Illustrierte Kulturgeschichte des Alltags [Reprint 2019 ed.] 9783486778892, 9783486778885

162 106 26MB

German Pages 373 [376] Year 1952

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Illustrierte Kulturgeschichte des Alltags [Reprint 2019 ed.]
 9783486778892, 9783486778885

Table of contents :
INHALT
EINLEITUNG
I. VOM ALTERTUM ZUR NEUZEIT
II. Das Jahrhundert Luthers und der Entdeckungen
III. Das Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges und Ludwigs XIV
IV. Das Jahrhundert Friedrichs des Großen, Goethes, der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution
V. Von Revolution zu Revolution
Schrifttum und Anmerkungen
Register
Bildteil

Citation preview

I l l u s t r i e r t e K u l t u r g e s c h i c h t e des A l l t a g s

W I L H E L M

T R E U E

Illustrierte Kulturgeschichte des Alltags

Mit 48 ganzseitigen

R. O L D E N B O U R G

Kunstdrucktafeln

VERLAG 1952

MÜNCHEN

Bearbeitung des Bildteils: Wolfgang Freiherr von LÖhneysen Einband und Umschlag i Hans Hermann Hagedorn

Copyright 1952 by R. Oldenbourg Verlag, München Printed in Germany Gesamtherstellung R. Oldenbourg, Graphische Betriebe, München

INHALT Einleitung I. Vom Altertum zur Neuzeit

7 10

II. Das Jahrhundert Luthers und der Entdeckungen .

64

III. Das Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges und Ludwigs X I V

104

IV. Das Jahrhundert Friedrichs des Großen, Goethes, der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution V. Von Revolution zu Revolution

143 209

Schrifttum und Anmerkungen

260

Register

268

Bildteil

277

EINLEITUNG Wollte man heute eine Kulturgeschichte schreiben, die einen vollständigen Einblick in den Wandel der Lebensbedürfnisse aller Zeiten, gleichsam einen historischen Spiegel der Völker enthalten sollte, so würde weder das Wissen noch die Kraft eines Menschen noch auch gar der Umfang eines Bandes wie des vorliegenden im geringsten einem solchen Unternehmen die genügende Grundlage bieten. Ständig mehren sich unsere Kenntnisse nicht nur von unseren deutschen Vorfahren bis in Zeiten, die noch vor verhältnismäßig wenigen Jahren in undurchdringlichem Dunkel zu liegen schienen, fast täglich erfahren wir auch neue, interessante und wichtige Einzelheiten zur Kulturgeschichte unserer Nachbarvölker, weit entfernter alter Kulturstaaten und neuer kolonialer Lebensgemeinschaften. Bestand noch im vorigen Jahrhundert f ü r viele Menschen die Geschichte eines Volkes in der Aufzählung seiner Kriege und Schlachten, seines Landgewinnes oder -Verlustes, in lückenlosen Stammbäumen seiner Dynastien, so haben verdienstvolle Forscher und Dichter immer mehr darauf aufmerksam gemacht, daß die wahre Geschichte eines Volkes, ja, überhaupt de'r Menschheit, nicht in diesen wenigen Tatsachen zu finden ist, daß diese vielmehr im günstigsten Falle nur das Gerippe der Geschichte abgeben. "Was nun tatsächlich das Leben eines Volkes in der Geschichte gebildet hat, das erkennen wir, so sonderbar es erscheinen mag, am besten an dem, was uns gestern und heute und morgen interessiert: die Entwicklung der Sitten und Gebräuche, der Gepflogenheiten bei Tisch und in der Geselligkeit, die Einführung neuer und das Zurücktreten alter Genußmittel, die Wandlungen der Wohnkultur, der Einfluß des Theaters, der Musik, der Themen bei geselliger Unterhaltung, die modischen Einflüsse auf Reiselust und Wissenschaft, ja, bis zu einem gewissen Grade sogar auf Krankheit und Gesundheit, auf die Bedeutung des Arztes, selbst der Religion — alles Alltäglichkeiten, deren Gewicht in der Kulturgeschichte nicht immer und zu jeder Zeit deutlich erkennbar ist. Dies alles

8

Einleitung

und vieles andere, was auf den folgenden Seiten mehr oder weniger ausführlich anklingen wird, ist Folge, ist aber audi U r sache lebendigen geschichtlichen Werdens. Es ist nicht kleinliche Geschichtsbetrachtung aus der Froschperspektive, wenn man sich f ü r die Tischsitten vergangener Zeiten, f ü r das Aufkommen von Mundtuch, Messer und Gabel interessiert. Kein vernünftiger Mensch wird behaupten, daß die Wandlungen solcher Dinge auf unmittelbarem Wege die großen Lebensentscheidungen der Völker und ganzer Kontinente maßgeblich beeinflußten. Aber daß sie unter vielem anderen auch teilgehabt haben an der Grundlage solcher Geschehnisse, daß sie zum anderen nicht selten ein deutliches Merkmal f ü r politische und kulturelle Abhängigkeit oder Überlegenheit eines Volkes zu bilden vermögen, das wird jedem Betrachter sofort klar, wenn er nur bedenkt, wie weit und bis auf welche Einzelheiten der kulturelle Einfluß Frankreichs sich zur Zeit Ludwigs X I V . und noch Friedrichs des Großen über ganz Europa erstreckte. Werden wir uns nun zwar auch im folgenden aus naheliegenden Gründen bei der Betrachtung der kulturellen Entwicklung in erster Linie mit der Geschichte unseres deutschen Volkes beschäftigen, so muß doch gerade eine kulturgeschichtliche Darstellung auch wieder über die politischen Grenzen hinüberblicken und zu erkennen versuchen, was von dorther gekommen, was dorthin getragen worden ist. So wird also ein kulturgeschichtlicherUberblick schließlich kaum ohne dauernde Einbeziehung aller größeren europäischen Völker, in jüngeren Zeiten auch Amerikas und Asiens, auskommen können. Noch ein anderes ist zu bedenken: die Geschichte des deutschen Volkes u m f a ß t Jahrtausende; die anderer Völker ist kaum kürzer, verschiedentlich reicht sie sogar in weit frühere Zeiten zurück. Es wäre nun ein unmöglicher Versuch, jene frühesten Jahrhunderte der Geschichte mit derselben Ausführlichkeit und Eindringlichkeit zu betrachten, die wir uns f ü r jüngstvergangene Epochen vorbehalten. Wie es eine europäische Staatengemeinschaft im eigentlichen Sinne t-rst seit dem späten Mittelalter gibt, wie sich die Verschiedenheit menschlicher Entwicklung in Europa erst seit jener Zeit feststellen läßt, so wird sich auch die Darstellung bei der Betrachtung früherer Zeiten auf gelegentliche Streiflichter und Rückblicke beschränken müssen, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben wollen. U n d stets wird der Leser bedenken müssen, daß alles, was hier er-

Politik und Kultur

9

zählt u n d erwähnt wird, jedesmal nur zu dem einen oder anderen paßt — zu Ritter oder Bauer, Städter oder Fürst, K a u f m a n n oder Handwerker, arm oder reich. U n d es ist nur zu hoffen, daß im Gesamtbild von vielem etwas in Erscheinung tritt, damit .die Vielfalt der Lebensformen und -möglichkeiten deutlich wird.

* Anspruch auf Vollständigkeit erhebt ebensowenig der dieser Kulturgeschichte beigegebene selbständige Bildteil. Alles H e r v o r gehobene bildlich zu belegen, würde ganze Bän,dereihen verschiedenster Anordnung erfordern. Statt dessen will die kleine ausgewählte Bilderreihe — auf die nur in besonderen Fällen auch im Text verwiesen wird — als eine begleitende kulturgeschichtliche Entwicklungsfolge f ü r sich genommen werden, die den Wandel des Kulturbewußtseins und Kulturausdrucks an einer Reihe von Gemälden insonderheit hinsichtlich des Wohnbaus und des wechselnden Verhaltens zur N a t u r und ihrer künstlerischen Wiedergabe zur Anschauung bringen möchte.

I. VOM ALTERTUM ZUR

NEUZEIT

E s ist ein langer Zeitabschnitt, dem wir hier in dem ersten Kapitel gegenüberstehen: er reicht von dem Jahrhundert der sterbenden Antike und der großen Völkerzüge bis an die Tür zur Neuzeit. Eine ungeheure Menge von Geschehnissen hat die Entwicklung dieser Zeit bestimmt. Deuten wir mit den äußeren Ereignissen den Umkreis an: das Aufsteigen der Karolinger zu ihrer Höhe in Karl dem Großen; die gesamte deutsche Kaisergesdiichte — bei aller Uneinigkeit über den "Wert der deutschen Rompolitik einer der glanzvollsten, an strahlenden Höhen und düsteren Tiefen reichsten Abschnitte der gesamten europäischen Geschichte —; die Kreuzzüge, welche erstmalig in der neuen Zeit einen Zusammenstoß des Abendlandes mit dem Orient auf größerer Breite bedeuteten; in den späteren Jahrhunderten, seit dem Tode des großen Kaisers Friedrich II., die Zeit des Reichsverfalles; das in einem anderen Sinne, als die Humanisten meinten, dunkle Mittelalter, gekennzeichnet durch die Machtlosigkeit des Reiches unter untüchtigen Herrschern und durch eine Fülle selbständiger Regungen in den Territorien. Das sind die gröbsten Züge in dem Bilde der deutschen Geschichte, welche allerdings in den Tagen Karls des Großen und wieder für Jahrhunderte seit Heinrich I. und Otto dem Großen die europäische und damit die damalige Weltgeschichte bedeutete. Erst als Zersplitterung der politischen Arbeit, als Eigennutz der Territorialherren, Auseinandersetzungen zwischen staatlicher und kirchlicher Herrschaft das Leben des Reiches von innen her angreifen und zersetzen konnten, vermochte die Entwicklung in den Nachbarstaaten zu einer Gefahr für das Deutschtum und für die deutsche Herrschaft zu werden. Nicht so sehr das Wachstum der Nationalstaaten Frankreich und England selbst bedeutete die Gefährdung, als vielmehr die deutsche Schwäche, welche der Begehrlichkeit jener aufkommenden, innerlich in vielem noch unfertigen, aber expansionslustigen Neubildungen einen Anreiz bot und den Gewinn an Land und Macht leicht greifbar erscheinen ließ. Aus der Sphäre der Machtpolitik

Ritterliche Kultur

11

wurden und werden stets Ideen, Weltanschauungen und Lebensformen geboren und entwickelt. Daß die vielfach schwächlichen und unpolitischen Nachf olger der Staufer solche Grundbedingungen nicht erkannten, weder im Westen noch im Osten noch im Süden kraftvoll auftraten, vielmehr, der inneren Schwäche entsprechend, dynastische Politik trieben und zu erheiraten suchten, was ihre Waffen weder erobern noch verteidigen konnten, ist die letzte Ursache für die staatliche Schwäche, welche die deutsche Geschichte charakterisieren sollte bis zu den Zeiten, da in Brandenburg-Preußen ein neues machtpolitisches Zentrum erstand. Betrachten wir das innere Leben in diesem Zeitabschnitt, so begegnet uns ein durchaus entsprechendes Bild. Zwei Glanzpunkte leuchten dabei hervor. Einmal die ritterliche Kultur der großen Kaiserzeit, welche in unzähligen Zeugnissen, in Bauten und Kunstwerken wie in der Literatur bis auf unsere Tage erstrahlt. Die Entwicklung vom Romanischen zum Gotischen charakterisiert diese Zeit nicht nur im Kirchenbau, nicht allein in der Baugeschichte überhaupt, sie greift tief hinein in das menschliche Leben, in die menschliche Haltung. Man gewinnt einen Einblick in das Lebensgefühl über die Höhe hinaus bis zum Absinken und Übergleiten in eine neue Epoche, wenn man einmal die Bedeutung der Frau betrachtet, die schließlich den Mittelpunkt jener ritterlichen, kampfesfreudigen Kultur bildete und noch in der Übertreibung der Spätzeit, im wesenlosen Kult, der sich von der echten Grundlage der Hochzeit getrennt hatte, in der Konversation, als die Frau zur Dame und weiter zum unkörperlichen Objekt wortreicher Verehrung wurde, dieser Zeit einen eigenartigen Glanz gab. Minnesänger und Troubadours, Ritterturniere und schöne Frauen, Heerzüge nach dem Osten, Süden und in das Heilige Land werden uns stets als Charakteristika einer Zeit erscheinen, welche zu den glänzendsten Erinnerungen des Volkes zählt. Als aber dieser Abschnitt sich rundete, als das Rittertum, mehr aus Lebensschwäche als aus ökonomischen Gründen und infolge der Erfindung des Pulvers, zum Raubrittertum absank, trat die abendländische Geschichte den Weg zum zweiten Glanzpunkt an: Es begann die bürgerliche Zeit, welche in Männern wie Fugger, wie Dürer, wie Pirkheimer und Luther, in den Bürgerbauten der deutschen Städte, in der großen Kunst des Humanismus und der Renais-

12

Vom Altertum zur Neuzeit

sance in Deutschland ihre V o l l e n d u n g erreichen sollte. A l s

das

Deutsche Reich machtpolitisch d a r n i e d e r l a g , b e g a n n bezeichnenderweise die Blütezeit des K a u f m a n n e s , der als I n d i v i d u u m auf die innenpolitische S p h ä r e beschränkt blieb. W o er aber versuchte, in größerer Gemeinschaft, so in der H a n s e , aus d e m engen R a h m e n des S t a a t e s hinauszutreten, d a scheiterte er sehr b a l d n a d i k u r z e m , aber großem E r f o l g e an eben der Machtlosigkeit des Staates, welche ihm gleichzeitig die U n g e b u n d e n h e i t wirtschaftlicher T ä t i g k e i t gewährte. D a s Reich bot dem K a u f m a n n keinen Schutz; die H a n s e w a r trotz aller politischen u n d wirtschaftlichen E r f o l g e auf die D a u e r lebensunfähig. Diese Überlegungen leiten schon über z u d e m J a h r h u n d e r t L u t h e r s und der Entdeckungen. Sie reichen bereits aus dem Mittelalter in die N e u z e i t , wie denn auch der bürgerliche Mensch z w a r in jenem entstand, in dieser aber seine große Zeit erleben sollte. W e n d e n wir uns zurück z u den A n f ä n g e n unserer Geschichte, und suchen wir im einzelnen nach den Zügen, welche uns die hier k n a p p gezeichneten großen Linien bestätigen u n d erläutern. W o w o h n t e denn der deutsche Mensch, als die wilden J a h r h u n d e r t e der V ö l k e r w a n d e r u n g und der sterbenden A n t i k e v o r ü b e r g e j a g t w a r e n ? J e n e Zeiten w a r e n wenig d a z u a n g e t a n , e t w a schon nördlich der A l p e n ein städtisches L e b e n a u f k o m m e n zu lassen, d a s auch nur entfernt mit dem der großen griechischen und römischen Geschichtsepochen verglichen werden könnte. I m alten römischen Z e h n t l a n d hatte der G e r m a n e n s t u r m die S t ä d t e so nachdrücklich zerstört, d a ß z. B. das mittelalterliche T r i e r auf einer vier Meter hohen T r ü m m e r scbicht erbaut wurde. M i t vielen sorgfältigen A u s g r a b u n g e n hat m a n im 19. J a h r h u n d e r t geglaubt, die R e s t e der alten, v o n Augustus etwa im J a h r e 14 v o r Christi G e b u r t gegründeten kaiserlichen Resid e n z s t a d t ans Tageslicht gebracht z u haben, v o n der aus die westlichen T e i l e des Römischen Reiches zwischen G i b r a l t a r im Süden und Schottland im N o r d e n regiert w o r d e n sind. V i e l e dieser Ü b e r bleibsel der nächst R o m bedeutungsvollsten frühchristlichen M e t r o pole, jenes religiösen und politischen K e r n - und A u s g a n g s p u n k t e s westlicher K u l t u r sind im zweiten W e l t k r i e g e endgültig vernichtet worden. A b e r Artilleriebeschuß und B o m b a r d e m e n t haben auch ungeahnte Sehätzc freigelegt: so einen T h r o n s a a l K o n s t a n t i n s d. G r . und seiner N a c h f o l g e r aus dem 4. J a h r h u n d e r t , so in und unter

Römische Reste in Deutschland

13

einem Kloster an der Mosel einen Getreidespeicher von 5000 Q u a dratmetern Grundfläche, welcher derBevölkerung und der römischen Rheinarmee diente, und schließlich große Mosaiken mit christlichheidnischen Motiven aus der Zeit, da das Römische Reich offiziell zum Christentum überführt wurde — das heißt aus jenen Jahren, da der lateinische Dichter Ausonius sein noch heute erhaltenes Loblied auf die Mosel dichtete. Ganz abgestorben ist das Leben natürlich in diesen alten Römerstädten nie. Als Wohnort frühchristlicher Einsiedler, als Bischofssitze, später dann als Grundlage f ü r klösterliche Gründungen haben sie oft genug an Rhein, Mosel und Donau ihre große Bedeutung erwiesen. Aber zu der Zeit, mit der wir uns hier im Augenblick beschäftigen, spielten sie keine besondere Rolle. Der deutsche Bauer — er bildete ja doch die überwiegende Mehrheit des Volkes — wohnte in seinem Holzhaus, dessen Form als alemannischer, bajuwarischer, fränkischer und niedersächsischer T y p bis auf unsere Tage fast unverändert geblieben sein mag, wenngleich die ältesten erhaltenen Bauernhäuser kaum über das 15. Jahrhundert zurückreichen. Zu jener Zeit, da der Bauer in seiner Hofwirtschaft den gesamten Bedarf an Geräten und Werkzeugen selbst herstellte, da es den Stand selbständiger vollberuflicher Gewerbetreibender ebensowenig gab wie etwa Wochenmärkte f ü r landwirtschaftliche Erzeugnisse, bestand keinerlei Notwendigkeit f ü r die Anlage von großen Städten. Denn zunächst wurde einmal das wirtschaftliche Gleichgewicht der Antike durch den schnellen Einbruch des Islams zerstört, der in raschem Vorstoß im Laufe des 7. Jahrhunderts die östlichen, südlichen und westlichen Küsten des großen europäischen Binnensees der Antike, des Mittelmeers, eroberte und damit eine ganz neue Lage schuf. Seitdem ward dieses Meer Schranke, nachdem es tausend Jahre Orient und Okzident verbunden hatte. Vom 9. bis zum 11. Jahrhundert befand sich der Okzident, vom Osten gesehen, „hinter Schloß und Riegel". Der Handelsverkehr aber vermochte diese Unterbrechung der Schiffsverbindungen nicht zu überleben, mit denen gleichsam seine H a u p t a d e r durchschnitten wurde. Der einst so rege Handelsaustausch zwischen den H ä f e n Italiens, Afrikas, Spaniens, Galliens und deren Hinterland versiegte, der Berufsstand der Kaufleute verschwand, die von ihnen getragene städtische Kultur stürzte zusammen. Allgemein setzte eine wachsende Verarmung ein, der rö-

14

Vom Altertum zur Neuzeit

mische GolcLsolidus wich — höchst bezeichnend für den Bruch mit der Antike und die Armut der Zeit — dem Silbergeld der Karolinger, und die Epoche Karls d. Gr., so machtvoll sie sich politisch ausnimmt, bedeutete wirtschaftlich gegenüber der Zeit der Merowinger, im Süden noch stärker als im Norden, einen Rückgang, wenn nicht einen Verfall. Deutlich sank seit dem Ende des 8. Jahrhunderts das westliche Europa in den Zustand reiner Landwirtschaft zurück. Allein die Scholle, von der Kaiser und Sklave lebten, bedeutete Reichtum; sie war die Grundlage der sozialen Rangstellung: das Lehnswesen des westlichen Europas, so wie es seit dem 9. Jahrhundert bestand, war die politische Auswirkung der gesellschaftlichen Umkehr zu reiner Agrarkultur, deren auffälligstes und charakteristisches Phänomen vom wirtschaftlichen Standpunkt aus einmal der Grundbesitz und das Streben nach Latifundien, zum anderen der Mangel an Absatzmärkten in einem städtearmen Raum unzähliger selbstgenügsamer Hauswirtschaften, d. h. das Verdorren des Handels war. Die Gesellschaftsordnung dieser Zeit war infolgedessen agrarisch. Unter einer Minderheit kirchlicher und weltlicher Herren, die sich in den Besitz des Landes teilten, befand sich eine Mehrheit von Hintersassen, von Leibeigenen: das Wort vilain bezeichnete zugleich den Bauern in einem Dorf (villa) und den Leibeigenen. Das bedeutete nun freilich nicht, daß es keine großartigen Bauten gegeben hätte. Vielmehr standen mitten unter den gedrungenen, kräftigen Holzhäusern der deutschen Bauern jene Kaiserpfalzen in Aachen und Ingelheim, jene mächtigen Bischofskirchen auf dem Boden alter Römerstädte wie Köln, Mainz, Worms, Regensburg und in jüngeren Gründungen wie Hamburg oder Salzburg. Spätantike Baugedanken und oströmische Anregungen vereinten sich hier mit den Bräuchen, die f ü r den Bau germanischer Herrensitze Geltung hatten: wie auf weitgebreiteter Fläche die stolzen Holzhallen, Schlafhäuser, Gästebauten und Stallungen des Sitzes eines Germanenfürsten verteilt waren, so oder doch ähnlich wurden auch Karls des Großen Pfalzen erbaut. Als dann später ein Handwerkerstand sich bildete, der überhaupt erst die Möglichkeit und zugleich Notwendigkeit einer Stadtbildung veranlaßte, entstanden auch sehr bald die ersten, für lange Zeit vorbildlichen Stadtsiedlungen, wie wir sie noch heute zuweilen be-

