 624); Belege ab 1253 (= CAO Nr. 29) zitieren dann DRW (III: 1935–1938, Sp. 562) und WMU (Lfg. 23: 2007, 2168).

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bislang zwei Wortformen gebucht, daneben je eine bei Graff, Lexer und im „Wörterbuch der Tiroler Mundarten“. Eine jüngst durchgeführte Erhebung109 bestätigt den Eindruck, dass die volkssprachigen Inserte in früh- und hochmittelalterlichen Privaturkunden von keinem Wörterbuch auch nur annähernd systematisch und vollständig gesammelt wurden und selbst bei extensiver Nutzung aller lexikographischen Hilfsmittel bislang kaum zu finden sind. Die ältere Lexikographie hat sich für urkundliche Belege durchaus interessiert, zumal gerade einige frühe Wörterbücher als archivische Hilfsmittel für das Verständnis der mittelalterlichen Urkunden entstanden.110 Da entsprechende Sammlungen im Rahmen eines damals noch dürftigen Editionsstands erfolgten, ist ihre Beleggrundlage oft lücken- und fehlerhaft. Dennoch findet man entsprechendes Material auch heute noch am ehesten bei Schmeller und Graff, die zumeist aus Grimms „Rechtsalterthümern“ von 1828 schöpften. Von den frühen Wörterbüchern aus fand manches Eingang in die klassischen und modernen Nachschlagewerke. Eine systematische, korpusgestützte Sammlung älterer Insertlexik erfolgte hier allerdings ebenso wenig wie bei den rechtssprachlichen Spezialwörterbüchern. Aus heutigen Sprachstadienwörterbüchern wird das betreffende Material meist explizit ausgeklammert oder in Separatpublikationen ausgelagert (vgl. den Beitrag von Brigitte Bulitta im vorliegenden Band). Lediglich zwei moderne Wörterbücher berücksichtigen Inserte in größerem Umfang: Das „chronologische Wörterbuch“ von Elmar Seebold (CHWDW8/9) verzeichnet die „Einsprengsel“ in lateinischen Rechtsquellen wie Leges, Capitularien und Diplomen für das achte und neunte Jahrhundert sehr umfassend, spart die sonstigen Urkunden aber aus. Daneben enthält auch Gerhard Köblers „Wörterbuch des althochdeutschen Sprachschatzes“ angeblich „die sonstigen althochdeutschen bzw. lateinisch-althochdeutschen Einsprengsel in frühmittelalterlichen lateinischen Texten“.111 Da die oben vorgestellten Belege indes alle fehlen und vorhandene Insertbelege offenbar nicht überprüft wurden (s. Abschnitt 4), bleibt Köblers Wörterbuch letztlich hinter dem durch Grimm, Graff und Schmeller erreichten Stand zurück. Überschneidungsbereiche gibt es mit dem Gegenstandsbereich der mittellateinischen Lexikographie, in deren Umfeld zumindest ein Teil des fraglichen Materials ebenfalls gesammelt wurde und wird (Du Cange, Niermeyer, MLW), insbesondere lexikalisierte mittellateinische Wörter mit germanischer Etymologie und latinisierte volkssprachige Lexik.

109 Prinz (2011). 110 Vgl. Grubmüller (2000, 1343). 111 Köbler (1993, VIII); ausführlicher zu diesem Vorhaben: Köbler (1992, 146–149).

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Zusammenfassend erweist sich die Forschungsgeschichte des volkssprachigen Wortschatzes in lateinischen Privaturkunden als eine Geschichte fortschreitender Aussonderung dieses Überlieferungssegments aus dem Gegenstandsbereich der Lexikographie des Deutschen.

4. Forschungsperspektiven Angesichts der „desolaten Forschungslage“112 ist eine genauere Bewertung der mittelalterlichen volkssprachigen Insertionspraxis derzeit nur schwer möglich. Eine extensive Sammlung des weiträumig verstreuten Materials und seine analytische Durchdringung würde allerdings eine Reihe interessanter Forschungsperspektiven eröffnen, die hier nur oberflächlich angerissen werden können. Der potentielle Gewinn für die historische Lexikographie liegt dabei auf der Hand. Da die Dokumentation von inseriertem Belegmaterial den lexikographischen Usancen deutlich hinterherhinkt, verspricht jede Beschäftigung mit diesem qualitativ (und vielleicht auch quantitativ) nicht unbedeutenden Segment des älteren Wortschatzes eine Verbreiterung der Belegbasis für die Frühzeit des Deutschen, insbesondere wohl etliche Erstund Hapaxbelege (s. Abschnitt 2). Zudem bietet sie die willkommene Gelegenheit, Phantomlemmata („Geisterwörter“) wie das folgende aus den Wörterbüchern zu eliminieren: Der erste Band von Graffs „Sprachschatz“ verzeichnet unter dem Hauptlemma wîn folgenden Eintrag: „STORZWÎN, m. vino, quod dicitur stortzwin. Urk. v. 1052“.113 In vergleichbarer Form erscheint dieser Artikel in Köblers Wörterbuch, ergänzt um die Angabe „eine Art von Wein“.114 Da in beiden Wörterbüchern weder (spezifische) Bedeutung noch Quelle vermerkt sind, fällt eine Beurteilung des angeblich althochdeutschen Kompositums schwer. Interessanterweise bietet Du Cange ein ähnliches Lemma, noch nicht in Adelungs Bearbeitung, dafür aber in der von Henschel betreuten Auflage.115 Das Wort lautet hier „Srozwin“; auf die konkurrierende Lesung bei Graff wird hingewiesen. Hinzu kommt, dass Lexer in den Nachträgen zu seinem Wörterbuch ein mittelhochdeutsches Lemma „schoz-wîn“ ansetzt, für das er sich auf einen urkundlichen Insertbeleg zum Jahr 1056 beruft: „vinum quod dicitur schotzwîn“.116 Das 112 113 114 115 116

Bergmann (2009, 943). Graff (I: 1834, Sp. 886). Köbler (1993, 339). Duc-Hensch (VI: 1846, 340). Lexer (III: 1878, Sp. 362).

