Dilthey und Cassirer: Die Deutung der Neuzeit als Muster von Geistes- und Kulturgeschichte 9783787323746, 9783787316205

In diesem Band der "Cassirer-Forschungen" werden nicht die bekannteren Gegensätze wie Hermeneutik versus Neuka

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Dilthey und Cassirer: Die Deutung der Neuzeit als Muster von Geistes- und Kulturgeschichte
 9783787323746, 9783787316205

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CASSIRER-FORSCHUNGEN

CASSIRER-FORSCHUNGEN

Band 10

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Thomas Leinkauf (Hg.)

Dilthey und Cassirer Die Deutung der Neuzeit als Muster von Geistes- und Kulturgeschichte

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung. © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2003. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: work:at:BOOK / Martin Eberhardt, Berlin. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Schaumann, Darmstadt. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Inhalt

Thomas Leinkauf Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stephan Otto Ungelöste Probleme in Diltheys und Cassirers Renaissancedeutung. Überlegungen zu den Prämissen und Methoden einer ideengeschichtlichen Rekonstruktion der frühen Neuzeit . . . . . . .

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Rudolf A. Makkreel Dilthey and Cassirer on the Development of Modern Aesthetics

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Martin Mulsow Diltheys Deutung der »Geisteswissenschaften« des 17. Jahrhunderts. Revisionen, Aktualisierungen, Transformationen . . . . .

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Giuseppe Cacciatore Die Idee der Moderne bei Dilthey und Cassirer . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Enno Rudolph Die Renaissance − frühe Phase der Neuzeit oder Epoche sui generis? Eine Frage an Wilhelm Dilthey und Ernst Cassirer . .

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Helmut Holzhey Diltheys Sicht auf die Aufklärung des 18. Jahrhunderts in seinen Studien zur Geschichte des deutschen Geistes . . . . . . . . . . . . . . .

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Ursula Renz Cassirers Idee der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gunter Scholtz Dilthey, Cassirer und die Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gerald Hartung Die Entdeckung des Menschen im Zeitalter der Renaissance. Dilthey, Groethuysen und Cassirer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thomas Leinkauf Zur Einführung In der thematischen Verbindung ›Dilthey und Cassirer‹, die als Leitmotiv den intensiven und durchaus kontroversen Diskussionen voranstand, deren Dokument die hier vorgelegten Beiträge sind, könnte der Leser zunächst und mit gutem Recht die Konjunktion ›und‹ nicht als eine verbindende oder gar epexegetische (in der Cassirer als ein anderer Dilthey insinuiert sein könnte), sondern, wie es grammatikalisch-syntaktisch ja auch möglich ist, eine bloß additive, aufreihende, parataktische Bedeutung vermuten, die letztlich, in der bloßen Nebeneinanderstellung, das Beziehungslose oder Trennende betont: denn ›Dilthey und Cassirer‹, das evoziert doch einen großen Gegensatz, der sich aus vielen kleineren gegensätzlichen Konstellationen gleichsam zusammenzusetzen und zu ernähren scheint: aus von Schleiermacher ausgehender Hermeneutik versus Neukantianismus, aus Erleben und Verstehen versus Erkennen und Erkenntniskritik, aus Leben versus Funktion, um nur die naheliegenden zu nennen. Genau diese offensichtlichen Gegenstrebigkeiten sind es jedoch, die, weil bekannt und oft genug betont, nicht den zentralen Gegenstand der Beiträge bilden werden, obgleich sie natürlich in keinster Weise zugedeckt werden sollen. Es geht vielmehr um die andere, näherliegende, verbindende Bedeutung des ›und‹: ›Dilthey und Cassirer‹ nicht als Gegensatz, sondern als affine Konstellation. Denn neben die genannten Oppositionen lassen sich eben auch Gemeinsamkeiten stellen, ich nenne nur: den Begriff des ›Geistes‹,1 die Zentrierung des philosophischen Argumentes auf Einheit und Ganzheit bzw. genauer: Einheit als Ganzheit,2 die Definition von Wirklichkeit durch einen Begriff von »Energie«, der sich als und in der Freiheit des Geistes oder der Person äußert,3 das Konzept Z. B. Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Gesammelte Schriften [ Leipzig 1927 ] Stuttgart / Göttingen 1992 (im folgenden: GS), Bd. VII, S. 117–119, 148–151; Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Berlin 1927, S. 30. 2 Z. B. Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (Anm. 1), S. 40 f., 154, 159 (Lebenseinheit), 199; Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. I, S. VI (Vorrede); Philosophie der symbolischen Formen (1923), Darmstadt, 2. Aufl. 1954, Bd. I, S. 22, 37–38, 56; II, S. VIII. 3 Wilhelm Dilthey, GS II, S. 24, 48, 60, 67, 70, 212 f. (Person), 215, 229, 416 f. (Person); GS VII, S. 7, 70. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (siehe Anm. 2), Bd. I, S. 11 (ursprüngliche Tat des Geistes), 23, 48, 87–88, 132 f.; Bd. 2, S. 7, 30, 235, 244–245 (Person), 259. 1

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von Individualität,4 die Betonung des Verstehens,5 die kritische Auseinandersetzung mit Kant und Hegel und eben – das ist der Sachverhalt, der in den Beiträgen der am Gespräch beteiligten Experten bei aller Verschiedenheit als gemeinsamer point de depart fungierte – die unabweisbare und auffällige Tatsache, daß beide, Dilthey ebenso wie auch Cassirer, die Argumentations- und Erschließungskraft ihrer Grundgedanken jeweils vor allem am Paradigma der die philosophische Moderne einleitenden und in wesentlichen Zügen zugleich konstituierenden Epoche der Renaissance beziehungsweise der Frühen Neuzeit erprobt haben und also – merkwürdig genug – nicht auf die antike Philosophie, auf Platon oder Aristoteles, als hauptsächliche Bewährungsinstanzen zurückgegriffen haben.6 Auch scheint es, schaut man auf die jeweilige Werkgenese, zusätzlich so zu sein, daß beide nicht nur schon vorhandene Konzepte an ein historisches Substrat herangetragen haben, sondern daß es gerade auch diese ihre Grundgedanken und Grundbegriffe selbst sind, die sich in ihrer jeweiligen Rekonstruktion der Neuzeit zu immer schärferer Kontur erst herausgebildet haben. Das Ringen um einen tragfähigen Begriff der Neuzeit und um eine auf dessen Basis mögliche zureichende Darstellung von deren Entwicklung, die Entwicklung gerade auch als Ausdruck innerer, d. h. geistiger Prozesse versteht, als Geistes-Geschichte, erscheint als unablösbar vom Ringen um die jeweilige Position des eigenen Denkens. Die Heroen einer solchen Geschichte der Neuzeit sind daher eben andere als die gewohnten dramatis personae des Historischen: es sind Ideen, die sich zur »Ideengeschichte« fügen, Gedanken und geistige Perspektiven, die Z. B. Wilhelm Dilthey, GS II, S. 17–18 (individuelle Kraft), 21, 42, 48; GS VII, S. 213, 256–258. Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos (s. Anm. 1), S. 37, 59 (Individualität als neue geistige Grundform der Renaissance), 101. 5 Wilhelm Dilthey, GS VII, S. 118–119, 148. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil (1929) (s. Anm. 2), Bd. III, S. 74. Hintergrund bildet hierbei unter anderem die Hegelsche Konzeption des »Verstehens«, wie sie etwa in den späten Berliner Vorlesungen »Über die Philosophie der Religion« an einigen Stellen durchscheint: »Diese Vorstellung (sc. die christliche, daß in der »unmittelbaren Endlichkeit des Menschen das Absolute verehrt werden soll«) ist aber verstehen zu lernen, und indem wir sie verstehen, rechtfertigen wir sie; wir zeigen, wie sie ihren Grund hat, ihr Vernünftiges, eine Stelle in der Vernunft. Aber es gehört auch dazu, daß wir ihren Mangel einsehen. Wir müssen einsehen bei den Religionen, daß es nicht bloß Sinnloses ist, Unvernünftiges. Das Wichtigere ist aber, das Wahre zu erkennen, wie es mit der Vernunft zusammenhängt, und das ist schwerer, als etwas für sinnlos zu erklären« (Werke, Frankfurt / M 1970 ff, Bd. 16, S. 378). 6 Für Dilthey vgl. etwa die Sammlung von Abhandlungen unter dem Titel: »Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation«, in: GS II, Leipzig 1914. Für Cassirer »Das Erkenntnisproblem« (s. Anm. 2) und vor allem »Individuum und Kosmos« (s. Anm. 1). 4

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ihre »Wirkungsgeschichte« besitzen, gegenstrebige und sich ablösende Denkströmungen, die sich in einem grundsätzlichen Muster von Denkformen, von »Weltanschauungen« nachzeichnen und in ein »natürliches System« bringen lassen – alle diese Formen, die Ideengeschichte, die Wirkungsgeschichte, die Weltanschauungen, das natürliche System der Geisteswissenschaften allerdings mit nicht nur archivierend-sortierender, sondern mit dynamisch-heuristischer Implikation für die eigene Zeit, für das eigene Denken.7 Aber, und hier gilt es eine hermeneutische ™poc¾ einzuschalten, um Klarheit über Affinität oder Gegensatz zu erhalten, ist natürlich beim Vergleich dieser beiden, wie bei dem aller anderen Autoren zu beachten: so wie in den Differenzen das Gemeinsame gesucht werden kann, so daß präsent gehalten wird, daß mit verschiedenen Begriffen etwa auf dasselbe abgezielt wird, so kann und soll bei den Gemeinsamkeiten auch auf die Differenz abgehoben werden oder die Möglichkeit im Blick bleiben, daß mit identischen Begriffen Verschiedenes gemeint sein kann. Wenn es hier also um Gemeinsames der beiden Denker in bezug auf ihre Auseinandersetzung mit und Orientierung an der Neuzeit gehen soll, so doch nicht zu Lasten des Unterschiedes, der sie in dem Ausziehen der Linien, die vielleicht einer gemeinsamen Wurzel entspringen, unaufhebbar auszeichnet und eben dadurch jeden für sich und auch im Gegensatz interessant macht. Der mögliche und in der von mir konzipierten Themen- und Aufgabenstellung unserer Diskussion nahegelegte Zusammenhang zwischen dem Denken Diltheys und Cassirers wird in der Forschung eher weniger beachtet,8 obgleich es Anhaltspunkte eines Einflusses Diltheys auf Cassi-

So sieht etwa Heinz Paetzold, Ernst Cassirer zur Einführung, Hamburg 1993, S. 11 in der Abhandlung »Individuum und Kosmos« »eine kulturphilosophische Deutung der Ursprünge der Moderne«. Thomas Knoppe, Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers. Zu den Grundlagen transzendentaler Wissenschafts- und Kulturtheorie, Hamburg 1992, bes. Kap. 3: Philosophie und Philosophiegeschichte, S. 49–61; vgl. auch Oskar Schwemmer, Cassirers Bild der Renaissance, in: E. Rudolph / B.-O. Küppers (Hg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995, S. 255–258. 8 Ernst Wolfgang Orth, der in die von ihm herausgegebene Aufsatzsammlung »Dilthey und der Wandel des Philosophiebegriffs seit dem 19. Jahrhundert«, Freiburg / München 1984 keinen Beitrag zum Problem Dilthey – Cassirer aufgenommen hat, hebt doch in seiner Einleitung zu: »Dilthey und die Philosophie der Gegenwart«, Freiburg / München 1985, S. 27 hervor, daß das Verhältnis Diltheys zu Cassirer – wie etwa auch das zu Plessner – nicht zureichend geklärt sei. In Oskar Schwemmers Buch »Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne«, Berlin 1997, bes. Kap. 5: Cassirers Bild der Renaissance S. 221–242, wird Dilthey nicht (nicht einmal im Index) erwähnt, ebenso fällt Dilthey völlig aus bei Heinz Paetzold, Ernst Cassirer zur Einführung, (s. Anm. 7). Rudolf A. Makkreel verweist ebenfalls in seiner 1975 7

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rer und einer Auseinandersetzung Cassirers mit Dilthey durchaus gibt.9 Letztere ist insbesondere in der aus dem Nachlaß veröffentlichten Abhandlung Zur Metaphysik der symbolischen Formen präsent.10 Die Spannweite, die durch den Ansatz beider Autoren abgesteckt ist, läßt sich, nehmen wir nochmal einen Anlauf, in ihrer Gegensätzlichkeit wie folgt skizzieren: bei Dilthey die Bedeutung, die der Indvidualität als durch einen hermeneutischen Näherungsprozeß zu erreichendes Ziel des »Verstehens« beigemessen wird, das durch die Kategorie »Erlebnis« individuell-biographische und historische Tiefendimension gewinnen will – gegen ein verrechnendes, kalkulierendes Ausmessen des individuellen Lebens wird dabei die »Unerschöpflichkeit« von dessen natürlichem Selbstvollerschienen Dilthey-Monographie ganz richtig darauf hin, daß »Diltheys Position zu vielen dieser methodischen Probleme [ sc. die bei der Konstitution einer Geistes- bzw. Kulturwissenschaft zu beachten sind ] (. . .) derjenigen Ernst Cassirers vergleichbar« ist, daß andererseits »Cassirer (. . .) Diltheys Versuch, menschliche Erzeugnisse durch das Studium ihrer strukturellen Zusammenhänge zu verstehen, viel näher (kommt)« als etwa Windelband und Rickert, vgl. Rudolf A. Makkreel, Dilthey. Philosoph der Geisteswissenschaften, Frankfurt / M 1991, S. 385–386. Makkreel hat dann einen instruktiven Vergleich Dilthey – Cassirer in dem von Dorothea Frede und Reinhold Schmücker herausgegebenen Sammelband »Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie«, Darmstadt 1997 (Cassirer zwischen Kant und Dilthey, a. a. O., S. 145–162) vorgelegt. Eine »affinità metodologica« zwischen Dilthey und Cassirer konstatiert auch Giuseppe Cacciatore, Scienza e filosofia in Dilthey, Napoli 1976, Vol. II, S. 43, Anm. Auch Stephan Otto, der in seiner »Rekonstruktion der Geschichte. Zur Kritik der historischen Vernunft«, München 1982 (Bd. 1) und 1992 (Bd. 2), nicht umfassend auf das Verhältnis des Diltheyschen und Cassirerschen Begriffs von Geschichte bzw. Geistesgeschichte eingeht, verweist doch zumindest darauf, daß Cassirer, der gegenüber Dilthey entschiedener die Konsequenz des kritischen Standpunktes hinsichtlich des Problems geistesgeschichtlicher Erkenntnis gezogen hätte, wenn er betont habe, daß Geschichte nicht gegeben sei (Dilthey), sondern »kraft gedanklicher Synthese« gemacht werde (Das Erkenntnisproblem [ s. Anm. 2 ], Bd. I, S. 15), dennoch auf Diltheys »richtungsweisenden« Einsichten in die Notwendigkeit einer Kritik der historischen Vernunft basiere, vgl. Bd. I, S. 57–58. 9 Vgl. den Hinweis von E. W. Orth (s. Anm. 8), S. 27 auf Cassirers positive Würdigung Diltheys in der Abhandlung »Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart«, in: Göteborgs Högskolas Arsskrift XLV (1939) , 1–119 im fünften Kapitel »Zur Logik der ›Geisteswissenschaften‹« (109–119) sowie die Bemerkungen und Hinweise von John M. Krois, Cassirer. Symbolic forms and history, S. XI, 124–125, Rudolf A. Makkreel, Dilthey. Philosoph der Geisteswissenschaften (s. Anm. 8), S. 454 f., 464 f. und Th. Knoppe, Das Leben: ein Traum. Ernst Cassirer und die Lebensphilosophie, in: E. W. Orth / Helmut Holzhey (Hgg), Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, Würzburg 1994, S. 457–473. 10 Vgl. Ernst Cassirer, Über Basisphänomene, in: Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, Hamburg 1995, S. 159 ff.: Dilthey tue nach »dem Zusammenbruch der Hegelschen Metaphysik« den »entscheidenden Schritt«, die Welt des Menschen »aus ihr allein, aus der Geschichte der Menschheit und aus ihrer Struktur« zu befragen; er setze die Struktur des Erlebens gegen die Konstruktion aus abstrakten Begriffen, ›Verstehen‹ sei daher »scharf und

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zug gestellt, die sich auch in der Bewußtmachung nicht aufhebt, sondern als Bewußtsein eines immer in Anschlag zu bringenden »unanalysierbaren Restes«, der nicht im rationalen Wissen aufgehen kann, erhält,11 bei Cassirer hingegen die Rekonstruktion »universeller Formen«, vor allem in der Grundtrias Sprache, Mythos und Kunst zur kritischen Erkenntnis der »Strukturzusammenhänge« kultureller Systeme, in denen nicht so sehr die Opazität individueller Prozesse das Problem ist, sondern die Komplexität des kulturellen, auf den Funktionen des Geistes basierenden Gesamtzusammenhanges,12 bei Dilthey der konkrete Vergleich der Einzelerscheinungen, um dadurch ein gesättigtes Verstehen eines nicht subjektivistisch verkürzten, sondern »geistigen« Lebens-Momentes, im Sinne des von Hegel entlehnten und sich selbst anverwandten Begriffs des »objektiven Geistes« zu erreichen,13 bei Cassirer die abstrakte, weil schon systematisch motivierte Herauslösung einzelner Daten, um aus deren konstruktiver Zusammenfassung übergreifende Konturen des Historischen ableiten zu können, und zwar einer ›Geschichte‹, die als »Kultur« die »Totalität der Formen, in denen menschliches Leben sich vollzieht«, zur Darstellung bringt.14 Es gibt jedoch im Horizont der Geschichte einen beide Autoren intensiv in der skizzierten Spannweite verbindenden Gegenstands-Bereich des Denkens, in dem und durch den dieses sich, in einer durchaus anderen Weise, als der Idealismus dies tat, als selbst Geschichtliches erfaßt und prinzipiell zu unterscheiden von all den verschiedenen Typen der metaphysischen Erklärung« (S. 159). ›Erleben‹ sei »für Dilthey nicht das passive bloße Nacherleben«, sondern »schöpferisches Miterleben« (S. 160). Vgl. Rudolf A. Makkreel, Cassirer zwischen Kant und Dilthey, (s. Anm. 8), S. 145–162, bes. 153 f. 11 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (Anm. 1), GW VII, S. 29: die »Unerschöpflichkeit des Erlebnisses«, S. 32: »das Auffassen des psychischen Zusammenhanges ist ebenso eine unendliche Aufgabe als das der äußeren Objekte. Aber sie besteht nur darin, das in den Erlebnissen Enthaltene ihnen abzugewinnen«. Zu der Nicht-Analysierbarkeit vgl. unten Anm. 24. Zum Individualitäts-Begriff vgl. Rudolf A. Makkreel, Dilthey. Philosoph der Geisteswissenschaften (s. Anm. 8), S. 186 f, 317 und vor allem Giuseppe Cacciatore, Scienza e filosofia in Dilthey (s. Anm. 1), Vol. I, S. 88, 93 f., 126 f., 196 f., 279 f., 292, der immer wieder auf den fundamentalen Zusammenhang von »individualità e totalità« verweist. 12 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (Anm. 2), Bd. 1, S. 178– 179, 281–282. 13 Vgl. etwa Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, bes. das 3. Kapitel des zweiten Teils »Die Objektivation des Lebens«, GW VII, S. 146–152. Zu Diltheys Hegel-Kritik und zum ObjektivitätsBegriff vgl. Giuseppe Cacciatore, Scienza e filosofia in Dilthey (s. Anm. 8), Vol. I, S. 167–180. 14 Vgl. Ernst Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), Darmstadt 1980, S. 76.

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erkennt und in diesem Erfassen und Erkennnen eine explizite Rekonstruktion der Geschichte der Metaphysik oder des Denkens leistet. Diese Rekonstruktion, die vor allem Ausdruck der Tatsache der – nach Hegel und gegen Kant – unausweichlichen Historisierung auch systematischer Ansätze des Philosophierens ist, führt zur Geisteswissenschaft als Hermeneutik oder zur Geisteswissenschaft bzw. Kulturwissenschaft als Entfaltungsgeschichte funktionaler Erkenntnismethoden und dann zur Philosophie symbolischer Formen, die sich, auch ein Verbindendes, beide nicht in den durch Wilhelm Windelband eingeführten methodischen Gegensatz ›idiographisch-nomothetisch‹ verrechnen lassen.15 Sie führt bei Dilthey, folgt man etwa Ferdinand Fellmann, zu einer »Geschichte der Metaphysik als innere(m) Verfall«, die den Übergang von kosmologischer Naturbetrachtung zur anthropologischen »Metaphysik der Menschheit«16 und zum Standpunkt des Selbstbewußtseins als einer grundlegenden Vorbereitung dessen, was dann eben auch, mit und durch Dilthey, zur Theorie der Geistes-Geschichte wird, zur zentralen Aussage hat,17 bei Cassirer führt sie, ebenfalls in immer neuen Ansätzen, zu einer vertieften Interpretation der Renaissance, die diese als Ablösung des scholastischen ›Systems‹ durch einen »neuen Geist« und eine neue KulDie Unterscheidung ›nomothetisch-idiographisch‹ geht auf Wilhelm Windelband zurück und ist, als methodische Differenzierung, ganz bewußt quer zu dem Gegensatz Naturwissenschaft-Geisteswissenschaft gestellt, vgl. »Geschichte und Naturwissenschaft« (1894), in: Präludien, Bd. 2, Tübingen 1924, S. 143–145; hierzu vgl. Rudolf A. Makkreel, Dilthey. Philosoph der Geisteswissenschaften (s. Anm. 8), S. 48 f., 262 f.; ders., Cassirer zwischen Kant und Dilthey (s. Anm.8) S. 145–162. Es ist also nicht so, daß die (Er-)Lebensphilosophie (Dilthey) ›idiographisch‹ vorgeht, der systematischkonstruierende Neukantianismus (Cassirer) hingegen ›nomothetisch‹; vielmehr kann, was diese methodologische Differenzierung betrifft, gerade auch der Ansatz Cassirers als ›idiographisch‹ bezeichnet werden, insofern seine ›nomothetische‹ Intention nur aus der Analyse historischer Einzelfakten erwachsen kann. Letztlich jedoch wehren sich beide, Dilthey wie auch Cassirer, gegen ein Vereinnahmtwerden durch diesen einprägsam-schlagwortartigen, die Sache selbst jedoch verkürzenden Gegensatz, vgl. Wilhelm Dilthey, Beiträge zum Studium der Individualität (1895 / 6), in: GS V (1923), Stuttgart / Göttingen, , 8. Auflage 1990, S. 241–316, bes. 256–258. S. 257: »diese abstrakte Sonderung der Erkenntnis des Gleichförmigen (id est: ›nomothetisch‹ Gewonnenen, T. L.) und der Beschreibung des Singularen (id est: ›idiographisch‹ Erschlossenen, T. L.)«; E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (s. Anm. 14) S. 58, 76 f. 16 Wilhelm Dilthey, GS II, S. 16. Die Analysen zur Entstehung der Neuzeit wollen nachweisen, daß im 15. bis 16. Jahrhundert eine »Befreiung des Geistes« auf Basis der Einsicht stattgefunden habe, daß Menschsein immer mehr als »Naturkraft« , »individuelle Kraft« oder als »lebendige Energie« erfahren und begriffen wurde und daraus ein grundsätzliche Umorientierung hin zum Personalen, zum Biographischen, zum Leben und zur in diesem sich zur Geltung bringen wollenden Freiheit stattgefunden habe. 17 Ferdinand Fellmann, Wilhelm Dilthey, in: Fellmann (Hg.), Geschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert, Hamburg 1996, S. 319. 15

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tur begreift, als die mit Nicolaus Cusanus beginnende, an den Neuplatonismus anschließende Theorie des Geistes oder der »mens« in der Entfaltung ihrer epistemischen Vermögen.18 Kann man mit Blick auf unsere Autoren einerseits von einer unterschiedlichen Prioritätssetzung sprechen, denn bei Dilthey wird das »Leben« zur Basis, auf der sich eine zwar nur bedingt zugängliche, aber eben doch das zentrale Ziel der geistesgeschichtlichen Anstrengung bildende Rationalität dieses Lebens als Kontur seiner Entwicklung und als Aufscheinen von Sinn in der Geschichte erhebt, und bei Cassirer wird hingegen, wie schon etwa bei Natorp,19 die Rationalität von Strukturgesetzen und einer »funktionalen Einheit der Vernunft« zur methodischen Basis des Geschichtsverstehens, auf der sich die Irrationalität und Kontingenz des individuellen Lebens erhebt; und kann man ebenso andererseits von einer inversen methodischen Stoßrichtung ausgehen, denn Diltheys Geisteswissenschaft re-konstruiert den Horizont des Geschichtlichen und zugleich auch die Erfahrungen mit gegenwärtigen Text- und Kunstphänomenen durch ein intensives, verstehendes »Nachbilden«, in dem das unmittelbare Datum des Erlebnisses zum zentralen, aber auch problematischen Faktor des Geistigen wird,20 die neukantianisch inspirierte Deutung der Geschichte durch Cassirer konstruiert deren Struktur hingegen durch die Präsenz ordnender apriorischer und über-individueller Grundbegriffe; so scheint es aber dennoch so zu sein, daß diese gegenstrebigen methodischen und inhaltlichen Orientierungen nicht zu einer gleichermaßen unterschiedlichen ›historischen Orientierung‹ geführt haben. Und es ist dies Faktum der Orientierung an ein und derselben Periode der Geschichte des Denkens, an dem sich eben auch etwas sachlich Gemeinsames zeigt: für beide ist es gerade die Zeit des großen Umbruchs, die Zeit der Renaissance und Frühen Neuzeit, eine Zeit, die so weder von Hegel noch von Schelling markiert wurde (für die erst Descartes der Anfang schlechthin des Neuen war), die für sie zum ausgezeichneten Probierstein der Entfaltung ihrer je eigenen Vgl. John M. Krois, Cassirer: Aufklärung und Geschichte, in: Ernst Cassirers Werk und Wirkung (s. Anm. 8), S. 134–139. Zum Hintergrund vgl. Th. Leinkauf, Substanz, Individuum und Person. Anthropologie und ihre metaphysischen und geisttheoretischen Voraussetzungen im Werk von Leibniz, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, Heft 1 / 1999, S. 24–45; ders., Mens und intellectus. Überlegungen zum Status des menschlichen Geistes in der Philosophie des Marsilio Ficino, in: Stéphane Toussaint (Hg.), Marsile Ficin ou les mystères du Platonisme, Paris (Belles Lettres) 2002, S. 179–208. 19 Paul Natorp, Über Philosophie, Geschichte und Philosophie der Geschichte, in: Historische Zeitschrift 100 (1908) S. 564–584. 20 Vgl. die kritisch-polemischen Hinweise von Kurt Flasch, Abschied von Dilthey. Historisches Wissen ohne Verstehen, in: Michele Ciliberto / Cesare Vasoli (Hgg), Filosofia e cultura. Per Eugenio Garin, Firenze 1991, S. 625–645. 18

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Thesen wird.21 Denn es ist eben gerade diese Epoche, in der die oben erwähnten gemeinsamen geistesgeschichtlichen Kategorien in einer, wie man annehmen zu müssen glaubte, zuvor ungekannten Weise die Wirklichkeit bestimmten. Das »in sich zentriert(e)« Individuum (Dilthey)22 bzw. das »in sich zentriert(e)« »geistige Sein« (Cassirer)23 sind aber nicht nur die Protagonisten der Renaissance als geschichtlicher und damit vergangener Epoche, sondern sie sind ebenso die Protagonisten der allererst noch auf einem erneuerten und erhobenen Niveau zu leistenden Erlebens-, Verstehens- und Erkenntnisakte, in denen sich die Philosophie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts einen Bereich sui generis verschaffen will, der sich in einem deutlichen Abstand zu den Formen des positiven und naturwissenschaftlichen Wissens konstituiert und der eine leitende Funktion für alle Formen des unter dem historischen Index stehenden Wissens haben soll. Die »Unerschöpflichkeit des Erlebnisses«, die Diltheys an Schellings »Freiheitsschrift« erinnernde, schon vorhin angeführte These vom »unanalysierbaren Rest«, der jedes »Leben überhaupt« bestimmt und damit zu einem unvorgreiflich religiösen macht,24 in den systematischen Kontext der Hermeneutik der ›Objektivationen‹ des Lebens und des Geistes zurückbindet, scheint in Cassirers Gedanken von der »geistesgeschichtlichen Bedeutung«25 weitergeführt zu sein, in dem die Geistesgeschichte als »von uns erst zu schaffen(de)« »lebendige und sinnvolle Einheit der historischen Erscheinungen«26 transparent wird vor einem symbolischen Hintergrund, der nie durch messende rationale Akte vollständig auslegbar wird. Ernst Cassirer konstatiert im Hierzu vgl. Giuseppe Cacciatore, La lancia di Odino. Teorie e metodi della scienza storica tra ottocento e novecento, Milano 1994, dort Il ›Verstehen‹ e la storia: Dilthey, Windelband, Rickert, Cassirer, S. 25–44. Ders., Dilthey e Cassirer sul rinascimento (Manuskript), S. 1: »linee di convergenza tra Dilthey e Cassirer«. 22 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (s. Anm. 1), GS VII, S. 258. 23 Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos (s. Anm. 2) S. 30. 24 Wilhelm Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen (s. Anm. 6), GS II, S. 203: »Ja dieser Lebenszusammenhang kann nicht einmal ganz zur Analysis gebracht werden, vielmehr bleibt in jeder Form der Religiosität wie in jedem Leben überhaupt ein unanalysierbarer Rest«; ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt (s. Anm. 1), GS VII, S. 29. Zum nicht aufgehenden »Rest« vgl. F. W. J. Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), Sämmtliche Werke, hg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart 1856–61, Bd. VII, S. 359–360: »Dieses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt«. 25 Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos (s. Anm. 1) S. 111. 26 Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem (s. Anm. 2) Bd. I, S. 15. Vgl. hierzu meine Rezension der neuen Hamburger Cassirer-Ausgabe in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 6 (2001), S. 293–300. 21

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Einleitungsteil seiner »Philosophie der symbolischen Formen« von 1923, daß es neben einer »intellektuellen Synthesis«, die ex post in einem analysierend-konstruierenden Verfahren an einen beobachteten Gegenstandsbereich (vor allem an den der Geistesgeschichte) zum Zweck von dessen »Objektivierung« herangetragen wird (eine Objektivierung, wie er festhält, die dazu dient, Individuelles zum Allgemeingültigen zu erheben), eine aus dem Vollzug des Lebens selbst sich ergebende »Objektivierung« gibt, die der ersteren vorangeht und die aus einer »selbständige(n) Energie des Geistes« hervorgeht.27 Das, was Cassirer, sicher im Blick auf Hegel und Dilthey, hier ›Geist‹ nennt, versteht er als eine »ursprünglichbildende, nicht bloß (. . .) nachbildende Kraft«, als Ausdruck einer »selbständigen Energie des Geistes«. Durch diese Kraft bzw. Energie erhält das »Dasein der Erscheinung« eine »Bedeutung« und einen »ideellen Gehalt«, die, da Bedeutung und Gehalt ausschließlich wiederum dem Geist selbst zugänglich sind, als eine »Selbstoffenbarung« des Geistes verstanden werden können. Als solche Selbstoffenbarung, in der Geistiges dem Geist als Objektiviertes, d. h. als Lebensform, als Gestaltung des in Geschichte tätigen Bewußtseins, zugänglich wird, versteht Cassirer insbesondere die Sprache, die Kunst und den Mythos,28 alles Faktoren, die die Bildung der komplexesten, fragilsten Lebensform, die des Staates, strukturieren. Der Geist, den Cassirer hier als selbständige Kraft ansetzt, ist als »frei« zu denken29 und in dieser Freiheit als ursprünglich und – zunächst – »sich selbst verborgen« bildend.30 D. h. Cassirer begreift das Sich-selbst-objektiv-Werden in den genannten Momenten Sprache, Kunst und Mythos zunächst, in Aufnahme von Grundgedanken, die Schelling in seiner »Philosophie der Mythologie« entwickelt hatte, als eine dem Geist (Bewußtsein) nicht-bewußte Selbst-Objektivation, vor Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Einleitung und Problemstellung (1923), (s. Anm. 2) Bd. I, S. 8–9. Zum Begriff des Geistes vgl. auch Zweiter Teil (1924), ebd. Bd. I, S. 7, 30, 235, 259. 28 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil (1924) (s. Anm. 2) Bd. II, S. 259: »Die Sprache, der Mythos, die Kunst: sie stellen je eine eigene Welt von Gebilden aus sich heraus, die nicht anders denn als Ausdrücke der Selbsttätigkeit, der ›Spontaneität‹ des Geistes verstanden werden können«. 29 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, dort Einleitung und Problemstellung und Erster Teil (1923) (s. Anm. 2), Bd. I, S. 23, 48 (»autonome Schöpfung des Geistes«), 82 (»freie Aktivität des Geistes«), 88 (»freie Schöpfung der menschlichen Vernunft«), 132 f. (»geistige Spontaneität«); Zweiter Teil (1924), ebd., Bd. II, S. 259. 30 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil (1923) (s. Anm. 2) Bd. I, S. 190 signifikanter Weise am Beispiel des Zählens, als »Akten der Verknüpfung und Sonderung, die er (sc. der Geist) in sich selbst ausübt« und in denen ihm »zuletzt das eigentliche und neue, das ›intellektuelle‹ Prinzip der Zahlbildung« aufgeht; Zweiter Teil (1924), ebd., Bd. II, S. 259 zur Selbstverborgenheit. 27

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allem der Mythos erscheint zunächst als »durchaus objektiv, als rein gegenständlich«.31 Erst eine darüber hinausgehende, sich anschließende »sukzessive Selbstoffenbarung«, die Cassirer als eine sich in der Geschichte als Kultur- oder Geistesgeschichte darstellende Entwicklung selbst noch einmal darstellen will, erschließt dem Geist diese über historische Materialisierungen vermittelte, über Symbolisierungen getragene selbstreflexive Grundstruktur geistiger Wirklichkeit als die seine. Damit dies geschehen kann und damit vor allem auf der Basis dieser Selbst-Vergegenwärtigung und Selbsterfahrung des Geistes ein prospektiver Horizont künftiger Gestaltung aufgeschlossen werden kann, bedarf es der Arbeit an dieser Geschichte, um sie, mittels hermeneutischer und wissenschaftgeschichtlicher Operationen als Geistesgeschichte ihrer kruden Objektivität zu entkleiden: auch für Cassirer ist somit das Verstehen ein Basisakt, in dem der vor-bewußten und bewußten »Bildung« eine NachBildung, der Objektivierung eine Selbst-Objektivierung an die Seite gestellt wird. Cassirer hat die hierzu erforderlichen Prozesse vor allem im Dritten Teil seiner »Philosophie der symbolischen Formen« behandelt und es ist auch dort, wo er Grundeinsichten Diltheys der Sache nach am nächsten kommt (und ihnen wohl auch unausdrücklich mit-verpflichtet ist): es gibt einen »ursprünglicheren Sinn«, in welchem uns das in der Wahrnehmung erfaßte Sein »nicht sowohl ein Sein von Dingen, als bloßen Objekten ist, sondern wo es uns in der Art des Daseins lebendiger Subjekte entgegentritt«.32 Ein »Du« kann, so Cassirer, niemals in ein bloßes »Es« aufgelöst werden, ebensowenig können der Mythos, das Symbolische, die Kunst, da in ihnen ein allgemeines, überindividuelles »Du« sich selbst zum Austrag bringt, auf bloße Dinge reduziert werden. Was hier erfaßt wird, ist das, was Cassirer den »Ausdruckscharakter« des Gegenständlichen nennt, was hier erfordert ist von seiten des auffassenden Subjektes, ist ein »Verstehen von Ausdruck«, das dem »Wissen von Dingen« vorausläuft.33 Geist erscheint bei Cassirer, das ist sicher eine Differenz zu Dilthey, als dem Einzelbewußtsein vorgeordnet, als allgemeine, objektive Kraft, als »Eines in Vielem«, als ein Ganzes, das vorgrei-

Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil (1924) (s. Anm. 2) Bd. II, S. 259. 32 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil (1929) (s. Anm. 2) Bd. III, S. 73–74, vgl. auch 93–95. 33 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil (1929) (s. Anm. 2) Bd. III, S. 74. Hier steht sicherlich Diltheys Umsetzung des Hegelschen ›Begriffs‹ und den Gedanken des »Ausdrucks« im Hintergrund, zur Sache vgl. Stephan Otto, Rekonstruktion der Geschichte. Zur Kritik der historischen Vernunft, Erster Teil, München 1982, S. 24–27, der selbst hier auf eine Einsicht Hans Georg Gadamers zurückgreift, vgl. Wahrheit und Methode, Tübingen 2. Aufl. 1965, S. 216–218. 31

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fend vor einzelnen Prozessen diese integriert, das in einzelnen Momenten selbst als Ganzes (als »konkrete Einheit« im Sinne Hegels), als Vernunft präsent ist.34 In den in diesem Band versammelten Beiträgen, die bis auf zwei (den Beitrag von Frau Renz und den von Herrn Hartung) auf eine vom Herausgeber im Potsdamer Einstein-Forum veranstaltete Tagung mit dem Titel ›Dilthey und Cassirer. Die Deutung der Neuzeit als Muster von Geistes- und Kulturgeschichte‹35 zurückgehen, sind die ›Reaktionen‹ versammelt, mit denen die Autoren auf die soeben dargelegte ProblemSkizze mit ihren Fragen geantwortet haben. Differenzen zwischen dem von mir Konzipierten und Anvisierten und dem, was dann tatsächlich von den Teilnehmern realisiert wurde, teils weil sie aus den Vorgaben eine wirkliche Anregung erfahren haben, teils weil sie gerade von mir nicht in den Blick genommene weitere Aspekte hinzugefügt haben, sind durchaus gewollt. Ebenso ist intendiert, daß gleichsam stehengebliebene oder nicht in Angriff genommene Fragestellungen, da notwendig jede realisierte Tagung hinter der mit ihr verbundenen ›Idee‹ zurückbleiben muß – selbst wenn, wie in dieser Tagung, vieles an dieser Idee und zum Glück sogar mehr, als man selbst in ihrer Konzipierung im Blick hatte, realisiert worden ist –, vielleicht von anderer Seite aufgegriffen werden: als möglicherweise aufzugreifende Intentionen oder zumindest als Rahmen, innerhalb dessen der Vergleich zwischen Dilthey und Cassirer erfolgen könnte und sollte, erschien mir nun einerseits das allgemeine Problem einer Berührung von Lebensphilosophie und Geistesgeschichte mit dem Rationalitäts- und Methodologiebewußtsein Cassirers (und des Neukantianismus) vor dem Hintergrund der Neuzeit- und Modernedeutung beider Autoren diskussionswürdig. Andererseits sollten in einer ganz konkreten und konzentrierten Weise auch die Gemeinsamkeiten 34 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil (1929) (s. Anm. 2), Bd. III, S. 104, 125, 174 f., 325 (objektiver Geist); 121, 124 (geistiges Ganzes); 92 (konkrete Einheit), 109, 341, 348 (Eines in Vielem bzw. Eines, das sich in sich selbst unterscheidet); 214, 219 (Vernunft); zum Vernunft-Begriff vgl. auch Erster Teil (1923), ebd. Bd. I, S. 128–129; zur vorgreifenden und sich in ihren Teilen selbstgleichen Ganzheit als »Grundcharakter von Bewußtsein« vgl. ebd. S. 37–38: »daß das Ganze hier (sc. im Bewußseinsvollzug) nicht erst aus den Teilen gewonnen wird, sondern daß jede Setzung eines Teils die Setzung des Ganzen, nicht seinem Inhalt, wohl aber seiner allgemeinen Struktur und Form nach bereits in sich schließt«. Aber auch Dilthey fundiert seinen Geist-Begriff in dem, »was man Identität der Vernunft in der spekulativen Schule nannte«, vgl. Beiträge zum Studium der Individualität, GS V (1923), Stuttgart / Göttingen, 8. Aufl. 1990, S. 250. 35 Ich danke der Fritz-Thyssen-Stiftung im Namen aller Beteiligten für die großzügige Förderung dieser Tagung und den Mitarbeitern des Einstein-Forums für ihr professionelles, kompetentes Engagement.

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und Unterschiede dessen analysiert werden, was beide Autoren mit ihren Voraussetzungen als die jeweilige Signatur der ›Moderne‹ erarbeitet haben. In eine solche Konfrontation könnten auch Fragestellungen eingehen oder zumindest für Fragestellungen sensibilisiert werden, die man normalerweise an den jeweils anderen der Protagonisten zu stellen gewohnt ist, und diese Fragestellungen könnten sich bei dem anderen auf den Stand der damaligen Diskussion bringen lassen. Also etwa Fragen folgender Art: ›Spielt bei Dilthey außer der offenkundigen Orientierung an dem Thema der »Anthropologie«, die Exponent der Erforschung der Lebens- und Erlebensform der Frühen Neuzeit ist, auch die Erforschung erkenntnistheoretisch-funktionaler Parameter eine signifikante Rolle‹ – ›ist also, mit anderen Worten, das »natürliche System«, das die übergreifende Struktur des Denkens des 17. Jahrhunderts ausmacht und das, nach Diltheys Auskunft, seine »Grundlage (. . . ›in der‹) Lehre von Gemeinbegriffen«, »eingeborenen Begriffen« oder »elementaren Einsichten« besaß,36 auch in einem funktionalen Sinne zu verstehen‹ – und ›läßt sich umgekehrt bei Cassirer, neben der für den Neukantianismus typischen Orientierung an erkenntnistheoretisch-funktionalen Parametern, ein genuin anthropologisches Interesse als movens nachweisen‹ – ›haben also, mit anderen Worten, die »Ordnungen und funktionalen Verknüpfungen des Wirklichen«, die sich in der symbolischen Begriffs-Ordnung des Wissens und der Wissenschaft spiegeln,37 eine anthropologische Basis?‹ Aufschlußreich wird vor solchem Hintergrund sicherlich auch ein Vergleich der von beiden jeweils bevorzugten Autoren und philosophisch-theologischen Schulen sein: bei Dilthey spielen etwa der Humanismus, die Reformation oder die Stoa-Rezeption eine ganz andere Rolle als bei Cassirer, die intensive Beschäftigung des letzteren mit der Geisttheorie von Nicolaus Cusanus über Charles de Bovelles zu Tommaso Campanella und der Naturwissenschaft hat kaum ein Pendant bei Dilthey. Ein weiterer Gegenstand der Diskussion könnte die Frage sein, ob und wenn ja in welcher Weise die historischen Reflexionen und Darstellungen Diltheys und Cassirers die Systematik der philosophischen Geschichtsbetrachtung des Deutschen Idealismus abgelöst und an ihre Stelle eine neue System-Konzeption gestellt haben?38 Denn sowohl für Dilthey wie auch für Cassirer – und dies deutlich im Anschluß an erste36 Wilhelm Dilthey, GS II, S. 153; hierzu ist etwa die Vorrede Cassirers zum ersten Band des »Erkenntnisproblems« zu vergleichen, wo es S. VI heißt, daß »jede Epoche (. . .) ein Grundsystem letzter allgemeiner Begriffe und Voraussetzungen« besitzt, durch das eine Zusammenfassung des Mannigfaltigen zur Einheit geleistet wird. 37 Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem (s. Anm. 2), Bd. I, S. 3. 38 Zu Dilthey vgl. etwa Gunter Scholtz, Philosophiegeschichte und Geschichtsphilosophie: Braniß und Dilthey, in: J. Krakowski / G. Scholtz (Hgg.), Dilthey und

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ren39 – spielt der Begriff der ›Geisteswissenschaft‹, der eigentlich als ein pluraletantum aufgefaßt werden müßte, da es hier schlechterdings keinen Singular geben kann, eine, wenn nicht die zentrale Rolle und mit diesem Begriff derjenige des ›Geistes‹, von dem beide Autoren behaupten, daß er seine adäquate Explikation allein in eben dem Syndrom von Aktivitäten fände, die sie als die ›Geisteswissenschaften‹ – Cassirer dann aber auch als ›Kulturwissenschaften‹ bezeichnen. Ist, so könnte man verschärft und provozierend fragen, zumindest die Intention einer systematisch fundierten Rekonstruktion der Geschichte als Geistes-Geschichte und als Horizont von Geistes-Wissenschaft Ausdruck der Tatsache, daß beide Autoren, Dilthey ebenso wie Cassirer, letztlich doch noch in der Tradition der Geistmetaphysik stehen, und ist es also der Begriff des ›Geistes‹, der, gleichsam alle Differenzen und Affinitäten in sich aufhebend, der zentrale gemeinsame Schnittpunkt ist, durch den alle Argumentationslinien gezogen sind? »Alles, worin der Geist sich objektiviert hat, fällt in den Umkreis der Geisteswissenschaften«, diese Behauptung Diltheys kann sicher auch für Cassirer in Anspruch genommen werden; aber wie steht es mit der Deutung des Geistes bzw. der Objektivationen: Dilthey ist eindeutig fasziniert vom nicht aufgehenden Rest im Leben, davon, daß die Lebenseinheit als Wirkungszusammenhang nicht meßbar, sondern nur »abschätzbar« ist; Cassirer andererseits ist fasziniert von der mit Cusanus beginnenden Bestimmung des Geistes als einer unendlichen, alles Endliche messenden Kraft, von der funktionalen, sich, mit Unterstützung der Mathematik, in ihrem quantifizierenden Zugriff immer stärker präzisierenden rationalen Darstellung der Wirklichkeit möglichst ohne Rest. Dilthey versucht andererseits in seinen immer wieder erneuerten Analysen der psychologischen Situation des Menschen das Nichtmeßbare durch kategoriale Umgrenzungen zu vermessen, Cassirer sieht immer mehr, daß die wissenschaftlich-funktionale Analyse mit ihren quantifizierten Resultaten auf einem tiefer lotenden Sockel geistiger Voraussetzungen aufruht, deren Rekonstruktion zu Phänomenen mit Rest führt, zu Symbolen, Sprachformen, Kunst und Religion. Diltheys Kritik der historischen Vernunft und Cassirers Erkenntniskritik konvergieren in dem Festhalten an einem starken Begriff von ›Geist‹, dessen paradigmatische Ausformulierungen in der spätantiken Philosophie des Neuplatonismus und der Philosophie der Renaissance und der Frühen

Yorck. Philosophie und Geisteswissenschaften im Zeichen von Geschichtlichkeit und Historismus, Wroclaw 1996, S. 179–194. 39 John M. Krois, Cassirer. Symbolic forms and history (s. Anm. 9) verweist S. 124–125 darauf, daß Cassirer in der Verwendung des Begriffs »Geisteswissenschaft« – im Kontrast zu Naturwissenschaft – Dilthey folgt.

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Neuzeit vorlagen. Letztere hat eindeutig eine faszinierende, verbindliche Wirkung auf beide Autoren gehabt. Diese noch ausstehende und in den folgenden Beiträgen angezielte Rekonstruktion und Konfrontation der beiden gewichtigen Positionen eines philosophisch motivierten Verständnisses von Renaissance und Früher Neuzeit wird, so steht es zu hoffen, gerade auch wichtige Impulse für die Debatte um Begriff und Bedeutung dieser Epochenbezeichnungen geben können, die, angeregt durch neuere Forschungen in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, in den letzten Jahren verstärkt geführt wird.40

Zentraler, zugleich problematischer und anregender Anstoß für eine mittlerweile breite Diskussion waren die Thesen Hans Blumenbergs, vgl. »Die Legitimität der Neuzeit« (1966; in der überarbeiteten Fassung als »Säkularisierung und Selbstbehauptung«, Frankfurt / M 1974) und »Der Prozeß der theoretischen Neugierde«, Frankfurt / M 1973; ders., Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner, Frankfurt / M 1976. 40

Stephan Otto Ungelöste Probleme in Diltheys und Cassirers Renaissancedeutung Überlegungen zu den Prämissen und Methoden einer ideengeschichtlichen Rekonstruktion der frühen Neuzeit

»Dilthey und Cassirer«, »Renaissance« und nun gar »philosophische Deutung der frühen Neuzeit« – das ist ein zwar wichtiges und triftiges, aber ein auch abgründiges Thema. Wer sich ihm zuwenden will, sieht sich sehr bald solchen Ungemütlichkeiten ausgesetzt, wie Stephen Toulmin sie schildert, wenn er von der Arbeit an seinem Buch Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne erzählt. Seine philosophischen, wissenschaftlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Studien zur Entstehung der Moderne, so gesteht er, hätten ihn nämlich ziemlich schnell jeder Hoffnung beraubt, dieses Problem »in wissenschaftlicher Form« darstellen zu können – und so habe er sich entschließen müssen, lediglich »einen Essay zu schreiben«. Immerhin: Toulmins Essay gibt hinreichende Anstöße zum Nachdenken. Denn sein Tenor lautet: Wir würden unweigerlich »mit dem Rücken voran« – also nicht sehenden Auges – »ins nächste Jahrtausend« marschieren, wenn wir uns nicht die Interessen und Ideen des Renaissancehumanismus wieder aneigneten, die schon von den Intellektuellen des 17. Jahrhunderts »beiseite gesetzt« wurden und sodann in der Blütezeit der Moderne völlig »zu Verlust gegangen« sind. Ein blindes Hineintappen in die Zukunft, so Toulmins Befund, sei nur zu vermeiden durch eine Überwindung jener »Dekontextualisierung«, die seit dem Zeitalter des Descartes alle Philosophie und Wissenschaft stigmatisiere; zurückzufinden sei zu jener Kultur philosophischer und wissenschaftlicher »Kontextualität«, die den Renaissancehumanismus charakterisiert. In der modernen Gegenwart, davon zeigt Toulmin sich überzeugt, »ist die Dekontextualisierung der Probleme, die so typisch für die Hochmoderne war, keine ernsthafte Möglichkeit mehr«. Diese Kennzeichnung der Renaissance als einer Epoche der »Kontextualität« – Essayistik hin, Essayistik her – scheint mir, vorerst, einigermaßen hilfreich zu sein. Die Frage indes, wie man denn in solcher Kontextualität sich zurechtfinden, wie man die tektonischen Verschiebungen in den rhetorischen, ethischen, metaphysischen, naturphilosophischen, politischen und esoterischen Texten des Humanismus und der Renaissance zu einer Ideengeschichte und darüber hinaus überhaupt zu einer bloßen Ideengeschichte soll bündeln können, beantwortet Toulmin nicht.

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Das aber ist das eigentliche, nämlich methodologische Problem. Haben Dilthey oder Cassirer überzeugende Wege zu seiner Lösung aufgezeigt? »Die Geschichte der Renaissance und des Humanismus ist von jeher das dankbarste Tummelfeld für ideenreiche Konstrukteure gewesen«, notierte Gerhard Ritter 1922 in seiner Untersuchung über die via antiqua und via moderna in der Erkenntnisphilosophie des 15. Jahrhunderts. Dieser bösartig klingende Satz ist ebenso wahr wie einer kritischen Prüfung bedürftig. Seine Wahrheit hatten jedenfalls schon Hegel und Nietzsche unter Beweis gestellt. Denn in Hegels Augen war die Epoche der Renaissance »das Erwachen der Selbstheit des Geistes« – zwar nicht in der Philosophie, in der nach Hegels nicht gerade kenntnisreichem Urteil »Neues noch nicht aufgekommen« sei, wohl aber in der Theologie der Reformation; diese signalisiere nämlich nicht nur »die Rückkehr des Geistes zu sich selber«, sondern auch dessen »Unmittelbarkeit zu Gott«. In der sola-fidesLehre Luthers wollte Hegel also eine Vorstufe seiner eigenen Philosophie des Geistes und der Freiheit entdecken – in der Tat eine »ideenreiche Konstruktion«. Und was solches Konstruieren angeht, stand Nietzsche ihm nicht nach: er drehte Hegels Konstruktion lediglich in eine andere Richtung. »Die italienische Renaissance«, so erklärte er, »barg in sich alle die positiven Gestalten, welchen man die moderne Kultur verdankt: also Befreiung des Gedankens, Mißachtung der Autoritäten, Entfesselung des Individuums, eine Glut der Wahrhaftigkeit . . . es war das goldene Zeitalter dieses Jahrtausends. Dagegen hebt sich nun die deutsche Reformation ab als ein energischer Protest zurückgebliebener Geister, welche die Weltanschauung des Mittelalters noch keineswegs satt hatten . . . sie verzögerten um zwei bis drei Jahrhunderte ebenso das völlige Erwachen und Herrschen der Wissenschaften, als sie das völlige In-eins-Verwachsen des antiken und des modernen Geistes vielleicht für immer unmöglich machten«. Unschwer ist in diesen beiden »ideenreichen Konstruktionen« der Ideengeschichte der frühen Neuzeit, die sich wie zwei Spiegelbilder äffen, jenes Legitimationsinteresse wiederzufinden, mit dem schon die Aufklärer des 18. Jahrhunderts ihr eigenes Programm zu rechtfertigen suchten. Die Renaissance, so hatte ja d’Alembert in seiner Einleitung zur Encyclopédie verkündet, ist »die erste in der Reihe der Revolutionen des menschlichen Geistes«. Am Taufbrunnen, an dem die Renaissance mit dem Weihwasser des aufgeklärten, modernen und freien Geistes gesegnet wurde, hatte als Pate allerdings schon Pierre Bayle Posten bezogen; »das Licht der Vernunft leuchtet in der Renaissance«, so steht es bereits 1695 in seinem Dictionnaire, und Jules Michelet zog 1855 die Linie dieser Konstruktion lediglich aus, als er die Renaissance mit dem Etikett »la découverte de l’homme et du monde« versah – mit jenem Leitmotiv, dem kurz darauf auch Jacob Burckhardts Kultur der Renaissance sich unterwarf.