Frühe Städte

15

obachten können: die Burg des Ritters oder Bisdiofs, das Hospital, das Gasthaus und rund herum die Handwerkerhäuser. Der Bauplan von St. Gällen aus dem Anfang des 9. Jahrhunderts wird heute für ein Musterstück der Kloster- und anschließenden Stadtsiedlung jener Zeit gehalten. Wir können nicht verfolgen, wie sich solche Städte Straße um Straße erweiterten, wie der Kirchenbau Rohstoffhändler und zahlreiche Handwerker zur Ansiedlung bewog, wie der Adel nicht sehr spät in die Stadt zu ziehen begann — und dabei übrigens vielfach, Burg an Burg reihend, seine alte Wohnweise beibehielt —, wie mitten in diese werdenden Städte, und für gewöhnlich ohne Rücksicht auf dhr Straßennetz, neue Kirchen gestellt wurden, und wie schließlich dabei still und unauffällig im Sdiatten der beiden Kulturträger und Bauherren jener Zeit, der Kirche und des Ritters, der Bürger heranwuchs. Schritt für Schritt verengte sidi im Laufe der Zeit bis zum Anfang des 12. Jahrhunderts in Deutschland der landwirtschaftliche Lebensraum so sehr, daß durch Rodungen allein eine weitere Ausdehnung kaum mehr möglich war. Ein lebhafter Austausch von landwirtschaftlichen und gewerblichen Gütern wurde schon seit dem 10. und 11. Jahrhundert üblich — er hatte seine Stätte zumeist auf den Wochenmärkten, die dem Landesherrn Zoll und andere Abgaben eintrugen und daher von ihm gern gesehen und gefördert wurden. Zu ihrem Schutz wurden die Städte mit dem Markt von einer Mauer umgeben, die Anschluß an eine etwa schon vorhandene Burg fand — die Burg war Beherrscherin und Beschützerin der Stadt und des Marktes geworden. Bürger, Markt, Marktgericht und Stadtmauer ließen die anfänglich regellose Gewerbesiedlung zur Stadt werden. Der Bürger trat als dritter Kulturträger neben Priester und Ritter. Ob diese Städte nun im Süden oder Norden, im alten Westen oder im Siedlungsneuland des Ostens standen: über alle Verschiedenheiten hinweg waren sie durch die Gleichheit der Grundelemente verbunden. Planmäßigen Städtebau gab es bei den Zähringern in Rottweil, Bonn und Freiburg nicht weniger als im kolonialen Siedlungsgebiet des Ostens — ja, im Grunde reicht, wie für die Bau- und Kulturgeschichte jener Jahrhunderte, auch für den Städtebau die Wurzel bis nach Burgund. Das Leben in diesen neuen Städten, deren Kirchen, Rathäuser,

16

Vom Altertum zur Neuzeit

Stadttürme, Stadtklöster, Hospitäler und Bürgerhäuser uns noch heute zur Bewunderung bewegen und die strenge mittelalterliche „Rangordnung der Werte" von der Kathedrale bis zu den einfachsten Profanbauten erkennen lassen, unterschied sich von dem städtischen Leben der großen römischen Zeit wiederum mindestens ebenso stark, wie die mittelalterliche Stadt von der antiken verschieden war. Die Paläste, der Luxus in den Villen, Parks und Gärten der beiden Zeiten sind kaum irgendwie zu vergleichen, da sie von ganz verschiedenen Voraussetzungen bestimmt wurden und auch auf ganz verschiedene, unvergleichbare Dinge gerichtet waren. Am besten können die Unterschiede vielleicht an einigen Prachtbauten erkannt werden. Unter den italienischen Palästen der Renaissancezeit ragten schon gegen Ende des 15. Jahrhunderts die venezianischen durch ihre Pracht hervor. So hatte z. B. allein die bauliche Ausstattung eines Zimmers von zwölf Ellen Länge, das f ü r eine vornehme Wöchnerin bestimmt war, etwa 18 000 Mark gekostet. Der heute noch stehende Palast, den am 5. 9. 1450 der berühmtberüchtigte französische Finanzmann Jacques Cœur, zu seiner Zeit vermutlich der reichste Mann Europas, in seiner Heimatstadt Bourges mit einem großen Schmaus einweihte, übertraf nach dem Urteil der Zeitgenossen alle Schlösser des Königs. Kein anderer Handelsherr und politischer K a u f m a n n hat ein so bewegtes Leben geführt wie dieser Mann, der um 1395 geboren wurde — also in derZeit der Heiligen Jeanne d'Arc und des Dichters François Villon gelebt hat — und bis zum Münzmeister von Paris, Schatzmeister König Karls V I I . , Pächter der königlichenBergwerke, Botschafter beim Vatikan, in Genf, Lausanne und Genua, vor allem aber zum nie versagenden Finanzier seines H e r r n aufstieg, endlich aber seinen Neidern und Hassern zum O p f e r gefallen, verhaftet und zu lebenslänglicher Gefangenschaft verurteilt worden ist. Im Jahre 1455 ist er geflohen und ein Jahr später anläßlich eines Kreuzzuges auf Chios im Kampf gegen die Türken verschollen, sodaß sich an ihn, wie an Kaiser Friedrich I. und so viele andere bei Lebzeiten Berühmte, Bewunderte und Gefürchtete, die verschiedensten Legenden knüpfen konnten. Sein Palast in Bourges (Abb. 4) war das typische Haus des Emporkömmlings, des einzigen Kaufmannes in Frankreich, vielleicht sogar in Europa, der sich einen solchen Prachtbau erlauben

Jacques Cœur

17

konnte. Unid doch, fügte er sich nicht etwa dem Vorbild italienischer Palazzi, sondern paßte Wohnräume, Kontore und Wechselstuben wohlverteilt mit dem Sinn f ü r Zweckmäßigkeit, Bequemlichkeit und Fortschritt in französische Bauelemente ein, wobei eine Badestube mit Warmluftheizung und Aborte mit eigener Lüftungseinrichtung von dem zwischen Ärmelkanal und Levante weitgereisten Bauherrn nicht vergessen wurden. D a ß kein königliches Schloß und kein fürstlicher Palast auf seiner Fassade mehr heraldische Embleme aufwies, daß aber die Wappenzeichen des erst 10 Jahre zuvor Geadelten angebracht wurden, wo immer nur ein Plätzchen sich fand, und die Devise, daß „tapferen Herzen nichts unmöglich" sei, verschiedentlich wiederkehrt, zeigt weniger schlechten Geschmack als die der Zeit gemäße grobe Arroganz und das plumpe Selbstbewußtsein des Arrivierten und Neureichen, der sich der traditionellen feudalen Ideologie und Werteskala entgegenstellte. So wurden auch die Reliefs am Hause Satiren auf den Adel, welche die unangreifbare Stellung des Bürgers, Kapitalisten und Ratgebers unterstrichen: der ganze Palast eine frühe Offenbarung des bürgerlichen Geistes, der sich im 16. Jahrhundert bei Fugger, im 17. Jahrhundert bei den Kaufleuten und Reedern Amsterdams, im 18. bei denen Londons und im 19. in der Lebensart der durch politische und industrielle Revolutionen zu Konstitutionen und Maschinen gelangten Bürgersleute ausdrückte. Hier in Bourges war es der A n f a n g des Aufstiegs dieses kapitalistischen Bürgertums, das Ende des Zeitalters der Schlösser und Klöster, der Herbst des Mittelalters und der Vorfrühlung der Moderne, die späte Gotik und eine Vorahnung der Renaissance, der Übergang vom feudalen Schloß zum bürgerlichen Palast: es war der abenteuerliche Finanzmagnat, der späteren Erben das Rentnerdasein vorbereitete. Vergleicht man mit diesem Prunk, der stets nur den Reichsten und Mächtigsten möglich war, die Wohnung eines angesehenen Bürgers des 14. oder 15. Jahrhunderts in einer deutschen großen Stadt, so ist man überrascht, wie dürftig selbst bei Wohlhabenden um diese Zeit die Ausstattung ist: die Räume schmucklos, darin wenig Gerät, das Zusammenleben eng — das ist das Kennzeichen jener Zeit. Erst ganz allmählich beginnen die Kaufleute, durch ihre H a n delsverbindungen nicht nur den Lebensunterhalt zu verdienen, sondern auch mit den Annehmlichkeiten des Daseins sich zu umgeben. .'

Treue,

Kulturgeschichte

18

Vom Altertum zur Neureit

Voran gingen dabei natürlich diejenigen, welche Verbindungen nach dem Süden hatten, wo aus den großen italienischen Handelsstädten und weiter aus dem Orient bis China und J a p a n die Kostbarkeiten herbeigeschafft wurden, die den Luxus jener Zeit bildeten. Noch war sogar der O f e n ein seltener Bestandteil des Bürgerhauses; gab es ihn, so w a r er aus Back steinen oder einfach schwärzlich gestrichenen Kacheln errichtet und in der Form schlicht und schmucklos. N u r die wohlhabenden Häuser besaßen größere bunte Ö f e n mit Sitzen an den Seiten. Dieser Ofen und die bunten, in Blei gefaßten Glasrauten der Fenster, die anfangs nur Teppichmuster nachahmten, später kunstvoll ausgeführte Wappenbilder zeigten, galten dann aber auch als der schönste und kostbarste Schmuck des Hauses. Erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts wurden die Zimmer mit Kalkfarben ausgemalt. Die Möbel waren einstweilen noch einfach und gewöhnlich schmucklos. Tisch, Holzstühle, Bänke, Truhen und Kästen, seltener Schränke füllten das Zimmer. D a die Häuser nicht groß waren und viel R a u m bei Kauf leuten und Gewerbetreibenden auf Warenlager, Vorräte und Werkstatt oder Geschäft verwandt werden mußte, war auch in den Häusern Wohlhabender der Platz beschränkt. So oder doch ähnlich, wie wir sie hier kurz beschrieben haben und wie sie noch heute auf zahlreichen Bildern jener Zeit zu erkennen ist, war die Wohnung aber nicht nur in Deutschland. Z w a r trieb man mit Gold und Silber in Form von Gefäßen und Schmuckstücken einen ungewöhnlichen A u f w a n d — wir werden darauf später noch zu sprechen kommen —, aber die einzelne Wohnung war doch auch z. B. in Paris zu jener Zeit sehr dürftig möbliert und ausgestattet — so bescheiden, um das hier einmal vorwegzunehmen, wie noch im 18. Jahrhundert bei polnischen und russischen Großen die Zimmer, deren W ä n d e getüncht, deren Holzwerk roh waren, deren Gerät jedoch, plump, schwer und schlecht gearbeitet, aus ungeheuren Mengen Edelmetall bestand. Blieb das äußere Bild der Städte vom 13. bis zum 15. Jahrhundert im allgemeinen fast unverändert, so gab es doch häufig genug Anlaß, das Innere gründlich umzugestalten. Riesige Feuersbrünste legten immer wieder große Teile der Städte in Asche. Denn die anfänglich aus Holz, Lehm, Stroh und Rohr bestehenden Bauten, die außerdem vielfach weder Rauchfänge noch Schornsteine besaßen,

Das Haus im Mittelalter

19

gerieten natürlich sehr schnell in Brand. Mehr als etwa Geschmack und Luxusbedürfiiis trieb nach derartigen Brandkatastrophen diese Gefahr die Bürger zur Verwendung von Bruch- u n d Backsteinen beim Neubau. Kirchen, Münz-, Zoll- und Warenhäuser, K a u f mannshallen und Rathäuser gingen mit der kostspieligen Neuerung voran. Erst viel später und anfangs nur vereinzelt folgten die Bürgerhäuser — teils aus dem verständlichen Bestreben nach äußerster Sparsamkeit, teils aber auch auf Grund einer Überlegung, die schon den alten Griechen und Römern geläufig war: daß nämlich die großen öffentlichen Bauten als Repräsentanten des ganzen Stadtwesens in bedeutendem Stil erbaut und mit Pracht ausgestattet sein mußten, während man sich in der eigenen "Wohnung noch recht lange unbequem, oftmals sogar ärmlich behalf. So haben wir denn immer wieder das Bild, daß neben schmalen, niedrigen W o h n h ä u sern öffentliche oder Geschäftsgebäude von vier bis sieben Stockwerken stehen, massive, geschmackvoll verzierte Häuser, die den Wohlstand und die Betriebsamkeit solcher mittelalterlichen Städte aufs beste illustrieren. Ganz anders lebte das deutsche Bauernvolk des Mitteilalters auf dem Lande. Noch war es längst kein in sich geschlossener, von gemeinsamen Gefühlen beseelter, durch gemeinsame Ziele belebter Stand. Vom Bauern waren Gärtner, Winzer und Ackerbürger der Städte kaum oder gar nicht geschieden. Aber auf der anderen Seite: welche Ungleichheit etwa zwischen dem Großbauern, der auf dem friesischen Marschhof oder einem westfälischen Erbhof saß — ein freier König unter seinesgleichen —, und dem kleinen fränkischen Pächter, der weltlichen und geistlichen Herren zinste. Welcher Unterschied zwischen dem Bauern in der Gegend der heutigen Schweiz und dem Kolonisten in Mittel- und Ostdeutschland! Welche Verschiedenheit aber doch auch innerhalb einer Landschaft in Kriegsund Friedenszeiten, in N o t j a h r e n und bei guten Ernten. Will der Geschichtsschreiber von diesen Dingen ein nicht zu sehr verallgemeinertes, ein buntes, das wahre Leben treffendes Bild zeichnen, so wird er neben seiner Spezialforschung, so ergebnisreich sie sein mag, immer wieder die Dichtung jener Zeit als eine Hauptquelle heranziehen müssen. Ncidhart von Reuenthal hat die deutschen Bauern des 13. Jahrhunderts „literaturfähig" gemacht; er selbst war ein kleiner bayrischer Lehnsritter, der von seinem Höfchen in der Nähe

20

Vom Altertum zur Neuzeit

von Landshut als Sänger, Spielmann und Vortänzer in die reichen Bauerndörfer zog. Während er dort zum T a n z aufspielte, ergoß er zugleich seinen Spott über jene großen, vermögenden Bauern, die in Verkennung ihres eigenen Wertes es dem Ritter gleichtun wollten: „ E n g e Röcke tragen sie und enge Mantelkragen, rote Hüte, schwarze Hosen, Schnallen an den Schuhen." Nicht der dumme, der tölpelhafte oder der gedrückte Bauer ist es also, der hier als erster in der deutschen Literatur erscheint, sondern der selbstbewußte, reiche H e r r , der die gesellschaftlichen Schranken seines Standes übersteigen will, in dem die U r a n f ä n g e des großen Bauernkrieges von 1525 rumoren. Essen, Trinken, T a n z e n — alles im V o l l m a ß und Übermut, d a s ist das Kennzeichen jener „dörperlichen L y r i k " , die mehr und mehr der verzärtelten, überfeinerten, ritterlichen Poesie entgegentritt: eine soziale Wandlung von größter Bedeutung findet ihren Niederschlag in der Literatur. Es ist hier nicht der Ort, den sehr verwickelten, aus Armut und Reichtum, Aufbegehren des Bedrückten und Selbstbewußtsein des Kräftigen, aus sozialen und religiösen Motiven zusammengesetzten Ursachen zu den großen Bauernunruhen nachzugehen, die es in jenen Jahrhunderten in Frankreich und E n g l a n d ebenso gegeben hat wie in Deutschland. Hier an dieser Stelle kommt es uns darauf an, den deutschen Bauern jener Zeit so zu sehen, wie er von dem größten zeitgenössischen deutschen Künstler f ü r immer festgehalten worden ist — von Albrecht Dürer. Dürer hat mit seiner Kunst dem deutschen, insbesondere dem bescheidenen und verarmten fränkischen Bauern unvergängliche Denkmäler gesetzt, jenen Männern, von denen Ulrich von Hutten einmal gesagt h a t : „ D i e uns N a h r u n g schaffen, sind ganz arme Bauern, denen wir unsere Äcker, Weinberge, Wiesen und W ä l d e r verdingen. Der Ertrag, der von ihnen kommt, ist f ü r die Arbeit, die darauf verwendet wird, gering und schmal, aber mit großer Mühe und großem Fleiß wird gearbeitet, damit er reich und lohnend werde, denn wir müssen sehr sorgfältige Haushälter sein." Dürer hat nun weder den Gegensatz des Bauern zum Ritter dargestellt noch sich ganz einfach in den Dienst der städtischen Überheblichkeit gegenüber dem bäuerlichen Tölpel und T r a m p e l begeben. Er hat die Verhöhnung desBauern anderenDichtern der Feder und des Pinsels überlassen, wie er denn überhaupt kein Satiriker, sondern der liebevoll-verständige Schildcrer der

Bauern in Dürers Kunst

21

Bauern war. Holbein der Jüngere hat den pflügenden Ackersmann gezeichnet, der alte Brueghel die Rückkehr des Bauern vom Felde — von Dürer besitzen wir gleichsam Genrefiguren des Bauern: die „Drei Bauern im Gespräch", den „Bauern mit seiner Frau". Diese Bilder sind daher weniger Berufsbilder als getreue Traditenzeichnungen, für unsere Zwecke hier besonders interessante Zeitdokumente. D a sehen wir die bezeichnende bäuerlich-ritterliche Mischung -des Mannes, der, Sporen an den Stiefeln, den Korb mit Eiern zum Markt trägt; da stützt sich der andere in Strümpfen und Gürtelkleid auf ein Ritterschwert, dessen Klinge die löchrige Scheide durchstößt. Die Frau, in der Haltung eine städtische Dame nachahmend, im Gesicht mürrisch und früh gealtert, erscheint wie aus einem Trachtenbilde geschnitten; überlegen und ungerührt hört sie den wortreichen, hastigen Ausführungen ihres Mannes zu — vielleicht ist sie, so hat man geschlossen, jene Frau aus Neidharts Erzählung, der ihr Mann vorwirft, daß sie das städtische Fräulein spielen will. Später hat Dürer dann die tanzenden Bauern gezeichnet, die Frau mit Schlüssel, Messer und Geldtasche beim „Rüpelreigentanz", bei der lauten und kräftigen Lebensäußerung, über die n a n schon damals in der Stadt seine hochmütigen Spaße machte. In allenLebensformen, in den verschiedensten Kleidungen, bei zahlreichen Verrichtungen hat Dürer diese deutschen Bauern lebenswahr gezeichnet und gemalt, wie er übrigens ja auch die städtischen Bürger von Venedig bis Amsterdam in seinen Bildern festgehalten hat. (Abb. 8, 9). Und nun der Gegenpart der Bauern, der Ritter auf seiner Burg, mag sie im freien Gelände gestanden haben oder bereits, wie wir schon sahen, in die Stadt verlegt gewesen sein (Abb. 3,6). Das eigentliche Leben begann beim Burghof oder Ehrenhof, der in wohlgebauten Burgen mit einem Brunnen oder Rasenplatz und einerLinde, dem Lieblingsbaum der ritterlichen Romantik und de« deutschen Volkes überhaupt, gcschmückt war. Um diesen Hof gliederten sich die engeren Burggebäude, voran der Palas oder das Herrenhaus und der Berchfrit, ein hoher Wartturm, der, von den übrigen Baulichkeiten getrennt, an der Mauer stand — Ausguck für den Burgwart, letzte Zuflucht für die Burgbewohner in Zeiten unglücklicher Fehde. In größeren Burgen bestand der Palas aus dem Hauptraum, der Empfangs-, Ehren- und Festsaal zugleich war, und verschiede-

22

Vom Altertum zur Neuzeit

nen Kemenaten, Kammern. Der Festsaal war groß, nach Vermögen bequem eingerichtet und geschmückt, an Festtagen mit Teppichen belegt, seine Wände wurden mit gewirkten Tapeten behängt. Der Fußboden war mit Binsen, auch wohl mit Blumen bestreut. An den Wänden standen breite Bänke mit Matratzen und Federkissen. Vom Palas getrennt war das Frauenhaus oder die eigentliche Kemenate mit wenigstens drei Räumen: der Stube — zugleich Ort des intimen Familienlebens und Schlafraum der Hausherrin —, daneben einem Raum, in dem Hausfrau und Dienerinnen ihrenHandarbeiten nachgingen, und schließlich der Schlafkammer der Mägde. Kapelle, Küche, Keller, Vorratsräume, Lauben und Fensternischen mit steinernen Sitzen vervollständigten die Inneneinrichtung einer solchen Burg. Ihr Hausrat war nach Zeit, Vermögen und Geschmack sehr verschieden vollständig, zierlich, plump oder wertvoll. Dauerhaftigkeit war auch hier für gewöhnlich wichtiger als Schönheit; gleichwohl waren Tische, Stühle, Bänke und Truhen vielfach reich mit Schnitzwerk versehen. Sehr wichtig nahm man das Bett, ein mächtiges, häufig quadratisches Gestell, zu dem Stufen hinaufführten. Es war meistens von einem Himmel überwölbt, von dem an den Seiten Gardinen herunterhingen, um den Schläfer gegen Ungeziefer zu schützen, das von der Decke herabfiel, aber auch um die gefürchtete Nachtluft auszuschließen. Das eigentliche Bett bestand vielfach aus fünf Stücken: -der Matratze, dem Federbett, dem Ohrkissen, dem Leilach und der Decke. Als das Rittertum von der Höhe seiner Macht und beherrschenden kulturellen Stellung herabsank, entartete zugleich die hohe geistige Geselligkeit, die vielfach auf den Burgen gepflegt worden war. Roheit, Schärfe und Härte traten an die Stelle der vielgepriesenen ritterlichen Tugenden. Die Sittlichkeit verfiel nicht selten bei Mann und Frau in Ausschweifung oder krankhafte Frömmelei. Jagd- und Rauflust, Völlerei und Prunksucht erreichten gerade zu einer Zeit ihren Höhepunkt, da die Mittel für solchen Aufwand häufig nicht mehr aus ehrlicher Arbeit, sondern nur durch wildes Räuberleben beschafft werden konnten. Wie sehr stach gegen diesen Verfall einer Volksschicht die ruhige Aufwärtsentwicklung des Bürgertums ab! Dort, wo das geschäftige Leben um die Rathäuser, auf dem Markt, in den vielen Geschäftshäusern und Werkstätten der Handwerker seinen einträglichen