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DWB bietet zudem einen neuhochdeutschen Ansatz „Schoßwein“, zusammen mit der durch Fragezeichen markierten Bedeutungsangabe „wein, der als abgabe überliefert wird“.117 Dabei beruft es sich auf den Lexer-Beleg und einen Eintrag in der „Sammlung alt- und mitteldeutscher Wörter aus lateinischen Urkunden“ von Joseph Kehrein.118 Da Kehrein selbst drei Urkundenbelege für „scozwin“ und auch einen für „stortzwyen“ bietet, könnte man zumindest den Ansatz bei Lexer für gut begründet halten. Stutzig macht jedoch, dass alle fünf Nachweise bei Kehrein und Lexer aus den 1050er Jahren stammen. Tatsächlich finden sich sämtliche Belege für „stortzwin“, „srozwin“, „schotzwin“, „scozwin“ und „Schoßwein“ in frühen Editionen dreier Privilegien für das niederrheinische Kloster Brauweiler (nw. von Köln). Die Urkunden, ein Diplom Kaiser Heinrichs III. zum Jahr 1051 und zwei der polnischen Königin Richeza (zu 1054 und 1056), sind Bestandteil eines größeren Fälschungskomplexes der Brauweiler Mönche, welcher in der Geschichte des Niederrheins eine unrühmliche Bekanntheit erlangt hat. Nach derzeitigem Kenntnisstand119 könnte eventuell die Urkunde zu 1054 auf ein echtes Privileg zurückgehen, überliefert ist sie nur kopial aus der Zeit um 1100. Die übrigen Texte wurden um 1263 nach deren Vorbild fabriziert: 〈1051, 18. Juli〉 – Fälschung um 1263 (zwei Ausfertigungen): Kaiser Heinrich III. für Brauweiler; Drucke in Auswahl: Martène/Durand (1724, I, 428: „Srozvvin“); Lacomblet (1840, Nr. 186, S. 117); MGH DD H III. 273; Wisplinghoff (1972, Nr. 91, S. 123) ĺ vinum quod dicitur scozwin (in beiden Ausfertigungen). 1054, 7. September – Kopie Ende 11. Jh. (MGH noch: Fälschung): Königin Richeza für Brauweiler; Drucke: Lacomblet (1840, Nr. 189, S. 121); Wisplinghoff (1972, Nr. 95, S. 136) ĺ cum IIII carradis scozwines. 〈1056, März〉 – Verfälschung Mitte 13. Jh. – Kopie 18. Jh.: Königin Richeza für Brauweiler; Drucke: Günther (1822, Nr. 56, S. 131: „Stortzwynn“); Beyer (1860, Nr. 343, S. 398: „Schotzwyn“); Wisplinghoff (1972, Nr. 96, S. 139) ĺ vino quod dicitur schotzwyn. Die fraglichen Ansätze finden nun eine einfache Erklärung: „srozwin“ bei Du Cange wurde aus einem alten Druck des Heinricianums exzerpiert (Martène/Durand), dem nicht die echte Urkunde (d.h. die echte Fälschung von 1263) zugrunde lag, sondern eine Abschrift aus dem frü-

117 DWB (IX: 1899, Sp. 1606). 118 Kehrein (1863, 33). 119 Zur Datierung der Spuria vgl. auch Wisplinghoff (1992, 45).

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hen 16. Jahrhundert.120 Es handelt sich also schlicht um eine Korruptel. Gleiches gilt für Graffs „stortzwin“, dessen Schreibung offenbar auf die Ausgabe von Günther zurückgeht.121 Auch hier war die Grundlage eine ungenaue Abschrift des 16. Jahrhunderts.122 Graff selbst hat das Bild zusätzlich verunklart, indem er den moderat „veralthochdeutschten“ Beleg ohne Angabe der Quelle, dafür aber mit falschem Datum zitierte („1052“ statt „1056“).123 Dieselbe Urkunde führte außerdem, und zwar über den Abdruck bei Beyer, zu „schotzwyn“ bei Lexer und Kehrein.124 Was bleibt somit? Im Grunde lediglich ein einzelner mittelfränkischer Beleg aus der Zeit um 1100 (zum Jahr 1054), der aufgrund von Druckfehlern, kopialer Überlieferung etc. zu einer Reihe von anfechtbaren Wörterbuchansätzen (mlat., ahd., mhd. und nhd.) geführt hat. Das Bestimmungswort scoz ist für Köln seit dem 12. Jahrhundert als Simplex in der Bedeutung ‚Steuer, Abgabe‘ nachgewiesen.125 Es handelt sich bei scoz-wîn somit um eine frühe Bezeichnung für Zinswein, d.h. Wein, der als Abgabe zu entrichten war. Angesichts der singulären Bezeugung dürfte eine Ad-hoc-Bildung vorliegen, mit der sich die etwas jüngeren, wenigstens seit dem 13./14. Jahrhundert bezeugten Bildungen gelt-, gewerf- und steuerwein126 vergleichen lassen. Gleichwohl sollte der lexikographische Nutzen einer Sammlung von inseriertem Wortschatz vorsorglich nicht zu eng bestimmt werden.127 Es müsste darum gehen, ein eigenständiges Überlieferungssegment der älteren deutschen Lexik, dessen Konturen bislang noch nicht klar zu erkennen sind, lexikographisch angemessen abzubilden. Auf einer solchen Materialbasis ließe sich der Phänomenbereich dann als spezieller Modus skripturaler Organisation systematisch beschreiben und klassifikatorisch erfassen. Grundlegende Untersuchungsaspekte dieses Typs „synoptische[r] Kopräsenz von Latein und Deutsch ‚auf der Linie‘“128 könnten z.B. sein: 120 Chronicon Brunwilarense (Stadtarchiv Köln, Ms. C17). 121 Das in die Vorrede aufgenommene Quellenverzeichnis erwähnt „Günther’s cod. diplom. rheno-mosellanus“ (Graff I: 1834, XLV). 122 Wegen der stark abweichenden Namenschreibung wohl aus Abschriften des 16. Jahrhunderts (HStA Düsseldorf, Brauweiler, Rep. u. Hs. 1 Bl.3r–4v; Rep. u. Hs. 2 Bl. 22r–23v). 123 Wohl irrtümlich nach dem bei Günther unmittelbar über der Urkunde stehenden Kopfregest von Nr. 55. 124 Kehrein verzettelte die Urkunde von 1056 allerdings doppelt (nach Günther 1822 und Beyer 1860) und hat deshalb vier Belege. 125 Vgl. RhWB (VII: 1958, Sp. 1739, s.v. Schoß II) und DWB (IX: 1899, Sp. 1596f., Abschnitt 2). 126 Belege bei Lexer, DWB, DRW s.vv. 127 Auch angesichts der Diskussion über die Angemessenheit des Thesaurusprinzips, die Schlaefer (2006, 175) unlängst eröffnet hat. 128 Henkel (2003, 9).

