Sprache im Alltag: Beiträge zu neuen Perspektiven in der Linguistik. Herbert Ernst Wiegand zum 65. Geburtstag gewidmet [Reprint 2011 ed.] 9783110880380, 9783110164565

These 33 essays introduce new perspectives on the relationship between language in everyday life and linguistics in vari

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German Pages 654 [656] Year 2001

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Sprache im Alltag: Beiträge zu neuen Perspektiven in der Linguistik. Herbert Ernst Wiegand zum 65. Geburtstag gewidmet [Reprint 2011 ed.]
 9783110880380, 9783110164565

Table of contents :
Laudatio
Herbert Ernst Wiegand und die Erforschung des alltäglichen Umgangs mit Sprache
Teil 1: Sprache im Alltag und Sprachwissenschaft – Theoretische und methodologische Aspekte eines schwierigen Verhältnisses
Sprache im Alltag, Sprachwissenschaft und Kunst
Beeinflußt die Sprache unser Denken? Ein Überblick über Positionen der Sprachtheorie
Alltag, Lebenswelt, Lebensform und Sprache. Ein Gespräch
Sprache im Alltag als Konstruktion von Lexikografie und Sprachwissenschaft
Wie der Mensch im Alltag folgert. Ein Gegenvorschlag zur formalen Logik
Sprache interpersonal und medial – methodische Perspektiven
Teil 2: Sprache im Alltag als Gegenstand sprachwissenschaftlicher Forschung – Konzeptionelle Zugänge
Syntax and semantics of modal verbs in German and their diachronic root: soft aspectual and robust finiteness constraints
Stoibers Kreuzzug und der Canossa-Gang des Bundestrainers. Spuren von Geschichtlichem in metaphorischen Wendungen der Alltagssprache
Sprache im Alltag und kognitive Linguistik: Stereotype und schematisiertes Wissen
Gehirn und Geistestätigkeit im Spiegel von Laienmodellen. Ein linguistischer Streifzug durch Alltag,
Populärwissenschaft und HipHop-Kultur
Grammatiken für den Alltag
Fachsprachen im Alltag. Probleme und Perspektiven der Kommunikation zwischen Experten und Laien
Fachsprache im Alltag: Anleitungstexte
Diskurs und Vertikalität
Eigennamensemantik auf der Basis des Alltagssprachgebrauchs
Teil 3: Sprache im Alltag als Gegenstand sprachwissenschaftlicher Forschung – Empirische Ansätze
Everyday language in the media: the case of Belgian Dutch soap series
Verstärkungsbildungen im Deutschen. Versuch einer phänomenologischen Bestimmung
„Überdosis Sprache“. Ein Panoptikum sprachreflexiver Äußerungen in Pressetexten
„Wann kommt er denn nun endlich zur Sache?“. Modalpartikel-Kombinationen – Eine korpusbasierte Untersuchung
Zur allmählichen Verfertigung soziokultureller Konzepte im Medium alltäglichen Sprachgebrauchs
Was (noch) nicht im Wörterbuch steht. Oder: Was ist Bimbes?
Die Rolle lexikalischer Daten im Alltag für das Strukturgerüst im Lexikon
http://www.ellipsen.de
Getippte Gespräche oder dialogische Texte? Zur kommunikationstheoretischen Einordnung der Chat-Kommunikation
Hörerorientierung in der Kommunikation. Psycholinguistische Evidenz pro und contra
Lexicalization in the Greek Alltagssprache
Teil 4: Sprachwissenschaft für den Alltag – heute und morgen
Proskription, oder: So kann man dem Wörterbuchbenutzer bei Textproduktionsschwierigkeiten am ehesten helfen
Der Einfluß der neueren Wörterbuchforschung auf einen neuen lexikographischen Gesamtprozeß und den lexikographischen Herstellungsprozeß
Kollokationen als Problemgrößen der Sprachmittlung
„BLUME: ist Kind von Wiese“: Bedeutungserläuterungen in der Lernerlexikographie
Stilistik – Theorie für die Praxis
Störungen des Spracherwerbs und der Sprachentwicklung bei Muttersprachlern durch veränderte gesellschaftliche Bedingungen
Kriterien der Beurteilung von Rechtschreibmaterialien für die Grundschule
Anhang
Abstracts
Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

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Sprache im Alttag

W DE G

Sprache im Alltag Beiträge zu neuen Perspektiven in der Linguistik Herbert Ernst Wiegand zum 65. Geburtstag gewidmet

Herausgegeben von Andrea Lehr Matthias Kammerer Klaus-Peter Konerding Angelika Storrer Caja Thimm Werner Wolski

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Sprache im Alltag : Beiträge zu neuen Perspektiven in der Linguistik ; Herbert Ernst Wiegand zum 65. Geburtstag gewidmet / hrsg. von Andrea Lehr - Berlin ; New York : de Gruyter, 2001 ISBN 3-11-016456-6

© Copyright 2001 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Inhalt Laudatio Herbert Ernst Wiegand und die Erforschung des alltäglichen Umgangs mit Sprache

IX XIII

Teil 1: Sprache im Alltag und Sprachwissenschaft Theoretische und methodologische Aspekte eines schwierigen Verhältnisses Hans Peter Althaus Sprache im Alltag, Sprachwissenschaft und Kunst

3

Andreas Gardt Beeinflußt die Sprache unser Denken? Ein Überblick über Positionen der Sprachtheorie

19

Gisela Harras Alltag, Lebenswelt, Lebensform und Sprache. Ein Gespräch

41

Ulrike Haß-Zumkehr Sprache im Alltag als Konstruktion von Lexikografie und Sprachwissenschaft

57

Klaus Mudersbach Wie der Mensch im Alltag folgert. Ein Gegenvorschlag zur formalen Logik

71

Caja Thimm Sprache interpersonal und medial - methodische Perspektiven

97

Teil 2: Sprache im Alltag als Gegenstand sprachwissenschaftlicher Forschung - Konzeptionelle Zugänge Werner Abraham Syntax and semantics of modal verbs in German and their diachronic root: soft aspectual and robust finiteness constraints

113

Michael Beißwenger Stoibers Kreuzzug und der Canossa-Gang des Bundestrainers. Spuren von Geschichtlichem in metaphorischen Wendungen der Alltagssprache

129

VI

Inhalt

Klaus-Peter Konerding Sprache im Alltag und kognitive Linguistik: Stereotype und schematisiertes Wissen

151

Wolf-Andreas Liebert Gehirn und Geistestätigkeit im Spiegel von Laienmodellen. Ein linguistischer Streifzug durch Alltag, Populärwissenschaft und HipHop-Kultur

173

Günther Öhlschläger Grammatiken fur den Alltag

187

Thorsten Roelcke Fachsprachen im Alltag. Probleme und Perspektiven der Kommunikation zwischen Experten und Laien

219

Burkhard Schaeder Fachsprache im Alltag: Anleitungstexte

233

Sigurd Wichter Diskurs und Vertikalität

249

Rainer Wimmer Eigennamensemantik auf der Basis des Alltagssprachgebrauchs

265

Teil 3: Sprache im Alltag als Gegenstand sprachwissenschaftlicher Forschung - Empirische Ansätze Dirk Geeraerts Everyday language in the media: the case of Belgian Dutch soap series

281

Matthias Kammerer Verstärkungsbildungen im Deutschen. Versuch einer phänomenologischen Bestimmung

293

Andrea Lehr „Überdosis Sprache". Ein Panoptikum sprachreflexiver Äußerungen in Pressetexten

321

Lothar Lemnitzer „Wann kommt er denn nun endlich zur Sache?" Modalpartikel-Kombinationen - Eine korpusbasierte Untersuchung

349

Angelika Linke Zur allmählichen Verfertigung soziokultureller Konzepte im Medium alltäglichen Sprachgebrauchs

373

Inhalt

VII

Klaus-Dieter Ludwig Was (noch) nicht im Wörterbuch steht. Oder: Was ist Bimbes?

389

Peter Rolf Lutzeier Die Rolle lexikalischer Daten im Alltag für das Strukturgerüst im Lexikon

409

Ulrich Schmitz http://www.ellipsen.de

423

Angelika Storrer Getippte Gespräche oder dialogische Texte? Zur kommunikationstheoretischen Einordnung der Chat-Kommunikation

439

Christiane von Stutterheim Hörerorientierung in der Kommunikation. Psycholinguistische Evidenz pro und contra

467

Ladislav Zgusta Lexicalization in the Greek Alltagssprache

485

Teil 4: Sprachwissenschaft für den Alltag - heute und morgen Henning Bergenholtz Proskription, oder: So kann man dem Wörterbuchbenutzer bei Textproduktionsschwierigkeiten am ehesten helfen

499

Ruf us Hjalmar Gouws Der Einfluß der neueren Wörterbuchforschung auf einen neuen lexikographischen Gesamtprozeß und den lexikographischen Herstellungsprozeß

521

Anja Holderbaum und Joachim Kornelius Kollokationen als Problemgrößen der Sprachmittlung

533

Peter Kühn „BLUME: ist Kind von Wiese": Bedeutungserläuterungen in der Lernerlexikographie

547

Ulrich Püschel Stilistik - Theorie für die Praxis

563

Martha Ripfel Störungen des Spracherwerbs und der Sprachentwicklung bei Muttersprachlern durch veränderte gesellschaftliche Bedingungen

573

VIII

Inhalt

Werner Wolski Kriterien der Beurteilung von Rechtschreibmaterialien fur die Grundschule

591

Anhang Abstracts

617

Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

631

Herbert Ernst Wiegand zum 65. Geburtstag Mit dem vorliegenden Band möchten wir unsere Wertschätzung der bisherigen Lebensleistung Herbert Ernst Wiegands als Forscher und akademischer Lehrer gegenüber zum Ausdruck bringen. Ihre greifbaren Ergebnisse sind nur unvollständig unter Hinweis auf eine geradezu überwältigende Anzahl von Veröffentlichungen zu benennen: Wir sehen Tausende von Seiten vor uns, die der Lexikographie gewidmet sind, aber auch zahlreiche Beiträge, die sich mit ganz anderen Themen befassen; wir kennen aus seinen Schriften neben Darstellungen, die den Lesern ein erhebliches Maß an Konzentration abverlangen, sehr lebhaft formulierte, die Leser unmittelbar ansprechende Partien; und da Η. E. Wiegand immer auch gern mit anderen zusammen publiziert hat, finden sich in seinem Schriftenverzeichnis zahlreiche kleinere und größere Arbeiten mit verschiedenen Koautoren und Koautorinnen. Um einen vollständigeren Eindruck von dem Aktionsradius seiner Aktivitäten zu erhalten, muß man sich darüber hinaus vergegenwärtigen, daß Η. E. Wiegand maßgeblicher Initiator oder Mitinitiator mehrerer Publikationsorgane war, welche das Fach der germanistischen Sprachwissenschaft heute in einem wesentlichen Ausschnitt repräsentieren: Zu nennen sind zunächst das „Lexikon der Germanistischen Linguistik", das Periodikum „Germanistische Linguistik", die Buchreihe „Reihe Germanistische Linguistik" sowie das zuletzt geschaffene Internationale Jahrbuch „Lexicographica", dem die Buchreihe „Lexicographica, Series Maior" angeschlossen ist. Wesentlich mehr Arbeitskraft ist wohl noch für die voluminöse Reihe der „Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft" benötigt worden, die Η. E. Wiegand seinerzeit zusammen mit dem damaligen Verlagsleiter des Verlages Walter de Gruyter ins Leben gerufen hat. Die wissenschaftliche Tätigkeit Η. E. Wiegands ist nunmehr über Jahrzehnte geprägt von dem nie nachlassenden Bemühen j e w e i l i g e Projekte ohne Verzug in Angriff zu nehmen und seinen Vorstellungen entsprechend zu gestalten. Als bewundernswert wird immer wieder angesehen, mit welcher Energie er die mit seiner Dienststellung ohnehin verbundenen, aber auch alle darüber hinaus an ihn herangetragenen sowie die ohne Notwendigkeit zusätzlich übernommenen Aufgaben angeht. Doch außer seinen vielfaltigen Publikationstätigkeiten und den mit den Zeitschriften- und Buchreihen verbundenen Organisationsleistungen ist ihm die gewissenhafte Wahrnehmung der Lehrtätigkeit immer ein besonders wichtiges Anliegen gewesen. Seiner Auffassung nach wird die akademische Lehre ganz wesentlich durch eine glaubhaft vertretene eigene wissenschaftliche Tätigkeit positiv beeinflußt, weil gerade das Miterleben von Forschungstätigkeit den Studierenden bei deren Identitätsfindung hilfreich ist. Charakteristisch für Η. E. Wiegand ist ein Lehrstil, der die Studierenden neben methodischer Arbeitsdisziplin zu kritischer Stellungnah-

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Werner W o l s k i

me befähigt. Dazu bringt er neben Fachkompetenz auch didaktische Fähigkeiten und eine von seiner Persönlichkeit ausgehende Überzeugungskraft mit, so daß Studierende nicht nur fachlich eine gute Orientierung gewinnen, sondern sich auch emotional angesprochen fühlen können. Aufgrund der beachtlichen Vielseitigkeit seiner Kenntnisse und Erfahrungen, die sich nicht ausschließlich auf Wissenschaft erstrecken und die im wissenschaftlichen Bereich auch weit über das von ihm vertretene Fach der germanistischen Linguistik hinausreichen, hat Η. E. Wiegand vielen mit Rat und Tat zur Seite stehen können. Studierenden und Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen hat er immer Spielraum für Eigenverantwortlichkeit und die Verfolgung von Eigeninteressen gelassen; davon zeugen neben Examens- und Magisterarbeiten etliche der an seinem Lehrstuhl entstandenen Dissertationen und Habilitationsschriften, die thematisch nicht solchen Bereichen verpflichtet sind, mit denen sein Name in erster Linie verbunden wird. Geschätzt wird an H.E. Wiegand nicht nur die Gradlinigkeit, mit der er Ziele verfolgt, sondern vor allem auch seine absolute Verläßlichkeit im Umgang mit Studierenden, Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sowie Kollegen und Kolleginnen, was die Einhaltung von Terminen sowie Zusagen und Absprachen angeht. Vor allem haben alle, welche in die von ihm initiierten Arbeitsprozesse eingebunden waren, stets davon ausgehen können, daß es H.E. Wiegand ausschließlich um die jeweils gerade anstehende Sache ging, und nicht um die Befriedigung persönlicher Eitelkeiten. Dabei hat seine Neigung, sich allem Neuen zu öffnen und sich kritisch damit auseinanderzusetzen, auf viele Beteiligte motivierend gewirkt. Nicht nur, daß er aufgrund seiner umfangreichen Hausbibliothek immer wieder mit aktuellen Thesen und gerade erschienenen Publikationen überrascht: Er hat, wissensdurstig wie er ist, sich auch mit der wissenschaftlichen Anwendung des Computers vertraut gemacht, nutzt privat und dienstlich das World Wide Web und liebt die elektronische Post, was von Angehörigen seiner Generation nicht unbedingt zu erwarten ist. Da sich bis heute nichts an der Haltung und Tatkraft Η. E. Wiegands verändert hat, fallt es nicht gerade leicht, aus bloßem Anlaß eines runden Geburtstags im Wissenschaftlerleben innezuhalten und auf das bisher Geleistete zurückzublicken: Nach Professuren an den Universitäten Marburg und Düsseldorfhat Η. E. Wiegand seit 1977 an der Universität Heidelberg einen Lehrstuhl für germanistische Linguistik inne. Er war unter anderem zwölf Jahre Mitglied des Kuratoriums des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim, ist nach wie vor Mitglied zahlreicher nationaler und internationaler Organisationen, war Sprecher des Forschungsschwerpunktes Lexikographie an der Universität Heidelberg und hat bei über 20 Wörterbuchprojekten im In- und Ausland eine offizielle Beratertätigkeit ausgeübt; 1998 ist ihm von der Universität in Äarhus die Ehrendoktorwürde verliehen worden; die Aufzählung der Zielorte seiner Vortrags- und sonstigen Dienstreisen ergäbe ein beachtliches Register. Am nachhaltigsten hat Η. E. Wiegand das Forschungsfeld der

Laudatio

XI

Wörterbuchforschung theoretisch und terminologisch geprägt; hier ist seit etwa 1980 ein Theoriegebäude mit aufeinander bezogenen Theorieteilen entstanden, mit dem zugleich wichtige Grundlagen für die beim Übergang vom gedruckten zum digitalen Medium zu bewältigenden Aufgaben gelegt werden. Wo auch immer heute ein wissenschaftlich anspruchsvolles Wörterbuch konzipiert wird, dürften seine Argumentationen - in welcher Form auch immer Berücksichtigung finden. Bemerkenswerter noch erscheint, daß nicht wenige seiner terminologischen Prägungen ohne das Wissen darum, daß sie von ihm stammen, im selbstverständlichen Gebrauch sind. Trotz zahlreicher beruflicher Belastungen ist Η. E. Wiegand seiner Arbeitsweise immer treu geblieben: Nie hat er sich auf ein paar zufällig zur Kenntnis genommene und immer wieder rezipierte Schriften gestützt; vielmehr unterzieht er sich stets der Mühe, jedes Detail (auch wenn es gar von ihm selbst früher längst behandelt worden ist) nach ausfuhrlichen bibliographischen Vorarbeiten anhand aller verfügbarer Arbeiten aufs Genaueste im Wortlaut zu überprüfen, - und seien die vertretenen Auffassungen den eigenen noch so entgegengesetzt. Zusammen mit dem, was sich in seinen Arbeiten ggf. sodann anschließt, nämlich die daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen, versehen mit Übersichten und oft ausführlichen Strukturdarstellungen (jedenfalls in Arbeiten zur Wörterbuchforschung), kann man von einem typisch Wiegand'schen Stil des Zugriffs auf theoretische Probleme sprechen. Dieser Stil ist einer der Sprachkritik: Hier wird ernst genommen, daß Wissen nur über Texte vermittelt ist und daß es dabei auf den Wortlaut, auf die Präzision der Sprache im Detail ankommt. Wo Aspekten der eigenen Auffassung mit Argumenten widersprochen wird und Präzisierungsvorschläge gemacht werden, läßt sich Η. E. Wiegand gern zur Revision seiner Theorie bewegen; diesbezüglich nimmt er nicht nur Arbeiten von Kolleginnen und Kollegen, sondern auch Examens- und Magisterarbeiten sehr ernst. Und er selbst hat - mit ausführlichen Begründungen versehen - nicht nur die von ihm in den 70er Jahren vertretenen bedeutungstheoretischen Auffassungen überwunden und zu einem neuen handlungs- und texttheoretisch begründeten Konzept weiterentwickelt, sondern auch verschiedene seiner metalexikographischen Differenzierungen später auf der Basis neuer Einsichten modifiziert. Seine Theorie ist im kontinuierlichen Bemühen, die Wörterbuchforschung und damit im Zusammenhang stehende Sprachfragen weiterzuentwickeln, über Jahrzehnte hinweg gewachsen. Dabei war es weder jemals die Sache Η. E. Wiegands, vorschnell neue Moden insbesondere im Bereich von Bedeutungstheorie und Textlinguistik aufzunehmen, noch aus Prinzip gegen den Strom zu schwimmen. Immer ist er vielmehr darum bemüht gewesen, kreative Einsichten jeder Art gewissenhaft zu prüfen, aber auch an bewährte Zugriffsweisen und Terminologien anzuschließen, wo ihm dies geboten erschien. Seit Beginn seiner Laufbahn als Wissenschaftler hat Η. E. Wiegand gleichmäßigen beruflichen Einsatz gezeigt und in seiner wissenschaftlichen

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Werner Wolski

Produktivität nicht nachgelassen. Wenn man die gegenwärtig anlaufenden Projekte betrachtet, etwa das Wörterbuch zur Lexikographie und Wörterbuchforschung, ist es fast unvorstellbar, daß sich daran in den nächsten Jahren etwas ändern könnte. Zu wünschen ist, es möge Herbert Ernst Wiegand bei weiterhin guter Gesundheit gelingen, all das in gewohnter Weise auszufuhren, was er sich für die Zukunft vorgenommen hat. Im Namen der Herausgeberinnen und Herausgeber Werner Wolski

ANDREA LEHR, KLAUS-PETER KONERDING, ANGELIKA STORRER UND CAJA THIMM

Herbert Ernst Wiegand und die Erforschung des alltäglichen Umgangs mit Sprache Festschriften füllen in den letzten Jahren zunehmend die Regale universitärer Bibliotheken. Mit ihnen werden die wissenschaftlichen Leistungen von herausragenden Persönlichkeiten gewürdigt, die durch ihr Wirken Ansehen erlangt und ein Fachgebiet auf besondere Weise geprägt haben. Eine solche Würdigung haben auch wir im Sinn, wenn wir hier einen Band vorlegen, der dem bisherigen Lebenswerk Herbert Ernst Wiegand gewidmet ist. Allerdings wollten wir als Herausgeberinnen und Herausgeber die Akzente im Vergleich zu üblichen Festschriften etwas anders setzen. Neben unserem erklärten Ziel, den Wissenschaftler Η. E. Wiegand als Person in den Mittelpunkt zu rücken, wollten wir einen Band gestalten, der über gegebene Bezugnahmen auf die zentralen Aspekte von Η. E. Wiegands Schaffen hinaus eigenständige Geltung besitzt. Konzipiert ist die Festschrift als thematischer Band, der mit eigens zu diesem Zweck verfaßten Beiträgen das Rahmenthema aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und für das Fach insgesamt neue Perspektiven aufzeigen soll. Der Sprache als Medium der Kommunikation kommt gerade im sogenannten „Informationszeitalter" ein hoher Stellenwert zu; und die Sprachwissenschaft vermag einen wichtigen Beitrag zur entsprechenden aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung zu leisten, wenngleich diese Ansicht nicht unbedingt Gemeingut ist. Es ist dieser Aspekt der Allgegenwart von Sprache und Sprachgebrauch im Alltag, den Η. E. Wiegand in vielen seiner Arbeiten thematisch verfolgt hat, und womit nicht nur Gegenwart und Vergangenheit, sondern auch Zukunftsorientiertheit eingeschlossen ist. Die Beiträge dieses Bandes gelten daher nicht nur der Wörterbuchforschung, dem Teilgebiet, für das Η. E. Wiegand sicherlich die meiste Anerkennung erhalten hat. 1 Vielmehr greifen sie seine Arbeiten aus einer größeren Perspektive auf, nämlich ihrer Verortung im Alltag. Die Beiträge des Bandes sollen aus unterschiedlichen Perspektiven einen

1

Vgl. dazu den Band „Linguistische Theorie und lexikographische Praxis" (1997), der im Anschluß an ein anläßlich H.E. Wiegands 60. Geburtstag abgehaltenes Symposium erschienen ist.

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Andrea Lehr et al.

jeweils spezifischen Blick auf ein Ganzes bereitstellen und dazu anregen, Sprache und Sprachliches unter dem Aspekt der Rückbindung an Gegebenheiten des alltäglichen Lebens zu betrachten. Das Werk Η. E. Wiegands ist eng mit der Entwicklung der lexikalischen Semantik und später der Wörterbuchforschung in Deutschland verknüpft. Gerade im letztgenannten Bereich hat Wiegand seit Mitte der Siebziger Jahre maßgebende Standards gesetzt, so daß die Wörterbuchforschung mittlerweile durchaus als eigenständige wissenschaftliche Subdisziplin angesehen werden kann. Sie dient in zentralen Theorieausschnitten dem Ziel, durch benutzungsorientierte Verfahren der Präsentation lexikographischer Daten einen Beitrag zur besseren Bewältigung der im Alltag auftretenden Kommunikationsprobleme zu leisten. In auffallendem Unterschied zu manch anderen Subdisziplinien der modernen Sprachwissenschaft bleibt die Wörterbuchforschung, wie sie von Η. E. Wiegand konzipiert wurde, trotz ihrer umfassenden Theorieorientierung immer eng mit der alltäglichen Sprachpraxis verbunden. Im Rahmen seiner Beschäftigung mit Fragen der lexikalischen Semantik hat Η. E. Wiegand bereits in relativ frühen Arbeiten Verfahren der Bedeutungserklärung und -Vermittlung an Gegebenheiten der alltäglichen Verständigungspraxis festgemacht. So werden beispielsweise in dem grundlegenden und wichtigen Beitrag „Synonymie und ihre Bedeutung in der einsprachigen Lexikographie" (1976{XE "Wiegand 1976"}) synchronisch-lexikographische Wortbedeutungserklärungen erstmals als Systematisierungen sprachpraktischer Verfahren, speziell metakommunikativ-dialogischer Verfahren der Beseitigung von Kommunikationskonflikten, aufgefasst und damit im Sinne einer lebensweltlich orientierten, regelbasierten alltagssprachlichen Handlungssemantik fundiert; der bei Wiegand zentrale Begriff des „regelgerechten" („konventionalisierten und sprachnormgerechten") Gebrauchs sprachlicher Ausdrücke relativ zu „usuellen Texten" bzw. „Kotexten" findet sich bereits dort. Das von Η. E. Wiegand in verschiedenen Arbeiten so bezeichnete Konzept der „praktischen Lexikologie" besteht darin, bestverfugbare Beschreibungsansätze im Lichte der von ihm entwickelten bedeutungstheoretischen Auffassungen auszuwählen und für die lexikographische Praxis zur Verfügung zu stellen. Für die Ausarbeitung einer Bedeutungstheorie, die bei Gegebenheiten von Alltagsdialogen über Bedeutungen ansetzt, stellen die Aufsätze „Pragmatische Informationen in neuhochdeutschen Wörterbüchern" (1979{XE "Wiegand 1979"}), „Eine neue Auffassung der sog. lexikographischen Definition" (1985{XE "Wiegand 1985"}) und „Über usuelle und nichtusuelle Benennungskontexte in Alltag und Wissenschaft" (1996{XE "Wiegand 1996"}) wichtige Stationen im Schrifttum Η. E. Wiegands dar, ebenso der Handbuchartikel „Die Lexikographische Definition im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch" (1989{XE "1989"}), worin das Konzept des „regelgerechten" Wortgebrauchs relativ zu „usuellen Texten" anhand der Analyse von speziellen Typen von Alltagsdialogen zunehmend fundiert und differen-

Einleitung

XV

ziert wird. Sämtliche Facetten seiner bedeutungstheoretischen Auffassung finden sich zuletzt dargelegt in dem wegweisenden Beitrag „Mit Wittgenstein über Wortbedeutungen nachdenken. Gebrauch? Regel des Gebrauchs? Etwas im Kopf?", erschienen zur Feier der 250jährigen Verlagstradition von Walter de Gruyter, Berlin (vgl. Wiegand 1999{XE "Wiegand 1999"}). 2 Betrachtet man das Werk Η. E. Wiegands bis zum heutigen Tag, so zeigt sich deutlich, daß es seine besondere wissenschaftliche Fruchtbarkeit zu großen Teilen den subtilen Beobachtungen und Analysen der Sprachpraxis der alltäglichen Lebenswelt verdankt. Die Beiträge der vorliegenden Festschrift „Sprache im Alltag" sehen sich diesem Primat der Berücksichtigung des alltäglichen Umgangs mit Sprache und Sprachlichem besonders verpflichtet. Bewußt haben wir, da die Bezeichnung Alltagssprache in bezug auf den intendierten thematischen Rahmen der Festschrift zu kurz greift, Sprache im Alltag und nicht Alltagssprache als Komponente des Festschrifttitels gewählt. Zum einen legt Alltagssprache die Beschäftigung mit einem in sich geschlossenen - virtuellen - Sprachsystem unter gleichzeitiger Ausblendung von pragmatischen und lebensweltlichen Gesichtspunkten nahe; zum anderen wird der Blick zu sehr auf Oppositionen wie Alltagssprache vs. Gemeinsprache oder Alltagssprache vs. Fachsprache lenkt. Alltagssprache ist ein sprachwissenschaftlicher Gliederungsterminus 3 und hat als solcher im Verbund mit anderen Termini den Zweck, sprachliche Phänomene in Gruppen zu unterteilen, die möglichst homogen und deshalb einer Beschreibung anhand der gemeinsamen Eigenschaften ihrer Bestandteile zugänglich sind. Unbestritten erfolgt mit Alltagssprache eine Perspektivierung, die - zumindest, wenn eine angemessene terminologische Klärung erfolgt - für sprachwissenschaftliche Zwecke deutlich handhabbarer ist als eine Beschäftigung mit Sprache in alltagsweltlichen Kontexten, da sie von sprachlichen Gegebenheiten ausgeht und andere Faktoren diesen unterordnet, nicht umgekehrt. Im Zentrum unseres Interesses steht jedoch etwas anderes: Wir wollen uns auf die wechselseitige Differenzierung von Alltag und Wissenschaft, wie sie insbesondere in der phänomenologischen Soziologie und der Ethnomethodologie thematisiert wird, konzentrieren. Anders als im Alltagsleben selbst steht in diesen soziologischen Ansätzen Alltag nicht in Opposition zu Feiertag, Freizeit oder außergewöhnlichen Lebensereignissen, sondern wird als Gegenpol zu Wissenschaft, Kunst und Religion aufgefaßt. Die Bereiche der

2

Wesentliche Ausschnitte des Schrifttums H.E. Wiegands sind über Wiegand ( 2 0 0 0 ) erschließbar; auf die dort nicht aufgenommenen Handbuchartikel wird in der Einleitung zu den beiden Bänden eingegangen. D e s weiteren sind mehrere seiner Arbeiten in englischer Übersetzung erschienen (vgl. Wiegand 1999a). D i e vollständige Publikationsliste H.E. Wiegands ist im World Wide Web unter http://www.uniheidelberg.de/insitute/fak9/gs/sprache2/hew_publ.htm zu finden.

3

Vgl. zu einer näheren Bestimmung von Alltagssprache sätze von Hugo Steger ( 1 9 8 8 und 1991).

die überaus lesenswerten Auf-

XVI

Andrea Lehr et al.

Wirtschaft und der Politik dagegen werden in der Regel dem Alltag zugeschlagen - eine Einordnung, über deren Verbindlichkeit diskutiert werden kann und sollte. 4 Besonders deutlich tritt dieser Unterschied zwischen der vorherrschenden alltäglichen und der skizzierten soziologischen Auffassung von Alltag dann hervor, wenn anstelle von Alltag der Terminus alltägliche Lebenswelt5 verwendet wird (vgl. Zitat 1). Unter alltäglicher Lebenswelt soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet. Mit schlicht gegeben bezeichnen wir alles, was wir fraglos erleben, jeden Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch ist. (Zitat 1: Schütz/Luckmann 1994, Bd. 1, 2 5 )

Unsere vornehmliche Lebenswelt ist der Alltag; und seine größtenteils unhinterfragte Gegebenheit ist es, was ihn insbesondere von der Lebenswelt der Wissenschaft unterscheidet. Menschen im Alltagsleben sind fortwährend mit praktischen Handlungs- und Orientierungsanforderungen konfrontiert, denen sie nur dann gerecht werden können, wenn sie ihre Lebenswelt überwiegend als gegeben hinnehmen und routiniert, nach erprobten und bewährten Mustern handeln. Sie setzen deshalb bevorzugt - und in manchen Fällen über die Grenzen des Zuträglichen hinaus - Fremdes mit bereits bekannten Phänomen gleich und versuchen, neuen Problemstellungen mit gewohnten, bislang bewährten Lösungskonzepten zu begegnen. In der Wissenschaft dagegen besteht aufgrund einer gewissen emotionalen und sozialen Distanz zur alltäglichen Lebenswelt die Möglichkeit, einem solchen gewohnheitsmäßigen Festhalten an überkommenen Vorstellungen und Handlungsstrategien neue, über die aktuellen Strukturen und Wahrnehmungsgewohnheiten der Alltagswelt hinausreichende Erkenntnisse entgegenzusetzen. Nun sind aber die Lebenswelt des Alltags und die der Wissenschaft nicht als zwei unvermittelt nebeneinander stehende und klar voneinander getrennte Bereiche der Wirklichkeit zu betrachten. Die Gegebenheiten des Alltags wirken in das wissenschaftliche Handeln hinein, und die Ergebnisse wissenschaftlichen Arbeitens verändern das Alltagsleben. Beispielsweise könnten wir im Rahmen sprachwissen4 5

Andere Auffassungen vertreten z.B. Jürgen Habermas ( 1 9 8 1 ) und der amerikanische Philosoph Richard Senett (1998); vgl. dazu auch Lehr ( 1 9 9 9 , 46f.). Der Terminus alltägliche Lebenswelt ist eine Zusammenziehung des Husserlschen Begriffspaars Lebenswelt - Alltag und birgt aufgrund der bereits bei Husserl vorzufindenden begrifflichen Unscharfen s o w i e einer nicht immer gewissenhaften Rezeption einige Probleme. So ist in der fachlichen Diskussion bis heute ungeklärt, ob allein die Alltagswelt den Bedingungen einer Lebenswelt genügt oder o b es daneben noch andere Lebenwelten gibt und beispielsweise der Welt der Wissenschaft der Status einer Lebenswelt zukommt; vgl. für einen ersten Einblick in diese seit fast 25 Jahren währende Diskussion Bergmann (1981), Welter (1986), List ( 1 9 8 8 ) s o w i e Luckmann (1990). Wir haben uns in bezug auf die vorliegende Festschrift dafür entschieden, die alltägliche Lebenswelt als lediglich eine, wenn auch die vornehmliche Lebenswelt des Menschen neben anderen aufzufassen.