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Es bleibt unverzichtbar, sich dieses aufgeklärten Konstruktions- und Legitimationsinteresses zu erinnern, wenn man den Motiven nachspüren will, die noch die Renaissance- und Humanismusstudien Diltheys und Casssirers steuerten; von hier aus erhält auch die Art und Weise, mit der beide das Thema »Aufklärung« bearbeiteten, ihre Brisanz. Allerdings: Anders als Hegel und Nietzsche waren Dilthey und Cassirer nun auch Renaissanceforscher – und deshalb bricht an ihren Deutungen der frühen Neuzeit, beispielhaft geradezu, das Problem auf, ob da »Forschung« und Zugriff durch »Konstruktion« sich wirklich treffen. Denn beide, Dilthey nicht anders als Cassirer, »konstruieren«, und Cassirer hat dabei wohl recht, wenn er sein großes Werk zum Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit mit der These einleitet, daß »Inhalt und Zusammenhang der Geistesgeschichte« nicht schlicht »gegeben«, sondern »zu erschaffen« sind: »Geistesgeschichte«, so erläutert er, »ist nur das, was wir kraft gedanklicher Synthesen aus ihr machen«. Deshalb bleibt Gerhard Ritters Sicht auf Renaissance und Humanismus als spielplatzähnlichem »Tummmelfeld für ideenreiche Konstrukteure« auch auf einem Auge blind. Doch die viel entscheidendere Frage ist, ob solche »Synthesen« oder Konstruktionen sich in der Forschungsarbeit angemessen »operationalisieren« lassen, einfacher gesagt: ob sie tatsächlich »greifen«, und zwar im konkreten Forschungsvollzug am »kontextuellen« historischen Material selber. Nach meiner Überzeugung ist das weder bei Cassirer noch bei Dilthey der Fall. Konstruktion und Forschung laufen da zwar aufeinander zu – aber weder in Cassirers neukantisch noch in Diltheys lebensphilosophisch geführter Renaissancedeutung verknüpfen sie sich zu einer sachlich und methodologisch überzeugenden Einheit. Und es dürfte unmittelbar einleuchten, daß deshalb auch Skepsis angezeigt sein muß gegenüber Diltheys und Cassirers emphatischer Rede von einer wie auch immer umschriebenen »Modernität« der frühen Neuzeit. Allen »Synthesen« und Konstruktionen abhold, hat Jan Huizinga stets betont: »Tatsächlich ist der Geist des Renaissance viel weniger modern, als man immer wieder anzunehmen geneigt ist«, und es fällt auf, daß er weder in seiner Studie Das Problem der Renaissance aus dem Jahr 1920 noch in seinem 1930 erschienenen Buch Wege der Kulturgeschichte die Namen Cassirers und Diltheys erwähnt. Das hat seinen Grund sicherlich darin, daß dieser Geschichtsforscher nicht geneigt war, auf den »Mann der Synthese« zu setzen – also, so muß man das wohl lesen, auf den ihm sehr wohl bekannten Cassirer –, und ebensowenig auf Dilthey, den er nicht nennt, über dessen lebensphilosophische Geschichtskonstruktion er aber schreibt: Falls es tatsächlich ein historisches »Verstehen« geben sollte, das in einem »Nacherleben« besteht, dann ist das eine Ausdrucksweise, die »irreführt«; denn: »Historisch begreifen und historisch

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darlegen ist noch etwas mehr als das bloße Erfahren und Wecken dieser Suggestion«. Und weiter: »Der große Feind des geisteswissenschaftlichen Denkens ist der Anthropomorphismus.« Schon Huizinga zeigt für Hans Freyers Theorie des objektiven Geistes größere Sympathie als für Diltheys Modell einer »Objektivation des Lebens«. Ich erwähne das, weil es – und weil es schon in den 20er Jahren – vorausweist auf einen in den Schulen Diltheys und Cassirers gar nicht wahrgenommenen Sachverhalt: daß nämlich weder in der professionellen internationalen Renaissanceforschung der Gegenwart noch in den Debatten über die Methoden der Ideen- und Geistesgeschichte, die in jüngster Zeit stattfanden, die Verfahrensstrategien Cassirers oder Diltheys noch als vorbildlich oder gar gültig angesehen werden. Natürlich nimmt man nach wie vor deren Schriften zur Kenntnis – wie Paul Oskar Kristeller einmal vielsagend bemerkt hat: »mit Achtung«, zu gut deutsch: mit Distanz. Denn ihre Prämissen und nicht minder ihr methodisches Prozedere haben ihre Überzeugungskraft längst eingebüßt. Diesen Diskursstand – der Deutlichkeit halber wiederhole ich: einen Diskursstand sowohl in der Forschungspraxis als auch in der Methodenreflexion – sollte wenigstens kennen, wer da meint, in Dilthey und Cassirer unanfechtbare Autoritäten der Ideen- und Geistesgeschichte erblicken zu dürfen. Im übrigen wäre es erfreulich, auf dem Gefechtsfeld der Renaissanceforschung – das man allerdings nur gut gewappnet betreten darf – einmal einem jener Autoren zu begegnen, die sich da so nachdrücklich zu Diltheys lebensphilosophischem Historismus bekennen oder, vor allem in den vergangenen Jahren der Erinnerung an Cassirer, dessen Frühneuzeitdeutung schlicht nacherzählten. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail, und deshalb darf ich Ihnen einige signifikante Details nicht vorenthalten, an denen abzulesen ist, wie teuflisch wenig Gewicht Diltheys und Cassirers Renaissanceforschungen – als vorgebliche »Muster« der Ideen- und Geistesgeschichte des 15., 16. und 17. Jahrhunderts – heute noch auf die Waage bringen. Ich richte den Blick zunächst auf die Praxis der Forschung. In der 1988 erschienenen Cambridge History of Renaissance Philosophy, einem den internationalen Forschungsstand repräsentierenden Werk von nahezu 1000 Seiten, an dem 24 Autoren mitgearbeitet haben, muß Dilthey sich mit einem einzigen Fußnotenverweis zufrieden geben, während Cassirer immerhin auf fünf Notate kommt, aber auch diese sprechen für sich. Da wird nämlich zwar der Geschichte des Erkenntnisproblems eine »special significance« nicht abgesprochen, aber auch richtiggestellt, daß es eine »theory of knowledge« oder das, was Cassirer darunter verstand, in der Renaissance noch gar nicht gab. Und wenn es dann ans Einzelne geht, stößt man auf Urteile wie »not entirely convincing« oder »surprising«. »Überraschend«

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ist ja in der Tat die Skizze des Freiheitsproblems, die Cassirer anhand der Texte des Lorenzo Valla und des Giovanni Pico della Mirandola glaubt zeichnen zu können: er will da, bei Valla, einen »neuen Stil des Denkens« vor dem »Richterstuhl der natürlichen Vernunft« entdecken, wo es in Wirklichkeit wenig Neues – »little new« –, und auch das nur in einem fideistischen Gewande gibt. Auf die Art und Weise, wie Cassirer mit dem Freiheitsdenken Picos umgeht, komme ich später noch zurück; an ihr wird nämlich glasklar, wie konstruktivistisch Cassirer seine erkenntnistheoretische Leitidee der »Funktion« den Renaissancetexten überzustülpen beliebt. Zwar gibt es in der Renaissance ein Funktionsdenken, aber dieses sieht ganz anders aus, als Cassirer es sich zurechtlegt. Und so ist es denn kein Wunder, wenn Cassirer der Renaissanceforschung zum »Zitat« gerät, nicht anders als Dilthey, und keiner der beiden für sie ein »Muster« abgibt. »Die Arbeiten von Dilthey und Cassirer müssen stets mit Achtung zitiert werden«, sagte Kristeller 1958 in der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin; wie dieser Satz zu verstehen ist, geht indes erst aus der Bemerkung hervor, mit der er 1979 eine Sammlung einiger seiner Aufsätze einleitete: »We need an epistemology of historical scholarship the competing claims of facts and interpretation, of evidence and theory have not been clarified.« Das heißt im Klartext: Weder bei Cassirer noch bei Dilthey ist eine Epistemologie zu entdecken, die den »claims of facts and interpretation« der Renaissance Genüge tut. Nimmt man ferner jene Debatten zur Kenntnis, die allein in den vergangenen zwei Jahrzehnten über Voraussetzungen und Methoden der Geistes- oder Ideengeschichte geführt wurden, dann sieht man die Enttäuschung eines rein historisch arbeitenden Forschers, wie Kristeller es war, nun auch prinzipiell bestätigt. Ich beschränke mich wiederum auf typische Details. 1982 erschien in der Cornell University Press eine Sammlung von Studien mit dem Titel Modern European Intellectual History – sie liegt unter der Überschrift Geschichte denken seit 1988 auch in deutscher Übersetzung vor. Da ist, zum Teil äußerst kritisch, von der »jüngsten Invasion neuer Theorieansätze« auf dem Feld der intellectual history die Rede, aber überhaupt nicht mehr gesprochen wird von Dilthey. Cassirer findet Erwähnung nurmehr im Zusammenhang einer Cassirer-Kritik, die Peter Gay schon 1967 in seinem Aufsatz The Social History of Ideas: Ernst Cassirer and after geübt hatte, und gezieltes Interesse verdient dabei die Metakritik an der Cassirer-Kritik Peter Gays, die Dominick LaCapra formuliert: »Gay lobt Cassirer gleichwohl wegen seiner Betonung der Struktur und seiner Fähigkeit, Ordnung im scheinbaren Chaos zu entdecken. Gay fragt nicht, wie stark die so gefundene Ordnung begrenzt oder gar trügerisch ist. Will heißen, daß ›Ordnung und Klarheit‹ – um einen beliebten Ausdruck Gibbons zu verwenden – in

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der historischen Darstellung durchzusetzen irreführend ist, und daß der Historiker besser kritisch untersuchen sollte, wie die Wechselwirkung zwischen Ordnung und dem sie bedrohenden Anderen stattfindet«. In den Akten schließlich eines 1987 vom Lessico Intellettuale Europeo durchgeführten internationalen Seminars mit dem Programm Storia delle Idee. Problemi e Prospettive – an ihm nahmen zum Beispiel Gombrich, Le Goff und Paolo Rossi teil – kann man blättern und blättern: einen Hinweis auf Dilthey sucht man vergebens, und zu Cassirers Individuum und Kosmos in der Renaissance bemerkt James McGuire lediglich, der Titel dieses Buches »sums up, in one encompassing image (or ›ideal‹) the authors view of what defines science or scientific knowledge«. In den beiden Theoriediskursen, auf die ich verweise, besteht zudem Übereinstimmung in einem entscheidenden Punkt: daß nämlich das Grundproblem aller Ideen-, Geistes- oder Kulturgeschichte in der exakten Textanalyse liegt. »The business of interpretation, however, is strictly confined to the possibilities of significance, that are inherent in the text itself«, so sagt es McGuire; LaCapra wiederum notiert in Geschichte denken: »Ein neues Verständnis der Geistesgeschichte als Geschichte von Texten erlaubt vielleicht eine zwingendere Formulierung der Probleme, die herkömmliche Methoden nur streifen . . . Ein Problem dieser Art ist das Verhältnis zwischen Texten und ihren verschiedenartigen Kontexten«, weiterhin »die Beziehung zwischen den Intentionen des Autors und dem Text«, »die Beziehung zwischen Leben des Autors und Text«, »die Beziehung der Gesellschaft zu Texten«, »die Beziehung eines Textes zum Korpus des Autors«, endlich »die Beziehung zwischen Diskursformen und Texten«. In der Tat: »Text« und »Textur«, hier hat die Sonde des Ideenhistorikers ebenso wie des ideengeschichtlich orientierten Philosophen anzusetzen. Nur deshalb, weil ich über »ungelöste Probleme in Diltheys und Cassirers Renaissancedeutung« mich äußern soll, darf ich mir jetzt auch erlauben, jene Überlegungen noch ins Feld zu führen, die ich im zweiten Band meiner Rekonstruktion der Geschichte von 1992 – im Rahmen einer Revision des Diltheyschen Projekts einer »Kritik der historischen Vernunft« – zu »Textlage«, »Textlage im Kontext«, »Textabsicht« und, unter dezidiert philosophischem Aspekt, zu einer »Modalontologie des Textes« als Voraussetzung jeder geistesgeschichtlichen Textinterpretation niedergeschrieben habe. Dilthey und Cassirer haben jedenfalls, sei es von lebensphilosophischen, sei es von erkenntnistheoretischen Vorannahmen aus, auf Texte immer nur zurückgegriffen; keiner der beiden hat sich dem Problemtitel »Text, Vertextung und ihre Darstellungsleistung« gestellt. Zu beklagen, daß ihre Schilderung des Humanismus und der Renaissance dem heutigen Stand der Forschung unter materialen Hinsichten nicht mehr oder kaum noch entspricht, wäre töricht: ihre

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Schriften sind ein Jahrhundert oder nahezu ein Jahrhundert alt, und die historische Erkundung der frühen Neuzeit kann rasante Fortschritte verbuchen; unter formalem Aspekt indes ist Cassirers ebenso wie Diltheys ideengeschichtliches Prozedere – zumindest was das Problem der Analyse von »Text und Textur« betrifft – schlicht veraltet und längst überholt. Nun sind Überholmanöver nicht nur gefährlich, sondern bisweilen auch überflüssig, und wer bedächtig auf seiner rechten Fahrspur bleibt, kann Risiken vielleicht vermeiden. Ein naives Verständnis von Geistesoder Ideengeschichte als »Geschichte von Texten« birgt jedenfalls das beträchtliche Risiko, die schiere Faktizität historischer Dokumente unversehens mit einer behaupteten »Objektivität« ihrer Aussagen zu verwechseln, um dann alsbald in einen doxographischen Historizismus zurückzufallen, dem das Wortwörtliche zum Ankerplatz eines unreflektierten Geschichtsverständnisses gerät – auf einer solchen Spur läßt aber weder Dilthey noch Cassirer sich überholen. In seiner Breslauer Ausarbeitung, die er den »Grundstock« aller seiner Überlegungen nannte und die den Entwurf des nie vollendeten zweiten Bandes seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften enthält, hat Dilthey eindringlich und zudem mit prinzipiellem Recht davor gewarnt, die Denk- und Schriftfiguren der Geistesgeschichte zu einer »toten Gegenständlichkeit« zu bringen. Doch so triftig einerseits Diltheys Kritik an der Kantischen Theorie der Gegenstandskonstitution auch sein mag, so kurzatmig bleibt andererseits seine Strategie, den Problemtitel »Gegenständlichkeit« – und damit auch die konkrete Gegenständlichkeit von Texten für ihren Leser – zunächst in die subjektivistische Philosophie eines »gegenständlichen Auffassens«, in welchem »Erlebnisse logisch verbunden« werden, einzuziehen und schlußendlich dem Globalkonzept einer »Objektivation des Lebens« zu unterwerfen. Die Frage ist nicht allein, ob »Leben«, »Totalität des Lebens« und »Wirkungszusammenhang« zwischen »Leben« und »Erlebnis« die tragfähige Basis für das Verständnis von Geschichte oder Ideengeschichte wirklich abgeben können; die Frage ist darüber hinaus auch, ob auf der Grundlage Diltheyscher Lebensphilosophie eine theoretische Begründung der Auslegung von Texten überhaupt möglich ist. Beide Fragen sind nach meiner Überzeugung mit einem strikten »Nein« zu beantworten. Denn wenn Dilthey erklärt, Erkenntnis könne niemals »hinter das Leben zurück«, dann unterschlägt er mit diesem Satz – dessen Plausibilität mit Vordergründigkeit sich paart – zum einen, daß philosophisches Denken gerade dann, wenn es im Leben sich zurechtfinden will, die »Wirkungszusammenhänge« dieses Lebens allererst »vor sich bringen«, sie also zum »Gegenstand« der Reflexion machen muß – philosophische Reflexion ist in eine immer schon vorausgesetzte »Objektivation des Lebens« nie zur Gänze eingefügt. Und zum anderen gerät Dilthey, dem

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Kritiker der Metaphysik und Urkundsbeamten ihrer »Euthanasie«, sein Globalkonzept »Leben« zu einem undurchschauten metaphysicum ohne Metaphysik, will sagen: zu der Meta-Folie einer Geschichtstheorie, die erkenntniskritisch nicht ausweisbar ist, weil sie entlang der Linie einer Korrelation von »Leben« und »Erlebnis« die Möglichkeit »objektiver« geschichtlicher Erkenntnis lediglich postuliert und dabei das Problem der für jedwedes Erkennen unabdingbaren »Vergegenständlichung« der zu erkennenden Wirklichkeit heillos unterschätzt. Das Erlebnis als »Innewerden« des Lebens und seiner »Objektivationen«: dies soll nach Diltheys Ansicht der Schlüssel auch zu vergangener Kultur-, Geistes- und Ideengeschichte sein. »Was inne wird«, so schreibt er in der Breslauer Ausarbeitung, »ist nicht gesondert von dem, welches den Inhalt dieses Innewerdens ausmacht . . . Da in ihm das Subjekt nicht von seinem Gegenstande unterschieden ist, gibt es auch kein gegenständliches Vor-sich-Stellen dessen, was in ihm enthalten ist«. Diese These wird indes – erstens – einer kritischen Prüfung ihrer erkenntnisphilosophischen Gültigkeit von ihm nicht unterzogen; an die Stelle solcher Prüfung rückt Dilthey seinen »Satz der Phaenomenalität«, den er in die Formel kleidet: »Die Wirklichkeit (das heißt: alle äußeren Tatsachen, Dinge wie Personen) steht unter den Bedingungen des Bewußtseins«, und dies wiederum bedeutet: ein erlebendes Subjekt ist sich aller Wirklichkeit als einer Tatsache des Bewußtseins »gewiß«. Damit verstellt die These vom »Innewerden« nun – zweitens – auch den Zugang zu dem nicht Erlebbaren und uns Fremden in der Geschichte, dessen Fremdheit oder Vergangenheit wir uns ja gerade erst »gegenständlich« machen müssen, um mit ihm umgehen zu können. Dilthey räumt zwar ein, daß »frühere Zeiten« dem Innewerden oder der »Selbstbesinnung« in einer »direkten Weise« sich nicht erschließen; am Ende aber zieht seine »Logik der Geisteswissenschaften« alles Fremde in den »Zuständen früherer Zeiten« doch wieder nur ein in verstehbare »Objektivationen des Lebens«. Seine Lebensphilosophie ist der Faktizität der Geschichte aufgeblendet, und sein Geschichtsverständnis trägt unverkennbare Züge eines anthropologisch gesteuerten Präsentialismus. Aber weil ich nun nicht wiederholen mag, was ich in meiner Auseinandersetzung mit Diltheys Projekt einer »Kritik der historischen Vernunft« schon ausgeführt habe, lasse ich jetzt einen Poeten zu Wort kommen: Poeten sind ja nicht selten scharfsichtiger als Philosophen. Zur selben Zeit nämlich, als Dilthey notierte: »Die Erkenntnis kann nicht hinter das Leben zurück«, schrieb Gabriele d’Annunzio einem Text, der von sinnlichem Leben und inständigem Nachdenken über das Leben nur so funkelt, die philosophisch triftigere Erkenntnis ein: »Die Vergangenheit ist wie ein Grab, das seine Toten nicht mehr hergibt. Mein Gott, gib, daß ich das ein für allemal im Gedächtnis behalte«.

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Wer nicht wie ein »interesselos« berichtender Historiker, sondern als Philosoph in die Texte des Ficino, Giovanni Pico, Patrizi, Telesio, Campanella und Giordano Bruno einzudringen versucht – in Texte, welche die Ideengeschichte der Epoche in ganz einzigartiger Weise geprägt haben –, gleicht dem Leser von Rätselseiten, zu deren Lösung ihm der passende Schlüssel fehlt. Er vermag wohl, die sichtbare Vertextung zu entziffern; doch die Denkformen, die deren verborgenen Subtext bilden, bleiben ihm fremd, ja tot. Ihrer »Kontextualität« zu folgen, wie Toulmin möchte, oder diese gar in gegenwärtige Verständnishorizonte einzutragen, scheint schwer möglich. In ihr »Paradies«, so drückt Edgar Wind in seinem Buch Heidnische Mysterien in der Renaissance das aus, »können wir uns nicht mehr rückwärts zurückstehlen«. Michel Foucault hat es dennoch versucht, auf einem diskursanalytischen Pfad, und er ist dabei gescheitert. Zwar zielte seine Sonde auf einen neuralgischen Punkt, wenn er in der Schrift Die Wörter und die Dinge notierte: »Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts hat das Ähnliche im savoir der abendländischen Kultur eine tragende Rolle gespielt«, aber ein Seziermesser ist diese Sonde noch längst nicht. Denn die Frage nach der epistemologischen Binnenstruktur jener »Episteme des Ähnlichen«, die er aus dem »Gemurmel« ganz heterogener rhetorischer, philosophischer und kabbalistischer Dokumente heraushört, kann Foucault nicht beantworten. Eben hier stoßen wir indes auf den Kern des »Problems der Renaissance« – einen Kern, den Diltheys lebensphilosophische Hermeneutik verdeckt und den Cassirers Neukantianismus höchstens noch an der Oberfläche streift. Aufgrund seiner Prämissen war weder der eine noch der andere überhaupt in der Lage, die epistemologische Binnendimension der philosophischen Renaissance freizulegen: die Verschränkung nämlich des rationalen Gedankens mit seiner anschaulichen Figuration und die Ausrichtung beider auf einen Typus von »Ideen«, die nicht einzig dem Intellekt, sondern erst dem Bündnis von Intellekt und Imagination zugänglich sind. In diesem Sinne sprach Robert Klein 1958 von einer »tendance générale de cette époque à identifier pensée et image«; aber er fügte auch umgehend hinzu, die Einsicht in diesen renaissance-spezifischen Sachverhalt verdanke sich nicht zuletzt dem »succès particulièrement frappant des nouvelles méthodes« – neuen Methoden, die in der unter Problemdruck stehenden Ästhetik entwickelt wurden, nicht auf dem vorgeblich so stabilen Fundament einer »Logik« der Geisteswissenschaften oder einer »Logik« der Erkenntnis. In der Tat bedarf die gesamte Frühneuzeitforschung »neuer Methoden«, die sowohl an der Vielfalt der »Textsorten« als an deren eigenen, wie man heute so gerne und verlegen sagt: »prämodernen« Fragestellungen sich bewähren. Dilthey hingegen hat seine Forschungen zur

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Renaissance und zum 17. Jahrhundert ganz wenigen Konstruktionsgesichtspunkten untergeordnet, die einzig der Linie seiner Erlebens- und Verstehenslehre aufruhen. »Auffassung und Analyse des Menschen«, Giordano Bruno und der »Pantheismus«, schließlich das »natürliche System der Geisteswissenschaften« im 17. Jahrhundert: mühelos lassen sich in dieser Zusammenstellung die das theoretische Philosophieren Diltheys steuernden Grundgedanken wiedererkennen. Erstens sein kantkritisches Konzept einer »anthropologischen Totalität«; zweitens seine Metaphysikkritik (die im übrigen den metaphysischen Entwürfen der Renaissance nicht gerecht wird: sie bleiben »Entwürfe«, aber sie geraten niemals zu »Systemen« im modernen Sinn); drittens sein Bemühen, den Geisteswissenschaften eine Logik zu unterlegen. Studiert man nun den 1914 erschienenen zweiten Band seiner Gesammelten Schriften, dann wird man zwar der Schilderung einzelner Persönlichkeiten wie beispielsweise Petrarca oder Machiavelli Bewunderung zollen, recht befremdet hingegen sein müssen angesichts von Passagen, die ideengeschichtliche Filiationen ins Bild bringen wollen. Da ist, exempli gratia, von Melanchthon die Rede, der Altertum und Offenbarungsreligion miteinander verbindet und damit Leibniz und Lessing »vorbereitet«. Hinzu tritt die Naturerkenntnis, und nun erwächst »im deutschen Leben und Denken die Universalität des geschichtlichen und philosophischen Blickes, welche den unterscheidenden Zug der deutschen Intelligenz ausmacht«. »Rein und mächtig« trifft endlich alles »im Geist von Herder, Hegel und Ranke zusammen«, um »zur Erkenntnis zu bringen, was der Mensch ist«. Das bleibt, mit Verlaub, Feuilleton, und zwar schlechtes; man sollte und könnte es vergessen – wäre es nicht charakteristisch für Diltheys Operieren mit anonymen »Wirkungszusammenhängen des Lebens«. Oder was soll man anfangen mit Behauptungen wie dieser: daß aus dem »Nacherleben der geschichtlichen Standpunkte in ihrer unverkürzten Eigenheit« ein »universalhistorisches Verständnis« und, man höre und staune, »die Transzendentalphilosophie entstanden« seien? Dilthey hat die Bedeutung der Stoa für die Entwicklung der Geisteskultur der frühen Neuzeit im Prinzip sicherlich richtig eingeschätzt. Wenn er indes die Rezeption der stoischen Affektenlehre in der Renaissance, vornehmlich durch Vives, verfolgt und jetzt in der spinozischen Ethik deren deutliches Echo vernehmen will, dann bringt er eine epochale Zäsur zum Verschleif: die durch nichts zu überbrückende Differenz nämlich zwischen der renaissancehumanistischen ars moralis, die an der Idee zeitlich-geschichtlicher Individualität sich orientiert, auf der einen Seite, und einem wissenschaftlich-geometrischen Ethikkonzept auf der anderen, welches alle affektiven Konflikte sowie deren Ausgleich aus natürlicher Notwendigkeit herleiten möchte – und dies im Ausgang von ei-

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ner Systemidee, derzufolge ein Individuum in seinem Wesen nichts anderes ist als eine endliche Modifikation der absolut-unendlichen Substanz und darum, seiner essentia nach, aller Zeitlichkeit oder Geschichtlichkeit enthoben. Mit anderen Worten: Dilthey achtet nicht der Gefällstrecken und Umbrüche in der Rezeptionsgeschichte des Stoizismus – in seinen auf Wirkungszusammenhänge gerichteten Augen stellt die römische Stoa als ein selber ungebrochenes »natürliches System« moralischer, philosophischer und religiöser Begriffe sich dar, und deshalb vermeint er, die natürliche Weltanschauung der Stoiker, geradezu teleologisch, bis in ein »natürliches System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert« hinein ausdehnen zu können. Nun möchte ich allerdings den Informationswert der plakativen Rede Diltheys von einem »natürlichen System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert« unter Zweifel stellen: Meines Wissens haben sich nicht einmal die konfessionellen Theologien dieser Zeit, deren Schilderung da so viel Raum gegeben wird, als Wissenschaften des »Geistes« begriffen. Wohl zutreffend ist jedoch Diltheys Charakterisierung der Systemidee, die das nach-renaissancistische Saeculum prägt, nämlich: »Abstraktion, die sich ihres Verhältnisses zu der konkreten Wirklichkeit des Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte nicht bewußt blieb« – Toulmin bezeichnet genau dies als verhängnisvolle, bis heute nicht überwundene »Dekontextualisierung«. Dilthey indes beeilt sich, auch das Systemdenken des neuen Jahrhunderts wieder an mutmaßliche »Wirkungszusammenhänge« zurückzubinden: behauptet er doch, schon Humanisten wie Petrarca, Salutati, Rudolph Agricola und Lorenzo Valla hätten, indem sie stoische Texte bearbeiteten, den Weg zum »großen natürlichen System« des 17. Jahrhunderts gewiesen. Das ist nicht nur bloße Konstruktion, sondern eine Konstruktion mit brüchigen Streben; sie verharmlost die Epochenschwelle, die Descartes und Spinoza zwischen ihre Systemphilosophien und den Renaissancehumanismus gelegt haben. Professionelle philosophische Frühneuzeitforschung hat es sich gegenwärtig zur dringlichen Aufgabe gemacht, diese Epochenzäsur zu untersuchen und nicht zu unterlaufen – denn Descartes, um wieder nur ein Beispiel anzuführen, scheut sich nicht, den Petrus Ramus auszuschreiben, um dennoch dessen Gedanken einem gänzlich neuen Gesamtkonzept einzufügen. Dilthey kann der Forschung bei der Untersuchung derartiger Konstellationen keine Hilfestellung geben, nicht zuletzt deshalb, weil er das Metaphysikproblem mit seiner »Phaenomenologie der Metaphysik« (ich verstehe diese contradictio in adiecto nicht) und dem Surrogat eines »metaphysischen Bewußtseins« (mit dem alles und nichts gesagt ist) ebenfalls unterläuft. Wenn ich dann – »mit Achtung«, versteht sich – bei ihm lese, der Pantheismus sei angelegt in einem Panpsychismus, den schon Nikolaus von Kues vertreten habe, oder wenn

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Dilthey mir bedeuten will, Giordano Bruno sei »das erste Glied in der Kette pantheistischer Denker, welche durch Spinoza und Shaftesbury, durch Robinet, Diderot, Deschamps und Buffon, durch Hemsterhuys, Herder, Goethe und Schelling zur Gegenwart geht«, dann schließe ich lieber ganz schnell den zweiten Band seiner Gesammelten Schriften. Denn Schelling wußte von Bruno überhaupt nur durch seine Lektüre der Spinozabriefe Jacobis, und dessen Referat über die Metaphysik des Nolaners hat er überdies in seinem eigenen Dialog Bruno identitätsphilosophisch verfälscht. Schließlich und endlich ist Giordano Brunos Metaphysik vor allem Pantheismus schon durch das Bekenntnis des Nolaners zu der Transzendenz Gottes als eines »unerreichbaren unendlichen Objekts« gefeit. Das allerdings steht wiederum in Texten, die man gründlich lesen können muß. Diltheys Bedeutung liegt in seinen Bemühungen um eine Verlebendigung des Historismus. Doch das unaufgelöste Problem, das in diesen Bemühungen steckt, hat Ernst Schulin zutreffend umschrieben, wenn er einerseits betont, daß Dilthey »mehr als ein anderer Philosoph von der Geschichtswissenschaft verstand«, aber andererseits auch fragt, wie es wohl möglich sei, dessen »irrationale Kunst der Einfühlung zu verwissenschaftlichen«. Vor den theoretischen und metaphysischen Texten der frühen Neuzeit jedenfalls versagt diese Kunst. Gibt für Diltheys geistesgeschichtliche Forschung sein Bekenntnis »Selbstbesinnung versus Erkenntnistheorie« das Leitmotiv ab, dann lautet demgegenüber das Führungsaxiom der ideengeschichtlichen Analysen Cassirers: Erkenntnistheorie als Konstitutionslehre – und zwar als Konstitutionslehre, die mit einem aus dem Kantianismus hergeleiteten Funktionsbegriff als ihrem Schlüsselkonzept arbeitet. Zwar lassen sich unschwer Punkte aufzeigen, an denen einige Gedankenlinien der beiden Philosophen sich treffen: wie Dilthey spricht auch Cassirer von einem »Einfühlen« oder von einem »Verstehen des vergangenen Lebens«, und der lebensphilosophischen Metaphysikkritik des einen läuft die Absicht des anderen, den metaphysischen Substanzbegriff durch Funktionsbestimmungen zu ersetzen, parallel; auch dürfte Diltheys »Lebensausdruck« dem Ausdruckscharakter des Cassirerschen »Symbols« so fern nicht sein. Ich halte indes dafür, daß solche Entsprechungen nur Oberflächen markieren und daß Cassirers »funktionale Methode« sich in tiefgreifender Weise von Diltheys lebenshermeneutischem Prozedere unterscheidet. Mit dem Einsatz des Operators »Funktion« – einem Erbe aus dem Nachlaß Kants und des Neukantianismus, das er aber nun im Sinn der mathematischen »Reihenbildung« überhöht – bewegt sich Cassirer überdies auf einem ganz neuen und gefährlichen Experimentierfeld, so gefährlich, daß man zweifeln muß, ob auf ihm eine Methodologie der Ideengeschichte, die philosophische Anleitung zur Entschlüsselung

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von historischen Texten liefern will, überhaupt noch Platz greifen kann. Eines der Paradigmen, die derartige Zweifel nähren, ist Cassirers Lektüre des Galileo Galilei, ein anderes sein Umgang mit Giovanni Pico della Mirandola. Galilei betone doch immer wieder, so heißt es in Cassirers Buch Individuum und Kosmos in der Renaissance, daß die »ragioni«, welche die Erscheinungen in der Natur beherrschen, diesen Erscheinungen durch bloße sinnliche Wahrnehmung nicht abzulesen sind; um solche Gesetze zu »entdecken«, bedürfe es vielmehr der Spontaneität des mathematischen Verstandes. Und das »Ewige und Notwendige« in den Dingen – eben die »ragioni« oder Gesetze – wisse jeder Verstand »von sich aus«, das meint: indem er Hypothesen setzt, die durch das Experiment sodann bekräftigt werden. Der aufmerksame Leser Cassirers fragt sich natürlich sofort: Ist Galilei nun ein Metaphysiker jenes »Ewigen und Notwendigen«, das Gott dem Buch der Natur eingeschrieben hat? Oder ist er, nicht nur für Cassirer, ein Empiriker des mathematisch geführten Experiments, ganz gemäß dem Diktum Kants, demzufolge »die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt«? Und der nicht bloß aufmerksame, sondern auch kritische Leser begreift jetzt sehr rasch, daß Cassirer klammheimlich über Galileis Entdeckung ewiger und göttlicher Naturgesetze durch wissenschaftliche Forschung den kantisch gefütterten Mantel eines Entwurfs aus der »Spontaneität« menschlicher Vernunft geworfen hat, daß er also den Text Galileis durch die Blaupause einer kantischen Textur hindurch liest – oder, genauer noch: daß Cassirer die metaphysisch gemeinte Aussage Galileis über »ewige und notwendige« Gesetze in der Natur mit einem Funktionsschema, welches die Notwendigkeit der Hypothesensetzung mit der Empirie des hypothesenprüfenden Experiments verknüpft, schlicht verdeckt. Doch nicht nur die Galileilektüre Cassirers verbirgt eher schlecht als recht ihr schematisch-kantisches und funktionalistisches Innenfutter. Dieses kommt auch zum Vorschein in einem Essay mit dem Titel Einige Bemerkungen zur Frage der Eigenständigkeit der Renaissance, in dem Cassirer an der Oratio de hominis dignitate des Giovanni Pico noch deutlicher als im Fall Galileis vorführt, wie wenig er – umwillen ihrer »Funktion« – auf den substanziellen Inhalt von Texten achtet. Pico läßt bekanntlich in seiner Oratio den Schöpfergott am Ende der Schöpfungswoche zum Menschen sprechen: »Die Natur aller übrigen Geschöpfe ist nun fest bestimmt und durch die Gesetze festgelegt, die wir erlassen haben. Die deinigen sollst du dir ohne Einschränkung selber vorgeben, nach deinem eigenen Ermessen. Ich habe dich hingestellt als die Mitte der Welt – weder sterblich noch unsterblich geschaffen –, damit du dich zu der Gestalt formst, die du magst: so als wärest du dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer«. Und nicht überlesen darf man den Kommentar,

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den der Renaissancehumanist dazu niederschreibt: »Mit keinem Los der Geschöpfe zufrieden, wird der Mensch – zurückgezogen ins Zentrum der Einheit mit sich selbst – in der einsamen Dunkelheit des über allem stehenden Vaters alles andere übertreffen.« Der Text hat mancherlei Exegesen erfahren, bis hin zu der existenzphilosophischen Auslegung Maritains. Sein Brennpunkt ist zweifellos das Thema »Freiheit«, auch in den Augen Cassirers; aber man muß genauer hinsehen, damit man begreift, um welche Art »Freiheit« es sich hier handelt. Pico spricht nämlich von einer ontologischen Ortlosigkeit als dem Schicksal, das einzig dem Menschen, aber keiner anderen geschaffenen Natur widerfährt; die dignitas hominis besteht paradoxerweise darin, einer Hierarchie des Seienden mit deren Gesetzen nicht eingefügt zu sein, das Stehen des Menschen »in der Mitte der Welt« garantiert keinen festen Stand im Sein – und dieser ontologische Befund ist es, der den Menschen in ein Freiseinmüssen zwingt, in eine Deontik der Freiheit geradezu, die in »einsame Dunkelheit« führt. Das ist der Inhalt, die Substanz dieses Textes. Pico spricht ganz anders von Freiheit als etwa Luther, Kant oder Hegel: er gibt dem »Problem der Freiheit« einen einzigartigen Inhalt. Cassirer glaubt indes, im Hinblick auf Pico und im Rückblick auf das »Problem der Freiheit«, das »zu den ewigen Fragen der Philosophie gehöre«, schreiben zu dürfen, die Eigenständigkeit der Renaissance liege »viel weniger in dem neuen Inhalt« ihres Denkens als »in den neuen Energien, die sie weckte«, und apodiktisch fügt er hinzu: »Der Erforscher der Geistesgeschichte fragt nicht in erster Linie nach dem Gehalt bestimmter Gedanken. Er fragt nach ihrer Funktion. Was er studiert – oder studieren sollte – ist weniger der Inhalt der Gedanken als ihre Dynamik.« Was Cassirer hier dem Geistes- und Ideengeschichtler unsinnigerweise vorschreiben will, ist nichts anderes als das neukantianisch unterfütterte und mathematisch orientierte Programm, das er in seinem Werk Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik entwickelt hatte – mit diesem Programm läßt sich indes die Ideengeschichte der frühen Neuzeit in gültiger Weise nicht erschließen. Anders als Dilthey hat Cassirer die Ideengeschichte aus ihren gesellschaftlichen Kontexten wie mit einem Skalpell herausgeschnitten – mit dem Resultat, daß der beträchtliche Einfluß der aus Spanien und Portugal vertriebenen jüdischen Kabbalisten auf die Geisteskultur des nördlicheren Europa gar nicht mehr sichtbar wird. Gleichsam mit einem stumpfen Fallbeil arbeitet er hingegen, wenn er Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit einzig dem Motto unterstellt: »Die analytische Aufgabe, die dem modernen Denken gestellt war, findet ihren logischen Abschluß im System Kants« – kein Wunder mithin, daß man sich darüber mokieren konnte, wie Cassirer die Re-

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naissance »hauptsächlich von Vorkantianern bevölkert« sieht. Immer wieder zaubert er, wie ein Kaninchen aus dem Zylinder, aus Renaissancetexten einen »Ich-Gedanken« heraus: aus der Theologia Platonica des Marsilio Ficino (der nirgendwo von derartigem spricht) ein »Recht des individuellen Ich«, und aus der Denklandschaft der Renaissance insgesamt (man ist davon schon gar nicht mehr überrascht) »das Ich und seine Funktion«. Die Philosophie der Renaissance weiß sehr wohl um subjektiven menschlichen Geist – mens est subjectum veritatis aeternae, schreibt Ficino –, doch niemals reduziert sie solche »Subjektivität« auf ein Funktionen setzendes »Ich«. Allerdings fällt über Cassirers kantische mise en scène nun auch blitzschnell ein kantischer Theatervorhang. Denn die Renaissance habe ja nun, leider, das Ich nicht in seiner wahren Funktion betrachtet; denke sie es doch lediglich »wie einen besonderen Gegenstand« und bringe sie es damit doch wieder »zum Erlöschen in einem objektiven Dasein«. Auch das ist Feuilleton, formatiert im Schriftgrad Paul Natorps, für den Denken nichts anderes sein durfte als ein »Setzen von Beziehungen«. Nicht unterschätzen darf man freilich Cassirers nahezu instinktives Gespür für verwickelte Problemlagen: so im Fall des Nikolaus von Kues, den er zunächst zum spiritus rector der Renaissancephilosophie erhob, um sodann unter dem Druck historistischer Einwände diese Einschätzung zurückzunehmen – obwohl er eine so gänzlich falsche Fährte gar nicht wies, wie neuere Forschungen zur Rezeption des kusanischen Philosophierens auch belegen. Ähnlich im Fall des Charles de Bovelles, dessen Liber de sapiente er ja erstmals dem Publikum bekannt gemacht hat und dessen Metaphorik einer Spiegelung der Welt durch den Menschen ebenso wie des Menschen durch die Welt er durchaus zu würdigen wußte, obgleich sie seinem eigenen philosophischen Theoriekonzept so gar nicht entsprach. Darum entkommt am Ende auch dieser Carolus Bovillus dem kantischen Fallbeil des Ernst Cassirer nicht, hatte er doch geschrieben: »Der Mensch ist der Spiegel des Universums, ein natürlicher Spiegel der Dinge, allem gegenübergestellt als Mittelpunkt von allem«, aber auch: »Der wahre Ort des Spiegels liegt in der Verneinung von allem«. Und Cassirer interpretiert nun: »Das Ich ist der Spiegel des Alls, der alle Strahlen, die von diesem ausgehen, in sich versammelt.« Der Mensch, von dem die Rede war, schrumpft zu einem synthetisierenden Ichpunkt, der die Lichtstrahlen des Universums auf sich »versammeln« muß, aber nicht »verneinen« darf. Der ars oppositorum, die Charles de Bovelles an die Stelle der coincidentia oppositorum des Cusanus rückte, ging es jedoch nun gerade um ein Einschluß- und Ausschlußverhältnis zwischen Mensch und Welt, zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos, und keineswegs um ein Ich, das seine Beziehung zur Welt allein »in sich versammelt«. Cassirer exerziert hier eine Zer-

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störung der Spiegelmetaphorik, die wesentlich zur Epistemologie der Renaissance gehört, und nicht einmal seine Philosophie der symbolischen Formen macht dieses Zerstörungswerk rückgängig. Denn diese bleibt in ihrer Durchführung genau das, was ihr Name schon ankündigt: die Theorie einer transzendentalen Form und ihrer Funktionen. Zwar vermag Cassirer die kantisch-neukantianische Kritik der Erkenntnis insofern zu einer Kritik der Kultur auszuweiten, als er – in seiner eigenen Redeweise gesprochen – »Sinnliches« und »Sinn« kraft einer »symbolischen Form« zueinander korreliert. Höchst bedenklich ist indes, wie er die Symbolregionen des Mythos, der Kunst, der Sprache und der Wissenschaft (für welch letztere die mathematische Naturwissenschaft bei ihm immer das Vorbild abgibt) von einer formalen Synthesis als Bedingung aller materialen Wahrnehmungs- und Begriffsfiguren abhängig macht – und dabei den im Binnenraum der philosophischen Konzeptualisierung selber ablaufenden Symbolisierungsprozessen keine Aufmerksamkeit mehr schenkt: so als würde philosophische Reflexion nicht immer auch ihrer höchsteigenen Symbolsprache bedürfen. Was Cassirer beschäftigt, ist nicht der philosophische Reflexionsgehalt in seiner symbolischen Form, sondern unter einer ihn synthetisierenden symbolischen Form. Cassirer zeigt sich dem Modell einer lediglich »hypotypotischen« Darstellung, wie Kant es im § 59 der Kritik der Urteilskraft vorgestellt hat, zu sehr verpflichtet, als daß er sich jener Darstellungsstrategie frühneuzeitlicher Texte, denen eine »tendance générale à identifier pensée et image« eingeschrieben ist, überhaupt noch nähern könnte. Ebensowenig wie Diltheys Hermeneutik der »Objektivationen des Lebens« ist Cassirers transzendental geführter Funktionalismus in der Lage, die epistemologischen Probleme zu sichten, welche die Ideengeschichte der Renaissance auf und hinter ihrem Rücken transportiert. Beide Philosophen liefern Außenbeschreibungen von Geistesgeschichte, die in deren Binnenstrukturen nicht eindringen. Die Schriften Wilhelm Diltheys und Ernst Cassirers »mit Achtung« zur Kenntnis zu nehmen ist eines – die in ihnen ungestellt und unbeantwortet bleibenden Fragen zu artikulieren ein anderes.

Literaturverzeichnis Cassirer, Ernst: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit I–IV, Darmstadt 1973–1974. – Philosophie der symbolischen Formen I–III, Darmstadt 1964. – Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Darmstadt 1969. – Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Darmstadt 1976. – Einige Bemerkungen zur Frage der Eigenständigkeit der Renaissance, in: August Buck (Hrsg.), Zu Begriff und Problem der Renaissance, Darmstadt 1969, 212–221.

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The Cambridge History of Renaissance Philosophy, ed. Charles B. Schmitt and Quentin Skinner, Cambridge University Press 1988. Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften, Leipzig und Berlin 1922 ff., Göttingen 1969 ff. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1971. Huizinga, Johann: Wege der Kulturgeschichte, München 1930. – Das Problem der Renaissance, Berlin 1991. Klein, Robert: La forme et l’intelligible, Paris 1970. Kristeller, Paul Oskar: Humanismus und Renaissance I, München 1974. – Renaissance Thought and Sources, Columbia University Press 1979. LaCapra, Dominick / Kaplan, Steven L. (Hrsg.): Geschichte denken, Frankfurt am Main 1988. Otto, Stephan: Rekonstruktion der Geschichte. Zur Kritik der historischen Vernunft, Bd. I, München 1982; Bd. II, München 1992. – Renaissance und frühe Neuzeit, Stuttgart 1984. – Das Wissen des Ähnlichen. Michel Foucault und die Renaissance, Frankfurt am Main u. a. 1992. – Nikolaus von Kues, in: Otfried Höffe (Hrsg.), Klassiker der Philosophie, Bd. I, München 1981, S. 245–261. – Rhetorische Techne oder Philosophie sprachlicher Darstellungskraft? In: Zeitschrift für philosophische Forschung 37 (1983) S. 497–514. – Geometrie und Optik in der Philosophie des Marsilio Ficino. Zur Entstehung der Ontologie des Funktionalismus in der Renaissance, in: Philosophisches Jahrbuch 98 (1991) S. 290–313. – Figur, Imagination und Intention. Zu Giordano Brunos Begründung seiner konkreten Geometrie, in: Heipke, Klaus / W. Neuser / E. Wicke (Hrsg.), Die Frankfurter Schriften Giordano Brunos und ihre Voraussetzungen, Weinheim 1991, S. 37–50. – Die absolute Definition. Zur neuzeitlichen Grundorientierung der kusanischen Metaphysik, in: Dodel, Richard / E. Seidel / L. Steindler (Hrsg.), Ideengeschichte und Wissenschaftsphilosophie, Köln 1997, S. 23–32. – Représentation et ressemblance. Stratégies de la »repraesentatio mundi« dans les modes de pensée de la Renaissance et dans la philosophie cartésienne, in: Emmanuel Faye (Hrsg.), Descartes et la Renaissance, Paris 1999. – Gli occhi e il cuore. Il pensiero filosofico in base alle »regole« e alle »leggi« della sua presentazione figurale negli »Eroici furori« di Giordano Bruno, in: Bruniana & Campanelliana 5 (1999), S. 13–24. – Das »Symbolum der wahren Philosophie«. Die »nolana philosophia« und ihre Vermittlung durch Jacobi an Schelling (im Druck). Ritter, Gerhard: »Via antiqua« und »via moderna« auf den deutschen Universitäten des 15. Jahrhunderts, Darmstadt 1975. Robinet, André: Aux sources de l’esprit cartésienne, Paris 1996. Storia delle idee. Problemi e prospettive (a cura di Massimo Luigi Bianchi), Roma 1989. Schilpp, Paul Arthur: Ernst Cassirer, Stuttgart u. a. 1949. Schulin, Ernst: Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch, Göttingen 1979. Wind, Edgar: Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt am Main 1981.

Rudolf A. Makkreel Dilthey and Cassirer on the Development of Modern Aesthetics In this paper I propose to consider Wilhelm Dilthey’s essay »Die drei Epochen der modernen Aesthetik und ihre heutige Aufgabe« of 1892 in relation to his 1892–93 essay »Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert,« in order to provide a more encompassing framework that will allow for a better understanding of what is at stake in the development of modern aesthetics. It is relatively well known that Dilthey divided this development into three epochs, the first of which constitutes the rational aesthetics of the seventeenth century, the second the analysis of aesthetic impressions carried out by the British empiricists in the eighteenth century, and finally the transcendental-historical approaches that blossomed in Germany in the nineteenth century. All three epochs of aesthetics are evaluated in relation to the task of aesthetics as Dilthey conceives it at the end of the nineteenth century. This makes the essay much more programmatic than the text by which we will examine Ernst Cassirer’s understanding of the emergence of modern aesthetics: the extensive chapter on »Die Grundprobleme der Ästhetik« in his 1932 work Die Philosophie der Aufklärung. This well-delineated account by Cassirer of the various phases that contributed to the rise of the Enlightenment system of aesthetics is a model of philosophical history. Dilthey’s essay on the three epochs of aesthetics is also largely on the philosophical level, but it is at the same time oriented toward the problem of finding the right human science approach to aesthetics. From this perspective, the first two epochs of aesthetics are judged to be inadequate because they are too much under the spell of the natural sciences. What is interesting about Dilthey’s »Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert,« is its much more sympathetic understanding of the natural system of thought. This is achieved by interpreting the natural system not merely in terms of the rising natural sciences, but also in relation to more general views of natural order that go back at least as far as the Stoics.

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1. I will briefly summarize the accounts of the rise of aesthetics given by Dilthey and Cassirer respectively. Dilthey regards the natural system of aesthetic laws as basically inspired by the thought of Descartes and Leibniz. Descartes had claimed that the source of our aesthetic pleasure in sensuous impressions is the rational or logical. Aesthetic pleasure is a function of the regularity of artistic form. All artistic creativity is thus rule-bound. Dilthey sees Leibniz as deepening this rational principle. He writes: »Dies Prinzip empfängt durch Leibniz psychologische Faßbarkeit. Er stimmt mit den französischen Klassizisten zunächst darin überein, daß der logische Charakter der poetischen Form, zumal Einheit im Mannigfaltigen, der Grund des ästhetischen Gefallens an ihr sei. Und er führt in der Hauptstelle über die kleinen oder unmerklichen oder dunklen Vorstellungen (E. 197 b) den Geschmack auf dies Rationale zurück. Vermittels seiner Hypothese leitet er dann auch das sinnliche Gefallen aus einer verborgenen Verstandesmäßigkeit in der Sinneswahrnehmung ab . . . Die Betätigung der einheitlichen seelischen Kraft ist überall eine Vereinigung des Vielen in Einem, und die seelische Kraft genießt den Grad ihrer eigenen Vollkommenheit, wenn sie das Mannigfache so ihrer Einheit unterwirft.«1 Leibniz’s formulations make it possible to explain why aesthetic qualities can be intellectual and nevertheless affect feeling. We feel a perfection that the intellect does not yet understand, but seems to be in principle understandable. The intellectual pleasures are compared to architectural projections. I quote Dilthey again: »Und so entspringt neben dem Vermögen, die Harmonie des Universums durch die architektonische Einheit des Denkens zu erfassen, das andere Vermögen, einen Gegenstand durch architektonische Versuche nachzuahmen und ein Objekt in Ähnlichkeit Gottes gleichsam zu schaffen.«2 Dilthey sees these Leibnizian aperçus elaborated by Baumgarten, Meier and Euler with the cooperation of the English theory of the feelings as forming the first real systematic aesthetics. Its value is both explanative and normative because it regards even the freest expressions of the artistic imagination to stand under rules. Such rules are found in harmonics and metrics and in the principles of dramaturgy. But ultimately, they go back to the rational order of the universe.

Wilhelm Dilthey, Die drei Epochen der modernen Aesthetik und ihre heutige Aufgabe, in: Gesammelte Schriften (GS), vol. VI (Stuttgart: Teubner 1958), 249–50. 2 Dilthey, GS VI, 251. 1

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The second epoch of modern aesthetics involves the analysis of the aesthetic impression. Methodically it arose from the analytic direction that the human sciences took in the eighteenth century and adopted on the basis of Locke and Hume. But Dilthey supplements his account of what is involved in this new approach by giving some indications why it could prosper in eighteenth-century England. Here the life of the court was not as dominant as it had been in Italy and France. The arts in eighteenth-century England had to speak to the rising bourgeoisie just as the painters in seventeenth-century Holland had businessmen as their main clients. Architectural splendor was replaced with a taste for the domestic scene. Dilthey writes: »Nun gewann die Kunst der Innerlichkeit, die im stillen Gemach, am Spinett jedem offen stand, neben der Poesie die Herrschaft und hat sie bis auf unsere Tage behauptet. – Und gleichzeitig erlangte formloses, stimmungstiefes Naturgefühl im ästhetischen Haushalt dieser neuen Zeit die breiteste Bedeutung. Mit der wissenschaftlichen und philosophischen Auffassung der Selbständigkeit der Natur hatte die Loslösung der Landschaft vom Figurenbilde sich vollzogen, und im Zeitalter des Spinoza, Leibniz und Shaftesbury haben Claude Lorrain, Ruysdael und Hobbema das selbständige landschaftliche Kunstwerk geschaffen. Dies Naturgefühl ward intimer, und es vertiefte sich mehr in das Detail unter dem Einfluß der Naturbeobachtung eines Buffon und Linné. So finden wir es nun in der Poesie des 18. Jahrhunderts vor. Der erste große Dichter des Naturgefühls, Rousseau, war ein leidenschaftlicher Botaniker.«3 Dilthey is not claiming that this method of describing and analyzing aesthetic impressions is exclusively British. Batteux, Dubos, D’Alembert and Diderot also made contributions to this method. Nevertheless, Burke and Home, also known as Lord Kames, are chosen as the typical representatives of this empirical approach to aesthetics that describes and analyzes the responses of spectators to their impressions. According to them, it is not enough to generally distinguish the feelings of the beautiful and the sublime, but one must consider what specific properties of objects, such as their size and shape, arouse these responses. This allows artists to calculate the effect they will have on their audience. Whereas the natural-rational approach to aesthetics assumed that all rules are universal because they ultimately stem from the overall order of the universe, this new descriptive, analytical-empirical approach could not appeal to any deductive sense of universality. How do we know that everyone will find a figure composed of circular shape pleasing? If there is any regularity of response to be found empirically, it is purely inductive. 3

Dilthey, GS VI, 255–56.

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David Hume is the first to deal with this problem in terms of a standard of taste. He appeals to the consensus built-up among educated spectators and to the feeling of sympathy – all ideas going back to the Roman Stoics, Dilthey points out. Dilthey’s critique of this British approach is that it cannot account for creativity in art – it is purely receptive in nature. More importantly, it cannot account for the overall effect that a work of art has on us. This overall effect is not just the sum total of isolated properties. The associationist psychology of this approach is totally inadequate to account for the stylistic unity of a work and the capacity of an artist to produce it. These shortcomings of the second epoch are partly dealt with in the third epoch, which is called the historical method of the nineteenth century. But this is not just any historical method – it is the historical method of certain Germans that focuses on the understanding of the genius of other civilizations as in Winckelmann and Herder. It is also a historical method that is imbued with a transcendental appreciation for spontaneity and creativity as in Schiller, Schleiermacher, Hegel and Friedrich Schlegel. This produced speculative accounts of the lawful phases of the development of the arts that Dilthey found suggestive, but not scientifically justified. Dilthey regards it as the task of his aesthetics to give more empirical content to this historical approach. It provides the correct framework for aesthetics, but it needs to be filled in with a better understanding of how the arts affect the overall life of the mind – not only the intellect and the feelings, but also the will itself. Only then can we consider what aspects of the systems of rationalism and the empirical analysis of felt impressions can be salvaged.

2. Cassirer’s account of Enlightenment aesthetics seems to fit basically in the parameters of Dilthey’s first epoch. Like Dilthey, Cassirer begins with the Cartesian background provided by the seventeenth century and understands the eighteenth century as the century of criticism that works out the implications of what it means for reason to know nature. Cassirer writes: »Im Gehalt der Kunst und im Gehalt der Philosophie wird jetzt eine Zusammengehörigkeit gesucht, wird eine Verwandtschaft behauptet, die zunächst mehr dunkel gefühlt zu werden scheint, als daß sie sich in scharfen und bestimmten Begriffen aussprechen ließe. Aber als die eigentliche und wesentliche Aufgabe der Kritik erscheint es nun eben, diese Schranke zu überwinden. Sie will das Clair-obscur, das Hell-Dunkel der ›Empfindung‹ und des ›Geschmacks‹ mit ihrem Strahl

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durchdringen; sie will beide, ohne sie in ihrem Wesen anzutasten und zu verändern, in das Licht der reinen Erkenntnis rücken. Denn das achtzehnte Jahrhundert verlangt auch dort, wo es eine Grenze des Begriffs zugesteht, wo es ein ›Irrationales‹ annimmt und anerkennt, ein klares und sicheres Wissen von eben dieser Grenze selbst. Sein tiefster Denker war es, der, am Ende des Jahrhunderts, eben diese Forderung zum eigentlich konstitutiven Merkmal der Philosophie überhaupt erhob, der in der philosophischen ›Vernunft‹ selbst nichts anderes als ein ursprüngliches und radikales Vermögen der Grenzbestimmung sah.«4 It is interesting to note that despite this forward reference to Kant, the thinker of critical limits, this long chapter does not end with his aesthetics but with that of Lessing, the thinker of inclusive tolerance. The preface of this work makes it clear that Cassirer does not regard Kant as an Enlightenment philosopher. Kant’s critical philosophy involves a Revolution der Denkungsart after which there can be no simple return to the questions and answers of Enlightenment philosophy. The rules of Enlightenment philosophy are rooted in a natural order, whereas the rules of Kant’s transcendental philosophy are legislated by the mind itself. The starting premise of the classical seventeenth-century aesthetics of Batteux and Boileau is that the rational order of nature is the model for aesthetic order as well. It is formulated as follows by Cassirer: »Wie es universelle und unverbrüchliche Gesetze der Natur gibt, so muß es Gesetze von derselben Art und von der gleichen Dignität auch für die ›Nachahmung der Natur‹ geben. Und schließlich müssen sich all diese Teilgesetze einem einzigen und einfachen Grundsatz, einem Axiom der Nachahmung überhaupt, einfügen und unterordnen lassen.«5 Cassirer makes the point against Alfred Bauemler that it is a mistake to consider this logically permeated conception of a law-bound aesthetics as interested only in unity and uniformity. Its aim is always unity in multiplicity. » . . . im Bereich der Kunst handelt es sich für den klassischen Geist nicht um die bloße Negation der Vielheit, um ihre Aufhebung und Auslöschung, sondern um ihre Gestaltung, um ihre positive Beherrschung und Bindung. Boileau strebt in der »Art Poétique« nach einer allgemeinen Theorie der Dichtungsarten, wie der Geometer nach einer allgemeinen Theorie der Kurven strebt. Er will, aus der Fülle des Wirklich-Vorhandenen, das »Mögliche« herauspräparieren, wie der Mathematiker den Kreis, die Ellipse, die Parabel in ihrer ›Möglichkeit‹, d. h. in dem konstruktiven Gesetz, das ihnen zugrunde liegt, erkennen will.«6 Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung (Tübingen: Verlag von J. C. B. Mohr [ Paul Siebeck ] 1932), 369–70. 5 Cassirer, 375. 6 Cassirer, 387. 4

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Cassirer goes on to point out that just as natural science changes from a deductive model to a more descriptive one, aesthetics shifts from an objective classical model, where nature meant the immutable nature of things, to a subjective model where the nature to be described is the nature of man. Here we shift from Boileau to Bouhours, a figure not mentioned by Dilthey. Bouhours replaces Boileau’s spirit of correctness with a new spirit of sensitivity (délicatesse). Cassirer writes: »Was hier ›délicatesse‹ genannt wird, das ist gleichsam ein neues Organ, das nicht, wie das mathematische Denken, auf Verfestigung, auf Stabilisierung und Fixierung der Begriffe ausgeht, sondern das sich umgekehrt in der Erfassung der feinsten Schattierungen und der raschen Übergänge äußert.«7 What Dilthey placed in a separate epoch of the description and analysis of aesthetic impressions is incorporated by Cassirer as a distinct phase of a larger conception of a developing, fundamentally rational, systematic aesthetics. Whereas Dilthey called rationalist aesthetics a natural system because it is rooted in a metaphysical conception of nature as rule-bound and orderly, it is clear that the empiricist approach of the second epoch is oriented by a conception of the methodology of the natural sciences. Thus for Cassirer, the determinacy of Boileau’s classicism and the indeterminacy of Bouhours are two sides of the one coin of nature philosophy, or two phases of a larger development. The point of the new stress on flexibility is to startle the mind and arouse feeling. The delicacy of Bouhours goes over into the sentimentalism of Dubos and then Hume, who writes: »All sentiment is right; because sentiment has a reference to nothing beyond itself, and is always real, wherever a man is conscious of it. But all determinations of the understanding are not right; because they have a reference to something beyond themselves, to wit real matter of fact, and are not always conformable to that standard.«8

3. Cassirer deals with the third phase of Enlightenment aesthetics in a section called »Die Ästhetik der Intuition und das Genieproblem.« He shows how Shaftesbury followed neither the path of objective classicism nor that of sentimentalism and Lockean empirical analysis. Without mentioning Dilthey, Cassirer nevertheless finds his way of dividing the epochs inadequate for understanding Shaftesbury when he says that he Cassirer, 401–02. David Hume, Of the Standard of Taste, in: Essays Moral, Political, and Literary, eds. T. H. Green and T. H. Grose (London / New York: Longmans, Green and Co. 1898), 268. 7 8

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neither analyzed beauty theoretically to reduce it to rules, nor described it psychologically to explain it genetically.9 Neither reason nor empirical analysis can probe the depths of aesthetic experience according to Shaftesbury. This depth is available only to an intuitive intellect that does not construct the whole from its separate parts, but conceives every part on the basis of a sense of the whole. When an artist creates in this manner, he does not imitate merely the objects of nature, which are already products. What is really imitated is the very act of producing the world, or as Cassirer adds in his own words, »nicht das Gewordene, sondern das reine Werden . . .«10 Cassirer’s philosophy of symbolic forms follows a similar trajectory from product back to productive energy, from ergon to energeia. In Shaftesbury’s case, the creative energy of the artist is a kind of God-inspired enthusiasm; in Cassirer’s case, it is a transcendentally inspired formative activity. In the former, the individual genius is subordinated to a universal but natural force; in the latter, to a universal symbolic form. Cassirer’s enthusiasm for Shaftesbury goes too far, however, by also claiming that he led British aesthetic theory to extricate itself from empiricism. To be sure, Shaftesbury inspired many subsequent British aestheticians, but I think that Dilthey is right to claim that their approach remains largely descriptive and analytical. Cassirer justly criticizes Baeumler for not acknowledging the importance of Shaftesbury for later theories of genius such as Kant’s: »die Lehre Shaftesburys bleibt hier völlig im Hintergrund und wird nirgends in ihrer entscheidenden Bedeutung erkannt und gewürdigt.«11 But it would not be fair to extend this criticism to Dilthey. Although Dilthey only mentions Shaftesbury twice in »Die drei Epochen,« he figures quite prominently in the volume Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Among the several discussions of Shaftesbury, there is a ten-page section in »Aus der Zeit der Spinoza-studien Goethes« in which Dilthey cites many passages from Shaftesbury that informed Goethe’s writings on nature. The most striking of these are the following passages from Shaftesbury. Note how much Dilthey’s selection stresses the references to life in Shaftesbury: »Die Urquelle des Lebens ist allweit verteilt und von unendlich abgeänderter Mannigfaltigkeit; . . . Alles lebt, kehrt durch beständigen Wechsel immer ins Leben zurück. Die vergänglichen Wesen verlassen ihre erborgten Formen und treten die Elemente ihrer Substanz immer neuen Ankömmlingen ab. Sowie die Reihe an sie kommt, ins 9 10 11

See Cassirer, 417. Cassirer, 425. Cassirer, 427n.