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im Hinblick auf den Matrixtext: – Inserierungspositionen: Erweisen sich bestimmte Stellen im Urkundenformular als präferiert, etwa im Sinne einer „Vulgarisierung des dispositiven Kerns“?129 – trigger-Wörter: Lassen sich Kontextelemente identifizieren, die das Eindringen volkssprachiger Wörter begünstigen?130 – Einbettungsstrukturen (Substitution vs. Korrelation): Vertritt das Insert als einfacher code-switching-Fall lediglich Elemente des Matrixtexts (= Substitutionstyp: z.B. pireisa) oder korreliert das Insert – möglicherweise explizit über einen „Relator“131 – mit einem Syntagma des Matrixtexts (= Korrelationstyp: x vulgo y)? In diesem Fall kann das Verhältnis zwischen x und y unterschiedlich ausgestaltet sein: Beim Translationstyp liegt Übersetzungsäquivalenz oder Hyponymie zwischen syntaktisch ähnlich komplexen Einheiten vor (z.B. vadimonium – satzunge, frumentum – tangelchorn). Beim Definitionstyp wird in der Sprache des Matrixtexts eine Erklärung oder Definition des Inserts geliefert: z.B. locus ad onerandas naues aptus – ladastat. – Markierung: Welche Formen der metakommunikativen Markierung kommen vor, insbesondere als Relatoren bei Inserten des Korrelationstyps? im Hinblick auf das Insert: – syntaktische Struktur: Wie komplex ist das Insert (vom einzelnen Wort bis zum vollständigen Satz)? – Latinisierung: Findet eine formale Anpassung132 an die Sprache des Matrixtexts statt? – Wortschatzklassen (formal): Welche Wortarten kommen vor? Beispielsweise erscheinen in der mittelalterlichen Rezeptüberlieferung hauptsächlich substantivische Inserte.133 Auch 81% der frankoprovenzalischen Inserte in Chartularen der Westschweiz sind Substantive.134 – Wortschatzklassen (semantisch): Welchen begriffssystematischen Bezeichnungskomplexen lässt sich der Insertwortschatz zuordnen? So dominieren etwa in heilkundlichen Texten erwartungsgemäß Wör129 130 131 132

Kortüm (1995, 26). Dazu auch Esders/Mierau (2000, 221ff.). Vgl. Vitali (2007, 301f.). Tiefenbach (2009, 962). Wird für die Abgrenzung der Inserte gegenüber der Sphäre der (lexikalisierten) Lehnwörter eine fehlende morphologische Anpassung an die Kontextsprache als Kriterium verwendet (dazu Prinz 2010), sind die Möglichkeiten einer Latinisierung volkssprachiger Inserte per definitionem eng begrenzt. 133 Vgl. Stricker (2003, 113). 134 Vgl. Vitali (2007, 272).

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ter der Bezeichnungsklassen ‚Pflanzen, Kräuter, Gewürze‘, ‚Geräte‘, ‚Krankheiten, Befindlichkeiten‘, ‚Körperteile‘ und ‚Tiere‘.135 In einem allgemeineren Zugriff wäre schließlich nach Entstehungshintergründen und Funktionen volkssprachiger Inserte zu fragen. Verdanken sie ihre Existenz mangelnden Lateinkenntnissen der Urkundenschreiber? Resultieren sie aus Terminologiedefiziten (Bezeichnungslücken) der lateinischen Urkundensprache? Sind sie Ausfluss einer Orientierung an lateinunkundigen Empfängern und spiegeln letztlich mündliche Rechtsvorgänge und die kommunikativen Bedürfnisse der beteiligten Urkundsparteien wider? Die beiden ersten Szenarien erklären freilich nicht, weshalb der Mondseer Schreiber die cidlarios seiner Urkunde in der Überschrift mit einer deutschen Flexionsendung versah oder warum in Freising für die genauere Lokalisierung eines Grenzverlaufs das gänzlich unterminologische nidar pi deru lahhun za deru mihilun eihi verwendet wurde. Unverständlich bleiben unter diesem Blickwinkel generell alle Übersetzungsäquivalente des Typs x vulgo y, die gewissermaßen terminologische Redundanzen darstellen. Für eine angemessene Bewertung des Phänomens wäre deshalb die Verwendung der Volkssprache aus dem jeweiligen pragmatisch-kommunikativen Kontext, dem rechts-, sozial- und bildungsgeschichtlichen Hintergrund und den textsortenspezifischen und stilistischen Erfordernissen herzuleiten.136 Eine abschließende Einordnung des Phänomens in das mittelalterliche Spannungsfeld zwischen der „Vatersprache“ Latein und den vernakularen Domänen ist derzeit nicht möglich, da eine Reihe elementarer Fragen noch unbeantwortet ist, etwa die nach der Bedeutung dieses Überlieferungsmodus für die Entwicklung der Rechtssprache. Es ist durchaus unklar, ob in die Traditionslinien, die zur Etablierung der Volkssprachen im Bereich der pragmatischen Schriftlichkeit des Rechts- und Verwaltungswesens führen, auch die Verwendungszusammenhänge volkssprachiger Urkundeninserte gehören,137 ob etwa das Einsickern deutscher Terminologie in die lateinische Schriftlichkeit eine Expansion in neue Funktionsbereiche begünstigt hat. Ganz allgemein bleibt der Platz, den die Insertion in der Überlieferungsgeschichte des Deutschen einnimmt, noch näher zu bestimmen. Stefan Sonderegger betrachtet sie als erste Stufe in einem teleologischen Fünfstufenmodell der „Buchwerdung“ des Deutschen.138 Sie wird dadurch 135 136 137 138

Vgl. Stricker (2003, 111f.). Dazu ausführlich Vitali (2007, Kap. 5.2). So bereits Sonderegger (1958, 203), ablehnend dagegen Vitali (2007, 323). Sonderegger (2003, 175–177).

