Der Mensch in der Neuzeit: Alltag – Körper – Emotionen. Festschrift für Eva Labouvie zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783412524746, 9783412524722

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Der Mensch in der Neuzeit: Alltag – Körper – Emotionen. Festschrift für Eva Labouvie zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783412524746, 9783412524722

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Der thematische Facettenreichtum – von Frauen auf See, der Angst vor Gewitter oder den Prinzipien der Ausbildung männlicher Geburtshelfer über Körperbilder in Diebslisten des 18. Jahrhunderts bis hin zur Ablehnung weiblicher Ärzte durch männliche Mediziner – spiegelt nicht nur die bemerkenswerte Bandbreite der Forschungsinteressen Eva Labouvies wider, der dieses Buch zum 65. Geburtstag gewidmet ist, sondern zeigt gleichsam die Vielfalt und Anschlussfähigkeit einer modernen, kulturwissenschaftlich und geschlechterhistorisch ausgerichteten Geschichtswissenschaft.

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Stefanie Fabian / Mareike Fingerhut-Säck (Hg.)

DER MENSCH IN DER NEUZEIT Alltag – Körper – Emotionen

Stefanie Fabian Mareike Fingerhut-Säck (Hg.)

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Die Historische Anthropologie beschäftigt sich mit den menschlichen Erfahrungs­ horizonten in ihren historischen Ausprägungen. Dabei begreift sie den Men­ schen als deutendes und handelndes Wesen und nimmt ihn als einen entschei­ denden Faktor für historische Dynamik und den Gang der Geschichte wahr. Diese Forschungsperspektive durchzieht den Band als Leitfaden und strukturiert das Erkenntnis­interesse der Beiträge. Anhand der Themenfelder von Alltag, Körper und Emotionen geben die Autor:innen exemplarisch Einblicke in den Mensch(en) in der Neuzeit, der hier vordergründig im Sinne der Kulturgeschichte in seiner Besonderheit, Komplexität und Abhängigkeit von Natur, Gesellschaft und kultu­ reller Tradition in den Mittelpunkt gerückt wird.

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DER MENSCH IN DER NEUZEIT

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Stefanie Fabian / Mareike Fingerhut-Säck (Hg.)

Der Mensch in der Neuzeit Alltag – Körper – Emotionen

Festschrift für Eva Labouvie zum 65. Geburtstag

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch das Büro für Gleichstellungsfragen und die Gesellschaft der Freunde und Förderer der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Die vitruvianische Venus, © Vanessa Mundle, Magdeburg 2021; Porträt von Eva Labouvie, Foto: Harald Krieg, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: le-tex publishing services, Leipzig

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978–3–412–52474–6

Inhaltsübersicht

Mareike Fingerhut-Säck, Stefanie Fabian Zur Einführung .....................................................................................

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Eva Brinkschulte Grußwort für Eva Labouvie – Zum 65. Geburtstag ..................................... 15

I. Alltag Gisela Mettele Auf schwankendem Boden. Frauen auf See im achtzehnten Jahrhundert ....... 21 Marita Metz-Becker „Im Widerspruch mit der Welt“. Intellektuelle Frauen um 1800 am Beispiel der Berufsschriftstellerin Sophie Mereau (1770–1806) .................... 37 Norbert Schindler WilderInnen? Frauen und Wilderei im Erzstift Salzburg im 18. Jahrhundert .. 55 Willem de Blécourt The Mystery of the Cow’s Leg. The Animalisation of Illicit Liaisons .............. 71 Kerstin Wolff Betrunkene Männlichkeit im Wahlbüro – über eine angefochtene Bürgermeisterwahl 1925 im Volksstaat Hessen .......................................... 87 Mathias Tullner Der Saarländer Philipp Daub als Oberbürgermeister von Magdeburg ........... 103

II. Körper Heiner Lück Eine Kontroverse um die öffentliche Sektion weiblicher und männlicher Leichen an der Universität Wittenberg. Johannes Jessenius (1566–1621) contra Ägidius Hunnius d. Ä. (1550–1603) ............... 121

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Inhaltsübersicht

Jürgen Schlumbohm Heikle Hände. Die manuelle Untersuchung in der Lehre und Praxis deutscher Geburtshelfer, 1750–1830......................................................... 151 Gerd Schwerhoff Beschreiben – Typologisieren – Stigmatisieren. Körperbilder in den Gauner- und Diebslisten des 18. Jahrhunderts ........................................... 163 Silke Satjukow, Rainer Gries Die Leningrader Blockade 1941 bis 1943 – Sinneserfahrungen im Überlebenskampf. Ein Essay ................................................................... 189

III. Emotionen Stephan Freund Die schöne Judith, der betörte Ludwig, Eva und die Folgen ......................... 209 Nicole Grochowina Blitz, Donner – und Gott. Furcht und Ehrfurcht im 18. Jahrhundert............. 249 Maren Lorenz Das weibliche Geschlecht ist völlig von der Arzneykunst auszuschließen und durch obrigkeitliche Befehle davon abzuhalten. Fragile akademische Männlichkeit und Konkurrenzangst um 1750 .............. 263 Claudia Opitz-Belakhal Mütterlichkeit, Mitgefühl und Revolution. Germaine de Staels Reflexionen über den Prozess der Königin – von einer Frau (1793) ................. 281

ANHANG Abkürzungsverzeichnis........................................................................... 299 Bildnachweise ....................................................................................... 301 Eva Labouvie. Forschungen 1985–2021. Eine Bibliographie......................... 303 Autor:innenverzeichnis .......................................................................... 315

Mareike Fingerhut-Säck, Stefanie Fabian

Zur Einführung

Der vorliegende Band Der Mensch in der Neuzeit. Alltag – Körper – Emotionen spiegelt bereits im Titel die Bandbreite der Forschungsinteressen von Eva Labouvie wider. Anlässlich ihres 65. Geburtstags entstand ihr zu Ehren diese Festschrift, mit der wir ihre langjährige Forschungstätigkeit für die Geschichte der Neuzeit und Geschlechterforschung würdigen möchten. Den Menschen in seinen vielfältigen Facetten im Band und symbolisch dafür auch mit einem besonderen Coverbild in den Vordergrund zu rücken, erschien uns folgerichtig, da Eva Labouvie sich in ihren zahlreichen Publikationen immer wieder um eine historisch anthropologische sowie geschlechterhistorische Perspektive verdient gemacht hat. Vor allem ihre Arbeiten zur Semiotik von Hexen und Aberglauben in der Frühen Neuzeit sowie zu Geburt und weiblicher Kultur in der Vormoderne prägten die (geschlechter)historische Forschungslandschaft nachhaltig. Aber auch durch ihre vielfältigen Publikationen, die sich mit Familienkonstellationen und dem Leben von Frauen auseinandersetzen, gestaltet sie Debatten innerhalb der Frühneuzeit- und Geschlechterforschung mit. Darüber hinaus zeigt sich Eva Labouvie aber auch als eine Wissenschaftlerin, die weit über gesellschaftliche Themen hinaus geforscht hat und bis heute forscht. Ihre Arbeiten umfassen ein außerordentlich breites Spektrum von medizinhistorischen Themen über Körper und Körperwahrnehmung bis hin zu Aspekten von Recht, Umwelt und Technikgeschichte. Dieses bemerkenswerte Œuvre ist nicht nur Ausweis ihrer Vielseitigkeit und Kompetenz, sondern lässt gleichsam ihren nachhaltigen Einfluss innerhalb der (geschlechter)historischen Forschung erkennen. Die langjährigen Wegbegleiter:innen der Jubilarin und Autor:innen des vorliegenden Bandes geben durch ihre Beiträge exemplarisch Einblicke in den Mensch(en) in der Neuzeit, der hier vordergründig im Sinne der Kulturgeschichte beziehungsweise historischen Anthropologie in seiner Besonderheit, Komplexität und Abhängigkeit von Natur, Gesellschaft und kultureller Tradition in den Mittelpunkt gerückt wird. Dabei nehmen sie eine der Jubilarin inhärente Forschungsperspektive ein, die soziale, politische, ökonomische und kulturelle, aber vor allem auch geschlechterbezogene Perspektiven in Bezug zum Menschen setzt.

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Mareike Fingerhut-Säck, Stefanie Fabian

Alltag Nach einem Grußwort von Eva Brinkschulte, in der sie die zahlreichen Forschungen der Jubilarin würdigt und für den Erhalt der Geschlechterforschung an der Ottovon-Guericke-Universität über das Ausscheiden Eva Labouvies hinaus wirbt, steht im ersten thematischen Abschnitt der Alltag im Fokus. Hierbei gibt zunächst Gisela Mettele einen Einblick in das Leben von Frauen auf See im 18. Jahrhundert und stellt dabei fest, dass eine maritime Geschichtsschreibung, die die Kategorien Geschlecht und sozioökonomischer Status in der Überkreuzung mit weiteren Markern von Differenz untersucht, noch in den Anfängen steckt. Perspektivisch merkt sie dazu an, dass sich aus den vielen Geschichten von Seeleuten, Passagier:innen und mit der Seefahrt verbundenen Menschen an Land eine maritime Geschichte entwickeln ließe, in der die Erfahrungen von Menschen unterschiedlichster Hintergründe, Geschlechter und Verortungen dargestellt werden könnten. Marita Metz-Becker widmet sich der Schriftstellerin Sophie Mereau, die trotz gesellschaftlicher und privater Widerstände vom Drang nach einem selbstbestimmten Leben getrieben wurde. Der Beitrag zeigt auf, dass Sophie Mereau nicht nur ihren Romanfiguren die Freiheiten einräumte, gleiche Rechte wie ein Mann zu besitzen, sondern auch im realen Leben für ihr Geschlecht diese Möglichkeit reklamierte und hierbei unerschrocken voranging. Der Beitrag von Norbert Schindler eröffnet eine neuartige Perspektive auf weibliche Interventionsformen in die Wildererpraxis im 18. Jahrhundert. Dabei stellt er fest, dass sich ohne die der blanken Gewalt abgeneigte Rolle der Frauen und ihr pragmatisches Selbstverständnis die Veralltäglichung der Wildererei nicht als Kriminaldelikt ansehen lasse, sondern eher als ausgleichende Gerechtigkeit. Willem de Blécourt untersucht anhand von Vorfällen aus Brabant und Limburg im 19. Jahrhundert die Bedeutung von Tiersymbolik im Zusammenhang mit dem Rügebrauch der Katzenmusik, den sogenannten Charivari. Mit diesem Ritual wurden Einzelpersonen oder Paare verspottet und bestraft, die gegen soziale Verhaltensnormen verstoßen hatten, beispielsweise durch Ehebruch, zu frühe Wiederverheiratung nach dem Ableben des Partners oder exzessive häusliche Gewalt. Der Beitrag konzentriert sich vor allem auf diejenigen Fälle, in denen als zusätzliche Strafebene eine symbolische Tierverwandlung vorgenommen wurde, indem der oder die zu Strafende nicht nur in den Liedern mit Tiernamen belegt wurde, sondern auch bestimmte animalisierte Schandstrafen auszuführen hatte (zum Beispiel den Pflug ziehen) und so außerhalb der Gemeinschaft gestellt wurde. Anhand verschiedener Legenden kann de Blécourt aufzeigen, dass das Element der Animalisierung als konstituierend für den Brauch der Charivari in seiner Gesamtheit anzusehen ist. Über betrunkene Männlichkeit im Wahlbüro in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfahren wir etwas von Kerstin Wolff. Sie analysiert einen Wahlvorgang aus dem Jahr 1925, der einen spannenden Einblick in die Grundlage der Legitimation politischer Herrschaft erlaubt. Gemeint ist damit das praktische

Zur Einführung

Wahlgeschehen vor Ort, was sie als eine Art ‚doing democracy‘ bezeichnet. Die Autorin plädiert für einen kulturgeschichtlichen Zugang zu solchen Thematiken, der es möglich machen könnte, sowohl Praktiken zu untersuchen als auch die Einund Ausschlüsse und damit die soziale Ordnung und Zugehörigkeiten innerhalb des Wahlvorgangs zu erkennen. Im letzten Beitrag des ersten Abschnitts beschäftigt sich Mathias Tullner ganz bewusst mit dem Saarländer und Landsmann von Eva Labouvie, Philipp Daub, der im Jahr 1950 zum Oberbürgermeister von Magdeburg gewählt wurde. Der Autor arbeitet in seinem Beitrag heraus, dass der SED-Politiker trotz seiner langen Amtszeit von 11 Jahren kein ,Magdeburger‘ geworden sei. Einerseits habe er nach Ansicht Tullners die Erwartungen der SED-Führung, in der schwer zerstörten Stadt den Kurs der Partei durchzusetzen, erfüllt. Andererseits sei Magdeburg mit ihm an der Spitze unter den Bezirkshauptstädten der DDR in eine untergeordnete Rolle hinsichtlich der Förderung durch die Regierung und SED-Führung in deren zentralistischem System geraten.

Körper Im ersten Beitrag des Themenfeldes Körper setzt sich Heiner Lück mit öffentlichen Sektionen weiblicher und männlicher Leichen zu Beginn der Frühen Neuzeit und den damit im Zusammenhang stehenden Kontroversen detailreich auseinander. Er verweist zunächst darauf, dass Eva Labouvie selbst in etlichen Arbeiten die Devianz von Frauen erforscht hat und knüpft mit seinem Aufsatz an diese Thematik an. Dabei arbeitet Lück die divergierenden Positionen – zum einen das dem Erkenntnisfortschritt zugewandte Verständnis eines angesehenen Anatomen, zum anderen die Bedenken eines prominenten Vertreters der lutherischen Orthodoxie – in einem Streit über die öffentliche Sektion einer Frauenleiche aus dem Jahr 1599 quellengesättigt heraus. Damit gewährt er interessante Einsichten in den medizinischen Diskurs an der Schwelle zum 17. Jahrhundert. Der Beitrag zum Thema manueller Untersuchungen in Lehre und Praxis deutscher Geburtshelfer von 1750–1830 von Jürgen Schlumbohm knüpft ebenfalls stark an die fachliche Expertise von Eva Labouvie an und beschäftigt sich mit dem weiblichen Körper unter der Geburt. Mediziner, die sich der Geburtshilfe zuwandten, legten zwar auf Instrumente großen Wert, mussten sich aber trotzdem manuelle Fertigkeiten aneignen. Die äußere und innere Exploration mit der Hand, die als Untersuchungsmethode diskret mit dem französischen Wort ,toucher‘ bezeichnet wurde, steht deshalb im Zentrum seines Beitrags. Schlumbohm führt aus, dass das Touchieren eine empfindliche Verletzung der herkömmlichen Schamgrenzen mit sich bringen konnte und geht in seinem Beitrag der Frage nach, was diese intime, aber nicht sexuelle Berührung einer Frau für einen jungen Mann, der Arzt und Geburtshelfer werden wollte, bedeuten konnte. Gerd Schwerhoff befasst sich mit Körperbildern in

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Mareike Fingerhut-Säck, Stefanie Fabian

Gauner- und Diebslisten des 18. Jahrhunderts. Bezogen auf die früheren Forschungen Eva Labouvies zur Selbstwahrnehmung frühneuzeitlicher Menschen und ihre Ergebnisse zu Traditionen und gängigen Typologien des Körpers dezidiert aufgreifend, analysiert er ,Enzyklopädische Gaunerlisten‘ des 18. Jahrhunderts hinsichtlich ihres Potenzials für frühneuzeitliche Körper- und Personenbeschreibungen. Dabei kommt Schwerhoff zu dem Schluss, dass die Stigmatisierungstendenz dieser Listen weniger auf den darin transportierten Körperbildern beruhe, sondern mehr auf den sich darin manifestierenden Zuschreibungen sozialen beziehungsweise asozialen Verhaltens der Vaganten und Gauner. Der letzte Beitrag des Abschnittes von Silke Satjukow und Rainer Gries bildet mit der Thematisierung von Sinneserfahrungen im Überlebenskampf während der Leningrader Blockade1941 bis 1943 einen Übergang zwischen den Abschnitten Körper und Emotionen. Der Beitrag behandelt Körpererfahrungen in der Extremsituation und stellt die Frage, wie Menschen im Ausnahmezustand Krieg ihre Sinne nutzen. Satjukow und Gries stellen heraus, dass die tagtägliche Bedrohung durch den Tod in diesem Überlebenskampf eine alternative Körper-Ordnung hervorbrachte und es dabei zu einer Abschließung in Form von Kontrolle beziehungsweise Anspannung in Form von Präzision der Sinne kommen konnte.

Emotionen Der letzte Abschnitt der Festschrift widmet sich dem Bereich der Emotionen. Im ersten Beitrag spürt Stephan Freund dem Einfluss nach, den Kaiserin Judith auf ihren Ehemann Ludwig den Frommen besaß und hinterfragt, ob sie nach ihrer Eheschließung tatsächlich die im Hintergrund wirkende Kraft am Hofe Ludwigs war. Dabei zeigt er auf, dass Judith, die in der modernen Forschung als schön, gebildet und darüber hinaus auch mit einem großen Machtinstinkt ausgestattet gilt, bei der Durchsetzung ihrer Ziele mit enormen Hindernissen zu kämpfen hatte. Ihre von der Forschung konstatierten Eigenschaften wichen vom Ideal des weiblichen Tugendkanons ab, wodurch sie von den männlichen Zeitgenossen regelrecht zum Feindbild stilisiert wurde und viele Anfeindungen und Intrigen am Hof auf sich zog. Freund betont in diesem Zusammenhang, dass Judith somit dem Typus vieler in der Hexenverfolgung zu Tode gekommener Frauen entsprach und plädiert eindringlich für eine Neubewertung ihrer Position in der Geschichte. Ausgehend von der These, dass Emotionen nicht ahistorisch sind, widmet sich Nicole Grochowina der Furcht vor Blitz und Donner im 18. Jahrhundert und setzt dies in Relation zu Furcht und Ehrfurcht vor Gott. Aus der These heraus, dass Gefühle als solche sowie der Stellenwert, den sie jeweils in einer Gesellschaft haben, nicht ohne den Kontext, die Kommunikation und ihre Interpretation verstanden werden können, betrachtet Grochowina Gefühle in ihrer Abhängigkeit von Welt- und Gottesbildern

Zur Einführung

und zeigt auf, wie sehr sich dabei gerade in Zeiten des Umbruchs Narrative überlappen konnten und Diskurse forciert wurden. Sie macht schließlich deutlich, dass im 18. Jahrhundert das Verhältnis von Gottesrede, Rede von der Furcht und Weltund Menschenbildern ausgesprochen interdependent und reziprok war. Im Beitrag von Maren Lorenz geht es um fragile akademische Männlichkeit und ebenfalls um Angst, jedoch hier in Form von Konkurrenz, in Bezug auf weibliche Ärzte in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Dazu beleuchtet Lorenz die Bedeutung von beruflichem Karriere- und ökonomischem Erfolgsdruck für akademische Männlichkeit in einer zunehmend in Bewegung geratenden Ständegesellschaft. Sie stellt heraus, dass der Berufsstand des akademischen Arztes vielen Absolventen oft nicht genug sicheres Einkommen zu garantieren schien und deshalb der Kampf um die weibliche Gelehrsamkeit auch Teil eines konkreten, sich weiter zuspitzenden ökonomischen Verteilungskonflikts war, der häufig durch Existenzangst ausgelöst wurde. Den Abschluss bildet Claudia Opitz-Belakhal mit einem Beitrag zu Mütterlichkeit, Mitgefühl und Revolution. Dabei beleuchtet sie Germaine de Staels Reflexionen über den Prozess der Königin – von einer Frau aus dem Jahr 1793. Opitz-Belakhal widmet sich den Strategien, die de Stael in ihren Texten benutzte, um das weibliche Geschlecht davon zu überzeugen, mit ihr gemeinsam der Hinrichtung der Königin Marie-Antoinette entgegenzuwirken. Opitz-Belakhal betont, dass die Angehörigen des weiblichen Geschlechts in de Staels Pamphlet als eine wesentliche Wirkkraft im politischen Alltag erscheinen, die emotional in Bewegung versetzt werden muss. Dazu dienen sollten Emotionen, und dabei vor allem die Erweckung von Mitgefühl, das insbesondere in mütterlichen Herzen verankert schien. Die Autorin hebt hervor, dass Germaine de Stael in ihren Réflexions über den Prozess gegen Königin Marie-Antoinette aufzeigt, dass es für eine Politisierung und Einmischung der Frauen in das politische Tagesgeschäft einer Bewegung der Herzen und Seelen hin zu den Gesetzen der (menschlichen) Natur und damit zu gemeinsamem politischen Handeln unter dem Vorzeichen von Mütterlichkeit und (Mit-)Menschlichkeit in der Französischen Revolution bedurfte. Letztlich haben die Autor:innen des Bandes durch ihre Beiträge, die ein breites Spektrum an Themen, Epochen und Räumen abdecken, diese Festschrift unter der Klammer Der Mensch in der Neuzeit erst möglich gemacht. Für ihr Engagement und die ausgezeichnete Zusammenarbeit möchten wir uns an dieser Stelle herzlich bedanken. Weiterhin bedanken wir uns bei Stephan Freund für seine Unterstützung bei der Konzeption des Bandes. Seine Erfahrungen und Hinweise halfen uns sehr bei der Umsetzung des Projekts. Großen Dank schulden wir auch Alexander Bastian, Martin Dreher, Stephan Freund, Steffi Kaltenborn, Susanne Klose, Erik Richter und Jana Tempelhoff, die uns redaktionell tatkräftig unterstützt haben. Ohne ihre Expertise und ihre zeitlichen Ressourcen hätten wir die Festschrift niemals rechtzeitig fertigstellen können. Unser Dank gilt auch Svenja Lilly Kempf und dem Böhlau-Verlag, der sofort bereit war, die Festschrift aufzunehmen und das gesamte

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Projekt großzügig zu unterstützen. Für die Erstellung des Coverbilds danken wir Vanessa Mundle, die unsere Idee, eine vitruvianische Frau stellvertretend für den Menschen in der Neuzeit zu illustrieren, kreativ umgesetzt und damit das Cover so einzigartig gemacht hat. Großzügig finanziell unterstützt haben uns das Büro für Gleichstellungsfragen, sowie die Gesellschaft der Freunde und Förderer der Ottovon-Guericke-Universität Magdeburg, wofür wir uns ebenfalls herzlich bedanken möchten. Unser letzter großer Dank gilt der Jubilarin selbst, die uns auf unserem wissenschaftlichen Weg stets begleitete, unterstützte und uns mit ihren Arbeiten zu eigenen Forschungsprojekten inspirierte. Sie hat unseren Forscherinnenblick auf den Menschen in der Neuzeit maßgeblich geprägt und uns stets zur Neugierde auf und zum Respekt gegenüber den historischen Akteur:innen angehalten. Ohne diese ‚Schule‘ wäre unser Blick auf die Geschichte nicht der, der er heute ist – mit einem Fokus auf die Menschen und ihre facettenreichen Verflechtungen von Alltag, Körper und Emotionen. Es gibt noch viel zu forschen – packen wir es an. Magdeburg, Mai 2022

Eva Brinkschulte

Grußwort für Eva Labouvie – Zum 65. Geburtstag

Seit 20 Jahren forscht und lehrt Eva Labouvie an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg. Seit 2002 vertritt sie an der Fakultät für Humanwissenschaften (FHW) den Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit (17.–19. Jahrhundert) mit der Teildenomination Geschlechterforschung. Sie studierte und promovierte sich, gefördert durch ein Stipendium der Studienstiftung, über Hexen- und Aberglauben in der Frühen Neuzeit (Zauberei und Hexenwerk, 1989) am Historischen Institut der Universität des Saarlandes. Zwischen 1991 und 2002 war sie Leiterin der „Forschungsstelle für historische Regionalforschung“ und der „Arbeitsstelle für historische Kulturforschung“. Die Habilitation (Venia Legendi für Neuere Geschichte und Landesgeschichte) erlangte sie an der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes zu Geburt und weiblicher Kultur (1500–1910), daraus hervor gingen die Publikationen Andere Umstände – eine Kulturgeschichte der Geburt (1998) und Beistand in Kindsnöten – Hebammen und die Gemeinschaft auf dem Land (1999). Ihr erstes in Magdeburg für die Region realisiertes Projekt war der Sammelband Leben in der Stadt. Eine Kultur- und Geschlechtergeschichte Magdeburgs (2004), auch hier war ihr die nachdrückliche Betonung der Geschlechterforschung ein Anliegen. Ein Jahr später hatten wir die Gelegenheit, gemeinsam eine Ausstellung, eine Tagung und ein Buchprojekt anlässlich des 200. Geburtstages von Dorothea Erxleben, zu realisieren. Der Tagungsband erschien 2006 unter dem Titel Dorothea Christiana Erxleben – Weibliche Gelehrsamkeit und medizinische Profession seit dem 18. Jahrhundert im Mitteldeutschen Verlag. In regelmäßiger Folge veranstaltete Eva Labouvie Fachkonferenzen und Kolloquien, aus denen nicht nur zahlreiche Publikationen hervorgingen, darunter Familienbande – Familienschande (2007) und Schwestern und Freundinnen (2009), sondern auch ein interdisziplinärer Austausch und eine Vernetzung mit Forscher:innen in ganz Deutschland und darüber hinaus. Ihre historisch-anthropologische Forschungsprägung wie auch ihre geschlechterhistorische Ausrichtung spiegelten sich in den beiden großen Ausstellungsprojekten, die sie mit Herzblut und Engagement vorantrieb. Die Wanderausstellungen „Leben in der Stadt. Eine kultur- und geschlechtergeschichtliche Ausstellung zum 1200jährigen Stadtjubiläum Magdeburgs“ (Erstpräsentation 2005) und „‚SchattenRisse‘ – Frauenleben zwischen Altmark und Unstruttal“ (Erstpräsentation 2005) zeigen einmal mehr ihr Interesse für das Leben der Menschen in der Frühen Neuzeit.

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Eva Brinkschulte

Impulse aus diesen Ausstellungen aufgreifend, machte sie es sich zur Aufgabe, mit einem zweibändigen Lexikon zu Frauen in Sachsen-Anhalt (Band 1: vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, 2016; Band 2: vom 19. Jahrhundert bis 1945, 2019), die Lebenswege und das Engagement von bekannten Frauen und Berühmtheiten, aber auch die Verdienste von bislang unbekannten, vergessenen oder noch nicht erforschten Frauen zu beleuchten und so aus dem Schatten zu holen. Zuletzt erschien vor zwei Jahren der Band Glaube und Geschlecht (2019), der aus einer internationalen und interdisziplinären Tagung der Otto-von-GuerickeUniversität zum Reformationsjubiläum 2017 hervorgegangen ist. Wohlgemerkt, ich habe hier nur eine kleine Auswahl ihrer Forschungsleistungen für die historische Geschlechterforschung zusammengestellt. Mit ihren Tagungen, Buchprojekten – viele im renommierten Böhlau-Verlag erschienen – und Ausstellungen hat Eva Labouvie wichtige Beiträge geliefert und Akzente für die historische Frauen- und Geschlechterforschung gesetzt. Sie stellte dabei die Kategorie Geschlecht ins Zentrum und unterschied dabei konsequent zwischen biologischem Geschlecht und kultureller oder sozialer Prägung von Geschlecht, wobei sie ungleiche Machtverhältnisse und bestehende Ungleichheit aufzeigte und die Kulturgeschichte des Körpers und der Gefühle in den Mittelpunkt ihrer Arbeiten rückte. Sie trug damit dazu bei, dass Gender als kritische Analysekategorie zu einem zentralen Begriff in der Wissenschafts-, Kultur- und Geschichtsforschung wurde. Die Geschlechterforschung und die Gender-Studies stellen in Frage, dass der biologische Körper von der Formung durch Kultur und Gesellschaft ausgenommen ist und dass ein kulturfreier und weltneutraler Blick auf biologische Fakten der Geschlechterdifferenz nicht möglich ist. „Sondern, dass die Natur – des Körpers – stets durch die Brille der Kultur gesehen wird.“1 Eva Labouvie hat sich unermüdlich für die Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung in Sachsen-Anhalt engagiert, gemeinsam mit der Koordinierungsstelle Genderforschung & Chancengleichheit in Sachsen-Anhalt (KGC) Tagungen organisiert, so die „Erste Interdisziplinäre Fachtagung zur Frauen- und Geschlechterforschung in Sachsen-Anhalt“ zum Thema: Ökonomien des Lebens. Zum Wirtschaften der Geschlechter in Geschichte und Gegenwart (2003), die von der Otto-von-Guericke-Universität, vom Kultusministerium des Landes SachsenAnhalt und der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt gefördert wurde. Ein Jahr später, 2004, gab es eine erneute Kooperation zum Thema: „Geschlecht und Gesundheit. Zur Diskussion des Konzeptes der ‚Salutogenese‘“. Anläss-

1 Stefan Hirschhauer, 2019, zit. n. Gender Trouble. Warum Geschlechterforschung so umstritten ist, https://www.deutschlandfunk.de/gender-trouble-warum-geschlechterforschung-so-umstrittenist-100.html, [abgerufen am: 28. November 2021].

Grußwort für Eva Labouvie – Zum 65. Geburtstag

lich des 1200jährigen Stadtjubiläums (2005) beteiligte sie sich an der Organisation einer Vortragsreihe zusammen mit dem Amt für Gleichstellungsfragen der Landeshauptstadt Magdeburg: „1200 Jahre Frauen in der Geschichte der Stadt Magdeburg“. Gerade die Angriffe und Anfeindungen der Rechtspopulisten der AFD in den letzten Jahren, die der Geschlechterforschung und den Gender-Studies öffentliche Mittel streichen wollen, machen deutlich, dass eine Unterstützung und Aufrechterhaltung der Geschlechterforschung auch nach dem Ausscheiden von Eva Labouvie dringend geboten ist, um die bislang gezeitigten Forschungsleistungen zu würdigen und Frauen- und Geschlechterforschung in der Region fortzuführen. In dieser Festschrift haben sich langjährige Weggefährt:innen und Mitstreiter:innen versammelt, um Eva Labouvie zu ihrem 65. Geburtstag ganz herzlich zu gratulieren und auch ich gratuliere Dir, liebe Eva, von Herzen. Magdeburg, Mai 2022

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I. Alltag

Gisela Mettele

Auf schwankendem Boden Frauen auf See im achtzehnten Jahrhundert Reisen galt bereits seit der Antike als männliche Domäne. In der Frühen Neuzeit bedurfte das Verlassen vertrauter Räume immer weniger der Legitimation durch religiöse Motive oder ökonomische beziehungsweise politische Notwendigkeiten, die Erkundung der Fremde wurde im Zuge der Aufklärung zunehmend zur Basis für Welt- und Menschenkenntnis.1 Dies galt allerdings nicht für Frauen. Deren Mobilität wurde stets kritisch betrachtet. Die Geschichte des Reisens ist geprägt von Versuchen, die Bewegungsfreiheit von Frauen durch Verordnungen und andere Maßnahmen zu beschränken. Bereits im Mittelalter, aber auch in der Frühen Neuzeit legte man ihnen diverse Hindernisse in den Weg, um sie etwa vom Pilgern abzuhalten.2 Nur wenige Autoren der im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert in vielen europäischen Ländern populären Reiseanleitungen oder Apodemiken befassten sich explizit mit reisenden Frauen.3 In Dietrich Hermann Kemmerichs 1711 erschienener Schrift Neu-eröffnete Academie der Wissenschaften, wurde im Kapitel Von der Beschaffenheit desjenigen, welcher mit Nutzen reisen will zwar auch die Frage gestellt, ob „nicht auch das Frauenzimmer reisen“ solle. Die Antwort fiel jedoch ablehnend aus. Kemmerich hielt Frauen für zu „zart“ für die Gefahren des Reisens, „und das sprüchwort ist bekant: Von gereiseten Frauenzimmer hält man nicht viel.“4 Auch in der 1795 erschienenen Apodemik Franz Posselts wird dem ‚Reisen der Frauenzimmer‘ eine Absage erteilt. Da jedoch „manche Frauen öfters Gelegenheit“ hätten, „in Gesellschaft ihrer Männer, Eltern, Vormünder, Brüder, Oheime oder

1 Vgl. Habinger, Gabriele: Reisen, Raumaneignung und Weiblichkeit – Zur Geschichte und Motivationsstruktur weiblicher (Vergnügungs-) Reisen, in: SWS-Rundschau 46 (2006), S. 271–295, hier S. 273f.; vgl. auch Potts, Lydia: Einleitung, in: Dies. (Hg.), Aufbruch und Abenteuer. Frauen-Reisen um die Welt ab 1785, Berlin 1988. 2 Vgl. Habinger: Reisen, Raumaneignung und Weiblichkeit, S. 279–281; Potts: Einleitung, S. 16–19. 3 Vgl. Stagl, Justin: Apodemiken. Eine räsonnierte Bibliographie der reisetheoretischen Literatur des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, Paderborn 1983. 4 Zit. in: Griep, Wolfgang/Pelz, Annegret: Frauen reisen. Ein bibliographisches Verzeichnis deutschsprachiger Frauenreisen 1700–1810, Bremen 1995, S. 152.

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Gisela Mettele

anderer Anverwandten bald kleinere, bald größere Reisen“ zu unternehmen,5 gab er diesen einen ganzen Regelkanon, durch den sie auch auf Reisen an die häusliche Sphäre gebunden werden sollten, mit auf den Weg.6 Nicht immer hielten sich Frauen an die Empfehlungen. Die Dichterin Sidonia Hedwig Zäunemann (1714–1740), die häufig alleine zu Pferd und in Männerkleidung Reisen unternahm, antwortete schon 1738 mit einer eigenen Schrift auf die zahlreichen für Männer verfassten Apodemiken und riet ihren Geschlechtsgenossinnen: „Versuchts! es reiset sich des Nachts in Wäldern schön: Ich habs erst nicht geglaubt, nun hab ich es gesehn.“7 Mit der frühneuzeitlichen Expansion Europas erhielten Schiffe als Verkehrsmittel entscheidende Bedeutung.8 Die Frühe Neuzeit ist daher jüngst auch als maritime Epoche bezeichnet worden.9 Die europäischen Entdeckungs- und Forschungsreisen in überseeische Welten und deren koloniale Eroberung waren ein überwiegend männliches Projekt. Abenteurer, Händler und Missionare reisten auf Segelschiffen über die Weltmeere und errichteten Stützpunkte in Amerika, Afrika und Asien. Auch die Besatzungen der Handels- und Marineschiffe bis hin zu den begleitenden Soldaten, Ärzten und Geistlichen waren männlich.10 Stärker noch als das Reisen über Land wurde die maritime Welt als männlicher Erfahrungsraum angesehen. Dass Frauen die Ordnung an Bord störten und Unglück brächten, entsprach einem weit verbreiteten Seemannsglauben. Im Zeitalter der Segelschifffahrt wurden daneben auch geschlechtsspezifische Annahmen über die mangelnde körperliche Leistungsfähigkeit von Frauen herangezogen, um zu begründen, warum diese ungeeignet für die Seefahrt seien. Ihnen wurde nicht die

5 Posselt, Franz: Apodemik oder die Kunst zu reisen. Ein systematischer Versuch zum Gebrauch junger Reisenden aus den gebildeten Ständen überhaupt und angehender Gelehrter und Künstler insbesondere. 2 Bände, Leipzig 1795, zit. n. dem Abdruck des Abschnitts ‚Ob und wie Frauen reisen sollen?‘ aus Posselts Apodemik, in: Griep/Pelz: Frauen reisen, S. 215–218, hier S. 215. 6 Vgl. Griep/Pelz: Frauen reisen, S. 9. 7 Zäunemann, Sidonia Hedwig: Andächtige Feld- und Pfingstgedanken, in: Dies.: Poetische Rosen in Knospen, Erfurt 1738, S. 117. 8 Vgl. Ishida, Yoriko: Precursors of Women Seafarers in the Western Maritime History. Seafaring Heroines as Navigators and Lighthouse Keepers, in: Transactions of Navigation 3 (2018), S. 25–30, hier S. 26. 9 Vgl. Burschel, Peter/Juterczenka, Sünne (Hg.): Das Meer. Maritime Welten in der Frühen Neuzeit, Köln 2021. 10 Vgl. Habinger: Reisen, Raumaneignung und Weiblichkeit, S. 273. Maria Sybilla Merian bildete als Forschungsreisende, die 1699 gemeinsam mit ihrer Tochter in die holländische Kolonie Surinam aufbrach, eine der wenigen Ausnahmen. Zu ihr vgl. etwa Beuys, Barbara: Maria: Sybilla Merian. Künstlerin, Forscherin, Geschäftsfrau, Berlin 2016.

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Kraft und die Ausdauer zugetraut, die für die harte körperliche Arbeit auf den frühneuzeitlichen Segelschiffen erforderlich war.11 Als Objekt maritimer Fantasien und Begierden oder als hölzerne Galionsfigur, deren nackte Brust die wilde See besänftigen sollte, war die Figur der Frau auf dem Meer hingegen vielfach präsent. Auch die Schiffe selbst wurden weiblich imaginiert und häufig nach Frauen benannt. Der einzig legitime Ort für Frauen als lebendige Wesen aber wurde an Land gesehen, wo sie, literarisch und künstlerisch vielfach sentimentalisiert, als Ehefrauen, Liebhaberinnen oder Mütter sehnsüchtig auf die Heimkehr des Seemanns warten sollten.12 Bis heute hält sich die Vorstellung der See als einer rein männlichen Domäne auch in der Forschung. Nicht selten werden dabei, meist unbewusst, gesellschaftlich verankerte Stereotype über die Seefahrt auf die Forschungsagenda übertragen.13 Im Folgenden soll daher den Spuren von Frauen nachgegangen werden, die im achtzehnten Jahrhundert als an den Arbeitsprozessen an Bord beteiligte Akteurinnen oder als freiwillige und unfreiwillige Passagierinnen auf Segelschiffen unterwegs waren, aber auch von jenen, die an den Küsten Teil hatten an der maritimen Welt.

Frauen als teilnehmende Akteurinnen auf See Frauen als Seeleute werden in der maritimen Geschichtsschreibung seit etwa den 1990er Jahren thematisiert, auch wenn es sich dabei insgesamt nach wie vor um vergleichsweise wenige Studien handelt.14 Der Großteil der Arbeiten zum achtzehnten Jahrhundert konzentriert sich auf einzelne außergewöhnliche Frauen, die meist jenseits konventioneller Geschlechternormen ein Leben auf dem Meer führten, wie etwa Piratinnen und als Matrosen, Schiffsjungen oder Soldaten verkleidete Frauen, die nicht selten lange Zeit unerkannt ihre maritimen Karrieren verfolgen konnten.

11 Vgl. Stanley, Jo: And after the Cross-Dressed Cabin Boys and Whaling Wives? Possible Futures for Women’s Maritime Historiography, in: The Journal of Transport History 23 (2002), S. 9–22, hier S. 13; vgl. auch Ishida: Precursors of Women Seafarers, S. 26. 12 Vgl. Stanley: Cross-Dressed Cabin Boys, S. 16f.; Norling, Lisa/Creighton, Margaret (Hg.): Iron Men, Wooden Women. Gender and Seafaring in the Atlantic World, 1700–1920, Baltimore 1996, S. 8f. 13 Vgl. Ishida: Precursors of Women Seafarers, S. 25. 14 Vor allem in der englischsprachigen Literatur ist den Frauen, die zur See gefahren sind, Beachtung geschenkt worden: vgl. etwa Stark, Suzanne: Female Tars. Women aboard Ship in the Age of Sail, Annapolis 1996; Norling/Creighton: Iron Men, Wooden Women; Stanley, Jo: From Cabin ‘Boys’ to Captains. 250 Years of Women at Sea, Stroud 2016; Druett, Joan: She Captains. Heroines and Hellions of the Sea, New York 2001; Cordingly, David: Seafaring Women. Adventures of Pirate Queens, Female Stowaways, and Sailors’ Wives, New York 2002; als Vorläufer: De Pauw, Linda Grant: Seafaring Women, Boston 1982.

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Das Phänomen des weiblichen Cross-Dressings beschränkte sich in der Frühen Neuzeit nicht auf spektakuläre Einzelfälle, es handelte sich vielmehr um eine recht gängige Praxis, in deren Schutz Frauen auf Reisen gingen oder die dazu dienen konnte, schwierigen ökonomischen Lebenssituationen oder traditionellen Rollenzuweisungen zu entkommen.15 Wie viele Frauen sich als Männer ausgaben, um als Matrosen auf einem Handelsschiff anzuheuern oder als Soldaten in der Marine zu dienen, ist unbekannt.16 Wurden die Frauen entdeckt, hatten sie oft mit harten Strafen zu rechnen, einige, vor allem wenn sie im Krieg gekämpft hatten, wurden allerdings auch als Heldinnen gefeiert, wie etwa die Engländerin Hannah Snell (1723–1792). Sie hatte in der britischen Royal Marine gedient, soll in verschiedenen Schlachten mehrere französische Soldaten getötet haben und wurde selbst verwundet.17 Nachdem sie 1750 aus der Armee entlassen und später auch mit einer Pension versehen wurde, verkaufte sie ihre Geschichte an den Londoner Verleger Robert Walker, der sie unter dem Titel The Female Soldier in verschiedenen Ausgaben veröffentlichte.18 Snell trat in ihrer Uniform dann auch auf der Bühne auf, führte militärische Übungen vor und sang Lieder. Drei Maler malten sie in Uniform und das englische Gentleman’s Magazine brachte im Juli 1750 eine Titelgeschichte über sie.19 Berichte, in denen das Leben von Frauen in Männerkleidern geschildert wurde, erfreuten sich in der westeuropäischen Publizistik im achtzehnten Jahrhundert einer gewissen Beliebtheit, und wenn die Erwartungen des durchaus sensationshungrigen Publikums nach abenteuerlichen und überraschenden Wendungen ge-

15 Vgl. Dekker, Rudolf/van de Pol, Lotte (Hg.): Frauen in Männerkleidern. Weibliche Transvestiten und ihre Geschichte, Berlin 2012, S. 7. Vgl. auch im Anhang die Liste der im Lauf der Frühen Neuzeit entdeckten Frauen, die Dekker/van de Pol bislang in den Quellen gefunden haben, ebd. S. 221–234. 16 Eine Liste von bekannten Beispielen, die allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, findet sich als Appendix in Stanley: Cabin ‘Boys’ to Captains, S. 245f. 17 Vgl. Stephens, Matthew: Hannah Snell. The Secret Life of a Female Marine, 1723–1792, London 2014, Introduction. 18 Vgl. Anonymous: The Female Soldier; Or, The Surprising Life and Adventures of Hannah Snell, London 1750 (Nachdruck New York 1989). 19 Vgl. Pennington, Reina: Amazons to Fighter Pilots – A Biographical Dictionary of Military Women, Volume Two, Westport 2003, S. 404. Allgemein vgl. Dugaw, Dianne: Wild Beasts and Excellent Friends. Gender, Class and the Female Warrior, 1750–1830, in: Colin D. Howell/Richard J. Twomey (Hg.), Jack Tar in History. Essays in the History of Maritime Life and Labour, Fredericton 1991, S. 132–145; und Dies.: „Rambling Female Sailors“: The Rise and Fall of the Seafaring Heroine, in: International Journal of Maritime History 4 (1992), S. 179–194.

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troffen wurden, lohnte sich das für die Herausgeber:innen auch finanziell.20 Die Authentizität dieser Schilderungen ist nicht selten fraglich. Dies gilt etwa auch für Mary Anne Talbot (1778–1808), die zunächst als Schiffsjunge auf einem französischen Küstensegler gefahren und danach unter dem Namen John Taylor als Matrose und Soldat in der Royal Navy und in der Britischen Armee gedient hat. Diese Angaben beziehen sich auf ihre Lebenserinnerungen, die 1804 von einem Buchdrucker, bei dem sie nach ihrer Zeit in der Armee als Dienstmagd gearbeitet hatte, unter dem Titel The Life and Surprising Adventures of Mary Anne Talbot herausgegeben wurden.21 Es gibt keine weiteren Unterlagen, die ihre Anwesenheit auf den Schiffen, auf denen sie gedient haben will, nachweisen, und ein Matrose mit Namen Taylor lässt sich in den entsprechenden Schiffslisten nicht finden.22 Es ist wahrscheinlich, dass viele Berichte über Frauen auf hoher See Dramatisierungen, Übertreibungen und fiktionale Elemente enthalten, das unterscheidet sie aber nicht von vielen Quellen, aus denen wir unser Wissen über Männer auf See beziehen. Auch hier wird viel Seemannsgarn gesponnen, das in der wissenschaftlichen Beschäftigung erst quellenkritisch entschlüsselt werden muss beziehungsweise müsste. Insbesondere wenn es um die Geschichte des Piraten- und Seeräubertums geht, sind die Quellen spätestens seit der ‚Blütezeit‘ der atlantischen Piraterie im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert ein wahrer Fundus für Phantasie und Projektionen aller Art, die manchmal auch auf den Duktus wissenschaftlicher Beiträge abfärben. Frauen unter Piraten und Seeräubern gab es zu jeder Zeit und auf allen Weltmeeren. Ihre Spuren finden sich bereits in der Antike. Sie segelten vor den Küsten Nordafrikas, in der Karibik und im Südchinesischen Meer.23 Die beiden berühmtesten Piratinnen des achtzehnten Jahrhunderts waren Anne Bonny und Mary Read, die 1721 wegen Seeräuberei angeklagt wurden, und wahrscheinlich die am wenigsten vergessenen weiblichen Seeleute sind.24

20 Vgl. Bohn, Robert: Die Piraten, München 2005, S. 103. Im frühneuzeitlichen England war insbesondere die Figur der weiblichen Kriegerin eine häufig wiederkehrende Figur in gedruckten Balladen und Volksliedern; vgl. Dugaw, Dianne: Warrior Women and Popular Balladry, 1650–1850, Cambridge 1989. 21 Vgl. Griep/Pelz: Frauen reisen, S. 266; Kirby, Robert S.: The Life and Surprising Adventures of Mary Anne Talbot, London 1804/1809. 22 Vgl. Stark: Female Tars. 23 Bohn: Die Piraten, Kapitel Die Piratinnen, S. 103–109, hier S. 103. Klausmann, Ulrike/Meinzerin, Marion: Piratinnen, München 1992; Stanley, Jo (Hg.): Bold in her Breeches. Women Pirates across the Ages, London 1996; Duncombe, Laura Sook: Pirate Women. The Princesses, Prostitutes, and Privateers Who Ruled the Seven Seas, Chicago 2017; weitere Literatur findet sich bei Ishida: Precursors of Women Seafarers, S. 29. 24 Vgl. Stefoff, Rebecca: Mary Read and Anne Bonny, New York 2015.

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Die Biographien von Anne Bonny und Mary Read sind durch die bereits zeitgenössisch publizierten Gerichtsakten des gegen sie geführten Prozesses gut dokumentiert.25 Der Prozess rief großes Aufsehen hervor, „denn es war durchaus etwas Sensationelles, dass Frauen in dieser Welt brutaler Männlichkeit eine führende Rolle einnehmen konnten.“26 Die Londoner Presse berichtete ausführlich und „entdeckte“ immer neue Details aus dem Leben der beiden Piratinnen, „so dass am Ende Wahrheit und Fiktion eine bunte Melange eingingen.“27 Auch Piratinnen waren meist in Männerkleidern unterwegs. Mary Read fuhr, nach einer Karriere als Page, Diener und Soldat bei der britischen und niederländischen Armee, in Männerkleidern auf mehreren Piratenschiffen. Auf einem dieser Schiffe traf sie auf Anne Bonny, die ebenfalls Teil der Piratenmannschaft war. Bonny war Tochter eines in Süd-Carolina ansässigen Anwalts, die, nachdem sie von zuhause weggelaufen war, zunächst unter Piraten auf den Bahamas gelebt hatte, bevor sie als Mann verkleidet ihrem Liebhaber, dem Piraten Calico Jack, an Bord gefolgt war.28 Nach der Gefangennahme der Mannschaft ihres Schiffes wurden Bonny und Read mit den anderen Piraten auf Jamaika zum Tode verurteilt. Nachdem jedoch entdeckt wurde, dass sie Frauen waren, und überdies beide schwanger, wurde die Vollstreckung ihrer Urteile ausgesetzt. Ihr weiteres Schicksal ist ungewiss. Während Mary Read im Gefängnis infolge einer Infektion gestorben sein soll, soll Anne Bonny – möglicherweise mit Hilfe ihres reichen und gut vernetzten Vaters – mit ihrem Kind entkommen sein.29 Im Gegensatz zu den bisher betrachteten Frauen, die sich als Männer verkleidet und illegitim an Bord von Schiffen befanden, gab es im achtzehnten Jahrhundert auch Frauen, die offiziell berechtigt und konform mit gesellschaftlichen Konventionen auf Seereisen waren. Es handelte sich dabei um die Ehefrauen und Töchter von Kapitänen und ersten Offizieren, die im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert häufig auf Handels- und Marineschiffen ihre Männer begleiteten.30 So reiste etwa

25 Vgl. Eastman, Tamara J./Bond, Constance: The Pirate Trial of Anne Bonny and Mary Read, Cambria Pines by the Sea 2000. 26 Bohn: Die Piraten, S. 103. 27 Ebd., S. 109. 28 Ebd., S. 105f. 29 Vgl. Henningsen, Henning: Der Seemann und die Frau, Herford 1987, S. 32; Bohn: Die Piraten, S. 109. 30 Vgl. etwa Druett, Joan: Hen Frigates. Wives of Merchant Captains under Sail, New York 1998; vor allem im neunzehnten Jahrhundert fuhren auch Ehefrauen von Walfangkapitänen häufig mit ihren Männern auf den Walfängern, vgl. Dies.: Petticoat Whalers. Whaling Wives at Sea, 1820–1920, Auckland 1991; Norling, Lisa: Captain Ahab had a Wife. New England Women and the Whale Fishery 1720–1870, Chapel Hill 2000.

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Mary Ann Parker (1765–1848) 1791/92 auf der Kriegsfregatte Gorgon, deren Kapitän ihr Ehemann John Parker war, bis nach Australien und zurück.31 Ihre beiden Kinder hatten die Parkers vor der Reise bei deren Großmutter zurückgelassen.32 Ebenfalls an Bord war die etwa gleichaltrige Anna King mit ihrem Ehemann, dem Gouverneur der Norfolkinseln. Nach ihrer Rückkehr veröffentlichte die inzwischen verwitwete Mary Parker 1795 einen Bericht der Reise, mit dem sie versuchte, ihre finanzielle Not nach dem Tod ihres Mannes zu lindern.33 Als Ehefrauen und Töchter standen diese Frauen an Bord unter dem Schutz ihrer Ehemänner und Väter.34 Für das neunzehnte Jahrhundert urteilt Donal Baird, dass sie in der Regel kein aktiver Teil der Schiffsbesatzung waren und sich nur selten an den seemännischen Arbeiten an Bord beteiligten, sondern in Übereinstimmung mit weiblichen Rollenerwartungen vorwiegend in den Kapitänskammern ein Familienleben auf See führten, nicht selten brachten die Ehefrauen während der Fahrt Kinder zur Welt.35 Ob und wie sich eine Trennung der Sphären auf einem Schiff realisieren und aufrechterhalten ließ und ob das frühneuzeitliche Muster des Arbeitspaars an Bord eine (auch im neunzehnten Jahrhundert weiterwirkende) Bedeutung hatte und die Kapitänsfrauen für die Mannschaft die Rolle einer Hausbeziehungsweise Schiffsmutter übernahmen, wäre weiter zu prüfen. Wir wissen, dass manche Kapitänsfrauen von ihren Männern in der Kunst der Navigation unterwiesen wurden, um sie darauf vorzubereiten, im Falle eines Kapitänsnotstands stellvertretend für ihre Ehemänner das Schiff zu steuern und dadurch das Eigentum und die Erwerbsgrundlage der Familie zu sichern.36 Aus dem neunzehnten Jahrhundert ist der Fall der Kapitänsfrau Mary Patten (1837–1861) bekannt, die mit den Grundlagen der Navigation, der Meteorologie, der Seile und Segel und der Pflichten der Seeleute vertraut war und 1857 für 56 Tage das Kommando des Handelsklippers Neptune’s Car übernahm, nachdem ihr Mann schwer erkrankt war. Da dieser seinem ersten Offizier misstraute, hatte er ihr die Führung des Schiffes übergeben.37 Sie musste eine Meuterei niederschlagen und es gelang ihr, den Klip-

31 Coleman, Deidre: Parker, Mary Ann (1765/6–1848), in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004: https://doi.org/10.1093/ref:odnb/45859 [abgerufen am: 9. September 2021]. 32 Vgl. Coleman, Deidre (Hg.): Maiden Voyages and Infant Colonies. Two Women’s Travel Narratives of the 1790s, Leicester 1999. 33 Vgl. Parker, Mary Ann: A Voyage round the World, in the Gorgon Man of War (1795) (Nachdruck Cambridge 2010). 34 Vgl. Ishida: Precursors of Women Seafarers, S. 25. 35 Vgl. Baird, Donal: Women at Sea in the Age of Sail, Halifax 2001, Vorwort. Haskell Springers Analyse bestätigt die passive Rolle der Ehefrauen von Seekapitänen des neunzehnten Jahrhunderts, Springer, Haskell: The Captain’s Wife at Sea, in: Creighton/Norling: Iron Men, Wooden Women, S. 92–117. 36 Vgl. Ishida: Precursors of Women Seafarers, S. 25f. 37 Vgl. Whipple Marr, Anne: Patten, Mary Ann Brown (1837–18 March 1861), in: American National Biography online (2000), https://doi.org/10.1093/anb/9780198606697.article.2001476 [abgerufen

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per erfolgreich nach San Francisco zu steuern. Zum Zeitpunkt des Anlegens war sie neunzehn Jahre alt und im achten Monat mit ihrem ersten Kind schwanger.38 Im Zeitalter der Segelschiffe, so ließe es sich zusammenfassen, mussten Frauen, die ein Leben auf See führen wollten, sich entweder als Mann verkleiden oder einen Ehemann haben, der ein Schiff besaß und bereit war, sie auf die Reise mitzunehmen. Die bisher bekannten historischen Dokumente legen nahe, dass es sich bei diesen Frauen insgesamt um eine relativ kleine Gruppe handelte. Gemeinsam ist ihnen, dass es nur wenige detaillierte historische Dokumente über sie gibt und daher der Blick meist auf spektakuläre Einzelfälle begrenzt ist, über die wir überhaupt in den Quellen Belege finden.39 Die Forschung fokussiert dabei häufig (sieht man von den Kapitänsfrauen einmal ab) auf Momente der Transgression weiblicher Geschlechternormen. Bei den Piratinnen ging es sogar um einen mehrfachen Normenbruch: Cross-Dressing und Kriminalität.40 Als Ausnahmen bestätigen die „Heroines and Hellions“41 der Seefahrt letztlich eher die Regel einer frauenlosen maritimen Welt.

Frauen als Passagierinnen Dennoch ist der Eindruck, dass es sich bei der maritimen Welt des achtzehnten Jahrhunderts um eine reine Männerwelt handelte, irreführend, denn häufig fuhren Frauen als Passagierinnen über das Meer. Diese nutzten das Schiff zwar nur als transitorischen Raum für die Überfahrt und waren nicht in die Arbeitsprozesse an Bord eingebunden, dennoch sind sie als Teil der maritimen Gesellschaft anzusehen, auch wenn sich die stark auf die aktiven Seeleute fokussierte maritime Geschichtsschreibung bislang wenig mit diesen Reisenden befasst hat. Nicht zuletzt aufgrund der in größerer Anzahl vorhandenen Quellen, wie etwa Passagierlisten, Reisetagebücher oder Briefe, wäre eine stärkere Beschäftigung mit den Passagierinnen für die maritime Forschung lohnend. Dies würde unter anderem ermöglichen, das Wirken von (Geschlechter)normen und die sozialen Geographien auf Schiffen auf einer breiteren Basis zu untersuchen. Es böte auch Anknüpfungspunkte für

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am: 9. September 2021]; Art. Mary Ann Brown Patten, in: https://www.womenhistoryblog.com/ 2015/11/mary-ann-brown-patten.html [abgerufen am: 9. September 2021]; Art.: Mary Patten, 19 and Pregnant, Takes Command of a Clipper Ship in 1856, in: https://www.newenglandhistoricalsociety. com/mary-patten-19-pregnant-commands-clipper-ship-1856/ [abgerufen am: 9. September 2021]. Vgl. Anonymous: Women in Maritime History, in: https://www.nps.gov/safr/learn/historyculture/ maritimewomenhistory.htm [abgerufen am: 9. September 2021]. Vgl. Stanley: Cross-Dressed Cabin Boys, S. 10. Vgl. Bohn: Die Piraten, S. 103. Druett: She Captains: Heroines And Hellions.

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eine geschlechtergeschichtlich informierte maritime Geschichtsschreibung jenseits einer auf einzelne herausragende Personen fixierten Frauengeschichte (die damit nicht überflüssig wird) und für eine Forschungsperspektive, die die vielfältigen sich überschneidenden sozialen, ökonomischen und kulturellen Differenzen einbezieht, die auch auf dem Meer die Lebensrealitäten von Menschen ganz unterschiedlich prägten.42 Im achtzehnten Jahrhundert waren Passagier:innen auf unzähligen Schiffen vor allem auf dem Atlantik unterwegs, zumeist als religiöse oder ökonomische Migrant:innen. Bereits seit dem fünfzehnten Jahrhundert hatten sich auch Frauen in die nordamerikanischen Kolonien und Niederlassungen aufgemacht. So waren bei der dritten Fahrt des Kolumbus 1497/98 dreißig Spanierinnen mit an Bord, vermutlich die ersten Europäerinnen, die den Atlantik in Richtung Neue Welt überquerten.43 Von da an war jedes Jahr ein zwar nicht allzu großer aber stetiger Zustrom von Siedlerinnen zu verzeichnen. Meist waren diese Frauen im (frühneuzeitlich gedachten) Familienverband unterwegs, wie zum Beispiel die 29 Ehefrauen, Töchter und Dienstmägde, die im November 1620 auf der Mayflower die nordamerikanische Küste erreichten.44 Drei Frauen waren hochschwanger an Bord gegangen. Zwei gebaren ihre Kinder auf dem Schiff, das dritte Kind kam tot zur Welt, während das Schiff im Hafen von Provincetown ankerte. Manche Passagierinnen haben ihre Erfahrungen des Alltags an Bord in Tagebüchern und Briefen aufgezeichnet. So führten im achtzehnten Jahrhundert etwa Quäkerinnen und Herrnhuterinnen während ihrer Reisen ausführliche Diarien, in denen sie ihre Reiserouten und den Schiffsalltag ebenso festhielten wie ihre religiösen Bemühungen und inneren Kämpfe. Für Historiker:innen sind diese Tagebücher unschätzbare Quellen.45 42 Vgl. Crabtree, Sarah: Navigating Mobility. Gender, Class, and Space at Sea, 1760–1810, in: EighteenthCentury Studies 48 (2014), Special Issue: The Maritime Eighteenth Century, S. 89–106, hier S. 91; vgl. auch Ishida: Precursors of Women Seafarers, S. 25. 43 Vgl. Potts: Einleitung, S. 13. 44 Vgl. Passagierliste der Mayflower unter Women of the Mayflower | Mayflower (http://www.mayflower400uk.org) [abgerufen am: 9. September 2021]; ‚maiden servants‘ werden in der Passagierliste unter den jeweiligen Familien aufgeführt; allgemein dazu Noyes, Ethel (Hg.): The Women of the Mayflower and Women of Plymouth Colony, Plymouth (Mass.) 1921. 45 Tagebücher von religiösen Reisenden stellen natürlich ihre eigenen quellenkritischen Herausforderungen. Crabtree betont, dass die Häufigkeit, mit der Quäkerinnen den Ozean überquerten, vielleicht ungewöhnlich war, ebenso der Umstand, dass sie nicht selten ohne Begleitung reisten. Die Erfahrungen, die sie auf den Schiffen machten, seien dennoch keineswegs außergewöhnlich gewesen; Crabtree: Navigating Mobility, S. 92. Zu den (see)reisenden Quäkerinnen vgl. auch Larson, Rebecca: Daughters of Light. Quaker Women Preaching and Prophesying in the Colonies and Abroad, 1700–1775, Chapel Hill 2000; Herbert, Amanda: Companions in Preaching and Suffering: Itinerant Female Quakers in the Seventeenth- and Eighteenth-Century British Atlantic World, in: Early American Studies 9 (2011), S. 73–113.

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Sarah Crabtree kommt in ihrer Auswertung der überlieferten Aufzeichnungen von schiffsreisenden Quäker:innen des achtzehnten Jahrhunderts zu dem Befund, dass Passagier:innen oft ihre Beunruhigung über die ungewöhnlichen und gelegentlich traumatischen Erfahrungen des Schiffslebens zum Ausdruck brachten. „For them“, so Crabtree, „the ocean was not an unlimited space of experimentation and freedom, but a temporary and transient world of uncertainty and instability.“46 Sie wendet sich damit gegen ein Verständnis der Seefahrt als einer (männlichen) Welt jenseits der landbasierten Institutionen und Normen.47 „The cramped quarters, filthy conditions, and dangerous situations may have momentarily disrupted cultural norms, but male and female travelers struggled to put them quickly back into place.“48 Sie versuchten, die Muster ihrer gewohnten Welt zu reproduzieren und organisierten den Alltag an Bord entsprechend den vertrauten Linien von sozioökonomischem Status und Geschlecht.49 So finden wir (nicht nur) in den quäkerischen Quellen etwa häufig den Hinweis, dass Passagierinnen den größten Teil des Tages an Bord nähten, flickten oder andere häusliche Arbeiten übernahmen, die traditionell als weiblich galten.50 Ob sie dies ausschließlich für den Eigenbedarf, zur Ergänzung der Vorräte an Bord oder um etwas Geld zu verdienen machten, wird allerdings nicht immer klar. Das Leben an Bord hatte je nach Geschlechtszugehörigkeit und finanziellen Möglichkeiten unterschiedliche Bedeutung, denn Differenzen entlang dieser Linien spiegelten sich auch in der sozialen Geographie des Schiffes. Die Kajüten waren den reichen Passagier:innen zugeordnet. Finanziell schlechter Gestellte konnten sich in der Regel nur einen Platz auf dem Zwischendeck leisten. Die Unterkünfte der Besatzungsmitglieder befanden sich meist unter Deck. Das Oberdeck war der einzige Bereich, der allen Passagier:innen zugänglich war, „although even here they took pains to impose boundaries on this open and exposed space.“51 Männliche Kajütenpassagiere genossen die größte soziale und räumliche Bewegungsfreiheit, nur ihnen war es vorbehalten, zwischen den verschiedenen Welten an Bord nach Belieben hin und her wechseln zu können.52

46 Crabtree: Navigating Mobility, S. 102. 47 Vgl. für eine solche Perspektive etwa Rediker, Marcus: Between the Devil and the Deep Blue Sea. Merchant Seamen, Pirates and the Anglo-American Maritime World, 1700–1750, Cambridge 1987; Ders.: Villains of All Nations: Atlantic Pirates in a Golden Age, Boston 2005. 48 Crabtree: Navigating Mobility, S. 102. 49 Vgl. ebd., S. 91–93 und S. 102. 50 Vgl. ebd., S. 93; Stark: Female Tars, S. 55 und Petroski, Catherine: A Bride’s Passage: Susan Hathorn’s Year Under Sail, Boston 1997, S. 49f. (für die Mitte des 19. Jahrhunderts). 51 Crabtree: Navigating Mobility, S. 91. 52 Vgl. ebd., S. 91 und S. 95f.

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Die Quellen lassen erkennen, dass besonders allein reisenden Frauen wenig Handlungsspielraum zustand.53 So musste die aus Philadelphia stammende Quäkerin Rebecca Jones, die im August 1788 an Bord der Pigou in Richtung England ging, erfahren, dass ihr Status als alleinstehende Frau und Kajütenpassagierin bedeutete, dass sie nur mit Erlaubnis des Kapitäns oder über den Ersten Offizier mit den Passagier:innen des Zwischendecks sprechen konnte.54 Dass sie als wohlhabende Reisende an Bord ein gewisses Maß an Luxus genoss, das Passagier:innen des Zwischendecks nicht hatten, lässt sich etwa daran erkennen, dass sie in ihrer Kajüte auf einer Ausstattung mit zwei Sesseln bestand.55 Auch die Verpflegung der Kajütenpassagier:innen war um einiges besser, als die der Reisenden des Zwischendecks, von den Mannschaften ganz zu schweigen. Die Beziehungen zwischen Männern und Frauen, Kajüten- und Zwischendeckspassagier:innen sowie Passagier:innen und Schiffsmannschaften zeigen, so Crabtree, dass das Leben auf See keine Welt war, in der sich ungeahnte Möglichkeiten für die Transgression geschlechtlicher und sozialer Normen auftaten, vielmehr bestimmten die an Land geltenden soziokulturellen Normen auch die Einstellungen und Handlungen aller Personen an Bord des Schiffes.56

Gefangene und versklavte Frauen Frauen befanden sich im achtzehnten Jahrhundert auch als Sträflinge oder versklavte Frauen unfreiwillig an Bord von Schiffen und waren in ihren Handlungen hochgradig eingeschränkt und fremdbestimmt. So etwa die circa 240 Frauen, die sich an Bord der Lady Julian befanden, die im Juli 1789 von England aus in See stach, mit dem Ziel der Strafkolonie Sydney Bay im australischen New South Wales. Das Unterdeck war zu einem Gefängnis ausgebaut worden. Die Frauen waren zumeist wegen Bagatelldelikten zur „Überführung in Gebiete jenseits der Meere“ verurteilt worden. Damit sollten zum einen die überfüllten britischen Gefängnisse entlastet werden, und zum anderen die Gefangenen zur Besiedlung der britischen Kolonien in Australien beitragen.57 Über die Umstände der Überfahrt ist wenig bekannt. Dennoch wusste Charles Bateson in seinem 1959 erschienenen Werk ‚The Convict Ships 1787–1868‘ zu berichten, dass die Lady Julian nichts anderes als ein „floating brothel“ gewesen

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Vgl. ebd., S. 90. Vgl. ebd., S. 89f. Vgl. ebd., S. 100. Vgl. ebd., S. 90. Vgl. Art. The Lady Julian, in: http://www.woodentallships.com/australia/lady-julian.htm [abgerufen am: 9. September 2021].

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sei.58 Er setzte damit den Ton für die weitere Beschäftigung mit dem Thema.59 In der (populär)wissenschaftlichen Literatur, die sich seitdem mit der Überfahrt der Lady Julian beschäftigt hat, werden die sexuellen Verhältnisse an Bord in grellsten Farben ausgemalt, obwohl sich in der Quelle, auf die sich Bateson und die folgenden Beiträge vor allem stützen, nur wenige vage beziehungsweise ausdeutbare Sätze dazu finden lassen.60 Es ist ein prinzipielles Problem für die Forschung, dass die historischen Quellen über Sexualität, wenn überhaupt, häufig nur in unklaren Worten Auskunft geben und über sexuelle Gewalt meist ganz schweigen. Wir können davon ausgehen, dass die Entrechtung der gefangenen Frauen auf der Lady Julian auch deren sexuelle Ausbeutung einschloss und möglicherweise konnten auch einige der Frauen ein sexuelles Verhältnis zu einem Seemann für sich nutzen, etwa um Zugang zu besserem Essen oder andere Vergünstigungen zu erhalten. Die aus wenigen zweideutigen Sätzen abgeleiteten weitreichenden, oft in sexistischer und euphemistischer Sprache verfassten Annahmen der bisherigen Literatur nähren jedoch eher Stereotype und Mythen, als dass sie etwas über die Lebensrealität der gefangenen Frauen auf dem Schiff aussagen. Die größte erzwungene Fernwanderung der Geschichte war der transatlantische Handel mit versklavten Menschen. Im Dreieckshandel zwischen Europa, Afrika und Amerika wurden zwischen dem sechzehnten und dem neunzehnten Jahrhundert über 12,5 Millionen afrikanische Männer, Frauen und Kinder gewaltsam über den Atlantik in die Kolonien Nord- und Südamerikas und der Karibik transportiert.61 Über den gesamten Zeitraum des transatlantischen Handels mit versklavten

58 Vgl. Bateson, Charles: The Convict Ships 1787–1868, Glasgow 1959, S. 106. 59 Vgl. Rees, Siân: Das Freudenschiff. Die wahre Geschichte von einem Schiff und seiner weiblichen Fracht, Hamburg/Wien 2002; Ladischensky, Dimitri: Ein Bordell schwimmt nach Übersee, in: mare 31 (2002), Themenheft: Sex Sinne in schwerer See, S. 88–91; Hympendahl, Klaus: Sünde auf See. Die erotische Geschichte der christlichen Seefahrt, Königswinter 2005, darin das Kapitel Ein Hurenschiff für liebestolle Sträflinge, S. 26–31. 60 Vgl. die Analyse bei Triffitt, Nigel: Lady Juliana 1789, (2010), in: https://triffitt.wordpress.com/ mary-higgins-lady-juliana-1789/ [abgerufen am: 9. September 2021]. Bei der Quelle handelt es sich um die Lebenserinnerungen von John Nicol, der Steward auf der Lady Julian gewesen war und seine Geschichte mehr als dreißig Jahre nach der Fahrt dem Buchbinder und Erfinder John Howell in Edinburgh erzählt hat, der diese 1822 unter dem Titel ‚The Life and Adventures of John Nicol, Mariner‘ herausgab. Die Quelle ist einsehbar unter https://archive.org/details/cihm_41947/page/n5/ mode/2up [abgerufen am: 9. September 2021]. 61 Vgl. Eltis, David: Revolution, War, Empire. Gendering the Transatlantic Slave Trade 1776–1830, in: Karen Hagemann/Gisela Mettele/Jane Rendall (Hg.), Gender, War and Politics. Transatlantic Perspectives, 1775–1830, Basingstoke/New York 2010, S. 41–57, hier S. 44f. Die umfassendste Informationsquelle zur Mittelpassage ist die Trans-Atlantic Slave Trade Database, in der die Quellen von ca. 35.000 Überfahrten zwischen 1514 und 1866 enthalten sind, www.slavevoyages.org [abgerufen am: 9. September 2021].

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Menschen machten Frauen etwa 36 Prozent der transportierten Personen aus, wobei dieses Verhältnis je nach geographischer Lage stark variierte.62 Im achtzehnten Jahrhundert stammten die meisten Frauen, die den Atlantik überquerten, aus Afrika.63 Mit den brutalen Bedingungen auf den Schiffen während der durchschnittlich etwas mehr als zwei Monate dauernden Fahrten, der sogenannten Mittelpassage, hat sich die Forschung in den letzten Jahrzehnten intensiv beschäftigt. „No European“, so fasst es David Eltis zusammen, „whether convict, indentured servant, or destitute free migrant, was ever subjected to the environment which greeted the typical African slave upon embarkation.”64 Bereits bevor sie an Bord gingen, waren die Gefangenen aller persönlichen und kulturellen Verbindungen zu ihrem früheren Leben beraubt worden, ihre Köpfe wurden rasiert und ihre Kleidung und ihr Schmuck entfernt. Ihre persönliche Geschichte und Identität sollte gewissermaßen gelöscht werden, was sich auch daran zeigte, dass sie in den Schiffslisten nicht mit ihren Namen, sondern nur mit Nummern verzeichnet wurden.65 An Bord wurde diese Praxis einer systematischen Entmenschlichung fortgesetzt. Die Gefangenen wurden nach Geschlechtern getrennt unter Deck nackt eng zusammengepfercht, die Männer waren über lange Zeiträume angekettet.66 Die schmutzigen Bedingungen in den überfüllten Schiffen und schlechte Nahrung sorgten für endemische MagenDarm-Erkrankungen. Epidemien, Misshandlungen und Suizide führten dazu, dass über die gesamte Zeit des Handels mit versklavten Menschen etwa 13 Prozent der Eingeschifften die Reise nicht überlebten.67 Geschlechtsspezifische Erfahrungen weiblicher Gefangener auf den Schiffen, wie die allgegenwärtige Gefahr sexueller Gewalt, aber auch ihre zentrale Rolle bei Aufständen an Bord, wurden in der Forschung lange nicht reflektiert und sind erst in den letzten Jahren verstärkt zum Thema gemacht worden.68 Diese Studien verweisen etwa auf die Situation von schwangeren Frauen und Müttern

62 Vgl. Eltis: Revolution, War, Empire, S. 42. Vgl. auch Eltis, David/Engerman, Stanley L.: Was the Slave Trade Dominated by Men? in: The Journal of Interdisciplinary History 23 (1992), S. 237–257. 63 Die Ratio liegt bei 4:1; Vgl. Eltis: Revolution, War, Empire, S. 45 und Ders.: A Brief Overview of the Trans-Atlantic Slave Trade (2007), in: https://www.slavevoyages.org/voyage/essays#interpretation/abrief-overview-of-the-trans-atlantic-slave-trade/introduction/0/en/ [abgerufen am: 9. September 2021]. 64 Eltis: A Brief Overview. 65 Vgl. auch Morgan, Jennifer L.: Accounting for “The Most Excruciating Torment”: Gender, Slavery, and Trans-Atlantic Passages, in: History of the Present 6 (2016), S. 184–207, hier S. 200. 66 Vgl. Eltis: A Brief Overview. 67 Vgl. ebd. 68 Vgl. Morgan: Accounting for, S. 196 und Morgan, Molly: Women’s Resistance in the Middle Passage. A Story Lost at Sea, in: https://www.albany.edu/faculty/jhobson/wss308/middlepassage.html [abgerufen am: 9. September 2021].

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auf den Schiffen. Diesen wurde kein besonderer Schutz gewährt, viele Frauen, die an Bord Kinder bekamen, starben dabei. Überlebten beide die Geburt, mussten die Mütter spätestens an Land gewaltsam erfahren, dass die Entscheidung über eine gemeinsame Zukunft mit ihren Kindern nicht in ihren Händen lag.69 Wissenschaftler:innen und Künstler:innen verwenden oft die Metapher der Unerkennbarkeit, wenn es um die Erforschung der leidvollen Erfahrungen geht, die die gefangenen Frauen, Kinder und Männer auf der Mittelpassage machten.70 Das weitgehende Fehlen von Quellen in den Archiven sei gewissermaßen ein Echo der Gewalt des Sklavenhandels und des Bestrebens, „to reduce human beings to their most abject state – to isolate them from the socio-political context out of which they formed their subjectivity.“71 Autobiographische Berichte sind äußerst selten und noch rarer sind Texte, die sich direkt auf die Erfahrungen von Frauen auf der Überfahrt beziehen.72 Die Erzählungen über weibliche Gefangene auf den atlantischen Sklavenschiffen gleichen oft, so Jennifer Morgan, einem „pastiche of demographic records, distant witnesses, polemic images and autobiographies asphyxiated by the narrative structure of the eighteenth-century novel.“73 Sie plädiert dafür, die Struktur der Archive selbst zu hinterfragen, die in der Regel Quellen verwahren, die aus der Logik und der Buchführung der Sklavenhändler heraus geschaffen wurden. Die Bemühungen, in der Geschichte der Mittelpassage das Leid und Elend der versklavten Frauen, Kinder und Männer sichtbar zu machen, müssten daher zuallererst die (politischen) Ökonomien selbst verstehen, die dem Schweigen der Mittelpassage zugrunde liegen. „The Middle Passage“, so Morgan, „is perhaps the foundational moment where the rationality of capitalism met its most unspeakable violence.“74

69 Vgl. Morgan, Jennifer: Kinship, the Middle Passage, and the Origins of Racial Slavery, in: Debora Willis/Ellyn Toscano/Kalia Brooks Nelson (Hg.), Women and Migration: Responses in Art and History, Cambridge: Open Book Publishers, 2019, https://books.openedition.org/obp/8020 [abgerufen am: 9. September 2021]; vgl. auch Dies.: Laboring Women. Gender and Reproduction in the Making of New World Slavery, Philadelphia 2004. 70 Vgl. Morgan: Accounting for, S. 192f. 71 Ebd., S. 203. 72 Vgl. Cugoano, Quobna Ottobah: Thoughts and Sentiments on the Evil and Wicked Traffic of the Slavery and Commerce of the Human Species (1787), in: Vincent Caretta (Hg.), Unchained Voices. An Anthology of Black Authors in the English-Speaking World of the Eighteenth Century, Lexington 2013, S. 145–184. 73 Morgan: Accounting for, S. 196. 74 Ebd., S. 203; vgl. auch Dies.: Reckoning with Slavery: Gender, Kinship and Capitalism in the Early Black Atlantic, Durham 2021.