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Leben gerufen, schauen sie das Licht und vergehen im Schauen, damit auch andere Zuschauer der herrlichen Szene werden. Freigebig und groß, teilt sie sich so vielen als möglich mit und vervielfältigt die Gegenstände ihrer Güte ins Unendliche. . . . Neue Formen gehen ins Dasein hervor, und werden gleich den alten zerstört, so bleibt doch die Materie, woraus sie zusammengesetzt waren, nicht ungenützt, selbst in der Verwesung. Dieser verworfene Zustand ist bloß der Weg oder Übergang zu einem besseren.«12 These passages from Shaftesbury are shown to anticipate Goethe’s claim that nature employs change and death to communicate and multiply itself. More generally, they bring out what prefigures Dilthey’s own Poetik der Steigerung, which stresses the way that the arts intensify ordinary life. Dilthey would want to supplement any possible regress to archetypal creative principles or to fundamental symbolic forms, with a forward–looking theory of creative development. Dilthey is very clear, for instance, that a reconstructive hermeneutics in the manner of Schleiermacher’s search for a Keimentschluß that looks for the basic seminal content of a work is inadequate. Whatever the author’s original decision, there will be other influences and interventions that shape the final product. The creative impulse must, like life itself, be able to make the most of unexpected eventualities. Dilthey’s main theses about the poetic imagination are that it works to intensify and complete our ordinary experience of the world. It is less concerned with archetypes than with historically developed types. There seems to be more agreement between Dilthey and Cassirer when it comes to recognizing the Stoic influences on Shaftesbury. Dilthey sees a natural fit between the traditional Stoic notion of nature as a harmonious, cosmic system and the less systematic appeals to life as an ultimate reference point in Shaftesbury, Goethe and his own philosophy. Cassirer’s parallel thesis is that Shaftesbury transforms the ethical Stoic demand for »life according to nature« into the idea of fashioning one’s character aesthetically. Cassirer writes: »Den reinsten Einklang zwischen sich selbst und der Welt stellt der Mensch erst durch das Medium des Schönen her. Denn hier begreift er nicht nur, sondern hier erfährt und weiß er, daß es ein und dieselbe Urform ist, auf der alle Ordnung und Regelmäßigkeit, alle Einheit und Gesetzlichkeit beruht; . . .«13 Let us compare this to the following lines about Shaftesbury written by Dilthey around 1902–03 and published in 1914: »So vernimmt er in Wilhelm Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, GS II (Stuttgart: Teubner 1957; 1977), 405–06. 13 Cassirer, 421. 12

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sich die Verwandtschaft der bildenden Kraft mit der des Universums. An der Grenze der großen Epoche einer kosmischen Betrachtung und der englischen Analyse des Menschen, an dem Punkt, an welchem auch Leibniz stand, ensteht ihm eben aus der Verbindung der Vertiefung in sich selbst und der Betrachtung des Universums ein Fortschritt über den vorhandenen objektiven Idealismus, indem er die Verwandtschaft des Vorganges von Gestaltung, in welchem der vollkommene Charakter entsteht, mit der gestaltenden Kraft der Natur selbst erfaßt. Was diesem seinen zentralen Gedanken in der Stoa, in Plato, in den Denkern der Renaissance, und in der Naturauffassung derselben wahrscheinlich auch in Giordano Bruno verwandt war, nahm er auf in sich.«14 Here Dilthey clearly recognizes that Shaftesbury’s capacity to transform the cosmic conception of natural harmony of the Stoics into a more introspective process of self-understanding and self-formation, in effect, places him at the intersection of the two aesthetic epochs that dominated the seventeenth and eighteenth centuries. Dilthey explicitly compares Shaftesbury and Leibniz on this point, and if we take a closer look at »Die drei Epochen,« we see that Dilthey already implicitly acknowledged a similar kind of intersection of the two aesthetic approaches in Leibniz even then. There he shows that Leibniz supplemented Locke’s analysis of the elements of intellect with an intuition that has its background in the Stoics. Specifically, Leibniz supplements Locke’s hypothesis that unconscious inferences inform our experience with the intuition that we have obscure perceptions that register the overall effect of the universe on us. However, Dilthey uses Leibniz not to challenge either the natural system of aesthetics or the analysis of aesthetic impressions, but rather to challenge the homogeneity of these epochs. No epoch is ever totally uniform; there will always be recalcitrant elements. But there is no doubt in Dilthey’s mind that fundamentally Shaftesbury and Leibniz are part of the natural system. The three epochs of modern aesthetics partly overlap. They are not sharply delineated as are Cassirer’s phases. They are open to outside interventions. 4. A closer look at the volume Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation will give us a more expanded conception of what Dilthey means by the natural system and how it served as one of 14

Dilthey, GS II, 399.

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the main intermediaries in the Stoic influence on the moderns. Throughout this volume, Dilthey makes the point that the importance of the Stoics in the formation of the natural system of the human sciences has been overlooked. Here is an instance where Hegel’s interpretation of the history of thought needed to be corrected. Not only did Hegel dismiss the Stoic outlook as an abstract, non-worldly philosophy, but he also viewed the Christian outlook as having superseded it. What Dilthey claims in the essay »Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert«, is that certain Stoic ideas come back to interact with certain Christian ideas and even provide a solution to some of Christianity’s shortcomings. He characterizes this more complexly conceived natural system as follows: »In der Entstehung dieses natürlichen Systems wirken drei sehr heterogene Ideenkreise vornehmlich zusammen: die religiösen Ideen, die römische Stoa und die neue Naturwissenschaft. In meiner Darlegung werde ich besonders eingehend aus den Quellen den Einfluß der römischen Stoa darzutun bemüht sein, da ein solcher Nachweis bisher niemals gegeben worden ist und derselbe doch die Kontinuität in der philosophischen Entwicklung an einem neuen und wichtigen Punkte erweist. Die Abhängigkeit von der römischen Stoa reicht tief in die Psychologie und Politik von Hobbes und Spinoza, in den Pantheismus von Spinoza und Shaftesbury. Aber diese so verschiedenen geistigen Kräfte haben ihren Zusammenhang und ihre einheitliche Macht in der Richtung auf die Ausbildung des natürlichen Systems doch erst aus den religiösen und politischen Bedürfnissen der Zeit erhalten.«15 From the Einleitung in die Geisteswissenschaften and the »Die drei Epochen,« one could easily obtain the impression that the natural system of the human sciences is a pernicious system, because it models the human sciences on the natural sciences and is inadequately historical. To the extent that the natural system ends up affirming the importance of the methodology of the natural sciences, it does have this unfortunate influence on the human sciences. But the same is true for the analytic method of the British empiricists. As Cassirer has shown, they constitute two sides of the same coin. One system grounds the natural sciences in general logical and mathematical principles, the other grounds them by analyzing the results of experience and experimentation. For aesthetics, the natural system is too intellectual and overly restrictive; the analytical method has the opposite vice of being too fragmented and arbitrary, as feelings often can be. What is striking about Dilthey’s interpretation of the natural system in relation to the Renaissance and the Reformation is that it is given a 15

Dilthey, GS II, 93.

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primarily normative and juridical significance. Reformed Christianity had become fanatical and factional. The renaissance of certain Stoic ideas proved essential in encouraging tolerance at least on the social and civil level. This kind of accommodation was necessary to create the kind of tranquility desired by the general populace, and it allowed Grotius among others to construct a system of natural law compatible with bourgeois individualism. The tranquility of peaceful coexistence derived from the Stoics hovers as the ideal that must tame the potential fury of fanatical Protestant sects. Although Christianity often saw itself as a universal religion, after it lost the authority of a central organizing Church, it needed those very abstract ideas of the Stoics that Hegel had dismissed. Actually, what such thinkers as Grotius, Bruno, Hobbes, Shaftesbury, Hume, Spinoza and Leibniz took from the Stoics – often through Seneca and Cicero – was also mixed with ideas from Plato, Aristotle and Plotinus. Many of these ideas express themselves in pantheistic tendencies, and Dilthey speaks of a »stoisch gefärbten Neuplatonismus.«16 In the domain of religion, they lead to the natural religion of Herbert of Cherbury, Hume, Bodin and Lessing. It places reason at the core of not only what we know, but also what we should believe in and strive for. The cosmopolitan and humanistic tendencies of the Stoics is what Dilthey seems to most admire about them. Dilthey’s sympathetic interpretation of the way Reformation theologians such as Melanchthon, Zwingli, and Luther engaged with the Renaissance search for peaceful coexistence and juridical harmony while leaving room for the economic and scientific needs of bourgeois individualism, makes it much more difficult to dismiss the natural system of the human sciences. The natural system is now encompassing enough to contain all three of Dilthey’s Weltanschauungen: the subjective idealism of Christian striving, the objective idealism of Stoic pantheism and the naturalism of scientific entrepreneurship. Then why reject it? I have given one reason already in that it has an inadequate understanding of historicity. And I think that despite its capacity to give individuals some space in the social and political institutions it spawned, the natural system offered a rather negative account of what individual creativity can do. If Shaftesbury radicalized the imitation theory of classical aesthetics by imitating the original productivity of the creative world rather than its finished products, he still cannot account for the creation of something new. He accounts for rebirth, not for the birth of novelty. In a way, Hegel was right that Stoic ideals were too abstract. But for Dilthey the solution is not to substitute Gemeinschaft for Gesellschaft, for 16

Dilthey, GS II, 285.

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that threatens individuality even more. The challenge is to move from the spatially conceived individualism of the natural system to a temporally conceived theory of individuality that regards it not as a permanent possession, but as a goal to be attained. De Tocqueville has pointed out that those American pioneers who most insisted on being rugged individualists tended to be boringly alike. True creative individuality cannot be achieved in isolation, nor can it be found by retracing one’s origins. It needs to be worked out over time in a historical context. The third epoch of aesthetics goes partly toward meeting this requirement in that it considers the historical development of the arts. It even uses the transcendental approach to illuminate the idea of creative genius. But all this is still sketched in general, abstract terms. Dilthey regards it as a still unfulfilled task to provide a better understanding of the way an artist develops an individual style. This requires us to conceive creativity not merely as a spontaneous free act, but as a kind of long-term action that works through the medium in which a work is expressed. Dilthey writes: »So ist in jedem Kunstwerke eine Art und Weise der einheitlichen Handlung, gleichsam eine innere Linienführung von der Gliederung der Massen bis zum kleinsten Ornament wirksam. Dies nennen wir den Stil desselben. Der Stil eines Kunstwerks ruft nun einen Eindruck hervor, der nicht zureichend als Lust, Gefallen oder angenehmes Gefühl charakterisiert wird. Dem Seelenleben des Auffassenden wird vielmehr eine bestimmte Form von Handlung mitgeteilt. In dieser erweitert, steigert, dehnt sich die Seele gleichsam. Es vollzieht sich eine Kraftentwicklung.«17 5. Dilthey’s idea of Handlung as a Kraftentwicklung is important to explicate. It goes back to an idea that already figures in Dilthey’s interpretation of the German Reformation. Dilthey claims that it is insufficient to define the Reformation by means of revival of the Pauline doctrine of salvation through faith. Rather, in accordance with the rise of independence gained through social and economic changes, the Reformation allowed individuals to develop their special relation to the invisible forces evolved by religious consciousness through their own mode of work.18 Dilthey illustrates this in relation to Luther through the idea of Erarbeitung. He claims that Luther did not lay claim to anything that he had not acquired through his own efforts. And what is thus erarbeitet must also be ausgearbeitet, i. e. worked out in full. More generally, Dilthey writes: 17

Dilthey, Die drei Epochen der modernen Aesthetik, GS VI, 271.

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»Luthers germanische Aktivität fand sich abgestoßen von jedem Werke ohne wirkende Kraft, von jeder Arbeit ohne Leistung. In der Welttätigkeit selbst, in dem Berufsleben erfaßte er den von Gott gegebenen Spielraum für die im Glauben enthaltene Kraft.«19 Increasingly, the idea of wirkende Kraft comes to capture Dilthey’s thinking about the way the human sciences should approach the understanding of historical action and human creativity. In the Aufbau and the Plan der Fortsetzung zum Aufbau, Dilthey stresses the importance of the concept of Wirkungszusammenhang (productive nexus) and speaks of Kraft (force) as a decisive category of the human sciences.20 On its basis, we can distinguish between two ways of creatively fashioning the future: there is the instantaneous transcendental act of conceiving possibilities and there is the sequential action of intending to realize something, which involves the exertion of Kraft to bring it about, choosing the means to fulfill the task, and actually executing it. The instant is a limit of time in which we can playfully imagine a possible whole as a momentary act. However, the true test of creativity lies in how this possible whole is worked out in real time and articulated relative to its concrete parts. We understand the style of a work when we have allowed both the conceptual and the articulative perspectives to intersect. In historical terms then, Kraft replaces the natural science category of causality. Kraft in the human sciences is not merely a hypothetical potency as in the natural sciences, but the historical efficacy of carrying something out over time. Historically, creativity requires not just re-birth, but re-appropriation. In light of this fuller examination of the natural system of aesthetics and the human sciences, it is possible to suggest that the natural system with its Stoic sources is not something to be overcome in a Nietzschean Machtkampf, but can be historically reappropriated as a mode of Kraftentwicklung. A natural sense of systematic order can be seen as the model of Dilthey’s concept of Strukturzusammenhang or structural system, which is a central concept in his theory of the human sciences. But what is definitive of Dilthey’s Strukturzusammenhänge is that they are developed not merely spatially, but also temporally; not statically, but dynamically as Wirkungszusammenhänge. Struktur soll als wirkungsmäßig verstanden werden. It behooves the human sciences to translate the potency of the classical sense of order into the understanding of historical efficacy.

See Dilthey, GS II, 212. Dilthey, GS II, 215. 20 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, GS VII (Stuttgart: Teubner 1958), 203. 18

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6. To come back to Cassirer again, we can say that for him Dilthey’s two initial epochs are but two phases of a larger intellectual development which moves forward not only into Shaftesbury’s intuitive phase, but is ultimately tied together in a fourth phase that constitutes an intellectual synthesis produced by the work of Baumgarten, Meier and Lessing. Cassirer interprets this fourth phase as a kind of completion that then prepares the ground for a new kind of Denkart: transcendental philosophy which moves beyond the Enlightenment to idealism proper. Dilthey, by contrast, sees no completion in any of his three epochs–each of them will need to be constantly reappropriated. In conclusion, it can be asserted that Cassirer attempts to conceive the development of modern aesthetics in terms of clearly defined stages in which a set of related problems are gradually solved. Dilthey’s epochs are less clearly defined and much more open to extraneous influences. Cassirer sees aesthetics developing side by side with epistemology and science as a discipline that has its own problems to solve. As much as Dilthey regards aesthetics as a kind of model Geisteswissenschaft, he nevertheless feels impelled to interpret its role, not in pure disciplinary terms, but in relation to life in general. For Dilthey, the deepest understanding of the natural system and its conception of natural law comes not from its scientific implications for regularity, etc., but from the Stoic background of its normative import, i. e., for its life-harmonizing and tolerance-inducing character. In this way it was possible for differences to coexist. I can also now refine my earlier contrast to Cassirer’s energeiaergon polarity. Whereas Cassirer wants us to attend to the basic symbolic forms that make it possible for creative Energie to find its crystallization in fertige Werken, Dilthey appeals to various historical Kräfte, which however much they intersect in human objectifications, also have an unfertige Weiterwirkung. This is not to claim that Cassirer cannot also look forward and that Dilthey never looks backward. He defines the course of Verstehen to be inverse to the forward course of life. But Verstehen can only be complete if it turns into a Nacherleben that resumes the forward impetus of our experience of life.

Martin Mulsow Diltheys Deutung der Geisteswissenschaften des 17. Jahrhunderts Revisionen, Aktualisierungen, Transformationen

I. Ernst Cassirer hat dem 17. Jahrhundert kein eigentliches Buch gewidmet. Zwar gibt es seine Studien zu Leibniz und zum Platonismus von Cambridge, doch bleibt das Jahrhundert zwischen der Renaissance als »erster Aufklärung« (wie Enno Rudolph das Projekt aufgenommen hat) und dem eigentlichen Siècle des lumières merkwürdig unterbelichtet und zurückgesetzt. Das ist bei Wilhelm Dilthey anders. Seine Arbeit am Ideenmaterial des 17. Jahrhunderts stand bekanntlich im Zusammenhang der Vorbereitung des zweiten Bandes der Einleitung in die Geisteswissenschaften. Die Aufsätze, die zu diesem Zweck in den Jahren 1891–1894 im Archiv für Geschichte der Philosophie von Ludwig Stein erschienen, sollten den historischen Kern eines zugleich historischen und systematischen Unternehmens bilden. Diltheys Stichworte für die Deutung des 17. Jahrhunderts – und darüber der Frühen Neuzeit überhaupt – sind denn auch ganz andere als Cassirers Orientierung an Funktion, Symbol und Erkenntnis. Die Stichworte lauten »Anthropologie«, »natürliches System der Geisteswissenschaften«, »Autonomie des Denkens« und »pantheistischer Monismus«. Diltheys ganze Reflexion steht im Zusammenhang seiner Logik der Abfolge von bestimmten Stellungen des Bewußtseins zur Objektivität – ein Terminus von Hegel, der durch Dilthey und den Grafen York von Wartenburg zu neuem und modifiziertem Leben erweckt worden ist. In der Renaissance und im 17. Jahrhundert, so die Generalthese, wird die metaphysisch-theologische Bewußtseinsstellung abgelöst durch eine solche, die natürlich und immanent orientiert ist. Ich möchte mich dabei auf die Konzeption vom »natürlichen System der Geisteswissenschaften« konzentrieren, weil mir in ihm sowohl der originelle Kern von Diltheys Frühneuzeit-Deutung zu liegen scheint als auch die ganze Problematik seines Ansatzes.

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II. Als Dilthey in den 1880er Jahren die Renaissance und ihre Philosophie für sich entdeckte, war er beileibe nicht der erste, den diese Epoche des Denkens mit Faszination erfüllte. Mindestens zwei Phasen von Renaissanceforschung waren ihm und seiner Generation vorausgegangen. Die erste Entdeckung der Renaissancephilosophie geschah im Leipzig der 1720er Jahre. Dort hatte Friedrich Otto Mencke einen Kreis von Freunden um sich versammelt, der sich mit großer Begeisterung mit Texten der Renaissance beschäftigte, zunächst von einer mehr philologischen Perspektive aus, dann auch philosophisch. Mencke schrieb Monographien über Fracastoro und Polizian.1 Die erste Monographie über Campanella – von Ernst Salomon Cyprian – erschien in ihrer abschließenden Form 1722.2 Das erste Buch über Telesio wurde von Menckes Freund Johann Georg Lotter 1733 geschrieben.3 Johann Georg Schelhorn in Memmingen, der mit den Leipzigern in Kontakt stand, schrieb 1725 eine Vita und Apologie Ficinos.4 Jakob Brucker war dann 1743 in der Lage, für den Band IV. 1 seiner Historia critica philosophiae bereits auf alle diese Arbeiten zurückzugreifen.5 Es handelte sich um eine Forschung, die aus der Litterärhistorie und der Kirchengeschichtsschreibung heraus entstanden war. Eine zweite, qualitativ verschiedene Phase, wurde in den 1780er Jahren durch Friedrich Heinrich Jacobi eingeleitet. Seine Beschäftigung mit Bruno und Spinoza steht für eine Aneignung der Renaissance mit neuer, wenn auch kritischer Offenheit für idealistische Ansätze, in der nicht nur – wie in der ersten Phase – Renaissancephilosophen gegenüber der Atheismusverdächtigung verteidigt, sondern nun auch affirmativ und konstruktiv gelesen wurden. Friedrich Otto Mencke, De vita, moribus, scriptis [ . . . ] Hier. Fracastorii Veronensis commentatio, Leipzig 1731, ders.: Historia vitae et in literis meritorum Angeli Politiani, Leipzig 1736. Diese Studien stehen im Zusammenhang mit Menckes Bemühungen um eine elegante Latinität; von einem Renaissancebegriff kann man natürlich im frühen 18. Jahrhundert noch nicht sprechen, obwohl im Zusammenhang mit Zyklentheorie und Querelle des anciens et des modernes vereinzelt der Begriff der Renaissance schon auf die Zeit des Wiedererstehens der Künste und Wissenschaften angewendet wurde, z. B. bei Gabriel Naudé. Vgl. Jochen Schlobach, Zyklentheorie und Epochenmetaphorik. Studien zur bildlichen Sprache der Geschichtsreflexion in Frankreich von der Renaissance bis zur Frühauufklärung, München 1980, S. 250 ff. 2 Ernst Salomo Cyprian, Vita et philosophia Thomae Campanellae, Amsterdam 1705; 3., erweiterte Auflage 1722. 3 Johann Georg Lotter, De vita et philosophia Bernardini Telesii commentarius ad illustrandas historiam philosophicam universim et litterariam saeculi XVI. christiani sigillatim comparatus, Leipzig 1733. 4 Johann Georg Schelhorn, Apologia pro Marsilio Ficino, Magiae postulato, in ders. (Hg.): Amoenitates literariae, Bd. 1, Frankfurt und Leipzig 1725, S. 119–136. 5 Jakob Brucker, Historia critica philosophiae, Bd. IV.1, A restauratione literarum ad 1

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Dilthey und seine Zeitgenossen sind hingegen Teil der dritten Phase an Erforschung der Renaissancephilosophie in Deutschland. Daß Diltheys Blick sich vor allem auf die Anthropologie und die Inanspruchnahme des Begriffes des »Natürlichen« richtete, war neu. Es war dadurch motiviert, daß sich seit Herbart eine »realistische« Art des Denkens Bahn gebrochen hatte, die an voridealistische Traditionen anknüpfte. Von Diltheys Lehrer Trendelenburg6 bis Wilhelm Wundt findet man Termini wie »Wertbestimmung« oder »Selbstbejahung« als Grundbegriffe der zeitgenössischen Ethik. Dieses realistische, biologistische Moment scheint zunächst in einer eigentümlichen Spannung zu Diltheys methodischer Ausrichtung zu stehen, die von Hegel und Schleiermacher gleichzeitig inspiriert war und die Geistphilosophie des ersteren wie die Hermeneutik des letzteren absorbiert hat. Doch es ist ja gerade Diltheys Anliegen gewesen, Geistphilosophie und Hermeneutik mit einem umfassenden Begriff des »Lebens« anzureichern und aus der kognitivistischen Verengung herauszuführen. Da bot es sich durchaus an, in den Philosophien von Telesio, Herbert oder Spinoza eine Ethik des aktiven Lebens zu entdecken, die Vorläuferin der Ethik und Lebensphilosophie des späten 19. Jahrhundert gewesen war.7 La visione della vita nel Rinascimento heißt ein aus dieser Perspektive geschriebenes Buch von Zavattari noch aus dem Jahr 1923.8 Die Reaktion gegen Positivismus und mechanistische Wissenschaft französischer und englischer Prägung konturiert dabei Diltheys Beschäftigung. Nicht wie Comte die Naturwissenschaften, sondern die Geisteswissenschaften erfahrungstheoretisch zu reflektieren – das sollte unternommen werden. Daher auch die seltsame Rückprojektion der »zwei Kulturen« des 19. Jahrhunderts auf die Frühe Neuzeit; eine Operation, die für Diltheys Positionierung unverzichtbar war, die aber auf die Dauer seiner historischen Interpretation geschadet hat. Denn die Intuition, die Einheit der Berufungen auf das Natürliche im 17. Jahrhundert aufzuzeigen – in Religion, Recht und Moral –, ist damit von Beginn an von der Naturwissenschaft abgetrennt.9 nostra tempora. Leipzig 1743. Zu Brucker vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann und Theo Stammen (Hg.), Jacob Brucker (1696–1770). Philosoph und Historiker der europäischen Aufklärung, Berlin 1998. 6 Zu Trendelenburg vgl. Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt 1986, S. 23–57. 7 Vgl. Andrea Orsucci, A proposito dell’ interesse di Dilthey per l’antropologia cinquecentesca, in: Raffaele Siiri und Marizio Torrini (Hrsg.), Bernardino Telesio e la cultura napoletana, Napoli 1992, S. 417–430. 8 Bruno Zavattari, La visione della vita nel Rinascimento e Bernardino Telesio, Torino 1923. 9 Ernst Cassirer hat das kritisiert. Vgl. Die Philosophie der Aufklärung, Hamburg 1998, S. 324: »Der Begriff und das Wort ›Natur‹ umfaßt im Geistesleben des sieb-

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Dies vorausgeschickt, möchte ich zwei Fragen an Dilthey und seine Interpretation der – wie wir heute sagen – Frühen Neuzeit stellen. Die erste Frage ergibt sich bereits aus meinen Präliminarien: Welche Voraussetzungen sind in Diltheys Konzept vom »natürlichen System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert« eingegangen – Voraussetzungen, die zeitbedingt waren und die wir heute nicht mehr unbedingt teilen können? Die zweite Frage schließt auf konkrete Weise daran an: Ist das Modell des »Systems« sinnvoll, oder muß es durch eine andere Konzeption ersetzt werden? Wie müßte diese aussehen? Wie würde sich damit die Deutung der Moderne verändern?

III. Der erste Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften, erschienen 1883, führt in seinen Schlußabschnitten den Übergang von der »metaphysischen Stellung des Menschen zur Wirklichkeit« zur modernen naturalistisch-immanenten vor. Mit an Kant und Hegel erinnernden Rekonstruktionen von geschichtlichen Antinomien – etwa von religiöser Erfahrung und Vorstellen – wird die immanente Logik der Weltdeutungen ausgebreitet. Am Beginn der Moderne steht das »natürliche System«. Und dieses natürliche System, heißt es, bedeutet, daß die Gesellschaft hinfort aus der menschlichen Natur verstanden werden wird, aus der sie entsprungen ist. In diesem System haben die Wissenschaften des Geistes zuerst ihr eigenes Zentrum gefunden – die menschliche Natur.10 Gemeint sind die Geistesund Gesellschaftslehren in der Art Spinozas, in denen noch nicht entwicklungsgeschichtlich argumentiert wird wie im 18. und 19. Jahrhundert, sondern gleichsam statisch aus einer Anthropologie heraus. Dilthey spricht von psychologischen Wahrheiten zweiter Ordnung und einer unvollkommenen Methode, um dieses Stadium als Durchgangsepoche auf dem Weg zur modernen geschichtlichen Erfahrungswissenschaft zu charakterisieren.

zehnten Jahrhunderts zwei Problemgruppen, die wir heute voneinander zu sondern pflegen, und sie schließt sie zu einer Einheit zusammen. Die ›Naturwissenschaften‹ werden noch keineswegs den ›Geisteswissenschaften‹ gegenübergestellt, geschweige ihnen, nach Art und Geltung, entgegengesetzt. Denn ›Natur‹ besagt nicht den Umkreis des bloß ›physischen‹ Seines, von dem das Seelisch-Geistige unterschieden werden soll; nicht das ›Materielle‹ gegenüber dem ›Spirituellen‹. Der Ausdruck geht nicht auf ein Sein von Dingen, sondern er geht auf die Herkunft und Begründung von Wahrheiten.« 10 Einleitung in die Geisteswissenschaften. Erster Band (Gesammelte Schriften Bd. I = GS I), Stuttgart und Göttingen 91990, S. 379.

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Im zweiten Band der Einleitung sollte dieses Stadium ausführlich historisch und systematisch zur Sprache kommen, um die Grundlegung der Geisteswissenschaften aus den »psychologischen Wahrheiten« plausibel zu machen. Aus dem Berliner Entwurf zu diesem Band von 1893 und aus den Ausführungen in den Aufsätzen kann man Diltheys Ansichten zum »natürlichen System« in sechs Punkten zusammenfassen: 1. Seit etwa 1630 wirken drei Faktoren, die zu einer allgemeinen Berufung auf Natürlichkeit führen und supranaturale Instanzen hinter sich lassen: die religiösen Ideen, die römische Stoa und die neue Naturwissenschaft.11 2. Die Einheit dieser Faktoren ist durch die religiösen und politischen Bedürfnisse der Zeit gegeben: a) die Zersplitterung der Kirche in Sekten zu überwinden, b) die Dogmen durch Entwicklung historischkritischen Denkens von innen aufzulösen (durch Wechselprozesse der kirchlichen Theologie, der transzendentalen Theologie und des moralischen Rationalismus). Dilthey konnte dabei auf die Arbeiten der liberalen Theologie seit David Friedrich Strauß zurückgreifen, die bereits ausgiebig den Anteil von Sozinianern und Arminianern an der Auflösung der dogmatischen Tradition herausgearbeitet hatten. Zur Zeit Cassirers war diese Perspektive bereits wieder etwas zurückgedrängt. Wichtig für Diltheys Einschätzung der religiösen Strömungen um 1600 scheint mir übrigens Bodins Colloquium heptaplomeres gewesen zu sein, das 1857 von Ludwig Noack erstmals veröffentlicht worden war.12 Dilthey sieht in seiner Analyse als Resultat dieses Gesprächs eine Suspension des Urteils über die Wahrheit der Religion und eine Vorläuferschaft des Historismus, der das Positive jeder Einzelreligion in ihrer jeweiligen geschichtlichen Gestalt erblickt.13 Bodin konnte so als Modellfall einer naturalistischen Position gelten, die bereits die Wege zur Geschichtlichkeit erahnen läßt. 3. Der Stoa-Einfluß manifestiert sich schon im frühen 16. Jahrhundert, etwa in Melanchthons Seelenlehre und seiner Theorie vom natürlichen Licht. Bei Zwingli und Calvin lassen sich »Naturalisierungen« feststellen, und Vives, Telesio, Bruno entwickeln eine auf stoische Einsichten gegründete Anthropologie, die bis zu Spinoza hin ausstrahlt. 4. Besonders im relativ späten Aufsatz zur Funktion der Anthropologie von 1904 hat Dilthey die anthropologische Analyse dieser Denker als Wilhelm Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, Göttingen 91970, S. 93 (GS II). 12 Jean Bodin, Colloquium heptaplomeres de rerum sublimium arcanis abditis. E codicibus manuscriptis [ . . . ] curavit Lodovicus Noack, Schwerin 1857. 13 Weltanschauung und Analyse (Anm. 11), S. 152. 11

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wesentlichen Schritt in die Neuzeit charakterisiert und dargestellt. Die Reflexion auf die Natur des Menschen wird, so Dilthey, bei ihnen zur Grundlage für das Verstehen aller moralisch-religiöser und politischsozialer Begebenheiten.14 5. Konsequenz aus dem Zusammenwirken von Stoizismus und religiösen Ideen ist eine moderate Säkularisierung: Die Macht des Fortschritts in Europa ist nicht in der Verneinung der christlichen Religiosität gelegen gewesen, sondern in der Entwicklung derselben.15 In einer harmonischen Gesetzmäßigkeit ist es dabei zur Ausbildung eines natürlichen Systems der Geisteswissenschaften gekommen. Diese Lehre gestattete verschiedene metaphysische Formeln: Deismus, Pantheismus oder gemäßigten Supranaturalismus. Der Berliner Entwurf sagt dazu lakonisch: Zusammenfassung derselben im natürlichen System. Philosophie und Einordnung in eine ergänzende Metaphysik.16 6. Schließlich kommt es zur Zersetzung des natürlichen Systems durch verschiedene immanente Entwicklungen, etwa den Begriff des Naturgesetzes und durch ihn zur Zersetzung der Wertbestimmungen der Person; die Rezeption des römischen Rechtes löst im Eigentumsrecht, Familienrecht und Staatsrecht die Einzelperson vom Zusammenhang; der Kapitalismus zersetzt die alte Ordnung. Diltheys Argumentationslinie ist dabei irgendwo zwischen der Hegelschen Figur der Aufhebung und dem angesiedelt, was man heute reflexive Modernisierung nennt: Zersetzung durch Erfolg, Unterminierung der eigenen Grundlagen durch Weiterentwicklung.17 Der Berliner Entwurf legt den Akzent mehr auf die mechanistische Philosophie: Die konstruktive Epoche ist bedingt einerseits durch das schöpferische Selbstgefühl des Menschen der Renaissance, alsdann, da so die Mechanik entsteht, durch diese, endlich schließt sich hieran eine Stellung des Menschen, dem alles Instrument für die mathematisch-konstruktive Vernunft [ ist ].18 Nach einer solchen spinozistischen Position mußte die Auflösung beginnen.

Dilthey, Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts, in: ders., Weltanschauung und Analyse (Anm. 11), S. 416–492. 15 Weltanschauung und Analyse (Anm. 11), S. 243. 16 Berliner Entwurf, in GS XIX: Grundlegung der Wissenschaft vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Ausarbeitungen und Entwürfe zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (ca. 1870–1895), hg. von Helmut Johach und Frithjof Rodi, Göttingen 1982, S. 320. 17 Vgl. Ulrick Beck / Anthony Giddens / Scott Lash, Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt 1996. 18 Ebd. 14

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IV. Betrachten wir zunächst kritisch den dritten Punkt, die Rezeptionshypothese des Stoa-Einflusses.19 Die Stoa-Rezeption der Frühen Neuzeit herauszuarbeiten lag für Dilthey schon von seiner WeltanschauungsTypologie her nahe. Das stoische Denken bildet nach dieser Typologie den krönenden Abschluß antiken Denkens, indem die römische »Willensstellung« und Jurisprudenz den metaphysischen »Luxus«20 der Griechen bei Cicero auf ein schlichtes und einfaches System reduziert. Kein Wunder also, wenn die Renaissance als Wiederbelebung der Antike daran angeknüpft hätte. Die Bedeutung des Neustoizismus, wie sie Gerhard Oestreich oder Julien Eymard d’Angers in diesem Jahrhundert herausgestellt haben, scheint das zu bestätigen.21 Und doch muß man Vorsicht anmelden und unterscheiden. Diltheys Stoa-These geht weit über die neustoische Bewegung im Anschluß an Lipsius hinaus. Sie postuliert eine Stoa-Präsenz seit Melanchthon und Vives, über Telesio und Bruno bis hin zum »pantheistischen Monismus« von Spinoza. Aber reichen die stoischen Interpretamente, die zweifellos in all diesen Denkern nachzuweisen sind, tatsächlich hin, eine »stoische« Frühe Neuzeit zu postulieren? Nein, sie reichen nicht hin. Diltheys Eindruck ist nicht zum geringsten das Ergebnis einer perspektivischen Verzerrung, die dadurch zustande kommt, daß der Einfluß der medizinischen Tradition auf die philosophische Theoriebildung nicht genügend reflektiert worden ist. Stoische Denkmuster sind vor Lipsius vor allem über den Galenismus der Mediziner transportiert worden. Wenn beispielsweise Telesio von »spiritus« und »conservatio sui« spricht, dann tut er dies nicht mit dem Bewußtsein, die Stoa wieder aufleben zu lassen, sondern bestimmte Entwicklungen im Aristotelismus und Galenismus gegeneinander auszuspielen.22 Einen durchgängigen Stoizismus von Vives bis Spinoza zu postulieren, vernachlässigt diese großflächigen Verschiebungen zugunsten punktueller Interpretamente, die in ihnen enthalten waren. Auch eine Figur wie Grotius, die sicherlich zentral für ein Konzept des »natürlichen Systems« der Geisteswissenschaften des 17. JahrhunVgl. dazu auch Larry Frohman, Neo-Stoicism and the Transition to Modernity in Wilhelm Dilthey’s Philosophy of History, in: Journal of the History of Ideas 56 (1995), S. 263–287. 20 Weltanschauung und Analyse (Anm. 11), S. 16. 21 Vgl. Gerhard Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Berlin 1965; Julien Eymard d’Angers: Recherches sur le stoicisme aux XVIe et XVIIe siècles, hg. von L. Antoine, Hildesheim 1976. Vgl. auch Günter Abel: Stoizismus und frühe Neuzeit, Berlin 1978. 22 Vgl. Martin Mulsow, Frühneuzeitliche Selbsterhaltung. Telesio und die Naturphilosophie der Renaissance, Tübingen 1998. 19

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derts sein muß, kann nicht einfach mit der Stoa-These, zu der man den Arminianismus addiert, gefaßt werden. Die neueren Interpretationen von Richard Tuck und Jerome Schneewind betonen zum Beispiel die Rolle des Skeptizismus eines Montaigne und Charron, von dem sich Grotius abzusetzen hatte.23 Durch dieses Absetzten sei seine Naturrechtstheorie im Unterschied etwa von Suarez erstmals als »modern« zu bezeichnen. Die stoischen Elemente aus den Rückgriffen auf Cicero und Thomas von Aquin haben insofern erst durch eine antiskeptische Strategie ihre neuzeitliche Qualität gewonnen und nicht schon qua Anknüpfung an die naturalistische Weltanschauung der hellenistischen Antike. Zur Bedeutung von Melanchthon und dessen Theorie des »inneren Lichts« – gleichfalls ein Eckpunkt für Diltheys Interpretation –, kann ich hier nichts sagen.24 Ich verweise nur auf auf das, was ich gleich noch zu einem »üppigen«, theologisch gehaltvollen Naturbegriff ausführen werde. Doch auch so wird schon sichtbar, was es ist, das Diltheys Entwurf belastet. Es ist der fünfte Punkt, die Systemhypothese. Mit der Annahme eines »natürlichen Systems«, einer umfassenden und einheitlichen Anordnung der auf Natur rekurrierenden Erklärungen, ist Dilthey gezwungen gewesen, die postulierte Stoa-Rezeption mit der Finalität auf ein System zusammenzudenken. Spinoza ergab sich dann als zwangsläufiger Höhepunkt des 17. Jahrhunderts, Bruno als der stoisierende Vorläufer seines pantheistischen Monismus. Für den Cartesianismus in Spinoza oder den Hermetismus und Lullismus in Bruno bleibt kein, allenfalls ein marginaler Platz.

V. Diltheys Metaphorik für die »natürliche« Systembildung ist organischbiologisch. Das Immanenzdenken des 17. Jahrhunderts, so Dilthey, durchdrang überall das Wirkliche, analysierte es, konstruierte es, fand seine Gesetze, erlangte die Herrschaft über die Natur, suchte die unermeßlichen Bedürfnisse der neuen arbeitsmächtigen Gesellschaft durch eine Neuordnung derselben zu befriedigen. [ . . . ] Wie die Natur harmonisch durch Gesetze geregelt wird, [ . . . ] so ist auch in der menschlichen Gesellschaft eine Gesetzmäßigkeit angelegt, welche ohne künstlichen Eingriff die Harmonie derselben Richard Tuck, The modern Theory of Natural Law, in: Anthony Pagden (Hg.), The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe, Cambridge 1987, S. 99– 119; Jerome Schneewind, The Invention of Autonomy. A History of Modern Moral Philosophy, Cambridge 1998, S. 71 ff. 24 Vgl. zuletzt: Merio Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ius naturae im 16. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 29–54. 23

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herbeiführt. Das ist die Lehre von dem natürlichen System der Gesellschaft.25 Diltheys Begriffe von »Natur«, »Harmonie« und »Streben« sind hier wohlgemerkt nicht Objektbegriffe seiner Untersuchung, sondern Metabegriffe, mit denen der geistesgeschichtliche Verlauf selbst charakterisiert wird. Die enge Verzahnung von organologischem Denken des 19. Jahrhunderts mit den Theorien der von ihm als affin empfundenen frühneuzeitlichen Epoche zeigt sich hier besonders deutlich; und erweist sich als besonders verhängnisvoll. Denn der blinde Fleck der »natürlichen« Theorie des Natürlichen, der »harmonischen« Theorie des Harmonischen, ist das Unharmonische: Kampf, Konflikt, Konkurrenz. Dilthey kann mit seiner Optik nicht sehen, daß die Berufung auf das Natürliche im 17. Jahrhundert ein Konfliktfeld war, ein Feld der Konflikte um Definitionsmacht, Begriffsbesetzung und Deutungshoheit.26 Ich will kurz drei Beispiele für meine Behauptung anführen, aus dem Bereich des Naturrechts, aus dem Bereich der Naturphilosophie und aus dem Bereich der natürlichen Theologie. Erstes Beispiel: der Begriff der Selbsterhaltung. Rekurs auf Selbsterhaltung setzt sich ab von Modellen unmittelbarer Abhängigkeit und Einwirkung, etwa theologischer Art. Der Begriff ist also ein Signum von Emanzipationsphilosophie und deshalb gern als Beleg für eine Burkhardtsche Sicht auf die Renaissance genommen worden. Die Konjunktur des Begriffs verdankt sich den Auswirkungen des »epikureischen Diskurses«27 im 15. und 16. Jahrhundert, der Lust, Selbstliebe, menschliche Freiheit und Selbstbestimmung aufgewertet hat, und zugleich einigen Entwicklungen der zeitgenössischen Naturphilosophie und Medizin, in denen Selbstintensivierung durch Abwehr der konträren Qualität gedacht wird.28 Doch Selbsterhaltung konnte verschieden konzipiert werden: innerhalb einer »idealistischen« philosophischen Theologie im Sinne einer Einheit von Relationen und eines Rekurses auf den absoluten Grund dieser Einheit, oder innerhalb einer »realistischen« Philosophie, die Spekulationen mit dem Verweis auf biologische Faktizität abschneidet. Ficino und Campanella stehen für die erste, Machiavelli und Hobbes für die zweite Aneignungsweise des Begriffs. Das Problem verkompliziert sich durch die Fortschritte der Physik: Galilei kippt den aristotelischen Bewegungsbegriff und faßt Bewegung als Beharrung im Zustand. Für Descartes ist deshalb Selbsterhaltung Weltanschauuung und Analyse (Anm. 11), S. 244. Es wäre interessant, an dieser Stelle die Frage zu stellen, ob Cassirer mit seinem begrifflichen Instrumentarium besser in der Lage wäre, diesen Punkt zu benennen. 27 Ich übernehme diesen Begriff von Claudia Schmitz. Vgl. ihre demnächst erscheinende Dissertation über die Aufwertung der Lust um 1500. 28 Vgl. Mulsow, Frühneuzeitliche Selbsterhaltung (Anm. 22), Kap. I. 25 26

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Beharrung.29 Diese Bewegungstheorie nimmt der »idealistischen« Selbsterhaltungstheorie ihre physikalische Grundlage, so wie der radikale Theorieanspruch der cartesischen Philosophie das Postulat einer von Gott eingesetzten inneren Keim- und Sinneskraft der Materie die metaphysische Grundlage raubt. Mitte des 17. Jahrhunderts kommt es zum endgültigen Konflikt: der Cartesianer Johannes Clauberg reklamiert den Selbsterhaltungsbegriff für die eigene Seite, gegen seine Verwendungen bei den Anhängern von Campanella und Comenius, Herbert of Cherbury und Francis Bacon. Er bezieht die Hobbesche »realistische« Lesart des Begriffs in die eigene Seite ein und schafft so eine Koalition aus Beharrungs-Physikalismus und dem Biologismus der Selbstbehauptung. Der Hobbes-Anhänger und Descartes-Leser Lambert van Velthuysen tut ein ähnliches. Eine »karge« Berufung auf Natur steht einer »üppigen« entgegen, in der die conservatio sui zu einer Grundlage von sensualistischer Metaphysik, natürlicher Moral und natürlicher Religion gemacht worden war.30 Bei Dilthey ist diese Differenz nivelliert. Konflikte passen nicht in sein Bild vom »System« der Geisteswissenschaften, in dem zwar eine Vielfalt von Interpretationen und Facetten des Immanenzdenkens bedacht wird, aber nicht deren mögliche Widersprüchlichkeit. Vertiefen wir die Skizze vom Konflikt zwischen Natur-»Puristen« und »Luxuriösen« in einem zweiten Beispiel. Es betrifft den Konflikt um den Naturgegriff selbst. Ich meine dabei die bekannte Kontroverse über die natura ipsa am Ende des 17. Jahrhunderts. Robert Boyle und Johann Christoph Sturm standen mit ihrer Ansicht, die Natur habe keinerlei innere Kräfte und Eigenschaften, als modernes gegen Naturphilosophen wie Johann Günter Schellhammer, die auf der Seite der anciens einen hippokratisch-platonisch-aristotelischen Naturbegriff verteidigten, dem innere Form und Gestaltungskraft zukam.31 Interessant auch hier wieder die Argumente entlang der Konfliktlinie; so berief sich die Boyle-Seite auf ihre theologisch-okkasionalistischen Allianzen und warf den Vertretern einer gestaltenden Natur Idolatrie, Götzenanbeterei vor: Die Natur werde ein zweiter Gott, wenn man Zweitursachen mit der göttlichen Erstursache verwechsle. Vgl. Hans Blumenberg, Selbsterhaltung als Beharrung. Zur Konstitution neuzeitlicher Rationalität, in: Gerhard Ebeling (Hg.): Subjektivität und Selbsterhaltung, Frankfurt 1976, S. 144–207. 30 Dazu ausführlich Martin Mulsow, Definitionskämpfe am Beginn der Moderne. Relationsontologie, Selbsterhaltung und appetitus societatis im 17. Jahrhundert, in: Philosophisches Jahrbuch 105 (1998), S. 283–303. 31 Vgl. G. Baku, Der Streit um den Naturbegriff am Ende des 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 98 (1891), S. 162–190. 29

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Dilthey mag bei der Betrachtung dieses Streites etwas vorschnell an Leibniz’ Vermittlungs-Lösung gedacht haben32; Leibniz’ (oder Spinozas) System war ihm, der die Erfahrung des Hegelschen Systemdenkens gemacht hatte, Paradigma für die »natürliche« Konvergenz der Interpretationsrichtungen. Doch aus heutiger Sicht ist das eine unzulässige Harmonisierung der intellektuellen Konfliktlagen. Und wenn Konflikte nicht beschrieben werden, können auch keine Allianzen und Koalitionen beschrieben werden. Gerade die Allianzbildungen aber, etwa von Boylescher Naturphilosophie und Physikotheologie, von Cartesianismus und Coccejianismus, von Deismus und Irenik scheinen mir zu den aussagekräftigsten Charakterisierungen der frühneuzeitlichen Geistesgeschichte zu gehören. Nehmen wir noch ein drittes Beispiel, eines aus dem Zentrum der von Dilthey anvisierten Überschneidung von Naturrecht, Naturwissenschaft, natürlicher Moral und natürlicher Theologie. Wie ist das Verhältnis von Mensch und Tier zu denken? Ist der Mensch zwar von seiner auf Selbsterhaltung ausgehenden Animalität her zu denken, aber zugleich von seiner Sozialität, die aufgrund des menschlichen Vernunftvermögens eine rationale und geordnete Gesellschaft erstrebt? Das ist die Ansicht von Grotius. Oder ist die »imbecillitas« des Menschen, seine Schwäche und Bedürftigkeit der Grund des Sozialverhaltens und damit der Gesellschaftsethik? Diese zweite Variante, die von Cumberland und Pufendorf, kann von der menschlichen Gefallenheit in Unwissenheit und Schwäche her gedacht werden; aber auch von Lukrez und Plinius herkommend und auf zeitgenössische medizinische Analysen der conditio humana fußend. »Natürlich« sind alle diese Modelle: völlig offen und unterschiedlich ist aber, in welchem Verhältnis genau natürliche Theologie, Naturwissenschaft und Naturrecht dabei stehen. Es ist wenig hilfreich, alles zugleich unter den Begriff eines »natürlichen Systems« zu fassen. Vielmehr sollte das Verhältnis, ohne als a priori berechenbar zu gelten, in seiner je eigenen Weise erforscht und beschrieben werden. Es ist in diesem Zusammenhang keineswegs Zufall, sondern höchst symptomatisch, daß sich in der Deutung des 17. Jahrhunderts Diltheys »natürliches System der Geisteswissenschaften« und Foucaults »Episteme der Repräsentation« gegenüberstehen wie Feuer und Wasser. Der Grund für diese Unvereinbarkeit liegt einfach darin, daß beide Theoretiker Abfolgen von geschlossenen Weltbildern bzw. Diskursformen angenommen haben, aber keine antagonistisch verfaßten Felder. Dilthey hat seine Interpretation stärker auf die »üppigen« Naturauffassungen des Gottfried Wilhelm Leibniz, De ipsa natura, in ders: Die philosophischen Schriften, hg. von C. I. Gerhardt, Berlin 1875–1890, Bd. 4, S. 504–516. 32

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Feldes gestützt, Foucault auf die der »kargen« und puristischen« Seite. Bei Foucault zementiert zusätzlich die Betonung der Bachelardschen ruptures, der epistemologischen Brüche, seine Neigung, »Epistemen« als geschlossene Blöcke anzunehmen.33 Nur mit dem Verzicht auf solches Denken, so meine These, kann auch Diltheys sechster Punkt, die These von der Insuffizienz und der Zersetzung des »natürlichen Systems«, historisch sinnvoll reformuliert und transformiert werden. Denn wo kein monolithisches natürliches System ist, kann auch keine »entwicklungstheoretische« Zersetzung des Monoliths einsetzen. Vielmehr können die verschiedenen Lösungen, Natürlichkeit zu denken, in Wechselwirkung treten und neue Entwicklungen nach sich ziehen. Dabei, so sieht man heute, sind auch Strömungen wirkungsreich gewesen, die Dilthey vom Forschungsstand her noch nicht richtig im Blick haben konnte wie den Skeptizismus, Libertinismus oder clandestinen Naturalismus des 17. Jahrhunderts. Und da nicht System gegen Geschichte ausgespielt werden muß, kann auch die Rolle gelehrt-geschichtlichen Denkens im 17. Jahrhundert gewürdigt werden, das bei der einseitigen Belichtung der rationalistischen Systeme von Spinoza und Leibniz als nicht in die unhistorische Epoche passend mißachtet werden mußte. VI. Es bleibt die Einsicht, daß der Frühen Neuzeit ohne konflikttheoretische Beschreibung schwer gerecht zu werden ist. Das mag am PluralisierungsCharakter der Frühen Neuzeit liegen, ihrer unlösbaren Versticktheit und Kopräsenz von Altem und Neuem, von Schriftbedeutung und Empirie, von Magie und Rationalität.34 Ich möchte nicht als beckmesserisch gelten, wenn ich Dilthey hier von der heutigen Perspektive aus Versäumnisse vorrechne. Es geht mir gerade darum, seine Einsichten für die gegenwärtige Forschung fruchtbar zu machen und von dem zu trennen, was sie belastet. In diesem Sinne könnte man von einem »revidierten Dilthey-Programm« sprechen. Es wäre das Programm, die auffällige Konvergenz in den Berufungen auf »Natur« und »Natürliches« in der Frühen Neuzeit, die Entwicklung von natürlicher Theologie, Naturrecht und Naturwissenschaft als offenes Problem zu fassen, als Konfliktfeld um Begriffsbesetzungen, um eine »moderne« Semantik – ohne dieses Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt 1971; ders., Archäologie des Wissens, Frankfurt 1973. 34 Zum Pluralisierungsbegriff vgl. Martin Mulsow, Pluralisierung, in: Anette Völker-Rasor (Hrsg.), Oldenbourg Geschichte Lehrbuch – Frühe Neuzeit, München 2000, S. 303–307. 33

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Konflikt – und Koalitionsfeld vorschnell in einem »System« erstarren zu lassen.35 Im Prinzip hätte schon Dilthey selbst den Konfliktbegriff verwenden können, nämlich aus Herbarts 1850 entwickelter und Dilthey keineswegs unbekannter »Statik des Geistes«.36 Doch der Psychologismus – auch Herbarts – mag es verhindert haben, Konflikte als externe Aneignungskämpfe zwischen intellektuellen Gruppen zu sehen. Da es um Aneignungen von Begriffen und Theorien geht, verläuft der Riß, den Dilthey so oft übersehen hat, durch die Begriffe selbst. Eine oberflächliche Begriffs- und Ideengeschichte kann ihn nicht wahrnehmen. Eine Feldbeschreibung37 dagegen hätte genau diese Demarkationslinien festzuhalten und mit theoretischen Verpflichtungen, ideologischen Interessen und politischen Gewichtungen zu verknüpfen. Man sollte nicht verhehlen, daß ein solches – hier nur vage skizziertes – Unternehmen vor beträchtlichen Schwierigkeiten steht. Um nur eine zu nennen: Es reicht nicht, die inhaltlichen Differenzen der Positionen zu benennen. Es gibt auch Differenzen auf einer Metaebene, die die Methodik oder gar das Umgehen mit Konflikten selbst betrifft. So sprechen Shapin und Schaffer von der Entstehung eines Raumes für Dissenz im 17. Jahrhundert.38 Boyles Abweichung von Hobbes in Fragen der Naturforschung, in der Interpretation der Vakuumpumpe von Gerickes, sei nicht mit den oben genannten Kategorien zu fassen. Von dort aus gesehen haben ja beide einen »kargen« Naturbegriff befürwortet. Aber Boyle unterscheidet von Hobbes, daß er in seinem Verständnis von Experiment einen neuen sozialen »Raum« einführt, in dem freie, tugendund ehrenhafte Männer divergierende Positionen auf wahrhaftige Weise einander entgegensetzten können. Diltheysche Geistesgeschichte, selbst eine konflikttheoretisch gedeutete, wäre dann durch eine wohlverstandene Sozialgeschichte zu ergänzen. Sozialgeschichte des Wissens und der Wahrheit kann dabei nicht bedeuten, einen Kurzschluß zwischen Theorien und gesellschaftlichen Bedingungen herzustellen. Da sind die neueren Entwürfe von Shapin oder auch von Chartier subtiler. SozialFür einen ambitionierten Versuch, mit dem Begriff der Konkurrenz hier weiterzukommen, vgl. Wolfgang Proß, Natur, Naturrecht und Geschichte. Zur Entwicklung der Naturwissenschaften und der sozialen Selbstinterpretation im Zeitalter des Naturrechts (1600–1800), in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 3 (1978), S. 38–67. 36 Vgl. Johann Friedrich Herbart, Psychologie als Wissenschaft (1850), Neudr. Amsterdam 1968, Bd. 2, S. 31 f. 37 Vgl. die Vorschläge von Fritz Ringer, The Intellectual Field, Intellectual History, and the Sociology of Knowledge, in: Theory and Society 19 (1990), S. 269–294. 38 Stephen Shapin / Simon Schaffer, Leviathan and the Air Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life, Princeton 1985. 35

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geschichte des Wissens bedeutet bei ihnen die Frage nach der Rolle des Vertrauens im Prozeß der Aneignung von Wissen. Dieser Punkt, der Umstand, daß »Repräsentation« nicht nur Referenz von Zeichen, sondern auch eine Sache von Kredit und symbolischem Kapital gegenüber den Verwendern dieser Zeichen ist, daß die Identifizierung von glaubwürdigen Personen eine entscheidende Praxis in der Erstellung eines Wissenskorpus darstellt, vernetzt auf enge Weise Theorie und sozialen Kontext.39 Damit ist aber Diltheys Reflexion auf die Totalität unseres Weltbezuges von unerwarteter Seite her eingeholt und überholt worden. Sein Wunsch, neben der kognitiven Dimension auch die affektive und volitive Konstitution von Wissen zu berücksichtigen, findet eine nicht mehr psychologistisch, sondern gleichsam externalistisch formulierte Entsprechung in der Erforschung des Habitus und der Praktiken im Hintergrund einer intellektuellen Position. Zwar hat schon Dilthey selbst den Vertrauensbegriff – den man als Fortführung der Fides-historica-Problematik des 17. Jahrhunderts, der moral certainty und Humes »belief« sehen kann – in seine Weltanschauungslehre eingebaut. Der »ursprüngliche Lebenszusammenhang« in Diltheys pragmatischer Phase und das, was später Lebenswelt heißt, sind ja Theoreme des psychosozialen »Kitts«, des Vertrauens im intersubjektiven Kontext. Man könnte also die neuere »Sozialgeschichte der Wahrheit« durchaus in der Tradition dieser lebensphilosophisch-phänomenologischen Probleme sehen. Nur verläßt sie konsequent jeden Psychologismus und setzt auf eine historisch detaillierte Analyse von Lektürepraktiken oder der Entstehung der »Gentleman«-Ideals, nicht aber von invarianten Eigenschaften der menschlichen Natur. Es ist damit eine Richtung angezeigt, in der, so meine ich, in einer historisch verantwortungsvollen Weise Diltheys Intention einer »Kritik der historischen Vernunft« gerettet werden könnte, einer Erfahrungswissenschaft nicht nur der Erkenntnis, sondern der Totalität des Lebens mit seinen affektiven, imaginativen und volitiven Aspekten. Nicht nur die Externalisierung der subjektiven Weltanschauungsanalyse, auch die Eliminierung ihrer teleologischen Aspekte ist für die heutige Forschung geboten. Wenn die »Geisteswissenschaft« des 17. Jahrhunderts kein monolithisches Gebilde mehr ist, dann kann sie auch keine Bewußtseinsstellung auf dem Durchgangsweg zur historischen Erfahrungswissenschaft sein. Für die Erkundung der Frühen Neuzeit macht es einen großen Unterschied, Modernisierung nicht in einer Ablösung Ich bringe damit die beiden Ansätze von Roger Chartier, Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung, Berlin 1989, S. 12 ff. und Steven Shapin, A Social History of Truth. Civility and Science in SeventeenthCentury England, Chicago 1994, in Zusammenhang. 39

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von Bewußtseinsstellungen zu erblicken, sondern in der permanenten und vielfältigen Veränderung ohne internes Ziel. Die irritierende longue durée von scheinbar rückständigen Phänomenen wie dem Aristotelismus, der Scholastik, der spekulativen Theologie – noch durch das ganze 17. Jahrhundert hindurch und gelegentlich durchaus von Denkern ersten Ranges vertreten – ist dann akzeptabel und muß nicht historiographisch verdrängt werden. Das bedeutet auch, daß der Modernisierungsprozeß – anders als von Dilthey – konsequent als Ambivalenzprozeß verstanden wird, als Gegeneinander von Freiheit und Disziplinierung40, von pluraler Entfaltung und neuer Autorität. Die Definitionskämpfe in den intellektuellen Feldern spiegeln die Verteilungen von Pluralität und Autorität wider. »Ambivalenz« beinhaltet im übrigen eine Anerkennung der Dialektik der Aufklärung in der Berufung auf das Natürliche. Seit den frühen Aufwertungen des Natürlichen im Epikureismus um 1500, im Galenismus um 1580, im Libertinismus um 1630 hat die Ersetzung der transzendenten Norm durch die Norm der Natur immer auch einen latenten Zwangscharakter gehabt. Die Entstehung des Rassismus etwa aus der ursprünglich emanzipatorisch gedachten Temperamentenlehre im 17. und 18. Jahrhundert ist nur das augenfälligste Beispiel für diese Dialektik der Normablösung durch die Natur.41 VII. Soviel an – in aller Vagheit skizzierten – Notwendigkeiten, Diltheys Programm im Licht heutiger Forschungsinteressen zu modifizieren. Ziehen wir ein Resümé. Diltheys Bemühungen stehen von ihrem geschichtlichen Ort her in der dritten Phase deutscher Renaissanceforschung. Sie sind geprägt durch die Absetzung von der Naturwissenschaftsorientiertheit eines Comte und durch die Aufnahme sowohl des idealistisch-romantischen Denkens in Systemen, Bewußtseinsstellungen und organischer Geistorganisation als auch des nachidealistischen Interesses an Anthropologie. Der Begriff des »natürlichen Systems der Geisteswissenschaften« ist ein hybrides Produkt dieser drei Einflüsse. Um Diltheys 40

Vgl. Peter Wagner, Soziologie der Moderne. Freiheit und Disziplin, Frankfurt

1995. Ich nenne nur: F. Walter Lupi, Teoria della race ed eroismo libertino: il naturalismo di Juan Huarte e la dottrina della virtù nel libertinismo erudito, in: Tullio Gregory u. a. (Hg.), Ricerche su letteratura libertina e letteratura clandestina nel Seicento, Firenze 1981, S. 243–258; Giuliano Gliozzi, Adamo e il nuovo mondo. La nascità dell’ anthropologia come ideologia coloniale: dalle genealogie bibliche alle teorie razziali (1500–1700), Firenze 1977. 41

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historische Intuitionen gegen die Belastungen dieses Hybridproduktes zu retten, sind eine Reihe von Revisionen und Transformationen vorzunehmen. Zu verabschieden ist zunächst Diltheys Rezeptionshypothese einer durchgängigen Stoa-Rezeption. Zu verabschieden, zumindest zu transformieren, ist ferner Diltheys teleologische Prämisse von der Abfolge von Bewußtseinsstellungen. Schließlich ist Diltheys starres Konzept eines »natürlichen Systems« der Geisteswissenschaften nicht zu halten. Ich habe dafür plädiert, Diltheys Einsicht in die grundlegende Bedeutung des »Natürlichen« im 17. Jahrhundert als ungelöstes Problem zu erkennen und gegen Diltheys eigene Lösungen offen zu halten. Das wird möglich durch die Einführung von drei Ersetzungen und Erweiterungen: erstens die Ersetzung des Systembegriffs durch eine Anerkennung von Spannungen und Aneignungskämpfen innerhalb der Berufung auf das Natürliche und ihre Beschreibung durch ein konflikttheoretisch verstandenes intellektuelles Feld von Positionen und Allianzen; zweitens die Verlagerung der affektiven und volitiven Agenda auf Momente der lebensweltlich-sozialen Bedingungen des Wissens und auf Praktiken der Wahrheitssuche. Drittens schließlich die Betrachtung der Moderne, gerade in ihrem Rekurs auf das Natürliche, als Ambivalenzprozeß. Eine Einleitung in die Geisteswissenschaften würde also heute, hundert Jahre nach Diltheys Entwurf, ein ganz anderes Gesicht bekommen müssen. Das heißt aber nicht, meine ich, daß ein solches Buch grundsätzlich nicht mehr geschrieben werden könnte.