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in die Rolle eines bescheidenen Anfangs gesetzt, der sein Verdienst wesentlich als Steigbügelhalter entwickelterer Überlieferungsformen erwirbt. Möglicherweise handelt es sich aber eher um eine zwar schwache, aber kontinuierliche Unterströmung der mittelalterlichen Literalität, die zum Spätmittelalter hin merklich anschwoll und schließlich weitgehend in den breiten neuzeitlichen Strom der volkssprachigen Schriftlichkeit einmündete.

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Hans Ulrich Schmid/Sabrina Ulbrich

Überlegungen zu einer historischen „osthochdeutschen“ Sprachgeographie 1. Vorbemerkungen grundsätzlicher Art Historische Sprachwissenschaft hat es mit geschriebenen Texten zu tun. Das gilt natürlich nicht für die allerjüngste Sprachgeschichte, die mit direkt erhobenen Daten arbeiten kann und auch nicht für die vergleichende Sprachwissenschaft, die eigene Methoden der Rekonstruktion beispielsweise des Indogermanischen oder Urgermanischen entwickelt hat, ohne sich direkt auf schriftliche Zeugnisse der Objektzeit stützen zu können. Doch auch bei der Rekonstruktion beispielsweise des Urgermanischen muss von möglichst früh schriftlich überliefertem Datenmaterial ausgegangen werden, seien es urnordische Runeninschriften, die gotische Bibel, der althochdeutsche Abrogans oder der altenglische Beowulf. Historische Wörterbücher, Grammatiken, diachrone Darstellungen von Entwicklungen vom Althochdeutschen über das Mittel- und Frühneuhochdeutsche bis zum Neuhochdeutschen an der Schwelle zum 20. Jahrhundert basieren dagegen grundsätzlich auf geschriebenen Quellen aus der jeweiligen Sprachepoche.1 In der Forschung sind schriftliche Zeugnisse lange Zeit relativ unkritisch auch als direkte Indikatoren sprechsprachlicher Gegebenheiten interpretiert worden. Werner Besch (1967) hat in dem zu seiner Zeit richtungsweisendem Buch über Sprachlandschaften und Sprachausgleich im 15. Jahrhundert ganz dezidiert schreibsprachliche Befunde analysiert, allerdings auf der Basis der Filiation eines einzigen weit verbreiteten Textes, nämlich Ottos von Passau Vierundzwanzig Alten. Bei einem breit überlieferten Einzeltext ist natürlich stets damit zu rechnen, dass Kopisten ihnen fremde Sprachformen toleriert und übernommen haben, die sie selbst so nicht gebraucht hätten. Regionale oder gar lokale Schreibvarietäten kommen deshalb nur bedingt in den Blick. Mit vergleichbarer Methodik, 1

Ob man „typologische“ Spekulationen über Entwicklungsverläufe exotischer Sprachen, die keinerlei schriftliche, geschweige historische Überlieferung besitzen, als „historische Sprachwissenschaft“ bezeichnen kann, sei dahingestellt.

nämlich anhand von Bibelübersetzungen und -glossaren hat Gerhard Ising (1968) versucht, Wortareale ebenfalls für das 15. Jahrhundert zu ermitteln. Mittlerweile sind die Forschung und auch ihre Methodik deutlich weiter. So thematisiert beispielsweise der bereits weit fortgeschrittene „Atlas der mittelniederdeutschen Schreibsprachen“2 explizit die historischen Schreibsprachen im niederdeutschen Raum (im weitesten Sinne der Hansezeit) und deren Entwicklungsverläufe. Für den hochdeutschen Raum fehlt bislang Vergleichbares, sieht man vom historischen südwestdeutschen Sprachatlas3 ab, der sich vorwiegend auf Daten aus Urbaren des 14. Jahrhunderts stützt. Die relativ frühen lokalen und kleinregionalen Varianten des alemannischen Südwestens haben allerdings für die Entwicklungslinien, die letztlich zur neuhochdeutschen Schriftsprache geführt haben, nicht die Bedeutung, die die Vorgänge in dem großen Ausgleichsareal Bayern – Österreich – Ostfranken – Ostmitteldeutschland vom 14. bis zum 17. Jahrhundert hatten. Dieses Gebiet, das die folgende Karte (Abb. 1) mit einer Auswahl wichtiger Zentren zeigt, kann man zusammenfassend als „Osthochdeutsch“ bezeichnen.

Abb. 1: Der „osthochdeutsche“ Sprachraum

In diesem Gebiet kam es spätestens seit dem 15. Jahrhundert zu großräumigen Ausgleichsbewegungen, die sowohl in Einzelheiten als auch in ihren Gesamtlinien bislang allenfalls ausschnittsweise erforscht sind. Infolge der

2 3

Siehe dazu den Beitrag von Robert Peters in diesem Band. Kleiber/Kunze/Löffler (1979).

Überlegungen zu einer historischen „osthochdeutschen“ Sprachgeographie

325

Reformation und der anschließenden Konfessionalisierung der ostoberund ostmitteldeutschen Territorien kam es ab der Mitte des 16. Jahrhunderts allerdings wieder zu folgenreichen Brüchen und Diskontinuitäten. Diese großräumigen kon- und divergenten Entwicklungsverläufe in einem Zeitraum von dreieinhalb Jahrhunderten können nicht in Einzelmonographien geleistet werden, sondern müss(t)en Gegenstand eines größeren kooperativen Projekts sein, zu dessen Konzeption und Perspektiven einige Bemerkungen folgen sollen.