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Schluss Schiffe sind keine in sich geschlossenen Räume. Vielmehr sind sie als Teil eines Systems zu verstehen, das See und Land einschließt. Die maritime Geschichtsschreibung widmet sich daher seit längerem auch den Verbindungen zwischen Land und See und schaut neben Themen, die vorwiegend die Schifffahrt selbst betreffen, auch danach, wie die Seefahrt mit den Gesellschaften an Land verbunden war, aus denen sie hervorgegangen ist.75 Für die Frauen- und Geschlechtergeschichte kann die Einbeziehung der Schnittstellen zwischen Schiff und Land, wie etwa die Häfen und die Küstenzonen, dazu beitragen, die binäre Unterscheidung, die dem Mann das Meer zuordnet und der Frau das Ufer, aufzulösen. Frauen unterschiedlichster sozialer Hintergründe und verschiedensten Alters waren an Land wesentlicher Bestandteil der maritimen Wirtschaft, etwa als Dienstleisterinnen in den Häfen, als Geldverleiherinnen, Gastwirtinnen, Pensionswirtinnen, Sexarbeiterinnen, Wäscherinnen, Näherinnen, Segelmacherinnen, Krankenschwestern oder als sogenannte Trampel- und Staumädchen.76 Auch Leuchtturmarbeiten sowie die Bergung von gekenterten beziehungsweise gestrandeten Schiffen und die Rettung von Überlebenden waren wichtige Bereiche des maritimen Clusters, an dem sich auch Frauen beteiligten.77 Verheiratete Männer, die auf See arbeiteten, blieben, wie unter anderem Lisa Norling herausgearbeitet hat, in funktionaler Abhängigkeit von ihren Frauen. Diese übernahmen während der langen Abwesenheiten ihrer Männer die Rolle des Haushaltsvorstands und ernährten, neben ihren unbezahlten häuslichen Unterstützungsleistungen, mit ihrer Arbeit ihre Familien und kümmerten sich auch um rechtliche Probleme.78 Haskell Springer zeigt die Ironie auf, dass die Kapitäns-

75 Vgl. Stanley: Cross-Dressed Cabin Boys, S. 9f. 76 Vgl. ebd., S. 10 und S. 17. Zu den Trampel- und Staumädchen, die gegen geringen Lohn Fracht an Bord brachten und verstauten, vgl. Henningsen: Der Seemann, S. 52–55. 77 Bekannte Beispiele im neunzehnten Jahrhundert sind die Amerikanerin Ida Lewis (1842–1911) und die Engländerin Grace Darling (1815–1842), die als Töchter von Leuchtturmwärtern Leuchtturmarbeiten übernahmen und bei der Rettung von Schiffen maßgeblich beteiligt waren; vgl. Ishida: Precursors of Women Seafarers, S. 27–29. 78 Vgl. Stanley: Cross-Dressed Cabin Boys, S. 10; Herndon, Ruth Wallis: The Domestic Cost of Seafaring. Town Leaders and Seamen’s Families in Eigtheenth Century Rhode Island, in: Creighton/Norling: Iron Men, Wooden Women, S. 55–69; Norling, Lisa: Ahab’s Wife. Women and the American Whaling Industry 1820–1870, in: Creighton/Norling: Iron Men, Wooden Women, S. 70–91; Creighton, Margaret S.: Rites and Passages: The Experience of American Whaling 1830–1870, Cambridge 1995, S. 162–194.

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frauen, die mit ihren Ehemännern zur See fuhren, oft enger nach den Vorgaben der getrennten Sphären lebten als die Ehefrauen der Seeleute an Land.79 Die an Land wirksamen Geschlechternormen, sozialen Hierarchien und rassistischen Regimes prägten in vielfacher Hinsicht auch das Leben auf See. Und vice versa hatte die maritime Kultur auch Auswirkungen an Land. So flossen etwa die im achtzehnten Jahrhundert überaus populären Berichte von in Hosen oder Röcken seereisenden Frauen in Diskurse über Geschlecht und Kolonialismus ein, und dabei war es egal, in welchem Verhältnis diese Berichte jeweils zu einer erfahrenen Realität gestanden haben mögen. Marcus Rediker hat zudem gezeigt, wie die Berichte über die Pirat:innenkultur des siebzehnten Jahrhunderts ein Forum für einige Frauen bot, die gegen Geschlechternormen rebellierten. Die Bilder von Piratinnen, die in der zeitgenössischen Publizistik kursierten, könnten, so Rediker, sogar die Darstellung der Freiheit in den Revolutionen des achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts beeinflusst haben.80 Eine maritime Geschichtsschreibung, die die Kategorien Geschlecht und sozioökonomischer Status in der Überkreuzung mit weiteren Markern von Differenz beziehungsweise Diskriminierung untersucht, steckt noch in den Anfängen. Sie umfasst mehr, als den biographischen Spuren von Frauen auf dem Meer nachzufolgen,81 aber deren Geschichten sind wichtig. „Stories matter. Many stories matter.“82 Aus den vielen Geschichten von Seeleuten, Passagier:innen und mit der Seefahrt verbundenen Menschen an Land lässt sich eine maritime Geschichte entwickeln, in der die Erfahrungen von Menschen unterschiedlichster Hintergründe, Geschlechter und Verortungen dargestellt werden können, ebenso wie die sozialen Ordnungen und diskursiven Formationen, in die deren Geschichten eingebettet waren.

79 Vgl. Springer: The Captain’s Wife at Sea. 80 Vgl. Rediker, Marcus: Liberty beneath the Jolly Roger. The Lives of Anne Bonny and Mary Read, Pirates, in: Creighton/Norling: Iron Men, Wooden Women, S. 1–33. 81 Zu maritimen Männlichkeiten vgl. etwa: Burton, Valerie: The Myth of Bachelor Jack. Masculinity, Patriarchy and Seafaring Labour, in: Howell/Twomey, Jack Tar in History, S. 179–198; Creighton: Rites and Passages; Bolster, Jeffrey: African American Seamen in the Age of Sail, Cambridge 1998; Baker, Paul/Stanley, Jo: Hello Sailor! The Hidden History of Gay Life at Sea, Harlow 2003; Burg, Barry R.: Sodomy and the Pirate Tradition. English Sea-Rovers in the Seventeenth-Century Caribbean, New York 1995. Wie der Pazifismus der Quäker im 18. Jahrhundert dazu diente, Konventionen von Männlichkeit in Frage zu stellen, zeigt Sarah Crabtree: Holy Nation: The Transatlantic Quaker Ministry in an Age of Revolution, Chicago 2015, Kapitel 2. 82 Ngozi Adichie, Chimamanda: The Danger of a Single Story, TED-Rede 2009, vgl. The danger of a single story | Chimamanda Ngozi Adichie - YouTube [abgerufen am: 9. September 2021].

Marita Metz-Becker

„Im Widerspruch mit der Welt“1 Intellektuelle Frauen um 1800 am Beispiel der Berufsschriftstellerin Sophie Mereau (1770–1806)

Das Weib gibt, indem sie sich zum Mittel der Befriedigung des Mannes macht, ihre Persönlichkeit auf, sie erhält dieselbe, und ihre ganze Würde nur dadurch wieder, daß sie es aus Liebe für diesen Einen getan habe ... Ihre eigene Würde beruht darauf, daß sie ganz, so wie sie lebt, und ist, ihres Mannes sei, und sich ohne Vorbehalt an ihn und in ihm verloren habe. Das Geringste, was daraus folgt, ist, daß sie ihm ihr Vermögen und alle Rechte abtrete, und mit ihm ziehe. Nur mit ihm vereinigt, nur unter seinen Augen, und in seinen Geschäften hat sie noch Leben, und Tätigkeit. Sie hat aufgehört, das Leben eines Individuums zu führen; ihr Leben ist ein Teil seines Lebens geworden.2

Diese Vorstellungen zum Geschlechterverhältnis legt der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) in seiner Grundlage des Naturrechts im Jahr 1796 nieder, aber viele werden ihm in diesen Ansichten gegen Ende des Jahrhunderts schon längst nicht mehr gefolgt sein. Schon gar nicht die junge Frau, die an seinen Vorlesungen in Jena teilnahm, als Gasthörerin selbstverständlich nur, denn das Frauenstudium sollte erst 100 Jahre später eingeführt werden.3 Die junge Frau aber, von der hier die Rede ist, ging als erste ‚Berufsschriftstellerin‘ in die deutsche Literaturgeschichte ein, wenn sie auch zunächst noch über zwei Männer definiert wurde, nämlich als „Schülerin Schillers“ und „Ehefrau Brentanos.“4 Es handelt sich um Sophie Mereau, geborene Schubart, verheiratete Brentano. Sophie Mereau wurde am 28. März 1770 als Tochter des Steuerbeamten Gotthelf Heinrich Schubart und dessen Frau Johanna Sophie Friederike, geborene Gabler,

1 Schiller an Goethe am 17. August 1787: „Unsere Freundin Mereau hat in der Tat eine gewisse Innigkeit […] und eine gewisse Tiefe kann ich ihr auch nicht absprechen. Sie hat sich bloß in einer einsamen Existenz und in einem Widerspruch mit der Welt gebildet“, zit. n. Gersdorff, Dagmar von: Dich zu lieben kann ich nicht verlernen. Das Leben der Sophie Mereau-Brentano, Frankfurt am Main 1984, S. 127. 2 Johann Gottlieb Fichte, zit. n. Lange, Sigrid (Hg.): Ob die Weiber Menschen sind. Geschlechterdebatten um 1800, Leipzig 1992, S. 369f. 3 Vgl. Metz-Becker, Marita/Maurer, Susanne (Hg.): Studentinnengenerationen. Hundert Jahre Frauenstudium in Marburg, Marburg 2010. 4 Hannemann, Britta: Weltliteratur für Bürgertöchter. Die Übersetzerin Sophie Mereau-Brentano, Göttingen 2005, S. 12.

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in Altenburg geboren. Sie erhielt eine umfassende Ausbildung, vornehmlich in den Sprachen, und zeigte früh große dichterische Begabung. Mit 23 Jahren heiratete sie den Juristen Carl Mereau (1765–1825) und ging 1793 mit ihm nach Jena, wo er zunächst als außerordentlicher, dann als ordentlicher Professor der Rechte reüssierte und sie selbst einen literarischen Salon unterhielt. Die von Zeitgenossen als überaus gebildet und charmant beschriebene junge Frau versammelte hier die geistige Elite der Stadt um sich: Herder, Fichte, Goethe, Schiller, Schlegel, Schelling, Hölderlin, Jean Paul sowie den Verleger Frommann, den Physiker Ritter, den Kanzler von Müller, den Arzt Hufeland und viele andere. Sie war bald eine berühmte Erscheinung und wurde mit 23 Jahren „das Wahrzeichen Jenas“5 genannt. Ein Salongänger beschreibt sie so: Eine liebliche Erscheinung in jenen Zusammenkünften war Professorin Mereau, eine reizende kleine Gestalt, zart bis zum Winzigen, voll Grazie und Gefühl. Beides an einen rohen Gatten gekettet und verschwendet. [...] Damals war sie von allem, was Sinn und Geschmack besaß, hoch gefeiert; wo sie erschien, drängte man sich um sie und fast um sie allein, ein dichter Schwarm von Bewunderern, die nach einem Wort, einem Lächeln von ihr haschten, ringsumher schlossen noch die Gaffer einen undurchdringlichen Kreis.6

Die charismatische Schriftstellerin und Salonière Sophie Mereau veröffentlichte seit 1791 in Schillers Thalia Gedichte. Sie lieferte Lyrik, Prosabeiträge und Übersetzungen unter anderem zu Schillers Horen7 und Musen-Almanachen.8 1801 gab sie die eigene Zeitschrift Kalathiskos heraus. In der für damalige Verhältnisse kühnen Schrift über Ninon de Lenclos (1620–1705), deren Briefe sie auch veröffentlichte, forderte sie die Emanzipation der Frau, was sie mit dem Begriff ‚Selbstbestandheit‘ ausdrückte. Sie schrieb die Romane Das Blüthenalter der Empfindung (1794) und Amanda und Eduard (1803), das Versepos Seraphine (1802) und übersetzte spanische und italienische Novellen (1804/06). Die Romanübersetzung Fiammetta von Boccaccio (1806) fand allgemein Beifall, unter anderem bei Achim von Arnim (1781–1831), der sie „meisterlich“ nannte.9 Mehrere Motive drängten Sophie Mereau zur unaufhaltsamen literarischen Produktion: Ihre schriftstellerische Begabung, ihre Sehnsucht nach Unabhängigkeit von ihrem Mann, mit dem sie sich nicht verstand, und der Wunsch nach Selbstverwirklichung, die sie mit dem Wort ‚Selbst-

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Gersdorff: Dich zu lieben, S. 12. Poel, Gustav (Hg.): Johann Georg Rist. Lebenserinnerungen. Teil 1, Hamburg 1968, S. 67f. Vgl. Schiller, Friedrich (Hg.): Die Horen, Tübingen 1795–1797. Vgl. Mix, York-Gothart: Die deutschen Musen-Almanache des 18. Jahrhunderts, München 1987. Gersdorff: Dich zu lieben, S. 372.

„Im Widerspruch mit der Welt“

bestandheit‘10 umschrieb. Sie nahm als einzige Frau an Fichtes Vorlesungen in Philosophie teil und erregte damit Aufsehen: „Eine von unsern Professorinnen [...], die Madame Mereau, macht Gedichte für den Schiller’schen Musen-Almanach und studiert Kant und Fichte!“11 , ereiferte sich 1796 der Philosophiestudent Herbart. Entgegen den eingangs zitierten Darlegungen des Philosophen Johann Gottlieb Fichte ordnete sich Sophie Mereau jedoch keineswegs ihrem Gatten unter, sondern beanspruchte für sich eigene Individualität. Der Dichter Ludwig Tieck (1773–1853), der 1793 nach Jena kam, hielt fest, dass Carl Mereau zwar „eine sehr angenehme Frau geheiratet hatte, die aber äußerst aufgeklärt und freidenckend war, besonders in Ansehung ihrer Verhältnisse als Frau.“12 Ihre Ehe, die sich von Beginn an als problematisch erwies und aus der zwei Kinder hervorgingen, wurde nach wenigen Jahren auf Vermittlung Goethes geschieden. Schon während der Ehe ging Sophie Mereau verschiedene Beziehungen mit Verehrern ein, ohne aber an eine längerfristige Bindung zu denken. Männer wie der Jurist Johann Heinrich Kipp (1773–1834) oder Georg Philipp Schmidt (1766–1849) blieben Randfiguren in ihrem Leben, obgleich Clemens Brentano Jahre später noch auf diese eifersüchtig war und seine Frau mit Vorhaltungen quälte. 1799 traf Sophie Mereau Clemens Brentano (1778–1842) in Jena, der nach einem erfolglosen Jurastudium in Marburg Ort und Universität gewechselt hatte und sich nun im Fach Medizin versuchte, wobei er weder in der einen noch in der anderen Disziplin je einen Abschluss erlangen sollte. Der 20jährige verliebte sich spontan in die „vortreffliche Dichterin Professor Mereau, die ganz, körperlich und geistig, das Bild unserer verstorbenen Mutter ist“13 , wie er seinem Bruder Christian brieflich mitteilte. Die immerwährende, nicht zu stillende Sehnsucht Brentanos nach mütterlicher Zuwendung führen seine Biographen auf den Verlust der früh verstorbenen leiblichen Mutter zurück, woraus ein Vakuum entstanden sei, das ihn auch im späteren Leben nicht habe zur Ruhe kommen lassen. Den ungewöhnlichen Weg des ewig unmündigen und doch genialen ‚Kindes‘ Clemens vom romantischen Dichter zum religiösen Eiferer zeichnet Hartwig Schultz in seiner sehr lesenswerten Brentano-Biographie Schwarzer Schmetterling nach.14

10 Vgl. Augart, Julia: Eine romantische Liebe in Briefen – Zur Liebeskonzeption im Briefwechsel von Sophie Mereau und Clemens Brentano, Würzburg 2006, S. 153. 11 Zit. n. Gersdorff: Dich zu lieben, S. 61. 12 Ludwig Tieck an Sophie Tieck, 2. Mai 1793, zit. n. Berger, Frank: Das Geld der Dichter in Goethezeit und Romantik, 71 biografische Skizzen über Einkommen und Auskommen, Frankfurt am Main 2020, S. 160. 13 Zit. n. Gersdorff: Dich zu lieben, S. 165. 14 Vgl. Schultz, Hartwig: Schwarzer Schmetterling, Zwanzig Kapitel aus dem Leben des romantischen Dichters Clemens Brentano, Berlin 2006.

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Nachdem Sophie Mereau, die fast zehn Jahre Ältere und Mutter von zwei Kindern, zunächst Brentanos Zuneigung erwiderte, trennte sie sich im Mai 1800 zunächst von ihm und wandte sich Friedrich Schlegel zu. In ihrem Tagebuch notierte sie: „23. August. Festeres Verhältnis mit Fr. Schlegel. Süße Lust. Gänzlich aufgehobener Umgang mit Brentano.“15 Doch auch die Beziehung zu Schlegel war nicht von Dauer. Nach der von ihr durchgesetzten Scheidung von Carl Mereau im Jahr 1801, der ersten offiziellen Scheidung im Herzogtum Sachsen-Weimar,16 ging sie mit ihrer Tochter Hulda nach Camburg (der sechsjährige Sohn Gustav war in Jena an einer Kinderkrankheit gestorben), wo sie zurückgezogen lebte und für den Göttinger Musen-Almanach arbeitete. Bei 200 Reichstalern Unterhalt von Mereau war sie zum ersten Mal auf Einkünfte aus eigener schriftstellerischer Arbeit angewiesen.17 Bezeichnend für Sophie Mereau war, dass sie in dieser Situation keine Flucht in eine neue Beziehung und finanzielle Sicherheit bei einem Mann suchte, sondern ganz auf ihr persönliches Talent baute. Sie sollte später in die Geschichte der weiblichen Autoren als erste deutsche Berufsschriftstellerin eingehen. Die umfangreiche Korrespondenz mit ihren Verlegern, vor allem mit Friedrich Wilmans (1764–1830) in Frankfurt, zeigt, dass sie ihre Honorare und Bogenpreise höchst umsichtig aushandelte. Sie hatte inzwischen einen Namen als Herausgeberin verschiedener Almanache sowie als Romanautorin und Übersetzerin, wobei sie allein für die Redaktion des Göttingischen Musen-Almanachs 50 Louisdor im Jahr einnahm. Ihr finanzieller Erfolg konnte sich sehen lassen, ihr Bogenhonorar lag bei zehn bis zwanzig Talern, womit sie zu den gut bezahlten Schriftstellern gehörte, was zu jener Zeit für eine Frau ganz und gar die Ausnahme war.18 Vor dem Hintergrund der Aufklärung und der von der Französischen Revolution postulierten Freiheits- und Gleichheitsvorstellungen strebte auch Sophie Mereau danach, sich als Frau und Schriftstellerin literarisch zu emanzipieren und wirtschaftlich unabhängig zu werden. Die um 1800 neu ausformulierten Geschlechterbeziehungen tangierten nicht nur ihren eigenen Alltag, sondern flossen ebenso in ihren Roman ‚Amanda und Eduard‘19 wie in ihren Essay über Ninon de Lenclos ein.20 Mehr als 50 Jahre später lesen wir noch einmal eine zusammenfassende 15 Zit. n. Gersdorff: Dich zu lieben, S. 202. 16 Vgl. Berger: Das Geld der Dichter, S. 161. 17 Vgl. Behrens, Katja: „Alles aus Liebe, sonst geht die Welt unter“. Sechs Romantikerinnen und ihre Lebensgeschichte, Weinheim/Basel 2006, S. 172. 18 Vgl. Berger: Das Geld der Dichter, S. 162. 19 Vgl. Mereau-Brentano, Sophie: Liebe und allenthalben Liebe. Werke und autobiographische Schriften in drei Bänden, Bd. 1, Romane: Das Blütenalter der Empfindung; Amanda und Eduard, hg. u. kommentiert v. Katharina von Hammerstein, München 1996, S. 59–224. 20 Vgl. Mereau-Brentano, Sophie: Liebe und allenthalben Liebe. Werke und autobiographische Schriften in drei Bänden, Bd. 3, Tagebuch, Betrachtungen und vermischte Prosa: Wie sehn’ ich mich hinaus in die freie Welt, hg. u. kommentiert v. Katharina von Hammerstein, München 1996, S. 147–180.

„Im Widerspruch mit der Welt“

Charakteristik Sophie Mereaus in Carl August Varnhagens (1785–1858) Tagebuch. Bettina Brentano (1785–1859) hatte ihm eine Anzahl Liebesbriefe von Sophie gebracht, die an ihren früheren Geliebten Kipp gerichtet waren. Varnhagen schreibt am 7. September 1856: Ich zwang mich zu eigener Arbeit; las dann in den Liebesbriefen der Sophie Mereau, die sehr bemerkenswert sind, ein lebhaftes Bild von ihrer Liebenswürdigkeit und von den Sitten der Zeit geben. In allen Zeugnissen, Briefen und Erzählungen von damals findet sich durchaus dasselbe, Vergötterung und Allberechtigung der Liebe, Missachtung der Ehe, poetische Anerkennung der Sinnlichkeit, Ringen nach Freiheit, Hinblick auf Frankreich. Dies alles ist auch hier. Bettina hat mir mit diesen Briefen ein wahres Geschenk gemacht.21

Sophie Mereau gehörte zu einer Generation, die mit ständischen Konventionen und überholten Traditionen brach und sich den neuen Lebens- und Gefühlsverhältnissen jener Epoche stellte.22 In Tagebüchern, Freundschafts- und Liebesbriefen legten die Zeitgenoss:innen hiervon beredtes Zeugnis ab, schriftliche Hinterlassenschaften für die Nachwelt, auf die Varnhagen sich oben bezieht. In den intellektuellen Zirkeln der Universitätsstadt Jena, die sich in den Jahren nach dem Ausbruch der Französischen Revolution gar den Ruf einer freigeistigen ‚Gelehrtenrepublik‘23 erworben hatte, konnte eine künstlerisch begabte Frau wie Sophie Mereau ihre Talente entfalten und einen eigenen Salon unterhalten, wie es ihre Geschlechtsgenossinnen Henriette Herz (1764–1847) und Rahel Levin (1771–1831) im fernen Berlin vorlebten. Die Salon- und Geselligkeitskultur der Zeit eröffnete den Frauen die ersten wichtigen Schritte in die Eigenständigkeit und muss als bahnbrechend für das weibliche Selbstbewusstsein in Deutschland betrachtet werden.24 Die für die deutsche Geistesgeschichte äußerst zentralen Jahre zwischen 1780 und 1806 werden auch „Rahelzeit“ genannt,25 was höchst bemerkenswert ist, stammte Rahel Levin, verheiratete Varnhagen, doch aus einer jüdischen Familie. Berühmtheit unter Europas Intellektuellen erlangten noch weitere jüdische Frauen, wie Henriette Herz und Dorothea Mendelssohn (1764–1839), als Gastgeberinnen der von ihnen gegründeten

21 Zit. n. Hang, Adelheid: Sophie Mereau in ihren Beziehungen zur Romantik, München 1934 (zugleich Dissertation Goethe-Universität Frankfurt am Main 1934), S. 21. 22 Vgl. Metz-Becker, Marita: Verbannung ins Private. Frauenleben zwischen 1780 und 1816, in: Museen Hanau (Hg.), Napoleon und die Romantik – Impulse und Wirkungen, Marburg 2016, S. 153–170. 23 Vgl. Schwarz, Klaus (Hg.): Der romantische Aufbruch. Jena um 1800. Ein Museumsführer, Jena 2000. 24 Vgl. Heyden-Rynsch, Verena von der: Europäische Salons. Höhepunkte einer versunkenen weiblichen Kultur, München 1992, S. 96; vgl. Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen, neu ediert von Rainer Schmitz, Berlin 2013. 25 Hertz, Deborah: Die jüdischen Salons im alten Berlin 1780–1806, München 1995, S. 13.

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Salons. Der gesellschaftliche Erfolg der Salonkultur lässt sich auf seine wesentlichen Merkmale zurückführen: Abbau von traditionellen Schranken zwischen Adel und Bürgertum, Juden und Christen sowie Männern und Frauen; der Salon war somit ständeübergreifend, konfessionsübergreifend und geschlechterübergreifend und löste damit das aufklärerische Programm von Freiheit und Gleichheit ein. In vielen deutschen Städten wurden die revolutionären Zeitläufte nicht nur heftig diskutiert, sondern die Intellektuellen jener Stunde trachteten danach, ihre neuen Ideen und Visionen auch in die eigene Lebenspraxis umzusetzen. Im ‚Jenaer Kreis‘ wurde gar das revolutionäre Experiment einer Wohngemeinschaft von Gleichgesinnten gewagt,26 ebenso wie die Entwicklung einer Theorie der Universalpoesie und die Veröffentlichung einer eigenen frühromantischen Zeitschrift, des von den Brüdern Schlegel herausgegebenen Athenaeum27 , ein Magazin, das zwischen 1798 und 1800 als das zentrale literarische Organ der Frühromantik in Jena galt. 1791 war Sophie Mereau mit dem Revolutionsgedicht Bey Frankreichs Feier den 14ten Julius 179028 in Schillers Thalia erstmals öffentlich literarisch in Erscheinung getreten, um schon bald auf ihr besonderes Talent aufmerksam zu machen. Am 30. Juni 1797 schrieb Schiller in Bezug auf Mereau an Goethe: „Ich muß mich doch wirklich darüber wundern, wie unsere Weiber jetzt, auf bloß dilettantischem Wege, eine gewisse Schreibgeschicklichkeit sich zu verschaffen wissen, die der Kunst nahe kommt.“29 Und Goethe antwortete ihm am 1. Juli 1797: „Unsere Frauen sollen gelobt werden, wenn sie fortfahren, durch Betrachtung und Übung, sich auszubilden.“30 Die lobenden Worte der beiden Dichtergrößen waren durchaus ernst gemeint und es war Schiller, der lange Jahre seine ‚Schülerin‘ protegierte und ihr seine eigenen literarischen Foren zur Verfügung stellte. Ein neues Zeitalter war angebrochen – auch und vor allem für die Frauen. Viele von ihnen wagten sich nun auf das literarische öffentliche Parkett, um durch eigene Leistungen auf eigenen Füßen zu stehen. Als ‚Frauen der Romantik‘ gingen sie in die europäische Literaturgeschichte ein und versetzten als brillante Briefeschreiberinnen wie Caroline Schlegel-Schelling (1763–1809),31 Lyrikerinnen, wie Karoline von Gün26 Vgl. Metz-Becker, Marita: Geselligkeit. Formen bürgerlicher Alltagskultur um 1800, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 101/4 (1998), S. 409–432. 27 Schlegel, August Wilhelm/Schlegel, Friedrich (Hg.): Athenaeum. Eine Zeitschrift, Berlin 1798–1800. 28 Vgl. Mereau-Brentano, Sophie: Liebe und allenthalben Liebe. Werke und autobiographische Schriften in drei Bänden, Bd. 2, Gedichte und Erzählungen: Ein Glück, das keine Wirklichkeit umspannt, hg. u. kommentiert v. Katharina von Hammerstein, München 1996, S. 9. 29 Oellers, Norbert/Stock, Frithjof (Hg.): Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Historischkritische Ausgabe [im Folgenden: NA], Bd. 29: Briefwechsel, Schillers Briefe. 1.11.1796–31.10.1798, Weimar 1977, S. 93. 30 NA, Bd. 37 I: Briefwechsel, Briefe an Schiller. 1.4.1797–31.10.1798, Weimar 1981, S. 55. 31 Vgl. Metz-Becker, Marita: „Madame Luzifer“, Caroline Michaelis-Böhmer-Schlegel-Schelling, in: Baerbel Becker (Hg.), Bad Women. Luder, Schlampen und Xanthippen, Berlin 1989, S. 28–33.

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derrode (1780–1806),32 Übersetzerinnen, wie Meta Forkel (1765–1853)33 oder Redakteurinnen, wie Therese Huber (1764–1829),34 die Zeitgenossen in Staunen. Ihre Lebenswege waren alles andere als geradlinig, denn als Pionierinnen hatten sie jenen Spagat auszuhalten, der darin lag, den eigenen Bedürfnissen ebenso gerecht zu werden wie den an sie herangetragenen gesellschaftlichen Ansprüchen, eine Gratwanderung zwischen Auflehnung und Anpassung, die für die Emanzipationsbemühungen vieler nonkonformer Frauen um 1800 bezeichnend war.35 Für Sophie Mereau bedeutete das schriftstellerische Pionierinnendasein sowohl „ein ganz unsentimentales Verlangen nach gutem Leben und den vollen Genuß des irdischen Augenblicks“36 als auch die tägliche konzentrierte Arbeit am Schreibtisch, meist mehrere Stunden vormittags, verbunden mit profanen Verhandlungen mit Verlegern und Geldgebern um Seitenzahlen und Bogenhonorare. Für ein Frauenjournal, das sie herausgeben wollte, bot ihr ein Verleger viel Geld. An Kipp schrieb sie 1795: „Woltmann kam und gab mir Nachricht, daß der Vertrag mit einem Verleger wegen meines Journals geschlossen sei und ich doch nun ziemlich auf 200 Rth. jährlich rechnen darf.“37 Feste Einnahmen garantierten ihr auch ihre Übersetzungstätigkeiten: „Ich [habe] nun völlige Gewißheit wegen meiner Übersetzung, die mir im neuen Jahr 300 Thaler einbringen wird“, frohlockte sie im gleichen Jahr.38 Diese wirtschaftliche Unabhängigkeit ermöglichte es ihr, sagt Christa Bürger, ihrem Ideal einer freien Selbstständigkeit nahe zu kommen, wie sie sie in ihrem Essay über Ninon de Lenclos ausformuliert.39 Ninon, die große Vorgängerin, die das Ideal einer kultivierten Geselligkeit mit dem der freien Liebe zu verbinden wußte, lebt gemäß der Maxime, daß man die Freuden nicht wie die Lebensmittel aufheben dürfe, sondern sie mit jedem Tage aufzehren solle, als würde es der letzte seyn‘.40

32 Vgl. Metz-Becker, Marita: Marburger Romantik um 1800. Portraits einer bewegten Generation, 4. erw. Aufl., Marburg 2018, S. 37–39. 33 Vgl. Kleßmann, Eckart: Universitätsmamsellen. Fünf aufgeklärte Frauen zwischen Rokoko, Revolution und Romantik, Frankfurt am Main 2008, S. 98–103. 34 Vgl. Metz-Becker, Marita: Georg Forsters ‚Häusliches Glück‘. Das Leben mit Therese Heyne in Göttingen, Wilna und Mainz, in: Stefan Greif/Michael Ewert (Hg.), Georg-Forster-Studien XIV, Kassel 2009, S. 57–85. 35 Vgl. Dülmen, Richard van: Poesie des Lebens. Eine Kulturgeschichte der deutschen Romantik, Bd. 1: Lebenswelten, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 250. 36 Bürger, Christa: Leben – Schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen, Stuttgart 1990, S. 34. 37 Zit. n. Gersdorff: Dich zu lieben, S. 110. 38 Zit. n. ebd., S. 111. 39 Bürger: Leben – Schreiben, S. 34. 40 Mereau zit. n. ebd.

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Stilistisch hat sich Sophie Mereau im Laufe der Zeit von dem „Idealisierungsgebot der klassischen Ästhetik“41 gelöst und sich – vor allem als Erzählerin – der Romantik zugewandt. Insbesondere verrät der 1803 erschienene Briefroman Amanda und Eduard Einflüsse der Frühromantiker, wie auch das Versepos Seraphine (1802), dessen letzte Durchsicht sie gemeinsam mit Friedrich Schlegel unternahm.42 Vom lockeren Ton der romantischen Dichtung inspiriert, fanden einige ihrer Gedichte Eingang in die Musik, wie das Naturgedicht Frühling (1796) oder Feuerfarb, das von Ludwig van Beethoven (1770–1827) als Opus 52 vertont wurde.43 In ihren Erzählungen entwirft Mereau einen fröhlichen Hedonismus mit ungehinderter Wunschbefriedigung, wenn sich beispielsweise in Flucht nach der Hauptstadt die Ich-Erzählerin von ihrem Liebhaber entführen lässt, um mit ihm das freie Leben zu genießen, sich später einer Theatergruppe anschließt und, nachdem beide durch eine Intrige getrennt werden, dieses selbstständige Leben auch ohne ihn weiterführt.44 Diese in der Literatur ausgelebten Freiheiten hielten jedoch Mereaus eigener Lebensrealität nicht stand. Spätestens in der Ehe mit Clemens Brentano, gegen die sie sich lange wehrte, nahm ihr Leben eine rasante Wendung. Aber auch schon Carl Mereau, ihr erster Mann, hatte ihr diese anspruchslose Großzügigkeit nicht gewährt, die sie in ihren Werken immer wieder entwarf und auch für sich selbst reklamierte: Die weitherzige, freigebige Liebe. Nach der Scheidung von ihrem ungeliebten Ehemann Carl Mereau und einem selbstständigen Leben als anerkannte Schriftstellerin geriet nun ihr Leben mit Clemens Brentano zu einem nur teilweise vorhersehbaren Desaster. Kehren wir zurück ins Jahr 1803, als sich Sophie Mereau und Clemens Brentano nach fast dreijähriger Trennung wiedersahen. Brentano hatte seinen Bruder Christian und seine Schwester Gunda brieflich bei ihr intervenieren lassen, da diese Liebe, die er angeblich nicht vergessen konnte, ihn physisch wie psychisch verzehrte. Die Anstrengungen der Geschwister waren erfolgreich, und Sophie Mereau ließ sich auf eine erneute Korrespondenz mit Brentano ein. Der von Heinz Amelung 1939 herausgegebene Briefwechsel der beiden legt beredtes Zeugnis über die neu aufblühende Leidenschaft Brentanos zu Sophie Mereau, aber auch deren anfängliches Zögern, ab. Sie konnte sich, wenn überhaupt, allenfalls ein Zusammenleben ohne Trauschein mit ihm vorstellen, am liebsten aber würde sie in Weimar bleiben und ihm nicht nach Marburg nachfolgen, schrieb sie ihm. Er aber hatte nach seiner

41 Ebd., S. 38. 42 Vgl. Göres, Jörn: Sophie Mereau, in: Ders. (Hg.), Deutsche Schriftsteller im Porträt, Bd. 3: Sturm und Drang, Klassik, Romantik, München 1980, S. 155. 43 Mereau: Werke, Bd. 2, Gedichte, S. 10–14. 44 Vgl. Bürger: Leben – Schreiben, S. 45.

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Rückkehr bereits eine Wohnung für sie in Marburg gemietet,45 um sie ganz bei sich zu haben. Brentano schreibt am 30. August 1803: Ich wünsche sehr, daß Du Deine Liebe zu mir hier zu keinem Geheimnis machen möchtest, sondern daß ich Dich ganz wie meine Braut vor den Leuten behandeln dürfte. [...] Eine große unsägliche Mühe macht es mir, Dir ein schönes Logis zu finden, wo ich mit Savigny wohne, fehlt die Küche, neben uns bei Professor Tiedemann ist die Hausfrau ein wahrer Teufel, und so fort, heute Morgen aber habe ich eine Wohnung besehen, schöner als Deine in Weimar, und eine Aussicht, so reich, so wunderschön, schöner als die meinige, nur begehrt er für den Monat ein Carolin, Du hast dafür drei sehr schöne Stuben ensuite mit der reichen Aussicht ins Tal, eine große und schöne Stube mit Kammer nach der Straße in die Stadt, Küche und dergleichen. [...] Ich muß es mieten, denn schöner kannst Du nicht wohnen. [...] Die Aussicht hat durch das Gedrängte des Gebirgs, des Flusses, der vielen hochbaumichten Gärten auch im Winter viel Reiz, es ist im Winter, als schautest Du in eine wunderbar kristallisierte Grotte. [...] Dich in dieser herrlichen Aussicht bald zu sehen, ist nun meine neuste freudigste Hoffnung auf Erden, [...] nur durch Dich, o geliebtes, kindisch geliebtes Weib, will, kann ich glücklich sein. – Gelt, liebes Kind, Du reitest nicht mehr, Du schminkst Dich nie wieder, mich lieben, mich beglücken, das soll Deine einzige Lust sein.46

Die hier ausformulierten Vorstellungen Brentanos von einem Ehealltag in Marburg stießen bei Sophie Mereau auf kein Gehör; auch der liebevoll aufgezeichnete Grundriss der Wohnung, der dem Brief beilag, vermochte es nicht, ihr ein Zusammenleben mit ihm schmackhaft zu machen. Da drängte er aufs Neue am 4. Oktober 1803: „Ich habe die ernstliche, herzliche Bitte an Dich, Dich ganz mit mir zu vereinigen und jeden Moment des Lebens mit mir zu teilen. Deine großmütige liebevolle Idee, unehlich mit mir zu leben, laß sie vorübergehen, [...], ich fühle, daß ich sie nicht ertragen kann.“47 Und er fuhr fort: „Ich fühle es deutlich, ich kann nicht ruhig in derselben Stadt unter einem anderen Dache als Du selbst wohnen. [...] Ich kann nicht so lieben, wie Du meinst, kommen und gehen, ich muß immer bei Dir sein, Dich immer sehen und in jeder Minute mich von meinem Glücke überzeugen können.“48 Er sollte die Gelegenheit dazu haben, doch dann würden seine Briefe – nach nur zwei Ehejahren – schon sehr viel anders klingen. Zunächst aber antwortete ihm Sophie: „Könnte ich nur gleich die Flügel ausbreiten und zu Dir fliegen! aber 45 Vgl. Metz-Becker: Marburger Romantik um 1800, S. 25. 46 Zit. n. Amelung, Heinz (Hg.): Briefwechsel zwischen Clemens Brentano und Sophie Mereau, Potsdam 1939, S. 155–157. 47 Zit. n. ebd., S. 159. 48 Zit. n. ebd., S. 161.

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daran darf ich jetzt noch gar nicht denken; ehe ich Anstalten zur Reise mache, muß ich vorher meine literarischen Angelegenheiten, die, im Vorbeigehen, ein sehr günstiges Ansehen gewonnen haben, völlig anordnen und zum Teil vollenden.“49 Diese ‚literarischen Angelegenheiten‘ ließen sich auch schwarz auf weiß beziffern, womit wir aufschlussreiche Auskunft über ihre selbstständige Schriftstellerinnenexistenz erhalten. Am 19. August 1803 heißt es bei ihr: „Du tatest einige Fragen über meine Lage, und ich will sie Dir kurz und deutlich beantworten. Ich nehme – wenn nicht unterdessen einer von drei Buchhändlern Bankerott macht – auf Ostern 700 Rtlr. ein.“50 Mit weiteren 700 Talern rechnete sie im darauffolgenden Halbjahr, sodass sie jährlich mehr Einnahmen hatte als ihr geschiedener Ehemann, dessen Besoldung an der Universität Jena sich auf 1200 Taler bezifferte.51 Mit dem Selbstbewusstsein dieser aus eigener Kraft gesicherten Existenz konnte sie an Brentano im gleichen Jahr schreiben: „Vom Heiraten sprich mir nicht. Du weißt, ich tue alles, alles, was Du begehrst und wovon Du glaubst, es könnte Dich glücklicher machen, aber wolle nichts, was Dich nicht zufriedener macht, – und mich auch nicht.“52 Er aber drängte weiter, ließ keine Ruhe, erbat in allen Briefen die Heirat: „Wenn Du nun, wie Du jetzt gesinnt bist, mein Weib nicht werden willst, kannst Du mir es verargen, wenn ich es vor Mißtrauen von Dir halte, o liebes Weib, wie machst Du uns umsonst das Leben so sauer.“53 Seine immer wiederkehrende „dringende Bitte um unsre wirkliche Verehelichung“ wurde plötzlich erhört. Sophie Mereau schrieb am 28. Oktober 1803 nach Marburg: „Clemens, ich werde Dein Weib – und zwar so bald als möglich. Die Natur gebietet es, und so unwahrscheinlich es mir bis jetzt noch immer war, darf ich doch nun nicht mehr daran zweifeln.“54 Sie war schwanger. Sie teilte ihm mit, dass sie das Experiment wagen und mit ihm glücklich sein wolle, „ob ich es bleiben werde, das weiß ich nicht, aber was geht mich die Zukunft an?“55 Sie schickte sich in die neue Lage und versuchte, sie pragmatisch zu lösen. Brentano freilich war überglücklich über diese unverhoffte Nachricht und schrieb postwendend: „Liebes Weib! Heute erhalte ich Deinen Brief, der Dich mir gibt und was ich auf Erden begehrte, ein Kind.“56 Er bestellte sogleich das Aufgebot und richtete die Umzugsformalitäten: „Heute morgen ist Dein und mein Name von der Kanzel hier ausgerufen worden, ich habe unter dem Chor gestanden [...] und

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Zit. n. ebd., S. 167. Berger: Das Geld der Dichter, S. 162. Vgl. ebd., S. 160. Zit. n. Amelung: Briefwechsel Brentano/Mereau, S. 171. Zit. n. ebd., S. 233. Zit. n. ebd., S. 300. Zit. n. ebd., S. 301. Zit. n. ebd., S. 305.

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auf das Grab mehrerer Leute Tränen geweint.“57 Es war die Marburger Lutherische Pfarrkirche, in der Sophie Mereau und Clemens Brentano am 29. November 1803 von Pfarrer Leonhard Creuzer, dem Vetter des Altphilologen Friedrich Creuzer (1771–1858), getraut wurden. Doch ein Eheleben mit Brentano war, wie von der Braut vorhergesehen, nicht einfach: „Deine Unruhe ist wie ein feines Gift, das selbst durch das unschuldige Papier ansteckend wird“, schrieb sie ihm, als er sich in Frankfurt aufhielt und fuhr fort: „Ich liebe Dich, ich sehne mich oft herzlich nach Deiner Umarmung, doch will ich Dir nicht heucheln, es tut mir wohl, allein zu sein!“58 Krisen wurden schon im ersten Jahr zum ehelichen Alltag. Clemens schrieb nach vier Monaten an seinen Freund Achim von Arnim: Du mußt nicht glauben, lieber Achim, als sei ich unglücklich oder verändert durch meine Verbindung mit Sophie; nein, ich fühle mein Dasein durch sie verschönt, aber beflügelt sehe ich es nicht. Sie ist ein gutes Kind und eine freundliche Frau, die ich liebe, aber ich bin ohne Gehilfe, ohne Mitteilung in meinem poetischen Leben, ich möchte sagen in meinem poetischen Tod.59

Und Sophie teilte ihrer Freundin, der Schriftstellerin Charlotte von Ahlefeld (1781–1849) mit, dass sie vom Zusammenleben mit Brentano Himmel und Hölle zugleich erwartet habe, doch sei die Hölle leider vorherrschend.60 Der kleine Sohn, der am 11. Mai 1804 zur Welt kam, lebte nur fünf Wochen. Die tief erschütterten Eltern brachen die Marburger Zelte ab und gingen im Sommer des Jahres nach Heidelberg, wo Brentano aber auch nicht zur Ruhe kam. Er flüchtete nach Berlin zu Achim von Arnim, dem er am 3. Oktober 1804 schrieb: „Glaubst Du wohl, Arnim, daß es schmerzt, mit einem kalten Wesen täglich zusammen zu sein, das die Häuslichkeit verachtet, ohne zu einem andern Dasein Talent zu haben?“61 Dieser Vorwurf war ein Affront und alles andere als angebracht. Das dichterische Schaffen Sophie Mereaus war trotz der Schicksalsschläge ungebrochen. Sie hielt feste Arbeitszeiten am Schreibtisch ein, meist mehrere Stunden vormittags, an denen man sie nicht stören durfte. Später, nach ihrem frühen Tod, berichtete von Arnim:

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Zit. n. ebd., S. 310. Zit. n. ebd., S. 319. Zit. n. ebd., S. 23. Vgl. Gersdorff: Dich zu lieben, S. 310. Zit. n. Amelung: Briefwechsel Brentano/Mereau, S. 25.

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Sehr beschämt bin ich, daß ich die gute Frau so wenig kennen gelernt habe, aber die verfluchte Disputation, die immer zwischen beiden obwaltete, nöthigte mich zu einer Art Zurückgezogenheit; dazu kam noch das Wochenbett, die fleißige Arbeit, ihre Gewohnheit, die Vormittage gern allein zu sein, so daß ich sie eigentlich fast nie gesprochen habe.62

Aber kaum war Brentano unterwegs, plagte ihn eine große Sehnsucht nach seiner Gattin: Du glaubst gar nicht, Sophie, wie leid es mir tut, vor Dir hinweggegangen zu sein, es war eine Torheit [...], in einer ewigen Unruhe bin ich deinethalben, Eifersucht, Sehnsucht, alles plagt mich, lange bleibe ich nicht hinweg.63

Sophie antwortete ihm: Soll ich weinend oder lachend auf Deinen letzten Brief antworten? – einen größern Don Quichotte wie Dich trug gewiß nie die prosaische Erde! Zu Hause sitzt sein treues Weib, liebt ihn, lebt eingezogen, arbeitsam, trägt ihn in und unter dem Herzen und ist ganz zufrieden – er reist ganz lustig durch die Welt [...], er könnte ganz ruhig und glücklich sein, aber weil ihm gar nichts fehlt, so kämpft er gegen Windmühlen und trägt sich mit den unwesentlichsten Grillen! Ich bitte Dich, nimm doch das Gute wahr, das Dein ist, es nicht genießen, ist auch Sünde, und bekämpfe diesen unbeschreiblichen Hang, stets nach dem Fernen Dich zu sehnen. Diese ewige Sehnsucht gehört nur Gott.64

Brentanos unruhigen Geist zu mäßigen, gelang ihr offenbar nur schwer. Auch war sie wieder schwanger und sorgte sich um das Ungeborene. Sie wollte diesmal keine Amme anstellen und war fest entschlossen, es die ganze erste Zeit über bei Tag und Nacht in keine fremden Hände zu geben – denn ich weiß, was mich noch jetzt für Vermutungen wegen des armen Ariels, an den ich jetzt oft denke, quälen, und wie schlecht ich jede erkaufte Pflege, auch die bezahlteste, gefunden habe. [...] Jette [die Schwester, Anm. d. Verf.] ist die einzige treue Seele für mich auf der Welt, die mir das alles gern leistet, von der ich es gern annehme. Kann ich also von meinem Erwerb ihre Reise bestreiten, so laß ich sie kommen und ich weiß, Du wirst es billig finden und diese mir so nötige Einrichtung auf keine Weise stören.65

62 Zit. n Steig, Reinhold/Grimm, Hermann (Hg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 2: Achim von Arnim und Bettina Brentano, Stuttgart/Berlin 1913, S. 155. 63 Zit. n. Amelung: Briefwechsel Brentano/Mereau, S. 337. 64 Zit. n. ebd., S. 348. 65 Zit. n. ebd., S. 349f.

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An dieser Briefstelle wird deutlich, wie sehr sie danach trachtete, ihr Leben so zu organisieren, dass ihre Arbeit nicht litt, gleichzeitig aber auch ihr Kind in guten Händen war. Brentano gegenüber betont sie ausdrücklich, dass sie die Dienstleistung ihrer Schwester von ihrem eigenen „Erwerb“ und ohne seine finanzielle Unterstützung zu bestreiten in der Lage ist. Familie und Beruf miteinander zu verbinden – ein Spagat, der auch damals wie übrigens noch heute viele Mütter vor Probleme stellte und ihnen individuelle Lösungsstrategien abverlangte. Im gleichen Brief schreibt Mereau: Von meinem Leben kann ich Dir nichts schreiben, es ist einfach und arbeitsam; es wär unmöglich, daß ich so viel arbeiten könnte, wenn Du hier wärest. [...] Es ist wahr, ein Gefühl ist in mir, ein einziges, welches nicht Dein gehört. Es ist das Gefühl der Freiheit. Was es ist, weiß ich nicht, es ist mir angeboren, und Du verletzest es zuweilen.66

Sie war froh über seine Abwesenheit und darüber, ihren Arbeitsalltag selbst gestalten zu können. Brentano engte sie ein und nahm ihr das Gefühl der Freiheit. Zu diesem Zeitpunkt war sie damit beschäftigt, Boccaccio zu übersetzen, mittelhochdeutsche Lyrik und Prosa zu bearbeiten und Erzählungen und Liebesgeschichten für die zweite Ausgabe der Spanischen Novellen zu schreiben, die 1806 erscheinen sollten. Ein volles Programm, aus dem sie ein weiterer Schicksalsschlag riss: Die Tochter, die am 13. Mai 1805 in Heidelberg zur Welt kam, starb sechs Wochen nach ihrer Geburt an Scharlach. Brentano schrieb aufgelöst an seinen Schwager Savigny: „Wir sind sehr unglücklich mit unsern Kindern, meine arme Frau hat unendlich gelitten, zwei so hintereinander kommen, weinen und gehn zu sehen, das ist ein traurig Nachsehen, ein trauriges Dableiben.“67 Geburt und Tod lagen so eng beieinander, dass man auch immer für das Leben der Mutter fürchtete, so dass Clemens anfügte: „Sophie, mein Weib, [...] lebt, sie lebt, o das ist schon göttlich genug [...] und so bin ich dann glücklich von Herzen.“68 Mereau teilte ihrem Freund, dem Superintendenten Prof. Carl Wilhelm Justi (1767–1846), nach Marburg mit: Verehrter Freund, ich sage nichts von den neuen Leiden, die mich sehr betroffen haben; sie sind von der Art, daß man sie zwar nie vergessen kann, aber entweder sich sogleich fassen muß oder es niemals kann. Ich sage mir jeden Tag; das Leben ist kurz, der Tod gewiß, die Zeit kostbar, und diese Gedanken erhalten mir einen heitern und tätigen Mut.69

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Zit. n. ebd., S. 349. Zit. n. Gersdorff: Dich zu lieben, S. 346. Zit. n. ebd., S. 347. Zit. n. ebd., S. 347f.

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Noch konnte sie nicht wissen, wie recht sie damit haben würde, denn viel Zeit blieb ihr nicht mehr. Im Spätsommer des Jahres 1805 war sie bereits wieder schwanger, das dritte Mal in der Ehe mit Brentano, zwei weitere Kinder hatte sie in erster Ehe geboren. Sie stürzte sich erneut in die Arbeit, schon um den dauernden Eifersuchtsszenen zu entgehen, die Brentano ihr wegen der zehn Jahre zurückliegenden Beziehung zu Johann Heinrich Kipp machte. Auch die Heidelberger Freunde konnten nicht verstehen, warum er seine Frau so quälte. Friedrich Creuzer, der das Ehepaar gut kannte, schrieb über Sophies Lage: Bei der Freudlosigkeit ihres Lebens, das Clemens so oft trübt oft mit recht raffinierten Künsten – muß man sie wirklich deswegen bedauern, wiewohl ihr Stolz nie ein Geständnis dieser Art erlaubt. Es ist ordentlich zum Lachen, wie derselbe Clemens manchmal dann wieder seine Frau hochpreist, ja vergöttert. Nebenbei wann sie nicht dabei und dessen nicht froh werden kann.70

Die Ehe, die von Anfang an mehr ‚Hölle‘ als ‚Himmel‘ war, wurde zunehmend desaströser. Dazu trug bei, dass Clemens keiner geregelten Tätigkeit nachging. „Es war“, sagt Dagmar von Gersdorff, „für Sophie Brentano unendlich schwierig, mit einem Mann zusammenzuleben, der keine Beschäftigung hatte außer dem Sammeln von Büchern, keine eigentliche Aufgabe im Leben, keinen Beruf. Sie hatte es ihm gesagt, geschrieben – er wollte nichts davon hören. Er haßte jeden bürgerlichen Berufszwang und blieb lebenslang, wie Guido Görres sagte, ‚ein geistreicher Dilettant‘.“71 Über die ehelichen Schwierigkeiten schreibt Clemens Brentano am 1. Januar 1806 an Achim von Arnim: Ich lebe jetzt häuslich sehr ruhig, Sophie ist oft recht liebevoll gegen mich, aber über eine wunderbare Trauer, die sie bei dem Blick auf ihre Geschichte dann und wann erstarrt, habe ich keine Gewalt, da sie alle Liebe verloren. Härter, hilfloser, starrer, kälter gibt es keine Tränen als die trauernder Frauen, die keinen Gott haben. Ich habe neulich nach stundenlangem Flehen nichts erfahren über die Ursache solcher Tränen, als: ‚Dich trifft meine Trauer nicht, ich traure über mein verlorenes Leben, ich traure, daß ich nichts bin und daß ich noch nicht gedemütigt bin‘, und das kommt manchmal mitten in den freundlichsten, gegenseitig liebevollsten Tagen, ohne alle Veranlassung.72

70 Zit. n. ebd., S. 362. 71 Ebd., S. 341. 72 Zit. n. Amelung: Briefwechsel Brentano/Mereau, S. 30.

„Im Widerspruch mit der Welt“

Es fiel Brentano in jeder Hinsicht schwer, Verständnis für seine Frau aufzubringen, und als sie zu Jahresende 1805 eine Fehlgeburt erlitt und lebensgefährlich erkrankte, machte er ihr Vorhaltungen: „Sage mir nie mehr, Du wolltest kein Kind, – hätte ich eins, ich wäre ruhiger! [...] Wenn Gott uns ein Kind erhält, werden wir glücklich sein, ohne Kind ist die Ehe unbegreiflich.“73 Großer Kindersegen war im 19. Jahrhundert in nahezu allen gesellschaftlichen Schichten der Normalfall. Nicht immer waren die Kinder erwünscht, zumal geeignete Maßnahmen zur Schwangerschaftsverhütung nicht bekannt waren.74 Viele überlebten die Kinderjahre nicht, wie es auch hier der Fall war. Zu diesem Zeitpunkt hatte Sophie Mereau zwei Geburten und eine Fehlgeburt in nur zwei Ehejahren hinter sich, beide Kinder waren gestorben. Es ist verständlich, dass sie eine weitere Schwangerschaft scheute. Außerdem lebten sie nicht ohne Kind, wie Clemens sagt, sondern mit der kleinen Hulda aus Sophies erster Ehe. Wie intensiv Clemens’ Verhältnis zu diesem Kind war, ist aus der vorliegenden Literatur schwer zu ersehen. Er hat sie adoptiert, aber nach Sophies Tod nicht mit ihr gelebt. Er gab sie in das Mädchenpensionat der Philanthropin Caroline Rudolphi (1754–1811), einer Freundin seiner Frau in Heidelberg. Doch schon im Frühjahr 1806 war Sophie Mereau erneut schwanger. Trotz allen ehelichen Kummers konnte sie die Fiammetta- Übersetzung abschließen, für die von Arnim in Berlin einen Verleger gefunden hatte. Er schickte ihr am 16. Juni 1806 den Verlagsvertrag und 100 Taler Vorschuss. Als das Buch erschien, lebte sie schon nicht mehr. Achim von Arnim schrieb 1807 an seinen Freund Brentano: „Die Fiammetta ist meisterlich von Deiner Frau übersetzt, ich bin oft gemeint gewesen, Italienisch zu lesen.“75 Doch bereits zu ihren Lebzeiten war ihr Ruhm fest begründet. Nicht nur ihre Übersetzungen waren „meisterlich“ (von Arnim), auch viele ihrer Lieder wurden vertont; Liedtexte von ihr erschienen in einem gemeinsamen Band zusammen mit Tieck, Goethe, Novalis und August Wilhelm Schlegel. Auch als Herausgeberin von Zeitschriften machte sie sich einen Namen und verwirklichte ihren bereits 1795 gefassten Plan eines eigenen, ausschließlich an ein weibliches Publikum gerichteten Journals mit Kalathiskos im Jahr 1801, ganz zu schweigen von der Anerkennung, die sie im männlich dominierten Literaturbetrieb als Romanautorin und Lyrikerin hatte. Brentano allerdings stand den Erfolgen seiner Frau eher zwiespältig gegenüber. Er war einerseits stolz auf sie, da er sich mit ihr schmücken konnte, aber auch missgünstig, da er zu diesem Zeitpunkt als Autor noch wenig vorzuweisen hatte, obgleich sich auch bei ihm, seit er mit Sophie Mereau zusammenlebte, zunehmend Erfolge einstellten: „Gerade in der Marburger Zeit“, sagt Amelung, fand er „Muße, an der Chronika eines fahrenden Schülers zu 73 Zit. n. ebd., S. 382f. 74 Vgl. Metz-Becker, Marita (Hg.): Wenn Liebe ohne Folgen bliebe... Zur Kulturgeschichte der Verhütung, Marburg 2006. 75 Zit. n. Gersdorff: Dich zu lieben, S. 372.

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arbeiten, die tiefsinnige Dichtung der Romanzen vom Rosenkranz zu beginnen und manche seiner schönsten Lieder zu dichten. Darin zeigt sich am deutlichsten, der wohltätige Einfluß Sophiens.“76 In Heidelberg arbeitete er an Des Knaben Wunderhorn, der gemeinsam mit Achim von Arnim herausgegebenen Sammlung deutscher Volkslieder, mit der er zu einem der Hauptvertreter der Heidelberger Romantik reüssierte. Im Heidelberger Sommer 1806 schien sich das Verhältnis der Eheleute ein wenig entspannt zu haben, denn Brentano schreibt: „Du wirst gewiß ein recht gutes, fröhliches Herz unter dem deinigen tragen, weil Du während dieser Schwangerschaft so gütig und munter bist.“77 Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht mehr. Sophie Mereau starb am 31. Oktober 1806 im Alter von 36 Jahren in Heidelberg bei der Totgeburt ihres fünften Kindes. Der Augenzeuge Friedrich Creuzer schrieb an seinen Vetter Leonhard, der die beiden drei Jahre zuvor getraut hatte, nach Marburg: Ich kam von zwei Leichnamen zurück, die ich soeben noch in ihrem Frieden ruhen sah. Es ist Brentanos Frau und Kind, mit dem sie diese Nacht im Wochenbett gestorben ist, nachdem sie noch gestern Abend auf dem Schlosse war, heiter wie immer und abends noch die Wiege besorgend, in der das Neugeborene liegen sollte. Es ist ein ergreifender Anblick eine Mutter hingestreckt zu sehen vom Tode mit ihrem Säugling, auf einem Bette, festlich geschmückt wie ein Brautbett. Ich verweilte gern bei der Leiche, da ihr Anblick ganz den Frieden des Todes zeigt. Sie ist sanft gestorben und ruht unentstellt und lieblich. Brentano aber ist fürchterlich in seinem Schmerz und fast einem Wahnsinnigen ähnlich.78

Clemens Brentano hat sich von diesem Verlust nie wieder erholt. Seine Biographen berichten einstimmig, dass die wenigen Jahre mit Sophie Mereau die erfülltesten seines Lebens waren. In der seelischen Zerrissenheit seiner späteren Jahre war sie ihm weiter Halt und Zufluchtsort. Noch lange Zeit erschien sie ihm im Traum „schier alle zwei oder drei Nächte sehr liebevoll und schön und heilig, ach so wie in der ersten Liebe.“79 Der Freund von Arnim bemitleidete Brentano wegen seines großen Verlustes und sagte zu Görres: „Ich wünschte ihm von ganzer Seele, daß seine erste Frau nicht gestorben wäre; er hat unglaublich viel durch sie verloren.“80 Sophie Mereau wurde am Nachmittag des folgenden Tages auf dem St.-AnnenKirchhof in Heidelberg beigesetzt.81 Es existiert heute kein Grabstein mehr, aber Erinnerungstafeln an ihren Wohnhäusern in Jena und Marburg. Sie sind einer 76 77 78 79 80 81

Amelung: Briefwechsel Brentano/Mereau, S. 24. Zit. n. ebd., S. 411. Zit. n. ebd., S. 32. Zit. n. ebd., S. 36. Zit. n. Gersdorff: Dich zu lieben, S. 356. Vgl. Hetmann, Frederik: Drei Frauen zum Beispiel, Weinheim/Basel 1980, S. 160.

„Im Widerspruch mit der Welt“

großen Schriftstellerin gewidmet und einer Frau, die, trotz aller gesellschaftlichen und privaten Widerstände von einem unbändigen Drang nach einem selbstbestimmten Leben getrieben, nicht nur ihren Romanfiguren die Freiheiten einräumte, „gleiche Rechte mit dem Manne“82 zu teilen, sondern auch im realen Leben für ihr Geschlecht diese Möglichkeit reklamierte und hierbei unerschrocken voranging. FEUERFARB von Sophie Mereau Ich weiß eine Farbe, der bin ich so hold, die achte ich höher als Silber und Gold, die trag’ ich so gerne um Stirn und Gewand, und habe sie Farb e d e r Wa h rhe it genannt. Wohl reizet die Rose mit sanfter Gewalt; doch bald ist verblichen die süße Gestalt: drum ward sie zur Blume der Liebe geweiht; bald schwindet ihr Zauber vom Hauche der Zeit. Die Bläue des Himmels strahlt herrlich und mild; Drum gab man der Tre u e dies freundliche Bild. Doch trübet manch Wölkchen den Äther so rein; So schleichen beim Treuen oft Sorgen sich ein. Die Farbe des Schnees, so strahlend und licht, heißt Farbe der Uns chu l d ; doch dauert sie nicht. Bald ist es verdunkelt, das blendende Kleid: So trüben auch Unschuld Verläumdung und Neid. Und Frühlings, von schmeichelnden Lüftchen entbrannt, trägt Wäldchen und Wiese der Hoff nu ng Gewand. Bald welken die Blätter und sinken hinab: So sinkt oft der Hoffnungen liebste in’s Grab. Nur Wa hrheit bleibt ewig, und wandelt sich nicht: Sie flammt wie der Sonne alleuchtendes Licht. Ihr hab’ ich mich ewig zu eigen geweiht. Wohl dem, der ihr blitzendes Auge nicht scheut! Warum ich, so fragt ihr, der Farbe so hold, den heiligen Namen der Wa h rhe it gezollt? Weil flammender Schimmer von ihr sich ergießt, und ruhige Dauer sie schützend umschließt. Ihr schadet der nässende Regenguß nicht,

82 Mereau-Brentano: Werke und autobiographische Schriften, Bd. 1, S. 42.

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noch bleicht sie der Sonne verzehrendes Licht; drum trag’ ich so gern sie um Stirn und Gewand, und habe sie Far b e d e r Wa h rhe it genannt. (Mereau, Werke, Bd. 2: Gedichte, S. 10)

Norbert Schindler

WilderInnen? Frauen und Wilderei im Erzstift Salzburg im 18. Jahrhundert Die Sennerin Waldburga Reiterin „von der Plientau“ ist eine der wenigen aktiven weiblichen WilderInnen, die einem in den Salzburger Strafprozessakten des 18. Jahrhunderts begegnen. Zwei Umstände sind für ihren Fall signifikant: Sie hatte 1713 auf ihrer Alm südlich des Passes Lueg, eingezwängt zwischen Tennen- und Hagengebirge, nicht etwa zum Gewehr gegriffen, sondern einige Murmeltiere mit einer Falle erlegt. Das ausgelassene Schmalz der putzigen „mumelter“, die schon in den Jagdbüchern Kaiser Maximilians I. (1459–1519) eine Rolle spielten, galt in der Volksmedizin als begehrtes schmerzlinderndes Allheilmittel, das vor allem in Form von Umschlägen gegen Rheuma und Arthrose, den weitverbreiteten Alters- und Verschleißkrankheiten der bäuerlichen Welt, verabreicht wurde. Von der üblichen männlichen Wilderei unterschied sie sich dadurch, dass sie keine Waffengewalt gebrauchte und ihre Jagd auf Kleintiere konzentrierte, die keinen illegalen Fleischerwerb versprachen, sondern ihr lediglich ein paar zusätzliche Kreuzer auf dem überwiegend weiblich bestimmten Heilmarkt einbrachten. Eine stark von der männlichen Regel abweichende und von den Obrigkeiten als relativ harmlos eingeschätzte Jagdpraxis also. Die Fallenstellerin kam dementsprechend glimpflich mit zwei Tagen Haft in der Festung Werfen davon.1 Das Salzburger Erzstift war bis 1803 ein Satellitenstaat des Habsburgerreiches, ein vom konservativ-paternalistischen Geist seiner katholischen Regenten geprägter geistlicher Kleinstaat.2 Die präliberalen Reformbewegungen des aufgeklärten Absolutismus hatten in ihm, vor allem was die bürgerliche Neuordnung des Justizsystems3 und damit auch der Geschlechterverhältnisse angeht, kaum Eingang 1 Salzburger Landesarchiv [im Folgenden: SLA], Repertorium Pfleggericht [im Folgenden: PG] Werfen, Fach 105, Nr. 44; Schindler, Norbert: Wilderer im Zeitalter der Französischen Revolution. Ein Kapitel alpiner Sozialgeschichte, München 2001, S. 275. 2 Zur Entwicklung seines politisch-sozialen Spannungsfelds zwischen Bischöfen und Bauern im 18. Jahrhundert: Vgl. ebd., S. 11–38. Zum Konzept des ‚field of force‘ vgl. allgemein Thompson, Edward P.: Patrizische Gesellschaft, plebeische Kultur, in: Ders., Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, hg. v. Dieter Groh, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1980, S. 169–202; Ders.: Die englische Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Klassenkampf ohne Klasse?, in: ebd., S. 247–289. 3 Vgl. Ammerer, Gerhard: Verfassung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit von Matthäus Lang bis zur Säkularisation (1519–1803) – Aspekte zur Entwicklung der neuzeitlichen Staatlichkeit, in: Heinz Dopsch/Ernst Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. 2, Teil 1, Salzburg 1988,

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gefunden. Für die Frauen bedeutete das, dass sie im Ringen um die Herrschaftsfragen nicht wirklich ernst genommen wurden, und zugleich sehr enge und hochgradig bedrohte Spielräume, sobald sie sich aus der Deckung ihrer Ehemänner hervorwagten. Eine gestandene Altbäuerin, die sich nach dem Tod ihres Mannes nicht wiederverheiraten, sondern ihren Hof lieber selbständig weiterführen wollte, wurde bereits mit Argwohn und als potenzielle Abweichlerin von der Staatsraison betrachtet,4 und der Wagrainer Landrichter meldete im Sommer 1785 launig nach Salzburg hinaus, dass Maria Preberger, „Regierungsweib am Schappach in der Großarl“, bei der Feldarbeit vom „Donnerkeil“, also vom Blitz erschlagen worden sei und so die verkehrten Familienverhältnisse durch göttliche Fügung wieder zurechtgerückt worden seien.5 Frauen, die ein außereheliches Kind geboren hatten, drohten drakonische Schandstrafen. So wurde etwa eine Halleiner Salinenarbeitertochter nach ihrer Niederkunft 1781 öffentlich in einem Schweinestall an den Pranger gestellt, das Kind wurde ihr weggenommen und in eine ferne, jenseits des Gebirges angesiedelte gutkatholische Mesnerfamilie zur Aufzucht übergeben. Ihr verzweifelter Kampf um ihr Kind erntete bei der klerikalen Obrigkeit nur Spott und Häme.6 Die obrigkeitliche Pression auf die Frauen und ihre ‚Sittenzucht‘ war also denkbar stark,7 und deshalb sollten wir Wilderer-Amazonen in diesem Zusammenhang nicht erwarten. Sie wussten, wie gefährlich die Anmaßung männlicher Rollen für sie war, dass sie ihnen stets als ‚verkehrte Welt‘, als Perversion der ‚natürlichen‘ Herrschaftsverhältnisse ausgelegt würden, und dementsprechend zogen sie sich auf

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S. 325–374; Ders.: Aufgeklärtes Recht, Rechtspraxis und Rechtsbrecher – Spurensuche nach einer historischen Kriminologie in Österreich, in: Ders./Hanns Haas (Hg.), Ambivalenzen der Aufklärung. Festschrift für Ernst Wangermann zum 70. Geburtstag, Wien/München 1997, S. 101–138. So etwa im Fall der ‚Weiberherrschaft‘ der Margareth Ziererin 1796 auf dem Hof am Webersberg nördlich von Obertrum im PG Mattsee (vgl. Schindler: Wilderer, S. 263). SLA Hofratsprotokolle vom 11. Juli 1785, fol. 1274v. Dabei handelte es sich keineswegs um einen Einzelfall. Mittelalterliche Schandstrafen wurden in erster Linie gegen sogenannte ‚liederliche Frauenzimmer‘ verhängt. So wurde die ledige Gollinger Dienstmagd Maria Seywaldin wegen Unzucht im Wiederholungsfall 1768 öffentlich in einer Schandgeige auf dem Marktplatz ausgestellt, damit sie „mehr eine Furcht bekommet.“ Ihr Gnadengesuch, das Urteil in eine Geldstrafe umzuwandeln, wurde abgewiesen (SLA Hofratsprotokolle vom 6. August 1768, fol. 920). Die mehrerer Kleindiebstähle überführte Maria Radacherin wurde 1787 in Radstadt zunächst mit einer Tafel „Straffe der wiederholten Dieberey“ an den Pranger gestellt, mit 15 Stockhieben überzogen und anschließend zu fünf Jahren Haft (!) ins Arbeitshaus eingeliefert, mit jeweils 15 Stockschlägen beim Ein- und Austritt (SLA Hofratsprotokolle Criminalia vom 10. August 1787, fol. 224). Vgl. Ammerer, Gerhard: „… als eine liederliche Vettel mit einem ströhenen Kranz zweymahl ofentlich herum geführet…“. Zur pönalisierten Sexualität in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anhand Salzburger Kriminalrechtsquellen, in: Daniela Erlach u. a. (Hg.), Privatisierung der Triebe? Sexualität in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main u. a. 1994, S. 111–150.

WilderInnen?

moderatere, nur schwer zu sanktionierende Protestformen zurück, die harmloser anmuteten, als sie wirklich waren. Die Bluntaumühle liegt in strategisch zentraler Position am Eingang des gleichnamigen Tals, direkt unter den Felsabstürzen des Kleinen Göll und heute nur einen Steinwurf von der Gollinger Autobahnraststätte entfernt.8 In der frühen Neuzeit war sie ein bedeutender Kontrollort.9 Der einzige Weg in das wildreiche Tal, „das etwa 2 Stunden lang, aber sehr schmal und von den wildesten Felsenabstürzen umschlossen ist“10 , führte direkt an der Mühle vorbei, und von ihr vernahm man jeden Schuss, der im Tal abgegeben wurde und von den Felswänden widerhallte. Das Bluntautal war damals erzbischöfliches Leibrevier, das heißt es war für die Hofjagden der Salzburger Fürsterzbischöfe reserviert und der besonderen Hege und Pflege durch die staatlichen Jäger anheimgestellt. Zugleich war es aber auch die Gemeinweide der anliegenden Torrener Bauern, die dort im Sommer ihr Vieh hineintrieben. Aus den unvermeidlichen Konflikten zwischen bäuerlicher Nutzung und aristokratischer Jagdexklusivität entwickelte sich im 18. Jahrhundert nicht nur ein hoher Jagdzaun, der beide Sphären trennen sollte, sondern auch eine beachtliche Wildererszene, deren Fäden in der Mühle zusammenliefen. Johann Prechler und seine Frau Anna Reinbacher hatten sie 1771 für stattliche 600 Gulden zu beiden Teilen erworben, das heißt sie gehörte ihnen jeweils zur Hälfte. Sie bildeten ein klassisches Arbeitspaar mit unterschiedlichen, aber auch erstaunlich gleichberechtigten Rollen, in denen die Frau dem Mann an Geschäftssinn und Selbstbewusstsein kaum nachstand.11 Anna Reinbacher war nicht nur formal gleichberechtigte Mitbesitzerin, sondern sie verstand sich auch ebenso gut wie ihr Mann auf das Mahlhandwerk12 und sprang ganz selbstverständlich für ihn ein, wenn ihr Gatte das Mehl auf dem Pferdefuhrwerk an die Kunden auslieferte. Sie besorgte ihren umfangreichen Haushalt, zu dem auch eine kleine Landwirtschaft mit Groß- und Kleintierhaltung gehörte, und sie zog ihre vier Kinder auf. Aber die Geschäfte entwickelten sich nur schleppend, weil sie im Gollinger Pfleggericht

8 Vgl. Hoffmann, Robert/Urbanek, Erich (Hg.): Golling. Geschichte einer Salzburger Marktgemeinde, Golling 1991. 9 Vgl. Schindler: Wilderer, S. 200–234; Ders.: The Mill at Bluntau. A Family of Poachers in the Late Eighteenth-Century Salzburg Countryside, in: German History 17 (1999), S. 57–89. 10 Graf Spaur, Friedrich: Reise durch Oberdeutschland. In Briefen an einen vertrauten Freund, Bd. 1, Salzburg/Leipzig 1800, S. 53f. 11 Vgl. Wunder, Heide: „Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert.“ Zur geschlechtsspezifischen Teilung und Bewertung von Arbeit in der Frühen Neuzeit, in: Karin Hausen (Hg.), Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen, Göttingen 1993, S. 19–39. Zum Selbstbewusstsein der Müllerinnen vgl. Dubler, Anne-Marie: Müller und Mühlen im alten Staat Luzern. Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des luzernischen Landmüllergewerbes (14.–18. Jahrhundert), Luzern 1978, S. 127. 12 Vgl. Schalk, Eva Maria: Die Mühlen im Land Salzburg, Salzburg 1986, S. 34–37.

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mit 34 weiteren, zum Teil wesentlich größeren Mühlen konkurrieren mussten.13 Die Hypotheken auf ihrem Besitz blieben trotz allen persönlichen Arbeitseinsatzes drückend (die Vertreter der lokalen Obrigkeit spotteten, ihr einziger Reichtum seien ihre vier Kinder) – und drängten auf weiteren Zuerwerb. Am 6. Mai 1773 gegen drei Uhr nachts hatte Johann Prechler von seinem Kammerfenster aus illegal einen Hirschen geschossen, der sich bis auf wenige Meter der Mühle genähert hatte. Obwohl er sich vor Gericht als bislang unbescholtener Zufallstäter, ja als ein geradezu vom Wilde Verführter präsentierte, wurde er mit der überaus harten Strafe von 40 Gulden belegt.14 Seine Frau, damals mit dem dritten Kind schwanger, hatte ihn mit der Aussage zu entlasten versucht, sie habe ihn durch ihre schwangerschaftsbedingten Fleischgelüste zu dieser Tat „angereizet“15 und ihm die von einer benachbarten Witwe erworbene Tatwaffe zugespielt. Das Gericht jedoch ignorierte ihre freimütige Selbstbezichtigung – Wilderei war nach seiner Überzeugung Männersache – und ließ sie mit einem „derben Verweis“ davonkommen. Acht Jahre später jedoch konnte es seiner traditionellen paternalistischen Nachsicht gegenüber einer vermeintlich machtfernen Weiblichkeit nicht mehr so sicher sein. Spielende Kinder fanden Anfang September 1781 unterhalb der Bluntaumühle einen toten Hirschen im Wasser des Torrenbachs, der sich offensichtlich beim Sprung über einen Zaun selbst aufgespießt hatte und verendet war.16 Über die Kinder erreichte die sensationelle Neuigkeit im Nu die ganze Gemeinde und auch die Jäger. Als diese jedoch das verendete Wild aus dem Bach bergen wollten, war der Hirsch verschwunden. Sofort gerieten die Müllersleute in Verdacht, und erste Nachforschungen erbrachten auch Spuren von Hirschhaar in einem Schubkarren der Mühle. Dem Gollinger Jägermeister war jedoch klar, dass dieses Indiz für eine strafrechtliche Verurteilung nicht ausreichte, und deshalb schickte er zwei Jägerknechte in die Mühle und das knapp unterhalb gelegene Korbmacherhäusl der vermutlichen Mittäterin Ursula Stockerin. Sie sollten sich dort unauffällig nach weiteren Anhaltspunkten umsehen. In der Mühle wurden sie nicht fündig, in der ärmlichen Kate der Stockerin jedoch entdeckten sie ein Stück Lunge in einem Kochtopf auf dem Herd. Daraufhin angesprochen, erschrak die 50jährige Korbmacherin so sehr, dass sie sofort ein Geständnis ablegte. „O mein Gott, ich und die Bluntaumillnerin haben einen Hirschen in dem Wasser gefunden und solchen herzu gebracht und

13 Vgl. SLA Hieronymuskataster Golling, fol. 1680–1727. 14 Vgl. SLA PG Golling, Jägermeisterei V 2,2 (1773). 15 Schon in den bäuerlichen Weistümern waren den unorthodoxen Essgelüsten schwangerer Frauen mannigfache privilegierende und strafmindernde Rücksichten entgegengebracht worden. Vgl. allgemein Labouvie, Eva: Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 77–85. 16 Vgl. SLA PG Golling, Jägermeisterei V 4,8 (1781).