Ritterliche und bürgerliche Wohnung

23

Gang nahm, war die eigentliche Vorwärtsentwicklung des Volkes zu erkennen. Dort dauerte die geschäftige Bewegung vom Morgen bis zum Sonnenuntergang; und danach trieb heitere Geselligkeit die Bürger wieder auf die Straßen, zum Genuß des milden Abends nach einem arbeitsreichen Tage. Denn, auch das ist für jene Zeit bezeichnend, nicht im Hause, nicht so sehr in der Familie wie auf der Straße bei seinen Berufsgenossen fand der einfache Mann Muße, Erholung und Gedankenaustausch. Sicher war das Familienleben nicht weniger innig, vertraut und reich an Gemütswerten als zu anderen 'Zeiten. "Wir wissen von Fällen, da der Mann die hohen Vorzüge seiner Frau pries und die Frau anhänglich die Arbeit des Mannes verfolgte. Unid wir müssen bedenken, daß hier ganz zweifellos ein durch glückliche Umstände bis heute bewahrtes Zeugnis für unzählige nicht weniger glückliche Familienkreise hingenommen werden darf. Aber es gab doch auch Gründe genug, die dafür sprachen, die Geselligkeit aus dem Hause hinaus zu verlegen. Die einfache Ausstattung der Wohnung, die kärgliche Bewirtungsmöglichkeit wären allein schon Anlaß genug gewesen. Werfen wir noch einmal einen kurzen Blick auf die Ausstattung des Heimes mit lebensnotwendigen Gegenständen, so wird uns der Luxus, der zur gleichen Zeit auf der anderen Seite getrieben wurde, umso deutlicher. Wo die Straßen weder Pflaster noch Beleuchtung noch Kanalisation hatten, wo die Fenster der Wohnhäuser keine Glasscheiben aufwiesen, da war jede Erfindung und Entdeckung einer Bequemlichkeit ein aufsehenerregendes Ereignis. Die Einführung der Gabel, die in Frankreich im 14., in Italien zu Beginn des 15. Jahrhunderts aufkam, hat seinerzeit beträchtlichen Anstoß erregt. Ein alter venezianischer Chronist erzählt, wie die Gemahlin des Dogen, die sich einer goldenen Gabel bediente, zur Strafe für diese Üppigkeit lange vor dem Tode einen heftigen Leichengeruch aushauchte. Jede Neuerung, die eine Erhöhung der Bequemlichkeit sdiuf, wurde als ein Merkmal des Sittenverfalls und der Schwäche hingestellt: so die Einführung der Matratzen statt der Strohsäcke, der Betthimmel und Bettvorhänge, der Beleuchtung durch Talgund Wachskerzen statt durch Fackeln. Das ist bis heute stets so geblieben. Und erstaunlich ist eigentlich daran nur, daß sich trotz so abschreckender Beispiele Menschen finden, die wohl auf Matratzen schlafen und mit Gabeln essen, aber die Einführung einer neuen

24

Vom Altertum zur Neuzeit

Annehmlichkeit mit eben dem sittenhüterischen Eifer bekämpfen, wie ihre Vorgänger einst die Fackel gegen das Talglicht und später dieses gegen die Gas- und elektrische Beleuchtung verteidigt haben. Kannten schon die Römer Federbetten, zu deren Füllung sie sich übrigens der Feldern deutscher Gänse und Schwäne bedienten (die Daunen der Eidergänse aus den Polarländern waren damals noch nicht erreichbar), so türmten sich zu Dürers Zeit die Federbetten zu wahren Bergen. Wie es damals in einem Zimmer aussah, können wir z. B. in der Wochentstube beobachten, die Dürer bei der D a r stellung der Geburt Marias im „Marienleben" in H o l z geschnitten hat (Abb. 8). Bei diesem Bild, auf dem sich nicht weniger als elf Frauen um die im prunkvollen Bett liegende Wöchnerin bemühen, haben wir nun freilich Anlaß, auf den wirklichen Luxus hinzuweisen, der zuzeiten getrieben wurde. D a sind kostbare Vorhänge, reichgeschmückte Kleider, prachtvoll getriebene Kannen, zierliche Leuchter und vieles andere, das neben der sonst so oft geschilderten Dürftigkeit der üblichen Ausstattung einer Wohnung überrascht. Früh begann der Luxus in den städtischen Haushalt einzudringen — zuerst bei der Tracht, indem die Bürgersfrauen mit den Edeldamen in der A u f nahme kostbarer Moden zu wetteifern suchten. Schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts hatten sie beim Kirchgang gern eine lange Schleppe am Kleide und gaben nicht gerade viel auf die Ermahnung der Geistlichen, die gegen diesen „Pfauenschwanz" eiferten, ihn f ü r den „Tanzplatz der Teufelchen" erklärten und meinten, „Gott würde, falls die Frauen solcher Schwänze bedurft hätten, sie wohl mit etwas der Art versehen haben". Aber H ü t e n mit Pfauenfedern bei den Kölner Bürgern standen doch auch die vom Bischof Johann von Straßburg 1317 bei Strafe des Bannes den Geistlichen verordneten grünen, gelben und roten Schuhe gegenüber. Wie schnell und in welchem Ausmaße dieser städtische Kleiderluxus, auf den wir noch verschiedentlich stoßen werden, sich steigerte, ist an dem Umstand zu erkennen, daß es seit der Mitte des 14. Jahrhunderts städtische Luxusgesetze und Kleiderordnungen gab, die, von da ab immer und immer wieder erlassen und verschärft, letztlich ohne rechten Erfolg bemüht waren, dem übertriebenen A u f w a n d in kostbaren Stoffen und der zugleich einreißenden Zuchtlosigkeit im Schnitt der Gewänder Einhalt zu tun.

Kleiderluxus und Preise

25

Natürlich war ein solcher Luxus in der Kleidung nur dort möglich, wo das entsprechende Vermögen vorhanden war. Für eine der reichsten deutschen Städte galt vor 1500 Augsburg. Aber in dieser Zeit — also bevor die Ausbeute der Gold- und vor allem der Silberminen in Mexiko und Peru den Geldumlauf in ganz Europa vermehrte — war das bare Geld doch sehr selten, sein W e r t allerdings auch entsprechend hoch. So galt damals in Augsburg ein Mann schon f ü r wohlhabend, wenn er jährlich 200—300 Gulden einnahm; und er war einer der wenigen Reichen, falls sein Einkommen 2000 Gulden betrug. Diesem Vermögensstand entsprach daher die oben verschiedentlich erwähnte bescheidene Hauseinrichtung durchaus. Selbst patrizische Häuser mußten sich mit einer Hauseinrichtung zufrieden geben, die heute als primitiv gelten würde. Eine Erbteilungsurkunde aus dem Jahre 1469 weist in einem Patrizierhaus folgende Einrichtung nach: 4 Betten, 7 Tisdilaken, 7 Handtücher, 1 Brunnengelte, 2 große und 7 kleine Zinnschüsseln, 3 Kannen, 2 Messingleuchter, 10 Tonschüsseln, 7 Teller, 3 Buchsbaumlöffel, 1 großes Glas, 6 kleine Gläser, 3 Kessel, 4 T ö p f e , 2 Pfannen. So mag es um viele Haushalte bestellt gewesen sein, die durchaus f ü r vermögend und wohlhabend angesehen wurden. Betrachten wir einmal, worin man zu jener Zeit mit Vorliebe sein Geld anlegte. D a waren z. B. kostbare Pelze. Bei besonderen Gelegenheiten hatte es zwar auch schon im alten Rom Pelzkleider gegeben; aber zur gewöhnlichen Tracht gehörte der Pelz dort nicht, bevor die germanische Einwanderung den Süden erreidit hatte. U n d von einem Luxus mit Pelzwerk ist uns aus der römischen Geschichte überhaupt nichts bekannt. Im Mittelalter erreichte dagegen der Pelzluxus eine fast unvorstellbare Höhe. Marco Polo nennt als Preis f ü r die Zobelfelle, mit denen um 1250 die Hallen und Räume Kublai Chans geschmückt wurden, 2000 goldene Byzantiner, wenn die Felle fehlerlos und groß waren. König Johann II. von Frankreich ließ sich um 1360 einen Mantel mit 640 Marderbäuchen füttern — einer seiner Söhne deren 10 000 kommen, um 5 Mäntel und 5 Frauenwämse zu füttern. Die Fütterung eines Kleides f ü r einen seiner Enkel erforderte 2790 Felle vom grauen Eichhörnchen. Solch riesiger Bedarf an Pelzwerk steigerte die Preise ins Ungeheure. Doch war das Pelzwerk nur eine der vielen Möglichkeiten, sein Geld in Luxuswerten anzulegen. Da war weiterhin — auf die Klei-

26

Vom Altertum zur Neuzeit

dung werden wir noch kommen — das Glas. Das Ursprungsland des Glases, wie so vieler Künste, ist vermutlich Ägypten. Noch heute besitzen wir bunte Fläsdichen mit Parfüm, die in den Grabkammern der Königinnen gefunden worden sind. Heilige Krokodile der Tempelteiche trugen Halsbänder aus bunten Glaskugeln. Und weit über die ganze damals erreichbare Welt sind die Fundstellen von ägyptischen Glaswaren verteilt. Später wurde Alexandria Stapel- und Umischlagplatz, von dem aus die gläsernen Gebrauchs- und Luxusgegenstände ihren Weg in die Welt nahmen. Kleopatra mußte ihren gesamten kostbaren Glasschmuck den Römern als Kriegskontribution überliefern. Welchen Wert kunstvolle Gläser besitzen konnten, erkennen wir daran, daß Petronius, der arbiter elegantiarum der frühen Kaiserzeit, 10 000 Mark für eines jener „muranischen" Gefäße bezahlt haben soll, über deren Herkunft, Zusammensetzung, Horstellungsweise und auch Aussehen lange Zeit vielbedauerte Unklarheit bestanden hat. Nero, der seinem Günstling Petronius Gift reichen ließ, forderte vom Sterbenden die kostbare Schale. Und als der sie zerschlug, dünkten selbst die Scherben den Kaiser so wertvoll, daß er sie in seiner Schatzkammer neben einem Becher aufbewahren ließ, der ihn das Doppelte gekostet hatte. Mit den Römern gelangte das Glas in alle Provinzen ihres Imperiums. Ganz besonders hat die Glasmacherkunst am Rhein für dauernd Fuß gefaßt: ihr Zentrum lag in Köln, wobei erwähnt werden mag, daß das schönste erhaltene gläserne Gefäß der Antike überhaupt — mit dem Relief eines Wagenrennens — in Trier angefertigt worden ist. Sogar die Fluten der Völkerwanderung überstand die Kunst der Glasfabrikation in einsamen Waldhütten. Aber ehe sie zu neuem Leben erwachte, tauchte „wie eine schaumgeborene Blüte der Brandung" das Glas in Venedig auf. Schon im 11. Jahrhundert ist dort die Glasfabrikation nachgewiesen — die berühmte Wandlung brachte das Jahr 1204. Als die Venezianer Byzanz erobert hatten, schleppten sie aus der Stadt fort, was es dort an Schätzen und Kostbarkeiten gab — darunter auch gläserne Schaustücke, die noch heute die Zierde des Domtresors von San Marco bilden. Jetzt wurden die Glasmacher auf der Insel Murano angesiedelt, damit ihr Werkfeuer nicht die engen Straßen der Lagunenstadt gefährde und die in Byzanz geraubten Rezepte nicht in unberufene

Kunstwerke aus Glas

27

H ä n d e gerieten. Wie Verbannte lebten die Glasmacher auf der Insel; zur Entschädigung schenkte man ihren Töchtern alle V o r rechte und Freiheiten der venezianischen Nobilität. W a r das Venezianer Glas — als ein Erzeugnis des reinen Strandes und der Pflanzen, die das ewige Meer ernährt — schon stets eine Kostbarkeit gewesen, so brachte das 15. Jahrhundert einen ungeahnten Auf schwung, indem man sich nun erst auf alle Möglichkeiten der Kunst zu besinnen begann. Leicht an Gewicht, leicht zu schmelzen, leicht zu formen, zu färben oder mit Gold zu sprenkeln, forderte das Glas geradezu Experimente und Erfindungen heraus. Aber zugleich stellte man doch fest, daß das Geheimnis von Murano nicht sicher genug verwahrt worden war. Der Geschichten, die von Bestechung, Entführung, Flucht der Meister u n d Gesellen, Verfolgung und Verfemung durch den R a t der Zehn bis weit über die Grenzen der mächtigen Stadt berichten, gibt es unzählige. Wie sich schon f r ü h um Venedig herum heimliche Glashütten aufgetan hatten, so drangen die Rezepte allmählich weiter und weiter auf das Festland vor und gelangten auch nach Deutschland, wo sie sich mit den Überresten der Glasbläserkenntnisse aus römischer Zeit zu einer neuen Kunst vermählten. Ganz untätig waren die Glashütten in den Waldbergen ja niemals geblieben. Unter sehr anderen Bedingungen als an der adriatischen Küste — an die Stelle des feinen Sandes trat der Quarzfelsen, den T a n g ersetzte man durch die Gewächse des Waldes — und daher auch mit ganz anderen Ergebnissen, mit der Erzeugung eines härteren, herberen, männlichen Glases statt der zarten venezianischen Schaumgeburt, hatten die H ü t t e n ihr Dasein gefristet. Rings um den böhmischen Kessel, in Thüringen, im H a r z , im Spessart und in der Rhön, auch in Hessen brannten um das ausgehende 15. Jahrhundert diese Feuer in großer Zahl. So zart, so edel in der Form wie die muranischen Gläser waren jene deutschen freilich niemals. W ä h rend in Venedig der Erfindergeist bald seine Grenzen erreicht hatte und auf — wenn auch stets schöne und bewundernswerte —Wiederholungen verfiel, blieb nordwärts der Drang und das künstlerische Neuland frisch und ungebrochen, ja, er führte gelegentlich wohl zu Erzeugnissen, die durchaus mehr sonderbar und eigenartig als schön genannt werden müssen. Neben die wenigen Grundformen des Hohlgefäßes traten unzählige Abwandlungen und Kreuzungen: so

28

Vom Altertum zur Neuzeit

der „ K r u t t o l f " oder „Angster", eines der spaßigsten Trinkgefäße jener Zeit, ein flaschenförmiges Gefäß, das nach oben in mehreren umeinandergeschlungenen Halsröhren endete, wodurch beim T r i n ken ein seltsames Kluckern und Kollern entstand; so die vielen Scherz- und Vexiergefäße von den kuriosen Fabeltieren bis zu den anzüglichsten und vertracktesten Gebilden. In einer zornigen A u f zählung solcher Gefäße heißt es einmal: „Heutigen Tages trinken die Weltkinder und Trinkhelden aus Schiffen, Windmühlen, Laternen, Sackpfeifen, Schreibzeugen, Büchsen, Stiefeln, Krummhörnern, Weintrauben, Gockelhähnen, Affen, Pfauen, Mönchen, Pfaffen, Nonnen, Bären, Löwen, Bauern, Hirschen, Schweinen, Käuzen, Schwänen, Straußen, Elendfüßen und anderen ungewöhnlichen Trinkgeschirren, die der Teufel erdacht hat, mit großem Mißfallen Gottes im Himmel." W u r d e die Form zum einen Tummelplatz der Erfindungsgabe, so war der Dekor sehr bald ihr anderer. Die Malerei in den schönsten Farben und der schwierige, aber so reizvolle Glasschnitt, den der kunstsinnige Kaiser Rudolf II. liebte und förderte, wetteiferten in der Verzierung der Gläser. Ganze Künstlerdynastien haben sich lange Zeit mit der Kunst des Glasschneidens einen berühmten N a men gemacht und erhalten — allen voran Georg Schwanhardt, der diese Kunst von P r a g nach Nürnberg verpflanzte und dessen ganze Familie bis herunter zur Magd Katharina in diesem schweren H a n d werk Erstaunlidies leistete. Es kann hier nicht auf die weitere Entwicklung der Glasmacherkunst und der Glasliebhaberei eingegangen werden. Es sollte vielmehr nur an einem Beispiel f ü r viele andere Möglichkeiten des Luxus gezeigt werden, welche verschiedenen Ereignisse und Entwicklungen zusammentreffen müssen, um ein kulturgeschichtliches Geschehen von besonderer Bedeutung zu veranlassen. Man könnte f ü r alle Erzeugnisse der Kunst und f ü r viele Gegenstände der Liebhaberei und des Luxus Ähnliches erzählen wie vom Glase. Hier sei nur noch erwähnt, daß es natürlich auch an Gefäßen aus den edelsten Metallen zu jener Zeit in den Haushalten der Reichen keineswegs fehlte. Es war geradezu eine f ü r diese Zeit eigentümliche Art des Luxus, der Mode und der Eitelkeit, wenn man z. B. in Paris im 13. Jahrhundert Prachtgefäße aus Gold, Silber und Kristall, mit Edelsteinen besetzt oder emailliert, f ü r teueres Geld erwarb, wäh-

Glas und Edelsteine

29

renid die Zimmer sehr dürftig möbliert waren. Der größte Teil des Vermögens wurde in Gold und Edelsteinen angelegt — Fürsten und Grafen häuften in Frankreich Goldmassen auf, die oft an die angestaunten orientalischen Reichtümer erinnern. Ganz gewiß wirkte dabei häufig die Vorstellung mit, daß man sich in solchen Gegenständen einen wertbeständigen Reservefond schuf; doch mindestens beim Glase war das keineswegs der Fall. Daneben traten die vielen Schmuckgegenstände. W a r z. B. in Deutschland in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts der Kleiderluxus auf eine fast unglaubliche H ö h e gestiegen, so trug nach den Angaben Geilers von Kaisersberg manche Bürgersfrau an Kleidern und Kleinodien oft über 300 bis 400 Gulden an Wert und hatte in ihren Schränken deren f ü r mehr als 3000. Die Formen der Ringe, Diademe, Spangen und Halsketten waren kaum weniger zahlreich als heute. Smaragd und Rubin galten f ü r die kostbarsten Juwelen; erst im späteren Mittelalter stieg der Diamant auf die H ö h e seines Ruhmes. Die Fürsten, und wer es sich sonst leisten konnte, trachteten auf jede Weise nach indischen Edelsteinen. Nicht nur der geldliche W e r t war dabei entscheidend, sondern auch, wie noch heute vielfach, der Aberglaube; schrieb man doch fast jedem Stein eine nur ihm eigene Heilwirkung zu. In einer Zeit so starker Vorliebe f ü r Edelsteine spielte natürlich die Nachahmung und Fälschung keine geringe Rolle. Die Farben vieler Edelsteine konnte man in Glas nachmachen, sogar die des Opals. An Wert zwischen dem Glase und den Edelsteinen stand der Bernstein. Einst die einzige Handelsware, welche die Völker der Ostsee mit den Griechen und Römern verband, war er in Spanien ein fast gewöhnlicher Schmuck der Bauersfrauen geworden, die deutsche Bernsteinperlcn als Halsbänder trugen — übrigens wurde auch dieser vielfach seit Plinius' Zeit durch die Wurzel der Anchusa und durch Konchyliensaft rot gefärbt. Nicht vergessen werden darf schließlich, daß die Frauen schon im römischen Altertum den größten Luxus mit Perlen getrieben haben. Diese erzielten gewöhnlich höhere Preise als die schönsten Edelsteine. Seit der Eroberung von Alexandria wurden die Erträge der Perlenfischer im Persischen Meerbusen und im Indischen Ozean, die in Alexandria zusammenflössen, fast ausschließlich Rom zugeführt. Schon damals häuften sich daher dort die Perlen in ähnlicher Weise, wie es zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Venedig der Fall war, wo

30

Vom Altertum zur Neuzeit

die Patrizierinnen wahrhaft ungeheuerliche Perlenschätze besaßen. Die Verbote einer 1514 eigens f ü r die Überwachung des Luxus eingerichteten Behörde in Venedig richteten sich in allererster Linie und immer von neuem gegen den Perlenluxus. Die Perlen boten ja durch ihre Form und Farbe die verschiedensten Verwendungsmöglichkeiten. So stickte man z. B. ganze Liedertexte mit Perlen auf Kleider. Das mit Perlen und Edelsteinen besetzte Prachtgewand Karls des Kühnen von Burgund hatte einen Wert von etwa 200-000 Dukaten; die H o f d a m e n seiner Gemahlin erhielten f ü r ihren P u t z jährlich 40 000 Brabanter Taler. Auch der Silberluxus war schon im 15. Jahrhundert bedeutend. Zwar liehen die Florentiner Familien bei Festlichkeiten untereinander ihr kunstreiches Silbergeschirr aus, und f ü r den gewöhnlichen Gebrauch lag neben silbernen Löffeln messingnes Tischgerät; aber als 1473 Kardinal Pietro Riario anläßlich des Besuches der Braut des Herzogs von Ferrara in seinem Palast in Rom seine Silberkostbarkeiten ausstellte, befanden sich darunter vier Leuchter der Kapelle nebst zwei Engelsfiguren von Gold, der Betstuhl mit Löwenfüßen ganz von Silber und vergoldet, ein vollständiges K a mingerät ganz von Silber, ein silberner Nachtstuhl mit goldenem Gefäß darin, im Speisesaal ein großes Büfett von zwölf Stufen voll goldener und silberner, mit Edelsteinen besetzter Gefäße, das T a f e l geschirr von reinem Silber, das nach jedem Gang gewechselt werden konnte. In Deutschland staunte etwa zur gleichen Zeit Aeneas Silvius über die Allgemeinheit des Luxus in edlen Metallen bei Geschirren, Waffen und Schmuck. An der T a f e l von Kaufleuten aß man nach einer Erzählung von Wimpheling nicht selten aus Gefäßen von Gold und Silber, und bei Reisen ließen sich die Geschäftsleute solche Gefäße im Gewicht von 30 bis 100 P f u n d nachschicken. W i r wollen als Abschluß des Hinweises auf die vielen Formen des Luxus noch der Wohlgerüche Erwähnung tun. Im Orient war diese Form des Luxus seit den ältesten Zeiten bekannt. Herodot hat Arabien das mit Wohlgerüchen am meisten gesegnete Land genannt. In der Bibel spielen die ein ganzes J a h r lang mit Wohlgerüchen massierten Frauen des Königs keine geringe Rolle. In Rom machten die Männer zeitweise nicht weniger Gebrauch vom P a r f ü m als die Frauen. Crispinus, der Günstling Domitians, duftete nach der Mor-