Giuseppe Cacciatore Die Idee der Moderne bei Dilthey und Cassirer

Zwischen Dilthey und Cassirer lassen sich einige bedeutende Konvergenzen aufzeigen. Sie betreffen im wesentlichen eine gemeinsame Veranlagung, das Erbe des Kantischen Kritizismus im Hinblick auf die Errungenschaften zu überdenken und neu zu formulieren, die sich mit dem Versuch Diltheys zu einer »Kritik der geschichtlichen Vernunft« sowie zu einer philosophischen Gründung der Geisteswissenschaften und auch mit dem Versuch Cassirers zu einem Aufbau einer Philosophie der Kultur, die ebenso auf einer spezifischen Logik und Theorie der Erkenntnis der Kulturwissenschaften beruht, allmählich bestätigt haben. Es lassen sich also Übereinstimmungen zwischen Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (und zwar dem Versuch, die Formen und die Symbole zu bestimmen, durch die nicht nur das Projekt einer logischen und erkenntnistheoretischen Begründung der Philosophie der Kultur zugänglich wird, sondern auch die Forderung von präzisen Methodologien der geschichtlichen Interpretation und der historiographischen Forschung) und der Strömung des Historismus erkennen. Diese Strömung des Historismus, die vor allem von Dilthey und Troeltsch vertreten wird, beschäftigt sich mit der Suche nach einem geschichtlichempirischen Apriori, das sich auf das Leben gründet und die Vielfalt der Ausdrucksformen und Objektivierungen der geschichtlichen Welt miteinander verbinden und in einer Synthese darzustellen vermag. Aufgrund dieser Ähnlichkeiten ist es nicht das Ergebnis einer überzogenen Auslegung, das Projekt einer Gründung der geschichtlichen Vernunft, zu dem Dilthey aus der Überzeugung gelangt, daß das rein logisch-erkennende Verfahren des Kritizismus für das Verstehen der geschichtlichen Welt unangemessen ist, mit dem Programm der Gründung einer Philosophie der Kulturwissenschaften von seiten Cassirers, für die nicht nur die Form des wissenschaftlichen Begriffs, sondern auch eine Morphologie des Geistes notwendig wurde, in Zusammenhang zu bringen. »Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die Funktion des sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösen Denkens, die Funktion der künstlerischen Anschauung derart zu begreifen, daß daraus ersichtlich wird, wie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl der Welt, als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen sich

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vollzieht. Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur«.1 An dieser Stelle geht es darum, zu sehen, wie sich diese tiefgehenden Ähnlichkeiten zwischen der theoretischen Perspektive Diltheys und Cassirers im allgemeinen, in der Definition einer Methode der Geschichtswissenschaft im allgemeinen und in der historiographischen Rekonstruktion der Moderne im einzelnen ausgewirkt haben. In einer theoretisch-begrifflichen Konstellation, die allgemein als »zeitgenössischer deutscher Historismus« bezeichnet wird, scheint der Bezugsrahmen, mit dem der Begriff der Modernität in erster Linie in Beziehung gesetzt wird, die Geschichte und genauer die Temporalität zu sein – zunächst im Sinne der Periodisierung der geschichtlichen Epochen und auch in dem der Interpretation des geschichtlichen Lebens der Gegenwart, längs der Linien der Kontinuität / Diskontinuität in bezug auf die Vergangenheit und der möglichen Vorwegnahme der Zukunft. Was eine geschichtliche Epoche auszeichnet, ist gewiß die Konzentration der »dominierenden Tendenzen«, das Wesen des sogenannten Zeitgeistes und die durchdringenden Werte, Kultursysteme, gesellschaftliche Organisationen und Lebensregeln. Diese Tendenzen können nicht in einer statischen Dimension dargestellt werden. Sie definieren und interpretieren sich – wie Dilthey behauptete – in der Verbindung der »Struktur- und Wirkungszusammenhänge« eines Zeitalters und in der Anziehungs- oder Abstoßungsbewegung gegenüber dem Antiken und Neuen. »Neben der herrschenden, großen, durchgehenden Tendenz, die der Zeit ihren Charakter gibt, bestehen andere, die sich ihr entgegensetzen. Sie streben Altes zu konservieren, sie bemerken die nachteiligen Folgen der Einseitigkeit des Zeitgeistes und wenden sich gegen ihn; wenn dann aber ein Schöpferisches, Neues hervortritt, das aus einem anderen Gefühl des Lebens entspringt, dann beginnt mitten in diesem Zeitraum die Bewegung, die bestimmt ist, eine neue Zeit herbeizuführen. Jede Entgegensetzung vorher bleibt auf dem Boden des Zeitalters oder der Epoche; was in ihr sich entgegenstemmt, hat auch zugleich die Struktur der Zeit selbst. In diesem Schöpferischen beginnt dann erst ein neues Verhältnis von Leben, Lebensbezügen, Lebenserfahrung und Gedankenbildung«.2 Dilthey gebraucht hier den Ausdruck neue Zeit, zum Beweis der Tatsache, daß der Begriff der Modernität den der neuen Zeit voraussetzt.

Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, Darmstadt, 1994, S. 1. Ähnliche Betrachtungen darüber stellt Cassirer, wie bekannt ist, in: Zur Logik der Kulturwissenschaften, Darmstadt 1961, an. 2 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), in: Gesammelte Schriften (GS), Bd. VII, S. 178. 1

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Im übrigen hat Koselleck, einer der bedeutensten zeitgenössischen Forscher der Semiologie der Geschichtsbegriffe,3 die historiographischen und begrifflichen Prozesse analysiert, durch die sich, in der Theorie der Geschichte und in der Geschichtsschreibung, besonders im deutschen Sprachraum, der Ausdruck neue Zeit allmählich mit dem der Neuzeit 4 deckte. Das bedeutet, daß der Ausdruck neue Zeit nicht nur die Neuheit meint, die für den normalen Übergang von der Vergangenheit zur Jetztzeit typisch ist, sondern auch die Erscheinung einer »qualitativen Forderung« des Neuen als »etwas völlig Anderes« und »Besseres« im Vergleich zur vorhergehenden Zeit. Diltheys Rekonstruktion der Entstehung des »modernen Bewußtseins« zeichnet sich also in der Gliederung von zwei Ebenen ab. Es handelt sich einerseits um die mögliche Verifizierung des theoretischen Kerns des Verstehens, das als »formaler« Ort der Vermittlung zwischen Lebenserfahrung und geschichtlicher Objektivierung verstanden wird, und andererseits um eine regelrechte historiographische Arbeitshypothese (die Bildung des modernen Bewußtseins, das von den Auflösungsphasen der klassischen Metaphysik begleitet wird), die den Bildungs- und Gründungsprozeß der Geisteswissenschaften – das heißt das wichtigste Moment einer neuen Definition der Beziehungen zwischen Wissenschaft und sozialgeschichtlicher Intelligenz und einer Vereinigung des Wissens – in seinen entscheidenden Stufen zu rekonstruieren versucht: von der Entstehung der »Bedingungen des modernen wissenschaftlichen Bewußtseins«, zur Bildung des »natürlichen Systems der Geisteswissenschaften» und schließlich zur Genese der theoretischen Grundmodelle des Rationalismus, des Pantheismus und des anthropologischen Denkens5. In diesem Zusammenhang ist es sicher nicht angebracht, sämtliche Kategorien, die das Bild der Diltheyschen Interpretation der Entstehung des modernen Menschen in Verbindung mit dem von der Renaissance Zur Problematik der Begriffsgeschichte beachte man die theoretische und historiographische Debatte über die großen lexikographischen Projekte, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hrsg), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1971 ff.; Otto Brunner / Wilhelm Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg), Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1972–1990, Bd. 6. Vgl. auch Hans Georg Gadamer, Die Begriffsgeschichte und die Sprache der Philosophie, in: Kleine Schriften IV, Tübingen 1977, S. 14 ff. 4 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeit, Frankfurt a. M. 1979. 5 Das sind, wie bekannt ist, die Objekte, die im Mittelpunkt der von Dilthey zwischen 1891 und 1904 durchgeführten Untersuchungen stehen und die im »Archiv für Geschichte der Philosophie« erschienen sind. Heute sind sie im Band II der »Gesammelten Schriften« zusammengefaßt. 3

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geprägten epochalen Bruch zusammensetzen, noch einmal durchzugehen.6 Es genügt hier, nur die allgemeinen Koordinaten zu erwähnen, mit denen Dilthey die maßgebenden Eigenschaften der modernen Welt hervorhebt, die in der Ausstrahlung der völlig neuen Potentialitäten der Individualität auf die Auffassungen von der Gesellschaft, der Politik, der Wissenschaft und der Ethik knapp zusammengefaßt werden können. In einem Abschnitt der Diltheyschen Rezension von Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien, der diese Koordinaten eindrucksvoll darstellt, liest man: »Der moderne Mensch erscheint in dem Italien der Renaissance in der Durchbildung der Individualität, in dem objektiven Verhältnis der Gesellschaft und der Natur, in der Allseitigkeit, in der Ausbildung eines gesonderten Privatlebens, in der Entstehung der Gesellschaft als einer neutralen, die Stände ausgleichenden Sphäre, in der Erhebung des persönlichen Ehrgefühls an die Stelle einer objektiven Sittlichkeit«.7 Es zeigt sich hier, meiner Ansicht nach, eine tiefgehende historiographische Intuition, die Dilthey später (dank der Kategorie Wirkungszusammenhang8 und dank der Rolle, die diese in der allgemeinen Vorstellung von der Historizität des Lebens und dessen Ausdrucksformen spielt) in einer Idee der Selbstzentralität der geschichtlichen Epochen und des Wirkungszusammenhangs, die sich in diesem zwischen den einzelnen Aspekten (die Wissenschaft, die Politik, der Staat, die Werte und die praktischen Haltungen) und der Totalität des vorwiegenden Gemeinsamen ergibt.9 Dieses Gemeinsame wird von Dilthey in dem Phänomen erkannt, das mehr als alle anderen die »lange Dauer« der Ausbildung der Modernität kennzeichnet: die Entwicklung der Wissenschaften in einem jahrhundertelangen Prozeß, der die mühselige Arbeit des europäischen Geistes von der Auflösung der metaphysischen Einstellung an durch die Veränderungen der wissenschaftlichen Revolution Galileis, der kartesianischen gnoseologischen Revolution und der politischen Revolution von Machiavelli und Hobbes hindurch bis zur Blütezeit der allumfassenden Systematisierungen des Idealismus und des Positivismus verfolgt hat. Ich möchte an dieser Stelle auf meinen Aufsatz »Dilthey e il Rinascimento«, in: Vita e forme della scienza storica. Saggi sulla storiografia di Dilthey, S. 55 ff., verweisen. Zur Problematik der »Selbstlegitimation« des Modernen seit der Renaissance vgl. die bedeutenden historiographischen und theoretischen Angaben von Stephan Otto, Renaissance und frühe Neuzeit (Geschichte der Philosophie, Bd. 3), Stuttgart 1984, S. 9 ff. 7 Wilhelm Dilthey, GS XI, S. 74–75. 8 Zum Begriff der »geistigen Welt« als Wirkungszusammenhang, der als Grundbegriff der Wissenschaften und des Geistes verstanden wird, vgl. GS VII (der Aufbau), S. 152 ff. 9 Vgl. GS VII, S. 155. 6

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Den »epochalen« Punkt des Bruchs sieht Dilthey ganz deutlich in der Wende der Renaissance und in der komplexen Beziehung, die diese Wende mit den Momenten der Veränderungen und der Krise der Metaphysik eingeht. Dilthey und ebenso Cassirer erkennen einerseits die Bedeutung der Rolle, die der »Selbstwert« und die »selbständige Kraft« der Personalität in der Renaissance hat, und andererseits, daß die Bedeutung dieser Personalität – wie man in einem Aufsatz Diltheys über das »natürliche System der Geisteswissenschaften« lesen kann – auch das »Ergebnis wirtschaftlicher, sozialer, und geistiger Bewegungen ist, und eben in dieser Richtung hatte zuletzt der Humanismus entscheidend gewirkt. Der religiöse Ausdruck hiervon war, daß der Mensch, einsam mit Gott, sich auf seinem eigenen Wege und durch seine eigene Arbeit sein Verhältnis zu dem Unsichtbaren bildet. Dies wurde durch Umstände unterstützt, welche durch eine denkwürdige, geschichtliche Fügung eben zu dieser Zeit in Wirksamkeit gelangten«.10 Welche Vorzüge eine Rekonstruktion auch immer haben mag, die zu einer allgemeinen Betrachtungsweise der Epoche und des ihr eigenen Denkens neigt, es darf, so sagt Cassirer, hierbei nie vergessen werden, daß »nur die Vertiefung in die konkrete Besonderung, in die letzte Freiheit des historischen Details die echte Allgemeinheit zustande bringen und verbürgen kann«. Dieser präzise Begriff des »konkreten Allgemeinen« erlaubt es, die geschichtlichen Epochen, und damit auch die Renaissance und die Moderne, in ihrer »Selbstzentralität« und Einheitlichkeit zu sehen, und in ihrem dialektischen Verhältnis die besonderen Formen des Geistes und der Kultur und die Ganzheit der Lebenskräfte zu berücksichtigen, die sich in einer bestimmten Epoche zeigen.11 Der Bezug auf das Thema der Gesellschaft ist ein weiteres Element, das Diltheys Interpretation der Moderne prägt. Den Ausgangspunkt bildet der Differenzierungsgrad der finalistischen Zusammenhänge der Gesellschaft im Vergleich zu den allumfassenden und monistischen Schemen der Vergangenheit. Genau dieser Wandel der Perspektive im Verhältnis von Denken und Gesellschaft bedingt auf philosophischer und anthropologischer Ebene den Ausdehnungsprozeß aller »individuellen Energien« und, auf geschichtlicher Ebene, die sozialpolitischen Veränderungen in den italienischen Städten. In dieser entscheidenden Epoche ist alles neu, alles beweist, welche unerwarteten Folgen das Aufgebot an Dilthey, Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert (1892–1893), in: GS II, S. 212. 11 Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig 1927, S. 5. 10

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Kräften und menschlichen Initiativen nach sich ziehen konnte. Auf politischer Ebene erlebte man das Ende des für das Mittelalter typischen permanenten Kriegszustands, was sich auf die Entwicklung von »geordneten Rechtszuständen, Industrie, Wohlstand der bürgerlichen Klassen« auswirkte. Die Städte wurden immer mehr zu »Mittelpunkten spontaner industrieller Tätigkeit und wachsenden Komforts. Die Menschen blicken in eine grenzenlose Zukunft. Europa bildet ein Arbeitsfeld, auf welchem Industrie und Handel mit wissenschaftlichen Erfinden und Entdecken, mit künstlerischem Gestalten verbunden ist«.12 Auf philosophischer und epistemologischer Ebene wird der allmähliche Verfall der Metaphysik von einer, in gewisser Hinsicht, immer stärkeren Emanzipation der wissenschaftlichen Erkenntnis und der nunmehr unaufhaltsamen Evolution der Einzelwissenschaften und schließlich von der Andeutung neuer anthropologischer Betrachtungsweisen sowohl in der Politik als auch in der Moral bestätigt. Dies alles zeigt sich in einer ganzheitlichen Betrachtungsweise der Epoche, da die Emanzipation der Philosophie und der Wissenschaft sich unmittelbar auf das Leben und die konkrete Art, mit der man dessen Bedürfnisse angeht, auswirkt und da die Autonomie der Einzelwissenschaften dazu beiträgt, »diese Wende der intellektuellen Entwicklung« zu bestimmen, die von der Ausbildung »einer neuen Klasse von Personen«, die Literaten, die an die Stelle der Geistlichen treten, dargestellt wird. Auch die Arbeitsorganisation erfährt Veränderungen, die sich ihrerseits auf die Wissenschaft, auf die Manufaktur und auf die Lebensführung und Lebensstile auswirken. »Der weite Schauplatz unseres Erdteils und die ungeheuren Mittel dieser modernen Welt brachten einen ununterbrochenen Zusammenhang vieler Arbeiter hervor. Diesen aber stand die Natur nicht als ein in sich göttliches Gewächs gegenüber: die Hand des Menschen griff durch sie hindurch, hinter ihren Formen die Kräfte zu erfassen«.13 Und das könnte natürlich auch nur von der Erscheinung eines anderen konstitutiven Aspekts des allgemeinen geschichtlichen Wirkungszusammenhangs kommen: die neue Betrachtungsweise der Wissenschaft und die neue Art, sich auf die Erfahrung der natürlichen Phänomene zu beziehen. »Das Naturgesetz verzichtet darauf, das Wesen der Dinge auszudrücken, und indem so Grenzen der positiven Wissenschaft hervortraten, wurde das Studium der Wirklichkeit ergänzt durch eine Erkenntnistheorie, welche das Feld der Wissenschaften abmaß. So entstanden, als die eigentümlichen Erzeugnisse der modernen Wissenschaft, die Erforschung der Kausalgesetze der WirkDilthey, Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert, in: GS II, S. 16. 13 Dilthey, Einleitung, in: GS I, S. 357. 12

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lichkeit auf dem Gebiete der Natur wie der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt und die Theorie der Erkenntnis. Diese beiden führen seitdem den Vernichtungskrieg gegen die Metaphysik, und jetzt ist ihre Tendenz, auf der Grundlage der Erkenntnistheorie einen Zusammenhang der Einzelwissenschaften der Wirklichkeit herzustellen«.14 Aufgrund der komplexen Verwicklung der sozialgeschichtlichen Veränderungen und der neuen philosophischen Konzeptualisierungen, die einerseits an die neue Wissenschaft und andererseits an die Spezialisierung des positiven Wissens gebunden sind, verfolgt Dilthey die grundlegenden Etappen der Durchsetzung des menschlichen Lebens, in dem sich das wesentliche Merkmal der Neuzeit konzentriert. In den Mittelpunkt dieser komplexen Bewegung stellt sich die »Person, welche das eigene Innere zu erfassen unternahm, um auf diese Ansicht ihre Lebensführung zu gründen. Petrarca und die moralphilosophischen Traktate aus der großen Zeit von Florenz, welche an die Stoa sich anschließen, stehen am Beginn dieser Bewegung. Das neue Wissen um den Menschen vertieft sich dann beständig in Vives, Cardano, Scaligero, Telesio, Montaigne, Giordano Bruno; drei neue Momente führen dann die wissenschaftliche Vollendung dieser Anthropologie herbei: die Inventarisierung und Systematisierung der stoischen Überlieferungen durch die holländische Philologie, die Anwendung der Galileischen Mechanik auf das Seelenleben und endlich, seit Hugo Grotius, der Aufbau des natürlichen Systems von Recht, Staat und Religion auf die neue anthropologische Wissenschaft«.15 Ein weiteres bedeutendes Moment des komplexen geschichtlichen Wirkungszusammenhangs der Renaissance und der Moderne ist die Ausbildung des natürlichen Systems der Wissenschaften. Diltheys Interpretationsvorschlag ist ohne Zweifel wichtig und prägt auch die weiteren Entwicklungen der Geschichtsforschung. Er erfaßt den wichtigen Zusammenhang, der sich in den Anfängen der Neuzeit zwischen der Wissenschaft und dem Leben bildet. Die neue wissenschaftliche Erkenntnis (mit Galilei im Mittelpunkt) bedingt nicht nur radikale Veränderungen in der Verwendung der Begriffe Substanz und Ursache (die nicht mehr Prinzipien metaphysischer Natur sind, sondern »Hilfsmittel« fur die Analyse der Erfahrung), sondern wirkt sich auf die Veränderung der Gesellschaft in dem Maße aus, als sich die Bildung von neuen Interessen und von neuartigen Gesellschaftsschichten ihrerseits auf die praktische Funktion der Wissenschaft ausübt. Die Wissenschaft – bemerkt Dilthey 1883 – »in demselben Maße, in welchem sie von der Untersuchung der Ebd. Dilthey, Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts (1904), GS II, S. 417. 14

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letzen Gründe sich loslöste, empfing sie von den fortschreitenden praktischen Zwecken der Gesellschaft, dem Handel, der Medizin, der Industrie ihre Aufgaben«.16 Mit diesen Voraussetzungen rekonstruiert Dilthey die Entwicklung des natürlichen Systems der Wissenschaften, das sich auch auf die Bereiche des menschlichen Lebens, der Gesellschaft und der Geschichte auswirkt. Der Auflösungsprozeß der grundlegenden Einheit der Metaphysik und die Aufgliederung des Wissens in die einzelnen Disziplinen, mit dem Versuch, die auf erklärende Gesetze gegründete analytische Forschung auf das Untersuchungsfeld des praktischen Lebens zu übertragen, bilden den Ursprung sowohl einer natürlichen Theologie als auch eines Naturrechts. Das Geschichtsstu-dium erfährt mit der Andeutung einer »historischer Kritik«, die einerseits das Bewußtsein von der »Vieldeutigkeit des geschichtlichen Stoffes« ist und andererseits die Infragestellung »eines teleologischen Prinzips der geschichtlichen Erkenntnis«,17 eine tiefgreifende Wende. Es gibt ein konklusives Moment der Diltheyschen Interpretation, das in diesem Zusammenhang besonders wichtig ist, auch wegen der Ähnlichkeiten, die es mit der Analyse Cassirers aufweist. Ich beziehe mich auf den Aspekt der Kontinuität, der die gesamte gegliederte Struktur der Bildung der modernen Welt durchläuft und das Verwachsen der Ergebnisse der Weltanschauung der Renaissance mit den Anfängen der Aufklärung erlebt. Der »konstruktive Rationalismus« stellt den bedeutsamen Übergang zwischen den beiden fundamentalen Etappen der Modernität dar. Dieser zeigt sich im besonderen in der engen Verbindung mit den praktischen Bedürfnissen der Gesellschaft, der Veränderung der Produktionsformen, der Einführung von neuen technischen und wissenschaftlichen Instrumenten und mit der Ausdehnung des Handels. »Nur auf dem Wege – schreibt Dilthey 1893 – des Versuchs, der Rechnung, der Entdeckung, der Erfindung konnte das Denken den Forderungen des Lebens genügen. Und nun lagen in derselben neuen bürgerlichen Gesellschaft, aus welcher diese modernen Aufgaben entsprangen, auch moderne Mittel ihrer Auflösung. Denn in ihr bildete sich nun im Gegensatz zu der antiken Trennung der arbeitenden Hand von dem wissenschaftlichen Geiste die schöpferische Verbindung der Industriearbeit mit dem wissenschaftlichen Nachdenken. Diese Verbindung der Arbeit mit dem forschendem Geiste im Schoße einer freien bürgerlichen Gesellschaft hat das Zeitalter der Autonomie und Herrschaft der Vernunft heraufgeführt«.18 Dilthey, Einleitung, GS I, S. 359. Ebd., S. 374–375. 18 Dilthey, Die Autonomie des Denkens, der konstruktive Rationalismus und der pantheistische Monismus nach ihrem Zusammenhang im 17. Jahrhundert, GS II, S. 257–258. 16

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Wie schon am Anfang bemerkt worden ist, ist es für eine Beurteilung der Stellungen Cassirers wichtig, den begriffstheoretischen Hintergrund der Philosophie der Kultur und der symbolischen Formen und die konkrete praktische Geschichtsschreibung eng miteinander verbunden zu sehen. Die kritische Literatur ist sich weitgehend einig darüber, daß Cassirer gerade während der entscheidenden Ausdehnungsphase seiner kritisch-erkenntnistheoretischen Betrachtungsweise auf das morphologische Modell, das sich auf die Theorie des Symbols und auf die Logik der Wissenschaften der Kultur gründet, seine bedeutendsten Werke über die Renaissance, über die Platonische Wiedergeburt und über die Aufklärung hervorbringt. Es ging darum, auf dem konkreten Gebiet der Geschichtsforschung, die Denkbarkeit eines Zusammenhangs zwischen Denken und Geschichtlichkeit, Formen und Leben des Geistes und zwischen der ursprünglichen schöpferischen Kraft des Symbols und seiner Historisierung in den Ausdrucksformen und in den Produkten der menschlichen Kultur zu erproben. Die Absicht Cassirers – in Übereinstimmung mit seiner »funktionalistischen« und »symbolischen« Geschichtsauffassung – ist diejenige, die Geschichte der Ideen im allgemeinen und die Geschichte der modernen Kultur im besonderen von jedem im voraus gebildeten abstrakten Schema und von jeder Geschichtsphilosophie, die als vorherbestimmte Aufgliederung in Epochen verstanden wird, zu befreien. In einem der letzten Aufsätze, die das Thema der »Originalität« der Renaissance behandeln, ermahnt Cassirer dazu, die Begriffe und Termini der Renaissance und des Mittelalters lediglich in ihrer typologischen Funktion zu betrachten und sie nicht als »Instrumente für eine starre Abgrenzung von geschichtlichen Zeitabschnitten«19 zu benutzen. Obwohl sich die geschichtlichen Tatsachen in komplexen Zusammenhängen und Verbindungen darstellen, ist das von der Renaissance gegebene OriginaSchon auf den ersten Seiten von »Individuum und Kosmos« hatte Cassirer bemerkt, wie, besonders im Bereich des philosophischen und religiösen Denkens, der Übergang vom Mittelalter zur Renaissance nicht so unmittelbar und radikal wahrgenommen wurde. Das erkläre, gemäß Cassirer, eine der Grenzen der Rekonstruktion von Burckhardt, der die Philosophie im Grunde genommen von dem »grandiosen Gesamtbild, das er von der Kultur der Renaissance entworfen hatte«, ausgeschlossen hatte. Diese kritische Beobachtung Cassirers deutet auf jene allgemeine Problematisierung der Gliederung, die dieser große Historiker der Kultur dem Problem der Periodisierung zugewiesen hatte und auf die Berichtigung, die dazu neigt, die Genese von einigen Ideen der Renaissance immer mehr zurückzuversetzen. Und dennoch ist das Problem Cassirers nicht das, sich an die Konkretheit des geschichtlichen Details zu halten und an die tatsächliche Ausbildung von Ideen und Begriffen, sondern vielmehr das, die einheitliche Funktion einer begrifflich-symbolischen Form zu erfassen. 19

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litätsfaktum nicht in Frage zu stellen, insoweit sich auch am Anfang des 16. Jahrhunderts »das Gleichgewicht zwischen einigen besonderen Mächten – Gesellschaft, Staat, Religion, Kirche, Künste, Wissenschaft – langsam zu verändern beginnt. Neue Kräfte kommen auf und verändern somit das vorhergehende Gleichgewicht. Und der Charakter einer jeden Kultur liegt im Gleichgewicht zwischen den Kräften, die ihr Form geben«.20 Ähnliche Ideen hatte Dilthey schon in einem Aufsatz über die Anthropologie von 1904 formuliert, als er den Übergangsprozeß in kategorialtypischen Begriffen festgehalten hatte. »Jedesmal, wenn eine Kultur abstirbt und eine neue entstehen soll, erblaßt die Begriffswelt, die aus der älteren hervorgegangen war, und löst sich auf. Das Erlebnis, wie es bedingt ist durch die gesellschaftlichen Veränderungen und die Fortschritte der Wissenschaft, emanzipiert sich gleichsam eine Zeit hindurch von den Fesseln begrifflichen Denkens: für sich wird es eine Macht über die Gemüter«.21 Cassirer geht es nicht so sehr darum, der »Substanz« und den besonderen Inhalten des Phänomens der Renaissance den Vorrang zu geben, als vielmehr seiner »Funktion« und mit dieser, der Dynamik der Ideen, die einer ganzen geschichtlichen Epoche ihren Charakter aufzuprägen vermag.22 Was, zum Beispiel, Pico della Mirandola zu einem originalen und bedeutenden Moment in der Geschichte des Problems der Freiheit macht, ist, nach Cassirer, nicht der Inhalt des Begriffs, der, unter anderem, im Mittelpunkt von vielen anderen philosophischen Reflexionen der Vergangenheit stand, sondern vielmehr die Originalität einer Wahl, die dieses Problem zum Mittelpunkt von philosophischem, religiösem und politischem Denken werden läßt. Der gleiche Gedankengang kann auch für ein anderes wichtiges Originalitätsmerkmal gelten, das ebenfalls in der Moderne anzutreffen ist. Ich beziehe mich auf den Begriff des »Individuums«. Cassirer bemerkt, daß das Problem nicht in der richtigen Erfassung der Inhalte von spezifischen philosophischen Reflexionen über den Menschen und über die Rolle des Individuums in der neuen gesellschaftlichen und geistigen Situation liegt, sondern vielmehr in der Wahrnehmung der komplexen Verlagerung einer Kultur mit ihren Ideen und ihren geschichtlichen Erscheinungen vom Allgemeinen zum Besonderen hin zu sehen ist. »Das ›Besondere‹ nahm nun in der Werteskala 20 Cassirer, Some Remarks on the Question of the Originality of the Renaissance, In: Journal of the History of Ideas 4 (1943). 21 Dilthey, GS II, S. 437. 22 »Der Historiker der Ideen fragt nicht, welches das Wesen von einigen Ideen sei. Er fragt, was für eine Funktion sie haben. Was er erforscht – oder erforschen sollte – ist nicht so sehr der Inhalt der Ideen, als ihre Dynamik« (Ernst Cassirer, Some Remarks).

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eine ganz andere Stelle und Stellung ein [ . . . ]. Die Essais von Montaigne schufen die neue Philosophie des ›Individuums‹. Daß das Porträt eines bestimmten Menschen, da Individuum – mit all seinen Besonderheiten, Widerwillen und Schicksalen – ein theoretisches Interesse hat, war schon vor der Renaissance unglaublich«.23 In der Renaissance liegen somit nach Cassirer die Wurzeln der modernen Welt. Die Epoche der Renaissance ist für Cassirer nicht nur deshalb interessant, weil sie ein entscheidendes Moment unserer Geistesgeschichte ist und mit diesem das Antike und die Formen der ihm entsprechenden Philosophie wieder aufleben, sondern weil dieses Moment den Ursprung des Geistes der Moderne darstellt.24 Aufgrund dieses Prinzips sollten die Seiten, die Cassirer den Figuren und den grundlegenden Problemen der Renaissance widmet, gelesen werden. So wird die docta ignoratia von Cusanus aufgrund der »völlig neuen geistigen Gesamtorientierung«, die diese einführt, interpretiert. Es ist zwar gewiß, daß die Anerkennung einer unumgehbaren Antithese zwischen dem Sein des Absoluten und dem der empirischen Gegebenheit, zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen bestehen bleibt. »Aber dieser Gegensatz wird nun nicht mehr schlechthin dogmatisch gesetzt, sondern er soll in seiner letzte Tiefe erfaßt, er soll aus den Bedingungen der menschlichen Erkenntnis begriffen werden. Diese Stellung zum Erkenntnisproblem charakterisiert Cusanus als den ersten modernen Denker«.25 Das Problem der Genese des Begriffs der Individualität stellt sich natürlich auch in den Mittelpunkt von Individuum und Kosmos. Burckhardt hatte – wie Cassirer bemerkt – richtig erfaßt, wie das Interesse gegenüber dem Subjektivem das Pendant zum fortschreitenden Interesse gegenüber der objektiven Welt bilde. Und dennoch beweist uns, nach Cassirer, noch Cusanus, wie gerade das Göttliche und das Unendliche nicht abgestritten werden können, sondern, im Gegenteil, mit Hilfe eines Begriffes der Totalität, der die Vielfalt der Formen der Welt zusammenhält, erfaßt werden können.26 Mit Cusanus und der Philosophie der Renaissance, die in ihm ihren Ursprung hat, wird das »konkrete Subjekt« der Welt, Ursprungsort einer jeden schöpferischen Tätigkeit, zum Geist des Menschen. Und dies steht nicht nur am Anfang einer neuen Erkenntnistheorie (da der Mensch sich nicht mehr nur darauf beschränkt, die Realität wiederzugeben, sondern

Ebd. Vgl. Oskar Schwemmer, Cassirers Bild der Renaissance, in: Enno Rudolph / Bernd Olaf Küppers (Hrsg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995, S.225–280. 25 Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 10. 26 Ebd., S. 39 ff. 23 24

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sie neu bildet und in sich selbst durch die Mathematik, die Geometrie, die Musik und die Astronomie ausdrückt), sondern auch am Anfang einer neuen Betrachtungsweise der Geschichte. Das geschichtliche Dasein ist nicht mehr ein »äußeres ›Geschehen‹, sondern es stellt sich als die eigenste Tat des Menschen dar. Nirgend anders als in seiner Geschichte kann der Mensch sich als wahrhaft schöpferisch und frei bewären«.27 Die unmittelbare Folge dieser Verherrlichung der geistigen Kreativität des Menschen ist in einer bewußten Freiheitsdoktrin zu sehen, dank der sich nicht nur der Gleichstellungsprozeß mit Gott erfüllt, sondern sich gleichzeitig die Existenz einer Sphäre, die des Wertes, bestimmt, in der die Autonomie des menschlichen Seins vorherrscht.28 In Cassirers Analyse ist das philosophische Problem der Freiheit somit eng mit der schöpferischen und verarbeitenden Tätigkeit des Menschen verbunden. An die Stelle der Figur des Adams tritt nun die Figur des Prometheus; das heißt die Vorstellung von einer schöpferischen Kraft, die der Menschheit die Gaben der Wissenschaft und der politischen und mora-lischen Ordnung schenkt. Von Boccaccio bis Ficino und von Bovillus bis Bruno wohnt man der fortschreitenden Bestätigung einer bildenden Tätigkeit bei, die sich immer mehr mit der Aktivität des einzelnen Individuums identifiziert. »Indem der Weise aus dem irdischen Menschen den himmlischen, aus dem potentiellen Menschen den aktuellen, aus der Natur den Intellekt erzeugt, ahmt er damit den Prometheus nach, der in den Himmel aufstieg, um da allbelebende Feuer von den Göttern herabzuholen«.29 Cassirers Rekonstruktion der tragenden Linien der Epoche und der Kultur der Renaissance (und natürlich auch der Moderne) beschäftigt sich nicht nur mit den Abschnitten, in denen das philosophische Denken überwiegt. Mit der Renaissance schließen sich der Erkenntnis, der Logik und der Theologie nicht nur neue Wege auf, sondern es bilden sich neue Formen des Wissens und, was noch wichtiger ist (darauf wurde schon von Dilthey aufmerksam gemacht), ein neues Verhältnis von Praxis und Theorie, da gerade in bezug auf »konkrete technisch-künstlerische Aufgaben« neue theoretische Formulierungen erarbeitet werden.30 Nicht nur das, mit der

Ebd., S. 45. Ebd., S. 46 f. 29 Ebd., S. 102. 30 Ebd., S. 54. Zur engen und bedeutsamen Beziehung, die Cassirer zwischen der Wissenschaft und der Theorie der Kunst in der Renaissance aufstellt, vgl. die überzeugenden Bemerkungen von Schwemmer, a. a. O., S. 263–264 und S. 267 ff. Der deutsche Forscher bezieht sich richtigerweise auf die Seiten Cassirers, in denen – mit besonderem Bezug auf Leonardo – die Beziehung zwischen der Mathematik und den Kunstformen analysiert wird. Der Mathematiker, wie der Künstler und der Techniker, 27 28

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neuen Auffassung von der Logik und der Hauptrolle, die der Mathematik zugeschrieben wird, wird – vor allem mit Galilei – die Lesbarkeit der Welt der Natur und mit dieser die Vollendung der Säkularisierung möglich.31 Im letzten Kapitel von »Individuum und Kosmos« durchläuft Cassirer die lange Geschichte der Bildung einer modernen Idee vom Bewußtsein. Sie hat freilich ihren archimedischen Punkt in Leibniz und Cartesius, und dennoch beginnt in der Philosophie der Renaissance (mit Cusanus, Ficino, Pico und Patrizi) die wichtige Arbeit »der Auflockerung des Erdreichs, aus dem die neue, die spezifisch-moderne Grundanschauung des Verhältnisses von ›Objekt‹ und ›Subjekt‹ hervorgehen sollte«.32 Das ist nicht der richtige Ort, um eine Diskussion über die Funktion, die Cassirers Rekonstruktion der Philosophie in bezug auf die Erforschung der genetischen Wurzeln der Philosophie des Kantischen transzendentalen Subjekts hat (das als Grundlage der Erkenntnis und als Prinzip der spontanen Fähigkeit des freien Handelns des Menschen verstanden wird),33 und über die Linie der Kontinuität, die vom »Vor-Modernen« der Renaissance zum entfaltenen »Modernen« der Aufklärung führt, zu beginnen. Es besteht gewiß kein Zweifel darüber, daß Cassirer bis zuletzt die zentrale Funktion hervorhebt, die die Renaissance im Bildungsprozeß des modernen Rationalismus einnimmt, insbesondere in bezug auf den Bereich der Politik, mit Machiavelli, Hobbes und Grotius. Mit den Interpretationen von Cassirer und Dilthey können nicht alle Probleme bezüglich der theoretischen und historiographischen Fragen, die die Beziehungen zwischen Altertum und Modernität, zwischen Mittelalter und Renaissance betreffen oder die Probleme bezüglich des Erkennens der grundlegenden Profile des modernen philosophischen Denkens (der Zusammenhang zwischen Subjekt und Objekt, das Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit, von Form und Materie, von Norm und Maß und von Geist und Leben) gelöst werden. Und dennoch, wie Cassirer auf einer seiner letzten Seiten schreibt,34 wollte man die Realität der Renaissance beweisen, so müßte man nur zwei Denker (und

ist ein Entdecker und nicht nur ein reiner Ausleger der Natur (zu den Begriffen des Maßes und der Proportion vgl. Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 55 ff.). 31 Zwischen dem Buch der Natur und der Bibel kann es keinen Widerspruch geben, da beide »die Einheit des göttlichen Urhebers« zeigen. Aber auch wenn die Gegenüberstellung unvermeidbar scheint, kann die Harmonie wiederhergestellt werden (ebd., S. 59). 32 Ebd., S. 131. 33 Diesen Punkt hat Schwemmer, a. a. O., besonders betont. 34 Ich beziehe mich hier auf die letzten Seiten von Ernst Cassirers Buch »The Myth of the State«, New Haven / London 1946.

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ihre wichtigsten Werke: Dialoghi intorno a due nuove scienze und Il Principe), das heißt Galilei und Machiavelli als Zeugen angeben. Diese zwei Bücher haben, nach Cassirer, etwas gemeinsam: eine Denkweise, die sie als die zwei großen und entscheidenden Ereignisse der modernen Kultur kennzeichnet.

Enno Rudolph Die Renaissance – frühe Phase der Neuzeit oder Epoche sui generis? Eine Frage an Wilhelm Dilthey und Ernst Cassirer

Der insbesondere durch Jacob Burckhardt und Jean Michelet induzierte Streit um die Authentizität der Renaissance als kritische Epoche hat gegenwärtig eine modifizierte Neuauflage erfahren. Modifiziert in zweierlei Hinsicht: – Einerseits findet er kaum als offen in Form eines durch Argumentenaustausch geprägten Disputs statt, – andererseits wird er überlagert durch die analoge Auseinandersetzung über die Kriterien der Unterscheidbarkeit zwischen der »frühen« Neuzeit und dem Rest der Neuzeit, ein Streit, dessen Sinn seinerseits in der von Reinhard Koselleck 1990 aufgeworfenen Frage »Wie neu ist die Neuzeit«? zu spiegeln wäre.1 Die bedrohliche Antwort nämlich könnte lauten: gar nicht neu – und es gibt unter den maßgeblichen Mediävisten der Gegenwart bekanntlich nicht wenige, die einer solchen These nahestehen dürften.2 Auch die epochale Authentizität der Neuzeit ist also nicht über jeden Zweifel erhaben. Und vor dem Hintergrund von Hans Blumenbergs Versuch einer Einkreisung der Epochenschwelle zwischen Cusanus und Giordano Bruno, und damit zwischen dem Ende der alten und dem Beginn der neuen Epoche, läßt sich der Verdacht nicht von der Hand weisen, daß die Apologeten der Umtaufung der Renaissance in »frühe Neuzeit« sich deren historische Identität auf Kosten anderer Entwicklungsphasen der Geistesgeschichte versichern wollen. »Die Geschichte kennt keine Wiederholungen des Gleichen: ›Renaissancen‹ sind ihr Widerspruch«, heißt es bei Blumenberg apodiktisch.3 Der Satz hat seine Pointe nicht in einem trivialen geschichtsphilosophischen Herakliteismus; er hat sie in Reinhart Koselleck, Wie neu ist die Neuzeit?, in: Historische Zeitschrift 251 (1990), S. 539 ff. 2 Zu diesem Disput vgl. u. a. Peter Burke, Die Renaissance, Frankfurt 1996; ders., Die Europäische Renaissance, München 1998; Kurt Flasch, Aufklärung im Mittelalter, in: Kurt Flasch / Udo Reinhold Jeck (Hg.), Das Licht der Vernunft. Die Anfänge der Aufklärung im Mittelalter, München 1997, S. 7; Nicholas Mann, The origins of humanism, in: Jill Kraye, The Cambridge Companion to Renaissance Humanism, Cambridge University Press 1997. 3 Hans Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle, Frankfurt 1976, S. 163. 1

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der Bestreitung der Möglichkeit einer epochalen Authentizität von historischen Wiederanknüpfungen an Überlieferungen bzw. Epochen.

I. Die Bedeutung Petrarcas Die historische Authentizität der Renaissance ist für Ernst Cassirer und Wilhelm Dilthey gleichermaßen unbestreitbar – allerdings bei Cassirer deutlich entschiedener im Sinne epochenspezifischer Besonderung als bei Dilthey, zumal Cassirer die Renaissance als ein kulturelles Paradigma von geradezu normativer Geltung bewertet.4 Beide gewinnen ihr Renaissancebild aus einer vorgängigen geschichtstheoretischen Prämisse: Cassirer deutet Geschichte als Kulturgeschichte, und das heißt, als Geschichte unterschiedlicher und zunehmend komplexerer Symbolisierungen des konstruktiven oder destruktiven Umgangs des Menschen mit seiner Freiheit. Die von Cassirer archetypisch unterschiedenen Formen der Symbolisierung – wie mythische Weltdeutung oder wissenschaftliche Welterklärung – prägen Epochenunterschiede ihrerseits, dies allerdings keineswegs in diskreter Sukzession sondern mit wechselwirkender historischer Dynamik. Dilthey hingegen versteht Geschichte als objektivierbaren Prozeß der Äußerungen menschlichen Lebens in geistigen Zusammenhängen. Für Cassirer ergibt sich seine Deutung der Geschichte als Kulturgeschichte aus seinem Kulturbegriff: Kultur verstanden als Prozeß der produktiven Erweiterung von Freiheitsräumen für den Einzelnen. Dilthey legitimiert seinen Geschichtsbegriff – in engführendem Anschluß an Schleiermacher – durch eine vorgängige Hermeneutik menschlicher Lebensäußerungen in Wort und Schrift, die Heidegger später als »Selbstaufklärung« des Verstehens solcher Äußerungen und »erst in abgeleiteter Form als Methodologie der Historie« bewertete5. Obgleich Dilthey die Zäsur zwischen Mittelalter und Renaissance markant fixiert, überwiegt seine Vision historischer Kontinuität der Lebensäußerungen die Wahrnehmung diskreter Epochen. Cassirer hingegen macht es sich mit der Feststellung historischer Kontinuität schwerer, wenn er durch die Ausdifferenzierung einiger weniger die europäische Kulturgeschichte insgesamt organisierender Archetypen zwar die These historischer Kontinuität nahezulegen scheint, andererseits aber auf die epochale Originalität der Renaissance gegenüber Mittelalter und Neuzeit insistiert und damit auf Diskontinuität der historischen EntwickCassirers Rekonstruktion der Renaissance als Epoche einer zunehmenden Konvergenz von kultureller Produktivität und Humanität ist keineswegs zu verwechseln mit der Heroisierung des Renaissancemenschen durch Jacob Burckhardt. 5 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1986, § 77, S. 398. 4

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lung setzt. Immerhin scheint Dilthey seine unablässig erkennbare Tendenz zur Annahme kontinuierlicher Entwicklung der Geistesgeschichte zu unterlaufen, wenn er im Blick auf die Genese der Renaissance festhält, daß ihr Aufkommen ursprünglich aus der Auflösung fester Verbände des Mittelalters zu erblicken sei, daß die freie Entfaltung des Individuums davon allenthalben profitiere, und nahelegt, den sich hier vollziehenden Wandel aus der Wechselwirkung zwischen dem Sieg des Nominalismus auf der einen Seite und einer mit Emphase vollzogenen Selbstentdeckung des Individuums auf der anderen zu erklären.6 Die Frage entsteht, ob sich aus solchen Kriterien hinreichende Indizien für den Nachweis einer Epochenschwelle gewinnen lassen. So dürfte es kaum durchführbar sein, aus der Wirkungsgeschichte des Nominalismus auf seinen Sieg im Universalienstreit zu schließen, indem man seinen Erfolgsbeweis in der unterstellten nominalistischen Prägung einer neuen Epoche sieht. Und wichtiger noch ist, daß Dilthey die Selbstentdeckung des Individuums – ein weiteres Kriterium – weniger als Prozeß individueller Autonomisierung, sondern vielmehr als modifizierte Mystik, als eine Art gesteigerte Konzentration auf sich selbst, als Typ von incurvatio in se ipso beschreibt. Das maßgebliche Dokument für diese Form renaissancespezifischer Entdeckung der Individualität liegt für ihn im Werk Petrarcas vor.7 Petrarca figuriert bei Dilthey nicht nur konventionell als chronologischer und literarischer Anfang der Renaissance. Vielmehr ist es die spezifische Bewertung, die Dilthey Petrarcas Stellung zu den von diesem favorisierten Autoren des Altertums – etwa Cicero oder die Stoiker – zukommen läßt. Dilthey zählt Petrarca nämlich nicht nur wie allenthalben üblich und wie auch für Cassirer geläufig, zu den Repräsentanten einer akademisch qualifizierten Neugier auf die antiken Quellen. Sondern entscheidend ist, daß Dilthey in Petrarcas Aneignung der Antike ein Mittel zur gesteigerten Konzentration auf die individuelle Selbsterfahrung sieht. Was Petrarca übe, sei ein durch den Rekurs auf die Antike legitimiertes kunstvolles Aussprechen des lebendigen Inneren. Dilthey belegt den Sinn dieser autokontemplativen Individualisierung mit Petrarcas Liebe zu Augustins Confessiones: »Noli foras ire, in te ipsum redi, in interiore homine habitat veritas«.8 Das Petrarca-Motiv der Konzentration des Individuums auf sich selbst liefert für Dilthey, die Legitimation von Wilhelm Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, Gesammelte Schriften (GS), Bd. II., Leipzig / Berlin 1940, S. 16 ff. 7 Ebd., S. 19 ff.; vgl. dagegen etwa Eugenio Garin, Der italienische Humanismus, Bern 1947, S. 13. 8 Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, S. 20. 6

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der Augustinischen Mystik bis zur Reformation eine geistesgeschichtliche Linie zu ziehen, die Kontinuität stiftet, wo andere Epochenbrüche feststellen: »In dem Ringen von Renaissance und Reformation um die Befreiung des Geistes ging die Reformation auf die religiöse Stellung des Bewußtseins in ihrer natürlichen freien Lebendigkeit zurück«.9 Es ist leicht zu erkennen, daß damit weniger eine differentia specifica zwischen Renaissance und Reformation sondern vielmehr deren als verbindendes Anliegen beurteiltes Gemeinschaftsprojekt bezeichnet wird, analog demjenigen zwischen Mittelalter (Augustinischer Provenienz) und Renaissance (Petrarcarscher Provenienz). Augustin – in Sachen religiöser Orientierung meditativer Selbsterfahrung unangefochtene Autorität – wird so zur kontinuitätsstiftenden Initiationsfigur einer eher »abendländisch« als »europäisch« zu nennenden Geistesgeschichte. Denn es ist derselbe Augustin, dessen Fortwirkung Dilthey in Petrarcas Renaissanceouvertüre wiedererkennt, und auf den Luther sich seinerseits später ebenso restaurativ wie gegenwartskritisch beruft, um mit dieser Legitimation die Verpflichtung des von Institutions- und Traditionshörigkeit emanzipierten Einzelnen auf das nach Erlösung rufende Gewissen zu verteidigen und gegen die Hybris des freien Willens auszuspielen. Petrarcas Motto »ego sum unus utinamque integer«10, wäre im Sinne von Dilthey als Bekenntnis zu einer exklusiven Identität zu deuten, und eben damit läßt sich der Unterschied zur Bewertung des humanistischen Individualismus im Vergleich zu Ernst Cassirer markieren: Für Cassirer liegt die Besonderheit der humanistischen Anthropologie in einer inklusiven Auffassung von personaler Individualität. Während Dilthey im Soliloquium der menschlichen Seele das Paradigma des Vorgangs individualisierender Selbsterfahrung des Menschen sieht, ist dies bei Cassirer die kreativ und interpersonal agierende Person im Sinne von Picos Adam. In der Tat wirkt sich diese Differenz in der Bewertung der Bedeutung des humanistischen Individualismus auch entscheidend auf die Auswahl der exemplarischen Repräsentanten aus – und umgekehrt. Für Cassirer bilden Cusanus, Ficino, Pico und sodann der radikale Aristotelismus Pietro Pomponazzis die repräsentative Riege, die ihm den Stoff für seine epochenkonstitutive Renaissancesynthese liefert und in die er andere eminente Autoren – zu ihnen zählt auch Petrarca – mehr oder weniger ausdrücklich miteinbezieht.11 Er rekonstruiert eine philosophische Anthropologie der Renaissance, für die sich ein doppeltes Profil ermitteln läßt: Ebd., S. 16. Francesco Petrarca, Opera, Basel 1554, S. 1046 (Sen. XVI, 1). 11 Vgl. Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Berlin 1927, S. 136 u. passim. 9

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1. Das Individuum ist zwar als »Subjekt« von Welterkenntnis und Weltgestaltung zu begreifen, aber als Subjekt gilt es nicht im Sinne eines Exemplars der (transzendentalen) Gattung Subjektivität, in der es als Einzelnes seine Bestimmung im Dienste der Kohärenz einer Welt vernünftiger Wesen zu finden hätte. »Subjektivität« im Sinne der humanistischen Anthropologie kommt nicht der transzendentalen Figur eines Subjektbegriffs, wie Kant ihn geprägt hat, sondern vielmehr einem Wesenszug der Leibnizschen Monade nahe, nämlich dem der unersetzbaren Singularität und mikrokosmischen Souveränität. 2. Cassirers Renaissancemonade hat Fenster. Sie konstituiert ihre Welt durch Handlungen, d. h. sie wirkt nach außen, sie interagiert. Die Freiheit des Individuums besteht zudem in dem Vermögen, sich durch authentische Handlungen auszudrücken. Cassirer unterläßt es allerdings, die fällige Frage nach den sozialen Organisationsbedingungen und den moralischen Orientierungskriterien der individuellen Akteure zu stellen. Es stellt ein gesondertes Problem dar, darüber zu entscheiden, ob er die Frage nicht stellt, weil er bei den Repräsentanten des philosophischen Humanismus keine deduzierbare Ethik vermutet, oder weil er in der Logik seiner normativen Bewertung der humanistischen Bewegung als frühes Aufklärungsparadigma eine Legitimation dieser normativen Geltung nur durch eine nachgereichte Ethik für möglich hält. Zu vermuten ist, daß ein Streit über diese Alternative darüber zu entscheiden hätte, ob Cassirer dieses Desiderat durch die Aufklärungsethik vom Typ Kants für erfüllt erachtet, oder aber ob er in der ästhetischen Normierung der Integrität des menschlichen Individuums im Sinne seiner Auslegung der Anthropologie Pico della Mirandolas12 zugleich ein Korrektiv für den moralischen Universalismus der klassischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts sehen wollte. De facto wurde die fällige Arbeit – so könnte Cassirer argumentieren – tatsächlich geleistet. Die Neuzeit und die durch sie initiierte Moderne setzt an die Stelle des souveränen Individuums das Subjekt als Exemplar einer die menschliche Gattung spezifisch auszeichnenden Rationalität, die zugleich als definitive Wesensbestimmung der einzelnen Person gilt, und sie setzt damit eher auf Universalität denn auf Individualität als leitende Norm theoretischer und praktischer Weltorientierung. Die Universalisierbarkeit theoretischer und praktischer Optionen des Menschen wird damit zum Handlungskriterium und zugleich zum axiomatischen Postulat einer diese Handlungskriterien deduzierenden Ethik, wie sie maßgeblich durch Kant vollendet wurde. Vgl. dazu Ernst Cassirer, Giovanni Pico della Mirandola. A Study in the History of Renaissance Ideas, in: Journal of the History of Ideas, Bd. III, 1942, no. 2. 12

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Im Sinne von Cassirer hätte man daher beim Übergang von der humanistischen Anthropologie des Individuums zur neuzeitlichen Subjektivitätskonstruktion einen philosophisch zu identifizierenden kulturhistorischen Paradigmenwechsel zu konstatieren: es ist der Paradigmenwechsel vom Primat des Individuums gegenüber der »Menschheit« zum Primat der »Menschheit« – im qualitativen Sinne des Wortes genommen13 – gegenüber dem Individuum. Das Subjekt des neuzeitlichen Rationalismus und der Aufklärungsphilosophie wird entindividualisiert, wohingegen die Tendenz der humanistischen Anthropologie darauf zielte, das Subjekt au fonds zu individualisieren. Parallel dazu ist ein »Paradigmenwechsel« vom Primat der Handlung (Poiesis) gegenüber der Kontemplation zum Primat der Theorie vor der Praxis festzustellen. Mit diesem Paradigmenwechsel geriet die Neuzeit in ein strukturbildendes Dilemma, ein Dilemma, das sich als das Syndrom der Moderne bezeichnen ließe und das durch die rhetorische Frage David Humes »How to come from is to ought?« ungebrochen treffend kommentiert wird. Die Neuzeit ist die Epoche, in der der Primat des zu transzendentaler Würde gelangten Vernunftwesens vor dem kontingenten Individuum bezahlt wird mit dem Preis, den Menschen zu spalten: in ein sich reflexiv seiner selbst vergewisserndes Wesen – das theoretische Subjekt – einerseits, und ein sich praktisch organisierendes Wesen, das die Selbsterhaltung der Vernunft zur sittlichen Norm des Handelns erhebt, andererseits. Die Welt wird durch zwei einander unzureichend vermittelte Projekte organisiert: Wissenschaft und Ethik. Eine solche Spaltung kannte die Renaissance Cassirers nicht. Das humanistische Individuum ist nicht ein sich durch vorgängige Reflexion legitimierender Akteur, der nicht wissen kann, ob sich das reflexive Subjekt im agierenden Subjekt wiedererkennt. Als literarischer Focus für Cassirers Bild von der humanistischen Anthropologie der Renaissance eignet sich vorzüglich das »humanistische Credo« des von ihm mit besonderer Sorgfalt interpretierten Pico della Mirandola. Der Mensch als »plastes et fictor« – die mit dieser Definition formulierte vom Schöpfergott übermittelte Freiheitsgarantie für Adam bei Pico gilt Cassirer als Skizze einer Philosophie vom Menschen, der sich durch poietische Praxis überhaupt erst erzeugt, dessen Autonomie darin besteht, dies mit Berufung auf seine gottebenbildliche, d. h. schöpferisch praktizierte Freiheit zu legitimieren, und der den kreativen Akt der Selbstgestaltung auch zum Muster reflexiver Selbsterfahrung macht. Von »Menschheit« ist hier im Sinne eines normativen Wesensprädikates die Rede, wie Kant die Vokabel zur Bezeichnung der universalisierbaren Qualität der Vernunft in der Person eines jeden verwendet. 13

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Dieses Subjekt muß nicht erst einen Brückenschlag zwischen der Welt der Theorie und der Welt der Praxis zu konstruieren. Damit ergibt sich als Diskrimen zwischen den zur Debatte stehenden historischen Paradigmen des Renaissance-Humanismus einerseits und der Neuzeit – wie früh man sie auch immer ansetzt – andererseits eine spezifische Divergenz im Freiheitsverständnis: Die Freiheit des Renaissance-Individuums orientiert sich an der poietischen Kreativität des Künstlers und dieser im Sinne eines ästhetischen Urbildes, aber ebenso im Sinne einer normativen Legitimation an Gottes Schöpfertätigkeit.14 Die Verfehlung der damit geforderten Balance zwischen Demut und Hybris führte nicht nur zu erheblichen Disziplinierungsversuchen von seiten der Kirche, sie führte auch zu kulturellen Denunziationen der Humanisten, die – seit der Reformation – auf beide christliche Konfessionen verteilt, ihre Wirkung über Jahrhunderte nicht verfehlten. Die Freiheit von Descartes bis nach Kant hingegen orientiert sich an der Spontaneität menschlicher Rationalität. Diese ist ihr Paradigma. Die Freiheit des humanistischen Credo ist praktisch, diejenige des neuzeitlichen Subjekts dem Ursprung nach theoretisch – bei Kant ist diese Disposition (die Freiheit als »ratio essendi« des kategorischen Imperativs) auf den Begriff gebracht. Der Mensch Picos – aber doch auch schon derjenige des Cusanus und Petrarcas, wie auch derjenige Ficinos und Pomponazzis – schafft sich kraft seiner autonomen Freiheit seine Welt in selbstbewußter Analogie zum creator ex nihilo. Der Mensch der »neu« genannten Zeit dagegen realisiert seine Freiheit, indem er sich als Theoretiker ein Bild von der Welt macht. Die Neuzeit ist nach Heidegger die »Zeit des Weltbildes«15; die Renaissance nach Cassirer.