Einleitung

XVII

schaftlichen Arbeitens unsere alltagsweltlichen Erfahrungen mit Sprache und Sprachlichem, selbst wenn wir dies wollten, nicht vollständig ausblenden; und umgekehrt werden wir uns aufgrund unserer diesbezüglichen Ausbildung immer, wenn im Alltagsleben über sprachliche Themen diskutiert wird, an entsprechende sprachwissenschaftliche Theorien erinnern. Menschen ohne jede wissenschaftliche Ausbildung wiederum verfugen neben ihren persönlichen Erfahrungen über ursprünglich aus wissenschaftlichen Theorien stammendes Wissen, welches sie beispielsweise durch den Schulunterricht oder über die Medien erworben haben. Speziell für die Sozial- und Kulturwissenschaften ist es deshalb besonders empfehlenswert, die Verwurzelung der Inhalte ihrer Disziplinien im Alltag zu reflektieren und die maßgeblichen Phänomene des Alltags in hinreichender Weise zu analysieren, zu beschreiben und zur wissenschaftlichen Theoriebildung heranzuziehen (vgl. Zitat 2). Die Wissenschaften, die menschliches Handeln und Denken deuten und erklären wollen, müssen mit einer Beschreibung der Grundstrukturen der vorwissenschaftlichen, für den - in der natürlichen Einstellung verharrenden - Menschen selbstverständlichen Wirklichkeit beginnen. Diese Wirklichkeit ist die alltägliche Lebenswelt. (Schütz/Luckmann 1994{XE "Schütz/Luckmann 1994"}, 1, 2 5 )

Unser Plädoyer für eine sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit alltagsweltlichen Gegebenheiten gründet jedoch nicht auf einer allgemeinen Gegenüberstellung des Sprachgebrauchs in wissenschaftlichen und alltagsweltlichen Kontexten, wie dies bespielsweise zum Gegenstand der Fachsprachenforschung gehört. Vielmehr liegt uns an einer Annäherung der Sprachwissenschaft an das Alltagsverständnis von Sprache und die damit verbundenen Probleme, mit welcher wiederum eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs und zugleich eine stärkere Rückbindung der Sprachwissenschaft an die alltägliche Lebenswelt einhergeht. Die Einteilung der vorliegenden Festschrift in die Hauptkapitel I: Sprache im Alltag und Sprachwissenschaft - Theoretische und methodologische Aspekte eines schwierigen Verhältnisses, II Sprache im Alltag als Gegenstand linguistischer Forschung - Konzeptionelle Zugänge, III: Sprache im Alltag als Gegenstand linguistischer Forschung - Empirische Ansätze und IV: Sprachwissenschaft für den Alltag - heute und morgen spiegelt vier zentrale Richtungen wider, aus denen auf solch eine Annäherung der Sprachwissenschaft an Sprache im Alltag hingewirkt werden kann. Im Hauptkapitel I geht es um die grundsätzliche Bestimmung des Verhältnisses der Linguistik zur Sprache im Alltag. Die Beiträge behandeln sprachphilosophische (Gardt{XE "Gardt"}), logisch-semantische (Mudersbach{XE "Mudersbach"}), wissenschaftshistorische (Hass-Zumkehr{XE "HassZumkehr"}) und methodologische Grundfragen (Thimm{XE "Thimm"}), erörtern den Zusammenhang zwischen den Begriffen Alltag, Lebenswelt, Lebensform und Sprache (Harras{XE "Harras"}) und reflektieren an Beispielen den künstlerischen Umgang mit Sprache im Alltag (Althaus{XE "Althaus"}).

XVIII

Andrea Lehr et al.

Die beiden folgenden Kapitel zeigen, wie der Untersuchungsgegenstand „Sprache im Alltag" in verschiedenen linguistischen Teildisziplinen behandelt werden kann. In den Beiträgen in Hauptkapitel II stehen konzeptionelle Überlegungen im Vordergrund; die Bandbreite der Themen reicht von der Grammatik (Abraham{XE "Abraham"}, Öhlschläger{XE "Öhlschläger"}) und der Semantik (Beißwenger{XE "Beisswenger"}, Wimmer{XE "Wimmer"}) über kognitionswissenschaftlich orientierte Ansätze (Konerding{XE "Konerding"}, Liebert{XE "Liebert"}) bis zur modernen Fachsprachenforschung (Roelcke{XE "Roelke"}, Schaeder, WichterJXE "Schaeder"}). Die Beiträge in Hauptkapitel III beschäftigen sich auf der Grundlage empirischer Sprachdaten mit Phänomenen der Sprache im Alltag. Diskutiert werden psycholinguistische Forschungsergebnisse (v. Stutterheim{XE "v. Stutterheim"}), verschiedene Aspekte der Lexik - Lexikalisierung (Zgusta{XE "Zgusta"}), Gebrauchswandel (Linke{XE "Linke"}), Strukturierung (Lutzeier{XE "Lutzeier"}), Wortbildung (Kammerer{XE "Kammerer"}, Ludwig{XE "Ludwig"}) und Mehrwortlexeme (Lemnitzer{XE "Lemnitzer"}). Andere Beiträge untersuchen Sprache und Sprachbewußtheit in verschiedenen Medien: in der Zeitung (Lehr{XE "Lehr"}), im Fernsehen (Geeraerts{XE "Geeraerts"}) und im Internet (Schmitz{XE "Schmitz"}, Storrer{XE "Storrer"}). Im Hauptkapitel IV schließlich geht es um Ansätze aus der anwendungsorientierten Linguistik, die auf theoretischer und methodischer Basis Lösungen für konkrete alltägliche Problemlösungsbedürfnisse in bezug auf Sprache erarbeitet. Ein wichtiges Anwendungsfeld der angewandten Linguistik ist die Sprachlexikographie: Die Beiträge hierzu behandeln Grundlagen der Wörterbuchnutzung (Gouws{XE "Gouws"}) sowie deren Auswirkung auf die Präskriptivität der Wörterbücher (Bergenholtz{XE "Bergenholtz"}) und machen Vorschläge für die Verbesserung von Lernerwörterbüchern (Kühn{XE "Kühn"}). Ein weiterer Beitrag diskutiert die Behandlung von Kollokationen in mehrsprachigen Terminologiesammlungen (Holderbaum {XE "Holderbaum" }/Kornelius{XE "Kornelius"}). Die Beiträge zur Stilistik (Püschel{XE "Püschel"}), zur Rechtschreibdidaktik (Wolski{XE "Wolski"}) und zum muttersprachlichen Sprachunterricht (Ripfel{XE "Ripfel"}) schließlich fächern das breite Spektrum an Anwendungsmöglichkeiten weiter auf. Wir möchten an dieser Stelle den Autorinnen und Autoren, die an diesem Band mitgewirkt haben, für die gute Zusammenarbeit danken. Auch an den Verlag Walter de Gruyter, der das Zustandekommen der Festschrift in der vorliegenden Form ermöglicht hat, geht unser Dank. Des weiteren bedanken wir uns bei Reinhard Mayer, der uns freundlicherweise das dem Band beigefügte Foto Η. E. Wiegands zur Verfügung gestellt hat, bei Michael Beißwenger für die Erstellung der Druckvorlage sowie bei Werner Wolski für die Endkorrektur.

Einleitung

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Literatur Bergmann, Werner (1981): Lebenswelt, Lebenswelt des Alltags oder Alltagswelt? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 33/1, 50-72. Habermas, Jürgen (1991): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt am Main. Lehr, Andrea (1999): Quo vadis, Sprachwissenschaft? Sprache - Sprachwissenschaft Öffentlichkeit: Randnotizen zur IDS-Jahrestagung 1998. In: Z G L - Zeitschrift für Germanistische Linguistik 27/1, 38-66. Linguistische Theorie und lexikographische Praxis (1997). Symposiumsbeiträge, Heidelberrg 1996. Hrsg. von Klaus-Peter Konerding und Andrea Lehr. Tübingen (Lexicographica. Series Maior 82). List, Elisabeth (1988): Wissenschaft als Lebenswelt: Situationen, kognitive und soziale Relevanzen im soziologischen Diskurs. In: Alfred Schütz. Neue Beiträge zur Rezeption seines Werkes. Hrsg. von Elisabeth List und Ilja Srubar. Amsterdam (Studien zur österreichischen Philosophie 12), 237-255. Luckmann, Thomas (1990): Lebenswelt: Modebegriff oder Forschungsprogramm? In: Grundlagen der Weiterbildung. Zeitschrift für Weiterbildung/Erwachsenenbildung im In- und Ausland 1,9-13. Schütz, Alfred/Thomas Luckmann (1994): Strukturen der Lebenswelt. Bd. 1: 5. Aufl. Bd. 2: 3. Aufl. Frankfurt am Main (stw 284 und 428) [Bd. 1:1. Aufl. 1979; Bd. 2: 1. Aufl. 1984], Sennett, Richard (1998): The Corrosion of Character. N e w York. Steger, Hugo (1988): Erscheinungsformen der deutschen Sprache. 'Alltagssprache' - ' Fachsprache' - 'Standardsprache' - 'Dialekt' und andere Gliederungstermini. In: Deutsche Sprache 16, 289-319. Steger, Hugo (1991): Alltagssprache. Zur Frage nach ihrem besonderen Status in medialer und semantischer Hinsicht. In: Symbolische Formen. Medien. Identität. Jahrbuch 1989/90 des Sonderforschungsbereichs 'Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit'. Tübingen, 55-112. Welter, Rüdiger (1986): Der Begriff der Lebenswelt. Theorien vortheoretischer Erfahrungswelt. München (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt 14). Wiegand, Herbert Ernst (1976): Synonymie und ihre Bedeutung in der einsprachigen Lexikographie. In: Probleme der Lexikologie und Lexikographie. Jahrbuch 1975 des IDS. Düsseldorf (Sprache der Gegenwart XXXIX), 118-180. Wiegand, Herbert Ernst (1981): Pragmatische Informationen in neuhochdeutschen Wörterbüchern. Ein Beitrag zur praktischen Lexikologie. In: Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie I. Hrsg. von Herbert Ernst Wiegand. Hildesheim. N e w York (Germanistische Linguistik 3-4/79), 139-271. Wiegand, Herbert Ernst (1985): Eine neue Auffassung der sog. lexikographischen Definition. In: Symposium on Lexicography II. Proceedings of the Second International Symposium on Lexicography May, 16-17 1984 at the University of Copenhagen. Ed. by Karl Hyldgaard-Jensen and Arne Zettersten. Tübingen (Lexicographica. Series Maior 5), 15-100. Wiegand, Herbert Ernst (1989): Die lexikographische Definition im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch. In: Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie, 1. Teilbd. Hrsg. von Franz Josef Hausmann, Oskar Reichmann, Herbert Ernst Wiegand, Ladislav Zgusta. Berlin. New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 5.1), 538-588.

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Andrea Lehr et al.

Wiegand, Herbert Ernst (1996): Über usuelle und nichtusuelle Benennungskontexte in Alltag und Wissenschaft. In: Nomination - fachsprachlich und gemeinsprachlich. Hrsg. von Clemens Knobloch und Burkhard Schaeder. Opladen, 55-103. Wiegand, Herbert Ernst (1999a). Semantics and Lexicography. Selected Studies (19761996). Ed. by Antje Immken and Werner Wolski. Tübingen (Lexicographica. Series Maior 97). Wiegand, Herbert Ernst (1999b): Mit Wittgenstein über die Wortbedeutung nachdenken. Gebrauch? Regel des Gebrauchs? Ein Etwas im Kopf? In: Sprache und Sprachen in den Wissenschaften. Geschichte und Gegenwart. Festschrift für den Verlag Walter de Gruyter & Co. anläßlich einer 250jährigen Verlagstradition. Hrsg. von Herbert Ernst Wiegand. Berlin. N e w York, 404-461. Wiegand, Herbert Ernst (2000). Kleine Schriften. Eine Auswahl aus den Jahren 1970 bis 1999 in zwei Bänden. Bd. I: 1970-1988; Bd. 2: 1989-1999. Hrsg. von Matthias Kammerer und Werner Wolski. Berlin. N e w York.

Teil 1: Sprache im Alltag und Sprachwissenschaft Theoretische und methodologische Aspekte eines schwierigen Verhältnisses

H A N S PETER ALTHAUS

Sprache im Alltag, Sprachwissenschaft und Kunst 1 2

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Probleme, Konstellationen Sprache, Dialektologie, bildende Kunst Sprache, Lexikographie, visuelle Poesie Ergebnisse, Perspektiven Literatur

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Probleme, Konstellationen

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Ist das Nachdenken über Sprache schon ein schwieriges Geschäft, so ist das Nachdenken über das Nachdenken ein noch schwierigeres. Wie problematisch das Verhältnis des Menschen zu seiner Sprache ist und wie konfliktbehaftet jeder Versuch einer Veränderung, macht die Geschichte der Sprachkritik und insbesondere der literarischen Sprachkritik im 20. Jahrhundert deutlich (Schiewe 1998). Daß Wissenschaft oft nur bedingt und manchmal gar nicht helfen kann, Möglichkeiten und Grenzen der Sprache auszuloten, haben die an der Sprache verzweifelnden Künstler seit Hofmannsthals Chandos-Brief immer wieder an sich erfahren. Für sie kamen nur radikale Lösungen in Betracht, die Infragestellung von allem und jedem, das Einreißen des Gewohnten und Bewährten, ein Neubau aus dem Geist völliger Vernichtung (Posner 1980, 690 ff.). Die Lösung lautete: Verstummen oder neue Unmittelbarkeit, wie sie Dadaismus und konkrete Poesie erstrebten. Eine derart fundamentalkritische Haltung scheint nötig, wenn das Verhältnis von Sprache im Alltag und Sprachwissenschaft neu bedacht, überkommene Ansichten und Ergebnisse der Wissenschaft infragegestellt, stillschweigende Voraussetzungen aufgehoben, eingefahrene Denkweisen aufgekündigt werden sollen. Von Wissenschaftlern, die ihre Arbeit auf die Prinzipien der Adäquatheit, Stringenz und Überprüfbarkeit gründen, kann dies weniger erwartet werden als von Künstlern, denen Kreativität und Phantasie mehr bedeuten als Angemessenheit und Folgerichtigkeit. Es sollen daher zwei Kunstwerke vorgestellt werden, mit denen Ergebnisse einer wissenschaftlichen Erfassung der Sprache im Alltag in den Alltag zurückgeholt und Konzepte der Sprachwissenschaft mit künstlerischen Mitteln so umgestürzt werden, daß sie „vom Kopf auf die Füße" kommen. In beiden Fällen sind die Künstler in ihrem gesamten Schaffen stark

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Hans Peter Althaus

den Problemen der Sprache verpflichtet. Ernst Mitzka1 bezieht sich in dem hier vorgestellten Werk auf eine sprachgeographische Arbeit seines Großvaters Walther Mitzka,2 mit dessen wissenschaftlichem Hauptwerk „Deutscher Wortatlas" (1951 ff.) er von frühester Jugend an vertraut ist. Klaus Peter Dencker3 gründet seine Arbeit dagegen auf das allgemeine Sprachwissen, wie es in gängigen Wörterbüchern der deutschen Gemeinsprache aufbereitet wird.

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Sprache, Dialektologie, bildende Kunst

Im Sommer 1988 waren an der Fassade des Hamburger Literaturhauses ungewöhnliche Veränderungen zu beobachten. In den Obergeschossen trugen alle großen Fenster Inschriften. Auf den Oberlichtern des ersten Stocks las man die Wörter nett, wacker, hübsch und schnell. Im zweiten Stock stand mooi, glatt, schier und grell, und im dritten hieß es fein, gut, schmuck und stramm. Zusätzlich waren auf den Fensterflügeln weitere Schriftzeichen in Spiegelschrift angebracht. Betrachtete man sie von innen, erschienen die Wörter auf den Oberlichtern ihrerseits als seitenverkehrt.4 Hinweise oder Erklärungen gab es nicht. Den Besuchern des Hauses wurde ein Faltblatt mit Erläuterungen angeboten (Althaus 1988). Zusammenhang schuf den Wörtern die Fassadenfläche mit ihren Öffnungen. Einen anderen gewannen die Passanten aus sich selbst. Denn alle Ausdrücke bezeichneten Eigenschaften, auch das für Süddeutsche unverständliche mooi. Aber was bedeuteten sie hier, worauf wiesen sie hin, wie waren sie zu verstehen? Waren es Fragmente, handelte es sich gar um einen Text? Beim Versuch, sich die Aufschriften begreiflich zu machen, war selbst der kundigste Betrachter auf die Ebene des Buchstabierens zurückgeworfen und hatte Grundfragen zu beantworten: Wie sollte man sie lesen und in welcher Reihenfolge? Sollte man, wie bei deutschen Texten üblich, links oben beginnen und nach rechts unten fortfahren? Sollte man sie in der Reihenfolge lesen, die sich beim Betrachten einer Fassade von selbst ergibt, also von unten nach oben? Oder sollte man sie in gar keiner Reihenfolge lesen, bildeten sie keinen Text, waren sie nur Gebäudeschmuck wie Statuen? Das Naheliegendste ist es, sie aus dem Sprachwissen zu deuten, sich also zunächst einmal der Bedeutungen zu versichern, die diese Wörter im Ge-

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Geb. 1945 in Marburg; Graphiker, Objektkünstler, Filmemacher; lehrt an der Hochschule für bildende Kunst, Hamburg. Biographische Notiz u. Verzeichnis der Ausstellungen in: E. Mitzka 1999. Bibliographie 1912-1967 in: W. Mitzka 1968, 425-447; vgl. Reiffenstein 1988. Geb. 1940 in Lübeck; Autor, Graphiker, Filmemacher, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Trier, lebt in Hamburg. Bio-Bibliographie in: Dencker 1987; 1991; 1998; Blum 2000b, 16. Photodokumentation im Archiv des Verfassers.

Sprache im Alltag, Sprachwissenschaft und Kunst

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brauch besitzen. Der Griff zum Wörterbuch (Duden2) belehrt in vielfaltiger Hinsicht (Wiegand 1998). Fein, heißt es, bezeichne etwas von dünner, zarter Beschaffenheit, aber auch von angenehm zartem Äußeren; es stehe für einfühlsam' und ,exakt', .erlesen' und ,lobenswert', ,anständig' und .elegant' (Duden2, 1056). Stramm dagegen heiße ,straff und ,gesund', ,energisch' und ,forsch', ,streng' und ,tüchtig' (ebd. 3276). Bei glatt denkt man an Gegenstände, die ,ganz eben' sind, aber auch ,rutschig' werden können. Man denkt aber auch an Sachverhalte ,ohne Komplikationen' und an Menschen, die etwas .vollständig beherrschen' oder .übermäßig höflich' sind (ebd. 1347). Schier kann Gold und Fleisch sein. Da bedeutet es ,rein' und .blank', beim Fleisch ,ohne Sehnen und Fett' (ebd. 2919). Grell bezeichnet das blendend Helle, Kontrastreiche und Schrille (ebd. 1391), wacker das Rechtschaffene und Tüchtige (ebd. 3821 f.) und schmuck das Angenehme und Ansprechende (ebd. 2963). Mooi ist ein niederdeutsches, aus dem Niederländischen stammendes Wort, das die Hochsprache nicht kennt,5 und was nett, hübsch, gut oder schnell sagt, weiß ein jeder. Hatte man sich die Bedeutungen der Wörter ins Gedächtnis gerufen, war man dadurch kaum klüger geworden. Eigenschaften werden Gegenständen zuerkannt oder abgesprochen. Aber welches waren die Gegenstände zu den Eigenschaften, auf die diese Wörter zu verweisen schienen? So scheinbar frei und gewissermaßen schwebend, wie sie auf den Fenstern standen, konnten sie nicht gemeint sein. Bezogen sie sich auf verborgene Zusammenhänge, auf das Gebäude, an dem sie zu lesen waren, auf die Literatur oder die bildende Kunst, auf die Empfindungen des Künstlers oder auf die Stadt und ihre Verhältnisse? Die Wörter auf der Fassade waren Äußerungen, die in ihrer Unvollständigkeit nach Ergänzung verlangten. Sie ließen sich, wenn die Ellipsen aufgelöst wurden, als Feststellungen verstehen, als Berichte über Vergangenes, als Prognosen von Künftigem, als Fragen, Wünsche oder auch als Kommentare zu anderen Äußerungen. Sie konnten eine Aufforderung an den flüchtigen Betrachter sein und ebenso ein Ausdruck der Stimmung ihres Urhebers, sie konnten Reste von Inschriften darstellen wie Stückwerk von Parolen. Vor allem aber konnten sie ein Angebot sein, in ein Gespräch einzutreten, über die Wörter und über die Inhalte, die sie andeuteten. Betrachtete man die Fenster von innen, so waren die Wörter mit Ortsnamen konfrontiert: nett mit Iserlohn und Bredstedt, wacker mit Gütersloh, hübsch mit Rohrbach, Nikolaiken, Namslau, Wollstein und Zittau, schnell mit Wongrowitz, mooi mit Meppen, glatt mit Gifhorn, schier mit Labes, grell mit Tuchel, fein mit Euskirchen und Aurich, gut mit Malchow und Mohringen, 5

Mndl. moy, ndl. mooi, mnd. moi(e) .schön', ostfries. möi, in Schleswig-Holstein moi, moje .lieblich, angenehm, bequem, freundlich, hübsch' (Mensing 3, 669); in Mecklenburg mooi, moi ,schön, schmuck, hübsch' (Wossidlo-Teuchert 4, 1252). Duden 2 (2292) bucht mit Verweis auf ostfries. möi und mnd. moi(e) ,schön, angenehm, gut' nur Moin, Moin als norddeutsche Grußformel.

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Hans Peter Althaus

schmuck mit Heide und Stargard, stramm mit Nakel und Gerdauen. 6 Auch hier war man auf Vermutungen angewiesen: Waren oder sind die Gütersloher waker, war es nett in Iserlohn, ging in Gifhorn alles glatt? Wer war schmuck in Heide und Stargard, wer stramm in Nakel und Gerdauen? Vermutungen und Fragen helfen, Eigenschaftswörter und Ortsnamen in einen Zusammenhang zu stellen und so zu ordnen. Sie veranlassen aber auch dazu, Möglichkeiten des Verstehens zu erkunden, Empfindungen zu äußern und Gedanken Raum zu geben. Sie nötigen dazu, aus dem konkreten Vollzug eines fragmentarischen Kommunikationsangebots auf die Gesamtheit zu schließen und sich dadurch seiner Voraussetzungen, Möglichkeiten und Begrenztheiten bewußt zu werden. Mit den auf den ersten Blick scheinbar beziehungslos nebeneinander stehenden sprachlichen Zeichen wird in der bewußten Reduktion ihrer fragmentarischen Verwendung ein ganz wesentlicher Prozeß eingeleitet. Er lenkt den Blick weg von den Agierenden und Reagierenden, von den Absichten und Wirkungen und hin zu den Mitteln, mit denen dies erreicht werden soll. Indem die Wörter hier des Zusammenhangs entkleidet scheinen, in dem sie in der Alltagsrede auftreten, stehen sie für sich selber und so für die Gesamtheit möglicher Gedanken, Empfindungen und Vorstellungen. Aus konkretem Sprachhandeln sind sie übertragen, rubriziert und geordnet wie in einem Wörterbuch. Die Fassade des Literaturhauses war für einige Monate das Symbol eines Tresors der Sprache, der die Instrumente und Relikte des Denkens und Handelns bewahrt. Sie war steinernes Monument und leblos wie ein Lexikon. Wie in einem Wörterbuch standen die Wörter auf den Fenstern, ihres aktuellen Kontextes entkleidet und doch Beziehungen und möglichen Sinn andeutend. Die Fassade war zugleich ein Symbol des Drinnens und Draußens, eines Übergangs, wie ihn auch die Sprache bezeichnet.

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Photodokumentation im Archiv des Verfassers.

Sprache im Alltag, Sprachwissenschaft und Kunst

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Abb. 1: Walther Mitzka, Synonyme zu schön (in: ZDL 37 [1970], 172), zitiert von Ernst Mitzka (in: Heubach 1972).

Damit sehen wir die zwölf Wörter in einem neuen Zusammenhang. Sie sind nicht bloß Relikte konkreten Sprachhandelns, sondern auch Symbole wissenschaftlicher Abstraktion. Im mehrfachen Sinne bilden sie ein sprachliches Feld. Einzeln besetzten sie Wort für Wort die Fenster. Im ganzen besetzten sie die Fassade und rückten so Stockwerke und Räume in Beziehung zueinander. Der Wissenschaft gelten sie als Wortfeld, als Menge gleichartiger Sprachzeichen, die nach syntaktischen oder semantischen Gesichtspunkten bestimmt wird. Und noch in einem anderen Sinne bilden sie ein Feld: als Wörter, die in verschiedenen Gegenden des deutschen Sprachgebiets für ein und dieselbe Eigenschaft verwendet werden, wie dies die Karte angibt (Abb. 1). Als sich die Sprachwissenschaft Ende des 19. Jahrhunderts intensiv um die Erforschung der deutschen Dialekte zu kümmern begann, wurde ein Fragebogen an mehr als vierzigtausend Bürgermeister, Lehrer und Pfarrer ausgesandt mit der Bitte, vierzig kleine Sätze mit Hilfe der jeweiligen Dorfbevölkerung in die Ortsmundart zu übertragen (DSA 1927-1956; dazu W. Mitzka 1952, Wiegand/Harras 1971, 1 Iff.). Dabei tauchten bei dem Satz „Hinter unserem Hause stehen drei schöne Apfelbäumchen mit roten Äpfelchen" für schön ganz unerwartet so viele andere Wörter auf, daß die wissenschaftliche Auswertung fast ein Jahrhundert lang unterblieb. Das Volk hatte den Wissenschaftlern nicht nur schöne Apfelbäumchen genannt, sondern auch feine, hübsche und schmucke, nette, glatte und wackere, stramme, grelle und schnelle. Sogar extra, famos und forsch wurden als mundartliche Entsprechungen des Attributs schön angegeben (W. Mitzka 1970, 174). Daneben wurde aus weiten Teilen des Sprachgebiets nur die Lautform des Wortes schön in der jeweiligen Ortsmundart gemeldet. Da Georg Wenker aber nur Lautvarianten des Wortes schön erwartet hatte, stellte das Ergebnis der Umfrage einen Wissenschaftsunfall dar (W. Mitzka 1950b, 12; 1952, 72; Wiegand/Harras 1971, 28). Erst

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knapp ein Jahrhundert später nahm sich Walther Mitzka, als Begründer des Deutschen Wortatlasses einer der bedeutendsten Kenner deutscher Mundarten, des Materials an und publizierte als Ergebnis seiner Forschungen zusammen mit sprachwissenschaftlichen Erklärungen eine Kartenskizze (W. Mitzka 1970, 173). Sie zeigt, welche Wörter am Ende des 19. Jahrhunderts anstelle von schön in dem angeführten kleinen Satz verwendet worden sind. Da im südlichen Teil des deutschen Sprachgebiets weit weniger Varianten vorkommen, beschränkt sich die Karte auf dessen nördlichen Teil. Mundartliche Lautformen des Wortes schön hatte Wenker jedoch auch mit dem Satz „Sein Bruder will sich zwei schöne neue Häuser in eurem Garten bauen" erfragt. Die Antworten waren separat für den Wortstamm schön(e) und für die Endung (schönje kartiert worden (DSA, Kt. 49 u. 50).7 Obwohl die Gewährspersonen bei fast allen Sprachatlasfragen auch Synonyme genannt hatten (W. Mitzka 1952, 72), bewirkten die achtzehn Wörter, die hier anstelle von schön erschienen, eine relativ starke Störung des erwarteten lautgeographischen Befundes. Es waren dies nett, fein, hübsch, stramm, schmuck, gut, echt, grell, schier, waker, mooi, rar, glatt, staats, schnell, außerdem im Friesischen des Saterlandes froi und flugg sowie kön in Nordschleswig (DSA, Text, 219). Diesen Befund deutete Walther Mitzka (1970) unter sprach- und literaturgeschichtlichen Aspekten und unter Berücksichtigung der Mentalitäts- und Siedlungsgeschichte, wie er es in seinen grundsätzlichen Ausführungen zum Deutschen Sprachatlas (W. Mitzka 1952) und in Musteruntersuchungen zum Deutschen Wortatlas angelegt hatte (ders. 1950a; 1950b). Zu den überraschenden Ergebnissen der inhaltsreichen Schau aus lebenslanger Forschung gehörte die Erklärung des Wortes schnell für ,schön' in der Posener Gegend als Spracherbe niederländischer Wasserbaufachleute, die seit dem 17. Jahrhundert das ungenutzte Bruchland kultiviert hatten (ders. 1970, 179f.). Diese Arbeit seines Großvaters bildete die Grundlage fur Ernst Mitzkas Sprach-Kunst-Werk auf den Fenstern der Straßenfront des Hamburger Literaturhauses. Das tertium comparationis schön klammerte er dabei aus, obwohl es auf der Kartenskizze sogar als mundartliches Heteronym vorkommt. Über den Anspruch des Wissenschaftlers Walther Mitzka ging der Künstler Ernst Mitzka beträchtlich hinaus. Indem er die Wortbelege aus den Eintragungen auf der Karte isolierte und den sprachwissenschaftlichen Argumentationszusammenhang vollkommen außer acht ließ, problematisierte er den Anspruch, der mit dem konkreten Forschungsergebnis verbunden war. Damit stellte er auch den Geltungsanspruch von Wissenschaft überhaupt infrage. In der Tat sind die Ergebnisse sprachgeographischer Forschung, so belangreich sie für einzelne Teilbereiche auch gewesen sein mögen (Besch/Knoop/Putsch-

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Vgl. den Kommentar von Walther Mitzka u. Bernhard Martin in: DSA, Text, Lfg. 8, Marburg 1935, 217-221.

Sprache im Alltag, Sprachwissenschaft und Kunst

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ke/Wiegand 1982), fragwürdig im Hinblick darauf, daß mit gewaltigem Arbeitsaufwand und riesigen Datenmengen aus der Gesamtheit des Sprachhandelns nur einige wenige Phänomene herausgegriffen worden sind. Die Darstellungen auf solchen sprachgeographischen Karten stellen letztendlich nichts anderes dar als eine Zusammenfassung jeweils einmaliger Antworten, die von der Sprachwirklichkeit noch weiter entfernt ist als etwa die Einträge in einem Wörterbuch (vgl. Knoop/Putschke/Wiegand 1982). Die Strukturen der Karten erschließen sich darum nur dem ordnenden Auge des Wissenschaftlers, für den die Karte eher ein Forschungsinstrument als ein Forschungsergebnis darstellt, wie es Walther Mitzka mit seiner sprachsoziologisch orientierten Untersuchung der mundartlichen Heteronyme auf der Wortkarte schön eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. Die künstlerische Nutzung schält das Material nicht bloß aus fragwürdigen Begründungszusammenhängen heraus, sondern macht gerade dadurch die stillschweigenden Voraussetzungen sichtbar, unter denen sich die Tradition dialektologischer und insbesondere sprachgeographischer Forschungsrichtungen und Wissenschaftsschulen über Generationen entwickeln konnte. Dabei übertrug Ernst Mitzka zeichenhafte Fixierungen aus der Wissenschaft in den Handlungsbereich der Kunst. Gerade dieser künstlerische Vorgang verdeutlicht die Notwendigkeiten und die Chancen des Übergangs. Indem Ernst Mitzka die Wörter aus der Sprachkarte nochmals auf die Fenster vereinzelte und ihnen dabei in willkürlich scheinender Auswahl Ortsnamen zuordnete, transferierte er Daten der seiner künstlerischen Arbeit zugrundeliegenden wissenschaftlichen Arbeit vergrößert und vergröbernd in ein anderes Medium. Daß der Betrachter auch hier der Reduktion nicht Folge leisten will, ohne fragend auf das Ganze zu zielen, ist schon eingangs mit einigen Mutmaßungen unterstellt worden. Denn die Teil-Ganzes-Relation, die sich beim Gebrauch der Sprache einstellt, ist auch durch Ernst Mitzkas Selektions- und Isolationsverfahren allenfalls graduell veränderbar, aber nicht prinzipiell aufhebbar. Die Überführung der Sprachzeichen aus der lebendigen Sprachwirklichkeit von Frage und Antwort zwischen Wissenschaftlern und ihren Gewährsleuten in ordnende Beschreibung auf Karten hat Ernst Mitzka mit künstlerischen Mitteln persiflierend nachvollzogen. Er macht damit deutlich, daß Wissenschaft nur Sinn stiftet, wenn der Bezug zum Ganzen nicht verloren geht. Diese Grundposition hat Ernst Mitzka auch in anderen künstlerischen Beiträgen zur Kritik der Wissenschaften zum Ausdruck gebracht, vor allem in seinen Arbeiten zur experimentellen Psychologie (E. Mitzka 1973a; 1973b; 1989). Deren Forschungsergebnisse wurden in künstlerischen Akten impliziter Thematisierung mit Mitteln wie Isolierung, Segmentierung, Fragmentierung, Formatwechsel, farbliche Interpretation und Collagierung infragegestellt. Auch auf das Wortfeld „schön" ist Ernst Mitzkas Blick schon einmal gefallen. In der avantgardistischen Kunstzeitschrift Interfunktionen (Heubach

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Hans Peter Althaus

1972, 173) hat er die wortgeographische Karte von Walther Mitzka bereits kurz nach ihrem Erscheinen als Beilage zu eigenen psychologiekritischen Arbeiten publiziert, ein Fragment ohne Zusammenhang und Kommentar, aber ein Indiz für die frühe Beschäftigung des Künstlers mit dem Thema (E. Mitzka 1972). Mit der Arbeit des Jahres 1988 griff er das Problem wieder auf und versinnbildlichte es in einer neuen und überraschenden Weise. Über der Absicht, mit einer künstlerischen Arbeit auf der Fassade eines bekannten Gebäudes Sprachwissenschaft in den Alltag zurückzuholen, sollte nicht verkannt werden, daß Ernst Mitzka sich damit auch in eine Diskussion einschaltete, in der am Beispiel des Begriffs „schön" Grundfragen der Ästhetik erörtert wurden (Schmidt 1976). Dabei konnte er den sprachgeographischen, lexikologischen und etymologischen Bezugsrahmen souverän mißachten und mit den zwölf mundartlichen Heteronymen einen Kommentar von fast anarchistischer Sprengkraft zur Volksmeinung über das Kunstschöne und zur ästhetischen Debatte um die Begrifflichkeit des Schönen abgeben.

VERS Ε Η Ε l\l

Τ

Abb. 2: Klaus Peter Dencker, VERSTEHEN (1969/2000).

3

Bei seinen Variationen über ein Thema von Walther Mitzka nutzte Ernst Mitzka ein künstlerisches Verfahren, bei dem wie in der Musik das vorgefundene Material in einem höchst schöpferischen Prozess erneuert wird. Daß am Ende dieser stark assoziativ vollzogenen Verwandlung eine Arbeit von künstlerischer Bedeutung entstanden ist, die auch das zugrundeliegende Thema in einem anderen Licht erscheinen läßt, stellt ein Indiz für den Rang des Kunstwerks von Ernst Mitzka wie der sprachwissenschaftlichen Untersuchung von Walther Mitzka dar.