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aufgearbeitet.“ Geholfen habe ihnen dabei, so fügte die Eingeschüchterte hinzu, „halt auch der Millner.“ Auf ihr Flehen, sie nicht zu verraten, gingen die Jäger zum Schein ein und stellten das Geweih und die im Dachboden zum Trocknen aufgehängte Hirschhaut als Beweismittel sicher. Ganz offenbar hatten die Müller im Verein mit der Korbmacherin die Beute auf ihrer Schubkarre beseitigt, bevor andere ihnen zuvorkommen konnten. Ursula Stockerin lief nach diesem Auftritt der Jäger sofort zu ihrer Nachbarin, um ihr den Vorfall zu berichten und sie um Rat zu bitten, wie sie sich nun verhalten solle. Die Müllerin, ungleich unerschrockener und routinierter im Umgang mit der Obrigkeit, erkannte sofort, dass es nun nur mehr um Schadensbegrenzung und Strafmilderung gehen konnte, und riet ihr, vor allem die Männer aus dem Spiel zu lassen, weil ihrem Ehemann als Wiederholungstäter sonst eine harte Strafe drohe. Sie solle den Übergriff als reines Frauendelikt, gleichsam als hauswirtschaftlich motivierte Verwertungsaktion unbedarfter Weiber darstellen, die mit Wilderei nichts zu tun habe. In ihrem Verhör am nächsten Morgen vor dem Pfleggericht folgte die Stockerin getreulich dieser vorgegebenen Generallinie. Sie verfocht nunmehr die Version, die beiden Frauen hätten den Hirschen ganz alleine beiseitegeschafft, und der Müller sei nicht dabei gewesen. Das Gericht hegte massive Zweifel, ob zwei Frauen ein so schweres Tier ganz ohne männliche Hilfe abtransportieren konnten.17 Auf den Widerspruch zu ihrer Aussage vom Vortag hingewiesen, konterte sie, der Jäger müsse sie falsch verstanden haben. Und dann rekurrierte sie auf ihre subsistenzwirtschaftliche Hausfrauenlogik: „Ich habe mir halt gedenket, ich will selben (Hirschen – Erg. d. Verf.) lieber zu mir nehmen als verderben lassen.“ Man darf halt nichts verkommen lassen. Danach ließ sie jenseits der passiven Selbstbeschreibung kurz ihre Begehrlichkeit in dem Zusatz aufblitzen, „der Hirsch hat mir gleichwohlen auch gefallen.“ Das Hirschfleisch, für Arme wie sie eine schlaraffische Nahrungsutopie, habe sie schon gekostet und auch genossen. Anna Reinbacher ging am nächsten Tag keinen leichten Gang vor Gericht, weil auf ihre Mittäterin trotz aller Vorabsprachen nur begrenzt Verlass war und sie nicht wusste, was diese ausgesagt hatte. Sie konzedierte, sehr wohl zu wissen, dass der Wildfund den Jägern hätte angezeigt werden müssen, aber sie vertiefte zugleich auch die in diesen Wilddiebererei-Dingen ganz unwissende, lediglich auf häusliche

17 In der Tat weisen ähnliche Fälle darauf hin, dass zum Abtransport eines ausgewachsenen Hirschen mindestens zwei bis drei Männer erforderlich waren. Als der Taugler Herbergsmann Michael Hofer kurz vor Weihnachten 1771 „in der Tieffenbach-Arz“ einen über 100 Kilogramm schweren Hirschen schoss (allein sein Fleischgewicht belief sich auf 70 Kilogramm), bat er zunächst seinen Schwager, den Brügglerbauern, ihm beim Abtransport zu helfen. Da sie zu zweit keine Chance hatten, das Tier wegzuschaffen, zog dieser seinen Knecht und schließlich auch noch einen benachbarten Kleinbauern hinzu. Zu viert transportierten sie den Hirschen nachts auf einem Schlitten ca. zehn Kilometer weit nach Hallein hinunter, um ihn dort an den Metzgermeister Ignaz Mundigler zu verkaufen (vgl. SLA PG Golling V 1,1/1772).

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Nutzung und Verwertung beschränkte Rolle der Frauenzimmer. Sie hätten den Hirschen ja nicht umgebracht, und sie habe nicht gedacht, „daß es so viel ausmachen sollte, einen auf solche Arth tod gebliebenen Hirschen hinwegzubringen.“ Sie spielte auch den Wert der Beute gezielt herunter, habe es sich doch lediglich um „ein todtes Aas“ gehandelt, „dessen Fleisch die Jäger-Hunde kaum mehr fressen.“ Die konservierende Kraft des Gebirgswassers – die Brücke über den Torrenbach war ein beliebtes ‚Kühlschrank‘-Versteck für Wildererbeute – verschwieg sie geflissentlich. Höchstens drei Pfund habe sie von dem Hirschen gegessen, dreimal habe sie davon gekocht, aber eher nur Suppe als Wildbraten, weil sie „meistens nur Bein“ verwendete. Sie spielte ihre Unschuldsrolle vortrefflich, und höchstens ihr Ehemann kam ihr an theatralischer Heuchelei vor Gericht noch gleich. Er mimte den nach seiner Jugendsünde von 1773 endgültig Geläuterten, der mit all diesem Weiberkram nicht das Geringste zu tun habe. Der WilderInnen-Prozess zog sich noch einige Zeit in die Länge, weil die resolute Müllerin zwei Petitionen um Strafminderung beziehungsweise -erlass einlegte. Sie wurde schließlich zu einer ermäßigten Geldstrafe von 13 12 Gulden verurteilt, während die vermögenslose Ursula Stockerin zwei Strafmonate im Salzburger Arbeitshaus, der frühneuzeitlichen Vorform des Frauengefängnisses, abbüßen musste.18 Es dauerte nochmals weitere acht Jahre, bis ein spektakulärer Prozess gegen den 18jährigen Jägerjungen Mathias Klettner diesem Komödienstadel ein Ende bereitete und die wahren Dimensionen der Bluntau-Wilderei enthüllte.19 Zwanzig illegale, zum Teil in Zusammenarbeit mit anderen Jungjägern verübte Abschüsse in den Jahren 1785–1789 gestand Klettner, und das war mit Sicherheit nicht alles. Die effizientesten Wildschützen waren noch allemal die miserabel besoldeten Jägerknechte, die ein Zubrot wahrlich gut gebrauchen konnten; aber Klettner trieb es so toll, dass selbst dem Bluntaumüller dabei mulmig wurde. Er arbeitete auf Bestellung, und zu seinen Kunden gehörten nicht nur der wohlhabende Gollinger Postwirt, bei dem der fürstbischöfliche Hofstaat anlässlich der herbstlichen Hofjagden abstieg, sondern auch der Gerichtsschreiber Max Käml, der nun protokollierend über ihn zu Gericht saß. Die Beute wurde an Dutzende mehr oder weniger honorige Abnehmer nicht nur im Pfleggericht, sondern über Hallein und Salzburg bis hinaus nach Niederbayern verschoben. Der mehrere Monate dauernde Klettner-Prozess enthüllte ein weitläufiges und offenbar gut funktionierendes Schieber- und Hehlernetzwerk, das zahlreiche Honoratioren kompromittierte und in dessen Mittelpunkt, wie nicht

18 Vgl. Weiß, Alfred Stefan/Beneder, Helmut: „Abstine et sustine!“ Das Salzburger Zucht- und Arbeitshaus 1755–1813, in: Gerhard Ammerer/Alfred Stefan Weiß (Hg.), Strafe, Disziplin und Besserung. Österreichische Zucht- und Arbeitshäuser von 1750 bis 1850, Frankfurt am Main u. a. 2006, S. 167–194. 19 Vgl. SLA PG Golling, Jägermeisterei VI 1,1 (1789).

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anders zu erwarten, die Müllersleute saßen – wie Spinnen im Netz. Ihre Arbeitsweise glich den Spinnweben, war also denkbar unspektakulär, wie schon der erste von Klettner zugegebene Hirschenabschuss in Alpwinkl an Jacobi (25. Juli) 1786 zeigt. Als der Jägerbursche auf seinem Rückweg mit blutverschmiertem Gesicht die Mühle passierte, fragte Prechler ihn scheinheilig, was er denn geschossen habe, und handelte ihm, das schlechte Gewissen des Täters und sein Insiderwissen nutzend, den Hirschen zu einem Dumpingpreis ab, um ihn dann mit entsprechendem Gewinnaufschlag weiterzuverkaufen. Die Müller nutzten ihre strategische Position am Taleingang und ihre Mitwisserschaft systematisch dazu, Klettner und anderen einheimischen Wildschützen ihre Beute gegen einen Niedrigpreis abzupressen – er war gleichsam der Preis dafür, dass sie stillschwiegen und sie nicht an die Obrigkeit verrieten. Wilderei zweiter Ordnung also, ein System sanfter und wohlkalkulierter Erpressung, das freilich eines gewissen Fingerspitzengefühls bedurfte. Man durfte dabei nicht rabiat verfahren und die Täter verprellen, sondern hatte ihnen die Daumenschrauben so sachte anzusetzen, dass diese sich mit dem ihnen aufgezwungenen Deal halbwegs gut davongekommen und einigermaßen zufrieden wähnten. Eine Frage der Psychologie also, in die die Bluntaumüller gleichsam praktisch, von Fall zu Fall hineinwuchsen. Routiniert in Geschäftsdingen, erlernten sie die erwerbsträchtige Rolle des kooperationsbereiten Hehlers rasch, ja sie muss ihnen wie ein wundersamer Ausweg aus ihrem wirtschaftlichen Dilemma erschienen sein. Auf längere Sicht war diese heikle Balance freilich nur schwer zu halten, und so kam es trotz aller Mauertaktik am Ende doch noch zu Klettners spektakulärem Geständnis als Serientäter, weil er sich vom Bluntaumüller benutzt und abgezockt fühlte. Nur ein einziges Mal tauchte dabei auch Anna Reinbacher auf. Im Herbst 1786 hatten Klettner und sein Kollege Florian Haas im Brenteck (Hagengebirge) eine „jährige Gamsgeiß“ gewildert und drunten „am Sallbächl“ versteckt. Als sie sie zwei Tage später abtransportieren wollten, war sie verschwunden. Die Müllerin war in der fraglichen Zeit mit einer großen Rückenkraxe in unmittelbarer Nähe des Verstecks gesehen worden.20 Aber natürlich reichte diese Beobachtung nicht aus, um gerichtliche Schritte gegen sie einzuleiten. Ganz ähnlich verliefen die Nachforschungen über illegale Wildtransporte ihrer ältesten Tochter Maria im Sande. Am 6. Mai 1789 wurde der zu zwei Jahren Festungshaft verurteilte Mathias Klettner in die Feste Hohensalzburg eingeliefert. Nur fünf Tage später geschah etwas Merkwürdiges: Der Müller, der monatelang trotz verschärften Arrests jede Mittäterschaft auf Teufelkommraus geleugnet hatte, erschien plötzlich als reuiger Sünder auf dem Pflegschloss, bedauerte die harte Bestrafung Klettners zutiefst und bezichtigte sich selbst zweier Wildbretveruntreuungen. Dem Pfleger Johann von Lospichl war dieser Schachzug seines Erzkontrahenten gar nicht geheuer, der

20 Schindler: Wilderer, S. 224.

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sich wohl nur mit dem Ehrenkodex der dörflichen Elite erklären lässt. Er nannte Prechler selbst einmal mit einem gewissen Respekt „einen unbescholtenen und ehrliebenden Mann.“ Der Bluntaumüller wollte nicht als Oberschieber und dunkler Erzprofiteur in einem großen Wilderei-Skandal dastehen, sondern seine Rolle darin durch seine Selbstanklage auf ein erträgliches Minimum reduzieren – und er nahm dafür weitere dreieinhalb Arrestwochen, eine hohe Geldstrafe von 42 12 Gulden und eine seine Hände fesselnde Bürgschaft von 50 Gulden in Kauf. In einer ebenso cleveren wie riskanten Form der Gerichtsnutzung21 zwang er dem Gericht seine verharmlosende Version der Dinge auf, die seine lokale Reputation wiederherstellte, und dem Gollinger Pfleger blieb nichts anderes übrig, als ihr zähneknirschend zu willfahren. Am liebsten hätte er das abgebrühte Müllerspaar von der Mühle geworfen. Die Realität wurde damit endgültig auf den Kopf gestellt, die umfangreiche Erpresser- und Hehlerpraxis der Bluntaumüller wurde gerichtsamtlich auf ein paar wenige bedauerliche Ausrutscher zurechtgestutzt und die Salzburger Regierungskreise hatten in dieser Zeit, als die Französische Revolution die Korruption des Ancien Régime anprangerte, natürlich auch kein Interesse, ihre internen Skandale an die große Glocke zu hängen. Die Gerissenheit der Bluntaumüller siegte, und sie war wohl kaum eine einsame maskuline Größe, sondern eher eine Paardisziplin. Die Müllersleute wechselten je nach Lage die Rollen, gaben nur das zu, was sich ohnehin nicht leugnen ließ, und ergänzten sich prächtig. Männliche Zielstrebigkeit und weibliche Raffinesse gingen unter materiell gleichberechtigten Bedingungen ein in eine notorische Hehlerpraxis und eine sich unschuldig gerierende Verteidigungstheatralik vor Gericht, gegen die sich die Waffen der Strafjustiz als reichlich stumpf erwiesen. Jagd und damit auch Wilderei waren ausgesprochen männliche Domänen, in denen Frauen üblicherweise keinen Platz hatten. Der ausgeprägte Jäger-Aberglaube ging sogar so weit zu unterstellen, dass Frauen auf der Wildbahn den Jagderfolg gefährdeten. So verfügte etwa die Salzburger Oberjägermeisterei am 19. Juli 1690 den Generalbefehl, dass „fürohin zu denen Gejaiden kheine Weibsbilder mehr abgeschickht werden“ durften. Wenn der Bauer selbst für die Hofjagden nicht abkömmlich sei, habe er „wenigist einen Knecht oder tauglichen Bueben zu schickhen.“22 Der Hintergrund war, dass zahlreiche Bauern die ihnen lästige Treiberpflicht dadurch zu umgehen suchten, dass sie ihre Ehefrauen zu den Hofjagden schickten. Frauen waren also aus dem offiziellen wie auch inoffiziellen Jagdgeschehen ausgegrenzt. Sie schlichen nicht mit der Waffe in den Wäldern herum, sie schossen kein Wildbret und sie lieferten sich keine gewalttätigen Auseinandersetzungen 21 Vgl. allgemein: Dinges, Martin: Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit, in: Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, Konstanz 2000, S. 503–544. 22 SLA GA XXXI 91, Nr. 71.

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mit den Jägern, wie sie bei den männlichen Wildschützen in den kriegsbewegten Zeiten des 18. Jahrhunderts an der Tagesordnung waren. Die Wildbahn war und blieb eine Spielwiese der Männlichkeit und ihrer heroischen Geschichten. Es ist bezeichnend, dass sich die Wilderer-Gesetzgebung und damit die strafrechtliche Verfolgung dieser Delikte auf die aktive männliche Wildereipraxis, sei es mit Gewehr, Fallen oder Schlingen, in den Wäldern beschränkte, während der gesamte Sektor der Verwertung der Beute vollständig ausgeblendet blieb. Doch welchen Sinn über die maskuline Selbstbespiegelung hinaus hätten all die ‚Heldentaten‘ gemacht, wenn ihre Resultate nicht von den Frauen mit größter Selbstverständlichkeit verwertet und verkocht worden wären? Es finden sich zwar einige Spuren resoluter Mütter (ich entsinne mich eines derartigen Falls in der Halleiner Saline), die ihren heranwachsenden Söhnen ordentlich den Kopf wuschen, wenn sie mit einem gewilderten Reh auf den Schultern nachhause kamen.23 Doch das war wohl eher die Ausnahme von der Regel, und selbst die Gardinenpredigt hinderte sie nicht daran, anschließend den Küchenherd anzuwerfen. Das unverhoffte Festmahl war einfach zu verlockend. Auch die von der bürgerlich-romantischen Folklore zu einem eigenen verzückten Liebes-Genre hochstilisierten heimlichen Übereinkünfte von Sennerinnen und Wilderern (‚Auf der Alm gibt’s koa Sünd‘) finden sich in den Gerichtsquellen kaum. Die Almhüterinnen kannten das damit verbundene Risiko und wussten, dass man den männlichen Liebesschwüren besser ein gehöriges Stück misstraute, wenn man nicht in unvorhersehbare Kalamitäten hineingezogen werden wollte. Sie warnten die ihnen befreundeten Wildschützen zwar mitunter davor, es nicht zu toll zu treiben,24 vor allem aber pragmatisch vor den Nachstellungen der Jäger. Man muss freilich, um die Aussagekargheit der Frauen vor Gericht zu erklären, auch die bäuerliche Schweigemauer gebührend in Rechnung stellen.25 Weil die Rechtsvorstellungen der Volkskultur und der Justiz weit auseinandergingen, redete man über Wildereidelikte nicht in der Öffentlichkeit, sondern allenfalls unter sich und hinter vorgehaltener Hand. „Es seye bösser zu vill geschwiegen, als zuvill

23 Interessanterweise hatte schon der jagdbesessene Kaiser Maximilian den Tiroler Bäuerinnen dafür seine Aufwartung mit Geschenken gemacht, dass sie ihren Ehemännern ins Gewissen redeten, ihm nicht illegal das Wild wegzuschießen (vgl. Klaar, Karl: Wildschützen aus Tirol und Vorarlberg 1507–1533, in: Forschungen und Mitteilungen zur Geschichte Tirols und Vorarlbergs 14 (1917), S. 153–161). 24 Vgl. etwa die Warnung der Roßfeld-Sennerin, die ihren Geliebten, den 37jährigen Bauernknecht Michael Rettenbacher vom Schifferergut am Oberlangenberg, mit einem berüchtigten Wildschützen über die Almböden ziehen sah und ihm ins Gewissen redete, „daß er mit diesem Mändl nicht umziehen solle“ (Verhör Michael Rettenbacher vom 31. August 1776 – SLA PG Golling, Jägermeisterei V 3,7). 25 Vgl. Schindler, Norbert: Falsche Wildereibezichtigungen - und warum sie so selten waren, in: Gerhard Ammerer u. a. (Hg.), Tradition und Wandel. Beiträge zur Kirchen-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte. Festschrift für Heinz Dopsch, Wien/München 2001, S. 243–264.

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geredet“, so beschrieb der Hintersulzenbacher Müllerssohn Andre Zillner diese Geheimhaltungs-Maxime.26 Jemanden aus den eigenen Reihen zu denunzieren, und vielleicht sogar noch vor Gericht, war ein absolutes Tabu. Diese Schweigepflicht war der Grundpfeiler bäuerlicher Resistenz, und sie öffnete andererseits dem ungeschützten Gerücht Tür und Tor. Die Wilderei entwickelte sich selbst zum Mythos, weil sie vom großen Schweigen der Beteiligten begleitet war, das zugleich die entscheidende Waffe gegen die feudalen Jagdanmaßungen darstellte. Die assistierende und flankierende Rolle der Landfrauen im Wildereigeschehen reichte dennoch weit über den Kochtopf hinaus. Das fing damit an, dass man den landläufigen Hass auf die Jäger teilte und ihnen mit entsprechenden Schimpfworten begegnete.27 Es setzte sich in Trägerdiensten fort, die sich mit den Jahren immer weiterentwickelten. Vergessen wir nicht: Schon Anna Reinbacher hatte die Flinte, mit der ihr Mann 1773 seinen ersten Hirschen schoss, von einer benachbarten Witwe zum Spottpreis von einem Gulden erworben und sie ihm unter dem Rock zugetragen. Sie begegnete dabei prompt einem Jäger, der sie erstaunt fragte, weshalb sie so spät am Abend noch unterwegs sei. Einer Leibesvisitation konnte er sie freilich trotz seines Verdachts nicht unterziehen, weil das den Jägern bei weiblichen Personen strikt untersagt war. Und so erreichte die versteckte Waffe unangefochten ihr Ziel. Als dann in den napoleonischen Kriegen der 1790er Jahre die Tage des Erzstifts gezählt waren und die staatlichen Jäger die Kontrolle über die Wildbahn verloren,28 trugen die Frauen ihren Männern nicht mehr nur die Gewehre in ihren weiten Gewändern zu, sondern fungierten auch zunehmend als Beuteträgerinnen, gegen die die Jäger weitgehend machtlos waren. Ende September 1797 wurde im Stilluptal, einem Seitental des Zillertals, die Bauernmagd Maria Pichlerin, die eine gewilderte Gämse unter ihrem Gewand ins Tal schaffen wollte, von vier vermummten Wildschützen überfallen und unter Androhung des Erschießens ihrer Beute beraubt.29 Und ebenfalls im Zillertal versuchte der Zeller Bauernsohn Martin Geisler am 14. November 1799 eine dieser Trägerinnen zu entlarven, indem er ihr die ‚geschmuggelte‘ Gämse aus ihrer Bekleidung riss.30 Die konservative geistliche Obrigkeit sah darin eine auf offener Straße verübte „Freveltat“, einen sexuellen 26 Verhör Andre Zillner vom 31. März 1762 (SLA PG Golling, Jägermeisterei IV 6,2). 27 Etwa Paula Pircher von „Böhamb“ im Pinzgau 1773 (SLA PG Mittersill, D 75/22/13). 28 Der Kleinarler Jäger Michael Kaml beispielsweise meldete 1797 allwöchentlich zunehmende Wilderer-Aktivitäten an die Oberjägermeisterei, unter anderem habe er an einem einzigen Tag, dem 12. August 1797, 43 Wildschützen und fünf illegale Abschüsse gezählt. Die Hofkammer lehnte sein Ansuchen um Verstärkung durch einen zweiten Jägerjungen mit der Begründung ab, wenn tagtäglich Gesellschaften von 15 und mehr Wilderern in seinem Revier umgingen, würde „ein Jung mehr oder weniger keinen Unterschied machen“, sondern dann könne man nur auf bessere Zeiten hoffen (SLA Hofkammerprotokolle vom 6. Dezember 1797, fol. 3628v–3630). 29 Vgl. SLA Hofratsprotokolle Criminalia vom 1. Oktober 1797, fol. 285/2. 30 Vgl. SLA Hofratsprotokolle Criminalia vom 20. November 1799, fol. 465v.

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Übergriff – und bekundete damit lediglich, dass sie die Zeichen der Zeit nicht verstanden hatte. Im Zuge der wachsenden Anarchie in den Wäldern hielten sich nicht nur die einquartierten Soldaten am Wildbestand schadlos, sondern es hatten sich vor allem im Gebirge auch zahlreiche einheimische Wildererbanden gebildet, die ihre reichliche Beute von jungen Frauen abtransportieren ließen, weil das der mit Abstand sicherste und unverdächtigste Beförderungsmodus war. Diese Gangs, die 30 bis 50 Mitglieder umfassen konnten, rivalisierten in ihrem eingefleischten Revierdenken natürlich auch untereinander, und eines der probaten Mittel in den wirtschaftlichen Privatkriegen, die sie sich lieferten, bestand eben darin, die gegnerische Bande an ihrer schwächsten Stelle anzugreifen und ihre Wildträgerinnen abzufangen und zu enttarnen. Noch am selben Abend nach Geislers Verhaftung marschierten sechs seiner Kumpane bewaffnet vor dem Amtshaus in Zell am Ziller auf und erzwangen seine Freilassung, weil er lediglich das angestammte Revier der Ramsauer Burschen verteidigt habe.31 Die drakonischen Strafen, die der Salzburger Hofrat über die Rottierer verhängte (drei Rädelsführer wurden mit einer Schandtafel an den Pranger gestellt und zu drei Jahren Festungshaft in Eisen verurteilt, ihre Mittäter erhielten 15 Karbatschstreiche und ein halbes Jahr öffentliche Zwangsarbeit),32 schürten das böse Blut freilich nur noch mehr und beschleunigten den Abfall der Gebirgsprovinzen von einem aus der Zeit gefallenen geistlichen Staat, der im Zeitalter der Französischen Revolution nach wie vor auf menschenverachtende und entehrende mittelalterliche Bestrafungsmethoden setzte. Die Wildbahn war stets auch eine Renommierpiste, und die forcierten Auseinandersetzungen der ledigen jungen Männer auf ihr verfolgten nicht zuletzt auch den Zweck, dem weiblichen Teil des Publikums zu imponieren – freilich mit höchst ambivalenten Ergebnissen. Frauen spielten in der populären Gerüchteküche, die sich um besonders schaurige Wildereikonflikte rankte, eine maßgebliche Rolle. Sie teilten zwar die männlichen Aggressivitäten auf der Wildbahn nicht, aber es blieb ihnen auch nicht viel anderes übrig, als sie zu decken. In den Wildererdramen des späten 18. Jahrhunderts entwickelten sie eine eigene rituelle Angstkultur, die beständig zwischen der Solidarisierung mit ihren Männern, Nervenkitzel und der Furcht schwankte, wohin all diese Konflikte am Ende führen würden. Bei den im Dunklen gebliebenen Jägermorden, die sich nun häuften (circa 40 staatliche Jäger, aber mindestens ebenso viele Wildschützen kamen bei diesen Auseinandersetzungen ums Leben), schworen sie Stein und Bein, den vermeintlichen Täter bei der Begräbniszeremonie auf dem Friedhof gesehen zu haben und verfestigten damit den grusligen katholischen Alltagsmythos, dass der Täter immer noch einmal

31 Vgl. SLA Hofratsprotokolle Criminalia vom 10. Januar 1800, fol. 8v–10v. 32 Vgl. SLA Hofratsprotokolle Criminalia vom 1. Februar 1800, fol. 54v–57 und vom 11. Februar 1800, fol. 80v–81.

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zwanghaft zu seinem Opfer zurückkehre, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. So hallte etwa die brutale Ermordung der Kuchler Jäger Johann Hüttegger und Anton Thaller am 13. Juni 1793 in der hinteren Schwalb unterhalb des Roßfelds wegen ihrer gewalttätigen Begleitumstände (den beiden Jägern wurde mit Gewehrkolben der Schädel eingeschlagen, ihre Leichen wurden ausgeplündert) noch jahrelang im Salzburger Land nach und beschäftigte die Phantasie der Landbevölkerung, weil sie nie aufgeklärt werden konnte.33 Brennende Fackeln wollte man nach der Tat droben im Gebirge gesehen haben. Vermutlich stießen die Jäger auf ihrem Reviergang unverhofft mit vier Berchtesgadener Wildschützen zusammen, die über die Grenze des Hochstifts gesetzt waren; und da es für solche unerwarteten Konfrontationen im Dickicht der Wildbahn34 kein Schlichtungsritual gab, wurden sie in eine wüste Prügelei verwickelt, bei der sie ihr Leben verloren. Bei den anschließenden Fahndungsmaßnahmen kamen erneut die Beobachtungen der Sennerinnen im Grenzgebiet ins Spiel. Die Sennerin von Alpwinkl im Bluntautal erzählte den Jägern noch ein Jahr nach der Freveltat aufgeregt, sie sei kurz nach Ostern zusammen mit der Hofersennerin in Maria Kirchenthal (bei Lofer) wallfahrten gewesen und als sie auf dem Rückweg durch das Berchtesgadener Land im Wirtshaus in der Ramsau einkehrten, habe dort ein Spielmann den gesamten Hergang des Doppelmords „herzusagen gewust“, auch ganz genau, wieviel Geld, Uhren und Gewehre sie den Opfern geraubt hätten und „daß dem Knecht Anton die Uhr am Leib zusammengeschlagen worden ist.“ Aufgrund seiner präzisen Schilderungen hielt sie den Musikanten für den Täter. Der jedoch besaß für die Tatzeit ein wasserdichtes Alibi.35 Vor allem aber scheint der wohl etwas unbedarften Almhüterin nicht klar gewesen zu sein, dass Spielleute mit der literarischen Wiedergabe solcher schaurigen Moritaten ihren Lebensunterhalt verdienten. Handelte es sich dabei noch um einen naiven Irrtum, der freilich die in der Landbevölkerung grassierenden Ängste spiegelte, so gab es doch mitunter auch böswillige falsche Wildereibezichtigungen, die der Rache für erlittene interne Zurücksetzungen dienten.36 Am 7. Dezember 1791 beschuldigte Franziska Stadlerin,

33 Vgl. SLA Hofkammer-Jägermeisterei 1794/4/A. Zu den näheren Umständen dieses Jägermords, den der Gollinger Pfleger im Juni 1793 „mit zitternder Hand“ seinen Hofkammer-Vorgesetzten meldete: SLA Hofkammer-Jägermeisterei 1794/3/C. – Noch sieben Jahre später kursierte das vom 84jährigen Pinzgauer Oberjäger Mathias Rohregger angefachte irrationale und deutlich die inzwischen eskalierten Kriegsverhältnisse im Land spiegelnde Gerücht, ein unbekannter Tiroler Scharfschütze habe die Kuchler Jäger erschossen (vgl. SLA PG Werfen, 105. Fach, Bund 18, Nr. 290). 34 Die Wälder sahen damals noch ganz anders aus als in der – uns vertrauten – späteren forstwirtschaftlich-industriellen Waldnutzungsperiode. Vor allem zeichneten sie sich durch ein dichtes Unterholz, ein nahezu undurchdringliches Buschwerk aus, in das Wege und Wildwechsel nur schmale Breschen schlugen. 35 SLA Hofkammerprotokolle vom 12. August 1794, fol. 2681v–2682v. 36 Vgl. Schindler: Falsche Wildereibezichtigungen, S. 243–264.

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Ehefrau eines Soldaten der Salzburger Schlosswache, den Holzlieferanten Mathias Graspeuntner, ihr aus seiner Holzzille heraus, dem üblichen Salzach-Lastkahn, einen gewilderten Rehbock mit dem Auftrag übergeben zu haben, ihn dem wohlhabendem Spezereihändler Joseph Stephan Hasslberger in sein Haus am Rathausplatz zu tragen.37 Die illegalen Wildbretlieferungen auf dem Wasserweg der Salzach und die Zuträgerdienste der Frauen waren also auch ihr wohlvertraut und sie wusste genau, dass Wildereibezichtigungen, wie abenteuerlich sie auch sein mochten, bei der Obrigkeit stets auf ein offenes Ohr stießen. Da ihre Anzeige erst mit 14 Monaten Verspätung erfolgte, alle Betroffenen und neutralen Zeugen die Beschuldigung weit von sich wiesen und ihr Leumund nicht gerade der beste war, wies das Gericht ihre Aussage zurück und erkannte auf Freispruch. Sie hatte den kriminalistischen Eifer der Regierungsbehörden unterschätzt. Der Hintergrund ihrer Intrige war offenbar der, dass sie dem Holztransporteur noch drei Klafter Brennholz schuldig war, und ihn, als dieser sie zur Zahlung mahnte, mit dem schweren Geschütz der Wildereibezichtigung mundtot machen wollte. Die notorische Abhängigkeit der plebejischen städtischen Unterschicht von den Bessergestellten erzeugte den Hass und produzierte ihre eigenen Ränkespiele.38 Andere weibliche Interventionsformen in die Wildererpraxis waren zwar noch indirekter und minder instrumentell, aber deshalb nicht weniger effizient. Witwen, die ihre Ehemänner verloren hatten, suchten üblicherweise deren Flinten zu verscherbeln und trugen auf diese Art und Weise zur Zirkulation preisgünstiger Jagdwaffen im bäuerlichen Milieu entscheidend bei.39 Gegenüber der Obrigkeit konnten sie, ohne dass man ihnen überzeugend widersprechen konnte, stets das treuherzige Argument geltend machen, dass sie die Waffe halt einfach aus dem Haus haben wollten. Der Hausfrauenlogik war nur schwer beizukommen, sie markierte 37 Vgl. SLA Hofkammerprotokolle vom 17. Januar 1792, fol. 334–337v; Schindler: Falsche Wildereibezichtigungen, S. 256–258. Zu Hasslberger vgl. Barth-Scalmani, Gunda: Die Lebenswelt des altständischen Bürgertums am Beispiel des Handelsstandes in Salzburg, in: Robert Hoffmann (Hg.), Bürger zwischen Tradition und Modernität, Köln/Weimar/Wien 1997, S. 29–51, bes. S. 51 mit Anm. 85. 38 Ein ähnlicher und vor Gericht ebenso erfolgloser Revancheakt war die Wildereibeschuldigung der Ehefrau des Hallwanger Revierjägers Joseph Esterle vom 31. Oktober 1798 gegen die beiden ledigen Bauernsöhne Alex und Niklas Kaserer von Niederkasern (PG Neuhaus), die sie angeblich, mit Flinten bewaffnet, im Plainholz (nahe der Wallfahrtskirche Maria Plain) beim Wildern beobachtet haben wollte. Da beide ein hieb- und stichfestes Alibi für die Tatzeit erbringen konnten und die Familien seit langem in „sehr großer Feindschaft“ miteinander lebten, erkannte das Gericht auf eine plumpe Intrige der Jägersfrau und stellte die Ermittlungen ein (zit. n. Schindler: Falsche Wildereibezichtigungen, S. 255f.). 39 Zum bäuerlichen Schwarzmarkt der Waffen vgl. Schindler, Norbert: Ländliche Schacherwirtschaft am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Wolfgang Reinhard/Justin Stagl (Hg.), Menschen und Märkte. Studien zur historischen Wirtschaftsanthropologie, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 291–318, bes. S. 301.

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gleichsam einen eigenen Bereich, und vielleicht hat die Wildereigesetzgebung auch deshalb von vornherein darauf verzichtet, sich mit ihr anzulegen. Man hatte mit den männlichen Wilderern schon mehr als genug zu schaffen, und da wäre es zweifellos unklug gewesen, auch noch die Armada der Bauersfrauen gegen sich aufzubringen. Für die Gastwirte40 und Köchinnen der bessergestellten Beamtenund Geistlichenhaushalte, die stets unter dem Zwang standen, etwas Besonderes auf den Tisch bringen zu müssen, bot es sich geradezu an, den auf ihrem Speiseplan aufgebotenen Fleischluxus auch aus dunklen Quellen zu schöpfen.41 Selbst die – der bäuerlichen Widersetzlichkeit wohl kaum verdächtige – Gollinger Pflegsköchin Anna Kässtin dachte, wenn sie ihrem adligen Herrn den sonntäglichen Hasenbraten kredenzte, daran, dass der abgezogene Balg qua Gewohnheitsrecht ihr gehöre, und verschaffte sich, ganz im Fahrwasser ihrer Vorgängerinnen, durch den Verkauf an umliegende Kürschnermeister eine kleine Gehaltsaufbesserung.42 Das stand so zwar nirgendwo geschrieben, aber es bewegte sich ganz im Rahmen einer hauswirtschaftlichen Verwertungslogik, nach der nichts ungenutzt gelassen werden durfte und die Resteverwertung mit einer gewissen Selbstverständlichkeit jenen zufiel, die ihre Arbeit getan hatten. Damit befand man sich in schroffem Gegensatz zur herrschenden Rechtsauffassung, der zu Folge nicht einmal ein abgeworfenes Geweihteil, ein toter Vogel oder ein abgefallenes Wildohr dem gemeinen Volk vergönnt sein sollte; es sollte vom aristokratischen Jagdprivileg vollständig und bis in die lächerlichsten Details hinein ausgeschlossen sein. Eine herrschaftsständische Rechtsanmaßung, die so nicht durchzusetzen war, weil die sozialen Verhältnisse weit komplexer und verzahnter waren und deren sozialverträgliche Regulierung nicht zuletzt von den Frauen, die in den eskalierenden Wilderei-Konflikten eine eher zurückhaltende und unmilitante Rolle spielten, beständig angemahnt wurde. Sie trugen durch ihren mäßigenden Einfluss auf den jugendlichen Kampfesübermut auf der Wildbahn, gepaart mit der hohen Selbstverständlichkeit, mit der sie zugleich zu den Taten ihrer Männer standen – und schwiegen, sowohl zur Entschärfung der Konflikte als auch zur Legitimation ihrer Beweggründe und damit zur Entstehung einer hartnäckigen bäuerlichen Widerstandspraxis bei. Obwohl wir als Historiker

40 Vgl. etwa die umfangreichen Aktivitäten des Kuchler Wirts Philipp Oberbichler, eines Werfener Wirtssohns, der in das bei der Kirche gelegene Seethaler-Wirtshaus eingeheiratet hatte. Er war 1755 schon in Werfen wegen Wilderei verurteilt worden und stand auch in Golling dreimal wegen eigenmächtiger Abschüsse und Wildschiebereien vor Gericht (vgl. SLA PG Golling, Jägermeisterei IV 3,15/1752, IV 5,17 /1760 und IV 9,1 /1771). Gastwirtschaften durften für ihre Festtagsbraten aus den Überschüssen des bischöflichen Hofzehrgadens Wildfleisch ankaufen, was freilich für die Strafjustiz die missliche Folge zeitigte, dass die Grenzen zwischen legal erworbenen und gewilderten Produkten verschwammen. 41 Vgl. Schindler: Wilderer, S. 35. 42 Vgl. SLA PG Golling, Jägermeisterei V 7,4 (1788).

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nur wenige verwischte und geschlechterideologisch verzerrte Spuren davon haben, können wir eines doch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen: Die Eigendynamiken der weiblichen Kultursphäre wirkten unter paternalistischen Herrschaftsbedingungen gerade auch deshalb massiv in die scheinbar exklusiven Männerbereiche zurück, weil sie, gleichsam wie eine Black Box, ein sich hinter deren Konflikten drohend auftürmendes Gebirge, für die eskalationsfreudige maskuline Konfliktlogik nur schwer zu berechnen waren. Ohne die der blanken Gewalt abgeneigte Rolle der Frauen und ihr pragmatisches Selbstverständnis lässt sich die Veralltäglichung der Wildererei und vor allem ihr springender Punkt, dass sie in der Landbevölkerung nicht als Kriminaldelikt, sondern eher als ausgleichende Gerechtigkeit, als social crime, als sportiver, wettkampfförmig vorgetragener Ausgleichsmechanismus allzu krasser Ungleichheiten und Herrschaftsattitüden angesehen wurde,43 wohl nicht angemessen begreifen.

43 Dazu gleichsam als ‚Urtext‘ einer kulturanthropologisch inspirierten Protestforschung der Wilderei: Thompson, Edward P.: Whigs and Hunters. The Origin of the Black Act, Harmondsworth 1977.

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The Mystery of the Cow’s Leg The Animalisation of Illicit Liaisons Usually the witch legend about the Flight to the Wine Cellar in Cologne goes like this: a boy is warned that his girlfriend might be a witch and decides to follow her to the gathering of witches; but he mispronounces the charm he has overheard and says ‘through hedges’ instead of ‘over hedges’. The result of his mistake is that he arrives at the meeting in a complete state of disarray, all bloody, and full of wounds.1 This story had been recorded in over a hundred legend texts, collected all over Flanders (that is: the Dutch-speaking parts of Belgium) and the Netherlands. In a considerable number of versions, the story of the witches’ flight is embedded in the advice that it is unwise to marry a witch. In a tiny minority of the texts, as for instance in one collected by Fernand Beckers in Sint Huibrechts (a village west of Maastricht), a curious element is added: the mother of the girl the young man had been following changes his legs into cow’s legs, to punish him for his curiosity. The black friars or Dominicans took him home but could not help him with his legs.2 This reference to cow’s legs is not a one-off invention by the narrator. Another legend, this time from Dutch-Limburg at the other side of the river Meuse, makes this clear. It was published in 1925, and here the lover returned with a horse’s leg.3 In my contribution here I will suggest that the meaning of these legends, and subsequently of the legs, can be found by their reference to local variants of rough music. This ritual shamed men for breaking communal norms of marriage and named them after farm animals. The legend describes an earlier stage: the boy is still considering whether to marry his girlfriend; he is warned that she might be a witch, which is confirmed when he joins her on her flight. He breaks off the engagement. Nevertheless, probably because he could not contain his curiosity, he joined her to the gathering, and was rewarded with a body part of the animal. Yet the symbolism is the same.

1 De Blécourt, Willem: The Flying Charm: To Cologne in the Wine Cellar. On the History of a Scholarly Legend, in: Incantatio 8 (2020), p. 9–28; Id.: Het verhaal van de verkeerde vriendin. Heksensagen herzien, in: Volkskunde 118 (2017), p. 319–341. 2 Beckers, Fernand: Sagen uit Zuid-Limburg (licentiaatsverhandeling University Leuven, 1947), p. 137–138, Sint Huibrechts, told by an 81-years-old man. 3 Het zieke been, in: Pierre Kemp (Ed.), Limburgs Sagenboek, Maastricht 1968, p. 192–194. The story was retold without the detail of the horse’s leg by an informant of Jos Venken, Sagenonderzoek in tien gemeenten in de Maasvallei (licenciaatsverhandeling Leuven 1968), p. 281.

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I will support my suggestion by investigating the language of rough music, especially the naming of farm animals to indicate the ‘victim’ of the ritual. Writing about a ‘victim’ is taking the outside perspective of, for instance, the judiciary who wanted to curtail the custom of rough music because of the damage it inflicted on people and goods. From the view of the young participants, the ‘victim’ was the perpetrator. In as far as the youths had a genuine reason to deal out their punishment through rough music, it might be better to label the ‘victims’ as ‘deviants’. But what was a good reason? And even if there was one, was the punishment meted out justified? It is one thing to symbolically change someone into an animal, another to drag him through mud and water and beat him almost to death. In that sense, the witches’ flight ‘through’ the hedges resembled a charivari, too. But while legends can be read as satirising the young man who naively attempts to copy the girl without properly repeating the charm, the ritual dragging was all too real. Thus, the question is: can historically removed researchers distance themselves sufficiently, refrain from passing judgement and just be observers? Of course, there remain choices about what to highlight and what to ignore.4

Symbolic Language Rough music (Katzenmusik in German), or charivari, was the term for passing judgement on and meting out punishment by groups of young men to those who were deemed to have broken communal marital norms. In the broad formulation of Edward P. Thompson, it denoted a “rude cacophony, with or without more elaborated ritual, which usually directed mockery or hostility against individuals who offended against certain community norms”.5 The norms I will focus on here are all related to deviant behaviour amongst married couples, that is to say, to sexuality, and enforced by groups of yet unmarried men. Thompson distiguished between “specific offences against a patriarchal notion of marital roles”; the “re-marriage of widows or widowers”; a number of sexual offences mostly consisting of adultery;

4 I have, for instance, hardly paid any attention to cow’s- and horse’s legs as ways to discover the devil. This was primarily worded in the story ‘The Cardplayers and the Devil’ and in that way had become a set formula, see: Christiansen, Reidar Thoralf: The migratory legends. A proposed list of types with a systematic catalogue of Norwegian variants, Helsinki 1958, ML 3015, which is also current beyond Norway; I see no connection with any rough music here. 5 Thompson, Edward P.: Rough Music, in: Id.: Customs in Common. Studies in Traditional Popular Culture, New York 1991, p. 467–538. Originally published as: Rough Music: le charivari anglais, in: Annales 27/2 (1972), p. 285–312. See also: Id.: Rough Music Reconsidered, in: Folklore 103 (1992), p. 3–26.

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and wife-beating or other ill-treatments of the wife by her husband.6 These offences were equally current in the Low Countries. Natalie Zemon Davis wrote about an important earlier stage of customs found in Brabant and Limburg.7 In Limburg and in the eastern villages of adjacent North Brabant, charivaris had sometimes deteriorated into a form of blackmail for free beer, insofar as the deviants could avoid punishment by delivering a few barrels of beer.8 The notion of charivaris or instances of rough music were broad enough to include political disagreements and did not always use animals as metaphorical references. Here, however, I am primarily interested in those that shared the imagery with the legend of the cow’s legs. In the southern parts of the Catholic Netherlands and adjacent Flanders stretching east into Germany, references to animals made up the symbolic langague of rough music. From the general expression de beest jagen, chasing the beast (Tierjagen), to more specific ones as de ezel jagen or drijven, chasing or beating the donkey, or de beer jagen, chasing the boar, de os drijven, beating the ox, or de bef jagen, chasing cattle, especially farm animals were employed in this way. The bef was the Flemish corruption of the French boeuf. For various reasons, cows and horses were not named separately, and were subsumed under the category of cattle. The cows were not named separately because they belonged to the female domain (I think), but horses were included in another general expression, voor de ploeg spannen, to harness the animal, or in this case the symbolical animal, in front of the plough. Treating humans as animals signified not only punishment, but also contained an element of mockery. Elsewhere, further east into Germany and further back in time, something that was also known in the United States, tar and feathers were used which rendered an adulterer into a bird and more specifically a cuckoo.9 Popular forms of justice policed sexuality by applying strict norms of gender. Perceived faults in the relation between male and female bodies were readjusted, whether it concerned a large age gap between spouses, disharmonious marriages, or extramarital liaisons. These particular forms of rough music incorporated historical manifestions of what I have called ‘animal gender’, a “transnational language, at

6 Thompson: Rough Music, p. 493. 7 Davis, Natalie Zemon: The Reasons of Misrule. Youth Groups and Charivaris in Sixteenth-Century France, in: Id.: Society and Culture in Early Modern France. Eight Essays, Cambridge 1995 [Original Stanford 1975], p. 97–123. First published in: Past & Present 50 (1971), p. 41–75. 8 Rooijakkers Gerard: Rituele repertoires. Volkscultuur in oostelijk Noord-Brabant 1559–1853, Nijmegen 1994, p. 342–348. 9 Cf. Spring, Ian: The Devil and Feathery Wife, in: Folklore 99 (1988), p. 139–145 on a late medieval rough music tale.

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least within Western Europe, of animal gendering of humans”.10 By symbolically changing him into an animal, the man was (temporarily) placed outside society. In his essay about charivari, the Dutch historical anthropologist Anton Blok pointed at this animalisation, and the wider frames of the custom. Drawing on his expertise of henchmen, who operated as “specialists in impurity”,11 he claimed that the performers of rough music occupied an “unusual, liminal, ambiguous place”. As he formulated it: “In the battle against disorder (Dutch: wanorde) with disorderly means, the performers themselves represented an element of disorderliness”.12 Whether this interpretation was insightful or over-analysed, Blok considered his remarks to be work-in-progress. Together with animalisation, violence, noise (cacophony), and public procession of ‘victims’ or representing them as effigies, these acts constituted a symbolic language forming what is now named ketelmuziek, rough music or charivari. During a brief period at the end of the twentieth century this custom enjoyed the attention of Dutch-speaking social historians and folklorists.13 Here, I will elaborate the theme of animalisation and focus on the areas of Brabant and Limburg, both in today’s Netherlands and Belgium. Although it only occurred in some of the charivaris, animalisation is nevertheless indicative for the custom in its entirity. The general expression de beest jagen, or de kwà (evil) beest jagen was customary in the eastern part of the Belgian province of East Flanders and the western part of the province of Brabant.14 In neighbouring areas to the east and the north people used slightly more specific terms. In different areas, a variety of denotations circulated; why particular names were used cannot always be ascertained with complete satisfaction. It had to do with how people were bound

10 De Blécourt,Willem: The Animal Gender: Shape-Shifting and Deviant Sexuality in Early Modern Europe, in: Genesis. Rivista della Società Italiana delle Storiche 19 (2020), p. 45–65, cit. p. 51–52. 11 Blok, Anton: Over de infamie van de scherprechter, in: Volkskundig Bulletin 9 (1983), p. 181–186. 12 Blok, Anton: Charivari’s as purificatie-ritueel, in: Gerard Rooijakkers/Tiny Romme (Ed.), Charivari in de Nederlanden. Rituele sancties op deviant gedrag, Amsterdam 1989, p. 266–280, cit. p. 273 (translation of the author). 13 As is, among other publications, evident from the work of Marc Jacobs. See his: Charivari. Aanzet tot interdisciplinaire studie van volksgerichten in Vlaanderen, in: Oostvlaamse Zanten 61 (1986), p. 85–104; Charivari en volksgerichten. Sleutelfenomenen voor sociale geschiedenis, in: Tijdschrift voor sociale geschiedenis12 (1986), p. 365–392; (with Xavier Lesage), Charivari te Oostnieuwkerke (1868) van conflictregulering tot conflict, in: Volkskunde 88 (1987), p. 161–183; De bef jagen en schavakken vangen in Vlaanderen (1830–1914). Grappen, overgangsrituelen en liminale dispositieinteriorisering, in: Volkskunde 89 (1988), p. 83–115; Charivari in Europa: een historisch en comparatief perspectief, in: Volkskundig Bulletin 15 (1989), p. 281–296; Een schakel tussen repertoires? Politieke charivari’s in Belgische steden (1830–1839), in: Volkskundig Bulletin 20 (1994), p. 1–18. These articles are based on his unpublished master thesis, Charivari. Een aanzet tot interdisciplinaire studie van volksgerichten in Vlaanderen. Universiteit van Gent, 1985. 14 De Cock: Alfons: Ketelmuziek, in: Volkskunde 12 (1899), p. 1–21, esp. p. 4–5.

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together, for instance through administration or religion. References to farm animals were associated with the kind of subsistence economy and the use of soil. Animals occurred in the symbolic language applied by Catholics, at least in the Netherlands, and this would provide further clues. However, the reason for the mention of plough animals only in one area and another animal like a donkey, only in another, remains presently unresolved.

Drawing the Plough Until the 1880s harnessing somebody, usually a man, to a plough, was typical for Dutch Noord-Brabant, and neighbouring places like Turnhout or Hoogstraten in Belgian Brabant.15 A report of 1765 drawn up following a famous case of a man living in disharmony with his wife in Oss in the Dutch province, shows that it was common for such men to be forced to plough a piece of land or the ‘street’ until the point of total exhaustion.16 In 1789, an inhabitant of Opwetten had been tied to the plough because he had mistreated his wife.17 A similar incident was recorded in Someren in 1798. It is probable that not every case was reported to the authorities. The map drawn up by Tiny Romme for the eastern part of Noord-Brabant (de Meierij) shows seven such cases (italics) before 1900 (fig. 1). Evidence was based on archival research and on late nineteenth-century literature. Maps are a useful way to order data and they show the distribution of cases. This distribution had a history but that is not necessesarily apparent from the map itself. In 1934 when respondents of a questionaire were asked for the local name of the custom ketelmuziek, rough music, the term voor de ploeg spannen was still familiar in six places in de Meierij but this alone does not imply that it was still practised.18 There was a recorded incident from 1890 in Woensel, but the intended plough ‘animal’ had barricaded himself in his home and the crowd had to return empty-handed.19

15 De Cock: Ketelmuziek, p. 12–14. 16 Romme, Tiny: Charivari in het oostelijk deel van Noord-Brabant 1750–1850. Een historisch onderzoek naar ‘in de ploeg spannen’,‘tafelen’,‘beerjagen’ en andere symbolische actievormen (doctoraalscriptie Katholic University Nijmegen, 1987), p. 92–93; Id.: Charivari-rituelen in de Meierij. De zaak Jan van Es te Oss, in: Volkskundig Bulletin 15 (1989), p. 335–350 17 Jacobs, Beatrix C. M.: Van gericht tot gerecht. Justitieel optreden tegen charivari’s in oostelijk Brabant, in: Volkskundig Bulletin 15 (1989), p. 351–364; Rooijakkers: Rituele repertoires, p. 426. 18 De Volkskundevragenlijsten 1–58 (1924–1988) van het P. J. Meertens-Instituut (Amsterdam 1989), p. 31. 19 Van den Brink, Gabriel: De grote overgang. Een lokaal onderzoek naar de modernisering van het bestaan. Woensel 1670–1920, Nijmegen 1996, p. 303.

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Fig. 1 Drawing the plough and Chasing the boar in the eastern part of Noord-Brabant before 1900.

According to a mid-nineteenth-century novel, this form of rough music was one of the few rituals carried out by women with the help of men.20 In 1867 the same novelist described it as follows: The man who was permanently at odds with his wife and maltreated her, the husband who neglected his duties towards his wife, were in the spinning or the communal judgement condemned to pulling the plough – that is, the deviant, instead of a horse or an ox, was harnessed to the equipment and spurred on by women yielding sticks and he had to plough a certain stretch of the public road. 21

20 Snieders, Jan Renier: Het kind met den helm, Antwerpen 1852, see: De Cock: Ketelmuziek, p. 12. 21 Snieders, August: In ’t vervallen huis: drie herinneringen uit den jongelingstijd, ’s-Hertogenbosch 1867, p. 81. Quoted by Lambrechts, R.: Primitieve rechtspraak zonder rechter, in: Taxandria. Tijdschrift van de koninklijke geschied- en oudheidkunde kring van de Antwerpse Kempen, XXXVI (1964), p. 227–242, cit. p. 234 (translation of the author).

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Fig. 2 Nineteenth-century print, Museum aan de Stroom, Antwerpen, Collection Folklore, Object Number AF.20355.

In 1884 when a newspaper reporter mentioned “a hundred winsome women from the neighbourhood” it is not immediately clear if he referred to the novel or his own experience.22 The description seems genuine enough, however, and novellists can certainly convey ethnographic information. Harnassing men to a plough and forcing them to work the land was a punishment meted out by women on men suspected of actual wife beating. In the Netherlands the custom was also found north of Brabant, in the Catholic part of the Betuwe, the area between the big rivers.The plough conjured up an animal normally used for ploughing and thus symbolically transformed the deviant into an ox or a horse; in itself the custom was more than just symbolism. That the ritual was popular is evident from the songs of the time. In one, women from the neighbourhood prepared the harness and pushed the man towards the plough “with whips in their hands”.23 22 Algemeen Handelsblad, 27. February 1884. 23 Franken, Harrie: Liederen en dansen uit de Kempen. Een optekening, Eindhoven 1978, p. 238–239: ‘De ploegtrekker’, Dongen. See also the following song, ‘Van de mulder’, p. 240–241; this last song was already notated in 1925 and would have referred to an event of around 1900, cf. Lambrechts: Primitieve rechtspraak, p. 237.

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op het land al aangekomen hij riep het is de taak van het paard vrouwtjes wilt mij toch vergeven hij trok dat hij ter aarde viel ik zal van heel mijn leven mijn vrouw geen klap meer geven ‘k zal doen gelijk enen braven man van de ploeg ben ik zo bang.

[once he] arrived at the field he cried, it is the task of the horse women, please forgive me he pulled till he fell on the earth as long as I live I won’t beat my wife anymore I will act like a honest man I am so afraid of the plough

Painting the Donkey The 1934 map for the Dutch province of Limburg shows the expression ‘chasing the donkey’ (indicated by the S rune) was known in most of the area with the exception of the very north and the south; in the latter the expression varen was more prevalent, meaning roaming around, but not associated with a particular animal (fig. 3). Due to the fragmented and insufficient files in the archives, there has only been little archival research into eighteenth- and nineteenth-century cases; a comparison with Brabant is not possible and it is not known whether in Limburg men were ever forced to plough. It is fair to assume that domestic violence towards women was not restricted to only one province, but it remains a blank spot our knowledge how communities reacted to it and whether animal symbolism was involved. Donkey symbolism has also not been recorded in Brabant. Only a handful of late nineteenthcentury Limburg cases have been unearthed. The first involved a husband, father of several children pursuing a younger woman; the second a man who had been visiting a widow.24 Three other cases of aezel aandrieve occurred at Neer in the late nineteenth century, one of these concerned the marriage between a widow and widower.25 According to the folklorist De Cock, in Maaseik en Kessenich ezelrid also applied to women who had dared to beat their husbands. Like ‘Eselreiten’ in the Rhineland, the practice in Limburg can be considered as a northern manifestation of the French custom chevaucee de l’âne.26 In the rest of the Netherlands the custom

24 Limburger Koerier, 19. August and 12. September 1893; the first one occurred in Berg. 25 Thewissen, Henk: De Limburgse jonkheid: Jongerencultuur vanaf de late Middeleeuwen in een Europese context, Maastricht 2005, p. 147. 26 Cf. Davis: The Reasons of Misrule, p. 105, p. 301 (note 34). See on Germany: Schmid, Wolfgang: Eselhochzeiten, in: Rheinisch-Westfälische Zeitschrift für Volkskunde 58 (2013), p. 91–138.

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Fig. 3 Names for Charivari in the Province of Limburg, based on the 1934 questionnaire.

was very rare.27 Ezeldrijven, with or without the actual animal, on the other hand, featured in songs. 28 Local authorities treated performers of the ritual with leniency while higher authorities were stricter. In 1888 a participant of ezeldrijven in Helden, where among other things a cess-barrel ended up in the well, had been acquitted by the lower court in Roermond, but he was convicted by the higher courts in ’s Hertogenbosch and The Hague. According to the participants in Helden the man had treated his sister better than his wife.29 In 1930 an article in a Limburg newspaper suggested that most people “instinctively disapproved of an objectionable behaviour” and 27 Van den Bergh, G. C. J. J.: Volksgerichten in Limburg, in: H. L. Cox (Ed.), Limburg. Bijdragen tot de taal en het historisch volksleven van de beide Limburgen en het aangrenzende Rijnland, [special issue Neerlands volksleven 21/1 (1971)], p. 85–96, esp. p. 93–94. 28 Thewissen: De Limburgse jonkheid, p. 147–149. 29 Thewissen: De Limburgse jonkheid, p. 149–150; Weekblad van het Regt, 10. December 1889, p. 2–3.

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that the “psyche of the people” defended the sanctity of marriage. Two years later, another article argued that the custom was often misinterpreted and was “more innocent” than it seemed.30 These arguments portrayed the attitude of the Catholic elite of Limburg towards the Protestant culture of the Netherlands. During the late nineteenth and early twentieth century ‘driving the donkey’ was primarily an expression. Parading or even riding of the animal was not reported. As Van den Bergh remarks, the relationship between chasing the donkey and riding it, “may have been mentioned by several respondents of the 1934 questionnaire, it was no more than vague reminiscences which could as well have been inspired by Dik Trom”. This boy was the protagonist of a popular children’s novel who famously rode a donkey facing backwards, holding on to its tail.31 The notion of riding the donkey as part of a rough-music ritual may have been restricted to the late medieval and early modern period, it remained nevertheless part of the popular imagination.32 By the early twentieth century the animal had become purely a metaphor. According to the questionnaire, donkeys were painted onto the walls of houses in fifteen places; they belonged to those accused of illicit liaisons. The paint was often mixed with soot and was very hard to remove.33 Van den Bergh discovered a reference to a child born out of wedlock, who apparently had “beaten a donkey from the wall”. He considered the painting a replacement punishment.34 Yet the painting was, at least in the decades around 1900, the most concrete manifestation of the donkey.

Chasing the boar, beating the ox and chasing the cattle In Limburg the expression de beer jagen was rarely used; the map only shows four occurrences in the south-west of province. In Brabant, on the other hand, it was in circulation as early as the mid-seventeenth century.35 At that time a Protestant vicar in Helmond, who “pinched, bit and hit” his wife when he was drunk, was subjected to beerjagen at least once.36 A 1694 case, in Lieshout, stated that young men forced a man to chase the beyr, for maltreating his wife.37 Unlike ploegtrekken, women 30 Limburger Koerier, 12. December 1930; 2. July 1932. The author may have been the local priest, cf. Limburger Koerier, 18. September 1940. 31 A series of six books by C. Joh. Kieviet published from 1891 to 1931. The first, ‘Uit het leven van Dik Trom’ featured the cover with the donkey. 32 See also the fanciful illustration in the journal ‘Die Gartenlaube’ of 1893. 33 Algemeen handelsblad, 26. April 1912, reporting on a case in Tegelen where as much as five donkeys appeared on a wall overnight. 34 Van den Bergh: Volksgerichten in Limburg, p. 92. 35 Romme: Charivari, p. 93. 36 Rooijakkers: Rituele repertoires, p. 429. 37 Sassen, August: Beerjagen, in: Volkskunde 4 (1891), p. 18.

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were also subjected to beerjagen. In 1771 a prostitute in Veghel was pulled through water and covered with faeces. Prostitutes in Den Bosch were displayed on refuse carts. At the end of the eighteenth century, an unmarried Catholic woman was punished for reading the wrong (Protestant) bible by being dragged through a pool of water.38 The eighteen-century report mentioned above, however, also described how a man was pulled through a muddy puddle or tied to a rope and pulled though a river.39 In the twentieth century the custom seems to have died out. The map for NoordBrabant does not show the expression, while on the map for the earlier period (see fig 1.) it is indicated eight times (thrice in Helmond). Although the meaning of beer is ambivalent – it can be read as bear as well as boar 40 – the absence of bears and the presence of other farm animals suggest that a male pig was meant. In the 1890s in Tongeren, accross the administrative border with Belgium, the ritual of riding an ox was usually performed with an old man who had married a young girl.41 About the so-called bef jagen it was reported that “it was done to a man who had maltreated his wife or had entertained a lover on the side”, although it was also presented as a joke played on newcomers, unrelated to any charivari. 42 Animalistic language in rough music reveals that punishments were focused on men who had maltreated women, much more so than in charivari studies in general. The custom of plough pulling was primarily current in Brabant; here many women participated calling deviant men beasts. This also occurred during the hunting of the bef. Members of the community policed, judged and punished domestic violence by treating male culprits like animals, horses or oxen. The expression beerjagen also included women deemed to have misbehaved. Rough music involving donkeys seems to have been associated with broader definitions of misdemeanor. It was focused on deviant relationships, for example when men were found in places deemed inappropriate by the performers of the rough music. It was, so Thewissen,43 a failed attempt at exogamy.

38 Jacobs: Van gericht tot gerecht, p. 355, 358–361; Rooijakkers: Rituele repertoires, p. 429. 39 Romme: Charivari-rituelen, p. 344. 40 There is also the association with ‘beerput’, cess pit. Given the use of sewage the early modern participants were aware of it, too. 41 De Cock: Ketelmuziek, p. 5. 42 De Cock: Nog ketelmuziek, p. 129. Cf. Cornelissen, Jozef: Berketuters vangen, in: Eigen volk 4 (1932), p. 101–102. 43 Thewissen: De Limburgse jonkheid, p. 180–189.

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Protestants The concepts and rituals discussed here were confined to Catholic areas; due to their imagery rather than the date, they may have been associated with Shrove Tuesday and carnival.44 Although Protestants conducted their own charivaris for similar reasons, they were not included in the late twentieth-century charivari research mentioned above. As far as can be seen, however, Protestants hardly named their deviants after farm animals. The few exceptions include an incident at IJzendijke (Sealand) where a thirty-years-old bachelor was presented with the “keys to the ox’s meadow“, a one-meter-long black wooden contraption; he was forced to publicly announce that he was as suitable to marry as an ox (possibly concerning homosexuality). The expression den ossenbilk ingaan originally referred to women who had remained spinsters at the age of thirty; it was found a few miles to the south in Catholic Flanders.45 Rough music did not feature here. Where it did (see fig. 4), deviants from local sexual mores, men as well as women, were presented with a straw doll. The little research there concentrates on rituals that took place in the marital context. Around 1900, the Waterland physician Cornelis Bakker collected late-eighteenth-century poems and songs, written on the occasion of giving people a dorhoed, a barren hat (not seen on the map).46 The folklorist Jan de Vries named it ‘infidelity’; this category included abandonment of partners during courting, in the east of the Netherlands called zoorholt (on the map shown by a triangle) pointing to the barrenness of the earlier union. Well-known twentieth-century cases in Staphorst in the province of Overijssel targeted illegitimacy; single mothers were seen as victims and fathers of their children were forced through the ritual to marry.47 Future research will have to establish whether other events in life provoked similar ire elsewhere.

The Flight to the Wine Cellar In the late sixteenth century witches’ sabbats in Brabant and Limburg were often an all-female affair, also called the ‘dance of the cats’ (kattendans). They were another example of animal gendering. Thus, a young man who followed his girlfriend to

44 See: Davis: The Reasons of Misrule. For the Low Countries: Pleij, Herman: Het gilde van de Blauwe Schuit. Literatuur, volksfeest en burgermoraal in de late middeleeuwen, Amsterdam 1979. 45 Aerts, J. P.: De sleutel van de ossenweide te IJzendijke, in: Eigen volk 1 (1929), p. 344–345; De Cock, Alfons: Spreekwoorden en zegswijzen over de vrouwen, de liefde en het huwelijk, Gent 1911, p. 147. 46 Boekenoogen, G. J.: De dorhoed, in: Volkskunde 13 (1900), p. 65–77. 47 Van den Bergh, G. C. J. J. and others: Staphorst en zijn gerichten. Verslag van een juridischantropologisch onderzoek, Amsrdam 1980.

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Fig. 4 Infidelity customs. This map was also based on the 1934 questionnaire. In the Meierij ploegtrekken was categorised under tafelen (open circle).

a sabbat in the later stories would expect ending up in a meeting of women. The nineteenth- and twentieth-century stories about the dance of the cats, especially those in North Brabant (as it had become by then), contained a warning to men roaming around at night not to get involved and face the danger of losing their manliness in such events. The pitfalls of the meeting in the wine cellar were less

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drastic, although certain elements of the cats’ story may have found their way into it. There is no direct evidence that nineteenth-century meetings of nubile women, spinningen, were talked about as meetings of cats, although they very well could have been.48 These spinningen were considered as one of the places were women planned their punitive expeditions; thus to regard them as a gathering of witches was quite plausible. Another witchcraft legend recorded in 1947 by Beckers near Sint Huibrechts refers to a dialogue between a group of witches and a group of young men. First the witches sing and dance while the men join in. When the witches invite them to drink with them, they throw someting at them, what turns out to be a cow’s leg rather than a drinking cup. It is now possible to interprete this second legend in terms of a ritual, too, as the cow’s leg almost certainly signified disapproval of male advances. In a flight story collected by the early twentieth-century Flemish folklorist Victor de Meyere, the mother of the witch discovered the young man at the sabbat. He is changed into a calf and ridden by the girl on her journey home. On her return, she changed the calf into a donkey because she feared to be identified as a witch and being burnt subsequently. She was haunted by grief for the youngster and persuaded her mother to disenchant him, this was achieved by feeding him blessed palm. The couple married and the local priest cured the mother of her superstition (wangeloof ).49 De Meyere preferred unique stories. In the more popular versions the young man rode a calf on the return from the sabbat and when he broke the taboo of speaking, the animal disappeared (and the young man fell down).50 Other versions notated in the 1960s featured a pig instead of a calf. Apart from crashing down once his mount had disappeared, most of the young man’s injuries were sustained when he had been dragged through the bushes on his way to the witches’ gathering. He was, as an informant in Welle expressed it, helegans geschalloderd, seriously injured, or in the words of another informant, helegans gekrabt, scratched all over.51 These tales may not have mentioned cow’s legs and the mount alternated between a man metamorphosed and a genuine animal that was ridden, but they featured animals, even farm animals. Mispronounced charms caused serious bodily harm. Another characteristic is warning by the young man’s friends that his girlfriend could be a witch, that is to say, a woman ill suited for marriage, which was how the

48 Rooijakkers: Rituele repertoires, p. 315. 49 Volkskunde 39 (1925), p. 136–138, told in 1908 at Antwerp by a twenty-eight years old maid, born in Ellezelles. 50 Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen, Leipzig 1843, p. 469. 51 Deraemaeker, Marie-Josée: Sagenonderzoek in het zuidwesten van Brabant, Leuven 1977, p. 341–342, Leerbeek; De Groot, Marguerite De: Sagenonderzoek aan de grens van Oost-Vlaanderen met Brabant, Leuven 1967, p. 236, Welle and Iddergem; Wauters, Jan: Onderzoek naar de sagenmotieven in Klein Brabant, Leuven 1962, p. 142–143, Oppuurs.

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stories quoted here usually began. Thus, these tales contained enough elements of the charivari to render them charivari narratives, or at least tales with charivari elements. Only the actual rough music was missing. Nevertheless, a handful of stories with charivari references does not mean that all the variants of the type can be characterised as charivari narratives. Without the mention of animals this conclusion would be tenuous. When animals do feature, however, then the language of charivari had entered a witchcraft narrative, conveying disapproval, dishonour and mockery. And the boy is destined to never lose his cow’s legs.

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Betrunkene Männlichkeit im Wahlbüro – über eine angefochtene Bürgermeisterwahl 1925 im Volksstaat Hessen

Ende 1925 stand in Bechtheim, einer kleinen Stadt im damaligen Volksstaat Hessen, eine Bürgermeisterwahl an. Georg Heinrich Geil und Friedrich Hess hießen die beiden Kandidaten, die um die Gunst der Wähler und Wählerinnen warben. Der Wahltag war auf Sonntag, den 22. November, festgesetzt worden; zum Wahlvorstand waren die Herren Johann Arndt, Peter Krämer, Leonhard Gundersdorf, Georg Stahl, Johann Müller, Karl Pfirsching und Arnold Como bestimmt worden. Der Vorsitzende des Wahlvorstandes gab im Nachhinein zu Protokoll, dass der Wahlsonntag pflichtgemäß abgelaufen sei. So habe er pünktlich um 9 Uhr vor der Wahl seine „Beisitzer vereidigt“ und sie darauf aufmerksam gemacht, dass „sie über die Wahl keine Redensart führen dürfen.“ Danach habe er den Stellvertreter und den Protokollführer ernannt, „die Feldschützen angewiesen, die Zettel auszuteilen und die Zellen [gemeint sind die Wahlkabinen; K. W.] anzuweisen und den Polizeidiener beauftragt, unbedingt dafür Sorge zu tragen, dass Ordnung herrscht.“1 Er habe danach die Wahlurne versiegelt und pünktlich um 9 Uhr habe die Wahl begonnen. Die Wahl endete um „6 Uhr nachmittags“ und am gleichen Abend wurde noch das Wahlergebnis bekannt gegeben. Der Kandidat Geil hatte 441 Stimmen erhalten und damit knapp über Hess gesiegt, der auf 436 Stimmen kam; fünf Stimmen wurden als ungültig bewertet. 882 Wahlberechtigte hatten also ihre Stimme abgegeben und Georg Heinrich Geil zum Bürgermeister von Bechtheim gewählt. So verzeichnete es auch das Protokoll des Wahlvorstands, welches vom gesamten Vorstand unterzeichnet worden war. Der neu gewählte Bürgermeister Geil konnte sich allerdings nicht lange über seine Wahl freuen, denn am 10. Dezember 1925, also zweieinhalb Wochen nach der Wahl, legte der Rechtsanwalt Georg Nathan Widerspruch gegen das Wahlergebnis beim Kreisdirektor des Kreises Worms ein. Die Vorwürfe, die der Kreisdirektor zu lesen bekam, wogen schwer. So seien zwei Personen als Wahlberechtigte in die Wählerliste eingetragen worden und hätten auch von ihrer Stimme Gebrauch 1 Protokoll über die öffentliche Sitzung des Kreisausschusses am 14. Januar 1926 in Sachen: Einwendung gegen die Bürgermeisterwahl in Bechtheim, Hessisches Staatsarchiv Darmstadt [im Folgenden: HStAD] Bestand G 15 Worms, 46/5, Anfechtung der Bürgermeisterwahl zu Bechtheim, S. 3.

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gemacht, obwohl beide vor der Wahl aus dem Ort weggezogen seien und sich abgemeldet hätten. Dazu komme der Umstand, dass bei der Zählung der Stimmzettel 882 Wahlzettel zusammengekommen, in der Wählerliste allerdings 883 abgegebene Stimmen verzeichnet worden waren. Das Protokoll hatte weder eine Nachzählung noch einen Vermerk über die Abweichung verzeichnet, und die Differenz der einen Stimme konnte nicht aufgeklärt werden. Als besonders gravierend wurde allerdings eingeschätzt, dass nicht mehr nachvollziehbar sei, ob die fünf als ungültig eingestuften Stimmen tatsächlich ungültig gewesen sind. In drei der fünf Wahlumschläge seien angeblich Stimmzettel für beide Kandidaten gewesen, allerdings konnte dies nicht mehr genau rekonstruiert werden, da der Beisitzer, der die Sichtung dieser Stimmabgaben übernommen hatte, die Wahlzettel aus den Umschlägen auf den Boden hatte fallen lassen, wo sich bereits „ein ganzer Haufen von nicht abgegebenen Stimmzetteln“ befand. „Infolgedessen“, so der Anwalt, „konnte überhaupt nicht einwandfrei festgestellt werden, ob der Stimmzettel, den man vom Boden aufhob, der gleiche Stimmzettel war, der aus dem Umschlag zu Boden gefallen war.“ Der Grund für dieses Missgeschick ist in den Akten auch verzeichnet. Der Anwalt schrieb: „Dass der Beisitzer Leonhard Gundersdorf derart betrunken war, dass er nicht imstande war, die Stimmzettel den Umschlägen zu entnehmen, sondern die Umschläge ausschüttete, sodass der Inhalt auf den Boden fiel.“ Die Geschäftsfähigkeit des Beisitzers sei nicht mehr gegeben gewesen, so der Anwalt, und die „von ihm vorgenommenen Handlungen können nicht als gültig angesehen werden und sind geeignet, das gesamte Wahlergebnis nichtig zu machen.“ Aber nicht nur das. Der Anwalt bemängelte auch, dass bei der anschließenden Auslegung der Wahlergebnisse zuerst das Protokoll fehlte und auch auf ausdrücklichen Wunsch die Gegenliste der abgegebenen Stimmen nicht offengelegt wurde – und dies, obwohl es doch eine Differenz von einer Stimme gab. Dies könnten übrigens auch Heinrich Schultheiss und Friedrich Hess bezeugen – letzterer der unterlegene Bürgermeisterkandidat. Außerdem sei fraglich, so der Anwalt weiter, ob alle nötigen Unterschriften unter dem Wahlprotokoll geleistet worden waren. Auch diese Unregelmäßigkeit sei aufgrund der Trunkenheit des Beisitzers zustande gekommen, überhaupt sei während des Wahlaktes von Seiten des Wahlvorstandes Alkohol getrunken worden. Der Wahlleiter – Johann Arndt – sei Gastwirt und habe während der Wahl zwei Mal Wein aus seinem Gasthaus bringen lassen und diesen „unentgeltlich zur Verfügung gestellt.“ Damit aber nicht genug. Auch nach der Wahl hätte Arndt in seine Gastwirtschaft eingeladen und dort ein „Trinkgelage […], bei welchem der Kandidat Geil zugegen war und in welchem unentgeltlich Weine und Speisen verabfolgt wurden“, abgehalten. Dies alles, da der Wahlleiter einer „der eifrigsten Parteigänger für die Wahl des Kandidaten Geil war.“ Für den Anwalt [und die ihn beauftragten Klienten – bei denen es sich um Unterstützer des unterlegenen Kandidaten Hess handeln dürfte; K. W.] war klar: Die Wahl musste angefochten werden, da Stimmen

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nicht richtig zugeordnet werden konnten und es zu „verwerflichen Mitteln [zur; K. W.] Beeinflussung der Wahl im Sinne des Kandidaten Geil“ gekommen war.2 Dieser im Hessischen Staatsarchiv in Darmstadt gefundene Vorgang erlaubt einen spannenden Einblick in das, was in historischen Arbeiten häufig lediglich als reines Verwaltungshandeln wahrgenommen wird, obwohl es die Grundlage der Legitimation politischer Herrschaft ist: das praktische Wahlgeschehen vor Ort, eine Art ‚doing democracy‘. Politische Wahlen sind heute in (demokratischen) Staaten zur Grundlage politischer Partizipation und zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Hierdurch gerät leicht aus dem Blick, dass dieses Verfahren, die tatsächliche Wahl-Praxis, sowohl von Seiten der sie steuernden staatlichen Institutionen als auch von Seiten der Bürgerinnen und Bürger erlernt werden musste und bis heute muss. Wahlen sind kulturelle und symbolische kommunikative Praktiken, die ausgestaltet und mit und durch die Gesellschaft, in der sie stattfanden und stattfinden, beeinflusst werden. Durch einen kulturgeschichtlichen Zugang ist es möglich, sowohl diese Praktiken zu untersuchen, als auch die Ein- und Ausschlüsse und damit die soziale Ordnung und Zugehörigkeiten innerhalb des Wahlvorgangs zu erkennen.3 Die Historikerin Hedwig Richter hat darauf hingewiesen, dass die Durchsetzung von Wahlen alles andere als zwingend war.4 Der Siegeszug von Wahlen als Willensbildungsakte ist eng mit den politischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, mit der langsamen Herausbildung der Demokratie verbunden. Hier, in der sogenannten Sattelzeit, wurde das Wahlrecht „zu einem universellen und zugleich individuellen Rechtsanspruch, der auf der Nationalidee und deren Postulat der egalitären Staatsbürger gründete.“5 So weit so gut – aber wie genau wurde die Technik ausgestaltet, die einer Person zu einem Amt verhalf oder eine Körperschaft bildete? Und vor allem: Wie entwickelte sich dies im Laufe der Geschichte?

2 Alle Zitate aus: Schreiben des Rechtsanwalts Nathan an den Kreisausschuss des Kreises Worms zu Händen seines Vorsitzenden Herrn Kreisdirektor Wolff, 10. Dezember 1925, in: Anfechtung der Bürgermeisterwahl zu Bechtheim, passim. 3 Siehe dazu: Gatzka, Claudia Christiane/Schröder, Benjamin/Richter, Hedwig: Zur Kulturgeschichte moderner Wahlen in vergleichender Perspektive. Eine Einleitung, in: Comparativ – Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 23/1 (2013), S. 7–19, hier S. 8. 4 Richter, Hedwig: Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert, Hamburg 2017. 5 Ebd., S. 13–14.