Silber, Gold und Wohlgerüdie

31

gentoilette „stärker als zwei Leichenbegängnisse". Diesen orientalischen P a r f ü m l u x u s hat die mittelalterliche Liebe f ü r Wohlgerüche niemals erreicht, nicht einmal den weniger ausgeprägten römischen. W o h l kannte und benutzte man graue A m b r a , Aloeholz, Moschus, K a m p f e r , gelbe A m b r a (Bernstein), Zibet und manches andere einzeln und gemischt in verschiedenen Formen, natürlich auch das Rosenwasser; aber doch wohl im allgemeinen mehr in Maßen und ohne darauf auch nur entfernt so hohe Summen zu verwenden wie etwa auf G o l d , Silber, Perlen und Edelsteine. N u n ist ja überhaupt alles, was wir hier erzählen können, eine gewaltsame Zusammenfassung von Zeit und R a u m . Stets muß der Leser sich dabei — will er nicht falsche Vorstellungen gewinnen — in das Gedächtnis rufen, daß es reiche und arme Zeiten, aber auch wohlhabende und ärmliche Landstriche, daß es Küstenstädte und Binnenstädte, Fürsten und Bauern, Soldaten, K a u f l e u t e und H a n d werker gegeben hat, wie es sie heute gibt. Bedenken wir, welch ein Unterschied allein schon etwa zwischen Kaufleuten in Augsburg, Flamburg, Lübeck und T h o r n bestand. D i e süddeutschen K a u f h e r ren, soweit sie nicht zu den ganz kleinen H ä n d l e r n gehörten, deren Leben stets und überall in großen Zügen das gleiche sein wird, hatten direkten Geschäftsverkehr über die Alpen mit Venedig, Genua, Pisa und Livorno, als v o m Hanse-Verkehr im „ S t a l h o f " zu London, in der „Brücke" von Bergen und im K o n t o r zu N a u g a r d am Ilmensee noch kaum die Rede war. Sie erfuhren auf dem kürzesten Wege, w a s fern im Orient, in Indien, dem sagenhaften China und dem von keinem Weißen bisher gesehenen J a p a n vor sich ging. H a t t e n sie Glück, so begegneten sie wohl dem einen oder anderen der Polo, vielleicht gar jenem Marco, dessen von Lügen nicht freie Erzählungen die Vorstellung des gesamten Abendlandes v o m Fernen Osten bestimmten. Sic sahen die Kostbarkeiten des Orients nicht in den geringen Mengen, wie sie zu hohen Preisen auf den M a r k t der deutschen Städte kamen, sondern so, wie sie geradenwegs und ungeteilt aus den fremden H ä f e n herbeigeschafft wurden. Sie hatten aber f ü r gewöhnlich zugleich noch Verbindungen die Rhone entlang und über die berühmten Messen der C h a m p a g n e nach Südfrankreich und weiter nach Spanien. Wie g a n z anders waren dagegen die Erlebnisse, wie ganz anders mußte auch die Lebensauffassung und Lebensführung jener K a u f l e u t e sein, die von der N o r d - und Ostsee-

32

Vom Altertum zur Neuzeit

küste her ihre Fahrten im Westen bis nach England und in die Biskaya, nach Osten zum unerschlossenen wilden R u ß l a n d ausdehnten. Es sind zwei ganz verschiedene Welten, deren südliche und westliche uns, weil sie bewegter, farbiger und reicher war, häufiger und anschaulicher geschildert worden ist, als die engere des Nordens und Ostens. D o r t kostbare Einzelgüter, hier Massengüter; dort Spezereien, Seide, Perlen, hier Stockfisch, Hering, Salz, Getreide, Holz, Häute, Felle, Wachs, Pech und H a r z . Spannte sich der eine Raum von den italienischen H ä f e n über Land und Meer bis in die fernen ostasiatischen Gebiete, so war der andere durch den Finnischen Meerbusen, Scheide und Biskaya begrenzt. U n d während im Süden Deutschlands der große Binnenhandel sich vollzog — denn an der Mittelmeerschiffahrt konnte der deutsche K a u f m a n n sich natürlich nicht beteiligen —, wurde hier oben im Norden und Nordosten ein weiter Bereich dem deutschen Seemann und Kaufmanns-Reeder erschlossen, ein Kolonialraum, der — wie das so ist, wenn der Stärkere und obendrein mit dem Bewußtsein der Überlegenheit christlicher Kultur und Fortschrittlichkeit Expansions-Politik treibt — nicht immer ohne Zwang, Druck und Ausbeutung in die hansische Einflußsphäre einbezogen wurde, bis das norwegische, dänische, russische, englische Selbstbewußtsein, Nationalgefühl und frühmerkantilistische Wirtschaftsdenken sich dagegen empörten. Die Unterschiede sind damals nicht geringer gewesen als heute etwa die zwischen einem Genueser und einem Londoner Kaufherrn, eher größer und bedeutender. Einzig darin waren sie einander wohl alle gleich, daß ihr schwerer Beruf — weit schwerer und gefahrvoller als heute, gab es doch kaum Versicherungen irgendwelcher Art, dagegen zahlreiche Gefahren des Raubes, des Unwetters, Schiffsunterganges usw. — sie zu großer H ä r t e und Eigensucht erzog. Privilegien und Vorrechte, rücksichtsloser Kampf gegen den Konkurrenten, der nicht der gleichen Heimatstadt und dem gleichen Berufsverband angehörte — das allein konnten auf die Dauer die Waffen sein, die zum Wohlstand verhalfen und damit den oben beschriebenen Luxus ermöglichten. Selten waren diese Kaufleute daheim und konnten in Ruhe den Wohlstand genießen, den sie in schwerer, oft durch Generationen dauernder Arbeit geschaffen hatten. Vom alten Fugger ist das W o r t

Reisende und Wirtshäuser

33

bekannt, das er in hohem Alter gesprochen haben soll: er könne keine Ruhe vertragen; er wolle arbeiten und schaffen, solange er lebe. Aber nur bei den größten der Kaufleute, wie etwa eben bei Fugger, vollzog sich dieses Schaffen im Hause, im Kontor. Audi der G r o ß k a u f m a n n mußte in jenem Jahrhundert der dauernden Unruhe und unerwarteten Gefahren und Zufälle regelmäßig unterwegs sein. N u n bedenke man aber die schlechten Straßen, auf denen der unbequeme Wagen von den Pferden mühselig von einem Gasthaus zum anderen, von Stadt zu Stadt gezogen wurde — und man wird sich das arbeitsreiche und beschwerliche Leben eines solchen K a u f manns ein wenig vorstellen können. (Abb. 1). D a wurde die Bequemlichkeit der Heimat schnell zu einem unerfüllbaren "Wunsch, und idas Leben in den Gasthöfen und Trinkstuben dauerte oft W o chen und Monate. Diese Trinkstuben waren zahlreich und f ü r jede Art von Ansprüchen eingerichtet. Schon um 1300 soll in E r f u r t keine Straße gewesen sein, worin nicht fünf bis sechs Schaaken lagen. Die Vornehmen besuchten die Geschlechterstuben, in denen man bei geschlossener Gesellschaft seltene Speisen und teure Weine genießen konnte. Der Handwerker ging in die Zechstube seiner Innung. Der ortsfremde K a u f m a n n hatte f ü r gewöhnlich wenig W a h l : er mußte in die öffentliche Schankstube und f a n d dort laute Geselligkeit und mancherlei Gäste. Wandernde Lateinschüler, rittermäßige Leute mit ihren Knechten, an besonderen Tischen Bürger und Bauern mit ihren Frauen und zwischen diesen allen jene vielen, die mit Lügengeschichten und Zauberei in der Herberge das Geld f ü r den T r u n k verdienten oder wohl auch stahlen. Das Messer saß locker zu jener Zeit, und nicht selten endete ein solcher Abend im Wirtshaus mit blutigen Händeln. W ä r e es nicht schon damals Sitte gewesen, daß kein Fremder, und sei er noch so gut gekleidet, einen T r u n k erhielt, bevor er ihn bezahlt hatte, so wäre der Wirt wohl manchmal nicht gut gefahren. Wenn die Ratsglocke zum ersten Male läutete, mußten die Wirtshäuser geschlossen, der Ausschank im Hause beendet werden. Doch verdienten die deutschen Wirtshäuser keineswegs insgesamt das Lob, das ihnen Aeneas Silvius Piccolomini, der spätere Papst Pius II., gespendet hat. „ W o ist ein deutsches Gasthaus, wo man nicht aus Silber äße?", hat er einmal gesagt. Er muß eine besondere Auswahl kennengelernt haben. Denn ganz im Gegenteil waren die 3

Treue, Kulturgeschichte

34

Vom Altertum zur Neuzeit

Gasthäuser meist eher verwahrlost und verkommen als prächtig. Daß es ihrer unzählige gab, bestätigt Aeneas auch, z. B. für Wien: fast jeder Bürger, meinte er, halte ein Weinhaus oder eine Taverne, in denen Zechgesellen und „lichte Fröwlein" säßen. Und da ja die Trunkfreudigkeit in jener Zeit keineswegs geringer war als die Eßlust, so mag in diesen Gasthäusern wohl häufig ein sehr reges Leben geherrscht haben. Wie stand es denn überhaupt um das Reisen in jener Zeit? Im Altertum hatte es in Italien weltberühmte Badeorte gegeben. Wo heute Roms große Luxusbäder erbaut sind, gab es schon vor 2000 Jahren den schönsten Badestrand, der von den Römern viel benutzt wurde. Die praditvollen Villenbauten Bajäs bildeten eine gar nicht so kleine Stadt für sich. Mindestens fünf Jahrhunderte lang blieb dieser Ort, der sich früh in Alt- und Neu-Bajä teilte, der berühmteste und besuchteste Lustort der Alten Welt. Zu Ciceros Zeit galt während der Sommermonate die Luft dort für außerordentlich gesund. Und so blieb 'der Ort, obgleich imit Zunahme der Verödung jener Gegend gewiß die Malariagefahr ständig wuchs, auch im Mittelalter dauernd besucht. Alcadinus, der Leibarzt Kaiser Heinrichs VI., beschrieb im Jahre 1191 einunddreißig Bäder von Puteoli und Bajä. Petrarca nannte die Küste dieser Bucht in den Wintermonaten äußerst angenehm; im Sommer fand er sie dagegen gefährlich. Auch Boccaccio hat wiederholt das lebhafte, für die Tugend der Frauen nicht eben förderliche Treiben am Badestrand geschildert. Noch im 15., ja, im Anfang des 17. Jahrhunderts waren diese Bäder sehr beliebt, obwohl Bajä 1538 angeblich durch einen Erdbrand zerstört worden ist. Gerade von dem Badeleben in Bajä besitzen wir die schönsten und anschaulichsten Beschreibungen: von der Pracht der Gärten und der Großartigkeit der Paläste, von den Genußmitteln aller Art, den Barken und Gondeln, die bei schönem Korso oder in sausender Wettfahrt zu sehen waren, von den zärtlichen Paaren, die am stillen Strande saßen oder sich auf dem Lucriner und Averner See umherrudern ließen. Viele Frauen reisten nach Bajä, und da die Üppigkeit und Zügellosigkeit des bajänischen Badelebens sprichwörtlich war, worüber die angesehensten Schriftsteller Roms in noch heute erhaltene Klagen ausgebrochen sind, mag Ovid wohl recht haben, wenn er meint, mancher Badegast habe statt der erhofften Heilung eine Wunde im Herzen davongetragen.

Badeleben im Mittelalter

35

Dodi brauchte man in jener Zeit so wenig wie heute nach Mittelitalien oder in die kaum weniger berühmten sizilianisdien Seebäder zu reisen. Auch an den deutschen Orten mit Heilbrunnen entwickelte sich ein luxuriöses Badeleben, dessen Ausgelassenheit durchaus mit Bajä wetteifern konnte. Von dem Italiener Poggio besitzen wir aus dem Jahre 1417 eine Schilderung des Kurlebens zu Baden im Aargau. D a hielten sich in den zahllosen Herbergen verschiedenartigen Ranges Staatsmänner und Heerführer, Kaufleute und Handwerker, Domherren, Äbte und Äbtissinnen, Mönche und Nonnen auf, die häufig von weither gereist kamen. Am frühen Morgen waren die Bäder ain besuchtesten; wer nicht selbst badete, besuchte Freunde oder machte Bekanntschaften im Bade. Die einen saßen auf einer rund um das Bad laufenden Galerie, die anderen spielten und aßen vergnügt an schwimmenden Tischen. Duftende Blumen schwammen auf dem Wasser, Saitenspiel und Gesang vertrieben die Zeit. U n d wenn man mittags vom Bade sich zur T a f e l setzte, kreiste nach der mächtigen Mahlzeit der Becher, solange der Magen den Wein vertrug und bis Pfeifen und Pauken zum T a n z riefen — zahllose lockere Mädchen, die sich damals wie heute in der Saison einzufinden pflegten, boten dabei ihre Dienste an. Derartige Bäder gab es in Deutschland, Frankreich und Italien unzählige — in Einzelheiten verschieden, waren sie im großen und ganzen einander gleich. Aber schließlich reiste man doch, wenn überhaupt, keineswegs ausschließlich um seiner Gesundheit willen oder zum Vergnügen ins Bad. Viele Menschen waren auch damals beruflich unterwegs. Modhten sich die meisten Reisen der Kaufleute und Fabrikanten auf verhältnismäßig kleine Bezirke, auf den engen Kreis einiger Städte beschränken, so gelangten doch auch schon damals — wenngleich über manche Etappen — Waren des Orients nach Mittel- und Westeuropa. Sven Hedin hat uns in seinem Buch über die „Seidenstraße" die Geschichte eines uralten Karawanenweges bis auf unsere Tage beschrieben. Von dem Wunsch des chinesischen Kaisers im Jahre 138 v. Chr., die Pferde seiner Kavallerie zu verbessern, nahm dieser Weg seinen Ausgang, der als Kaiserstraße den Chinesen die Berührung mit der westlichen Welt und dieser den Austausch von Waren und Gedanken mit dem Osten erstmals im großen Stil ermöglichen sollte. Auf dieser Straße durch Schensi und Kansu von Siam wahrscheinlich bis Chia-yü-Kwan und weiter bis Kaschgar, 3*

36

Vom Altertum zur Neuzeit

Samarkand, Seleukia und Tyrus in einer Länge von rund 10 000 Kilometern, welche die Kulturmittelpunkte China und Rom verband, wurde dem U m f a n g e wie der Bedeutung nach an erster Stelle Seide befördert — sie war vor 2000 Jahren die meistgeschätzte und meiistgesuchte W a r e des ganzen Welthandels. Über die politischen Veränderungen des Ostens und Westens hinweg benutzte der Seidenhandel unverändert den endlosen W e g von den Küsten des Stillen Ozeans zum Mittelmeer. Im Jahre 1901 f a n d Sven Hedin in Lou-lan einige Seidenstücke. „Sie sind wahrscheinlich die ersten ihrer Art von der chinesischen Seidenstraße... Ohne Übertreibung kann man sagen, daß diese Handelsstraße das längste und in kulturgeschichtlicher Hinsicht bedeutendste Verbindungsglied zwischen Völkern und Erdteilen ist." Großartige Handelsorganisationen, Gasthöfe und Herbergen, Soldatenposten und Transportschutz, Wasserreservoire, Dolmetscher- und Zollstationen hat diese Straße ins Leben gerufen, bis durch das Vorrücken der Türken der Weg gesperrt und das reiche Handelsleben vernichtet wurde, dessen Überreste Sven Hedin wieder entdeckt hat und zur Grundlage einer europäisch-asiatischen Autostraße machen wollte. Schon während des ganzen Mittelalters hielt man in Deutschland das Reisen f ü r das beste Erziehungsmittel. Wie später die Engländer ihre Söhne auf den Kontinent reisen, wie die deutschen Fürsten vielfach die ihrigen nach Paris und Rom ziehen ließen, so hat schon im 14. und 15. Jahrhundert ein dauernd zunehmender Zug in die Ferne bestanden. Mit Empfehlungsbriefen versehen, besuchten die vornehmen jungen Leute fremde H ö f e , durchritten Frankreich und Italien und machten sich dabei nach Möglichkeit mit fremden Sitten und Gebräuchen bekannt. Wenngleich es wohl erst im 16. Jahrhundert im größeren Umfange üblich wurde, das Reiseziel sogar noch weiter zu stecken — wie z. B. auch protestantische Junker und Kaufmannssöhne aus Nürnberg und Augsburg die griechischen Inseln und das Heilige Land besuchten —, so kam es doch immerhin auch im 15. Jahrhundert gar nicht selten vor, daß ein Bildungsreisender ohne irgendwelche geschäftliche Absichten solche weiten Reisen unternahm; wobei wir natürlich heute, wenn wir deren Bedeutung recht erkennen wollen, alle die Schwierigkeiten, Gefahren und Unbequemlichkeiten in Betracht ziehen müssen, denen in jenen Jahrhunderten ein Reisender notwendig ausgesetzt war. W a r ein

Römische und germanische Kleidung

37

solcher Mann dann aber glücklich heimgekehrt und wußte er interessant von seinen Fahrten und Abenteuern zu erzählen, so errang er sich damit in seiner Heimat häufig hohes Ansehen. Die Fürsten waren vielfach bemüht, dergleichen wohlgebildete und erfahrene Männer in ihre Dienste zu ziehen. — Nachdem wir so den mittelalterlichen Menschen in kurzen Übersichten und Andeutungen kennengelernt und beobachtet haben, wollen wir uns nun ebenso kurz seiner Kleidung, dem Essen und Trinken und einigen anderen seiner häuslichen Tätigkeiten und Gewohnheiten zuwenden. Beginnen wir mit der Tracht unserer Vorfahren, der Germanen: sie war dem täglichen T u n und Treiben entsprechend einfach und rauh. Einziges Kleidungsstück bei den Armen, aber auch von den Bessergestellten stets getragen, war der Mantel oder Rock aus Leinen oder Tierfellen, der auf der linken Schulter mit einem D o r n oder mit einer Spange festgehalten wurde. Zweifellos schon sehr f r ü h war die Kleidung der reicheren Germanen und besonders die der Frauen nicht mehr auf das Waldläuferische beschränkt. Der kurze anliegende Rock mit Ärmeln, darüber der Mantel aus Fellen oder Pelz traten hinzu. Die Frauen kleideten sich mit einem längeren Überrock ohne Ärmel, der auch Schultern und Nacken nicht bedeckte; darüber trugen sie, wie die Männer, einen Mantel. Beide Geschlechter hatten außerdem f ü r gewöhnlich um den Leib einen Gürtel — das war die Tracht, wie die Germanen sie trugen und wie sie, von geringfügigen Änderungen und Erweiterungen abgesehen, unter den einfacheren Menschen, besonders den Bauern, übernommen und fast durch das ganze Mittelalter beibehalten wurde. Wohl mag die Bekanntschaft mit den Römern allmählich die Kleidung bereichert, der Anblick ihrer Bequemlichkeit und des Luxus, besonders in Süd- und Westdeutschland, den einen oder anderen zur Nachahmung veranlaßt haben — der Grundbestand der Kleidung blieb jedoch der gleiche, und das um so mehr, als ja die römische Tracht mit der germanischen fast völlig übereinstimmte. Die Deutschen können das Verdienst f ü r sich in Anspruch nehmen, f ü r die männliche Kleidung die Hose eingeführt zu haben. In seinen Anfängen bildete dieses Kleidungsstück mit den Strümpfen ein Ganzes, bestand dagegen aus zwei gesonderten Schenkelstücken (wovon noch heute der Ausdruck „ein Paar Hosen" stammt), die unter der Tunika mit einem Riemen um den Leib befestigt wurden.

38

Vom Altertum zur Neuzeit

In den frühesten Zeiten vervollständigten diese bescheidene und fast schmucklose Tracht einfach zugeschnittene Ledersohlen unter den Füßen. Später aber trieb man gerade mit Schuhen einen beträchtlichen Luxus, .ganz besonders in den Farben; den Reitersmann schmückten langschäftige Stiefel. Als dann gegen Ende des Mittelalters das Rittertum herabsank von der stolzen Höhe der kulturspendenden und kulturbestimmenden Klasse eines langen und kräftigen Zeitalters, da machte die Mode, wie in Verfalls- und Umbruchszeiten immer wieder beobachtet worden ist, manche Veränderung durch. Der Leibrock wurde an der Seite aufgeschnitten und zum Wams verkürzt und verengt. Schließlich kam man auf die Idee der „gezattelten" Kleider, bei denen die Unterteile der männlichen Tunika und die sehr weit gewordenen Ärmel der Männer- und der Frauenkleidung in eine Unzahl von lose herabhängenden Lappen ausliefen. Von dieser Mode war es nun schließlich kein weiter Schritt mehr zu der uns von so vielen Abbildungen her vertrauten Zeit der „geschlitzten" Kleider, bei denen Hosen und Rockärmel, in den modernsten Exemplaren sogar das ganze Gewand, so aufgeschnitten wurden, daß das anders gefärbte Unterfutter durch die Schlitze hervorleuchtete und auch hervorgezogen wurde. Pluderärmel und Pluderhosen haben diese Mode in der Reformationszeit abgelöst — wem es immer wieder ein Vergnügen bereitet, über die zu seiner Zeit herrschende Mode spöttische Bemerkungen zu machen und sie auf Kosten der früheren herabzusetzen, der mag aus dieser kurzen Aufzählung doch vielleicht Anlaß zu einer gewissen Vorsicht und zu der Erkenntnis entnehmen, daß einmal auch früher nicht alles unbedingt schön war und daß zum anderen gerade in der Mode uns nichts vor Wiederholungen schützt. Von den Kopfbedeckungen mag hier kurz erwähnt sein, daß man sich ursprünglich auf mehr praktische als schmucke Kapuzen beschränkte, zur Ritterzeit z. B. aber gerade mit Hüten und Baretten in den verschiedensten Formen und Farben bedeutenden Luxus trieb. Der Stoff, aus dem die Kleidung angefertigt wurde, hat gegenüber den frühen Jahrhunderten der Germanenzüge recht bald eine bemerkenswerte Bereicherung erfahren. Wohl benutzte man noch immer vorwiegend die Leinwand, ja ihre feinste Sorte, der sogenannte Saben, war außerordentlich kostbar und wurde aus byzantinischen Webereien bezogen. Daneben waren aber Wollenzeuge der