Sprache, Lexikographie, visuelle Poesie

Fassadenkunst in einem noch umfassenderen Sinn bietet das Projekt „Das offene Buch", mit dem Jürgen Blum Werke der konkreten und visuellen Poesie im Weichbild der Stadt Hünfeld verankert (Blum 2000a; 2000b). Unter den ersten ausgeführten Arbeiten befindet sich mit VERSTEHEN auch ein Werk von Klaus Peter Dencker, das der Künstler indes schon 1969 entworfen hat, · 8 und das jetzt eine Giebelwand des Museums Modern Art in Hünfeld ziert. Es zeigt exemplarisch, wie die Bearbeitung des Sprachmaterials in der Art der konkreten Poesie zu Lösungen führt, die neue Facetten des Visuellen er8

Adresse: Hünfelder Straße 25, 36088 Hünfeld. Abb. in Dencker 1999, 84; Blum 2000b, 17.

Sprache im Alltag, Sprachwissenschaft und Kunst

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schließen. Liest man die Inschrift VERSTEHEN in traditioneller Weise von links nach rechts und von oben nach unten, dann ergeben sich sechs Zeilen, in denen nur die erste mit VERS ein Wort enthält. In den fünf anderen Zeilen steht jeweils nur ein Buchstabe: τ, Ε, Η, Ε und Ν. Weicht man aber von der für deutsche Texte üblichen Leserichtung ab und liest von oben nach unten und von links nach rechts, dann ergeben sich fünf senkrechte Zeilen, von denen wiederum nur in der vierten ein Wort enthalten ist. Diese Zeile besteht jedoch aus den Elementen s und EHEN, die durch ein Spatium getrennt sind, und weist damit die Elemente Buchstabe und Wort auf. Die zweite Leserichtung unterscheidet sich von der ersten durch den Wechsel der Priorität bei den Richtungsangaben. Da es sich beim Lesen um eine zweidimensionale Wahrnehmung handelt, genügen zwei Richtungsanzeiger: „von links nach rechts" und „von oben nach unten". Die willkürliche und für das Lesen deutscher Texte allgemein konventionalisierte Reihenfolge dieser beiden Richtungsanzeiger ist lediglich vertauscht, so daß die Anweisung jetzt insgesamt lautet: „von oben nach unten und von links nach rechts". Diese Leserichtung, bei der der Senkrechten gegenüber der Waagerechten Vorrang eingeräumt ist, kommt im deutschen Sprachraum in der Werbung oder bei Buchtiteln vor, stellt aber die Ausnahme und nicht die Regel dar. In anderen Sprachen wie dem Chinesischen steht die senkrechte Anordnung als die ältere Form heute gleichberechtigt neben der waagerechten Schreibung. Ihr Gebrauch im hohen Stil, für herausgehobene Texte oder in der Kalligraphie weist ihr jedoch einen Anwendungsbezirk zu, der sie von der waagerechten Alltäglichkeit unterscheidet. Folgt man bei der Betrachtung der Inschrift VERSTEHEN dieser anderen Leserichtung, dann läßt sich nicht nur das Wort EHEN lesen, sondern auch die Folge s EHEN, bei der das Spatium, wenn es nicht überlesen wird, das Wort SEHEN mit einem Zögern, vielleicht einem Stocken ausstattet. Bei seiner Arbeit VERSTEHEN hat Klaus Peter Dencker den Unterschied zwischen den Leserichtungen aufgehoben und beide Möglichkeiten gleichberechtigt nebeneinander gestellt. Daß er dabei von der üblichen Richtung ausgeht, dient nicht nur dem besseren Einlesen, sondern ist auch Hinweis darauf, daß es hier um eine Problematisierung der Schreib- und Leserichtung durch Infragestellung der Konvention geht. Dabei bildet das τ der zweiten Zeile den Dreh- und Angelpunkt. In seiner Buchstabengestalt vereinigt es die waagerechte und die senkrechte Richtung und ist auf diese Weise sowohl Ausdruck ihres Gegensatzes als auch ihrer Vereinigung. Die Wörter VERS und EHEN werden durch das τ zum Kompositum VERS EHEN kopuliert, VERS-EHEN aber sind als Zweizeiler Verbindungen von Versen, die in der Poetik als Verspaare bekannt sind. Bei VERS EHEN wird die Partnerschaft der beiden Wörter VERS und EHEN in einer Weise gestiftet, die sich gegen die Tradition stellt. Während herkömmliche Verspaare durch ein Mindestmaß an Ähnlichkeit und Gleichheit be-

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stimmt sind, wie sie durch Rhythmus, Reim und andere Mittel erzeugt werden, sind diese beiden Partner sehr verschieden: einsilbig der eine, zweisilbig der andere, einer im Singular allein, der andere im Plural mindestens zu zweien, einer in der Senkrechten, der andere in der Waagerechten. Mit einer Partnerschaft von Gleichgesinnten hat dies wenig zu tun. Die Gemeinsamkeit erschöpft sich in der Zahl der Elemente und in dem E, das in beiden Wörtern vorkommt. Statt Gleichklang der Wortseelen ein Auseinanderstreben in verschiedene Richtungen, als ob hier nicht nur eine einzige VERS-EHE geschieden wäre, sondern die Lebensform der VERS-EHEN sich grundsätzlich überlebt hätte. Weitere Lesarten ergeben sich durch die auf der Wand eingeführte rechtwinklige Leserichtung: zuerst von links nach rechts und dann von oben nach unten. Neben die Wörter VERS, EHEN und SEHEN tritt mit VERS EHEN ein viertes, das als VERS-EHEN, aber auch als VER-SEHEN ausgesprochen werden könnte. VERS-EHEN als ein VER-SEHEN zu bezeichnen, stellt eine Absage an die literarische Tradition dar, wie sie schon Arno Holz mit seiner Befreiung der Wortkunst aus den Zwängen einer überkommenen Poetik propagiert hatte. Einen zusätzlichen Hinweis gibt das isolierte T, das zunächst als Drehpunkt der Leserichtungen identifiziert wurde. Indem das Schriftzeichen diese Funktion ausfüllt, bildet es sie zugleich in seiner Buchstabengestalt ab. Nun kommt ihm eine dritte Aufgabe zu. Durch die Einbeziehung des τ wird aus dem zögerlichen S-EHEN ein stockendes S-T-EHEN. Damit sind zwei Ausdrücke angesprochen, die für die Inschrift VERSTEHEN von Bedeutung sind: SEHEN und STEHEN. Sehen verweist auf den Wahrnehmungsprozeß und damit auf den Rezeptionsaspekt, stehen auf das Vorfindliche und damit auf den Produktionsaspekt. Für sehen haben Grebe/Müller (1964, 572f.) zwei Grundbedeutungen ausgemacht: ,mittels des Gesichtssinnes ins Bewußtsein aufnehmen, geistig erfassen' und ,die Augen auf ein bestimmtes Ziel richten'. Aus der Verkehrssprache sind dazu elf Bedeutungen mit insgesamt einundzwanzig Teilbedeutungen gebucht (Duden2 3057f.). Von ihnen werden etliche aufgerufen, wenn sehen mit den anderen Teilen der Inschrift in einen Kontext gebracht wird. Noch differenzierter ist das Bedeutungspotential des Wortes stehen. Vierundzwanzig Bedeutungen mit insgesamt siebenundzwanzig Teilbedeutungen werden hier für das Deutsche behauptet, von denen die Bedeutungen ,sich an einer bestimmten Stelle befinden', ,auf einer Skala eine bestimmte Stellung haben', ,als Bauwerk vorhanden sein' oder ,in schriftlicher Form vorhanden sein' (Duden2 3231 f.) unmittelbar mit der Inschrift evoziert werden. Die Probleme, die sich bei der Entfaltung des Bedeutungsspektrums ergeben, deutet ein zweites Wortpaar an: VERSEHEN und VERSTEHEN. Dabei wird zunächst das Wort VERSEHEN selbst problematisiert. Durch das Spatium zwischen VERS und EHEN und die Änderung der Leserichtung werden Zweifel oder Ungewißheit ausgedrückt. Das Wort Versehen wird, wenn man es für ein

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Substantiv hält, in der deutschen Sprache gewöhnlich als ,Fehler' oder ,Irrtum' verstanden (Duden 2 3713). Hier aber könnte VERSEHEN auch ein falsches Sehen sein, bei dem die Gewißheit der Wahrnehmung trügerisch ist. Diese Unsicherheit überträgt das VERSEHEN auf den Partner VERSTEHEN, der dem VERSEHEN gleicht, als wär's ein Stück von ihm. Semantisch aber ergibt sich ein noch viel differenzierteres Bild. Mit dem Substantiv Versehen bildet das Verbum versehen ein homophones Paar. Während die Bedeutung des Substantivs, die mit ,etwas, was aus Unachtsamkeit falsch gemacht wurde' umschrieben wird (Duden 2 3713), ziemlich homogen ist, ist das Bedeutungsspektrum des Verbums breit gefächert. Es werden fünf Bedeutungen mit insgesamt zehn Teilbedeutungen unterschieden (ebd.), von denen manche in der Inschrift VERSTEHEN aufgerufen sein können (die im folgenden angeführten Beispiele ebd.). Hier könnte sich ein Vers mit einem Partner versehen haben, wie man sich mit Geld versieht. Es könnte aber auch der Autor die Wand mit Buchstaben versehen haben, wie man einen Text mit Anmerkungen versieht. Wenn er den Vers versehen hätte, wie der Priester einen Kranken versieht, hätte er ihm bald das Sterbeglöckchen zu läuten. Dies könnte der Autor als Aufgabe begreifen, so wie man den Dienst versieht. Bei den Buchstaben hat sich der Künstler offensichtlich nicht in dem Sinne versehen, in dem man sich beim Maßnehmen versehen kann, also ,beim Hinsehen irren'. Wenn er sich bei der Niederschrift versehen hätte, wie sich gewöhnliche Leute beim Ausfüllen eines Formulars versehen, hätte er ,einen Fehler gemacht' und sich damit am Leser versehen wie die Mutter, die etwas an ihrem Kind versieht. Er hätte dann .etwas zu tun versäumt'. Würde er sich auf etwas versehen, dann würde er ,sich auf etwas gefaßt machen'. Hier werden wir mit einer veraltenden Bedeutung des Wortes konfrontiert, die noch in der Formulierung ehe man sich 's versieht aufscheint. Daß auch ein Versehen in Betracht kommt, wie es Goethe in dem Verspaar Totengräbers Tochter sah ich gehn/Ihre Mutter hatte sich an keiner Leiche versehn! (Zahme Xenien VII) gemeint hat, daran denkt heute wohl niemand mehr. Denn hier wird mit dem Verbum ein kaum noch geläufiger Sachverhalt bezeichnet: „(von schwangeren Frauen), durch das Betrachten von etwas, das Hinsehen nach jemandem, etwas die Entwicklung der Leibesfrucht ungünstig beeinflussen, ihr einen Schaden zufügen" (Duden2 3713). Wenn man aber den Autor als Schöpfer oder den Vers als Partner ansieht, dann könnte hier durchaus von einem Versehen in diesem Wortsinne die Rede sein. Und auch die Bedeutung ,übersehen, unbeachtet lassen' ließe sich mit der Inschrift in Verbindung bringen, wenn der Autor an seiner Arbeit nichts versehen hätte, ganz so wie Storm im „Schimmelreiter" wünschte, daß an dem Leichenmahle nichts versehen werde. So reichen die Wirklichkeitsbezüge, wie sie im Wort versehen eingeschlossen sind, von sorgfältiger Ausstattung bis zu Fehlern, von der Herstellung bis zur Wahrnehmung, von der Geburt bis zum Tod. Im VERSEHEN aber ist alles zugleich vieldeutig zur Sprache gebracht.

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Klaus Peter Dencker drückt diese Unbestimmtheit dadurch aus, daß sich zur waagerechten und senkrechten Leserichtung zwei weitere gesellen, „diagonal von links oben nach rechts unten", wie es dem Weg vom S zum Τ entspricht, und „diagonal von rechts oben nach links unten", wie es den Weg vom τ zum Ε bezeichnet. Durch die Einbeziehung des τ wird das VERSEHEN zum VERSTEHEN. Gewißheit gibt es jedoch nicht. Wenn bei VERS-EHEN das Spatium und die Richtungsänderung zwischen der ersten und der zweiten Sequenz von jeweils vier Buchstaben Zweifel begründeten, so sind sie beim VERS-T-EHEN durch zweimalige Richtungsänderung noch verstärkt. Wieder werden mit dem Wort zahlreiche Bedeutungen aufgerufen. Das Bedeutungsspektrum des Verbums verstehen ist noch umfangreicher als dasjenige des Verbums versehen. Im gemeinsprachlichen Wörterbuch werden sieben Bedeutungen mit vierzehn Teilbedeutungen unterschieden (Duden2 3723, dort auch die im folgenden zitierten Beispiele). Zu verstehen wie man jedes Wort versteht, ist die Inschrift VERSTEHEN erst, wenn der Text gesprochen wird. Verstehen wie man eine Frage versteht, könnte man ihn schon, wenn man seinen Sinn erfassen würde. Mit seiner Hilfe könnte auch jemand einem anderen etwas zu verstehen geben und damit andeuten, was er „aus bestimmten Gründen nicht direkt sagen will oder kann" (ebd.). Daß sich das Verstehen der Inschrift (von selbst) versteht, also keiner ausdrücklichen Erwähnung bedarf und selbstverständlich ist, wird man allerdings kaum behaupten können. Vielmehr ist die Inschrift zu verstehen, also ,in bestimmter Weise auszulegen, zu deuten oder aufzufassen'. Vielleicht versteht sich der VERS als ein Partner, der sich ein bestimmtes Bild von sich selbst macht. Von einem Verstehen wie sich unter Kaufleuten Preise verstehen, hält sich dieser Text aber fern. Doch ein Verstehen, das ,sich in jemanden hineinversetzen können und Verständnis für jemanden haben' bedeutet, könnte man sich in einer Verspartnerschaft schon denken. Auch ein Verstehen, das eine Verhaltensweise vom Standpunkt des Betreffenden aus für richtig hält, könnte man sich in VERS-EHEN vorstellen. Die Partner könnten sich verstehen und damit ,ein gutes Verhältnis haben' wie diejenigen, die sich glänzend verstehen. Der Autor aber könnte seine Sache verstehen, also ,gut können, beherrschen', und etwas von visueller Poesie verstehen, d.h. besondere Kenntnisse haben und sich auskennen. Er könnte sich aufs Dichten verstehen, also dazu befähigt sein, und in einem anderen Sinne sich auf Literatur verstehen, also damit gut umzugehen wissen. Daß er sich in einem veraltenden Sinn zur Visuellen Poesie versteht wie man sich zu einer Entschuldigung versteht, also ,sich zu etwas, was man eigentlich nicht täte, doch bereitfindet', wird niemand erwarten, auch nicht, daß er mit der Visuellen Poesie seine Zeit ganz verstanden, also ,durch Stehen vergeudet' hat. Ließen sich vom Verbum versehen noch nahezu alle Bedeutungen auf die Sequenz VERSEHEN anwenden, so passen bei verstehen einige doch so wenig,

Sprache im Alltag, Sprachwissenschaft und Kunst

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daß kaum eine Brücke von den VERS-EHEN ZU ihnen hinüberzuführen scheint. Dafür liefert die Etymologie einen Hinweis. Als Ausgangsbedeutung wird für verstehen ,davor stehen' vermutet (Kluge/Seebold 1995, 861). Wie sich die Bedeutungen entwickelt haben, ist im Detail ungeklärt. Denkbar ist ein Bedeutungsübergang zu ,vor Gericht, vor etwas oder jemandem stehen', ,eine Sache vertreten' und damit ,sie verstehen' oder ,vor einem Objekt stehen' (Duden 2 3723). Aus der Inschrift lassen sich sechs Buchstabensequenzen entnehmen: VERS, EHEN, SEHEN, STEHEN, VERSEHEN und VERSTEHEN. Sie repräsentieren elf Wörter: Vers, Ehen, sehen, Sehen, stehen, Stehen, Vers-Ehen, versehen, Versehen, verstehen und Verstehen (Althaus 1997), von denen sechs auch Eugen Gomringer (2000, 12) liest. Kombiniert man jeweils zwei dieser Wörter, dann ergeben sich eine Reihe von Formulierungen, die als Feststellungen, Aufforderungen, Sentenzen oder Parolen verstanden werden können: Vers sehen, Vers versehen, Vers verstehen, aber auch Ehen sehen, Ehen versehen, Ehen verstehen. Gleiches gilt auch für Sehen verstehen, Stehen verstehen, Versehen verstehen und Verstehen verstehen, so daß Gomringers Auffassung, VERSTEHEN sei „die Zusammenfassung aller Möglichkeiten" (ebd. 12), verständlich wird. Durch Komposition wie bei Ehen-Versehen und Ehen-Verstehen wird die Anzahl der in der Inschrift enthaltenen Sprachzeichen noch vermehrt. Werden Komposita aus zwei Wörtern einbezogen oder drei und mehr Wörter unter Anwendung rekursiver Regeln kombiniert, wächst die Menge der sinnvollen Sequenzen beträchtlich an. Die Formulierung VersEhen sehen könnte bedeuten, Texte in gebundener Sprache wahrzunehmen und zu analysieren. Vers-Sehen verstehen ließe sich als Hinterfragung des Rezeptionsvorganges lesen, Ehen- Versehen sehen könnte meinen, eine Mesalliance aus der Nähe mitzubekommen, Ehen-Versehen verstehen, aufgrund der Lebenserfahrung dafür Verständnis zu haben. Die Inschrift VERSTEHEN von Klaus Peter Dencker enthält also viel mehr, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Während die Fassadenarbeit von Ernst Mitzka nur für einige Wochen zu sehen war, ist Denckers Werk innerhalb des Hünfelders Projekts „Das offene Buch" auf Dauer angelegt. Dessen Initiator Jürgen Blum (2000a, 8) erhofft sich davon eine „Befreiung des Wortes". Wie weit sie ausgreift, welche Anforderungen sie an den Betrachter stellt und welche Prozesse sie in Gang setzt, verdeutlicht Klaus Peter Dencker mit seiner Inschrift auf exemplarische Weise.

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Ergebnisse, Perspektiven

Mit den beiden Kunstwerken wurde die Sprache aus den Dokumentationen der Wissenschaft als Inschrift auf Fassaden in den Alltag zurückgeholt. Ernst Mitzka nahm dazu Leitformen aus einer Wortkarte, Klaus Peter Dencker be-

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nutzte Lemmata aus Wörterbüchern. Dabei zeigen sich die Sprachphänomene in einer ungewohnten und deutungsbedürftigen Seitenansicht. An der Wortkarte seines Großvaters hat Ernst Mitzka wie an anderen wissenschaftlichen Arbeiten sowohl das Graphische als auch das Fragmentarische gereizt. Bei der bildnerischen Bearbeitung und Interpretation dachte er ausschließlich in den Kategorien der bildenden Kunst, wenn er das Wortmaterial für eine von graphischen, farblichen und plastischen Gesichtspunkten bestimmte Anordnung benutzte. Dadurch unterstrich er auch die ästhetische Komponente der Vorlage, deutete auf deren verborgenes Wirkungspotential wie auf die Beliebigkeit des Zeichenträgers und schuf so ein Exempel der bildkünstlerischen Kommunikation, das auch als ein Dokument der Pop Art seit den sechziger Jahren zu verstehen ist. Klaus Peter Dencker hat an seiner Inschrift VERSTEHEN wohl vor allem gereizt, daß sich geschriebene Wörter in der Fläche anders verhalten als in der üblichen linearen Sequenz. Die daraus resultierende Mehr- und Vieldeutigkeit und der Facettenreichtum, der diese kurze Inschrift zu einem vielfältig aufgeladenen, offenen Text macht, zeigen die Möglichkeiten der konkreten Poesie und ihrer Weiterentwicklung in der von Dencker maßgeblich mitbestimmten visuellen Sprachkunst. Obwohl keine Entzifferungsarbeit zu leisten ist, legen beide Werke dem Verstehen Stolpersteine in den Weg. Nachdenken über die Strukturen der Werke, über das zugrundeliegende Material und über die Absichten, die mit beiden Arbeiten verfolgt werden, erzeugt nicht nur Deutungspotentiale, sondern schafft auch Distanz zu eingefahrenen Denkweisen und gewohnten Handlungsmustern. Durch solche Denkanstöße wird die Entautomatisierung des Sprach- und Weltbezugs gefördert, wie sie die Verfechter der konkreten Kunst erstreben (Posner 1980, 692). Was die Wissenschaft durch Abstraktion aus dem Alltag enthob und metasprachlich fixierte, wird hier durch Künstler in den Alltag zurückgebracht. Dort versagen die eingeübten Bewältigungsmechanismen und zwingen zu einer gerade nicht alltäglichen Beschäftigung, wie sie auf ihre Weise auch die Wissenschaft darstellt. Wie festgefahren wissenschaftliche Ergebnisse manchmal sind, wie sehr man sich auf das Überlieferte verläßt, ohne noch einmal nach den Begründungen zu fragen, kann allenthalben in Wörterbüchern beobachtet werden. Für sich sehen hat das Duden-Wörterbuch (2365) u.a. die Bedeutungen Nr. 2b ,durch Sehen, Blicken, Ausschauhalten in einen bestimmten Zustand kommen' und Nr. 6b ,durch Sehen (6a) in einen Zustand kommen' unterschieden. Wem die Bedeutungsumschreibungen nicht genügen, der kann sich an den Beispielen orientieren: er hat sich müde, matt danach gesehen (Nr. 2b) und sich satt, müde [an etw.J sehen (Nr. 6b). Da der Unterschied vielleicht auch der Wörterbuchredaktion zu wenig einsichtig war, wurden in den beiden nachfolgenden Auflagen die Beispiele bearbeitet. Bei der Bedeutung Nr. 2b wurde danach durch Einklammerung fakultativ, so daß nun auch die Formulierung er hat sich müde, matt gesehen als Beispiel ange-

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geben wurde (Duden 2 3057). Das Beispiel für die Bedeutung Nr. 6b wurde nur rhythmisch verändert und lautete von der zweiten Auflage an sich [an etw.J satt, müde sehen (ebd. 3058). Schließlich wurde das Beispiel zur Bedeutung Nr. 2b in der dritten Auflage im Sinne der political correctness modifiziert, so daß es statt er hat sich müde, matt [danach] gesehen (ebd. 3057) nun sie hat sich müde, matt [danach] gesehen (Duden 3 3508) heißt. Was den Bedeutungsunterschied zwischen den Formulierungen sie hat sich müde, matt gesehen und sich satt, müde sehen sowie den Bedeutungsparaphrasen ,durch Sehen, Blicken, Ausschauhalten in einen bestimmten Zustand kommen' und .durch Sehen in einen Zustand kommen' ausmacht, kann die Wörterbuchredaktion auch im dritten Anlauf nur unvollkommen verdeutlichen. Wissenschaftliche Ergebnisse wie solche lexikographischen Buchungen lassen sich offenbar wissenschaftsimmanent nur schwer infragestellen. Hier hilft ein Anstoß zum Nachdenken, wie er von künstlerischen Arbeiten ausgeht, die der Sprache eine Gasse bahnen und so ermöglichen, sie wieder unverstellter in den Blick zu nehmen.

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Literatur

Althaus, Hans Peter (1988): Wacker, nett und grell. Anmerkungen zu Ernst Mitzkas Sprach-Kunst. Hamburg: Literaturhaus [Faltblatt], - (1997): Aspekte der Visuellen Poesie. Klaus Peter Denckers Arbeiten im Kontext avantgardistischer Sprachkunst. Vortrag zur Eröffnung der Retrospektive in der Universitätsbibliothek Trier. Preprint. - (1998): Visuelle Netzwerkpoesie. In: Klaus Peter Dencker: Sequenzen, 5-15. Besch, Werner; Ulrich Knoop; Wolfgang Putschke; Herbert Ernst Wiegand, Hrsgg. (1982): Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. 2 Teilbde. Berlin, N e w York. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. 1.1 u. 1.2). Blum, Jürgen, Hrsg. (2000a): Das offene Buch 1. Hünfeld o. J. - (2000b): Das offene Buch 2. Hünfeld o. J. Dencker, Klaus Peter (1987): Die Reise nach Rom. Siegen (experimentelle texte. 14/15). - (1991): WortKöpfe. Visuelle Poesie 1969-1991. Siegen (experimentelle texte. 26-28). - (1998): Sequenzen. Siegen (experimentelle texte. 51-53). - (1999): Von konkreter zu visueller Poesie - einige Anwendungen im öffentlichen Raum. In: licht + visuelle texte. Projekt im Altstadtkern von Erfurt. Erfurt (Forum konkrete Kunst. Schriftenreihe. 3), 81-89. DSA (1927-1956): Deutscher Sprachatlas, auf Grund des Sprachatlas des Deutschen Reichs von Georg Wenker, begonnen von Ferdinand Wrede, fortgesetzt von Walther Mitzka und Bernhard Martin. Marburg. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. 6 Bde. Mannheim [u.a.] 19761981. - 2., völlig neu bearb. u. stark erw. Aufl. 8 Bde. Mannheim [u.a.] 1993-1995. - 3., völlig neu bearb. u. stark erw. Aufl. 10 Bde. Mannheim [u.a.] 1999. Gomringer, Eugen (2000): Die Visuelle Poesie reicht über Generationen. In: Blum 2000b, 12f.

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ANDREAS GARDT

Beeinflußt die Sprache unser Denken? Ein Überblick über Positionen der Sprachtheorie 1 2

3 3.1

1

Einleitung Der Primat der Sprache in mystisch-magischen und poetologischen Sprachkonzeptionen Der Primat der Sprache in der Sprachtheorie Die Gegenposition: sprachtheoretischer Realismus

3.2 3.3 3.4

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D i e universalistische Linie der Argumentation D i e einzelsprachliche Linie der Argumentation D i e sprachliche Konstruktion des Alltags: Radikaler Konstruktivismus Literatur

Einleitung

Die Frage, ob die Sprache unser Denken beeinflußt, durchzieht die Geschichte der Reflexion über Sprache wie ein roter Faden. Eine positive Antwort auf die Frage - das erklärt ihre immerwährende Aktualität - berührt die Selbstbestimmung des Menschen und seine Stellung in der Welt aufs eindringlichste: In dem Maße, in dem der Mensch nicht mehr Herr seiner Sprache ist, der in souveräner Selbstbestimmung die Wörter und Sätze als Werkzeuge verwendet, um sich die Welt intellektuell anzueigenen und seine Vorstellungen anderen mitzuteilen, beherrscht umgekehrt die Sprache den Menschen, an seinen willentlichen Entscheidungen vorbei. Gerade darum geht es letztlich bei der Frage nach der Konstitution des Denkens durch Sprache, und das scheint sie so faszinierend zu machen: Wird der Sprache ein konstitutiver Einfluß auf das Denken, d.h. auf die Erkenntnis und kognitive Verarbeitung von Wirklichkeit und als Folge auf das menschliche Handeln zuerkannt, dann wird damit zugleich das sicher geglaubte individuelle Verfügen über die Dinge der Welt in Frage gestellt. Das bislang als selbstverständlich vorausgesetzte Verhältnis zwischen Wirklichkeit, Denken und Sprache - die Wirklichkeit ist vorgegeben, das Denken bildet sie ab, und die Sprache wiederum dient der Bezeichnung der Gedanken - wäre in sein Gegenteil verkehrt. Wir wüßten nicht, inwieweit unsere intellektuellen Entscheidungen auf einer objektiven (d.h. durch die Erkenntnisobjekte selbst bedingten), sprachfreien Erkenntnis der Dinge basieren und Manifestation unserer Individualität, unseres Selbst sind, nicht aber irgendwie von der Sprache suggeriert oder gar determiniert. In der

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Andreas Gardt

Geschichte der Sprachreflexion ist dieses Sprachapriori, je nach Position, als geheimnisvoll, als bedrohlich, andererseits auch als selbstverständlich, bisweilen sogar als Voraussetzung zur Gewinnung von Erkenntnis empfunden worden. Den einzelnen Facetten der Annahme von der sprachlichen Konstitution des Denkens soll im folgenden nachgegangen werden. Eine der Leitfragen wird dabei die Rolle der Sprache für die kognitive Handhabung unseres Alltags sein. Zuvor jedoch sei angedeutet, was hier nicht unter sprachlicher Konstitution des Denkens' verstanden wird. Nicht von Interesse ist die offensichtliche Tatsache, daß eine jede sprachliche Äußerung, die wir rezipieren, irgendwie den Inhalt unseres Bewußtseins verändert. Wenn z.B. ein in der Flora Europas wenig bewanderter Sprecher einen anderen fragt, was eine „Erle" sei, und der ihm antwortet „Eine Erle ist ein Baum, der zur Gattung der Birken gehört", dann ist das Denken des Fragenden - einmal vorausgesetzt, er glaubt dem Befragten 1 - durch die sprachliche Äußerung von nun an ein anderes, eben in bezug auf den Gegenstandsbereich Bäume. Unter ,sprachlicher Konstitution des Denkens' soll also nicht die Veränderung von Bewußtseinsinhalten durch die Inhalte von Aussagen verstanden werden. In der Geschichte der Sprachreflexion wird eine Konstituierung des Denkens mittels Sprache in aller Regel mit Blick auf eine Ebene diskutiert, die der Ebene der expliziten Aussage vorangeht: die Ebene des einzelnen Wortes (gemeint sind im Grunde nur Wörter mit lexikalischer, begrifflicher Bedeutung) und die Ebene der grammatischen Strukturen. Die eigentlich interessanten Aspekte der sprachlichen Konstitution des Denkens liegen im Bereich des Sprachsystems, nicht der Verwendung von Sprache, wo sie mehr oder weniger offensichtlich sind.

2

Der Primat der Sprache in mystisch-magischen und poetologischen Sprachkonzeptionen

Zu Anfang sei hier ein Bereich der Sprachreflexion angsprochen, in dem zwar weniger ein Einfluß von Sprache auf die Inhalte und Abläufe der Denkvorgänge angenomen wird, aber doch Sprache als dem Bewußtsein apriorisch gilt. Gemeint sind verschiedene metaphysisch geprägte Konzeptionen von Sprache, im deutschsprachigen Raum vor allem die Sprachmystik. Grundsätzlich gehen sprachmetaphysische Auffassungen davon aus, daß Sprache die phylogenetische Entwicklung der Menschheit nicht begleitet, sondern dem Menschen als Spezies wie auch dem einzelnen Individuum vorgegeben ist, da sie nicht das bloße Produkt seines rationalen Wollens und Wirkens oder der 1

Auf die Bedingungen, die für das kommunikative Funktionieren einer Äußerung gelten, wie Freiheit von Lüge, inhaltliche Angemessenheit etc., soll hier nicht eingegangen werden. Dazu sei verwiesen etwa auf John Searles Speech Acts (1969) und auf H. P. Grices Logic and Conversation (1975).

Beeinflußt die Sprache unser Denken?

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gesellschaftlichen Konvention ist. Begründet wird dies mit der vermeintlichen Existenz einer einheitlichen Ursprache des Paradieses, die durch menschliche Schuld - zunächst durch den Sündenfall, dann durch den Turmbau zu Babel, der zur Sprachverwirrung führte - verlorenging, sich aber in Überresten in den Sprachen der Menschheit wiederfindet. Dem tief Gläubigen aber können sich die in den Gemeinsprachen der Welt verborgenen Geheimnisse offenbaren. Der Görlitzer Visionär Jakob Böhme etwa praktiziert zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine Art transzendente Phonetik, indem er, unter Rückgriff auf Verfahren der jüdischen Geheimlehre der Kabbala, die Lautung deutscher Wörter auf ihren vermuteten metaphysischen Gehalt hin interpretiert (1612, 18, 62ff.): Das Wort .Himmel' fasset sich im Herzen, und stösset bis auf die Lippen, da wird es verschlossen: Und die Silbe ,Mel' macht die Lippen wieder auf, und wird mitten auf der Zungen gehalten, und fähret der Geist auf beyden Seiten der Zungen aus dem Maule.

Es wird deutlich, wie der Autor verfahrt: Das Wort Himmel wird als sozusagen transzendent motiviert verstanden, da seine Ausdrucksseite auf vermutete metaphysische Geheimnisse verweist. So zeige etwa der Verschluß der Mundhöhle durch das [m] der ersten Silbe Hirn-, daß durch die „greuliche Sünde" der Geist Gottes nicht mehr ungehindert durch den Menschen strömen könne. Daß aber Gott die Pforten des Himmels wieder für den Menschen geöffnet habe, verdeutliche die anschließende Öffnung der Okklusion in der Folgesilbe -mel, so daß der Geist Gottes nun erneut in die Welt strömen könne. Böhmes Lautdeutungen illustrieren einen Umgang mit Sprache, der in der Geschichte der Sprachreflexion zumindest bis in die säkularisierende Aufklärung immer wieder begegnet. Kennzeichen dieses Sprachdenkens ist die Annahme, daß Sprache durch ihre letztlich göttliche Herkunft mehr ist, als was sie uns im Alltag des Sprechens erscheint. Hinter der Sprache des Alltags, mit ihrer konventionellen Struktur und Semantik, ist eine zweite, eigentlichere Sprache metaphysischer Wahrheiten angesiedelt, die dem Menschen von alters her vorgegeben ist, wie ja auch am Anfang aller Dinge das Wort stand (In principio erat verbum ..., Prolog des Johannes-Evangeliums). Wer Sprache als bloßes Werkzeug der Individuen und ihrer Gemeinschaften begreift, ignoriert diese göttliche Sprache, die der Mensch mit seinem säkularen Denken ohnehin nicht zu kontrollieren vermag. Allenfalls verstehend nachvollziehen kann er sie. Eine derartige Sprachauffassung ist das Gegenteil des aufklärerischen Ideals der semantisch durchsichtigen, zeichentheoretisch arbiträren, vollständig der gesellschaftlichen Konvention anheimgestellten Sprache, die in allen ihren Aspekten vom Menschen kontrolliert wird und nie mehr sein kann, als das, was der Mensch aus ihr macht. Die Vorstellung, daß Sprache zwar nicht das Denken des Menschen explizit prägt, aber doch zugleich auch nicht bloßes Produkt dieses Denkens ist,

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Andreas Gardt

verliert, wie angedeutet, in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts ihren mystischen Charakter, besteht jedoch in einer säkularisierten Form fort. Ein Blick auf die Sprachkonzeption des Romantikers Friedrich von Hardenberg (Novalis) soll das verdeutlichen. Im „Monolog" von 1798/1799 schreibt Novalis: Der lächerliche Irrtum ist nur zu bewundem, daß die Leute meinen - sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß keiner. Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Geheimniß, - daß, w e n n einer blos spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, originellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas Bestimmten sprechen, so läßt ihn die launige Sprache das lächerlichste und verkehrteste Zeug sagen.