II. Kontinuität oder Diskontinuität Vor diesem Hintergrund läßt sich die Kollision der Geschichtsbilder von Cassirer und Dilthey verdeutlichen: die praktische, durch Gottes Schöpfertätigkeit legitimierte Freiheit der Renaissance-Humanisten, wie sie Cassirer nachzeichnet, ist nicht rechtfertigungsbedürftig. Es gehört zur Semantik dieser in einem nicht transzendental sondern moralischen Sinne als unbedingt zu verstehenden Freiheit, daß sie die uneingeschränkte Verantwortung für ihre Taten übernimmt. Die dramatische Ablösung Vgl. dazu die von Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, a. a. O., S. 79 (u. passim) vorgelegte Auslegung von Nicolaus Cusanus, Liber de Mente (hg. von Joachim Ritter; übersetzt von H. Cassirer), in: ebd., S. 287. 15 Vgl. v. Vf., Auf der Höhe der Zeit. Wieviel Tradition braucht die Moderne?, in: Neue Zürcher Zeitung, 8. 9. 2000. 14

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der Theodizee durch Anthropodizee kann kaum risikobewußter konzipiert werden. Im Vergleich dazu läßt sich der Verantwortungsspielraum des neuzeitlichen Subjekts als a priori eingeschränkt, als zielstrebig reglementiert und determiniert bezeichnen. Verfehlt die Vernunft ihr Ziel, nämlich dasjenige der rationalen Organisation der Welt nach ihrem Bilde, dann kann der Einzelne der Vernunft selbst die Verantwortung dafür anlasten. Ihre Endlichkeit und ihre Schwäche gegenüber Hang und Trieb des Einzelnen ist Kollektivsyndrom und empfiehlt sich von daher als Entlastungsargument. In der Freiheitskonzeption des Renaissance-Humanismus ist dieser Auslegung zufolge für theologische Vorbehalte wie diejenigen der Determination menschliche Willensfreiheit durch Sünde und Gnade kein Platz mehr. Das Subjekt Picos ist weder erlösungsfähig noch erlösungsbedürftig – Erlösung verstanden als heteronome Wirkung. Seine Freiheit besteht in dem Vermögen, sein Leben konsequent autonom zu gestalten, so daß es als Selbsterlösungsprozeß erfahrbar ist. Daß hier eine frühe und tendenziell extreme Figur autonomistischer Humanität jenseits von gut und böse gezeichnet wird, ist auch deshalb bemerkenswert, weil mit der autonomistischen Emanzipation vom »Terror«16 der Fixierung des Menschen auf seine ihn stigmatisierende Sündhaftigkeit ein weiterer markanter Unterschied nicht zum mittelalterlichen Augustinismus, sondern ebensosehr zur Moderne sichtbar wird: die Moderne kennt Übel und Böses als Kräfte, deren Eigendynamik der Mensch nicht bewältigen kann, die zu gewärtigen und zu überwinden er sich gleichwohl angestrengt verpflichtet, weshalb er neue, heteronome Erlösungsmuster konstruiert. Repräsentativ ist Kants moralische Bewältigung des »natürlichen Hanges« zum Bösen in seiner Religionstheorie. Überspitzt formuliert ließe sich sagen, der Renaissance-Humanismus hat gerade in seinen positionellen Höhepunkten radikaler mit der theologischen Anthropologie des späten Augustin und seiner Wirkungsgeschichte gebrochen, als die sogenannte Aufklärung. Nicht Sündhaftigkeit bzw. Gnadenabhängigkeit statt Freiheit, sondern Freiheit statt Sünde und Erlösungsbedürftigkeit lautet die Logik der Umkehrung, die durch die humanistische Wende vollzogen wird. In dieser Umkehrung sieht Cassirer einen kulturellen Sprung vollzogen, der sich ideenhistoriographisch als Epochenwechsel und disziplinengeschichtlich – dies im Blick auf die zunehmende Bedeutung der akademischen Fächer der »studia humanitatis« für das europäische Bildungswesen seit Coluccio Salutati und Leonardo Bruni17 – als ParaIm Sinne von Kurt Flasch, Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo. Die Gnadenlehre von 397, hg. u. erkl. v. Kurt Flasch, Mainz 1990. 17 Eindrucksvoll beschrieben z. B. bei Wilhelm Kölmel, Aspekte des Humanismus, 16

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digmenwechsel beschreiben ließe. Es handelt sich um einen Vorgang, der sich mit Hilfe der Typologie der von Cassirer unterschiedenen Kulturformen zum Ausdruck bringen ließe: das symbolische Universum wird nicht mehr aus der Perspektive der symbolischen Form der Religion bewertet und organisiert, sondern aus der Perspektive der symbolischen Form der Kunst. Es ließe sich schlüssig zeigen, wie konsequent es Cassirer darum geht, seine Rekonstruktionen etwa der spekulativen Idee der Darstellbarkeit des Unendlichen im Endlichen, sodann der interreligiösen Toleranz und der Apologie eines kulturellen Pluralismus bei Cusanus, aber auch der Ficinischen Platonisierung des Christentums in diese Logik einzuzeichnen. Diltheys Petrarca hingegen – gleichsam die Vergleichsfigur für Cassirers Pico in der Funktion als Symbol der nachmittelalterlichen Ära – ist ein Autor, dessen geschichtsprägende Besonderheit sich, wie angedeutet, gerade aus dem kontinuitätstiftenden Rückbezug auf Augustin herleiten soll. Dilthey verweist darauf, daß Petrarcas Schrift »De contemptu mundi« mit der »Unterwerfung unter den Augustinismus« ende.18 Diltheys Petrarca leide daran, die stoische Unerschütterlichkeit des Herzens, die »tranquillitas animi«, am Ende doch nicht finden zu können. Diltheys Petrarca ist eine in ihrem Weltschmerz versinkende, tragische Figur. Augustin, dessen introvertierte confessio immerhin eine Erfüllung anzuvisieren vermag, ist für ihn Remedium und leidvoll unerreichbares Vorbild zugleich. Freilich, hierin sind sich Dilthey und Cassirer einig: die psychologische Mystik, der Pessimismus, die »acedia« belegen unübersehbar Petrarcas durchaus noch vorhandene Bindung an die durch den Augustinismus verbürgte Kultur des Mittelalters. Aber dadurch wird Petrarca für Cassirer nicht zum Augustiner sondern zu einer Übergangsfigur zwischen den Epochen, die sich in ihm begegnen und ihn zugleich zerreißen. »Petrarcas Leben und Philosophie bewegt sich ständig um diese beiden Brennpunkte, ringt immer von neuem nach einem Ausgleich zwischen den antik-humanen und den mittelalterlich-religiösen Forderungen . . . . Petrarcas innere Welt bleibt zwischen Cicero und Augustin geteilt.«19. Aus Diltheys Sicht hingegen ist dieser Zwiespalt ebenso repräsentativ für die Folgezeit wie die erwähnte Figur der Innerlichkeit als interne Selbsterfahrung der Seele, durchaus im Sinne der Weltflucht der Seele in Augustins Confessiones, und nicht als Quelle weltzugewandter Kreativität der Person. Münster 1981, S. 32 ff.; vgl. auch Paul Oskar Kristeller, Die humanistische Bewegung, in: ders., Humanismus und Renaissance I, München 1973, S. 17 ff. 18 Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, S. 23. 19 Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, S. 39.

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Und die »frühe« Neuzeit? Diltheys frühe Neuzeit findet ihren Kulminationspunkt in der Reformation; er sieht sie als Humanismus in protestantischem Gewande. Nehmen wir Augustin als Leitfaden, dann ergibt sich damit ein bemerkenswerter Schwund potentieller Epochenschwellen: von Augustinus ipse über Petrarcas unglücklichen Augustinismus bis zu Luthers Augustin-Renaissance führt Dilthey zufolge ein roter Faden, der die Zeiten über die »Seelenzustände« und ihre Lebensäußerungen eher miteinander verbindet als trennt. Cassirer hingegen arbeitet mit der Hypothese einer unauflösbaren Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität. Wie Petrarca zu Beginn des 14. Jahrhunderts den Schnittpunkt zweier inkompatibler Epochen symbolisiert, so sind es am Ende für ihn sicherlich nicht die Reformatoren, die eine analoge Schnittstelle im 16. Jahrhundert markieren – von ihnen ließe sich im Sinne von Cassirer am Ende zeigen, daß man sie als Restaurateure im Lager augustintreuer religiöser Fundamentalisten zu beurteilen hätte. Als Symbolfigur eines Zusammenpralls von Paradigmen und Epochen dürfte ihm vielmehr eine Position gelten, die gleichwohl alles andere als tragisch zu nennen ist: eine, in der renaissancespezifischer Individualismus und neuzeitlicher Universalismus zu einem nach Harmonie-Prinzipien organisierten System führen, eine überdies, die für Cassirers eigene philosophische Position von früh auf wissenschaftstheoretisch paradigmatisch werden sollte. Gemeint ist Leibniz’ Konzept der Welt, verstanden als Komposition aus monadischen Individuen, deren Kohärenz gleichwohl gewährleistet ist durch die ihr ursprünglich eingestiftete Logik der Relation zwischen den fensterlos in harmonischer Korrespondenz zueinander gesetzten individuellen Substanzen.20

III. Die Bedeutung Machiavellis Aus unterschiedlichen Gründen ist das Werk Niccolo Machiavellis für eine Fallstudie zwecks Markierung der Differenz der Renaissancethesen Diltheys und Cassirers geeignet: – Zum einen gilt er als Störenfried in der Rekonstruktion eines möglichst kohärenten Bildes des renaissance-humanistischen Paradigmas, gleichsam als Misanthrop im philanthropischen Milieu des florentinischen Humanismus seiner Zeit. Zur konstitutiven Bedeutung von Leibniz für Cassirers Methode der Rekonstruktion europäischer Ideen- und Wissenschaftsgeschichte, vgl. v. Vf. Substance as Function: Ernst Cassirer’s Interpretation of Leibniz as Criticism of Kant, in: Enno Rudolph / I.-O. Stamatescu (Hrsg), Philosophy, Mathematics and Modern Physics. A Dialogue, Heidelberg / New York, 1994, S. 235 ff. 20

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– Zum anderen widmen ihm beide, Cassirer und Dilthey, ihre Aufmerksamkeit im Interesse einer differenzierten Darstellung des historischen Profils der Renaissance. An Machiavelli entscheidet sich die Frage von Kontinuität oder Diskontinuität in der Epochenfolge. Für Dilthey ist Machiavelli ein repräsentativer Humanist, auch gerade insofern er als »vollkommener Heide« zu bewerten ist. Die Humanisten vergleicht er ausdrücklich mit den Sophisten der Antike21; in der Religion habe Machiavelli nur ein mögliches Instrument des Staates zur Herstellung sittlicher Räson gesehen. Er gehe, gleichsam biologistisch, von der Gleichförmigkeit der Menschennatur aus22, die in der Dominanz der Animalitas über die Rationalität bestehe. Er erkenne keine moralische Autonomie der Menschen an und betrachte die menschliche Gesellschaft als organisiertes Feld und Spielraum einer durchaus berechenbaren Triebmechanik, die zu durchschauen und zu organisieren bedeute, sich auf die elementaren Regeln der Kunst der Machtausübung zu verstehen. Dilthey hält Machiavelli für den originäreren und im übrigen ausdrücklich auch für den überlegeneren Denker des Politischen im Vergleich zu Thomas Hobbes.23 An der Inkompatibilität der Machiavelli-Deutungen zwischen Dilthey und Cassirer, die mit wünschenswerter Deutlichkeit zutage tritt, läßt sich exemplarisch die Inkompatibilität ihrer Rekonstruktionsmethoden auf dem Feld der Ideengeschichtsschreibung demonstrieren: Cassirer behandelt Machiavelli nicht im Kontext der Präsentation exemplarischer Autoren für die Renaissance als Epoche bzw. für den Humanismus als Bewegung, so wie Dilthey ihn zwischen Petrarca und Montaigne positioniert.24 Er läßt ihn im Rahmen einer später erstellten Genealogie der Konzeptionen politischer Philosophie und der politischen Theoriebildungen in der europäischen Kulturgeschichte auftreten, die unter der Fragestellung nach ideologischen Wurzeln für effektiv totalitäres Denken in der Politik steht. Cassirer spricht Machiavelli hier von dem Verdacht frei, ein Theoretiker des politischen Totalitarismus bzw. eines Typs von politischer Tyrannei gewesen zu sein, mit dem sich spätmoderne politische Totalitarismen annähernd erklären oder sogar legitimieren ließen. Er rehabilitiert ihn gegenüber diesem Verdacht – hier in teilweisem Anschluß an Spinoza und Fichte und gegen Friedrich den Großen wie auch gegen einen lang anhaltenden geschichtsmächtigen Leumund – und faßt die Summe seiner Analyse in der These zusammen: Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, S. 24, 27. 22 Ebd., S. 29. 23 Ebd., S. 32. 24 Ebd., S. 35. 21

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»Machiavelli war kein Machiavellist«.25 Cesare Borgia, Ferdinand von Spanien oder Agathokles – sie waren die Machiavellisten. Machiavelli ist der Logiker ihrer Macht und in dieser Rolle der Kritiker ihrer Regime. Wichtiger aber als diese Differenzierung ist für den vorliegenden Zusammenhang, daß Cassirer Machiavelli de facto auch durch die Ermöglichung seiner Integration in den Kontext des humanistischen Paradigmas rehabilitiert, ohne dessen Konturen verändern zu müssen: Machiavelli war im historischen und geographischen Kontext der Florentiner Humanisten gleichsam ein Römer unter den Griechen, der Ciceroianer unter den Platonikern, der Historiker unter den Geschichtsphilosophen und v.a. der politische Realist unter den literarischen Idealisten. Er war aber – und hierin nichtsdestoweniger repräsentativer Humanist – einer, der seine Gegenwart, in seinem Falle die politische, von einer Tyrannis unmittelbar aktueller und virulenter Art zu befreien suchte: von den stadtstaatlichen Tyranneien Italiens, indem er die Machthaber seiner Zeit in einer Analyse des zynischen Machtgebrauchs spiegelte und seinen Lesern die Unentrinnbarkeit der Logik politischer Souveränität plausibel machte. Machiavelli war vor allem auch darin ein repräsentativer Humanist, daß er seiner Zeitgenossenschaft die Antike – in seinem Fall diejenige des politischen Rom – zugleich als Legitimation wie auch als utopischen Vorhalt kritisch entgegenhielt, und er muß schließlich deshalb als repräsentativer Humanist verstanden werden, weil er die »Unhintergehbarkeit« individualistischer Interressenverfolgung auf dem Gebiet politischer Interaktion zu seinen anthropologischen Prämissen machte. Freilich, diese Prämissen begegnen bei ihm nicht als Kriterien von Humanitas, wie bei den klassischen Humanisten, sondern komplementär zum idealistischen Humanismus der Künstlernorm machte er auf die Abgründigkeit des tendenziellen Immoralismus seines humanistischen Zeitalters aufmerksam, sobald es um den Alltag des Kampfes um politische Macht geht. Was in Picos Credo gefeiert wird, reflektiert sich in der Anthropologie Machiavellis: normative Independenz individueller Autonomie. So betrachtet warnt er den Humanismus vor sich selbst. Machiavelli verkörpert das realistische Gewissen der humanistischen Träumer. Der Vergleich zwischen Pico und Machiavelli ist in der MachiavelliForschung unterdessen üblich.26 Er belegt, daß Cassirers Humanismus25 Cassirer, Der Mythus des Staates, Frankfurt 1988, S. 184; vgl. dazu v. Vf., Aut Caesar, aut Nihil? Das politische Individuum in Machiavelli’s Logik der Macht, in: Gottfried Boehm / Enno Rudolph (Hg.), Individuum. Probleme der Individualität in Kunst, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1994, S. 68 ff.; cf. ders., Cassirer’s Machiavelli, in: ders. (Hrsg.), Cassirer’s Weg zur Philosophie der Politik, Hamburg 1999, S. 79 ff. 26 Vgl. Wolfgang Kersting, Niccolò Machiavelli, München 1988, S. 47.

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bild durch die Position Machiavellis weniger dementiert als differenziert wird. Eine solche Interpretation wäre allerdings unmöglich, wenn man – im Gefolge Diltheys – die Renaissance einerseits als Variante einer mystischen Strömung Augustinischer Herkunft und Petrarcarscher Prägung, andererseits den Humanismus als heidnische Neosophistik im poetischen Gewande deutet. Im Gegenteil, der Humanismus bleibt nach Cassirers Auffassung was er ist: ein interkultureller legitimierter Immanentismus, dessen Position sich zugleich theologie- und kirchenkritisch äußert, ohne in irgendeiner Weise religionsfeindlich motiviert oder ausbeutbar zu sein. Die Anthropologie der kreativen Gottebenbildlichkeit gibt dem Humanismus ein Gepräge, das Cassirer mit Machiavelli markant gegen Augustin und die Augustinrenaissance der Reformation zu schärfen wüßte, und dies, indem er belegt, daß politischer Realismus und utopischer Idealismus das Gesamtbild des humanistischen Autonomismus ausmachen.

Helmut Holzhey Diltheys Sicht auf die Aufklärung des 18. Jahrhunderts in seinen Studien zur Geschichte des deutschen Geistes Historische Situierung der neuzeitlichen europäischen Aufklärung Dilthey scheint keine eigentlichen Einschnitte in der europäischen Geistesgeschichte zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert, zwischen den Zeitaltern der Reformation und der Aufklärung zu kennen bzw. zu machen. Da wir in Band III der Gesammelten Schriften seine Studien zur Geschichte des deutschen Geistes vor uns haben, betrifft die Unterstellung von Kontinuität wohl primär die geschichtliche Entwicklung in Deutschland, bezieht sich aber zugleich, wie bereits das Kapitel »Leibniz und sein Zeitalter« erkennen läßt, auf das ganze geistige Europa, soweit es in der von Dilthey gewählten deutschen Perspektive in den Blick kommt. Das zeigt sich sehr deutlich in seiner Stellungnahme zu den Glaubenskriegen, von denen er schreibt, daß sie den »ganze[ n ] Erwerb an neuen geistigen Werten seit der Renaissance« bedrohten, zugleich aber einen »der größten Wendepunkte in der Geschichte der neueren Völker« bildeten, eine »Krisis«, in deren Überwindung durch Wissenschaften und Philosophie »der Fortschritt des europäischen Geistes ermöglicht wurde« (9)1. Die knappe Skizze des Weges der neuen Naturerkenntnis, mit dem Hinweis auf die Relevanz der Verknüpfung zwischen körperlicher Arbeit und wissenschaftlicher Entdeckung, kulminiert in zwei Thesen. Dilthey stellt erstens fest, daß in der Naturforschung »die menschliche Vernunft innerhalb der verschiedenen Kulturnationen als eine einheitliche Kraft« wirkte; er macht zweitens geltend, daß in und mit den Erfolgen der Naturwissenschaften der menschliche Geist seiner Autonomie ansichtig wurde und damit den Gedanken eines selbstmächtigen Fortschritts der Menschheit, dem Weltbesten entgegen, entwickeln konnte, einen Gedanken, der, »wie eine neue Religion«, die Menschen am Beginn des 18. Jahrhunderts erfüllte (11 f.). Dilthey konstatiert also für Europa »eine Kontinuität in der geistigen Kultur« (10) zwischen 17. und 18. Jahrhundert, basierend primär auf der erfolgreichen Entwicklung »einer wirklichen Kausalerkenntnis der Natur« (10 f.), sekundär auf den naturrechtlichen Entwürfen einer rationalen Rechts- und Staatsordnung Wilhelm Dilthey, Studien zur Geschichte des deutschen Geistes, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Leipzig / Berlin 1927. Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf diesen Band. 1

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(12 f.). Daß in diesem – zwischen Renaissance und Reformation auf der einen, Aufklärung auf der anderen Seite – Kontinuität stiftenden geschichtlichen Bild wesentliche Erscheinungen des 17. Jahrhunderts (wie spiritualistische Naturphilosophie, Lullismus, Mystik, von der Gegenreformation, dem Wirken der Gesellschaft Jesu usw. ganz abgesehen2) keinen Platz haben, liegt auf der Hand. Und dieser Mangel ist ausdrücklich zu machen, denn er betrifft das Verständnis von Aufklärung. Kann denn Dilthey mit seinem Geschichtsbild noch dem Aufbruch gerecht werden, den wir mit dem Wort »Aufklärung« in Verbindung bringen, der Kritik, als deren Jahrhundert das 18. auch bezeichnet worden ist, der Revolution der Denkungsart und schließlich der politischen Revolution in Frankreich? Sehen wir bei der Geschichte deutschen Geistes näher zu. Was dieses eigentliche Vorhaben Diltheys betrifft, so erinnert der Herausgeber des Bandes III, Paul Ritter, daran, daß Dilthey das schon im Druck befindliche Buch auch auf Grund der Erwägung zurückzog, Leibniz und Friedrich d. Gr. »nur auf dem Boden Luthers« bzw. im Rückgriff auf die »Religiosität der Reformation« verständlich machen zu können (VI). Diese Auffassung wird in der nun vorliegenden Ausgabe der Studien zur Geschichte des deutschen Geistes bestätigt. Wo sich Dilthey unter der Überschrift »Die neue weltliche Kultur« dem »Jahrhundert vom dreißigjährigen Krieg bis zu Friedrich dem Großen« widmet, erklärt er es für den »großen geschichtlichen Zug« der Entwicklung Deutschlands, »daß auf der Grundlage der reformatorischen Innerlichkeit eine organische Fortbildung unseres Geisteslebens stattfand« (41), in der »neue Persönlichkeiten« hervortraten, die sich nicht mehr durch die Autorität von Kirche und Schrift, sondern »durch ein inneres Gesetz« gebunden wußten. Das Gleichgewicht von Religiosität und Rationalität, das sie verkörperten, basierte auf dem »Idealismus der Person, wie er sich gleichmäßig im Christentum und in Plato oder Cicero ausspricht« (46). Konkret nimmt Dilthey auf Dichter (wie Fleming, Gryphius und Grimmelshausen), auf Martin Opitz, schließlich aber auf Leibniz Bezug, dessen Zeitalter ja erkundet werden soll. In Leibniz vollendet sich die Philosophie der Renaissance (69), indem er der Welt in ihrer göttlich garantierten Harmonie »die denkbar größte Fülle und Mannigfaltigkeit von Leben« (63) läßt; »sein germanischer Tiefsinn« wahrt zugleich das Recht des Einzelnen und würdigt »alles, was in den religiösen Gefühlen Vgl. die nun vollständig vorliegende Darstellung der Philosophie des 17. Jahrhunderts im Grundriss der Geschichte der Philosophie, begr. von Friedrich Ueberweg, hg. von Helmut Holzhey, 4 Bände, Basel 1988–2001, insbesondere Band 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa, hg. von Helmut Holzhey und Wilhelm Schmidt-Biggemann, Basel 2001. 2

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der Vergangenheit wertvoll und haltbar war« (64). Wo beginnt dann die deutsche Aufklärung? Dilthey benennt auch in Deutschland kein Datum oder Werk, das, und sei es symbolisch, einen Neuansatz markieren würde (wie etwa Werner Schneiders den 31. Oktober 1687 als Tag der deutschsprachigen Ankündigung einer deutschsprachigen Vorlesung durch Christian Thomasius in Leipzig namhaft macht3). Aufklärung ist vielmehr diejenige Kulturbewegung, in der sich das Gewicht der Vernunft bei der Begründung der selbständig-autonomen Stellung des Menschen zur Welt verstärkt und die Überzeugung allgemein wird, daß alle Zeiten, Völker und Religionen in »der neuen Einstellung des Bewußtseins« übereinstimmen (46), ohne daß sich damit am »Grundwesen des deutschen Menschen«, eben jene »durch ein inneres Gesetz gebundene Person« zu sein, etwas ändert. Dilthey ist offensichtlich darauf bedacht, die deutsche Aufklärung als Erscheinung des »deutschen Geistes« und des »deutschen Menschen« glaubwürdig zu machen, eine Erscheinung, die ihre historischen Voraussetzungen in der »Verbindung gemilderter Religiosität mit wissenschaftlichem Denken« im protestantischen Deutschland habe (41). Um dieser Kontinuität willen wird das Zeitalter der Reformation mit dem Leibnizschen kurzgeschlossen, werden die horrenden Differenzen zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert nivelliert und nicht zu diesem Konstrukt passende Erscheinungen ausgegrenzt. Dilthey steht nicht an, von der »Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts« zu sprechen. Aufmerksam verfolgt er jedoch ihre unterschiedliche Wirksamkeit in den einzelnen Ländern Europas. Wie die »unter der Fremdherrschaft des Papsttums« stehenden »romanischen Völker . . . von der ungeheuren geistigen Bewegung, welche diese beiden großen Jahrhunderte erfüllte«, ausgeschlossen blieben, weil ihre »unteren Klassen durch den Einfluß der Priester in die starren Begriffe des Tridentinums gebannt« waren (132), so hat sich seiner Auffassung nach auch die deutsche katholische Welt, insbesondere Österreich, nach dem Westfälischen Frieden vom »Geistesleben der Nation« getrennt, das sich nun in den protestantischen Ländern entfaltete (41). Nur auf dem Boden der Reformation trifft die Aufklärung europaweit auf eine für sie empfängliche »Gemeinschaft der Fürsten, Beamten, Geistlichen und Lehrer, der Schriftsteller und des Volkes« (132). Dilthey gesteht England die führende Stellung »in dieser germanischprotestantischen Aufklärung« zu (132 f.), behauptet aber gleichwohl, daß die Aufklärung trotz großer zeitlicher Verspätung nirgends gewaltiger gewirkt habe als im protestantischen Deutschland, weil hier »die innere Gemeinschaft aller Stände« die denkbar engste gewesen sei (133). Wie Vgl. Werner Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie, Stuttgart / Bad Cannstatt 1983, S. 85. 3

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Dilthey unter diesen Voraussetzungen mit der französischen Aufklärung zurechtkommen will, muß uns noch beschäftigen. Sie wird sich, soviel sei vorweg gesagt, als der eigentliche Stachel im Fleisch seines Modells preußisch-deutscher Aufklärung erweisen.

Methodischer Zugang Bei allen, auch kritischen Erwägungen zu Diltheys Deutung der Aufklärung muß immer bewußt bleiben, daß der Verfasser seine in der Deutschen Rundschau 1900 / 01 erschienenen sechs Artikel, von denen die ersten vier eine weiterführende Auseinandersetzung mit Harnacks Geschichte der preußischen Akademie der Wissenschaften darstellten, nicht selbst in die vorliegende Buchform gebracht hat, obwohl sie dessen »Grundstock« bilden (VIII). Damit ist ein abschließendes Urteil über die Fruchtbarkeit von Diltheys methodischem Ansatz in den Arbeiten über die Geschichte des 18. Jahrhundert nicht möglich. Ritter hebt in seinem Vorwort die institutionengeschichtliche Ausrichtung dieser Arbeiten hervor: Dilthey sei hier »überwältigend die Bedeutung zum Bewußtsein« gekommen, »die für das Leben des Geistes die wissenschaftlichen Verbände und Anstalten und dann der Staat besitzen als Ideen tragende, bestimmende, erzeugende Mächte« (VII). Wie schon der Herausgeber anmerkte, können bestimmte Züge der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts, die Dilthey herausarbeitet, auch als Leitlinien seiner eigenen historischen Darstellung dieser Epoche interpretiert werden. »Die Historie beginnt den Zusammenhang der Kultur in sich aufzunehmen.« (229) Auf den Zusammenhang« unter den historischen Ereignissen und Vorgängen in einem umfassenden Sinne eingetreten zu sein, das hebt Dilthey als herausragende originale Leistung der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts ganz allgemein heraus. Mit der Stiftung dieses Zusammenhangs werde den Vorgängen »Leben und eine aus dem Gemüt stammende innere Kraft« mitgeteilt (222). Die psychologische Verlebendigung, wie sie auf der Basis anthropologischer und gesellschaftstheoretischer Einsichten insbesondere der Schottischen Aufklärung in der britischen Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts tatsächlich geübt wird, erhält in solcher Formulierung (»Leben« und »innere Kraft«) einen typisch Diltheyschen Akzent. Unbeschadet dessen ist es richtig, daß die Ideen jenes geschichtlichen Zusammenhangs selbst erst im 18. Jh. »hervorgebracht« werden. Und zwar mit der Erweiterung der Suche nach Gesetzen, die vom Himmel auf die Erde zurückkommt und hienieden nicht nur erdgeschichtlich, sondern auch menschheitsgeschichtlich fündig wird: Es entsteht »der Begriff von der Solidarität und dem Fortschritt

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des Menschengeschlechts« (223). Der neu gestiftete Zusammenhang ist, wie schon zitiert, ein Zusammenhang der Kultur. Auch der Kulturbegriff bildet eine Errungenschaft des 18. Jahrhunderts, nämlich der »Begriff der großen Kultur« (225). Zu ihren Grundlagen zählt Dilthey: »die Macht der gesetzlich geordneten Monarchie«, die Entwicklung von Industrie und Handel, die in Universitäten und Akademien fest organisierte »allgemeingültige Wissenschaft«, die »durch das Denken veredelten Künste«, ein »geläuterter regelhafter Geschmack« sowie »eine feine, alle oberen Stände verbindende Gesittung« (225 f.). Um mit diesem Kulturbegriff historiographisch fruchtbar arbeiten zu können, dürfen einzelne Elemente nicht einseitig überpointiert oder herausgelöst werden. Als »einseitig in höchstem Grade« qualifiziert Dilthey die rein politische Geschichtsschreibung eines Machiavelli und Guicciardini: »Sie betrachtet den Menschen nur in seinem Verhältnis zum Staat« (218). Trotzdem kann Dilthey eine gewisse Bewunderung nicht verhehlen, in ihrer Einseitigkeit liege »die Erklärung ihrer Wirkung bis auf Friedrich den Großen und Ranke und seine Schule hinab« (218). Kritischer äußert er sich gegenüber einer »einseitig ästhetischen Betrachtung«, die bezüglich des 18. Jahrhunderts die Funktion der Kunst für den Fortschritt der Gesittung verkennt (226). Und schon gar nichts will er mit einer Kulturgeschichte zu tun haben, welche »die Verbindung zerreißt, in der mit Zuständen große Menschen und mit regelmäßigen Fortschritten der Zivilisation die Machtkämpfe der Nationen verknüpft sind«. Die Werke von Hume, Gibbon und Robertson werden dieser Verbindung gerecht, aber Dilthey bekennt sich in dieser positiven Würdigung einer Leistung des 18. Jahrhunderts auch für die eigene Person zu dieser, das Wirken weltgeschichtlicher Persönlichkeiten und ökonomisch-gesellschaftliche Entwicklungen, zivilisatorische Fortschritte und kriegerische Auseinandersetzungen verknüpfenden Historiographie. Und er lehnt es ausdrücklich ab, »die großen Fortschritte in der Auffassung der geschichtlichen Welt« im 18. Jahrhundert als Verdienst der neuen Philosophie der Geschichte zu betrachten. Man kann hierin wohl auch eine Abgrenzung Diltheys von den Einseitigkeiten einer Ideengeschichte erkennen.

Friedrich als zentrale Figur deutscher Aufklärung Diltheys Bild der deutschen Aufklärung ist im Wesentlichen seiner Darstellung von Leben, Charakter und Werk Friedrichs des Großen eingezeichnet. Das biographisch-historische Interesse an dieser Gestalt, dem »größte[ n ] Deutschen zwischen Luther und Goethe« (87), führt ihm die Feder. Diese thematische Beschränkung (mitsamt der Fokussierung auf

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Berlin und die Akademie) wäre ihm bei der Beurteilung seiner Aufklärungsdeutung zugute zu halten, wenn diese nur nicht mit einem gänzlich entschränkten Allgemeinheitsanspruch aufträte und wenn sie nur nicht immer wieder in Wertungen, insbesondere in Abwertungen, z. B. der französischen Bildung, einmündete, bei denen aus heutiger Sicht der Autor jede Rücksicht auf seine Verantwortung als Historiker vermissen läßt. Allerdings hat sein Vorgehen Methode. Friedrich wird heroisiert (vgl. 131), zum »König der praktischen Vernunft« (Kopfleiste 131) idealisiert und zum Prototyp deutscher Aufklärung stilisiert. Aber so und nur so kann er als Korrektiv jener abschätzigen Einstufung der Aufklärung im 19. Jahrhundert fungieren, mit der sich Dilthey offensichtlich im Interesse einer adäquateren Einschätzung kritisch auseinandersetzt. Die Korrektur geschieht so, daß an diesem König die historisch Wirklichkeit gewordene Verbindung von aufgeklärtem und deutschem Geist demonstriert wird. Diese Neuinszenierung des 18. Jahrhunderts müßte dazu zwingen, den nationalen Vorbehalt gegenüber einer menschheitlich-universal ausgerichteten Bewegung zurückzunehmen. Dilthey zieht über dem Land der Aufklärung aber nicht nur die preußische Fahne auf. Er sucht mit Friedrich als dem Repräsentanten deutscher Aufklärung ebenso den geistigen Vorbehalt zu minimieren, der gegenüber einer Zeit bestand, die nach allgemeinem Urteil durchgängig auf den abstrakten Verstand als das eigentliche Erkenntnisorgan setzte. Ich will das etwas genauer ausführen. Wo Dilthey die »Grundzüge der Aufklärung« aufzählt, hält er zugleich Distanz; das gilt insbesondere in Bezug auf deren Staatsverständnis, das »nicht historisch und unwillkürlich aus den bildenden Kräften des Volkslebens« hergeleitet wird (132). Und so sieht er auch Friedrich mit »zu viel Sinn für die Wirklichkeit« ausgestattet, »um den schaffensfreudigen Optimismus der deutschen Aufklärung . . . zu teilen«, zu französisch geprägt, um ihre Träger und ihre Literatur anerkennen zu können (134). In analoger Weise konfrontiert er den König mit Kant: Beide suchen Antwort auf die Frage, »wie der Mensch zu handeln habe«; der König »mit seinem großen Wirklichkeitssinn« aber hält, anders als Kant, »das Auge auf den Zusammenhang gerichtet . . . , welcher zwischen der Fülle der nach Befriedigung strebenden Triebkräfte in uns und der pflichtmäßigen Sorge für das Gemeinwohl besteht« (130). Diese Positionierung folgt ganz der Kritik am »abstrakten Sittengesetz Kants«, der Dilthey die Aufgabe zuweist, »die sittlichen Beweggründe, welche wirklich imstande sind, inmitten der das Leben erfüllenden mächtigen Motive den Willen zu bestimmen, zu sammeln, zu läutern, aus dem Wesen des Menschen zu begründen, in diesem Zusammenhang sie zu einer herrschenden Macht zu erheben«4. 4

Dilthey, Das Leben Schleiermachers, Berlin 1870, S. 123.

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Wie läßt sich dann aber, bei allen diesen Distanzierungen, ein »Bündnis« Friedrichs mit der deutschen Aufklärung statuieren (128 ff.)? Man fand sich, so Dilthey, »in der praktischen Lebensansicht« zusammen, die besagte, daß der autonome sittliche Wille mit der Pflicht übereinstimmen müsse, »sich im Dienste der sozialen und politischen Aufgaben zu betätigen« (135). Von Seiten der Aufklärung wird, so interpretiere ich, vor allem der Gedanke der menschlichen Autonomie ins Bündnis eingebracht, von Seiten Friedrichs das »Lebensideal« (134) der politischen Pflichterfüllung; die in Kants Ethik entwickelte begriffliche Konvergenz zwischen Handeln aus Pflicht und Selbstgesetzgebung des Willens fällt außer Betracht. Als reale Seite dieses sog. Bündnisses macht Dilthey vor allem die aufklärerische Volkserziehung namhaft, in der nun »in diesem preußischen Staate alles begeistert zusammenarbeitet, König, Beamte, Prediger, Lehrer und Schriftsteller« (135), »ein Staatsunterrichtswesen im Dienste der öffentlichen Aufgaben« (162). Oder im Bereich der Akademie: ein größeres Angebot an öffentlichen Vorlesungen ihrer Mitglieder, »nützliche«, nicht metaphysische, Fragestellungen ihres Preisinstituts (137 f.) u. ä. So dürftig, begrenzt und schnell überholt die Resultate dieser Zusammenarbeit auch schienen mögen, worauf es ihm ankam, dürfte Dilthey trotzdem für geleistet angesehen haben: die deutsche Aufklärung vom Odium zu befreien, eine Kulturbewegung des bloß abstrakten Räsonnements gewesen zu sein. Der Preußenkönig, der mit ihr nach dem Siebenjährigen Krieg gemeinsame Sache machte, verschaffte ihr geschichtlich-gesellschaftliche Realität in doppeltem Sinne, wirkungsvolle Präsenz in seinem Staat und reale Repräsentanz in seiner Person.

Das Verhältnis der deutschen zur französischen Aufklärung Was Dilthey bei seinem Versuch einer neuen Würdigung deutscher Aufklärung im Zeichen Friedrichs besonders zu schaffen machen mußte und erklärtermaßen auch zu schaffen machte, war die Beobachtung, daß man seit dem Dreißigjährigen Krieg in Deutschland nur allzu geneigt war, sich anderen (»fremden«) Kulturen, die überlegen schienen, insbesondere französischer Bildung und Lebensweise gegenüber zu öffnen (40). Geradezu drastisch trat diese Tendenz beim jungen Friedrich in Erscheinung: »Als der neue König an das Werk ging, als er seine Mittel und Gehilfen wählte, schien doch ein fremdes Element in unsere Kultur einzudringen und ihre natürliche Entwicklung zu gefährden«, indem er sich fast ausschließlich »mit Personen von französischer Bildung« umgab und selbst französisch sprach und schrieb (86). Dilthey geht das Problem so an, daß er einerseits erst den »alten Fritz« das »Bündnis« mit der deutschen

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Aufklärung eingehen läßt (nachdem er »die Fehler des französischen Geistes« durchschaut hatte, 96) und andererseits schon den jüngeren Friedrich, trotz der, seiner Präferenz für die französische Kultur geschuldeten, »Schranke seiner geistigen Bildung« (87), einen eigenen »letzten Begriff über die Bestimmung des Menschen« finden sieht, den er »aus seiner heroischen Seele und aus seinem Beruf, für das Ganze zu leben«, schöpft (105).5 Um diese Abgrenzung verständlich zu machen, verlangt sich Dilthey eine ausführlichere Analyse des französischen Geistes (im 18. Jahrhundert) ab. Diese Analyse bekundet eine tiefe Ambivalenz des Autors gegenüber seinem Gegenstand. Zunächst einmal fallen die zahlreichen Invektiven auf, mit denen »französische Bildung« bedacht wird: Sie lieferte »Vorbilder vornehmer Immoralität« (41), war charakterisiert durch »Sittenlosigkeit« (44), zeigte »zersetzende Tendenzen« (130), war getragen durch »das leichte Volk der französischen Schriftsteller« (130) usw. Geradezu üppig wird Dilthey, wenn er, fast viktorianisch gegen die »materialistischen Konsequenzen« neuerer Theorien vom Leder zieht: »An den Höfen erwuchs eine Animalität der Lebenshaltung, die allmählich auch der Literatur ihre furchtbaren Züge aufprägte. Schon in einer früheren Zeit hatte der Begründer des modernen Materialismus, Hobbes, an dem Hoflager des sittenlosen Stuart in Paris gelebt. Larochefoucauld bildete sich seine Lehre von der nackten sinnlichen Selbstsucht in der großen französischen Gesellschaft unter Richelieu und Mazarin.« (90) Die Polemik macht nicht im 17. Jahrhundert und nicht bei den Franzosen Halt; Dilthey spürt »die Macht dieser Lebensauffassung . . . selbst in Humes Zurückführung der Erkenntnis auf die dunklen animalischen Kräfte der Assoziation und der Gewöhnung« wie »in dem seltsamen Gelüste des großen Humoristen Sterne am Nackten und Zynischen« (91). Materialismus wird hier nach bekanntem Muster mit Sittenlosigkeit gepaart, später bei Darstellung seiner französischen Promotoren bis hin zu Holbach als »eine rückständige Metaphysik« verrufen (94).6 Friedrichs eigene Kritik am System der Natur liefert den Maßstab.

Vgl. 131: »Diese Voltaire und d’Argens hatten sich jeden Verständnisses bar gezeigt für die Bekenntnisse seiner heroischen Seele. Sie hatten ihm nur immer wieder den Rat gegeben, sich den Genuss des Daseins zu erhalten und darum den störenden Krieg um jeden Preis zu enden.« Dilthey verschweigt, wie enttäuscht Voltaire schon vom jungen König war, als dieser kurz nach seinem Regierungsantritt den Ersten Schlesischen Krieg vom Zaun brach; sein Referat aus Friedrichs Anti-Machiavell enthält unkommentiert die Feststellung, daß der Staat »den Machtkampf suchen« solle, »um die Voraussetzungen jeder großen Kulturpolitik zu schaffen« (85). 6 Was LaMettrie betrifft, so hält es der Schriftsteller Dilthey offensichtlich mit dem »guten Humor« des königlichen Gastgebers, wenn er von diesem schreibt: »Er 5

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Was kennzeichnet nun aber auf der anderen Seite den »französischen Geist«, dem Friedrich zugetan war? Dilthey schildert fast emphatisch, wie sich »mitten in so viel Streit der ›Philosophen‹ . . . ein neuer Standpunkt dem Leben gegenüber« ausbildet, ein Lebensgefühl der Souveränität, das radikal diesseitig auf die Macht des Verstandes im Erwirken von Fortschritt und Glück setzt und doch von der Erfahrung durchzogen bleibt, auf einen vergänglichen Körper angewiesen zu sein (97). Diesen »Widerspruch in der Situation des Menschen« fängt die Literatur der französischen Aufklärung in einer Stimmung ein, »welche die Mischung in dem Trank des Lebens mit Heiterkeit hinnimmt« (98). Den größten Schriftstellern dieser Epoche, Voltaire und Diderot, gelingt es mit ihrem Stil, »die Heiterkeit des aufgeklärten und unabhängigen Menschen« (99) in vollendeter Weise zum Ausdruck zu bringen. Die »Souveränität des genießenden Subjekts« (98) überlagert die in sich brüchige Souveränität des autonomen Willens, der die Philosophie der Zeit ihre Stimme leiht. »Witz, Esprit, Gefühl, das bis zur Sentimentalität geht, Raisonnement, das fragmentarisch ist wie das Leben selbst, Mischung von Enthusiasmus und skeptischem Wirklichkeitssinn in der Ironie: all das ist zu einem funkelnden, schillernden, sprühenden Ganzen in ihren höchsten Produktionen verbunden« (98 f.).7 Wenn Dilthey hier Voltaire und Diderot in einem Atemzuge nennt, wie er es auch tut, wo er ihre Fähigkeit erinnert, sich dank der »farblose[ n ] Allgemeinheit und Schmiegsamkeit« des Französischen »über alle Gegenstände als Dichter, Philosophen und Geschichtschreiber zu verbreiten und die Herrschaft des räsonnierenden Verstandes in jeder dieser Lebensäußerungen zu behaupten« (89), so tritt Diderot doch an anderer Stelle der literaturhistorischen Skizze Diltheys als »ein sehr unheimlicher Mann für die Voltaire, d’Alembert und Friedrich« auf. Friedrich teilt den »französischen Geist« mit Voltaire. Immer wieder umreißt Dilthey die Voltaire und Friedrich gemeinsame »Lebensstimmung«; bei beiden wird sie durch den Kampf zwischen der »Weltansicht der vorwärtsschreitenden Naturwissenschaft« mit ihren materialistischen Implikationen einerseits und »dem Bewußtsein von dem Werte der Person und dem moralischen Zusammenhang der Gesellschaft« (91) liebte seine [ LaMettries ] Gesellschaft und ergötzte sich an dem unverwüstlichen Lebensmut, der leichtsinnigen Gutherzigkeit, der närrischen Leichtgläubigkeit und der unbewussten Bouffonerie des wunderlichen Philosophen« (94). 7 Dilthey anerkennt den bestimmenden Einfluß dieser Literatur auf die deutsche Prosa des Aufklärungszeitalters, zu deren bedeutendsten Vertretern er neben Wieland, Friedrich (!) und Lessing auch den Kant der sechziger Jahre zählt. Ebenso notiert er den Verfall der literarischen Form des Essay bei den Popularphilosophen, wenn sie in ihm nur noch »farblose, abstrakte Begründungen der Weltansicht der Aufklärung« liefern (174).

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andererseits geprägt. Am Ende kann es allerdings nicht bei Voltaires Lösung, das Leben als Tragikomödie zu sehen, bleiben; Friedrich nimmt, wie schon erwähnt, heroisch davon Abstand.

Zusammenfassung 1. Dilthey arbeitet die Grundüberzeugungen der deutschen, in Wahrheit: der preußischen bzw. Berliner Aufklärung heraus. Unter »Aufklärung« versteht er eine kulturprägende geistige Bewegung, die bereits im 17. Jahrhundert mit der neuen Wissenschaft von der Natur und den Naturrechtskonzepten auf eine umfassende Souveränität des menschlichen Verstandes hinwirkt, um diese im 18. für die ganze Breite individuellen und gesellschaftlichen Lebens geltend zu machen und, in Deutschland, durch großangelegte Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen Wirklichkeit werden zu lassen. 2. Aufklärung wird als eine Bewegung des protestantischen Europa mit Anknüpfungen an die Renaissance betrachtet, die deutsche Aufklärung in historische Kontinuität zur Reformation gestellt. Als »Weltanschauung« der deutschen Aufklärung macht Dilthey einen »Idealismus der moralischen Freiheit« namhaft (143), der seine historischen Wurzeln im Christentum hat und aus diesem durch Entdogmatisierung entsteht, an der die historische Quellenkritik wesentlichen Anteil hat. Er umfaßt die Überzeugungen von einer persönlichen Gottheit, von der auf Gewissen und moralische Freiheit gegründeten Verantwortlichkeit des Menschen, von der Unsterblichkeit der Menschen guten Willens, vom Reiche Gottes (»als Ausdruck der Solidarität des Guten, Heiligen, Seligen in der Welt«) und seinem Fortschreiten (142). Dieser Weltanschauungstypus bringt wie der wissenschaftliche Positivismus und der objektive Idealismus ein Lebensgefühl und in diesem eine Seite des menschlichen Weltverhältnisses zum Ausdruck (143). 3. Bei der Darstellung des Geistes französischer Aufklärung gelingt es Dilthey, das dieser zugrundeliegende neue Lebensgefühl in der den jungen Preußenkönig und Voltaire verbindenden Grundstimmung spürbar werden zu lassen. Die Fokussierung auf Friedrich den Großen erlaubt es ihm, das Verhältnis von deutscher (preußischer) und französischer Aufklärung an einer konkreten historischen Person und ihren Verhältnissen, nicht zuletzt an der Geschichte der Berliner Akademie, zu studieren. Diese Leistung wird allerdings dadurch gemindert, daß der Autor in Gestalt der Idealisierung bzw. Heroisierung der Person Friedrichs sowie der Abwertung französischer Kultur

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zeitbedingten Vorurteilen freien Lauf läßt, selbst wenn er diese für den guten Zweck einer Rehabilitierung der Aufklärung, insbesondere der deutschen, einsetzt.

Ursula Renz Cassirers Idee der Aufklärung Seit seinem Leibniz-Buch von 1902 setzte sich Cassirer vermehrt mit der Philosophie des 18. Jahrhunderts auseinander, so v. a. 1907 im zweiten Band von Das Erkenntnisproblem in der Neueren Zeit (EP) und dann wieder 1916 in Freiheit und Form (FF), jenen Studien, welche sich vor dem Hintergrund des deutschen Kriegschauvinismus mit der deutschen Geistesgeschichte auseinandersetzen. Die Epochenbezeichnung »Aufklärung« taucht in diesen Studien nicht an prominenter Stelle auf. Erst 1932 findet sie in Die Philosophie der Aufklärung (PA) als Titelbegriff Verwendung.1 Wie in der Vorrede klar wird, will dieses Buch keine streng historische Darstellung von geschichtlichen Erscheinungsformen und wissenschaftlichen Resultaten der Aufklärung sein, Absicht des Autors ist es vielmehr, eine »Deutung« der »inneren Bewegung« und der dieser zugrundeliegenden »gestaltenden Kräfte« vorzulegen.2 Dieser Deutung der Aufklärung liegen geschichtsphilosophische und systematische Auffassungen Cassirers zugrunde, die er bereits in früheren Texten dargelegt hat. Was die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen betrifft, so werden sie im Vorwort zur PA deutlich ausgesprochen. Fundamental ist dabei erstens die Auffassung, es handle sich bei der Aufklärungsphilosophie um eine »Einzelphase« in einem übergreifenden Prozeß. Von zentraler Bedeutung ist zweitens die Deutung jenes Prozesses selbst als ein »geistige[ s ] Gesamtgeschehen, kraft dessen der moderne philosophische Gedanke die Gewißheit von sich selbst, sein spezifisches Selbstgefühl und sein spezifisches Selbstbewußtsein errungen« habe.3 Diese beiden Voraussetzungen haben zur Konsequenz, Die Werke von Ernst Cassirer werden mit folgende Abkürzungen zitiert: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 2 (Gesammelte Werke, Bd 3, hrsg. v. Birgit Recki), Hamburg 1999 = EP; Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (Gesammelte Werke, Bd. 7), Hamburg 2001 = FF; Philosophie der Aufklärung, Tübingen 11932, Hamburg 1998 = PA; Philosophie der symbolischen Formen, Bd I–III, Berlin 11923, 1925, 1929, Darmstadt 21953 = PsF; Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956, Darmstadt 81994 = WWS; Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hrsg. v. John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 = ECN. 2 Alles PA, VII f. Der ursprünglich von Cassirer vorgeschlagene, vom Herausgeber geänderte Titel des Buches lautete dem Unterfangen entsprechend auch »Ideengeschichte der Aufklärungszeit« (vgl. Gerald Hartung, Einleitung, ebd., X* f.) 3 PA, VIII. 1

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daß der Philosophie der Aufklärung »schlechthin originale Gedankenmotive« abgesprochen werden. Cassirer kann sie einerseits nur als Erbin früherer Phasen desselben Prozesses ansehen,4 andererseits muß er sie stets daran messen, was sie zum Selbstbewußtsein des modernen Geistes beigetragen hat. Im Gegensatz zu den geschichtsphilosophischen Voraussetzungen bleiben die systematischen Bezüge zur Philosophie der Symbolischen Formen (PsF) verdeckt. In der Metaphorik seiner Sprache ist allerdings Cassirers Symbolphilosophie in der PA sehr wohl präsent. So ist von der Aufklärung als einer »Energie des Denkens«5 (VII) die Rede oder von verschiedenen »Energien des Geistes«, die »in einem gemeinsamen Kraftmittelpunkt« vereint sind.6 Wer das Cassirersche Werk kennt, sieht in diesen Formulierungen nicht nur eine emphatische Betonung der Dynamik der Aufklärung, sondern ist auch an seine Definition der symbolischen Form erinnert.7 Offensichtlich ist Cassirers Deutung der Aufklärung von seinen kulturphilosophischen Thesen mitbestimmt, direkte Aussagen darüber finden sich allerdings nicht. Die genauere Bestimmung der Wechselwirkung zwischen Cassirers ideengeschichtlichem Zugang zur Aufklärung und seiner symbolphilosophischen Perspektive auf die Kultur ist daher weitgehend der Cassirer-Forschung überlassen. Meine These dazu ist, daß sich Cassirer in seinem Aufklärungsbuch mit einer Schwierigkeit auseinandersetzt, die sich in der Ausarbeitung der PsF gestellt hat, nämlich der Frage einer Bestimmung der Philosophie innerhalb einer Kritik der Kultur. Inwiefern, so fragt sich angesichts des Gesamtprojekts der PsF, kann die Philosophie selbst als eine symbolische Form begriffen werden? Daß Cassirer mit dieser Frage gerungen hat, zeigen die Entwürfe zum vierten Band der PsF. In einer zwischen 1921–1927 entstandenen Notiz zur Metaphysik der symbolischen Formen spricht er sich deutlich für die Option aus, daß die philosophische Erkenntnis ihrerseits keine symbolische Form schaffe.8 Dieser Notiz steht eine andere Bemerkung aus dem Jahre 1928 gegenüber, in welcher PA, IX, vgl. auch S. 77. PA, VII. 6 PA, 4. 7 »Unter einer ›symbolischen Form‹ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.« WWS, 175. 8 ECN I, 264: »Das ist das Eigentümliche der philosophischen Erkenntnis als ›Selbsterkenntnis der Vernunft‹: sie schafft nicht eine prinzipiell neue Symbolform, begründet in diesem Sinne keine neue schöpferische Modalität – aber sie begreift die früheren Modalitäten als das[ , ] was sie sind: eigentümliche symbol[ ische ] Formen.« Den Hinweis auf diese Textstelle verdanke ich einer Diskussion mit John Michael Krois. 4 5

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er der Lebensphilosophie Klages entgegenhält, daß »alle Metaphysik [ . . . ] eben doch an die Form des Gedankens gebunden« sei.9 Damit wird zwar die frühere Option, daß die Philosophie keine eigene symbolische Form schaffe, nicht korrigiert. Man würde es sich dennoch zu leicht machen, wenn man die Forderung, die Metaphysik unter dem Gesichtspunkt der gedanklichen Form zu betrachten, nicht auf das Problem der symbolischen Formung zurückbezöge. Es macht auf jeden Fall den Anschein, als bilde die Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie – zu der Cassirer auch Heidegger zählt – den Anlaß, um die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und symbolischer Formung erneut aufzuwerfen. Vor diesem systematischen Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie, so meine These, muß auch Cassirers Beschäftigung mit der Aufklärung gelesen werden: als Versuch einer Klärung des Philosophiebegriffes in seinem Verhältnis zum Problem der Formfrage. Mit anderen Worten: Es geht um das Verhältnis von formgebendem Geist und philosophischer Vernunft. Da Cassirer dazu keine abgeschlossenen Antworten bereithält, bekommt seine Ideengeschichte der Aufklärung eine Art tentativen Charakter. Cassirer führt nicht einfach bestehende Ideen an das 18. Jahrhundert heran, sondern versucht die Philosophie der Aufklärung als Entstehungsgeschichte einer autonomen und der Selbstkritik fähigen Vernunft zu lesen, um so Aufschluß über den Ort und die Bestimmung der Philosophie im Ganzen der Kultur zu gewinnen. Im folgenden wird es zunächst darum gehen, den werkgeschichtlichen Ort der PA genauer zu bestimmen. Ziel dieser Verortung ist es, die Erfordernisse deutlich zu machen, die hinter einer solchen integralen Klärung des Philosophiebegriffes stehen (1). Danach sollen einige zentrale Tendenzen, die Cassirer in der Aufklärungsphilosophie ausmacht, herausgearbeitet werden und die allgemeine Richtung von Cassirers Aufklärungsidee sichtbar gemacht werden (2–4). Den Abschluß bildet ein kurzes Fazit (5).