Die Symbolik der Farbe

39

verschiedensten F ä r b u n g (Barragan, Buckeram, Diasper, Fritschal, K a m e l o t t , Serge, Scharlach, Sei) u n d die vielen Seidenstoffe (Pfeffel, Baldekin, Bliat, P a l m a t , P u r p u r , Siglat, Zindal) in Gebrauch, die nicht selten mit G o l d - u n d Silberfäden geschmackvoll durchweht waren. U n d schließlich k a m e n die Pelze hinzu, deren Liebhaber wert wir bereits kennengelernt haben — H e r m e l i n , Marder, Biber, Zobel als die wertvollsten seien hier noch einmal genannt. G a n z allgemein k a n n m a n von jener alten Zeit sagen, d a ß beide Geschlechter in ihrer Kleidung eine Farbenfreudigkeit aufwiesen, die uns heute zuweilen sonderbar, aber, nach den erhaltenen Bildern — e t w a aus Liederhandschriften, Initialen u n d anderen K u n s t w e r k e n — zu urteilen, keineswegs geschmacklos, sondern häufig sehr schön u n d gewählt erscheinen will. Freilich, w e n n der wohlhabende M a n n an einem Kleidungsstück mehrere verschiedene Farben t r u g — so etwa den einen Ärmel des Rockes grün, den anderen blau, das H o s e n p a a r gelb u n d rot —, dann w a r diese Farbenzusammenstellung viel weniger seinem eigenen Geschmack überlassen als heute bei ähnlichen Fällen dem der Frauen. Die Farbensymbolik spielte eine große Rolle. Schon f r ü h versuchte man offen sichtbar die Gemütsart, den Beruf, Absicht u n d Pläne eines Menschen in seiner Kleidung zum Widerschein kommen zu lassen, w o v o n uns heute nicht viel mehr als die gröbsten Züge erhalten sind, wenn wir in dunkler Kleidung trauern u n d in heller den Frühling begrüßen. W e i ß w a r damals die H o f f n u n g auf E r hörung, G r ü n das erste Aufleben einer Liebe, R o t ihre Glut oder auch das Zeichen von Ruhmesdurst u n d K a m p f l u s t , Blau das Zeichen der Treue, Gelb schließlich das beglückter Liebe und Schwarz das des Todes. Mit dieser Symbolik, von der hier natürlich nur das Allergröbste angedeutet werden k a n n , w u r d e nun sehr bald eine so weitgehende u n d die ursprünglichen Grenzen sprengende Spielerei getrieben, d a ß ein großer Prediger des 13. Jahrhunderts, Berchtold, ausrief: „ I h r h a b t nicht genug davon, d a ß euch der allmächtige G o t t die W a h l unter den Kleidern gelassen hat, indem er sagte: W o l l t ihr sie braun, rot, blau, weiß, grün, gelb, schwarz? N e i n , in einer unverständigen H o f f a r t zerschneidet ihr eure G e w ä n d e r zu Flicken, hier der rote in dem weißen, da den gelben in dem grünen, das eine gewunden, das andere gestrichen, hier den Löwen, d o r t den Adler." Übrigens griff diese Farbensymbolik, wie es ja eigentlich selbst-

40

Vom Altertum zur Neuzeit

verständlich ist, auch auf die Kennzeichnung der Stände über: der Leibeigene, der Jude, der Geistliche — sie sollten durch ihre Tracht so kenntlich sein, wie es der Fürst, der Ritter, der K a u f m a n n waren. U n d unablässig herrschte ein stiller, aber heftiger Kampf um die Vorrechte der Stände gerade auf dem Gebiete der Kleidung. Hier liegen die Anfänge der Kleiderordnungen, denen wir von nun an noch oft begegnen werden; sie waren zu allererst gegen die Versuche der Menschen gerichtet, über die fest umgrenzten Kleiderrechte ihres Standes hinauszugreifen. Die Ausartungen der Kleidung, der Kleiderluxus, f a n d natürlich seine ausgeprägtesten und eigenwilligsten Formen in den Städten, wo die Stände eng nebeneinander wohnten, wo sie bei den Festen der Kirche und der Stadt, ja schon beim regelmäßigen Kirchgang zu dauerndem Wettstreit in der Lebenshaltung Veranlassung nahmen. Die Bürgersfrauen begannen, mit den Edeldamen in der Aufnahme kostbarer, nicht immer sehr züchtiger Moden zu wetteifern. Dem Altertum war diese Verschwendung der Stoffe zu übermäßiger Weite und Länge im allgemeinen unbekannt geblieben. Griechen und Römer hatten auch jene absichtliche Entstellung der Gestalt nicht gekannt, die nun häufig in beträchtlichem Umfange Platz griff — wir denken noch einmal an die Pumphosen und an die H ü f t röcke, Fischbeinpolster und andere Dinge. Die antike Tracht war im ganzen nicht nur geschmackvoller und naturgemäßer gewesen, sondern sie war auch, trotz aller Abwandlungen und Verschiebungen, im Kern doch beständiger geblieben. Insofern war also der Luxus des Altertums gerade in Kleiderfragen viel geringer als der im Mittelalter oder gar der späterer Jahrhunderte. Dabei braucht man nicht einmal an die Übertreibungen zu denken, wie sie etwa in den Schnabelschuhen und in der Schellentracht zu sehen sind. Diese Schuhe mit übertrieben langen, zuweilen aufwärtsgekrümmten, mit Werg ausgestopften Schnäbeln gaben dem Menschen gewiß ein mehr komisches als schönes oder elegantes Aussehen. Gleichwohl erhielt sich diese Mode, die im 11. Jahrhundert aufkam, trotz aller Unbequemlichkeiten bis in das 15. Jahrhundert, ja, endlich ging man sogar dazu über, auch noch die Spitzen dieser Schuhe mit Rollschellen zu „zieren". U n d von dort aus verbreitete sich dann das eigentliche „Zierwerk" über den ganzen übrigen Anzug; bald trug man Gürtel, Knie- und Armbänder, die mit Schellen und Glöckchen be-

Kleidermoden

41

hängt waren — übrigens haben in diesem Fall die Frauen den Männern durchaus den Vorrang gelassen, haben sich d a f ü r aber etwa durch die Betonung und das Sichtbarmachen der Körperformen mit H i l f e zarter Stoffe und festanliegender Kleidung schadlos gehalten und den sex appeal in einem Maße unterstützt, daß die Kleiderordnungen nicht selten betonten, wie gering der Unterschied in der Kleidung und H a l t u n g gerade zwischen den höchsten und den niedrigsten Frauen geworden sei. Das Korsett ist wahrscheinlich schon im 13. Jahrhundert in Paris erfunden worden. Ob die Sage zutrifft, nach der die Frauen dieses Kleidungsstück einem Pariser Schlächtermeister verdanken, der seiner übermütigen Frau vom Schmied ein verschließbares Drahtgestell um den ganzen Leib bauen ließ, mag dahingestellt bleiben. Denn schon Tacitus erzählt, wie die schöne Kurtisane Eucharis mit der „Fascia", ihrer Brustbinde, sich abmühen mußte. Ovid und Terenz machen in ihren Versen Scherze über dieses Kleidungsstück und die Reize, die es verbirgt, betont und — ersetzt. Diese drei Möglichkeiten haben denn zweifellos auch in späteren Zeiten d a f ü r gesorgt, daß der Gebrauch des Korsetts nicht wieder vergessen wurde — trotz aller gesundheitlichen und geschmacklichen Gegengründe richten sich solche Fragen eben mehr nach dem gewichtigeren Bedürfnis als nach einfach übersehbaren Regeln der Hygiene. Mit dem Korsett sind wir nun aber bereits bei der Frage der Frauenschönheit angelangt, die im Altertum und Mittelalter gewiß keine geringere Bedeutung gehabt hat als in unserenTagen (Abb. 7). Wie begeistert und innig die Ritter in ihren Minneliedern alle Reize ihrer Angebeteten besungen haben, kann als bekannt vorausgesetzt werden. Welches war denn nun aber sozusagen das G r u n d m a ß der mittelalterlichen Frauenschönheit? Eine Frau, die als schön gelten wollte, durfte nur von mäßiger Größe und mußte dabei schlank und geschmeidig sein. Das Ebenmaß war so streng gefordert wie die weibliche Rundung der Formen. Wir folgen den Forschungen eines angesehenen Kulturhistorikers, wenn wir berichten, daß eine „zarte Fülle der Hüfte, Geradheit der Beine, Kleinheit und Wölbung der Füße, weißes und festes Fleisch der Arme und H ä n d e , Länge und Glätte der Finger, Schlankheit des Halses, plastische Festigkeit und Gewölbtheit der Büste" gefordert wurden. „Aus dem rötlich weißen Antlitz sollten die Wangen hervorblühen wie be-

42

Vom Altertum zur Neuzeit

taute Rosen. Klein, festgeschlossen, süßatmend sollte der Mund sein, und aus schwellenden roten Lippen die Weiße der Zähne hervorleuchten wie .Hermelin aus Scharlach'. Ein rundes Kinn mit schlehenblütenweißem Grübdien mußte die Reize des Mundes erhöhen. Aus dem breiten Zwischenräume zwischen den Augen sollte sich die gerade Nase, weder zu lang, noch zu spitz, noch zu stumpf herabsenken. Schmale lange, wenig gebogene Augenbrauen, deren Farbe etwas von der des Haares abstach, waren beliebt. Das Auge selbst mußte klar, lauter, herzdurchsonnend sein. Seine bevorzugte Farbe war die blaue, allein noch höher stand jene unbestimmte, wechselnde, wie die Augen einiger Vogelarten sie bemerken lassen. Endlich waren blonde H a a r e von goldenem Schmelz, um schneeweiße, feingeaderte Schläfen sich ringelnd, eine von höfischen Kennern weiblicher Schönheit betonte Forderung." Dieser eingehenden Beschreibung jener vorbildlichen Schönheit, die nun das vielbesungene und auch umkämpfte Ideal der f r a n z ö sischen Troubadours und der deutschen Minnesänger, der Preis der ritterlichen Turniere und des ernsten Kampfes, das lockende Ziel bei der Heimkehr aus den Kreuzzügen bildete, ist nur wenig hinzuzufügen. Immerhin mag erwähnt werden, daß, da nun einmal nicht jede Frau allen Erfordernissen des Schönheitsideals zu entsprechen vermochte, auch dieser Zeit die Schönheitsmittel so wenig unbekannt waren wie die Kunst des geschickten und vorteilhaften Putzes. Die Schminke stand bei der Ritterdamenwelt in hohem Ansehen und in starkem Gebrauch; und der Hautpflege widmeten die Frauen, soweit sie Zeit dazu hatten, beträchtliche Aufmerksamkeit — wo wäre sonst wohl auch das „rötlich weiße Antlitz" geblieben, aus dem die Wangen „hervorblühten". Ebenso kannte man die Haarpflege, ja die Männer, die zugleich der H a a r - und Bartmode zu folgen hatten, wetteiferten hierin mit den Frauen. Diese scheitelten f ü r gewöhnlich die H a a r e und hielten den Scheitel durch ein Band in Ordnung. Dann wurden die H a a r e in zierliche Locken gedreht oder in Zöpfe geflochten, die man mit Goldfäden und -schnüren durchwob und über die Schulter auf den Busen herabhängen ließ oder in mancherlei Knoten aufsteckte. Auch trugen die vernehmen Ritter- oder Bürgersfrauen regelmäßig ein Täschchen bei sidi, in dem nicht nur Geld, sondern auch das Riechfläschchen und andere Kleinigkeiten enthalten waren — neben einem gelegentlich

Schönheit und Stellung der Frau

43

wohl bis zum Dolch verlängerten Messer (eine modische Übertreibung der Unsicherheit der Zeit), Schlüsselbund, Schere und Spindel. Einer modernen Dame durften schon in früher Zeit reichverzierte und mit Wohlgerüchen besprengte Handsdiuhe nicht fehlen. Schließlich sehen wir auf einer Miniatur der Pariser Liederhandschrift, wie eine ähnlich gekleidete Ritterdame bei der Unterhaltung mit dem Händler, der Gürtel, Taschen und Bänder feilzuhalten scheint und auf einem Esel reitend die Kundschaft bereist, auf ihrem Arm das zarte Schoßhündchen trägt und es mit langen, dünnen Fingern, wie sie den Forderungen der Sdiönheitsgebote entsprachen, gegen ihr Herz drückt. Seit jeher hat bei den germanischen Völkern die Frau, das Weib, eine besonders hohe Stellung innegehabt. Die Jungfräulichkeit des Mädchens und die Würde der Frau zu ehren war selbstverständliches Gebot jener Stämme, bei denen seit ihrer Frühzeit dem Weibe eine Sehergabe zuerkannt wurde, von der auch Tacitus rühmend erzählt. Wer eine Jungfrau oder Witwe tötete, mußte diese Freveltat nach altem Volksrecht mit der härtesten Strafe büßen. Von Krieg und Fehde war das Weib ausgenommen, es blieb stets im Genuß ungestörten Friedens — wenigstens war das die ideale Forderung. An sie aber müssen wir uns halten in der Gewißheit, daß die Übertretungen solcher Gebote stets weitaus in der Minderheit geblieben sind. Selbst als der Gotenfürst Totila vielen Männern Italiens den T o d brachte, wurden Leben und Ehre der Frauen geschont, der Angriff eines Goten auf eine Neapolitanerin mit dem Tode bestraft. So blieb die Stellung rechtlich auch in den folgenden Jahrhunderten gewahrt: Der Sachsenspiegel formulierte den hohen Rang der Frau, der selbst in den grausamen Hussitenkriegen im allgemeinen geachtet wurde. Es war also gar nicht anders möglich, als daß das Christentum der Frau und der Ehe bei den Germanen keine höheren Werte hinzufügen konnte — was dagegen zum Segen der menschlichen Entwicklung bei anderen Völkern in mancher Beziehung geschah. Man kann vielmehr eher sagen, daß gewisse Forderungen der Askese, die Verachtung der Freuden dieser Welt, die Herabsetzung der innigen Gattenliebe zugunsten der Liebe zu Christus und zu der himmlischen Jungfrau der würdevollen Stellung der Frau Abbruch getan haben. Als um die Jahrtausendwende die ungesunde Verbindung

44

Vom Altertum zur Neuzeit

heimlicher Sinnlichkeit, religiöser Askese und gesunder Gläubigkeit keineswegs nur in den Klöstern, sondern auch weithin im Volke und gerade in den führenden Schichten ihren H ö h e p u n k t erreicht hatte, da begann auch schon wieder die Umkehr zur natürlichen Einschätzung dieser so verschiedenen Werte und Aufgaben. Das Rittertum der Stauf er, der Träger der Kultur, der Bildung und Gesittung, f a n d bald an dieser als ungesund und aucli unbefriedigend empfundenen religiös-sinnlichen Verehrung der Jungfrau Maria nicht Genüge. Man begann wieder Gott und dem Christentum zu geben, was ihm gebührte, und die Frauen dieser Welt mit jenem zarten höchsten Kultus, mit jener romanisch beeinflußten Anbetung zu verehren, die uns heute noch an der Zeit so bewunderungswürdig und rührend zugleich erscheint. Vom volksliedhaften Minnelied bis zur weitberühmten Heldentat reicht der Kreis der Möglichkeiten, die damals wieder und wieder gefunden wurden, um der Angebeteten aufzufallen und schließlich Gehör bei ihr zu finden (Abb. 5). D a ß daneben manche leere Phrase war, daß unter dem Deckmantel der hohen Minne sich häufig Zuchtlosigkeit und Sittenverfall verbargen und sie schließlich überwucherten, war nur das natürliche Ende einer bis zur höchsten Verfeinerung getriebenen Erscheinung. Einzig das städtische Leben, das zu enger Gemeinschaft und dauernder gegenseitiger Beobachtung geradezu zwang, in dem bei regelmäßiger und meist schwerer Arbeit im Handel und H a n d w e r k , beim Verkehr so vieler Menschen untereinander schnell feste und auf Abstand hinzielende Umgangsformen sich entwickelten, vermochte diesem Verfall Einhalt zu tun, den weder die Kirche mit unverheirateten und nicht immer vorbildlich lebenden Geistlichen noch die Gutsherrschaft mit ihrer ungesunden Stellung dem leibeigenen Bauern gegenüber entscheidend beeinflussen konnten. In der Stadt entwickelte sich „die öffentliche Meinung, der älteste Feind der Unsitte" — freilich daneben auch der Gegensatz von arm und reich, die Kluft zwischen den führenden Geschlechtern und den zunftmäßigen Bürgern. „Im ganzen trat aber eine praktisch tüchtige Auffassung des Lebens an die Stelle der ritterlichen Phantasien; auf die höfische Zucht folgte der bürgerliche Brauch." An die Stelle der Heldentat trat die bürgerliche Form der Werbung (nicht zuletzt mit H i l f e des Geldbeutels), den Ritter verdrängte der gewandte K a u f -

Die Stellung der Frau

45'

mann, das Ritterfräulein die häusliche Tochter des Bürgers. N u n ist es interessant zu beobachten, wie dieses Nahebeieinanderwohnen doch nicht nur die allgemeine Zucht förderte und festigte, sondern sie andererseits auch in mancher Hinsicht lockerte und freier machte. Trinken aus einem Glase, Küssen, Umarmen, gemeinsame Bäder — noch vor gar nicht langer Zeit undenkbar und schamlos genannt — wurden im Zuge größerer und regelmäßiger Geselligkeit wenn nicht selbstverständliche, so doch f ü r unbedenklich erklärte Erscheinungen. Im Gefolge dieser Wandlung zum Nüchternen, einer Reaktion auf übertriebene und verfälschte Minnemystik, erhielt auch die Ehe ein bürgerliches Ansehen. Sie wurde nicht mehr in erster Linie die hohe Vereinigung zweier Liebenden, sondern „ein Amt voll von Pflichten und Rechten", nicht die Verbindung zweier Menschen, sondern das dauernde Bündnis zweier Körperschaften, ein Band, das die Verwandtschaften des Mannes und der Frau fest aneinanderfügte. Wollten wir uns bei einer Betrachtung der Eheverhältnisse ausschließlich auf die rechtliche Seite beschränken, so wäre kaum anderes zu sagen, als daß die Frau nicht viel mehr war als eine dem Manne unbedingt gehorsame Magd. Nach einer Verordnung des Königs von Frankreich war dem Ehemann ausdrücklich gestattet, seine Frau zu schlagen, wenn er es f ü r nötig hielt. Aber tatsächlich unterschied sich ja die Stellung der Frau, wie wir anfangs schon bemerkten, von diesen Möglichkeiten ganz beträchtlich. Je umfänglicher die Pflichten der Frau, besonders die der Herrin eines großen landwirtschaftlichen Betriebes oder eines bedeutenden städtischen Haushaltes wurden, umso freier und selbständiger gestaltete sich ihre Stellung. Ja, gelegentlich mochte 'das so weit führen, daß wir Äußerungen einer Selbständigkeit begegnen, die uns an Zustände de* 20. Jahrhunderts gemahnen — so, wenn eine Frau sagt: „Die Ehe ist das Grab der Liebe, und da die Liebe unbedingt jede Berechtigung voraus hat, so ist natürlich ein Ehebündnis kein Hindernis f ü r Mann und Frau, anderweitig die Liebe zu finden!" So hat also auch die Eheauffassung seit der Zeit der Germanen gewisse Wandlungen durchgemacht — wenngleich man sie nicht überschätzen sollte. Denn schon dem Germanen war die Frau nicht nur Eheweib, Mutter der Kinder und Vorsteherin des Haushalts gewesen; sie hatte beim Verlöbnis ein Joch Rinder, Speer und Roß

46

Vom Altertum zur Neuzeit

als ein Symbol d a f ü r erhalten, daß sie mit dem Manne die Herden bewachen, die Feldarbeit leisten und in größter Bedrängnis an der Schlacht teilnehmen würde. Von jeher sollte die Ehe nur durch den T o d lösbar sein. Natürlich hat auch auf die Stellung der Frau das Schicksal des Stammes und schließlich des Volkes entschieden Einfluß ausgeübt. W o das Leben sich in freiere, lebhaftere Bahnen, in weltoffene Verhältnisse einfügen konnte, da wiesen sich der Frau von vornherein weitere und bedeutendere Möglichkeiten, als es etwa im Osten und Südosten Deutschlands möglich war. Der Westen und Südwesten, späterhin auch die Hansestädte, das ganze Rheinland sind nicht nur in den Äußerlichkeiten des schönen und bequemen Lebens weiten Strecken des östlichen und nördlichen Deutschlands lange Zeit vorangegangen. Sie haben auch dem Innern des Menschen, des Mannes und der Frau, eine schnellere und weitere Entwicklung ermöglicht; ähnlich wie etwa die Venezianerin stets eine andere Frau gewesen ist als die Bäuerin eines kleinen italienischen Dorfes. Wie sehr aber auch gerade diese den Weltläuften zugewandten Frauen der N a t u r , der alten überlieferten Sitte, Gläubigkeit und Frömmigkeit stets anhänglich blieben und so doch auch wieder das Beharrende in der Entwicklung darstellen, das mag man aus Petrarcas Bericht von einem der schönsten und ältesten Kölner Frauenbräuche entnehmen (Abb. 2). Im Sommer 1337 schrieb dieser große italienische Dichter seinem Freunde, dem Kardinal Giovanni Colonna: „Am Tage vor Sankt Johann war es, als ich in Köln anlangte, die Sonne neigte sich bereits zum Untergange. Alsbald führten mich meine Freunde von der Herberge zum Gestade des Flusses, da ich ein prächtiges Schauspiel bewundern sollte. U n d ich wurde nicht enttäuscht; das U f e r war mit einer unermeßlichen Menge Frauen bedeckt. Gütiger Gott, was f ü r schöne Gestalten, Gesichter, Kleider! Wer das H e r z von anderer Leidenschaft frei gehabt hätte, konnte sich da verlieben. Ich hatte mich an einer erhöhten Stelle aufgestellt, wo ich gut beobachten konnte, was vorging. Unglaublich, doch keineswegs lästig war das Gedränge. Ich sah sie nacheinander alle in ihren Festgewändern, ein Teil von ihnen trug duftende Kräuter in ihrem Schöße. Die Ärmel hatten sie bis zu den Ellbogen aufgestreift, sie wuschen im Flusse die H ä n d e und die weißen Arme und murmelten dabei in ihrer mir unbekannten Sprache ich weiß nicht was