Auch für Novalis ist die alltagssprachliche Referenzleistung der Sprache, durch die wir unseren Zugriff auf die Welt zu sichern glauben, sekundär zu einer Art Offenbarungsfunktion. Wer sich der Sprache anvertraut, den wird sie Wahrheiten aussprechen lassen, die er in einem von bloßer Bezeichnungsund Mitteilungsabsicht geleiteten Umgang mit ihr nie erfahren würde. Die konventionelle Semantik und die Aufgabe der zwischenmenschlichen Kommunikation treten hinter die Möglichkeit zurück, auf einer irgendwie tiefer anzusetzenden, dem rationalen Zugriff entzogenen Ebene der Sprache die eigene Erkenntnis über die Zusammenhänge der Welt zu mehren. Hinter der romantisierenden Beschreibung läßt sich eine Sprachkonzeption erkennen, die in Dichtungstheorien bis in die Gegenwart hinein immer wieder anklingt. Ihr Kennzeichen ist, daß die bedeutendste Dimension der Sprache jenseits des durch Regel und Konvention erfaßten alltäglichen Bereichs gesehen wird. Für den Umgang mit Sprache sowohl durch den schaffenden Dichter als auch durch den Verstehenden ist wichtig, daß er die Wörter nicht einfach gemäß ihrer alltagssprachlichen Referenzleistung verwendet bzw. interpretiert, sondern Sprache als ein mehr oder weniger autarkes Sinnsystem begreift („ein Welt für sich", Novalis, ebd.), dessen Konstituenten sich nicht darin erschöpfen, die Dinge in ontischer Objektivität abzubilden. Vielmehr semantisieren sich die Elemente dieses Systems gegenseitig, entsteht Bedeutung maßgeblich im Wechselspiel der Wörter und grammatischen Formen. Diesen Zusammenhang vermag nur derjenige zu erkennen, der die Wörter nicht auf ihre konventionelle Bedeutung reduziert, sondern mit ihnen assoziativ umgeht, im Sprachschaffen wie in der Lektüre. Nur in ihrer weniger bedeutenden, zur Verrichtung der Alltagsgeschäfte dienenden Dimension ist Sprache durch ihre Sprecher kontrollierbar, dient sie dem bloßen Ausdruck und der Kommunikation ihres Denkens. In denjenigen ihrer Momente aber, in denen sie über Regel und Konvention hinausgreift, leitet Sprache gewissermaßen das Denken der Sprecher, sei es, daß sie ihnen Einsichten in metaphysische Zusammenhänge erlaubt (Sprachmystik), sei es, daß sie sie eher säkulare Zusammenhänge intensiver erkennen läßt (Novalis' Weltseele) oder auch ,nur' ein ästhetisches Erleben ermöglicht. Aus dieser Sicht muß das Sprachverständnis der modernen Pragmatik, mit ihrer Konzentration auf das Funk-

Beeinflußt die Sprache unser Denken?

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tionieren des kommunikativen Austausche zwischen den Sprechern, als unzulässige Reduzierung der Möglichkeiten von Sprache erscheinen. Im 20. Jahrhundert begegnet ein solcher Sprachbegriff in Theorien, deren Gegenstand die Schöne Literatur ist, dort natürlich ohne jede metaphysische Einfärbung. Als Beispiel sei der Dekonstruktivismus erwähnt, der die wechselseitige Semantisierung der Sprachzeichen im Text (bzw. zwischen den Texten eines Autors, zwischen den Texten einer Zeit, einer Kultur) hervorhebt (vgl. Derridas Betonung der differance, die zwischen den Sprachzeichen besteht und Bedeutung erst ermöglicht). Damit wird der Text zugleich als ein Gebilde betrachtet, das insofern autonom, d.h. von seinem Produzenten gelöst ist, als seine Bedeutung nicht mehr vollständig vom Autor kontrolliert werden kann (vgl. Derrida 1967 u. 1977). Der Autor steht - wie jeder Leser - im Schnittpunkt unterschiedlichster kultureller und sozialer Prägungen und Einflüsse, die ihm nur zum geringen Teil bewußt sind, die aber in sein Werk einfließen. Auch hier also wird die Möglichkeit einer von der Ratio getragenen vollständigen Beherrschung der Sprache mehr oder weniger pointiert geleugnet, Sprache und die in ihr verfaßten Texte gelten den Sprechern gegenüber zumindest in Teilen als autonom. Und auch hier erscheint die Sprache des Alltags als eine irgendwie reduzierte Sprache, hinter der eine eigentlichere Sprache erst die wirklich interessanten Möglichkeiten für den Menschen bereithält.

3

Der Primat der Sprache in der Sprachtheorie

3.1

Die Gegenposition: sprachtheoretischer Realismus

In der allgemeinen Sprachtheorie und in der Sprachphilosophie gehört die Diskussion über die Beeinflussung des Denkens durch die Sprache zu den klassischen Themen. Insgesamt setzt diese Diskussion erst in der Frühen Neuzeit ein. Zwar beschäftigen sich auch frühere Autoren mit dem Thema, doch geschieht das unter der allgemeineren Fragestellung einer Korrelation von Sprache und Denken, wobei zwar gelegentlich eine Strukturgleichheit beider Bereiche angenommen wird, aber keine explizite Steuerung kognitiver Vorgänge durch Sprache. Im Gegenteil wird das erkenntnistheoretische Apriori in diesen realistischen Konzeptionen bei den Dingen gesehen. Im weitesten Sinne handelt es sich dann um abbildtheoretische Vorstellungen, die die Einheiten des Bewußtseins (conceptus, conceptiones, ideae, notiones etc.) auf die Gegenstände und Sachverhalte der Wirklichkeit (res) bzw. auf deren Eigenschaften (proprietates rerum) zurückführen und die Sprachzeichen (verba, voces, dictiones etc.) wiederum als Bezeichnungen der mentalen Einheiten verstehen. Bei präziser und sachadäquater Zuordnung von Gegenstand, mentaler Abbildung und sprachlichem Zeichen - idealiter handelt es sich um ein

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l:l:l-Verhältnis - lassen sich die sprachlichen Zeichen auch als Stellvertreter der Dinge lesen. Ausgangspunkt solcher Ansätze ist meist die Überlegung, daß alle Menschen aufgrund universeller Prinzipien der Kognition die Wirklichkeit in prinzipiell identischer Weise wahrnehmen. Daß dem so ist, scheint gerade die Erfahrung der alltäglichen Sprachpraxis immer wieder aufs neue zu belegen: Würden wir nicht die Dinge zumindest in hinreichend identischer Weise wahrnehmen und kognitiv erfassen, und würde, in einem zweiten Schritt, die Alltagssprache die erkannten Gegenstände und Sachverhalte nicht in hinreichend präziser, sachlich korrekter Weise bezeichnen, wie ließe sich dann das täglich erfolgreiche Kommunizieren und damit das erfolgreiche handelnde Verfügen über die Dinge erklären? Als Problem bleibt allenfalls zu klären, wieso - wenn doch die Vorgänge der Kognition universell sind und die sprachlichen Einheiten und Strukturen die Inhalte des Bewußtseins sachadäquat abbilden - die Sprachen der Welt Unterschiede aufweisen bzw. wieso trotz dieser Unterschiede der Zugriff auf die Dinge mittels der Sprache immer wieder und unabhängig von der Einzelsprache funktioniert. Eine mögliche Antwort bietet die Differenzierung in eine tiefenstrukturelle Substanz, die in allen Sprachen identisch ist, und in oberflächenstrukturelle Akzidenzien, die von Sprache zu Sprache verschieden sind. Eben das ist der klassische Ausweg aus der vermeintlichen Unvereinbarkeit der Sprachenvielfalt mit der Annahme der Universalität der Kognition und der Abbildqualiäten der Sprachen, und schon im 13. Jahrhundert stellt Roger Bacon fest, daß die grammatische Struktur aller Sprachen ein und dieselbe sei, während die Unterschiede zwischen ihnen nebensächlicher Natur seien („grammatica vna et eadem est secundum substantiam in omnibus Unguis, licet accidentaliter varietur", Bacon 1902, Kap. II, [xvii]). So gilt z.B. bei vielen Autoren die Auffächerung in Substantive, Verben und Adjektive oder auch in Subjekt, Prädikat und Objekt als der tiefenstrukturellen Substanz von Sprache angehörig und damit als universell, bestimmte Kennzeichen der Flexion dagegen als je nach Einzelsprache verschieden und damit als akzidentell. Viele Autoren dieser sprachtheoretischen Tradition berufen sich bei ihren Überlegungen auf Aristoteles. In „De interpretatione" heißt es über das Verhältnis zwischen Vorstellungen, Sprachzeichen und Gegenständen der Wirklichkeit (1974, 94): Es sind also die Laute, zu denen die Stimme gebildet wird, Zeichen der in der Seele hervorgerufenen Vorstellungen, und die Schrift ist wieder ein Zeichen der Laute. Und wie nicht alle dieselbe Schrift haben, so sind auch die Laute nicht bei allen dieselben. Was aber durch beide an erster Stelle angezeigt wird, die einfachen seelischen Vorstellungen, sind bei allen Menschen dieselben, und ebenso sind es die Dinge, deren Abbilder die Vorstellungen sind.

Die Dinge und die Vorstellungen von den Dingen sind universell, die Unterschiede liegen lediglich in den Ausdrucksseiten der Sprachzeichen. Auf die

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Frage einer möglichen Kongruenz zwischen der mentalen und der sprachlichen Ebene geht Aristoteles nicht ein, doch wird er meist eben so interpretiert. Das Resultat ist eine Art Sachsemantik, die in ihrer schlichtesten Ausprägung die Wörter mit den Dingen identifiziert und hinter den sprachlichen Kategorien ontische annimmt: Substantive gibt es in der Sprache deshalb, weil es Gegenstände und Sachverhalte in der Wirklichkeit gibt, Verben deshalb, weil es Handlungen und Vorgänge gibt, Adjektive, weil Dinge Eigenschaften besitzen etc. Wenn sich auch die Grammatiker und Sprachtheoretiker schon früh der Tatsache bewußt waren, daß die Kongruenz zwischen Wirklichkeit, Denken und Sprache häufig nur eine ideale ist und von einer sprachlichen Kategorie nicht naiv auf eine Kategorie der Wirklichkeit geschlossen werden darf - man denke nur an Erscheinungen wie Polysemie und Synonymie oder an Substantivierungen, die eigentlich eine Handlung anzeigen (Typ: das Laufen) - , steht insgesamt doch außer Frage, daß in abbildtheoretischen Vorstellungen der hier diskutierten Art immer wieder versucht wird, die Kategorien der Sprache an die Kategorien der Wirklichkeit zurückzubinden. Es gibt nun einmal .gewisse allgemeine Eigenschaften' der Dinge („quasdam proprietates communissimas", Thomas von Erfurt 1972, Kap. 8), wie Substantialität oder Temporalität, die bestimmte sprachliche Kategorien notwendig machen. Nicht weniger offensichtlich zeigt sich das im lexikalischen Bereich, wo die Existenz von Wörtern einfach damit begründet wird, daß es die durch ein betreffendes Wort bezeichnete Sache gibt. In jedem Fall gilt die Wirklichkeit dem sie abbildend erfassenden Denken als vorgegeben und die Sprache wiederum als Spiegel und Ausdruck dieses Denkens. Der umgekehrte Weg, der eine Konstitution des Denkens und damit von Wirklichkeitsabbildern - was für die Sprecher und Sprachgemeinschaften immer auch bedeutet: von Wirklichkeit durch Sprache annimmt, ist in dieser Konzeption nicht vorgesehen. Abbildtheoretische Sprachkonzeptionen dominieren bis ins späte 17. Jahrhundert. Stellvertretend für viele Äußerungen sei eine Bemerkung des Pädagogen, Theologen, Sprachdidaktikers und -theoretikers Johann Arnos Comenius zitiert, der in seiner „Didactica magna" von 1657 feststellt: „Die Dinge sind an sich, was sie sind, auch wenn keine Vernunft oder Sprache sich mit ihnen verbindet. Die Vernunft und die Sprache aber drehen sich nur um die Dinge und sind ganz von ihnen abhängig" (30/5). Auch wenn ab dem 18. Jahrhundert vermehrt alternative Positionen formuliert werden, begegnet diese Überzeugung von der Vorsprachlichkeit des Denkens und damit von der sprachunabhängigen Existenz und Erkenntnis der Dinge bis in die Gegenwart. Außerhalb der Sprachwissenschaft dominiert sie ohnehin - die Ansicht, das, was wir für Wirklichkeit halten, könnte durch die Struktur unserer Sprachen bedingt sein, läßt sich auf den ersten Blick nur schwer mit der sinnlichen Präsenz der Dinge unserer Erfahrungswelt vereinbaren. Das immer wieder erlebte reibungslose Kommunizieren über die Dinge der Welt in der Alltags-

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spräche scheint gar keine andere Sicht von Sprache als die realistische zu erlauben. Selbst innerhalb der Wissenschaften wird sie nach wie vor gelegentlich formuliert. Als Beispiel sei die materialistische Abbildtheorie genannt, in der ein „Primat der objektiven Wirklichkeit gegenüber dem Bewußtsein und der Sprache" angenommen wird, Welterkenntnis also nicht als sprachgebunden begriffen wird, sondern als entstanden auf der Basis einer sprachunabhängigen „Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit" im Bewußtsein (Kade 1971). Von all dem abgesehen aber ist es ohne Frage ein Kennzeichen der Moderne, daß realistische Sprachkonzeptionen zumindest innerhalb der Wissenschaften zunehmend durch relativistische verdrängt werden, durch solche also, die die Welterkenntnis und den Ablauf der Denkvorgänge relativ zur lexikalischen und grammatischen Struktur von Sprache beschreiben. Solche relativistischen Konzeptionen begegnen in unterschiedlichen Formen; unter systematischen Gesichtspunkten bietet sich eine Unterscheidung in universalistische und einzelsprachliche an. 3.2

Die universalistische Linie der Argumentation

Universalistische Theoriebildung und Überlegungen zur Allgemeinen Grammatik gab es in der Geschichte der Sprachreflexion schon früh. Dabei sind die einschlägigen Äußerungen keineswegs alle relativistischer Natur, gerade im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit werden sie häufig mit einer realistischen Sprach- und Erkenntnistheorie verbunden (vgl. Gardt 1994, 262ff). Anders verhält es sich mit Sprachtheoretikern, die in den Umkreis des frühen kontinentalen Rationalismus sowie in den des angelsächsischen Empirismus gehören. Für den Mathematiker und Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz etwa steht außer Frage, daß Sprache nicht nur die Funktion der Mitteilung, sondern auch die der klärenden Strukturierung des Denkens hat. Komplexes Denken ist nach Leibniz ohne die kognitive Leistung der Sprache nicht möglich; die Sprachzeichen bündeln die Merkmale der Dinge und dienen als mentale Münzen, mit denen man intellektuell handeln kann (1697, 328f.): 5. Es ist aber bey dem Gebrauch der Sprache auch dieses sonderlich zu betrachten, dass die Worte nicht nur der Gedancken, sondern auch der Dinge Zeichen seyn, und dass wir Zeichen nöthig haben, nicht nur unsere Meynung andern anzudeuten, sondern auch unsern Gedancken selbst zu helffen. Denn gleichwie man in grossen Handels-Städten, auch im Spiel und sonsten nicht allezeit Geld zahlet, sondern sich an dessen Statt der Zeddel oder Marcken biss zur letzten Abrechnung oder Zahlung bedienet; also thut auch der Verstand mit den Bildnissen der Dinge, zumahl wenn er viel zu dencken hat, dass er nehmlich Zeichen dafür brauchet, damit er nicht nöthig habe, die Sache iedesmahl so offt sie vorkommt, von neuen zu bedencken. Daher wenn er sie einmahl wohl gefasset, begnügt er sich hernach offt, nicht nur in äusserlichen Re-

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den, sondern auch in den Gedancken und innerlichen Selbst-Gespräch das Wort an die Stelle der Sache zu setzen. [ . . . ] 7. Daher braucht man offt die Wort als Zifern oder als Rechen-Pfennige an statt der Bildnisse und Sachen, biss man Stuffenweise zum Facit schreitet und beym Vernunfft-Schluss zur Sache selbst gelanget. Woraus erscheinet wie ein Grosses daran gelegen, dass die Worte als Vorbilde und gleichsam als Wechsel-Zeddel des Verstandes wohl gefasset, wohl unterschieden, zulänglich, häuffig, leichtfliessend und angenehm seyn.

Die Wortmarken erlauben es uns also, über die Gegenstände und Sachverhalte der Welt zu reflektieren und uns über sie auszutauschen, ohne daß wir uns jedesmal des gerade aktuellen Gegenstands der Reflexion in seiner ganzen Komplexität, in allen seinen Eigenschaften bewußt sein müssen. Wer z.B. jemandem mitteilt, an einem bestimmten Baum stehe ein Bank, der muß nicht während der Äußerung ein differenziertes Bild eines Baumes, einer Bank oder des Zustands des Stehens einer Bank vor Augen haben. Ohne Sprache, die das eigentliche Medium unseres Denkens ist, kämen wir sozusagen mit unseren Gedanken nicht vom Fleck und könnten „niemals etwas deutlich denken noch schließen" (1677, 191). Zugleich bedeutet das aber, daß die Qualität des Denkens auch von der Qualität der Sprache abhängt: Eine unpräzise Sprache erlaubt kein wirklich exaktes Denken. Und genau das begrenzt die sprachlichkognitiven Möglichkeiten der natürlichen Sprachen: Im sprachlichen Alltag sind Erscheinungen wie Synonymie, Polysemie, semantische Vagheit, überhaupt die Offenheit zu den unterschiedlichsten Formen des Sprachgebrauchs und damit auch des Sprachwandels nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Als Mittel präziser sprachgestützter Reflexion taugt die Alltagssprache kaum. Mit diesen Überlegungen steht Leibniz nicht allein. In England äußert sich John Locke in seinem „Essay Concerning Human Understanding" von 1689 in ganz ähnlicher Weise, und schon 1605 hatte Francis Bacon erkannt, daß die Wörter die amorphe Wirklichkeit für den kognitiven Zugriff notwendig gliedern ( „verba res secant", die Wörter zerschneiden die Dinge, Aphorismus 59), so daß nun die Sprache wieder auf unser Denken zurückwirkt, im Positiven wie im Negativen: Zum einen unterstützt bzw. konstituiert die Sprache die Kognition, zum anderen behindert sie sie. Dennoch gehen weder Leibniz und Locke, noch andere zeitgenössische Autoren von einer regelrechten Determiniertheit des Denkens durch Sprache aus. Trotz der erkenntnistheoretischen Rolle der Sprache verhält es sich nicht so, daß „die Dinge [...] daran gehindert werden, vom Verstand unabhängige reale Wesenheiten zu haben, und wir, sie zu erkennen" (Leibniz 1704, III, VI, 27). Das wissenschaftliche Experiment oder das den Gesetzen der Logik folgende Denken vermögen eben das zu leisten - vorausgesetzt allerdings, daß die sie begleitende und stützende Sprache entsprechende Qualitäten aufweist. Den natürlichen Sprachen sind dabei, wie angedeutet, Grenzen gesetzt, und so werden schon vom 17. an immer wieder künstlich verfaßte, logisch-analytische Sprachen gefordert, die aufgrund ihrer wohldefinierten Bedeutungsrelationen und durchsich-

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tigen syntaktischen Konstruktionen eben jenes präzise Denken ermöglichen sollen. Bereits Rene Descartes hatte 1629 eine solche Sprache verlangt, die es fast unmöglich macht, sich in ihr zu irren („impossible de se tromper"; 1629, 231). Im Gegenteil wird die Urteilskraft (,jugement") der Menschen durch diese Sprache gestärkt. Trotz des hier anklingenden Erkenntnisoptimismus, wie er das sich in dieser Zeit herausbildende mathematisch-naturwissenschaftliche Erkenntnisideal kennzeichnet, wird in den zitierten Äußerungen eine deutliche Sprachskepsis sichtbar. Immer wieder warnen die Autoren davor, die Ebene des Sprachlichen und des Ontischen unkritisch miteinander zu identifizieren, die Wörter im Sinne einer naiven realistischen Abbildtheorie einfach für die Dinge zu halten. Die erkenntnistheoretisch fragwürdige Alltagssprache muß diszipliniert werden, um das Denken nicht zu behindern, sondern um ihm zu dienen, sei es als semantisch und syntaktisch klar strukturierte Fachsprache, sei es als logische Kalkülsprache. Diese Sprachskepsis (d.h. die Skepsis gegenüber der Alltagssprache) und mit ihr die Überzeugung von der kognitiven Dimension der Sprache setzt sich bis in das 20. Jahrhundert fort, wo sie am prägnantesten in den Arbeiten der analytischen Sprachphilosophie, insbesondere in der Ideal Language Philosophy, zum Tragen kommt. In den Schriften Bertrand Russells, des frühen Ludwig Wittgenstein, Orman Quines und anderer wird zum einen die erkenntniskonstituierende Dimension der Sprache betont, zugleich das Ideal einer höchsten Exaktheitsansprüchen genügenden Sprache formuliert. Wittgensteins berühmte Forderung, die „Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache" mit der Philosophie zu bekämpfen (1945, §109), seine hohe Bewertung der Logik, die für ihn „transzendental", also Voraussetzung zur Welterkenntnis ist (1921, 6.13), überhaupt der ganze argumentative und sprachliche Duktus des „Tractatus logico-philosophicus" lassen den gleichen Erkenntnisoptimismus erkennen, der auch die Arbeiten der frühen Rationalisten kennzeichnet. „Jetzt verstehen wir auch unser Gefühl", schreibt Wittgenstein im „Tractatus", „daß wir im Besitz einer richtigen logischen Auffassung seien, wenn nur einmal alles in unserer Zeichensprache stimmt" (4.1213). Diese Überlegungen zu den Möglichkeiten einer idealen Sprache gehen, wie erwähnt, mit einer Geringschätzung der epistemologischen Möglichkeiten der Alltagssprache einher. Erst die Wende zur Pragmatik, mit ihrer Hinwendung zur Sprache des täglichen Umgangs, führt zu deren Aufwertung, und es ist beachtlich, daß Wittgenstein durch seine „Philosophischen Untersuchungen" selbst maßgeblich dazu beigetragen hat. 3.3

Die einzelsprachliche Linie der Argumentation

In der sprachtheoretischen Beschreibung gilt vieles, was zu den universalistischen Ansätzen gesagt wurde, auch für die einzelsprachlichen. Häufig sind es

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dieselben Autoren, die sich zu beiden Aspekten der sprachlichen Verfaßtheit des Denkens äußern. So beginnt etwa Leibniz seine bereits zitierten Ausführungen zur kognitiven Funktion der Sprache mit diesem Satz (1697, 327): 1. Es ist bekandt, dass die Sprach ein Spiegel des Verstandes, und dass die Völcker, wenn sie den Verstand hoch schwingen, auch zugleich die Sprache wohl ausüben, welches der Griechen, Römer und Araber Beyspiele zeigen.

Von dieser allgemeinen Korrelierung des kognitiven Leisungsvermögens eines Volks mit seiner Sprache geht Leibniz auf das Deutsche über, für das er Lücken im Wortschatz einiger Wissenschaftssprachen feststellt. Solange die Terminologie der Mathematik, der Philosophie und einiger anderer Disziplinen nur auf Latein vorliegt, kann man sich auf Deutsch nicht über den betreffenden Sachverhalt intellektuell auseinandersetzen. Für so etwas wie das intellektuelle Niveau des ganzen Volks - dessen Mitglieder in aller Regel des Lateinischen nicht mächtig sind - ist es also nützlich, wenn die Bürger durch deutsche Fachwortschätze einen Zugriff auf die fachlichen Gegenstände bekommen, um über den Sachverhalt mitdenken und mitreden zu können. Bei Leibniz verbindet sich das aufklärerische Bildungsideal mit dem nationalen Anliegen des Ausbaus der Muttersprache in einer Weise, die die sprachtheoretische Überzeugung vom prägenden Einfluß der Sprache auf das Denken deutlich erkennen läßt. Dabei wird die Gemeinsprache nicht mehr rundweg kritisiert: Um den Alltag zu beherrschen, muß sie lediglich in richtige Bahnen gelenkt, vor allem lexikalisch ausgebaut und grammatisch eindeutig kodifiziert werden. Eine logische Kalkülsprache käme ohnehin nur für wenige, eng umgrenzte fachliche Situationen in Frage. Wichtig bleibt allerdings, stets darauf zu achten - so der Frühaufklärer Christian Wolff - nicht „leere Wörter, mit denen kein Begrif verknüpfet ist, für Erkäntniß [zu] halten, und Wörter für Sachen aus[zu]geben" (1720, §320). Was bei Leibniz und Wolff insbesondere mit Blick auf die Lexik einer Sprache formuliert wird, begegnet bei anderen Autoren in bezug auf die Syntax. Vor allem im Frankreich des 18. Jahrhunderts werden einschlägige Debatten geführt, in denen es um die Relationen zwischen der Ordnung der Gegenstände und Sachverhalte der Wirklichkeit, der Ordnung der mentalen Abbilder und der Ordnung der Glieder im Syntagma geht. Im einzelnen interessiert die Frage nach dem ordre naturel, d.h. die Frage, ob es Sprachen gibt, deren Satzgliedfolgen der Sequenz der Gedanken und der Ordnung der außersprachlichen Sachverhalte mehr entsprechen als andere. Solche Sprachen wären dann natürlicher, weil den ontischen Gegebenheiten näher (von deutscher Seite aus vgl. etwa die Ausführungen in Johann Christoph Gottscheds „Deutscher Sprachkunst", 1762, 457). Beide Aspekte, der lexikalische wie der grammatische, begegnen im Werk Wilhelm von Humboldts. Mit seinem Namen ist der Begriff der These von den sprachlichen Weltansichten bzw. vom sprachlichen Weltbild, gelegentlich

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auch vom sprachlichen (linguistischen) Relativitätsprinzip fest verknüpft; seine Werke werden als locus classicus herangezogen, wenn die Abhängigkeit der Wirklichkeitserfahrung und des Denkens von der Sprache belegt werden soll. Gelegentlich wird dabei übersehen, daß diese Diskussionen schon lange vor Humboldt geführt wurden, wie einige der bislang zitierten Autoren belegen. Mitte des 18. Jahrhunderts etwa hatte Johann David Michaelis den Preis der Preußischen Akademie der Wissenschaften mit seiner „Beantwortung der Frage von dem Einfluß der Meinungen in die Sprache und der Sprache in die Meinungen" gewonnen. Ebenfalls um diese Zeit wurden die letzten großen Auseinandersetzungen über die Frage geführt, wie der Sprachursprung zu erklären sei, ob metaphysisch oder säkular. Die Antwort auf diese Frage hat erhebliche Konsequenzen für die Frage nach der Bedeutung der Sprache für das Denken. 1766 hatte Johann Peter Süßmilch den letzten Versuch einer metaphysischen Erklärung des Sprachursprungs geliefert („Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe"), auf den Johann Gottfried Herder mit seiner „Abhandlung über den Ursprung der Sprache" (veröffentlicht 1772) antwortete. Für Herder ist Sprache im menschlichen Verstand angelegt. Nur mit ihrer Hilfe kann er sich die Welt kognitiv erschließen, sie begleitet nicht nur sein Denken oder ist ihm gar nachgeordnet, sondern ist dessen zentrale Voraussetzung. Der Vorgang der Namengebung fällt für Herder mit dem Erkennen von Merkmalen an den Dingen zusammen, durch das die amorphe Masse der Phänomene strukturiert und der intellektuellen Auseinandersetzung verfügbar gemacht wird (1772, 722): Er [d.h. der Mensch, A.G.] beweiset Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die seine Sinne vorbeistreichen, sich in ein Moment des Wachens sammlen, auf Einem Bilde freiwillig verweilen, es in helle ruhigere Obacht nehmen, und sich Merkmale absondern kann, daß dies der Gegenstand und kein andrer sei. [...]

Die kognitive Funktion von Sprache geht dabei ihrer kommunikativen voraus. Das gilt für den einzelnen wie für die gesamte Menschheit. Dabei entspricht der frühen, grammatisch und semantisch wenig differenzierten Sprache der primitive, instinktgeleitete, kaum reflektierende Mensch, der kategorial differenzierten Sprache aber der differenziert reflektierende Mensch. Für die romantische Sprachtheorie wurde das zum Gemeinplatz (zur romantischen Sprachtheorie vgl. Bär 1999). Die Nationalsprachen galten als Größen, an deren Wortschatz sich zum einen die für ein Volk charakteristischen Perspektiven auf die Wirklichkeit ablesen lassen - das ist ihre Abbildleistung -, die zugleich das Denken der je neuen Generationen in Richtung dieser Perspektiven prägen, indem sie ihnen beim Spracherwerb eine bestimmte lexikalische Gliederung der Wirklichkeit vorgeben (vgl. etwa die Ausführungen August Wilhelm Schlegels 1801/1802, 417). Der Gedanke sei an einer Stelle aus Humboldts berühmter Schrift „Über die Verschiedenheit

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des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts", der Einleitung zu seiner Beschreibung der KawiSprache auf Java, dargelegt (1836, 235): Wie der einzelne Laut zwischen den Gegenstand und den Menschen, so tritt die ganze Sprache zwischen ihn und die innerlich und äußerlich auf ihn einwirkende Natur. Er umgibt sich mit einer Welt von Lauten, um die Welt von Gegenständen in sich aufzunehmen und zu bearbeiten. Diese Ausdrücke überschreiten auf keine Weise das Maß der einfachen Wahrheit. Der Mensch lebt mit den Gegenständen hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängen, sogar ausschließlich so, wie die Sprache sie ihm zufuhrt. Durch denselben Akt, vermöge dessen er die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede zieht um das Volk, welchem sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer andren hinübertritt. Die Erlernung einer fremden Sprache sollte daher die Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltansicht sein [...].

Der Mensch erfahrt die Gegenstände der Wirklichkeit also ausschließlich so, „wie die Sprache sie ihm zuführt". Die durch eine jeweilige Sprache vermittelte Perspektive auf die Wirklichkeit kann nur durch die Perspektive einer anderen Sprache ersetzt werden, ein Punkt jenseits von Sprache, von dem aus die Individuen die Dinge ,an sich', frei von sprachlicher Kategorisierung, erfassen könnten, existiert nicht. Wenn aber alle Welterfahrung einzelsprachlich vermittelt ist, dann ließe sich eine ontologisch verbindliche, objektive Wirklichkeit gar nicht erkennen, gäbe es letztlich - wenn auch von Humboldt in dieser Radikalität nicht explizit formuliert - so viele Wirklichkeiten, wie es Sprachen gibt. Auch hier steht neben der lexikalischen Diskussion eine grammatische. Die in der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft vor allem des 19. Jahrhunderts entwickelte Unterscheidung in flektierende, agglutinierende und isolierende Sprachen wurde im Sinne einer deterministischen Sprachauffassung interpretiert. Sprachen wurden zunehmend nach ihrer vermeintlichen kognitiven Leistungsfähigkeit klassifiziert: Wie eine differenziertere Lexik ein differenzierteres begriffliches Denken ermögliche, so würden komplexe grammatische Strukturen ein komplexeres Denken erlauben als andere. Dabei galten die flektierenden (zumeist europäischen) Sprachen vor allem den isolierenden (etwa vielen asiatischen) gegenüber als überlegen, weil die grammatischen Informationen in ihnen durch „organische" Veränderung einzelner Wörter im Syntagma, durch Flexion eben, angezeigt werden, während dieselben Informationen in isolierenden Sprachen ,nur' „mechanisch", weil in isolierten Morphemen gegeben würden. Auf die zumindest spekulativen, aber auch immer wieder explizit chauvinistischen Anwendungen dieser Überlegungen soll hier nicht näher eingegangen werden ( - bei Humboldt selbst finden sich keine nationalistischen, allerdings die verbreiteten eurozentrischen Darlegungen, etwa zum Chinesischen; 1827, 68, auch 1822, 78). Wichtig im hier interessierenden Zusammenhang

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ist, daß die an der Einzelsprache diskutierte kognitive Dimension von Sprache nahezu ausschließlich auf die Gemeinsprache (also auf die Alltagssprache im Gegensatz zu einer konstruierten Idealsprache) in toto abhebt und fast nie nach Varietäten differenziert (was bedeuten würde: Alltagssprache im Sinne von Umgangssprache und im Gegensatz zur Literatursprache oder Hochsprache). Dabei scheint es den Autoren eine Selbstverständlichkeit, daß nur die standardsprachliche Varietät oder die Fachsprachen das Denken positiv strukturieren können; Varianten, die als sozial unterhalb des Standard angesetzt wurden, gelten bis in das 20. Jahrhundert hinein fast immer als mangelhaft. Lediglich in bezug auf Dialekte begegnen abweichende Meinungen, da mit der zunehmenden Etablierung des Deutschen als überregionaler, verbindlicher Standardsprache die Dialekte als Sprachformen gelten, die ihren Sprechern irgendwie natürlicher, unmittelbarer sind als die Hochsprache und in besonderer Weise dazu geeignet, ihrem Empfinden Ausdruck zu verleihen. Die Hochsprache wird in solchen Darstellungen dagegen als die abstraktere, auch künstlichere Sprachform charakterisiert, die eher aus einer gewissen intellektuellen Distanz verwendet werde (vgl. z.B die Diskussion zwischen den Schweizern Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger mit dem Leipziger Johann Christoph Gottsched um die Mitte des 18. Jahrhunderts; dazu Gardt 1999, 168ff.). Im 20. Jahrhundert begegnen relativistische Überlegungen der beschriebenen Art unter anderem in den Schriften Ernst Cassirers („Philosophie der symbolischen Formen", 1923-1929; vgl. etwa Bd. 1, 20 u. 26f.) sowie in denen der Vertreter der inhaltsbezogenen Grammatik. Zu ihnen zählt Leo Weisgerber, der seine Position in dieser Frage so resümiert (1929, 163f.): D a s also erscheint mir als das Entscheidende: der Mensch, der in eine Sprache hineinwächst, steht für die Dauer seines Lebens unter dem Bann seiner Muttersprache, sie ist wirklich die Sprache, die flir ihn denkt. Und wie ein Volk seine Sprache ausgestaltet, so wirkt diese wieder zurück auf die Gemeinschaft und die Späteren.