2. Corpusfragen Von der Vorstellung homogener oraler Regional- und Stadtsprachen, deren Struktur man dadurch in den Griff bekommen könnte, dass man möglichst „basisnahe“ Quellen eruiert und auswertet, muss man sich mit Sicherheit verabschieden. Auch für kleinere, besonders aber für größere Städte muss man davon ausgehen, dass es in der Schriftlichkeit verschiedene Varianten – man könnte auch sagen Varietäten – gegeben hat. Für die Mündlichkeit ist selbstverständlich ebenfalls von Sprachschichten auszugehen. Was in entwicklungsgeschichtlichem Zusammenhang interessiert, ist ja gerade die Bandbreite der Varianten, die lokal und regional usuell waren, denn Sprachwandel verläuft generell über die Variation. Um genau diese Bandbreite ausloten zu können, müssen zwar primär solche Texte in ein Untersuchungscorpus eingehen, deren Entstehungsort und -zeit bekannt ist, die für die Rezeption am Ort selbst bestimmt waren. In Betracht kommen deshalb Rats- und Verhörsprotokolle, Verträge, Berichte über stadtgeschichtliche Ereignisse in Stadtbüchern und dergleichen. Auch Urkunden über stadtinterne Rechtsvorgänge können verwendet werden, sofern es sich um Originale, also keine möglicherweise textverändernden Kopialüberlieferungen handelt. Man darf dabei aber nicht der Täuschung unterliegen, dass man es hierbei mit homogenen Stadtsprachen oder gar basisnahen Varietäten zu tun habe. Ein flächendeckendes Corpus wie bei Atlanten heutiger Dialekte wird nicht zu erreichen sein. Deshalb sind Orte mit vergleichbarer Überlieferung und auch Überlieferungsdichte auszuwählen. Das sind nicht nur Zentren von der Größe und Bedeutung wie Dresden, Leipzig, Nürnberg, Regensburg oder Wien. Auch kleinere Orte wie Bautzen in Sachsen, Arnstadt in Thüringen oder Amberg im Bayern verfügen über stattliche und für die Belange eines sprachhistorischen Projekts des beschriebenen Zuschnitts tragfähige Archivbestände. Man wird allerdings nicht umhinkommen, in beträchtlichem Umfang auch bislang unpubliziertes Archivmaterial auszuwerten, das heißt natürlich auch, es vorher zu transkribie-

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Hans Ulrich Schmid/Sabrina Ulbrich

ren. Soweit vorhanden, kann auch mit edierten Texten gearbeitet werden. Doch ist auf jeden Fall deren Zuverlässigkeit zu prüfen, indem wenigstens stichprobenartig die Handschriften verglichen werden.4

3. Sprachliche Parameter Um Kontinuitäten und Diskontinuitäten in Schreibsprachwandelprozessen zu ermitteln und darzustellen, müssen zunächst bestimmte Untersuchungsparameter festgelegt werden. Derzeit liegt eine (vorläufige) Vorschlagsliste von ca. 140 Untersuchungsparametern vor, die sich auf Graphematik, Morphologie, Wortbildung, Lexik und auch Syntax verteilen. Die gesamte Liste kann hier nicht in extenso ausgebreitet, sondern nur durch Beispiele veranschaulicht werden: a. Graphematik: z.B. die Vertretung der hohen Langvokale mhd. î, iu, û (also „neuhochdeutsche Diphthongierung“), der fallenden Diphthonge mhd. ie, üe, uo (also „neuhochdeutsche Monophthongierung) und der steigenden Diphthonge mhd. ei, ou, öu (also qualitativer Diphthongwandel bzw. die regionalsprachliche Monophthongierung). b. Flexionsmorphologie: z.B. die verschiedenen Paradigmenausgleiche bei Verb, die Numerusdifferenzierung beim Substantiv, die Varianz bei Pronomina. c. Wortbildungsmorphologie: Funktion und Verteilung bestimmter Präund Suffixe. d. Syntax: adverbiale und adnominale Negation, Einbettung von Relativsätzen, Ausdruck von Konditionalität, Kausalität usw. e. Lexik: Heteronymie in verschiedenen appellativischen Wortschatzbereichen (Berufs- und Personenbezeichnungen, Wochentage) und bei synsemantischen Funktionswörtern (Präpositionen, Sub- und Konjunktionen).

4

Das Problem der neuerdings in der sprachhistorischen Diskussion stark betonten unabdingbaren „Handschriftentreue“ sei hier ausgeklammert. Es wäre ein eigenes Thema. Wir sind nur der Auffassung, dass auch Historiker-Editionen brauchbarer sind, als vielfach behauptet wird und Editionen keine Handschriftenimitate zu sein haben.

Überlegungen zu einer historischen „osthochdeutschen“ Sprachgeographie

327

4. „Probebohrungen“ Abschließend sollen die Resultate einiger Probebohrungen gezeigt werden, anhand deren die Ergiebigkeit der Fragestellung ausgetestet werden sollte. 4.1 Graphematik: Vertretung von mhd. û im Ostmitteldeutschen (ca. 1450 und 1500) Die Entscheidung fiel auf dieses „klassische“ Kriterium, weil es bereits in den genannten Arbeiten von Frings und Besch (und öfter) thematisiert worden ist. Die Präposition uf bzw. auf in ihren verschiedenen Varianten wurde ausgeklammert, da sie schwachtonige Sonderentwicklungen aufweist. Stadtbucheinträge in Dresden5 1445–55 zeigen in diesem Punkt folgendes Bild:

Abb. 2: Mono- und Digraphen für mhd. û in Dresden (1444–45)

Es dominiert ganz eindeutig die Graphie 〈u〉. Die Werte für 〈au〉 und besonders 〈aw〉 sind dadurch zustande gekommen, dass das häufig vorkommende Lexem ‚Haus‘ vielfach mit 〈aw〉 geschrieben wird, einige Male auch verlawtbart. Hier deutet sich ein Phänomen an, das sich immer wieder beobachten lässt: die Lexembindung von Graphien, die jede statistische Aussage in Frage stellt, die undifferenziert nur auf schriftlichen Features

5

Kübler/Oberste (2007; 2008).

Hans Ulrich Schmid/Sabrina Ulbrich

328

basiert. Wenn die auffallenden 〈au〉- und 〈aw〉-Schreibungen im Lexem ‚Haus‘ herausgerechnet würden, hätten in Dresden die 〈u〉-Graphien für mhd. nj um die Mitte des 15. Jahrhunderts noch nahezu Exklusivgeltung. Ähnlich stellen sich in etwa gleichzeitig die Verhältnisse in Zwickau6 dar:

Abb. 3: Mono- und Digraphen für mhd. û in Zwickau (1448–54)

Auch hier dominieren ganz eindeutig die 〈u〉-Graphien. Die wenigen 〈au〉Graphien zeigen zwar keine ganz so klare Lexembindung wie zur selben Zeit in Dresden, doch findet sich neben einer Reihe von hus-Belegen auch zweimal haus. Die Mehrzahl der 〈au〉-Schreibungen zeigt sich bei auß als Präposition oder in Adverbialkomposita wie zuvorauß. Diese Schreibungen häufen sich auffällig in den Jahrgängen 1453 und 1454. 50 Jahre später, in den Jahren 1499 bis 1501, haben sich die Verhältnisse im Dresdener Stadtbuch grundlegend verändert:

6

Protze (2008).