Die Stellung der Frau

47

f ü r Worte. Ich hatte zum Glück einen sehr zuvorkommenden D o l metscher. Ihn f r a g t e ich mit den Worten V i r g i l s : , W a r u m a m Flusse das Gedränge, und was haben die Seelen dort zu suchen?' E r antwortete mir, es sei ein alter Glaube der Völker, besonders der Frauen, daß, wenn man sich an gewissen T a g e n im Flusse wüsche, alles im L a u f e des J a h r e s drohende Unheil abgewendet würde und nur glückliche T a g e folgten. O ihr Glücklichen, rief ich aus, denen es vergönnt ist, nahe am Rhein zu wohnen! Er spült euer Elend fort, das unsrige vermöchte der P o oder der Tiber nicht wegzuspülen! Auf dem Rücken des Rheins schickt ihr euer L e i d zu den Britanniern, und wir würden es gleichfalls gern zu den Illyriem und Afrikanern senden, doch unsere Flüsse scheinen träger zu sein. — E s entstand ein Lachen, und da es spät war, wandten wir uns von dort." K u r z wollen wir noch betrachten, wie die K i n d e r solcher Frauen heranwuchsen, wie sie zu Männern und Frauen jener Zeit wurden. Beginnen wir mit dem Ritterstand: Wer von seinen Eltern d a f ü r bestimmt war, den gaben sie womöglich a n den H o f eines Edlen, damit er Pagendienste tun möge. Er zählte nun zum Gefolge seines Herrn, den er auch wohl bei Tisch und tagsüber bediente. Seine Lehre zielte zunächst auf gesittetes Verhalten bei der Rede, beim Essen und beim Trinken. Viele Lehren hatte man schon seit dem frühen Mittelalter in Verse gefaßt und ließ sie den Schüler auswendig lernen. So ordneten die Tischzuchten z. B. an, daß man sich die N ä g e l beschneide — es gab zu dieser Zeit noch keine Gabel, und man bediente sich beim Essen ganz korrekt und ungeniert der Finger —, daß man vor dem Essen „Segne es Jesus Christus" sage, daß man bei Tisch den Leibgürtel nidit ablege, das Brot beim Schneiden nicht an die Brust drücke, mit dem Finger nicht in die Schüssel, das S a l z oder den Senf stoße, vielmehr die Speisen mit einem Löffel oder einer Brotkruste aus dem G e f ä ß hole. „ N i e m a n d soll aus der Schüssel trinken, nicht abbeißen und wieder in die Schüssel legen; es sollen nicht zwei einen Löffel gebrauchen; beim Schneiden soll man nicht die Finger auf die Klinge legen, weder trinken noch sprechen, bevor man die Speisen verschluckt hat, nicht rülpsen und nicht schmatzen, sich nicht in das Tischtuch schneuzen, sich nicht über den Tisch legen, nicht krumm sitzen und sich nicht auf die Ellbogen stützen." Noch viele solcher Regeln, die sich auf Manieren

48

Vom Altertum zur Neuzeit

u n d Sitte bezogen, h a t t e der K n a b e zu lernen, bevor aus einem K i n d der Knecht eines ritterlichen H e r r n geworden w a r , der nun als K n a p p e in allen Künsten des Reiterhandwerks u n d des Ritters unterwiesen w u r d e — in den sportlichen Übungen, in der J a g d mit H u n d e n u n d Falken, im Gebrauch der W a f f e n , auch im zierlichen T a n z , im Gesang u n d in der Dichtung. H a t t e sich der K n a p p e d a n n gebührend hervorgetan, stammte er von einem Vater, der selbst die R i t t e r w ü r d e erhalten hatte, oder w a r er seinem H e r r n ganz besonders ans H e r z gewachsen, so erhielt er feierlich den Ritterschlag — dieser bildete gewissermaßen das E n d e seiner Erziehung. Auf die geistige Ausbildung des K n a b e n w u r d e f ü r gewöhnlich, falls er sich nicht dem geistlichen Stande widmen sollte, k a u m Mühe v e r w a n d t . Lesen undSchreiben galten f ü r „ p f ä f f i s c h e K ü n s t e " , d e r e n auch der vornehmste u n d tüchtigste R i t t e r nicht mächtig zu sein brauchte, ja, die er um des guten Tones willen wohl verachtete. Die Erziehung der Mädchen hatte die Aneignung tüchtiger K e n n t nisse u n d Fähigkeiten in allen Fragen des H a u s h a l t s zum Ziel, daneben eine gewisse Fertigkeit in H a n d a r b e i t e n . W o h l h a b e n d e Eltern, die ihre Töchter nicht zur Erziehung an einen H o f geben konnten, brachten sie doch wenigstens in eines der zahlreichen Frauenklöster, in denen sich der Unterricht allerdings fast ausschließlich auf das Beibringen von Gebetsformeln und H a n d f e r t i g keit, auf die Kenntnis biblischer Geschichte u n d vieler Heiligenlegenden beschränkte. Selten nur zeigte sich in solch einem Kloster der D r a n g zu höherer Bildung. In den Städten entwickelte sich verhältnismäßig schnell ein regeres geistiges Leben. Handelstätigkeit und Gewerbebetrieb, auch die K o n k u r r e n z verlangten einen gewissen, stets steigenden G r a d von Bildung. D a h e r k o m m t es, d a ß wir mit dem A u f b l ü h e n der Städte in ihnen schon frühzeitig den ersten sogenannten Bürgerschulen begegnen. Die A n f ä n g e dieser deutschen Bildung lagen freilich jenseits der A l p e n : in Mailand, Brescia, Florenz u n d anderen angesehenen Städten, in denen m a n seit etwa 1150 auf die Jugendbildung große Sorgfalt verwandte. Die ersten deutschen Stadtschulen wurden in Leipzig, Lübeck, H a m b u r g , W i s m a r , Rostock, Stettin, W i e n u n d K ö l n crrichtet. Die wichtigsten Unterrichtsthemen w a r e n neben der christlichen Glaubenslehre Schreiben und die Anfangsgründe des Rechnens. Das Schreiben galt gewissermaßen f ü r ein Monopol der

Die Erziehung von Knaben und Mädchen

49

Geistlichen; u n d nicht selten setzte es daher einen heftigen K a m p f zwischen Bürgerschaft u n d Geistlichkeit, bis endlich auch der gewöhnliche Bürgerssohn in diese K u n s t eingeweiht werden durfte. A n die niederen Schulen reihten sich mit der Zeit höhere; a n diese schlössen sich die U n i v e r s i t ä t e n mit ihrem g a n z eigenen G e p r ä g e an. D o c h k a n n m a n f ü r alle ohne Ü b e r t r e i b u n g sagen, d a ß der S t a n d der allgemeinen B i l d u n g kein hoher wiar noch sein konnte. W o die K u n s t des Druckes fehlte, w o die Ziele der B i l d u n g g a n z andere w a r e n als in späteren J a h r h u n d e r t e n , d a k a n n gerechterweise nicht erwartet werden, daß ihr Ergebnis m o d e r n e n M a ß s t ä b e n genügte. N o c h h a t t e das Zeitalter der literarischen B i l d u n g s i d e a l e nichit einm a l begonnen. D i e A n s ä t z e , f ü r den heutigen Forscher deutlich z u erkennen unid z u benennen, lagen noch in der Verborgenheit einzelner Menschen, deren W i r k u n g s k r e i s bei aller persönlichen Bedeut u n g doch stets sehr beschränkt w a r u n d sein mußte. G a n z anderen F r a g e n jener Zeiten wollen wir uns nun z u w e n d e n : denen des Essens und T r i n k e n s . E s darf als b e k a n n t v o r a u s gesetzt werden, d a ß unsere V o r f a h r e n in der N a h r u n g s a u f n a h m e g a n z Erstaunliches leisteten, d a ß sie einer f ü r heutige B e g r i f f e unverständlich ü p p i g e n Lebensweise huldigten — die Figuren, die wir auf alten Bildern „ b e w u n d e r n " können, sind die Folgen gewesen. N u n hat m a n sich freilich über das Leben der G e r m a n e n lange Zeit recht falsche V o r s t e l l u n g e n gemacht. W i r wissen heute mit Sicherheit, daß es nicht ausschließlich Fleischnahrung w a r , die unsere V o r f a h r e n zu den gewaltigen K ä m p e n u n d Recken aufwachsen ließ. D i e Suche nach dem notwendigen Getreide w a r der H a u p t a n l a ß f ü r die V ö l k e r w a n d e r u n g .

U n d Alarichs Z u g nach Italien hatte den

Zweck, dem G o t e n v o l k eine der „ K o r n k a m m e r n " der Alten W e l t , Sizilien, z u gewinnen. W i e der Speisezettel der G e r m a n e n in der Bronzezeit ausgesehen h a t , ist uns v o n neueren Forschern beschrieben w o r d e n : D i e N a h rung ist d a m a l s bereits z u wesentlichen T e i l e n pflanzlicher

Art

gewesen. Rindfleisch, Schweinefleisch und Schaf fleisch traten hinzu. A n Getreide w u r d e hauptsächlich W e i z e n in mehreren A r t e n angebaut. Auch Gerste und H i r s e kannte m a n bereits, w ä h r e n d R o g gen und H a f e r erst später a u f k a m e n . Z u r Zeit, d a die G e r m a n e n mit den R ö m e r n zusammenstießen, ist der H a f e r ein H a u p t n a h rungsmittel gewesen, denn Plinius meldet: „ D e r erste aller K r a n k el

Treue,

Kulturgeschichte

50

Vom Altertum zur Neuzeit

heitszustände des Getreides ist der H a f e r ; und die Gerste entartet in ihn, so daß er selbst so gut wie Getreide ist. Säen ihn doch die Völker Germaniens und leben fast ausschließlich von Hafergrütze." Zu diesem Hauptnahrungsmittel kamen zahlreiche Küchen- und Gemüsepflanzen hinzu. So kannte die germanische Hausfrau Kümmel, Mohrrüben, Erbsen, Linsen, Pastinak und Mohn; auch der Spargel war bekannt und beliebt. Plinius erzählt uns von Rettichen, die in Germanien die Größe „von kleinen Kindern" erreicht hätten. Birnen, Vogelkirschen, Traubenkirschen, Pflaumen, Schlehen, Maulbeeren, Himbeeren, Brombeeren, Erdbeeren, Preißelbeeren, Blaubeeren, Hagebutten, Holunder, Bucheckern, Eicheln und Haselnüsse bildeten schon in jener Zeit das Obst — allerdings in wildwachsendem Zustand. Die Milch trank man, verarbeitete sie aber auch zu Butter und Käse. . Eine interessante und aufschlußreiche Quelle zur Kenntnis der germanischen Ernährungsweise der Franken im 6. Jahrhundert bilden die Diätverordnungen des römischen Arztes Anthymus, der als Gesandtschaftsarzt Theoderichs längere Zeit im Frankenreich lebte. Er hat eine Unmenge von Aufzeichnungen und Rezepten hinterlassen, die uns ein zuverlässiges Bild von der Reichhaltigkeit des Speisezettels dieser Zeit vermitteln. Zu den bereits genannten Fleischsorten sind inzwischen Wildschwein, Hirsch und Hase hinzugekommen. Die Hausgans ist sehr beliebt, daneben ißt man Enten, Haus- und Wildtauben. Auch Pfau, Fasan, Rebhuhn und Schnepfe, sogar der Sperling werden gegessen. Lachs und Hecht werden als beste Fische genannt, die Scholle, Aal, Forelle, Stör und neben der Auster auch andere Muscheln sind beliebt. Das Fleisch aber genoß man notfalls in frischem Zustande, gewöhnlich aber gepökelt, geräuchert, gekocht oder gebraten. Weiter beschreibt uns der Arzt verschiedene Brühen, nennt uns unter anderem Nieren als ungenießbar oder doch gesundheitsschädlich, lobt das zarte Brustfleisch des Geflügels und verachtet Mastfleisch. Dem rohen Speck — einer Lieblingsspeise der Franken — traut er Heilkräfte zu. Vieles könnte aus diesen Vorschriften auch bezüglich des Gemüses angeführt werden. Doch sei nur erwähnt, daß sogar der Reis schon bekannt war und besonders gern in Ziegenmilch gekocht wurde. Brei aus Gerste, Hirse und Weizenmehl galt als bekömmlich bei Darmerkrankungen. Obst, wozu jetzt auch Weintrauben, Kürbisse, Melo-

Der Speisezettel der Germanen

51

nen, Pfirsiche, Quitten und Feigen gehörten, aß man frisch und getrocknet. Eine wichtige Rolle spielten die Eierspeisen, wobei jedoch vor hartgekochten Eiern dringend gewarnt wurde. Ziegenmilch mit Brot gekocht soll gegen Darmkatarrh geholfen haben. Saure Milch süßte man gern mit Honig; Butter dagegen liebte man ungesalzen, ebenso wie den Käse, der frisch sehr gesund, alt und hart dagegen schädlich schien. Keineswegs ein schmaler und abwechslungsloser Küchenzettel ist es gewesen, der in jener Zeit zur Verfügung stand und aus dem wir hier nur die alltäglichsten Genüsse haben nennen können. Es ist der Speisezettel eines kultivierten Volkes, das durchaus nicht unmittelbar von den einfachsten Gaben des Feldes und "Waldes, der Flüsse und der Seen lebt, sondern gewohnt ist, sich diese Urgaben zu verfeinern, das nicht allein auf Sättigung, sondern auf Genuß Wert legt. Diese Entwicklung hat in der folgenden Zeit durchaus ihren schnellen und gründlichen Fortgang genommen. Stets blieben Speise und Trank wichtige und vielbeachtete Dinge im häuslichen Leben, so sehr zuweilen, daß sie zu Verschwendung und Völlerei ausarteten, was dann wieder zu beschränkenden Gesetzen führte. Natürlich erreichte in späterer Zeit die Kunst der Speisebereitung ihre Höhe in den Städten — einmal, weil dort überhaupt im "Wettbewerb der Häuslichkeiten Anlaß zu Erfindungen und Entdeckungen geboten war, dann aber auch wegen der zahlreichen Verbindungen zu anderen Städten und Ländern, aus denen man Speisen und Rezepte beziehen konnte. Reis in griechischer "Weise, französisches Blancmanger, orientalisches Konfekt in Rosenöl mögen als Feinheiten genannt sein. Insgesamt aber würde uns heute die mittelalterliche Küche wohl außerordentlich auf der Zunge brennen, da die Vorliebe für starke Gewürze sehr groß war: außer den einheimischen Gewürzkräutern benutzte man den milden Safran, aber auch, und zwar in unglaublichen Mengen, die berühmten indischen Gewürze. Auf diesem Riesenkonsum beruhte ja letztlich zum großen Teil der Handelsverkehr nach Asien. Und bedenkt man außer dei Menge auch die Preise, so wird verständlich, daß die Städte vornehmen Gönnern und Gästen wohl Pfeffer, Zimt und Muskatnuß als passendes Geschenk überreichten. Immerhin wurde im ganzen Mittelalter — auf Frankreich kommen wir noch zu sprechen — wohl kaum der Tafelluxus erreicht,

52

Vom Altertum zur Neuzeit

den die Römer im letzten vorchristlichen Jahrhundert entwickelt hatten. W i r besitzen ausführliche Nachrichten über eine priesterliche Antrittsmählzeit aus den Jahren zwischen 74 und 63 v. Chr. Sie f a n d am 24. August statt. Nach dem Voressen aus Seeigeln, rohen Austern, zwei Arten Muscheln, einer Drossel auf Spargel, einer gemästeten Henne, einem Austern- und Muschelragout sowie schwarzen und weißen Maronen gab es wieder verschiedene Muscheln und Seetiere mit Feigenschnepfen, Lenden von Rehen und Wildschweinen, Geflügel in einer Teigkruste und Purpurschnecken mit Feigenschnepfen. D a n n endlich begann die Hauptmahlzeit: Saueuter, Schweinskopf, Frikassee von Fischen, Frikassee von Saueuter, Enten, eine andere Art Enten gesotten, Hasen, gebratenes Geflügel, eine Mehlspeise, picentinisches Brot. Der Nachtisch war ohne Zweifel ebenso reichhaltig, leider fehlt uns eine Beschreibung von ihm. Kein Wunder, daß die Benutzung von Brechmitteln nach der Mahlzeit weit verbreitet war, wenngleich der vielgenannte Gebrauch solcher Medikamente selbst nach einfachsten Mahlzeiten den Schluß zuläßt, daß man sie auch als rein diätetische Mittel benutzte, wie in späterer Zeit etwa das Aderlassen und das Purgieren. Kehren wir nun wieder ins Mittelalter zurück, so dürfen wir bei der Besprechung der Tafelfreuden die Klöster nicht vergessen. Dort gehörten wie im alten Rom Fasanen und Pfauen zu den ausgesuchtesten Speisen aller großen Festtafeln, was wir den Küchenzetteln von Klöstern am Bodensec schon im 11. Jahrhundert entnehmen können. Ausländische Nahrungsmittel und Ingredienzien waren vielfach bekannt und im Gebrauch. Im Kloster zu Hirsau wurden um 1075 ausländische Fische gegessen; man liebte Zitronen, Feigen und Kastanien. D a ß es, wie im goldenen Hause Neros, gelegentlich wohl auch im Kloster eine Zimmerdecke gegeben haben soll, von der wohlriechende Essenzen und Zuckerwerk auf die Gäste regneten, wird nicht ganz zuverlässig überliefert. In Frankreich war die Kochkunst schon im 14. Jahrhundert verhältnismäßig hoch entwickelt, machte jedoch im 15. eigentlich erst die größten Fortschritte, die den Grund zu seinem später unbestrittenen Ruhm auf dem Gebiete der Feinschmeckerei gelegt haben. Karls V I I . Koch Taillevent hat geradezu eine Kochschule geleitet, in der die Schüler unter anderem die künstlerische Dekoration der Schüsseln lernten und zugleich bestrebt waren, die N a t u r der Spei-

Von den Tafelfreuden

53

sen durch künstliche Bereitung unkenntlich zu machen. Aber auch in England bestand zu Ende des 14. Jahrhunderts die gewöhnliche Mahlzeit eines Mannes von Stande aus drei Gängen von je sieben, fünf und sechs Schüsseln. U n d der Bauer, der die Wolle seiner Schafe gewöhnlich zu guten Preisen verkaufte, lebte nicht nur von Brot und Bier, sondern aß auch regelmäßig Fleisch, Käse, Erbsen, Bohnen und „Wurzeln". Viele Bauern hielten Geflügel, so daß sie mit Eiern versorgt waren. Zumeist besaßen sie auch neben den Schafen Kühe und Schweine, hatten also Milch,.Fleisch und Speck. U n d wenn das Hausvieh auch höchstens halb so schwer wurde wie das Zuchtvieh seit dem 19. Jahrhundert, so wurde doch um den Martinstag zum Einpökeln f ü r den Winter und zu Weihnachten f ü r frisches Fleisch fast überall geschlachtet. Daneben gab es in den dichten Wäldern und Brüchen Hasen, Fasanen und anderes Wild auch f ü r den, der kein Jagdrecht hatte, sich darüber aber, wie Chaucer in „Doctor's Tale" erzählt, ohne große Bedenken hinwegsetzte. Als Benedetto Salutati am 16. Februar 1476 in Florenz den Söhnen König Ferantes I. ein Festessen gab, war die Treppe des Hauses mit Teppichen und Taxusgewinden behangen u n d der Saal mit großen, figurenreichen Teppichen geschmückt, die riesige Speisetafel war mit feinstem Leinenzeug bedeckt. Nachdem die Gäste unter Trompetenschall Platz genommen hatten, erhielten sie ein Festmahl, das in die Geschichte der Feinschmeckerei eingegangen ist. Zur Vorkost bekam jeder eine kleine Schüssel mit vergoldeten Kuchen von Pinienkernen und einen kleinen Majolikanapf mit einer Milchspeise. Es folgten acht Silberschüsseln mit Gelatine von K a p a u n brust, mit W a p p e n und Sinnsprüchen verziert; die f ü r den vornehmsten Gast, den Herzog vonKalabrien, bestimmte Schüssel hatte in der Mitte eine Fontäne, welche Orangenblütenwasser versprühte. Der erste Teil des Mahles bestand aus zwölf Gängen verschiedener Fleischgattungen: Wild, Kalb, Schwein, Fasan, Rebhuhn, Kapaun, H u h n , Blancmanger; am Schlüsse stellte man vor den Herzog eine große silberne Schüssel, aus der beim Aufheben des Deckels zahlreiche Vögel emporflogen. Auf zwei mächtigen Präsentiertellern waren zwei Pfauen wie lebend und radschlagend aufgestellt, die im Schnabel brennende, duftende Essenzen und vor der Brust auf seidenem Band des Herzogs Wappenschild trugen. Der zweite Teil des

54

Vorn Altertum zur Neuzeit

Essens bestand aus neun Gängen verschiedener süßer Speisen. Da gab es Torten, Marzipane, zierliches, leichtes Backwerk mit Hippokras (so nannte man den mit Zucker, Zimt und anderen Gewürzen vermischten Wein). Die Weine waren vorwiegend einheimische, italienische und sizilianische. Am Ende des Mahles wurde jedem Gast wohlriechendes Wasser zum Händewaschen gereicht und darauf das Tischtuch entfernt. Dann stellte man eine große Schüssel auf den Tisch; darin war ein aus grünen Zweiglein geformter Berg mit kostbaren Essenzen, deren Duft schnell den Saal erfüllte. Der etwa nach einer Stunde aufgetragene Nachtisch bestand aus verschiedenem Zuckerwerk in silbernen Schüsseln mit Deckeln aus Wachs und Zukker, auf denen sich wiederum Wappen und Devisen befanden. Wir wollen es bei dieser Wiedererzählung eines ganzen Festmahles bewenden lassen und nur noch einige Einzelheiten zur Geschichte des Essens erwähnen: Wurden von den Römern zahlreiche Tiere aus fremden Ländern nach Europa eingeführt, so vermittelten sie uns nicht weniger Pflanzen, besonders Fruchtbäume und eßbare Gewächse, die sich von Italien schnell in andere Länder verbreiteten und im Laufe der Jahrhunderte den Charakter der Vegetation von Süd- und Mitteleuropa völlig umgestaltet haben. Die Rebenkultur war zwar in Italien uralt; aber die an den italienischen Küsten landenden und entlangfahrenden griechischen Seeleute haben zur Verbreitung des Weinbaues Erhebliches beigetragen. An den Bergen LTnteritaliens gedieh der Weinstock so üppig, „daß schon im 5. Jahrhundert v. Chr. Sophokles Italien das Lieblingsland des Bacchus nennen konnte". Die griechischen Kolonisten brachten den Feigenbaum nach Italien — übrigens hörte dadurch die Einfuhr chiischer, lydischer, afrikanischer und anderer Felgensorten keineswegs auf. Cato kannte bereits die Mandel, vielleicht auch die Kastanie, sicher den Pflaumenbaum und die Granate, Varro die Walnüsse. Lucullus brachte die sauren Kirschen von der Pontischen Küste nach Rom, wo jedoch die wilde Süßkirsche längst heimisch war. Reis und Mais kamen wohl erst im 15. und 16. Jahrhundert nach Italien; dagegen wurden Aprikosen und Pfirsiche schon seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. angepflanzt; seit derselben Zeit wird die Melone erwähnt, die aus den Oasen am Oxus und Jaxartes in die Gärten Neapels gebracht worden war. Vom Zentralland Italien verbreiteten sich diese Kulturgewächse