Ziel sprachwissenschaftlicher Arbeit ist die Erschließung der „inneren Form des Deutschen", all jener sprachstrukturellen Elemente, die das „sprachliche Weltbild" des Deutschen konstituieren. Unter anderem geschieht das durch die Zusammenstellung von Wortfeldern, in denen die Bedeutungen semantisch benachbarter Wörter in ihrer Gesamtheit einen Ausschnitt aus diesem Weltbild wiedergeben. Jost Trier führt dieses Verfahren in „Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes" ausführlich vor und beschreibt die Funktion der Sprache in einer Weise, die die Tradition dieser Position deutlich erkennen läßt: „Die Sprache spiegelt [...] nicht reales Sein, sondern schafft intellektuelle Symbole, und das Sein selbst, das heißt das für uns gegebene Sein, ist nicht unabhängig von Art und Gliederung der sprachlichen Symbolgefüge" (1973, 2). Die Textstelle aus Cassirers Schrift ist nicht nur deshalb charakteristisch für Argumentationen dieser Art, weil sie eine direkte Zurückweisung reali-

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stisch-abbildtheoretischer Vorstellungen enthält, sondern auch insofern, als sie zumindest implizit die Frage nach einer regelrechten Determiniertheit des Denkens durch Sprache aufwirft: Cassirer spricht vom „Bann seiner Muttersprache", unter dem ein Sprecher Zeit seines Lebens stehe, August Wilhelm Schlegel davon, daß die Muttersprache, „uns unbewußt, über unsern Geist [herrscht]" (1801/1802, 417), Wilhelm von Humboldt spricht gar vom Menschen als dem Gefangenen seiner Sprache. Keiner der Autoren aber gibt durch Beispiele oder auf andere Weise an, wie weitgehend man sich die Prägung des Denkens durch Sprache vorzustellen hat oder zumindest, in welchen Bereichen des Denkens eine jeweilige sprachliche Kategorie prägend wirkt. Es ist ein Kennzeichen der neueren und neuesten Auseinandersetzung mit dieser Frage, daß versucht wird, zu einer Darstellung der sprachlichen Konstitution des Denkens zu gelangen, die über die rein sprachtheoretische oder sprachphilosophische Beschreibung hinausgeht. Die Untersuchungen Benjamin Lee Whorfs („Language, Thought and Reality", 1956) zur Sprache etwa der nordamerikanischen Hopi versuchen einen Nachweis der kognitiven Leistung von Sprache mit den Mitteln der Ethnolinguistik. Whorf behauptet unter anderem, daß die Hopi aufgrund der Spezifik des Tempussystems ihrer Sprache zu einer anderen Erfahrung von Zeitabläufen gelangen und daher die Kategorie der Zeit einen anderen Stellenwert in ihrer Kultur einnimmt. Seine Ausführungen gipfeln in der Formulierung eines sprachlichen Relativitätsprinzips (11. Aufl. 1974, 221): Aus dieser Tatsache resultiert dasjenige, was ich das sprachliche Relativitätsprinzip' genannt habe. Es bedeutet (in freier Formulierung), daß die Benutzer deutlich unterschiedlicher Grammatiken durch ihre Grammatiken zu unterschiedlichen Arten der Beobachtung und zu unterschiedlichen Bewertungen äußerlich ähnlicher Akte der Beobachtung veranlaßt werden. Sie sind daher als Beobachter nicht vergleichbar, sondern müssen zu etwas unterschiedlichen Auffassungen von der Welt gelangen. 2

Je konkreter versucht wurde, die Behauptung von der sprachlichen Konstitution des Denkens durch empirische Untersuchungen zu belegen, desto eher war auch konkrete Kritik an den Untersuchungsmethoden und -ergebnissen möglich. Whorfs eigene Arbeiten waren Gegenstand von zum Teil sehr scharfer Kritik (vgl. u.a. Gipper 1987), und Untersuchungen zu einer Korrelation zwischen den Bezeichnungen von Farben in verschiedenen Sprachen und den tatsächlichen Farbwahrnehmungen der jeweiligen Sprecher kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen (dazu zuletzt Lehmann 1998). Die Diskussionen über diese Frage verlaufen vor allem deshalb oft intensiv, weil bei deterministischer Auslegung des Relativitätsgedankens sprachstrukturelle 2

„From this fact proceeds what I have called the linguistic relativity principle', which means, in informal terms, that users of markedly different grammars are pointed by their grammars toward different types of observations and different evaluations of externally similar acts of observation, and hence are not equivalent as observers but must arrive at somewhat different views of the world."

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Unterschiede, wie oben angedeutet, als Unterschiede der kognitiven Leistungsfähigkeit der Sprecher verstanden werden können. Dies kann zu sprachideologischen Argumentationen mißbraucht werden (dazu vgl. Römer 1989 u. Gardt 1999, 30Iff.), gelegentlich auch geradezu absurde Züge annehmen, wie das folgende Zitat aus einem Aufsatz der englischen KafkaÜbersetzerin Willa Muir von 1959 zeigt. Muir spekuliert darin über den Einfluß des deutschen Satzes, insbesondere der Satzklammer, auf das Denken und Fühlen der deutschen Sprecher (Muir 1959, 93ff.): Ich habe den Eindruck, daß die Gestalt der deutschen Sprache das Denken derjenigen beeinflußt, die sie verwenden, und sie dazu veranlaßt, Autorität, Willenskraft und zielgerichtete Dynamik überzubewerten. In seiner Betonung von Unterordnung und Kontrolle ist der deutsche Satz zwar nicht so radikal wie der lateinische, aber sowohl im Deutschen wie im Lateinischen scheint mir die Struktur der Sprache das Denken, das durch sie ausgedrückt wird, zu prägen. Dementsprechend muß die Sprache eine unmittelbare Beziehung zu den Absichten und Vorstellungen derjenigen haben, die sie verwenden. Eine Sprache, die Kontrolle und rigide Unterordnung betont, muß dazu neigen, dasjenige zu formen, was wir Machtmenschen nennen. Die Dynamik, die klare zielgerichtete Dynamik der lateinischen Sprache ist der klaren, zielgerichteten Dynamik der römischen Straßen bemerkenswert ähnlich. Man könnte die Vermutung wagen, daß sich aus der Verwendung von ut mit Konjunktiv das römische Reich ableiten ließe. Könnte man dementsprechend Hitlers Reich aus der weniger radikalen Form des deutschen Satzes ableiten? Ich denke, man könnte es, und eben deshalb habe ich eine Abneigung gegen den deutschen Satz entwickelt.

3.4

Die sprachliche Konstruktion des Alltags: Radikaler Konstruktivismus

Daß die Sprache die alltägliche Wirklichkeit nicht einfach spiegelt, sondern auf die eine ödere andere Weise unsere Erkenntnis von ihr beeinflußt, ist, wie die zitierten Beipiele belegen, ein Gemeinplatz jeder relativistischen Sprachtheorie. Die Aufgabe realistischer Sprach- und Erkenntnistheorien ist spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert unübersehbar, und sie gipfelt in der Gegenwart im Radikalen Konstruktivismus, der den Rückzug von klassisch realistischen Positionen am konsequentesten betreibt. Schon die Pragmatik gibt mit ihrer Betonung des kommunikativen Aushandelns von Bedeutungen den Gedanken abolut präziser Wirklichkeitsbeschreibung im Sinne der Ideal Language Philosophy auf, und Ludwig Wittgenstein stellt die rhetorische Frage, ob es denn „unexakt" sei, „wenn ich den Abstand der Sonne von uns nicht auf Im genau angebe; und dem Tischler die Breite des Tisches nicht auf 0,001mm" (1945, §88f.). An die Stelle des müßigen Versuchs, die Dinge mit den Wörtern mit größter Präzision zu treffen, tritt die Frage, ob Sprache in der Praxis des Alltags funktioniert, d.h. den gewünschten kommunikativen Erfolg bringt. Trotz dieser kommunikativen Relativierung des Bedeutungsbegriffs haben die Vertreter der sprachtheoretischen Pragmatik die Annahme der Existenz einer sprachunabhängigen Wirklichkeit oder der Möglichkeit von Wirklich-

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keitserkenntnis keineswegs pauschal aufgegeben. John Searle etwa operiert mit dem Konzept der brute facts, der nackten Tatsachen, deren sprachliche Beschreibung zwar nicht in naiv-realistischer Weise verlaufen soll, an deren Existenz aber ebensowenig sinnvoll zu zweifeln ist wie an der Möglichkeit ihrer Wahrnehmung. Eben das leugnet der radikale Konstruktivismus. Schon die rein sensuelle Wahrnehmung der Wirklichkeit ist aufgrund neurophysiologischer Gegebenheiten nicht mehr als eine Konstruktion des menschlichen Bewußtseins, das als autopoietisches System keinen unmittelbaren erkennenden Zugang zur Wirklichkeit hat (Maturana 1982, 75ff.). Was wir als ,die Wirklichkeit' zu erkennen glauben, kommt nicht durch einen mentalen Abbildvorgang zustande, sondern ist Resultat dessen, was sich Laufe der biologischen und kulturellen Entwicklung als sinnvoll und nützlich erwiesen hat. Die vermeintlich außersprachlichen Referenten unserer Wörter und Äußerungen sind tatsächlich nur einzelne Elemente unserer „Innenansichten" (Rusch 1989, 99). So tauschen wir in der Kommunikation auch keine Informationen über ,die Wirklichkeit' aus (Maturana 1982, 73): Die basale Funktion der Sprache als eines Systems des Orientierungsverhaltens besteht nicht in der Übermittlung von Informationen oder in der Beschreibung einer unabhängigen Außenwelt, über die wir sprechen können, sondern in der Erzeugung eines konsensuellen Verhaltensbereiches zwischen sprachlich interagierenden Systemen im Zuge der Entwicklung eines kooperativen Interaktionsbereiches.

Mit anderen Worten: Die Wörter bilden nicht die Dinge ab, und wir sprechen nicht, um eine sprachunabhängige Wirklichkeit zu beschreiben und so, im sprachlichen Handeln, den Alltag zu bewältigen. Stattdessen konstruieren wir unsere alltägliche Wirklichkeit mittels Sprache, im stetigen Konsens und geleitet vom größtmöglichen Nutzen für die Sprechergemeinschaft. Diese Sprach- und Erkenntnistheorie relativiert schlagartig den Wahrheitsbegriff, da Wahrheit nie in der Annäherung an außermentale und außersprachliche Tatsachen liegen kann, weil die nicht erkennbar und beschreibbar sind. An die Stelle der Suche nach Wahrheit tritt die Suche nach dem Konsens. Auf die ethischen Konsequenzen dieser Auffassung sei hier nicht eingegangen, allerdings auf die sprach- und erkenntnistheoretischen. Es ist offensichtlich, daß die theoretisch formulierbare Einsicht in die Konstruiertheit und Relativität unserer Erkenntnisse und damit unserer Wirklichkeit mit der alltäglichen Lebenspraxis kollidiert. Denn wir bewegen uns in der Welt und mit den uns umgebenden Gegenständen keinesfalls so, daß wir diese Welt und ihre Phänomene ausschließlich als Produkte unseres individuellen und kollektiven Bewußtseins, als nur konstruiert begreifen. Im Gegenteil gehen wir davon aus, daß die Dinge der physischen, aber auch - wenn auch auf andere Weise - der geistigen Wirklichkeit tatsächlich existieren und wir sie so, wie sie sind, prinzipiell erkennen können, wenn das auch in den je einzelnen Fällen nicht immer ,objektiv', ,angemessen' geschehen mag. Der Radikale Kon-

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struktivismus antwortet auf dieses Problem von Theorie und Praxis damit, daß er seine Positionen „für Alltagshandeln und -kommunizieren" für „irrelevant" erklärt (Schmidt 1988, 75): „Im Alltag gehen wir mit unseren kognitiven Welten um, als wären sie real, und bemerken diese Als-Ob-Fiktionen nicht einmal. In der Praxis brauchen wir einheitliche operationale Wirklichkeitsund Bezugssysteme sowie Werthierarchien [...]". Unsere „metaphysischen Annahmen" über die Verfaßtheit der Wirklichkeit mögen zwar „ungerechtfertigt" sein (Varela/Thompson/Rosch 1995, 309), aber „weil diese relative, konventionelle, in gegenseitiger Abhängigkeit entstandene Welt gesetzmäßig aufgebaut ist", können wir den Alltag problemlos bewältigen. Die Annahme, wir würden Alltag, Kunst, Wissenschaft, unser ganzes Leben mittels einer ,falschen' Sprach- und Erkenntnistheorie erfolgreich bewältigen ist ebenso unangemessen wie die damit einhergehende Annahme, daß wir all das mit einer ,richtigen' (d.h. konstruktivistischen) Sprach- und Erkenntnistheorie nicht bewältigen könnten, da uns die permanente Einsicht in die mentale Konstruiertheit allen (vermeintlichen) Seins und in die Relativität aller sprachlichen Bedeutung handlungsunfähig machen würde. Dieses Übersteigern des Relativismus bedeutet allerdings nicht, daß das eigentliche, im Gesellschaftlichen liegende Anliegen des Radikalen Konstruktivismus hinfallig wäre: vor der Gefahr einer Suche nach einer einzigen, .absoluten' Wahrheit zu warnen (vgl. Humberto Maturanas Ausführungen zur „Sehnsucht nach einer festen und sicheren Welt", 1982, 29), indem auf die große Bedeutung des Konsenses bei jeder Sinnfindung hingewiesen wird, damit zugleich die Vielfalt der möglichen Interpretationen der Wirklichkeit nicht als Bedrohung, sondern als Gewinn zu begreifen.

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GISELA H A R R A S

Alltag, Lebenswelt, Lebensform und Sprache Ein Gespräch Das folgende Gespräch hat nie stattgefunden. Hätte es jedoch stattgefunden, dann wäre es genau so und nicht anders verlaufen. Wir denken uns ein Fernsehstudio an der Ostküste der USA, aus dem eine populärwissenschaftliche Sendereihe mit dem Titel „Alltag und ... (Biologie, Mathematik, Physik)" mit jeweils wechselnden Moderatoren ausgestrahlt wird. Diesmal ist das Thema: „Alltag und Sprache". Die Gäste sind die renommierten Wissenschaftler Mr. Chomsky und Mr. Kripke, der Moderator ist ein Europäer. Das Gespräch findet in den späten neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts statt. Moderator.

Ich begrüße unsere Studiogäste Mr. Chomsky und Mr. Kripke, die weltweit als äußerst renommierte Sprachwissenschaftler und Philosophen bekannt sind. Unser heutiges Thema ist „Alltag und Sprache". Mr. Kripke, was wollen Sie für unseren Zusammenhang unter, Alltag' verstehen?

Mr. Kripke:

Nun, zunächst würde ich ,Alltag' sicher nicht als Gegensatz von ,Sonn-' oder ,Feiertag' auffassen wollen, sondern, wie Sie es vermutlich auch beabsichtigt haben, als einen Begriff des praktischen Denkens, der dem des wissenschaftlichen Denkens gegenüber gestellt ist. Man könnte es auch so formulieren: Alltag ist die praktische Lebenswelt des Menschen im Unterschied zum wissenschaftlichen, theoretischen Denken.

Moderator·.

Sind Sie mit der Ersetzung des Begriffs ,Alltag' durch den der praktischen Lebenswelt' einverstanden, Mr. Chomsky?

Mr. Chomsky: Das hängt davon ab, was mein Kollege genau unter , Lebenswelt' verstehen will. Mr. Kripke\

Ich habe mir einmal die Mühe gemacht und nachgeschaut, wie in unserer - wenn Sie mir den Ausdruck gestatten - Alltagssprache die Bezeichnung Lebenswelt verwendet wird, wobei ich ausschließlich auf allgemeine, d.h. weder wissenschaftliche noch sonst irgendwie fachgebundene Zeitungen und Zeitschriften zurückgegriffen habe. Nach meiner Einschätzung

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Gisela Harras

kann man fünf verschiedene Verwendungsweisen des Ausdrucks Lebenswelt unterscheiden: -

eine in der Bedeutung von .Umgebung, Umwelt des Menschen' eine in der Bedeutung ,subjektive Einstellungen des Individuums' eine in der Bedeutung ,Privatsphäre des Individuums' eine in der Bedeutung natürliche Erfahrung, Praxis des Menschen' eine in der Bedeutung ,subjektives Orientierungssystem des Menschen'.

Mr. Chomsky. Inwieweit bringt uns diese Auflistung alltagssprachlicher Verwendungsweisen des Ausdrucks Lebenswelt weiter in unserem Bemühen, unsere Begrifflichkeit zu präzisieren? Wäre es nicht sinnvoller, wir verständigten uns gleich auf eine terminologische Festlegung? Mr. Kripke:

Nun, es lässt sich leicht zeigen, dass philosophisch-soziologische Gebrauchsweisen des Ausdrucks Lebenswelt die alltäglichen Verwendungen sozusagen bündeln und fokussieren: Bei Avenarius und Mach werden die natürliche Umgebung des Menschen und seine subjektiven Einstellungen als die dem Individuum urspünglich gegebene Einheit seiner Erfahrung fokussiert. Bei Husserl wird diese Einheit spezifiziert als Welt der natürlichen Einstellung des vorwissenschaftlichen Denkens. Bei Heidegger und Merleau-Ponty wird der Ausdruck zum Schlüsselwort für ein philosophisches Gegenprogramm zur metaphysischen und transzendentalphilosophischen Tradition, d.h. für eine Philsophie der vorprädikativen, natürlichen Erfahrung. Bei Max Weber und Alfred Schütz wird ^ebenweit' als nomologisches Wissen bestimmt, als alltägliches common-sense-Wissen über bestimmte Erfahrungsregeln, über die Art, wie Menschen auf gegebene Situationen reagieren. In diesem Gebrauch ist die alltagssprachliche Verwendung des Orientierungssystems fokussiert. Schließlich bei Habermas ist Lebenswelt das Reservoir von Selbstverständlichkeiten oder unerschütterliche Überzeugungen. Die Strukturen der Lebenswelt legen die Formen der Intersubjektivität möglicher Verständigung fest. In dieser Terminologisierung ist Lebenswelt ein Konstrukt, das weder der Außenwelt, der objektiven Welt bei Habermas, noch der Innenwelt des Individuums, der subjektiven Welt, und auch nicht der intersubjektiven Welt, der sozialen Welt, angehört, sondern wie Habermas sagt „ein transzendentaler Ort" als die Bedingung der Möglichkeit von Verständigung. Es ist ganz offensichtlich, dass der Habermassche Begriff am weitesten terminologisiert ist und sich eigent-

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lieh kaum noch am alltagssprachlichen Gebrauch festmachen lässt. Moderator:

Bei den philosophischen Gebrauchsweisen fällt auf, dass das, was der Ausdruck jeweils bezeichnet, von unterschiedlichem Status sein kann. Ich meine, einmal bezeichnet er Fakten wie soziale Konstellationen oder individuelle Einstellungen, zum andern Normen wie Orientierungssysteme oder Möglichkeitsbedingungen, d.h. der Status ist einmal deskriptiv und einmal normativ.

Mr. Kripke:

Wir werden sicher im Verlauf unseres Gesprächs ausfuhrlich auf diesen Unterschied zu sprechen kommen.

Mr. Chomsky. Allerdings ... Moderator·.

Mr. Kripke, wir haben Sie vor allem deswegen eingeladen, weil Sie ein wirklich aufsehenserregendes Buch über Wittgenstein geschrieben haben. Einer der berühmtesten und wohl auch umstrittensten Aussprüche dieses Philosophen ist der, dass Sprache eine Lebensform ist. Ist dieser Ausdruck mit einer der Verwendungsweisen von Lebenswelt synonym?

Mr. Kripke:

Ja, mit Sicherheit...

Mr. Chomsky: Aber nur mit einigen notwendigen Einschränkungen ... Moderator:

Mr. Kripke, Sie sagen in Ihrem Buch, dass es Ihnen nicht so sehr darum geht, den unzähligen Deutungen Wittgensteins eine weitere hinzuzufügen, sondern im wesentlichen darum, einen philosophisch begründeten Sprachbegriff zu entwickeln.

Mr. Kripke:

Ich glaube, dass es überhaupt nur zwei philosophisch ernst zu nehmende Sprachbegriffe gibt: Der eine ist eben der von Wittgenstein inspirierte und der andere ist der von meinem Kollegen Noam Chomsky vertretene. Beide gehen natürlich auf ältere Sprachkonzeptionen zurück, aber so richtig diskutabel sind sie erst in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts geworden.

Mr. Chomsky: Und umstritten dazu ... Moderator:

Soweit ich informiert bin, haben zunächst Sie, Mr. Kripke, Ihr Wittgenstein-Buch veröffentlicht, auf das Sie, Mr. Chomsky, in Ihrem Buch „Knowledge of Language" kritisch reagiert haben. Fangen wir also mit der Wittgenstein-Auffassung in Ihrer Deutung an, Mr. Kripke.

Mr. Kripke·.

Die Argumentation Wittgensteins ist äußerst kompliziert und mag einem philosophisch nicht oder wenig geschulten Men-

Gisela Harras

sehen zuweilen ziemlich absurd vorkommen. Selbst mich hat beim Schreiben des Buchs oft eine Art philosophisches Schwindelgeflihl überkommen. Ich werde versuchen, verständlich zu bleiben, muss Sie aber bitten, viel Geduld aufzubringen und mir zu erlauben, etwas weiter ausholen zu dürfen. Ausgangspunkt meiner Rekonstruktion der skeptischen Sicht Wittgensteins auf Sprache ist sein Paradox über Regel und Regelbefolgung, wie es in § 201 der „Philosophischen Untersuchungen" formuliert ist: Unser Paradox war dies: eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei.

Dieser Satz scheint ziemlich geheimnisvoll. Nun, machen wir uns den Vorgang der Regelbefolgung am Beispiel der Addition deutlich: Innerhalb einer bestimmten Sprachgemeinschaft haben die Mitglieder derselben gelernt, das Wort plus bzw. das Symbol + als Bezeichnung für eine mathematische Funktion zu verwenden und die entsprechende Operation auf Paare von ganzen positiven Zahlen anzuwenden. Eine Person, die vor die Aufgabe gestellt wird, 5 und 7 zusammenzuzählen, antwortet spontan mit „12" und zwar ohne jegliche Begründung, sie folgt der Regel blind. Sie weiß, dass 5 und 7 12 ist, aber sie kann ihr Wissen nicht begründen, und sie kann auch keine Bedingung dafür anfuhren, dass sie einer bestimmten Regel „plus" gefolgt ist und nicht etwa einer Regel „quus". Es gibt keine Antwort auf die Frage, wie ich wissen kann, ob ein bestimmter gegenwärtiger Gebrauch, den ich von einem Wort wie z.B. plus mache, mit dem übereinstimmt, was ich in der Vergangenheit mit plus gemeint habe. Wenn ich z.B. bisher nur Zahlen bis 50 addiert habe und jetzt vor die Aufgabe gestellt werde, 57 und 68 zusammenzuzählen, so kann ich mich nicht auf meine Beherrschung der Regel der Addition in der Vergangenheit berufen, denn mit Zahlen der Größenordnung über 50 habe ich bisher ja überhaupt noch nicht operiert. Um die gestellte Frage nach dem Wissen über die Verwendung des Ausdrucks beantworten zu können, müßte ich eine Interpretation dessen geben können, was ich in der Vergangenheit mit plus gemeint habe. Doch jede Interpretation, die ich gebe, z.B., dass ich mit plus die Addition von 3 und 8 gemeint habe, könnte durch eine andere Interpretation z.B. „plus ist die Addition von 5 und 17" widerlegt werden.

Alltag, Lebenswelt, Lebensform und Sprache

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Moderator:

Sie haben es bereits gesagt, Mr. Kripke, dass vieles bei Wittgenstein sehr verwirrend anmutet. Ich würde jetzt z.B. sagen, dass wir doch gewöhnlich davon ausgehen, dass wir bei Berechnungen wie der Addition von 57 und 68 keinen ungerechtfertigten Sprung ins Ungewisse machen. Wir folgen Anweisungen, die wir uns einmal selbst erteilt haben und die eindeutig festlegen, was wir in diesem neuen Fall zu sagen haben, nämlich: 125.

Mr. Kripke:

Der Wittgensteinsche Skeptiker bezweifelt nun gerade, dass irgendwelche Vorschriften, die wir uns in der Vergangenheit gegeben haben, die Antwort 125 statt 5 oder 12 erzwingen oder rechtfertigen. Es handelt sich hier übrigens nicht um einen Skeptizismus bezüglich der Berrschung der Arithmetik, sondern der Skeptiker stellt eine Hypothese auf über eine Veränderung im Sprachgebrauch. Er bezweifelt: -

daß es überhaupt eine Tatsache des nicht-quus-, sondern plusGemeinthabens gibt, auf die man verweisen kann und daß es einen Rechtfertigungsgrund gibt, weshalb ich jetzt mit 125 und nicht mit 5 oder 12 antworten soll.

Die beiden Zweifel hängen zusammen: In der Rechtfertigung für meinen gegenwärtigen Sprachgebrauch muss auf einen Grund, auf eine Tatsache des plus-Meinens verwiesen werden. Ein Gegner des Skeptikers könnte jetzt vorbringen, dass dies ein ziemlich lächerliches Modell von selbst gegebenen Anweisungen für Beispiele sei. Er wird sagen: Ich habe eine Regel gelernt, mit der festgelegt ist, wie ich mit der Addition fortfahren soll. Der Skeptiker wird fragen: Was ist das für eine Regel? Der Gegner wird antworten: Ich gehe nach einem bereits gelernten Algorithmus vor und zähle die Elemente der Vereinigungsmenge. Der Skeptiker wird erwidern: Woher weißt du, dass du die Operation des Zählens und nicht etwa die des Quälens ausführst? Es ist völlig unmöglich, sich für eine Regel auf eine andere grundlegendere Regel zu berufen. Die Rechtfertigung hätte kein Ende. Nichts in meiner geistigen Biographie oder in meinem bisherigen Verhalten könnte entscheiden, was ich mit plus wirklich gemeint habe. Es gibt keine Tatsache, die konstitutiv für mein plus-Meinen ist. Die Aussage:

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Gisela Harras X meint mit einem Ausdruck Y das und das

referiert auf keine Tatsache. Der Versuch der Begründung des Befolgens einer bestimmten Regel R und nicht etwa einer Regel R' kann nicht dadurch unternommen werden, dass man auf frühere Verwendungen verweist. Wenn es aber keine Fakten gibt, die erhärten, was ich damals meinte, als ich mir die Bedeutung von plus einprägte und endlich viele Aufgaben der Summenbildung löste, dann gibt es auch keine Fakten, die erklären könnten, was ich jetzt damit meine, die also zu differenzieren gestatten zwischen plus-Meinen und quus-Meinen. Nach dieser Argumentation muss man zulassen, dass ein isoliert betrachtetes Individuum berechtigt ist, einer Regel zu folgen „wie es ihm als richtig erscheint". Moderator:

Ist diese Argumentation nicht hoffnungslos behaviouristisch?

Mr. Kripke:

Dies würde bedeuten, dass mit ihr jegliche Art von inneren Tatsachen, also Einstellungen, Wünsche, Gefühle und dergleichen geleugnet würde, was nicht der Fall ist. Es wird nur betont, dass eine innere Einstellung des Meinens in der Vergangenheit nicht als Begründung für ein Meinen in der Gegenwart gelten kann.

Mr. Chomsky: Ich halte die ganze Argumentation allerdings, wenn nicht für behaviouristisch, so doch für reichlich anti-kognitivistisch. Im übrigen wollte ich darauf hinweisen, dass die Argumentation des Skeptikers selbst paradox zu sein scheint: Er ist nämlich auf die Unterstellung angewiesen, dass er hier und jetzt mit den Ausdrücken, mit denen er seine Skepsis formuliert, etwas Bestimmtes meint. Mr. Kripke·.

Nun, bislang haben wir das skeptische Paradox des Regelbefolgens und damit des Meinens rekonstruiert und festgestellt, dass es keine gradlinige Lösung für das Problem gibt. Mir ist aufgefallen, dass David Hume bei seiner Behandlung des Problems der Determination der Zukunft durch die Vergangenheit bezüglich Kausalität und Schlussfolgerungen vor einem ganz ähnlchen Dilemma stand: Wenn man zwei singulare Ereignisse a und b für sich isoliert betrachtet, kann man keine Beziehung zwischen ihnen erkennen, außer dass das eine auf das andere folgt. Dass a die Ursache von b ist, kann man nur dann sagen, wenn man sich die Einzelereignisse a und b als unter zwei Ereignistypen Α und Β subsummiert denkt, die durch eine Verallgemeinerung miteinander verbunden sind, wonach auf alle Ereignisse des Typs Α Ereignisse des Typs Β

Alltag, Lebenswelt, Lebensform und Sprache

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folgen. Wenn die Ereignisse a und b für sich betrachtet werden, sind keine Kausalbegriffe auf sie anwendbar: Es gibt keine private Verursachung. Diese Art von Lösung des Problems ist ihrerseits skeptisch, da sie keine direkte Lösung darstellt. Der Skeptiker wird auf keine irgendwo verborgene Tatsache hingewiesen. Für unser Regelproblem heißt dies: Solange man eine Person in Isolation betrachtet, verliert der Begriff der Regel jede Bedeutung, und auch der Begriff der Bedeutung scheint sich in Luft aufzulösen. Die Situation ändert sich erst, wenn wir unsere Betrachtung erweitern und eine Person in Interaktion mit einer größeren Gemeinschaft ins Auge fassen. Dann haben die anderen Mitglieder Rechtfertigungsbedingungen dafür, ob dem Betreffenden richtiges oder mangelhaftes Regelfolgen zuzuschreiben ist, und diese Bedingungen werden nicht bloß darin bestehen, dass die Ansprüche des Betreffenden vorbehaltlos akzeptiert werden müssen. Die Behauptbarkeitsbedingungen dafür, zu sagen, eine Person befolge eine bestimmte Regel, sie meine etwas Bestimmtes, stellen Zustimmungspraktiken der übrigen Mitglieder der Gemeinschaft dar, die differenzieren können zwischen Fällen, in denen das Subjekt einen korrekten Gebrauch von Regeln macht und Fällen, in denen der Gebrauch inkorrekt ist. Die Art der Reaktionen, in denen die Mitglieder übereinstimmen, und die Art ihrer Verflechtung mit ihren anderen Handlungen bilden die Lebensform einer Gemeinschaft. Die Übereinstimmung ist konstitutiv dafür, dass man sagen kann, jemand folge einer bestimmten Regel oder meine mit einem Ausdruck etwas Bestimmtes. Ich sollte hier darauf hinweisen, dass der Begriff der Übereinstimmung bei Wittgenstein eine andere Rolle spielt als in unserem herkömmlichen Denken: Normalerweise würden wir sagen, dass die Annahme einer kollektiven Übereinstimmung unsere Praxis bestimmt, wir würden sagen: „weil wir alle unter plus dasselbe verstehen, stimmen wir auch in den Resultaten der Addition überein". Für Wittgenstein gilt nun aber: Weil wir in unserem selbstverständlichen Verhalten, in unseren spontanen Urteilen, zu denselben Ergebnissen kommen, können wir sagen, dass wir dasselbe meinen. Die Übereinstimmung der Mitglieder einer Gemeinschaft, und das ist ihre Lebensform, ist konstitutiv dafür, dass von den Mitgliedern behauptet werden kann, sie meinten etwas mit den von ihnen verwendeten Ausdrücke und weiter auch, sie verfügten über eine Sprache.

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Gisela Harras

Dies ist, zugegebenermaßen etwas vergröbert, der argumentative Hintergrund für Wittgensteins Behauptung: Sprache ist eine Lebensform. Mit ihr wird ein Privatmodell von Sprache strikt zurückgewiesen. Aussagen über Regelbefolgungen, Aussagen darüber, was jemand mit einem bestimmten Ausdruck meint, sind Aussagen über soziale Praktiken einer Gemeinschaft; auf keinen Fall sind sie Aussagen über mentale Zustände einzelner Sprachteilnehmer. Sprache ist ein kollektives Phänomen: Von einem einzelnen Individuum zu sagen, es verfuge über Sprache hat nur dann Sinn, wenn man es als Mitglied eines entsprechenden Kollektivs betrachtet. Dies gilt im übrigen auch für den Fall des Robinson Crusoe: Wenn wir von ihm sagen, dass er über eine Sprache verfugt, dann nehmen wir ihn sozusagen in unsere Lebensform hinein. Moderator:

Eine solche Auffassung hat vermutlich auch Konsequenzen für die Wissenschaft von der Sprache, für ihren Gegenstandsbereich, ihre Methoden und den Geltungsbereich ihrer Aussagen. Bevor wir im einzelnen darauf kommen, Mr. Chomsky, welche sind Ihre Haupteinwände gegen die Wittgensteinsche Sprachauffassung?