Überlegungen zu einer historischen „osthochdeutschen“ Sprachgeographie

329

Abb. 4: Mono- und Digraphen für mhd. û in Dresden (1499–1501)

In etwa 93% der Fälle ist mhd. nj diphthongiert. Nur noch 7% weisen die 〈u〉-Schreibung auf. Dabei handelt es sich durchwegs um das Verbalpräfix uff- (wie z.B. in uffgeboten). Rechnete man diese Fälle heraus, erhielte man annähernd 100 Prozent Digraphen. Für Leipzig im Jahr 1500 ergibt sich aus dem Material folgendes Bild:

Abb. 5: Mono- und Digraphen für mhd. û in Leipzig (1500)

Hier dominieren ähnlich wie Dresden 1499–1501, aber noch nicht mit derselben Deutlichkeit (80% gegenüber 93%), die Digraphen. 〈au〉 und 〈aw〉 halten sich in Leipzig ungefähr die Waage. Die 〈u〉-Schreibungen

Hans Ulrich Schmid/Sabrina Ulbrich

330

schlagen mit ca. 20% zu Buche. Etwas präziser wird das Bild, wenn man auch hier die Lexemzuordnung berücksichtigt. Am beharrlichsten bleiben Wortbildungen mit uß- ‚aus-‘ (z.B. ußlendisch) und uf- ‚auf-‘ (z.B. uffbracht) bei der 〈u〉-Schreibung (die Präpositionen ‚aus‘ und ‚auf‘ sind nicht berücksichtigt). Zudem fällt auf, dass hier mehrmals die Schreibung huß ‚Haus‘ erscheint. Für alle drei Gruppen überwiegen jedoch ebenfalls die Diphthonggraphien bereits deutlich. In der Regel heißt es auß-, haus und auf-. Es handelt sich bei den 〈u〉-Schreibungen in Leipzig 1500 um Reliktgraphien. Zusammenfassend ergibt sich für die drei sächsischen Orte Dresden, Leipzig, Zwickau Dominanz der 〈u〉-Graphien um die Jahrhundertmitte (ca. 1450). Lexemgebundene Diphthongschreibungen kündigen aber bereits den bevorstehenden Wandel an. Im Laufe der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts scheint sich der Übergang zu den Diphthonggraphien vollzogen zu haben, denn um 1500 sind nur noch einzelne lexemgebundene „Rückstände“ übrig. Stellvertretend für Thüringen wurden Rechnungsbücher aus Altenburg7 (1449–50) und aus dem Wallfahrtsort Grimmenthal8 (1498–1506) ausgewertet. Um die Jahrhundertmitte dominieren in der Altenburger Quelle noch die Monophthonggraphien.

Abb. 6: Mono- und Digraphen für mhd. û in Altenburg (1499–1500)

7 8

Streich (2000). Mötsch (2000).

Überlegungen zu einer historischen „osthochdeutschen“ Sprachgeographie

331

Die acht Prozent für die 〈u〉-Graphien entfallen lediglich auf ein Einzellexem, nämlich kapphaun. Möglicherweise hat man die Hähnchenmastprodukte sozusagen samt zugehörigen Diphthongen aus dem Süden importiert. Im ebenfalls thüringischen Grimmenthal haben sich um die Digraphen 〈au〉 und 〈aw〉 für mhd. û restlos durchgesetzt.

Abb. 7: Mono- und Digraphen für mhd. û in Grimmenthal (1498–1506)

Die beiden Thüringer Orte zeigen also nahezu das gleiche Bild wie die drei sächsischen Städte: Dominanz der Monophthonggraphien noch um die Mitte des 15. Jahrhunderts, Durchsetzung der Diphthonggraphien um 1500. 5.2 Das maskuline Personalpronomen ‚er‘ Im ostmitteldeutschen Großareal kann dieses Pronomen auf drei Weisen realisiert sein, als er, her oder he. In den Dresdener Stadtbucheinträgen (1449–1501) dominiert deutlich die Form er. Nur sehr sporadisch ist her eingesprengt.

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Hans Ulrich Schmid/Sabrina Ulbrich

Abb. 8: ‚er‘ in Dresden (1445–55)

Diese Relation besteht in Dresden sehr ähnlich auch 50 Jahre später; die Verhältnisse haben sich nur nochmals zugunsten von er verschoben; her kommt nur höchst selten vor.

Abb. 9: ‚er‘ in Dresden (1499–1501)

Deutlich anders stellen sich Dinge im Jahre 1500 im Leipziger Stadtbuch dar: Hier dominiert eindeutig her; er kommt nur als Nebenform vor:

Überlegungen zu einer historischen „osthochdeutschen“ Sprachgeographie

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Abb. 10: ‚er‘ in Leipzig (1500)

Die Zwickauer Stadtbucheinträge aus der Mitte des 15. Jh. kennen nur oberdeutsches er; he und her sind überhaupt nicht vertreten (eine Graphik erübrigt sich). Anders stellt sich die Lage in den Thüringer Quellen dar. In den älteren Altenburger Rechnungen dominiert um die Jahrhundertmitte das „ingväonische“ he; doch erscheinen als Nebenformen auch her und er, und zwar in folgender Relation:

Abb. 11: ‚er‘ in Altenburg (1449–50)

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Hans Ulrich Schmid/Sabrina Ulbrich

In Grimmenthal zeigt sich rund fünfzig Jahre später eine völlig veränderte Situation:

Abb. 12: ‚er‘ in Grimmenthal (1498–1506)

Es konkurrieren nun her und er, wobei her deutlich überwiegt. Es liegt in der Natur von Probebohrungen, dass sie nur punktuelle Daten zutage fördern. Von Interesse wäre es, zu ermitteln, wann, wo und auf welchem sozialen und kommunikativen Schreibniveau die Entscheidung zugunsten von er und zuungunsten von er und her gefallen ist, die ja dialektal noch weiterleben. 5.3 Syntaktisches Die Syntax gehört bislang nicht zu den bevorzugten Teilbereichen der historischen Sprachgeographie. Dass bestimmte syntaktische Strukturen areale Verbreitungen zeigen, weiß man aber aus den rezenten Dialekten (vgl. etwa Fleischer 2004). Entsprechendes ist ohne Zweifel auch für historische Sprachstadien anzunehmen. Deshalb sollen in ein historisch-sprachgeographisches Projekt auch syntaktische Aspekte einbezogen werden. Zwei syntaktische Aspekte wurden exemplarisch herausgegriffen: der Anschluss relativer Attributsätze und die adnominale Negation.