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Vielfältige kulturelle Praktiken – Wählen im 19. Jahrhundert Wer erwartet, dass auch im 19. Jahrhundert Wahlen so abliefen, wie wir sie heute kennen, der liegt falsch. Heutzutage sind Wahlhandlungen stark ritualisiert und werden von festgefügten Verwaltungsvorschriften und Gesetzen flankiert. Herausgebildet hat sich ein fester Ablauf, der die Wahlhandlung sowohl für den Wählenden als auch für den Wahlvorstand als Garanten der staatlichen Ordnung strukturiert. Dazu gehören das gesamte Stimmabgabeverfahren unter „Aufsicht der Wahlorgane am Wahltag“, die Verpflichtung zur „unparteiischen Wahrnehmung“ des Amtes durch den Wahlvorstand und der „Hinweis zur Verschwiegenheit über die ihnen bei ihrer amtlichen Tätigkeit bekannt gewordenen Angelegenheiten.“ Aber auch die „Prüfung der Wahlurnen“, die „Stimmabgabe selbst [und die] Schließung des Wahllokals“ nach 18 Uhr.6 Auch wie eine Wahlurne auszusehen hat, ist geregelt: „Eine Wahlurne ist ein geschlossener Behälter mit Schlitz zur Durchführung einer geheimen Wahl mit Stimmzetteln. Die Wahlurne muss verschließbar sein.“7 Die Wahlhandlung ist damit Teil der Inszenierung von Demokratie und ein Ort „besonders dichter politischer Kommunikation.“8 Wenn der Wahlkampf als „eine rituelle Inszenierung des ‚demokratischen Mythos‘“ bezeichnet werden kann, dann ist die Wahlhandlung selbst der Endpunkt dieser Inszenierung, denn der Wahlkampf läuft zwingend auf die Wahl hinaus.9 Angefangen hat das Ganze allerdings ganz anders, sowohl was den Wahl-Raum, den Wahl-Termin als auch den Wahl-Vorgang anbelangt. Eine Wahl in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine aufwändige Sache, die auch schon mal mehrere Tage dauern konnte. Um der Festlichkeit des Anlasses Rechnung zu tragen, fanden die preußischen Staatsratswahlen, die immer an einem Werktag abgehalten wurden, in einer Kirche statt. Nach einer einleitenden Predigt verließen die Nicht-Wahlberechtigten das Gotteshaus, woraufhin die Türen geschlossen wurden. Die wahlberechtigten Männer, die nun unter sich waren, wählten mit schwarzen und weißen Kugeln, die in ein Gefäß gelegt wurden. Wie üblich in weißen Gesellschaften stand weiß für Zustimmung und schwarz für Ablehnung. Das Problem war: „Die Wahlen waren eine Bürde. Der Gottesdienst, die Predigt, die Wahl des Wahlvorstandes, die aufwändigen Wahlverfahren […] all das ließ die Wahlen zu

6 https://www.bundeswahlleiter.de/service/glossar/w/wahlhandlung.html [abgerufen am: 15. Februar 2021]. 7 Ebd. 8 Gatzka/Schröder/Richter: Zur Kulturgeschichte moderner Wahlen, S. 9. 9 Zum Wahlkampf als rituelle Handlung siehe: Dörner, Andreas/Vogt, Ludgera: Der Wahlkampf als Ritual. Zur Inszenierung der Demokratie in der Multioptionsgesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Medien und Wahlkampf, https://www.bpb.de/apuz/26980/der-wahlkampf-als-ritual?p=0 [abgerufen am: 12. Februar 2021].

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einer nicht enden wollenden Veranstaltung werden. Die Wahlhandlung in den preußischen Kirchen dehnte sich meist auf vier bis fünf Stunden aus [...].“ Die Folge war Wahlverdruss und eine „Gleichgültigkeit bei dem Wahlgeschäft [...].“10 Dies aber konnte den Staat, der sich durch die Abhaltung von Wahlen legitimierte, nicht zufrieden stellen. Die Wahlbereitschaft musste gesteigert werden, was zu einer Veränderung sowohl des Wahlortes als auch der Wahlhandlung führte. In den nächsten Jahren ‚verweltlichten‘ die Wahlen, sie wurden nun nicht mehr in Kirchen begangen, sondern zunehmend in öffentlichen Gebäuden, teilweise aber auch in Kneipen. Hier markierten „die Männer […] das Wahllokal in jeder Hinsicht als männliche Domäne. Dazu gehörte der Alkohol – der auch in Preußen immer wichtiger wurde –, das Tabakrauchen, die Prügeleien.“11 Der konkrete Wahl-Akt war damit weit weg von dem, was wir heutzutage als ein angemessenes Verhalten bei einer Wahlhandlung verstehen. Es zeigt sich hieran, dass auch das disziplinierte Verhalten bei einer Wahl erst hergestellt und erlernt werden musste.12 Der „aufrechte Mann [der; K. W.] als freier Bürger und als Herr der Straße zum Wahllokal lief, sich prügelte, im Tabakqualm Politik diskutierte, vor der Wahlkommission laut seinen Namen nannte, seine Stimme abgab und damit Herrschaft ausübte und Selbstbestimmung einforderte“13 , dieser Mann musste diszipliniert und eingehegt werden – auch deshalb, weil immer mehr Frauen darauf drängten, selber an Wahlen teilzunehmen und damit massiv diese männliche Wahlperformanz in Frage stellten. Es war vor allem die immer schlagkräftiger werdende bürgerliche Frauenbewegung, die ab den 1880er Jahren durch ihre Debatten um ein inklusives Wahlrecht die Praxis des reinen Männerwahlrechts unter Druck setzte. Allerdings war es argumentativ nicht leicht, die Idee der Wahlunmündigkeit ALLER Frauen auszuhebeln, denn in die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts war die Vorstellung von der Inferiorität der Frau und die damit einhergehende selbstverständliche Herrschaft des Mannes tief eingeschrieben. „So ist die Antwort auf die Frage, warum Wahlen – von Ausnahmen abgesehen – eine reine Männersache blieben, vielschichtig. […] Der Wahlakt gewann ebenso wie das jeweilige Staatskonzept und wie

10 Richter, Hedwig: Demokratie – eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2020, S. 41–42. 11 Richter: Moderne Wahlen, S. 213. 12 Ein schönes Beispiel dafür, wie tief bürgerliche Vorstellungen von einem angemessenen Verhalten bei demokratischen Wahlen bis heute in unseren Köpfen sind, wie stark also eine Disziplinierung des Körpers stattgefunden hat, zeigt sich in einem Interview mit dem Soziologen Heinz Bude, der in Bezug auf Wahlen sagt: „Wahlen haben auch etwas Disziplinierendes. Ich weiß, dass wenn ich zu einer Wahl gehe, ich immer denke, ich muss mir was gescheites anziehen.“ Siehe: Heinz Bude am 16. November 2020 in der Gesprächsreihe: „Streit ums Politische: Das Ende der Demokratie“, https://www.youtube.com/watch?v=dGb_G8srH-A. [abgerufen am: 21. Februar 2021]. 13 Richter: Moderne Wahlen, S. 227–228.

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Herrschaft überhaupt durch seine Identifizierung mit Männlichkeit grundsätzlich an Bedeutung und Attraktivität. Zugleich trugen Wahlen mit ihrer evidenten Männlichkeit zur Reproduktion der sozialen Geschlechterordnung bei.“14

Infragestellung – die Forderung nach dem Frauenwahlrecht Diese Verknüpfung zwischen Männlichkeit, staatlicher Herrschaft und Wahlhandlung aufzubrechen, machte sich die bürgerliche Frauenbewegung ab den 1890er Jahren auf den Weg. Sie argumentierte dabei mit der mangelnden Repräsentanz von Frauen durch Männer und machte sich damit das geschlechterpolar gedachte Gesellschaftsmodell zunutze. Helene Lange etwa ging in einem Aufsatz 1896 mit der männlichen Vorstellung, die Frau sei entweder durch die Ehe mit einem Mann oder durch den eigenen Vater in der Politik vertreten, hart ins Gericht. Sie wies darauf hin, dass es für alle ersichtlich sei, dass durch Wahlen jeder die „Interessen seines Standes, seines Bildungskreises, seiner Scholle vertritt“ und dass man durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechtes diese Vertretungslogik auch anerkannt hatte. „Bis auf eine Kleinigkeit“, fährt Lange fort. „Obwohl niemand an der oben ausgeführten Wahrheit ernstlich zweifelt, ist eine Fiktion doch immer aufrecht erhalten worden, die nämlich, daß die Männer zugleich die Interessen der Frauen wahren.“15 Mit fatalen Folgen, so Lange, denn alle Gesetze, die dieses Männergremium bisher erlassen habe, würden lediglich die Auffassung der Männer repräsentieren und die Interessen der Frauen unberücksichtigt lassen. Dies sei auch logisch, denn nur Frauen könnten die Sorgen und Nöte von anderen Frauen verstehen, und deshalb könne auch nicht ein Geschlecht für das andere bestimmen. Aus diesem Grund, so Lange, müsse so schnell wie möglich das Frauenwahlrecht eingeführt werden. Sie forderte in ihrem Text also nicht das Stimm- und Wahlrecht für die Frau, weil dies eine Frage der Gerechtigkeit war, sie forderte das Recht zur politischen Partizipation deshalb, weil die Gesellschaft dringend den weiblichen Einfluss brauche. Dabei war ihr durchaus bewusst, dass auch Frauen nicht den Himmel auf Erden schaffen würden; aber sie würden die Politik der Männer ergänzen, weil sie eben anders seien, weil sie andere Schwerpunkte setzen würden. Die Triebfeder der Frauen sei ihre (potenzielle) Mutterschaft, die sie dazu befähige, sich vor allem um Gefängnisse, Waisenhäuser, Schulen oder Krankenhäuser zu kümmern.

14 Ebd., S. 227. 15 Lange, Helene: Frauenwahlrecht, in: Dies. (Hg.), Intellektuelle Grenzlinien zwischen Mann und Frau/Frauenwahlrecht, Berlin 1899, S. 25.

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Helene Lange versuchte mit dieser Argumentation, die politische Sphäre zu ‚verweiblichen‘ und damit die Einbeziehung von Frauen in Wahlhandlungen denkbar zu machen. Ganz praktisch setzte sie dabei auf das politische Konzept der ‚geistigen Mütterlichkeit‘, welches davon ausging, dass erst Mann und Frau zusammen eine menschliche Gesellschaft formen könnten. Es sei ratsam, so Lange, mit dieser Arbeit in den städtischen Gemeinden anzufangen, die einen ersten Zugang zum Politischen überhaupt darstellten. Die Arbeit in der Gemeinde sei durch die Nähe zum Leben der Frauen und durch die Konkretheit der Problemfelder als Erfahrungsbereich zur Einübung politischer Partizipation für die Frauenbewegung geradezu ideal. Damit dockte dieses Modell an den, durch Industrialisierung und Urbanisierung dringend notwendig gewordenen, Aufbau des Wohlfahrtsstaates und den Ausbau der kommunalen Daseinsfürsorge in den Städten ab Mitte des 19. Jahrhunderts an. Dieser Auf- und Ausbau wurde vor allem vom Bürgertum und zwar von Männern wie Frauen gleichermaßen geleistet. Während die bürgerlichen Männer – häufig unbeeinflusst von anderen Interessengruppen, die sich aufgrund der sie ausschließenden Wahlordnungen nicht adäquat an der Kommunalpolitik beteiligen konnten – ihren politischen Willen als gewählte Vertreter in den entsprechenden städtischen Gremien durchsetzen konnten, waren es die bürgerlichen Frauen, die durch den Aufbau kommunal wichtiger Infrastruktureinrichtungen die Städte auf das 20. Jahrhundert vorbereiteten und gleichsam ‚nebenbei‘ eine gleichberechtigte Partizipation von Frauen denkbar machten. Vor allem die unzähligen Aktivistinnen der unterschiedlichen Frauenvereine nahmen selbstbewusst und selbstverständlich ihre Rolle als Bürgerinnen in der Kommune an und schufen ein auf Frauen ausgerichtetes Fürsorgenetz, welches sich in den allgemeinen Ausbau der sozialen Infrastruktur der Städte integrierte. Sie nutzten damit die Möglichkeiten, die in den 1870er und 1880er Jahren im Aufbau der Stadtgemeinden lagen und beeinflussten diese in ihrem Sinne. Die Forderung der Berufs- und Ausbildungsfreiheit für das weibliche Geschlecht, die die Debatten ab den 1860er Jahren dominierte, wurde von vielen städtischen Frauenvereinen praktisch umgesetzt, und gleichzeitig der Platz der Bürgerin in der Kommune selbstbewusst besetzt. Es zeigt sich hier ein liberales Verständnis von Kommunalpolitik, welches davon ausging, dass die Aktivitäten von Frauen bereits einen Teil der politischen, der staatsbürgerlichen Mündigkeit der Frauen darstellten. Diese kommunalen Aktivitäten fanden in einer historischen Phase statt, in der die organisierte Frauenbewegung – reichsweit – erst langsam Fahrt aufnahm und sich die Gesamtgesellschaft insgesamt in einer sich langsam steigernden Phase der „Fundamentalpolitisierung“ befand.16 Gemeint ist damit eine zunehmende politische Partizipation aller Bevölkerungsgruppen, die in Vereinen, in den Medien und in öffentlichen Versammlungen politische Fragen

16 Langewiesche, Dieter: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1988, S. 129–132.

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diskutierten. Kirsten Heinsohn hat darauf hingewiesen, dass dieser Prozess nicht nur den männlichen Teil der Bevölkerung erfasste, sondern auch den weiblichen.17 Der Aufbau kommunaler Strukturen ist als eine spezifische weibliche Form der Beteiligung am politischen Ausbau der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen, als Ausdruck der Fundamentalpolitisierung von Bürgerinnen, die damit nicht nur Nutznießerinnen dieses Prozesses wurden, sondern ihn zugleich weiter befeuerten. Die Historikerin Paula Baker hat diesen Prozess, der auch in anderen Ländern im 19. Jahrhundert nachgewiesen werden kann, als „domestication of politics“ bezeichnet. Sie versteht darunter die Einbeziehung der häuslichen Sphäre in die Politik, die sich durch öffentliche Debatten über Kindergärten, Schulen, Armenspeisungen und andere wohlfahrtsstaatliche Themen – für die im Geschlechtermodell des 19. Jahrhunderts Frauen stehen – auszeichnet. Dadurch, so Baker weiter, würde der als männlich gedachte politisch-öffentliche Einflussbereich ‚gezähmt‘ und langfristig die Einbeziehung von Frauen in den Bereich der Politik möglich.18 Aber nicht nur die männliche Politik wurde im 19. Jahrhundert domestiziert, auch das weibliche Geschlecht wurde in dieser historischen Phase politisiert. Darauf hat die Historikerin Ute Planert aufmerksam gemacht, die in ihren Arbeiten zum Nationalismus nachwies, dass in das Konzept des Nationalismus ein „universelles Gleichheits- und Partizipationsversprechen“ eingelassen ist, welches mit einer Abwehr „gegenüber allen einherging, die nicht der nationalen Gemeinschaft zugerechnet wurden.“ Zusätzlich waren „die Vorstellung von dem, was eine Nation sei, ebenso wie die Konstruktion nationaler Identität und die Nationsbildungsprozesse selbst zutiefst von geschlechtsspezifischen Konnotationen“ durchdrungen.19 Frau- oder Mannsein bekam also im Nationalstaat des 19. Jahrhunderts eine politische Rolle zugewiesen, die für Frauen die Chance barg, als in die Nation eingeschlossene Staatsbürgerin verstanden zu werden. Dies funktionierte vor allem dann, wenn durch diese Inkorporation andere Gruppen ausgeschlossen werden konnten – zum Beispiel in den deutschen Kolonien.20 Dies alles sollte aber nicht darüber hinweg täuschen, dass das 19. Jahrhundert auch für eine „explizite Maskulinisierung der politischen Partizipation“21 stand, 17 Heinsohn, Kirsten: Ambivalente Entwicklungen. 150 Jahre Frauenbewegung, Politik und Parteien, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 67–68 (2015), S. 40–48, hier S. 41. 18 Baker, Paula: The Domestication of Politics. Women and American Political Society, 1780–1920, in: The American Historical Review 89 (1984), Nr. 3, S. 620–647. 19 Planert, Ute: Vater Staat und Mutter Germania. Zur Politisierung des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jahrhundert, in: Dies. (Hg.), Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt am Main/New York 2000, S. 17 und 19. 20 Walgenbach, Katharina: „Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur“. Koloniale Diskurse über Geschlecht, ‚Rasse‘ und Klasse im Kaiserreich, Frankfurt am Main 2005. 21 Bock, Gisela: Frauen in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2000, S. 183.

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die als Reaktion auf die allmähliche Infragestellung männlicher politischer Rechte verstanden werden kann. Deutschsprachige Staatsrechtler (und Historiker!) definierten den Staat als ein „rein männliches Wesen“22 , der, so der Jurist und Staatstheoretiker Johann Caspar Bluntschli 1870 in einem Deutschen Staatswörterbuch, der „Aufgabe und Sorge der Männer“ bedürfe. Die Teilnahme von Frauen am Staatsleben – so Bluntschli – sei „für den Staat gefährlich und für die Frauen verderblich.“23 Mit der Vermännlichung des Staates ging eine Vereinheitlichung des Ausschlusses von Frauen von der Wahl einher. Gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch Möglichkeiten für Frauen zu wählen – vor allem in den Kommunen24 – wurden diese um 1900 beseitigt, als „ein Viertel der Bundesstaaten den Wahlzensus“ abschaffte und in diesem Zuge „die älteren geschlechtsneutralen Formulierungen tatsächlich durch das Erfordernis ‚männlichen Geschlechts‘“ ersetzt wurden.25 Vermutlich waren es aber genau diese expliziten Ausschlüsse auf der einen Seite und die Domestizierung des Politischen sowie die politische Aufladung des Weiblichen im Zuge der Nationenbildung auf der anderen Seite, die langfristig ein ‚Möglichkeitsfenster‘ schufen, sich staatliche Herrschaft und auch Wahlen anders vorstellen zu können. Dies schlug sich auch organisatorisch nieder, als um 1900, als die Frauenbewegung seit zehn Jahren in ihrer Hochphase war und die Fundamentalpolitisierung der Gesellschaft auch die Frauenfrage ergriffen hatte, Wahlreformen umgesetzt wurden, die die starke Verknüpfung von Männlichkeit und Wahlhandlung aufbrachen. Die Verbürgerlichung der Wahlhandlung führte dazu, dass der Wahlablauf so organisiert wurde, dass er „bürgerlichen Standards entsprach und Rationalitätsannahmen genügte.“26 Als Beispiel kann hier angeführt werden, dass im Deutschen Kaiserreich 1903 eine Wahlrechtsreform in Kraft trat, die die reibungslose und effektive Stimmabgabe garantieren sollte. Es wurden sowohl die Wahlkabine und der die geheime Stimmabgabe garantierende Wahlumschlag eingeführt – besonders wichtig, da in dieser Zeit mit von den Parteien vorgedruckten Stimmzetteln gewählt wurde – als auch über die Inneneinrichtung des Wahllokals und den ‚Weg‘, den der Wählende im Wahllokal zurücklegen sollte, diskutiert. Es ging vor allem um die Geheimhaltung der Wahlen. „Geheimhal-

22 Wilhelm Heinrich Riehl, zit. n. Bock: Frauen in der europäischen Geschichte, S. 185. 23 Bluntschli, Johann Caspar (Hg.): Deutsches Staats-Wörterbuch, Bd. 11, München 1870, S. 130. 24 Zur Möglichkeit von Frauen, im 19. Jahrhundert auf kommunaler Ebene zu wählen siehe: BaderZaar, Birgitta: Politische Rechte für Frauen vor der parlamentarischen Demokratisierung. Das kommunale und regionale Wahlrecht in Deutschland und Österreich im langen 19. Jahrhundert, in: Hedwig Richter/Kerstin Wolff (Hg.), Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa, Hamburg 2018, S. 77–98. 25 Bock: Frauen in der europäischen Geschichte, S. 185. 26 Richter, Hedwig: Demokratie –eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2020, S. 139.

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tung entsprach der Vorstellung von einem rationalen Wähler, der ohne Einfluss von außen seinen Willen kundtat. Ohne echte Geheimhaltung, so die Reformer in den verschiedenen Ländern, seien Massenwahlen zwangsläufig eine korrupte Angelegenheit.“27 Im Zuge dieser Reformen veränderte sich auch der Wahl-Ort, denn nun sollte nicht mehr in Kneipen und Gaststätten gewählt werden, sondern in gut beleuchteten und sauberen öffentlichen Gebäuden. Dies alles führte zu einer Disziplinierung des männlichen Körpers, der sich nun nicht mehr vor dem Wahllokal prügeln sollte und auch nicht mehr betrunken zur Wahl gehen durfte. Durch diese Disziplinierungsmaßnahmen wurde es vor allem für bürgerliche Eliten möglich, Wahlen zu unterstützen und zu akzeptieren. Ein anderer Grund für die Wahlreformen war die Überzeugung, dass ein moderner Staat sich durch Massenwahlen legitimierte und hierin eine anzustrebende Kulturleistung lag. Mit diesem Argument schlossen sich die Wahlreformer der bürgerlich-männlichen Eliten und die um die Wahl kämpfenden bürgerlichen weiblichen Eliten zusammen. Denn auch diese bemühten das allgemein akzeptierte Argument, dass die gleichwertige Stellung der Frau ein Hinweis auf die Modernität einer Gesellschaft sei. Und dazu gehörte eben auch das Frauenwahlrecht.

Nach dem Frauenwahlrecht – Wahlen in der Weimarer Republik Als das Frauenwahlrecht in Deutschland eingeführt wurde, hatten sich also bereits kulturelle Praktiken rund um das konkrete Wahlgeschehen etabliert, die durch das Hinzukommen von Frauen als Wählerinnen nicht mehr in Frage gestellt wurden. Es kam – anders als zum Beispiel in Großbritannien – aufgrund des Wechsels der Herrschaftsform nicht zu einer Wahlrechtsreform. Das allgemeine Wahlrecht wurde „lediglich auf Frauen und junge Menschen ab dem Alter von 21 Jahren ausgedehnt.“28 Überspitzt gesagt, mussten sich die neuen Wähler:innen in die vormals rein männlich besetzten und ausgehandelten Wahl-Rituale einpassen. Dazu gehörte eine gewisse Ernsthaftigkeit der Wahl, die sich auch im Verhalten am Wahlsonntag zeigte: „Voters wore their Sunday best or perhaps their uniforms if

27 Richter, Hedwig: Die Konvergenz der Wahltechnik und die Konstruktion des modernen Wählers, in: Tim B. Müller/Adam Tooze (Hg.), Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2015, S. 82–83. 28 Schröder, Benjamin: Wer ist Freund, wer Feind? Parteien und Wähler in politischer Unsicherheit, in: Müller: Normalität und Fragilität, S. 96.

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they were veterans, combining the way to the poll and back with the traditional Sunday stroll.“29 Welche Rolle aber sollten Frauen in den Wahlhandlungen im Wahllokal spielen? Sicher, sie hatten nun das aktive und passive Wahlrecht, aber sollten sie auch als gleichwertige Mitglieder in einen Wahlvorstand aufgenommen werden können? Hier brachte ein Schreiben des Reichsamts des Inneren an alle Landesregierungen vom 4. Dezember 191830 Klarheit. Es sind Zweifel darüber geäußert worden, ob die verschiedenen Obliegenheiten zur Durchführung der neuen Vorschriften für die Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung vom 30. November 1918 [...] für die bestimmte Persönlichkeiten besonders zu bestellen sind, auch den Frauen übertragen werden können. Diese Frage ist zu bejahen. Nachdem die Frauen aktiv und passiv wahlberechtigt sind, müssen sie auch ebenso wie die Männer zu den Ämtern und Vertrauensposten zugelassen werden, die das neue Wahlrecht für die Wahlberechtigten vorsieht. Sie sind also insbesondere befugt, als Wahlvorsteher oder als Beisitzer oder Schriftführer in den Wahlvorständen und Wahlausschüssen tätig zu werden und können gemäß § 16 der Wahlordnung in den Wahlvorschlägen als ‚Vertrauensmänner‘ bezeichnet werden.31

Obwohl die Öffnung für Frauen für alle innerhalb des Wahlaktes auszufüllenden öffentlichen Rollen selbstverständlich bestätigt wurde, wurde aber auch deutlich gemacht, dass sich sowohl technisch als auch sprachlich nichts ändern würde. Sollten Frauen Positionen im Wahllokal übernehmen, sollten sie als Vertrauensmänner bezeichnet werden. Nach meiner Kenntnis ist noch nie systematisch untersucht worden, wann die ersten Frauen in diese Positionen gelangten; es spricht einiges dafür, dass eine nennenswerte Zahl erst nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht worden ist. Benjamin Schröder, der sich mit den Wahlvorständen in der Weimarer Republik beschäftigt hat, kommt zu dem Ergebnis: „The resulting boards were very similar to their Wilhelmine predecessors; socially ‚high-grade‘, as one American observer put it, and

29 Schröder, Benjamin: Stately Ceremony and Carnival. Voting and Social Pressure in Germany and Britain between the World Wars, in: Comparativ – Zeitschrift für Globalgeschichte 23/1 (2013), S. 48–49. 30 Ich danke an dieser Stelle meinem Kollegen Lutz Vogel vom Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde, der mir diesen Quellenfund zur Verfügung gestellt hat. 31 Schreiben des Reichsamts des Innern, Dr. Preuß, an sämtliche Landesregierungen, 4. Dezember 1918, in: Hessisches Staatsarchiv Marburg [HStAM], 180 LRA Fulda, Nr. 2399: Die Ausführung der Verordnung über die Wahlen zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung vom 30. November 1918, Bl. 84.

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almost exclusively male.“32 Für Marburg kann zum Beispiel festgestellt werden, dass 1929 zum ersten Mal vier Frauen in drei Wahlbezirken als Wahlvorsteherinnen aktiv waren.33 Dass es erst relativ spät zu kleinen Änderungen bei der Personenzusammensetzung im Wahllokal gekommen ist, dürfte auch damit zusammenhängen, dass bei der ersten demokratischen Wahl nach 1918 im Volksstaat Hessen die Bürgermeister die Wahlvorstände bestimmten und diese auf das bereits bekannte und eingearbeitete Personal zurückgriffen, unter dem selbstverständlich keine Frauen waren. So verlief auf Seiten der Wahlvorstände die erste demokratische Wahl in der Weimarer Republik ebenso frauenfrei wie die Wahlen im Kaiserreich.34 Diesen Befund deckt auch eine kursorische Sichtung von historischen Fotografien in der Bilddatenbank getty images, die bei Wahlhandlungen in den 1920er Jahren aufgenommen worden sind. Auch hier zeigt sich ein fast vollständiger Mangel von Frauen in offiziellen Positionen bei der Wahl. Das Bild wird dominiert von Männern in schwarzen Anzügen, die ernst blickend das Protokoll oder die Wähler:innenliste führen oder als Wahlvorstand den abgegebenen Stimmzettel – wie damals üblich – entgegennahmen. Diese soziale Praxis des Wählens zu analysieren ist wichtig und spannend zugleich. Ute Daniel macht in ihrem Buch zur postheroischen Demokratiegeschichte deutlich, dass „eine viel spannendere Politikgeschichte“ geschrieben werden kann, wenn der „Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit der parlamentarischen Demokratie“ in den Fokus gerückt wird.35 Eine Untersuchung zu den Zusammensetzungen von Wahlvorständen in der Weimarer Republik könnte so eine spannende Politikgeschichte sein, denn sie wird vermutlich feststellen, dass der Mangel von Frauen in den Wahlgremien mit ein Grund dafür war, warum Wahlen auch in der Weimarer Republik als ‚männlich‘ gelesen wurden – obwohl das Frauenwahlrecht eingeführt worden war. Aber nicht nur das. Die Wahlvorstände setzten sich auch aus Männern zusammen, die weit oben in der sozialen Hierarchie standen und die es gewohnt waren, ihre Macht über andere auch auszuüben. Lehrer, Fabrikbesitzer oder Großgrundbesitzer stellten den Wahlvorstand und demonstrierten damit ihre gesellschaftlich herausgehobene Stellung. Diese gesellschaftliche Hierarchie wurde zusätzlich noch durch die konkrete Praxis der Wahlhandlung unterstützt, denn in der Weimarer Republik warf nicht der/die Wähler:in den eigenen Stimmzettel in die Wahlurne, sondern der Wahlvorsteher. Die Wähler:innen gaben also ihre Stimme im wahrsten Sinne des Wortes ‚aus der Hand‘ und überließen es einem anderen, diese sachgerecht zu verwalten – ich wage die These, dass dies in der

32 Schröder: Stately Ceremony and Carnival, S. 50. 33 Auch diesen Hinweis verdanke ich Lutz Vogel. Siehe: Stadtarchiv Marburg [StadtA MR], 330 Marburg, Nr. 3101, Bl. 34–36. 34 Diese Praxis wurde bei Recherchen im HstAD sichtbar. Ob dies auch für andere Länder zutraf, müsste überprüft werden. 35 Daniel, Ute: Postheroische Demokratiegeschichte, Hamburg 2020, S. 154.

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überwiegenden Anzahl von Fällen eine männliche Hand war, die diese Stimmen entgegennahm. Dass dies auch in den 1920er Jahren durchaus kritisch gesehen wurde und es Frauen gab, die diese männliche Dominanz ablehnten, zeigt eine Episode aus Niederschlesien. Dort warf eine Frau Wrzeszcz ihren Wahlumschlag eigenhändig in die Wahlurne, worauf der Wahlvorsteher diese öffnete, die oberen Wahlumschläge entnahm, die Wahlurne wieder schloss und die entnommenen Wahlunterlagen eigenhändig wieder einwarf.36 Dies verdeutlicht exemplarisch, dass es bei Wahlen immer auch um eine symbolische Ordnung ging, die in der Phase der Weimarer Republik eindeutig noch stark männlich und bürgerlich-elitär geprägt war. Diese Männer, die im Kaiserreich sozialisiert worden waren und die sich ihres herausgehobenen gesellschaftlichen Status bewusst waren, wollten sich – so könnte man die Episode aus Niederschlesien zusammenfassen – die Wahlhandlung nicht aus den Händen nehmen lassen. Die Verknüpfung zwischen Männlichkeit, sozialem Status und herausgehobener Rolle beim Wahlakt kann auch bei der bereits oben vorgestellten Bürgermeisterwahl in Bechtheim gesehen werden. Auch hier haben wir es mit einem männlichen ‚WahlRaum‘ zu tun, der nicht nur aus einem rein männlichen Wahlvorstand bestand, sondern der auch durch den Alkoholgenuss im Wahllokal kulturelle Praktiken männlichen Wählens aus dem 19. Jahrhundert reaktivierte. Wie die Situation am Wahlsonntag im Wahllokal von den Wählerinnen und Wählern in Bechtheim wahrgenommen wurde, lässt sich leider nicht mehr rekonstruieren. Eventuell haben aber gerade Frauen auch nichts von der Trunkenheit im Wahllokal mitbekommen, da sie häufiger morgens wählen gingen (nach dem Kirchgang), um danach das Sonntagsessen für die Familie zuzubereiten.37 Beschwert haben sie sich nicht, der Fall ist nur deshalb aktenkundig geworden, weil der unterlegene Kandidat aufgrund des knappen Ergebnisses den Kreisdirektor anrief und es zu einer öffentlichen Sitzung des Gremiums kam, auf der das Geschehen detailliert rekonstruiert wurde. Auch innerhalb dieser öffentlichen Anhörung wurde sichtbar, was bereits gemutmaßt worden ist – die fast vollständige ‚Vermännlichung‘ der Wahlhandlung und die männliche Dominanz innerhalb der sozialen Ordnung der Gemeinde. So wurden im Laufe des Prozesses 33 Männer als Zeugen befragt, wobei es vorzugsweise darum ging, den Grad der Trunkenheit des Beisitzers Gundersdorf zu erfahren und den genauen Ablauf der Wahlhandlungen zu rekonstruieren. Lediglich zwei Frauen kamen bei diesem Verfahren zu Wort. Dies war die 23jährige Helene Plösser geb. Holzmann, die, so der Anwalt der klageführenden Partei, zu unrecht gewählt hatte. Obwohl sie nämlich einige Wochen vor der Wahl geheiratet hatte und demzufolge

36 Diese Episode findet sich bei Schröder: Stately Ceremony and Carnival, S. 51. 37 Auf diesen geschlechtsspezifischen Unterschied machen Claudia Gatzka, Hedwig Richter und Benjamin Schröder aufmerksam. Siehe: Dies.: Zur Kulturgeschichte moderner Wahlen, S. 12.

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– der Logik des gültigen Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend – durch die Eheschließung unter dem Wohnsitz des Mannes als Wahlberechtigte geführt werden müsste, stand sie immer noch im Wahlverzeichnis von Bechtheim. Allerdings hatte Helene Plösser nicht den Wohnort gewechselt, da sie ihre Mutter pflegte, die in Bechtheim lebte, und das frisch verheiratete Paar noch keine Wohnung in Alsbach gefunden hatte, wo der Ehemann gemeldet war. Frau Plösser gab an, in Bechtheim gewählt zu haben und zwar „auf ihren Mädchennamen.“38 Die zweite Frau war Klara Bender, die dazu befragt wurde, ob der Pfarrer in der sonntäglichen Predigt eine Wahlempfehlung ausgesprochen habe. Klara Bender verneinte dies und erklärte, dass sie sich auch gegenüber einem Bekannten ‚verbeten‘ habe, dass dieser in ihre Tasche greife, um zu sehen, für welchen Kandidaten sie einen Stimmzettel dabei habe. Sie wies damit explizit darauf hin, dass ihr die Wichtigkeit des Wahlgeheimnisses bekannt war. Beide Frauen wurden nicht zur Situation im Wahllokal befragt, nicht zur Wahlhandlung selbst und auch nicht zur Trunkenheit des Wahlvorstandes Leonhard Gundersdorf. Beim Verfahren in Bechtheim wird auch deutlich, dass der lokale Aspekt eine große Rolle spielte. Es mutet wie eine Binsenweisheit an, dass Wahlen immer in einem bestimmten ‚Raum’ stattfinden, der von ‚lokalen communities‘ besetzt wird, die eigenen Regeln und Vorstellungen folgen. „Durch ihre Bindung an konkrete Orte“, so Gatzka, Richter und Schröder, „stellten die Wahlen ein lokales Ereignis dar, das alle irgendwie involvierte und zu dem alle sich in irgendeiner Form verhalten mussten – es lohnt sich also, moderne Wahlen ebenso wie vormoderne Wahlen als Rituale aufzufassen, die in den sozialen Kontexten eines lokalen Umfelds stattfanden.“39 In Bechtheim zeigte sich dies sehr deutlich an den Aussagen der befragten Männer, die dezidiert für die eine oder die andere Seite Partei ergriffen. Dies wird vor allem daran sichtbar, wie die ‚Trunkenheit‘ von Leonhard Gundersdorf beschrieben wird. So stellte der Vorsitzende der Wahlkommission Johann Arndt klar, dass Gundersdorf nicht betrunken gewesen sein konnte, schließlich habe der gesamte Wahlvorstand – „Wir waren 11 Mann“ – gemeinsam „im Ganzen 1 Flasche Likör und etwa 7 Flaschen Wein“ im Laufe des Wahl-Tages getrunken.40 Die Mitglieder der Wahlkommission bestätigten die Aussage von Arndt und korrigierten die Anzahl der Flaschen Wein nach unten, es seien ‚nur‘ sechs Flaschen gewesen. Dem entgegen standen Aussagen von Wählern, die als Zeugen geladen waren und

38 Helene Plösser in der öffentlichen Kreisausschusssitzung am14. Januar 1926, in: Protokoll über die öffentliche Sitzung des Kreisausschusses am 14. Januar 1926 in Sachen: Einwendung gegen die Bürgermeisterwahl in Bechtheim, HStAD, Anfechtung der Bürgermeisterwahl zu Bechtheim, S. 2. 39 Gatzka/Richter/Schröder: Zur Kulturgeschichte moderner Wahlen, S. 15. 40 Johann Arndt in der öffentlichen Kreisausschusssitzung am14. Januar 1926, in: Protokoll über die öffentliche Sitzung des Kreisausschusses, HStAD, Anfechtung der Bürgermeisterwahl zu Bechtheim, S. 3.

Betrunkene Männlichkeit im Wahlbüro

die – vermutlich – der Gegenpartei angehörten. Diese beschrieben Gundersdorf als eindeutig betrunken. So Friedrich Karl Schiedheim, der sagte: „Ich kann es auf meinen Eid nehmen, dass er [Gundersdorf; K. W.] betrunken war. […] Arndt hat zu Gundersdorf noch gesagt er solle sich besser zusammennehmen, dass es keine Unordnung gäbe.“41 Dies bestätigte auch Johann Gundersdorf, der Bruder des im Wahlvorstand tätigen Leonhard Gundersdorf, der zu Protokoll gab: „Ich habe gesehen, dass mein Bruder stark betrunken war. Meiner Auffassung nach war er nicht Herr seiner Sinne.“42 Letztendlich konnte sich aber nicht darauf geeinigt werden, ob Gundersdorf lediglich ‚lustig‘ gewesen war oder volltrunken; der Umstand spielte dann bei der Entscheidung des Kreisausschusses auch keine weitere Rolle mehr. Entscheidend wurde, dass ein Wähler (Karl Reiss) zu Unrecht abgestimmt hatte – diese Stimme wurde vom Wahlergebnis abgezogen. „Die übrigen Einwendungen“, so das Protokoll der Kreisausschusssitzung, „werden als unbegründet abgewiesen“ – allerdings musste sich der Vorsitzende der Wahlkommission rügen lassen. In der Begründung zur Entscheidung der Kreisausschusssitzung ist zu lesen: Zu rügen ist, dass der Wahlleiter den Beisitzer Gundersdorff [sic!] überhaupt mit einer Funktion bei der Feststellung des Wahlergebnisses betraut hat, wenn er sich, sei es infolge des genossenen Weins, sei es infolge der Ungeschicklichkeit seiner Hände (Gundersdorff ist Maurer und nicht gewohnt mit Papieren umzugehen) als ungeeignet erwies. Der festgestellte Sachverhalt kann das Wahlergebnis in keiner Weise beeinträchtigen.43

Damit wurde die Akte geschlossen, Georg Heinrich Geil blieb Bürgermeister und es ist anzunehmen, dass bei der nächsten Wahl in Bechtheim sehr genau darauf geachtet wurde, ob während der Wahl Alkohol konsumiert wurde oder nicht. Damit setzte sich der Prozess der ‚domestication of politics‘ weiter fort und ermöglichte es im Laufe der Zeit, dass eine Frau in Bechtheim bei einer Wahl in die Wahlkommission aufgenommen wurde – wann das war, ist bislang allerdings unbekannt.

41 Friedrich Karl Schiedheim in der öffentlichen Kreisausschusssitzung am14. Januar 1926, in: Protokoll über die öffentliche Sitzung des Kreisausschusses, HStAD, Anfechtung der Bürgermeisterwahl zu Bechtheim, S. 11. 42 Johann Gundersdorf in der öffentlichen Kreisausschusssitzung am14. Januar 1926, in: Protokoll über die öffentliche Sitzung des Kreisausschusses, HStAD, Anfechtung der Bürgermeisterwahl zu Bechtheim, S. 12. 43 In Sachen betr. Einwendungen gegen die Bürgermeisterwahl in Bechtheim, HStAD, Anfechtung der Bürgermeisterwahl zu Bechtheim, S. 6–7.

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Der Saarländer Philipp Daub als Oberbürgermeister von Magdeburg

Am 5. September 1950 wählte die Magdeburger Stadtverordnetenversammlung den Saarländer Philipp Daub (1896–1976) zum Oberbürgermeister der Stadt. Unter den Bedingungen der fortschreitenden Stalinisierung der noch jungen DDR hatte der Vorgang mit einer Wahl wenig zu tun, denn der kommunistische Politiker aus dem Saarland war von der SED-Führung eingesetzt worden und die Stadtverordnetenversammlung führte den Berliner ‚Vorschlag‘ willfährig aus. Auf die besondere Bedeutung des Vorgangs wies die Anwesenheit des Innenministers der Landesregierung von Sachsen-Anhalt, Josef Hegen (1907–1969), hin. Dieser übte scharfe Kritik an der bisherigen Stadtverwaltung, die „zu weit vom Volke entfernt und nicht genug mit den Werktätigen verbunden gewesen“ sei und sprach die Erwartung aus, dass sich dies mit dem neuen Oberbürgermeister an der Spitze nunmehr grundlegend ändern werde.1 Das Amt des Magdeburger Oberbürgermeisters war vakant geworden, weil der bisherige Amtsinhaber Rudolf Eberhard (1891–1965) nicht nur des Amtes enthoben, sondern auch verhaftet worden war. Die Amtsenthebung und Verhaftung von Rudolf Eberhard und weiteren führenden Repräsentanten der Stadt war der Höhepunkt der Verfolgung und Unterdrückung sozialdemokratischer oder dem stalinistischen Kurs der SED-Führung im Wege stehender Gruppen und Persönlichkeiten in Magdeburg.2 Neben der Ausschaltung vermeintlicher oder tatsächlicher sozialdemokratischer Einflüsse und Persönlichkeiten waren zum Zeitpunkt der Amtsübernahme von Philipp Daub auch die ‚bürgerlichen‘ Parteien bereits der Politik der SED untergeordnet worden. Das zeigte sich unter anderem darin, dass der neue Oberbürgermeister auf Vorschlag eines LDP-Stadtverordneten von der Stadtverordnetenversammlung per Akklamation gewählt wurde.3 Magdeburg galt der Führung der SED unter Walter Ulbricht (1893–1973) als Schwerpunkt ihres Kampfes gegen sozialdemokratische Auffassungen und deren Repräsentanten innerhalb der SED. Die Stadt war in der Zeit der Weimarer Republik eine sozialdemokratische Hochburg, die nicht wenige führende Repräsentanten

1 Stadtarchiv Magdeburg [im Folgenden: STAM], Rep. 18/4, St., 5a, Bl. 448. 2 Vgl. Meyer-Eberhard, Gerda: Ein sozialdemokratischer Oberbürgermeister in der Diktatur. Rudolf Eberhard, Magdeburg 1996, S. 134ff.; Asmus, Helmut: 1200 Jahre Magdeburg. Die Jahre 1945 bis 2005, Magdeburg 2009, S. 274ff. 3 Vgl. STAM, Rep. 18/4, ST., Bl. 424.

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der Partei hervorbrachte und eine lange Zeit erfolgreiche sozialdemokratische Kommunalpolitik gestaltete.4 In der Nachkriegszeit hatte es bereits mehrere Verfolgungswellen gegen Magdeburger Sozialdemokraten gegeben.5 Walter Ulbricht ließ sich wegen dieser Situation demonstrativ in Magdeburg sowohl zum Abgeordneten des Provinziallandtages der Provinz Sachsen als auch später in Vertretungen der DDR wählen.6 Das rigorose Vorgehen hatte auch mit aktuellen politischen Entwicklungen zu dieser Zeit in Deutschland und Berlin zu tun. Führende Magdeburger Sozialdemokraten waren in den Westzonen und in Westberlin in teilweise hohe Ämter gekommen. Vor allem zwei Persönlichkeiten standen Anfang der 1950er Jahre im Mittelpunkt der deutschlandpolitischen Auseinandersetzungen mit der SED. In Westberlin war Ernst Reuter (1889–1953), der letzte demokratisch gewählte Oberbürgermeister Magdeburgs vor der Errichtung der NS-Diktatur, am 7. Dezember 1948 zum Oberbürgermeister der Westsektoren gewählt worden und während der Berlin-Blockade durch die Sowjetunion (24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949) zu einer weltbekannten Persönlichkeit aufgestiegen.7 Mit Erich Ollenhauer (1901–1963) war ein weiterer Magdeburger Sozialdemokrat sowohl einer der stellvertretenden Parteivorsitzenden der SPD in der Bundesrepublik Deutschland als auch stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion der Partei. Ulbricht argwöhnte nicht ganz zu Unrecht einen andauernden Einfluss dieser Persönlichkeiten auf die Situation in Magdeburg. Zudem hatten die in der Tradition sozialdemokratischer Kommunalpolitik stehenden Repräsentanten um Rudolf Eberhard im schwer zerstörten Magdeburg eine erfolgversprechende Kommunal- und Wiederaufbaupolitik eingeleitet. Diese entsprach jedoch nicht den Auffassungen der SED-Führung von einer in ihrem Sinne sozialistischen Stadt. Der verdienstvolle Oberbürgermeister Rudolf Eberhard und die mit ihm aus dem Dienst entfernten und verhafteten Persönlichkeiten sowie deren Leistungen durften in der Folgezeit

4 Vgl. Tullner, Mathias: Modernisierung und mitteldeutsche Hauptstadtpolitik – das „neue Magdeburg“ 1918–1933, in: Matthias Puhle/Peter Petsch (Hg.), Magdeburg. Die Geschichte der Stadt 805–2005, Dössel 2005, S. 733ff. 5 Vgl. Schmidt, Andreas: „… mitfahren oder abgeworfen werden“. Die Zwangsvereinigung von KPD und SPD in der Provinz Sachsen/im Land Sachsen-Anhalt 1945–1949, Münster 2004, S. 317ff. 6 Vgl. Tullner, Mathias: Zwischen Demokratie und Diktatur. Die Kommunalwahlen und die Wahlen zum Provinziallandtag in Sachsen-Anhalt im Jahre 1946, 2. Aufl., Magdeburg 1997, S. 60. 7 Vgl. Barclay, David E.: Schaut auf diese Stadt. Der unbekannte Ernst Reuter, Berlin 2000, S. 240ff.; Zöhl, Dorothea: Ernst Reuter und sein schwieriges Verhältnis zu den Alliierten 1946–1948, in: Heinz Reif/Moritz Feichtinger (Hg.), Ernst Reuter. Kommunalpolitiker und Gesellschaftsreformer 1921–1953, Bonn 2009, S. 253ff.; Dettmer, Klaus: Kampfjahre: Ernst Reuter und der Magistrat von Berlin, in: ebd., S. 289ff.

Der Saarländer Philipp Daub als Oberbürgermeister von Magdeburg

in der durch die SED bestimmten Öffentlichkeit nicht mehr erwähnt werden. Das betraf auch die Geschichtsschreibung in der DDR-Zeit.8 Die SED-Führung beorderte mit Philipp Daub einen bis dahin zum Führungskreis der Partei gehörigen prominenten Kommunisten nach Magdeburg, um hier ihre Politik endgültig durchzusetzen. Für den bekannten saarländischen Kommunisten bedeutete dies eine erhebliche Zurücksetzung. Daub war bereits vor 1933 und während der NS-Diktatur im Exil ein hochrangiger Funktionär der KPD.9 Nach seiner Rückkehr aus dem Exil war er bis 1948 Vizepräsident der Zentralverwaltung für Umsiedler und damit für die deutschen Vertriebenen in der SBZ zuständig. Danach leitete er bis 1950 die einflussreiche Abteilung Personal/Kader beim Zentralkomitee der SED. Zusammen mit anderen Westemigranten verlor Daub im Zusammenhang mit der Noel-Field-Affäre10 seine Stellung in der Spitze der SED.11 Mit dem Amt des Oberbürgermeisters von Magdeburg war er nicht nur in eine hintere Reihe der Partei versetzt worden, sondern er stand auch unter Bewährung. Zu den Demütigungen Daubs gehörte, dass er gezwungen wurde, ein Fernstudium an der Deutschen Verwaltungsakademie Walter Ulbricht zu absolvieren, welches er mit dem Staatsexamen abschloss.12 Sein Bekanntheitsgrad und seine frühere prominente Stellung in der KPD beziehungsweise SED bewahrten ihm jedoch auch als Kommunalpolitiker nicht nur Autorität in Magdeburg. Er hatte nach wie vor Verbindungen zur SED-Führung und zu Walter Ulbricht persönlich, über die kaum ein anderer Kommunalpolitiker verfügte. Mit der Stadt Magdeburg verband ihn bis dahin nur wenig. Er selbst behauptete, vor 1933 im Auftrage der KPD in der Elbestadt gewesen zu sein. Außerdem war er nach der Errichtung der

8 In der 1975 erschienenen umfangreichen Stadtgeschichte, herausgegeben im Auftrag des Rates der Stadt Magdeburg von einem Autorenkolleg unter Leitung von Helmut Asmus, wird Rudolf Eberhard lediglich einmal verunglimpfend erwähnt, indem dort ausgeführt wird, dass „[…] besonders der Oberbürgermeister Eberhard und einige Stadträte als Agenten des Klassenfeindes wirkten.“ Zit. n. Geschichte der Stadt Magdeburg, 2. Aufl., Berlin 1977, S. 379. 9 Vgl. Baumgartner, Gabriele/Helbig, Dieter (Hg.): Biographisches Handbuch der SBZ/DDR 1945–1990, München 1997, S. 113ff.; Christopeit, Gerald: Daub, Philipp, in: Guido Heinrich/Gunter Schandera (Hg.), Magdeburger Biographisches Lexikon 19. und 20. Jahrhundert, Magdeburg 2002, S. 123. 10 Unter dem fadenscheinigen Vorwurf der Spionage wurden Anfang der 1950er Jahre der amerikanische Diplomat Joel Field und zahlreiche Personen, die mit ihm in Zusammenhang gebracht wurden (darunter führende Kommunisten, die die nationalsozialistische Herrschaft im westlichen Exil überlebt hatten) in mehreren osteuropäischen Staaten in Schauprozessen zum Tode oder langjährigen Haftstrafen verurteilt. 11 Vgl. Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 100f. 12 Vgl. STAM, Rep. 41/433, Bl. 9.

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NS-Diktatur illegal als kommunistischer Funktionär in Magdeburg tätig. In dieser Zeit wohnte er in der Dodendorfer Straße 92.13 Wie andere in nachgeordnete Positionen verbannte führende Funktionäre setzte sich Daub im Sinne der SED-Führung in seiner ihm zugewiesenen Position mit voller Kraft ein. Ihm kam dabei entgegen, dass in Magdeburg mit der Ausschaltung von Rudolf Eberhard und seinen Mitarbeitern nicht nur in der Stadtverwaltung eine für die weitere Stalinisierung freie Bahn geschaffen und kritische Stimmen sowohl durch verschiedene Parteisäuberungen innerhalb der SED als auch der LDP und CDU bereits ausgeschaltet worden waren. Philipp Daub fand damit für die weitere Stalinisierung der Magdeburger Kommunalpolitik günstige Verhältnisse vor und es gelang ihm rasch, die Magdeburger SED auf den Kurs Ulbrichts festzulegen. Anfang 1951 wurden im Zuge der allgemeinen Parteiüberprüfung auch in Magdeburg zahlreiche Mitglieder, die als unsicher galten, ausgeschlossen. Die Säuberungsprozesse in der SED sowie auch in der unter ihre Führung gezwungenen LDP und CDU führten dazu, dass schließlich in Daubs Amtszeit fast alle Repräsentanten der Magdeburger Kommunalpolitik der Nachkriegszeit, die in den Parteien, der Stadtverwaltung und der Stadtverordnetenversammlung eine Rolle gespielt hatten, ausgeschaltet wurden.14 Unter Philipp Daub vollzog sich rasch der von der SED verlangte Austausch des Personals der Stadtverwaltung zugunsten von Parteimitgliedern oder willfährigen Personen. Dazu trug die erwähnte Säuberungswelle von Anfang 1951 erheblich bei. Dadurch verschwand auch der Sinn für eine der Stadt angemessene Kommunalpolitik zugunsten einer von der SED angestrebten Unterordnung der kommunalen Vorgänge unter die zentralistische Politik der Partei. In der Folgezeit trat eine Situation ein, die es Philipp Daub ermöglichte, eine im Sinne der SED ‚volksnahe Verwaltung‘ zu schaffen, wie es Innenminister Josef Hegen bei seiner Amtseinführung verlangt hatte. Die von Daub auf die Politik Ulbrichts festgelegte Magdeburger Stadtverwaltung verwarf die Pläne für den Neuaufbau der zerstörten Stadt, die von seinem Vorgänger Rudolf Eberhardt und dessen Stadtbaurat Erich Koß (1899–1982) ausgearbeitet und der Einwohnerschaft zur Diskussion präsentiert worden waren. Nunmehr erfolgten die Pläne zum Wiederaufbau unter der ideologischen und stadtplanerischen Vormundschaft der zentralen DDR-Behörden. Der Weg zu einer ‚sozialistischen Stadt‘ führte zunächst zu einer erneuten Welle von Straßenumbenennungen. Straßennamen mit nationalsozialistischem oder militaristischem Bezug waren bereits geändert worden. Im April 1951 legte die Stadtverwaltung erneut eine Liste von 103 neuen Namen, darunter Stadtfeld für 13 Ebd., Rep.18/4, St. 5a, Bl. 423. 14 Vgl. Schmiechen-Ackermann, Detlef: Magdeburg als Stadt des Schwermaschinenbaus 1945–1990. Politische Geschichte und Gesellschaft unter der SED-Diktatur, in: Puhle/Petsch, Magdeburg. Die Geschichte der Stadt, S. 820ff.

Der Saarländer Philipp Daub als Oberbürgermeister von Magdeburg

den Stadtteil Wilhelmstadt und Brückfeld für die Friedrichstadt, vor. Ein für diese Aktion charakteristischer Vorgang war, dass Philipp Daub vorschlug, anlässlich des Besuches des damaligen polnischen Präsidenten in der DDR den Deutschen Platz in Boleslaw-Bierut-Platz 15 umzubenennen. Der polnische Präsident hatte Ostberlin besucht, Magdeburg spielte während der Visite keine Rolle. Daub erklärte dennoch der Stadtverordnetenversammlung in einer außerordentlichen Sitzung im April 1951 wortreich die „große Bedeutung“, welche der Besuch Bieruts „für die Bevölkerung der DDR“ habe.16 Ohne Zögern folgte die Versammlung dem Vorschlag des Oberbürgermeisters, ohne dass die überraschende Benennung des Platzes für Magdeburg besondere Beziehungen zu Polen zur Folge gehabt hätte. Der zentrale Platz in Magdeburg hatte bereits in den Jahrzehnten zuvor mehrere Umbenennungen über sich ergehen lassen müssen. Ursprünglich war er als Kaiser-Wilhelm-Platz entstanden, in dessen Mitte bis zum Zweiten Weltkrieg ein überlebensgroßes Reiterdenkmal Kaiser Wilhelms I. (1797–1888) stand. 1922 erhielt er im Zuge der Beseitigung monarchistischer Namen für Straßen und Plätze die Bezeichnung Staatsbürgerplatz.17 Die Nationalsozialisten benannten ihn in Kaiser-Wilhelm-Platz zurück, was im Oktober des Jahres 1945 dazu führte, ihn Deutscher Platz zu nennen. Neben Straßen und Plätzen sind im Verlaufe des Jahres 1951 auch Magdeburger Betriebe mit den Namen sozialistischer beziehungsweise kommunistischer Persönlichkeiten bedacht worden. Am 1. Mai 1951 wurde das Krupp-Gruson-Werk in Schwermaschinenbau Ernst Thälmann umbenannt, im Oktober die Maschinenfabrik R. Wolf in Schwermaschinenbau Karl Liebknecht und wenig später die Eisengießerei Otto Gruson in Schwermaschinenbau Georgi Dimitroff, die Maschinenfabrik Mackensen in Schwermaschinenbau 7. Oktober und das Gerätewerk Schäffer & Budenberg in Armaturen- und Messgerätewerk Karl Marx. Zu den Werksbezeichnungen passte der Neubau eines repräsentativen Kulturhauses im Süden des Stadtzentrums durch die Großbetriebe der Stadt und dessen Eröffnung als Ernst-Thälmann-Kulturhaus im Jahre 1951. Die Namensgebung wies auf eine besondere Bedeutung hin, die dem früheren KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann (1886–1944) zugedacht war. Das Kulturhaus diente in der Folgezeit auch zu repräsentativen Empfängen führender Repräsentanten der DDR und von Gästen aus dem sich bildenden Ostblock. Oberbürgermeister Daub empfing hier am 3. September den DDR-Staatspräsidenten Wilhelm Pieck (1876–1960). Später waren hier auch Walter Ulbricht, Nikita Chruschtschow (1894–1971) und

15 Heute Universitätsplatz. 16 STAM, Rep. 41/723, Bl. 45ff. 17 Vgl. Tullner, Mathias: Straßennamen in Magdeburg in der Zeit der Weimarer Republik, in: Ursula Föllner/Saskia Luther/Jörn Weinert (Hg.), Straßennamen und Zeitgeist. Kontinuität und Wandel am Beispiel Magdeburgs, Halle (Saale) 2011, S. 77.

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andere zu Gast. Das Kulturhaus entwickelte sich aber auch darüber hinaus zu einem tatsächlichen Mittelpunkt des Kulturlebens in Magdeburg. Die Änderungen von Namen waren äußerliche Zeichen der fortschreitenden Stalinisierung in Magdeburg. Im Sommer 1952 erläuterte Oberbürgermeister Philipp Daub in der Stadtverordnetenversammlung und anderswo ausführlich die Beschlüsse der 2. Parteikonferenz der SED vom 9.–12. Juli 1952, in deren Rahmen Walter Ulbricht den ‚Aufbau der Grundlagen des Sozialismus‘ in der DDR proklamiert hatte, und nahm deren Umsetzung in der Stadt in Angriff.18 Auch Daub hielt eine „territoriale Neugliederung als Voraussetzung für eine weitere Demokratisierung der Arbeitsweise des Staatsapparates“ für erforderlich.19 Diese hatte zum Ziel, bessere Bedingungen für die Einflussnahme der SED zu schaffen. Zu den Maßnahmen in der Stadt gehörte die Eingemeindung des Ortes Groß Ottersleben, die am 25. Juli 1952 erfolgte. Die Stadt Magdeburg erfuhr im Jahre 1952 eine erhebliche Aufwertung im Zusammenhang mit der Auflösung der Länder der DDR, indem sie zu einer der neuen Bezirkshauptstädte erhoben wurde.20 Der Bezirk Magdeburg war nach Potsdam der flächenmäßig zweitgrößte der DDR und verfügte über die längste Grenze zur Bundesrepublik Deutschland. Die neue Stellung der Stadt und ihres Oberbürgermeisters würdigten die höchsten Repräsentanten des Bezirkes, Alois Pisnik als 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED und Josef Hegen als Vorsitzender des Rates des Bezirkes, bei der konstituierenden Sitzung der Stadtverordnetenversammlung nach deren ‚Neuwahl‘ mittels Einheitslisten am 29. Januar 1953. Philipp Daub wurde während dieser Versammlung als Oberbürgermeister wiedergewählt.21 Pisnik und Hegen, der als Innenminister des nunmehr aufgelösten Landes Sachsen-Anhalt Daub 1950 in sein Amt eingeführt hatte, zeigten sich mit dessen bisheriger Amtsführung zufrieden. Anfang des Jahres 1953 ließ die SED-Führung für den Neuaufbau der zerstörten Stadt als sozialistische Großstadt ein Konzept ausarbeiten, welches die Aufbaupläne unter Oberbürgermeister Eberhardt und Stadtbaurat Koß ersetzte. Die Stadtverwaltung unter Philipp Daub ordnete sich dabei widerspruchslos den Vorstellungen der SED-Führung unter. Am 24. Februar 1953 übersandte der stellvertretende Ministerpräsident der DDR, Lothar Bolz (1903–1986), Oberbürgermeister Philipp Daub die Grundakte der städtebaulichen Planung für Magdeburg, die auf einem am 28. August 1952 durch die Regierung der DDR bestätigten Aufbauplan basierte. Die Übergabe erfolgte vertraulich und somit ohne die Stadtverordnetenversammlung 18 Vgl. Weber, Hermann: Geschichte der DDR, München 1999, S. 61. 19 STAM, Rep. 18/4, St. 10, Bl. 92f. 20 Vgl. Tullner, Mathias: Zur Geschichte des Landes Sachsen-Anhalt, in: Roger Stöcker/Maik Reichel (Hg.), Sachsen-Anhalt, eine politische Landeskunde, Halle (Saale) 2019, S. 23. 21 Vgl. STAM, Rep. 18/4, St. 11, Bl. 1.

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oder gar die Öffentlichkeit zu informieren. In der umfangreichen Dokumentation waren nicht nur wesentliche Grundsätze und Linienführungen der baulichen Stadtentwicklung festgelegt, sondern auch konkrete Planungsunterlagen vorgegeben.22 Damit war der Wiederaufbau der zerstörten Stadt im Sinne der SED ‚von oben‘ festgelegt. Der übersandte Beschluss enthielt den Hinweis, dass dem Aufbauplan die städtebaulichen Erfahrungen der Sowjetunion und der Berliner Stalinallee zugrunde liegen. Demnach sollte ein zentraler Platz zwischen Breitem Weg und der Elbe südlich des Alten Marktes errichtet werden. Weitere Vorgaben betrafen die Entwicklung der Elbinsel zum Kulturpark, den Bau einer Uferstraße an der Elbe und andere Festlegungen der innerstädtischen Gestaltung. Die Stadt sollte eine Einwohnerzahl von 350.000 erreichen. Nach diesen Plänen begann nunmehr der Aufbau der ‚sozialistischen‘ Stadt. Als äußere Zeichen für den Wandel setzte die Stadtverwaltung unter Philipp Daub ihre Umbenennungsaktionen fort. Zum ‚Aufbau des Sozialismus‘ sollte auch der neue Name Karl-Marx-Straße für die traditionsreichste Straße der Stadt, den Breiten Weg, beitragen. Die Namensgebung erfolgte am 5. Mai 1953 im Zusammenhang mit dem durch die SED ausgerufenen Karl-Marx-Jahr 1953.23 Es handelte sich dabei um den größtmöglichen Traditionsbruch im Zusammenhang mit den Umbenennungen von Straßen und Plätzen in Magdeburg. Dies führte bis in Kreise der SED hinein zu Verwunderung und Betroffenheit, ohne dass es angesichts der allgemeinen Atmosphäre des ideologischen Druckes und drohender Repressionen zu offenen Widerstandsaktionen kam. Allerdings sprach sich die LDP-Fraktion der Stadtverordnetenversammlung gegen weitere derartige Pläne der SED aus, zu denen die Umbenennung des Editha-Ringes in Jenny-Marx-Ring gehörte. Tatsächlich blieb neben dem Editha-Ring auch der Adelheid-Ring erhalten, während der damit zusammenhängende Kaiser-Otto-Ring seinen Namen wegen des beigefügten Kaisertitels verlor. Am 1. Mai 1953 setzte Philipp Daub mit der Grundsteinlegung für die ‚Ladenstraße‘ im Stadtzentrum ein weiteres Signal zur Entwicklung Magdeburgs zur ‚sozialistischen Großstadt‘. Walter Ulbricht kam persönlich nach Magdeburg, um den Grundstein zum zentralen Platz zu legen. Dafür wurde der 10. Mai, das Datum der Zerstörung von 1631, ausgewählt. Allerdings war die Magdeburger Bevölkerung vom sozialistischen Aufbau wenig begeistert. Distanz und Unmut vor allem der in der Stadt konzentrierten Arbeiterschaft nahmen zum Jahresende wegen des zunehmenden Arbeitsdrucks in den Betrieben und sozialer Kürzungen wie beim Weihnachtsgeld zu und mündeten in Streiks und anderen Protestaktionen. Das Zentralkomitee der SED befasste 22 Die vollständige ‚Grundakte‘ einschließlich eines Erläuterungsberichtes und des Anschreibens des stellvertretenden Ministerpräsidenten befindet sich im Stadtarchiv Magdeburg mit der Signatur Rep. 41/2825. 23 Vgl. ebd., Rep. 41, 724, Bl. 93. Der 5.5.1953 war zudem der 135. Geburtstag von Karl Marx.

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sich im Dezember 1952 mit den Vorgängen in Magdeburg. Die Stadt galt ihr als „Zentrum der Feindarbeit“. Auch der Hinweis auf fortbestehende Tendenzen des ‚Sozialdemokratismus‘ fehlte nicht.24 Ulbricht sah sich deshalb genötigt, mit Hermann Axen (1916–1992) einen Spitzenfunktionär nach Magdeburg zu entsenden, der die Situation untersuchen sollte.25 Die Axen-Mission wollte in Ignoranz und Verkennung der tatsächlichen Vorgänge Schwächen der politisch-ideologischen Tätigkeit bei Magdeburger SED-Funktionären als Ursachen der beunruhigenden Vorgänge erkennen. Obwohl sich die Stoßrichtung der Kritik in erster Linie gegen die SED-Funktionäre der Stadtleitung und der Betriebe richtete, trafen die Vorwürfe indirekt auch Philipp Daub als den obersten Repräsentanten der Stadt. Seit April 1953 nahm wie in der ganzen DDR auch in Magdeburg die Unzufriedenheit angesichts sozialer Verschlechterungen und schließlich der Erhöhung der Arbeitsnormen zu. In diese sich zuspitzende Situation platzte die Nachricht vom Streik der Berliner Bauarbeiter der Stalinallee am 16. Juni 1953. Am 17. Juni brachte der Volksaufstand in Magdeburg die Herrschaft der SED vorübergehend zum Einsturz. Ausgehend vom Thälmann-Werk zogen mehrere Demonstrationszüge der streikenden Arbeiter in die Innenstadt. Die Aktionen der Arbeiter waren nicht miteinander abgestimmt und verliefen zunächst weitgehend friedlich. Losungen der SED und ihr nahestehender Organisationen wurden entfernt. Einige Straßenumbenennungen sind von den Demonstranten symbolisch rückgängig gemacht worden. So wurden die Karl-Marx-Straße wieder zum Breiten Weg und die Straße der deutsch-sowjetischen Freundschaft wieder zur Schönebecker Straße. In Magdeburg entwickelte sich zwar eines der Zentren des Volksaufstandes in der DDR, die Aktionen aber blieben unkoordiniert. Am Alten Markt versammelten sich vor dem Rathaus wie an anderen Punkten der Stadt Demonstranten. Eine Abordnung verlangte von Oberbürgermeister Philipp Daub zunächst, er solle zu den Demonstranten sprechen. Daub war dazu bereit, wurde aber am Reden gehindert.26 Stattdessen empfing er eine zehnköpfige Delegation im Rathaus und nahm deren Forderungen entgegen. Die Abordnung der Demonstranten verlangte zunächst die Bestrafung der Polizisten, die am Vormittag auf Demonstranten vor dem Polizeipräsidium geschossen hatten, sowie Preissenkungen, aber auch freie Wahlen sowie Presse- und Nachrichtenfreiheit und schließlich den Rücktritt Walter Ulbrichts.27 Daub versprach der Abordnung, die Forderungen der Stadtverord-

24 Vgl. Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Magdeburg [im Folgenden: LASA MD], IV/5/1, Nr. 18, Bl. 185; Grünwald, Karin: Magdeburg 17. Juni 1953, in: Matthias Puhle (Hg.), Magdeburg 17. Juni 1953, S. 36. 25 Vgl. Asmus: 1200 Jahre Magdeburg, S. 314f. 26 Der Vorgang wird ausführlich auch von Daub selbst abgebildet in: LASA MD, P 13, IV/2/2051, Bl. 19ff. 27 Vgl. ebd., Bl. 18; Grünwald, Magdeburg 17. Juni, S. 59.

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netenversammlung vorzulegen. Einen Tag später empfing er Hafenarbeiter der Magdeburger Binnenhäfen, die ebenfalls einen Forderungskatalog ähnlich dem der Demonstranten des Vortages vorlegten.28 Tatsächlich organisierte Daub gemäß seiner Zusicherung eine öffentliche Versammlung der Stadtverordneten am 9. Juli, wo er Fehler der SED und der Regierung einräumte und sich dafür einsetzte, Demonstranten des 17. Juni nicht zu bestrafen.29 Doch Daub geriet ebenso wie andere SED-Funktionäre der Stadt und des Bezirkes Magdeburg in die Kritik, nachdem der Volksaufstand durch sowjetische Truppen niedergeschlagen worden war und sich im Zentralkomitee der SED Walter Ulbricht durchgesetzt hatte. Er verlor jedoch nicht, wie der Vorsitzende des Rates des Bezirkes, Josef Hegen, Polizeipräsident Paulsen und der SED-Stadtvorsitzende Fischer sein Amt. Später versuchte er, sein Zurückweichen zu rechtfertigen30 und übernahm auch bereitwillig die Sprachregelung der SED-Führung hinsichtlich des Volksaufstandes als ‚faschistischen Putschversuch‘. In diesem Sinne erklärte er vor den Stadtverordneten: „Ein faschistischer Provokateur stand mit fletschenden Zähnen vor mir und sagte: Sie sind ein schöner Oberbürgermeister der Stadt Magdeburg. Man zweifelt, dass Sie ein Deutscher sind, sonst wären Sie heute mit hier an der Spitze.“31 Die Ereignisse des 17. Juni 1953 in Magdeburg stigmatisierten die Stadt in der Wahrnehmung der SED-Führung als unsicheren Teil ihres Machtbereiches. Dazu trug nicht nur die als unsicher beurteilte Haltung der SED-Führung des Bezirkes und der Stadt bei, sondern auch die Rolle von Oberbürgermeister Philipp Daub während des Volksaufstandes. Ihm wurde vor allem vorgeworfen, dass er mit den Demonstranten im Rathaus verhandelt und in diesem Zusammenhang Zugeständnisse gemacht hatte. Die SED-Führung mit Walter Ulbricht an der Spitze warf ihren Magdeburger Repräsentanten neben ‚Kapitulantentum‘ abermals fortwirkende Einflüsse des ‚Sozialdemokratismus‘ vor.32 Philipp Daub hatte sich mit seinem Verhalten als Oberbürgermeister der Stadt am 17. Juni zwar die Kritik von Ulbrichts Zentralkomitee zugezogen, er war aber in den entscheidenden Stunden weder abgetaucht oder hatte gar seine Stellung verlassen. Dies und seine selbstkritischen Stellungnahmen erhielten ihm sein Amt in Magdeburg. Seine Position innerhalb der SED jedoch war geschwächt. Andererseits ist aber auch zu bemerken, dass die Demonstranten des

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Vgl. LASA MD, P 13, IV/2/2051, Bl. 75. Vgl. STAM, Rep. 18/4, St. 12, unpag. Vgl. ebd., P 13, IV/2/1/4, Bl. 28f. STAM, Rep. 18/4, St. 12, unpag. In der ‚Entschließung‘ der 15. Tagung des Zentralkomitees der SED vom 24.–26. Juli, die sich mit dem 17. Juni befasste, wurde Magdeburg an erster Stelle genannt, wo es ‚illegale Organisationen von ehemaligen SPD-Mitgliedern‘ gegeben haben soll, die dem ‚Sozialdemokratismus‘ anhingen. Vgl. Volksstimme Magdeburg vom 28. Juli 1953.

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17. Juni Daub als Oberbürgermeister nicht in Frage stellten, was auf eine gewisse Akzeptanz seiner Person und seiner Amtsführung hindeutete. Die Vorgänge des 17. Juni 1953 hatten insgesamt zur Folge, dass Stadt und Bezirk Magdeburg noch mehr mit Distanz und Misstrauen von der SED-Führung bedacht wurden.33 Dies wirkte sich noch längerfristig negativ auf ihre Stellung im zentralistischen SED-Staat aus. Der Volksaufstand war zwar durch die sowjetische Besatzungsmacht niedergeschlagen worden, aber die SED musste doch insbesondere sozialpolitische Zugeständnisse an die Bevölkerung machen. Darunter waren einige Verbesserungen der Versorgungslage, die dennoch nicht zufriedenstellen konnten. Das Problem der Versorgung mit Lebensmitteln und Industriegütern veranlasste den Stadtrat unter Philipp Daub, ein während der gesamten DDR-Zeit latent bestehendes oder gefühltes Problem der Bevorzugung der Stadt und des Bezirkes Halle gegenüber Magdeburg durch die SED-Führung zu untersuchen. Man beauftragte dazu eine geeignete Person (‚Frau Pfeiffer‘), die nach Halle fuhr, um dort das Warenangebot zu untersuchen und einen Vergleich mit Magdeburg anzustellen. Am 5. August 1953 stellte der Stadtrat unter Vorsitz des Oberbürgermeisters fest: „Der Vergleich hat bewiesen, dass Magdeburg im Verhältnis zu Halle nicht entsprechend seinen Bedürfnissen und seiner Bedeutung bei der Verteilung von Waren berücksichtigt wird.“34 Die Beschwerde der Stadt bei der DDR-Regierung blieb ohne Reaktion. Für die Stadt Magdeburg war die Verbesserung der Wohnsituation ihrer Einwohner ein besonders dringendes Erfordernis. Im Gegensatz zur unmittelbaren Nachkriegszeit und den Plänen unter Oberbürgermeister Rudolf Eberhard setzte die Daub-Administration nicht auf die Wiederherstellung beziehungsweise Reparatur von Altbauten, sondern auf den Neubau von Wohnungen. Nach dem 17. Juni konnten ‚Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften‘ gegründet werden. Damit knüpfte man an eine große Tradition der Wohnungsbaugenossenschaften in der Stadt Magdeburg an. Die Bereitschaft der Magdeburger, in verschiedener Weise an der Enttrümmerung und am Neuaufbau ihrer Stadt mitzuwirken, war relativ stark ausgeprägt. Ende 1953 erreichte sie mit der Übergabe des Hauses Immer bereit am Breiten Weg (damals Karl-Marx-Straße) einen Höhepunkt. Das repräsentative Wohnhaus mit Ladenzeile im Erdgeschoß galt als die erste durch freiwillige Arbeit erbaute großstädtische Wohnanlage. Am 21. Dezember 1953 zogen 20 Familien der freiwilligen Aufbauhelfer ein.35 Im Stadtzentrum folgte die Stadtverwaltung

33 Auch der erste Sekretär der Bezirksleitung der SED, Alois Pisnik, entsprach mit seinen Schlussfolgerungen aus dem Volksaufstand nicht vollständig der Parteilinie Ulbrichts. Pisnik hatte in einem langen Referat während der 5. Bezirksleitungssitzung der SED am 30. Juni ausführlich zu den Ereignissen des 17. Juni Stellung bezogen. Vgl. LASA MD, P 13, IV/2/2052, Bl. 4ff. 34 STAM, Rep. 18/4, Ra 26, unpag. 35 Vgl. ebd.

Der Saarländer Philipp Daub als Oberbürgermeister von Magdeburg

unter Philipp Daub weiter der Grundakte der städtebaulichen Planung der DDRRegierung. Das bedeutete auch, den 1950 vorgesehenen Neubau des Rathauses an der West-Ost-Achse der Innenstadt aufzugeben. Eine wesentlich größere Brisanz aber wies das Schicksal der zwar von Zerstörungen betroffenen, aber durchaus wieder herzurichtenden Ulrichskirche im Zentrum des entstehenden zentralen Platzes und der bereits wieder aufgebauten Heiliggeistkirche auf. Die Nachricht vom unmittelbar bevorstehenden Abriss der für die Stadtgeschichte und die Identität Magdeburgs bedeutenden Ulrichskirche erregte die Stadt weit über kirchliche Kreise hinaus. Es kam zu heftigen Protesten, die jedoch von der herrschenden SED und ihren Repräsentanten in der Stadtverwaltung unter Philipp Daub ignoriert wurden und die Sprengung und Beseitigung der für das Stadtbild prägenden innerstädtischen Kirche zugunsten eines als sozialistisch verstandenen innerstädtischen Zentrums und Aufmarschplatzes im April 1953 nicht verhindern konnten. Im August 1959 wurde die wiederaufgebaute und von der evangelischen Kirche genutzte Heiliggeistkirche gesprengt und wich der sozialistischen Bebauung der Südostseite des zentralen Platzes. Die Beseitigung der beiden Gotteshäuser im Stadtzentrum war auch Teil des ideologischen Kampfes der SED gegen die Kirchen. Andererseits tat sich die SED jedoch schwer, ihre eigene Ideologie in der Bevölkerung zu verankern. Sie propagierte ein holzschnittartig vergröbertes Geschichtsbild, welches die kommunistische Arbeiterbewegung in den Mittelpunkt stellte. Das wies in Magdeburg, einem überregionalen Zentrum der SPD, noch den offensichtlichen Widerspruch auf, dass die hinsichtlich der Arbeiterbewegung dominante sozialdemokratische Geschichte zugunsten einer teilweise grotesken Überhöhung kommunistischer Aktivitäten verschwiegen und verzerrt wurde. Zu den Folgen des 17. Juni gehörte, dass der Rat der Stadt neue Wege suchte, um mit populären Themen einen größeren Einfluss auf die Bewohner zu erlangen. Dazu zählte der Umgang mit der Stadtgeschichte. Bereits im Zuge der Enttrümmerung der Stadt hatten Freizeithistoriker um den Heimatforscher Werner Priegnitz (1896–1979) im Auftrag des Oberbürgermeisters Rudolf Eberhard damit begonnen, im Stadtzentrum mittelalterliche und frühneuzeitliche Überreste festzustellen und zu bergen. Seit 1948 war unter Leitung des Archäologen Dr. Ernst Nickel (1902–1989) die „Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der Vor- und Frühgeschichte Magdeburgs“ tätig. Doch solche Vorgänge erreichten nur einen geringen Teil der Menschen der Nachkriegszeit. Nach dem 17. Juni bemühte sich der Rat der Stadt unter Philipp Daub um eine Ausweitung und thematische Öffnung der Stadtgeschichte. Im Rahmen des „Nationalen Aufbauwerkes“ beschloss er am 5. August 1953, eine Schriftenreihe zur Stadtgeschichte herauszugeben, die über die Geschichte der Arbeiterbewegung hinausgehen sollte. Zudem veranstaltete man eine Otto von Guericke Woche.36

36 Vgl. ebd.

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Magdeburg war aus verschiedenen Gründen eine Stadt ohne Hochschulen geblieben.37 Bemühungen um eine Ansiedlung nach 1945 scheiterten im neu gegründeten Land Sachsen-Anhalt am Widerstand der Landesregierung unter dem Einfluss der Universität der damaligen Landeshauptstadt Halle. Mit der II. Hochschulreform der DDR im Jahre 1951 verbesserten sich jedoch infolge der fortschreitenden Zentralisierung die Aussichten Magdeburgs und wurden durch die Auflösung der Länder im Jahre 1952 weiter begünstigt. Auf Beschluss der Regierung der DDR erfolgte am 1. September 1953 die Gründung der Hochschule für Schwermaschinenbau in der Bezirksstadt Magdeburg.38 Kurios war dabei, dass es weder einen Gründungsakt noch eine Gründungsurkunde gab. Der Rat der Stadt und sein Oberbürgermeister widmeten der Hochschulgründung, der im September 1954 noch die Gründung einer Medizinischen Akademie folgte, zunächst wenig Aufmerksamkeit. Während im Sudenburger Krankenhaus, dem Standort der Medizinischen Akademie, einigermaßen erträgliche Bedingungen für den Auftrag der Akademie vorlagen, befand sich die Hochschule für Schwermaschinenbau in einer schwierigen Situation ohne einen festen Standort als Gast in Einrichtungen der Ingenieurschule für Schwermaschinenbau am Krökentor. Diese Ingenieurschule war nicht Basis der Hochschulgründung geworden, weil sich deren Studenten und Mitarbeiter massiv an den Ereignissen des 17. Juni beteiligt hatten.39 Oberbürgermeister Daub und seine Stadtverwaltung waren in die Hochschulgründungen kaum einbezogen und auch deshalb gegenüber den damit zusammenhängenden Problemen kaum aufgeschlossen. Es dauerte einige Zeit, bis der Oberbürgermeister und sein Rat die Bedeutung der Hochschulen für die Stadt erkannten und deren Entwicklung förderten. Ein bemerkenswertes Detail war dabei, dass sich Oberbürgermeister Philipp Daub einige Zeit weigerte, dem Rektor der Hochschule für Schwermaschinenbau eine Amtskette anfertigen zu lassen.40 Mitte der 1950er Jahre unternahm der Rat der Stadt unter Daub spürbare Anstrengungen, um Magdeburg im Sinne einer ‚sozialistischen Großstadt‘ zu entwickeln und aus der Kritik der SED-Führung wegen der Ereignisse des 17. Juni 1953 zu kommen. Der Oberbürgermeister selbst setzte sich für verschiedene Projekte ein, mit denen die Bevölkerung der Stadt für deren weitere Entwicklung gewonnen werden sollte. Dazu zählten der Bau einer Pioniereisenbahn auf der Rotehorn-Insel

37 Vgl. Tullner, Mathias/Christopeit, Gerald: Magdeburg als Hochschulstandort. Der Weg zur Ottovon-Guericke-Universität Magdeburg, in: Matthias Puhle (Hg.), Guerickes Erben. 50 Jahre Hochschulstandort Magdeburg – 10 Jahre Otto-von-Guericke-Universität, Magdeburg 2003, S. 11ff. 38 Vgl. Blumenauer, Horst: Von der Hochschule für Schwermaschinenbau zur Technischen Hochschule „Otto von Guericke“, in: Klaus Pollmann (Hg.), Die Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Festschrift, Halle (Saale) 2003, S. 15ff. 39 Vgl. LASA MD, P 13, IV/2/2051, Bl. 16/50. 40 Vgl. Interview Gießmann, in: Tullner/Christopeit: Magdeburg als Hochschulstandort, S. 29.