1. Der Ort der PA in der Werkentwicklung Cassirers Versucht man den spezifischen Ort der PA innerhalb von Cassirers philosophischem Werk zu bestimmen, so sind verschiedene Aspekte zu berücksichtigen: – Zur Entstehungszeit der PA sind vom systematischen Hauptwerk Cassirers, der PsF, bereits drei Bände erschienen. Die Idee, Kultur-

9

ECN I, 207.

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erzeugnisse von ihrer symbolischen Verfaßtheit her zu begreifen und auf die geistige Grundfunktion der symbolischen Formung zurückzuführen, ist an verschiedenen Kulturformen erprobt und bewährt worden. Mit dem dritten Band, der den Untertitel »Phänomenologie der Erkenntnis« trägt, ist diese Rückführung der Kultur auf die Grundfunktion der symbolischen Formung auch bewußtseinstheoretisch fundiert worden. Das zu Beginn der PsF in Aussicht gestellte Unterfangen – die Kritik der Vernunft in eine Kritik der Kultur zu überführen – ist damit allerdings noch nicht abgeschlossen. Was aussteht ist eine genauere Bestimmung des Orts der Philosophie innerhalb der Kultur bzw. im Verhältnis zu den symbolischen Formen. Eine solche Verhältnisbestimmung ist zum Verständnis der programmatischen Formel, daß die Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur wird oder werden soll, unabdingbar. Wenn sich Cassirer mit dieser Formel, wie es der Wortlaut nahelegt, an Kant anschließen will, dann muß der Genetiv der Formel Kritik der Kultur sowohl als objektiver als auch als subjektiver Genetiv lesbar sein. Während dem ersten Aspekt einer Kritik an der Kultur, durch den Nachweis, daß sich auch außerhalb der wissenschaftlichen Erkenntnis ein Vorrang der Funktion vor dem Gebilde ausmachen läßt, in den drei vorliegenden Bänden weitgehend Rechnung getragen worden war, ist die Frage, inwiefern die so verstandene Kulturkritik auch eine Kritik durch die Kultur resp. eine Selbstkritik darstellt, weitgehend offengeblieben.10 – In den späten 20er und frühen 30er Jahren gewinnen in Cassirers Werk Fragen der Politik im Verhältnis zu den rein geistphilosophischen Aspekten der Symbolphilosophie ein größeres Gewicht. Ob dies aus aktuellem Anlaß heraus geschieht oder nicht, mag offen bleiben. Auf jeden Fall kann seit der anläßlich der Verfassungsfeier vom 11. August 1928 gehaltenen Rede Die Idee der republikanischen Verfassung11 über Form und Technik (1931) bis hin zu Das Problem Jean Jacques Rousseau (1932) eine Konzentration politischer Motive festgestellt werden, die im Vergleich zu den frühen 20er Jahren ins Auge sticht.12 Grundsätzlich bin ich der Ansicht, daß es systematisch gesehen durchaus möglich ist, eine solche Selbstkritik der Kultur aus Cassirers PsF heraus zu extrapolieren, vgl. dazu Ursula Renz, Die Rationalität der Kultur. Zur Kulturphilosophie und ihrer transzendentalen Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer, Hamburg 2002, 235–239. Im Hinblick auf die werkgeschichtliche Entwicklung sollte aber nicht vergessen werden, daß Cassirer uns ein letztes Wort zu dieser Problematik schuldig geblieben ist. 11 Ernst Cassirer, Die Idee der republikanischen Verfassung. Rede zur Verfassungsfeier am 11. August 1928, wiederabgedruckt in: Dialektik (1) 1995, 13–30. 12 Zur politischen Philosophie Cassirers vgl. v. a. David R. Lipton, Ernst Cassirer, The dilemma of a liberal intellectual in Germany 1914–1933, Toronto, Buffalo und 10

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Insbesondere dem Problem der Legitimation politischer Gemeinwesen schenkt Cassirer zusehends Beachtung.13 – Die Auseinandersetzung mit Heidegger von 1929 macht das Erfordernis einer grundsätzlichen Klärung des Verhältnisses von theoretischer und praktischer Philosophie im Rahmen der Kulturphilosophie vordringlich. Cassirer hat dieses Verhältnis seit FF in der Verschränkung des Spontaneitäts- mit dem Autonomiebegriff einzuholen versucht – eine Figur, welche auch im Konzept der symbolischen Form erhalten geblieben ist.14 Nun löst er zwar diese Verschränkung nicht auf, aber er scheint den praktischen Implikationen dieser Verschränkung stärkere Beachtung schenken zu wollen. Die Frage, inwiefern auch Probleme der Moral und der Politik unter den Aspekt der Form gerückt werden können, ist seit Anfang der Dreißiger Jahre ein wesentliches Motiv der Cassirerschen Philosophie.15 Im Kontext der Werkgeschichte betrachtet, steht also das Aufklärungsbuch Cassirers an einem ausgezeichneten Ort: Sowohl von der PsF und den dort offen gebliebenen Fragen her, wie auch im Hinblick auf aktuelle Problemstellungen drängt sich – unabhängig von Cassirers persönlichem Selbstverständnis16 – die Frage nach der Aufgabe philosophischer Vernunft auf. Es ist nicht abwegig, in der PA den Versuch Cassirers zu sehen, sich im Umweg über die Philosophiegeschichte Klarheit darüber zu verLondon 1978, sowie Donald Philipp Verene, Cassirer’s Political Philosophy, in: Enno Rudolph, Cassirers Weg zur Philosophie der Politik, Hamburg 1999, 19–42. 13 Barbara Henry, Der Ort der Politik im Werk Cassirers, in: Enno Rudolph, Cassirers Weg zur Philosophie der Politik, 6. 14 Zu den daraus erwachsenden Konsequenzen für den Ort der Moral im Ganzen der Kultur, vgl. auch Birgit Recki, Der Tod, die Moral, die Kultur, in: Dominic Kaegi / Enno Rudolph Hrsg.), Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002, 109. 15 Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer, Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, 123, weist darauf hin, daß Form »für Cassirer in ihrer letzten ausschlaggebenden Bedeutung nicht eine ästhetische, sondern eine ethische Kategorie« sei. Für FF, wo der Formbegriff erstmals aus dem Schatten des Funktionsbegriffes heraustritt und wo die dialektische Spannung von Form- und Freiheitsbegriff in der oben schon genannte Verschränkung von Spontaneität und Autonomie ins Positive gewendet wird, ist das zweifellos der Fall. Mit »Idee und Gestalt« (1918) gewinnt dann aber die ästhetische, oder genauer: die poietische Dimension des Formbegriffes an Gewicht und in den drei vorliegenden Bänden PsF ist der ethische Aspekt fast vollständig in den Hintergrund getreten. Hingegen wird er in den frühen Dreissiger Jahren wieder wichtiger. Der These, daß es sich beim Formbegriff um eine ethische Kategorie handelt, würde ich daher nicht mit Blick auf alle Werke beipflichten wollen. 16 Es ist auffällig, daß Cassirer in Davos, auf die Aufgabe der Philosophie im Umgang mit der Angst befragt, diese Frage nach der Aufgabe der Philosophie als eine »ganz radikale Frage« qualifiziert und »nur mit einer Art Bekenntnis antworten«

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schaffen, inwiefern philosophisches Denken der ganzen Kultur eine kritische Richtung geben kann. Daß Cassirer als ersten Gewährsmann der Aufklärung d’Alembert zu Wort kommen läßt und dessen Diktum zitiert, daß das 18. Jahrhundert es liebe, sich das Zeitalter der Philosophie zu nennen,17 ließe sich vor diesem Hintergrund auch als Hinweis auf die eigene Anfrage, mit der Cassirer an die Aufklärung herantritt, verstehen.

2. Vom »esprit de système« zum »esprit systématique« Welches sind die zentralen Tendenzen, die Cassirer der Philosophie des 18. Jahrhunderts zuspricht? Was für einen Prozeß sieht er hier am Werk und was für ein Profil gibt er dadurch der Aufklärung? Von zentraler Bedeutung ist jene Behauptung, die bereits im Vorwort der PA auftaucht, und die gegen das Ende des Werks durch das Zitat Shaftesburys, daß »der sinnreichste Weg zum Narren zu werden der Weg durch ein System« sei,18 ironisch unterstrichen wird. An die Stelle des esprit de système sieht Cassirer im 18. Jahrhundert einen esprit systématique treten.19 Die Gegenüberstellung dieser beiden Ausdrücke findet sich in d’Alemberts Discours préliminaire de l’ Encyclopédie, wo sie der programmatischen Beschreibung des systematischen Anspruchs der Enzyklopädie dient.20 Daß Cassirer sie zur Charakterisierung der philosophischen Bemühungen der ganzen Epoche aufgreift, ist in mehrerer Hinsicht problematisch. Die Aussage, die er damit macht, stimmt nicht nur dann nicht, wenn man mit Christian Wolff einen der wirkungsmächtigsten Philosophen Deutschlands im 18. Jahrhundert ins Auge faßt. Sie stimmt umgekehrt auch nicht, wenn man sich auf die Geschichte des Systembegriffs bezieht. Der Systembegriff ist keine Erfindung des Rationalismus, noch hat er seine Wurzeln im 17. Jahrhundert. Es ist irreführend, von der dem 17. Jahrhundert unterstellten »Entwicklung von ›System‹ will oder kann (vgl. dazu Heidegger Gesamtausgabe I / 3, 259). Worin genau er die Radikalität dieser Frage begründet sieht, muss hier offen bleiben, doch es scheint mir auf jeden Fall undenkbar, daß jemand, der die Bestimmung der Aufgabe der Philosophie selbst zu den zentralen Aufgaben der Philosophie zählt, so antworten würde. Und tatsächlich entspricht dies der durchgängigen Tendenz Cassirers, Philosophie als Geisteswissenschaft und nicht als Prima Philosophia zu betreiben. 17 PA, 1 f. 18 PA, 446. 19 PA, X. 20 Jean LeRond d’Alembert, Discours préliminaire de l’Encyclopédie, hrsg. v. Michel Malherbe, Paris 2000, 93. Bei d’Alembert ist diese Unterscheidung nicht terminologisch fixiert, so spricht er an anderen Stellen auch positiv davon, es sei das Hauptverdienst des Physikers, »d’avoir l’esprit de système, et de n’en faire jamais« (139).

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zu ›System‹« auf den Stellenwert des Systembegriffs selbst schließen zu wollen.21 Jene Denker, die einer Entwicklung der Systeme zugeordnet werden können – Cassirer nennt an dieser Stelle Descartes, Malebranche, Spinoza, Leibniz, Bacon, Hobbes und Locke22 –, haben dem eigenen Anspruch nach keine Systeme geschrieben.23 Während Leibniz – der einzige dieser Denker, der tatsächlich ein système verfaßt hat – von Cassirer eine eigentliche Sonderrolle innerhalb des 18. Jahrhunderts zugesprochen wird, so daß er auch in der PA nicht wirklich als Vertreter des esprit de système auftritt, müßten umgekehrt mindestens Malebranche, Bacon und Locke eher als Kritiker denn als Repräsentanten des Systemanspruchs angeführt werden. Schon hier zeigt sich erstens, daß viele der pauschalen Urteile Cassirers über die Aufklärung am Selbstverständnis der französischen Aufklärer abgelesen sind. Zweitens wird deutlich, wie stark in der PA philosophische Deutung und Darstellung von Theoriegeschichte ineinandergreifen. Christian Wolff als Systemtheoretiker auf der einen Seite scheint für Cassirer ebensowenig dem 18. Jahrhundert anzugehören wie David Hume als Skeptiker auf der anderen Seite.24 Man darf sich von der historiographischen Eigenmächtigkeit der PA aber nicht wiederum den Blick für die Deutung Cassirers trüben lassen. Daß sich die Aufklärung vom esprit de système abgewendet habe, stellt nicht einfach ein pauschales Urteil über die Aufklärung dar, sondern ist eher als Interpretation von bestimmenden Problemverschiebungen zu begreifen, wie sie in einzelnen Fragen namhaft gemacht werden. Im Zentrum steht dabei die methodische Neuausrichtung des Vernunftanspruches weg von der deduktiven Ableitung des Wissen hin zur Analyse von Phänomenen.25 Die Abwendung vom esprit de système zeigt sich aber auch in anderen Zusammenhängen, so bei den Umwälzungen der Legitimationslast in der Theodizeeproblematik26, bei der »Eroberung« der Geschichtlichkeit27 oder beim Neuansatz der Ästhetik beim StandPA, XII. Ebd. 23 Das dürfte man selbst für den Rationalismus Descartes’ und Spinozas geltend machen können. Wie Christian Strub, System, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd 10, Basel 1998, 824–856, betont, kann man die Entstehung des rationalistischen Vernunftverständnisses »am Axiom- und Methodenbegriff mit der Paradigmatisierung der Geometrie, nicht aber am System-Begriff studieren« (829). 24 PA, 243: »Indessen ist der Weg, den Hume beschreitet und den er bis ans Ende durchmessen hat, nicht der Weg des achtzehnten Jahrhunderts gewesen.« Zu den Hintergründen vgl. unten Kap. 4. 25 PA, 7. 26 PA, 211. 27 PA, 307. Mit der Auffassung des 18. Jahrhunderts als einer durchaus geschichtsbewußten Epoche stellt sich Cassirer übrigens explizit in die Tradition Diltheys, vgl. PA, 265. 21

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punkt des Betrachters anstatt bei demjenigen des Künstlers28. Mit der These, daß das 18. Jahrhundert auf die Form des metaphysischen Systems verzichtet habe, äußert Cassirer daher nicht einfach ein negatives Urteil über die Form philosophischen Denkens, als vielmehr ein positives über die neue methodische Erschließung von Inhalten innerhalb verschiedener Gebiete der Kultur. Anhand des zentralen Theorems von der Ablösung des esprit de système durch den esprit systematique wird schließlich klar, in welcher Weise Cassirer die Aufklärung an die frühe Neuzeit angeschlossen sein läßt. Aufklärung ist für ihn nicht deckungsgleich mit der Philosophie und Wissenschaft des 18. Jahrhunderts, sondern zeichnet sich durch ein bestimmtes – und zwar sehr unterschiedlich akzentuiertes – Verhältnis gegenüber den verschiedenen »Anfängen« der Neuzeit aus. Grundsätzlich wird betont, daß »ein eigentlicher Bruch zwischen beiden [ 17. und 18. Jahrhundert ] nirgends vorhanden« sei.29 Es handelt sich bei der Aufklärung um einen komplexen und sukzessiv einsetzenden Prozeß. Bestimmend dafür ist einerseits eine langsame Distanzierung vom Philosophiebegriff des Rationalismus, wobei der Anspruch auf eine Einheit und Wissenschaftlichkeit der Vernunft gewahrt bleibt.30 Auf der anderen Seite wird die Aufklärung immer wieder auch von der Wiederentdeckung alternativer – nicht rationalistischer – Ursprünge der Moderne her begriffen. So räumt Cassirer in seiner Darstellung der Naturphilosophie Englands neben dem Empirismus auch der Schule von Cambridge und deren Anknüpfung an die Renaissance und den Neuplatonismus einen beträchtlichen Stellenwert ein.31 Ganz ähnlich begreift er die deutsche Aufklärungstheologie maßgeblich von ihrer Anknüpfung an Erasmus her.32 In ihm und nicht in Spinoza sieht er den Begründer der modernen Bibelkritik.33 Ferner diagnostiziert er eine neue Nähe zum Faktischen, die weniger vom Empirismus als von den großen Naturwissenschaften inspiriert scheint und als Ausdruck einer »Versöhnung des ›Positiven‹ und des ›Rationalen‹«34 gewertet wird. Insgesamt gesehen weist die große Gesamtbewegung, in die hinein die Aufklärung gestellt wird, zwar in eine Richtung, sie hat aber mehr als einen Ursprung. Es wird weiter unten zu zeigen sein, was das für das philosophische Selbstverständnis bedeutet.

28 29 30 31 32 33 34

PA, 432. PA, 28. PA, 29. PA, 108. PA, 188. PA, 250. PA, 10.

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3. Zur Genese einer problematischen Vernunftkonzeption Eine weitere Veränderung ist für Cassirers Ideengeschichte der Aufklärung zentral: der »charakteristische Bedeutungswandel«, den der Vernunftbegriff im 18. Jahrhundert erfahren habe. An die Stelle eines »Inbegriff[ s ] ›eingeborener‹ Ideen« sei eine dynamische »geistige Grundund Urkraft«, an die Stelle des »Besitzes« der »Erwerb« von Wissen, an die Stelle eines »Seins« ein »Tun« getreten.35 Diese wenigen Formeln deuten bereits an, daß es sich beim diagnostizierten Bedeutungswandel des Vernunftbegriffes nicht einfach um eine semantische Verschiebung, sondern um einen Wandel im prinzipiellen Anspruch vernünftigen Denkens selbst handelt. Wodurch zeichnet dieser sich aus? Drei voneinander nicht unabhängige aber unterscheidbare Prozesse sind hier hervorzuheben: Erstens wird die Vernunft von ihrem Transzendenzbezug abgekoppelt und statt dessen rein immanent begriffen. Zweitens findet eine Dynamisierung des Vernunftverständnisses statt. Und drittens wird die Vernunft sich selbst problematisch. 1. Die Entstehung eines sich auf immanente Kriterien abstützenden Konzepts vernünftigen Denkens gehört zweifelsohne zu den grundlegenden Errungenschaften des 18. Jahrhunderts. Sie stellt die Bedingung für den »große[ n ] Säkularisierungsprozeß des Denkens« dar, in dem die PA die wesentliche Aufgabe der Aufklärungsphilosophie ansetzt. Wie sich im Zusammenhang mit der Darstellung der Religionsfrage zeigt, hängt dieser Prozeß für Cassirer mit einer Ablösung vom rationalistischen Wahrheitsverständnis zusammen. Für den Rationalismus, so wird im ersten Kapitel des vierten Teils zur Idee der Religion betont, sei eine »Lösung des Wahrheitsproblems« überhaupt nur »durch Vermittlung des Gottesproblems« denkbar gewesen. So seien im 17. Jahrhundert noch sämtliche Begriffe der Metaphysik im theologischen Denken verankert gewesen.36 Erst mit dem erkenntnistheoretischen Ansatz von Lockes Empirismus war, so Cassirers Darstellung, eine alternative Option der Erkenntnisbegründung erarbeitet worden, auf die sich dann der englische Deismus in seiner Auseinandersetzung mit der Gewißheitsfrage beziehen konnte. Der Deismus wird hier explizitermaßen nicht von seinen inhaltlichen Thesen, sondern von seinem Prinzip der Begründung her begriffen. Mithilfe von Lockes Auffassung von Erkenntnis als »Gewahrwerden einer Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung zwischen Ideen« war die Möglichkeit gegeben, die absolute Transzendenz selbst religiöser Gegenstände grundsätzlich und nicht nur im Einzelfall zu bestreiten.37 35 36 37

Alles PA, 15 f. PA, 211 f. PA, 229.

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Im Ganzen der Cassirerschen Darstellung gesehen, bilden diese religionsphilosophischen Auseinandersetzungen allerdings nicht das Zentrum des aufklärerischen Säkularisierungsprozesses. Auch ist die Opposition zwischen Rationalismus und Säkularisierung für Cassirer keine totale, im Gegenteil. Sie betrifft wohl den Wahrheitsbegriff, nicht aber das Vernunftverständnis. Die Säkularisierung des Denkens ist für Cassirer ein Prozeß, der maßgeblich durch die Auffassung der Vernunft als ein »Verfahren« 38, das sich auf verschiedene Gebiete anwenden läßt, angetrieben wird. Diese Auffassung hat aber im Wissenschaftsideal Descartes’ und Leibniz’ ihren zentralen Anstoß. Es war der Rationalismus, der – im Anschluß an den Naturbegriff der Renaissance, wie Cassirer herausstreicht – der Methode erstmals eine Unabhängigkeit gegenüber der Ontologie zusprach. Für das Vernunftverständnis ist das insofern von Belang, als sich nur vor diesem Hintergrund das neue Selbstverständnis der Vernunft, als einer »Kraft«, die Welt in ihrer Immanenz »zu durchmessen« und in ihr »heimisch zu werden«,39 begreiflich machen läßt. 2. Damit ist unversehens das zweite Moment des oben angesprochenen Bedeutungswandels im Vernunftbegriff ins Blickfeld gekommen. Mit der Säkularisierung der Vernunft geht eine Dynamisierung des Vernunftbegriffes einher. Eine Vernunft, die sich als ein Werkzeug versteht und im methodischen Verfahren ihr Kriterium findet, muß von vornherein dynamisch gedacht werden. Die »wichtigste Funktion der Vernunft«, so Cassirer in der Einleitung der PA, »besteht in ihrer Kraft zu binden und zu lösen.«40 Mit dieser dynamischen Auffassung der Vernunft kommt ein ganz bestimmter Akzent der PA zum Tragen. Wo immer Cassirer von einer subjektiven Kraft redet, steht mehr oder weniger unmittelbar Leibniz im Hintergrund, der in seinem Monadenkonzept Subjektivität und Kraft zusammengeschlossen hatte.41 Ihm und den auf ihn zurückgehenden Errungenschaften ist das ganze zweite Kapitel im ersten Teil über die Denkform der Aufklärung gewidmet. Hervorgehoben wird hier v. a. die Bedeutung der in der Monade angelegten Korrelation von Individuum und Universum, die mit der Bestimmung der Monade als Kraftzentrum einhergeht.42 Diese Korrelation bildet für Cassirers Ideengeschichte der Aufklärung insofern den zentralen systematischen Ausgangspunkt, als sich in der Rezeption dieses Leibnizschen Grundgedankens ein aufklärerisches Selbstbewußtsein formiert, das sich in allen Bereichen niederschlägt. Sowohl die Entwicklung eines neuen methodischen Selbstver38 39 40 41 42

PA, 27. Hervorhebung im Original. PA, 15. PA, 16. PA, 38. PA, 41 f.

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ständnisses, wie auch das Ringen um eine neue Verhältnisbestimmung von Vernunft und Geschichte, wie schließlich auch wesentliche Impulse der Ästhetik haben in der Leibniz-Rezeption einen Ausgangspunkt und einen wesentlichen Motor. 3. Als dritte Veränderung im Vernunftverständnis der Aufklärung muß die beginnende Problematisierung der Vernunft ins Auge gefaßt werden. Damit ist hier jener ganz bestimmte Vorgang angesprochen, durch den die Auffassung befördert wurde, daß es sich bei der Vernunft um ein ›Problem‹ im neukantianischen Sinn des Wortes handelt. Als ein Problem faßten die Neukantianer Marburgscher Prägung vereinfacht gesagt jene Begriffe auf, in denen sich ein problema oder »Vorwurf« des Denkens ausmachen läßt, in denen sich das Denken eine (im Platonischen) Sinne dialektische Frage als Aufgabe vornimmt, wobei es nicht auf eine Lösung der Aufgabe, sondern vielmehr auf eine Vertiefung der Problemstellung selbst ankam. Problemgeschichte zu betreiben hieß, historische Begriffe von Problemstellungen her zu begreifen.43 An diesen Begriff des Problems knüpft Cassirer zwar nicht direkt an, doch er schwebt im Hintergrund und wird bisweilen aktualisiert. Das läßt sich am deutlichsten an seiner Auseinandersetzung mit Rousseau zeigen. Im zeitgleich zur PA entstandenen Essay Das Problem Jean Jacques Rousseau gesteht Cassirer Rousseau zu, daß er »einem Jahrhundert, das die Kultur der Form auf eine zuvor nie erreichte Höhe emporgehoben und sie zur Vollendung und inneren Abschluß gebracht hatte, wieder die ganze innere Problematik des Formbegriffs selbst vor Augen« geführt habe.44 Diese These hat zwei wichtige Implikationen. Die Behauptung, daß Rousseau dem 18. Jahrhundert die Problematik des Formbegriffs vor Augen geführt habe, setzt erstens voraus, daß Rousseau den Formbegriff in seiner inneren Dialektik, mithin als Problembegriff, erkannt hat. Zweitens impliziert die unterstellte Problematisierung des Formbegriffes eine Problematisierung des Vernunftbegriffes und damit eine Selbstkritik der Aufklärung. Indem Rousseau sich ausgerechnet am Formproblem Vgl. zu diesem Punkt Renz, Die Rationalität der Kultur, 36–43 sowie 124 f. Eine ausführlichere Darstellung findet sich in Ursula Renz, Philosophiegeschichte angesichts der Geschichtlichkeit der Vernunft. Einige Überlegungen ausgehend von der Philosophiegeschichtsschreibung des Marburger Neukantianismus, erscheint in: Studia Philosophica 61 (2002), Kap. 2. Die verschiedenen im Problembegriff zusammenlaufenden Traditionen hat Helmut Holzhey, Die Vernunft des Problems. Eine begriffsgeschichtliche Annäherung an das Problem der Vernunft, in: Albert Heinekamp / Wolfgang Lenzen / Martin Schneider (Hrsg.), Mathesis Rationis, Festschrift für Heinrich Schepers, Münster 1990, 27–45 herausgearbeitet. 44 Cassirer, Das Problem Jean Jacques Rousseau (1932), in: Archiv für Geschichte der Philosophie 51, 177–213 sowie 479–513. Wiederabgedruckt in: Ernst Cassirer / Jean Starobinski / Robert Darnton, Drei Vorschläge, Rousseau zu lesen, Frankfurt 1985, 7–78, hier: 7. 43

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rieb, hat er das 18. Jahrhundert im Herzen seines Vernunftverständnisses getroffen, sah es doch die Fähigkeit zur Form, die Fähigkeit zur »Bestimmung und Umgrenzung zugleich als die höchste subjektive Kraft des Menschen, als die Grundpotenz der ›Vernunft‹ selbst an.«45 Ein vergleichbare Tendenz, Rousseau eine Problematisierung der Vernunft zuzuschreiben, läßt sich auch in der PA ausmachen, und zwar im Zusammenhang mit der Theodizeeproblematik. Rousseau wird hier u.a. das Verdienst zugeschrieben, er sei »der erste Denker des 18. Jahrhunderts, der Pascals Anklage wieder völlig ernst«46 genommen habe. Pascal wie Rousseau gehen vom Elend des zivilisierten Menschen aus. Sie teilen die Auffassung, daß die Gesellschaft im gegenwärtigen Zustand auf falschen, weil nichtigen und illusionären, Gefühlen beruht. Für beide befindet sich der Mensch, der in dieser Gesellschaft leben muß, in einem abgründigen Zwiespalt. Im Gegensatz zu Pascal weigert sich aber Rousseau, diesen Zwiespalt des Menschen seiner ursprünglichen Natur anzulasten. Er schreibt die Widersprüchlichkeit der zivilisierten Menschen seiner »empirischen Entwicklung« zu.47 Der Mensch ist nicht mit seiner Natur, sondern mit seiner Kultur im Widerstreit. Damit schreibt er ihm – bzw. der menschlichen Gesellschaft – gleichzeitig die ganze Verantwortung für seine eigene Verfassung zu. Der Prozeß des Problematisch-Werdens der Vernunft, der hier mit dem Namen Rousseaus verbunden wird, hängt also mit einer neuen Sicht auf den Menschen zusammen, die im Verlaufe der Aufklärung erst erarbeitet wird. Dabei geht es allerdings um mehr und um Grundsätzlicheres als um eine bloße Anthropologisierung der Vernunft. Eine solche hatte schon mit der psychologischen Reformulierung der Erkenntnistheorie im Empirismus und Sensualismus’ Englands und Frankreichs stattgefunden. Der Prozeß dagegen, den Cassirer bei Rousseau lokalisiert, greift über die Frage der menschlichen Genese von Erkenntnis hinaus. Er ist Ausdruck einer verschobenen Legitimationspflicht und tangiert somit die Frage nach der grundlegenden Ausrichtung sämtlicher Vernunftbemühungen. Nicht mehr von Gott, sondern vom Menschen her muß der Mensch bei Rousseau gerechtfertigt werden. Der Mensch muß als sein eigener »Retter«, und »im ethischen Sinne« gesprochen als sein eigener »Schöpfer« begriffen werden.48 In diesem Sinne – als »Problem« des Menschen – ist sich in Cassirers 18. Jahrhundert die Vernunft zum Problem geworden. 45 46 47 48

Ebd., 8. PA, 206. PA, 208. PA, 210.

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4. Die Bändigung des Skeptizismus Ausgehend von der Rousseauschen Wende im Zusammenhang mit dem Vernunftbegriff läßt sich eine weitere Besonderheit von Cassirers Aufklärungskonzept kenntlich machen: Der Prozeß, in den er die Aufklärung eingebettet sein läßt, bringt zwar eine Problematisierung des auf der Vernunft begründeten Optimismus’ mit sich, er endet aber nicht in dessen grundsätzlicher Infragestellung. »Das ›Selbstvertrauen der Vernunft‹ ist nirgends erschüttert«, hält Cassirer im ersten Kapitel fest.49 Zwar sei im 18. Jahrhundert auf den absoluten Charakter, der mit dem Prinzipienbegriff verbunden gewesen sei, verzichtet worden und den Prinzipien nur mehr relative Gültigkeit zugestanden worden,50 doch »[ d ]ie hier erkannte und anerkannte Relativität birgt keine skeptischen Folgerungen und keine skeptischen Gefahren in sich; sie ist im Gegenteil nur der Ausdruck dafür, daß der Vernunft in ihrem stetigen Fortgang keine festen unübersteiglichen Grenzen gesetzt sind.«51 Die Aufklärung wird hier einem potentiellen Skeptizismus dezidiert entgegengestellt, wobei von der Skepsis Humes muß allerdings explizit abgesehen wird.52 Gefahr droht der Vernunft nicht dort, wo sie aus eigener Kraft Relativierungen der eigenen Ansprüche vornimmt, sondern vielmehr dort, wo sie sich ohnmächtig und zu einer solchen Selbstkritik gar nicht bemächtigt wähnt. Der historische Gegensatz zum Programm der Aufklärer ist daher auch in diesem Punkt bei Pascal zu suchen. Dessen These, daß die Vernunft, wenn sie sich auf sich selbst stelle, notwendig in der Skepsis ende,53 mußte schlechterdings eine Provokation für das aufklärerische Selbstverständnis darstellen. In dieser historischen Opposition zu Pascal zeigt sich allerdings auch eine merkwürdige Ambivalenz Cassirers der Aufklärung gegenüber. Trotz des unerschütterlichen Selbstvertrauens der Vernunft, scheint er die Aufklärung einem derartigen Skeptizismus nur bedingt für gewachsen zu halten. Voltaire beispielsweise, den er gegen den Pascalschen Pessimismus angehen läßt, scheint dem Skeptizismus – wenn auch in anderer Akzentsetzung – ebenso ausgeliefert wie Pascal. Cassirer weist in diesem Zusammenhang auf die fundamentale Beunruhigung hin, die im 18. Jahrhundert vom Theodizeeproblem ausgegangen war. In dieser Beunruhigung macht sich bemerkbar, daß sich das 18. Jahrhundert vom PA, 29. PA, 28. 51 PA, 28. 52 Ebd. Das ist nicht weiter erstaunlich, Hume entspricht offensichtlich nicht dem für Cassirer prototypischen Aufklärer. 53 PA, 195. 49 50

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Dogma der Erbsünde noch nicht wirklich gelöst hat. Dem Problem der Erbsünde und der Theodizee ist gemeinsam, daß sie die Frage nach dem Übel mit einem Bekenntnis in Verbindung bringen. Voltaire hat – so die Pointe Cassirers – nur auf einer Ebene gekämpft. Er hat sich zwar sowohl gegen den religiösen Pessimismus wie auch gegen den metaphysischen Optimismus ausgesprochen, doch damit ist der Beunruhigung, die von der Frage selbst ausgeht, nicht beizukommen. Für Cassirer ist klar, daß diese mit der Frage nach dem Übel provozierte Verunsicherung, weder durch »Zweifel am Dogma«54 noch durch einen »Kompromiß«55 aus der Welt geschafft werden kann. Mehr als jede andere Problemstellung fordert die Frage nach dem Übel die Philosophie in ihrem eigenen Selbstverständnis heraus. Dies wird in der PA sehr deutlich ausgesprochen: »In der Tat stehen wir hier an einem Punkte, an dem die bloße Negation nicht genügte, sondern an dem von der Philosophie der Aufklärung eine klare positive Entscheidung erwartet und verlangt wurde. Wenn sie das Mysterium der Erbsünde verwarf, so mußte sie den Grund und Ursprung des Übels an eine andere Stelle verlegen, so mußte sie beides aus bloßer Vernunft als notwendig erkennen und erweisen.«56 Diese Aussage benennt die Aufgabe, vor die die Aufklärung angesichts der Theodizeeproblematik gestellt ist, ziemlich klar: Es gilt, die Frage nach dem Übel als ein reines Vernunftproblem zu begreifen bzw. zu entlarven. Vor diesem Hintergrund läßt sich der latente Vorwurf Cassirers an die Adresse der Aufklärung ziemlich genau benennen: Sie hat »die positive Entscheidung«, die von ihr abverlangt wurde, von Ausnahmen abgesehen, nur zum Teil vollzogen. Es ist ihr anzurechnen, daß sie sich vom Selbstvertrauen der Vernunft auch angesichts der Fragen nach dem Übel der Welt und nach dem Glück und Unglück des Menschen nicht hat abbringen lassen. Auch hat sie durchaus eine Verlagerung dieser Fragen vorgenommen. Dabei ist sie aber nicht radikal genug vorgegangen. Sie hat die Frage nach dem Glück und Unglück des Menschen auf einer psychologischen Ebene zu lösen versucht, anstatt sie auf ihren Ursprung in der Vernunft selbst zurückzuführen. Mit andern Worten: Sie hat es verpaßt, die Frage nach dem Übel der Selbstbestimmung der Vernunft selbst anheimzustellen und sie dadurch auf eine philosophische Basis zu stellen. Diesen Ausweg aus der Theodizeeproblematik hat erst Kant gefunden, allerdings haben ihm, so die Darstellung der PA, Shaftesbury und Rousseau indirekt vorgearbeitet: Shaftesbury, indem er die Erkenntnis der Form an die Stelle eines Lust-Unlust-Kalküls gerückt und so eine 54 55 56

PA, 194. PA, 196. PA, 194.

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Alternative zur psychologischen Lösung der Frage nach Glück und Unglück präsentiert hat; Rousseau, indem sie von vornherein im Horizont der Rechts- und Staatsphilosophie gestellt hat. In der Auseinandersetzung mit der Frage, wie mit der Theodizeefrage hätte umgegangen werden müssen, kommt also indirekt Cassirers eigene grundsätzliche Position bezüglich des Verhältnisses von Aufklärung und Skeptizismus sehr schön zum Ausdruck: Eine Aufklärung kann nur gelingen, wo sie sich vom Skeptizismus zwar anregen, aber nicht beirren lässt. Wenn sie es hingegen nicht schafft, skeptische Einwände auf ihre philosophische Problemstellung hin zu durchdringen und sie dadurch mit der Selbstbestimmung der Vernunft in Verbindung zu bringen, kann sie der Beunruhigung, die von ihnen ausgeht, nur wenig entgegenhalten.

5. Fazit: Die prinzipielle Nachträglichkeit von Philosophie und Aufklärung Der übergreifende Prozeß, von dem Cassirer die Idee der Aufklärung zu bestimmen versucht, hat einen klaren Zielpunkt: die Entdeckung der Autonomie der Vernunft. Über diesen Zielpunkt selbst läßt sich Cassirer nicht ausführlicher aus, doch laufen die leitenden Linien in ihm zusammen. Im Kontext der Wissensbegründung ist vor allem die disziplinäre Binnendifferenzierung des Wissens bei gleichzeitiger Wahrung des Anspruchs auf eine Einheit der Vernunft von Bedeutung. Die Vernunft wird wissenschaftlich. Auf der Ebene der Alltagserkenntnis kommt ein neuartiger Idealismus zum Tragen, der auch anderen Vermögen als der reinen Erkenntnis Spontaneität zumutet. Die Vernunft wird anthropologisch. Der Begriff des geschichtlichen Individuums stellt vor das Problem einer neuartigen Vermittlung zwischen Gesetzlichkeit und Zufälligkeit. Geschichtliche Allgemeinheit kann nur in der Kontinuität und nicht in der logischen Notwendigkeit angesetzt werden. Die Vernunft wird in gewisser Weise partikulär. In all diesen Tendenzen zeigt sich eine eigentümliche Dialektik: Das autonome Selbstverständnis der Vernunft wird durch eine grundsätzliche Selbstbescheidung der Erkenntnis gewonnen, umgekehrt scheint sie dazu aber nur im Wissen um die ursprüngliche Spontaneität des Geistes fähig zu sein. Dabei muß der Begriff des Geistes als weiter veranschlagt werden als derjenige der Vernunft. Die Vorbereitung einer philosophischen Selbstkritik der Vernunft und die Anerkennung der Spontaneität alles Geistigen sind miteinander unmittelbar verbunden. Der in Cassirers Aufklärung zur Entdeckung gebrachte Vernunftbegriff schließt somit die beiden Momente kurz: Er kennzeichnet einerseits ein kritisches Selbst-

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verhältnis, spricht aber andererseits auch die Angewiesenheit der Vernunft auf den spontanen Vollzug aller geistigen Kräfte deutlich aus. Die Vernunft ist in der Aufklärung gerade da am Werk, wo sie den diversen Anfängen freien Lauf läßt und sich in ihnen zu erkennen sucht. Daß Cassirer der Aufklärung Originalität abspricht, hat damit zu tun, daß sie sich als Entdeckung anderer Ursprünge vollzieht. Was heißt das für die Philosophie? Sowohl in historischer wie in systematischer Hinsicht, erweist sich die Philosophie prinzipiell als ein nachträgliches Phänomen. Historisch ist sie insofern nachträglich, als sich das dezidiert philosophische Selbstverständnis der Aufklärung ausgerechnet in der Rezeption früherer Ursprünge artikuliert. Vor diesem Hintergrund erscheint beispielsweise die starke Gewichtung der Leibniz-Rezeption, aber auch die Bedeutsamkeit der Renaissance und die zentrale Rolle der Ästhetik Shaftesburys in neuem Licht. Systematisch nachträglich ist die Philosophie in dem Sinne, daß die Vernunft in dem Moment, wo sie sich darauf einläßt, die genuine Spontaneität des Geistigen anzuerkennen, ihre eigene Disziplin nur mehr als eine Wissenschaft des historischen Geistes verstehen kann. Cassirer spricht also im Grunde genommen nicht nur der Aufklärung, sondern auch der Philosophie selbst »schlechthin originale Gedankenmotive« ab. Damit scheint er einerseits an seine frühere Auffassung anzuschließen, nach der der Philosophie keine eigene Symbolform zugestanden werden kann. Umgekehrt ist aber die Bindung der Philosophie an die Form nicht einfach eliminiert. Im Gegenteil, sie erweist sich gerade in der Problematisierung der Form als virulent. Indem sich die Philosophie der Dialektik des Formbegriffs annimmt, gewinnt sie ein reflexives Verhältnis zur Form und zur Formung, doch da ihr in diesem Moment auch die formende Kraft der Geschichte aufgeht, erkennt sie gleichursprünglich auch die eigene Bedingtheit durch die Form. Genau um diesen Zusammenhang zwischen der Einsicht in die Dialektik der Form und jener in die formende Kraft der Geschichte geht es Cassirer auch in seiner Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie: Nicht die von ihr herausgestellte Dialektik der Form selbst fordert ihn heraus, sondern die darin zum Ausdruck kommende Sehnsucht nach urtümlichem Erleben, der auch die Lebensphilosophie selber anhängt. Cassirer setzt dieser Sehnsucht einerseits einen immer schon aus dem historischen Bewußtsein entsprungenen Philosophiebegriff entgegen, andererseits weist er die Spontaneität des Geistes als Bedingung alles Erlebens auf. Auf diese Spontaneität muß sich auch die Philosophie in ihrer prinzipiellen Nachträglichkeit beziehen, nicht auf einen reinen Ursprung jenseits der Form.

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Die Anliegen von Aufklärung und Philosophie haben so gesehen einen gemeinsamen Nenner: Es geht in beiden um den gleichzeitig historischen wie symboltheoretisch unumgänglichen Abschied von der prima philosophia.

Gunter Scholtz Dilthey, Cassirer und die Geschichtsphilosophie I. Was wir Geschichtsphilosophie nennen, ist dem Wort und der Sache nach wesentlich ein Produkt des 18. Jahrhunderts. Als strittig kann nur angesehen werden, ob die Wurzeln dieser neuen philosophischen Disziplin nicht älter sind und wo sie liegen. Aber daß erst die Aufklärung im Gegenzug zur Geschichtstheologie eine philosophische Betrachtung der Geschichte und gleichzeitig mit ihr auch den Begriff der einen, objektiven Geschichte als universalem Zusammenhang und als Prozeß – nicht mehr als Inbegriff historischer Erzählungen – hervorbrachte, darüber gibt heute fast jedes Handbuch Auskunft. Zugleich mit dieser Geschichtsphilosophie entstand im 18. Jahrhundert auch Geschichtswissenschaft. Ihr Verhältnis zur Geschichtsphilosophie war nicht brisant, und es herrschten fließende Übergänge. Denn die Repräsentanten der aufklärerischen Geschichtsphilosophie wie Voltaire, Iselin und Turgot machten sich möglichst gesicherte historische Kenntnisse zunutze und ermunterten, überhaupt nur solche Kenntnisse als Basis der Geschichtsphilosophie gelten zu lassen. Umgekehrt benutzte die Geschichtswissenschaft oft geschichtsphilosophische Deutungsperspektiven, wie den Fortschrittsgedanken, und diente denselben Zielen wie die Geschichtsphilosophie, nämlich dem Menschen seine Geschichte verständlich zu machen und ihm Orientierungen in der von ihm hervorgebrachten eigenen Welt zu geben. In dieser Weise konnten Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft ineinandergreifen oder sich ergänzen. Mit der materialen Geschichtsphilosophie, wie sie die Aufklärung begründete, hat die Philosophie im 20. Jahrhundert bekanntlich ihre Schwierigkeiten bekommen,1 und so wurde Geschichtsphilosophie zur »großen Erzählung« heruntergestuft und deren Ende proklamiert.2 Nicht eine Philosophie der einen Geschichte der Menschheit, sondern die vielen Erzählungen von divergenten Begebenheiten, vom Tun und Leiden einzelner Menschen und Gruppen gewannen an Interesse, auch für die Philosophie. Geschichtsphilosophie verwandelte sich so in die Analyse der historischen Erzählungen oder in die Theorie der GeschichtswisOdo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt / M. 1973. 2 Jean-François Lyotard, La condition postmoderne (1982), dt. Ausg.: Das postmoderne Wissen, Wien 1986. 1

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senschaft, in »formale Geschichtsphilosophie«, wie man am Beginn des 20. Jahrhunderts sagte. Das Interesse an Dilthey und Cassirer, das nach dem Ende jener großen Erzählungen – genauer: der marxistischen Geschichtsphilosophie – im Wachsen begriffen ist, korreliert mit dieser Tendenz. Dilthey und Cassirer entwarfen beide keine materiale Geschichtsphilosophie, betonten beide die Pluralität und die Divergenzen in der geschichtlichen Wirklichkeit, interessierten sich beide – vom Kantianismus geprägt – für das Problem historischer Erkenntnis, und beide konnten als »Hermeneutiker« bezeichnet werden; und dies mit einem gewissen Recht schon deshalb, weil für sie die Kultursysteme (Dilthey) bzw. die symbolischen Formen (Cassirer) jeweils eine bestimmte »Auslegung« oder »Interpretation« der Welt lieferten. Deshalb fungieren beide Autoren heute als Berufungsinstanzen und Autoritäten für die Abwendung von der Geschichtsphilosophie. Dennoch bewiesen beide – dies meine These – gerade die Unvermeidlichkeit der Geschichtsphilosophie, und sie arbeiteten auch an einer solchen, freilich nicht im Sinne von Fichte oder Marx.

II. 1. Warum Dilthey nicht als Geschichtsphilosoph gilt, wird schon und besonders durch sein Hauptwerk deutlich. Denn in der Einleitung in die Geisteswissenschaften hat er die Geschichtsphilosophie einer temperamentvollen Kritik unterzogen. Es lohnt sich, seine Argumentation kurz in Erinnerung zu rufen. Geschichtsphilosophie ist für Dilthey eine Disziplin, die (1.) das geschichtliche Ganze als Einheit zu erkennen sucht, die deshalb (2.) den geschichtlichen Verlauf und die Veränderungen mit einer Formel begreifen und auf ein einziges Prinzip zurückführen will und die (3.) den Sinn der Geschichte, d. h. den Wert und das Ziel des geschichtlichen Verlaufs artikulieren möchte.3 All das ist für Dilthey nicht möglich. Da wir die historische Realität nur durch den Spiegel der verschiedenen historischen Wissenschaften vermittelt bekommen, diese sich aber wachsend differenzieren, erhalten wir zwar immer genauere Teilperspektiven, aber jene Einheit der Geschichte bleibt uns wissenschaftlich unzugänglich. Sie hat in der Geschichtsphilosophie den Charakter einer metaphysischen Abstraktion, die vorausgesetzt und durch die Forschung eher widerlegt als bestätigt wird.4 Und was sich als Sinn, d. h. als Wert und Ziel der Geschichte Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), Gesammelte Schriften, Bd. 1, Leipzig / Berlin 1922, S. 93, 95 f. 4 Ebd., S. 95. 3

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darstellt, enthüllt sich als bloße Projektion, nämlich als »Reflex unseres eigenen belebten Inneren«. Der Begriff des Fortschritts hat z. B. letztlich seine Wurzeln »in der Selbsterfahrung unseres ringenden Willens, unserer Lebensarbeit und des frohen Bewußtseins von Energie in ihr«5 – keineswegs ist er das Ergebnis historischer Wissenschaften. Diese psychologische Destruktion der Geschichtsphilosophie wird von Dilthey durch eine historische ergänzt, durch eine Genealogie in Nietzsches Sinn: Die im 18. Jahrhundert entstehende Geschichtsphilosophie ist – wie später Karl Löwith ausführen wird – nichts anderes als eine »Transformation« oder Säkularisation der älteren Geschichtstheologie; Turgot hat Bossuets theologische »Philosophie der Geschichte säkularisiert«.6 Was im Rahmen der Geschichtstheologie durch den Gedanken des Erziehungsplans Gottes noch plausibel war – die Rede von Ursprung, Ziel und Einheit der Geschichte –, wird in der Geschichtsphilosophie, die einen Wissenschaftsanspruch stellt, zur Aporie: Nur mit Hilfe einer »abstrakten Wesenheit« wie der allgemeinen »Vernunft« oder dem »Geist« oder der »Gesellschaft« gelingt es ihr, ein »Subjekt« und die Einheit der Geschichte zu suggerieren.7 Deshalb findet von den Geschichtsphilosophen nur Herder vor Diltheys Augen Gnade. Zwar heißt es einerseits, Herder sei »mit seiner Allgemeinvorstellung der Humanität niemals über das verworrene Bewußtsein [ des ] Reichtums des Menschendaseins, dieser Fülle seiner freudigen Entfaltungen hinausgegangen«,8 aber dann erscheint er bei Dilthey doch als Gipfel des Geschichtsdenkens im 18. Jahrhundert. Denn Herder habe keine »Formel über den Sinn der Geschichte« aufgestellt, sondern eine »Kombination der positiven Wissenschaften in philosophischem, d. h. zusammenfassenden Geiste« angestrebt, und dies sei seine »große und bleibende Leistung« gewesen.9 Hier zeigt sich, was für Dilthey an die Stelle der Geschichtsphilosophie treten soll oder was für ihn selbst der Begriff sinnvollerweise nur bedeuten kann: »Spricht man von einer Philosophie der Geschichte, so kann sie nur historische Forschung in philosophischer Absicht und mit philosophischen Hilfsmitteln sein.«10 Fragen wir, wie dies Programm realisiert werden soll, so erhalten wir folgende Antwort: Wir benötigen als Basis eine Theorie des Menschen, d. h. Anthropologie, und auf diese aufbauend Ethnologie und schließlich

5 6 7 8 9 10

Ebd., S. 97. Ebd., S. 99. Ebd., S. 104. Ebd., S. 97. Ebd., S. 102. Ebd., S. 92, vgl. 94.

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die einzelnen Kultur- und Sozialwissenschaften11 – erst diese Disziplinen gemeinsam sind unterwegs, eine Erkenntnis der ganzen Geschichte zu erarbeiten. Während also Dilthey einerseits die Differenzierung der Einzelwissenschaften feststellt, fordert er andererseits ihre Integration zur »fortschreitenden Geschichtswissenschaft«, die sich sukzessiv dem Ganzen der Geschichte annähert.12 Diese Integration aber wird wesentlich – oder gänzlich – durch die philosophische Reflexion, durch »Selbstbesinnung« zuwege gebracht. Historische Analyse und philosophische Selbstbesinnung sollen also gemeinsam das verwirklichen, was als rationaler Kern von Geschichtsphilosophie gelten kann.13 Wir lassen die bemerkenswerte Tatsache außer acht, daß Dilthey – der angeblich als Hermeneutiker die Geisteswissenschaften ganz auf das »Verstehen« gründete – mit seiner Geschichtswissenschaft oder -philosophie auch auf Erklärungen, Kausalitäten und Gesetze hinauswill und halten nur eine Schwierigkeit von Diltheys Stellungnahme fest: Es ist sehr einleuchtend, wenn die große Bedeutung der historischen Einzelwissenschaften betont wird; keine materiale Geschichtsphilosophie kann auf diese ganz verzichten, und z.B. die Hegelsche hat das auch nicht getan. Aber worin die »philosophische Absicht« und die »philosophischen Hilfsmittel« bestehen und wie sie begründet werden, darüber erfahren wir wenig. Deutlich wird nur, daß in der »Zusammenfassung« das legitime Bestreben der philosophischen Selbstbesinnung besteht, aber es bleibt offen, wie ohne Hinblick auf ein verbindendes Prinzip diese Tendenz realisierbar ist. Da die Basis aller historischen Analyse und Forschung die Theorie des Menschen liefern soll, dürfen wir vermuten, daß Dilthey auch im Menschen letztlich den Ursprung und das Prinzip der Geschichte sieht. 2. Aufgefordert, für Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie eine Darstellung seiner philosophischen Position zu verfassen, wiederholt Dilthey darin seine Kritik der Geschichtsphilosophie und schreibt, sie sei unmöglich. Als er seinem Freund Paul Yorck von Wartenburg sein Exposé zur Einsicht gibt, erhebt dieser Einspruch: »Daß sie [ die Geschichtsphilosophie ] möglich ist und in wie fern haben Sie selbst ja durch die That dargetan.« Daraufhin korrigiert Dilthey seine Aussage: eine »abgesonderte Philosophie der Geschichte« sei nicht möglich.14 Tatsächlich hat schon die Geschichte der Geisteswissenschaften, die den größten Teil seines ersten (und einzig fertiggestellten) Bandes der EinleiEbd., S. 94f, 111. Ebd., S. 94. 13 Ebd., bes. S. 95, 98. 14 Siehe die Anmerkungen zu Diltheys »Übersicht meines Systems«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Stuttgart / Göttingen 41968, S. 264. Briefwechsel zwischen 11

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tung füllt, einen stark geschichtsphilosophischen Charakter. Wenngleich Wissenschaftsgeschichte, kann man an dieser erkennen, was Dilthey mit »historischer Forschung in philosophischer Absicht und mit philosophischen Hilfsmitteln« meint. Fast alle Elemente, die er an der Geschichtsphilosophie kritisiert, sind in seiner Darstellung nachweisbar. a) Das Ganze. Dilthey intendiert, die ganze Geschichte dieser Wissenschaften darzustellen, und er tut es wie die Geschichtsphilosophen: Indem er nicht alles, was überhaupt historisch gewußt wird, in seine Darstellung aufnimmt, sondern auf die für eine Epoche typischen Gemeinsamkeiten, auf die gemeinsamen Voraussetzungen und Grundzüge abhebt, will er doch insgesamt den Übergang der Geisteswissenschaften vom Stadium der Metaphysik in das der positiven Erfahrungswissenschaften zeigen. Wendet man ein, die Wissenschaft sei nur ein Teilbezirk der Geschichte, nicht diese insgesamt, so muß man doch sehen, daß Dilthey auch die anderen Kultursysteme, wie er sie nennt, im Blick hat und daß er vor Augen führen möchte, wie nur durch einen Differenzierungsprozeß sich Wissenschaft als eigener »Zweckzusammenhang« herausbildete. Sodann werden wir nicht im Zweifel gelassen, daß wir in der Wissenschaft das dominante Kultursystem der modernen Gesellschaft zu sehen haben, während z. B. in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten noch die Religion die »große Angelegenheit der Menschheit« war.15 Wissenschaftsgeschichte also ist durchaus Geschichte der Menschheit, ganz analog zur älteren Geschichtsphilosophie. Von der Metaphysik kann Dilthey deshalb sagen, sie sei ein »notwendiges Stadium in der geistigen Entwicklung der europäischen Völker« gewesen, und von ihrer Verabschiedung als Grundlage der Geisteswissenschaften kann es heißen, es habe »die Menschheit selber diesen Gang genommen«.16 b) Zusammenhang und Einheit. Zwar wird ausdrücklich zurückgewiesen, es gehe die Wissenschaft auf einen Allgemeinwillen und auf ein einziges Subjekt zurück. Aber aus der »Zwecktätigkeit« des Erkennens der Einzelnen erwächst laut Dilthey durch Weitergabe eine »stetige Fortentwicklung« des Wissens. Wenngleich vielfältige externe Determinanten in die Wissenschaftsentwicklung eingreifen, so zeigt doch »die Geschichte des wissenschaftlichen Geistes« eine »folgerichtige Einheit«. Erkenntnistheorie und Logik sind bestrebt, »das Verhältnis der Elemente in diesem vernünftigen Zusammenhang des im Menschengeschlecht sich vollziehenden Erkenntnisprozesses zueinander« aufzuweisen, sie suchen in diesem »über das Individuum hinausreichenden Zusammenhang [ . . . ] Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck v. Wartenburg 1877–1897, Halle / S. 1923, S. 223 (Graf Yorck an Dilthey, 22. 8. 1896). 15 Dilthey, Einleitung, S. 253. 16 Ebd., S. 126.

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Notwendigkeit, Gleichförmigkeit und Gesetz,«17 und so gehen sie keinesfalls davon aus, Wissenschaftsgeschichte sei eine Abfolge ganz zufälliger, isolierter Erkenntnisse. Worauf Dilthey abzielt, ist also keineswegs Historia im alten Sinne, Sammlung von Tatsachen, sondern der Aufweis der kontinuierlich fortgehenden Arbeit des wissenschaftlichen Geistes, der nun trotz Metaphysikkritik wiederholt auch »Geist« genannt wird. Allerdings scheint mir die Frage berechtigt, ob Dilthey bei diesem Begriff nicht mehr an A. Comtes Rede über den Geist des Positivismus als an Hegels Philosophie des Geistes denkt. c) Fortschritt. Allerdings ist bei Dilthey Geschichte nicht nur Geschichte dieses Geistes. Vielmehr denkt er Geschichte als »Differenzierungsprozeß«, und zwar der »Seele« oder der »Menschennatur« einerseits und der Kultur und Gesellschaft andererseits. Gründete die Religion noch »in der Totalität aller Gemütskräfte«, so werden im Geschichtsprozeß Poesie, Metaphysik und Wissenschaft zu »relativ selbständigen Formen« des »geistigen Lebens« ausdifferenziert:18 die Kunst wurzelt später in Gefühl und Phantasie, die Wissenschaft im Intellekt.19 Mit der Ausdifferenzierung der Kultursysteme vollzieht sich also auch eine solche der seelischen Kräfte, und die Differenzierung der »äußeren Organisation der Gesellschaft« verläuft parallel dazu.20 Diese Differenzierung ist für Dilthey eindeutig ein Fortschritt. Befand sich das »geschichtliche Leben« im Mittelalter »noch auf einer niederen Stufe von Differenzierung«, so haben sich in der Moderne Kunst, Recht und Wissenschaft von ihrer Grundlage, von der »Totalität der Menschennatur« abgelöst, sich eigene Sphären geschaffen, und dadurch hat die Kultur »eine höhere Stufe der Entwicklung« erreicht. Erst durch diese Verselbständigung ist auch Wissenschaft i. e. S. möglich geworden.21 Allenthalben erfahren wir, daß die Wissenschaften Fortschritte machten und neue Stadien oder Stufen erreichten22 – ein Fortschritt, den Dilthey keineswegs als Übertragung unseres Inneren auf die Geschichte, nicht als Projektion beschreibt, sondern der für ihn eine gesicherte Tatsache ist. d) Ziel und Zweck. Wer von Fortschritt spricht, hat sich damit auch über Ziele und Zwecke der Geschichte geäußert. Dilthey tut es unverhohlen. Denn seine Geschichte der Geisteswissenschaften führt den historischen Nachweis, daß diese Wissenschaften ihre alte Basis, die Metaphysik, als »Jugendtraum« aufgeben und zu Erfahrungswissenschaften 17 18 19 20 21 22

Ebd., S. 128. Ebd., S. 137. Ebd., S. 352. Ebd., S. 332 f. Ebd., S. 333, 354, 352. Z. B. ebd., S. 124, 150.