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5.3.1 Relative Attributsätze Auf älteren Stufen des Deutschen konnten Relativsätze asyndetisch, pronominal oder mit Relativpartikel angeschlossen werden (hierzu überblicksweise Ebert/Reichmann/Solms/Wegera 1993, 444–451). Der asyndetische Typus kommt im probeweise untersuchten Material nicht vor. Die älteren Dresdener Stadtbucheinträge (1445–55) kennen nur die Relativsatzeinleitung mit Pronomen, also Sätze des Typs an den dreißig schocken, die er ym schuldig was. Gleiches gilt für die älteren Altenburger (1449–50) und ebenso für die jüngeren Grimmenthaler Rechnungsbücher (1498–1506). Auch die analysierten Quellen aus Zwickau (1448–54) kennen nur den relativen Anschlusstypus. Deutlich anders stellt sich jedoch das Bild in den sächsischen Städten Dresden und Leipzig um das Jahr 1500 dar. Hier überwiegen die Einleitungen mit so, also Gefüge wie beispielsweise bey verlust des erbgeldis, so er zuvor uffs hause gegeben habe. In Dresdener Stadtbucheinträgen von 1499 bis 1501 überwiegen die so-Einleitungen gegenüber den relativen Anschlüssen um das Doppelte:

Abb. 13: Einleitung relativer Attributsätze in Dresden (1499–1501)

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Hans Ulrich Schmid/Sabrina Ulbrich

Für Leipzig ließ sich ein fast ausgeglichenes Verhältnis feststellen:

Abb. 14: Einleitung relativer Attributsätze in Leipzig (1500)

Die Relativsatzeinleitung mit so ist also allem Anschein nach ein Strukturtyp, der im Laufe des späteren 15. Jahrhunderts in den Stadtschreibsprachen von Leipzig und Dresden in Konkurrenz zum pronominalen Typus tritt und sich teilweise dagegen durchsetzt, ihn aber nicht völlig verdrängt. Vergleicht man in diesem Punkt auch Thüringische Landtagsakten von ca. 1500, so zeigt sich, dass auch hier die so-Einleitung in etwa dieselbe Verwendungshäufigkeit aufweist wie die pronominale Einleitung. Die Werte stimmen also zu denen von Leipzig und Dresden. Zwar sollen aufgrund von „Probebohrungen“ keine vorschnellen Schlüsse gezogen werden, doch könnte im Sinne einer Arbeitshypothese der Befund dahingehend zu deuten sein, dass Kanzleien großer Städte wie Leipzig und Dresden mit überregional agierenden territorialen Kanzleien konform gehen, sich also dem als „modern“ empfundenen so-Typus öffnen, während gleichzeitig in kleineren Schreibstuben – Beispiel Grimmenthal – der ältere pronominale Anschlusstyp fortgeführt wird. Eine größere zeitliche und räumliche Dichte könnte Aufschluss über die genauen Verläufe bringen.

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5.3.2 Negation mit ‚kein‘ Die Syntax der Negation mit kein zeigt noch heute dialektale und regionalsprachliche Varianten: Im oberdeutschen Süden dominiert die „doppelte“ Verneinung mit kein und nicht (oder einem anderen Negationsadverb), in der Mitte und im Norden ist die „einfache“ Verneinung die nahezu ausnahmslose Regel. Diese Verteilung hat historische Wurzeln, ist bislang aber kaum auf philologischer Datenbasis untersucht worden.9 Für diese „Probebohrungen“ wurden Verwendungsweisen von ‚kein‘ (bzw. seiner älteren Schreibvarianten wie dehein u.ä.) anhand von 236 ostmitteldeutschen und bairischen Urkunden vom späten 13. bis zum frühen 16. Jahrhundert analysiert (Ulbrich 2009). Der Schwerpunkt lag dabei auf dem ostmitteldeutschen Material. Die Verwendung als (positives) Indefinitpronomen lässt sich nur noch in den ältesten der untersuchten Texte greifen. Im untersuchten Urkundencorpus erschien diese Verwendungsweise im ostmitteldeutschen Material in einer Weimarer Urkunden von 1475, im Oberdeutschen in einer Münchener Quelle von 1400. Im Ostmitteldeutschen dominiert bis ca. 1350 die doppelte Negation mit kein und weiterem (adverbialem) Negator gegenüber einfacher Negation mit etwa 60% zu 40%. Ab der Jahrhundertmitte verändert sich das Verhältnis zugunsten der einfachen Negation. Ab 1525 kommt in den untersuchten ostmitteldeutschen Texten keine doppelte Negation mit kein plus nicht (o.ä.) mehr vor:

9

An empiriefreien, theoretischen Spekulationen zum Thema Negation hat es dagegen keinen Mangel. Arbeiten wie beispielsweise Donhauser (1996) basieren nicht auf systematisch ausgewerteten Textcorpora, sondern verwenden Einzelbelege zur Illustration theoretischer Vorannahmen.

„kein“ + Neg.element

adnom. Negation nur mit „kein“

Abb. 15 bis 17: kein (u.ä.) in ostmitteldeutschen Quellen (1300–1525) – Abb. 18 bis 20: kein (u.ä.) in bairischen Quellen (1300–1525)

„kein“ als pos. Indefinitpronomen

0,00%

40,00% 20,00%

80,00% 60,00%

100,00%

Ostmitteldeutsch um 1300

338 Hans Ulrich Schmid/Sabrina Ulbrich

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Anders stellen sich die Dinge in den untersuchten oberdeutschen (bairischen) Quellen dar: Hier besteht phasenweise ein Nebeneinander von doppelter und einfacher Negation mit dechein, kain (u.ä.). Das ist als deutlicher Hinweis darauf zu werten, dass die heute in den gesprochenen bairischen Dialekten noch vorhandene Negation mit kein ältere Verhältnisse bruchlos fortsetzt und nicht etwa als dialektale Neuerung zu werten ist. Die Ergebnisse sind allerdings nur vorläufiger Art. Die Entwicklungen müssten auf einem breiteren (auch verschiedene Textsorten umfassenden) Corpus untersucht werden.