Der Saarländer Philipp Daub als Oberbürgermeister von Magdeburg

und eines großen Sportstadions im Osten der Stadt.41 Vor allem der Stadionbau fand eine erhebliche Resonanz in der Magdeburger Bevölkerung, was sich auch durch die bemerkenswerte freiwillige Arbeit in diesem Zusammenhang zeigte. In der ersten Jahreshälfte 1955 war der Bau so weit fortgeschritten, dass seine Fertigstellung bevorstand. Plötzlich aber wurden zugesagte Toto-Lotto-Mittel auf Veranlassung der SED-Sportführung blockiert. Das geschah vor allem deshalb, weil gleichzeitig ein für die ganze DDR repräsentatives Zentralstadion im nicht allzu weit entfernten Leipzig im Bau war und in einem Stadion für 40.000 Zuschauer in Magdeburg eine unerwünschte Konkurrenz gesehen wurde. Philipp Daub wandte sich wegen der Blockade der Lotto-Mittel direkt an Walter Ulbricht. Der aber ließ Daubs Bitte unwirsch zurückweisen.42 Auch in diesem Zusammenhang tauchte der Vorwurf auf, Magdeburg sei ein Hort der ‚verräterischen Sozialdemokratie‘, in der der Geist von Ernst Reuter und Erich Ollenhauer noch umginge. Daub nahm die Zurückweisung Ulbrichts in der Stadionfrage hin und veranlasste die Fertigstellung des Projektes mit eigenen städtischen Mitteln. Das Stadion konnte verzögert am 18. September 1955 eröffnet werden. Der weitere Aufbau der Stadt vollzog sich unter den Bedingungen der sozialistischen Mangelwirtschaft und mit verschiedenen Änderungen und Modifizierungen nach dem Konzept der ‚sozialistischen Großstadt‘. Wegen der anhaltenden Wohnungsnot blieb der Wohnungsbau im Mittelpunkt der Entwicklung. Seit Mitte der 1950er Jahre erfolgte er in Plattenbauweise. Die Platten wurden zunächst im Betonwerk am Schroteplatz hergestellt. Auf enttrümmerten Flächen des Stadtfeldes, der Neuen und Alten Neustadt, darunter am Nordpark, entstanden zahlreiche Wohnbauten. Die in Plattenbauweise ausgeführte Siedlung am Nordpark wurde als „erster sozialistischer Wohnkomplex“ bezeichnet.43 Die Stadt Magdeburg mit ihrem Oberbürgermeister Philipp Daub schien sich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre aus dem Verdikt der SED-Führung lösen zu können. Im Jahre 1957 besuchte Walter Ulbricht mit dem sowjetischen Partei- und Staatschef Nikita Chruschtschow die Stadt. Ulbricht bescheinigte ihr dabei „als westlichste Großstadt des sozialistischen Lagers“ eine große Bedeutung.44 Allerdings blieb trotz dieser Würdigung die Benachteiligung der Stadt und des Bezirkes durch die zentralistische Politik der DDR weiter bestehen.45 Das hielt die von Philipp Daub geführte Stadtverwaltung nicht davon ab, nach den Erwartungen

41 Vgl. STAM, Rep. 41/433, unpag. 42 Vgl. Lübeck, Wilfried: Ulbricht verweigerte Zuschuss für Bau des Grube-Stadions, in: Volksstimme Magdeburg vom 18. Januar 2003. 43 Vgl. Asmus: 1200 Jahre Magdeburg, S. 407. 44 Volksstimme vom 11. August 1957, S. 1. 45 Vgl. Seegers, Lu: Kulturelles Leben in Magdeburg nach 1945, in: Puhle/Petsch, Magdeburg. Die Geschichte der Stadt, S. 896f.

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Ulbrichts und der SED-Führung, eine ‚sozialistischen Stadt‘ weiter zu gestalten. Zu den schwierigen Problemen gehörte weiterhin der Umgang mit Kirchenbauten im Stadtzentrum. In dieser Zeit fielen Entscheidungen zum Abriss der Heiliggeistkirche, zur Sicherung der Johanniskirche, zum Wiederaufbau des Klosters Unser Lieben Frauen, dem Abbruch der Ruine der Nikolaikirche (Zeughaus), zum Wiederaufbaus der Katharinenkirche und des zerstörten Gebäudes des Konsistoriums und andere.46 Die Grundhaltung der Daub-Administration war dabei kirchenfeindlich im Sinne der SED-Politik, obwohl sich die Stadtverwaltung in einzelnen Fragen durchaus zu Kompromissen bereitfand. Eine für das Stadtbild wesentliche Entscheidung war der Abriss der Ruine des repräsentativen Stadttheaters in der Nähe des Hauptbahnhofes, den Philipp Daub auf Empfehlung seines Stadtarchitekten beschließen ließ.47 Andererseits erfolgte 1956 eine auch von Daub vertretene Entscheidung über den Neubau eines höheren Ansprüchen genügenden modernen Hotels. Dafür gab es Pläne für ein Elbe-Hotel in der Nähe des Stromes. Charakteristisch für die Politik Daubs war, dass man zuerst die Billigung der DDR-Regierung einholte, um statt des Elbehotels ein Bahnhofshotel zu errichten, da in Bahnhofsnähe die Bedingungen für einen solchen Neubau wesentlich günstiger waren.48 Das Bahnhofshotel wurde schließlich im Jahre 1963 als ‚Hotel International‘ in der Otto-von-Guericke-Straße unweit des Hauptbahnhofes eröffnet. Zum Ende der 1950er Jahre schienen in Magdeburg aus der Sicht der SED die großen Probleme der Durchsetzung ihrer Politik zu ihren Gunsten entschieden. Den ‚Sozialdemokratismus‘ hielt man für überwunden. Durch den politischen Druck waren die Sozialdemokraten entweder nach dem Westen abgedrängt oder mundtot gemacht worden und schienen keine weitere Gefahr mehr zu bilden. In der Auseinandersetzung mit den Kirchen waren durch die Beseitigung der Kirchen in der Innenstadt sowie durch den Wiederaufbau unter anderem des Domes Fakten geschaffen worden. Der Druck auf die Kirchen war jedoch nach wie vor groß. Eines der Konfliktfelder bestand in dieser Zeit in der mit erheblichem ideologischen Druck verbundenen Durchsetzung der Jugendweihe im Sinne der SED gegen die Konfirmation der Jugendlichen in der Evangelischen Kirche. Solche Probleme betrafen jedoch die DDR insgesamt und waren nicht spezifisch für Magdeburg. Das

46 Vgl. STAM, Rep. 41/1941, Bl. 16ff.; Die Katharinenkirche sollte als Ersatz für die Heiliggeistkirche aufgebaut werden. Die Wiederherstellung aber unterblieb, weil keine Baukapazitäten freigegeben wurden. Die Katharinenkirche ist schließlich entgegen der Festlegungen in den 60er Jahren abgerissen worden. Dabei gab es die Besonderheit, dass zunächst der Turm der Kirche erhalten blieb und erst nach der Errichtung der zehngeschossigen Bauten im Nordabschnitt der Karl-Marx-Straße abgetragen wurde. Vgl. ebd., Bl. 37. 47 Vgl. ebd., Bl. 1. 48 Vgl. ebd., Rep. 41/338, unpag.

Der Saarländer Philipp Daub als Oberbürgermeister von Magdeburg

traf auch für die Umwandlung des privaten Handwerks in ‚Produktionsgenossenschaften des Handwerks‘ (PGH), die ‚staatliche Beteiligung‘ an noch bestehenden kleineren privaten Unternehmen sowie in den Vorstädten die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft zu, die um 1960 weitgehend durchgesetzt waren. Das für die Lage in der DDR allgemeine Problem der Flucht in die Bundesrepublik war ebenfalls nicht spezifisch für die Elbestadt, obwohl es die Besonderheit aufwies, dass die grenznahe Lage der Stadt und deren traditionelle Verbindungen zu angrenzenden braunschweigischen und hannoverschen Gebieten eine Rolle spielten und deshalb die Stadt Magdeburg eine besonders große Fluchtbewegung zu verzeichnen hatte.49 Im Stadtzentrum waren Konturen der geplanten ‚sozialistischen‘ Stadt entstanden. Der riesige leere Raum zwischen Hauptbahnhof und Elbe war teilweise als Wilhelm-Pieck-Allee entsprechend der 1953 von der DDR-Regierung übersandten Grundakte der städtebaulichen Planung bebaut. Dabei ist zu bemerken, dass die hier errichteten innerstädtischen Wohnungen großzügig und modern waren und sich deshalb einer großen Beliebtheit erfreuten. Die Mission des Philipp Daub, sich als Oberbürgermeister in Magdeburg im Sinne der SED zu bewähren, konnte trotz der Kritik an seinem Verhalten während des 17. Juni 1953 und anderer Vorbehalte seitens der Parteiführung als insgesamt erfüllt angesehen werden. Daub hatte sich innerhalb der städtischen SED als anerkannte Führungspersönlichkeit durchgesetzt. Als Persönlichkeit und Politiker überragte er die anderen lokalen SED-Repräsentanten. Er hatte mit seinem Wirken die Kommunalpolitik der SED in Magdeburg durchgesetzt und in deren Sinne das Personal ausgetauscht. Mit seinem Wirken verband sich der allerdings unvollkommen gebliebene Aufbau Magdeburgs als ‚sozialistische‘ Stadt. Nach Daub wurde 1978 eine Magdeburger Schule benannt und eine Straße erhielt seinen Namen, die beide nach 1990 abgelegt wurden.50 Im September 1961 fanden Kommunalwahlen statt, bei denen Philipp Daub nicht mehr kandidierte, weil er von der SED-Führung in ein anderes Amt wechseln sollte. Sein Nachfolger wurde der bisherige Direktor der Ingenieurschule für Wasserwirtschaft, Friedrich Sonnemann (1922–2014). Der Saarländer Philipp Daub war in seiner Tätigkeit als Oberbürgermeister von 1950 bis 1961 kein ‚Magdeburger‘ geworden. Die Bilanz seines Wirkens fällt durchwachsen aus. Einerseits hat er die Erwartungen der SED-Führung, in der schwer zerstörten Stadt den Kurs der Partei durchzusetzen und eine ‚sozialistische‘ Entwicklung einzuleiten, erfüllt. Andererseits ist mit ihm an der Spitze die Stadt

49 Helmut Asmus nennt für die aus Magdeburg insgesamt in die Westzonen bzw. die Bundesrepublik Geflüchteten die Zahl von 70.000. Vgl. Asmus: 1200 Jahre Magdeburg, S. 390. 50 Vgl. STAM, Rep. 41/433, unpag.

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Magdeburg unter den Bezirkshauptstädten der DDR in eine untergeordnete Rolle hinsichtlich der Förderung durch die Regierung und SED-Führung in deren zentralistischem System geraten. Philipp Daub trat als Oberbürgermeister in bestimmten Fragen durchaus selbstbewusst gegenüber der SED-Führung auf, seine Möglichkeiten aber waren durch seine allgemeine Bewährungssituation, die ihn nach Magdeburg verschlagen hatte, und die Kritik der SED-Führung an seinem Verhalten am 17. Juni 1953 begrenzt. Im Jahre 1961 übertrug die SED-Führung dem saarländischen Kommunisten mit dem Vorsitz der neu gebildeten „Liga für Völkerfreundschaft“ der DDR ein zentrales Amt.51

51 Die ‚Liga für Völkerfreundschaft‘ als Dachorganisation der in der DDR bestehenden nationalen Freundschaftsgesellschaften wurde am 15. Dezember 1961 in Berlin gegründet.

II. Körper

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Eine Kontroverse um die öffentliche Sektion weiblicher und männlicher Leichen an der Universität Wittenberg. Johannes Jessenius (1566–1621) contra Ägidius Hunnius d. Ä. (1550–1603)

Vorbemerkung Die Jubilarin hat mit einem großen Teil ihres wissenschaftlichen Werkes in einem nicht unwesentlichen Umfang auch Fragen der Medizin- und der Rechtsgeschichte berührt. Stellvertretend für viele Beispiele sei auf ihre grundlegende Monographie zur Kulturgeschichte der Geburt1 und auf etliche Beiträge zur Devianz von Frauen2 hingewiesen. In dieses übergreifende thematische Feld fällt der Gegenstand der folgenden Ausführungen. Sie knüpfen an ein Ereignis des Jahres 1599 an. An einem nicht näher bestimmbaren Tag dieses Jahres nahm Johannes Jessenius, einer der namhaften Medizinprofessoren an der Universität Wittenberg, die öffentliche Sektion einer Frauenleiche vor. Diese fand vor dem kurfürstlichen Schloss zu Wittenberg („allhier vor der burgh“)3 statt. Dadurch zog er die Kritik seines Kollegen an der Theologischen Fakultät, Ägidius Hunnius d. Ä., auf sich und reagierte darauf. Die zu dieser Auseinandersetzung erhaltenen Quellen gewähren einen kleinen Einblick in das dem Erkenntnisfortschritt zugewandte Verständnis eines angesehenen Anatomen einerseits und in die Bedenken eines prominenten Vertreters der lutherischen Orthodoxie andererseits in der Zeit um 1600.

1 Labouvie, Eva: Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt, 2. Aufl., Köln/Weimar/Wien 2000 (Erstauflage 1998). 2 Z. B. Labouvie, Eva: Kindsmord in der Frühen Neuzeit. Spurensuche zwischen Gewalt, verlorener Ehre und der Ökonomie des weiblichen Körpers, in: Marita Metz-Becker (Hg.), Kindsmord und Neonatizid. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Geschichte der Kindstötung, Marburg 2012, S. 10–24. 3 Friedensburg, Walter (Bearb.): Urkundenbuch der Universität Wittenberg, Teil 1: 1502–1611, Magdeburg 1926 [im Folgenden: UBW I], Nr. 508, S. 616–618, hier S. 616.

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Rechtsgrundlagen und normierte Inhalte des Medizinstudiums an der Universität Wittenberg im 16. Jahrhundert Die Medizinische Fakultät war als eine der vier klassischen Fakultäten (neben der Theologischen, Juristischen und Artistischen/Philosophischen Fakultät) mit der Gründung der Universität Wittenberg (Leucorea)4 im Jahre 1502 eingerichtet worden. Die Struktur des Medizinstudiums sowie die Voraussetzungen für die Graduierungen waren für den hier zu betrachtenden Zeitraum in den Fakultätsstatuten, die Kurfürst August von Sachsen (reg. 1553–1586) unter dem 11. Juni 1572 erlassen hatte,5 geregelt. Diese basieren auf den älteren Fakultätsstatuten aus dem Jahr 15086 und der sogenannten Fundationsurkunde für die Universität vom 5. Mai 1536.7 Die Statuten von 1508 weisen als bemerkenswertes Detail eine Eidesformel für die angehenden Ärzte auf,8 die als ‚Eid des Hippokrates‘ bekannt ist. Die sehr frühe Normierung sucht ihresgleichen in der Statutengebung für Medizinische Fakultäten. Aus der Gesamtbetrachtung aller drei normativen Quellen lassen sich Inhalt und Ablauf des Medizinstudiums an der Universität Wittenberg in Grundzügen wie folgt skizzieren:

4 Diese gräzisierende Selbstbezeichnung führte die Universität seit dem späten 16. Jahrhundert. Sie setzt sich aus den altgriechischen Wörtern λευκός (= weiß) und ορος (= Berg) zusammen und stellt eine wörtliche Übersetzung des Stadtnamens ‚Wittenberg‘ dar. Vgl. dazu Lück, Heiner: ALMA LEUCOREA. Eine Geschichte der Universität Wittenberg 1502 bis 1817, Halle (Saale) 2020, S. 17, 23 mit Anm. 2. 5 UBW I, Nr. 351, S. 378–387. Zu den Neuerungen Friedensburg, Walter: Geschichte der Universität Wittenberg, Halle (Saale) 1917, S. 277ff.; Helm, Jürgen: Philipp Melanchthon (1497–1560) und die akademische Medizin in Wittenberg, in: Hermann J. Rupieper (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Universität Wittenberg, Halle (Saale) 2002, S. 19–34, hier S. 28f.; zur Frage der Verfasserschaft des Medizinprofessors und Melanchthon-Schwiegersohns Caspar Peucer (1525–1602) vgl. Bröer, Ralf/ Hofheinz, Ralf: Gesundheitspädagogik statt Tröstung. Die theologische Bewältigung von Krankheit bei Philipp Melnachthon und Caspar Peucer, in: Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 85 (2001), S. 18–44, hier S. 28–40, sowie auch Eckart, Wolfgang U.: Medizinische Statuten der Universität Wittenberg, in: Stadtmuseum Bautzen (Hg.), Zwischen Katheder, Thron und Kerker. Leben und Werk des Humanisten Caspar Peucer 1525–1602. Ausstellung 25. September bis 31. Dezember 2002 (Ausstellungskatalog), Bautzen 2002, S. 88 [Exponatbeschreibung]. 6 UBW I, Nr. 25, S. 45–51. 7 UBW I, Nr. 193, S. 172–184. 8 UBW I, Nr. 25, S. 48f. (Kapitel Juramentum promovendorum). Vgl. auch Lück: ALMA LEUCOREA, S. 87; Schütte, Jana Madlen: Medizin im Konflikt. Fakultäten, Märkte und Experten in deutschen Universitätsstädten des 14. bis 16. Jahrhunderts, Leiden/Boston 2017, S. 82. Zur Überlieferung Schubert, Charlotte: Der hippokratische Eid. Medizin und Ethik von der Antike bis heute, Darmstadt 2005, insbesondere S. 15–29, 79–82.

Eine Kontroverse um die öffentliche Sektion weiblicher und männlicher Leichen

Von den zunächst zwei (seit 1536 drei) Professoren9 war der eine für die Praxis und der andere für die Theorie der Medizin verantwortlich. Die Aufteilung folgte den an anderen Universitäten zu beobachtenden Üblichkeiten.10 Die Inhalte der akademischen Lehre waren wie an der Theologischen, Juristischen und Artistischen Fakultät auch an der Medizinischen Fakultät statutenmäßig verbindlich festgelegt.11 Das geschah durch die Nennung von Gelehrten, deren Werke zwingend in den Lehrveranstaltungen zu behandeln waren. Zu diesem Zweck wurden die antiken griechischen Ärzte Hippokrates von Kos (460–375 v. Chr.)12 und Galenos (Galen) von Pergamon (130–200)13 sowie die mittelalterlichen arabisch-persischen

9 Vgl. auch Scheible, Heinz: Melanchthon. Vermittler der Reformation. Eine Biographie, München 2016, S. 68. Bei den meisten Medizinischen Fakultäten im Heiligen Römischen Reich waren drei Lehrstühle üblich (Wolgast, Eike: Universität, in: Gerhard Krause/Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie [im Folgenden: TRE], Bd. XXXIV, Berlin 2002, S. 354–380, hier S. 360). 10 Brockliss, Laurenz: Lehrpläne, in: Walter Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. II: Von der Reformation zur Französischen Revolution 1500–1800, München 1996, S. 451–494, hier S. 487. 11 Zum Medizinstudium an den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Universitäten allgemein vgl. Schütte, Jana Madlen: Medizin, in: Jan-Hendryk de Boer u. a., Lehren und Lernen, in: Ders./ Marian Füssel/Maximlian Schuh (Hg.), Universitäre Gelehrtenkultur vom 13.–16. Jahrhundert. Ein interdisziplinäres Quellen- und Methodenhandbuch, Stuttgart 2018, S. 177–219, hier S. 195–197. 12 Zu Hippokrates und zur Medizinschule von Kos vgl. den Überblick bei Eckart, Wolfgang U.: Geschichte der Medizin. Fakten, Konzepte, Haltungen, 6. Aufl., Heidelberg 2009, S. 28–35, sowie Weisser, Ursula: Hippokrates (ca. 470–ca. 375 v. Chr.), Galen (129–ca. 200 oder nach 210 n. Chr.), in: Dietrich von Engelhardt/Fritz Hartmann (Hg.), Klassiker der Medizin, Bd. I: Von Hippokrates bis Christoph Wilhelm Hufeland, München 1991, S. 11–29, hier S. 11–19, und Keil, Gundolf: Hippokrates von Kos, in: Werner E. Gerabek u. a. (Hg.), Enzyklopädie Medizingeschichte, Berlin/New York 2007, S. 597f.; Potter, Paul/Gundert, Beate: Hippokrates aus Kos, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike [im Folgenden: DNP], Bd. 5, Stuttgart/Weimar 1998, Sp. 590–599. 13 Vgl. Eckart: Geschichte der Medizin, S. 43–50, sowie Weisser: Hippokrates Galen, S. 19–29; Nickel, Diethard: Galenos von Pergamon, in: Gerabek u. a.: Enzyklopädie Medizingeschichte, S. 448–452; Nutton, Vivian/Übers.: L. v. Reppert-Bismarck: Galenos aus Pergamon, in: DNP 4 (1998), Sp. 748–756.

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Ärzte Avicenna14 (980–1037)15 und Rhazes (850–932)16 mit ihren wichtigsten Kommentatoren und Bearbeitern seit dem Spätmittelalter aufgeführt. Für die Vorlesungen zur praktischen Medizin, die vom ersten Medizinprofessor zu halten waren, wurden 1508 vorgegeben:17 das neunte Buch der Schrift des persischen Arztes Rhazes Liber nonus ad Almansorem18 in der Kommentierung des Giovanni Arcolani (um 1450),19 seines Zeichens Medizinprofessor in Bologna und Padua, die Arbeiten des Gerardus de Solo (15. Jahrhundert)20 sowie die Practica des persischen Arztes Avicenna (Canon medicinae).21 Den höchsten Rang nahm Avicenna ein. Er soll die verstreut überlieferten Erkenntnisse des Galen zusammengefasst und systematisiert haben. Das Hauptwerk Avicennas, der Canon medicinae, erfuhr durch zahlreiche Drucke in Europa eine intensive Rezeption. Vorlesungen über theoretische Medizin, die dem zweiten Medizinprofessor oblagen, widmeten sich den Expositiones in Canonem Avicennae in der Bearbeitung von Gentile da Foligno († 1348),22 den Aphorismen beziehungsweise Sentenzen des Hippokrates, den Kommentaren zu Hippokrates‘ Aphorismen, Galen von Laurentius Laurentianus

14 Auch Ali Ibn Sina. 15 Vgl. Eckart: Geschichte der Medizin, S. 68, 74, 107, 114; Schipperges, Heinrich: Arabische Ärzte: Rhazes (865–925), Haly Abbas (ca. 10. Jahrhundert), Abulcasis (gestorben ca. 1010), Avicenna (980–1037), in: Engelhardt/Hartmann: Klassiker der Medizin, S. 40–43; Endreß, Gerhard/Lauer, Hans H.: Avicenna, in: Lexikon des Mittelalters [im Folgenden: LexMA], Bd. I, München/Zürich 1980, Sp. 1298–1300. 16 Zu Rhazes und weiteren Vertretern der persisch-arabisch-islamischen Medizin vgl. Eckart: Geschichte der Medizin, S. 67–69; Schipperges: Arabische Ärzte, S. 30–43; Schipperges, Heinrich: Ar-Rāzī. Muhammad ibn Zakarῑyā, in: Gerabek u. a.: Enzyklopädie Medizingeschichte, S. 1217–1219; Schipperges, Heinrich: Rhazes, in: LexMA VII (1995), Sp. 780–782; Hau, Friedrun R.: Arabische Medizin im Mittelalter, in: Gerabek u. a.: Enzyklopädie Medizingeschichte, S. 87–90. 17 UBW I, Nr. 25, S. 49–51. Siehe vor allem dort (S. 50f.) die Aufzählung in den Anmerkungen des Bearbeiters. 18 Der Name geht auf den Herrscher Almansor von Rey (in Persien), dem Rhazes sein Werk gewidmet hatte, zurück. Vgl. auch Helm: Philipp Melanchthon, S. 27. 19 Vgl. auch Eckart: Geschichte der Medizin, S. 114. 20 Vgl. ebd. 21 Vgl. Friedensburg: Geschichte, S. 38. Avicennas ‚Canon‘ wurde im späten 12. Jahrhundert in Toledo von Gerhard von Cremona (1114–1187) unter Mitwirkung arabischer Muttersprachler in das Lateinische übersetzt. Diese Übersetzung ist bis heute die „einzige vollständige Übersetzung“ (Leven, Karl-Heinz: Geschichte der Medizin. Von der Antike bis zur Gegenwart, 2. Aufl., München 2017, S. 31) geblieben. Um 1250 wurde dieses Werk grundlegend für das Medizinstudium an den Universitäten. Zwischen 1500 und 1674 erschienen 60 Ausgaben. Vgl. dazu ebd. sowie Haage, Bernhard D./Wegner, Wolfgang: Anatomie/Toledo und das Spätmittelalter, in: Gerabek u. a.: Enzyklopädie Medizingeschichte, S. 57f.; Schipperges, Heinrich: Toledo, Übersetzerschule von, in: Gerabek u. a.: Enzyklopädie Medizingeschichte, S. 1402–1404; Bossong, Georg: Das maurische Spanien. Geschichte und Kultur, 3. Aufl., München 2016, S. 73–79. 22 Vgl. auch Eckart: Geschichte der Medizin, S. 114.

Eine Kontroverse um die öffentliche Sektion weiblicher und männlicher Leichen

(† 1502) und Jacobus Foroliviensis (um 1330–1413 oder 1414),23 dem Commentum in librum Galeni qui microtechni intitulatur von Petrus Turisianus († um 1320)24 sowie den Schriften des Dino del Garbo (um 1280–1327). Gegen Ende des Studiums sollten zusätzlich die Übersetzungen der Galen-Schriften Articella und De febribus ad Glauconem behandelt werden.25 Die Grundlage für die Darbietung des ganzen Lehrstoffes bildeten somit die antiken griechischen und die mittelalterlichen persisch-arabischen Autoren beziehungsweise Kompilatoren sowie deren westlich-lateinische Kommentatoren.26 Der Stoff war auf vier Jahre verteilt,27 so dass ein Student der Medizin nach dem obligatorischen Besuch der Artistischen Fakultät idealerweise das Medizinstudium innerhalb einer vierjährigen Studienzeit absolvieren konnte. Die Fakultätsstatuten (Kapitel De promotionibus) sahen die akademischen Grade baccalaureus, licentiatus und doctor medicinae vor, deren Erwerb bestimmte Disputationen28 und Prüfungen sowie die Einzahlung nicht unerheblicher Gebühren voraussetzte.29 Viele Studenten, regelmäßig der größte Teil der Immatrikulierten, verließen die Universität jedoch ohne Graduierung, das heißt ohne Abschluss.30 Von den antiken Lehrautoritäten31 standen Hippokrates und Galen als Personifizierungen des Arztberufes an der Spitze der Hierarchie. In Hippokrates wurde der erste Mediziner, der die von Gott offenbarte Heilkunst den Menschen vermittelte, gesehen. Ihm wird eine höchst angesehene Sammlung medizinischer Texte, das Corpus Hippocraticum,32 zugeschrieben. Galen, der etwa ein halbes Jahrtausend nach Hippokrates wirkte, genoss ein ähnlich hohes Renommee. Er galt als

23 Auch Jacobus de Forlivio, Giocomo de Forli u. a. 24 Vgl. Pietro Torrigiano de Torrigiani - vgl. Ihm, Sybille: Clavis Commentariorum der antiken medizinischen Texte, Leiden/Boston/Köln 2002, S. 25. 25 Vgl. Helm: Philipp Melanchthon, S. 27f. 26 Vgl. Eckart: Geschichte der Medizin, S. 113. 27 Vgl. Helm: Philipp Melanchthon, S. 27; Friedensburg: Geschichte, S. 38. 28 Vgl. dazu den Überblick von Lück, Heiner: Disputation, in: Albrecht Cordes u. a. (Hg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl. [im Folgenden: HRG, 2. Aufl.], Bd. 1, Berlin 2008, Sp. 1089f. 29 UBW I, Nr. 351, S. 383–386. Zu den Doktorpromotionen vgl. Lück, Heiner/Weise, Stefan: Rechtsgrundlagen und Rituale der theologischen Promotionen in Wittenberg während des späten 16. Jahrhunderts, in: Herman J. Selderhuis/Ernst-Joachim Waschke (Hg.), Reformation und Rationalität, Göttingen 2015, S. 59–92. 30 Vgl. dazu Lück: ALMA LEUCOREA, S. 59f., 112 (mit Anm. 562), 292. 31 Vgl. dazu auch Haage, Bernhard D./Wegner, Wolfgang: Medizin in der griechischen und römischen Antike, in: Gerabek u. a.: Enzyklopädie Medizingeschichte, S. 915–920. 32 Vgl. dazu Keil, Gundolf: ‚Corpus hippocraticum‘, in: Gerabek u. a.: Enzyklopädie Medizingeschichte, S. 274. Eine Übersicht über die einzelnen Texte in Auswahl befindet sich bei Potter/Gundert: Hippokrates aus Kos, Sp. 591f.

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Erneuerer der im Laufe der Jahrhunderte etwas in den Hintergrund getretenen hippokratischen Medizin. Von ihm sollen etwa 330 Schriften stammen. Hippokrates’ und Galens Texte sind in arabischer Übersetzung nach Europa gekommen.33 Die textliche Überlieferung wurde von den Humanisten des 16. Jahrhunderts kritisch betrachtet. Man nahm an, dass die Schriften der klassischen griechischen Autoren im Laufe der Zeit Veränderungen erfahren hatten. Dessen ungeachtet fanden sie im akademischen Lehrprogramm Anwendung. Von Galen stammen die Grundzüge des die Medizin lange dominierenden Systems der Humoralpathologie34 und der Pulsdiagnostik. Ferner war Galen auf dem Gebiet der Anatomie sehr anerkannt. Seine anatomischen Erkenntnisse beruhten ausschließlich auf der Sektion von Tierkadavern.35 In diesem Kontext werden Affen und Schweine genannt.36 Die an den frühneuzeitlichen Universitäten gelehrte Medizin war vor allem eine Textwissenschaft.37 Das galt auch für die Universität Wittenberg, die mit Philipp Melanchthon (1497–1560) einen der herausragendsten Philologen besaß.38 Melanchthon sah in der griechischen Medizin die Grundlage für die humanistische Erneuerung des Medizinstudiums.39 Es nimmt daher nicht wunder, dass ein Schwerpunkt des medizinischen Unterrichts an der frühen Universität Wittenberg auf Galen lag. Über seine Texte haben die Professoren Johann Hermann (1527–1605),40 Caspar Peucer (1525–1602) und Abraham Werner (1519/20–1589)41 Vorlesungen gehalten.42 Auf den hier kurz erwähnten Schriften beruhte das Konzept der Humoralpathologie. Es ging von den vier Elementen (Erde, Feuer, Wasser, Luft) aus. Dieses Ordnungsmodell übertrug die Medizin auf den menschlichen Körper. Danach waren diesem vier Säfte (Blut, Schleim aus dem Gehirn, gelbe Galle, schwarze Galle)

33 Vgl. Bossong: Das maurische Spanien, S. 74–76. 34 Vgl. dazu Keil, Gundolf: Humoralpathologie, in: Gerabek u. a.: Enzyklopädie Medizingeschichte, S. 641–643. 35 Vgl. Stukenbrock, Karin: „Der zerstückte Cörper“. Zur Sozialgeschichte der anatomischen Sektionen in der frühen Neuzeit (1650–1800), Stuttgart 2001, S. 12. 36 Vgl. Keil, Gundolf: Anatomie (Antike und Mittelalter), in: Gerabek u. a.: Enzyklopädie Medizingeschichte, S. 55–57, hier S. 57. 37 Vgl. Roebel, Martin/Eckart, Wolfgang U.: Caspar Peucer als Mediziner, in: Stadtmuseum Bautzen: Zwischen Katheder, Thron und Kerker, S. 55–62. 38 Vgl. Helm: Philipp Melanchthon, S. 24; vgl. auch Schweikardt, Christoph: Renaissancemedizin, in: Gerabek u. a.: Enzyklopädie Medizingeschichte, S. 1233–1236. 39 Vgl. auch Helm: Philipp Melanchthon, S. 20–27. 40 Vgl. Koch, Hans-Theodor: Die Wittenberger medizinische Fakultät (1502–1652). Ein biobibliographischer Überblick, in: Stefan Oehmig (Hg.), Medizin und Sozialwesen in Mitteldeutschland zur Reformationszeit, Leipzig 2007, S. 289–348, hier S. 292, 311f. 41 Vgl. Koch: Die Wittenberger medizinische Fakultät, S. 292, 335; Kaiser, Wolfram/Völker, Arina: Ars medica Vitebergensis 1502–1817, Halle (Saale) 1980, S. 20. 42 Vgl. Helm: Philipp Melanchthon, S. 28.

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und vier Qualitäten (Feuchtigkeit, Wärme, Kälte, Trockenheit) eigen. Diese Strukturelemente und Zustände wurden für die im menschlichen Körper ablaufenden Vorgänge als determinierend aufgefasst. Mit der Zahl Vier korrelierten wiederum die vier Hauptorgane Herz, Leber, Milz und Gehirn, die in einer bestimmten Wechselwirkung zueinander standen. Unterschiedliche Mischungen der Körpersäfte würden bestimmte ‚Temperamente‘ konstituieren.43 Unregelmäßigkeiten in den Säftemischungen würden zu Krankheiten führen. Daher sei es Aufgabe der ärztlichen Kunst, das individuelle ‚Temperament‘ eines Erkrankten genau zu erkennen, um eine wirksame Therapie anzusetzen. Die Humoralpathologie umfasste neben der Therapie die Diätetik44 beziehungsweise Prophylaxis. Wie heute verstand man darunter eine gesunde Lebensweise. Für sie bestimmend war eine Balance von Essen und Trinken, Verdauung und Ausscheidung, Sexualität und Enthaltsamkeit, Arbeit und Ruhe, Entfaltung und Zügelung der Leidenschaft. Diese Konstellation war, auch das hatte man früh erkannt, freilich auch von Umweltfaktoren abhängig (Klima, Boden, Luft, Wärme, Kälte). Das Studium der Medizin in Wittenberg und dessen strukturelle Voraussetzungen entsprachen somit weitgehend den typischen Strukturen und Lehrinhalten, wie sie an den europäischen Universitäten der Frühen Neuzeit üblich waren.45 Das statutenmäßig vorgegebene Programm war angesichts der instabilen personellen Ausstattung der Wittenberger Medizinischen Fakultät, vor allem in den Anfangsjahren, in Wirklichkeit nur unvollständig realisierbar.46 Vergleicht man die an der Universität Wittenberg betriebene Medizin mit jener an anderen Universitäten, so schneidet Wittenberg ungünstig ab.47 Herausragende Medizinerpersönlichkeiten, die überregionale oder gar internationale Bedeutung hatten, waren an ihr nur in sehr geringer Zahl vertreten.48 Dennoch hat die Wittenberger Medizinische Fakultät einen Beitrag zur Geschichte der Medizin im

43 Vgl. dazu auch Schmidt, Harald: Temperamentenlehre, in: Gerabek u. a.: Enzyklopädie Medizingeschichte, S. 1382f. 44 Vgl. auch Engelhardt, Dietrich von: Diätetik, in: Gerabek u. a.: Enzyklopädie Medizingeschichte, S. 299–303. 45 Vgl. Eckart: Geschichte der Medizin, S. 113f. 46 Vgl. Lück: ALMA LEUCOREA, S. 84–87. 47 Diese Einschätzung bezieht sich auf den gesamten Zeitraum, in dem die Wittenberger Medizinische Fakultät existierte (Kaiser/Völker: Ars medica Vitebergensis, S. 7), und schließt die Ansicht Böhmers, die Medizinische Fakultät der Leucorea habe eine „überregionale Bedeutung“ besessen, nicht aus (Böhmer, Wolfgang: Die überregionale Bedeutung der medizinischen Fakultät der Universität in Wittenberg, in: Stefan Oehmig [Hg.], 700 Jahre Wittenberg. Stadt – Universität – Reformation, Weimar 1995, S. 225–230, hier S. 225). 48 Vgl. Kaiser/Völker: Ars medica Vitebergensis, S. 7f.

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16. Jahrhundert geleistet.49 Es war vor allem Philipp Melanchthon, welcher der Wittenberger Medizin ihr Profil gab,50 obwohl er der Medizinischen Fakultät nicht angehörte. Nach der Fundationsurkunde von 1536 sollte der erste Professor über die „nutzlichsten bücher“51 des Hippokrates und des Galen, der zweite Professor über Rhazes und Avicenna lesen. Die Inhalte der Vorlesungen hatten sich seit den Vorgaben in den Statuten von 1508 kaum geändert. Das Standardprogramm wurde beibehalten. Als Neuerung ist zu erkennen, dass die Anatomie52 mit einer dritten Professorenstelle verbunden war. Die Statuten von 1572 beinhalteten unter anderem eine Präzisierung der fachlichen Zuständigkeit der Professuren und die Verankerung anatomischer Sektionen menschlicher Körper als festen Bestandteil des Medizinstudiums.53

Anatomie im Kontext des akademischen Lehrbetriebs Am Anfang der Anatomie im Mittelalter stand nach weit verbreiteter und anerkannter Meinung die Medizinschule von Salerno, an der im frühen 12. Jahrhundert Tiere seziert wurden.54 Sektionen menschlicher Körper sind für diese Zeit nicht nachweisbar.55 Erste Belege für die Zergliederung menschlicher Leichen stammen von 1286 und 1302.56 Die systematische Sektion menschlicher Leichen, zunächst mit dem Ziel, die Aussagen des Galen zu belegen, begann im frühen 14. Jahrhundert an der Universität Bologna. Der dort wirkende Mondino de’Liuzzi (um

49 Vgl. Steger, Florian: Ein Blick auf die Medizingeschichte des 16. Jahrhunderts, in: Harald Meller/ Alfred Reichenberger/Christian Wunderlich (Hg.), Alchemie und Wissenschaft des 16. Jahrhunderts. Fallstudien aus Wittenberg und vergleichbare Funde. Internationale Tagung vom 3. bis 4. Juli 2015 in Halle (Saale), Halle (Saale) 2016, S. 145–152, hier S. 147; Eckart: Geschichte der Medizin, S. 148. 50 Vgl. auch Eckart, Wolfgang U.: Philipp Melanchthon und die Medizin, in: Günter Frank/Stefan Rhein (Hg.), Melanchthon und die Naturwissenschaften seiner Zeit, Sigmaringen 1998, S. 183–202. Vgl. dazu auch Melanchthons Rede über Avicenna; Rede über die medizinische Kunst; Rede über die Lunge und den Unterschied zwischen der Luft- und Speiseröhre (übersetzt von Ralf-Dieter Hofheinz), in: Michael Beyer/Armin Kohnle/Volker Leppin (Hg.) unter Mitarbeit von Christiane Domtera und Annika Schmidt, Melanchthon deutsch, Bd. 4: Melanchthon, die Universität und ihre Fakultäten, Leipzig 2012, S. 323–352; Hofheinz, Ralf-Dieter: Philipp Melanchthon und die Medizin im Spiegel seiner akademischen Reden, Herbolzheim 2001. 51 UBW I, Nr. 193, S. 176. 52 Vgl. dazu auch Helm, Jürgen: Wittenberger Anatomie. Motive und Ausprägung einer protestantischen Wissenschaft im 16. Jahrhundert, in: Oehmig: Medizin und Sozialwesen, S. 235–248. 53 UBW I, Nr. 351, S. 382. 54 Vgl. Stukenbrock: „Der zerstückte Cörper“, S. 13. 55 Vgl. ebd. 56 Vgl. ebd.

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1275–1326)57 verfasste 1316 ein Kompendium, welches er auf seine Sektionsergebnisse stützte. 1482 erschien in Bologna die erste Druckausgabe (Anathomia Mondini).58 Mondinos Beobachtungen beruhten unter anderem auf der Sektion von zwei Frauenleichen.59 Dieser Zusammenhang zeigt an, dass die Sektion von weiblichen Körpern nichts Außergewöhnliches war. Als 1452 an der Universität Wien eine Frauenleiche seziert wurde, kam das Gerücht auf, dass die Frau vor ihrer Hinrichtung schwanger gewesen sei.60 Das soll die Praxis der Sektionen kurzzeitig in Verruf gebracht haben. Die Vollstreckung der Todesstrafe an schwangeren Frauen war verboten. Etwa um die Mitte des 16. Jahrhunderts änderten sich das Verständnis der Anatomie und der Zugang zu anatomischen Erkenntnissen grundlegend. Der in Padua lehrende Flame Andreas Vesal (1514–1564)61 war einer der ersten Mediziner, die nach wissenschaftlichen Grundsätzen menschliche Leichen selbst sezierten. Seine Beobachtungen ließ er in Zeichnungen festhalten und er selbst fügte Beschreibungen hinzu. Aus diesen Bildern und Bildbeschreibungen ist sein Hauptwerk De humani corporis fabrica libri septem (erstmals gedruckt Basel 1543) – ein „Meilenstein in der Entwicklung der neuzeitlichen Anatomie“62 – hervorgegangen.63 Da sich Vesal auch mit der Übersetzung von Galens Schriften beschäftigte, konnte er etliche Divergenzen im Verhältnis zu seinen eigenen Erkenntnissen feststellen.64 Infolge dieser Entwicklung wurden mehrere Lehrsätze Galens relativiert oder korrigiert, was eine scharfe Kritik der Galenanhänger zur Folge hatte. Die erste Professur an der Medizinischen Fakultät zu Wittenberg bekleidete, zunächst gemeinsam mit Stephan Wild (vor 1514–1550), seit 1521 Augustin Schurff (1495–1548).65 Er machte unter anderem mit einer Schädelsektion von sich reden.66 57 Zu ihm vgl. Keil, Gundolf: Mondino (Raimund) de’ Liuzzi, in: LexMA VI (1993), Sp. 750. 58 Zu dessen Rezeption in Leipzig und zur Ausgabe durch den späteren Gründungsrektor der Wittenberger Universität, Martin Pollich von Mellrichstadt (um 1455–1513), vgl. Lück: ALMA LEUCOREA, S. 84. 59 Vgl. Stukenbrock: „Der zerstückte Cörper“, S. 13. 60 Vgl. Schütte: Medizin im Konflikt, S. 100f. 61 Zu ihm vgl. Eckart: Geschichte der Medizin, S. 95–100; Putscher, Marielene: Andreas Vesalius (1514–1564), in: Engelhardt/Hartmann: Klassiker der Medizin, S. 113–129; Leven: Geschichte der Medizin, S. 38f.; zur Vesalrezeption in Wittenberg vgl. Koch, Hans-Theodor: Melanchthon und die Vesal-Rezeption in Wittenberg, in: Frank/Rhein, Melanchthon und die Naturwissenschaften, S. 203–218. 62 Stukenbrock: „Der zerstückte Cörper“, S. 14. 63 Vgl. auch Leven: Geschichte der Medizin, S. 38. 64 Vgl. Stukenbrock: „Der zerstückte Cörper“, S. 14; Schütte: Medizin im Konflikt, S. 86f. 65 Koch: Die Wittenberger medizinische Fakultät, S. 292, 328f.; Lück: ALMA LEUCOREA, S. 87. 66 Zur wissenschaftsgeschichtlichen Problematik zwischen Verbot und Erkenntnisgewinnung vgl. auch Pedersen, Olaf: Tradition und Innovation, in: Rüegg: Geschichte der Universität, Bd. II, S. 363–390, hier S. 364f.

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Diese fand am 19. Juli 1526 in der Fakultätsöffentlichkeit statt.67 Sie stellt die früheste sicher nachweisbare Sektion an der Universität Wittenberg dar. Weitere sollten folgen. Bemerkenswert ist die Beobachtung, dass Wittenberger Professoren und Magister wenige Monate zuvor (11. Februar 1525) bei den Anatomen der Universität Leipzig zu Gast waren.68 Sie haben dort einer Sektion beigewohnt und wurden mit Wein beschenkt. Nach der Sektion wurde ein gemeinsames Mahl eingenommen. Möglicherweise steht diese ‚Vorgeschichte‘ mit der Schurffschen Schädelanatomie in Wittenberg in einem Zusammenhang. Auffällig ist der Termin der Wittenberger Sektion mitten im Sommer. Bevorzugt wurden aus konservatorischen Gründen die Wintermonate. Darauf nahm Jahrzehnte später der Wittenberger Medizinprofessor Andreas Schato (1539–1603)69 in seiner Festrede anlässlich des 100. Jubiläums der Universitätsgründung70 Bezug, indem er ungünstige Witterungsbedingungen, die den Fortgang der Schurffschen Sektion nicht zuließen, erwähnte.71 Von den Schriften Schurffs sind unter anderem eine Abhandlung über die Anfangsgründe der Medizin, ein Traktat über Theorie und Praxis ausgewählter Krankheiten sowie eine Studie über die Pest zu nennen.72 Letztere beruht auch auf Beobachtungen, die Schurff während der erlebten Pestepidemie in Wittenberg gemacht hatte.73 Seit 1528 war er kurfürstlich-sächsischer Leibarzt. Später diente er als Leibarzt auch den Fürsten von Anhalt. Darüber hinaus zählten Martin Luther (1483–1546), Melanchthon und andere prominente Wittenberger zu seinen Patienten.74 Sein ansehnliches Vermögen bestand unter anderem aus mehreren

67 Das Ereignis fand Aufnahme in das Promotionsbuch der Medizinischen Fakultät, Universitätsarchiv Halle-Wittenberg, Rep. 1, XXXXIV, Nr. 1, fol. 26v: Anno Dni ut supra [1526 – H. L.] 19. Julij sub Decanatu eiusdem Domini Doctorj Bergerj D D Augustinus Schurff publice celebrauit: perfecit ac peregit Anothomiam Capitis coram omnium doctoribus, licentiatibus ac alumnibus eiusdem facultatis (zitiert auch von Hans-Theodor Koch: Anatomie als universitäres Lehrfach. Das Beispiel Wittenberg, in: Jürgen Helm/Karin Stukenbrock (Hg.), Anatomie. Sektionen einer medizinischen Wissenschaft im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 163–188, hier S. 169). 68 Schütte: Medizin im Konflikt, S. 108–111. 69 Zu ihm vgl. Lück: ALMA LEUCOREA, S. 52, 100, 169; Koch: Die Wittenberger medizinische Fakultät, S. 326. 70 Zu den Feierlichkeiten vgl. Lück: ALMA LEUCOREA, S. 121–125. 71 Et anno Christi supra [1526 – H. L.] sesquimillesimum, vicesimo sexto mensis Iulij die 19, anatomen capitis humani publicam instituit: cum per temporis incommoditatem, ulterius, progredi tum non liceret […] (Oratio Secularis [...] in Academia VVitebergensi, Collegij Medici nomine, habita Ab Andrea Schatone […] Anno Christi 1602. Mensis Novemb. die XV, Wittenberg 1602, fol. C 1v). Vgl. dazu auch Koch: Anatomie als universitäres Lehrfach, S. 170. 72 Friedensburg: Geschichte, S. 210; Koch: Die Wittenberger medizinische Fakultät, S. 329. 73 Vgl. dazu Lück: ALMA LEUCOREA, S. 103f. 74 Friedensburg: Geschichte, S. 211.

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Grundstücken in der Stadt Wittenberg.75 Zu den Medizinprofessoren, die relativ früh Anatomien zu Lehrzwecken durchführten, gehört Caspar Lindemann (um 1486–1536).76 Er war 1532, zu diesem Zeitpunkt schon Leibarzt der Kurfürsten Friedrich III., gen. der Weise (reg. 1486–1525) und Johann, gen. der Beständige (reg. 1525–1532),77 an die Medizinische Fakultät gekommen. Am 23. September 1534 sezierte er den Leichnam einer hingerichteten Kindesmörderin.78 Für das Jahr 1541 ist eine von Georg Curio (1498–1556)79 durchgeführte Lehranatomie nachweisbar.80 Für das zweite Viertel des 16. Jahrhunderts kann von bis zu sechs Sektionen ausgegangen werden.81 Bemerkenswert ist der Umstand, dass bei archäologischen Ausgrabungen auf dem Gelände der ehemaligen Franziskanerkirche 2009/2013 zwei Skelette, jeweils ein männliches und ein weibliches, mit eindeutigen Sektionsspuren (Sägespuren, Abtrennung des Schädeldaches und ähnliches) entdeckt wurden.82 Die Köpfe waren abgetrennt. Der Schädel der jungen Frau war in einem Keramikgefäß gesondert aufbewahrt. Die Trennung der Köpfe könnte von einer Hinrichtung mit dem Schwert oder von einer anatomischen Sektion stammen.83 Dass es sich bei den Funden um die sterblichen Überreste von hingerichteten Straftätern handelt, gilt als sicher.84 Die Auswertung dieser Funde im Kontext der schriftlichen Überlieferung und der Nutzungsgeschichte des Franziskanerklosters konnte wahrscheinlich machen, dass diese Funde mit der Schädelsektion des Augustin Schurff 1526 sowie der Sektion des Caspar Lindemann 1534 in einem Zusammenhang stehen und an der Identität der Skelettfunde mit diesen schriftlich nachweisbaren Sektionen in Wittenberg „kaum Zweifel“ bestehen.85 Sicher ist, dass die Universität nach Auflösung des Klosters Teile des Klosterkirchengebäudes nutzte.86 Allerdings konnte bislang nicht geklärt werden, wo die Sektionen vorge75 Hennen, Insa Christiane: Häuserliste „Universität“, in: Heiner Lück u. a. (Hg.), Das ernestinische Wittenberg. Die Leucorea und ihre Räume, Petersberg 2017, S. 445–486, hier S. 467f. 76 Zu ihm vgl. Lück: ALMA LEUCOREA, S. 87; Koch: Die Wittenberger medizinische Fakultät, S. 316. 77 Koch: Die Wittenberger medizinische Fakultät, S. 316: Friedensburg: Geschichte, S. 211. 78 Koch: Anatomie als universitäres Lehrfach, S. 170. 79 Koch: Die Wittenberger medizinische Fakultät, S. 306f. 80 Koch: Anatomie als universitäres Lehrfach, S. 171. 81 Ebd., S. 164, 169–171; vgl. auch Meyer, Christian u. a.: Menschliche Skelettfunde mit Spuren anatomischer Sektionen des frühen 16. Jahrhunderts und frühe Fälle von Syphilis aus der ehemaligen Franziskanerkirche in Wittenberg, in: Meller/Reichenberger/Wunderlich: Alchemie und Wissenschaft, S. 153–173, hier S. 154. 82 Meyer u. a.: Menschliche Skelettfunde, S. 153. 83 Ebd., S. 157. 84 Ebd., S. 154. 85 Ebd., S. 169. 86 Vgl. Stahl, Andreas: Die folgenreiche Profanierung von Teilen des Franziskanerklosters zum Wittenberger Festungsgebäude (1526/37–1992), in: Leonhard Helten/Andreas Hille (Hg.), Die ehemalige Klosterkirche der Franziskaner in Wittenberg […]. Aktuelle Ausgrabungen und neue Forschungen

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nommen worden sind. Die Nutzung von kühlen (auch ehemaligen) Sakralgebäuden für anatomische Zwecke (Aufbewahrung und anderes) war nicht unüblich.87 Die Frage, ob die Universität hier eine temporäre „Anatomiekammer“ nutzte, wie Meyer/Brauer/Rode/Alt im Anschluss an Kaiser/Völker88 vorsichtig erwägen,89 lässt sich derzeit nicht beantworten. Abwegig ist diese Überlegung keinesfalls. Die anatomischen Sektionen scheinen um die Mitte des 16. Jahrhunderts ein größeres Gewicht in der Medizinerausbildung erlangt zu haben. Vielleicht entsteht dieser Eindruck aber auch aufgrund einer zufälligen und lückenhaften Überlieferung. Für das Jahr 1554 ist die Sektion einer hingerichteten Kindesmörderin belegt.90 Bei den Sektionen stützte man sich in Wittenberg zunehmend auf die von Vesal publizierten Lehrsätze und Erfahrungen. Sie fanden in der Lehr- und Forschungstätigkeit an der Medizinischen Fakultät insbesondere auf Betreiben Melanchthons Beachtung. Für diesen Vorgang finden sich Anhaltspunkte in den Auflagen von Melanchthons Schrift De anima ab etwa 1550.91 Es ist zu vermuten, dass Melanchthon Vesals berühmtes und in die Zukunft weisendes Werk De humani corporis fabrica […] sehr wahrscheinlich kannte und in seinen Arbeiten berücksichtigt hat. So lässt die Auflage von Melanchthons De anima von 1552 die Hinwendung des Autors zur ärztlichen Zergliederungskunst auf der Grundlage von Vesal zweifelsfrei erkennen. Melanchthon sorgte somit in Wittenberg für eine frühe Rezeption der fortschrittlichen Anatomie Vesals. Maßgeblich ihm ist es zu verdanken, dass die ‚Wittenberger Anatomie‘ in ihrem reformatorischen Kontext von der modernen Wissenschaftsgeschichtsschreibung als Typus wahrgenommen wird.92 Als Lehr- und Lernmittel wurden in der anatomischen Ausbildung Klapptafeln, die Bartholomäus Schönborn (1530–1586), seit 1577 Inhaber der zweiten medizinischen Professur, geschaffen hatte, eingesetzt.93 Sie bestanden aus kolorierten Holzschnitten in Form von Einzelblattdrucken und zeigten anatomische

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2008–2015, Halle (Saale) 2019, S. 53–77, hier S. 57f.; Ludwig, Ulrike: Zur Nutzung kirchlicher und städtischer Gebäude in Wittenberg durch die Universität, in: Lück u. a.: Die Leucorea und ihre Räume, S. 331–337, hier S. 333f. Meyer u. a.: Menschliche Skelettfunde, S. 165. Kaiser/Völker: Ars medica Vitebergensis, S. 10. Meyer u. a.: Menschliche Skelettfunde, S. 165. Lück: ALMA LEUCOREA, S. 89. Roebel/Eckart: Caspar Peucer als Mediziner, S. 56; Helm: Philipp Melanchthon, S. 23f. Helm: Wittenberger Anatomie; Nutton, Vivian: Wittenberg anatomy, in: Ole Peter Grell/Andrew Cunningham (Hg.), Medicine and Reformation, London 1993, S. 11–32. Vgl. Koch, Hans-Theodor: Bartholomäus Schönborn (1530–1585). Melanchthons de anima als medizinisches Lehrbuch, in: Heinz Scheible (Hg.), Melanchthon in seinen Schülern, Wiesbaden 1997, S. 323–340, hier S. 338f.; Koch: Anatomie als universitäres Lehrfach, S. 178; Helm: Philipp Melanchthon, S. 29.

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Darstellungen. Diese waren mit Beschreibungen auf der Grundlage von Vesal und Melanchthon versehen.94 Zu den bereits seit der Universitätsgründung vorhandenen zwei Professoren für praktische und theoretische Medizin war schon mit der neuen Verfassung (Fundation) der Universität von 1536 ein dritter Professor hinzugekommen.95 Die neuen Statuten von 1572 regelten seine Zuständigkeit. Er hatte Anatomie und Arzneimittelkunde96 zu unterrichten sowie im Rahmen der Anatomieausbildung Sektionen menschlicher Körper („anatomiam et doctrinam de simplicium alimentorum et medicamentorum […] et in sectionibus corporum“) vorzunehmen.97 Die Autoritäten Galen, Andreas Vesal und Gabriele Falloppia (1523–1562)98 sollten dafür die Grundlage bilden.99 Ausdrücklich wurde herausgestellt, dass moderne Gelehrte wie Vesal und Falloppia die Irrtümer vergangener Jahrhunderte korrigiert hätten.100 Ferner sahen die neuen Statuten eine Verstärkung des Lehrpersonals durch einen „chirurgus“ vor. Dieser sollte Vorlesungen über Tumore, Geschwülste, Wunden, Knochenbrüche und über die Therapie dieser Krankheiten und Verletzungen halten. Eine statutenmäßige (ordentliche) Professur bekleidete der Chirurg jedoch nicht. Mit Blick auf die ausbildungsrelevanten Sektionen enthielten die Statuten von 1572 einen Passus, in dem geregelt war, dass die Inhaber der hohen Gerichtsbarkeit101 hingerichtete Straftäter den Medizinern zur Anatomie überlassen sollten.102 Die statutenmäßigen Festlegungen von 1572 erfuhren im Wesentlichen mit der sogenannten Großen Kirchenordnung für Kursachsen von 1580 eine Bestätigung,103 wobei die Studiendauer auf drei Jahre festgelegt wurde.104 Nach der 94 Vgl. etwa das Beispiel bei Roebel, Martin: Bartholomäus Schönborn (1530–1585) „Tabula exhibens insignora maris viscera“ [Exponatbeschreibung], in: Stadtmuseum Bautzen: Zwischen Katheder, Thron und Kerker, S. 82. 95 UBW I, Nr. 193 (S. 176). 96 Diese Vorlesung beruhte auf den Schriften des Pedanios Dioskurides (1. Jahrhundert n. Chr.). Zu ihm vgl. Touwaide Alain/Übers.: Heinze, T.: Pedanios Dioskurides, in: DNP 9 (2000), Sp. 462–465. Zu den entsprechenden Vorlesungen an der Universität Wittenberg vgl. Lück: ALMA LEUCOREA, S. 88, 95, 117 (mit Anm. 1034), 166. 97 UBW I, Nr. 351, S. 381. 98 Auch Falloppio; vgl. auch Eckart: Geschichte der Medizin, S. 101; Tshisuaka, Barbara I.: Falloppia, Gabriele, in: Gerabek u. a.: Enzyklopädie Medizingeschichte, S. 391f. 99 UBW I, Nr. 351, S. 381. 100 Ebd. 101 Lück, Heiner: Die kursächsische Gerichtsverfassung 1423–1550, Köln/Weimar/Wien 1997, S. 78–93; Ders.: Gerichtsherr, in: HRG, 2. Aufl., Bd. 2 (2012), Sp. 159–162. 102 UBW I, Nr. 351, S. 382. 103 Lünig, Johann Christian (Hg.): Codex Augusteus, oder Neuvermehrtes Corpus Juris Saxonici […] in richtige Ordnung gebracht [Teil I], Leipzig 1724 [im Folgenden: Cod. Aug. I], Sp. 740–743. 104 Cod. Aug. I, Sp. 741.

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Letzteren sollte mindestens einmal jährlich105 eine Sektion, sofern ein Leichnam verfügbar war, durchgeführt werden. Des weiteren gab die Ordnung eine Reihenfolge der Lehr- und Demonstrationsinhalte für die einzelnen Studienjahre vor: im ersten Jahr sollte es um die äußere Gestalt und das Gesamtgefüge des menschlichen Skeletts gehen; im zweiten Jahr stünden Haut, Muskeln, Sehnen, Venen, Arterien und Nerven im Zentrum der Ausbildung; im dritten Jahr sollten Kopf, Thorax und Bauch mit den Eingeweiden behandelt werden.106 Nach der neuen Universitätsordnung vom 24. August 1588, die unter den politischen Bedingungen des procalvinistischen Kurses Kurfürst Christians I. (reg. 1586–1591) erlassen worden war,107 sollte wie schon in der Vergangenheit auch über Anatomie gelesen werden. Die Ordnung schrieb die statutenmäßigen Festlegungen von 1572 fort, indem sie wiederholte, dass die Wittenberg benachbarten Ämter, welche für die hohe Gerichtsbarkeit und die Vollstreckung von Todesstrafen zuständig waren,108 Leichen für anatomische Sektionen liefern sollten: „[…] so soll hinfuro einer aus den professoribus chirurgiam lesen und darneben auch die anatomica treiben, wie wir dan auch auf der medicorum ansuchen in die negsten ambter bevehlen lassen wollen, das ihnen uff ihr begehren zu der section cadavera gefolget werden solln.“109 Diese Vorgabe konnte nicht immer verwirklicht werden. In einer Mitteilung aus dem Jahr 1587 wird beklagt: „studia anatomica haben bishero nicht vleissig können gehalten werden propter defectum cadaverum.“110 An anderer Stelle heißt es, ebenfalls zum Jahr 1587: „Bei der anatomiae mangelten ihnen corpora. Da ihr [der Medizinischen Fakultät, H. L.] statutum dahin gerichtet das die umbliegenden schösser und amptleute ihnen die corpora musten volgen lassen, konte mehr fleissigere anatomien gehalten werden.“111 Für das späte 16. Jahrhundert und das 17. Jahrhundert wird angenommen, dass an den beiden kursächsischen Universitäten Leipzig und Wittenberg jährlich einbis zweimal anatomische Vorlesungen112 mit Demonstrationen an menschlichen

105 In den Statuten mehrerer Medizinischer Fakultäten des 15. Jahrhunderts waren zwei Sektionen jährlich vorgesehen (Schütte: Medizin, S. 197). 106 Cod. Aug. I, Sp. 741. 107 UBW I, Nr. 449, S. 555–568. 108 In Betracht kommen außer dem Amt Wittenberg die Ämter Gräfenhainichen, Seyda, Düben, Annaburg. 109 UBW I, Nr. 449, S. 563. 110 UBW I, Nr. 439, S. 530–549, hier S. 537. 111 UBW I, Nr. 438, S. 513–530, hier S. 525. 112 Vgl. dazu ausführlich Nutton: Wittenberg anatomy; Koch: Anatomie als universitäres Lehrfach.

Eine Kontroverse um die öffentliche Sektion weiblicher und männlicher Leichen

Leichen durchgeführt wurden.113 Über öffentliche Sektionen114 mit großer Zuschauerresonanz ist wenig bekannt. Diese gab es freilich auch in Wittenberg. So ist zum Beispiel belegt, dass Johann Mathesius d. J. (1544–1607) in Wittenberg 1581 eine Leiche vor 200 Zuschauern sezierte.115 Das soll in einem extra dafür eingerichteten „Theater“ geschehen sein.116 Man hat sich darunter wohl eine eigens dafür errichtete Bühne vorzustellen. Die Sektion wird unter freiem Himmel stattgefunden haben, wie es in anderen Orten ebenso üblich war.117 Ein ‚stationäres‘ anatomisches Theater (theatrum anatomicum; locus anatomicus) im Gebäudekomplex des Fridericianum (Altes Kolleg),118 wo sich auch die Räume der Medizinischen Fakultät befanden, konnte für die Zeit unmittelbar vor der Wende zum 17. Jahrhundert nachgewiesen werden.119 Mit dieser Datierung dürfte es zu den frühesten anatomischen Theatern an deutschen Universitäten überhaupt gehören.120 Überliefert ist, dass 1599 Sparrhölzer in das Collegium Fridericianum gebracht wurden, um für das neue theatrum anatomicum des Doktor Jessenius verwendet zu werden.121 Etwas später wurde ein Geländer eingebaut. Baurechnungen der Universität von 1599/1600 weisen Geldbeträge für Holzsparren, Nägel und Handwerkerlohn aus.122 Dieser Raum erscheint in den Quellen als „D. Joh. Jessenij neues Theatrum Anato-

113 Lück, Heiner: Zur Rechtspraxis der Leichenbeschaffung in Kursachsen während des 18. Jahrhunderts, in: Rüdiger Schultka/Josef N. Neumann (Hg.), Anatomie und Anatomische Sammlungen im 18. Jahrhundert. Anlässlich der 250. Wiederkehr des Geburtstages von Philipp Friedrich Theodor Meckel (1755–1803), Berlin 2007, S. 451–467, hier S. 456. 114 Die Unterscheidung von ‚öffentlichen‘ und ‚privaten‘ Sektionen geht auf Vesal zurück (Schütte: Medizin im Konflikt, S. 87, 97–111). 115 Zu einer Sektion in Bologna 1540 ist belegt, dass die in dem Raum aufgestellten Stuhlreihen ca. 200 Plätze umfassten. 139 Studenten und ihre Professoren seien anwesend gewesen (Schütte: Medizin im Konflikt, S. 113). 116 Koch: Anatomie als universitäres Lehrfach, S. 171. 117 Schütte: Medizin im Konflikt, S. 93. 118 Auf dem Gelände der heutigen Stiftung LEUCOREA, Collegienstraße 62. 119 Ludwig, Ulrike: Das Collegium Fridericianum als akademisches Zentrum der Leucorea. Bau, Nutzung und Alltag, in: Lück u. a.: Die Leucorea und ihre Räume, S. 57–90, hier S. 78; Gaisberg, Elgin von: Die Rekonstruktion des Collegium Fridericianum anhand historischer Pläne und Schriftquellen, in: ebd., S. 91–158, hier S. 112. 120 Ludwig: Das Collegium Fridericianum, S. 79 (hier S. 79f., auch Aussagen zur mutmaßlichen Ausstattung). Das berühmte ‚theatrum anatomicum‘ in Padua wurde 1594/95 erbaut (Wagner, Wolfgang Eric: Gebäude, in: de Boer u. a.: Lehren und Lernen, S. 431–449, hier S. 437f.). Vgl. auch den Überblick von Schweikardt, Christoph: Anatomisches Theater, in: Gerabek u. a.: Enzyklopädie Medizingeschichte, S. 61; Stukenbrock: „Der zerstückte Cörper“, S. 150f. 121 Ludwig: Das Collegium Fridericianum, S. 78. 122 Ebd.

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micum“,123 was noch einmal bezeichnend die besondere Rolle des Jessenius für die Wittenberger Anatomie unterstreicht. Bevor die Universitäten funktional konzipierte Räumlichkeiten für die Durchführung von Sektionen einrichteten, behalf man sich, indem man in vorhandene Räume für die Wintermonate Holzkonstruktionen einbaute, die nach dem Ende der kalten Jahreszeit wieder entfernt wurden.124 Die Teilnehmer an öffentlichen Sektionen hatten ein Eintrittsgeld zu zahlen.125 Die Darbietungen dienten den Bürgern, Adligen, Gelehrten und Geistlichen126 vorrangig der Schaulust und Unterhaltung. Die Verbreitung von wissenschaftlichen Erkenntnissen war nicht das Anliegen solcher Veranstaltungen. Der Charakter der ‚öffentlichen‘ Sektionen bestand darin, dass man mit einem erheblichen Eintrittsgeld daran teilnehmen konnte. Über diesen Geldbetrag regelte sich der Teilnehmerkreis.127 Es konnte somit nicht jeder, der gerade an dem Ort der Sektion vorbeikam, zuschauen und zuhören. Vielmehr wird angenommen, dass der Zugang zum Spektakel128 faktisch nur zahlungskräftigen Personen offenstand. Für Sektionen wurde das Winterhalbjahr bevorzugt.129 Eine möglichst niedrige Temperatur ermöglichte eine längere Beschäftigung mit den Leichen, bevor zwangsläufig der Verwesungsprozess einsetzte. Daher dienten auch kirchliche Räume der Vornahme von Sektionen.130 Erst seit dem frühen 18. Jahrhundert wurden von namhaften Anatomen die Zulässigkeit von Sektionen und die Abgabe von Leichen über das ganze Jahr gefordert.131 Sektionen für Lehrzwecke, aber auch solche für die Öffentlichkeit jenseits der Medizinerausbildung, wurden seit den an den oberitalienischen Universitäten entwickelten Grundsätzen nach feststehenden Regeln durchgeführt. Der zuständige Professor las und interpretierte die medizinischen Schriften, während ein oder zwei mehr oder weniger geübte Sektoren (auch Barbiere, Wundärzte und Bader)132

123 Ebd. mit Nachweisen. 124 Schütte: Medizin im Konflikt, S. 93; zu einer solchen Lösung an der Universität Leipzig vgl. Ludwig: Das Collegium Fridericianum, S. 78f. 125 Stukenbrock: „Der zerstückte Cörper“, S. 149. 126 Ebd.; Schütte: Medizin im Konflikt, S. 92f. 127 Schütte: Medizin im Konflikt, S. 98. 128 Diesen Begriff (spectacula) verwendet auch Schato 1602 in seiner Oratio Secularis […]. 129 Stukenbrock: „Der zerstückte Cörper“, S. 28, 124, 128f., 138; Schütte: Medizin im Konflikt, S. 93. 130 Schütte: Medizin im Konflikt, S. 93; für Wittenberg vgl. Meyer u. a.: Menschliche Skelettfunde. 131 Stukenbrock: „Der zerstückte Cörper“, S. 139f. 132 Zum Verhältnis dieser Berufsgruppen zu den akademisch ausgebildeten Ärzten im 18. Jahrhundert vgl. Lavouvie, Eva: Weder Götter noch in weiß. Zur Ausbildung und zum Professionalisierungsgrad von Medizinern und Chirurgen im 18. Jahrhundert, in: Eva Brinkschulte/Eva Labouvie (Hg.), Dorothea Christiana Erxleben. Weibliche Gelehrsamkeit und medizinische Profession seit dem 18. Jahrhundert, Halle (Saale) 2006, S. 80–93.

Eine Kontroverse um die öffentliche Sektion weiblicher und männlicher Leichen

die Leiche zerlegten und das Vorgetragene durch Präsentation beziehungsweise Sichtbarmachung (Zeigen beziehungsweise Hochhalten) der entsprechenden Körperteile und Organe anschaulich belegten.133 Nach diesem Schema wird auch die öffentliche Sektion134 des Johannes Jessenius im Jahre 1599 vor dem Wittenberger Schloss abgelaufen sein.

Die Kontrahenten In der hier vorzustellenden Kontroverse über Voraussetzungen und Probleme der Leichensektionen standen sich der Anatomieprofessor Johannes Jessenius und der Theologieprofessor Ägidius Hunnius d. Ä. gegenüber. Leben und Werk der beiden Persönlichkeiten sollen im Folgenden kurz skizziert werden. Der gebürtige Böhme slowakischer Herkunft Johannes Jessenius135 hat in mehreren Bereichen der Wissenschaftsgeschichte136 und in der politischen Geschichte Spuren hinterlassen. So war er für die Entwicklung von Chirurgie und Anatomie im Kontext der medizinischen Wissenschaft im Allgemeinen und für die Medizinische Fakultät an der Universität Wittenberg137 von Bedeutung. Hinzu kommen sein hochschulpolitisches Engagement als Rektor der Universität Prag und seine Rolle beim böhmischen Ständeaufstand, die ihm den Tod bringen sollte. Jessenius wurde am 27. Dezember 1566 in Breslau geboren.138 Die Wurzeln seiner Familie liegen in einem Gebiet, das zu Jessenius’ Zeit zum Königreich Ungarn gehörte. Heute befindet es sich auf dem Staatsgebiet der Slowakischen Republik (Vel’ké Jaseno, Teil von Turčianske Jaseno). Daher rührt auch sein ursprünglicher Name Jan Jesenský. Der junge Jessenius studierte seit 1583 Medizin in Wittenberg, Jena, Leipzig und Padua. An der letzteren Universität, die spätestens seit Vesal einen europaweiten Ruf genoss, wurde er 1588 zum Doktor der Medizin promoviert. Nach wenigen Monaten ärztlichen Praktizierens in Breslau berief ihn der sächsische Kurfürst Christian II. (reg. 1591–1611) zu seinem Leibarzt. 1595 hatte er Marie Thiel (1564–1612), die Tochter eines kaiserlichen Kammerregistrators, in Breslau 133 Vgl. dazu auch Stukenbrock: „Der zerstückte Cörper“, S. 14; Schütte: Medizin im Konflikt, S. 88–91, 98. 134 Zu privaten und öffentlichen Sektionen im 18. Jahrhundert vgl. Stukenbrock: „Der zerstückte Cörper“, S. 124–127. 135 Auch Jessen, Jan Jessenius, Jan Jesenský, Jan Jessenský. 136 Koch: Die Wittenberger medizinische Fakultät, S. 314; Eckart, Wolfgang U.: Jessenius, Johannes, in: Gerabek u. a.: Enzyklopädie Medizingeschichte, S. 696. 137 Kaiser/Völker: Ars medica Vitebergensis, S. 24–27. 138 Biographische Angaben nach Koch: Die Wittenberger medizinische Fakultät, S. 314; Röhrich, Heinz: Jessen(ius), Johannes (Jan Jessensky) (Reichsritterstand 1608), in: Neue Deutsche Biographie [im Folgenden: NDB], Bd. 10, Berlin 1974, S. 425–426.

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geheiratet. Im Jahr 1594 wurde Jessenius zum außerordentlichen Professor für Chirurgie an der Medizinischen Fakultät Wittenberg ernannt. Kurze Zeit später (1595) stieg er in die ordentliche Professur für Anatomie auf. Im Wintersemester 1597/98 hatte er das Rektoramt inne.139 Während des Sommersemesters 1600 stand er der Medizinischen Fakultät als Dekan vor. Jessenius beschäftigte sich vorrangig mit Sektionen menschlicher Leichen sowie von Tierkadavern. Ihm werden zehn selbst durchgeführte Sektionen zugeschrieben.140 Für einige dieser Vorführungen haben sich gedruckte Einladungen erhalten.141 Schon zu Lebzeiten machte er sich einen guten Namen als bekannter und versierter Anatom. Eine besondere Stellung innerhalb seiner beruflichen Laufbahn nimmt eine öffentliche Sektion in Prag ein.142 Jessenius führte diese im Jahr 1600 durch. Dabei handelte es sich um die erste öffentliche medizinische Präsentation eines menschlichen Körpers in den böhmischen Ländern. Demgegenüber ist die früheste nicht öffentliche Sektion an der Prager Universität schon im Jahr 1448 nachweisbar.143 Um diese Zeit (1601/02) verließ Jessenius endgültig Wittenberg. In Prag fand er eine neue Wirkungsstätte – und zwar im Dienst des wissenschaftsinteressierten Kaisers Rudolf II. (reg. 1576–1612).144 Ferner war er Leibarzt des Kaisers Matthias (1612–1619, seit 1608 als Matthias II. auch König von Ungarn, seit 1611 König von Böhmen). Im Jahr 1617 stand er als Rektor an der Spitze der Universität Prag. Ebenfalls in Prag arbeitete der bedeutende dänische Astronom Tycho Brahe (1546–1601)145 als Hofastronom. Er hatte unter anderem in Wittenberg studiert. Anlässlich seines Todes hielt sein Freund Jessenius 1601 die Leichenrede.146 Nach seinem Wechsel nach Prag schloss Jessenius Bekanntschaft mit namhaften böhmischen Ständevertretern. Im Jahr 1608 wurde er mit der Erhebung in den Reichsritterstand geadelt.147 Als Rektor der Karlsuniversität zu Prag (1617) bemühte er sich um eine erneute Blüte dieser 1348 von Kaiser Karl IV. (reg. 1346/1355–1378)

139 Koch: Die Wittenberger medizinische Fakultät, S. 314. 140 Kaiser/Völker: Ars medica Vitebergensis, S. 24. 141 Koch: Anatomie als universitäres Lehrfach, S. 172; Näheres bei Ruttkay, László: Jessenius als Professor in Wittenberg – Zum 350. Todesjahr von Jessenius, in: Communcationes de historia artis medicinae 62–63 (1971), S. 13–55. 142 Vgl. dazu Lück: ALMA LEUCOREA, S. 167. 143 Stukenbrock: „Der zerstückte Cörper“, S. 13. 144 Zu Rudolf II. vgl. Paulus, Julian: Rudolf II., in: Claus Priesner/Karin Figala (Hg.), Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, München 1998, S. 309f.; Vocelka, Karl: Rudolf II. und seine Zeit, Wien/Köln/Graz 1985; Kulturstiftung Ruhr/Villa Hügel e. V. (Hg.): Prag um 1600. Kunst und Kultur am Hofe Rudolfs II. [Ausstellungskatalog], 2 Bde., Freren 1988. 145 Vgl. dazu Ruttkay: Jessenius als Professor in Wittenberg, S. 42. 146 De vita & morte [...] Tychonis Brahei [...] oratio funebris [...], Prag 1601. 147 Seitdem auch: Iessenius a Iessen, Iessenius a Magna Iessen u. ä. – in Rückgriff auf den Herkunftsort Vel‘ké Jaseno (Groß Jesen; Groß Jessen).