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von der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt werden mußten. Dies Ziel wird laut Dilthey in seiner Zeit allgemein anerkannt: »Denn dies ist die gewaltige Seele der gegenwärtigen Wissenschaft: ein unersättliches Verlangen nach Realität [ . . . ]«.23 Parallel mit der Entstehung der positiven Einzelwissenschaft entwickelt sich für Dilthey die »Selbstbesinnung«, d. h. vor allem Erkenntnistheorie und Psychologie, die den Zusammenhang der Wissenschaften und den Zusammenhang von Wissenschaft und Leben reflektieren. Und so zielt die »intellektuelle Entwicklung der Menschheit« auf die Erkenntnis der Welt und ihrer selbst. Dieses Erkenntniswachstum hat auch eine praktische Seite. Ähnlich wie bei Hegel der Geist tut, was er weiß, so können und sollen bei Dilthey die Geisteswissenschaften auch die Mittel bereitstellen, um »in den Gang der menschlichen Gesellschaft einzugreifen«, und sie sollen die »Leitung der Gesellschaft übernehmen«.24 Sodann ist der fortgehende Differenzierungsprozeß auch ein Freiheitsgewinn, denn die einzelnen Kräfte des Menschen – in der älteren, homogenen Kultur noch gebunden – können sich frei entfalten: »die Seele wird Herrin ihrer Kräfte, einem Mann zu vergleichen, der gelernt hat, jede Bewegung der Glieder unabhängig von den Bewegungen der anderen auszuführen«.25 Es ergibt sich z. B. erst mit und durch die selbständige Kunst eine eigene Kultur des Gefühls und der Phantasie. Deshalb läßt sich durchaus sagen, daß für Dilthey Ziel und Sinn der Geschichte im Wachstum von Erkenntnis und Freiheit bestehen. Wie sehr er die Geschichte teleologisch, von einem Ziel her denkt, wird besonders deutlich dort, wo er gleichsam als rückwärtsgewandter Prophet in der Vergangenheit die Keime der Zukunft erkennt. So heißt es, schon das Mittelalter habe eine Zukunft vorbereitet, »in der bei innerer Freiheit des Seelenlebens die Differenzierung und äußere Gliederung der einzelnen Zweckzusammenhänge durchgeführt werden kann: eine Zukunft, die auch wir heute nur in unsicheren Umrissen erblicken.«26 e) Prinzip und Formel. Aus dem, was zum Differenzierungsprozeß gesagt wurde, folgt schon, daß Dilthey auch ein Prinzip kennt, nämlich jene »Totalität der Menschennatur«, deren Kräfte freigesetzt werden. Daran kann man ablesen, was sich bei ihm als »Bildungsgesetz« abzeichnet, in dem er den »Schlußpunkt« seines historischen Unternehmens erblickt27: Es ist dies jene Differenzierung einer Einheit, der Menschennatur, und der Weg zu Integrationsversuchen. Denn so sehr Differenzierung für Dilthey ein Fortschritt ist, so sehr zielt er auf eine Vereinbarkeit oder 23 24 25 26 27

Ebd., S. 123. Ebd., S. 123, 378. Ebd., S. 352, 354. Ebd., S. 273. Ebd., S. 128.

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sogar Verbindung der verselbständigten Kräfte und Sphären ab. Dilthey begrüßt, wenn der moderne Mensch positive Einzelwissenschaft, Erkenntnistheorie und Religion verbinden kann.28 Durch einen Vergleich mit der mittelalterlichen Metaphysik wird deutlich, wie dies erst in der Moderne möglich wurde. Dilthey begreift die Entstehung jener Metaphysik in der Einleitung aus der Verbindung zweier heterogener Traditionen, nämlich aus »der moralisch-religiösen Weltordnung« von Judentum und Christentum einerseits und der Erkenntnis des »Zusammenhangs der Natur« in der griechischen Philosophie andererseits; jene gründete in der »inneren Erfahrung«, diese im »Vorstellen«.29 Wenig später hat Dilthey diese Zuordnung von psychischen Vermögen und historischen Epochen noch weiter ausgeführt. Analog zu seiner Psychologie, in der er Fühlen, Vorstellen und Wollen unterscheidet, sieht er am Beginn der Zivilisation zuerst die Religion, später in der griechischen Antike das »ästhetisch-wissenschaftliche Verhalten« und im römischen Reich dann die »Willensherrschaft«, das juridische und utilitaristische Verhalten, entstehen: aus diesen Quellen speist sich die mittelalterliche Metaphysik.30 Erwarten wir, daß diese Verbindung eine höhere Synthese hervorbrachte, welche die verschiedenen Kräfte der Seele harmonisch zusammenwirken ließ, so belehrt uns Dilthey eines anderen: Jene verschiedenen Überlieferungsstränge brachten in die mittelalterliche Metaphysik ein solches Potential an Widersprüchen, daß sie daran zerbrach.31 Der Grund: Jene Verbindung oder Integration der divergenten Traditionen und seelischen Kräfte sollte in der Sphäre eines konsistenten gedanklichen Systems erfolgen. Die Moderne hat das als Illusion, als »Jugendtraum«, einsehen gelernt. Sie weist nun die Religion dem Gefühl und die Wissenschaft dem Verstand zu und erreicht gerade durch Differenzierung und Funktionsteilung eine Vereinbarkeit der verschiedenen Kultursysteme. Allerdings ergibt sich daraus für Dilthey keineswegs schon das Bild einer konfliktfreien, mit sich versöhnten Gegenwartskultur. Denn die älteren Schichten, Religion und Metaphysik, bleiben – anders als in Comtes Drei-Stadien-Gesetz – erhalten; das mittelalterliche Denken ist »heute noch der Untergrund unserer volksmäßigen und religiösen Metaphysik.«32 Mit dieser ist auch jenes Potential an Spannungen erhalten geblieben, das Ebd., S. 272. Ebd. S. 317. 30 Dilthey, Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert (1891), in: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation (Gesammelte Schriften, Bd. 2), Leipzig / Berlin 1921, S. 1–16. 31 Ebd., S. 16 ff. Einleitung, S. 234, 272, 279, 317 ff., 330, 338 u. ö. 32 Dilthey, Auffassung und Analyse, S. 16. 28 29

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Dilthey später als unaufhebbaren Konflikt der Weltanschauungen in anderer Weise näher analysieren wird. Aber auch sein eigenes Denken hat den alten Gegensatz von »innerer Erfahrung« und »Vorstellung« nicht ganz getilgt, ist dieser Gegensatz doch in der Unterscheidung von Innewerden und Konstruktion, von verstehenden Geisteswissenschaften und erklärenden Naturwissenschaften noch deutlich sichtbar. Was sich als geschichtsphilosophische Diagnose der Moderne bei Dilthey abzeichnet, läßt sich so resümieren: Durch Differenzierung von Kultur, Gesellschaft und menschlicher Natur haben sich die Erfahrungswissenschaften – die Natur- und Geisteswissenschaften – als ein eigenes Kultursystem herausgebildet, das zwar andere Systeme zur Seite hat, dennoch aber so dominiert, daß es die Gesellschaft zu leiten berufen ist. Die Elemente seines Gedankens oder die »philosophischen Hilfsmittel«, mit denen er die Geschichte untersucht, sind durchaus der seit dem 18. Jahrhundert entstandenen Geschichtsphilosophie entnommen: die Vorstellung vom Fortschritt der Wissenschaften, wie sie z. B. schon das Geschichtsdenken von d’Alembert und Condorcet beherrschte; die These von der Entfaltung der menschlichen Kräfte, wie sie auch Kant als leitenden Grundsatz forderte; die Zuordnung von psychischen Kräften und historischen Epochen, wie sie Vico im Ansatz vornahm und Hegel ausführte; der Gedanke der »Aufhebung«, der gebrochenen Präsenz älterer Kulturformen, wie er sich besonders bei Hegel findet. Hat also Dilthey die Geschichtsphilosophie wirklich verabschiedet, oder hat er sie, bereichert durch Erkenntnisse, fortgeführt?

III. 1. Auf den ersten Blick scheint sich Ernst Cassirer für die Geschichtsphilosophie noch weniger als Dilthey zu interessieren. Am Schluß des Kapitels über »Geschichte« in seinem Essay on Man heißt es: »Geschichtsphilosophie im überlieferten Sinne dieses Begriffs ist eine systematischmetaphysische Theorie des Geschichtsprozesses selbst.«33 Eine Untersuchung der menschlichen Kultur, wie er sie in Angriff nehme, habe nichts mit solchen »spekulativen Fragen« zu tun. Anders als Dilthey sieht sich Cassirer nicht einmal mehr zu einer Kritik der Geschichtsphilosophie genötigt, da diese im 20. Jahrhundert noch mehr an Glaubwürdigkeit verloren hatte. Was Cassirer hingegen in jenem Essay als wichtig kurz skizziert, ist eine Theorie der Geschichtswissenschaft oder eine Logik Ernst Cassirer, An Essay on Man, New Haven 1944, dt. Ausg.: Was ist der Mensch? Versuch einer Philosophie der menschlichen Kultur, Stuttgart 1960, S. 261 f. 33

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des historischen Erkennens. Seine Ausführungen zeigen große Nähe zur Position Diltheys. Denn auch Cassirer weist den historischen Positivismus und Determinismus und mit ihnen alle abstrakten Formeln zurück,34 behauptet aber ebenfalls die (partielle) Geltung der Kausalitätskategorie auch im Gebiet der Geschichte.35 Auch für ihn sind historische Tatsachen von anderer Art als die der Natur, und deshalb finden wir auch andere Methoden in der Geschichtswissenschaft. Diese muß mit Hilfe von Sprachforschung und Philologie die Quellen erschließen,36 hat es also mit dem »symbolischen Universum« des Menschen zu tun, und deshalb ist ihre wichtigste historische Methode die Hermeneutik.37 Nicht nur die Quellen, auch die Taten und Täter müssen vom Historiker stets neu verstanden und gedeutet werden, und so ist Geschichtsschreibung ein »fortgehender Prozeß der Interpretation und Neuinterpretation« und historische Erinnerung ein »Neuvollzug in einem konstruktiven geistigen Akt«.38 Noch viel deutlicher als in Diltheys Einleitung kennzeichnet Cassirer hier die Historie als eine interpretierende oder hermeneutische Wissenschaft. Mit Dilthey erkennt er auch in Herder den eigentlichen Begründer des modernen Geschichtsdenkens. Dieser habe für die Aufgabe des Historikers bereits den klarsten Blick gehabt, daß es nämlich darauf ankomme, die »zerstreuten Reste der Vergangenheit zu einem Ganzen zusammenzufügen und ihnen auf diese Weise eine neue Gestalt zu geben«.39 Schon in Freiheit und Form hatte Cassirer dies näher erläutert, und zwar so, daß jetzt das Philosophische an Herders Zugriff viel deutlich heraustritt als bei Dilthey. Herder hat laut Cassirer mit Recht einerseits die »Abstraktionen« und »Konstruktionen« der aufklärerischen Fortschrittstheorien zurückgewiesen und auf die Vielstimmigkeit und Fülle der historischen Erscheinungen aufmerksam gemacht, aber andererseits auch Hamanns »Auflösung jeder Form« und den »Rückfall in das Chaos« vermieden.40 Vielmehr habe er die »eigene Begriffsform« des historischen Erkennens entdeckt, nämlich – in Anknüpfung an Leibniz – die Kategorien Individualität und Totalität.41 Historische Erkenntnis hat demnach ausgehend von Herder die Aufgabe, im Besonderen, Individuellen zugleich ein Allgemeines oder Ganzes sichtbar zu machen. »Durch jede Individualität Ebd., S. 253. Ebd., S. 245. 36 Ebd., S. 224 f. 37 Ebd., S. 247. 38 Ebd., S. 229, 234. 39 Ebd., S. 225. 40 Cassirer, Freiheit und Form, Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin ²1918, S. 186–188. 41 Ebd., S. 189 f. 34 35

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scheint eine bestimmte Totalität durch, die sie nicht verdunkelt, sondern die sie gleichsam von innen her um so heller erleuchtet.«42 Diese Individualitäten sind Einheiten, jedoch keine »Dingeinheiten«, sondern »Wirkenseinheiten«, und Herders »geschichtsphilosophische Betrachtung« sei darauf ausgerichtet gewesen, beständig neue Ausdrükke zu schaffen, »um den Zusammenschluß einzelner Wirkenszentren und Ansätze zu einer übergreifenden Einheit zu bezeichnen.«43 War es bei Dilthey noch problematisch, wenn er der Geschichtsphilosophie die Ausrichtung auf das Ganze und die Einheit der Geschichte streitig machte, aber dennoch Zusammenfassung und Synthese forderte, so hat Cassirer die geschichtsphilosophische Absicht, die ganze Geschichte – oder zumindest ganze Epochen oder Kulturen – erkennen zu wollen, für berechtigt erklärt. Und die Begründung, die er dafür bei Herder findet, ist nicht nur erkenntnistheoretisch, liegt nicht nur im Hinweis auf die leitenden Kategorien Individualität und Totalität, sondern sie ist zugleich ontologisch. Denn die historischen Gestaltungen sind bei Herder jeweils »das Ergebnis von innen her gestaltender Prinzipien«; geschichtliche »Form« ist nicht Aggregat, sondern »selbständiger Wirkungsmittelpunkt«.44 Das ist eine Kennzeichnung der Ansicht Herders – aber Cassirer hat sich von ihr nicht distanziert, sondern sie als Herders echte Entdeckung dargestellt. Herders Geschichtsphilosophie erscheint somit als die Form historischen Erkennens, an die es anzuknüpfen gilt, so daß historische Erkenntnis im skizzierten Sinne auch immer zugleich philosophisch sein muß. Schon in seinem Buch Die Philosophie der Aufklärung hatte Cassirer die große Leistung Herders unterstrichen. Seine Geschichtsphilosophie bezeichne den Höhepunkt der im 18. Jahrhundert einsetzenden »Eroberung der geschichtlichen Welt«, sie sei zugleich Überwindung der Aufklärung und ihre Transformation in eine vollkommenere Gestalt. Denn Herders Geschichtsdenken durchbreche »den Bann der bloß-analytischen Betrachtung, den Bann des Identitätsprinzips«: sie kenne keine identische Vernunft und keinen überhistorischen Maßstab mehr, sondern messe allen kulturellen Erscheinungen ihr eigenes Recht und ihre eigene Notwendigkeit zu: »Sie sind nicht voneinander abgesondert; sie sind nur im Ganzen und durch das Ganze; aber jede von ihnen ist auch dem Ganzen gleich unentbehrlich. In solcher durchgängigen Heterogenität konstituiert sich erst die wahre Einheit, die nur als Einheit eines Prozesses, nicht als Gleichheit eines Bestandes gedacht werden kann.«45 42 43 44 45

Ebd., S. 188. Ebd., S. 188. Ebd., S. 190. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen ²1932, S. 309.

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Wer so emphatisch Herders Blick auf die Einheit und das Ganze der Geschichte akzentuiert, wird selbst kaum ganz anders denken und Geschichtsphilosophie nur ablehnen können. Tatsächlich weiß sich Cassirer dem Herderschen Gedanken selbst verpflichtet. Im Vorwort jenes Werkes über die Aufklärungsphilosophie heißt es, er habe diese »in der Einheit ihres gedanklichen Ursprungs und ihres bestimmenden Prinzips darzustellen« versucht, und es gehöre deshalb das Buch in den Kontext eines »weiteren geschichtsphilosophischen Themas«, das ihm »von fern her« auch bei seinen philosophiehistorischen Werken über die Renaissancephilosophie und über den Platonismus in England vor Augen stand: nämlich das »geistige Gesamtgeschehen, kraft dessen der moderne philosophische Gedanke die Gewißheit von sich selbst, sein spezifisches Selbstgefühl und sein spezifisches Selbstbewußtsein errungen hat.«46 Philosophiegeschichte steht bei Cassirer im Dienst einer Geschichtsphilosophie, welche die »Phasen dieser großen Gesamtbewegung darzustellen und in ihrer Bedeutung zu würdigen« versucht – ein Projekt, das er auch als »Phänomenologie des philosophischen Geistes« bezeichnen kann.47 Die Methode, mit der er dies Ziel verfolgt, zeigt große Ähnlichkeit mit dem, was er bei Herder hervorhob. Denn Cassirer will nicht – wie er sagt – »bloße Ergebnisse feststellen und beschreiben, sondern statt dessen die gestaltenden Kräfte sichtbar machen [ . . . ], durch die sie, von innen her, geformt worden sind.«48 Solche Kräfte – so hatte er Leibniz interpretierend erläutert – verbinden jeweils Mannigfaltigkeit und Einheit, Bewegung und Ruhe, und deshalb ermöglichen sie, Geschichte nicht nur als Reihung von Tatsachen zu berichten, sondern Geschichte zu denken, als Einheit des Heterogenen und als Prozeß. Die Geschichtsschreibung der Philosophie verwandelt sich bei Cassirer also erklärtermaßen in Geschichtsphilosophie oder – mit Diltheys Worten – in historische Forschung in philosophischer Absicht; eine Form der Geschichtsphilosophie, die keine »metaphysisch-systematische Theorie« ist, sondern vom historischen Erkennen selbst gefordert ist und auch von ihm realisiert werden kann. 2. In dem erwähnten Essay on Man schreibt Cassirer, es müsse in aller geschichtlichen Veränderung auch ein »substantielles Element«, »eine identische Struktur der historischen Zusammenhänge«, eine formale »Strukturidentität« geben.49 Damit spielt er unüberhörbar auf sein Hauptwerk, auf die Philosophie der symbolischen Formen an. Diese 46 47 48 49

Ebd., S. VII f. Ebd., S. VIII f. Ebd., S. VIII. Cassirer, Was ist der Mensch?, S. 217.

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ist eindeutig ein systematisches Projekt, kein historisches, es erweitert Kants Vernunftkritik zu einer Kritik der Kultur und modifiziert nicht Hegels Philosophie der Weltgeschichte. Dennoch ist es berechtigt zu fragen, ob und inwiefern nicht diese Philosophie auch einen geschichtsphilosophischen Aspekt hat. Denn die symbolischen Formen sind zwar »Strukturidentitäten«, die jeweils eine bestimmte Funktion des Geistes erfüllen. Aber sie sind nicht statisch und unbewegt. Ihnen eignet vielmehr derselbe doppelte Charakter, den laut Cassirer die Kräfte bei Leibniz und Herder haben: sie verbinden Bewegung und Ruhe. Cassirer nennt die symbolische Form denn auch eine »Energie des Geistes«, und zwar diejenige, »durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.«50 Deshalb spricht er hier nicht nur von Form, sondern von Formung, nicht nur von Gestalt, sondern von Gestaltung; er will ein »Procedere«, eine »freie Aktivität des Geistes« aufweisen.51 Jedes geistige Gebiet, jede »Formwelt«, hat deshalb einerseits ihre Bestimmtheit und ihre Einheit durch die Funktion, die sie erfüllt. Sie zeigt andererseits aber auch eine Entwicklungsdynamik, »eine bestimmte Richtung des Aufbaus, eine Weise des Fortgangs von den elementaren Gestalten zu den komplexen Gestalten«.52 Dieser Fortgang hat sowohl eine erkenntnistheoretische als auch eine historische Perspektive. Denn da »das geistige Sein nicht anders als in der Form des Werdens angeschaut werden kann«, hat laut Cassirer die Philosophie des Geistes immer zugleich eine systematische und eine geschichtliche Dimension: »Die Zusammenschau, die Synopsis des Geistigen kann sich nirgends anders als an seiner Geschichte vollziehen.«53 Schon in seinem Vortrag von 1921 »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« hat er einen dreifachen Stufengang der Formenwelten beschrieben. (1.) Auf einer ersten »mimischen« Stufe schmiegt sich das Zeichen dem Bezeichneten an, so wie dies in der sinnlichen Anschauung gegeben ist. (2.) Auf der höheren, »analogischen« Stufe lockert sich das Verhältnis von Zeichen und Gegenstand, und es macht sich im Zeichen das Fühlen und Denken der Subjektivität Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, in: Wesen und Wirkung der Symbolbegriffs, Darmstadt 1983, S. 175. 51 Siehe z. B. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 91994, S. 310, 3. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 101994, S. VII, 16 f. 52 Cassirer, Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie (1927), in: Ernst W. Orth / John M. Krois (Hrsg.), Symbol, Technik, Sprache, Hamburg 1985, S. 8. 53 Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form, S. 171. 50

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bemerkbar. (3.) Auf der letzten Stufe, der »symbolischen« oder der der Bedeutung, hat das Zeichen sich von aller Gegenständlichkeit gelöst und einen »neuen geistigen Gehalt« gewonnen.54 Cassirer hat diese drei Stufen der Zeichenentwicklung am Beispiel der Sprache als die Stufen der Ausdrucksfunktion, der Darstellungsfunktion und der reinen Bedeutungsfunktion55 unterschieden. Cassirer hat seinen Grundgedanken also in etwas verschiedener Fassung vorgetragen, aber nie darüber Zweifel entstehen lassen, daß jene Stufung sich in der Geschichte der Symbolformen nachweisen läßt und auch als historische Stufung gedacht ist. Das zeigen seine Beispiele: Die zuerst onomatopoetische Sprache entwickelte sich zu einem differenzierten Symbolsystem für die Strukturierung der Erfahrungswirklichkeit und wurde schließlich in der Neuzeit zur logischen Kunstsprache mit rein gedanklichem Bedeutungsgehalt, zur mathesis universalis. Ähnliches gilt für die Erkenntnis: Der antike Sensualismus begriff die eidola, die Vorstellungsbilder, noch als stoffartige Partikel, Aristoteles dann die Form als »Species« sinnlicher Gegenstände, während schließlich für Kant die Kategorien nur in der reinen Vernunft gründen. Im Bereich der Physik erkannte noch Newton Raum, Zeit, Kraft und Materie an den Dingen, aber im 20. Jahrhundert konstruierte man schließlich eine reine Gedankenwelt. In allen Gebieten vollzieht sich eine Ablösung von der Sphäre der Anschauung und ein Übergang hin zum »freien Äther des reinen Gedankens«, ein »Fortschritt vom natürlichen Dasein zum geistigen Ausdruck.«56 a) Das Ganze. Kann man zweifeln, ob Cassirer alle symbolischen Formen zur Darstellung brachte – er nennt im Vorwort zur Phänomenologie der Erkenntnis diesen Band das »relative ›Ende‹«, das sein Gedanke erreicht habe57 –, so ist es doch in Anknüpfung an Hegels Phänomenologie des Geistes sein erklärtes Ziel, die »Totalität der geistigen Formen« zu durchschreiten und seiner Philosophie zu integrieren.58 Die symbolischen Formen bilden so sehr eine »systematische Einheit«, daß jede Vernichtung eines Gliedes den Bestand des Ganzen bedroht.59 Da Cassirer die systematische Betrachtung nicht von der historischen ablösen will, sondern beide sich korrelativ verhalten sollen, impliziert schon dieser Ansatz auch einen Blick auf die ganze Geschichte; freilich nicht auf die Geschichte als Summe der Ereignisse, sondern als Inbegriff Ebd., S. 178 ff. Cassirer, Das Symbolproblem, S. 11. Philosophie der symbolischen Formen, 1. Teil, Die Sprache, Darmstadt 101994. 56 Cassirer, Das Symbolproblem, S. 10. Der Begriff der symbolischen Form, S. 183. 57 Cassirer, Phänomenologie der Erkenntnis, S. VI. 58 Ebd., S. VI. 59 Cassirer, Das mythische Denken, S. VIII. 54 55

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aller Symbolformen, d. h. auf die Kultur- oder Geistesgeschichte. Wichtige »Ereignisse« sind in dieser nur die markanten Punkte, an denen die symbolischen Formen sich signifikant ändern, so wie z. B. das Werk über die Prinzipien der Mechanik von Heinrich Hertz im Rahmen der Physikgeschichte den Übergang von der »Abbildtheorie« zur »Symboltheorie« bezeichnet.60 b) Zusammenhang und Einheit. Es gehört zu den Grundvoraussetzungen dieser Philosophie, daß alle symbolischen Formen trotz ihres Gestaltwandels an ihre Funktion gebunden bleiben und so auch ihre Bestimmtheit nicht verlieren. Deshalb ist ihre Entwicklung einerseits kontinuierlich, die »Art und Richtung der Formung« bleibt erhalten; sogar die moderne Physik bewahrt methodische Kontinuität.61 Andererseits aber werden durch die Dynamik des Geistes die Symbolwelten so sehr umgestaltet, daß bestimmte Elemente »schlechthin vernichtet« werden und die Entwicklung ihre »Dialektik« zeigt.62 Weit mehr als in Diltheys Theorie der Kultursysteme haben bei Cassirer diese Formen eine starke Autarkie, sie folgen ihrem eigenen Entwicklungsgesetz, ihrer immanenten Teleologie, und außerkulturelle Determinanten aus Gesellschaft und Politik lenken sie nicht von ihrer Bewegungsrichtung ab. Da sie in einem systematischen Zusammenhang stehen, folgt aus ihrer Entwicklung natürlich auch der Zusammenhang der gesamten Kulturgeschichte. Das heißt aber nicht, daß auch die Weltgeschichte eine Einheit bildet; sondern nur, daß innerhalb bestimmter Kulturräume wie in Europa die symbolischen Formen sich gemeinsam fortentwickeln. Von einer Einheit der Weltgeschichte läßt sich nur insofern sprechen, als überall die symbolischen Formen die nämliche Richtung und Verknüpfung zeigen und es immer der Geist ist, der sich in ihnen manifestiert. c) Fortschritt. Jene Fortentwicklung der symbolischen Formen ist für Cassirer nicht ein Naturprozeß wie Wachstum und Verfall, sondern Fortschritt: Der Geist kann sich nur dadurch objektivieren und selbst erfassen, daß er bestimmte Gestaltungen zur Ausprägung bringt. Deshalb stellt sich auch bei Cassirer die Kultur als Differenzierungsprozeß dar. Die Phase der »Indifferenz« der symbolischen Formen bezeichnet das mythische Bewußtsein. »Keine dieser Formen besitzt von Anfang an ein selbständiges Sein und eine eigene klar abgegrenzte Gestalt; sondern jede tritt uns gleichsam verkleidet und eingehüllt in irgendeiner Gestalt des Mythos entgegen.« Die Anfänge aller kulturellen Formen gehen »auf eine Stufe zurück, in der sie alle noch in der unmittelbaren und unge60 61 62

Cassirer, Phänomenologie der Erkenntnis, S. 25. Ebd., S. 8, VII. Cassirer, Das mythische Denken, S. 281, 279.

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schiedenen Einheit des Bewußtseins ruhen«.63 Zu dieser Einheit gibt es laut Cassirer kein Zurück, vielmehr verteidigt er die Verselbständigung der Sphären. Philosophie und Wissenschaft kann es nur durch ihre Trennung vom Mythos geben, durch diese Abgrenzung erst werden sie eigene Symbolformen. Allerdings stellt sich die Frage, ob Cassirer nur die Ausdifferenzierung der kulturellen Formen oder auch deren Abfolge behauptet. Gegen Hegel gewendet, möchte er nicht, daß – analog zur mythischen Indifferenz am Beginn der Geschichte – eine alles integrierende Wissenschaft am Ende der Geschichte tritt, vielmehr will er die Pluralität der Formen des Weltverstehens betonen. Andererseits aber sind z.B. Mythos, Religion und Kunst zwar jeweils eigene symbolische Formen, sie entstehen aber ganz offensichtlich in einem zeitlichen Nacheinander, und diese Abfolge hat den Charakter eines dialektischen Fortschrittsprozesses. Denn es sind Spannungen und Widersprüche, die zur Ausbildung jeweils neuer Formen treiben, wie wir besonders am Wandel des Bildbegriffs sehen: Während im Mythos noch das Bild die Sache selbst ist, d. h. deren magische Präsenz, treten in der Religion Bild und Bedeutung auseinander: das Bild wird als bloßes Bild gewußt; schließlich konstituiert sich in der ästhetischen Sphäre der Kunst eine reine Welt der Bilder, die nicht mehr Abbilder sind.64 Dieser Fortschritt zeigt neben inhaltlicher Kontinuität auch qualitative Sprünge. Wenn dem Mythos seine Bildwelt zu etwas »Äußerlichem« wird, muß er seine Form »sprengen«; die Religion macht dann das mythische Bewußtsein »zunichte«.65 Wie der Mythos schon in seiner eigenen Entwicklung Stufen in »scharfer Gegensätzlichkeit« ausbildet,66 so treten sich also auch die symbolischen Formen Mythos, Religion und Kunst als Gegensätze gegenüber, wenngleich sich inhaltlich Kontinuität zeigt (auch in Religion und Kunst treten mythische Bilder auf). Den Ausgleich zwischen dem Differenzierungs- und dem Fortschrittsmodell wird man in der These der Stufung oder Schichtung sehen müssen. So wie die Religion die mythischen Gestalten zu »einem Sein niederer Ordnung« herabsetzt, so werden Mythos und Sprache zum »Unterbau« des begrifflichen, diskursiven Erkennens erklärt.67 Ebd., S. IX. Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form, S. 188ff, Das mythische Denken, S. 285 ff. 65 Cassirer, Das mythische Denken, S. 282, 288. 66 Ebd., S. 281. 67 Ebd., S. 286, Phänomenologie der Erkenntnis, S. VII. – Auch im Hinblick auf die Konstitution des Raumes sind die symbolischen Formen Mythos, Sprache und Wissenschaft sowohl Stufen der Erkenntnis als auch der historischen Entwicklung, Phänomenologie der Erkenntnis, S. 495 f. 63 64

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d) Prinzip und Ziel. Daraus ergibt sich nun doch eine größere Nähe zu Hegel, als der Ansatz einer Kritik der Kultur vermuten läßt. Denn das Prinzip der Entwicklung ist nicht – wie bei Dilthey – der ganze Mensch, sondern der Geist; nur dieser vermag bedeutungsvolle Zeichen und so symbolische Formen zu schaffen, mögen diese dem Mythos oder der Wissenschaft angehören. Wie bei Hegel ist es auch das Telos des Geistes, zu seiner Selbsterkenntnis zu gelangen, und er kann dies nur durch die Phasen seiner Entäußerung und durch das erinnernde Begreifen seines Weges. Um was es sich bei den symbolischen Formen handelt – bei Sprache, Mythos, Religion, Wissenschaft usw. – sagen nicht diese Formen selbst, sondern erst die Philosophie. Die Philosophie der symbolischen Formen stellt sich deshalb bewußt in die Nachfolge von Hegels Phänomenologie des Geistes. Wie diese zeigt sie den Übergang von den »primären Gestaltungen« hin zur »reinen Erkenntnis«, zum reinen Äther des Gedankens.68 Hat auch Hegels Phänomenologie geschichtsphilosophischen Gehalt, so steht Cassirers Philosophie der symbolischen Formen einer materialen Geschichtsphilosophie noch näher. Cassirer beginnt nämlich nicht mit dem erkenntnistheoretischen Problem der sinnlichen Gewißheit, sondern – wie gezeigt – mit der historischen Gestalt des Mythos, und er findet die wichtigste Bestätigung für die These der Entwicklung des Geistes hin zum reinen Gedanken gerade in der Mathematik und Physik seiner Gegenwart, also nicht in der eigenen Philosophie, sondern in der letzten Phase der Wissenschaftsgeschichte. Auch Cassirers Philosophie der symbolischen Formen enthält also das, was fast alle materiale Geschichtsphilosophie auszeichnet und auch immer ihr wichtigstes Ziel war: eine Theorie oder Diagnose der Moderne und der eigenen Gegenwart. Bei Cassirer sind diese bestimmt durch die Tätigkeit des rastlos fortschreitenden Geistes, der Symbolwelten hervorbringt und dadurch erst Wirklichkeit erfaßt und zum Bewußtsein seiner selbst kommt – eine Gegenwart der differenzierten Kultur, in welcher die symbolischen Formen ihre dritte und höchste Stufe erreicht haben und eine eigene geistige Welt konstituieren. Die Wissenschaft erscheint darin als das dominante Symbolsystem, die Philosophie aber ist ihr noch darin überlegen, daß nur sie das gesamte »symbolische Universum« überblickt und in seiner Systematik und in seinem Werden begreifen kann.69 Cassirer, Phänomenologie der Erkenntnis, S. VI f. Das mythische Denken, S. IX f. Ich komme somit zu einem anderen Ergebnis als Enno Rudolph, Symbol und Geschichte, Cassirers Kritik der Geschichtsphilosophie, in: Heinz Dieter Kittsteiner (Hrsg.), Geschichtszeichen, Köln / Weimar / Wien 1999, S. 137–151. Das Grundproblem der neueren Abwendung von der Geschichtsphilosophie und der damit verbundenen Interpretationen von Dilthey und Cassirer scheint mir besonders darin zu liegen, daß man mit »Geschichtsphilosophie« stets Determinismus, Homogenisierung und 68 69

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IV. Die Geschichtsphilosophie bei Kant, Fichte, Schelling und Hegel hatte sich stets auf den politisch-rechtlichen Aspekt der menschlichen Welt konzentriert, und sie war dabei auch immer normativ ausgerichtet gewesen: Die in der Geschichte mehr oder weniger deutlich heraustretende praktische Vernunft sollte durch die begriffliche Erfassung in ihrem Dasein und Fortschritt auch gefördert werden. Andererseits aber war z. B. schon bei Vico, Voltaire und Herder die ganze Bandbreite der Kultur in den geschichtsphilosophischen Blick genommen worden, nicht nur der Bereich der praktischen Philosophie. Das hatte in das System Hegels eine augenfällige Schwierigkeit hineingetragen. Denn er verortet einerseits seine Philosophie der Weltgeschichte in der Rechts- und Staatsphilosophie, verknüpft sie also mit der Sphäre des »objektiven Geistes«.70 Andererseits aber wurden in seinen berühmten Vorlesungen zur Ästhetik, zur Philosophie der Religion und zur Geschichte der Philosophie auch alle drei Felder des »absoluten Geistes« geschichtsphilosophisch dargestellt, und so fragt sich, ob nicht Hegel unter dem Begriff der »Geschichtsphilosophie« sowohl den objektiven als auch den absoluten Geist hätte berücksichtigen müssen. Man kann die sich daraus ergebende Frage, was materiale Geschichtsphilosophie eigentlich ist oder sein soll, in unsere Sprache übersetzt wie folgt formulieren: Orientiert sie sich an der praktischen Philosophie und gibt einen Interpretationsrahmen für die politisch-soziale Geschichte, also einen Leitfaden für das, was wir gewöhnlich »Geschichtswissenschaft« nennen? Oder geht sie primär von einem Kulturbegriff aus und dient dem Verständnis und der Strukturierung der Kulturgeschichte? Oder tut sie beides? Dilthey konzentrierte sich auf Wissenschaft, Religion und Kunst, also auf das, was wir zumeist unter »Kultur« zusammenfassen, und er schrieb gelegentlich, man könne das System der Kunst und das der Wissenschaft in den Grundzügen entwickeln, ohne auf die äußere Organisation der Gesellschaft rekurrieren zu müssen.71 Dennoch zielen seine historischen Aufgabe des Individuellen assoziiert. Unter dieser Voraussetzung sind aber auch Vico und Herder keine Geschichtsphilosophen, ja nicht einmal Hegel, der doch in seiner Rechtsphilosophie darlegt, daß die Moderne z. B. ein Zeitalter der Differenzierung von Recht, Moral und Sittlichkeit ist. Es ist wegen des heute sehr einseitigen Begriffs von Geschichtsphilosophie sehr zu begrüßen, wenn man zumindest schüchtern fragt: »Ist eine Rehabilitierung von Geschichtsphilosophie möglich?« Siehe den »Schwerpunkt«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000) 1, S. 49–105. 70 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 341–360. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), §§ 548–552. 71 Dilthey, Einleitung, S. 58.

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Untersuchungen zumeist gerade darauf ab, die Entwicklungen von Kultur und Gesellschaft miteinander in Verbindung zu bringen. So gehört bei ihm z. B. zu den Bedingungen der modernen Wissenschaften die Auflösung der feudalen Ordnungen;72 und wo er über den Staat handelt, stellt er ihn in das Geflecht der Kultur- und Geistesgeschichte ein. Wenngleich ein Kritiker Comtes, will auch Dilthey die geistige und die organisatorische Entwicklung der Gesellschaft nicht getrennt wissen, nur wird jeweils von ihm abgewogen, wo das Band locker ist (wie in Kunst und Wissenschaft) und wo eine enge Koppelung stattfindet (wie im Recht).73 Allerdings schreibt er Geschichte ganz überwiegend als Wissenschaftstheoretiker, nicht als praktischer Philosoph, und das nicht nur in der Einleitung. Er weiß uns eindeutig zu sagen, wo die Geisteswissenschaften Fortschritte machten, weniger eindeutig aber, wo Recht und Politik fortschritten oder stagnierten; hat er doch eine Theorie der Geisteswissenschaften, aber keine praktische Philosophie ausgebildet. Diese wird tendenziell den Einzelwissenschaften übergeben. Eine Rechtsphilosophie sei nicht möglich, heißt es in der Einleitung, nur positive Rechtswissenschaft.74 Da er aber die Geisteswissenschaften nur als empirische Wissenschaften rechtfertigt, bleibt völlig offen, wie diese die »Leitung der Gesellschaft« übernehmen könnten. Dilthey hat zwar seiner Überzeugung Ausdruck gegeben, daß in der Geschichte »mitten in dem Zusammenhang einer objektiven Notwendigkeit, welcher Natur ist, Freiheit an unzähligen Punkten dieses Ganzen aufblitzt«,75 und es deutet sich bei ihm auch an – wie schon gezeigt –, daß mit der Entwicklung von Wissenschaft und Kultur auch ein Freiheitsgewinn verbunden ist. Aber die Begründung einer normativen Rechts- und Sozialphilosophie lag nicht in seiner Absicht. Vielmehr insistierte er darauf, daß »Sittenlehre« eine empirische Wissenschaft von einem bestimmten Kultursystem ist und es für den Vergleich solcher Systeme einen unermeßlichen Formenreichtum an gesellschaftlichen Organisationen gebe.76 Auch an Lorenz von Stein interessierte ihn nicht, daß dieser mit seiner Theorie des Sozialstaates sich den politischen und sozialen Herausforderungen stellte, sondern hob nur auf Steins Verbindung von Kultur und Staatswissenschaft ab.77 Erkennt man bei Dilthey Ansätze oder Reste einer materialen Geschichtsphilosophie, so muß man also hinzufügen, daß diese sich – anders als im deutschen Idealismus, aber auch anders als bei 72 73 74 75 76 77

Ebd., S. 351. Ebd., S. 59 ff. Ebd., S. 79. Ebd., S. 6. Ebd., S. 62ff, 75. Ebd., S. 85 f.

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Comte – von einer normativen Rechts-, Sozial- oder politischen Philosophie fast ganz abgelöst hat. Das ist bei Cassirer noch viel eindeutiger der Fall. Denn anders als bei Dilthey fragt sich, wie die Geschichte der Rechts- und Sozialsysteme überhaupt der Philosophie der symbolischen Form eingefügt und mit ihr verbunden werden könnte. Wenngleich Cassirer sich affirmativ auf Hegels Phänomenologie des Geistes bezieht, kann er offensichtlich all das, was dort breit über Moral und Sittlichkeit, Tugend und Recht, Gewissen und Freiheit ausgeführt ist, nicht in seine Kulturtheorie aufnehmen. Cassirers Ansatz zu einer Geschichtsphilosophie ist eindeutig im oben genannten Sinne eine Philosophie der Kulturgeschichte, und will man kritisch von »Kulturalismus« sprechen, dann findet man diesen bei Cassirer viel deutlicher als bei Dilthey. Dennoch ist – wie bei Hegel – auch bei Cassirer die Sphäre der Kultur nicht vom Zentrum der praktischen Philosophie und der politischen Geschichte ganz abgetrennt. Wie bei Hegel der absolute Geist, so nämlich ist auch bei Cassirer die Kultur unterwegs zu wachsender Freiheit. Diese Sichtweise wird u. a. deutlich an seinem Versuch, die Geschichtsphilosophien von Kant und Herder zu versöhnen. In seinem Kant-Buch von 1921 hebt er anerkennend hervor, daß es für Kant »Geschichte« im strengen Sinne des Begriffs nur dort gebe, wo wir die zeitliche Abfolge der Ereignisse »auf die ideelle Einheit eines ›Zieles‹ beziehen«; erst wenn wir einen »Sinn« und ein »Telos« voraussetzten, sei laut Kant Geschichte möglich, und diese sei deshalb eine Geschichte der Handlungen, nicht bloß der Ereignisse; »der Gedanke der Handlung aber schließt den Gedanken der Freiheit in sich«.78 Deshalb hat laut Cassirer Kant im Sinne der Aufklärung dem Gedanken Bahn gebrochen, daß Geschichte Entfaltung der Freiheit ist: »in dem Prozeß der Selbstbefreiung, in dem Fortschritt von der natürlichen Gebundenheit zum autonomen Bewußtsein des Geistes von sich selbst und seiner Aufgabe besteht das, was sich im geistigen Sinne als einzig wahrhaftes ›Geschehen‹ bezeichnen läßt.«79 Mit dem so formulierten Gedanken aber stimmt Cassirers Philosophie der symbolischen Formen sehr genau überein, zeigt sie doch überall, daß der Geist – sich selbst findend – ein eigenes Reich kultureller Formen aufbaut. Aber Cassirer gibt zugleich Kants Antipoden Herder recht, der für die Konstitution des Sinnes der Geschichte nicht »der abstrakten Einheit eines ethischen Postulats« bedurfte, sondern diesen Sinn jeweils in individuellen Gestaltungen der Kultur fand. Leider habe Kant sich Herders »großer Gesamtanschauung« verschlossen, jenen Blick auf die 78 79

Cassirer, Kants Leben und Lehre, Berlin 1921, S. 241 f. Ebd., S. 242 f.

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große Mannigfaltigkeit der historischen Erscheinungen, und er habe auch den methodischen Vorzug von Herders Betrachtungsweise nicht anerkennen können, daß sie nämlich »beständig von der Anschauung unmittelbar zum Begriff und vom Begriff zur Anschauung übergeht«.80 Auch diesen Gedanken hält Cassirer selbst fest, denn nirgends deduziert seine Philosophie der symbolischen Formen den notwendigen Gang der Geistesgeschichte, sondern zielt nur darauf ab, sie zu begreifen, zu denken, nicht nur als Abfolge kontingenter Ereignisse zu erzählen. Für Cassirer sind Kant und Herder Gegensätze: der »ethischen Weltsicht« Kants stehe scharf »die organische und dynamische Naturansicht« Herders gegenüber.81 Dennoch kann er an beide anschließen: Seine Philosophie der symbolischen Formen weiß mit Kant, daß sie jeweils ein Telos voraussetzen muß; aber sie anerkennt mit Herder, daß dies Telos jeweils erst in Auseinandersetzung mit der wirklichen Geschichte – im Wechsel zwischen Begriff und Anschauung – zur Klarheit kommen kann. Wir dürfen deshalb seinen Grundgedanken so zusammenfassen, daß Herders Geschichtsphilosophie wie seine Philosophie der symbolischen Formen noch immer dem Kantischen Projekt treu bleiben, indem auch sie letztlich »der fortschreitenden Vertiefung des Freiheitsgedankens« dienen.82 Dilthey hat nie seinen Gedanken aufgegeben, daß die Wissenschaften ihre metaphysische Basis verlassen und positive Erfahrungswissenschaften werden mußten. Aber er arbeitete später immer deutlicher heraus, daß mit diesem Fortschritt auch Verluste verbunden sind. Er erkennt in seiner Gegenwart »ein furchtbares Defizit an existierender christlicher Religiosität«,83 einen »Schmerz der Leere«, ein »Bewußtsein der Anarchie in allen tieferen Überzeugungen«, etwas »Tragisches« in allem Erkenntnisstreben,84 er sieht allenthalben in der Geschichte die »Korruptibilität« der menschlichen Verhältnisse,85 macht auf das »Rätsel« und die »Unergründlichkeit des Lebens« aufmerksam, das in den Weltanschauungen ganz unterschiedlich gedeutet wird, ohne daß zwischen ihnen Einigung möglich wäre.86 Mit dem Wachstum der Erfahrungswissenschaften wächst das Bewußtsein von deren Grenzen, und der Bereich des rational nicht Faßbaren wird größer – keine Verklärung des IrratioEbd., S. 244 f. Ebd., S. 244. 82 Ebd., S. 242. 83 Dilthey, Rechnungsabschluß der Gegenwart, in: Leben Schleiermachers (Gesammelte Schriften. Bd. 14 / 1), Göttingen 1966, S. 589. 84 Dilthey, Die Kultur der Gegenwart und die Philosophie, Gesammelte Schriften. Bd. 8, Weltanschauungslehre, Stuttgart / Göttingen 41962, S. 194. 85 Dilthey, Begriff der Philosophie, ebd., S. 140. 86 Ebd. 140f f. Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen, ebd., bes. S. 78 ff. 80 81

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nalen, sondern die resignierte Einsicht in die Grenzen der Erkenntnis. Anders als bei Kant sind bei Dilthey die Themen der Metaphysik nicht einmal mehr Vernunftpostulate, sondern sie sind nur noch Tatsachen der Philosophiegeschichte, in gleicher Weise wie auch die Begründung einer »Metaphysik der Sitten« für die Vernunft unmöglich wurde. Auch bei Cassirer wächst später die Einsicht in das Irrationale, aber es tritt ihm in ganz anderer Weise entgegen, nämlich als modernes Phänomen der Kultur, als Wiederkunft des Mythos mitten in der Sphäre des politischen Denkens. Durch den NS-Staat zur Emigration gezwungen, stellt er in The Myth of the State diese Diagnose, die sich in seiner Philosophie der symbolischen Formen noch nicht findet. Während in Wissenschaft und Technik der rationale Verstand siege, sei es in der Politik zur Regression in den Mythos und zur völligen und unwiderruflichen »Niederlage des rationalen Denkens« gekommen;87 und Cassirer weist nach, wie in der Staatsphilosophie des 17. Jahrhunderts alles Mystische und Mythische vertrieben und so rationale Politik möglich wurde, wie nach der französischen Revolution die Romantik dem Mythos wieder Interesse schenkte, der dann in den Krisenzeiten des 20. Jahrhunderts sich als Zuflucht und Heil empfahl und totalitäre Staatssysteme hervorbrachte. Man darf m. E. dies letzte Buch von Cassirer nicht nur als Ergänzung, sondern muß es als Korrektur der Philosophie der symbolischen Formen lesen. Denn die These, der Geist schaffe sich fortschreitend ein eigenes Reich durch Trennung von der Natur, wird zurückgenommen oder stark eingeschränkt: Er kann bei seinem Fortschritt zugleich fatal regredieren; das politische Denken verfolgt keineswegs zielstrebig die Entwicklungsrichtung, welche Cassirer in Sprache, Mythos und Wissenschaft nachgewiesen hatte. Es dürfte übrigens kaum zu bestreiten sein, daß zwischen der von Dilthey beklagten Leere des Bewußtseins und der von Cassirer festgestellten Rückkehr des Mythos in das politische Denken ein enger Zusammenhang besteht.

Cassirer, The Myth of the State, New Haven 1946, dt. Ausg.: Vom Mythos des Staates, Zürich 1949, S. 8. 87

Gerald Hartung Die Entdeckung des Menschen im Zeitalter der Renaissance Dilthey, Groethuysen und Cassirer

Die Rede von der »Entdeckung des Menschen« im Zeitalter der Renaissance (Burckhardt1) ist ein Strukturelement des langen Abschieds von der Geschichtsphilosophie, der im 19. und frühen 20. Jahrhundert vollzogen wurde. Erst nachdem die großen metaphysischen Gebäude ihren Kredit eingebüßt haben, kann die These »der Mensch ist ein historisches Wesen« (Trendelenburg2) ihre Wirkungskraft entfalten. Von Dilthey bis zu Cassirer führt dieser Weg, auf dem nicht nur die tradierten Weltbilder auf ihren geschichtlichen Kern zurückgeführt werden, sondern auch der Begriff des Menschen selbst an Substanz verliert und zu einem Funktionsbegriff wird. In Cassirers Bestimmung des Menschen als »animal symbolicum«3 wird diese Entwicklung prägnant zusammengefasst: Der Mensch ist die Funktionseinheit seiner Ausdrucksleistungen (Sprachzeichen, mythische Bilder, wissenschaftliche Begriffe usw.), die allesamt wiederum ihre »Geschichte« haben. Die Relativierung der Weltbilder und Wesensbestimmungen des Menschen hat, wie Max Scheler zu Recht bemerkt hat, die »Selbstproblematik« des Menschen auf ein nie zuvor gekanntes Niveau geführt.4 Um diese Krisensituation auf den Begriff zu bringen und überwinden Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance, 4. Abschnitt, 4. Kapitel, Leipzig Bd. 2, S. 26. »Zu der Entdeckung der Welt fügt die Kultur der Renaissance noch eine größere Leistung, indem sie zuerst den ganzen und vollen Gehalt des Menschen entdeckt und zutage fördert.« 2 Friedrich A. Trendelenburg, Naturrecht auf dem Grunde der Ethik, Leipzig 1860, S. 41: »Der Mensch ist ein historisches Wesen, ein Wesen der Gemeinschaft in der Geschichte, in der geistigen Substanz der Geschichte geboren, auferzogen, von ihr genährt und wiederum sie fortsetzend, weiterführend, ein lebendiges Glied von der Vergangenheit zur Zukunft, immer in einem grossen Uebergange thätig.« 3 Ernst Cassirer, An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven / London 1944, S. 23 ff. 4 Max Scheler, Die Sonderstellung des Menschen, in: Herman Keyserling (Hrsg.), Mensch und Erde, Darmstadt 1927, S. 162: »Eine einheitliche Idee vom Menschen aber besitzen wir nicht. Die immer wachsende Vielheit der Spezialwissenschaften, die sich mit dem Menschen beschäftigen, verdecken, so wertvoll sie sein mögen, überdies weit mehr das Wesen des Menschen, als daß sie es erleuchten. Bedenkt man ferner, daß die genannten drei Ideenkreise der Tradition weithin erschüttert sind [ . . . ], so kann man sagen, daß zu keiner Zeit der Geschichte der Mensch sich so problematisch geworden ist wie in der Gegenwart.« 1

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zu können, ist in der Philosophie selbst eine anthropologische Wende vollzogen worden.5 Von Dilthey ausgehend wächst das Bedürfnis, diesen Prozess durch eine geistesgeschichtliche Rück- und Selbstbesinnung zu flankieren. Auf der Suche nach dem »ganzen Menschen« rückt die Epoche der Renaissance in den Blick; rekonstruiert wird hier eine Bewusstseinsstellung, in der das Moment des Individuellen im Zusammenbruch eines überkommenen Weltbildes freigesetzt und nicht sogleich unter die Gesetzmäßigkeit des Allgemeinen – der Religion, des Staates, der Geschichte, Natur oder Kultur gezwungen wird. Ich möchte im Folgenden die Perspektiven von Wilhelm Dilthey, Bernhard Groethuysen und Ernst Cassirer auf die Epoche der Renaissance und zwar insbesondere auf die Funktion der Anthropologie in der Renaissance-Philosophie rekonstruieren. Meine These lautet: Im jeweiligen Blick auf die Renaissance manifestiert sich in zunehmendem Maße ein Bedürfnis der Selbstbesinnung – und zwar proportional zu der aufgrund persönlicher Lebenserfahrung empfundenen Krise des Humanen. Bei Cassirer letztendlich erscheint die Renaissance als ein »humanistisches Gegenbild zu den zeitgeschichtlichen Verwerfungen und Katastrophen«, denen er sein Programm einer humanistischen Begründung der Kulturphilosophie entgegenstellt.6

1. Wilhelm Dilthey: Die Freilegung der philosophisch-anthropologischen Perspektive In seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften hat Dilthey seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass im Zeitalter der Renaissance ein neues Menschenbild entstanden ist. Dieses »ist der tiefste, in der psychischen Verfassung des modernen Menschen selbst liegende Grund dafür, daß jetzt die Metaphysik ihre bisherige geschichtliche Rolle ausgespielt hat.«7 Odo Marquard, Anthropologie, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1, Basel / Stuttgart 1971, Sp. 362–374; ders.: Zur Geschichte des philosophischen Begriffs »Anthropologie« seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, in: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt / M. 1982, S. 122–144. Vgl. Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt / M. 1983. 6 Ich beziehe mich hier auf die vorzügliche Arbeit von Kay Schiller, Gelehrte Gegenwelten. Über humanistische Leitbilder im 20. Jahrhundert, Frankfurt / M. 2000, in der anhand der Schriften von Ernst H. Kantorowicz und Hans Baron paradigmatisch gezeigt wird, dass diese auch als »Gegenbild zu den zeitgeschichtlichen Verwerfungen und Katastrophen« ihrer Entstehungszeit gelesen werden können. 7 Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Bd. 1, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Stuttgart / Göttingen 1990, S. 356. 5

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Eine Haupttendenz dieser Entwicklung ist die Verflüssigung der metaphysischen Substanzbegriffe; damit treten Natur und Geschichte aus der Eindeutigkeit ihrer Bestimmbarkeit heraus in eine Vieldeutigkeit der Auslegung. Anhand der Werke von Descartes, Galilei, Spinoza, Hobbes und anderen analysiert Dilthey diese Tendenz, »more geometrico« eine bestehende Welt in ihre Elementarteile zu zerlegen, um aus den vorgefundenen einfachen Elemente eine neue Ordnung zu konstruieren. Letzter Referenzpunkt ist, »wenn das graue Gespinst abstrakter, substantialer Wesenheiten zerrissen ist«,8 der ganze Mensch – und nicht seine Teilaspekte Erkenntnissubjekt, Naturwesen und moralische Person. In verschiedenen Einzelstudien aus den Jahren 1891 bis 1904, die unter dem Titel Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation versammelt sind und den Umriss für ein ergänzendes drittes Buch zur Einleitung in die Geisteswissenschaften liefern,9 zeigt Dilthey, wie die Perspektive auf den ganzen Menschen im Zeitalter der Renaissance entstanden ist und wie sie sich hat entfalten können. Ausgangspunkt ist die Auflösung der metaphysisch-theologischen Weltanschauung, die grob skizziert auf den Elementen der Religiosität (Augustinismus), der wissenschaftlichen Metaphysik (griechische Philosophie) und einer praktischen Lebensauffassung (stoische Pflichtenlehre, römisches Geschichtsdenken) basiert. Diese drei Elemente haben nach Diltheys Auffassung bis ins Spätmittelalter eine »volksmäßige Metaphysik« begründet, deren Ausläufer noch in der modernen Lebenswelt nachwirken. Jede Distanzierung von dieser Weltanschauung – und das gilt auch noch für die Ausbildung des geschichtlichen Bewusstseins in der Moderne – ist eine Folgeerscheinung der »großen Umänderung in der Lebenshaltung des Menschen während des 15. und 16. Jahrhunderts.«10 Dilthey verdeutlicht diese Tatsache an einer Vielzahl von Beispielen, an Petrarca, Machiavelli, Montaigne und Descartes, die gleichsam, jeder auf seine Weise, eine entscheidende Perspektivenverschiebung vornehmen. Insbesondere Petrarca liefert ein prägnantes Exempel für das offensichtlich dialektische Spannungsverhältnis von Tradition und Originalität. Die Schilderung seiner Besteigung des Mont Ventoux eröffnet eine neue Literaturform, die der Lebensstimmung ihres Autors Bedeutung gibt; aber zugleich ist das Ebd., S. 383: »Es bleibt, wenn das graue Gespinst abstrakter, substantialer Wesenheiten zerrissen ist, hinter ihm übrig – der Mensch, in verschiedenen Lagen einer zum anderen, innerhalb des Mittels der Natur.« 9 Georg Misch, Vorwort, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation [ 1. Auflage 1913 ], Stuttgart / Göttingen 111991, S. VI–VII. 10 Dilthey, Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert, S. 18. 8

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Medium dieser Selbstbesinnung die Lektüre der Augustinischen Confessiones. Das Erlebnis der individuellen Seelenstimmung findet seinen adäquaten Ausdruck in der Wiederaufnahme eines kanonischen Textes. So »berührte sich damals in ihm an jenem Tage das sokratisch Scito te ipsum, das augustinische Noli foras ire, in te ipsum redi, in interiore homine habitat veritas und seine eigene Beschäftigung mit den individuellen, unvergleichbaren lebendigen Zuständen seiner Seele.«11 Das Individuelle und Neue manifestiert sich in der perspektivischen Wendung am Alten und Allgemeinen. Gleiches gilt späterhin für Machiavelli, der in der Auseinandersetzung mit den Historikern der Antike eine neue Anschauung des Menschen entwickelt, und für Montaigne, der mehr ist als eine Epigone der antiken Skeptiker und Stoiker. In der Abhandlung Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts versucht Dilthey, die mit Renaissance und Reformation vorbereitete Bewusstseinsstellung und das Lebensgefühl dieser Epoche mit der korrespondierenden wissenschaftlichen Form zusammen zu denken. Erst im Zusammendenken von gelebtem und reflektiertem Leben, von Lebensvollzug und Objektivationsleistung wird es möglich, die Funktion der »Anthropologie« als wissenschaftlicher Form zu bestimmen. Denn nach der Funktion zu fragen, heißt die Bedeutung für das Leben zu erfragen. Anthropologie ist die Sammlung der Erkenntnisse menschlichen Lebens und die Reflexion auf dieses Wissen. Anthropologie als Wissenschaftsdisziplin entsteht aber erst, wenn dieses Wissen vom Menschen anwächst und methodisch gesichert wird. Zuallererst ist Anthropologie »Menschenkunde«, das heißt ein mehr oder weniger historisch-philosophischer Reflex auf die Lebenspraxis, deren Rahmenbedingungen unscharf geworden sind, weil die alte Ordnung der Dinge, das metaphysisch-theologische Weltbild, seinen Plausibilitätskredit eingebüßt hat. Als Menschenkunde gibt die Anthropologie Regeln für die Lebensführung und ist grundlegend gekennzeichnet vom »Streben, die Einheit des menschlichen Daseins wiederherzustellen aus den Trennungen, die Körper und Seele, Sinnesauffassung und Intellekt, Affekt und Willensentscheidung auseinandergerissen hatten.«12 Die Restitution der Einheit des menschlichen Daseins ist und bleibt nach Diltheys Auffassung ein uneingelöstes Versprechen. Dennoch, oder gerade deswegen, ist 11 Ebd., S. 20. Vgl. ders., Das geschichtliche Bewusstsein und die Weltanschauungen, in: Gesammelte Schriften. Bd. 8, Leipzig-Berlin 1931, S. 66: »Das Neue der eigentlichen Renaissance: das Subjekt kann seine Seelenverfassung unabhängig in einer Lebensund Weltanschauung ausdrücken, welche es wie eine Atmosphäre umgibt. Dies ist die Folge der negativen Arbeit, welche Scholastik und Autorität umwarf, und der positiven Selbstmacht der Person.« 12 Ebd, S. 422.