6. Schlussüberlegungen Es wurde mehrmals deutlich gemacht, dass es bei dem geplanten Projekt (mit dem vorläufigen Arbeitstitel „Sprachwandel im Raum“, kurz SIR) explizit um die geschriebenen Varietäten des eingangs umrissenen „osthochdeutschen“10 Raumes geht. Die Bandbreite dessen, was sich in geschriebenen Quellen findet, kann zumindest in dem eingangs skizzierten (sprach-)geographischen Areal keine sprechsprachlichen Gegebenheiten abbilden. Dennoch stellt sich die Frage, inwieweit Schreibungen Rückschlüsse auf die gesprochene Sprache zulassen. Oder anders gefragt: Sind Schreibungen potentielle Direktanzeigen für Lautungen? Geben die in der Schriftlichkeit gebräuchlichen Wortformen die in der mündlichen Kommunikation verwendeten wieder? Sind Satzstrukturen in schriftlich fixierten Texten identisch mit denen der mündlichen Äußerung? Die Varianz, die die Probebohrungen in all diesen Bereichen zutage gefördert haben, spricht für sich genommen schon dagegen. Ein Weiteres kommt hinzu: Wenn man „gesprochene Sprache“ länger zurückliegender Entwicklungsstadien thematisiert, was meint man damit eigentlich? Die Sprache der Patrizier? der literarisch Gebildeten? der Kaufleute, Handwerker und Ackerbürger? oder die der Bettler, Vaganten und Abdecker? Letzteres wohl kaum, aber es soll, indem auf solche Unschärfen hingewiesen wird, nur gezeigt werden, dass es angeraten ist, wenn man geschriebene historische Texte analysiert, nicht vorschnelle Rückschlüsse auf „die“ gesprochene Sprache zu ziehen. Wir müssen uns stets dessen bewusst bleiben, dass wir es bei allen überlieferten Zeugnissen mit einer abgelei-

10 Im „osthochdeutschen“ Raum herrschen aufgrund der geopolitischen Bedingungen allem Anschein nach andere Rahmenbedingungen als im Westmitteldeutschen. Für Städte wie etwa Duisburg ist das Verhältnis von historischer Schriftlichkeit und Mündlichkeit anders zu bestimmen. Vgl. beispielsweise Mihm (2004).

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teten Sprachsphäre zu tun haben, die ihren eigenen Konventionen folgt. Dass sich in Zeiten, in denen es weder Aussprachewörterbücher gab, noch Grammatikduden oder Handbücher für guten Sprachgebrauch, geschriebene und gesprochene Sprache stärker interagierten als heute, darf füglich angenommen werden. Aber ehe man sich daran macht, vom sicheren Boden der wirklich überlieferten Schriftlichkeit aus Rückschlüsse auf eine natürlich historisch existente, aber eben nicht dokumentierte Mündlichkeit zu ziehen, müssten möglichst feinmaschig diachron und diatopisch, möglichst auch diastratisch sowohl Kontinuitäten als auch Brüche in der Entwicklung der Schriftlichkeit erhoben und dokumentiert werden, und das auf der Grundlage einer tragfähigen Datenbasis.

Literatur Besch, Werner (1967): Sprachlandschaften und Sprachausgleich im 15. Jahrhundert. Studien zur Erforschung der spätmittelhochdeutschen Schreibdialekte und zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache, München. Donhauser, Karin (1996): Negationssyntax in der deutschen Sprachgeschichte. Grammatikalisierung oder Degrammatikalisierung, in: Lang, Ewald/Zifonun, Gisela (Hg.): Deutsch – typologisch, Berlin/New York, 201–217. Ebert, Robert Peter/Reichmann, Oskar/Solms, Hans-Joachim/Wegera, Klaus-Peter (1993): Frühneuhochdeutsche Grammatik, Tübingen, 444–451. Fleischer, Jürg (2004): Zur Typologie des Relativsatzes in den Dialekten des Deutschen, in: Patocka, Franz/Wiesinger, Peter (2004): Morphologie und Syntax deutscher Dialekte, Wien, 60–83. Ising, Gerhard (1968): Zur Wortgeographie spätmittelalterlicher deutscher Schriftdialekte. Eine Darstellung auf der Grundlage der Wortwahl von Bibelübersetzungen und Glossaren, 2 Teile, Berlin. Kleiber, Wolfgang/Kunze, Konrad/Löffler, Heinrich (1979): Historischer Südwestdeutscher Sprachatlas. Aufgrund von Urbaren des 13. bis 15. Jahrhunderts, 2 Bde., Bern. Kübler, Thomas/Oberste, Jörg (Hg.) (2007): Die drei ältesten Stadtbücher Dresdens (1404–1476), Leipzig 2007. Kübler, Thomas/Oberste, Jörg (Hg.) (2008): Das vierte und fünfte Stadtbuch Dresdens (1477–1505), Leipzig. Mihm, Arend (2004): Zur Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Schreibsprachen und historischer Mündlichkeit, in: Patocka, Franz/Wiesinger, Peter (Hg.): Morphologie und Syntax deutscher Dialekte, Wien, 340–382. Mötsch, Johannes (2000): Die Wallfahrt zu Grimmenthal. Urkunden, Rechnungen, Mirakelbuch, Köln/Weimar/Wien. Patocka, Franz/Wiesinger, Peter (Hg.) (2004): Morphologie und Syntax deutscher Dialekte. Beiträge zum 1. Kongress der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen, Marburg/Lahn 5.–8. März 2003, Wien. Protze, Helmut (2008): Das älteste Zwickauer Stadtbuch (1375–1481) und seine Sprache, Frankfurt am Main u.a.

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Streich, Brigitte (2000): Das Amt Altenburg im 15. Jahrhundert. Zur Praxis der kursächsischen Lokalverwaltung im Mittelalter, Weimar. Ulbrich, Sabrina (2009): Zum Funktionswandel des Negationswortes kein. Eine textbasierte Untersuchung, Magisterarbeit, Leipzig.