Mr. Chomsky. Ich habe drei Haupteinwände: Erstens: Der kollektive Sprachbegriff ist deskriptiv inadäquat. Zweitens: Wenn Mr. Kripke Robinson Crusoe in unsere Lebensform mit hineinnimmt, dann unterstellt er ihm den Status des menschlichen Wesens. Eine solche Hineinnahme erweckt aber das Privatmodell zu neuem Leben! Drittens: Die Instanz der Regelkonstitution, die Kompetenz von Sprechern einer Sprache, ist ein deskriptiver und kein wesentlich normativer Begriff. Lassen Sie mich zunächst den ersten Einwand der deskriptiven Inadäquatheit etwas näher ausführen: Nehmen wir zunächst an, dass es einen normativen Aspekt für unsere Aktivitäten des Zuschreibens von Regelbefolgung gibt. Nun, nehmen wir das Beispiel des Spracherwerbs. Da kommt es häufig vor, dass Kinder ganz systematische Fehler machen, z.B. das Präteritum von bringen oder schlafen nach der Regel der schwachen Konjugation bilden, also bringte oder schlaffe. Wir sagen, diese Art des sprachlichen Verhaltens sei abweichend, und zwar von der etablierten sozialen Norm. Nun weist ein solch abweichendes Verhalten jedoch bestimmte Muster auf und verweist auf eine

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Regel. Wir sollten diese Art von regulärer Irregularität nicht eliminieren, da sie eine natürliche Tatsache des menschlichen Lebens darstellt. Zweitens sind die Normen einer Sprachgemeinschaft außerordentlich vielfaltig und komplex. Es gibt im Englischen eine Reihe von Substandards und Dialekten. Unsere Praktiken des Zuschreibens von Regelbefolgung sind nicht restlos durch eine universale Übereinstimmung begründet: Im täglichen Leben wird der Unterschied zwischen unserer Norm und der anderer ständig anerkannt und bestätigt. Und drittens: Es ist falsch, dass eine Regel sich im Verhalten des Sprachbenutzers zeigt. Eine Person kann sich entschließen, bewusst und permanent eine Regel zu verletzen. Ihre Handlungen scheinen mit dem normalen Muster überein zu stimmen, sind aber zeitweilig im Widerspruch zur je eigenen Regel. Umgekehrt kann eine Person gemäß der sozialen Norm handeln, die ihrer eigenen widerspricht. Aus dem Verhalten einer Person kann man also nicht erkennen, ob sie wirklich einer Regel folgt oder nicht. Mr. Kripke:

Zugegeben, Übergeneralisierungen im Spracherwerb können als natürliche Tatsachen gelten, die ihre Regularitäten haben. Aber warum sollen wir sagen, dass die Regel, die in der Vergangenheit irregulär war, jetzt die reguläre geworden ist? Dafür muss es einen neuen Standard geben, und dieser setzt eine neue Lebensform voraus. Man könnte sich vorstellen, dass so eine radikale Veränderung des Lebens unendlich viele mögliche Regeln zulässt, die im Widerspruch zueinander stehen. In diesem Fall hätte überhaupt niemand das Recht, über die Korrektheit von Regeln zu entscheiden, da es keine Kriterium gibt, auf das man sich stützen könnte. Das Ziel der skeptischen Argumentation war ja zu zeigen, dass unbegrenzte Regelinterpretationen die Regel zum Verschwinden bringen. Unsere Regelbefolgungen sind Muster unseres Verhaltens, eben, weil sie durch Übereinstimmung in unseren Urteilen bestimmt sind. Die Norm ist die Lebensform.

Mr. Chomsky. Aus welchem Grund sollten wir eine bestimmte Lebensform herausheben und zum Paradigma machen? Wie ich bereits gesagt habe, gibt es in Wirklichkeit nicht eine, sondern mehrere, ganz unterschiedliche Normen. Mr. Kripke\

Der Punkt der skeptischen Lösung war ja der, dass eine Regel nicht durch eine letzte Interpretation, sondern durch die Über-

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Gisela Harras

einstimmung der Urteile der Sprachteilnehmer bestimmt wird. Diese Idee ist verträglich mit der Annahme, dass es innerhalb einer Gemeinschaft mehrere Gruppensprachen und Dialekte gibt. Innerhalb dieser Subgruppen gibt es immer eine von all ihren Mitgliedern geteilte Norm. Wenn nun die einzelnen Subgruppen miteinander kommunizieren, dann muss es eine übergreifende Norm für alle Sprachteilnehmer geben, damit sie einem Sprecher, der einen von den übrigen verschiedenen Dialekt spricht, Regelbefolgung zuschreiben können auf der Basis der Übereinstimmung darüber, dass es in ihrer Sprachgemeinschaft verschiedene Dialekte gibt. Den letzten Punkt Ihres Einwands der deskriptiven Inadäquatheit des kollektiven Sprachmodells kann ich allerdings überhaupt nicht nachvollziehen. Wenn nicht aus dem Sprachverhalten, woraus dann kann man überhaupt Evidenz für das Befolgen von Regeln ableiten? Die Frage gilt im übrigen auch für mentale Zustände eines Individuums. Mr. Chomsky: Lassen Sie mich zunächst auf meinen zweiten Einwand zurückkommen: Die Hineinnahme von Robinson Crusoe in unsere Lebensform setzt voraus, dass wir ihn als menschliches Wesen, als Person betrachten. Weshalb tun wir dies? Da Robinson Crusoe allein auf einer einsamen Insel lebt, gibt es keine Interaktion zwischen ihm und unserer zivilisierten Gemeinschaft, was bedeutet, dass die Übereinstimmung, in der unsere Zuschreibung von Regelbefolgung begründet sein soll, keine Bedeutung für eine gemeinsame Praxis hat. Vielmehr, und auch wesentlicher, stimmen wir mit Robinson Crusoe darin überein, dass wir mit ihm dieselben, speziesspezifischen Beschränkungen teilen, und das heißt, dass Wittgensteins Begriff der Lebensform nicht als Argument gegen eine Privatsprache dienen kann und von daher auch das Grundgerüst der theoretischen Linguistik als psychologisch orientierte Wissenschaft unbeeinträchtigt lässt. Der Begriff der Lebensform bei Wittgenstein als Übereinstimmung von Urteilen taugt nicht für den Fall des Robinson Crusoe. Wir brauchen einen weiteren Begriff von Lebensform, der die speziesspezifischen Bedingungen des Menschen mit einschließt. Wenn wir nun auch nicht-insulare Wesen mit berücksichtigen, erhalten wir zwei Bereiche von Lebensform: einmal den Bereich der aktuellen Sprachbeherrschung eines Individuums, d.h. das Stadium der Verinnerlichung einer ganz bestimmten Sprache;

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und zum zweiten den Bereich der allgemeinen Sprachfähigkeit, des initialen Stadiums eines Menschen, der Universisalgrammatik.Wenn wir Robinson Crusoe betrachten, dann können wir sagen, dass er als menschliches Wesen mit uns den Anfangszustand der Sprachfahigkeit teilt, dass er aber, was seine erreichte Sprachbeherrschung angeht, Regeln folgt, die nicht die unsrigen sind. Er hat folglich eine Privatsprache. Mr. Kripke:

Nun, zunächst sollte es natürlich ein Kriterium dafür geben, was eine Regelbefolgung, ein Sprachbenutzer oder eine Person ist. Ein solches Kriterium gehört zu unserer Gemeinschaft. Es sind wir, die entscheiden, ob dieses isolierte Individuum ein Regelbefolger ist oder nicht. In diesem Sinn verleihen wir ihm den Status einer Person. Die Zuschreibung der Regelbefolgung ist keine Feststellung einer Tatsache unabhängig von dem Standpunkt unserer Praxis. Zu behaupten, Robinson Crusoe teile mit uns dieselben Bedingungen eines menschlichen Wesens, ist nicht mehr als eine Theorie unserer Gemeinschaft darüber, was es heißt, ein menschliches Wesen zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort zu sein. Zugegeben, für solche Zuschreibungspraktiken ist es nicht unerlässlich, dass jedes Mitglied der Gemeinschaft mit den anderen Mitglieder interagiert. Wir schreiben auch Fremden, die wir nie gesehen haben, Regelbefolgung zu, und es ist durchaus denkbar, dass wir eines Tages die Bewohner eines entfernten Planeten, die zu uns kommen, ,Menschen' nennen.

Mr. Chomsky. Dann ist aber Ihr, beziehungsweise Wittgensteins Begriff der Gemeinschaft sehr nahe an dem der speziesspezifischen Bedingungen. Mr. Kripke:

Nein, weil es nämlich für die Wittgensteinsche Argumentation so etwas wie wirkliche Kontaktketten zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft geben muss. Doch zurück zu unserem Robinson Crusoe: Wenn es irgendeine wechselseitige Verständigung zwischen industrialisierten und exotischen Gemeinschaften oder zwischen einem modernen Menschen und Robinson Crusoe überhaupt gibt, dann müssen sie zumindest einige Fähigkeiten gemeinsam haben, nennen wir sie ruhig speziesspezifische Bedingungen. Aber wenn Wittgensteins skeptisches Argument Bestand haben soll, dann ergibt der Begriff der spezifisch menschlichen Bedingungen nur im Zusammenhang mit einer sozialen Praxis Sinn.

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Gisela Harras

Mr. Chomsky: Wenn wir sagen, wir teilen mit Robinson Crusoe eine Lebensform, dann gibt es ganz sicher keine gemeinsame Praxis. Was wir gemeinsam haben, sind lediglich ein Körper und bestimmte Instinkte und Reaktionen. Mir. Kripke:

Menschsein als eine bloße Tatsache unabhängig von einer Perspektive auf die soziale Praxis ist genauso problematisch wie die Annahme einer bedeutungskonstitutiven Tatsache. Der Satz Crusoe ist ein Mensch

ist deskriptiv und enthält den Ausdruck Mensch, der, wenn er Bedeutung haben soll, einer Gemeinschaft angehören muss; selbst wenn Sie diesen Satz als ein Produkt wissenschaftlicher Tätigkeit betrachten, ist er immer noch das Produkt einer sozialen Praxis. Mr. Chomsky: Dann nehmen Sie meine Bestimmung von Lebensform als eine theoretische Aussage. Mr. Kripke:

In ihrem Kern ist sie mit der Wittgensteinschen Auffassung sicher verträglich. In seiner „Philosophischen Betrachtung" fragt Wittgenstein im Zusammenhang mit dem Problem, warum wir auf Anweisungen in bestimmter Weise reagieren: Aber

könnte ein

solcher Mechanismus uns angeboren sein?

Und in den „Zetteln" spricht er von einem Naturfaktum, das darin bestehe, dass wir nach einer geeigneten Anweisung durch Exempel bei einem neuen Fall wüssten, was die natürliche' Fortsetzung sei. Moderator:

Mr. Chomsky, könnten Sie jetzt noch Ihren dritten Einwand erläutern?

Mr. Chomsky: Dieser Einwand betrifft die Normativität der sprachlichen Kompetenz. Ich denke, man sollte eine sprachliche Regel nicht mit einer ethischen oder moralischen Regel verwechseln. Wir sagen nicht, dass eine Person verpflichtet sei, in einem moralischen Sinn, einen Satz in einer bestimmten Weise zu produzieren oder zu verstehen. Mr. Kripke:

Zugegeben, aber wenn diese Person als Mitglied einer bestimmten Sprachgemeinschaft gelten will, dann ist sie in einem kommunikativen Sinn verpflichtet, genau dies zu tun.

Moderator:

Lassen wir die beiden Standpunkte jetzt einfach mal so nebeneinander stehen. Ich fasse sie kurz und vergröbert zusammen: Für Mr. Kripke ist Sprache in einem Kollektiv begründet, für

Alltag, Lebenswelt, Lebensform und Sprache

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Mr. Chomsky in der Sprachfähigkeit des Individuums. Ich hoffe, Sie können damit leben, meine Herren. Gut. Meine Frage ist jetzt: Folgt aus den beiden unterschiedlichen Auffassungen auch, dass es verschiedene Arten von Sprachwissenschaft gibt? Mr. Chomsky. Sicherlich. Sehen Sie, die Aufgabe eines Linguisten ist es, die beste Theorie zu machen. Die Universalgrammatik gehört zur biologischen Ausstattung des Menschen, ist also ein Teil der Humangenetik. In diesem Verständnis ist die Untersuchung von Sprache letztlich ein Teil der Humanbiologie. Als solche ist sie der galileischen Methode verpflichtet: Wir konstruieren abstrakte mathematische Modelle und schreiben diesen einen höheren Realitätsgrad zu als der durch unsere Sinnesorgane erschlossenen Alltagswelt. Zu den Hauptaufgaben der Linguistik gehört es demnach, Hypothesen aufzustellen, Voraussagen zu machen darüber, was eine mögliche phonologische, morphologische, syntaktische und semantische Struktur eines sprachlichen Ausdrucks ist und wie diese durch abstrakte Prinzipien erklärt werden können, die ihrerseits auf neurophysiologische oder biochemische Kategorien projizierbar sind. Moderator.

Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Mr. Chomsky, ist Ihr Gegenstand nicht die Sprache, mit der wir jeden Tag umgehen, sondern sozusagen eine Sprache ,dahinter'.

Mr. Chomsky·. Wenn Sie unter ,dahinter' keinen mythischen Ort verstehen wollen, dann würde ich Ihnen zustimmen. Der eigentliche Untersuchungsgegenstand der modernen Linguistik ist die Struktur der Universalgrammatik. Natürlich kommen wir dabei ohne detaillierte empirische Untersuchungen der Struktur von Einzelsprachen nicht aus, aber die beste Theorie, die wir anstreben, geht in der Tat über die psychophysische Eigenschaft der menschlichen Sprachfähigkeit. Lassen Sie mich noch ein Wort zu Theorien sagen: Natürlich sind wissenschaftliche Theorien immer skeptischen Zweifeln an ihrer induktiven Verlässlichkeit unterworfen. Aber das ist kein Problem der Sprachtheorie, sondern ein generelles Problem jeder Art von Wissenschaft. Selbst wenn die Wissenschaft keine empirische Letztbegründung hat, folgt daraus nicht, dass es keine Tatsachen gibt, wie Wittgenstein behauptet. Mr. Kripke:

Für Wittgenstein spielt die Empirie keine Rolle; er hat gezeigt, dass es logisch unmöglich ist, von einer Tatsache des Meinens zu sprechen. Aber kommen wir auf die Frage der Sprachwissenschaft zurück. Wittgensteins Sprachauffassung verhindert

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Gisela Harras

geradezu ein naturwissenschaftliches Vorgehen. Er selbst hat mit seiner analytischen Methode die Ausdrücke unserer Sprache untersucht, mit dem Ziel, die Philosophie von ihren Irrtümern zu heilen. Ich denke aber, dass die Wittgensteinsche Auffassung, die er selbst ja gar nicht als wissenschaftliche Theorie aufgefasst haben will, nicht mit einer formalen Betrachtungsweise unvereinbar ist. Dies beweisen auch einige Arbeiten meiner Kollegen, wie David Lewis, Donald Davidson oder Hilary Putnam. Mr. Chomsky: Das bezweifele ich überhaupt nicht, ich denke nur, dass die Eigenständigkeit der Linguistik ganz speziell in der Konzentration auf die psychophysische Eigenschaft der menschlichen Sprachfähigkeit liegt. Moderator.

Ein deutscher Kollege von Ihnen, Mr. Grewendorf, hat vorgeschlagen, die sprachanalytische Methode als komplementär zur galileischen zu verstehen und ihr bestimmte Bereiche einzuräumen.

Mr. Kripke:

Mit der analytischen Methode werden inhaltliche Feststellungen über die Sprache getroffen. Solche Feststellungen sind fur eine Reihe von Antworten auf, wie ich meine, wichtige Fragen unerlässlich, z.B. Fragen nach dem Status von Aussagen, Fragen nach dem Zusammenhang zwischen der Bedeutung wissenschaftlicher und alltagssprachlicher Ausdrücke, Fragen nach dem Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und der Bedeutung alltagssprachlicher Ausdrücke und schließlich die Frage, wie verschiedene Theorien ineinander übersetzbar sind.

Mr. Chomsky: Ich frage mich nur, ob die Linguistik dazu wirklich fähig ist. Moderator:

Mr. Chomsky, Mr. Kripke, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Literatur Chomsky, Noam (1986): Knowledge of Language. It's Nature, Origin and Use. N e w York: Praeger. Gliier, Kathhrin (1999): Sprache und Regeln. Zur Normativität von Bedeutung. Berlin: Akademie-Verlag. Grewendorf, Günther (1995): Sprache als Organ - Sprache als Lebensform. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Huen, Kenny (1999): Α Review of Chomky's Criticism of Kripke's Wittgenstein: In: http://csmaclab-www.uchicago.edu/philosophyProject/Chomsky/Kripkel.html

Alltag, Lebenswelt, Lebensform und Sprache

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Krämer, Sybille (1999): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? In: Wiegand, H.E. (Hrg.): Sprache und Sprachen in den Wissenschaften. Geschichte und Gegenwart. Festschrift flir Walter de Gruyter & Co. Anläßlich einer 250jährigen Verlagstradition. Berlin/New York: de Gruyter, 372-403. Kripke, Saul Α. (182): Wittgenstein on Rules and Private Language. Cambridge, MA.: Harvard University Press. Wittgenstein, Ludwig (1984): Philosophische Untersuchungen (1953). In: Werkausgabe Band I. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

ULRIKE HASS-ZUMKEHR

Sprache im Alltag als Konstruktion von Lexikografie und Sprachwissenschaft 1 2 3 4 5

Fragen Vorklärungen Wissenschaftsgeschichtliche Skizze Schlussfolgerungen Literatur

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Fragen

In der Zeit vor der Institutionalisierung der Sprachwissenschaft in den Universitäten bestand sprachwissenschaftliches Handeln zu großen Teilen im Verfassen von Grammatiken, Rhetoriken, Wörterbüchern und sprachphilosophischen Arbeiten sowie in der induktiv entwickelten Texthermeneutik von Theologie, Rechtswissenschaft und Klassischer Philologie. Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts diversifizierten sich die sprachwissenschaftlichen Tätigkeiten; zu den genannten traten weitere, zunehmend auch rein theoriebezogene Untersuchungen. Gegenstand aller dieser wissenschaftlichen Handlungsformen war und ist Sprache als System und Sprache als Gebrauch, wobei die Beschäftigung mit Sprache als Gebrauch von Systemeigenschaften nicht absehen kann, wohingegen sprachsystembezogene Arbeiten Bedingungen des Gebrauchs oft als etwas Externes ausschließen. Thema meines Beitrags ist die diachron angelegte Frage nach denjenigen Gegenständen der Sprachwissenschaft, in welchen Spuren jener „Sprache-imAlltag" enthalten sind, die Herausgeberinnen und Herausgeber dieses Bandes soziologisch in Opposition zu Wissenschaft, Religion und Kunst definiert haben. Als exemplarischen Bereich sprachwissenschaftlichen Handelns wähle ich die Lexikografie, die eine der ältesten und an Textmuster gebundenen Formen der Sprachreflexion darstellt. Lexikografiegeschichte ist deshalb auch geeignet, viele der kaum reflektierten Vorannahmen der institutionalisierten Sprachwissenschaft der vergangenen zwei Jahrhunderte zu klären. Die Lexikografie ist zugleich ununterbrochen weiterentwickelt worden und nimmt auch in herausgehobener Weise an der jüngsten medialen Revolution teil. Die Anwendung der Fragestellung auf einige wenige Wörterbücher in Vergan-

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genheit und Gegenwart kann hier aber nur exemplarisch sein und soll in erster Linie einige methodologische Probleme bewusst machen.

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Vorklärungen

Es ist nicht unbedingt damit zu rechnen, dass Sprache-im-Alltag in Wörterbüchern bzw. lexikografischen Programmschriften explizit thematisiert wird, und wenn, dann mittels anderer Bezeichnungen, die kaum vorherzusagen sind. Einen wichtigen Anhaltspunkt liefert die Wörterbuchbasis. Die schriftlichen Quellen werden aber erst mit zunehmender Verwissenschaftlichung der Lexikografe überhaupt benannt und sind vorher höchstens aus textpragmatischen Faktoren zu erschließen. Welche Textklassen erfüllen überhaupt die Bedingung, nicht wissenschaftliche, nicht künstlerische und nicht religiöse Sprache zu sein? Die Wörterbuchbasis prägt nicht nur die äußere Selektion, sondern vor allem die Belegbeispiele. Ausführlichere semantisch-pragmatische Angaben sind eine relativ späte methodische Errungenschaft und daher weit weniger signifikant. Kompetenzbeispiele hingegen entziehen sich in der Regel dem durch die Wörterbuchbasis beschriebenen Parole-Ausschnitt. Auf der anderen Seite sind sie eine Informationsart, die auch außerhalb von Wörterbüchern in sprachwissenschaftlichen Texten vorkommt, sogar und mit Vorliebe in Theorietexten der Wittgenstein- wie der Chomsky-Tradition. Den Kompetenzbeispielen zu Lemmata bestimmter Wortschatzbereiche (s.u.) soll deshalb besondere Beachtung gelten. Nach der von Herausgeberinnen und Herausgebern vorgenommenen soziologischen Bestimmung ist „Alltag" nur dem Bereich der Wirtschaft benachbart und den Bereichen von Wissenschaft, Kunst und Religion entgegengesetzt. Bezogen auf den beschriebenen Wortschatz, auf Wörterbuchbasis und Kompetenzbeispiele ist diese Bestimmung einerseits zu weit und andererseits zu eng. Wären kaufmännische Korrespondenz und kaufmännische Briefsteller alltagssprachliche Wörterbuchquellen und Ausdrücke wie Aktie, Brutto und Wechsel alltäglich gebrauchte Lexeme? Wohl kaum; zurecht nannte man sie schon vor Leibniz Kunstausdrücke. Intentional gebildete oder semantisch fixierte und insofern „künstliche" Bezeichnungen gehören sicher nicht zu Sprache-im-Alltag (vgl. Kokemohr 1994, 23Iff.). Nicht-Wissenschaft, Nicht-Kunst und Nicht-Religion sind aber auch: Rechtspflege und Verwaltung, die Politik, das Militär, die Seefahrt, die Jagd, der Gartenbau, der Sport, das Reisen u.a.m. Selbstverständlich findet in diesen Bereichen Alltagskommunikation statt, aber nicht ausschließlich. Wo der Sprachgebrauch institutionellen Bedingungen folgt, hört „Alltag" auf: vor Gericht, im Parlament, beim Befehlen und überall dort, wo der Ausdruck von Gruppenzugehörigkeit notwendig ist. Auf der anderen Seite gehören alltägli-

Sprache im Alltag als Konstruktion

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che Gesprächssituationen und Sprachhandlungsweisen ebenso zu wissenschaftlichen, religiösen und künstlerischen Institutionen und sind hier nicht einmal dominanter als dort, insofern der Sprachgebrauch in diesen Institutionen nicht durchweg reglementiert ist: Im Vatikan wird auch getratscht, in Fakuläten (unwissenschaftlich) gestritten, im Orchestergraben gelacht und in Galerien wie auf Buchmessen gefeilscht. Auch intentionaler, reflektierter und semantisch fixierter Sprachgebrauch ist außerhalb von Wissenschaft, Kunst und Religion keineswegs die Ausnahme: Der Skipper einer Segelyacht kann autoritativ festsetzen, dass „Mann über Bord!" auch auf Frauen bezogen wird - Alltag im Sport. Der oppositive Charakter der Definienten (Wissenschaft, Kunst, Religion) in der vorgegebenen Alltagsdefinition gilt offenbar nur für die institutionell normierten Gesprächssituationen und vor allem für die institutionell normierten Textsorten in Wissenschaft, Kunst und Religion - Disput, Abhandlung, Gebet - , und auch nicht für alle: Z.B. standen die Predigten vor allem der Reformationszeit dem Alltag näher als der Religion. Prüfungsgespräche oder das Verfassen von Wortartikeln sind wissenschaftlicher Alltag. Werbung ist für die Rezipienten Alltag, für die kreativen Macher aber wohl auch Kunst. Am Erfolg versprechendsten scheint die Annäherung an Sprache-im-Alltag über typische Gesprächssituationen und deren lexikalische Elemente. Welche Gesprächstypen hierbei in Frage kommen, lässt sich mithilfe historiografischer Arbeiten wie Aries/Duby (1989-1993) über das „private Leben" oder auch Kuczynski (1980) über den Alltag „des Volkes" feststellen. Zwar ist nicht aller Alltag privat, aber fast alles Private ist alltäglich, insofern es routinierte Praxis ist (Kokemohr 1994, 231; Radtke 1994, 430). Alltag weitgehend ökonomisch zu begreifen und mit Wirtschaft gleichzusetzen, geht entweder von „Volk" in Opposition zur „herrschenden Klasse" aus wie im historischmaterialistischen Ansatz Kuczynskis; ein Alltag der Herrschenden existiert in dieser Sicht nicht. Oder man setzt Alltag als etwas an, das stärker als Wissenschaft, Kunst und Religion ökonomisch bestimmt ist. Dies wäre aber zumindest für die Neuzeit zu bezweifeln, in der die Ökonomisierung nicht nur Universität, Kulturindustrie und Kirchen, sondern selbst den privaten und zwischenmenschlichen Bereich einzuholen droht. Wenn Wörterbücher Sprache-im-Alltag berücksichtigen wollten, müssten sie bei den Quellen oder bei den angenommenen Benutzungssituationen Bezüge erkennen lassen zu konkreten Alltagssituationen: zu Gesprächen auf der Straße, auf dem städtischen Platz und unter der Dorflinde, auf dem Markt und beim Einkaufen, im Cafe und im Wirtshaus, in Vereinen und Clubs, in der Familie, in der Nachbarschaft, mit und unter den Dienstboten, in der Küche. Hier wird überall gegessen, getrunken und gespielt, gescherzt, gestritten und getratscht, geschimpft und befohlen. Der grooming talk, das Reden auf der Beziehungsebene, und die Imagearbeit spielen bei all diesen Situationen eine wichtige Rolle, mit Folgen für die vorzugsweise gewählten Themen. Sprache-

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im-Alltag heißt oft, übers Wetter reden, über das eigene (gesundheitliche) Ergehen und über andere Leute; erst danach über die anstehenden „Geschäfte", verstanden als das, was man zu tun gedenkt oder was man gerade getan hat, also etwas, das nicht im engeren Sinne ökonomisch zu verstehen ist. Über Verallgemeinerungen kommt man von hier aus sehr schnell zu Weltdeutungen und Alltagstheorien als den dominanten Inhalten alltäglicher Kommunikationen (ein Beispiel interpretiert Kokemohr 1994, insbes. 236). Eine weitere, zentrale Funktion von Sprache-im-Alltag ließe sich geradezu als Verbreitung und Festigung alltagsweltlicher Theorien bestimmen. Eine Definition von Sprache-im-Alltag, die der wissenschafts- und lexikografiegeschichtlichen Zielsetzung entgegenkommt, orientiert sich außer (1.) an den genannten Situationstypen (2.) an Sprachfunktionen, die der Herstellung und Wahrung sozialer Kontakte dienen. Solche Funktionen sind vorwiegend an bestimmte, nämlich dialogisch dominierte Situationstypen (im „Zeigfeld") geknüpft. Kontaktfunktion und Situationstypen sind wiederum mit einigen Wortschatzbereichen besonders korreliert, ohne dass andere sich definitiv ausschließen ließen. Stellt man sich prototypisch den Smalltalk unter Nachbarinnen vor, sind einige Lexemklassen offensichtlich als funktional besonders wichtig zu identifizieren (deren terminologische Problematik hier ausgeklammert bleiben muss): Gesprächswörter (vgl. Radtke 1994, 424), Interjektionen, einige Modalpartikeln und weitere Ausdrücke der Modalität (Meyer 1994, 349), Phraseologismen bzw. Idiomatismen, Routineformeln, Sprichwörter, Heckenausdrücke, Gefühlswörter, Schimpfwörter, Verba sentiendi und emotive Verben; mundartlicher Wortschatz, je nach sozialer Stellung Argot/Slang und Grundwortschatz. Lexikografiehistorisch bietet sich nun folgendes Verfahren an: Man suche nach dialogisch formulierten Kompetenzbeispielen, die in alltägliche Gesprächssituationen wie die o.g. passen, beginnend mit der Suche in Wortartikeln zu Lemmata der zuletzt genannten Lexemklassen. Die eingangs gestellten Fragen sind nun wie folgt zu präzisieren: Wie groß war/ist die Distanz der die jeweilige Wörterbuchbasis bildenden Kommunikationsformen und Varietäten zu vorstellbaren prototypischen Alltagssituationen? Beispielsweise erfüllen Zeitungstexte und Beschriftungen an und in Gebäuden und z.B. Verpackungen (Wandruszka 1994; Wienold 1994) in gewisser Weise die Kontaktfunktion und sind somit alltagsnäher als andere. Auf welche Situationen wird in dialogisch formulierten Kompetenzbeispielen bezug genommen? Mit diesen Vorklärungen soll nun ein diachroner Spaziergang durch Lexikografie und Sprachwissenschaft begonnen werden.

Sprache im Alltag als Konstruktion

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Wissenschaftsgeschichtliche Skizze

Die Wörterbücher vom 8. bis zum 16. Jahrhundert sind von der allmählichen Emanzipation der „Volkssprachen" vom Latein geprägt. Dies brachte ungewollt Spurenelemente alltagsnaher Textsortenstile in einige, aber nicht in alle Wörterbücher, die sich damit von der rhetorisch ausgefeilten antiken Literatur eines Cicero ein Stück weit entfernten. Auf den Abstand war schon Erasmus von Rotterdam peinlich bedacht. Seine ,Familiarum colloquiorum formulae' („Schülergespräche") hatte er zunächst (1518) privat, für den Lateinunterricht seines Neffen verfasst. Als sie nachgedruckt und immer erfolgreicher wurden, gab er seine Verfasserschaft nur widerstrebend zu. Ein Ausschnitt in deutscher Übersetzung: „Wo kommst du her? - Aus dem Collegium Montaigu. Dann kommst du ja beladen mit Wissen einher. - Eher beladen mit Läusen." (Erasmus 1518/1982,13). Familiäre Gespräche schienen des Druckes nur würdig, wo es aus pädadogischen Gründen unumgänglich war. Die Opposition zur Literatur wurde, wie man sieht, aus der Sprachsituation des Mittellateins auf die des Deutschen übertragen und war nicht auf die Lexikografie beschränkt. Schon vorreformatorisch zielten Wörterbücher wie der ,Vocabularius praedicantium' von Johannes Melber (1477) teilweise auf die Produktion volkssprachlicher Predigten und vermehrten daher die volkssprachlichen Synonyme (Grubmüllerl990, 2041). Dennoch blieb die Lexikografie des Humanismus auch in den deutschen Äquivalenten auf die lateinische Hochliteratur beschränkt, nur vereinzelt, und zwar in phraseologischen Syntagmen und satzwertigen Äußerungen wird die Realität des (deutschen) Alltagsdialogs sichtbar: „Wormit gadst vmb? was thüst?" (Maaler 1561, 505v). „Meinst du das ich dir das yetz glaub/ daß sy vom Pamphilo schwanger gesein sey?" (Maaler 1561, 183v). Was Maaler erst vereinzelt nutzte, die Wörter in sprachrealistische und situativ zuordenbare Phrasen einzubetten und dabei die eigene Sprachkompetenz tätig werden zu lassen, wurde bei Hulsius' ,Dictionarium TeutschFranzösisch' (1. Aufl. 1596, 3. Aufl. 1607) zur Notwendigkeit, weil es das erste Wörterbuch war, das Deutsch mit einer anderen europäischen Volkssprache parallelisierte (vgl. Wiegand 1998, 650). Die Notwendigkeit wurde bei Georg Henisch zum Prinzip: ,Teütsche Sprach und Weißheit' (1616) ist ein Wörterbuch der Gemeinplätze, das die Alltagstheorien am Vorabend des Dreißigjährigen Kriegs entfaltet. Allerdings sind hier mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit formulierte, moralisierende Sentenzen („Wenn ein Fürst jedermans gunst/ vnd das gemeine gebet verleurt/ so ists mit jhm geschehen." Henisch 1616, 1531) sehr viel häufiger als Äußerungen aus Dialogsituationen („Was soll ich sagen"; „Ich bins nicht gewohnt"; „Solches geziemet dir gar nicht"; ebd. 1548; 1607; 1612). Phraseologismen als „gehobene" Mündlichkeit?