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gegründeten Bildungseinrichtung, der ältesten Universität im Heiligen Römischen Reich. Sie hatte nach den Hussitenkriegen erheblich an Strahlkraft verloren. Im Jahr 1619 richtete Jessenius eine Denkschrift zur Wiederherstellung der Universität an den Generallandtag der böhmischen Länder.148 Den Vorzeichen von Reformen folgend begab er sich in den Dienst des calvinistischen ‚Winterkönigs‘ von Böhmen, Friedrich V. von der Pfalz (reg. 1619–1620).149 Im böhmischen Ständeaufstand150 vertrat er mit politischem Engagement die protestantische Sache. Er reiste als Beauftragter der böhmischen Stände nach Pressburg (heute Bratislava/Slowakei), um den ungarischen Reichstag davon abzubringen, den Habsburger Ferdinand II. (reg. 1618–1637) zum König von Ungarn zu wählen. Das führte 1618 zu seiner Verhaftung. Er wurde jedoch im Wege eines Gefangenenaustausches freigelassen. 1620 gehörte er der böhmischen Delegation an, die den ungarischen Reichstag in Neusohl (heute Banská Bystrica/Slowakei) bewegen sollte, Ferdinand II. als König von Ungarn abzusetzen. Nach der Schlacht am Weißen Berg bei Prag (8. November 1620), in der die aufständischen Böhmen eine vernichtende Niederlage erlitten hatten, wurde Jessenius am 20. November 1620 gefangengenommen und am 21. Juni 1621 in Prag neben 26 böhmischen Aufständischen hingerichtet.151 Seine sterblichen Überreste wurden zur Abschreckung am Altstädter Brückenturm angebracht.152

148 Ad Regni Boemiae, Simulque Coniunctarum, Faederatarum Provinciarum, Marchionatus Maroviae, Ducatus Silesiae, & Marchionatus Lusatiae, Inclitos Ordines, De Restauranda Antiquissima Pragensi Academia, Rectoris Jessenii […] Exhortatio […], Prag 1619. Vgl. auch Pick, Friedel (Hg.): Denkschrift des Rektors Johannes Jessenius von Groß-Jessen an den Generallandtag von 1619 über Erneuerung der Prager Universität, Prag 1920. 149 Wolf, Peter u. a. (Hg.): Der Winterkönig. Friedrich von der Pfalz. Bayern und Europa im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges [Ausstellungskatalog], Stuttgart 2003. 150 Vgl. dazu Schmidt, Georg: Der Dreißigjährige Krieg, 9. Aufl., München 2018, S. 28–34. Vgl. dazu Mout, Nicolette: Der Löwe und die Ameisen. Der böhmische Aufstand (1618–1620) im europäischen Kontext, in: Hedwig Kopetz/Joseph Marko/Klaus Poier (Hg.), Gesamtredaktion: Isabella M. Poier: Soziokultureller Wandel im Verfassungsstaat. Phänomene politischer Transformation, Wien/ Köln/Graz 2004, S. 899–910; Schmidt: Der Dreißigjährige Krieg, S. 32f.; zur Rolle des Jessenius vgl. Sousedik, Stanislav: Jan Jesenský as the Ideologist of the Bohemian Estates‘ Revolt, in: Acta Comeniana 11(XXXV) (1995), S. 13–25. 151 Vgl. Pick, Friedel: Joh. Jessenius de Magna Jessen. Arzt und Rektor in Wittenberg und Prag, hingerichtet am 21. Juni 1621. Ein Lebensbild aus der Zeit des 30jährigen Krieges, Leipzig 1926; Lindemann, Margot: Johannes Jessenius und die Prager Exekution von 1621, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 6 (1961), S. 351–368; Holá, Mlada/Holỳ, Martin: Zwischen Realität und Mythos. Tod und Begräbnisse von Professoren der Prager Universität vom 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert, in: Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis, Tom. LX, Fasc. 1 (2020), S. 125–139, hier S. 128. 152 Holá/Holỳ: Zwischen Realität und Mythos, S. 128.

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Von den zahlreichen bedeutenden Schriften, die Jessenius als Mediziner verfasst hat, sind zu nennen: Anatomiae Pragae Anno M.D.C. abs se solenniter administratae historia. Acceßit eiusdem de oßibus tractatus (Wittenberg 1601);153 Institutiones chirurgicae, quibus universa manu medendi ratio ostenditur (Wittenberg 1601); De sanguine, vena secta, dimisso judicium [...] (Nürnberg 1668). Die Medizingeschichte kann ihm jedoch „Wissenschaftliche Spitzenleistungen […] nicht bescheinigen.“154 Nähere Untersuchungen zu seinen, insbesondere deutschsprachigen, Werken fehlen.155 Er genießt aufgrund seiner ungarisch-slowakischen Abstammung und seines Wirkens in Prag in Tschechien sowie in der Slowakei bis heute ein sehr hohes Ansehen.156 Die Slowakische Akademie der Wissenschaften verleiht an herausragende Wissenschaftler die Jessenius-Medaille. Ausgehend von seinen politischen Interessen hat sich Jessenius auch zu Fragen der Staatstheorie publizistisch geäußert, etwa mit seiner Schrift Pro vindiciis contra tyrannos, oratio [...] (erstmals Frankfurt am Main 1614).157 Auch über verschiedene Aspekte des ungarischen Königtums hat Jessenius mehrere Schriften publiziert, darunter Disputationen und Reden.158 Jessenius setzte sich dafür ein, dass die Chirurgie ein vollwertiges akademisches Lehrfach, das heißt mit statutenmäßig verankerter Professur, wurde. Ägidius Hunnius d. Ä. stammt aus Winnenden in Württemberg. Dort wurde er am 21. Dezember 1550 geboren. Sein Vater war Färbermeister. Er immatrikulierte sich an der Universität Tübingen, wo er 1567 den Magistergrad erwarb. Zu seinen akademischen Lehrern gehörten die lutherischen Theologen Jakob Andreae (1528–1590), der später für Kursachsen Bedeutung erlangen sollte,159 und Jakob Heerbrand (1521–1600). 1576 wurde er in Tübingen zum Doktor der Theologie promoviert und trat im gleichen Jahr wenig später ein Professorenamt an der hes-

153 Zu den medizinischen Fachtermini in diesem Werk vgl. Florianová, Hana: Die medizinische Terminologie in Jessenius’ Werk Anatomia Pragensis (1601), in: Listy filologické CXXX (2007), S. 329–338. 154 Kaiser/Völker: Ars medica Vitebergensis, S. 26. 155 Schlöder, Christian/Schochow, Maximilian/Steger, Florian: Die Medizinische Fakultät der Universität Wittenberg 1502–1817. Stand der Forschung, in: Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 99/1 (2015), S. 15–30, hier S. 23. 156 Ebd. 157 Vgl. dazu Šolcová, Kateřina: Jessenius’ Contribution to Social Ethics in 17th century Central Europe, in: Ethics & Bioethics (in Central Europe) 8 (2018), S. 23–40. 158 Z. B.: De Sacrae Coronae Regni Hungariae […], Augsburg 1613; Ad Matthiam II. Ungariae, Et Boemiae Regem […], Wien 1611; Regis Ungariae Matthiae II. Coronatio, Hamburg 1609. 159 Ausführlich Ludwig, Ulrike: Philippismus und orthodoxes Luthertum an der Universität Wittenberg. Die Rolle Jakob Andreäs im lutherischen Konfessionalisierungsprozeß Kursachsens (1576–1580), Münster 2009.

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sischen Universität Marburg an.160 Den kirchlichen Zuständen in Hessen stand er sehr kritisch gegenüber. Nach seiner Auffassung entsprachen diese nicht hinreichend der Lehre Martin Luthers. Mit dem Landesherrn, Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-Kassel (reg. 1567–1592), geriet er in einen tiefgreifenden Konflikt, in dessen Ergebnis eine konfessionelle und politische Spaltung Hessens erfolgte.161 Im Jahre 1592 folgte er einem Ruf an die Universität Wittenberg.162 Seine Ehefrau Eleonore Felder (1554–1620), die Hunnius 1576 geheiratet hatte, gebar acht Kinder. Der Sohn Nikolaus Hunnius (1585–1643) wurde Theologieprofessor an der Universität Wittenberg.163 Ein weiterer Sohn, Ägidius Hunnius d. J. (1594–1642), schlug ebenfalls die theologische Laufbahn ein. Er wirkte unter anderem als Generalsuperintendent und Beisitzer des Konsistoriums in Altenburg. Die Wittenberger theologische Professur des Ägidius Hunnius d. Ä. war mit weiteren Ämtern verbunden. Dazu gehörten das Amt des Propstes an der Schlosskirche sowie das des Stadtpfarrers und Superintendenten.164 Er fungierte als Senior der Theologischen Fakultät und bekleidete mehrfach das Amt des Dekans. Im Wintersemester 1592/93 stand er als Rektor an der Spitze der Leucorea.165 Als streitbarer Gelehrter hat sich Hunnius unter anderem in der Auseinandersetzung mit der Gnadenwahllehre Samuel Hubers (1547–1624) hervorgetan.166 Das Regensburger Religionsgespräch 1601 nutzte er, um sich dezidiert gegen die Jesuiten zu wenden.167 Mit dem Helmstedter Ramisten168 Daniel Hofmann (um 1538–1611) lieferte er sich eine scharfe Polemik.169 Gemeinsam mit Polykarp Leyser d. Ä. (1552–1610), der aus dem gleichen schwäbischen Ort wie Hunnius stammte, gilt

160 Vgl. dazu Rudersdorf, Manfred: Ludwig IV. Landgraf von Hessen-Marburg 1537–1604. Landesteilung und Luthertum in Hessen, Mainz 1991, S. 224–249. 161 Vgl. dazu ausführlich ebd. 162 Kohnle, Armin/Kusche, Beate (Hg.): Professorenbuch der Theologischen Fakultät der Universität Wittenberg 1502 bis 1815/17, Leipzig 2016, S. 82–84; vgl. auch Bohnert, Daniel: Wittenberger Universitätstheologie im frühen 17. Jahrhundert. Eine Fallstudie zu Friedrich Balduin (1575–1627), Tübingen 2017, S. 45f., sowie Ligniez, Annina: Das Wittenbergische Zion. Konstruktion von Heilsgeschichte in frühneuzeitlichen Jubelpredigten, Leipzig 2012, S. 287f. 163 Vgl. Lück: ALMA LEUCOREA, S. 149f. 164 Vgl. dazu ebd., S. 103, 150. 165 Zu ihm vgl. auch Mahlmann, Theodor: Hunnius, Ägidius, in: TRE XV (1993), S. 703–707. 166 Vgl. Lück: ALMA LEUCOREA, S. 146. 167 Ligniez: Das Wittenbergische Zion, S. 287. 168 Ramismus war eine auf Petrus Ramus (1515–1572) zurückgehende Kritik der Philosophie des Aristoteles, die mit einer Zurückdrängung des Melanchthonianismus zugunsten der aristotelischen Metaphysik verbunden war. Der Verdacht, dieser Strömung zu folgen, konnte Maßregelungen zur Folge haben. Vgl. Lück: ALMA LEUCOREA, S. 175. 169 Bohnert: Wittenberger Universitätstheologie, S. 52. Zu Hunnius vgl. vor allem Matthias, Markus: Theologie und Konfession. Der Beitrag von Ägidius Hunnius (1550–1603) zur Entstehung einer lutherischen Religionskultur, Leipzig 2004.

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Ägidius Hunnius d. Ä. als Mitbegründer der Wittenberger lutherischen Orthodoxie.170 Bemühungen, ihn nach Tübingen zurückzuholen, hatten keinen Erfolg. Der Administrator Friedrich Wilhelm I., Herzog von Sachsen-Weimar (reg. 1573–1602, als Kuradministrator 1591–1601), und Vormund171 des minderjährigen Kurfürsten Christian II. vermochte, Hunnius in besonderer Weise an Wittenberg zu binden. In diesem Kontext steht die Schenkung des Gebäudes ‚Propstei‘ gegenüber der Schlosskirche.172 Das gleiche Ziel verfolgte der Rat der Stadt Wittenberg, indem er dem offenbar beliebten Stadtpfarrer im Einvernehmen mit der Brauerinnung ein weiteres Braurecht gewährte.173 Die Stadt Leipzig beabsichtigte 1594, Hunnius auf die dortige Superintendentur und Pfarrstelle zu berufen. Hunnius blieb in Wittenberg. Dort soll er sich als Stadtpfarrer einer überdurchschnittlich großen Gemeinde erfreut haben.174 Im Jahr 1596 kam Leonhard Hutter (1563–1616) in die Theologische Fakultät.175 Er, ebenfalls ein Schwabe, komplettierte das „berühmte lutherische Dreigespann“176 (Hunnius d. Ä., Leyser d. Ä., Hutter), welches im konfessionellen Diskurs des Reiches allgegenwärtig war. Als wichtige Werke des Hunnius werden in der Literatur angeführt: Confessio Oder Kurtze Einfeltige vnd in Gottes Wort gegründte Bekendtnüs Von der Person Christi und ihrer Majestet nach der angenommenen Menschheit (1577, gedruckt Wittenberg 1609); Libelli IIII. De persona Christi, eiusque ad dextram de sedentis divina […] (Frankfurt am Main 1585); Calvinus Iudaizans, hoc est Iudaicae glossae et corruptelae, quibus Iohannes Calvinus illustrissimae Scripturae sacrae loca & Testimonia dei gloriosa Trinitate, Deitate Christi et Spiritus sancti […] corrumpere non exhorruit (Wittenberg 1593). Eine Ausgabe seiner gesammelten lateinischen Schriften erschien in fünf Bänden ([…] Operum Latinorum […], Wittenberg 1607–1609).

170 Matthias, Markus: Orthodoxie, I. Lutherische Orthodoxie, in: TRE XXV (1995), S. 464–485, hier S. 469; zu ihren Disputationen im Vergleich vgl. Appold, Kenneth G.: Orthodoxie als Konsensbildung. Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710, Tübingen 2004, S. 176–192. 171 Zu seiner Rolle vgl. jetzt die Leipziger phil. Diss. von Kusche, Sebastian: Kuradministration, Luthertum und Territorium. Staats- und Kirchenbildung in Kursachsen am Ende des Reformationsjahrhunderts, 2021 (Druck in Vorbereitung). 172 Bohnert: Wittenberger Universitätstheologie, S. 46; Ludwig, Ulrike: Die ehemalige Canzley und Probstey in Wittenberg. Ein Beitrag zur Geschichte der Stadt und der Universität vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Wittenberg 2005, S. 17–20. 173 Ludwig: Philippismus und orthodoxes Luthertum, S. 385. 174 Ebd. 175 Kohnle/Kusche: Professorenbuch der Theologischen Fakultät, S. 87f. 176 Lau, Franz: Hunnius, Ägidius, in: NDB 10 (1974), S. 67f., hier S. 67.

Eine Kontroverse um die öffentliche Sektion weiblicher und männlicher Leichen

Inhalt der Kontroverse Johannes Jessenius und Ägidius Hunnius d. Ä. gerieten aus Anlass der eingangs erwähnten Sektion einer Frauenleiche in der Öffentlichkeit aneinander. Der Streit vollzog sich in Gestalt eines Schriftwechsels zwischen Hunnius, dem Amtsschösser von Wittenberg (Caspar Meiner), dem Administrator der Kur Sachsen (Friedrich Wilhelm I. von Sachsen-Weimar) und einer gedruckten Schrift des Jessenius mit programmatischem Inhalt. Mit einem am 24. März 1598 in Torgau verfassten Schreiben177 wandte sich der Administrator des Kurfürstentums Sachsen an den Schösser des Amtes Wittenberg Caspar Meiner.178 Darin teilt er dem Schösser mit, dass Johannes Jessenius ihn gebeten habe, ihm eine Frau, die wegen begangenen Ehebruchs demnächst hingerichtet werden würde, für die Anatomie zu überstellen. Den Schösser wies der Administrator an, den „todten cörper“ nach erfolgter Hinrichtung („mit der ordentlichen straf des ehebruchs“) dem Johannes Jessenius nicht vorzuenthalten. Eine gewisse Zeit danach, die sich nicht näher bestimmen lässt, ist die Leiche dem Jessenius offenbar zur Verfügung gestellt worden. Das entsprach vollkommen den Fakultätsstatuten von 1572 und den Festlegungen von 1587, nach denen die Ämter als landesherrliche Gerichtsbehörden Hingerichtete auf Verlangen an die Anatomie abzugeben hatten. Dieses Schreiben hat noch nichts mit der von Hunnius kritisierten Anatomie des Jessenius vor dem Wittenberger Schloss zu tun. Es belegt lediglich die ganz verbreitete Praxis. Jessenius führte offenbar diese Sektion durch. Weitere folgten sicherlich. Die öffentliche Sektion einer Frauenleiche vor dem Schloss veranlasste Hunnius jedoch, sich einzuschalten.

177 Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden [im Folgenden: SHSTAD], 10024, Geh. Rat/ Geh. Archiv, Loc. 10540/03, Universitaet zu Wittenberg 1597. 1602., Dritter Theil, fol. 109. 178 Auch Menau, Meyner, Mainer. Caspar Menau besaß 1577–1624 ein Haus in der Collegienstraße (Nr. 90) – Hennen, Insa Christiane: Reformation und Stadtentwicklung – Einwohner und Nachbarschaften, in: Heiner Lück u. a. (Hg.), Das ernestinische Wittenberg. Stadt und Bewohner, Textband, Petersberg 2013, S. 33–76, hier S. 69; Jäger, Franz/Pickenhan, Jens (Bearb.) unter Mitarbeit von Cornelia Neustadt und Katja Pürschel: Die Inschriften der Stadt Wittenberg, Teil 2, Wiesbaden 2019, Nr. 394 (S. 679). Eine Nachricht aus dem Jahr 1592 nennt Meiner unter Personen, die wegen ihres Verhältnisses zum Calvinismus ihre Ämter verloren hätten, jedoch in Wittenberg als Privatpersonen weiterhin bleiben könnten (UBW I, Nr. 478, S. 594, mit Anm. 1). In einem Schreiben vom 18. April 1621 wird Meiner von Friedensburg als „gewesenen Amtschösser“ bezeichnet (Friedensburg, Walter [Bearb.]: Urkundenbuch der Universität Wittenberg, Teil 2: 1611–1813, Magdeburg 1927, Nr. 614, S. 40–41, hier S. 41 mit Anm. 3). Somit hatte Meiner das Schösseramt im Frühjahr 1621 nicht mehr inne.

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Am 12. Dezember 1599 schrieb Ägidius Hunnius d. Ä. an den Amtsschösser Caspar Meiner.179 Darin berichtet er zunächst, dass ihn die Ehefrau eines Mannes namens Zeigner ersucht habe, dem Schösser zu schreiben. Ihr Mann sei zum Tod durch den Strang verurteilt worden und sollte am kommenden Freitag (also am 17. Dezember) hingerichtet werden. Sie bat nun Hunnius, sich für eine Umwandlung der Strafe durch Erhängen in eine Strafe durch Enthauptung mit dem Schwert einzusetzen. Hunnius plädiert für eine solche Strafmilderung. Er meint, dass beide Strafarten auf den gleichen Effekt, das heißt Herbeiführung des Todes, gerichtet seien. Daher hätte er keine Bedenken, dem Gesuch der Frau Zeigner zu folgen. Sodann wendet sich Hunnius in demselben Schreiben der öffentlichen Anatomie, die Jessenius „ohnlengst“ öffentlich vor dem Schloss zu Wittenberg an einer „WeibsPerson“ vorgenommen habe, zu. Diese Frau sei in Schmiedeberg als Ehebrecherin hingerichtet worden.180 Hunnius kritisiert diese Anatomie, weil Jessenius nach seiner Auffassung dazu nicht berechtigt gewesen sei. Ihm, dem Jessenius, hätte seines Wissens kein landesherrliches Privileg („specialem conceßione[m] illustrissimi principis“), das auf die anatomierte Person ausgestellt war, vorgelegen. Diese Anatomie sei zudem nicht ohne Skandal verlaufen. Hunnius nehme dieses Vorkommnis zum Anlass, um Gedanken dazu zu äußern („gedanckh[en] anzeigen“), wie in Zukunft mit solchen Fällen umgegangen werden solle. Ihm sei berichtet worden, dass Jessenius „noch viel solche actus celebrirn“ wolle. Er trägt vor, dass im Hinblick auf Frauen „Ihrer section halber allerhand bedenckh[en]“ bestünden. Diese berühren zum Teil die Erhaltung von „zucht vnd erbarkeit.“ Daher solle man dem Jessenius nicht mehr erlauben, Frauenleichen öffentlich zu sezieren, sofern dieser nicht eine landesherrliche Erlaubnis, die im Einzelfall („singulariter“) konkret auf die zu sezierende tote Person („in indiuiduo“) gerichtet ist, vorweisen kann. Hunnius formuliert zwei Bedingungen, unter denen Sektionen grundsätzlich erlaubt sein sollten: 1) ausdrückliche fürstliche Erlaubnis; 2) Zustimmung der Verwandten. Des Weiteren sollte zuvor mit den Verwandten der zur Anatomie vorgesehenen toten Person gesprochen und Einigkeit über die Vornahme der Sektion erzielt

179 Geringfügig gekürzte Fassung in: UBW I, Nr. 508, S. 616–618. Zitiert wird nach der handschriftlichen Überlieferung im SHSTAD, 10024, Geh. Rat/Geh. Archiv, Loc. 10540/03, Universitaet zu Wittenberg 1597 […] Dritter Theil, fol. 186–187. 180 Todesstrafe für Ehebruch gem. Kursächsischen Konstitutionen, 4. Teil, Konstitution XIX (benutzter Text in: Cod. Aug. I, Sp. 73–132, hier Sp. 122). Aus späterer Zeit (18. Jahrhundert) gibt es Belege dafür, dass die hingerichteten Straftäter für die öffentliche Sektion genutzt werden konnten, während ehrenvoll Verstorbene, etwa Arme, nicht in dieser Form der Öffentlichkeit preisgegeben werden sollten. Deren Leichen wurden vor einem Fachpublikum (Studenten usw.) privat zergliedert, vgl. Stukenbrock, „Der zerstückte Cörper“, S. 124f.

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werden. Er, Hunnius, wisse freilich, dass die Statuten der Medizinischen Fakultät Sektionen zu Unterrichtszwecken vorsehen würden. Er verweist darauf, dass Jessenius vor etwa eineinhalb Jahren181 gegen den Willen des Ehegatten und der Verwandten eine Frauenleiche zur Anatomie verlangt habe. Daran würde sich der Adressat des Briefes, also der Amtsschösser, gewiss erinnern. Jessenius hätte „vnuerschempt“ gefordert, das Grab der Frau wieder zu öffnen und ihren Leichnam herauszunehmen. So etwas würden nicht einmal die Heiden gestatten, da die Gräber jeder Schändung entzogen sein sollen („so die sepulcra wellen vor aller violation befreyet haben“). Bei allen Leichen Hingerichteter müsse Folgendes beachtet werden: Zunächst sei zu unterscheiden, ob die Hinrichtung mit dem Strang oder mit dem Schwert erfolgt sei. Wer durch das Schwert hingerichtet wurde, erfahre eine Strafe, die mit Eintritt des Todes, also unmittelbar nach Abtrennen des Kopfes, vollständig vollstreckt und beendet sei. Ausnahmen könnten darin bestehen, dass im Urteil weitere strafende Elemente nach der Hinrichtung mit der Folge des Ehrverlusts festgelegt waren.182 Ist das aber nicht der Fall, was die Regel gewesen sein dürfte, wäre es gegen alle Rechte und die Billigkeit, den toten Körper nach der Hinrichtung nachträglich zu entehren.183 Würde sich Jessenius in einem solchen Fall mit der Familie des Hingerichteten einigen („sich mitt den nechsten angewandten dermaß[en] verglich[en] vnd Inen solche erstattung gethan, dass sie darmit köndten zufriden seyn“), so wäre die sich anschließende Anatomie rechtens. Auf die Statuten der Medizinischen Fakultät wird verwiesen. Etwas anderes gelte, wenn jemand mit dem Strang hingerichtet werde. Denn „mitt dem bloßen auffhengen“ hätte er „sein vrtheil nicht völlig aussgestanden.“ Der Erhängte müsse nach Eintritt des Todes am Galgen hängen bleiben und solle „von raben verzehret werden.“ Mit einem solchen Urteil und dessen Vollstreckung werde ihm das Grab verweigert. Er müsse zur Abschreckung („zum schewsal“) am Galgen hängen bleiben, was die größere Schande nach dem Tod darstelle. In diesen Fällen hält Hunnius „desto eher vnd mitt besserm gewiss[en]“ eine Genehmigung der Abnahme vom Galgen (seitens der Gerichtsherrschaft) zwecks Sektion mit anschließendem Begräbnis für berechtigt. Doch sollte auch das nicht ohne Einwilligung der Familie des Hingerichteten geschehen.

181 Also etwa im Frühsommer oder im späten Frühjahr des Jahres 1598. Die Bezugnahme auf das Schreiben des Administrators an den Amtsschösser von Wittenberg vom 24. März 1598 ist offensichtlich. 182 Gebräuchlich war das Befestigen eines Hingerichteten auf einem Wagenrad, das auf einer Stange oder an einem anderen weithin sichtbaren Ort zur Abschreckung aufgerichtet wurde. 183 Hier kommt zum Ausdruck, dass die Anatomie auch als nachträgliche Bestrafung empfunden wurde. Diese Auffassung war noch im späten 18. Jahrhundert weit verbreitet. Vgl. Lück: Zur Rechtspraxis der Leichenbeschaffung, S. 460; Stukenbrock, „Der zerstückte Cörper“, S. 235–240.

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Sodann wiederholt Hunnius noch einmal seine Position im Hinblick auf die Sektion von Frauenleichen. Dazu sollten nach seiner Ansicht keine Genehmigungen erteilt werden („halt Ich auss vilen bedencklich[en] vrsach[en] darfür, dass es nicht zu erlaub[en] [...]“), es sei denn, die eingangs formulierten Voraussetzungen wären erfüllt. In diesem Schreiben problematisiert Hunnius mehrere wichtige Fragen im Zusammenhang mit der Anatomie. Zunächst weist er darauf hin, dass eine Sektion nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig sei. Er nennt das Vorliegen einer ausdrücklichen landesherrlichen Berechtigung (Privileg) und die Zustimmung der Verwandten. Des Weiteren weist er auf die unterschiedlichen Arten der Hinrichtungen hin. Diese Auffassungen entsprachen den Rechtsanschauungen und der Rechtspraxis der Zeit. Ein klarer Beleg für die Wirkung der Strafe durch Erhängen über den Eintritt des Todes hinaus findet sich beispielhaft in der aktenmäßigen Überlieferung des Strafprozesses gegen Hans Schenitz, den Finanzbeschaffer Kardinal Albrechts (Erzbischof von Mainz und Magdeburg, reg. 1513/14–1545). Schenitz ist 1535 zum Tod am Galgen verurteilt und hingerichtet worden. Seine Verwandten haben bei den Räten des Kardinals einen Antrag gestellt, den Leichnam vom Galgen abnehmen zu dürfen. Der Antrag wurde abgelehnt.184 Wie schon gezeigt, war die Beschaffung von Leichnamen für die Anatomie ein strukturelles Problem der Medizinerausbildung an allen Universitäten der Frühen Neuzeit. Einerseits war in den Fakultätsstatuten seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts regelmäßig die Pflicht, ausbildungshalber Leichensektionen durchzuführen, festgeschrieben;185 andererseits war nicht geregelt, wie die Mediziner in den Besitz von Leichen für Lehrzwecke kommen sollten. Rechtliche Regelungen dazu fehlten bis zum späten 16. Jahrhundert. Man setzte auf aufgefundene Leichen, für die Angehörige nicht zu ermitteln waren, sowie auf Verstorbene in Hospitälern, Siechhäusern und Gefängnissen.186 Auch Selbstmörder, die durch ihre Tat als ehrlos galten, zählten zu diesem Personenkreis.187 Leichname aus den

184 Vgl. Lück, Heiner: Kardinal Albrecht versus Hans Schenitz. Ein Prozess nach sächsischem Recht 1534/35, in: Lutherjahrbuch 74 (2007), S. 133–152, hier S. 147. 185 Die Statuten der Medizinischen Fakultäten aus dem 16. und 17. Jahrhundert sahen jährlich eine Sektion bis zwei Sektionen pro Jahr vor. Auch Regelungen zu einer Sektion alle zwei Jahre lassen sich nachweisen. Vgl. Stukenbrock: „Der zerstückte Cörper“, S. 26, 128; Schütte: Medizin im Konflikt, S. 109. 186 Die Abgabe von in der Haft verstorbenen Personen an die Anatomie sah man noch im 18. Jahrhundert als Fortsetzung der Strafe nach dem Tode an (Lück: Zur Rechtspraxis der Leichenbeschaffung, S. 460). 187 Ebd., S. 454. Zur Erweiterung dieses Personenkreises im 17. und 18. Jahrhundert um Verunglückte, Arme, ledige Mütter, uneheliche Kinder, Invalide und Freiwillige siehe Stukenbrock: „Der zerstückte Cörper“, S. 46–78.

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genannten Einrichtungen waren in der Regel von vorausgegangenen Erkrankungen oder Altersschwachheit gekennzeichnet. Der anatomische Erkenntnisgewinn war dadurch geringer als bei einem Leichnam, welcher am Ende eines halbwegs gesunden Lebens und zudem in einem noch nicht ganz soweit fortgeschrittenen Lebensalter angefallen war. Daher stellten Leichname infolge von Hinrichtungen eine von den Anatomen bevorzugte Gruppe von Sezierobjekten dar. Das hatte man relativ früh gesehen und die Verwendung der Hingerichteten zu anatomischen Zwecken seitens der Gerichtsobrigkeiten – zunächst auch ohne Rechtsgrundlage – wohl geduldet. Dagegen stand freilich das Gebot der Totenruhe, dessen Verletzung seit der Antike ein Straftatbestand ist.188 Auch vor dem Phänomen des Scheintodes hatte man im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Angst.189 In dem Theatrum Poenarum des Jacob Döpler (1697) heißt es daher repräsentativ, dass der Gehängte nach Eintritt des Todes am Galgen hängen bleiben müsse; es sei denn, er würde zur Anatomie erbeten.190 Diese bereits seit dem Mittelalter verbreitete Ansicht scheint auch in dem Schreiben des Hunnius auf. Es enthält aber darüber hinaus noch eine weitere bemerkenswerte Aussage. Gleich zu Beginn stellte der Theologe fest, dass die von Jessenius an einer Frauenleiche vorgenommene Anatomie „nicht allerdings absq[ue] scandalo abgangen“ sei.191 Hunnius scheint somit noch etwas ganz anderes zu bewegen als die formalrechtlichen Voraussetzungen einer Anatomie. Am Ende seines Schreibens betont er noch einmal, dass die Anatomien ordnungsgemäß vorgenommen werden müssten, um „ergernis vnd nachred[e]“ zu vermeiden.192 In Bezug auf Frauenleichen als Objekte von Sektionen würden generell Bedenken bestehen, „so zum theil erhaltung zucht vnd erbarkeit anlanget.“ Es geht offenbar um die 188 Ausführlich dazu Kretschmer, Bernhard: Der Grab- und Leichenfrevel als strafwürdige Missetat, Baden-Baden 2002; Überblick bei Lück: Zur Rechtspraxis der Leichenbeschaffung, S. 452–454. 189 Vgl. auch Lück: Zur Rechtspraxis der Leichenbeschaffung, S. 455. Diesem Thema hatte die Charité zu Berlin 2018 eine medizinhistorische Ausstellung gewidmet: ‚Scheintot: Über die Ungewissheit des Todes und die Angst, lebendig begraben zu werden‘. Ein Katalog ist nicht erschienen; vgl. dazu den Bericht von Košenina, Alexander: Wenn die Toten erwachen. Da hörten sie ein lieblich Stimm, auf ihrer Mutter Grab: Eine medizinhistorische Ausstellung an der Charité widmet sich der Angst vor dem Scheintod, in: FAZ vom 25. April 2018, S. N4. 190 „Bey uns in Teutschland aber werden der eingeführten Gewonheit nach die Diebe so am Galgen gehenckt wie auch die Räuber und Mörder so auffs Rad geleget nicht wieder herab genommen und begraben sondern müssen andern zum abschreckenden Exempel dran behangen und drauff beliegen bleiben und den Raben zur Speise werden. Es wäre denn Sache daß ein Dieb zur Anatomie ausgebethen würde.“ (Jacobi Döpleri Theatri Poenarum, Suppliciorum Et Executionum Criminalium Oder Schau-Platzes Derer Leibes- und Lebens-Strafen Anderer Theil, Leipzig 1697, S. 250f.). 191 UBW I, Nr. 508, S. 616. Vgl. auch Friedensburg: Geschichte, S. 456f. 192 SHSTAD, 10024, Geh. Rat/Geh. Archiv, Loc. 10540/03, Universitaet zu Wittenberg 1597 […] Dritter Theil, fol. 187v.

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öffentliche Wirkung von Jessenius’ anatomischer Vorführung, die nichts mit den formalen rechtlichen Voraussetzungen zu tun hat. Für das Publikum war die Rechtsgrundlage unsichtbar und auch nicht von irgendeinem Interesse. Die Anatomie einer Frauenleiche wird schon deshalb etwas Besonderes gewesen sein, weil hier verschiedene Körperteile, gewiss auch die typisch weiblichen, öffentlich zu sehen waren. Es spricht einiges dafür, dass sich Hunnius vor allem gegen diesen Aspekt der Anatomie des Jessenius wandte. In demselben zeitlichen und überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhang steht das Gesuch, welches der Amtsschösser von Wittenberg unter dem 17. Dezember 1599 an den Administrator richtete.193 Darin teilt er mit, dass vier gefangene Männer wegen Diebstahls zum Tode durch den Strang verurteilt worden wären. Die Strafe solle auch am kommenden Dienstag (also am 21. Dezember) vollstreckt werden. Johannes Jessenius hätte darum gebeten, eine Leiche (Cadauer) zur Anatomie zu geben. Er, der Schösser, hege keine Bedenken. Das Begehren des Jessenius würde sowohl den Statuten der Medizinischen Fakultät als auch der Verordnung des Kurfürsten194 entsprechen. Nunmehr hätte aber der Superintendent Hunnius darum gebeten, dass einem der Verurteilten die Strafe des Strangs erlassen und statt ihrer die Strafe der Enthauptung angewendet werden möge. Würde man der Meinung Hunnius’ folgen, könnte der mit dem Schwert Hingerichtete nicht ohne weiteres der Anatomie überlassen werden. Der Schösser bittet den Administrator zu entscheiden, ob die Strafe in Enthauptung umgewandelt werden könne und der Hingerichtete beziehungsweise einer der Hingerichteten an Jessenius zur Anatomie übergeben werden könne. Die Antwort des Admininstrators ist nicht überliefert. Jessenius verteidigte sein Vorgehen im Sinne der Wissenschaft.195 In seiner im Jahr 1600 in Wittenberg erschienenen programmatischen Einladung Pro Anatome Sua Actio, & Ad Spectandum Invitatio. Witebergae […] Anno. M. DC.196 legte er die Gründe für sein Handeln im Interesse der wissenschaftlichen Erkenntnis dar. Darin führte er aus, dass die Statuten der Medizinischen Fakultät, die er mit einem Auszug wörtlich zitiert,197 die von Kurfürst August erlassene Rechtsgrundlage für Sektionen Hingerichteter, sowohl Enthaupteter als auch Erhängter, wäre.198 Eingeleitet 193 Ebd., fol. 185/188. 194 Gemeint ist offenbar die Universitätsordnung von 1588. 195 Iohannis Iessenii a Iessen pro anatome sua actio, et ad spectandum invitatio. Wittenberg 1600 [im Folgenden: Invitatio]. Vgl. dazu auch Ruttkay: Jessenius als Professor in Wittenberg, S. 37ff.; Sobiech, Frank: Ethos, Bioethics and Sexual Ethics in Work and Reception oft he Anatomist Niels Stensen (1638–1686). Circulation of Love, Dordrecht 2016, S. 96. 196 VD 16 ZV 8665. Benutzt wurde das Exemplar in der Forschungsbibliothek Gotha, Sign.: Diss. phil. 8°00025 (41). 197 Aus dem Kapitel De officio professorum artis medicae (UBW I, Nr. 351, S. 381). 198 „Ne desint autem subiecta Anatomicis administrationibus, facimus potestatem Collegio, vt idoneo ad sectiones tempore à Praefectis aut Quaestoribus nostris, aut Magistratu oppidano, cadavera

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wird dieses Zitat mit dem Hinweis auf den rechtlichen Charakter der Fakultätsstatuten als landesherrliches Privileg: „En Augusti Saxoniae Principis & Electoris pientißimè defuncti Facultati nostrae hisce expressum privilegium.“199 Jessenius fordert, dass die Sezierung menschlicher Körper nicht Schlächtern und unmenschlichen Henkern („contra truculentos & inhumanos carnifices“) überlassen werden könne.200 Er tritt für die Sezierung von Leichen beiderlei Geschlechts, die aus Hinrichtungen hervorgegangen waren, ein.201 Diese Praxis wird Jessenius an der Universität Padua, wo er 1588 zum Doktor der Medizin promoviert worden war, kennengelernt haben. Die dortigen Statuten sahen die Sektion je einer männlichen und einer weiblichen Leiche pro Jahr vor.202 Den Vorwurf, er würde tote Menschen entehren, weist er entschieden zurück. Die Schrift endet mit einer Einladung zur Sektion eines Leichnams männlichen Geschlechts, den er nach einer Hinrichtung mit dem Schwert („in gladij, verso supplicio“) erhalten hatte.203 Der Kolophon datiert die Schrift auf Januar 1600.204 Sie scheint als unmittelbare Reaktion auf den oben vorgestellten Schriftwechsel entstanden zu sein. Hier findet sich auch die Reihenfolge, mit der Jessenius bei Sektionen vorzugehen pflegte: Zerlegen des Gehirns, Öffnen des Thorax, Öffnen des Unterleibs, Offenlegen der Muskeln an einem Arm und an einem Bein, Zeigen der Venen und Arterien, Sichtbarmachen des Knochenbaus.205

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strangulatorum, aut capite tru[n]catorum ad hunc vsum postulent, quae concedi eis sine recusatione volumus, nisi gravis aliqua, aut justa causa obstat.” (Invitatio, fol. 2v). Invitatio, fol. 2v. Ebd., fol. 2r. „Mihi, pro observandis monstrandisq[ue] quibusdam internis motibus, aliquam in viventia bruta immisericordiam permittite, atq[ue] cadavera tam mascula quàm foeminea diruenda humana.” (ebd., fol. 2r/v). Stukenbrock: „Der zerstückte Cörper“, S. 14. „Hoc tanto munere vt vtamur fructuosius, quod antehac non nisi seorsim paucis licuit, in theatro ipso sectionem obituri sumus publicam; quò etiam, ex quovis subselliorum loco, directioribus oculorum radijs rem intueri ipsam valeatis, alia formà constructa cavea est, simulq[ue] angustiae cautum.” (Invitatio, fol. 4r). Ebd., fol. 4v. „Exordium operis à cerebri Anatome facturus sum, mox ad abdominis & thoracis apertionem progressus, manus pedisq[ue] musculos examinaturus, in oppositis verò artubus venas atq[ue] arterias. Deniq[ue] ossium differe[n]tias & connexiones dispiciemus.” (Invitatio, fol. 4r/v; Friedensburg: Geschichte, S. 457).

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Schluss Jessenius’ mehrfache Betonung des Umstandes, dass die Anatomie an männlichen und weiblichen Leichen im Interesse der Wissenschaft vorgenommen werden müsse, unterstützt die oben vorgetragene Deutung der Stoßrichtung im Schreiben des Ägidius Hunnius d. Ä. vom 12. Dezember 1599. Seine Einwendung als Koryphäe und Autorität der lutherischen Orthodoxie konnte die weitere Sektion von Frauenleichen nicht aufhalten, weder in Wittenberg noch anderswo. Aus dem 18. Jahrhundert haben sich mehrere Ankündigungen öffentlicher Sektionen von Männer- und Frauenleichen, verbunden mit entsprechenden Einladungen, an der Universität Wittenberg erhalten.206 Sie scheinen im medizinischen Studienbetrieb zur Normalität geworden zu sein – flankiert von den erkenntnisfördernden Maximen der Aufklärung,207 der sich insbesondere die Wittenberger lutherische Orthodoxie, letztlich erfolglos, entgegengestellt hatte.208

206 Lück: ALMA LEUCOREA, S. 232. 207 Vgl. dazu Leven: Geschichte der Medizin, S. 46–50; Stukenbrock: „Der zerstückte Cörper“. 208 Vgl. Lück: ALMA LEUCOREA, S. 193–263.

Jürgen Schlumbohm

Heikle Hände Die manuelle Untersuchung in der Lehre und Praxis deutscher Geburtshelfer, 1750–1830 Das Vordringen von Medizinern, also Männern, in das traditionell von Frauen bestellte Feld der Geburtshilfe wird im Allgemeinen mit der Erfindung und Verbreitung von Instrumenten, insbesondere der Zange, in Verbindung gebracht, den Hebammen hingegen die Arbeit mit den bloßen Händen zugeschrieben.1 Die Geschichte der Geburtshilfe in deutschsprachigen Ländern bietet in der Tat gute Gründe für diese Sicht. Ein extremer Verfechter der ‚künstlichen‘, also instrumentellen Geburtshilfe war Professor Friedrich Benjamin Osiander (1759–1822), der 30 Jahre lang das Entbindungshospital der Universität Göttingen leitete und dort bei 40 Prozent aller Geburten die Zange einsetzte. Freilich blieb sein Ansatz nicht unwidersprochen. Mit Lukas Johann Boer (1751–1835), Professor und Klinikdirektor in Wien, entfaltete sich eine heftige Kontroverse, die die Divergenz zwischen André Levret und William Hunter2 wieder aufnahm. Boer entwickelte das Programm einer ‚natürlichen Geburtshilfe‘. Die Hebammen waren in Deutschland weithin vom Gebrauch der Zange ausgeschlossen. Doch standen sie nicht ausnahmslos allen Operationen ablehnend gegenüber. Justina Siegemund (1636–1705), als Verfasserin eines Lehrbuchs gewiss eine Ausnahmeerscheinung unter den Hebammen, wollte zwar Operationen soweit möglich vermeiden, verbesserte aber die Technik der Wendung des Fötus im Uterus, um zerstückelnde Operationen unnötig zu machen.3

1 Eine erste Fassung dieses Beitrags wurde im November 2019 in Bordeaux beim 7. Kolloquium der Société d’Histoire de la Naissance zur Diskussion gestellt. Ich danke der Präsidentin der Gesellschaft, Marie-France Morel, und den Teilnehmer:innen für ihre Anregungen. – Für alle Aussagen, zu denen hier keine Nachweise angeführt werden, finden sich die Belege in: Schlumbohm, Jürgen: Lebendige Phantome. Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751–1830, Göttingen 2012. 2 Dazu schon Gélis, Jacques: Regard sur l’Europe médicale des Lumières. La collaboration internationale des accoucheurs et la formation des sages-femmes au XVIIIe siècle, in: Arthur Erwin Imhof (Hg.), Mensch und Gesundheit in der Geschichte, Husum 1980, S. 279–299, hier S. 291–293. 3 Pulz, Waltraud: „Nicht alles nach der Gelahrten Sinn geschrieben“ – Das Hebammenanleitungsbuch von Justina Siegemund. Zur Rekonstruktion geburtshilflichen Überlieferungswissens frühneuzeitlicher Hebammen und seiner Bedeutung bei der Herausbildung der modernen Geburtshilfe, München 1994, S. 142f.

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Abb. 1 Porträt von Johann Georg Roederer, gemalt von Joseph Wolfgang Hauwiller (1709–1786), Öl auf Leinwand 1751.

So großen Wert die Mediziner, die sich der Geburtshilfe zuwandten, auf Instrumente legten, war ihnen doch die Bedeutung manueller Fertigkeiten durchaus bewusst. Das gilt insbesondere für die äußere und innere Exploration mit der Hand. Diese Untersuchungsmethode, die deutsche Geburtshelfer diskret mit dem französischen Wort toucher bezeichneten, steht im Zentrum dieses Beitrags. 1751 wurde erstmals an einer Universität eine Entbindungsanstalt eingerichtet, und zwar in Göttingen, der erst 1733/37 gegründeten Universität, die in Konkurrenz mit den anderen Hochschulen um den Ruf der modernsten Lehranstalt im Sinne der Aufklärung stritt. Als Professor der Medizin und Geburtshilfe und Direktor der Entbindungsanstalt wurde der 25jährige Johann Georg Roederer (1726–1763) berufen. Er hatte Medizin in seiner Heimatstadt Straßburg studiert und sich auf einer Grand Tour in den Zentren der europäischen Medizin wie Paris, London, Leiden, auch Göttingen, bei angesehenen Anatomen und Geburtshelfern fortgebildet, daneben bei Hebammen praktische Erfahrungen gesammelt. Vorbild für die Göttinger Einrichtung war die Gebärabteilung des Straßburger Bürgerspitals, an der Roederer gelernt hatte. Als er den Ruf nach Göttingen erhielt, ließ er sich in Straßburg porträtieren. Mit diesem Bildnis stellte sich Roederer selbstbewusst der gelehrten Öffentlichkeit als Vorkämpfer eines neuen, vielversprechenden, wenn auch heiklen Faches vor. Mit dem linken Unterarm stützt er sich auf einen gelehrten Folianten, der den Rückentitel Haller Icones trägt. Es handelt sich um das anatomische Tafelwerk Icones anatomicae (1743–1756) Albrecht von Hallers (1708–1777), des Doyens der Göttinger medizinischen Fakultät, dem er die Berufung verdankte. In der linken

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Hand hält er einen Knochen – zum Zeichen, dass er kein bloßer Buchgelehrter ist (wie manche Universitätsmediziner bis ins 18. Jahrhundert hinein), sondern auch die Technik des Sezierens und Präparierens beherrscht. Zugleich deutet er an, dass er die Anatomie für die Grundlage seiner ärztlichen Kunst hält. Mit der rechten Hand präsentiert Roederer sich als Protagonist eines neuen Zweiges der medizinischen Wissenschaft, der Geburtshilfe. Er tut dies nicht etwa, indem er ein Instrument vorweist, sondern indem er die Hand zur Geste der vaginalen Exploration formt. Diese manuelle Untersuchungsmethode hielt er offenbar für eine zentrale Errungenschaft seines Faches. Zu Beginn seiner Lehrtätigkeit hielt Roederer – wie üblich – eine lateinische Antrittsvorlesung mit dem programmatischen Titel De artis obstetriciae praestantia, quae omnino eruditum decet, quin imo requirit (Über den vorzüglichen Wert der Geburtshilfe [oder: Hebammenkunst], die durchaus für einen Gelehrten schicklich ist, ja sogar einen solchen erfordert). Mit scharfer Polemik stellt er die Hebammen, in deren Hand die Geburtshilfe bisher lag, als unwissend, ja verbrecherisch dar. Stattdessen sollen Gelehrte, das heißt akademisch gebildete Mediziner, die Geburtshilfe übernehmen und sie zu einem Zweig der medizinischen Wissenschaft machen. Auch in diesem programmatischen Text präsentiert Roederer den ärztlichen Geburtshelfer als den Experten, der mit der Hand hilft, im Unterschied zum Chirurgen, für den der Gebrauch metallener Instrumente typisch ist: Der Geburtshelfer beseitigt „mit weicher Hand“ die Hindernisse, während der Chirurg „ohne Eisen [...] meist nur nutzloser Zuschauer“ ist und, zu schweren Geburten gerufen, mit seinen „Schauder erregenden Haken“ nur tote Kinder zur Welt befördern kann. „Der Geburtshelfer erledigt das meiste, wenn nicht alles, mit einer leichten Berührung seiner Hand.“4 Die gynäkologische Untersuchung mit der Hand, die Roederer auf seinem Porträt zum Zeichen des ärztlichen Geburtshelfers erhob, war in der Tat eine recht neue Errungenschaft für die Mediziner. Denn ein Arzt pflegte seine Kranken nicht physisch zu untersuchen, schon gar nicht weibliche; Hauptweg zur Diagnose war für ihn die Befragung des Patienten. Hebammen hingegen praktizierten seit langem manuelle Untersuchungen bei Schwangeren und Gebärenden. Erfahrene Frauen in Stadt und Land wussten, dass sich durch Begreifen Klarheit über den Zustand einer Frau gewinnen ließ; sie praktizierten es meist als Gruppe, um beim Verdacht der Schwangerschaft einer Unverheirateten zu einer „gemeinsamen weiblichen

4 Roederer, Johann Georg: Oratio de artis obstetriciae praestantia, quae omnino eruditum decet quin imo requirit, Göttingen 1752, S. 10–12, 18, 24–25; vgl. auch die Übersetzung Ders.: Über den hervorragenden Wert der Hebammenkunst, deren Ausübung durchaus die Aufgabe eines Gebildeten ist (1751), in: Wilhelm Ebel (Hg.), Göttinger Universitätsreden aus zwei Jahrhunderten (1737–1934), Göttingen 1978, S. 33–43.

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Diagnose“ zu kommen.5 Eine kenntnisreiche Hebamme zeichnete sich dadurch aus, dass sie Handgriffe und Angriffe vor und während der Geburt beherrschte, dass sie umfassende taktile Erfahrungen mit dem Äußeren und Inneren des Frauenleibes hatte. Justina Siegemund gab in ihrem Lehrbuch 1690 eine genaue Beschreibung solcher Handgriffe und bezeugt das „Tastwissen“ der Hebammen – im Unterschied zu dem – meist am toten Körper erworbenen – „Sehwissen“ der Chirurgen.6 1753 veröffentlichte Roederer ein Lehrbuch der Geburtshilfe in lateinischer Sprache, das 1759 in verbesserter und erweiterter Neuauflage erschien; 1765 wurde eine französische Übersetzung gedruckt, 1775 (1791, 1795) eine italienische, 1793 schließlich eine deutsche. In dem Lehrbuch widmete er der exploratio ein eigenes Kapitel, das in der deutschen Fassung den Titel trägt: Vom Touchieren oder der Untersuchung.7 Gleich zu Beginn sprach er dieser Untersuchungsmethode grundlegende Bedeutung zu. Etwas schwächer als im lateinischen Original schrieb der Übersetzer: „Ein wichtiger Teil der Geburtshülfe beschäftigt sich mit der Untersuchung; deren fleißige Übung also nicht genug empfohlen werden kann.“ Doch der Herausgeber Johann Christian Stark (1753–1811), Medizinprofessor und Geburtshelfer in Jena, verstärkte die Aussage sogleich im Sinne Roederers durch eine Anmerkung: „Sie ist für einen Geburtshelfer das wichtigste; so wenig als ein Arzt einen Kranken gehörig heilen kann, wenn er keine richtige Diagnose stellt, eben so wenig wird ein Geburtshelfer gut, richtig und geschwind helfen, ohne gründliche Untersuchung.“ Roederer wunderte sich, dass „die meisten Schriftsteller diese Lehre fast ganz vernachlässigt haben.“ Nur Hendrik van Deventer (1651–1724) und seine Nachfolger nahm Roederer von dem Tadel aus; in der Tat hatte Deventer zehn Kapitel (21 Seiten) seines Lehrbuchs (1701) dem tactus praegnantium, der inneren Exploration, gewidmet.8 Wie Deventer versprach sich Roederer zahlreiche Erkenntnisse vom Touchieren: Durch diese Untersuchung bestimmt man nun, ob der Muttermund im geschwängerten oder jungfräulichen Zustand sich befinde; durch sie erkennet man die Jungferschaft, Notzüchtigung, Schwangerschaft oder vorhergegangene Geburt; durch sie entdeckt man

5 Labouvie, Eva: Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 28, 85–92. 6 Pulz: Nicht alles, S. 76–82, 159f. 7 So im Inhaltsverzeichnis, im Text lautet die Überschrift Von der Untersuchung (exploratio). Ich zitiere überwiegend nach der deutschen Ausgabe: Roederer, Johann Georg: Anfangsgründe der Geburtshülfe. Mit einer Vorrede, Anmerkungen und Zusätzen von Johann Christian Stark, aus dem Lateinischen übersetzt von Dr. Henckenius, Jena 1793, S. 159–165, auch zum Folgenden; vgl. Ders.: Elementa artis obstetriciae. In usum praelectionum academicarum, Göttingen 1753, S. 112–135. Vgl. Gélis, Jacques: La sage-femme ou le médecin. Une nouvelle conception de la vie, Paris 1988, S. 278f. 8 Deventer, Hendrik van: Operationes chirurgicae novum lumen exhibentes obstetricantibus, quo fideliter manifestatur ars obstetricandi, et quidquid ad eam requiritur, Leiden 1701, S. 52–73.

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die Zeit der Schwangerschaft, erforscht die gerade oder schiefe Lage der Gebärmutter; durch sie zeigen sich die örtlichen Fehler sowohl der Gebärmutter selbst als auch des Muttermundes, innerhalb der Scheide und an den äußerlichen Geburtsteilen; durch sie untersuchen wir die Gestalt des Beckens, des Muttermundes, die Nähe der Geburt, den Unterschied der Wehen, ob sie nämlich wahre, vorhersagende oder falsche sei[e]n; durch sie erkennt man die Beschaffenheit der Häute, ob sie ganz oder zerrissen sei[e]n, welcher Teil des Kindes vorliege, welche Stellung der Muttermund habe und ob also die Geburt leicht, schwer oder widernatürlich sein werde; durch sie ergründet man endlich noch manche Ursachen der Unfruchtbarkeit, die Verschiedenheit der Mutterblutflüsse, entdeckt einen bevorstehenden Missfall (abortus) u. dgl.

Es folgte eine detaillierte Anleitung, mehr als eine Seite lang, wie das Untersuchen mit dem Zeigefinger, eventuell auch mit Zeige- und Mittelfinger, auszuführen sei: 1) Den Zeigefinger erwärme man durch den Hauch oder bestreiche ihn mit Fett, Öl oder Butter; öfters wird auch der mittlere dazu genommen, damit der Zeigefinger desto höher hinaufreichen könne. 2) Der Geburtshelfer nähere seine Hand den Geburtsgliedern, bringe den Zeigefinger an das Mittelfleisch [=Damm], richte den ausgestreckten Daum[en] gegen das Schambein, und die übrigen Finger lege er in die flache Hand, dem Daumen gegenüber. 3) Man bringe den Zeigefinger in die Scheide, so dass man erstlich dem Mittelfleisch und dann der hindern [=hinteren] Wand der Mutterscheide, da wo sie mit dem Mastdarme zusammenhängt, nachfahre und so weit fortgehe, bis ein entgegenstehendes Hindernis das fernere Eindringen wehre. Doch muss man sanft und vorsichtig zu Werke geh[e]n, damit die Teile ja nicht im geringsten verletzt oder eine etwas große Falte für den Teil der Scheide, der mit dem Halse der Gebärmutter zusammenhängt, gehalten werde. 4) Wenn aber die Scheide zu lang ist, wie dies öfters vorkommt, so drücke man das Mittelfleisch gelinge aufwärts, bis der Finger das oberste Ende derselben erreicht habe. 5) Den Finger, welcher sich nun im obersten Teil der Mutterscheide befindet, führe man nach allen Seiten herum und untersuche sowohl den Zustand des unter[e]n Abschnitts der Gebärmutter als des herabhängenden und mit einer Querspalte versehenen Muttermundes. Doch hüte man sich, dass man nicht eine hervorstehende Falte der Scheide oder einen Knoten für die Mündung der Gebärmutter halte.9

9 Stark fügte in einer längeren Anmerkung weitere Anweisungen hinzu (Roederer: Anfangsgründe, S. 162), unter anderem: Bei einer Frau, die mit „Geschwüren“ oder „venerischem Übel behaftet“ sei, solle man nicht einen Finger mit offener Wunde einführen, denn durch diese könnte „das Gift […] eingesogen werden.“ Außerdem: „Bei Untersuchung einer verdächtigen Jungfer sollen wir mit der äußersten Behutsamkeit zu Werke gehen, damit nicht im Fall einer unverletzten Keuschheit das Jungfernhäutchen durch das Zufühlen zerstört werde.“

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Da Roederer die innere Exploration als zentral für die Entbindungskunst bezeichnete, war es folgerichtig, dass er sie zur unerlässlichen Voraussetzung für die Betreuung einer Schwangeren oder Gebärenden erklärte: Kein vernünftiger Hebearzt oder kluger Geburtshelfer [wird] irgendetwas vornehmen, ehe er sich durch das Zufühlen von der Beschaffenheit der Gebärmutter unterrichtet hat. Daher, wenn eine Schwangere oder Gebärende aus unzeitiger Schamhaftigkeit sich weigert und diese Untersuchung gar nicht geschehen lässt, so ist es besser, sie ihrem Schicksal zu überlassen als ungewisse Hülfsmittel zu versuchen.

Wenn Roederer forderte, dass sich alle Frauen dieser Untersuchungsmethode unterwerfen sollten, ohne Rücksicht auf ihr Schamgefühl, so machte er in der Ausführung doch Unterschiede zwischen den Ständen. Die Untersuchung muss […] nach der verschiedenen Stellung der Frau auf verschiedene Art vorgenommen werden. Frauen von höherem Rang werden mehrenteils liegend untersucht. Damit auf diese Art der Finger in die Scheide gebracht werden könne, so 1) hebt die Frau das Knie, welches dem Geburtshelfer am nächsten liegt, so in die Höhe, dass er unter demselben die Hand an das Mittelfleisch bringen könne. 2) Die andere Hand bringt er unter ihre Lenden und hebt solche in die Höhe. 3) Die Frau legt sich schief auf die dem Geburtshelfer entgegengesetzte Seite, wenn sie anderst[!] dies tun will. 4) Kann aber auf diese Art der Muttermund nicht erreicht werden, so muss die Frau knien.

Den „Frauen von geringerem Stande“ wurde keine Wahl gelassen: Sie werden stehend untersucht. In dieser Absicht a) sitzt der Geburtshelfer etwas niedrig oder kniet auch wohl. b) Die Frau, die untersucht werden soll, steht vor ihm und breitet die Schenkel, so viel sie kann, auseinander. c) Der Geburtshelfer bringt seine eine Hand an das Mittelfleisch. d) Die andere legt er um die Lenden der Frau und biegt sie nach vornen[!]. e) Die Frau biegt ihren Rücken hinterwärts und lehnt ihn entweder irgendwo an oder lässt sich von einer anwesenden Person unterstützen.

Roederer hatte in seiner Antrittsvorlesung ein großes Programm präsentiert; die Praxis seiner Entbindungsanstalt sah jedoch recht bescheiden aus. Sie wurde in ein altes städtisches Hospital für Arme und Alte implantiert, zunächst mit einem einzigen Zimmer, später mit zwei oder drei. Pro Jahr betreute er mit seinen Studenten etwa 20 Entbindungen, 232 insgesamt bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1763. 160 Mediziner bildete er in der Geburtshilfe aus. Roederer gilt als Begründer

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und „erster Lehrer“ der ärztlich-wissenschaftlichen Geburtshilfe in Deutschland.10 In den folgenden Jahrzehnten wurden nach dem Göttinger Vorbild an anderen Hochschulen ähnliche Institutionen begründet, mehrere unter Leitung von Roederers Schülern. Infolge ihres Erfolgs kam so die Göttinger Entbindungsanstalt unter Konkurrenzdruck. Um nicht überflügelt zu werden, wurde in den 1780er Jahren das alte Hospitalgebäude niedergerissen und durch einen aufwendigen Neubau ersetzt. Dieser war ausschließlich für das Entbindungshospital bestimmt und wird in Göttingen noch heute Accouchierhaus (von frz. accoucher = entbinden) genannt. Dort konnten 16 Frauen gleichzeitig aufgenommen werden, und die Zahl der Entbindungen stieg auf 80 bis 100 im Jahr. Aus den ersten Jahrzehnten der Geburtsklinik in diesem Neubau ist eine vorzügliche Dokumentation überliefert. Die Fallgeschichten, die der Direktor in das Hospitaltagebuch eintrug, lassen erkennen, wie die Institution funktionierte, wie die Praxis der praktischen Ausbildung aussah und wie die Patientinnen auf die Zumutungen des Lehrbetriebs reagierten. Die umfassende Dokumentation geht zurück auf den Mann, der 1792, ein Jahr nach Fertigstellung des Neubaus, als neuer Direktor und Professor der Geburtshilfe nach Göttingen berufen wurde und sein Amt 30 Jahre lang ausübte: Friedrich Benjamin Osiander. Dass Osiander vor allem als Protagonist der operativen Geburtshilfe auftrat und als Zangendoktor karikiert wurde, steht nicht im Widerspruch zu seiner Hochschätzung der manuellen Untersuchung. Während einige andere Geburtshelfer das Becken der Schwangeren mit Geräten vermessen wollten,11 bevorzugte er die manuelle Exploration. Unter den „körperlichen Eigenschaften“, die ein Geburtshelfer besitzen müsse, hob er „schlanke Arme und schmale Hände“ besonders hervor.12 In seiner Sammlung (zu sehen im Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen) befindet sich sein Hand- und Armmesser für Geburtshelfer

10 Siebold, Eduard Caspar Jakob von: Versuch einer Geschichte der Geburtshülfe, Bd. 2, Berlin 1845, S. 435. 11 Osianders Lehrer G. W. Stein, ein Schüler Roederers, entwickelte dafür mehrere Instrumente: Lükewille, Nina: Georg Wilhelm Stein d. Ä. (1737–1803) in Kassel. Ein früher Repräsentant der akademischen Geburtsmedizin, Berlin u. a. 2020, S. 154–186. Trotzdem war auch ihm die manuelle Untersuchung wichtig (ebd., S. 69f., 101f.). In seinem Lehrbuch sagte er: „Ein Geburtshelfer muss […] aus Bescheidenheit oft blind sein oder sein Gesicht wenigstens verleugnen.“ Der Geburtshelfer muss „seine Augen in den Spitzen seiner zartfühlenden Finger haben“ (zit. n. ebd., S. 228); im Hospital bei den gratis aufgenommenen, armen, ledigen Patientinnen durfte freilich auch das Auge eingesetzt werden (ebd., S. 230). 12 Osiander, Friedrich Benjamin: Grundriss der Entbindungskunst zum Leitfaden bei seinen Vorlesungen, Bd. 1, Göttingen 1802, S. 9f.

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Abb. 2 Osianders Hand- und Armmesser für Geburtshelfer und Hebammen. Durchmesser des Handmessers 7 cm, des Armmessers 8 cm. Osiander war der Ansicht, dass die konisch zusammengefaltete Hand des Geburtshelfers nicht über 6,75 cm, der Unterarm nirgends mehr als 7,43 cm dick sein dürfe.

und Hebammen. Der Handmesser war auch „zu Angewöhnung der Hände, sich gehörig konisch zu falten, dienlich.“13 Zu Osianders Geburtshilfekurs gehörten Übungen am Phantom, einem mit Leder überzogenen knöchernen Becken. Gewöhnlich war der letzte Monat jedes Semesters dafür reserviert. Hier lernten die Medizinstudenten das Touchieren und die „Zeichenlehre der Lagen des Kindes.“ Um bei der „Übung des Gefühls ohne Gebrauch der Augen […] der Natur so nahe zu kommen, als es möglich ist“, gebrauchte Osiander nicht Puppen, sondern die „tauglichsten Leichname von Kindern, welche auf dem Hause sterben“ und „zu dieser Absicht in Weingeist aufbewahrt“ wurden. So konnte das Ertasten des Kindskopfes und seiner Nähte am realen Objekt erprobt werden. Dieser Teil der Übungen am Phantom gehörte ebenso zu dem Kurs der Hebammenschülerinnen, der zweimal pro Jahr stattfand und je drei Monate dauerte. Den Gebrauch von Instrumenten, vor allem der Zange, hingegen übten nur die Medizinstudenten.

13 Zit. n. Kuhn, Walther/Tröhler, Ulrich (Hg.): Armamentarium obstetricium Gottingense. Eine historische Sammlung zur Geburtsmedizin, Göttingen 1987, S. 155, vgl. 161.

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Der Hauptvorzug des Hospitals war, dass es lebendige Patientinnen für die Lehre bereitstellte. Nachdem die Studenten die körperliche Untersuchung am Phantom erprobt hatten, praktizierten sie sie an den Schwangeren des Gebärhauses. Es ging darum, durch äußere und innere manuelle Exploration den Stand der Schwangerschaft und die Kindslage zu ermitteln. Solche Übungen waren viel eher an den kostenlos aufgenommenen ledigen Patientinnen des Hospitals als in der Privatpraxis möglich. Im Hospital wurde regelmäßig „in dem kunstmäßigen Untersuchen an Schwangeren des Hauses Unterricht erteilt.“ Doch diese waren eine knappe Ressource, zumal angesichts der wachsenden Zahl der Praktikanten: Anfangs hatte Osiander 20 bis 30, später über 60 Studenten.14 Als 1793 nur wenige Schwangere im Hospital waren und gerade ein Hebammenkurs stattfand, sah der Professor sich veranlasst, einen offenen Brief an seine „hochzuehrende[n] Herren“ Studenten zu richten und so ein „Missverständnis“ aufzuklären, das „in Absicht des Untersuchens der Schwangeren […] vorzuwalten scheint.“ Wie oft der einzelne an die Reihe komme, so stellte er eingangs fest, hänge zum einen von der Anzahl der Schwangeren ab, zum anderen von der Zahl der „Herren“ und der „Hebammen.“ Ausführlich erklärte er, dass man einer Schwangeren nicht „zumuten“ könne, „wöchentlich mehr als 2mal“ dafür bereit zu stehen; auch dürfe sie jedes Mal nur von „3, höchstens 4 Personen untersucht“ werden. Häufigere Explorationsübungen würden „weder ihr selbst und ihrer Frucht“ noch dem Zustrom von Patientinnen zum Hospital „vorteilhaft“ sein. Denn die meisten Frauen hätten ohnehin einen „Abscheu vor dem Untersuchen“, und schon gebe es Gerüchte – wenn auch ohne jeden sachlichen Grund –, die häufigeren „widernatürlichen Geburten“ kämen von nichts anderem als „von dem vielen Untersuchen in diesem Institute her.“ Aus diesen Gründen teilte Osiander seine Studenten in zwei Klassen ein und gab jedem eine Nummer. Die erste Klasse praktizierte mittwochs, die zweite sonnabends. Pro Woche aber durften nur drei aus jeder Klasse – in der Reihenfolge ihrer Nummern – untersuchen, und nur die Hälfte der Schwangeren stand ihnen zur Verfügung. Die andere Hälfte war den Hebammenschülerinnen vorbehalten. Um genügend „Subjekte für Untersuchungsübungen“ zu haben, konnten die Frauen schon vier bis sechs Wochen vor der Niederkunft ins Hospital aufgenommen werden. Noch früher durften sie kommen, wenn nicht genügend Patientinnen da waren oder wenn ihr „Schwangerschaftszustand natürlicher oder widernatürlicher Beschaffenheit halber für die Studierenden oder Hebammenschülerinnen lehrreich ist.“ Tatsächlich hielten sich in den Jahren 1791–1829 45 Prozent der Patientinnen mehr als einen Monat vor der Entbindung im Hospital auf, 15 Prozent sogar mehr als zwei Monate. Im Durchschnitt lagen 32 Tage zwischen Aufnahme und Geburt.

14 Schlumbohm: Lebendige Phantome, S. 159–195, auch zum Folgenden.

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Wichtigster Teil der praktischen Ausbildung im Gebärhaus waren natürlich die Entbindungen. Osiander betonte, dass sein Bestreben ständig darauf gerichtet sei, „aus den vorfallenden Geburten so viel möglich Nutzen für den Unterricht zu ziehen.“ Mit einem Blick auf die sehr großen Hospitäler in Paris, Dublin oder Wien fügte er hinzu: „Tut man das, so können hundert Geburten lehrreicher sein als auf einem andern Gebärhause tausende.“ Er konnte sich rühmen, bei fast jeder Geburt von Anfang bis Ende anwesend zu sein. Bei einer Geburt selbst Hand anzulegen, war der Höhepunkt der praktischen Ausbildung eines Medizinstudenten; bei den meisten Entbindungen kam damit nur ein Student oder eine Hebammenschülerin zum Zuge. Gewöhnlich hatten jedoch mehrere vorher Gelegenheit, sich im Untersuchen unter der Geburt zu üben. In seinen Publikationen hat Osiander beschrieben, wie er die Geburten im Interesse der Lehre gestaltete. Hatten die Wehen eingesetzt und war der Muttermund etwa vier Finger breit geöffnet, so rief die Hospitalmagd die Studierenden zusammen, die in der Stadt verstreut wohnten. Die Gebärende wurde nun von ihrem Bett auf den Geburtsstuhl im Entbindungszimmer gebracht. Im angrenzenden Saal versammelten sich die Studenten, ebenso die Hebammenschülerinnen, falls gerade ein Kurs für sie stattfand. Osiander forderte nun einige fortgeschrittene Studenten auf, die Gebärende zu untersuchen, die Lage des Kindes und den voraussichtlichen Ablauf der Geburt zu beurteilen. Wie bei der Übung an Schwangeren wird er normalerweise nicht mehr als drei oder vier zugelassen haben; denn er war sich bewusst, dass das Explorieren bei Kreißenden die Fruchtblase vorzeitig sprengen oder eine Schwellung am Kopf oder anderen Kindsteilen verursachen konnte. Ausdrücklich vermerkte der Professor, dass die Studenten zum Untersuchen jeweils einzeln, einer nach dem anderen, in das Entbindungszimmer einzutreten hatten. Als Grund nannte er nicht Rücksicht auf die Patientin, sondern, dass der nächste nicht hören sollte, welchen Befund der Vorgänger ermittelt hatte. Anschließend erklärte der Professor im Nebenraum allen Anwesenden die Situation anhand des Phantoms und eines künstlichen Kindskopfes, und er führte vor, welcher Weg eingeschlagen werden sollte. Hatte er beschlossen, die Geburt „der Natur zu überlassen“, ließ er gewöhnlich eine der Hebammenschülerinnen tätig werden. Sollte hingegen „künstliche Geburtshilfe“ geleistet werden, so forderte er einen der fortgeschrittenen Studenten dazu auf. Nun betraten alle „Zuschauer“ das Entbindungszimmer, bis zu 30 Studenten sowie die Hebammenschülerinnen. Das Touchieren bedeutete – dessen waren sich die Mediziner bewusst – eine empfindliche Verletzung der herkömmlichen Schamgrenzen.15 Was bedeutete die intime, aber nicht sexuelle Berührung einer Frau für einen jungen Mann, der Arzt

15 Vgl. zu Frankreich Arnaud-Lesot, Sylvie: Pratique médicale et pudeur féminine au XIXème siècle, in: Histoire des sciences médicales 38/2 (2004), S. 207–218.

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und Geburtshelfer werden wollte? Wenige haben ein schriftliches Zeugnis darüber hinterlassen, wie sie die professionelle Distanziertheit erlernten, die die Praxis der Geburtshilfe von ihnen forderte. Ein Medizinstudent, der betonte, dass er „noch rein und unschuldig wie ein Kind“ war, hat seinem Freund in einem Brief 1788 anvertraut, mit welch starken und widersprüchlichen Gefühlen er zum ersten Mal meinen rechten Zeigefinger in eine lebendige Fotze steckte. Ja, du hättest mich sehen sollen, wie mir hierbei zu Mute war, wie ich es gerne vor Scham und aus einer gewissen Art von Ekel noch länger aufgeschoben hätte, aber ich durfte es vor den Kommilitonen nicht einmal merken lassen, dass ich ganz unwissend hierin wäre, und, was half ’s, mit feuerrotem Gesicht wagte ich es, und es gelang mir besser, als ich gewünscht haben würde […].16

Wie reagierten die Patientinnen auf die Zumutungen des Klinikbetriebs? Hier interessiert uns besonders, wie sie zu der körperlichen Untersuchung durch die männlichen Mediziner standen. Der Zufall hat die Stimme einer Patientin in einer Gerichtsakte überliefert: Die 27jährige Magdalena Schrumpf, gegen die 1802 wegen Diebstahls und unehelicher Schwangerschaft ermittelt wurde, berichtete nebenbei über ihre Erfahrung im Göttinger Accouchierhaus. Während der annähernd drei Wochen, die sie dort vor der Niederkunft aufgenommen war, „wären alle Sonnabend mehrere, ungefähr 8 bis 9 Mannspersonen auf ihre Stube gekommen und hätten ihr an die Schamteile gefühlt, um zu sehen, wieweit ihre Schwangerschaft sei.“ Als ihre Stunde gekommen war, „hätte ihr eine Menge Mannspersonen bei der Geburt Hilfe geleistet.“ Zu Magdalenas Aussagen wurde Professor Osiander als Zeuge gehört. Bei dieser Gelegenheit stellte er auch zwei Punkte richtig, die für den vorliegenden Rechtsfall ohne Belang waren, aber den Ruf seiner Anstalt tangierten: „Keine Schwangere wird auf ihrer Stube von 8–9 Personen“ untersucht, sondern diese Übungen finden ausschließlich „auf dem Entbindungszimmer“ zu einer festen Zeit, „sonnabends vormittags von 9–10 Uhr“ unter der persönlichen Aufsicht des Direktors statt; dabei wird jede Patientin „höchstens von 4 die Geburtshülfe studierenden Mannspersonen oder von ebenso viel im Unterricht der Hebammenkunst befindlichen Frauenspersonen untersucht“; zudem treten die Praktikanten nacheinander, „zwei und zwei“, ein. Entbunden worden sei diese Frau „in meiner u[nd] mehrerer Studierenden Gegenwart nach einer langsamen und beschwerlichen Geburt von einem medicinae Candidaten mittels der Zange“, und zwar „geschickt“ – es machte also nicht etwa „eine Menge Mannspersonen“ sich

16 Johann Bernhard Hermann an Jean Paul, Erlangen 7. Mai 1788, in: Paul, Jean: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, 4. Abteilung, Bd. 1, S. 100. Ich danke Karl Braun, Marburg, für diesen Hinweis.