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die Funktionsleistung der Anthropologie für die Konstituierung der modernen Kultur gar nicht hoch genug einzuschätzen. Als Summe einzelner Theorieelemente – gemeint sind der Neustoizismus der holländischen Philologie, die cartesische Psychologie und das System von Naturrecht und natürlicher Theologie – hat sie das Wissen vom Menschen vertieft und ist zu einer Wissenschaft herangereift. Diltheys Darstellung der Funktionsleistung anthropologischen Denkens in der Frühen Neuzeit ist von dem Gedanken getragen, dass diese Epoche und das 19. Jahrhundert eine strukturelle Analogie aufweisen: sie markieren den Untergang einer alten Ordnung. Wie in den Schriften von Cardano, Lipsius, Montaigne, Telesio, Vives und Charron, so meint Dilthey in den Werken seiner Zeitgenossen Antworten auf das Absterben einer Kultur und das Verblassen einer ganzen Begriffswelt zu finden.13 Weil diese Antworten nicht das Ganze des menschlichen Daseins, sondern nur Aspekte desselben ausleuchten, vertiefen sie zwar das Wissen des Menschen von sich, aber lösen nicht das Rätsel des Lebens. Aus dieser Spannung resultiert eine Verwissenschaftlichung anthropologischer Erkenntnisse, die selbst wiederum ein Aspekt der Objektivation des Lebens ist. Die Funktion der Anthropologie muss demnach unter einem Doppelaspekt betrachtet werden: Zum einen ist sie entstanden aus der Lebenserfahrung und der Notwendigkeit, unter dem Eindruck einer zerfallenden Weltanschauung einen neuen Leitfaden für die Sinndeutung des Lebens zu entwickeln; zum anderen ist die Anthropologie im Zuge ihrer Verwissenschaftlichung Element der nunmehr konkurrierenden Weltanschauungen. Beide Funktionsaspekte des anthropologischen Denkens werden von Dilthey in ein dialektisches Spannungsverhältnis überführt – und innerhalb einer Theorie der Geisteswissenschaften wird diese Grundfunktion, die Reflexion auf das gelebte Leben, zum Mittel, um den vorgeblich substantiellen Gehalt der Weltanschauungen zu hinterfragen. »Die Philosophie muß nicht in der Welt, sondern in dem Menschen den inneren Zusammenhang ihrer Erkenntnisse suchen. Das von den Menschen gelebte Leben – das zu verstehen ist der Wille des heutigen Menschen.«14 Mit diesen Worten hat Wilhelm Dilthey den Ebd., S. 437: »Jedesmal, wenn eine Kultur abstirbt und eine neue entstehen soll, erblaßt die Begriffswelt, die aus der älteren hervorgegangen war, und löst sich auf. [ . . . ] So erleben wir es heute, und so war es im 16. Jahrhundert und in den Anfängen des 17. bis zur Entwicklung des naturwissenschaftlichen Geistes in Kepler, Galilei und Descartes. Der systembildende Geist ruht ja niemals: ist er doch in dem metaphysischen Bedürfnis gegründet, das Rätsel von Welt und Leben in allgemein gültiger, wissenschaftlicher Erkenntnis zu lösen.« 14 Dilthey, Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen, in: M. Frischeisen-Köhler (Hrsg.), Weltanschauung – Philosophie 13

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Leitgedanken einer anthropologischen Philosophie formuliert, der von Bernhard Groethuysen und Ernst Cassirer auf unterschiedliche Weise weitergedacht wird.

2. Bernhard Groethuysen: Die Aufgabe einer anthropologischen Philosophie Bernhard Groethuysens Verdienst ist es, die von seinem Lehrer Dilthey skizzierten Grundlinien einer anthropologischen Philosophie weitergeführt zu haben.15 Groethuysens Abhandlungen und Schriften zum Thema »Leben und Weltanschauung« und zur philosophischen Anthropologie stehen ganz im Zeichen der freigelegten Einsicht in die Geschichtlichkeit der Lebensformen. In Groethuysens 1928 publizierter Abhandlung Philosophische Anthropologie nehmen diese Grundgedanken Gestalt an.16 Philosophische Anthropologie meint bei Groethuysen eine Bestandsaufnahme durchaus heterogener Konzeptionen menschlicher Selbstbesinnung, in denen trotz aller Differenzen die »Aufgabe des Menschen«, seinem metaphysischen Wesen Ausdruck zu geben, verhandelt wird. Das Thema der philosophischen Anthropologie ist die Selbsterkenntnis des Menschen. Dieses Thema wird auf dem Wege der Selbstbesinnung am Leitfaden von zwei unterschiedenen Fragestellungen eingegrenzt. Einmal ist die Frage vom Leben aus zu behandeln, ein anderes Mal ist sie von der Erkenntnis aus zu stellen. Erstere Frage lautet: wer bin ich? – die zweite Frage lautet: was ist der Mensch?17 Seit der sokratischen Wende in der griechischen Philosophie stehen nach Groethuysens Ansicht beide Fragestellungen in einem dialektischen Spannungsverhältnis. Die mythische Einheit beider Aspekte, wie sie in der griechischen

und Religion in Darstellungen von Wilhelm Dilthey u. a., Berlin 1911, S. 6. Vgl. ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Leipzig / Berlin 1927, S. 279: »Der Mensch erkennt sich nur in der Geschichte, nie durch Introspektion. Im Grunde suchen wir ihn alle in der Geschichte. Oder erweitern wir es, wir suchen auch das Menschliche in ihr, wie Religion usw. Wir wollen wissen, was das sei. Gäbe es eine Wissenschaft des Menschen, so wäre es Anthropologie, die die Totalität der Erlebnisse nach dem Strukturzusammenhang verstehen will.« 15 Vgl. Bernhard Groethuysen, Dilthey et son école [ 1912 ], in: B. Dandois (Hrsg.), B. Groethuysen. Philosophie et histoire, Paris 1995, S. 55–71; ders., Wilhelm Dilthey, in: Deutsche Rundschau, Bd. 154 (01–03. 1913), S. 69–92; 249–270. 16 Groethuysen, Philosophische Anthropologie, Sonderausgabe aus dem Handbuch der Philosophie, München / Berlin 1928. 17 Hannes Böhringer, Groethuysen. Vom Zusammenhang seiner Schriften, Berlin 1978, S. 76–103.

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Dichtung vorgeführt wird, scheint aufgelöst zu sein. Denn hier tritt der Widerspruch zwischen dem Ausdruck unmittelbarer Lebenserfahrung und der distanzierten Erkenntnis menschlichen Lebens hervor. Will die philosophische Anthropologie diesen allzumenschlichen Widerspruch zu ihrem Thema machen, dann muss sie idealiter Selbsterkenntnis und Selbsterlebnis gleichermaßen behandeln.18 Groethuysens philosophiegeschichtlicher Überblick, in dem der Bogen von der Platonischen Philosophie bis in die Frühe Neuzeit gespannt wird, entwickelt dieses dialektische Spannungsverhältnis und zeigt die interne Dynamik, die im philosophischen Diskurs verankert ist. Der eigentliche Begründer der modernen Anthropologie ist Montaigne – er resümiert das Zeitalter der Renaissance und gibt der Rede von der Entdeckung des Menschen einen präzisen Sinn. Montaigne nimmt seit Diltheys Abhandlung über Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert eine zentrale Stellung ein, wenn es darum geht, die Grundlegung der »modernen« anthropologischen Perspektive zu beschreiben. Nach Diltheys Auffassung kommt Montaigne eine Zwischenposition zu; er kommentiert die Literatur der Antike, vor allem die Traktate der Stoiker und Skeptiker, aber er ist mehr als ein Kommentator. »So hatte der Skeptizismus von Montaigne seine Begrenzung in seiner positiven Aufstellung des selbständigen, der theologischen und metaphysischen Dogmatik unbedürftigen Menschen.«19 In der Herausarbeitung dieser »Unbedürftigkeit« liegt, so erläutert Groethuysen Diltheys Worte, die Stärke von Montaigne. Er ist gewissermaßen der erste Denker seit Sokrates, der das Gebot, sich selbst zu erkennen, allein in der Reflexion auf das eigene, diesseitige Leben verhandelt. Im Gegensatz zu Sokrates nimmt er nicht bei mythischen Bildern Zuflucht. Montaigne fehlt zudem die Gottesgewissheit von Augustinus und Luther – und damit die Selbstgewissheit, die den religiösen Menschen in seinem Glauben auszeichnet. »Je m’étudie plus qu’autre sujet. C’est ma métaphysique, c’est ma physique«20 – diese Worte Montaignes liest Groethuysen als Hinweis, dass das Leben nur in der »Form des Selbsterlebnisses« einzufangen ist. Wie der Mensch nicht das Wesen der Dinge erkennt, so erkennt er auch nicht sich selbst; zwar erlebt er sein Leben, aber er kann sich nicht bestimmen.21 Montaignes Anthropologie lehrt den Menschen, den Umgang mit sich zu erlernen; inmitten einer ihm unbekannten und fremden Welt kann der Mensch in der Reflexion auf sein je eigenes Leben 18 19

Groethuysen, Philosophische Anthropologie, S. 6–7. Dilthey, Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert,

S. 37. Michel de Montaigne, De l’expérience, in: ders., Essais, tome III, Paris 1972, S. 361. 21 Groethuysen, Philosophische Anthropologie, S. 197: »So erkennt sich der 20

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eine Antwort auf die letzten Fragen suchen. Ob er sie finden wird, das bleibt offen. Montaigne gibt keine Antworten, er zeigt nur den Weg. Aus diesem Grund erhält Montaignes Werk in Groethuysens Studie eine prominente Stelle. Montaignes Selbst- und Welterlebnis bietet ein prägnantes Bild der »modernen« anthropologischen Situation. »Modernität« ist in Anführungszeichen zu setzen, weil für Groethuysen hiermit vor allem ein Resümee der Verlusterfahrung des Menschen gemeint ist und weniger ein Neubeginn. Verloren gegangen ist die Beheimatung in mythischen Weltbildern und metaphysisch-theologischen Konstruktionen. Montaigne zeigt, dass menschliches Leben im »Zwischenreich von Wissen und Nichtwissen« angesiedelt ist. Vertraut ist dem Menschen nur, was er im Umgang mit sich selbst erlernt. Aber auch das bleibt für ihn immer nur eine Möglichkeit des Lebensentwurfs unter vielen. So bleibt er sich selbst rätselhaft und lebt im Angesicht eines irrationalen Lebensgrundes. »Dieses Unbekannte ist für Montaigne ständig gegenwärtig. Es bildet den Hintergrund, von dem sich der Mensch, der in sich selbst Schutz sucht, abhebt. Ohne diesen Hintergrund einer fremden Welt [ . . . ] läßt sich die Anthropologie von Montaigne nicht verstehen. Der Sinn von alledem entgeht dem Menschen.«22 Groethuysen beschreibt den Weg von Sokrates zu Montaigne als zunehmende Steigerung der menschlichen Selbstproblematik. Das mit Montaigne erreichte Niveau ist, wenn man Groethuysens Vorstellung von philosophischer Anthropologie zugrunde legt, nicht mehr zu überbieten. Denn Montaigne hat die anthropologische Fragestellung in ihrem Doppelaspekt und ihrer internen Widersprüchlichkeit formuliert. Die weitere Entwicklung ist durch einen Siegeszug der Wissenschaften gekennzeichnet, durch den die Welt- und Lebenserkenntnis auf eine zuvor nicht gekannte empirische Grundlage gestellt wird. Die anthropologische Perspektive wird allmählich verwissenschaftlicht und damit die Frage »Was ist der Mensch?« einer möglichen Beantwortung entgegen getrieben. Diese Bilanz hat aber nach Groethuysens Ansicht eine Kehrseite, die sich im Auseinandertreten von wissenschaftlicher Selbsterkenntnis und je persönlichem Selbsterlebnis festmachen lässt. Denn die Einheit der anthropologischen Situation und das Bedürfnis des Menschen, diese Situation im Blick auf sich selbst zu erschließen, wird nachhaltig zerstört. »Der Mensch als solcher scheint in diesem Sinne die Rolle ausgespielt Mensch nicht selbst, ebensowenig wie er die Welt erkennt. Sein Leben ist nicht weniger seltsam als diese Welt. Auch hier ist nichts Gewisses, nichts Sicheres. Der Mensch ist sich gegenwärtig; er lernt es, mit sich zu leben, mit sich vertraut zu werden. Doch kann er nicht bestimmen, was er sei, sich nicht zum Verständnis bringen, was in ihm vorgeht.« 22 Groethuysen, Philosophische Anthropologie, S. 202.

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zu haben, die ihm in einer an der Problematik des Menschlichen selbst orientierten Welt- und Lebensanschauung zugefallen war. Das bedeutet natürlich nicht [ . . . ], daß die anthropologische Problemstellung als solche erledigt wäre.«23 Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Zwar kann die philosophische Anthropologie nicht hinter die Objektivationsleistungen des Lebens in eine Unmittelbarkeit des Selbsterlebnisses zurücktreten, aber sie muss, wenn sie ihrem Anspruch gerecht werden will, die verschiedenen Gebiete des geistigen Lebens – Dichtung, Wissenschaft, Religion – durchdringen, um hier die Problematik des Menschlichen freizulegen. »Es sind dies die verschiedenen Gesichtspunkte, von denen aus der Mensch sich selbst erscheint. Die philosophische Anthropologie erhält die Aufgabe, den Menschen in diesen verschiedenen Gestalten wiederzufinden und ihn in seiner Einheitlichkeit zu erfassen.«24 So gesehen gesteht die Philosophie sich ein, dass sie nur eine Weise darstellt, auf die anthropologische Gesamtsituation zu reflektieren. Aber ebendiese Einsicht markiert die Bedingung, unter der eine anthropologische Philosophie auf den Begriff kommt – »[ . . . ] it is just the task of philosophy to establish its own inability to answer the question which man asks about himself, by recognizing the limits of knowledge, that is to say – its own partial function in the context of life. Even if man knew all that he was able to know about himself, the command to become conscious of himself would still not be fulfilled. The recognition of this fact would be the task of a critical, anthropological philosophy.«25

Ebd. S. 206. Für die methodologische Umsetzung dieser These vgl. ders., Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, Bd. 2 [ 1927 ], ND Frankfurt / M. 1978, S. 13, in der er die Entwicklung im 18. Jahrhundert analysiert: »Der Mensch ist ein anderer geworden. [ . . . ] Das vorliegende Werk soll solche Umgestaltungen, wie sie sich im bürgerlichen Leben vollzogen haben und schließlich zur Ausbildung eines neuen Menschentypus geführt haben, darstellen. Es handelt sich um einen Versuch, der ›menschlich-geschichtlichen Wirklichkeit‹ näher zu kommen, in deren Erfassung Dilthey den eigentlichen Sinn aller Geschichtsforschung sah.« 24 Ebd. S. 207. Vgl. Georg Simmel, Begriff und Tragödie der Kultur, S. 118: »[ . . . ] und darum erscheint die Entwicklung jedes Menschen, auf ihre Benennbarkeit hin angesehen, als ein Bündel von Entwicklungslinien, die sich nach recht verschiedenen Richtungen und in recht verschiedenen Längen entfalten. Aber nicht mit diesen in ihren singulären Vollendungen, sondern erst mit ihrer Bedeutung für oder als die Entwicklung der undefinierbaren personalen Einheit kultiviert sich der Mensch. Oder anders ausgedrückt: Kultur ist der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit.« 25 Groethuysen, Towards an anthropological philosophy, in: Raymond Klibansky / H. J. Paton (Hrsg.), Philosophy & History. Essays presented to Ernst Cassirer [ 1936 ], ND New York / London 1963, S. 83. 23

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3. Ernst Cassirer: Die Grundlegung der Kulturphilosophie Ernst Cassirer beruft sich noch im Essay on Man (1944) auf Groethuysens »excellent description of the general development of anthropological philosophy«, die seiner Ansicht nach neben Diltheys Studien die einzig erwähnenswerte Vorarbeit für eine Geschichte der philosophischen Anthropologie ist.26 Aus diesem Zusammenhang, der zudem in seinen systematischen Querverbindungen zur Philosophie der symbolischen Formen in der Cassirer-Forschung noch gar nicht erschlossen ist, können hier nur einige Grundgedanken herausgehoben werden.27 Bereits in Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927) hat Cassirer das Thema von der Entdeckung des Menschen im Horizont einer »philosophischen Problemgeschichte« des Renaissancezeitalters aufgenommen. Zentral ist hier die Bedeutung, die er dem Werk von Nikolaus Cusanus zuspricht.28 Im Blick auf Cusanus’ Schriften legt Cassirer dar, wie dieses dialektische Spannungsverhältnis von Lebensimpuls und geistiger Funktion sich konkretisieren lässt. Cusanus wird vorgestellt als der Denker, der die wirkenden Lebenskräfte seiner Zeit bündelt und vermittels seiner »Gedankenarbeit« die Lebensanschauung der Renaissance formt. Er ist an der Entfesselung der Individualität beteiligt, die Jakob Burckhardt zum Hauptcharakteristikum dieser Epoche ernannt hat. Aber er wäre nicht eine große Figur der Geistesgeschichte, wenn er nicht zugleich die Grundgedanken der vorhergehenden Zeit Cassirer, An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture [ 1944 ], ND New Haven / London 1972, S. 6. Vgl. E[ rnst ] C[ assirer ]: Groethuysen, Bernhard, Philosophische Anthropologie [ . . . ], in: Kulturwissenschaftliche Bibliographie zum Nachleben der Antike, Erster Band: Die Erscheinungen des Jahres 1931, hrsg. v. der Bibliothek Warburg. London u. a. 1934, S. 61: »Den Begriff der philosophischen Anthropologie nimmt G. in dem Sinne, den Dilthey ihm gegeben und den er systematisch zu begründen versucht hat. Er versteht unter der philosophischen Anthropologie das Ganze der Antworten, die der Mensch sich im Laufe seiner Entwicklung auf die Frage nach seinem eigenen Sein und Wesen gegeben hat. Jede Darstellung der Anthropologie kann demgemäß nur in historischer Rückbesinnung erfolgen: ihr Gehalt läßt sich von ihrem geschichtlichen Werden nicht loslösen. [ . . . ].« Den Hinweis auf diese Rezension verdanke ich J. M. Krois. 27 Vgl. John H. Randall, Die Würdigung der Renaissance-Philosophie im Geschichtsdenken E. Cassirers, in: Paul Arthur Schilpp (Hrsg.), Ernst Cassirer, Stuttgart u. a. 1966, S. 472–506; Oskar Schwemmer, Cassirers Bild der Renaissance, in: Enno Rudolph / Bernd Olaf Küppers (Hrsg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995 (Cassirer-Forschungen, Bd. 1), S. 255–278. 28 Vgl. Enno Rudolph, Die Entdeckung des Individuums in der Philosophie der Renaissance, in: Silvio Vietta (Hrsg.), Romantik und Renaissance. Die Rezeption der italienischen Renaissance in der deutschen Romantik, Stuttgart / Weimar 1994, S. 15–32; hier: S. 22 ff. 26

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bewahren würde.29 Es ist die religiöse Sphäre, in der Cusanus die Konzeption der symbolischen Form entdeckt und zum Deutungsmuster der Welt macht: »die Welt wird zum Symbol Gottes.«30 Hier stehen religiöser und weltlicher Individualismus in einem Spannungsverhältnis, das hat Burckhardt nach Cassirers Auffassung nicht gesehen. Der Gedanke traditionaler Gebundenheit und schöpferischer Kraft treffen aufeinander, die Welt wird entsubstantialisiert und »das Problem der Form zu einem der Zentralprobleme der Renaissancekultur«. Cassirer betont in dieser und späteren Studien zur Renaissance, dass die Aufdeckung des Symbolcharakters der Welt zugleich die anthropologische Situation verändert und das Freiheitsproblem in radikaler Weise gestellt hat. Am Beispiel der Astrologie lässt sich dieser Zusammenhang verdeutlichen. Solange im astrologischen Weltbild mit Substanzbegriffen operiert wird, das heißt der Lauf der Gestirne in einer unmittelbar kausalen Beziehung zum Naturgeschehen und menschlichen Leben gesehen wird, steht alles Geschehen unter der Herrschaft des Fatum und ist determiniert. Schicksalsmacht und Freiheitsstreben stehen in einem unlösbaren Konflikt und alle Kompromissversuche, alles »deutliche Betreben, der Subjektivität innerhalb dieses Weltbildes selbst eine neue Stellung zu erobern«31, scheitern. Innerhalb des astrologischen Weltbildes gibt es keine Möglichkeit, dem Gedanken der Determiniertheit allen Denkens und Handelns zu entrinnen. Es ist notwendig, aus diesem Bannkreis herauszutreten und von außen den Hebel der Kritik anzusetzen. Dies hat nach Cassirers Ansicht im Zeitalter der Renaissance Pico della Mirandola geleistet, dessen Werk er noch in einer seiner letzten Publikationen große Bedeutung beimisst.32 Pico hat dem Menschen seine Würde Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, S. 37: »Daß die Renaissance mit all ihren geistig-produktiven Kräften auf eine Vertiefung des Problems des Individuums gerichtet ist, bedarf keines näheren Erweises. Burckhardts grundlegende Darstellung bleibt in diesem Punkte unerschüttert. [ . . . ] An dieser neu erwachenden objektiven Betrachtung, wie an dieser Vertiefung der Subjektivität hat Cusanus seinen vollen Anteil. Aber seine Größe und seine geschichtliche Tat besteht darin, daß er diese Wendung nicht im Gegensatz zu den religiösen Grundgedanken des Mittelalters, sondern aus dem Blickpunkt eben dieser Grundgedanken selbst vollzieht. Aus dem Zentrum des Religiösen selbst vollbringt er die ›Entdeckung der Natur und des Menschen‹ und in diesem Zentrum sucht er sie zu befestigen und zu verankern.« Vgl. dazu kritisch Maurice de Gandillac, L’Image de la Renaissance chez Ernst Cassirer, in: Jean Seidengart (Hrsg.), Ernst Cassirer – De Marbourg à New York, L’Itinéraire philosophique, Paris 1990, S. 17–28. 30 Ebd. S. 38. Zur Kritik an der Cusanus-Lektüre Cassirers vgl. Enno Rudolph, Die Entdeckung des Individuums in der Philosophie der Renaissance, S. 26–27. 31 Ebd. S. 118. 32 Cassirer, Giovanni Pico della Mirandola. A Study in the History of Renaissance Ideas, in: Journal of the History of Ideas, vol. III, nr. 2 (April 1942), S. 123–144; 319– 346. Bei der anhaltenden Beschäftigung Cassirers mit dem Zeitalter der Renaissance 29

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zurückgegeben, weil er ihn aus dem Bannkreis der Naturbestimmung herausgenommen und ihm das Bewusstsein seiner freien schöpferischen Tätigkeit wiedergegeben hat.33 Zwar ist auch Pico, wie Cusanus, an die traditionelle Weltanschauung gebunden, aber in seiner Ethik ist er »zu einem der ersten Verkünder und Bahnbrecher des echten Renaissancegeistes geworden.«34 Pico’s Ethik steht nach Cassirers Auffassung ganz im Zeichen einer Befreiung des Menschen, die den Symbolcharakter der Welt und die Urkraft geistigen Schaffens heraushebt. Sie mündet in die Einsicht, dass das Erkenntnisproblem mit dem Freiheitsproblem verknüpft ist, dass also jede theoretische Erkenntnis an der Frage zu messen ist, was sie für den Menschen bedeutet.35 Cassirers bisher unpublizierte Vorlesung Grundzüge der philosophischen Anthropologie (1939 / 1940)36 stellt gleichsam seinen ersten Versuch dar, einen geistesgeschichtlichen Überblick der Entwicklung des philosophisch-anthropologischen Denkens zu geben.37 Hier wird der Begriff verbietet es sich gleichsam, ihm »während der letzten Lebensjahre eine gesteigerte Faszination für die Epoche der Renaissance« zuzusprechen; vgl. Heinz Paetzold, Ernst Cassirer. Von Marburg nach New York, Darmstadt 1995, S. 221. 33 Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, S. 120– 121: »Hier mündet selbst das astrologische System Ficins in jenen Gedankenkreis der Florentiner Akademie ein, in dem sich Picos Rede ›Über die Würde des Menschen‹ bewegt. Der Mensch hat in jeglicher Ordnung des Seins nur die Stelle, die er sich in ihr gibt. Seine individuelle Bestimmtheit hängt letzten Endes von seiner Bestimmung ab – und diese ist nicht sowohl eine Folge der Natur, als sie eine Folge seiner freien Tat ist.« 34 Ebd., S. 212–122. In der Abhandlung »Giovanni Pico della Mirandola. A Study in the History of Renaissance Ideas«, S. 137–137 erweitert Cassirer diese Perspektive: »The distinctive category under which he subsumed his doctrine of God, of the world and of man, his theology and his psychology is the category of symbolic thought. [ . . . ] The basic metaphysical problem of unity and plurality now takes on a specifically different significance. [ . . . ] Pico is no longer trying to exhibit the Many as the effect of the One, or to deduce them as such from their cause, with the aid of rational concepts. He sees the Many rather as expressions, as images, as symbols of the One.« 35 Ebd., S. 128–129; 200–201. Vgl. Cassirer, Giovanni Pico della Mirandola. A Study in the History of Renaissance Ideas, S. 344: Pico wird zum Leitbild im Kampf gegen die dunklen Mächte einer Zeit, in der die religiös fundierte Vorstellung der Menschenwürde, aber auch die weltliche Verfassung von Recht und Moral, wie sie das Aufklärungszeitalter entworfen hat, ihre Geltung eingebüsst haben. »Pico was perhaps the only man in his age completely free from fear of demons and from fear of the baneful influence of the stars.« 36 Der vollständige Vorlesungstext wird im Band 6 der Edition »Ernst Cassirer. Nachgelassene Manuskripte und Texte« (Felix Meiner Verlag) publiziert; der Verfasser ist Mitherausgeber dieses Bandes. Die Arbeit am Nachlass Ernst Cassirers wird durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert. 37 Vgl. des Verfassers Vorwort zu Ernst Cassirers Einleitung in die Geschichte der philsophischen Anthropologie – Göteborger Vorlesungen 1939 / 40, in: Hans-Jürgen Lachmann / Uta Kösser (Hrsg.), Kulturwissenschaftliche Studien, Bd. 4, Leipzig 1999, S. 2–3.

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dieser philosophischen Disziplin weit gefasst. »›Philosophische Anthropologie‹ heisst uns die Gesamtheit der Antworten, die die Philosophie im gesamten Verlauf ihrer Geschichte auf die Frage zu geben versucht hat: Was ist der Mensch?«38 Philosophische Anthropologie ist nach Cassirers Ansicht ein durchaus heterogenes Vorhaben. Sie umfasst die empirische Analyse des Menschseins, das »Reich der Natur«; sie behandelt den Menschen aber auch im Hinblick auf seine Bestimmung und eröffnet das ihm eigene »Reich der Zwecke«. Dieser Kantische Dualismus, der den Menschen als Natur- und Vernunftwesen erfasst, bleibt für die anthropologische Perspektive Cassirers konstitutiv. Jeder naturalistische oder idealistische Monismus, der den Doppelaspekt des Menschseins negiert, greift zu kurz oder zu weit. Die Bestimmung der Einheit des Menschenwesens muss, wie Cassirer betont, dieser dualistischen Position Rechnung tragen. Ist aber der zentrale Aspekt philosophischer Anthropologie so bestimmt, dann stellt sich die Frage, ob es in diesem Sinne vor Kant überhaupt eine philosophische Anthropologie gegeben hat. Cassirers Göteborger Vorlesungen geben in mehreren, aufeinander folgenden Argumentationsschritten eine Antwort auf ebendiese Frage. Am Anfang steht auch hier wieder – analog zur Philosophie der symbolischen Formen II. – eine Darstellung der Dialektik der mythischen Denkform. Nachdem das mythische Denken seine Vormachtstellung eingebüßt hat, weil die Erklärungen der Mythologie vom Ursprung des Menschen ihre Plausibilität verloren haben, tritt die philosophische Frage nach dem Menschen in den Vordergrund. Der vorsokratische Diskurs ist im Kern Naturphilosophie und richtet die Fragen nach dem Menschen an den Kosmos; erst Sokrates hat das Grundmotiv der Selbstbesinnung in die Philosophie eingeführt – »die anthropologische Orientierung setzt erst mit Sokrates ein.«39 Weil Sokrates die zentralen theoretischen Probleme der Philosophie zum Gegenstand der Praxis, des Gesprächs des Menschen mit anderen Menschen gemacht hat, hat er den Logos aus seiner Bestimmung als Grundstruktur des Kosmos (Kosmologie) herausgeholt und zu einer Bedingung der Möglichkeit menschlicher Selbst- und Welterkenntnis (Anthropologie) gemacht. Damit wird, wie Cassirer betont, die Ausrichtung des philosophischen Diskurses auf Seinsbegriffe (Elemente des Kosmos) in eine Orientierung an Sinnbegriffen (das Gute, Gerechte, Schöne) transformiert. Die Ablösung der Kosmologie durch eine Anthropologie lässt sich pointiert auf eine Formel bringen: Cassirer, Philosophische Anthropologie (Die ›Lehre vom Menschen‹ in ihrer philosophischen Entwicklung) [ I ], in: Ernst Cassirer Papers, Beinecke Rare Book Library, Gen Mss 98, hier: Box 47, folder 939, Bl. 7r. 39 Ebd., Bl. 9r. 38

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Die Seinsprüfung wird durch die Selbstprüfung ersetzt. »Die Fähigkeit des Menschen, s e i n D a s e i n a l s P ro b l e m z u s e h e n – sich selbst zu b e f ra g e n und sich selbst ›Rede zu stehen‹[ , ] das ist die Grund- und Urfunktion des Menschen. Dies ist der erste Schritt und die erste Tat der › p h i l o s o p h i s ch e n A n t h ro p o l o g i e ‹ [ . ]«40 Nach Cassirers Auffassung ist die Geschichte der philosophischen Anthropologie, ausgehend von der ersten sokratischen Tat, durch Variation und Widerholung der anthropologischen Fragestellung gekennzeichnet. An den »Wendepunkten« in der Geschichte des philosophischen Denkens wird diese Grundfrage in verwandelter und gleichsam vertiefter Gestalt immer wieder aufgeworfen. Das betrifft die Zeitenwende am Ende des antiken Kulturkreises, den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit und die Zeit der »Aufklärung«. Cassirer interessiert sich allerdings weniger für objektive Geschichtsmarken denn für die Herausbildung neuer »Denkformen«. So stehen Augustin, Montaigne und Descartes, wie auch Kant und Goethe für einen radikalen Wandel des tradierten Weltbildes, durch den auch der Begriff der Philosophie selbst verwandelt wird.41 Cassirer ist weit entfernt davon, im Zeitalter der Renaissance einen durchgreifenden Bruch mit dem mittelalterlichen Weltbild anzusetzen. Jakob Burckhardts Formel von der »Entdeckung der Natur und des Menschen«42 wird von ihm behutsam auf diese geistesgeschichtliche Periode übertragen. Insbesondere Petrarcas Schriften liefern ihm ein Indiz dafür, dass die »eigentümliche Differenzierung im Begriff des Menschen« innerhalb der Augustinischen Lebens- und Weltanschauung stattfindet. Während Augustinus in seinen »Confessiones« paradigmatisch den Heilsweg der menschlichen Seele beschreibt und seine Individualität in diese Perspektive einrückt, lenkt Petrarca immer wieder den Blick auf sich selbst und entwirft ein Bild seiner besonderen Individualität.43 So zeigt sich, dass die entscheidende Differenz zwischen der Kultur des Mittelalters und derjenigen der Renaissance in der bestimmten Stellung liegt, die der Mensch sich jeweils gegenüber der Welt zuspricht. Ebd., Bl. 15r–16v. Ebd., Bl. 17r. 42 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, 4. Abschnitt: Die Entdeckung der Welt und des Menschen, Bd. 2, S. 3–77. 43 Cassirer, Philosophische Anthropologie (Die ›Lehre vom Menschen‹ in ihrer philosophischen Entwicklung) [ I ], Bl. 29r: »[ . . . ] bei Petrarca beginnt sich dieses Verhältnis zu verschieben: er verweilt mit Vorliebe auch auf diesen Zügen des Eigenen, Einzelnen, Individuellen – er malt ›sich‹ in seinen ›Epistolae familiares‹ mit seinen Besonderheiten, Eigentümlichkeiten, Idiosynkrasien – und er fordert Interesse, ja Bewunderung – Von der Betrachtung des Reichtums, der Vielfalt, der Schönheit der Natur kehrt er immer wieder zu dieser Art der Selbstbetrachtung, ja Selbstbespiegelung zurück.« 40 41

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Mit Dilthey und Groethuysen hebt Cassirer die veränderte Funktion der Anthropologie hervor und lässt alle Fragen nach der Wesensstruktur des Menschen auf sich beruhen. »So wenig aber, im Dasein der E i n z e l m e n s c h e n , eine neue Auffassung vom ›Wesen‹ des Menschen – ein neues ›Ideal‹ des Menschen – hervortritt und konkret sichtbar wird – so verändert sich doch allmählich das B e w u s st s e i n d e s M e n s ch e n vo n s i c h s e l b s t und von seiner St e l l u n g i m K o s m o s – Lediglich d i e s e Veränderung ist es, die wir hier zu studieren haben – sie ist der Inbegriff dessen, was wir die › p h i l o s o p h i s c h e A n t h ro p o l o g i e d e r Re n a i s s a n c e ‹ nennen können[ . ]«44 Diese Bewusstseinsänderung vollzieht sich in der Auseinandersetzung mit den Fundamenten des mittelalterlichen Weltbildes. Eine Vielzahl durchaus heterogener Momente in Religion, Kunst, Sprache und Wissenschaft sind für die Entdeckung des Menschen verantwortlich. Diese Entdeckung impliziert weder eine streng philosophische Theorie des Menschen noch lässt sie sich in kulturgeschichtlicher Perspektive auf das Moment einer »Entfesselung des Individuums« reduzieren. Cassirer betont auch hier, dass die von Burckhardt entworfene und von Nietzsche und anderen entwickelte »Komprimierung« einer komplexen Entwicklung in dieser überprägnanten Formel zu kurz greift. Wer die Entdeckung des Menschen rein mit der Entfesselung seiner Kräfte gleichsetzt, der unterschätzt nach Cassirers Auffassung die Wirkkräfte der Tradition. Am Beispiel der Schriften Petrarcas wird diese These untermauert. Bei Petrarca steht die Nachahmung antiker Formen dezidiert, wie Cassirer betont, im Kontext ihrer inneren Aneignung. So wird die Versenkung in das fremde Ich zum Mittel der Behauptung der je eigenen Individualität. Die Bewunderung für die Werke der antiken Schriftsteller – für Petrarca steht Cicero im Zentrum des Interesses – geht über in eine kritische Auseinandersetzung mit denselben. Das Resultat dieser kritischen Prüfung der antiken Schriften und gleichsam der Selbstprüfung im Medium dieser Schriften ist die Konkretisierung einer persönlichen Ausdrucksform. Petrarcas »ästhetischer Individualismus«45 skizziert eine neue Lebensform, aber er ist weit davon entfernt, neue ethische Ideale aufzustellen oder gar die Konturen einer modernen politischen Welt zu liefern. Die zweite Etappe des Humanismus überschreitet die Freilegung der Individualität im bloßen Kult der ästhetischen Form (Petrarca) und zielt auf die ethisch-religiösen Grundhaltung des Menschen. Pico della Mirandola wird von Cassirer auch in den Göteborger Vorlesungen an Ebd. [ II ], in: Ernst Cassirer Papers. Beinecke Rare Book Library, Gen Mss 98, hier: Box 47, folder 940, Bl. 10v. 45 Ebd., Bl. 16r. 44

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prominenter Stelle genannt, weil sich in seinem Werk die Tendenzen seines Zeitalters verdichten – »in ihm spiegelt sich der ganze Reichtum der Epoche[ . ]«46 Cassirer hebt hervor, dass die Vielseitigkeit der Lehre Picos nicht in einen bloßen Synkretismus mündet, sondern vielmehr eine für die Bestimmung der Stellung des Menschen in der Natur und geistigen Welt weitreichende Konsequenz formuliert. »In Picos Rede ›De hominis dignitate‹ liegt der entscheidende Gedanke darin, daß dem Menschen seine Stellung im Universum nicht, wie allen anderen Naturwesen und wie den anderen geistigen Wesen (den Engeln) von Anfang an bestimmt ist – daß er nicht auf einen gewissen Platz in der Ordnung des Universums eingeschränkt, an eine bestimmte Stufe in der ›Hierarchie der Wesen‹ g e b u n d e n ist – Für ihn gibt es keine solche Bindung: der Mensch i s t das, wozu er sich aus freier Wahl und durch eigenes Tun macht[ . ] Er ist B i l d n e r s e i n e s S e i n s [ : ] a › s u i s i p s i u s p l a st e s e t f i c t o r ‹ [ . ] Damit ist ein für die gesamte Renaissance[ - ]Kultur entscheidender Gedanke ausgesprochen[ . ]«47 So verstanden geht es Pico nicht um einen ontologischen Status des Menschen, sondern um eine funktionale Differenz. Der Mensch »ist« das Wesen, in dem die ganze Welt als Fülle der Möglichkeiten persönlichen Ausdrucks, »eingefaltet« liegt; er »ist«, was er gemäß seinen Fähigkeiten zur Entfaltung, Ausbreitung und Offenbarung bringt; der Mensch hat Zugang zu allem Sein, aber er kann es immer nur gemäß seiner eigenen Form erfassen, d. h. formgebend. Der Mensch überschreitet in keiner dieser Form-Gestaltungen sich selbst, das heißt, er »ist« alles auf menschliche Art und alles stellt sich ihm auf menschliche Art dar. Das Ziel seiner Existenz bleibt folgerichtig innerhalb der Grenzen seiner Gattung, der »humanitas« eingeschlossen – sein höchstes Ziel kann nur sein, die Fülle seiner Möglichkeiten als Gattung auszuschöpfen, indem er seine individuellen Fähigkeiten aktualisiert. Der letzte Teil der Göteborger Vorlesungen steht unter dem Titel »Vorboten des Rationalismus«. Vor diesem Hintergrund betrachtet Cassirer Person und Werk Montaignes; letzteres wird unter dem Stichwort »Selbstauflösung der rationalistischen Anthropologie« verhandelt. Cassirer erkennt – wie vor ihm Dilthey und Groethuysen – in Person und Werk Montaignes den Eintritt in die moderne Welt. »Man kann mit Recht M[ ontaigne ] als den S c h ö p f e r d e r m o d e r n e n p h i l o s o p h i s ch e n A n t h ro p o l o g i e bezeichnen – Alles, was nach ihm gekommen, trägt s e i n e n Stempel – Weder Pascal, noch Descartes, noch Rousseau sind ohne das eindringende Studium M[ ontaigne ]’s zu 46 47

Ebd., Bl. 9r. Ebd., Bl. 8v.

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begreifen – ja selbst in Kants Denken gibt es eine Epoche, in der er unter M[ ontaigne ]’s Einfluss steht[ . ]«48 Was aber genau hat Montaigne für die philosophische Anthropologie geleistet? Cassirers Antwort lautet: Montaigne hat die anthropologische Grundproblematik, d. h. die Frage nach den Bedingungen menschlicher Selbsterkenntnis, ins Zentrum seines Denkens gerückt. Und er tut dies, wie Cassirer hervorhebt, mit einer bis dahin unvergleichlichen Radikalität. Während für die Denker der Antike, des Mittelalters und der Renaissance die Anthropologie lediglich der Vorbereitung einer Ethik, einer Religion oder Physik dient, »beseitigt [ Montaigne ] diesen ganzen ›Überbau‹ der Anthropologie – er verzichtet auf alle systematische ›Ethik‹ und jede systematische M e t a p h y s i k [ . ]«49 Sein Aufruf zum Selbststudium – »je m’étudie plus qu’autre sujet. C’est ma metaphysique, c’est ma physique« – markiert auch nach Cassirers Ansicht den Eintritt in die säkulare Welt der Moderne. Damit ist die Vorstellung aufgegeben, dass der Mensch auf dem Pfad intuitiver Erkenntnis des eigenen Ich zur allgemeinen Wesensschau des Menschen vordringen kann. Ihm fehlt, im Gegensatz zu Augustin, der Anspruch auf Allgemeingültigkeit dieser Introspektion. Montaignes Darlegung seiner Stimmungen und Gedanken, seines Geschmacks und seiner Vorurteile sucht diesen Verlust an Verbindlichkeit durch »Lebensnähe«, wie Cassirer es nennt, zu kompensieren. Diese Tendenz seiner Selbstdarstellung ist so eigentümlich, dass sich Montaigne nach Cassirers Auffassung jeglicher geistesgeschichtlichen Einordnung zu entziehen scheint. Sein Kampf gegen die Vorurteile der Tradition geht so weit, dass er nicht nur Offenbarungswahrheiten beiseite schiebt, sondern auch die Autorität der klassischen Autoren und den Geltungsanspruch der natürlichen Vernunft einschränkt. »Hier setzt die g ro s s e We n d u n g ein, die M[ ontaigne ] auf den ersten Blick aus dem Kreis der Renaissance überhaupt h e ra u s z u s t e l l e n scheint: heftigster Angriff gegen jeden o b j e k t i ve n Anspruch der Vernunft – alles[ , ] was sie uns gibt, ist leerer Schein – ist S e l b s t t ä u s c h u n g .«50 Montaignes Apologie de Raymond de Sabonde liefert die Anleitung, wie der Kampf gegen tradierte Lehrmeinungen zu führen ist. Unter dem Schein einer Apologie widerlegt er den Anspruch der natürlichen Theologie, das Dasein Gottes und die sittlichen Kernaussagen der christlichen Religion mithilfe des natürlichen Lichts des Vernunft beweisen zu können. Die menschliche Vernunft ist für Montaigne aber zu schwach, um eine konsistente Welterkenntnis oder gar allgemeingültige Leitlinien 48 49 50

Ebd., Bl. 19r–20v. Ebd., Bl. 20v. Ebd., Bl. 12r.

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der praktischen Lebensführung aufzustellen. Dieser theoretische und praktische Relativismus mündet in die Auflösung der rationalistischen Anthropologie. »Der Schluss ist die vö l l i g e s k e p t i s ch e Au f l ö s u n g einer »philosophischen« Lehre vom Menschen – Vom Menschen als dem flüchtigsten, veränderlichsten launischsten aller Wesen kann es keine ›Theorie‹ geben[ . ]«51 So gesehen markiert Montaigne bei Cassirer, wie schon bei Groethuysen, den Endpunkt einer Entwicklung und den Beginn einer neuen Epoche. Von Montaigne aus führt der Weg über Descartes zu Kant; dabei geht es um die Überwindung der radikalen Skepsis durch Vertiefung ihrer erkenntnistheoretischen Implikationen. Schon Descartes, so heißt es im letzten Satz des Vorlesungstextes, »überwindet den M[ ontaigne ]’schen Zweifel, indem er ihn steigert und z u E n d e d e n k t ! «52 In seinem 1939 publizierten Buch Descartes. Lehre – Persönlichkeit – Wirkung erörtert Cassirer, wie Descartes den skeptischen Zweifel an den Objektivität der Welt und der Möglichkeit menschlicher Selbsterkenntnis methodisch fruchtbar macht. Der Zweifel isoliert das Individuum, aber er deckt zugleich den Kern menschlicher Rationalität auf, der den Neuaufbau einer geistigen Welt sichert. »Für diese Selbstbefreiung ist der Zweifel das unerläßliche, das einzige Mittel. Er zerstört die Welt der Sinne und er negiert die geschichtliche Tradition. Er hebt die Geltung der Natur wie die der Kultur auf. [ . . . ] Er wirft das denkende Ich auf sich zurück und er läßt ihm nichts übrig als seine eigene Selbstgewißheit. Damit hat er es zu völliger Einsamkeit verurteilt und gleichsam in eine Wüste gebannt. Aber in dieser Vereinsamung werden ihm nun auch erst alle Kräfte deutlich und verfügbar, die ihm wirklich zugehören, die lediglich aus ihm selbst stammen.«53 Auf die Destruktion der Weltgewissheit im skeptischen Zweifel Montaignes folgt die Konstruktion der Selbstgewissheit im Ausgang des methodischen Zweifels durch Descartes. Alle Versuche des 17. und 18. Jahrhunderts, exakte Naturerkenntnis und ein Bild der kulturellen Welt, d. h. der Humanität zu konzipieren, sind nach Cassirers Ansicht daraufhin zu befragen, in welcher Weise sie eine Antwort auf diese geistesgeschichtliche Bruchstelle zwischen Montaigne und Descartes darstellen. Der Topos von der »Entdeckung des Individuums« (Burckhardt) in der Renaissance wird hier erweitert um die Zusätze »Vereinsamung« und »Befreiung« des Individuums. Erst diese Zusätze liefern ein genaueres Bild der geforderten Selbst- und Welterkenntnis unter den Bedingungen der Moderne. Hobbes, Spinoza, Leib51 52 53

Ebd., Bl. 5r. Ebd., Bl. 2r. Cassirer, Descartes. Lehre – Persönlichkeit – Wirkung, Stockholm 1939, S. 27.

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niz, Vico, Rousseau und selbst Kant entwerfen auf je unterschiedliche Weise eine Systematik der Natur und der geistigen Welt des Menschen, die das Resultat des skeptischen Zweifels, die Vereinsamung des Menschen, zum Ansatzpunkt seiner Befreiung von tradierten Weltbildern nimmt.54 Der Skeptizismus Montaignes weicht dem Cartesianischen Optimismus, der die Befreiung des Menschen zu einer erkenntnistheoretischen und sittlichen Aufgabe macht. »Descartes ist Optimist; aber er ist nicht Optimist der Natur, sondern Optimist der Vernunft. Für ihn besteht die wahre Freiheit und das wahre Glück nicht in der Emanzipation der Sinne, sondern in ihrer Beherrschung durch den selbstbewußten und selbstverantwortlichen Willen. [ . . . ] Descartes vertraut nicht nur der rationalen, sondern auch der sinnlichen Natur des Menschen [ . . . ]. Sie ist etwas Notwendiges – aber das sittliche Problem und die sittliche Aufgabe besteht darin, diese ihre Notwendigkeit in Freiheit zu verwandeln.«55 Mit Descartes ist nach Cassirers Auffassung der »Befreiungsprozeß des menschlichen Geistes« im Ausgang der Renaissance und ihrer Zuspitzung bei Montaigne in ein neues Stadium eingetreten. Von hier aus gesehen gibt es kein Zurück mehr, d. h. fortan ist philosophische Reflexion darauf verpflichtet, mit der Selbsterkenntnis anzuheben. In diesem Sinne ist Philosophie, sowohl theoretisch als auch praktisch, in der Moderne anthropologische Philosophie. Cassirers Studien zur Philosophie der Renaissance und seine Göteborger Vorlesungen haben die Problemstellung der modernen philosophischen Anthropologie freigelegt. Die zentrale Position Montaignes in der Entwicklung des anthropologischen Denkens resultiert aus der Tatsache, Cassirer, Philosophische Anthropologie (die ›Lehre vom Menschen‹ in ihrer philosophischen Entwicklung) [ II ], [ Einleitung der Vorlesung ] C) Aufklärung – 18tes Jahrhundert, Bl. 31r–38v. Vgl. ders., Die Philosophie der Aufklärung, hrsg. v. Gerald Hartung, Hamburg 1998, 1. Kapitel: Die Denkform des Zeitalters der Aufklärung, S. 1–47; insb. S. 3–4. »Die Epoche [ . . . ] fühlt sich von einer mächtigen Bewegung ergriffen und vorwärts getrieben; aber sie kann und will sich nicht damit begnügen, sich dieser Bewegung einfach zu überlassen, sondern sie will sie in ihrem Woher und ihrem Wohin, in ihrem Ursprung und ihrem Ziel begreifen. Dieses Wissen um das eigene Tun, diese geistige Selbstbesinnung und diese geistige Vorschau erscheint ihr als der eigentliche Sinn des Denkens überhaupt und als die wesentliche Aufgabe, die ihm gestellt ist. [ . . . ] Popes Wort ›the proper study of mankind is man‹ hat für dieses Grundgefühl einen kurzen und prägnanten Ausdruck geschaffen. Die Epoche fühlt, daß eine neue Kraft in ihr am Werk ist [ . . . ].« 55 Cassirer, Descartes. Lehre – Persönlichkeit – Wirkung, S. 248–249. Vgl. ders., Thorilds Stellung in der Geistesgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, in: Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademiens Handlingar. Del 51:1. Stockhom 1941, S. 16 ff. über die Bedeutung der cartesianischen und spinozistischen Ethik für das 18. Jahrhundert. 54

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dass von ihm erstmals die Frage nach den Bedingungen menschlicher Existenz isoliert von metaphysisch-theologischen oder ethischen Voraussetzungen gestellt wird. Mit Montaigne ist die Anthropologie im Kern empirisch geworden – in der Form von Selbst-Erfahrung, die mit der Entdeckung des Menschen im Zeitalter der Renaissance ernst macht, aber nicht zu einer philosophischen Theorie vom Menschen ausgebaut werden kann. Die Leistungsfähigkeit der Lehre Montaignes zeigt sich dort, wo er der Beschreibung der eigenen Natur ein Stück Lebensnähe abringen kann. Diese Unmittelbarkeit zum Lebensvollzug ist jedoch für eine philosophische Theorie vom Menschen, der es um Mittelbarkeit und Verallgemeinerbarkeit geht, entschieden zu wenig. Zudem steht dem Individuellen in den Skizzen Montaignes das Allgemeine, die menschliche Natur unvermittelt gegenüber; Freiheit wird der Naturnotwendigkeit lediglich abgerungen. Diese Weichenstellung ist folgenreich für die anbrechende Moderne. Denn der Naturalismus der biologischen Wissenschaft und der Determinismus der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts haben das Feld der empirischen Anthropologie ausgedehnt. Sie haben aber auch, wie Cassirer betont, gegen den Geist der Renaissance-Anthropologie die Vermitteltheit des Individuellen und Allgemeinen aufgehoben, indem sie das Individuelle unter die Gesetzmäßigkeit des Allgemeinen gezwungen haben. Dadurch hat das Ringen um »ein Wissen vom Leben«56 einen spezifisch neuen Sinn bekommen, der in der Moderne zu einer, nie zuvor gekannten Selbstproblematik des Menschen (Scheler) geführt hat. Cassirer fordert, um einen Ausweg aus dieser Krisensituation zu eröffnen, eine nachhaltige Besinnung auf die Weichenstellungen für die Moderne im Zeitalter der Renaissance. Das heißt, er erinnert einen Grundzug der Welt- und Lebensanschauung des Renaissancezeitalters, den er im Sinn seines symbolphilosophischen Denkansatzes zu mobilisieren sucht. Gemeint ist die, aus der Einsicht in die symbolische Struktur der Welt- und Selbsterkenntnis abgeleitete, Forderung nach einer ästhetischen, religiösen und ethischen Formung der menschlichen Kultur. Die These von der grundsätzlichen Vermitteltheit menschlicher Erkenntnis weist bei Cassirer und – in seiner Perspektive – bei den Gelehrten der Renaissance nicht auf ein bloß theoretisches, sondern zugleich auf ein praktisches Problem der Lebensbewältigung hin: es geht um die je individuelle Verantwortung für die Stabilisierung kultureller Existenz. Das ist der Kern humanistischer Geistestradition, Cassirer, Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie, in: Göteborgs Kungl. Vetenskaps- och Vitterhets-Samhälles Handlingar, Femte Foljden, Ser. A, Band 7, No. 3, Göteborg 1939, S. 7. 56

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den Cassirer bei den Denkern der Renaissance, bei den Vertretern des Neuhumanismus (Herder, Goethe, Humboldt) freilegt und für seinen programmatischen Entwurf einer »humanistischen Begründung der Kulturphilosophie« reklamiert.57 Im Gegensatz zu Dilthey und Groethuysen geht es Cassirer nicht nur darum, die Krisensituation der Moderne im Ausgang von Montaigne angemessen zu verstehen, sondern um eine Überwindung dieser Krise. Er geht hinter Montaigne zurück, um die Fundamente einer rationalistischen Anthropologie und die Einheit von Lebens- und Weltanschauung rekonstruieren zu können. So wird die Renaissance, und hier vor allem in den Jahren des Exils das Werk Pico della Mirandolas, zu einer »gelehrten Gegenwelt«. In der Darstellung von Pico’s Kampf gegen den religiösen Dogmatismus, die Schicksalsgläubigkeit der Astrologen und die Destruktion individueller Verantwortlichkeit in den averroistischen Lehren scheint das Muster von Cassirers eigenem Konflikt mit den naturalistischen Kulturtheorien (Taine), den deterministischen und fatalistischen Geschichtsdeutungen (Spengler) und der Daseinsanalytik Heideggers durchzubrechen. Wenn die Philosophie die Aufgabe hat, die Menschheit aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu führen – oder in Cassirers Worten: »Die Philosophie hat den Menschen so weit frei werden zu lassen, so weit er nur frei werden kann«58 – dann hat Pico diesen Weg beispielhaft aufgezeigt. »Pico was perhaps the only man in his age completely free from fear of demons and from fear of the baneful influence of the stars.«59 Nicht das Zeitalter der Renaissance insEbd. S. 28: »Alles was hier gesagt werden kann, ist, dass die Kultur sein und fortschreiten wird, sofern die formbildenden Kräfte, die letzten Endes von uns selbst aufzubringen sind, nicht versagen oder erlahmen. Diese Voraussage können wir machen und sie ist für uns selbst, für unser eigenes Tun und für unsere eigenen Entscheidungen die einzig belangreiche. Denn sie versichert uns freilich nicht von vornherein der unbedingten Erreichbarkeit des objektiven Zieles; aber sie lehrt uns gegenüber diesem Ziele unsere eigene, subjektive Verantwortung kennen.« Vgl. zutreffend Jürgen Habermas, Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck, Frankfurt / M.,1997, S. 38: »In der symbolischen Verfassung des menschlichen Daseins und der symbolischen Vermittlung seines Lebensvollzugs ist die Richtung einer humanen Lebensführung vorgezeichnet. Das Symbole verwendende Tier findet sich in Bildungsprozesse verstrickt, denen ein Kompaß eingesetzt ist, deshalb lehnt Cassirer es ab, im Humanitätsideal des 18. Jahrhunderts nur ein ethisches Ideal zu sehen. [ . . . ] Eine Theorie, die mit dem Prozeß der Symbolisierung zugleich den humanen Sinn von Zivilisierung überhaupt aufklärt, leistet schon von Haus aus, was eine philosophische Ethik leisten soll.« 58 Protokoll der Davoser Disputation zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer, in: Martin Heidegger, Kant und Problem der Metaphysik, Frankfurt / M 41973, S. 259. Vgl. dazu des Verfassers Einleitung zu Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung. Hamburg 1998, S. VII–XXIII. 59 Cassirer, Giovanni Pico della Mirandola. A Study in the History of Renaissance Ideas, S. 344. 57

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gesamt, aber der Mensch Pico wird für Cassirer zur Leitfigur im Kampf gegen die dunklen Mächte seiner Zeit.60

60 Vgl. hierzu das posthum publizierte Werk Cassirers »The Myth of the State« (1946); dt. Übersetzung: Der Mythos des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Handelns, Frankfurt / M. 1985; insb. S. 388: »Die großen Denker der Vergangenheit waren nicht nur »ihre Zeit, im Denken erfaßt«. Sehr oft mußten sie über ihre Zeit hinaus und gegen sie denken. Ohne diesen geistigen und moralischen Mut könnte die Philosophie ihre Aufgabe im kulturellen und sozialen Leben des Menschen nicht erfüllen.«

Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Giuseppe Cacciatore Università di Napoli Facoltà di Lettere e Filosofia Via Porta di Massa 1 80133 Napoli Dr. Gerald Hartung Institut für Kulturwissenschaften PSF 920 04009 Leipzig e-mail: [email protected] Prof. Dr. Helmut Holzhey Philosophisches Seminar Universität Zürich Zollikerstr. 117 CH-8008 Zürich e-mail: [email protected] Prof. Dr. Thomas Leinkauf Philosophisches Seminar Domplatz 23 48143 Münster email: [email protected] PD Dr. Martin Mulsow Burkheimer Str. 5 81245 München e-mail: [email protected]

Professor Dr. Stephan Otto Meichelbeckstr. 18 81545 München Dr. Ursula Renz Philosophisches Seminar Universität Zürich Zollikerstr. 117 CH-8008 Zürich e-Mail: [email protected] Prof. Dr. Enno Rudolph Philosophisches Seminar Universität Luzern Kasernenplatz 3 CH-6000 Luzern 7 e-mail: [email protected] Prof. Dr. Gunter Scholtz Institut für Philosophie Ruhr-Universität Bochum Universitätsstr. 150 44780 Bochum e-mail: [email protected]