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Ein Werk, das zu Unrecht nicht der lexikografischen Tradition zugerechnet wird, ist Comenius' ,Orbis pictus' (1659/1970), das für den Muttersprachunterricht von Kindern gedacht war und deshalb eine lexikografiehistorisch seltene Nähe zur Sprache-im-Alltag des Schulunterrichts aufweist. Der Rahmentext des ,Orbis pictus' ist dialogisch („Komm her, Knab, lerne klug sein! - Was ist das, klug sein?" Comenius 1659/1970, 69), der Hauptteil darstellend („Den Menschen haben wir besehen; itzt laßt uns fortschreiten zur Kost des Menschen und zu den Handwerkskünsten, welche hierzu dienen." Ebd. 125). Inwieweit die beschreibend erschlossenen Themen die Alltagswelt der Zeit abdecken, wäre eine eigene Untersuchung wert. Mit den Wörterbüchern von Kaspar Stieler und Matthias Kramer wurde die normative barocke Sprachtheorie in Wortschatzdarstellung umgesetzt, deren schon personelle Nähe zur Dichtung unbestritten ist. Stielers Wörterbuch stellte sich geradezu in den Dienst einer dichterischen Sprach(system)entfaltung, während Kramer seine Arbeit weitgehend an den Bedürfnissen Handlungsreisender orientierte. Es überrascht daher, dass beide eine Fülle von Elementen alltagsweltlicher Dialoge vermitteln, die außerdem, bei Kramer eher als bei Stieler, mit den Alltagstheorien biblischer Phraseologismen angereichert sind: Ο Gott! Ο Pferd ... Ο weh! w i e ist mir so übel! (Stieler 1691 II, 1369). Halt die Schnauze! (ebd. II, 1906). Er hat mit ihm selbst zuschaffen (ebd. II, 1710). Das M e n s c h ist schön genug, (ebd. II, 1754). so gehts: schlab/schlab! (ebd. II, 1800). er sitzt besser zu Tisch als zu Pferde (Kramer 1700/1702, Bd. II, 1091a); du must deine Pfoten zuerst in der Schüssel haben (ebd. 209c). siehe da! der saubere Vogel (ebd. 739a). es glaubts kein Mensch (ebd. 47a). last ihn auspoltern/ bis er gnug hat/ (ebd. 223b). Mein Mann ist nicht zu Hause (ebd. 21a). Wie oft muß man dir ruffen? (ebd. 380a)

Steinbach (1734) bemühte sich offensichtlich um die Dokumentation des Sprachüblichen auch, aber nicht ausschließlich in der Literatur. Ein Bewusstsein für die soziale und situative Differenzierung sprachlicher Mittel war offenbar vorhanden. Die zeitgenössische und die spätere sprachhistorische Rezeption akzentuierte allerdings die Repräsentation der schlesischen Poeten in Steinbachs Wörterbuch stärker als die alltagsnahen Phraseologismen (Wiegand 1998, 658ff). Kompetenzbeispielen mangelt die Autorität und Vorbildhaftigkeit, die Belegbeispiele schon aufgrund ihrer Schriftgebundenheit und daraus resultierender Nachweisbarkeit besitzen. Mit Adelung (1793-1801) vollzieht sich ein folgenschwerer Wandel: Sprache-im-Alltag wird von ihm weitgehend mit „bloß dem Volke eigenen Wört e r n ) und Ausdrücke(n) (ebd. Bd. I, III), „Wörtern und Formen des niedrigen Lebens" (ebd. IV) gleichgesetzt und der „in Schriften üblich(en)" „Hochdeutschen Mundart" (ebd.) entgegengesetzt. Die fünf „Schreib-" und „Sprecharten", darunter „3. Sprechart des gemeinen Lebens und vertraulichen Umganges" (zit. ebd. V*), die Adelung schon in der 1. Auflage unterschied, sind

Sprache im Alltag als Konstruktion

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mehr als bloße Stilebenen (Wiegand 1998, 674), nämlich der Versuch, Sprecher-Hörer-Konstellationen auf Ausdrucksebene abzubilden und dort zu klassifizieren - den Ausdruck Classen bezieht Adelung sowohl auf soziale Gruppen als auch auf die ebenfalls hierarchisch angeordneten „Schreibarten". Aber dadurch macht Adelung es der Rezeption leicht, Sprache-im-Alltag als Stilkategorie ,Alltagssprache' zu begreifen und zu tradieren. Alltägliche Äußerungen („Aus was für einem Grunde glaubst du das?" Adelung 1793-1801, Bd. II, 828; „Was ich Ihnen sage, er ist wirklich todt."; ebd. 1395) gehören für Adelung der „gemeinen", „vertraulichen" oder gar der „niedrigen Sprechart" an, die hier lexikografisch als Hintergrundfolie für die sozial wie regional idealisierte Hochsprache dient. Für die Veranschaulichung der Norm wird ein „So nicht!", werden alltagsweltliche Äußerungen benötigt. Es sind dies bei Adelung aber bekanntlich nicht die ganz niedrigen und „pöbelhaften", sondern solche der bildungsbürgerlichen Konversation: „Ich fand ihn unter den Büchern geschäftig" (ebd. 603); „Sich auf die Geschichte legen" (ebd. 606); „Was für Bücher liesest du?" (ebd. 1393); „Die Gäste sind gekommen" (ebd. 1696); „Wir haben einander erst neulich kennen gelernt" (ebd. 1548); „Wie kommen Sie denn heute auf diesen Einfall?" (ebd. 1697). Zum bildungsbürgerlichen Alltagsgespräch gehörte um 1800 auch Zeitungslektüre; sie ist bei Adelung zu typischen Kompetenzbeispielen geronnen: „Hollands Handel ist seit einiger Zeit gar sehr gefallen. Frankreich sucht dem Handel in seinen Staaten wieder aufzuhelfen." (ebd. 947). Zeitungen, so wird hier deutlich, werden nicht der Literatur im Sinne der Schriftsprachproduktion zugeordnet, sondern dem bürgerlichen Alltagsgespräch. Die bis heute wirksame Hierarchisierung der Stilebenen wurde bei Adelung und auch bei Campe durch eine neue, gleichwohl elitär-hierarchische Ständegliederung unterstützt. In der Wahrnehmung der Sprachgemeinschaft wie der Sprachgeschichtsschreibung gerät infolgedessen Alltag dauerhaft in Opposition zu Literatur, zu Schriftlichkeit, zu Bildung und in Nachbarschaft zu allen unterbürgerlichen Schichten, zu Mündlichkeit und zum Mundartgebrauch. Dabei zeigen heutige Versuche, „Literatursprache" zeitunabhängig zu definieren (Radtke 1994, 424f.; Betten 1999), dass eine Sprache der Literatur kaum von anderen Existenzformen abzugrenzen ist. Ähnlich ist es mit der Trennung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Die Entwicklung der Literalität in Deutschland zeigt (Knoop 1994, bes. 866ff.), dass die selbstverständlich scheinende Grenzlinie zu mäandern beginnt, je schärfer man hinsieht: Geschriebenes schließt Mündliches ein, u.U. sogar aus literarischem Gestaltungswillen heraus. Andererseits basiert vieles Mündliche, wie Gespräche über Bücher oder Zeitungsnachrichten, auf der Literalität einer Gesellschaft, nicht erst in Zeiten des Telefons. Die Oppositionen, die Sprache-imAlltag bestimmen sollen, sind lange schon konstruiert. Mit der Etablierung einer standardsprachlichen Norm um 1800 begann auch die Mundartenlexikografie, die von vornherein auf nicht-schriftsprach-

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liehe Quellen angewiesen war. Joh. Andreas Schmeller verarbeitet wohl erstmals systematisch gesammelte Äußerungen aus der Landbevölkerung und insbesondere von bayerischen Rekruten. Im Wörterbuch tauchen solche mehr oder weniger bearbeiteten Hörbelege der Sprache des „gemeinen Mannes" (so markiert in Schmeller/Frommann 1872/1985, Bd. I, 169) neben den - bedeutend zahlreicheren! - Literaturbelegen auf, etwa „Ge weg, du irrst mi' da!" (Schmeller/Fromman 1872/1985, Bd. I, 131) oder „Das Kleid, die Schueh engen mich" (ebd. 106). Auch in der Mundartlexikografie wirkte offenbar die literatursprachliche Norm, ging es hier doch durchaus auch um den Nachweis der literarischen Qualität und literatursprachlichen Dignität der Mundarten. Die frühen Lexikografen des Grimmschen Wörterbuchs standen dem „derben" und „kraftvollen" Ausdruck bekanntlich positiv gegenüber, sofern er der nun romantisch verstandenen Poesie zuzuordnen war. Jacob Grimms PoesieBegriff umschloss auch rechts- und damit gebrauchssprachliche wie mundartliche Quellen (Weistümer, Urbare, Chroniken), sie mussten nur „alt genug" sein. Spätere Bearbeiter wandten sich einem an der Weimarer Klassik orientierten Literatursprachbegriff zu. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts etablierte sich die deutsche Philologie, und hatte dabei, wie jede neue Disziplin, ihre Existenz zunächst dadurch zu legitimieren, dass sie zum zentralen Forschungsgegenstand wählte, was einen allgemein anerkannten, natürlichen oder heiligen Wert repräsentierte. Was in der Geschichte der Chemie (Alchimie) Gold und Silber waren, war für die junge deutsche Philologie das Nibelungenlied; an ihm mussten sich weitere, der Forschung würdige Gegenstände messen lassen. Beide Punkte sind Ursache dafür, dass Sprache-im-Alltag in den Bänden der ersten Bearbeitungsphase des ,Deutschen Wörterbuchs' nur selten, aber dennoch ihren Niederschlag fand. Die anfangs viel zu schmale Quellenbasis nötigte Jacob und Wilhelm Grimm ersatzweise zu illustrierenden Kompetenzsyntagmen, seltener -sätzen, wie s.v. abreise: „unsre abreise ist auf morgen festgesetzt" oder s.v. befallen „was befällt dich, dasz du so redest?". Dass sich hierbei auch subjektive Spracherfahrungen bzw. -reminiszenzen Bahn brachen, zeigt eine Angabe wie s.v. Amtmännin: „unsere sei. Mutter ... hiesz beim volk nur die framtmännin", die von Kritikern abgelehnt wurde. Daniel Sanders, ganz im Geist von „1848", negierte in seinem , Wörterbuch der deutschen Sprache' (1859-1863) weitgehend die Existenz soziopragmatisch begründeter „Sprecharten" zugunsten einer breiten, auch Zeitungen und anderes „Tagesschrifttum" einschließenden Literatursprache (HaßZumkehr 1995, 220f.). Infolge dessen ist auch die „Sprache-im-öffentlichenAlltag" in seiner außerordentlich breit gestreuten Wörterbuchbasis enthalten; Belege aus Zeitungen werden hier erstmals ebenso durch Nachweis „geadelt" wie solche aus den Texten der „mustergültigen Schriftsteller". Spuren gesprochener, dialogischer Sprache verblassen hingegen mehr und mehr; Mundartli-

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ches wird nahezu ausgeschlossen und Kompetenzbeispiele sind i.d.R. auf Syntagmen unterhalb der Satzgrenze beschränkt. In der Sprachwissenschaft hatte Sprache-im-Alltag vom Ende des 19. Jahrhunderts bis nach 1945 generell keine Chance: Junggrammatik und Strukturalismus waren höchstens mit diachronen Zielen an einzelnen System-Aspekten der Mundarten interessiert; ansonsten genügten diejenigen Existenzformen von Sprache, die auch Gegenstand von Mediävistik und Literaturwissenschaft waren; dienten sie doch ,nur' zur Illustration von Theorien über das Sprachsystem und waren im Grunde austauschbar. In den germanistischen Schwesterdisziplinen musste in dieser Zeit zuerst die Emanzipation der jüngeren und Gegenwartsliteratur von der mit Goethe zuende gehenden Blütezeit der deutschen Literatur bewältigt werden. So blieb auch die Grammatikografie und Lexikografie eines Hermann Paul auf eine literarische Basis beschränkt. Was Radtke (1994, 427) für die Romanistik feststellt, gilt mutatis mutandis auch fur die Germanistik: Gebrauchstexte werden dort und nur solange als Ersatz für ,hohe' Literatur akzeptiert, wo letztere nicht überliefert ist. Ganze Subdisziplinen geraten in den Sog der Abwertung der Gebrauchsliteratur, wenn zu ihren Gegenständen aus irgendwelchen (historischen) Gründen kaum Hochliterarisches zählt. Dies betraf u.a. die niederdeutsche Philologie, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Platz im Fächerkanon zu erkämpfen begann. 1928 kündigte Agathe Lasch, Lexikografin und Grammatikografin des Mittelniederdeutschen, an der Hamburger Universität ein „Kolloquium] über Fragen d[er] Alltagsspr.[ache]"' an. Auch in anderen ihrer Publikationen äußerte sie sich am Rande über „Zweckliteratur", d.h. zwar „längst beachtete, doch noch immer nicht sprachlich ausreichend gewürdigte [...] Texte" (Lasch 1932, 60, Anm. 3) rechts- und verwaltungssprachlicher Art, die für die Erforschung des Mittelniederdeutschen, der „Sprache der Hanse", von herausragender Bedeutung waren. Laschs Vorstoß ist interessant, weil er die Folgen sichtbar macht, die zum Einen auf die fachübergreifende Fixierung auf Literatur· und geschriebene Standardsprache als überregionale und stilistisch gehobene Varietät, zum Zweiten auf die Indifferenz zurückzufuhren ist, die eine systemorientierte Sprachforschung gegenüber den sprachlichen Existenzformen, die ihre empirische Fundierung liefern, an den Tag legt. Eine Wende zeichnete sich ab, als die Ordinary Language Philosophy ihren Einfluss auch auf die Sprachwissenschaft auszuüben begann. Eine bestimmte Form der Sprache-im-Alltag erschien nun philosophisch geadelt und - zumindest innerhalb der germanistischen Linguistik - der Literatur- oder Standardsprache an Prestige und wissenschaftlichem Nutzwert gleichgestellt. Wittgenstein veranschaulicht in den philosophischen Untersuchungen' (I, Nr. 27)

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Ich danke Frau Dr. B. Wägenbaur vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach a. N. für den Zugang zu den Vorlesungsverzeichnissen.

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anhand von Ein-Wort-Sätzen, was man generell mit Sätzen tun kann: „Wasser! Fort! Au! Hilfe! Schön! Nicht!". Diese alltäglichen Sprachhandlungen stehen nicht nur in Opposition zur Philosophie- und Wissenschaftssprache, deren Kritik sich die Ordinary Language Philosophy zum Ziel gesetzt hatte, sondern auch zur standardsprachlichen Norm, nach der schon Kinder lernen, dass man sich in „ganzen Sätzen" ausdrücken soll. Aber die Philosophie und die Linguistik in ihrem Gefolge weisen nun nach, dass es sich in einem neuen Verständnis um vollständige, d.h. „gute" Sätze handelt. In der deutschen Fassung von Austins Vorlesungsnachschriften (,How to do things with words') werden nach wenigen Seiten Beispielsätze angekündigt, die „ganz alltägliche Verben in der ersten Person ..." enthalten. Der erste von ihnen ist: ,Ja' „als Äußerung im Laufe der standesamtlichen Trauung" (Austin 1972, 26) und der vierte: „Ich wette einen Fünfziger, daß es morgen regnet" (ebd. 27). Während die erste Äußerung nach strikten institutionellen Regeln abläuft, dreht sich die zweite um typische britische Alltagsthemen. Natürlich spielen Varietäten oder Situationszugehörigkeit für Austin keine Rolle, denn die Beispiele werden allein um ihrer Performativität willen als typische Sätze der „normalen" Sprache untersucht. Nicht nur die linguistische Pragmatik, auch das dieser entgegengesetzte Chomsky-Paradigma entdeckte Sprache-im-Alltag für die eigenen Zwecke. Das allererste Beispiel, das Chomsky in seinen ,Aspects of the theory of Syntax' (1965) bildet - die deutsche Ausgabe behält die englischen Beispielsätze bei - , gehört kontextuell, wie bei Adelung, in ein Gespräch über Bücher: „I called up the man who wrote the book that you told me about." (Comsky 1969, 22). Wo Bücher nicht mehr nur gelesen, sondern geschrieben werden, herrscht allerdings ein außergewöhnlicher Alltag: der von Intellektuellen. Die meisten Beispielsätze Chomskys und seiner breiten Nachfolgerschaft spiegeln neben dem Intellektuellen-Alltag die Alltagswelt von „John" und „Bill", die auffallend häufig mit Bier und Mädchen zu tun haben. Die Examinierung der Sprecherkompetenz zur Verifizierung der Generativen Theorie verlangt, so scheint es, eine Sprache des „vertraulichen Umgangs" unter (männlichen) Linguisten: Hier kennt man sich so gut aus, dass man Grammatikalitätsgrade sicher differenzieren kann. Verdankt denn, so könnte man fragen, Sprache-im-Alltag ihren Durchbruch als Gegenstand der Linguistik der unfreiwilligen Allianz aus linguistischer Pragmatik und Sprachsystemforschung in der Nachfolge Chomskys, die den Native Speaker, den Kumpel von John und Bill, als zuverlässigste Quelle sprachlichen Wissens inthronisierte? Befreite er die theoretische Sprachwissenschaft endlich von den Mühen der Textanalysen, empirischen Erhebungen und Auswertungen? Das Beste am Native Speaker ist, dass ihn jeder Linguist in sich selber finden und zum Diener beliebiger Zwecke machen kann. Zum Lohn widmete Coulmas dem Native Speaker 1981 eine eigene Festschrift

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(Antos 1996, 256ff.)· Gottseidank hat der Native Speaker bis jetzt kein Wörterbuch geschrieben, wenn er wohl auch in einigen seine Finger drin hat. Die linguistische Pragmatik diesseits der Sprachphilosophie hat den Reiz der individuellen, sozialen und situativen Vielfalt von Sprache-im-Alltag schnell entdeckt. Der allgemeine Bezugspunkt der Varietätenforschung hat sich seit den 70-er Jahren ganz sicher weg von der immer heterogener werdenden Literatursprache und hin zu einer mündlichkeitsnäheren Sprache-imöffentlichen-Alltag entwickelt. Gleichzeitig entwickelten sich in Linguistik wie Literaturwissenschaft Teildisziplinen, die sich der Sprache-im-Alltag widmeten: Gesprächsanalyse, oral history und mündliches Erzählen. Die Erforschung von Schrift und Schriftlichkeit scheint erst vor diesem Hintergrund Profil und interdisziplinäre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Diese Entwicklung hatte auch Auswirkungen auf die zeitgenössische Lexikografie. Während das ,Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache' durch seine Quellenbasis der literatursprachlichen Norm vor allem in stilistischer Hinsicht mit einem differenzierten Ebenenmodell verbunden blieb, räumt das , Große Wörterbuch der deutschen Sprache' aus dem Duden-Verlag (1. Auflage 1976ff.) der „Umgangssprache" einen nie zuvor dagewesenen Raum ein. In der Wörterbuchbasis sind nicht nur Brecht und Mann, Boll und Grass, Freud und Habermas vertreten, sondern auch die ADAC-Motorwelt, Heftchenromane, Männermagazine, Gütermanns Näh-Lexikon und die Sitzungsprotokolle des Bundestags. Die Stilebenen und ihre Bewertung werden freilich nicht aufgegeben. Mit „ugs." und „salopp" markierte Äußerungen - sie entstammen überwiegend der lexikografischen Individualkompetenz - werden stets in die unmarkierte normalstilistische Ebene übersetzt. Der quantitative Vergleich diverser Markierungen, die der Sprache-imAlltag mal näher, mal entfernter stehen, ergibt für die CD-Rom des UniversalDuden -

ugs.; umgangsspr. mdal. [mundartlich] journal. kaufm. gehoben dichter. literar.

7990 6 43 418 7665 528 152

Das Verhältnis von alltagsnäherer und alltagsfernerer Sprache liegt somit bei 8457 : 8345, d.h. es ist fast 1:1. In der ebenfalls auf CD-Rom verfügbaren 9. Auflage von Hermann Pauls ,Deutschem Wörterbuch', das sich dezidiert der Dokumentation der deutschen Literatursprache verschreibt, summieren sich die alltagsnäheren Markierungen (ugs., journal., mdal., kaufm.) auf 1872 und die alltagsferneren (dicht., geh., literar.) auf 629; ihr Verhältnis ist somit grob 3:1. Paradox? Nein, wohl eher der Beleg dafür, dass im neuen ,Paul' die „Latte" der unmarkierten Stil-

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ebene „höher gelegt" wurde als im Duden, sodass unterhalb weitaus mehr zu markieren ist als oberhalb; der Duden hingegen ist den „goldenen Mittelweg" gegangen. Festgehalten werden muss aber, dass Sprache-im-Alltag, obwohl nun breiter repräsentiert, lexikografisch immer noch als Stilebene und damit nicht wirklich angemessen behandelt wird. Dies könnte erst durch eine Situationsund Textsortenmarkierung geändert werden, die die Stilebenenmarkierung ersetzt. Die vor allem von Wiegand vorangebrachte lexikografische Theorie hat die (Un-)Angemessenheit semantisch-pragmatischer Angaben immer wieder an alltagsweltlichen Dialogen überprüft - und dem „Botel" so einen wenigstens für seine Heidelberger Schülerinnen und Schüler unvergesslichen Ehrenplatz in der Wissenschaftsgeschichte gesichert. Dem berechtigten Nutzerinteresse an Orientierung über Stilnormen der Lexemverwendung müsste man freilich anderweitig entgegenkommen, wenn Sprache-im-Alltag über Situations- und Textsorten- statt über Stilmarkierungen bestimmt werden soll. Die Entwicklung der Techniken der Sprachaufzeichnung und der Recherchierbarkeit solcherart gewonnener Daten war in den letzten Jahrzehnten rasant und hat neue Möglichkeiten zur Erforschung von Sprache-im-Alltag eröffnet. Nicht nur immer größere Korpora geschriebener, sondern auch gesprochener Sprache, wie sie im Institut für Deutsche Sprache in Mannheim aufgebaut werden, zeugen von der durchgesetzten Gleichberechtigung aller situativen, sozialen und regionalen Varietäten.

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Schlussfolgerungen

Nach diesem notgedrungen sehr groben und sehr exemplarischen Durchgang durch die Geschichte der germanistischen Sprachwissenschaft bzw. Lexikografie lässt sich festhalten, dass die oppositive Bestimmung von Sprache-imAlltag seit dem Humanismus existiert, dass die Wissenschafts-, bzw. die mit ihr verknüpfte Sprach- und die Gesellschaftsgeschichte zur Verschärfung diverser, nämlich stilistischer wie varietätenbezogener Oppositionen wesentlich beigetragen hat. Für eine historische Erforschung von Sprache-im-Alltag sind Wörterbücher mithin nur sehr eingeschränkt zu gebrauchen. Andererseits gibt es nicht viele andere Quellen, die sie diesbezüglich ersetzen könnten; hier kommen wesentlich die unpublizierten infrage. Überraschend ist allerdings, dass ausgerechnet die barocke Lexikografie sich als ein noch unentdeckter Fundus alltagsweltlicher Sprachformen erwiesen hat, von deren „Theoriengehalt" so manches die Zeiten überdauert hat: die Welt ist rund/ wer nicht darinnen schwimmen kann/ der gehet zu Grund (Kramer Bd. II, 394c).

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Literatur

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KLAUS MUDERSBACH

Wie der Mensch im Alltag folgert Ein Gegenvorschlag zur Formalen Logik Einleitung: Zum Schließen im Alltag 1 Fragestellung und Daten-Auswertung 1.1 Beispieltext 1.2 Beobachtungen zum schlußfolgernden Denken 1.3 Erkenntnisse über das Schließen im Alltag 2 Grundmodell des pragmalogischen Schließens 2.1 Kommunikative Ausstattung des Alltagsmenschen 2.2 Darstellung des Schließens im Alltag als Denkschema (Allgemeine Form des Pragmalogischen Schließens) 2.3 Das pragmalogische Schließen über Sachverhaltsstrukturen 2.4 Schließen Uber Handlungsplänen 2.5 Schließen über Sprechhandlungsplänen 6 Zusammenfassung 7 Literatur

Einleitung: Zum Schließen im Alltag Dieser Beitrag wendet sich an diejenigen Leser, die zwar täglich ihre Kompetenz zum schlußfolgernden Denken benutzen, aber sich darüber bislang keine Gedanken gemacht haben. Er ist nicht für solche Leser gedacht, die schon logisch vorgebildet sind, denn sie werden Schwierigkeiten haben, das folgende zu verstehen, weil sich die Moderne Logik zu weit von dem entfernt hat, wie wir im Alltag folgern. Es ist auch nicht meine Absicht, einen eingefleischten Logiker überzeugen zu wollen, weil er raffinierte Immunisierungsstrategien anwendet, um sich nicht mit der Alltagslogik bzw. der Umgangssprache befassen zu müssen, also gerade mit den Bereichen, in denen das Denken, Handeln und Sprechen verankert ist. Unter dem logischen Denken im Alltag soll das Phänomen verstanden werden, daß der Mensch imstande ist auf regelhafte Weise Schlußfolgerungen aus seinem festen Regel- oder Gesetzes-Wissen zu ziehen und die Schlüsse in seinem täglichen Leben anzuwenden. Das „Logische" in diesem Denken bezieht sich nicht darauf, ohne Kenntnis des Inhalts bestimmter Aussagen nach einem formalen, d.h. inhaltsunabhängigen, Schlußschema auf eine andere Form zu bringen und diesen „formalen Schluß" dann eventuell auf Inhalte anzuwenden. Bei einem solchen

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Vorgehen wird die Kenntnis bestimmter inhaltlicher Regeln und Gesetze systematisch aus der Beschreibung ausgeschlossen und damit der gesamte Phänomenkomplex des alltäglichen Schließens ignoriert. Hier wird die Auffassung vertreten, daß sich das regelhafte Schließen über bestimmte inhaltliche Gesetze so verallgemeinern läßt, das man zu einem Schema des Schließen gelangen kann, für das entscheidend ist, daß der Schließende vor der Anwendung aus diesem Schema erst ein jeweils inhaltsspezifisches Schema bildet, das ihm dann erst die geeignete Grundlage für einen konkreten Schluß liefert. In dieser Arbeit soll gezeigt werden: -

dass wir all unser Tun mit unserer „Alltagslogik" begleiten, dass wir uns diese Logik bewußt machen können, ohne uns deswegen einem schwerverständlichen Formalismus unterwerfen zu müssen, und dass wir lernen können, wie wir unsere eigenen Argumente und die anderer überprüfen oder absichern können, um sie transparent und nachvollziehbar zur Sprache bringen zu können.

Daraus wird sich dann auch ergeben, daß das, was die moderne Logik zu diesem Bereich zu sagen hat, sehr dürftig ist und für den Alltagsmenschen gerade nicht relevant ist, daß mithin der Mensch als Wissenschaftler seit 2400 Jahren eine zentrale Aufgabe des Menschseins vernachlässigt hat, nämlich: sich ein Instrument zu schaffen, das dem Menschen beim alltagslogischen Denken helfen kann, so wie ihm die Zahlen, das Messen oder die Benutzung des Rades geholfen haben.

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Fragestellung und Daten-Auswertung

Gefragt wird: Kann das alltägliche Schließen so modelliert werden, daß dem Menschen im Alltag ein Instrument an die Hand gegeben wird, mit dem er seine Argumentationen und schlußfolgernde Gedankengänge auf Korrektheit kontrollieren und beurteilen kann, ohne daß er dazu die Übersetzung in eine formale Logiksprache braucht. 1.1

Beispieltext

Ich möchte zunächst an einem Beispieltext zeigen, wie das Schließen im Alltag abläuft. Daraus werden die für die Modellierung relevanten Gesichtspunkte entwickelt und verallgemeinert (1.2 und 1.3). Danach wird das Modell des Schließens im Alltag aufgestellt: zunächst für Attribute (2.1 und 2.2), dann für Sachverhaltsstrukturen (2.3) und schließlich für das Handeln (2.4) und für Sprechhandlungen (2.5). Der Beispieltext ist eine Stelle aus dem zweiten Kapitel des Romans „Schuld und Sühne" von F.Dostojewski (in der Übertragung von E.K.Rashin). Zum Verständnis des Ausschnitts sind folgende Aspekte der Vorgeschichte zu

Wie der Mensch im Alltag folgert

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berücksichtigen: Der Student Raskolnikoff hat gerade eine alte Frau, eine Pfandleiherin, mit dem Beil erschlagen, ihren Geldbeutel und andere Sachen teils in eine Tasche, teils in die Hosentasche gesteckt. Er konnte unerkannt den Tatort verlassen und in seine Wohnung zurückkehren. Hier hat er alle Gegenstände, die er mitgenommen hat, insbesondere den Geldbeutel, gleich versteckt. Er ist noch völlig aufgewühlt von der Tat. Nun versucht er fieberhaft, alle Spuren von Blut zu beseitigen. Da kam ihm ein seltsamer Gedanke: vielleicht war auch seine ganze Kleidung blutig, vielleicht hatte sie viele Flecken, aber er sieht sie bloß nicht, bemerkt sie nicht, weil sein Denken geschwächt, verworren ... der Verstand getrübt i s t . . . Plötzlich erinnerte er sich, daß an dem Beutel auch Blut war. „Ha, also muß in der Tasche auch Blut sein, da ich den feuchten Beutel hineinsteckte!" Schnell drehte er die Hosentasche um, und - tatsächlich - auf dem Futter der Tasche waren Blutspuren, Flecken! „Also hat mich der Verstand doch noch nicht verlassen, also besitze ich noch Urteilsfähigkeit und Gedächtnis, wenn ich mich hierauf besinnen konnte", dachte er triumphierend und atmete aus voller Brust tief und freudig auf. „Es ist einfach fieberhafte Schwäche, nur eine vorübergehende Anwendlung." Und er riß den ganzen Futterstoff der linken Hosentasche heraus.

Hier wird zwar nicht gerade eine alltägliche Situation geschildert, aber der Leser dieses Ausschnitts wird das, was Raskolnikoff denkt und tut, sicher ohne Schwierigkeiten nachvollziehen können. Die genaue Darstellung Dostojewskis von dem, was in Raskolnikoff vorgeht, erleichtert uns das Auffinden der Linien im Denken, die für unsere Fragestellung wichtig sind. Wir wollen also fragen: Was haben wir da nachvollzogen? und: Was hat dies mit Logik zu tun? Für Verweiszwecke wird hier der Text mit Markierungen wiederholt: (50) (51) (52) (53) (54) (55) (56) (57) (58) (59) (510) (511) (512) (513) (514) (515)

Da kam ihm ein seltsamer Gedanke: vielleicht war auch seine ganze Kleidung blutig, vielleicht hatte sie viele Flecken, aber er sieht sie bloß nicht, bemerkt sie nicht, weil sein Denken geschwächt, verworren ... der Verstand getrübt i s t . . . Plötzlich erinnerte er sich, daß an dem Beutel auch Blut war. „Ha, also muß in der Tasche auch Blut sein, da ich den feuchten Beutel hineinsteckte!" Schnell drehte er die Hosentasche um, und - tatsächlich - auf dem Futter der Tasche waren Blutspuren, Flecken! „Also hat mich der Verstand doch noch nicht verlassen, also besitze ich noch Urteilsfähigkeit und Gedächtnis, wenn ich mich hierauf besinnen konnte", dachte er triumphierend und atmete aus voller Brust tief und freudig auf. „Es ist einfach fieberhafte Schwäche, nur eine vorübergehende Anwandlung." Und er riß den ganzen Futterstoff der linken Hosentasche heraus.

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Beobachtungen zum schlußfolgernden Denken

Zunächst sollen einige Beobachtungen zusammengestellt werden, die dann den Ausgangspunkt für die Modellierung bilden werden: bl.

In diesem Text stellt der Autor dar, was Raskolnikoff denkt, was er fühlt und was er tut. Es kommen keine sprachlichen Äußerungen vor, weil er allein in seiner Kammer ist. (Auch SlOf. und S14 sind Gedanken, die aus der Innensicht des Raskolnikoff formuliert werden.) Der Leser muß die Kohärenz der Gedanken und Handlungen selbst herstellen. Hinweise auf zeitliche oder logische Zusammenhänge erhält er durch bestimmte Wörter, wie „also" oder „da" oder „plötzlich", „tatsächlich". b2. Raskolnikoff hat die Absicht, alle Blutspuren zu beseitigen (b2.a). Dazu muß er sie aber erst ausfindig machen. Sein Interesse gilt daher (b2.b), noch Blutspuren an seiner Kleidung zu entdecken (S1,S2). b3. Seine Erinnerung liefert ihm eine Information, die ihn auf eine Spur bringt (S5,S7). Also: Der Geldbeutel war blutig gewesen (S5) und Er hat ihn vorhin in sein Hosentasche gesteckt (S7). b4. Daraus schließt er, daß auch die Hosentasche innen blutig sein muss (S6). b5. Nachdem er diese Vermutung erschlossen hat, will er prüfen, ob sie stimmt. b6. Um zu prüfen ob im Hosentaschenfutter noch Blut klebt, kann Raskolnikoff mehrere Handlungsstrategien anwenden: dazu könnte er z.B. mit der Hand oder einen Lappen in die Tasche hineingreifen oder er könnte die Hosentasche umstülpen. Raskolnikoff wählt das letztere (S8). b7. Dem geht die Kenntnis eines Erfahrungsgesetzes voraus: b7.a Wenn man die Hosentasche umstülpt, b7.b dann sieht man das Hosentaschenfutter. b8. Weil Raskolnikoff nach b5. das Hosentaschenfutter sehen will (cf. b7.b), fuhrt er die Handlung durch, die nach dem Gesetz in b7. dahin fuhrt, nämlich: die Hosentasche umzustülpen (b7.a). b9. Der Vollzug der Handlung fuhrt dazu daß er die Innenseite sieht. Das gibt ihm die Möglichkeit zu beurteilen, ob sie blutig ist. blO. Raskolnikoff sieht, daß sie blutig ist (S9). bl 1. Da sein Interesse war, Blutspuren an seiner Kleidung ausfindig zu machen, hat er auf diese Weise sein Ziel erreicht und sein Interesse (b2.b) ist befriedigt. bl2. Da Raskolnikoff aber die Blutspuren auch beseitigen will (b2.a), ergibt sich jetzt wieder die Frage nach einer Handlungsstrategie', entweder er kann versuchen, das Blut abzuwischen (Hl) oder auszuwaschen (H2) oder er kann das Hosenfutter herausreißen und beseitigen (H3). Das entsprechende Erfahrungsgesetz kann als Wenn-Dann-Satz formuliert werden: Wenn man das Hosenfutter herausreißt und beseitigt (H3) oder (H2) oder ( H l ) ausführt, dann beseitigt man auch die Blutspuren am Hosenfutter. bl3. Raskolnikoff wählt H3 D.h. bl 3.a Weil Raskolnikoff nach b2.a die Absicht hat, alle Blutspuren zu beseitigen, bl3.b will er das Hosenfutter herausreißen und beseitigen. bl4. Raskolnikoff vollzieht die Handlung bl3.b, aber nur den ersten Teil. Er kommt nicht dazu, das Hosenfutter zu beseitigen.

Wie der Mensch im Alltag folgert

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Wie es weiter geht, erfahren Sie ihm Roman. Hier kommt es nur darauf an, daß wir mit dieser etwas mühseligen Detailanalyse haben zeigen können, daß Raskolnikoff sich im Denken und Handeln folgerichtig verhalten hat. Das ist für die Beschreibung des folgerichtigen Denkens und Handelns relevant. D a s ist aber auch für Raskolnikoff relevant, weil er j a schon an seinem Verstand gezweifelt hat, also darauf angewiesen war, sich zu beweisen, daß sein Verstand noch funktioniert. Das kann hier jedoch nicht weiter betrachtet werden.

1.3

Erkenntnisse über das Schließen im Alltag

Wir können aus diesem Beispiel (und aus unseren eigenen Schlüssen im Alltag) folgende Vorgaben für die Modellierung des Schließen im Alltag gewinnen: Eigenschaften des Schließens im Alltag: -

-

-

-

Der Alltagsmensch schließt im Denken, nicht über sprachlichen Äußerungen (b4.,b6.,bl2.); wenn er sich äußeren will, zieht er seine Schlüsse als Sprecher bei der Redevorbereitung oder als Hörer bei der Aufbereitung des Gehörten; seine Schlüsse beziehen sich auf die ihm vorliegenden Alltags-Informationen in der Anschauung (b3., blO.,) oder in einem Text bzw. in einer gehörten Äußerung. Die Schlüsse setzen ein Interesse, eine Frage, eine Handlungsabsicht, voraus (S1 S3, b2., bl 1.). Ein Schluß führt - entweder zu einem gedanklichen Resultat (b4.) - oder zum Entschluß zu einer Handlung und zu deren Ausführung (b6., b9., bl4.). Ein Schluß beruht auf einem (Erfahrungs-)Gesetz oder einer (Verhaltens-)Regel oder ähnlichen festen (konventionellen oder subjektiven) Beziehungen zwischen begrifflichen Strukturen (b4., bl., bl2.). Die Konklusion einer Schlußregel kann eine neue Sachverhaltsstruktur (oder einen anzuwendenden Begriff) enthalten (b4.) oder eine auszuführende Handlung angeben (b8.,bl3b.). Das Schließen ist auf einen Zweck hin ausgerichtet {teleologisches Schließen)', entweder eine Erkenntnis zu erreichen (b2., bl 1.) oder eine Handlung ausführen zu können (b8.,bl4.).