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an der Gebärenden zu schaffen, wie diese ausgesagt hatte. Magdalena Schrumpf erlebte den Zugriff der Männer auf ihren Körper im Entbindungshospital als so überwältigend, dass sie vielleicht nicht scharf unterschied zwischen denen, die zufassten, und denen, die bloß zuschauten. Doch mit dem Gefühl der Überwältigung stand sie nicht allein. Wenn sich eine Schwangere zur Aufnahme meldete, wurde sie zunächst von der Hospitalhebamme untersucht, danach vom Direktor. Diese erste Exploration nahm er in der Regel allein, ohne Anwesenheit von Studenten, vor. Dass ein fremder Mann sie so berührte, war trotzdem eine starke Zumutung, wie gelegentlich in den Fallgeschichten des Hospitaltagebuchs durchscheint. Die 33jährige Lisette Mühlenhausen gab 1816 bei der Eingangsuntersuchung an, sie sei zum ersten Mal schwanger. Dass sie den Oberkörper vor dem Arzt entblößen musste, nahm sie hin. Dieser notierte: „Brüste groß, lang hervorsteh[ende] Warzen. Bauch groß, Fersen am Nabel.“ Die innere Exploration aber verweigerte Lisette: „Als ich sie innerlich untersuchen wollte, benahm sie sich so albern, als ob sie unausstehliche Schmerzen nur vom Berühren hätte, dass ich sie, da sie sich durchaus nicht innerlich untersuchen lassen wollte, wegschickte.“ Die allermeisten ließen die Eingangsuntersuchung durch den Direktor über sich ergehen. Von denen, die dann nicht gleich stationär aufgenommen, sondern auf einen späteren Termin verwiesen wurden (was auf mehr als ein Drittel zutrifft), kehrte jede Fünfte nicht in das Accouchierhaus zurück. Diese Schwangeren hatten nach der ersten Untersuchung genug von der Anstalt. Frauen, die während der Schwangerschaft eine Unterkunft hatten, dort aber nicht Geburt und Wochenbett halten konnten, entzogen sich oft den Zumutungen der Lehranstalt so lange wie möglich. Sie gingen erst in das Hospital, wenn die Wehen eingesetzt hatten. 10 Prozent aller Patientinnen brachten ihr Kind gleich an dem Tag zur Welt, an dem sie aufgenommen wurden, 6 Prozent am folgenden Tag. So brauchten sie die Untersuchungsübungen nicht über sich ergehen zu lassen. Manche trafen so spät ein, dass die Studenten sogar zur Geburt nicht mehr gerufen werden konnten. So suchten die Frauen das Geburtshospital für ihre Zwecke zu gebrauchen und unterliefen das Bestreben des Direktors, sie „gleichsam als lebendige Phantome“ zu behandeln, „bei denen alles [...] vorgenommen wird, was zum Nutzen der Studierenden und Hebammen [...] vorgenommen werden kann.“

Gerd Schwerhoff

Beschreiben – Typologisieren – Stigmatisieren Körperbilder in den Gauner- und Diebslisten des 18. Jahrhunderts Die Eigen- und Einzigartigkeit jedes Menschen ist zentral mit seinem Körper verknüpft. Um der ‚Entstehung des Ich‘ in vergangenen Epochen auf die Spur zu kommen, liegt es deshalb nahe, nach den jeweils zeitgebundenen Vorstellungen von Körper und Körperlichkeit zu fragen. Als Quellengrundlage für das 18. Jahrhundert hat die historische Forschung bislang vorwiegend Selbstzeugnisse genutzt, um „Einblick in die subjektiven und eigenwilligen Artikulationsweisen und Wahrnehmungen von Leiblichkeit“ zu gewinnen. Freilich oszillieren auch diese Texte zwischen „spröder Kargheit“ beziehungsweise „völliger Verschwiegenheit“ einerseits und „enormer Gesprächigkeit“ andererseits, sodass die Selbstzeugnisforschung schon lange mit der naiven Erwartung gebrochen hat, auf dieser Quellengrundlage sei ein privilegierter, weil besonders unmittelbarer und unverstellter Zugang zu den Akteuren möglich.1 Eva Labouvie hat vor rund 20 Jahren der Selbstwahrnehmung frühneuzeitlicher Menschen „mit Haut und Haar“ nachgespürt, ihrer Eigenwahrnehmung, ihren Krankheits- und Leidensgeschichten, ihrem Begehren und ihren Körperpraktiken. Ergänzend zu dieser ‚Ich-Perspektive‘ behandelt ihr Text aber auch gelehrte Traditionen und gängige Typologien des Körpers. Als notwendiges Pendant zur Eigenwahrnehmung müsse der „Blick auf den anderen Körper“ hinzutreten, der als „Mittel zur Schaffung von Abgrenzung, Distanz, aber auch zur Erlangung von Selbstvergewisserung und Identifikation“ diene. Exemplarisch behandelt sie die Konfrontation mit Krankheit und Tod, aber auch die Begegnung mit körperlich ‚missgebildeten‘ und als „Monstren“ zur Schau gestellten Menschen.2 Individualität konstituiert sich mithin in einem durchaus paradoxen Spannungsfeld von Selbstbeschreibung und Fremdzuschreibung. Erstere vollzieht sich nicht

1 Pars pro toto Piller, Gudrun: Private Körper. Spuren des Leibes in Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 2007, Zitate S. 284 und 279; jüngst Huber, Vitus: Der Blick auf sich selbst. Körper und Subjektivitäten in der Selbstzeugnisforschung zu Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: ZHF 47 (2020), S. 416–463. Zur Körpergeschichte allgemein Lorenz, Maren: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen 2000. – Für die kritische Lektüre sei Matthias Bähr herzlich gedankt. 2 Labouvie, Eva: Individuelle Körper. Zur Selbstwahrnehmung „mit Haut und Haar“, in: Richard van Dülmen (Hg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 163–195, hier S. 173f.

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voraussetzungslos, sondern greift immer auf bestehende Kategorien zurück und passt sich in vorgegebene Muster ein, muss sich – mindestens – mit ihnen auseinandersetzen. Die Typologisierungsraster, denen sich der Blick von außen bedient, sind in der Regel alles andere als originell, ja oft ausgesprochen starr, formelhaft und stereotyp – für sich genommen also keineswegs einzigartig. Aber insofern eine bestimmte Person in ihrer Individualität sich als die Summe aller besonderen Merkmale eines Menschen verstehen lässt, konstituiert sich diese eben auch, und nicht zuletzt, im Kreuzungspunkt dieser Fremdzuschreibungen.3 Ein Feld, auf dem für die Geschichtswissenschaft solche Zuschreibungen systematisch beobachtbar werden, ist die Kriminalitätsgeschichte. Ob zum Zwecke der Fahndung, der Verwaltung oder Wissenschaft, seit Jahrhunderten gibt es immer wieder groß angelegte Versuche, ‚Verbrecher‘ in ihren typischen Eigenschaften zu erfassen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts geschah das mittels der damals neuen Technik der Photographie, zunächst oft in bürgerlichen Posen, wie sie in den Anfängen der Atelierphotographie üblich waren, später dann als eigener ‚Visiotyp‘ des Gefangenen in standardisierten Perspektiven von vorn und von der Seite. So begegnen sie uns noch in gegenwärtigen ‚Mugshots‘, die gerne in der US-Presse von verhafteten ‚Celebrities‘ reproduziert werden.4 Vor der Erfindung der Photographie war man auf die Fixierung verbaler Personenbeschreibungen angewiesen, um die Eigenheiten von Kriminellen zu erfassen. Schon vor einiger Zeit hat Valentin Groebner die lange Geschichte des Identifizierens in Steckbriefen, Pässen und anderen Aufschreibesystemen seit dem Mittelalter rekonstruiert, die als obrigkeitliche Kontrolltechniken eng mit dem Aufstieg des neuzeitlichen Staates verbunden waren und als solche ebenfalls einer gewissen Standardisierung unterlagen. Als eine avancierte Form „polizeilich-bürokratische(r) Identifikationstechniken“ erwähnt er in seinem Ausblick eher summarisch die „enzyklopädischen Gaunerlisten“ des 18. Jahrhunderts mit ihren Personenbeschreibungen.5 Tatsächlich bergen sie reichhaltiges Material für frühneuzeitliche Körper- und Personenbeschreibungen, das im vorliegenden Aufsatz näher betrachtet werden soll.

3 Vgl. jetzt z. B. Schlögl, Rudolf: Wie der Mensch in der Gesellschaft vorkommt. Personen, Individuen, Subjekte, in: Michael Holstein u. a. (Hg.), Der Mensch in der Gesellschaft. Zur Vorgeschichte des modernen Subjekts in der Frühen Neuzeit, Paderborn 2019, S. 1–17, hier S. 3. 4 Regener, Susanne: Verdächtige darstellen: Polizeiliche Strategien und Selbstregulierung, in: Rebekka Habermas/Gerd Schwerhoff (Hg.), Verbrechen im Blick. Perspektiven der neuzeitlichen Kriminalitätsgeschichte, Frankfurt am Main/New York 2009, S. 415–439. 5 Groebner, Valentin: Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Mittelalter, München 2004, hier S. 163f. Vgl. als spezifische Vorstudie Nicklis, Hans-Werner: Rechtsgeschichte und Kulturgeschichte. Zur Vor- und Frühgeschichte des Steckbriefes (6.–16. Jahrhundert), in: Mediaevistik 5 (1992), S. 95–125.

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Die Quellen Gauner- und Diebslisten sind keine unschuldige Quelle. Dass ihnen qua Gattung das obrigkeitliche Fahndungs-, Identifizierungs- und Stigmatisierungsdispositiv eingeschrieben ist, setzt hinter das Postulat einer sorgsamen Quellenkritik, ohnehin für jegliches historische Arbeiten unabdingbar, ein deutliches Ausrufezeichen. Nichts macht das deutlicher als ein Seitenblick auf die Abgründe bisheriger Quellennutzung. Die „erbgeschichtliche“ Untersuchung über den „Menschenschlag“ der „Vaganten, Jauner und Räuber“, eine 1937 publizierte Tübinger Habilitationsschrift des Tübinger Nervenarztes Robert Ritter, beruhte neben Kirchenbüchern und anderen Verwaltungsakten ganz zentral auf den Gauner- und Diebslisten, von denen 41 im Anhang aufgelistet sind, allerdings oft ohne genauen Herkunftsnachweis.6 Eine große Masse historischen Quellenmaterials, zusammengetragen von einem mobilen wissenschaftlichen Einsatzkommando von Mitarbeitern im Rahmen einer „erbgeschichtlich-rassenbiologischen Großfahndung“, wurde von Ritter in einer naiv-feuilletonistischen Manier nacherzählt, die von keinerlei wirklicher Methode gezügelt war. Die Beobachtungen des Jugendarztes Ritter über den „verdeckten Schwachsinn“ verschlagener junger Strolche bilden den Ausgangspunkt für eine historische Recherche, die diese Menschen als Produkt erbbiologischer Konstanz im Vagantenmilieu über viele Generationen hinweg kenntlich machen will. Sein Versuch, sich mit dieser „publizistischen ‚Visitenkarte‘“ näher an die „rassenpolitischen Machtzentren in Berlin“ zu bringen, war von Erfolg gekrönt. Als Leiter der ‚Rassenhygienischen und Bevölkerungsbiologischen Dienststelle‘ sollte er dort wenige Jahre später mit seiner umfangreichen Erfassungs- und Gutachtertätigkeit über die nicht sesshaften Bevölkerungsgruppen, insbesondere über die sogenannten ‚Zigeuner‘, dem Völkermord an den Roma unmittelbar zuarbeiten.7 Jenseits der bedrückenden Kontinuitäten derartiger Forschungsansätze weit über die NS-Zeit hinaus in die Bundesrepublik, etwa in Gestalt des lange angesehenen ‚Zigeunerspezialisten‘ Hermann Arnold, hat die historische Forschung seit längerem einen Neuansatz bei der Analyse der Gauner- und Diebslisten gemacht. Ausgangspunkt jeder Beschäftigung mit ihnen muss heute die Studie von Andreas Blauert und Eva Wiebel sein, die neben einem Quellenverzeichnis auch einen umfangreichen Überblick zu Genese, Ausprägungen und Funktionen der Texte

6 Ritter, Robert: Ein Menschenschlag. Erbärztliche und erbgeschichtliche Untersuchungen über die – durch 10 Geschlechterfolgen erforschten – Nachkommen von „Vagabunden, Jaunern und Räubern“, Leipzig 1937, hier S. 112–114. Vgl. zu diesem Werk Schmidt-Degenhard, Tobias Joachim: Robert Ritter 1901–1951. Zu Leben und Werk des NS-„Zigeunerforschers“, med. Diss, Tübingen 2008, http:// nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:21-opus-34879 [abgerufen am 21. Mai 2021], S. 78ff. 7 Schmidt-Degenhard, Robert Ritter, passim, insbesondere S. 79 und 121.

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enthält.8 In der Folge wurden die Listen in umfangreichen sozial- und kriminalitätshistorischen Studien genutzt, um Aussagen über die vagantische Subkultur der Epoche zu machen, über die Geschlechts- und Altersstruktur der Beteiligten, über ihre Vernetzung und über die kriminalitätspolitischen Strategien der frühneuzeitlichen Obrigkeiten.9 Bislang kaum systematisch betrachtet allerdings wurden die Beschreibungskategorien und -praktiken selbst, die die Listen strukturieren: Entlang welcher Merkmale wurden die Personen beschrieben? Wie wurden diese kombiniert? Wie prägten die beteiligten Akteure die benutzten Kategorien, inwieweit hören wir gleichsam den O-Ton der befragten Informanten aus dem Vagantenmilieu beziehungsweise inwieweit spiegeln sie die Werte der inquirierenden Beamten? Inwiefern lassen sich Strategien der Standardisierung und Stilisierung, gar der Stigmatisierung und Diffamierung beobachten? Und lässt sich schließlich eine historische Entwicklung während des 18. Jahrhunderts beobachten? Als Quellengrundlage für eine erste tentative – sicher nicht erschöpfende – Recherche dienen die elf im Anhang aufgeführten Listen aus den Jahren 1728 und 1800. Sie sind allesamt als Digitalisate online greifbar – bei der Forschung unter Pandemie-Bedingungen ein nicht unwichtiges Detail. Repräsentativität im engeren Sinne kann diese Auswahl kaum für sich beanspruchen, gleicht man sie etwa mit den allein 122 Nummern des Repertoriums von Blauert/Wiebel ab, das lediglich die südwestdeutschen Listen einigermaßen vollständig, diejenigen aus den Nachbargebieten wohl nur lückenhaft, weiter entfernt liegende überhaupt nicht erfasst.10 So verzichte ich im Folgenden weitgehend darauf, einzelne Beobachtungen zu quantifizieren, obwohl das in der Sekundärliteratur (etwa bei Gerhard Fritz) durchaus mit Gewinn geschieht; wo es sinnvoll ist, wird im Folgenden darauf verwiesen. Aber auch eine traditionell hermeneutische Betrachtungsweise auf eingeschränkter Grundlage vermag belastbare Zwischenergebnisse zu generieren.11

8 Blauert, Andreas/Wiebel, Eva: Gauner- und Diebslisten. Registrieren, Identifizieren und Fahnden im 18. Jahrhundert. Mit einem Repertorium gedruckter südwestdeutscher, schweizerischer und österreichischer Listen sowie einem Faksimile der Schäffer’schen oder Sulzer Liste von 1784, Frankfurt am Main 2001. 9 Ammerer, Gerhard: Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Régime, Wien/München 2003; Fritz, Gerhard: Eine Rotte von allerhandt rauberischem Gesindt. Öffentliche Sicherheit in Südwestdeutschland vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum Ende des alten Reiches, Ostfildern 2004. Zuvor hatte die Forschung die Liste durchaus genutzt, ohne allerdings ihren Quellenwert systematisch zu diskutieren, vgl. z. B. Fricke, Thomas: Zigeuner im Zeitalter des Absolutismus. Bilanz einer einseitigen Überlieferung. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung anhand südwestdeutscher Quellen, Pfaffenweiler 1996, hier S. 8. 10 Blauert/Wiebel: Gauner- und Diebslisten, S. 38. 11 Eine Bemerkung zu den folgenden Quellenzitaten: Abgesehen davon, dass bereits Unregelmäßigkeiten in der Paginierung und Nummerierung der Quellen die Angabe von genauen Referenzen für jedes Zitat sehr schwer machen würde, wurde auch aus darstellungsökonomischen Gründen

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Trotz ihres ähnlichen Charakters besitzen alle Listen doch hinsichtlich ihrer Genese, ihres Umfangs und ihrer Anordnung ein jeweils eigenes Profil. Das trifft bereits auf die ersten drei Texte zu, die allesamt aus dem Jahr 1728 stammen. Einigermaßen übersichtlich ist mit 36 Männern noch jene Liste der Kirchen-Räuber und Diebe (Q 1), die von vier zu Neustrelitz hingerichteten Komplizen benannt worden waren. Bereits 158 Personen, darunter 28 Frauen, umfasst eine kurbayerische ,Description‘ (Q 2), die im Gefolge eines Straubinger Gerichtsverfahrens zustande gekommen war. Eine Sammlung verschiedener Listen der vergangenen Jahre führt dagegen das Verzeichnis (Q 3) von Vagierenden im schwäbischen und fränkischen Reichskreis zusammen, dessen Heterogenität die unterschiedlichen Entstehungskontexte nicht zu verbergen sucht. In die Mitte des Jahrhunderts springen wir dann mit der kurpfälzischen Liste aus dem Jahr 1754 (Q 4), die ausschließlich männliche Personen behandelt, was am Schluss explizit begründet wird: Zu den aufgeführten Spitzbuben seien viele „Weibs Menscher“ hinzuzurechnen, die meist als „Huren“ mitgeführt würden und in großer Zahl ebenfalls aus den vorliegenden Akten extrahiert hätten werden können. Weil aber „das Weibliche Geschlecht dem Publico nicht so gefährlich wie das Männliche, welches meistens mit Gewähr versehen, und auf gewaltsame Nachts-Diebstähle ausgehen, und diejenige so Widerstand leisten, biß auf den Todt verletzen“, habe man für diesmal nur Männer aufgenommen. In dieser Einseitigkeit steht die Liste jedoch allein, bei insgesamt großen Schwankungen lässt sich insgesamt ein durchschnittlicher Geschlechterproporz von 3:2 feststellen.12 Die Karlsruher Liste aus dem Folgejahr (Q 5) repräsentiert eine andere Besonderheit, ihre Grundlage bilden nämlich die Aussagen einiger jüdischer Delinquenten über ihre Kameraden im Vagantenmilieu, die vorwiegend (jedoch nicht ausschließlich) ebenfalls dieser Religionsgemeinschaft angehörten. Mit der Memminger Liste des Jahres 1773 (Q 6), deren zum Teil sehr detaillierte Angaben auf die Aussage eines einzigen Delinquenten kurz vor seiner Hinrichtung zurückgehen, sind wir dann schon im letzten Jahrhundertdrittel. Die dichteste Folge von Gauner- und Diebslisten weist das Repertorium von Blauert/Wiebel für die 1780er Jahre auf. 1784 wurde in Schwyz bei einer nächtlichen Razzia eine Räuberbande verhaftet. Die Delinquenten machten Angaben zu 95 Personen, deren Namen kurz danach in Druck gegeben wurden (Q 7). Der entscheidende Fingerzeig für die Verhaftung kam im Übrigen – folgt man dem Vorwort des Berichts – aus dem württembergischen Oberamt Sulz, wo der umtriebige Amtmann Schäffer die „Jauner-Inquisition“ zu seiner ganz persönlichen Angelegenheit gemacht hatte. Hauptfrucht dieses Engagements war die ebenfalls 1784 publizierte Sulzer Liste darauf meist verzichtet. Die jeweiligen Verweise auf die Quellennummer in Klammern dürften es ermöglichen, die Passage mit vertretbarem Aufwand zu identifizieren. Im Übrigen werden wörtliche Zitate in doppelte, quellennahe Paraphrasen in einfache Anführungszeichen gesetzt. 12 Fritz: Rotte, S. 227f.

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(Q 8) mit zum Teil sehr ausführlichen Beschreibungen von insgesamt 666 Personen durch wenige Informanten, darunter der bekannte Konstanzer Hans.13 Die Aussagen ergänzen und korrigieren sich mitunter gegenseitig, ein alphabetischer Index erschließt die Namen. Zudem machen ausführliche Querverweise auf frühere Listen das subkulturelle Geflecht in Raum und Zeit sichtbar. Ähnliches gilt für die sehr umfängliche Oberdischinger Liste von 1799 (Q 10), die fast 1500 Einträge umfasst und als zusätzlichen ‚Service‘ im Anhang über einhundert Namen derjenigen anführt, die bereits hingerichtet oder verstorben waren. Einen entschiedeneren Willen zur Vereinheitlichung verkörpert schließlich die General-Jauner-Liste von Friedrich August Roth aus dem Jahr 1800 (Q 11), ein – wie der Titel bereits anzeigt – alphabetischer Auszug aus teils gedruckten, teils handschriftlichen Listen mit der schier unglaublichen Zahl von 3147 beschriebenen Personen, die kurz beschrieben und als Kriminalitätstyp (‚Dieb‘, ‚Vagant‘, ‚Beutelschneiderin‘ oder ähnlich) eingeordnet werden. Eine gewisse Sonderstellung besitzt in der Reihe unserer Quellen das Engelberger’sche Verzeichnis aus Freiburg aus dem Jahr 1798 (Q 9): Hier geht es nicht um Fremdzuschreibungen, sondern um die Angaben der Verhafteten (und oft mit Kahlscheren, Auspeitschen und strenger Haft Gezüchtigten) über die eigene Person beziehungsweise um eine Niederschrift des Augenscheins der Inquisitoren: Johann Litzkus, Knopfmacher von Rothenburg am Necker, 36. Jahre alt, katholischer Religion, verehelicht, mißt beiläufig 5. Schuhe 5. Zoll, hat schwarzbraune in einem Zopf geflochtene Haare, gelben Bart, länglichtes Angesicht, spitzige Nase, weiße Zähne, graue Augen, trägt einen blau tuchenen Rock und Kamisol mit gleichen Knöpfen, geflickte Lederhosen, einen abgetragenen Wollhut, blau und weiß melirte gärnene Strümpfe, bruschlederne Schuhe mit messingen Schnallen, ein seidenes roth braunes Halstuch, hinkt am linken Fuße. Dieses Hinken will er sich erst gestern durch das Tragen einer sehr schweren Krätze zugezogen haben.

Diese Quelle kann gewissermaßen als Kontrollreferenz herangezogen werden, um den Abstand zwischen offizieller und informeller Fremdbeschreibung auszuloten. Die Personenbeschreibungen dieser Gauner- und Diebslisten stehen in einer jahrhundertelangen Tradition, die bis ins späte Mittelalter zurückreicht.14 So verzeichnet das Bamberger Achtbuch zum Jahr 1415 mehrere ‚Verräter oder Kundschafter‘, die es zum Beispiel so beschreibt: „Mechel pekenkneht, ein junger man

13 Zu Schäffer und der Sulzer Liste ausführlich Blauert/Wiebel: Gauner- und Diebslisten, S. 84ff.; dort auch ein Faksimile; zum Konstanzer Hans zahlreiche Angaben bei Fritz: Rotte, passim. 14 Vgl. Nicklis: Rechtsgeschichte; Groebner: Schein der Person; Blauert/Wiebel: Gauner- und Diebslisten, S. 14ff.

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und der hincket an dem lincken fus ym enckel und hat des groen lichtenn tuchs einen mantel und ein ploe kappen und ist ein langer kneht.“ Oder: „Wolfsgruber […], ein klein kneht, swarcz har, gel under den augen mit einer gebogenen nasen […].“15 Name, Altersangabe, körperliche Erscheinung und Eigenheiten, Kleidung – damit sind schon wesentliche Elemente vorhanden, die auch in den Listen des 18. Jahrhunderts noch zentrale Bedeutung haben. Was sie von den Steckbriefen früherer Jahrhunderte unterscheidet, ist auf den ersten Blick die Masse der Beschreibungen. Überdies ist die unterschiedliche Funktion beider Quellengattungen im Auge zu behalten, auch wenn das im vorliegenden Zusammenhang kaum eine Rolle spielt. Trotz möglicher Überschneidungen lassen sie sich im Prinzip deutlich voneinander abgrenzen: Steckbriefe dienten zur öffentlichen Fahndung nach flüchtigen Kriminellen, Gauner- und Diebslisten waren dagegen behördeninterne Arbeitsinstrumente der Verwaltung, um verhaftete Verdächtige identifizieren zu können.

Elemente der Beschreibung Selbstverständlich, ein Name eröffnet jeweils die Personenbeschreibung in den Listen – aber welcher Name? In der offiziösen Beschreibungssprache der Freiburger Liste von 1798 (Q 9) ist die uns vertraute Kombination von Vor- und Nachnamen die selbstverständliche Norm: „Stephan Bendele von Ehretsheim bey Ochsenhausen in Schwaben gebürtig […], Anna Maria Weber, des eben beschriebenen Stephan Bendele Eheweib […]“ und so weiter. Diese Doppelnamigkeit hatte sich im Spätmittelalter entwickelt und im Verlauf der Frühen Neuzeit, regional in unterschiedlicher Geschwindigkeit, im Sprachgebrauch und schließlich auch im Recht etabliert. Eine immer komplexere, unüberschaubare und mobilere Gesellschaft bedurfte dieses eindeutigen Identifizierungsmerkmals ebenso wie der entstehende Staat und dessen Bürokratie. Zugleich aber entwickelte sich der Kosmos von umgangssprachlichen Personenbenennungen weiter, die vor allem im sozialen Nahbereich der jeweiligen Person gängig waren. Auch wenn diese Spitznamen (Ammerer nennt sie „informelle Vulgarnamen“ oder „Vulgonamen“) keineswegs nur bei den einfachen Leuten zu finden waren, so waren sie doch in der populären Kultur besonders verankert und im Alltag gängig.16

15 Anonym [Heinrich Weber]: Ein Bamberger Echtbuch (liber Proscriptionum) von 1414–1444, in: Bericht über das Wirken des Historischen Vereines zu Bamberg 59 (1898), S. 1–147, hier S. 16. 16 Ammerer: Heimat Straße, S. 294. Zentral in diesem Zusammenhang der Aufsatz von Schindler, Norbert: Die Welt der Spitznamen. Zur Logik populärer Nomenklatur, in: Ders., Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1992, S. 78–120, 329–343, dessen

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In den ersten Listen des Jahres 1728 kommt die Austauschbarkeit zwischen beiden besonders klar zum Ausdruck. Es werden zum Beispiel aufgereiht „Christian Thiel oder der schwartze Christian, Potschiebel, dessen rechter Nahme Johann Claudius“ und – etwas rätselhaft „Hans Michel […] heisset mit seinem Vor-Namen Johann/ wird aber gemeiniglichen nur Moritz genennet“ (Q 1); in einer anderen Liste „Bastian Pommer vulgo der schwartze Wastl, Hanß Georg Flieger insgemein der Schinder Hanß Görgl genannt, Lorenz Mayer, vulgo der Schörgen-Lentzl“ und „Hanß Georg Schlösinger, insgemein auch der Schlösinger genannt“ (Q2). Nicht immer ist allerdings der offizielle Name bekannt, wie beispielsweise beim „Convertiten-Hanß.“ Überhaupt war der Kenntnisstand der Informanten unterschiedlich und prägte Differenzen zwischen und Eigenheiten der Listen. In der Mannheimer Liste von 1754 (Q 4) werden viele Personen allein mit Vornamen aufgeführt, manche mit Vulgonamen, zu denen nur in Ausnahmefällen der offizielle Vor- und Zuname gesetzt wird. Die Angaben über jüdische Vaganten differieren hier im Übrigen kaum (Q 5). Die großen Listen des späteren 18. Jahrhunderts werden von den Vor- und Spitznamen geprägt, während die Familiennamen eine vollkommen untergeordnete Rolle spielen. Nehmen wir nur den Anfang der Oberdischinger Liste von 1799. Dort folgen aufeinander Theresia Gißler aus der Gungels Familie, und eben deswegen auch Gungelens-Madlen genannt; der Klauß oder Brandenburger Klauß; Mariann, dessen Mensch; der alte Gungeli auch des Gungelins Franz Sepp genannt; dessen Weib oder Mensch Käther auch Katri; Gungelins Jakoble; Schwarze Mattheis; der kleine Hannesle oder Elsässer Hannesle; Madlen dessen Mensch, auch die Schöne Madlen genannt. (Q 10).

Auch das Register ist anhand der Kombination von Vor- und Spitznamen organisiert. Dort finden sich zum Beispiel allein rund fünfzigmal „Mariann“ und immerhin fünfundzwanzigmal „Käther“. Die „rothe Mariann“ ist zusätzlich noch unter „Rothe“ aufgeführt, zusammen mit einem Dutzend anderer Personen, die dieses Epitheton tragen. Schon die Sulzer Liste von 1784 beziehungsweise ihr Index war ganz ähnlich organisiert (Q 8). Ein Mann wie Franz Karl Zellinger (ungewöhnlich genug, dass hier der volle Name überliefert wird), der drei Spitznamen auf sich vereinigte („der Bairische Karl, auch die Dampfnudel oder Arsch-Baken-Gesicht genannt“), ist im Register folglich viermal zu finden. Gerhard Ammerer hat auf der Grundlage seines Steckbriefsamples die Konstruktionslogik der Vulgo- oder Spitznamen eingehend untersucht. Seine Ergebnisse

differenzierte Bemerkungen auch ihren Wert behalten, wenn man seine Tendenz zur Überhöhung der ‚Volkskultur‘ kritisch sieht.

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sind cum grano salis auf das vorliegende Quellenmaterial übertragbar.17 Beruf (vor allem bei Männern) und Herkunft bilden mit weitem Abstand die beiden wichtigsten Kategorien zur Bildung eines Spitznamens. Bei den Berufsbezeichnungen stehen neben neutralen Angaben („Spengler-Franz“) in auffälliger Häufung Tätigkeiten aus dem Milieu der Unehrlichkeit und fahrenden Leute – dem berühmten Schinderhannes ließen sich Dutzende anderer Männer und Frauen mit dem nämlichen Beinamen zur Seite stellen. Typisch sind auch der „Pfälzer Matthes“ oder der „Bairisch Karl“. Das Aussehen bildet eine dritte typische Ressource, aus der sich Vulgarnamen bilden ließen. Zentral war hier die Körpergröße, die Listen wimmeln von Menschen wie „der kleine Thoma“ oder „der grosse Lenhard“, wobei diese Angaben wohl nicht immer absolut zu setzen sind – dass der kleine Thoma als „von mittelmäßiger Statur“ beschrieben wird, deutet darauf hin, dass es in seiner Umgebung vielleicht einen großen Thoma gegeben haben könnte (Q 2). Auch Gesichts- beziehungsweise Haarfarbe konnten einen Spitznamen begründen, wovon unter vielen anderen die genannte rote Mariann ebenso Zeugnis ablegt wie der „schwartze Jörgel […] kolschwartzen Gesichts“ (Q 4). Auffällig ist allerdings, dass neben rot und schwarz andere Farben kaum zur Bildung von Spitznamen herangezogen werden. Natürlich gibt es eine ganze Reihe offenkundig herabwürdigender Bezeichnungen, die sich auf körperliche Defizite beziehen, wie sie offenbar beim „buckelte(n) Carle“ oder beim „einäugige(n) Sepple“ vorlagen (Q 6). Nicht selten wird ein Name von den Informanten in einem Atemzug erläutert, wie etwa im Fall des „krummmäuligen Martin“: „Krümmet in Reden, Essen und Trinken das Maul, pflegt auch das linke Aug, als ob er hinan blind wäre, immerhin zuzudrücken“ (Q 6). Offenkundig konnte ein Spitzname auch in der Familie vererbt werden, wie im Fall von „Sau-Kopff Melchior“, dessen Name daher komme, „weilen sein Vatter, wann er getanzt habe, mit der Zung wie eine Sau gethan“ (Q 3). Es scheint, dass Frauen in dieser Hinsicht verbal rüder abgefertigt werden als Männer. Eine gewisse Anna Maria mit dem Spitznamen „Benkenmachers Mäulen“ wird charakterisiert durch ihr „aufgeworffenes Maul, an welchem die obere Lefze weit herausgehe, habe in dem obern Biß hervorrangede spizige Zähne, wie ein Eichhörnlen.“ Besonders unbarmherzig fällt die Beschreibung einer Frau namens „Meelbaschens Mejann“ mit bezeichnenden Spitznamen (das alte Beiner-Häußlen, auch Galgen-Muter genannt): […] habe am ganzen Leib kein Loth Fleisch, ein dürres eingefallenes Angesicht, große spizige Nase, graue Augen, schwarzbraune mit grau vermente Haare, dergleichen Augebraune und keine Zähne mehr im Maul, seye 55 bis 56 Jahr alt (Q 8).

17 Ammerer: Heimat Straße, S. 294–307.

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Sehr häufig folgte bereits in den frühen Gaunerlisten auf den Namen diejenige Angabe, die auch ein moderner Leser an vorderer Stelle erwarten würde: das Alter. Auf dieser Grundlage hat die neuere Forschung daraus Daten zum demographischen Profil der Vaganten gewonnen. Aufs Ganze gesehen dürfte sie sich kaum von demjenigen der sesshaften Bevölkerung unterschieden haben. Jüngere Erwachsene stellten eine relative Mehrzahl der erfassten Personen, wobei das Alter insgesamt breit gestreut war.18 Dabei erscheint nun allerdings die Nennung von Altersangaben durchaus bemerkenswert in einer Epoche, in der es keineswegs selbstverständlich war, den eigenen Geburtstag zu feiern oder auch nur präzise zu kennen. Außerdem ist ja in Rechnung zu stellen, dass die genannten Altersangaben Zuschreibungen durch andere Personen darstellten. Dass es sich dabei in der Regel um Schätzungen handelt, kommt in Formulierungen zum Ausdruck, wie jemand sei „etliche 30 Jahr alt“ oder „etwa 40 Jahr“ (Q 1) beziehungsweise „bey 20 Jahr“ alt (Q 2); aber auch eine scheinbar genauere Altersbezeichnung wie „von 3 biß 24 Jahren“ steht in der zweitgenannten Quelle. In der Sulzer Liste von 1784 (Q 8) finden sich neben ähnlich vagen Angaben (Andreas Herrenberger „möge gegen 60 Jahr alt seyn“ oder Madlena sei „ungefähr 30 Jahr alt“) viele präzise Alternennungen („Lis- oder Franzisca, 24jährigen Alters, ein sehr groses Weibsbild“). Die in den Akten der Kriminaljustiz präzise erfassten Informanten, die man verhört und gerichtet hatte, werden indes mit genauem Geburtsdatum und -ort aufgeführt: So heißt es im Fall des berühmten Konstanzer Hans, er sei „den 31. Aug. 1759 zu Oppenau, Bischöflich Straßburgischer Herrschaft, gebohren.“ Und in der Oberdischinger Liste von 1799 (Q 10) finden sich dann mit wenigen Ausnahmen genaue Altersangaben. Dass es sich bei den Aussagen zur eigenen Person in Engelbergers Freiburger Verzeichnis (Q 9) von 1798 ebenso verhält („Anna Maria Sutterin von Altkirch im obern Elsas gebürtig, 17 Jahr alt, ledig […]“), ist dann keine Überraschung mehr. Trotz des offenbar immer stärker ausgeprägten Altersbewusstseins bleibt allerdings bei einigen, wie bei Johann Fischer („beyläufig 38. Jahre alt“) eine gewisse Unsicherheit. Einen stabilen und konstanten Faktor in den Beschreibungen der Listen bilden die Angaben zur Körpergröße und -beschaffenheit, die regelmäßig miteinander kombiniert werden: Zürri Jakobli, über den 1784 (Q 7) geschrieben wird, er sei „mittlerer Größe und besetzter Statur“, steht hier für unzählige weitere. Im Grunde ist es jeweils ein binäres Schema, mittels dessen die Beschriebenen eingeordnet werden: „lang, groß“ oder „rahn“ versus „klein“ beziehungsweise „kurz“ hinsichtlich der Körpergröße; „dick“ oder „besetzt“ versus „schmal“, „hager“ oder ähnlich hinsichtlich der „Statur“ beziehungsweise „Postur“; in beiden Fällen kann durch das Attribut „mittel (-mäßig)“ gradualisiert werden. Naturgemäß sind hier die verbalen

18 Blauert/Wiebel: Gauner- und Diebslisten S. 58; Fritz: Rotte, S. 229ff. (mit Verweis auf nicht existierende Tabellen im Anhang); Ammerer: Heimat Straße, S. 123ff.

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Differenzierungsmöglichkeiten in der Fremdzuschreibung gerade im Vergleich zum Alter sehr limitiert.19 Nur in Ausnahmefällen findet sich der Versuch zu größerer Präzision wie bei Bommers Peter (Q 4: „ein langer, fast 7schuhiger Kerl von breiten Schulteren“), dessen außerordentliche Größe – er war wohl fast ein Zweimetermann – auch in der Erinnerung dem Verhörten gut vor Augen stand. Nur der direkte Augenschein macht, im Fall von Engelbergers Liste (Q 9), regelmäßig genaue Angaben möglich („5 Schuh, 3 Zoll“), die vielleicht sogar auf Messungen zurückgehen könnten. Ein stabiler Faktor in den Beschreibungen sind die Angaben zu Gesicht und Haaren. Form und Farbe des Angesichts ebenso wie der Haare bilden so etwas wie das Grundinventar der Beschreibung. So heißt es zum eben genannten Bommers Peter, er habe gelblich starkes Haar und ein glattes, jedoch längliches („langlechtes“) Gesicht. Neben „länglich“ sind „stark“, „schmal“ oder „rund“ weitere häufiger aufscheinende Beschreibungskategorien. Interessanter, weil etwas diffuser sind die regelmäßigen Angaben zur Gesichtsfarbe: ‚rot‘/‚rötlich‘ wird häufig gewählt, ebenso ‚braun‘/‚bräunlich‘; auch Kombinationen sind möglich wie rotbraun. Frappierend häufig taucht die Angabe auf, jemand habe eine ‚schwarze‘ beziehungsweise ‚schwärzliche‘ Gesichtsfarbe. Alternativ beziehungsweise ergänzend zur Farbe des Gesichts wird nicht selten der Teint beschrieben: als ‚blass‘ oder ‚bleich‘, als ‚frisch‘ oder – gelegentlich – gefärbt, wie beispielsweise „roth frischen Angesichts“. Angesichts der Bedeutung, die wir heute der Hautfarbe zuschreiben, sei dieser Aspekt in Form einer kurzen Stichprobe quantitativ vertieft. Zu den rund 190 in der Sulzer Liste von 1784 (Q 8) durch Peter Vetter, vulgo Schinder Peterlen, beschriebenen Männern und Frauen liegen in 145 Fällen Angaben zur Gesichtsfarbe vor. 33 Menschen werden als Personen ‚schwarzen‘ oder ‚schwärzlichen‘ Angesichts charakterisiert, 15 als ‚schwarzbraun‘. Die Hitliste der explizierten Gesichtsfarben führt allerdings ‚rot‘/‘rötlich‘ mit 51 Nennungen an. Häufig ist auch von einem ‚bleichen‘ Angesicht (31 Nennungen), seltener dagegen von ‚weißem‘ (15) sowie ‚braunem‘ Gesicht die Rede. Auffällig ist, dass weiße oder bleiche, ebenso wie rote oder braune Hautfarbe einige Male durch positive Epitheta wie ‚vollkommen‘ oder gar ‚schön‘ ergänzt werden, was wohl zunächst so zu verstehen ist, dass keine Flecke oder Blatternarben vorhanden gewesen sein dürften. Demgegenüber wird eine schwarze Gesichtsfarbe überdurchschnittlich oft bei der Beschreibung von ‚Zigeunern‘ genannt. Sie wird auch ausdrücklich in einen Zusammenhang mit der ethnischen Herkunft gerückt: So heißt es bei Haidi, er habe die „wahre Zigeuner-Farbe“, bei Ludwig dagegen, er habe „nicht ganz die Zigeuner-Farbe“. Victor Wilhelm, ein anderer Informant, stößt in die gleiche Kerbe, wenn er einen

19 Sieht man vielleicht ab vom häufig anzutreffenden Adjektiv ‚untersetzt‘, wohl im auch heute noch gebräuchlichen Sinn von klein und stämmig (aber eben nicht dick).

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gewissen Matthes („vulgo Vogelbub, oder Voglmändlen, auch König genannt, weil er selbst gesagt, daß er der König unter den Dieben seye“) als Mann „schwarzen Zigeunerischen Angesichts“ charakterisiert.20 Von daher liegt die Vermutung nahe, dass es sich hier um eine stigmatisierende Wahrnehmung handelt, gegebenenfalls mit rassistischen Untertönen. Allerdings scheint das Merkmal ‚schwarz‘ keineswegs automatisch eine abwertende Zuschreibung transportiert zu haben. Der berühmte Räuberhauptmann Hannikel wird etwa als „weißen Angesichts, brauner Augen und dergleichen Haare“ beschrieben, ebenso andere ‚Zigeuner‘ wie zum Beispiel ein gewisser Meizel („etwas weißen Angesichts“). Umgekehrt werden viele Nicht-‚Zigeuner‘ wie die beiden Informanten in der Liste ihrerseits als Personen „vollkommenen schwarzblaichen Angesichts“ (Peter Vetter) beziehungsweise „schwarzblaichen blattermaßigen Angesichts“ (Victor Wilhelm) bezeichnet.21 Verbirgt sich also hinter der Farbe Schwarz doch vorwiegend die Wahrnehmung eines besonders sonnenverbrannten (früher hätte man vielleicht gesagt: wettergegerbten) Gesichts? Das ‚blatternmäßige‘ Gesicht Victor Wilhelms verweist auf eine weitere Beschreibungsdimension des menschlichen Antlitzes. Pockennarben finden sich regelmäßig in den Beschreibungen, ebenso gelegentlich andere Hautunregelmäßigkeiten im Sinn von ‚getupft‘ oder ‚gefleckt‘, auch Warzen an auffälligen Stellen. Ebenso häufig liest man auf der anderen Seite, jemand sei „rund-schwartz-vollkommnen Angesichts“ oder „rund weiß- und saubern Angesichts“. ‚Vollkommen‘ oder ‚sauber‘ muss dabei nicht unbedingt ‚hübsch‘ bedeuten (das kann gegebenenfalls gesondert vermerkt sein), sondern bezeichnet zunächst einmal eine glatte Haut mit der Abwesenheit von Narben oder Flecken. Die gelegentlich erwähnten Sommersprossen waren offenbar keine als gravierend wahrgenommene Beeinträchtigung, nimmt man die Charakterisierung einer gewissen Madlena durch Peter Vetter als „sommerfleckigen volkommenen Angesichts“ (Q 8). Zu Gesichtsform und Haut können weitere Merkmale herangezogen werden. Relativ häufig nennen die Beschreibungen zunächst die Augenfarbe, auch gegenwärtig noch ein unveränderliches Kennzeichen. Von den heutzutage gängigen Farben begegnen uns braun und grau regelmäßig in den Quellen, auch in Abschattierungen und Kombinationen wie zum Beispiel weißgrau. Besondere Erwähnung findet es, wenn „das lincke Aug grau, das rechte aber braun und grau“ ist (Q 1). Einige Male werden „graue Katzenaugen“ bei beiden Geschlechtern als Besonderheit erwähnt. Überraschend häufig ist aber die Erwähnung schwarzer Augenfarbe, auch

20 Quelle 8, Faksimile bei Blauert/Wiebel: Gauner- und Diebslisten, S. 182, Nr. 4; S. 183, Nr. 13; S. 215, Nr. 15. Vgl. weiterhin die Angaben über „die Haiden oder Schwarze Lis, sie habe ein schwarzes Zigeuner-Gesicht“ (S. 190, Nr. 59) sowie diejenigen von Maria Josepha Juckerin über „die schwarze Anna Mau, sie sei schwarzen Zigeunerischen Angesichts“ (ebd., S. 251, Nr. 179). 21 Ebd., S. 182 Nr. 1; S. 207, Nr. 163; S. 180 Nr. 1 und Nr. 3.

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in Kombinationen wie schwarzbraun. Mit heutigen Wahrnehmungen lässt sich das zunächst einmal schwer vereinbaren. Auffällig ist ebenso das völlige Fehlen blauer Augen, selbst wenn blau heute global als die seltenste Augenfarbe gilt. Gelegentliche Erwähnung des Schielens fällt bereits in die Kategorie der körperlichen Besonderheiten. Neben den Augen wird häufig auch die Nase beschrieben: Sie kann spitz oder breit, flach oder groß sein, im Ausnahmefall auch eine Stupsnase (Q 8). Schließlich werden nur gelegentlich Mund und Zähne zum Gegenstand der Beschreibung, etwa bei einem auffälligen Überbiss, wenn viele oder gar alle Zähne fehlen, aber auch wenn die Zähne gut oder auffällig weiß sind. So heißt es vom „Singer Jörg“, er habe „auch keinen Zahn mehr im Mund/ welche er auf der Folter verlohren haben solle“ (Q 4). Wie gesagt, geben die Haare regelmäßig eine eigene Beschreibungskategorie ab.22 Neben der Farbe (schwarz, braun, rot beziehungsweise rötlich, blond – manchmal gelb – und weiß, bei Älteren grau) sind auch Haarlänge und Haartracht von Belang, und das bei beiden Geschlechtern. Die Beschreibung von Johann Litzkus (Q 9) mit seinen schwarzbraunen, zum Zopf geflochtenen Haaren ist keineswegs ein Einzelfall. So wird 1784 (Q 8) von einem gewissen Nicklaus gesagt, er habe falbe (also fahlgelbes) Haare, „welche ihme so weit hinunter gehen, daß er darauf sizen könne.“ Umgekehrt ist ausdrücklich von offenen Haaren die Rede. Erwähnung finden bei beiden Geschlechtern oft ausdrücklich die Augenbrauen, bei Männern natürlich das Vorhandensein eines Bartes beziehungsweise Schnurrbartes. Außergewöhnlich ist der Vermerk bei Mühl-Hannes, er „traget eine Peruque“ (Q 4). So kurz und summarisch einige Deskriptionen ausfallen, so erstaunt in anderen Fällen die Ausführlichkeit, Schärfe und Differenziertheit der Beobachtungskategorien, die doch in der Regel aus der Erinnerung abgerufen werden mussten. Handelt es sich um ein Zeichen dafür, dass in einer weitgehend illiteraten Anwesenheitsgesellschaft die Mnemotechnik gerade derjenigen, die auf der Straße zu Hause waren, wesentlich besser ausgeprägt war als diejenigen heutiger Menschen mit ihren zahllosen entlastenden Gedächtnisstützen? Oder besteht Anlass für den Verdacht, die Delinquenten könnten den Vernehmungsbeamten regelmäßig einen Bären aufgebunden und munter ein Phantasiegebilde nach dem anderen produziert haben? Bereits bei den Zeitgenossen dürfte ein solcher Verdacht bestanden haben, denn die Beamten, die die Listen veröffentlichten, setzten alles daran, ihn zu zerstreuen. Dazu diente etwa der Hinweis, der Informant („Angeber“) Joseph Daniel habe seine Angaben „in seinen lezten drey Lebens-Tagen wiederhohlter bekräfftiget“ und schließlich durch seinen Tod auf dem Schafott gleichsam besiegelt (Q 6). Eine gewisse Kontrolle konnte im Abgleich von Aussagen unterschiedlicher Inquisiten über

22 Vgl. Ammerer: Heimat Straße, S. 330–332.

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die gleiche Person bestehen, wie sie die Sulzer Liste von 1784 dokumentiert (Q 8). Wurde Klementzen Hans von Victor Wilhelm als „ein langer besezter Mensch“ beschrieben, so korrigierte der Konstanzer Hans, er sei „nicht lang, und höchstens 5 Schu 4 Zoll groß.“ Über eine gewisse Käte hatte Wilhelm zu Protokoll gegeben, sie habe „ein rothbrecht gedupftes Angesicht, eine etwas erhöhete Nase, graue Augen und braune Haare, auch sehr große Brüste, woran sie leicht zu erkennen seye […].“ Konstanzer Hans ist nicht einverstanden: „[…] habe sie der Victor sub Nro 76. ganz falsch beschrieben. Sie habe ein glattes und bloßes Gesicht - ganz natürliche und keine außerordentliche Brüste, blonde und sehr lange Haare […].“23 Selbst bei grundlegender Übereinstimmung vermerkt der auskunftsfreudige Informant Abweichungen im Detail, etwa in der Haarfarbe. So ergeben sich in einzelnen Fällen kumulierende Personendossiers. Peter Vetter beschreibt zum Beispiel den Schwarzen Toni wie folgt: „etlich und 30 Jahr alt, Katholischer Religion, ein großer dicker Mann, habe aber schlechte Füße, langlechten schwarzen Angesichts, breiter Nase, brauner Augen, schwarzer offener Haare.“ Victor Wilhelms Aussage liest sich dann so: „Dessen vom Peterlen gemachten Beschreibung sub No. 87. Müße er nur noch beisezen, daß der Toni eine vollkommene braite Nase habe, und aus dem Hals rieche […].“ Und schließlich der Konstanzer Hans: „Der Schwarze Toni […] seye, wie ihn der Victor Nro. 101. Beschrieben, rede etwas hochteutsch, und gut italienisch, auch habe er vornen am linken Arm keine Knochen, und in beeden Aermen Narben von Stichen, die er vom Schnecken-Sepp in Händeln bekommen[…].“24 Ein verlässliches Zeichen für den Wahrheitsgehalt der Aussagen sind freilich auch derartige Korrekturen nicht. Aber auf diesen Wahrheitsgehalt kommt es ja bei unserer Analyse von Beschreibungskonventionen im Kern auch nicht an. Stimmig hinsichtlich der zeitgenössischen Maßstäbe mussten sie jedenfalls sein, eben zumindest potenziell glaubwürdig. Leichter als die bisherigen, eher durchschnittlichen Kennzeichen waren besondere körperliche Merkmale und Defekte zu erinnern.25 An ihnen herrscht in den Listen kein Mangel, worauf ja bereits die Vulgonamen hindeuteten. Ein Teil der besonderen Kennzeichen war natürlicher Art wie Muttermale, Warzen oder ein „hoher Rücken“, der Menschen wie dem „Buckelte(n) Ada“ (Q 6) den Spitznamen gab. So einzigartig wie verräterisch war der „doppelte Daumen“ eines jungen Mannes, „welchn er zu verbergen meistentheils eingebunder traget“ (Q 7). Aber schon krumme Füße „oberhalb denen Knoden“ (Knöcheln) sollen einen gewissen Nepomuk „sehr kennbar machen“ (Q 8). Die Mehrzahl der genannten Defekte 23 Vgl. das Faksimile bei Blauert/Wiebel: S. 232 Nr. 165 versus S. 264 Nr. 63 bzw. S. 227 Nr. 76 versus S. 265 Nr. 65. 24 Ebd., S. 195 Nr. 87, S. 231 Nr. 101, S. 257 Nr. 12. 25 Sie spielen bereits bisher in der Sekundärliteratur eine große Rolle, vgl. Groebner: Schein der Person, S. 71ff.; Ammerer: Heimat Straße, S. 348ff.; Fritz: Rotte, S. 244ff.

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allerdings, ob fehlende Fingerglieder, lahme Arme oder Beine oder Narben, gingen wie beim gerade genannten Schwarzen Toni auf gewalttätige Zusammenstöße, meist innerhalb des Vagantenmilieus, in der Vergangenheit zurück. Gelegentlich lassen sich überdies Spuren der Strafjustiz dingfest machen wie beim ca. 40jährigen Schöler in Mecklenburg, der nicht nur eine „starcke Schmarre“ im Gesicht hat, sondern dem auch die Ohren abgeschnitten wurden (Q 1). In der nämlichen Liste heißt es über Hans Michel, er habe „über das eine Auge einen Hieb bekommen/ wovon er mit solchem Auge blind.“ Gerade in den ausführlicheren Beschreibungen erzählen derartige Hinweise zugleich kleine dramatische Geschichten, die offenbar im Milieu kursierten, deren Wahrheitsgehalt allerdings durchaus fragwürdig ist. So vermerkt die Sulzer Liste (Q 8) über Gottfrid Schliker, er „habe an der rechten oder linken Hand am Zeigefinger gegen dem Daumen eine starke Narbe, welche er vom Ausglitschen des Messers, als er seine eigene Mutter erstechen wollen, bekommen haben solle.“ In den umfassenden Verzeichnissen der Spätzeit, insbesondere der General-Jauner-Liste von 1800, sind dergleichen farbige Erzählungen, wenn überhaupt besondere Kennzeichen erwähnt sind, zugunsten einer stärkeren Standardisierung äußerst eingedampft (Q 11: „im linken Aug blind, auf der rechten Backe eine Schramme“ et cetera.). Zum Kernbestand der Beschreibungskonventionen gehören, aufs Ganze gesehen, auch Herkunft und Sprache. Das zeigt sich nirgends deutlicher als im auf Augenschein beruhenden Freiburger Verzeichnis von 1798 (Q 9) mit ihren genauen Geburts- beziehungsweise Herkunftsangaben („aus Schutterthal im Breisgau gebürtig, von Kollbingen in Schwaben“ et cetera). Auch bei den Informanten der Sulzer Liste, zu denen detaillierte Angaben zur Hand waren, folgt auf das Geburtsjahr stets der Geburtsort: Victor Wilhelm vulgo Schweizer-Victor war „gebohren zu Sct. Gallen“, Peter Vetter „zu Trochtelsfingen auf der Alpp“, Konstanzer Hans „zu Oppenau, bischöflich Straßburgischer Herrschaft“ und die entflohene SchleiferBärbel „zu Dudenhofen by Speyer.“26 Bei den Fremdbeschreibungen bleiben die Herkunftsangaben jedoch lückenhafter als beim Alter, wo man sich mit Schätzungen behelfen konnte. Dass jedenfalls 1784 danach gefragt wurde, zeigt die Aussage Victor Wilhelms über Waschlerin Mariana, „ihren Geburts-Ort wiße er nicht.“ Das gilt aber auch für die Mehrzahl der übrigen von ihm in der Folge Beschriebenen. Bereits die Straubinger Liste von 1728 dokumentiert aber einen auch in der Folge oft gewählten Ausweg: Dort heißt es zum Beispiel über Hans Georg Flieger, „man weiß nit von wann er gebürthig, redet aber die Bayrische Sprach“ oder über den „Convertiten-Hanß, ist auch nit wissend von wannen er gebürtig, redet ausländisch, 26 Vgl. zu ihrer Person Wiebel, Eva: Die „Schleiferbärbel“ und die „Schwarze Lis“. Leben und Lebensbeschreibungen zweier berüchtigter Gaunerinnen des 18. Jahrhunderts, in: Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff (Hg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, Konstanz 2000, S. 759–800, vor allem S. 764ff.

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fast wie Würtenbergisch.“ Der Dialekt der Herkunftsregion ersetzt hier die klare geographische Bestimmung, ein Prinzip, das in dieser Liste so konsequent wie kaum irgendwo anders umgesetzt wird: Lorentz Mayr „hat ein grob Bayrische Aussprach“, Hans Georg Knoll dagegen „ein Pfältzische Sprach, mit der Zungen anstössend“, wogegen „der Lange Erlinger“ gut Bayrisch rede („[…] will sein Sach gar höfflich vorbringen, gehet im aber nit recht von statten“). Auch in den weiteren Listen wird diese Beschreibungsdimension immer wieder einmal verwendet. Zum Standard einer Personenbeschreibung wird offensichtlich erst im späten 18. Jahrhundert die Konfessionszugehörigkeit. In der Frühzeit kommt die Religion nur in Ausnahmefällen zur Sprache, in der Neustrelitzer Liste zum Beispiel bei dem Katholiken Johann Werner, der einen Brief bei sich trägt, „als wann er ein Conversus aus dem Catholischen wäre“ (Q 1). Ähnlich verhält es sich in der Straubinger Liste (Q 2) mit dem „Convertiten-Hanß“, während „der Luterisch Hanß Michel“ seinen Spitznamen offenkundig von seiner dominant katholischen Umgebung verpasst bekam. Während in einigen der folgenden Listen Angaben zur Religion fast vollkommen abwesend sind, spielt sie in der Sulzer Liste von 1784 (Q 8) wiederum eine wichtigere Rolle. Wie die oben genannten Informanten allesamt sind auch die von ihnen Beschriebenen, wenn ihre Konfession vermerkt wird, zumeist „katholischer Religion.“ Nur ausnahmsweise wird bei Friedrich Zimmermann vermerkt, er sei „evangelisch Lutherischer Religion“, was auch an seinem Spitznamen abzulesen ist („der Luterische Frider“), oder beim „Berner Bärbelen“, sie sei „reformirter Religion.“ Unter den detailreichen Beschreibungen der Freiburger Liste (Q 9) finden sich nur drei Evangelische, dagegen zwölf Katholiken, beim Rest keine Angaben. Die sich hier andeutende Disproportionalität hinsichtlich der Konfessionen wäre näherer Untersuchungen wert – entspricht der hohe Anteil von Katholiken ihrer demographischen Dominanz im Südwesten des Alten Reiches, oder besteht zusätzlicher Deutungsbedarf? Seit dem 14. Jahrhundert nahm die Kleidung „als zentrale Kategorie des individuellen Äußeren einer Person“ einen bedeutenden Platz ein. Ganz selbstverständlich wurde sie gleichrangig neben körperlichen Merkmalen aufgeführt, ja wurde sogar nicht selten zum „wichtigste(n) Merkmal“ überhaupt.27 Das war noch im Untersuchungszeitraum der Fall. Der Kulturanthropologe Wolfgang Seidenspinner hat deshalb auf der Grundlage von ‚Steckbriefen‘ (tatsächlich sind auch ‚Jaunerlisten‘ dabei) ein Sample von 530 Beschreibungen aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert systematisch ausgewertet.28 So entsteht ein erstaunlich detailliertes Bild über die Kleidung der Männer, wo zum Beispiel Rock und Hose zur Standardbekleidung 27 Groebner: Schein der Person, S. 58. 28 Seidenspinner, Wolfgang: Mythos Gegengesellschaft. Erkundungen in der Subkultur der Jauner, Münster/New York 1998, S. 151–238 (Das Kapitel Die gewöhnliche Tracht der Jauner baut auf früheren Veröffentlichungen zum gleichen Thema auf).

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gehörten, Mäntel kaum und Hüte erstaunlich selten getragen wurden, ebenso wie die der Frauen mit Rock (im heutigen Sinn) und Schürze sowie der ‚Mutze‘ als weiblicher Oberbekleidung. Die Erscheinungsweisen der damaligen Menschen waren im Wortsinn sehr bunt: Die getragenen Farben, Formen und Materialien variierten in Raum und Zeit, wie etwa die Konjunktur gelber Lederhosen am Ausgang des Jahrhunderts zeigt. Im Ergebnis erweist sich die alte Vorstellung einer ständebestimmten typischen ‚Tracht‘ – jedenfalls in Hinblick auf den untersuchten Personenkreis – als überholt; und auch wenn zeitbedingte Einflüsse der Mode in Betracht kommen, hing die Zusammenstellung der Kleidung doch in erster Linie von situativer Verfügbarkeit ab.29 Dieser Befund hilft uns, die Beschreibungslogik entlang der Kleidung besser systematisch einordnen zu können. Er macht plausibel, wie individualisiert aufgrund der Kombination von grundsätzlichem Ressourcenmangel und situativer Verfügbarkeit einzelner Stücke die Kleidung gerade im Milieu der Vaganten und Gauner war, und wie sehr es gerade für diese ‚einfachen Leute‘ – ganz jenseits grundsätzlicher Erwägungen über die Konstitution von Individualität und Identität in der Vormoderne – Sinn machte, Personen gerade mittels ihrer Kleidung zu beschreiben. In dieser Perspektive lassen sich die Angaben in den ältesten Listen von 1728 einordnen, in denen es etwa heißt, jemand trage „einen grauen Rock mit gelben Knöpfen“, ein „roht scharlachen Kleid mit massiven Knöpfen“ oder im Winter Wollstiefel (Q 1). Unbeschadet dessen gibt es von Beginn an typische Kombinationen, die ein berufsspezifisches Profil besitzen, zum Beispiel wenn es über Lorentz Mayr heißt, er trage sich „wie ein Schinder, als nemblich ein dunckelbraunes Camisol mit zinnen Blättl-Knöpffen, schwartzgeschmützte Bundhosen und ein Hand breit schwartz lederne Gürtl um den Leib“ (Q 2). Häufig und in verschiedenen Listen wird vermerkt, jemand gehe als ein Feldscherer, Bader, Soldat, Keßler oder Korbmacher.30 Für erwähnenswert wird es auch gehalten, dass Hans Georg Schlösinger „sich gemeiniglich gantz sauber [trägt], wie ein Böck, mit einem weissen Rock, braunen ledernen Hosen, blauen Strümpffen, und Stöckl-Schuhen mit Schnallen, dann einn schwartzen Huet mit einer weissen Schnur und schwartzen Band“, wobei hinzugefügt wird, unbeschadet seines sauberen Aussehens sei er „ein gar übl beschreyter Landstreicher“ (Q 2). Angesichts derartiger zum Teil ausführlicher Beschreibungen wird es dann erwähnenswert, dass ein Falschspieler namens Hartmändlein „von unterschiedlicher Kleidung“ sei oder der Passfälscher Crantz sauber gekleidet gehe und damit öfter „variiere“ (Q 3).

29 Seidenspinner: Mythos Gegengesellschaft, S. 236f. 30 Zu den Berufen der Vaganten bzw. zu ihren Berufsangaben als mögliche ‚Camouflage‘ für kriminelle Tätigkeiten ausführlich Fritz: Rotte, S. 249ff.

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Allerdings dürfen diese Beispiele nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kleidung nur sehr selektiv zur Personenbeschreibung herangezogen wird. Der Kenntnisstand der jeweiligen Informanten über die Denunzierten war sehr ungleich, und je kürzer und summarischer die Angaben ausfallen, desto weniger wird die Kleidung zum Thema. In den beiden Listen aus den 1750er Jahren werden die Kleidungsangaben seltener und lakonischer. Ein gewisser Peter „traget ein graulechtes Kleyd“, Balthes dagegen „zu Zeiten ein graues Kleid, wie ein Becker, zu Zeiten auch einen blauen Rock“ (Q 4). Der Trend zum Verschwinden der Kleidungsangaben aus den Personenbeschreibungen scheint sich in der Folge fortzusetzen. Eine fast völlige Fehlanzeige ergibt sich in der Memminger Liste von 1773 (Q 6). Wenig ergiebig in dieser Hinsicht sind erst recht die großen Listen der Spätzeit, die Sulzer Liste von 1784 (Q 8), die Oberdischinger Liste aus dem Jahr 1799 (Q 10) sowie der alphabetische Auszug von Roth (Q 11). Insoweit wäre man versucht, die Hypothese zu wagen, Kleidung als Mittel der Personenbeschreibung sei allmählich verschwunden und habe den im engeren Sinne körperlichen Merkmalen Platz gemacht. Allerdings stehen dieser Generalisierung andere Befunde im Weg. Die Karlsruher Liste von 1755 (Q 5) nennt bei 14 von insgesamt 29 aufgeführten Juden die Kleidung. Dabei werden auch Fehlanzeigen gemacht wie diejenige, ein gewisser Jontuf solle „kein Hemd am Leib tragen, weilen er alls versauffe.“ Die Schweizer Liste aus dem Jahr 1784 macht selektiv von Kleidung als Beschreibungsmittel Gebrauch, etwa im Fall des 19jährigen Micheli, der „einen weißen Rock, rothes Leiblein, schwarze Lederhosen und weiße Strümpf “ trage (Q 7). Dass eine Frau dadurch charakterisiert wird, dass sie „allezeit Mannschuhe“ trage, leuchtet unmittelbar ein. Häufiger aber werden die Angaben darin jetzt regional typisiert, indem es heißt, jemand gehe „schwäbisch, elsässisch, hegauisch, zürcherisch“ oder „thurgäisch“ gekleidet. Bei den sorgsamen Beschreibungen des Freiburger Bettler-, Vagabunden und Jaunerverzeichnisses aus dem Jahr 1798 schließlich werden ausnahmslos alle vierzig Personen auch differenziert nach ihrer Kleidung beschrieben wie die 62jährige Anna Maria Weber: Sie trägt „einen weißen Strohhut, ein weiß und rothgestreiftes Halstuch, einen grünlichten wollenen Kittel, groben leinenen blauen Schurz und rothen Rock, lederne mit Riemen gebundene Schuhe“ (Q 9). So muss vorerst offenbleiben, ob tatsächlich ein allgemeiner Trend zur Entflechtung von Körper und Kleidung zu konstatieren sein könnte oder ob es lediglich um unterschiedliche Vorlieben hinsichtlich des Erinnerten beziehungsweise des als aufschreibenswert Erachteten geht. Mit der Kleidung verlassen wir die körpernahen Beschreibungselemente im engeren Sinn. Mindestens ebenso wichtig sind, vor allem in den ausführlicheren Listen, die sozialen Bezüge der Beschriebenen. Regelmäßig folgt auf einen beschriebenen Mann sein ‚Eheweib‘, seine ‚Beischläferin‘, ‚Konkubine‘ oder schlicht sein ‚Mensch‘. Dazu kamen Kinder und Geschwister, sodass die Quellen häufig

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größere Verwandtschaftsnetzwerke als Teil der vagantischen Subkultur erkennen lassen. In den größeren Zusammenhang krimineller Kooperationen jenseits der Familie führen Angaben zu den gewöhnlichen ‚Kameraden‘ oder, noch präziser, zu Mittätern bei einzelnen Aktionen: So habe der „Lahme Hannß Jerg […] mit dem Vogelmännle den Einbruch zu Schafhausen im Garten-Hauß begehen helfen“ während „Franz Joseph mit dem dahier hingerichteten Erz-Jauner Ottmar Müller zu Hartin bei Donaueschingen 14. Mittle Erdäpfel auf den Feldern entwendet“ habe (Q 10). Und zuletzt ist es darum zu tun, den Typus von Kriminalität genauer zu kennzeichnen, mit dem im konkreten Fall zu rechnen ist. Auch vor Roths Liste aus dem Jahr 1800, die hierzu eine eigene Spalte entwickelte, wurden dazu differenzierte Informationen festgehalten. Diese Angaben hinsichtlich des individuellen Verhaltens und der sozialen Kontakte sind für das Gesamtbild, das die Gauner- und Diebslisten zeichnen, im Blick zu halten, auch wenn sie hier nicht weiter entfaltet werden können.31

Standardisierung und Stigmatisierung Es ist verführerisch, Roths General-Jauner-Liste von 1800 mit ihren exakten Kolumnen als Fluchtpunkt eines durch das 18. Jahrhundert sich erstreckenden Standardisierungsprozesses der Gauner- und Diebslisten zu nehmen. Die bisherige Recherche hat dafür allerdings nur karge Anhaltspunkte ergeben. Allenfalls hinsichtlich des äußeren Erscheinungsbildes der Texte lässt sich ein solcher Prozess erkennen und insbesondere am Auftreten von Namensindices und den zunehmenden Verweisen auf frühere Listen (Q 8, Q 10) festmachen. Den zeitgenössischen Gebrauchswert des Materials dürften derartige Hilfsmittel zweifellos stark erhöht haben. Was die Typologie der Beschreibung angeht, so bleibt die Varianz aber insgesamt hoch. So gut wie alle zur Deskription benutzen körperlichen Merkmale stehen schon am Beginn des Untersuchungszeitraums bereit und werden dann jeweils unterschiedlich variiert und kombiniert. Dabei spielen zum einen Reichhaltigkeit beziehungsweise Limitierung der zur Verfügung stehenden Informationen eine Rolle; zum anderen sind die Vorlieben der jeweiligen Akteure maßgeblich. Was diese Akteure betrifft, so haben zweifellos die inquirierenden Untersuchungsbeamten und ihre Schreiber einen großen Einfluss auf die Ausgestaltung der Listen gehabt, vor allem in Gestalt ihrer Fragen und Nachfragen. Soweit es die Listen selbst erkennen lassen, müssen jedoch die Informanten und Informantinnen selbst als der Hauptfaktor für Inhalt und Varianz der Angaben gelten. Nirgendwo wird das deutlicher als bei der Sulzer

31 Vgl. dazu vor allem Blauert/Wiebel: Gauner- und Diebslisten, S. 56ff.; Ammerer: Heimat Straße, S. 123ff. 258ff.; Fritz: Rotte, S. 219ff.

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Liste von 1784 (Q 8), bei der drei Männer und eine Frau Hunderte von Personen beschrieben, wobei ihre nacheinander verschriftlichen Angaben aufeinander aufbauten, sich ergänzten und nicht selten auch korrigierten. Zweifellos müsste dieser vorläufige Befund durch weitere, auch archivalische, Studien ergänzt und präzisiert werden, um ein noch genaueres Bild über den Kooperationsprozess zwischen Befragern und Befragten zu gewinnen, der den Listen zugrunde liegt. Wenn die Qualität der Listen zwar stark variiert, sich aber insgesamt kaum entwickelt, so ist doch ihre pure Quantität bemerkenswert. Dass am Ende des 18. Jahrhunderts regelmäßig zu einer großen Masse von Personen aus dem Vagantenmilieu verbale Körper- und Charakterbilder angefertigt und in Druck gegeben wurden, mag zur Etablierung einer Beschreibungsroutine beigetragen haben, die weit über den Kreis der unmittelbar beteiligten Akteure – der Beamten einerseits, der Informanten andererseits – hinaus eine Wirkung entfalten konnte. Inwieweit das in die Welt der Etablierten hinein ausstrahlte, wäre näherer Erforschung wert. Als sicher darf immerhin gelten, dass die skizzierten Körperbilder im Feld der Kriminologie rezipiert wurden, einem Praxis- und Wissensfeld, dem es darum zu tun war, ‚den‘ Verbrecher besser zu kategorisieren und sein Wesen zu ergründen. Es sollte sich im 19. Jahrhundert weiter entfalten und eine große mediale Ausstrahlung erlangen.32 Ein später Kronzeuge für diese Wirksamkeit war dann zur NS-Zeit jener Robert Ritter, obwohl dessen ,erbbiologischer‘ Ansatz dezidiert ein Kind der Moderne darstellte: Er bediente sich der Listen ganz unbefangen und hatte keine Probleme, die Beschreibungen des 18. Jahrhunderts mit seinen ‚jugendärztlichen‘ Diagnosen aus der Gegenwart zu überblenden. Das führt unmittelbar zur Frage, inwieweit die Personenbeschreibungen der Listen über die – ohnehin kaum mögliche – ‚reine‘ Deskription offenkundig stigmatisierenden und diffamierenden Charakters waren.33 Dass ein ermittelnder Amtmann wie Jacob Georg Schäffer in Sulz, ungeachtet seines Faibles für den Konstanzer Hans, eine deutlich abschätzige Meinung über die Verhafteten kultivierte, dürfen wir als gewiss voraussetzen. Trotz ihrer falschen Namen und ihren Beteuerungen, ehrlich zu sein, so erinnerte sich Schäffer später an die Befragungen, die schließlich in die

32 Vgl. mit weiterer Literatur Schwerhoff, Gerd: Historische Kriminalitätsforschung, Frankfurt am Main 2011, S. 178ff. 33 Den durchaus fließenden Übergang zwischen Diskriminierung im Sinne von ‚Unterscheiden‘, abstufender Hierarchisierung des Unterschiedenen und schließlich offener Herabsetzung betonen Graumann, Carl-Friedrich/Wintermantel, Margaret: Diskriminierende Sprechakte. Ein funktionaler Ansatz, in: Steffen Kitty Herrmann/Hannes Kuch/Sybille Krämer (Hg.), Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung, Bielefeld 2007, S. 147–177; vgl. allgemein zur herabsetzenden Sprache Schwerhoff, Gerd: Invektivität und Geschichtswissenschaft. Konstellationen der Herabsetzung in historischer Perspektive – ein Forschungskonzept, in: Historische Zeitschrift 311 (2020), S. 1–36.

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Sulzer Gaunerliste münden sollten, habe er gleich beim ersten Verhör aus ihren Aussagen und „aus […] denen Gesichts-Zügen wahrgenommen, daß solche von der aller grösten Diebs-Waar seyn“ müssten.34 Es würde mithin kaum überraschen, in den Körperbildern deutliche Spuren einer solch abschätzigen Einstellung zu finden. Indes erscheinen die verwendeten Kategorien zunächst einmal relativ neutral und die auf ihrer Grundlage gefertigten Beschreibungen überwiegend sachlich orientiert. Selbst bei den zahlreichen ‚Zigeunern‘ oder Juden unter den Beschriebenen (in der Sulzer Liste zum Beispiel leicht über den Index zu identifizieren) lassen sich im Vergleich zu den Übrigen keine systematischen Abweichungen in der Typologisierung erkennen. Anders gesagt: Die Beschreibungssprache der Texte war funktional ausgerichtet, am Ziel einer möglichst klaren Deskription zum Zwecke einer erfolgreichen Identifikation möglicher Straftäter oder jedenfalls (modern gesprochen) ‚Gefährder‘. Von neutral-wertfreien Beschreibungen wird man trotzdem nicht ohne weiteres sprechen können. Die ‚zigeunerische‘ Qualität schwarzer Hautfarbe wurde von einigen Informanten explizit angesprochen. Eine scheinbar objektive Beschreibungskategorie, so lässt sich hier deutlich erkennen, erweist sich bei näherer Betrachtung als entschieden kulturell codiert und somit – je nach Kontext – potenziell wandelbar, jedenfalls keineswegs eindeutig fixiert.35 Schwarze Gesichtshaut wurde so in etlichen Fällen (auch) als stigmatisierende Markierung verwandt. Von einer konsequent herabwürdigenden Hautfarben-Taxonomie in den Listen kann allerdings nicht die Rede sein: Schwarze Gesichter besaßen keineswegs nur ‚Zigeuner‘ (und noch weniger Juden), und umgekehrt konnten diese problemlos als weißhäutige Bleichgesichter charakterisiert werden. Die traditionelle Ambivalenz und Vieldeutigkeit in der Bedeutung der Farbe ‚schwarz‘ hatte sich noch nicht vollkommen verflüchtigt, und die Hautfarbe war im 18. Jahrhundert noch weit davon entfernt, ihre später in der Moderne dominante Funktion für rassistische Codierungen einzunehmen.36 Deutlichere Unterschiede lässt vor allem die komparative Betrachtung von Männern und Frauen erkennen. Von den Vagantinnen wird häufig rüde und abwertend gesprochen, wie bereits am Beispiel von „Benkenmachers Mäulen“ und „Meelbaschens Mejann“ dargestellt wurde (Q 8). Selbst in der telegrammartig abgefassten General-Jauner-Liste (Q 11) werden stigmatisierende Epiteta verwendet wie im

34 Zit. n. Blauert/Wiebel: Gauner- und Diebslisten, S. 87. 35 Paradigmatisch Burschel, Peter: Weiß und rein. Zur kulturellen Codierung von Hautfarben in der frühen Neuzeit, in: Mark Häberlein u. a. (Hg.), Geschichte(n) des Wissens. Festschrift für Wolfgang E. J. Weber zum 65. Geburtstag, Augsburg 2015, S. 431–442. 36 Pastoureau, Michel: Schwarz. Geschichte einer Farbe, Mainz 2016; Bethencourt, Francisco: Racisms. From the Crusades to the Twentieth Century, Princeton/Oxford 2013.

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Fall der von „Juditha, des Bürstenhenners Weib“, die knapp als „runzlicht, zahnlucket“ beschrieben wird. Dabei scheinen die Deskriptionen gerade in diesem Punkt im Duktus den Angaben der Informanten zu folgen. Besonders die Sulzer Liste besitzt hier ein sehr eigenes Gepräge. Nicht nur der Konstanzer Hans sprach sehr abwertend von Frauen, zum Beispiel als „Erz-Aas und Hure“ oder „Erz-Canaille.“37 Mariana, die Schwester des „Polacken-Baschens Sepp“, beschreibt er als „ein gar kleines ungestaltetes Menschlen […] großkopfigt-dicken Moppergesichts, die Farbe der Augen und Haare wisse er nicht, weil er dieses wüste ungeformte Ding nie recht ansehen mögen.“ Die Vertreter der Obrigkeit protokollierten und reproduzierten derart drastische Äußerungen ohne erkennbaren Widerspruch; die patriarchale Gesellschaft stellte hier offenkundig einen gemeinsamen Referenzrahmen bereit, der die Kluft zwischen Amtmann und Delinquent überbrückte, vielleicht sogar für Momente der Kumpanei sorgte. Stigmatisierende Beschreibungskategorien kamen aber im Übrigen vor allem dann ins Spiel, wenn über die hier im Mittelpunkt stehenden körpernahen Dimensionen das kriminelle Verhalten beschrieben wurde. Hier tönen die Äußerungen oft so, als hätte der Inquisitor selbst die Beschreibungen vorgenommen. Auch andere Informanten kennzeichneten die Beschriebenen nicht selten als ‚Mörder‘, ‚Einbrecher‘ oder ‚Erz-Diebe‘ beziehungsweise ‚Erz-Diebinnen‘; aber wiederum ist es der Konstanzer Hans, der sich in der eilfertigen Übernahme obrigkeitlicher Stereotype besonders hervortut. Das betrifft nicht nur Leute wie den Spengler Franzen Sepp („ein berüchtigter Erzdieb“), sondern auch seinen Schwager Spengler Franzen Sepp („werde nicht besser seyn, als sein übrige Kameradten und Anverwandte“). Über den jüngsten Sohn des eben genannten Polaken-Baschen heißt es bei ihm, wenn er auch noch nicht selbst stehle, „werde er doch als von einer Haupt-Diebs-Familie abstammend, dieses Handwerk bald lernen und treiben, wie seine Brüder.“ Und selbst über die eigene Schwester Franzele, zeitweilig die ‚Hure‘ von Schinder Peterlen, äußert er abfällig, es sei gut, dass sie gefangen sei; man möge sie nur lebenslänglich im Pforzheimer Zuchthaus verwahren, andernfalls werde sie zu einer Diebin und Hure ohnegleichen. Stigmatisierungstendenzen sind mithin in den Listen deutlich zu erkennen, aber weniger hinsichtlich der Körperbilder, sondern in Bezug auf das soziale beziehungsweise a-soziale Verhalten der Vaganten und Gauner. Bei aller später konstruierten Kontinuität in die NS-Zeit hinein liegt hier ein deutlicher Unterschied zu den erbbiologisch-rassistischen Kategorien eines Robert Ritter.