Messer, Gabel und Löffel

55

verhältnismäßig rasch über die Provinzen des Weltreiches, wobei man allerdings bald die Beobachtung machte — Galen erwähnt sie zuerst — , d a ß Gewächse bei der Verpflanzung aus dem einen Boden in den anderen, nur wenig entfernten, auch ihre N a t u r verändern. 120 J a h r e nach ihrer Anpflanzung in Italien kannte man die Kirsche in Britannien. Deutschland verdankt die Anfänge seiner jetzt blühenden Obstkultur ebenso wie Frankreich und England den Römern — übrigens nannte Taoitus Germanien wegen seiner K ä l t e ungeeignet für den Obstbau. D a ß später dann die christlichen Missionare, insbesondere die Klöster, sich um die Verbreitung und Veredlung der Kulturpflanzen hohe Verdienste erworben haben, ist eine so allgemein bekannte Tatsache, daß die Erinnerung an diese Zusammenhänge genügen kann. Ein paar W o r t e seien hier wenigstens andeutungsweise über Messer, Gabel und Löffel gesagt — Einzelheiten werden uns an späterer Stelle begegnen. D e r Löffel gilt allgemein als das älteste der Tischgeräte. D a s W o r t Löffel soll von „ L a f e n " herkommen, das schlürfen bedeutet. Schon in der europäischen Steinzeit gab es Löffel aus Hirschhorn, Eberzahn, H o l z und T o n . 5 0 0 0 J a h r e v. Chr. stellten die Ägypter reich geschmückte Löffel her. W ä h r e n d aber die Griechen den Löffel noch ausschließlich zum Schöpfen der Brühe benutzt haben sollen, wissen wir von den Römern bereits, daß sie unter anderem Eier-, Suppen- und Kochlöffel besaßen. Bevor der Tischlöffel aufkam und Allgemeingut wurde, vergingen noch viele Jahrhunderte: er blieb ein Luxusgerät der Vornehmen bis in das 16. Jahrhundert. Erst von dieser Zeit wissen wir, daß er zusammen mit dem Teller auch in einfachen Haushalten gebraucht wurde. Seine Form stand nun fest, aber im Zierat hatte man viele Möglichkeiten, die eifrig ausgenutzt wurden — mit dem Erfolg, daß bald ein direkter „Löffelluxus" getrieben wurde. So wird berichtet, daß die Holländer zeitweise neben jedes Gedeck sechs bis acht silberne Löffel legen ließen, „damit sie die T u n k e der aufeinanderfolgenden Speisen mit besonderen Löffeln genießen konnten". Vorzüglich kann man die Entwicklung der Eßsitten auf zeitgenössischen Bildern beobachten. Noch zu Luthers Zeiten war es nach diesen Quellen der Kulturgeschichte allgemein üblich, mit den Fingern zu essen. N u r bei bedeutenden Festlichkeiten hatte der V o r schneider ein großes Zerlegemesser, mit dem er nach genauen V o r -

56

Vom Altertum zur Neuzeit

Schriften das Fleisch löste, zerteilte und den Gästen vorlegte. Auf einem Holzschnitt aus der Zeit gegen Ende des 15. Jahrhunderts sehen wir, wie bei einer königlichen Mahlzeit nur der Vorschneider und der König ein Messer halten, die Gäste dagegen sich mit Löffeln begnügen müssen. Vom Essen kommen wir nunmehr zum Trinken. Nichts liegt näher, als hier mit dem „Met" zu beginnen, jenem Getränk, das die Germanen vor allen anderen liebten — es war ein aus Gerste oder Weizen und mit dem Honig der Wildbienen versetzter Saft, der, wie Tacitus verurteilend sagt, „zu einer Ähnlichkeit mit Wein verderbt" wurde. Wie alt die Weinkultur in Italien ist, hörten wir bereits. Von dort kam sie f r ü h nach Deutschland; aber es dauerte doch bis in unsere Zeit, ehe der Wein nicht nur in Süd- und Westdeutschland, sondern auch im Norden und Osten ein Volksgetränk im eigentlichen Sinne wurde. Im Mittelalter war der Wein durchaus vom Bier, Apfel- und Birnenmost sowie vom Branntwein verdrängt, obgleich man nicht vergessen darf, daß der Weinbau sich ja besonders im späteren Mittelalter über weit ausgedehntere Landstriche erstreckte als heute — bis E r f u r t und Schlesien z. B. — und auch in nördlichen und östlichenGcbieten lohnende Erträge abwarf (Abb. 15). Noch bevorzugte man auch nicht etwa alte Weine, sondern trank den Rebensaft in allen Stadien der Gärung, wie auch als „firnen", das heißt ein Jahr alten Wein. Im allgemeinen unterschied man den aus französischen Reben gezogenen Frankenwein und den H u n n e n wein ungarischen Gewächses. „Welsche" und „italienische" Weine, noch mehr griechische waren in der hohen Gesellschaft beliebt, doch mischte man sie gewöhnlich mit allerlei Würzwerk. Das Bierbrauen war im frühen Mittelalter eine zum Haushalt gehörige Arbeit der Frauen. Erst später — und zuerst natürlich wieder in den Städten — wurde das Brauen ein männliches Gewerbe, von dem sich gut leben ließ. Aus den Niederlanden haben wir die erste Kunde über Braumeister, ausKöln seit dem A n f a n g des D . J a h r h u n derts. Im 14. Jahrhundert gab es in Hamburg, Lübeck und Bremen bereits einen regen Bierexport nach Skandinavien. W a s Wein- und Bierbereitung und -kennerschaft anbetrifft, so hatten übrigens die Klöster darin einen nie bestrittenen Vorrang, wie denn auch den Mönchen die Veredlung der Weinbereitung als dauerndes Verdienst anzurechnen sein wird. Der Branntwein wurde erst gegen das Ende

Met, Bier und Wein

57

der hier beschriebenen Zeit in die Reihe der genießbaren geistigen Getränke aufgenommen. Bis zum 15. Jahrhundert galt er — aqua vitae = Lebenswasser — als eine vom Arzt zu verordnende Arznei. U m das J a h r 1500 wurden in Berlin zu einem Volksfest im Stadtkeller folgende Getränke gelagert: Frankfurter und Gubener,Oderberger, Fürstenberger, Leitmeritzer, Krossener, Erfurter und Frankenwein und Malvasier. „Berlins Eigengewächs wird nicht in den Listen geführt, weil es nicht versteuert zu werden brauchte. 1565 zählte die Stadt 70 Weinberge und 26 Weingärten." Dem Weinbau durch Sorgfalt und Mühe, die auf ihn verwendet werden muß, nahe verwandt ist der Gartenbau, auf den wir hier noch einen kurzen Blick werfen wollen: Karl der Große widmete dem Landbau, der Forstwirtschaft und der Viehzucht ungewöhnliches Interesse und suchte sie durch Gesetze und Dekrete zu heben. Zwei Jahre vor iseinem Tode erließ er eine Verordnung über die Bewirtschaftung seiner Güter, in welcher der Gartenbau bis ins einzelne beschrieben wird. Dadurch erfahren wir, welche Blumen und Gemüse man zu Anfang des 9. Jahrhunderts kannte und bevorzugte —, daß Rosen, Lilien und andere Zierpflanzen beliebt waren, daß Kümmel, Fenchel, Petersilie, Kresse, Gurken, Bohnen, Mohrrüben, Zwiebeln, Lauch, Kerbel, Rübenkohl und andere Gemüse geerntet wurden. N u n gab es nicht nur N u t z - und Küchengärten, sondern seit alters auch Pracht- und Schmuckgärten, in deren Anlage und Pflege die Römer lange Zeit die vorbildlichen Meister gewesen sind. Man kannte zahlreiche Schmuckbäume; auch Zwergbäume wurden gepflanzt. Die Blumenbeete bestanden vorzugsweise aus Blumen einer einzigen Gattung — vor allem Rosen und Lilien, daneben Mohn, Levkojen, Hyazinthen, Anemonen usw. Florentinus empfiehlt, die Zwischenräume geradlinig gepflanzter Bäume mit Rosen, Lilien, Violen und Krokus auszufüllen. Der Boden wurde mit Akanthus, Wände, Säulen und Baumstämme mit Efeu und Weinlaub überkleidet, die man zu Bogen, Schattengängen und Lauben verband. Daneben waren auch, wie man auf mehreren, 1863 im Saale einer Villa in Prima Porta bei Rom entdeckten Gemälden aus der Zeit des Augustus feststellen kann, Parks und Gärten beliebt, welche die unberührte N a t u r nachzuahmen bestrebt waren. Doch nicht diese Auffassung, sondern das Streben nach künstlerischer, architekto-

58

Vom Altertum zur Neuzeit

nisch-regelmäßiger Gestaltung der Natur hat sich aus dem Altertum ins Mittelalter fortgepflanzt. So empfahl der Bologneser Petrus de Crescentiis um 1270 in seinem "Werk über den Landbau Personen des Mittelstandes für einen Garten von 3—4 Morgen große „schnurgerade Reihen von edlen Fruchtbäumen, und zwar jede Reihe nur aus Bäumen einer einzigen Gattung, dazwischen Weinstöcke". Im übrigen sollte der Garten Wiesen und Lusthäuser enthalten. Von Blumen ist in dieser Anweisung ebensowenig die Rede wie in der für „Gärten der Könige und anderer erlauchter und reicher Herren". Auch Leon Battista Alberti zeigte sich 1451 ganz in dieser Auffassung befangen, die seither für den italienischen Prachtgarten maßgebend geblieben ist. Von Italien aus verbreitete sich dieser Gartenstil ¡im 15. Jahrhundert nach Frankreich, Deutschland, England und Holland und hat sich trotz Rousseau auch dort überall bis ins 18., ja vielfach bis tief in das 19. Jahrhundert beherrschend erhalten. Wenden wir uns den Vergnügungen, den Beschäftigungen des mittelalterlichen Menschen außerhalb der Sphäre des täglichen Brotes zu, so müssen wir zuvor grundsätzlich eines bedenken: Wir befinden uns hier am Ende des Mittelalters, noch in den ersten Jahrzehnten der Buchdruckerkunst also, welche in mancher Hinsicht das Mittelalter so sehr von der Neuzeit scheidet wie Luthers Reformation und des Columbus Erweiterung der Welt. Zwar ist die mechanische Vervielfältigung von Schriftzeichen alt: die Ägypter kannten — wie uns die Kattune aus Gräberfunden zeigen — den Tafeldruck, im ganzen Mittelalter gab es ähnlich bedruckte Leinen- und Lederstoffe. Aber diese Arbeiten gehören ebensowenig zum Buchdruck wie die Arbeiten der Kunstschreiber und Illuminatoren. Holz- und Metallschnitte sind erst aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts nachweisbar — schnell viel benutzte Mittel zur Verbreitung populärer Bilder und kurzer Texte. Vom Tafeldruck war es noch der kurze Weg eines Genies zum Buchdruck moderner Art. Ihn zurückgelegt zu haben ist das Verdienst des Johann Gensfleisch von Gutenberg aus Mainz, der seit etwa 1430 in Straßburg Druckversuche gemacht, seit 1450 in Mainz die erste vollständige Druckerei besessen und betrieben hat. Die große Gutenbergbibel wird uns immer als das Denkmal einer neuen Zeit erscheinen, einer Zeit, da das gesprochene Wort weithin durch das

Kunstschreiber und Buchdrucker

59

geschriebene ersetzt werden sollte, da der Mensch begann, sich von seinen Gedanken zu trennen, sie zu fixieren, ihnen Dauer zu verleihen. Hier wurde der Boden zu einer neuen Lebensform gelegt. Als das gedrudkte Wort seine Herrschaft antrat, begann das Leben auf der einen Seite flüchtiger, flacher, wandelbarer zu werden, auf der anderen Seite wurde es in einem bis dahin unbekannten Ausmaße traditionalistisch, -historisch. Was man „schwarz auf weiß" besaß, konnte man freilich nicht verlieren, nur stand nun hinter dem Wort nicht mehr leiblich der dazugehörige Mensch, der es verantwortete — man erkennt, welche Wandlungen sich aus Gutenbergs Erfindung ergeben mußten, man erkennt auch, wie die Buchdruckerkunst gemeinsam mit den Künsten des Lesens und Schreibens von den höchsten Handlungen des Staates bis zu den intimsten Lebensäußerungen einzelner Menschen eine Revolution veranlaßte. Die Schwatzhaftigkeit späterer Jahrhunderte, die sich in Briefen, Memoiren, Romanen und lehrhaften Büchern ein monströses Denkmal setzte, der Wandel vom Glauben an den Handschlag zum Glauben an das geschriebene, besser noch gedruckte Wort — hier haben sie ihre Wurzel. Wenn wir uns den mittelalterlichen Vergnügen zuwenden, so müssen wir dabei eingedenk sein, daß sie frei waren von dem, was wir mit mancherlei Bedeutung Literatur nennen, weil sie dem Buchdruck noch nicht verfallen waren. Zu den Vergnügungen des mittelalterlichen Menschen gehörten in hohem Maße Theater und Musik. Wir können und wollen hier keineswegs eine Entwicklungsgeschichte des mittelalterlichen Theaterwesens aufzeichnen, sondern müssen uns auf die Hauptzüge beschränken und dabei besonderes Gewicht auf diejenigen Elemente legen, die den Laien als Mitwirkenden zum Schauspiel führten. Als das frühe Christentum sich mit vollem Eifer gegen alle Erscheinungen der antiken, heidnischen Kunst wandte, da fanden auch die vielen Schauspieler vor dieser dogmatischen Unduldsamkeit keine Gnade. Die Kirchenväter eiferten gegen das Theater als eine Einrichtung des Teufels, und soweit sie darunter die Ausartungen der Kaiserzeit verstanden, mögen sie so unrecht nicht gehabt haben. Von der hohen ethischen Aufgabe und Bedeutung, welche die klassische Theaterkunst in Griechenland einst besessen hatte, war sie längst zum Amüsement, weiter zur Sittenlosigkeit der Hauptstadt

60

Vom Altertum zur Neuzeit

und zur Geschmacklosigkeit der Provinzen hinabgesunken. Aus diesen Zuständen entnahm die christliche Kirche das Recht, die Schauspieler und Schauspielerinnen durchweg für ehrlose Personen zu erklären und mit Kupplern, Kupplerinnen und Dirnen auf eine Stufe zu stellen — wie schwer es wurde, sie wieder zu einer geachteten Künstlerschaft zu erheben, soll später gelegentlich erwähnt werden. Die Schauspieler wurden von allen kirchlichen Gnadenmitteln ausgeschlossen. Aber das Theaterwesen als solches, die aktive und die passive Theaterfreudigkeit des Volkes konnte auf diese Art nicht beseitigt werden. Als die Kirche das erkannte, tat sie das Beste, was sie tun konnte: sie steckte das heidnische Theater-„Unwesen" in christliche Gewänder und machte es zu einem Propagandamittel der Religion. Das ging schrittweise und allmählich über die Gestaltung der Abendmahlsbräuche und der Messe bis zur Vigilie des Weihnachtsfestes und schließlich zu den noch heute üblichen Passionsspielen. „Osterspiele" und „Weihnachtsspiele" der Kirche fanden unter der Bezeichnung „Mysterien", wahrscheinlich von Sankt Gallen aus, weite Verbreitung und — worauf es ja hier besonders ankommt — zogen bald die Zuschauer in den Kreis der christlichen Akteure. Es begann damit, daß bei Schluß des 09terspieles das versammelte fröhliche Volk „Christ ist erstanden" sang, und führte in den folgenden Jahrhunderten bis etwa 1500 zu einer immer stärkeren Teilnahme des Volkes am Theaterspiel. W o in oft tagelangen Aufführungen Hunderte von „Schauspielern" nötig waren, da wurde der Kreis der beruflichen Künstler gesprengt, und das Volk nahm am Spiel teil. Bezeichnend dafür ist, daß man in Deutschland, wo die Mysterienspiele übrigens vor der in Frankreich einreißenden Verweltlichung im allgemeinen bewahrt blieben, schon im 13. Jahrhundert den Laien zu Gefallen deutsche Strophen in das lateinische Spiel einschob und wenig später überhaupt in der Muttersprache spielte. Als dann dieses Schauspiel wegen des Umfangs der Handlung und des Ansturms der Zuschauer aus den Kirchen auf Marktplätze und Friedhöfe verlegt wurde, war man geradezu gezwungen, die Laien zum Spielen mit heranzuziehen. In dieser Zeit liegen die Anfänge der laienhaften, auf Religionsübung und Spieltrieb beruhenden Theatergemeinschaften, denen wir in der späteren Zeit noch vielfach begegnen werden. Anders lag es mit der Musik. Im alten Rom bestand eine leb-

Theater und Musik

61

hafte Empfänglichkeit für die Musik — und in ihrem Gefolge ein weitverbreiteter Dilettantismus. Schon zur Zeit der Gracchen gab es Sing- und Tanzschulen, die von den Kindern führender Familien besucht wurden. Später gehörten Gesang und Beherrschung eines Instrumentes einfach zur guten Erziehung — ganz besonders und schon in frühester Zeit bei den Mädchen. Im Zuge dieser Entwicklung verlor nun freilich die Musik Ernst und Würde, die sie in alter Zeit ausgezeichnet hatten. Und damit wurde sie für den Gebrauch im christlichen Gottesdienst bedenklich und viel umstritten. Es hieß: Die Süßigkeit der Melodie sei ein Anreiz zur Leidenschaft, man solle statt mit der Kehle lieber mit dem Herzen singen, die Psalmen überhaupt nur hersagen. Doch gab es auch Förderer des christlichen Gesanges — an ihrer Spitze den heiligen Ambrosius, der den gesungenen Psalm „das Lob Gottes und ein vollkommenes Bekenntnis des Glaubens" nannte. Die Musik läßt sich ja nicht so unterdrücken wie das Theater. Die Poesie des Mittelalters z. B. ist ohne die Musik einfach undenkbar. Singen und Sagen sind in jener Zeit noch eng miteinander verbunden, ähnlich wie Gesang und Instrumentalmusik wiederum vereint waren. „Der Dichter der höfischen Zeit hatte nicht bloß die Worte, sondern auch die Melodie zu erfinden . . . Noch zu Ende des 16. Jahrhunderts wurden die Epen des Ariost wie die des Tasso überall in Italien gesungen und, wie es scheint, mit der Laute begleitet." Dabei hatte sich allerdings gegenüber dem Altertum das Verhältnis von Musik und Text bereits umgekehrt, indem der Text nun hinter Rhythmus, Versmaß und Melodie zurücktrat. Daß zugleich theoretisch wie praktisch im Laufe der Zeit eine Bereicherung der musikalischen Möglichkeiten eingetreten war, sei nebenbei erwähnt: Die Verbesserung und Vervielfältigung der Blasinstrumente kamen nicht allein der Kirche zugute — diese zog ihren Vorteil vielmehr hauptsächlich aus der Verbesserung der Orgel im 15. und 16. Jahrhundert —, sondern auch der Laienmusik. Nach Theater und Musik mögen schließlich noch kurz einige andere Arten des Vergnügens und der Zerstreuung genannt werden. Linter allen Ständen weit verbreitet und sehr beliebt war das Kartenspiel. Schon in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts hatte man in Deutschland die Kunst erfunden, Spielkarten zu drucken. Eines der ältesten Spiele, das Landsknechtspiel, ist deutschen Ur-

62

Vom Altertum zur Neüzeit

sprungs, und Fischart zählt in seiner „Geschichtsklitterung" etwa 500 Arten von Gesellschaftsspielen auf. Mit welchem Einsatz man schon damals spielte, geht daraus hervor, daß der Feldhauptmann von Augsburg, Sebastian Schertlin, in einem Jahre 4000 Gulden im Spiel gewann. Übrigens war das Kartenspiel in seiner einfachsten Form schon den alten Ägyptern bekannt gewesen — es hatte 52 Karten, gleich den Wochen des Jahres, und einen „Joker", der den 365. T a g des Jahres darstellte. Die vier Farben entsprachen den vier Elementen; die Bilder waren Symbole der Götter. Die Sommerfreuden waren zu allenZeiten die gleichen: das Spiel, der Sang, der Tanz, der Spaziergang im Freien. Im Winter traten an ihre Stelle das Würfelspiel, die Schlittenfahrt auf dem Eise, der T a n z im Zimmer, der kunstvoller zu sein pflegte als der im Freien. Bei diesen Vergnügungen tanzte wohl noch oft der Ritter mit dem Bauern, wennschon mit dem Stolz der Überlegenheit feinerer Sitte. Wo die Bauern sich in größerer Unabhängigkeit und in Wohlstand erhalten konnten — wie etwa in Bayern und Österreich —, da lernen wir sie oft in übermütiger Festeslaune kennen: im „Meier Helmbrecht", der „ältesten deutschen Dorfgeschichte", wird anschaulich geschildert, wie Wohlleben und Übermut zum Unglück führen können. Der T a n z artete in Schlägerei aus, der Putz in modische Nachahmung des Ritters; die Schmauserei wurde zur Fresserei, bei der sich der Tisch unter der Last von Fleischspeisen und Backwerk bog und der Wein in Strömen floß (Abb. 13). D a mögen die städtischen Feste, voran das seit alters gefeierte „Maifest", stattlicher, sittsamer und behäbiger gewesen sein; gewiß waren sie aber weder ärmlicher noch trübseliger. Gesang und T a n z , das Jahrmarktstreiben eines Schießplatzes, der Gaukler und Tierbändiger, die Glückstöpfe als Anfänge späteren Lotteriewesens — das alles gehörte zu den Äußerlichkeiten bürgerlicher Festesfreude. Und auch hier war das Mahl überreichlich und der Trunk so vorzüglich, daß Schlägereien und Sittenlosigkeit häufig genug das Ende des Festes bildeten. Die ärgsten Szenen aus Saufgelagen, verbunden mit allen Nebenerscheinungen der Ausartung und des Raufens, sind uns freilich nicht von diesen Festen überliefert, sondern aus den Zeiten des „Schwarzen Todes", der Pest, die im 14. Jahrhundert als eine schreckliche Heimsuchung Europa durchzog. Sie bewirkte die völlige Auflösung aller gesellschaftlichen Gesittung und zerstörte

Tanz und Spiel

63

auch die letzten Banide, selbst die der Familie. In dieser Zeit verfiel die Dichtung zur Zote, die höfische Freiheit zur unbegrenzten Ausgelassenheit. Aber als die Seuche ihren Lauf beendet hatte, als Hunderttausende ihr zum Opfer gefallen waren, Städte und Dörfer verödeten, die Äcker oft nicht mehr bestellt werden konnten — eine Erscheinung, die mit der Wirkung des 30jährigen Krieges Ähnlichkeit besitzt —, da war man geneigt, die Todeswelle als eine große Goctesstrafe anzusehen und hinzunehmen. Im allgemeinen vertiefte diese Auffassung die Religiosität und säuberte die Sitten. Das Leben, für lange Zeit vom Tode hart unterbrochen, stellenweise verlöscht, begann allmählich wieder, geregelte und alltägliche Formen anzunehmen, bis mit den großen geographischen Entdeckungen und mit Luthers Reformation ein neues Zeitalter einsetzte, das das europäische Leben vollkommen veränderte.