Was das Schließen im Alltag nicht ausmacht: -

-

Der Alltagsmensch schließt i.a. nicht durch Übergang von einer sprachlich gefaßten Aussage auf eine andere. Er schließt i.a. nicht von wahren Aussagen auf wahre Aussagen, sondern von angenommenen Sachverhalten auf (gefolgerte, aber nur vermutete) Sachverhalte. Er schließt nicht über formalen Satzstrukturen mit bestimmten formalen Eigenschaften oder bestimmten „logischen" Wörtern, sondern aus inhaltlichen Vorgaben (in Form von Begriffen oder Sachverhaltsstrukturen). Er braucht als Schluß-Grundlage kein objektives Gesetz oder logisch wahre Formel, sondern die von ihm individuell für gültig gehaltenen „Übergangsregeln" (Gesetze, Vorschriften, Erfahrungsmustern).

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Klaus Mudersbach

-

Er schließt nicht nur aus logisch-notwendigen, sondern aus allen BegriffsBeziehungen, die ihm gestatten, den Übergang von einem Begriff (oder einer Sachverhaltsstruktur) zu einem anderen als notwendigen Übergang anzusehen. Dazu gehören sowohl sprach- und sach-bezogene Regeln als auch ethische und juristische Vorschriften. Ein Teil der sprachbezogenen Regeln betreffen die Strukturwörter. Ein Teil wiederum davon sind die sogenannten „logischen Konstanten" („und"; „oder", „wenn-dann", „nicht", „alle", „einige"). Die formale Logik hat nur das Schließen über logischen Konstanten behandelt; alle übrigen inhaltlich-notwendigen, aber nicht logisch-notwendigen Schlüsse hat sie nicht behandelt.

Von der syllogistischen Logik des Aristoteles bis hin zur modernen Formalen Logik wurde das Schließen des Menschen im Alltag ignoriert. Das, was diese Logiken hervorgebracht haben, beschreibt nicht, wie das Folgern beim Menschen im Alltag abläuft. Das ist auch nicht deren Interesse. Wie der Mensch folgert und Folgerungen mitteilt, ist aber schon vor Aristoteles gezeigt worden: in den Sokratischen Dialogen Piatons. Allerdings nur gezeigt, aber nicht beschrieben. Wenn sich also die gesamte Logiktradition mit der Alltagslogik nicht befaßt hat, dann wird es höchste Zeit, diesen Bereich linguistischpragmatisch zu untersuchen. Damit will die nachfolgend dargestellte „pragmatische Logik" anfangen.

2

Grundmodell des pragmalogischen Schließens

Die in 1.3 zusammengestellten Intuitionen über das Schließen sollen jetzt in einem Modell als Denkschema formuliert werden, das darstellt, wie der Alltagsmensch gedanklich schließt. Es wird „Pragmalogik" genannt. 2.1

Kommunikative Ausstattung des Alltagsmenschen

Wir stellen uns vor, dass ein Alltagsmensch (wir nennen ihn im folgenden „den Kommunikanten K") über folgende Werkzeuge und Fähigkeiten verfugt, um Schlüsse durchführen und danach handeln und sich äußern zu können. Die Kommunikations-Basis des Κ besteht aus den drei auf Κ bezogenen Komponenten: -

KB 1. einen Informationsstand INF(K) KB2. eine Eigensprache ESP(K) KB3. einen Gesetzesbereich GSZ(K).

Auf die formalen Details wird hier nicht eingegangen (cf. Mudersbach 1984, 45ff., 167ff.). Für die Beschreibung des Schließens im Alltag soll hier nur das erwähnt werden, was in den einzelnen Komponenten relevant ist. KB1. Die Sicht des Κ von seiner Wirklichkeit (INF(K)) wird mittels Relationen über Objekten (hier: Dividuen) modelliert. Ein Dividuum besteht aus der Menge der Eigenschaften, die Κ von einem Objekt seiner Wirklichkeit kennt.

Wie der Mensch im Alltag folgert

77

Eine Eigenschaft ist ein (einfaches) Attribut, das dem Κ kognitiv zur Verfugung steht und das Κ mit einem Wort seiner Sprache versprachlichen kann. Wenn Κ also z.B. an einem Objekt die Eigenschaft 'hund-sein' erkennt, so muß er zu dieser Eigenschaft den sprachlichen Ausdruck „Hund" in seiner Eigensprache ESP(K) zur Verfügung haben. Eigenschaften, die Κ nicht in seiner Sprache ausdrücken kann, kann er (in diesem Modell) auch nicht erkennen. Daher unterscheiden sich die Eigensprachen zwischen zwei Kommunikanten in der Menge der Attribute, die dem jeweiligen Kommunikanten zur Verfugung stehen, und eventuell auch in ihrer Bedeutung (d.h. in den Sinnrelationen, die zwischen den Attributen bestehen, cf. Mudersbach 1994, 122). Im Beispieltext kennt Κ (= Raskolnikoff) in INF(K) die Dividuen: d l : = {geldbeutel, blutig} und d2 := {hosentasche}.

Außerdem bestehen zwischen den Objekten Relationen. Relatoren sind (komplexe) Attribute, denen eine bestimmte Anzahl von Argumentstellen zukommt (z.B. argl - Rl:stecken-in —• arg2). Sprachlich werden sie hauptsächlich durch Verben ausgedrückt. Im Beispieltext haben wir z.B. die Relation: dl - Rl:steckt-in

d2.

Ein Informationsstand kann das aktuale Wissen eines Kommunikanten über seine Wirklichkeit repräsentieren, aber auch jede andere Sichtweise X, die der Kommunikant sich ausdenkt, erträumt, erhofft, befürchtet oder einem fiktiven Text entnimmt. Wir schreiben „X|K" für die Sicht des X in der Sicht des K. K.B2. Die Eigensprache ESP(K) ist die übliche Alltagssprache, aber versehen mit den K-spezifischen Bedeutungen der Wörter. Die in Sätzen dargestellten Beziehungen werden abgebildet auf die Relationen zwischen Dividuen oder auf Gesetze. KB3. Der Gesetzesbereich GSZ(K) enthält Beziehungen zwischen Attributen. Mit „Gesetz" ist eine Sinn-Beziehungen zwischen Attributen gemeint, die für den Kommunikanten gültig ist. Im folgenden kommt nur eine für Attribute spezifizierte Art der Implikation vor (linguistisch „Hyponymie", begriffslogisch: „UnterbegriffsBeziehung" genannt). Es wird kein Unterschied gemacht zwischen Regeln, Vorschriften, subjektiven und objektiven Gesetzen, sprachlichen und sachlichen, juristischen, ethischen und Handlungs-Gesetzen, da auf alle diese Gesetzesarten die gleiche logische Schlußform angewendet werden kann, wie nachfolgende gezeigt wird.

Umgangssprachlich formulieren wir Gesetze der einfachsten Form durch einen Konditionalsatz oder All-Satz: (KB3.1) Wenn die Eigenschaft A an einem Ding d vorliegt, dann liegt auch die Eigenschaft Β an d vor.

Oder: (KB3.2) Alle A's sind auch B's.

78

Klaus Mudersbach

Die Bedeutung eines solchen gesetzesartigen Konditionalsatzes wird in Form eines Denkschemas dargestellt: Fl.

F2.

F3.

F4.

Der Wenn-Teil (Antezedens) besagt dies: In einer Situation ist zuerst zu prüfen, ob an einem Objekt dl das Attribut Α vorliegt. Dafür schreiben wir (Die Fra^e „trifft Α auf dl zu, Ja oder Nein?). „A 0" bezeichnet den „Frage-Operator" zum Attribut A, der an einem Dividuum prüft, ob Α Element von dl ist. „JN" besagt, daß die Antwort, d.h. das Ergebnis der Operation „A (dl)", dem Kommunikanten Κ noch unbekannt ist. Sobald die Antwort vorliegt, wird „JN" durch „JA" oder „NEIN" ersetzt. Der Wenn-Teil ist erfüllt, wenn Κ sich dafür entscheidet, daß Α auf d l zutrifft bzw. nicht zutrifft. Dies wird ausgedrückt durch: bzw. durch . (Die erfüllte Antezedens-Bedingung wird „Prämisse" genannt). Der Dann-Teil (Konsequens) besagt: Bei der Entscheidung „JA" (also d l : = (A, ...)) ist Κ berechtigt, das Attribut Β zu dl hinzuzufügen. Dies schreiben wir mit dem Plus-Operator B + (), also: . Der Dann-Teil ist erfüllt, wenn Κ sich dafür entscheidet, daß er das Attribut Β als neue Information in dl aufnehmen will: besagt, daß das Dividuum dl um das Attribut Β erweitert wird zu dl 1 (wobei d l ' = { A , . . . , B}).

Insgesamt schreiben wir das durch die Konditional-Aussage ausgedrückte Gesetz GS dann so: (GS)

vor der Anwendung: A'(d) K-% B + (d)

bei der Anwendung:

K-%=

Der Querstrich links (Schlußstrich) besagt, daß dies ein für Κ gültiges Gesetz ist. „K-%" indiziert die Gültigkeit der Beziehung für K. „(d)" ist die Stelle, an der ein beliebiges Dividuum stehen kann, „dl" ist ein konkretes Dividuum, auf das Κ das Gesetz anwenden will (nach F2 und F4). Die konkrete Anwendung unterscheidet sich vom Gesetzes-Schema -

durch die Einsetzung eines konkreten Dividuums (hier dl an der Stelle (d)) durch den Doppelstrich, der den konkret vollziehbaren Schluß anzeigt, und durch die noch zu entscheidende Alternative „JN"(= JA oder NEIN).

Die gesetzesartige Konditionalaussage ist der zentrale Teil beim pragmalogischen Schließen, denn sie stellt die Grundlage für die Schlußaktivität des Kommunikanten Κ dar (cf. 2.2 P3 ff.) Die folgenden Bemerkungen sind wichtig, um die Konditionalaussage gegenüber der Behandlung in der Formalen Logik durch die Implikation (alle x: A(x) —> B(x)) abzugrenzen: Ql.

Die beiden Teile des Konditionalsatzes enthalten keine wahrheitsfahigen Aussagen, sondern stellen eine Sinn-Beziehung zwischen Attributen (oder Sachverhaltsstrukturen (cf.2.2.)) dar. D.h.: Ein Gesetz ist ein Handlungsmuster fur einen (notwendigen) Übergang von einem Attribut zu einem andern: Wenn Α vorliegt, dann

Wie der Mensch im Alltag folgert

Q2.

Q3. Q4.

79

muß auch Β vorliegen. Die K-Gültigkeit des Gesetzes besagt: Der Kommunikant Κ kann den Übergang auf jeden geeigneten konkreten Fall anwenden. Dazu muß K, der ein solches Gesetz zur Verfugung hat, auch wissen, wie er dieses Schema auf eine konkrete Information anwendet, um feststellen zu können, ob es zutrifft. Ein konkreter pragmalogischer Schluß besteht in dem Vollzug dieses Übergangs bei einem vorliegenden Informationsstand. Es spielt keine Rolle, ob das Gesetz „objektiv" gültig ist. Relevant ist nur, daß es für den Schließenden im Augenblick des Schließens gültig ist. Κ kann auch Hypothesen über die Gesetz anderer Personen haben oder Gesetze, die in einem Text (z.B. in einem Märchen) aufgestellt werden. In diesem Fall bildet Κ einen hypothetischen Gesetzes-Bereich, z.B. Gesetz(M/K) zu den Gesetzen des erzählten Märchens. Diese sind dann nur märchen-intern fur M/K (d.h. Κ in der Rolle des Märchenlesers) gültig.

KB3.1 Typen v o n Gesetzen Wir unterscheiden z w i s c h e n Attributgesetzen ( G e s e t z e s - T y p 1), Sachverhaltsgesetzen (Gesetzes-Typ 2), Handlungsgesetzen ( G e s e t z e s - T y p 3 ) und Sprechhandlungsgesetzen (Gesetzes-Typ 4); cf. 2.2-2.5. Für alle vier T y p e n wird eine g e m e i n s a m e Schlußform aufgestellt: das allgemeine S c h e m a des Pragmalogischen Schließens. D.h. e s gibt nur ein einziges S c h l u ß s c h e m a in der Pragmalogik. A u s ihm lassen sich die verschiedenen Spezialfälle g e w i n nen. D a s allgemeine Schema wird zunächst am einfachsten Fall vorgeführt. Danach wird es auf die anderen Typen angewandt (in 2.3, 2 . 4 und 2.5).

2.2

Darstellung des Schließens im Alltag als D e n k s c h e m a (Allgemeine Form des Pragmalogisches Schließens).

D i e Denkhandlung des Schließens läßt sich als S c h e m a für einen interessegeleiteten, zielgerichteten Denkvorgang des Kommunikanten Κ modellieren, der aus 7 Schritten P I . - P7. besteht. 2.2.1 PI. P2. P3. P4. P5. P6. P7.

Das pragmalogische Schließen lautet in Kurzfassung: Ausgangsinformation: Κ richtet seine Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Information. Interesse: Κ hat ein darauf bezogenes Interesse (eine Frage). Gesetzes-Grundlage: Κ aktiviert ein Gesetz unter Vorgabe von PI. und P2. Prüfung der Anwendbarkeit: Κ prüft, ob das Antezedens des Gesetzes auf die Ausgangsinformation zutrifft. Erschlossene Vermutung: Wenn ja, schließt Κ auf die Anwendbarkeit des Konsequens auf die Ausgangsinformation. Entscheidung in der Wirklichkeit: Κ entscheidet sich dazu, die erschlossene Vermutung fur sich zu akzeptieren. Damit ist sein Interesse befriedigt. Entscheidung zum Handeln·. Aufgrund der Entscheidung aus dem Schluß wählt Κ eine Handlung oder Sprechhandlung.

80

Klaus Mudersbach

2.2.2 Kommentierung anhand des Beispieltextes Die einzelnen Schritte werden am eingangs diskutierten Beispieltext vorgestellt und an den dortigen Beobachtungen erläutert. PI. P2.

P3.

P4.

P5.

P6.

P7.

2.2.3

Der Schließende, K, geht aus von einer Ausgangs-Information (Objekt, Sachverhalt), die seine Aufmerksamkeit geweckt hat (S5,S7,b3.). Κ hat das Interesse·. Er will eine sich ihm stellende Frage beantworten (Sl,b2.b), um eventuell entsprechend handeln zu können (Sl,b2.a). Κ kann sich die ihn interessierende Information so beschaffen: - entweder er fragt jemanden danach, - oder er versucht, in der Wirklichkeit nachzuforschen, - oder er fordert jemanden auf, dies zu tun, - oder er erschließt selbst aus seinem Erfahrungs-Wissen die Information. Hier ist nur der letzte Weg von Interesse. Es wird aber deutlich, daß das Schließen eine Möglichkeit neben anderen ist, um sich Informationen zu beschaffen. Im folgenden werden die andern Möglichkeiten nicht mehr erwähnt. Wenn Κ also aus seinem Erfahrungs-Wissen die interessierende Information erschließen will, dann muß er ein oder mehrere (gültige) Gesetze aus seinem Gesetzeswissen GSZ(K) aktivieren, die geeignet sind, von der Ausgangsinformation (S5,S7, b3) zur interessierenden Antwort hinzuführen (S7,b4). Angenommen, Κ hat ein solches Gesetz gefunden; dann prüft K, ob die Ausgangsinformation das Antezedens des Gesetzes erfüllt (Prämisse des Schlusses, cf. KB3.F2.) (S5,S7,b3.,b4.). Angenommen dies ist der Fall, dann ist Κ berechtigt, zur Konklusion überzugehen und zu vermuten, dass sie dann auch zutreffen muß (S6,b5). Wenn nicht, muß er eventuell weitere Gesetze „dazwischenschalten" (cf. 2.3.2 P3.SV). Κ konfrontiert den Schluß mit der Prüfung dessen, was wirklich der Fall ist, um entscheiden zu können, ob er die Konklusion akzeptieren kann oder nicht (S6 S9, b7. - blO.). Hier kann er zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen, die von seiner individuellen Einstellung abhängen. Daher gehört dieser Teil nicht mehr zum logischen Schließen, sondern zu der Konsequenz, die Κ aus der erschlossenen Vermutung ziehen will. Da das Schließen aber gerade dem Zweck dient zu entscheiden, welche Konsequenzen zu ziehen sind, kann die formale Darstellung dieses Teils bei einer zielgerichteten (teleologischen) Beschreibung des Schließens nicht wegfallen. Mit diesem Schritt ist das Interesse aus P2. befriedigt (S10,bl 1.). Nachdem sich Κ dafür entscheiden hat, aufgrund der Überprüfung die erschlossene Vermutung zu akzeptieren, zieht er eine Konsequenz für sein Handeln (oder Sprechen) (S15,bl4.). Dieser Teil gehört aus denselben Gründen, die in P6. genannt sind, zu einer teleologischen Beschreibung des Schließens dazu; denn die Einbettung des Schlussergebnisses in den Handlungszusammenhang im Alltagsleben ist bei einem „telischen" Schluß unbedingt notwendig, wenn man die Kohärenz des Gesamtverhaltens eines Menschen beurteilen will.

Das pragmalogische Schließen über Attributen

Die 7 Schritte sollen nachfolgend anhand der involvierten Modell-Strukturen im einzelnen dargestellt werden. Dazu wird zunächst der einfachste Geset-

Wie der Mensch im Alltag folgert

81

zestyp gewählt: (Gesetzestyp 1 in verkürzter Schreibweise). Danach wird dies auf die anderen Gesetzestypen übertragen (cf.2.3 - 2.5). Der Kommunikant Κ vollzieht bei einer Schlußfolgerung f o l g e n d e Schritte: PI.

P2.

P3.

P4.

P5.

A usgangsinformation Κ konzentriert sich auf ein bestimmtes Objekt (Dividuum d l ) in seinem Informationsstand INF(K). Z.B.: dl := {E,F} (also die Menge, bestehend aus den beiden Attributen Ε und F). Erkenntnis-Interesse Κ hat bezüglich dl eine bestimmte Frage. Z.B: Κ will wissen, ob das Objekt dl das Attribut G besitzt. Gesetzes-Grundlage Κ aktiviert fur sein Interesse ein bestimmtes Gesetz aus GSZ(K). Z.B: Κ habe in GSZ(K) die beiden Gesetze und . Κ aktiviere das Gesetz GS 1 := (z.B. Tulpe 7 % Blume + >. Prüfung der Anwendbarkeit Κ prüft, ob das Antezedens des Gesetzes auf das Objekt dl zutrifft. Z.B.: dl = {E,F} führt bzgl. GS1: zur Frage, ob dl F ist (). Die Antwort ist wegen PI. positiv: . Erschlossene Vermutung Wenn Κ festgestellt hat, daß das Antezedens F auf dl zutrifft, dann kann er zur Konklusion übergehen: Z.B.

Κ - % = = = = =

D i e s e Darstellung besagt folgendes: P5.1

P5.2

P5.3

Antezedens und Konsequens eines Gesetzes werden auf ein Objekt dl angewandt. Die Anwendungsform (markiert durch den Doppelstrich) besteht aus erfüllter Prämisse und zu prüfender Konklusion. Dies dient dazu, deutlich zu machen, wann man ein Schema betrachtet und wann man ein Schema anwendet. Der Ausdruck nach dem Schlußstrich ist so zu lesen: „dann muß auch gelten, daß dl G ist." Durch „JN" wird deutlich gemacht, daß es sich hier um eine erschlossene Vermutung handelt, über die erst im nächsten Schritt (P6.) entschieden wird. Der Operator G + besagt, angewandt auf ein Dividuum dl (das das Attribut G noch nicht enthält): Zu den Attributen von d muß eigentlich das Attribut G hinzugefugt werden. Ob Κ dies dann wirklich akzeptiert, hängt vom nächsten Schritt ab.

D a hier die Schlußfolgerung so modelliert wird, daß sie nicht direkt zu einer faktischen Konklusion führt, kann die Pragmalogik die Probleme vermeiden, die sich unter d e m Stichwort „nicht-monotones Schließen" ( T h o m a s o n 1994) ergeben haben. D e n n der faktische Widerspruch z w i s c h e n d e m Erschlossenen und einem Faktum tritt hier nicht auf (cf. P6.E1 .ff) P6.

Vollzug der Entscheidung (Akzeptieren oder Zurückweisen der Konklusion) Κ muß sich nun entscheiden, ob er seine Schlußfolgerung akzeptieren will oder nicht. Davon hängt auch die Antwort auf die Frage, die dem Interesse zugrunde-

82

Klaus Mudersbach liegt, ab (cf.P2.: trifft G auf dl zu? Ja oder nein?). Mit dem Resultat dieses Schrittes ist in jedem Fall das Interesse (P2.) befriedigt.

Dieser Schritt gehört zwar nicht mehr zum notwendigen Übergang vom Antezedens zum Konsequens, aber der Kommunikant Κ fällt hier erst die individuell geprägte Entscheidung hinsichtlich der in P5. erschlossenen Vermutung. Diese Entscheidung läßt sich in verschiedene Fälle aufgliedern. Sie werden im Folgenden kurz besprochen. Anschließend wird ein Beispiel gegeben (cf. 2.2.4.). EO. Beschaffung der neuen Information·, Wenn Κ sich die zu überprüfende Information erst beschaffen muß, weil sie in seinem Informationsstand noch nicht vorhanden ist, dann muß Κ an dieser Stelle durch Handeln in der Wirklichkeit den Zustand herbeifuhren, in dem er seine erschlösse Vermutung („Prognose") überprüfen kann. Κ muß also erst eine geeignete Handlung wählen, d.h. eine Handlung, die zwar neutral gegenüber Verifikation und Falsifikation seiner Vermutung ist, aber dennoch dazu geeignet ist, die „Entscheidung der Wirklichkeit" erkennbar zu machen. Um eine solche Handlung wählen zu können, muß Κ aber zuerst weitere Schlüsse ziehen, die das Handeln vorbereiten können (dies betrifft den 3. Gesetzes-Typ: Handlungsgesetze cf. 2.4.). Wenn Κ sich die neue Information beschafft hat, kann er die nachfolgenden Entscheidungsschritte durchlaufen: E l . Inkompatibilität mit einer vorhandenen Information: Das erschlossene Attribut G ist inkompatibel zu einem im betrachteten Dividuum schon vorhandenen Attribut. In diesem Fall hat Κ sich zwischen den folgenden 3 Möglichkeiten zu entscheiden: E l . 1. Beseitigung der Inkompatibilität: Κ löscht das vorhandene Attribut aus dem Dividuum, um das neue aufnehmen zu können; El.2. Konzessiv-Wahl·. Κ weist das neue Attribut zurück und bleibt bei der bisherigen Information. In diesem Fall benutzt der Sprecher anschließend eine konzessive Formulierung (siehe im Beispiel 2.2.3 El.2), ohne jedoch weitere Konsequenzen aus seinem Schluß zu ziehen; Ε 1.3 Gesetzes-Elimination: Κ zieht aus der Tatsache, daß der Informationsstand dem Schluß widerspricht, die Konsequenz, daß damit ein Gegenbeispiel zum angewandten Gesetz vorliegt. Κ sieht das Gesetz als nicht mehr gültig an. - So verhält sich jedenfalls ein Mathematiker, der durch ein einziges Gegenbeispiel eine Allaussage schon als widerlegt ansieht. Der Mensch im Alltag hat jedoch „robustere" Gesetze: Ein Gegenbeispiel läßt ihn nicht gleich an dem Gesetz zweifeln; er hat meist eine ganze Reihe von „Ausreden" parat, um diesen Schritt nicht vollziehen zu müssen: er spricht dann von „Ausnahmen" oder von „Ausreißern" usw. E2. Integration der neuen Information: Wenn es keine solche Inkompatibilität gibt, kann Κ sich ohne Vorbehalt daftir entscheiden, das neue Attribut in seinen Informationsstand aufzunehmen. P7.

Entscheidung zum Handeln (Sprechhandeln): Je nach der in P6. erreichten Entscheidung zieht Κ nun die Konsequenzen fur sein weiterführendes Handeln (Sprechhandeln). Sowohl dieses Handeln als auch das prüfende Handeln (in P6.) erfordern eine eigene Handlungslogik (üblicherweise „praktischer Syllogismus" genannt). Sie wird in 2.4. dargestellt.

Wie der Mensch im Alltag folgert

83

2.2.4 Veranschaulichung an einem Beispiel: PI. P2. P3. P4. P5.

dl = {E,F} führt unter dem Interesse: ist dl G ? mit dem Gesetz G S 1: nach Prüfung der Prämisse fur d l : zum Übergang auf die erschlossene Vermutung:

% = = = = = = = = =

P6.

P7.

und damit zum Interesse: P2. Diese Frage ist nun zu entscheiden (Wahl zwischen den Fällen E0.-E2.): Κ versucht nun diese Vermutung an seinem Informationsstand zu überprüfen: EO. Κ entscheidet sich nach einem „Handlungs-Schluß" (Gesetzes-Typ 3) zur Handlung H l , deren Ziel es ist, in der Wirklichkeit festzustellen, ob G an d l vorliegt oder nicht (cf. im Beispieltext: S8,b8.). El. Angenommen: G ist mit Ε inkompatibel: E l . l . Κ eliminiert Ε in dl und fugt G hinzu: dl 1 := {F,G}, sodaß sich ergibt, oder El.2. Κ entscheidet < G + ( d l ) : N E I N > und bleibt bei d l = {E,F}. Κ verbalisiert dies als „Obwohl dl G sein müßte (weil es F ist), ist es dennoch E". Zusatz zur Begründung: „Es ist eine Ausnahme" oder ähnliches; oder E l . 3 . Κ verwirft das Gesetz , weil dieses d l nicht G ist und damit ein Gegenbeispiel zum Gesetz. E2. Κ entscheidet sich bei Kompatibilität dafür, das neue Attribut zu akzeptieren: dl ist tatsächlich G; d.h. d l ' = {E,F,G}. Je nach der Entscheidung zwischen EO. -E2. zieht Κ Konsequenzen f u r sein Handeln.

Dies ist die Grundform des pragmalogischen Schließens dargestellt anhand eines Attribut-Übergangs. Im folgenden wird dies Grundform auf weitere Gesetzestypen angewandt. 2.3

Das pragmalogische Schließen über Sachverhaltsstrukturen

Das Pragmalogische Schlußschema wurde in 2.2 für Gesetze formuliert, die Attribute miteinander in Beziehung setzen. Das Zutreffen eines Attributs auf ein (beliebiges) Objekt ist die einfachste Struktur eines Sachverhalts. Im Folgenden soll das Schema nun auf Gesetze über komplexe Sachverhaltsstrukturen (2.1 KB3.1 Gesetzes-Typ 2) angewandt werden. Damit das Verständnis nicht darunter leidet, soll dies gleich an einem Beispiel vorgeführt werden, das sich dann leicht verallgemeinern läßt. Das Beispiel gibt außerdem die Gelegenheit vorzuführen, wie man aus einem Konditional- oder All-Satz zu einem pragmalogischen Gesetz gelangt.

84

Klaus Mudersbach

2.3.1 Analyse von Sachverhaltsstrukturen in Konditionalsätzen Wir betrachten als Beispiel zwei Sätze, die in der Prädikatenlogik Schwierigkeiten machen (Geach 1963, Kamp/Reyle 1993): (Bl) (B2)

„Wenn ein Bauer einen Esel besitzt, dann pflegt er ihn" bzw. „Alle Bauern, die einen Esel besitzen, pflegen ihn."

W1. Gesetz oder Kontingenz? (Bl) ist eine Gesetzesformulierung. (B2) dagegen ist ambig: Es können nach Meinung des Kommunikanten Κ zufallig alle Esel-besitzenden Bauern, die er kennt, ihre Esel pfleglich behandeln (also ein kontingenter Sachverhalt). Wenn Κ den Satz (B2) äußert, kann er ihn entweder in diesem Sinne meinen, oder auch im Sinne eines Gesetzes (also im Sinne von (Bl)). Im Folgenden wird nur der Gesetzescharakter berücksichtigt. Anm.: Die Prädikatenlogik hat Schwierigkeiten mit der Semantik dieser beiden Sätze, denn sie drücken wohl dasselbe Gesetz aus, aber sie müssen wegen der Quantoren „alle" und „ein" unterschiedlich analysiert werden. Die „Discourse Representation Theory (= DRT)" (Kamp/Reyle 1993) bietet dazu einen Ausweg an, beachtet aber nicht, daß die Aussagen „Alle F sind G", „Ein F ist G", „Der F ist G", „Wenn etwas ein F ist, dann ist es auch G" und weitere Formen alle semantisch äquivalent sind, während sie die Prädikatenlogik alle verschieden übersetzen muß. Mit einem Formalismus, der nur die beiden Formen (Bl) und (B2) gleichbehandelt, wie es die DRT macht, ist das dahinterstehende Problem also nicht gelöst. Erst bei Trennung zwischen kontingenten und gesetzesartigen Aussagen, wie sie dem pragmalogischen Ansatz zugrundeliegt, kann man das Phänomen des „Quantoren-Kollaps" erklären. W2. Struktur des Antezedens Welche Bedingung muß erfüllt sein, damit man das Gesetz anwenden kann? Die Antwort ergibt sich bei einem expliziten Konditional-Satz aus dem Wenn-Teil; bei der All-Aussage aus der Bedingung, die an den All-Teil geknüpft ist (hier also „Alle Bauern, die einen Esel besitzen"). Die extrahierten Bedingungen für das Antezedens lauten dann: -

das Attribut „Bauer(sein)" soll bei einem Dividuum g l , das ansonsten beliebige Attribute hat, vorkommen (d.h. Bauer ( g l ) ) das Attribut „Esel(sein)" soll bei einem Dividuum g2, das ansonsten beliebige Attribute hat, vorkommen (d.h. Esel (g2), und die Sachverhaltsstruktur (gl - besitzen —* g2) soll auf einen Sachverhalt zutreffen.

Anm.: Von den Dividuen gl und g2 ist zunächst nichts weiter bekannt, als dass sie die jeweilige Attribut-Bedingung F?(g) erfüllen sollen. Man beachte, daß im Dividuenansatz keine Variablen vorkommen, für die Dividuen einge-

Wie der Mensch im Alltag folgert

85

setzt werden können, sondern daß eine geforderte Eigenschaftsmenge (z.B. {E,F} auf ein konkretes Dividuum aus dem Informationsstand zutreffen kann (z.B. auf d7 := {H1,H2,E,F}). Die Sachverhaltsstruktur besagt, daß das Dividuum gl das Dividuum g2 besitzen soll und daß dies auf zwei beliebige Dividuen angewandt werden soll, die die Bedingung Bauersein bzw. Eselsein erfüllen. Insgesamt lautet dann die gesamte Sachverhaltsstruktur SVS1 für das Antezedens: SVS1 := .

W3. Struktur des Konsequens Aus dem Konsequens läßt sich eine weitere Sachverhaltsstruktur für dieselben Dividuen entnehmen: SVS2:= .

Bei der Übersetzung des Beispielgesetzes in diese Struktur wird vorausgesetzt, daß der kompetente Sprachbenutzer die Pronomina „er", „ihn" aufgrund seiner Sprachkenntnisse richtig auflösen kann. Wir erhalten dann das Gesetz GS2 (vom Gesetzestyp 2): (GS2) ?

?

Esel(g2)>

Ί

K-% g2> +

Die Bedingungen für die Dividuen gl und g2 müssen im Konsequens nicht wiederholt werden, weil sie vom Antezedens her schon erfüllt sind. Man beachte, daß hier keine Quantifikation benötigt wird: weder der AllQuantor („alle X") noch der Existenz-Quantor („ein X") treten auf oder sind zu ergänzen. 2.3.2 Anwendung auf Argumentationen in Texten Das pragmalogische Schlußschema für Sachverhaltsstrukturen wird im Folgenden gleich an dem Beispieltext aus 1.1 vorgeführt. Wir verwenden die Beobachtungen, die in 1.2 zusammengestellt sind und bringen sie in die Reihenfolge des pragmalogischen Schlußschemas in 2.2.3. PI.SV Die Ausgangsinformation Im Informationsstand des Raskolnikoff, INF(R), liegt vor: (S5) (S7)

Der Geldbeutel war blutig, und Er steckte in der Hosentasche.

Also haben wir die beiden Dividuen:

86

Klaus Mudersbach dl := {geldbeutel,blutig}, d2:= {hosentasche}

und die beiden Sachverhalte: SV1 ( d l ) : = und S V 2 ( d l , d 2 ) : =

P2.SV Das Interesse an einem bestimmten Ziel Das Interesse des Raskolnikoff wurde in (Sl) allgemein formuliert: Es läßt sich auf die Hosentasche als spezielle „Kleidungs-Teil" anwenden und ergibt die Frage: Ist d2 blutig? P3.SV Die Gesetzes-Grundlage Das Gesetz wird im Text nicht explizit angegeben, weil es eine allbekannte Erfahrung ist. Es kann aus 1.1 (S5), (S7) und (S6) entnommen werden (cf.1.2 b3.) und umgangssprachlich etwa so formuliert werden: Wenn etwas blutig ist und w e n n es in einem Kleidungsstück steckt, dann wird dieses auch blutig.

Ich wähle hier eine Formulierung, die dem Text am nächsten kommt. Wenn man von einer generelleren Formulierung ausgehen will (was der Erfahrung im Alltag besser entspräche), müßte man Gesetze einfügen, um die Hinführung zu diesem Gesetz herzustellen. Dies ist machbar, aber nicht hier. Wir formulieren das obige Gesetz nach W1.-W3. explizit als ein empirisches Erfahrungs-Gesetz über Sachverhaltsstrukturen so: (GS3): S V S 1 := ist-blutig ? (gl) und S V S 2 : = < ( g l ) - steckt-in kleidungsstück 7 (g2)> ? ( S V ) R-% S V S 3 : = ist-blutig + (g2)

Das Gesetz wird wieder aus der Sicht von Raskolnikoff, R, für den es gültig ist, formuliert (daher: „R-% "). Das Attribut ist anzuwenden auf ein Dividuum gl; SVS2 ist anzuwenden auf einen noch offenen Sachverhalt SV. P4.SV Das Feststellen der Antezedensbedingung an der Ausgangsinformation R wendet (GS3) auf gl:= dl, g2:= d2, SV:= SVl(dl,d2) an und stellt das Zutreffen fest: < S V S 1 (S V1 (d 1)): JA>:=