II. Das Jahrhundert Luthers und der E n t d e c k u n g e n I m Jahre 1492 entdeckte Christoph Kolumbus auf einer Fahrt, die nach China und Japan führen sollte, Amerika — ohne es zu wissen. 1498 fand Vasco d a G a m a .denSeeweg um das K a p der Guten Hoffnung nach Indien, 1500 entdeckte Cabral Brasilien, und zwanzig Jahre später führte Ferdinand Magellan die erste Erdumseglung durch. In den gleichen Jahren eroberte Cortez Mexiko und wieder zehn Jahre später Pizarro Peru. In derselben Zeit erlebte aber Europa neben diesen anfangs nur äußerlich revolutionierenden Entdeckungen eine innere Wandlung, die noch heute die Entwicklung der europäischen, ja, überhaupt aller Völker der Erde aufs tiefste beeinflußt: Martin Luthers Reformation. Es leuchtet ohne längere Ausführungen ein, daß diese Ereignisse für das gesamte Leben der Völker und Staaten die größte Bedeutung haben mußten. Nicht nur, daß sich der Machtbereich der Herrscher erweiterte, auch die Lebensauffassung und das Lebensgefülil der Menschen sind durch die geographischen Entdeckungen wie durch Luthers Tat entscheidend verändert worden. Weiter aber: der Verkehr zwischen Europa einerseits und den neuentdeckten Kontinenten und Indien, China, bald auch Japan andererseits hat z.u einem regen geistigen und materiellen Tauschverkehr geführt, für dessen Ausmaße man aus der Vergangenheit keinen Vergleich anzuführen vermag — auch die Kreuzzüge, so weit und so lange sie gewirkt haben, verschwinden doch vor der Bedeutung, die des Kolumbus und seiner Nachfolger Entdeckungen erlangt haben. J a , gerade an einem Vergleich der Wirkungen der Kreuzzüge und der Taten des Kolumbus und Vasco da Gamas kann man eine neue entscheidende Veränderung der europäischen Verhältnisse beobachten. Die Kreuzzüge hatten nicht zuletzt die Anfänge der Macht und Größe der italienischen Handelsstädte gebildet: Venedigs, Genuas, Pisas. Plötzlich, innerhalb weniger Jahrzehnte, verschob sich nun

Neue Wege nach Ost und West

65

der Handel, der bis dahin das Mittelmeer erfüllt hatte, an die atlantischen Küsten und erweckte dort Staaten u n d Städte zum Wirtschaftsleben, die bis dahin in der Verborgenheit der Provinz gelegen hatten. Die Niederlande und England traten in Konkurrenz mit Spanien und Portugal — Antwerpen, Amsterdam, Bristol und London mit Cadiz, Sevilla und Lissabon — und überflügelten sie schließlich. U n d außerdem: die Ausbeutung der Gold- und Silbervorkommen in Mittel- und Südamerika führte zu einer Überschwemmung Europas mit Edelmetallen, zum Sinken des Geldwertes u n d zu einer allgemeinen, merklichen Wirtschaftsbelebung. Handel und Gewerbe, durch das neue Silbergeld, das von den spanischen H ä f e n schnell über Frankreich und H o l l a n d bis Breslau und Lemberg rollte, wie durch eine Flutwelle angestoßen, konnten obendrein von dem Auftauchen der neuen, bisher unbekannten überseeischen Rohstoffe und Fertigwaren profitieren. Neue Möglichkeiten der Lebensgestaltung und des Luxus wurden geboten, die Bedürfnisse des Menschen vom Fürstenpalast bis zum kleinsten Bauernhof paßten sich diesem Angebot weitgehend an — es entstand von allen Seiten und überallhin ein reger Austausch, ein Sichanregen und Sichfördern, kurz, eine neue Zeit, die, wenn schon viele Fäden aus dem Mittelalter natürlich in das 16. Jahrhundert und weiter in die Zeit hineinreichten, nicht mehr mit alten Maßstäben gemessen werden konnte.

Es wird gut sein, wenn wir auch hier wieder von dem, Bilde der Stadt ausgehen. An seiner Veränderung werden wir besonders deutlich den Charakter der neuen Zeit erkennen können. Aus der f r ü h mittelalterlichen Welt des Ritters und des Mönches hatte sich in den staufischen Jahrhunderten die Stadt des Bürgers entwickelt, eine Stadt, die auch in ihrem Äußeren noch die mittelalterliche Weltanschauung widerspiegelte, welche in ihr herrschte. „Wenn sich die Zeiten wenden, dann ändern sich alle Lebensformen, das Weltbild und die Religion, die Mächte des Staates und die wirtschaftliche und soziale Gliederung." Solche Umwälzungen finden ihren Ausdruck auch im Stadtbild. Führte der Kampf der Bekenntnisse zu einem Stillstand im Kirchenbau, wurden in den reformierten Ländern und Landesteilen die überflüssig gewordenen Klosterkirchen häufig weltlichen Zwecken zugeführt, brauchten neue Kirchen dort überhaupt ü

Treue, Kulturgeschichte

66

Luther und die Entdeckungen

kaum gebaut zu werden, so traten wiederum in den katholischen Gegenden wohl neue kirchliche Bauten auf, aber so stattlich sie im einzelnen sein mögen — übrigens war besonders die Bautätigkeit der Jesuiten rege —, ihre führende Rolle im Stadtbild gaben sie doch bald an das Schloß ab. DieZeit der Kathedralen fand ihr Ende. Wie sich nun überhaupt die geistigen Grundlagen der Baukunst verändert und verschoben hatten, das mögen zwei Idealstädte zeigen: „Albrecht Dürers städtebauliche Entwürfe tragen schon aufs klarste die Züge der neuen Zeit" — sie stammen in ihren wichtigen Einzelheiten aus dem Jahre 1527. D a sehen wir eine „quadratisdie Königsstadt", entworfen unter dem Einfluß der beiden großen städteformenden Mächte der Zeit: des Absolutismus und des Schießpulvers. Die Kirche, einst architektonische Zentrale der Stadt, steht nun in der Ostecke. An der seit Vitruvs Angaben repräsentativsten Südostseiite, rechts und links von dem einzigen Zufahrtsweg zum Köniigsschloß, befinden sidi Rathaus, Wohngebäude der Ratsherren und Adelshäuser, am Wall die Unterkünfte der Wehrmacht. Die „Rüstungsindustrie" nimmt die Südwestseite ein, auf der Nordwestseite sind die zahlreichen Gebrauchs- und Bekleidungsgewerbe, die N a h rungsmittelgewerbe auf der Nordostseitc zusammengefaßt und die Weinschenken in bequemer Nähe der „herrlichen" Leute geplant. Schon daß Dürer diesen Plan „Schloß" nennt und nicht Stadt, ist bezeichnend, ebenso wie ein späterer Entwurf „Rundes Schloß" oder „Klause" heißt. Diese beiden Grundformen der Stadtanlage, von Dürer in meisterhafter Weise komponiert, haben die gesamte Literatur über die ideale Stadtanlage der Renaissancezeit beherrscht und aufs stärkste beeinflußt. Die quadratische Stadt insbesondere gibt „das ganze kulturelle, soziale und militärische Bauprogramm einer fürstlichen Gründung" wieder. Was Dürer etwa in militärischer Hinsicht unberücksichtigt ließ, das trug ein anderer Deutscher, der Straßburger Daniel Specklc, am Ende des Jahrhunderts als Ingenieur und theoretisdier Festungsbauer nach — Vorläufer und Grundlage f ü r Vauban, der im Gegensatz zu ihm das Glück hatte, zahlreiche Festungen nicht nur zu entwerfen, sondern f ü r Ludwig X I V . in Europa und in Übersee wirklich zu bauen. N u n darf man bei der Betrachtung solcher Idealentwürfe die Wirklichkeit nicht übersehen. Wir befinden uns mit unserer D a r stellung in der Zeit der Hochrenaissance — einer Epoche stärksten

Die wachsende Stadt

67

Bauwillens besonders in Italien, daneben aber, kaum geringer, auch in Frankreich. Denken wir nur an die herrlichen französischen Privatbauten aus jener Zeit, welche die W u t der ersten Revolution fast alle zerstört hat. Da steht am vorderster Stelle das Sdiloß Gaillon des George von Amboise, Ministers Ludwigs X I . u n d Erzbischofs von Rouen (Abb. 27). Richelieu zahlte f ü r dieses Schloß, „die glänzendste Wohnung in Frankreich vor der Erbauung von Versailles", zehn Millionen Francs. U n d wenden wir den Blick von diesen Praditund Luxusbauten auf die deutschen Verhältnisse, so sehen wir auch hier deutlich den Wandel gegenüber früheren Jahrhunderten. Das schneller rollende Geld vermittelte weithin ein bisher unbekanntes Gefühl des Wohlstandes und erleichterter Lebensweise. Die Bindungen der mittelalterlichen Genossenschaften und Gilden lockerten sich, und der deutsche Bürger begab sich im Laufe des 16. Jahrhunderts auf den Weg des Privatmenschen. N u n konzentrierten sich schon in den Patrizierfamilien der größeren Reichsstädte Wohlstand, Lebensfreude und weltmännische Bildung. Wie sollten sich diese Errungenschaften nicht auch im Äußeren und Inneren des Hauses deutlich manifestieren! Diese Heimstätten der führenden Familien in der Schweiz, den niederländischen Provinzen, den Seestädten der deutschen Hanse, den großen Handelsplätzen Süddcutschlands, in Nürnberg, Augsburg, Ulm, F r a n k f u r t a. M., Köln sind, soweit sie nicht Bomben zum O p f e r fielen, noch heute Denkmäler jener Prachtliebe und Lebensstärke, die damals ihren Bau veranlaßten; und mit tiefstem Recht vermochte ein Mann wie Fugger durch sein Vermögen den Lauf der Weltpolitik maßgebend zu beeinflussen. Ein Augenzeuge schildert das H a u s dieser Familie (Abb. 12) in einem Briefe des Jahres 1531 folgendermaßen: „Welch eine Pracht ist nicht in Anton Fuggers H a u s auf dem Weinmarkt! Es ist an den meisten Orten gewölbt und mit marmornen Säulen unterstützt. Was soll ich von den weitläufigen und zierlichen Zimmern, den Stuben, Sälen und dem Kabinett des H e r r n sagen, welches sowohl wegen des vergoldeten Gebälks als der übrigen Zierate das Allerschönste ist. Es stößt daran eine dem heiligen Sebastian geweihte Kapelle mit Stühlen, die aus dem kostbarsten Holze sehr künstlich gemadn sind. Alles aber zieren vortreffliche Malereien von außen und innen. R a y m u n d Fuggers H a u s in der Kleesattlergasse ist gleichfalls königlich und hat auf allen Seiten die

68

Luther und die Entdeckungen

angenehmste Aussicht in Gärten. Was erzeugt Italien für Pflanzen, die nicht darin anzutreffen wären! Was findet man darin für Lusthäuser, Blumenbeete, Bäume, Springbrunnen, die mit Erzbildern der Götter geziert sind! Was für ein prächtiges Bad ist in diesem Teile des Hauses! Mir gefielen die französischen Königsgärten in Blois und Tours nicht so gut. Nachdem wir ins Haus hinaufgegangen waren, beobachteten wir sehr breite Stuben, weitläufige Säle und Zimmer. Alle Türen gehen aufeinander bis in die Mitte des Hauses, so daß ma-n immer von einem Zimmer ins andere kommt. Hier sahen wir die trefflichsten Gemälde. Jedoch noch mehr rührten uns, nachdem wir ins obere Stockwerk gekommen, so viele und große Denkmäler des Altertums, daß ich glaube, man wird in Italien selbst nicht mehrere bei e i n e m Manne finden." Und die Fugger waren wohl die Reichsten in Augsburg, jedoch keineswegs die einzigen Reichen dieser großen Gewerbestadt! Bald war sie von prächtigen und schönen Gebäuden erfüllt, während in den Vorstädten herrliche Ziergärten mit sogenannten Vexierwässern angelegt wurden, die eine behaglich sitzende, speisende oder spielende Gesellschaft plötzlich mit kühlem Regen besprühten. Die Innenausstattung solcher Häuser war nicht weniger kostbar als ihr Äußeres. So gehörten in Italien zu einer standesgemäßen Einrichtung reich ornamentierte Plafonds und Marmorkamine, Tapeten von Goldleder oder von Samt und Seide mit Gold und Silber gemustert; darauf hingen natürlich Bilder in kostbaren Rahmen, und davor standen Möbel von edelster Holzarbeit. Schwere Vorhänge mit orientalischen Stickereien, Gefäße aus vergoldetem oder emailliertem Silber, Kristall, Glas — in Italien natürlich aus Murano — und Fayencen aus Faenca, aber auch aus anderen italienischen Töpferstädten, sowie Majoliken, die nicht aus Ma jorka, sondern aus Werkstätten in der Umgebung von Barcelona stammten, aber auf balearischen Schiffen nach Italien und selbst nach Rhodos und Ägypten versandt wurden. Figuren und Geräte aus Bronze, Elfenbeinarbeiten und andere Kleinkunst füllten diese Wohnungen und machten sie oft weithin berühmt. So waren die Paläste Venedigs eingerichtet — ihnen allen voran der Palast Vendramin Calergi, der sich durch die Verwendung kostbarer Steinsorten zu Kaminen und Säulen und durch die Ebenholz- und Elfenbeineinlagen seiner Türen auszeichnete. Das „Goldene Zimmer" des Palastes Cornaro enthielt

Reiche Bürger

69

einen prachtvollen Kamin mit goldenen Figuren; die W ä n d e waren mit Goldbrokattapeten bedeckt; allein die Vergoldung des Gebälks wurde auf 18 000 Zechinen geschätzt. Doch nicht nur Italien konnte solche Pracht aufweisen. Auch das H a u s des Kardinals Wolsey hatte acht Gemächer, die man durchschreiten mußte, bevor man in das eigentliche Audienzzimmer gelangte, sämtlich mit kostbaren Tapeten behängt, die jede Woche gewechselt wurden. Aber Wolsey, so reich wie sein König Heinrich V I I I . und berühmt durch Stolz und Prachtliebe, war auch bekannt f ü r die beispiellose Großzügigkeit, mit der er Schulen und das Christ Church College in O x f o r d gründete, er galt als ein wahrer Fürst auch innerhalb der kosmopolitischen Hierarchie der katholischen Kirche und war eine der größten „mittelalterlichen" Persönlichkeiten in England. Im Vertrauen auf diesen großen Kanzler gab sich Heinrich V I I I . Vergnügungen und Maskeraden hin und machte seinen Hof zur Schule des Liebesspiels und der politischen Intrigue, der Musik und Dichtung, der Gelehrsamkeit und Künste, so daß aus der Mischung traditionellen englischen Lebens und moderner italienischer Renaissance der „vollendete Gentleman" sich formte und Shakespeares Hintergrund erwuchs. W i r erfuhren schon, daß Fuggers H a u s eine berühmte Badestube enthielt. Das war keineswegs in jedem Hause üblich. W i r kennen die zahlreichen Zeichnungen und Schnitte Dürers und anderer Künstler jener Zeit aus den Badehäusern der mittelalterlichen Städte. D a saßen jung und alt, Mann und Frau, in einem einzigen großen Baderaum, der mit Zubern, Schüsseln und anderen Gefäßen angefüllt und vom Dampf der heißen Bäder durchzogen war. Diese Badehäuser standen in keinem guten Ruf. Zweifellos gab es ehrbare, in denen nur die Bademeister dem Badenden bei der Säuberung behilflich waren. Es werden aber auch viele andere genannt und gerühmt, wo hübsche Mädchen den Ankommenden empfingen und bedienten. Ein lateinisches Gedicht erzählt, daß in E r f u r t um das J a h r 1300 der Mann, wenn er aus dem Bade trat, von einem freundlichen Barbier behandelt wurde; „dann legte sich der Gast auf ein Ruhebett, und wieder trat ein hübschcs Fräulein ein und kämmte und kräuselte ihm die H a a r e " . Daneben gab es aber auch Männerbäder, in denen bei T r u n k und Musik die Zeit verging — Dürer hat ein solches in H o l z geschnitten —, und Frauenbäder, die den Männern nicht geöffnet wurden.

70

Luther und die Entdeckungen

Überhaupt nahm nun die Gesundheits- und Schönheitspflege bei den Frauen allgemein noch mehr Zeit unid Aufmerksamkeit in Anspruch als in früheren Zeiten, wie denn Fürstinnen " ¿i, .5 > Sw V ?M: g 5 V. I: £ ' çs •slü i l Gfc^ ^ ^ -g ^ S£ «~J ^«. S;-5.* S i f ^ «

o o

ü • K5: "5 -ft? 1 •V» -a 1 • S:> S: •i G ir I í N -Si

: ^

S Ê S

X •a

'SI

i £ •s • ï; -a. S -S iS ~ -1 -g « cq

Abbildung

305

14

W ! ì ì J »to : !" ìì ll il i r ï s -s 2 I

~ S -i sl-Ü-i 5 5 fc . if

_ -s: s ^ I »-,1 ^ g^ § ^

»Jilllllii lllïilifl^ ì l i 1 ° 3$>•§ H î f 5

^ 1 - a 4 1 1 1 V

i §

c -Sä

l - s 3 S fc -S s ^ l - i i

s

i: -s

i P t3 -Î1 1i 1f î ï îi rÌ111 L X ììllfll:

-a „ < •I N

* IHiMtlIí^t^I is

pq fe ß.

t

î

^

i

j

i

I ^ ü 5 í N sl S I U s 5 § 'S ^ I l

Im. itít^ s 5 '£; s ï:

l

r

-a

l i l i S

I' J J t ^ ^ ^« s -,

I

Abbildung

ij .Sv S s S •V» 55 5 f i g -Ss 1 & i s 1 1 '? ^ g ^ v. ^ -5 ÎV -a S S h -S C 'S -5 S J X

1 « V ^ 5? S- S: g s c

I

< S 'n s

^ « •SS 3 S Sf-S g ^ < -S g C Sj -55 "s

c ^

S ^ S W

J

s ^ -a -fe b ^

« w vl 'A S

«i

- -s s s s- «s» -S ' ~ C 5 2 1 Í £ è"f S : £ I -

k.

ta o g -Ûi

« s

« »

to

-Si

^

•Si

•V» 5: ? -g S R

s S« S ¡ I^ ^ V "2J V. V. •a.v. fcr c rn > :

•S; v.

? fe

c

b -S fe I N . iit dem deutschen Bauempfinden gelang, und zugleich mit dem neuen Raumdenken ,,ron innen her" die eigenständige 1 Ä'istung des Barock angekündigt wird. Jibenso nimmt Holl mit der Unterordnung des administrativen Zweckes unter die Repräsentation der munizipalen Macht und mit der Betonung des Festsaales

den Hauptgedanken des barocken Schlosses vorweg und

deutet damit den Ubergang vom städtischen Patriziat Handelshäuser

der Fugger und Weiser z"èr""^e

als tragenden Kulturfaktor Jilias

Holl

— in diesen Jahren gehen die

— Kl'm fürstlichen

Absolutismus

an.

entstammt einer alten Baumeisterfamilie

und wächst als I.ehrling

seines Vaters noch in den traditionellen Zunftbetrieb hinein. 1Ó03 wird er Stadtbaumeister und krönt seine Tätigkeit Rathaus zH bauen.

mit dem Vorschlag, seiner Vaterstadt

Der 161 j erteilte Auftrag

Protestant wird er 1629 entlassen, nach i6)j IJt.:

A.

ein neues

ist bereits 1618 ausgeführt.

Als

fehlen Nachrichten von seinem Leben.

Griesebach, Das deutsche Rathaus der Renaissance, Berlin lyoy, p. 24 f .

Abbildung

iS

II1I l l f i l r•üt!! •H-' l§l $l t$Pi? > ^5è5vfe- S^j §I NV, S g ífíllíltl -âiliûiî - -S: ^ £' > •- ï -S „ S? s-ü^ 4¡ £iM^ £'-Sí §_ •> ^ . . i b^r=q3 ^¿ílìlit I ^ I è ^ S •ä5: -ö - "S '§311-1- • 3 5 ^ 3< i l^s-tij •J Pá «i ^ 5 < ^ 5 f rU s^iví ir ^ & Q • y i i i i i i ^ -5 -9 ^ l'I c i-? I lïHs llis^ 0! Ì l i I i yH 1 ^ Will!« ' O í ri ì^ ^I t lSh^ O ^I> tì i'a Q S ìl^l S.

s

1

?

kr.

s SS c> 1 ^ H s 1 ivT 1 S -si V . -a '-n § •5 ^ • >• £ Ì , ; C I1 ^ s S

•S» ^ s ^ am

AbbHthnm

£

Abbildung

2j "g i = S

-sa

IV .V

I 6

V S -sí? t5 5

= 10

3 ¿

'S a á S -

. t

¡ 0 5 ^ »C V. S -S :

I

ae, ^. -Si C

•a'"« tv

* S ^ j s

^ 5

«c -1 I

«i

'S; ^ o -gs iV S? S : ^

O tei

I Si • s* ; -ì > ^ -S o s Q ^ . ti "S ^