37 Blauert/Wiebel: Gauner- und Diebslisten, S. 99; Fritz: Rotte, S. 289f.

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Anhang: Die untersuchten Quellen Quelle 1) Liste der Kirchen-Räuber und Diebe, welche von denen zu Strelitz den 17. August. 1728. gehangenen 4. Ertz-Dieben […] Gerichtlich benant und beschrieben worden [...], o. O. 1728 (VD18 90607368) Online: http://rosdok.uni-rostock.de/resolve/id/rosdok_document_0000014239 [abgerufen am: 11. Mai 2021] Quelle 2) Description Der übel-beruffen Landstreicheren, Dieben und Kirchen=Räuberen […], Stadt am Hoff 1728 Online: https://books.google.de/books?id=qTJFAAAAcAAJ&lpg=PA5&ots= AP0ICCElpP&dq=justificierter%20Dieben&hl=de&pg=PA1#v=onepage&q&f= false [abgerufen am: 11. Mai 2021] Quelle 3) Verzeichnuß, Derer jenigen, seither einigen Jahren her, in denen beeden Hochlöbl. Craysen Schwaben und Francken herum Vagirenden Zigeuner- und Jauner-Pursche wie selbige aus verschiedenen bey allhiesig Hochfürstl. Würtembergischen Cantzley eingekommenen Inquisitions-Actis, nach und nach, extrahirt worden, Ludwigsburg 1728 (VD18 13996258; Blauert/Wiebel: Gauner- und Diebslisten, Nr. 13) Online: http://idb.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/Ed12a_qt [abgerufen am: 11. Mai 2021] Quelle 4) (Ferdinand Efferen) Dem Ober-Ambt [...] wird beykommende gedruckte Liste deren in denen Chur-Pfältzischen Landen, noch zum Theil herumstreichender berüchtigter Lands-Streicher und Diebs-Band-Verwanthen […]. [Zweiter Titel nach Vorwort:] Acten-mäßige Verzeichnuß oder List Der In denen Chur- und OberRheinischen Crayß-Landen noch herum streichend- und durch viele von dem Chur-Pfältzischen Rath, und Criminal-Referendario Licentiaten Drost obgehabte mühesame inquisitiones entdeckter Dieb- und Landsteicher Männ- und Weiblichen Geschlechts, Mannheim 1754 (VD18 14343320) Online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/efferen1754b [abgerufen am: 11. Mai 2021]

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Gerd Schwerhoff

Quelle 5) Kurtze Beschreibung einiger Gauner- und Diebs-Cameraden, so von denen zu Carlsruh den 4. Junii 1755 [...] zum Todt gebrachten Deliquenten Meyer Jacob, Joseph Levi, Isaac Levi, Löw Moses [...] benamset worden, Karlsruhe 1755 (Blauert/ Wiebel: Gauner- und Diebslisten, Nr. 49) Online: https://digital.blb-karlsruhe.de/id/6068393 [abgerufen am: 11. Mai 2021] Quelle 6) Lista, verschiedener zum Schaden des gemeinen Wesens noch würklich in Schwaben herum schwärmender Jauner, Dieben und Verg’waltigern. So von dem in der ohnmittelbaren Freyen Reichs Prälatur Roth […] mit dem Schwerdt hingerichteten Joseph Daniel von Trient, oder sogenannten Wachß-Boßirer, als Complices angegeben und beschrieben […], Memmingen 1773 (VD18 14083752) Online: http://idb.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/Ed9_fol_3 [abgerufen am: 11. Mai 2021] Quelle 7) Bericht von einer unlängst aufgehobenen Räuber-Bande, und Beschreibung der von Selber angegebenen mit-Consorten: zum Besten des Nebenmenschen auf Hochobrigkeitlichen Befehl in Druck gegeben, Schwyz 1784 (Blauert/Wiebel: Gauner- und Diebslisten, Nr. 96) Online: https://books.google.de/books/about/Bericht_von_einer_unl%C3%A4ngst_ aufgehobenen.html?id=H5DhRyzEXxkC&redir_esc=y [abgerufen am: 11. Mai 2021] Quelle 8) (Jakob Georg Schaeffer) Sulz am Neccar. Beschreibung derjenigen Jauner, Zigeuner, Mörder, Straßen-Räuber, Kirchen- Markt- Tag- und Nacht-Diebe, Falschen GeldMünzer, Wechsler, Briefträger, Spieler und andern herum vagirenden liederlichen Gesindels […], Sulz am Neckar 1784 (VD 18 13703501; Blauert/Wiebel: Gaunerund Diebslisten, Nr. 97, mit Faksimile) Online: http://idb.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/LVI4_fol [abgerufen am: 11. Mai 2021]

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Quelle 9) (Ignaz Engelberger) Verzeichniß und Beschreibung Derjenigen fremden Bettler, Vagabunden und Jauner, welche bey den in gegenwärtigem 1798ger Jahre vorgegangenen allgemeinen Landesstreifen bey nachstehenden Gerichtsbehörden eingebracht […], Freiburg i. Br. 1798 (VD18 14259052) Online: http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/engelberger1798 [abgerufen am: 11. Mai 2021] Quelle 10) Oberdischinger Diebs-Liste über die in Schwaben, und von da in denen angränzenden Ländern herumstreichende Jauner, Mörder, Strassen-Räuber, Zigeuner, Markt-Tag- und Nacht-Diebe […] und ander liederliches dem Staate äusserst schädliches Gesindel […], Tübingen 1799 (VD18 11735724; Blauert/Wiebel: Gaunerund Diebslisten, Nr. 115) Online: https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht/?PPN=PPN718447077 [abgerufen am: 11. Mai 2021] Quelle 11) (Friedrich August Roth) General-Jauner-Liste: oder Alphabetischer Auszug aus mehreren theils im Druck, theils geschrieben erschienenen Listen. über Die in Schwaben und angränzenden Ländern zu deren grossem Nachtheil noch herumschwärmende Jauner, Zigeuner, Straßenräuber, Mörder, Kirchen-Markt-Tag und Nachtdiebe […] und sonstiges liederliches Gesindel, Karlsruhe 1800 (VD18 13944991; Blauert/Wiebel: Gauner- und Diebslisten, Nr. 117) Online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/roth1800 [abgerufen am: 11. Mai 2021]

Silke Satjukow, Rainer Gries

Die Leningrader Blockade 1941 bis 1943 – Sinneserfahrungen im Überlebenskampf Ein Essay Im Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Anfang September erreichten die Invasoren den Fluss Newa und kreisten Leningrad zu Lande ein. Die Stadt Peters des Großen stand vor der militärischen Einnahme. Adolf Hitler und das Oberkommando der Wehrmacht entschieden jedoch, eine andere, weit grausamere Taktik anzuwenden: Vernichtung durch Verhungern. Leningrad sollte nicht allein mit Waffengewalt erobert werden, vielmehr wollte man vor den Toren ausharren und alle Versorgungs- und Fluchtwege abriegeln. Es begannen 871 Tage Blockade. Zu diesem Zeitpunkt lebten drei Millionen Menschen in der Stadt, darunter fast eine halbe Million Kinder. Als die systematischen Bombardierungen, Beschießungen und Brände begannen, versuchten die Leningrader:innen, dem Grauen über eine Furt zu entkommen, aber nahezu alle Wege waren abgeschnitten. Dieser Essay handelt von Körpererfahrungen in der extremen Ausnahmesituation. Unsere Sinne bestimmen, was wir wahrnehmen, was wir fühlen und wie wir handeln. Sie sind Medien des Lebens – und sie sind deshalb wesentliche Mittel, um Krisen und Krieg durchzustehen. Es stellt sich die Frage, wie Gesellschaften im Ausnahmezustand Krieg ihre Sinne nutzen, wie sich ihre Sinneswahrnehmungen womöglich verändern und verschieben. Welche Sinne treten in den Hintergrund, welche werden notgedrungen wichtiger?

Innerhalb des Blockaderings: Überleben und Sterben Allein von September bis November 1941 mussten die Lebensmittelrationen in der eingekesselten Metropole insgesamt fünf Mal drastisch gekürzt werden. Werktätige erhielten im Spätherbst 200 Gramm Brot, die Mehrzahl bekam gerade einmal 125 Gramm pro Tag amtlich zugeteilt. Doch auch diese kargen Rationen standen nur auf dem Papier. Die Anlieferungen reichten bei weitem nicht aus; die Empfangsberechtigten konnten ihre Karten in der Regel gar nicht einlösen. Und das angebotene Brot bestand kaum aus Mehl, sondern vielfach aus Zellulose, Tapetenstaub und anderen minderwertigen Stoffen. Der Energiewert der Nahrung betrug mitunter nur noch 400 Kilokalorien pro Tag. Der Gewichtsverlust der Menschen erreichte

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im ersten Blockadewinter durchschnittlich 30 bis 40 Prozent. Körpereigene Fette wurden vollständig verbraucht, Herz und Leber schrumpften, Muskeln schwanden. Ein Leningrader erinnert sich: Eine Folge des Hungers war – und das war besonders schrecklich – wie sich die menschliche Gestalt veränderte. Das Aussehen, das Gesicht veränderte sich, der Mensch verwandelte sich in einen wandelnden Leichnam, und es ist doch bekannt, daß eine Leiche ein furchtbarer Anblick ist. Das gelbe Gesicht, der starre Blick, die Stimme geht verloren, man konnte an der Stimme nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war, die krächzende Stimme, ein Wesen, das alters- und geschlechtslos geworden war.1

Zahlreiche Zeugnisse dieses existentiellen Überlebenskampfes, des Hungerns und des Sterbens, sind überliefert: Briefe und Tagebücher, Fotographien und Zeichnungen, aber auch Erinnerungsberichte und literarische Texte. So auch die Einträge ins Tagebuchbuch der 11jährigen Tanja Savitschewa: Schenja ist am 28. Dezember um 12.30 Uhr morgens gestorben 1941. Großmutter ist am 25. Januar um 3 Uhr nachmittags gestorben 1942. Leka ist am 17. März um 5 Uhr morgens gestorben 1942. Onkel Lescha am 10. Mai um 4 Uhr gestorben 1942. Mama am 13. Mai um 7.30 Uhr gestorben morgens 1942. Die Savitschews sind gestorben. Alle sind gestorben. Nur Tanja ist übrig geblieben.2

Tanja protokolliert den Tod ihrer gesamten Familie von Ende Dezember bis Mitte Mai – ein Versuch, das Unfassbare und Unsagbare überhaupt wahrnehmen zu können. Ihre Zeilen werfen zahlreiche Fragen auf, etwa danach, wie Menschen in derart extremen und existentiellen Situationen ihre Umwelt sinnlich wahrnehmen und wie sie ihr Handeln in der Not ausrichten. Welche Grenzen sind sie womöglich bereit zu überschreiten? Aus einem vom sowjetischen Militärgeheimdienst abgefangenen Brief der 8jährigen Ljuba an ihren Vater an die Front: „Den ganzen Tag kreisen die Gedanken darum, was man essen könnte. Mama und ich haben zwei Katzen gegessen, sie sind

1 Lomagin, Nikita A.: Leningrad während der Blockade, in: Peter Jahn (Hg.), Blockade Leningrads 1941–1944. Dossiers (Katalog), Berlin 2004, S. 19–31, hier S. 25. 2 Velikaja otecestvennaja vojna. Enciklopedija dlja Škol’nikov, Moskva 2005, S. 125.

Die Leningrader Blockade 1941 bis 1943

so schwer zu finden und zu fangen, wir halten die ganze Zeit nach einem Hündchen Ausschau, aber die sieht man überhaupt nicht mehr.“3 Ab Spätherbst 1941 kam es dazu, dass Menschen Leichen verzehrten. Die Geheimdienstarchive bergen unzählige Berichte: Am 20. Dezember des Jahres verschwand die 4jährige Tochter Galina der Arbeiterin M. Die Untersuchung ergab, dass ein 14 Jahre altes Mädchen unter Beteiligung ihrer 42jährigen Mutter die kleine Galina getötet hatte. Sie gestand, Galina zu sich in die Wohnung gelockt und sie in der Absicht getötet zu haben, „sie als Nahrung zu verwenden. Im Monat April tötete L. in derselben Absicht vier Mädchen im Alter von drei bis vier Jahren und verwendete die Leichen gemeinsam mit ihrer Mutter als Nahrung. B., 40 Jahre, verwendete die Leiche ihrer gestorbenen Tochter als Nahrung, in derselben Absicht raubte sie Leichen auf dem Friedhof.“4 Diese Einblicke zeigen Hunger als psychische und moralische, vor allem aber als körperliche Erfahrung im Extremum. Die Zeitzeugin und Schriftstellerin Lidia Ginsburg schreibt, dass man jedes Stück Brot ganz genau aufteilen musste: „Ein Gramm mehr hier hin, ein Gramm weniger für sich selbst. Jede Kalorie, die man dort hinzufügte, fehlte seinem eigenen Leben. Es war eine genaue Rechnung.“5 Eindrücklich beschreibt Ginsburg, wie der unentrinnbare Hunger jedwedes soziale Gefüge auflöste, Freundschaften zerstörte und selbst Familienbande korrumpierte. Mit Fortgang der Belagerung schränkten sich alle Lebensräume rapide ein. Die Politik der Vernichtung wirkte wie eine Schlinge, die sich beständig enger zuzog, die sich nicht lockerte und die der Metropole und ihren Menschen immer weniger Luft zum Atmen ließ. Die Ausgezehrten vermochten sich nur noch mühsam an den Bombenkratern, den Trümmerbergen, den stehengebliebenen Straßenbahnen, den unberäumten Schneebergen und den aufgehäuften Toten vorbei zu schleppen. Der damals 8jährige Leningrader Lev Marchasev erinnert sich: Im Dezember, Januar und Februar bot die Stadt einen schrecklichen Anblick. Erstens diese dunklen Häuser, viele mit eingeschlagenen Scheiben. Einige auch halbzerstört, mit Spuren der Bomben und der Geschosse. Zweitens hatte es Schneehaufen von mehr als Mannshöhe zusammengeweht. Drittens waren in der Stadt einige Trolleybusse und Straßenbahnen in dem Augenblick steckengeblieben, in dem der Strom abgeschaltet wurde.

3 Bericht der Verwaltung des NKWD des Leningrader Gebiets und der Stadt Leningrad, 13. Dezember 1941, zit. n.: Jahn: Blockade Leningrads, S. 145. 4 Ebd., Verwaltung des NKWD des Leningrader Gebiets und der Stadt Leningrad, 2. Juni 1942, zit. n.: Jahn: Blockade Leningrads, S. 161. 5 Lidia Ginsburg, zit. n.: Tipper, Anja: Die Blockade durchbrechen. Hunger, Trauma und Gedächtnis bei Lidija Ginzburg, in: Osteuropa 61/8–9 (2011), Die Leningrader Blockade. Der Krieg, die Stadt und der Tod, S. 281–296, hier S. 288.

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Schon zur Mitte des Winters hin waren die Scheiben eingeschlagen, es war schon etwas herausgerissen, mitgenommen worden, und einige Trolleybusse hatten sich in Abtritte, in Toiletten verwandelt. Denn außer der Dystrophie gab es noch eine Krankheit: den ‚Hungerdurchfall‘. Furchtbar abgemagerte Menschen, Dystrophiker, liefen schwankend durch die Straßen, schleppten sich dahin und fielen nicht selten in einen Schneehaufen, wo sie dann bis zum Frühling liegen blieben. Das war vielleicht ein Anblick, diese Straßen, auf denen der Verkehr still stand und schwarze Figuren dahin schlichen.6

Mit den räumlichen Horizonten veränderten sich auch die körperlichen Wahrnehmungen – Tag und Nacht wurden die Sinne der Menschen gefordert und zugleich gefoltert. Der Geruchssinn mutierte: Der Gestank in dem überdimensionierten Siechenhaus Leningrad lässt sich nur erahnen. Auf der einen Seite war da die Abwesenheit von alltäglich-vertrauten Kochgerüchen: Die Lebensmittelrationierungen ließen eine regelmäßige Mahlzeit nicht mehr zu. Andererseits wurde alles zu Essbarem verarbeitet, was nicht unmittelbar giftig war. Der Bratendunst von Verdorbenem, von Ersatzstoffen, von Hunden und Katzen – und später von Menschenfleisch. Gestank geriet zur Normalität, was dauerhafte Folgen auch für den Geschmackssinn zeitigte. So erinnerte sich die damals 12jährige Anna Grubina noch ein halbes Jahrhundert später: Nach der Blockade... Ich empfand... Ich weiß, dass der Mensch alles essen kann. Die Menschen aßen sogar Erde. Auf den Märkten wurde Erde von den zerstörten, abgebrannten Lebensmittellagern verkauft, besonders begehrt war die Erde, auf der Heringstonnen gestanden hatten, diese Erde roch nach Salz, aber sie roch nur danach, Salz war wenig darin. Nur eben der Geruch nach Hering. Die Leningrader Parks aber kosteten nichts, und deshalb wurden sie schnell gegessen. Sich an Blumen erfreuen... Einfach nur erfreuen... Das habe ich erst vor gar nicht allzu langer Zeit gelernt. Jahrzehnte nach dem Krieg.7

Der beißend-süßliche Verwesungsgeruch der Sterbenden und Toten in den Wohnungen wie auf den Straßen und Plätzen begleitete die Leningrader:innen bis zum Tauwetter im Frühjahr 1942; erst dann konnten die Leichen bestattet werden. Die britische Schriftstellerin Anna Reid zitiert in ihrem Blockade-Buch zeitgenössische Aufzeichnungen:

6 Marchasev, Lev S.: Beethoven gegen Hitler (Gesprächsaufzeichnung), in: Osteuropa. Die Leningrader Blockade, S. 215–229, hier S. 220. 7 Alexejewitsch, Swetlana: Die letzten Zeugen. Kinder im Zweiten Weltkrieg, Berlin 1989, S. 36.

Die Leningrader Blockade 1941 bis 1943

In einem Raum nach dem anderen liegen Tote, eine Leiche für jede Familie. Es ist fast einen Monat her, seit Anna Jakowlewna verhungerte. Sie liegt noch immer in ihrem eiskalten, schmutzigen Zimmer – schwarz, vertrocknet, mit gebleckten Zähnen. Niemand hat es eilig, sie zu säubern und zu beerdigen; alle sind zu schwach, um sie zu beachten. Zwei Zimmer weiter liegt noch eine Leiche: ihre Tochter Asja, die ihre Mutter um zwölf Tage überlebte, bevor sie ebenfalls dem Hunger zum Opfer fiel. Asja starb zwei Schritte von meinem Bett entfernt. Mein Mann und ich schleiften sie hinaus, da es in unserem Zimmer zu warm für eine Leiche war.8

Wenn in einer Familie jemand starb, so versuchten die Hinterbliebenen, die Beerdigung und die Bekanntgabe seines Todes so lange wie möglich hinauszuzögern, um dessen Lebensmittelkarte auch weiterhin beziehen zu können. Für ein paar Brotkrumen mehr lagen Mütter mit ihren toten Kindern im Bett, ließ man gefrorene Leichen bis zum Frühjahr in der Wohnung.9 Tote lagen überall auf den Straßen oder an sogenannten Leichenabgabestellen. Der Boden war gefroren, die Leichen konnten nicht begraben werden. Dass die Bewohner:innen sich aufgrund der Wasserknappheit und aufgrund der klirrenden Kälte nicht mehr regelmäßig wuschen, verursachte nicht nur bis dahin ungewohnte Gerüche, sondern zeitigte auch für den Hautsinn Folgen: Denn die Menschen trugen bei Tag und bei Nacht viele Lagen Kleidung, Decken und Lumpen am Leib. Lidia Ginsburg notierte: „Monatelang schliefen Menschen […] ohne sich auszuziehen. Sie hatten ihren Körper aus dem Blick verloren. Er verschwand in der Tiefe, eingemauert in Kleidung, und dort, in jener Tiefe, verwandelte er sich, verlor sein altes Aussehen.“10 Berührungen gerieten zur Ausnahme; Streicheln und Liebkosen schienen einer anderen Zeit anzugehören. Viele Menschen waren zu intimen Körperkontakten kaum noch fähig. Angesichts der nicht bewältigbaren Verluste verhärteten sich ihre Seelen: Wie sollten sie damit umgehen, dass sie Eltern und Geschwister, Nachbarn und Verwandte verloren – und schließlich die eigenen Kinder. Manche waren gezwungen, Entscheidungen zu treffen, die tradierte Moralvorstellungen in ihr Gegenteil verkehrten: Um selbst zu überleben oder wenigstens einige der eigenen Kinder vor dem Hungertod zu retten, mussten sie womöglich andere opfern. Und auch sie selbst waren stets in der Gefahr, aufgegeben und geopfert zu werden.

8 Maria Maskova, 17. Februar 1942, zit. n.: Reid, Anna: Blokada. Die Belagerung von Leningrad 1941–1944, Berlin 2011, S. 279. 9 Wischnewskaja, Galina: Galina. Erinnerungen einer Primadonna, München/Mainz 1993, S. 31. 10 Ginsburg, Lidia: Aufzeichnungen eines Blockademenschen, Frankfurt am Main 1997, S. 18.

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Fragen wir nach der Relevanz, der Hierarchie der Sinne im Krieg und in der Krise, zeigt sich, dass die Bedeutung des Riechens und des Sehens in der verfinsterten und stinkenden Stadt in den Hintergrund trat. Andere Sinne dagegen wurden geschärft: vor allem wurde das Hören überlebensnotwendig. Der Leningrader Semen Bytovoj schrieb über die Menschen in der Stadt: Vieles in ihrer Vorstellung war zusammen mit dem Sehvermögen verkümmert, und sie hatten sich neue Wege der Erkenntnis erschlossen, indem sie ihr geschärftes Gehör und ihren verfeinerten Tastsinn nutzen. Ihre Sinne waren außerordentlich geschärft. Noch im Abstand von zwölf Schritten konnten sie jede kleinste menschliche Bewegung wahrnehmen, ja sogar ein Herz schlagen hören.11

Die Blockade veränderte nicht nur die Wahrnehmungshorizonte ihrer Einwohner:innen, sondern auch die Töne und die Tonalitäten in der Stadt – ihre Straßen und Plätze gerieten in den Bann eines künstlichen Herzschlages.

Das Blockade-Radio: Durchhalten im Klang-Raum Die Stadt lag mittlerweile wegen der allabendlichen Luftangriffe weitgehend im Dunkeln, ihre Geräuschkulisse hatte sich verändert. Die Eingeschlossenen waren nun vor allem darauf angewiesen, die Töne und Takte des Krieges zu entschlüsseln. Lidia Ginsburg notierte: Der Schrecken des Luftangriffs besteht in der grotesk übertriebenen Trennung von Sichtbarem und Hörbarem. Einerseits geht die Gefahr von einer weit entfernten Quelle aus, die der Städter von unten nur akustisch wahrnehmen kann. Diese Bedingungen führen zur Entstehung einer neuen akustischen Topographie, in welcher der kleinste Fehler fatale Folgen haben kann. Das Sehen wird durch das Hören überlagert, und das Subjekt der städtischen Kriegskatastrophe ist vor allem ein hörendes Wesen.12

Im Zentrum dieser ‚neuen akustischen Topographie‘ stand das lokale BlockadeRadio; es begleitete die Bevölkerung Tag und Nacht. Bereits kurz nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 waren auch in Leningrad alle privaten Radioapparate eingezogen worden. Die Leningrader Blockade-Welle konnten die Menschen daher nur über einfache Lautsprecher in den Wohnungen und vor allem in den

11 Semen Bytovoj, zit. n.: Barskova, Polina: Schwarzes Licht. Die Dunkelheit im belagerten Leningrad, in: Osteuropa. Die Leningrader Blockade, S. 247–264, hier S. 261. 12 Lidia Ginsburg, zit. n.: ebd., S. 262.

Die Leningrader Blockade 1941 bis 1943

Straßen und auf den Plätzen der Stadt empfangen. Nicht nur als Wjatscheslaw Molotow am 22. Juni 1941 den Angriff des nationalsozialistischen Deutschlands bekanntgab, standen die Bürger:innen eng an eng gedrängt und lauschten. Alle Straßenlautsprecher und alle Empfangsgeräte in den Wohnungen waren gleichgeschaltet – und: Sie waren auch alle eingeschaltet. Radio Leningrad gab den Menschen in der mehr und mehr ersterbenden Stadt ein hörbares unablässiges Lebenszeichen. Nicht nur durch seine antreibenden Inhalte, sondern auch durch die räumliche Anordnung: Ein Straßenlautsprecher stand gerade so weit vom anderen entfernt, dass ein Fußgänger, wenn er sich von dem einen entfernte und sozusagen dessen Töne verlor, nach und nach schon den Klang des räumlich folgenden Lautsprechers hörte. Die Lautsprecher fingen ihn auf, ließen ihn nicht fallen, ließen ihn zumindest den Mut nicht sinken. […] Vielleicht überlebe ich doch? Vielleicht kommt jemand zu mir, wie sie zum Nachbarn gekommen sind und ihm geholfen haben? Vielleicht ist alles doch noch nicht so schlimm und wird morgen besser?13

Das Blockade-Radio führte die Menschen Meter für Meter durch die Stadt; es begleitete sie durch ihren verheerenden Alltag; wollte ein akustischer Wegweiser und Motivator sein. Durch seine räumliche Überall-Präsenz gestaltete das Blockade-Radio die malade Millionenstadt als einen einheitlichen Klang-Raum: Während sich das traditionelle Radio durch ein disparates und Kanäle auswählendes Publikum auszeichnete, schuf die Blockade-Welle eine einzige, überall und zeitgleich empfangende Hörerschaft. Aus der Vielstimmigkeit der Großstadt schuf sie einen einstimmigen Resonanz-Raum: Den zerstörten architektonischen Strukturen wurde eine akustische Tektonik entgegengesetzt; sie sollte nicht nur den beschädigten Stadt-Raum als ein auditives Ensemble zusammenhalten, sondern auch den am Boden liegenden Menschen eine körperliche und emotionale Stütze sein. Und natürlich, die Eingeschlossenen sollten durch die Töne und Rhythmen, Inhalte und Takte dieses geschaffenen Klang-Raumes zu einer wehrhaften und bis zuletzt durchhaltenden, kämpfenden Gemeinschaft zusammengeschweißt werden: der Klang-Raum nicht nur als Resonanzraum, sondern vor allem als Resilienz-Raum. Das Blockade-Radio war nicht nur überall in der Stadt, sondern auch zu jeder Tages- und Nachtzeit zu hören: in Gestalt des sogenannten Metronoms, eines Taktgebers, der immer dann zu hören war, wenn das reguläre Programm pausierte. Auf diese Weise signalisierte es der Hörergemeinde, dass es für sie da war. Mehr noch: dass es für sie sorgte, sie beschützte. Noch einmal Lev Marchasev:

13 Marchasev: Beethoven gegen Hitler, S. 220.

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Ab dem 26. Juni (wurde) das Radio nicht mehr ausgeschaltet, weder in den Wohnungen, noch auf den Straßen. Und wenn kein Programm lief, ertönte das Metronom. Wenn alles still war, schlug es gleichmäßig und ruhig. […] Eine Sirene heulte. Dann schaltete sich das schnelle Metronom ein. Es wurde erst ausgeschaltet, nachdem eine Stimme erklärt hatte: ‚Entwarnung‘. Eine sehr reine, klangvolle Trompete spielte eine Melodie, die zur liebsten Melodie der Leningrader wurde. Dasselbe passierte, wenn der Artilleriebeschuss begann. Eine Stimme sagte: ‚Achtung! Achtung! […] Und wieder lief das Metronom schnell. Dann schlug es, glaube ich, mit 120 Schlägen pro Minute. Es schlug also wie ein Puls. Später entstanden sehr viele Gedichte über das Metronom, in denen es mit dem Herzen der Stadt verglichen wird. Tatsächlich schlug es ruhig, wie das Herz eines beruhigten Menschen, oder es schlug schnell, wie bei einem unruhigen Menschen.14

Im Katastrophenfall waren die Leningrader:innen damit ganz und gar auf diesen Sender angewiesen. Denn seit den 1930er Jahren waren die Kirchenglocken zum Schweigen verurteilt. Auch während der Blockade blieben sie stumm. Das Blockade-Radio mit seinen Inhalten und dem Metronom regierte nicht nur die Wahrnehmungen des Hörsinnes. Vielmehr definierte es unumstößlich Raum und Zeit, durchherrschte Geist und Körper, gab Moral und Sinn vor. Niemand konnte sich diesem unaufhörlichen Takt in diesem unausweichlichen Klang-Raum entziehen – die stets präsente Akustik evozierte in der zerstörten Stadt und in den verstörten Menschen eine psychophysische Infrastruktur, die bedeutende und nachhaltige Wirkungen zeitigte. Jedoch nicht nur die Schläge des Metronoms konstruierten und rhythmisierten den Raum und die Zeit auf durchdringende Weise. Das galt natürlich auch für die Musik, die über die Lautsprecherketten des Blockade-Radios gespielt wurde. Tagtäglich, allmorgendlich und zur Nacht, vernahmen die Leningrader:innen einen besonderen Marsch, der nicht nur ihre Herzen und Gemüter bis heute bewegt: den Marsch vom ‚Heiligen Krieg‘.

Die Marschhymne als Chiffre der Leningrader Blockade Der Marsch vom ‚Heiligen Krieg‘ war eine der frühesten Reaktionen der Moskauer Führung auf den Überfall durch die deutsche Wehrmacht. Die ersten Stunden und Tage des Vernichtungskrieges ‚im Osten‘ stellten auch die Geburtsstunden dieses Marsches dar – bereits seine Genese aus dem Abwehrkampf verweist auf die existentiellen militärischen und sozialpsychischen, kulturellen und politischen Bedeutungen dieses außerordentlichen Werkes.

14 Ebd., S. 219f.

Die Leningrader Blockade 1941 bis 1943

Wie Jewgeni Alexandrow – der Enkel des legendären Komponisten Alexander Alexandrow – berichtet, habe unmittelbar in den Stunden nach Kriegsbeginn ein Politoffizier seinem Großvater ein Gedicht überbracht, das der Revolutionsdichter Wassili Lebedew-Kumatsch gerade verfasst hatte. Ob er es wohl so schnell als möglich vertonen könne? „Der habe sofort seinen Tee stehen lassen, sich ans Klavier gesetzt und schon am Abend ging es los mit den Proben.“ Zwei Tage nach seiner Entstehung griff der Gedichttext bereits ins Kriegsgeschehen ein: Die großen Zeitungen Prawda (Wahrheit) und Iswestija (Nachrichten) sowie die Armeezeitung Roter Stern veröffentlichten ihn zeitgleich. Und schon am 26. Juni wurde das vertonte Marschlied zum ersten Mal aufgeführt: vom Alexandrow-Ensemble vor dem Belorussischen Bahnhof in Moskau. Dreihundert Soldaten auf dem Weg an die Front schmetterten hier diesen aufrüttelnden Marsch. „Als sie fertig waren, herrschte Grabesstille“, so Jewgeni Alexandrow. Sein Großvater und sein Onkel Boris, Alexandrows ältester Sohn, der das Orchester dirigierte, glaubten zunächst an einen Reinfall. „Doch dann brandete Applaus auf. Sie mussten es ein zweites Mal spielen. Und dann ein drittes Mal. Immer wieder.“ Nie zuvor und nie danach, zitiert Jewgeni seinen Onkel, habe es ein Konzert gegeben, das aus einem einzigen Lied bestanden habe.15 „In Russland heißt der Zweite Weltkrieg nicht nur Großer Vaterländischer Krieg, er war es auch. Die Menschen haben nicht für Stalin, nicht für die Plankommission, für den KGB oder die Partei gekämpft. Sie haben für ihr Vaterland gekämpft [...]. Und Alexandrows Musik hat sie zum Sieg inspiriert. Ich persönlich glaube, dass kaum, dass er das Lied vom ‚Heiligen Krieg‘ komponiert hatte, allen sofort klar wurde, wie der Krieg ausgehen wird.“16 Nun begann dieses „musikalische Monument des Trotzalledem“17 seinen Siegeszug. Die ausrückenden Moskauer Rekruten brachten es singend an die Front. Allerdings wurde es erst Monate später strategisch eingesetzt; ab Herbst 1941 erklang es Tag um Tag im sowjetischen Rundfunk. Der Grund für diese Verzögerung: Die Agitatoren und Propagandisten misstrauten dem Lied zunächst; der Text entsprach nicht eins zu eins ihren Vorgaben und seine Melodie blieb den Parteifunktionären vorerst suspekt.

15 Wolkowa, Irina: Russlands singende Waffe, in: Neues Deutschland vom 22. Juni 2011. 16 So der russische Historiker Wladislaw Kononow, zit. n.: Deutschlandfunk: Die Macht der Musik oder: Die Musik der Macht, 1. März 2011. 17 Schumann, Gerd: Partisanen, kommt, nehmt mich mit Euch!, in: Melodie & Rhythmus, 3/2015, S. 24.

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Swjastschennaja woina Вставай, страна огромная, Вставай на смертный бой С фашистской силой tёmнoю С проклятою ордой! Пусть ярость благородная Вскипает, как волна, — Идёт война народная, Священная война! Как два различных полюса, Во всём враждебны мы: За свет и мир мы боремся, Они — за царство тьмы. Дадим отпор душителям Всех пламенных идей, Насильникам, грабителям, Мучителям людей! Не смеют крылья чёрные Над Родиной летать, Поля её просторные Не смеет враг топтать! Загоним пулю в лоб, Отребью человечества Сколотим крепкий гроб! Встает страна огромная, Встает на смертный бой С фашистской силой тёмною, С проклятою ордой. Пусть ярость благородная Вскипает, как волна, — Идёт война народная, Священная война!

Die Leningrader Blockade 1941 bis 1943

‚DER HEILIGE KRIEG‘ Erhebe dich, du gewaltiges Land, Tritt an zum letzten Gefecht! Gegen die dunkle Faschistenmacht, Gegen die verfluchten Horden! Lasst unseren Zorn Wie eine Welle hochschlagen! Es tobt ein Krieg des Volkes! Ein Heiliger Krieg! Wie zwei entgegengesetzte Pole, In allem sind wir Feinde. Für Licht und Frieden kämpfen wir, Sie aber kämpfen für das Reich der Finsternis. Wehren wir uns gegen die Unterdrücker Unserer glühenden Ideen. Gegen die Gewalttäter und Plünderer, Die Folterknechte der Menschheit! Ihre schwarzen Schwingen werden es nicht wagen, über Mutter Heimat zu fliegen, Ihre weiten Felder Wagt der Feind nicht zu betreten! Der üblen faschistischen Brut Jagen wir eine Kugel in die Stirn. Der Ausgeburt der Menschheit zimmern wir einen tiefen Sarg! Es erhebt sich ein gewaltiges Land, Tritt an zum letzten Gefecht! Gegen die dunkle Macht der Faschisten, Gegen die verfluchten Horden!

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Lasst unseren Zorn Wie eine Welle hochkochen! Es ist der Krieg unseres Volkes! Der Heilige Krieg! Quelle: Священная Война - Песни И Марши Военных Лет. Sacred War. Songs and Marches of War-Time. Schallplatte - Label: Мелодия, Moskau 1984; deutsche Übersetzung: Silke Satjukow und Rainer Gries.

Die anfängliche Skepsis der sowjetischen Propagandisten im Sommer 1941 lässt sich durchaus nachvollziehen: Hier ist von Licht und Finsternis, von heilig und verflucht die Rede. Es herrscht eine strenge Dichotomie: Wir (das Gute) gegen die Anderen (das Böse). Der Kampf findet zwischen zwei feindlichen Mächten und Gewalten statt, an seinem Ende kann nur der Tod (der Gegner) stehen. Tertium non datur. Ein dritter Weg ist nicht gegeben: „Der üblen faschistischen Brut jagen wir eine Kugel in die Stirn. Der Ausgeburt der Menschheit zimmern wir einen tiefen Sarg!“ Zwar wird nicht explizit der Terminus ,die Deutschen‘ verwandt, doch kann kein Zweifel daran bestehen, dass mit der „üblen faschistischen Brut“ nicht nur die nationalsozialistische Elite, sondern das gesamte Volk der Angreifer gemeint war. Der Verzicht auf die explizite Benennung ‚Deutsche‘ war dem Umstand geschuldet, dass diese im Sommer 1941 eben noch keine ausreichend negative Feindfolie abzugeben vermochten; zur Mobilmachung eigneten sich undefinierte „Bestien“ deutlich besser. Das Ziel des Angriffs ist die „Rodina“, die „Mutter Heimat“. Die „dunkle Macht der Faschisten“, so diese Klage und Anklage, sinnt nicht allein auf die Vernichtung des Sowjetvolkes, sondern auf die Vernichtung der kommunistischen Weltanschauung und damit auf die Vernichtung der Zukunft der Menschheit. Text und Melodie beschwören somit eine Auseinandersetzung biblischen und endzeitlichen Ausmaßes. Eine Auseinandersetzung also, die nicht nur überzeitlich, sondern übermenschlich ist, in ihren gewaltigen Dimensionen nicht überschaubar. Und damit dementiert diese Komposition geradezu die kommunistische Vision einer ‚gesetzmäßigen‘ lichten Zukunft. Die staatlichen Propagandisten wünschten sich aus diesem Grund auch keine komplexe Hymne, die in den Seelen von alters her tradierte und fundamentierte höhere und schützende Mächte anrief. Vielmehr forderten sie einen neuen Marsch für einen neuen Menschen, der aus einer überschaubaren Bedrängnis ‚planbar‘ und siegreich vorwärts in die Zukunft schritt. Doch es stellte sich bald heraus, dass gerade die Hybriditäten des AlexandrowStücks maßgeblich seine Mobilisierungskraft damals und seinen Erfolg bis heute begründeten: der Rekurs auf biblische Traditionen und die ambivalenten und apokalyptischen Bilder der Zukunft einerseits – und andererseits die Tatsache, dass

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es in der textlichen wie in der musikalischen Gestaltung sowohl Elemente eines Marsches als auch einer Hymne in sich vereint. Diese Ambivalenzen liegen nicht zuletzt auch in der Person des Komponisten dieses Liedes begründet.

Die Komposition: Heilige Wurzeln Alexander Alexandrow war 1883 in Plachino, einem Dorf bei Rjasan im Osten von Moskau, geboren worden – als jüngstes von acht Kindern in eine Familie von armen, ehemaligen Leibeigenen. Selbstverständlich wuchs der Junge mit der Göttlichen Liturgie der orthodoxen Kirche auf. Der örtliche Pope erkannte seine außerordentliche musikalische Begabung und empfahl ihn an das St. Petersburger Konservatorium. Alexandrow studierte geistliche Musik und wurde zum Kirchenmusiker ausgebildet. 1918 nahm er das Angebot der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale an, in diesem Zentrum der orthodoxen Kirche Russlands als Chorregent zu wirken – bis das symbolträchtige Gotteshaus 1922 gewaltsam von der regimetreuen ‚Renovationskirche‘ übernommen und auf Befehl der Partei schließlich 1931 gesprengt wurde. Alexander Alexandrow arrangierte sich hernach mit den kommunistischen Machthabern. Der Sakralmusiker und der politische Führer der Sowjetunion Josef Stalin (1878–1953), ehedem Schüler eines Priesterseminars, verstanden sich bestens. Alexandrow komponierte also zu Kriegsbeginn 1941 ‚Der Heilige Krieg‘, die ‚inoffizielle Hymne‘ der Sowjetunion; 1944 schuf er dann die offizielle Hymne. Kompositorisch ist das ‚Lied der Lieder‘ ebenso schlicht wie bemerkenswert: Es umfasst zwei mal acht Takte, die sich in vier viertaktige Gruppen nach dem Muster A-A‘-B-B‘ untergliedern. Die Komposition korrespondiert mit den apokalyptischen Szenarien des Textes: Die Tonart b-Moll erinnert an den Tod, beschwört die Gefahren eines großen endgültigen Verlustes; sie intoniert keineswegs einen sicheren Sieg und eine lichte kommunistische Zukunft. Alexandrow schrieb sein Stück zudem im 3/4-Takt, obgleich das Versmaß diesen Rhythmus nicht erforderte. Klassische Märsche werden üblicherweise in geraden Takten notiert, gewöhnlich im 2/2-Takt. Er ermöglicht einer militärischen Formation die Bewegung im Gleichschritt. Alexandrow aber nutzte hier Elemente eines Marsches – und gab zugleich eine Taktart vor, nach welcher man nicht effektiv marschieren konnte. Alexandrow kreierte einen Marsch, der zum Marschieren nicht geeignet war – und dennoch eine monumentale Mobilisierungskraft entwickelte. Dieser Marsch entfaltete seine gewaltigen Potenzen vielmehr im Innehalten, im Stehen, in der heldenhaften Konfrontation mit einer überzeitlichen, übermenschlichen, tödlichen Bedrohung – und damit war er im selben Atemzug gleichermaßen eine Hymne. Alexandrow hatte seinen ‚Heiligen Krieg‘ als Hybrid erschaffen: als Marsch und Hymne zugleich. Das Lied vermochte es, präzise die körperlichen und seelischen Verfasstheiten der Bevölkerung zu erfassen und aufzufangen. Das Lied geriet den

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Menschen damit zur musikalisch-sinnlichen Inkarnation ihres Leidens, ihres Sterbens – und ihres Überlebens.

Bewegungslosigkeit und Bewegtheit Ein Marsch ist typischerweise eine militärische Formation, in welcher sich Menschen gemeinsam auf Kommando und im Gleichschritt bewegen. Dabei handelt es sich um eine lineare, auf ein Ziel gerichtete Kraftanstrengung. Die zugehörige Marschmusik gibt den Takt der Schritte vor, sie korreliert unmittelbar mit der Dynamik und Rhythmik der marschierenden Einheit. Jedoch: In Leningrad vermochte niemand mehr zu marschieren, schon gar nicht im Gleichschritt – die eingeschlossene Bevölkerung schleppte sich dahin. Die Rhythmen in dieser Stadt waren spätestens im Herbst 1941 erstorben, Dynamiken kaum mehr zu erspüren. Ziel der Menschen war es Tag um Tag, mit minimaler Kraftanstrengung das Überleben zu sichern. Weder im realen noch im übertragenen Sinne konnte ein Marsch hier Taktgeber sein. Ein Marsch für diejenigen, die kaum mehr gehen können, stellte ein Paradoxon dar. Die Marschhymne ‚Der Heilige Krieg‘ jedoch vermochte den geschundenen Seelen und Körpern aufzuhelfen. Während der bloße Marsch mit einer körperlichen Bewegung verknüpft blieb, die sich Schritt für Schritt und auf dem Boden und damit horizontal ausbreitete, verwiesen die hymnischen Anteile auf eine seelische und geistige Bewegung, die sich vertikal erstreckte. Die hymnischen Elemente waren es, die einen Zugang zu den Menschen in Leningrad eröffneten; der Choral im ‚Heiligen Krieg‘ war es, der ihnen im Elend entgegen zu kommen vermochte. Text und Melodie verdichteten den existentiellen Endkampf – zusammen ließen sie Überzeitliches und Übermenschliches empfinden. Während das reale Ringen ums Überleben in den Straßen Leningrads ein zutiefst einsames war, versicherte die Marschhymne auf mehrfache Weise: Du bist nicht allein. Alexandrows Musik, sagt der Journalist Albert Kurow metaphorisch, wirke auf die Menschen wie ein Wald. „Sie stehen im Schatten der Bäume, die sie um ein Mehrfaches überragen. Allmählich werden sie eins mit ihnen und richten sich gemeinsam nach der Sonne aus.“18 Die vertikale Dimension verankerte die Menschen im Fluss der Zeit, ermöglichte Erinnerungen an die Vergangenheit, an paternalistischen Schutz. Sie verortete in der Tradition – und eben nicht zuletzt auch in den Gefühls- und Gedankenwelten

18 Albert Kurow, zit. n. Irina Wolkowa: Russland singende Waffe, in: Neues Deutschland vom 22. Juni 2011.

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der orthodoxen Kirche. Der Choral rief die beschützenden und tröstenden Erfahrungen der Vergangenheit in die hoffnungslose Gegenwart. Und mehr noch: Mit der vertikalen Dimension wies die Hymne einen Ausweg, den der Marsch nicht zu bieten vermochte: nach oben, in Richtung der Sonne. Zugleich schuf nur diese vertikale Dimension einen so dringend ersehnten Ausblick, einen Heraus-Blick: Von oben könnte die Rettung kommen – sei es von Gott oder sei es aus Moskau. Horizonte wahren Lebens an einem Ort des Grauens konnte nur die Musik eröffnen: Unter den Bedingungen einer Vernichtungsbelagerung blieb allein der Hörsinn offen für die Wahrnehmung und Aneignung des Guten und Schönen, nur dieser Sinn war überhaupt noch in der Lage, Ganzheitliches und Perfektes aufzunehmen. Alle anderen Sinne waren zu sehr dem Überlebens- oder im Sterbenskampf verhaftet. Nur über das Gehör ließen sich noch vertraute und schützende Erfahrungen sowie vertrauens- und hoffnungsvolle Erwartungen aufrufen und kommunizieren. Nur die Musik vermochte das Elend der menschlichen Existenz in Leningrad mit den Sphärenklängen des Transzendenten zu vereinen. Der ‚Heilige Krieg‘, selbstverständlich auch die Leningrader Symphonie von Dmitri Schostakowitsch (1906–1975), ja selbst das unablässig tickende Metronom, sie eröffneten nicht nur unmittelbare Wege zu den Seelen und Körpern der Menschen. Sie vermochten die vielen Elenden, die nurmehr für sich dahinleben konnten, zu einem Gemeinsamen zu formieren, zu einer geistigen Marschformation. Denn Musik schafft soziale beziehungsweise soziokulturelle Formen oder, wie Theodor W. Adorno es ausdrückte, Musik „eignet ein kollektiver Gehalt: jeder Klang allein schon sagt Wir.“19 Wenn ‚Der Heilige Krieg‘ in Leningrad erklang, spürten sich die Menschen für einen Moment wieder selbst – und sie spürten im selben Atemzug eine Vielzahl parentaler und schützender Wir-Gemeinschaften.

Die Ordnung der Sinne im Überlebenskampf Die tagtägliche Bedrohung durch den Tod in diesem Überlebenskampf gebar eine alternative Ordnung der Sinne. Das Leben in eisiger Kälte ohne Heizmaterial ließ Haut- und Tastsinn gewissermaßen erstarren: Monatelang eingewickelt in viele Lagen von Kleidern, verloren die Menschen das Gespür und das Gefühl für Berührungen. Die Menschen zogen sich zurück, sie igelten sich ein, sie vereinsamten sinnlich. Die meisten Sinne, eigentlich Tore zur Welt, verwandelten sich in Schutzwälle vor der Welt. Manche Sinne respektive deren Wahrnehmungen wurden unzweckmäßig. Das galt auch

19 Adorno, Theodor W.: Klangfiguren, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 16: Musikalische Schriften 1–3, Frankfurt am Main 1997, S. 18.

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für den Geruchs- und für den Sehsinn. Für die eingekesselten Menschen wurde es überlebenswichtig, den Gestank der sterbenden Stadt möglichst wenig oder gar nicht wahrzunehmen. Die Menschen setzten alles daran, sich vor den Gräueln des Alltags so gut es ging abzuschotten. Sie verschlossen ihre Nasen und ihre Augen sprichwörtlich vor dem endlosen Elend. – Sie schauten weg: Der Mensch vermag die Augen real und im übertragenen Sinne zu schließen. Er kann, wenn nötig, seine Wahrnehmungen über den Gesichtssinn steuern und einschränken. Zu übersehen half, zu überleben. Das ist beim Hörsinn nicht möglich: Der Wahrnehmung von Geräuschen und Klängen kann sich der Mensch nicht im selben Maße und mit demselben Maß an Eigensinn entziehen. Für die Leningrader Bevölkerung galt überdies: Zu hören half zu überleben. Während das Fühlen, Riechen und Sehen in der eisigen, stinkenden und dunklen Stadt mehr und mehr verkamen, wurde das Hören für den Lebenserhalt unverzichtbar. Die Relevanz der Wahrnehmungen oszillierte damals zwischen zwei Sinnesmodi, die zwar gegensätzlich anmuten, die aber beide zum Überleben in einem solchen unablässigen und unbarmherzigen Kampf notwendig waren: dem Abschließen der Sinne einerseits und der Anspannung der Sinne andererseits. Die Abschließung der Sinne: Die andauernde und unausweichliche Konfrontation mit dem Furchtbaren führte zu Versuchen, Sinneswahrnehmungen zu kontrollieren, zu selektieren, zu reduzieren, vielleicht auch zu minimieren. Dieser Modus dürfte überwiegend eine notwendige psychisch bedingte Schutzreaktion darstellen. Demgegenüber steht die Anspannung der Sinne: Die andauernde und unausweichliche Bedrohung des Lebens führte auch zu Versuchen, Sinneswahrnehmungen zu präzisieren, zu fokussieren und zu schärfen, möglichst viele Eindrücke zu sammeln und auszuwerten. Dieser Modus diente hauptsächlich dem physischen Schutz. Alle Sinne mussten gemäß ihrer abschließenden und anspannenden Anteile in den Dienst des Überlebens gestellt werden; die jeweilige Balance dieser Anteile lässt auf die Relevanz der jeweiligen Sinneswahrnehmung im existentiellen Ausnahmezustand schließen. Für den Gebrauch des Hörsinns in Leningrad gilt: Einerseits versuchten die Menschen, sich gegen das verzweifelte Schreien der Hungernden zu immunisieren. Das Metronom ermöglichte und begünstigte die Reduktion und Relativierung der Hörwahrnehmungen, denn sein Takt zeigte den Menschen einer Weisung der Obrigkeit gleich an, ob ein Angriff bevorstand oder nicht. Andererseits mussten die Menschen im Alarmfall gerade den Hörsinn anspannen, um mit dem Lärm des Krieges die Gefahr lokalisieren und sich selbst in Sicherheit bringen zu können.

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Abschließend sei nochmals die Frage aufgeworfen, was es für die Eingeschlossenen bedeutet haben mag, die Marschhymne ‚Der Heilige Krieg‘ zu hören. Das Hören von bestimmter Musik passt nicht zum Modus des Abschließens und auch nicht recht zum Modus der Anspannung. Bestimmte Musikstücke zu hören, dürfte vielmehr einem dritten Modus zuzuordnen sein – in einem dialektischen Verständnis: Musik zu hören avancierte zu einem Mega-Sinn. Es lässt sich erkennen, wie die Bewegungslosigkeit der belagerten Stadt durch Musik zumindest zeitweilig in eine Bewegtheit der Menschen überführt wurde: Musik erfasste und erfüllte nicht nur alle abgeschlossenen und angespannten Sinne, sondern sie vermochte es, alle Anspannung und Abschließung nicht nur des Hörsinnes, sondern aller Sinneswahrnehmung aufzuheben. Dieser dritte Modus umfasste nicht nur eine besondere Art der Wahrnehmung, sondern zugleich auch eine körperliche und geistig-seelische Bewegungs- oder Berührungserfahrung. Wenn wir von einer Bewegtheit in der Bewegungslosigkeit sprechen, meinen wir eine mehrschichtige Erfahrung von Erhebung: Zu dieser Erfahrung gehört die vorübergehende Enthebung von den kriegsbedingten Modi der Sinneswahrnehmung Abschließung und Angespanntheit; kurzzeitig können diese eingeschränkten Wahrnehmungsmuster überwunden werden. Aber mehr noch: Diese Erfahrung basierte darauf, dass mit Musik alle Sinne erfasst und durchdrungen wurden. Der Hörsinn wurde zum aufschließenden Portal, das nicht nur Sinnes- sondern auch Körperwahrnehmungen ermöglichte und erweiterte. Dazu gehörte die Erfahrung der Erhebung der Seele und des Geistes: Eine musikalische Komposition wie diejenige des ‚Heiligen Krieges‘ erwies sich als Heilmittel für die unsäglichen psychischen Verwundungen; Ängste und Nöte werden kurzzeitig ‚aufgehoben‘, Leiden wurde Mit-Leid: Musik eröffnete Empfindungen von Ganzheitlichkeit und Einheit in einer ganz und gar geteilten und zertrümmerten Lebenswelt. Der einsame Kampf ums Überleben wurde in diesem Moment zu einer wesentlichen und wirkmächtigen Erfahrung von Gemeinsamkeit. Wie alle Erfahrungen waren diese nicht nur kurzzeitig, sondern auch langfristig aufrufbar. Die Erinnerung an das gemeinsame und auf diese Weise ganzheitliche Musikereignis zeitigte und zeitigt nachhaltige Wirkung – bis in die Gegenwart.

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III. Emotionen

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„Oh – wie schaden schlechte Frauen ihren Männern!“2 In dem tiefen Stoßseufzer Erzbischof Agobards von Lyon († 840) über Judith, die zweite Gemahlin Ludwigs des Frommen (814–840), kulminiert der ganze Frust des einstmals wichtigen, 835 vom Hofe verbannten Ratgebers über deren Einfluss auf ihren kaiserlichen Gemahl und dessen Politik. Was hatte Agobard zu seinem Verdikt veranlasst und wie ist es zu werten? Wie urteilen Agobards Zeitgenossen über die schöne Judith und was sind deren Motive? Welches Bild von ihr zeichnet die moderne Forschung? Fragen, denen im Folgenden nachgegangen werden soll. Doch zunächst seien die Geschehnisse während ihrer Ehe mit Ludwig in knapper Form nachgezeichnet.3

Eine neue ‚Miss Franken‘ – ‚Faktencheck‘ Ludwig der Fromme, Sohn Karls des Großen und von 814 bis 840 Kaiser des Frankenreichs, war zweimal verheiratet. Seine erste Gemahlin Irmengard (seit 794), die Mutter Lothars, Pippins und Ludwigs, war nach längerer Krankheit am 3. Oktober 818 gestorben.4 Nach kurzem Zögern ging der Kaiser eine neue Ehe ein

1 Pandemiebedingt waren nicht alle Werke zugänglich, dies betrifft vor allem neuere Editionen. Für unkomplizierte Unterstützung bei der Beschaffung von Literatur danke ich Mayke de Jong, Irmgard Fees und Steffen Patzold vielmals. Meinem wunderbaren Magdeburger Team danke ich für kritische Lektüre des Manuskripts und wertvolle Hinweise. Den beiden Herausgeberinnen des Bandes gilt mein besonderer Dank für die mir gestattete deutliche Überschreitung des vorgesehenen Zeichenumfangs. 2 Agobard von Lyon, Libri duo pro filiis et contra Judith uxorem Ludovici Pii, hg. v. Georg Waitz (MGH Scriptores 15,1), Hannover 1887 [im Folgenden: Agobard, Libri duo], S. 278,17. – Zu Agobard und seinem Werk siehe ausführlich unten bei Anm. 116. 3 Zur Zeit generell vgl. Schieffer, Rudolf: Die Zeit des karolingischen Großreichs 714–887, 10. Aufl., Stuttgart 2005; Ders.: Die Karolinger, 4. Aufl., Stuttgart/Berlin/Köln 2014; Boshof, Egon: Ludwig der Fromme, Darmstadt 1996. – Auf Einzelnachweise wird zumeist verzichtet. Die Stellungnahmen der Forschung sowie weitere Literatur werden in der Regel in die Fußnoten eingearbeitet. Die Auseinandersetzung mit den Quellen erfolgt im Abschnitt „Quellencheck“. 4 RI I n. 672b, in: Regesta Imperii Online, http://www.regesta-imperii.de/id/0818-10-03_1_0_1_1_0_ 1592_672b [abgerufen am: 29. Januar 2021]. – Einige Autoren haben ihren Tod als Folge der ihr zugeschriebenen Schuld für die Blendung und den Tod Bernhards von Italien interpretiert. Die Ehe mit Irmengard war auf Veranlassung Karls des Großen zustande gekommen. Vgl. zu ihr Kasten,

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– vielleicht eine ‚Heirat wider Willen‘: „Doch von ihnen [seinen Ratgebern, St. Fr.] gedrängt, tat er schließlich ihrem Willen Genüge und beschaute die von überall herbeigeführten Töchter der Vornehmen […].“5 Siegerin dieser Brautschau und damit neue ‚Miss Franken‘6 war Judith aus dem reich begüterten Geschlecht der älteren Welfen.7 „[…] valde pulchra […]“ – sehr schön sei sie gewesen, so Thegan, ein Zeitgenosse.8 Vornehme Abkunft, blendendes Aussehen, glänzende Bildung und eine erhebliche Portion Machtinstinkt waren ihr zu eigen. So sieht das die moderne Forschung. Ihr gilt Judith als die fortan im Hintergrund wirkende Kraft am Hofe.9

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Brigitte: Kaiserinnen in karolingischer Zeit, in: Amalie Fößel (Hg.), Die Kaiserinnen des Mittelalters, Regensburg 2011, S. 11–34, hier S. 11–13. Astronomus, Vita Hludowici imperatoris/Das Leben Kaiser Ludwigs, hg. v. Ernst Tremp (MGH Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 64), Hannover 1995 [im Folgenden: Astronomus, Vita Hludowici], S. 280–555, hier S. 392f. Die Eheschließung erfolgte im Februar 819. Vgl. Astronomus, Vita Hludowici, S. 393, Anm. 433. – Die Formulierung „Wahl zur Miss Franken“ ist ebenso wie die Vorstellung eines regelrechten „Schönheitswettbewerbs“ treffend, folgte man bei der Suche nach einer geeigneten Gemahlin doch vermutlich einem für den byzantinischen Basileus bezeugten Zeremoniell, an dem man sich hier offenbar orientierte. Vgl. dazu Koch, Armin: Kaiserin Judith. Eine politische Biographie, Husum 2005, S. 36 (mit weiterer einschlägiger Literatur). Demgegenüber stellt de Jong, Mayke: Bride Shows Revisited. Praise, Slander and Exegesis in the Reign of the Empress Judith, in: Leslie Brubaker/Julia M. H. Smith (Hg.), Gender in the Early Medieval World. East and West, 300–900, Cambridge 2004, S. 257–277, zur Diskussion, ob nicht vielmehr eine im Buch Esther c. 2 geschilderte Brautschau hier vorbildgebend gewirkt habe. Zu Judith vgl. die Dissertation von Koch: Kaiserin Judith; Kasten, Kaiserinnen, S. 13–15; Ward, Elizabeth: Caesar’s Wife. The Career of the Empress Judith, 819–829, in: Peter Godman/Roger Collins (Hg.), Charlemagne’s Heir, Oxford 1990, S. 205–227; Schneidmüller, Bernd: Die Welfen. Herrschaft und Erinnerung, Stuttgart/Berlin/Köln 2000, S. 45–59. – Judith entstammte dem ursprünglich aus dem Maas-Mosel-Raum stammenden, nun aber in Bayern und Alemannien begüterten Geschlecht der Welfen. Theganus, Gesta Hludowici Imperatoris/Thegan, Die Taten Kaiser Ludwigs, hg. v. Ernst Tremp (MGH Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 64), Hannover 1995 [im Folgenden: Thegan, Gesta Hludowici], S. 168–277, hier S. 214, 11–15. Siehe zum Werk ausführlich unten bei Anm. 40. – Zur Schönheit Judiths vgl. auch die Zusammenstellung der einschlägigen Quellenstellen bei Koch: Kaiserin Judith, S. 38–40. Vgl. stellvertretend für die ältere Forschung: Fleckenstein, Josef: Ludwig der Fromme, in: Lexikon des Mittelalters 5 (1991), Sp. 2171f.: „Schon den Zeitgenossen war klar, daß Ludwig von seiner Umgebung abhängig war. Dies wurde vollends deutlich, als der Kaiser sich in zweiter Ehe mit der Welfin Judith verband, die seit der Geburt ihres Sohnes Karls des Kahlen im Jahre 828 alle anderen Berater in den Schatten stellte.“ Ähnlich Ders.: Judith, in: Lexikon des Mittelalters 5 (1991), Sp. 797: „[Judith] gewann […] bald großen Einfluß auf Ludwig […] auf ihr Betreiben [stieß Ludwig] seine ordinatio imperii (817) um, indem er statt der Drei- eine Vierteilung des Reiches vornahm und Karl 829 Schwaben, Elsaß, Rätien und Teile Burgunds übertrug […]. Durch J. war Ludwig d. Fr. vom Verfechter der Reichseinheit zum Vorkämpfer der Reichsteilung geworden […].“ – Mit leichten Modifizierungen,

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Zum Zeitpunkt der Eheschließung im Jahre 819 befand sich Ludwigs Herrschaft in einer Krise: Sein Versuch, durch Erlass einer Nachfolgeordnung, die sogenannte Ordinatio Imperii des Jahres 817, sein Erbe frühzeitig zu regeln und damit vielleicht die künftige Einheit des Reiches zu wahren, hatte zu einer heftigen Gegenreaktion geführt.10 Bernhard von Italien, des Kaisers Neffe, sah sich durch diese Bestimmungen um seinen Anteil am Erbe betrogen. Er rebellierte und zahlte dafür mit seinem Leben. Die Verantwortung dafür wurde Ludwig angelastet. Des Kaisers Nimbus war schwer beschädigt. Er erwog den Rückzug vom weltlichen Leben und den Eintritt ins Kloster.11 Die Heirat mit Judith verhinderte dies. Ob es Leidenschaft angesichts ihrer Schönheit war oder er sich vielmehr ins Unvermeidliche fügte, verschweigen die Quellen.12 Weitere Maßnahmen folgten: Im Jahre 821 wurden Adalhard († 826) und Wala († 836), die früheren Berater Karls des Großen und mutmaßlichen Mitverschwörer Bernhards, rehabilitiert, ebenso Hugo († 844) und Drogo († 855), Ludwigs Halbbrüder. Und nicht zuletzt wurden die Bestimmungen

aber letztlich ähnlich urteilen noch Boshof: Ludwig der Fromme, S. 178–181; Schieffer: Karolinger, S. 138. 10 In der Nachfolgeordnung wurde eine Zuweisung einzelner Reichsteile an die Söhne Ludwigs aus der Ehe mit Irmengard vorgenommen, allerdings bei Unterordnung unter den zum Mitkaiser erhobenen Lothar. Nach Auffassung der älteren Forschung sollte damit sowohl das fränkische Teilungsprinzip berücksichtigt werden als auch die Einheit des unteilbaren Kaiserreichs gewahrt bleiben. – Zur Ordinatio Imperii und deren Folgen vgl. Patzold, Steffen: Eine „loyale Palastrebellion“ der „Reichseinheitspartei“? Zur ‚Divisio imperii‘ von 817 und zu den Ursachen des Aufstands gegen Ludwig den Frommen im Jahre 830, in: Frühmittelalterliche Studien 40 (2006), S. 43–77, der sich kritisch mit der These von der beabsichtigten Wahrung der Reichseinheit auseinandersetzt und sie als Konstrukt der Forschung des 19. Jahrhunderts ansieht. Um den Gang der bisherigen Forschung nachzuzeichnen, wird im Folgenden trotz Zustimmung zu Patzolds Kritik der Begriff ‚Reichseinheit(spartei)‘ beibehalten. Zur Ordinatio Imperii vgl. vor allem Koch: Kaiserin Judith, S. 15–25, auch für die folgenden Ausführungen (dort weitere Literaturangaben zur Forschungsdiskussion). 11 Astronomus, Vita Hludowici, S. 392f. – Derartige Überlegungen werden Ludwig bereits für seine Zeit als Unterkönig von Aquitanien nachgesagt. 12 Letzteres mutet zunächst wahrscheinlicher an, erschien Ludwig bis dahin doch eher als lustfeindlich und sauertöpfisch. Seine Handlungen nach dem Herrschaftsantritt sprechen jedenfalls für diese Einschätzung. Dem schändlichen Treiben seiner lebenslustigen Schwestern gebot er unverzüglich Einhalt. Sie wurden vom Hofe vertrieben. Ihren (geistlichen!) Liebhabern erging es noch schlimmer: In Klöstern fristeten sie fortan ihr Dasein. Vgl. dazu Boshof: Ludwig der Fromme, S. 94; Schieffer: Karolinger, S. 114. – Agobard spricht jedoch davon, dass die Attraktivität Judiths und damit körperlich-sinnliche Aspekte in der Beziehung zwischen Ludwig und Judith eine übergroße Rolle gespielt hätten. Vgl. Agobard von Lyon: Liber apologeticus I und II, hg. v. Georg Waitz, in: MGH Scriptores 15/1, Hannover 1887 [im Folgenden: Liber apologeticus I bzw. Liber apologeticus II], S. 275–276 (I) bzw. 276–279 (II). – Die Neuedition von Acker, Lieven van (Hg.): Agobardi Lugdunensis Opera Omnia, Turnhout 1981 wurde nicht berücksichtigt. – Hier Liber apologeticus I c. 5, S. 276: „Quae quia propter solam pulcritudinem a uiro inofficiose diligi fertur […].“ Vgl. dazu Koch: Kaiserin Judith, S. 66.

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der Ordinatio Imperii und damit die Erbregelung zugunsten der Söhne Ludwigs aus der Ehe mit Irmengard mit feierlicher Eidesleistung aller Anwesenden noch einmal beschworen. Warum? Die Forschung nimmt an, dass die neue Frau an des Kaisers Seite insbesondere von den Vertretern der sogenannten Reichseinheitspartei von Anfang an als potenzielle Gefahrenquelle für die Einheit des Reichs angesehen wurde.13 Nun schien die Bedrohung konkret zu werden: Die neue Kaiserin war schwanger! Doch fürs Erste konnten die Sorgenträger aufatmen. Judith gebar ‚nur‘ eine Tochter – Gisela († nach 874).14 Durch weitere Maßnahmen und einen öffentlichen Bußakt konnte Ludwig die Krise seiner Herrschaft zunächst entschärfen.15 Aber auch Judith ließ nicht locker und der fromme Ludwig fügte sich: Zu Beginn des Jahres 823 war Judith erneut schwanger. Ludwigs ältester Sohn Lothar († 855), seit Erlass der Ordinatio Mitkaiser, zog in diesem Frühjahr – einigermaßen überraschend – nach Italien. Am 5. April 823, es war der Ostersonntag, wurde er von Papst Paschalis I. (817–824) nochmals feierlich gesalbt und gekrönt. Wohl kein Zufall, war der Papst doch Garant der Bestimmungen der Ordinatio Imperii.16 Dem dicken Bauch der Kaiserin wurde somit am höchsten Festtag der Christenheit ein ebenso deutliches kommunikativ-zeremonielles Signal gegenübergestellt. Vermeintlich gerade noch rechtzeitig, denn zwei Monate später vermeldet der sogenannte Astronomus knapp: „Im Juni [13. Juni, St. Fr.] dieses Jahres wurde ihm von der Königin Judith ein Sohn geboren […].“17 Judiths Erwiderung war ebenso deutlich: Ihr Sohn sollte Karl heißen!18 Auf diesen Namen ließ der Kaiser

13 Vgl. dazu Koch: Kaiserin Judith, S. 46–58. 14 Giselas genaues Geburtsdatum ist nicht bekannt, weshalb eine gewisse Unsicherheit darüber bestehen bleiben muss, ob die Eide von Diedenhofen tatsächlich eine Reaktion darauf darstellten. Gisela wurde später mit Eberhard von Friaul verheiratet. Vgl. dazu Koch: Kaiserin Judith, S. 170–172. 15 Dem in der Ordinatio Imperii zum Alleinerben und Mitkaiser bestimmten Lothar wurde Italien als eigener Zuständigkeitsbereich übertragen; Ludwig leistete im Sommer 822 in Attigny Buße und gestand Verfehlungen gegen Brüder und Vettern sowie eine Mitschuld am Tod des Neffen Bernhard ein. Die anwesenden Bischöfe folgten seinem Beispiel sogleich und erklärten ihrerseits, gegen ihre Nachlässigkeit und Pflichtvergessenheit vorgehen zu wollen. 16 Zu den Ereignissen vgl. Koch: Kaiserin Judith, S. 52–55. – Dass die Päpste seit der Kaiserkrönung Karls des Großen in diesen Vorgang nicht mehr involviert waren, mag die Maßnahme Paschalis’ I. zusätzlich motiviert haben, bot sich ihm dadurch doch die Möglichkeit, päpstliche Ansprüche demonstrativ zu artikulieren. 17 Astronomus, Vita Hludowici, S. 422, c. 37; Zur Geburt Karls vgl. RI I,2,1 n. 1, in: Regesta Imperii Online, http://www.regesta-imperii.de/id/0823-06-13_1_0_1_2_1_1_1 [abgerufen am: 27. Januar 2021]. Dort findet sich eine Aufstellung aller darüber berichtenden Quellen sowie weiterer Literatur. – Allein der Umstand, dass die Geburt von den meisten zeitgenössischen Annalenwerken verzeichnet wurde, ist mehr als ungewöhnlich. In den Reichsannalen wird sie allerdings nicht erwähnt. Siehe dazu unten bei Anm. 38. 18 Zu ihm vgl. Boshof, Egon: Karl der Kahle – novus Karolus magnus?, in: Franz-Reiner Erkens (Hg.), Karl der Große und das Erbe der Kulturen, Berlin 2001, S. 135–152.

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ihn nämlich taufen. Die Namensgebung war programmatisch und höher hätte man innerhalb der karolingischen Familie nicht greifen können: Es war der Name Karls des Großen und Karl Martells († 741). Auch anderweitig sorgte Ludwigs junge Gemahlin für ihren Sprössling. Sie trug Lothar, dem Haupterben und Mitkaiser, die Patenschaft über den kleinen Karl an.19 Ein außerordentlich geschickter Schachzug. Lothar wurde dadurch eingebunden, vielleicht auch besänftigt. Mehr noch! Als Taufpate wurde er regelrecht in die Verantwortung genommen, wurde durch die Patenschaft doch ein geistiges Band zwischen dem Täufling und seinem Paten geknüpft. Beider Beziehung erhielt dadurch einen lebenslangen Charakter, der rechtliche und politische Verpflichtungen mit einschloss. Der schönen Welfin genügte das anscheinend noch nicht. Sie erreichte überdies die eidliche Zusicherung Lothars, einer späteren Beteiligung seines Halbbruders am väterlichen Erbe zuzustimmen und Karl unter seinen besonderen Schutz zu stellen! Ebo († 851), dem Erzbischof von Reims und besonderen Vertrauten Ludwigs des Frommen, übersandte Judith einen Ring. Er sollte für ihren Sohn Karl beten. Die Maßnahmen wurden dadurch zusätzlich abgesichert. Der Kaiser hatte seine ehelichen Pflichten mit der Zeugung Karls offensichtlich hinreichend erfüllt. Von weiteren Kindern oder Schwangerschaften Judiths verlautet jedenfalls nichts. Andere Dinge standen in der Folgezeit auf der kaiserlichen Tagesordnung.20 Auch Ludwigs Söhne aus erster Ehe gingen zunächst ihren jeweiligen Aufgaben nach: Lothar wurde nach der Rückkehr aus Italien im Jahre 825 als formell gleichberechtigter Mitkaiser an allen Regierungsgeschäften beteiligt und in allen Urkunden Ludwigs des Frommen genannt. Sein jüngerer Bruder Ludwig der Deutsche († 876) trat vermutlich 826 die Herrschaft als Unterkönig von Bayern an und verließ damit die engere Umgebung des Hofes. Pippin († 838), der Unterkönig von Aquitanien, hatte dies schon vor einigen Jahren getan. Um das Jahr 827 begann sich die Lage im Frankenreich erneut zuzuspitzen: Äußere Bedrohungen, das Stocken der Reformbemühungen sowie Unzufriedenheiten innerhalb des Adels in Verbindung mit Übergriffen auf kirchliche Güter verbanden sich zu einer gefährlichen Gemengelage. Ludwig reagierte auf die Krisen mit Feldzügen, Gebeten und Fastenleistungen, Absetzungen und dem Wechsel von Beratern. Graf Bernhard von Barcelona/Septimanien († 844) rückte auf. Er galt als besonderer Vertrauensmann

19 Zur Bedeutung der Patenschaft vgl. Angenendt, Arnold: Kaiserherrschaft und Königstaufe. Kaiser, Könige und Päpste als geistliche Patrone in der abendländischen Missionsgeschichte, Berlin/New York 1984. 20 In erster Linie ging es um die Fortsetzung der Reformmaßnahmen, aber auch um Versuche Ludwigs, Teile des unzufriedenen Adels einzubinden. – Vgl. auch Koch: Kaiserin Judith, S. 66f. zur Frage, welche Rolle die Zeugung weiterer Nachkommen für die Eheschließung besessen habe. Für Ludwig verneint Koch deren Notwendigkeit, für Judith hingegen sei dies, vor allem für den Fall ihrer Witwenschaft, von weitreichender Bedeutung gewesen.

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der Kaiserin. Die bislang führenden Berater Ludwigs, Agobard von Lyon († 840), Wala, Hilduin von Saint Denis († 855/861) sowie Helisachar († nach 840), fürchteten um die Einheit des Reiches und äußerten ihre Sorgen. Selbst der alte Einhard († 840), der langjährige Berater und Biograph Karls des Großen, mischte wieder mit und forderte Ludwig zum Umdenken auf. Ludwig berief daraufhin für Ende des Jahres 828 eine Zusammenkunft der Großen nach Aachen ein. Wala von Corbie präsentierte hier eine umfangreiche Denkschrift. Darin legte er den Finger in gleich mehrere schwärende Wunden und berührte überdies die ganz grundsätzliche Frage des Verhältnisses zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt. Wala appellierte an den Kaiser, seine Grenzen nicht zu überschreiten, ermahnte ihn, seine Aufgaben nicht zu vernachlässigen und bei der Auswahl seiner Ratgeber Sorgfalt walten zu lassen. Es war ein bemerkenswertes Dokument bischöflichen Selbstbewusstseins.21 Zugleich war es ein deutlicher Fingerzeig in Richtung Judith und Graf Bernhard von Barcelona. Königsboten – so die daraufhin getroffene Vereinbarung – sollten im Jahr darauf eine umfassende Bestandsaufnahme vornehmen, Reformsynoden zusammentreten. Mitten hinein in dieses schwebende Verfahren platzte Ludwig der Fromme auf einer Reichsversammlung in Worms im August 829 mit einer spektakulären Ankündigung: Karl, Judiths Sprössling, sollte einen Reichsteil, bestehend aus Alemannien, Elsass, Churrätien und einem Teil Burgunds, erhalten.22 Die Vertreter der Reichseinheitspartei werteten dies als Abkehr vom Prinzip der Ordinatio Imperii. Lothar sah darin einen Angriff auf seine bisherige Stellung, sollte Karls ‚Erbteil‘ doch aus seinem Herrschaftsbereich genommen werden. Es kam zum Bruch mit dem Vater. Lothar wurde im Herbst 829 vom Hofe verwiesen und nach Italien geschickt, Wala zurück nach Corbie. Stattdessen sollte von nun an Bernhard von Barcelona die Stellung als Zweiter in der Herrschaft erhalten. Gerüchte über ein Verhältnis zwischen ihm und Judith machten die Runde.23 Die ohnehin höchst angespannte Lage verschärfte sich noch mehr. Im Frühjahr des Jahres 830 kam es zum Aufstand gegen Ludwig. Mitglieder der Familie und des Hofes, unzufriedene Adelige und Vertreter der Reichseinheitspartei fanden sich zusammen.24 Der Vorhang

21 Wala bediente sich bei seiner Argumentation der berühmten Zweigewaltenlehre Papst Gelasius’ I. († 496), der in einem Brief an Kaiser Anastasios I. († 518) aus dem Jahr 494 den Vorrang der geistlichen vor der weltlichen Macht in einem außerordentlich metaphorischen Vergleich von den zwei Gewalten, durch die die Welt regiert werde, begründet hatte. Vgl. Schieffer: Karolinger, S. 12f. 22 Vgl. dazu ausführlich und mit Angabe weiterer Literatur: RI I,2,1 n. 6, in: Regesta Imperii Online, http://www.regesta-imperii.de/id/0829-08-00_1_0_1_2_1_6_6 [abgerufen am: 28. Januar 2021]. 23 Siehe dazu unten ab S. 222f. 24 Vgl. dazu die Annales Mettenses priores, hg. v. Bernhard von Simson (MGH Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 10), Hannover/Leipzig 1905 [im Folgenden: Annales Mettenses], S. 96: „Pro quo quidem filiastri eius atque aliqui ex optimatibus eis coniuncti odio habebant imperatricem atque suum parvulum filium timentes, ne in regno patris haeres succederet.“ – Eine Zusammenstellung aller einschlägigen Quellenstellen bei RI I n. 874a, in: Regesta Imperii Online,

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zum letzten Akt in der Herrschaft Ludwigs öffnete sich. Die weiteren Ereignisse sind hier nicht im Detail zu betrachten, sondern vornehmlich Judiths Schicksal ist von Interesse: Sie wurde in Laon gefangengenommen und nach Poitiers ins Kloster der heiligen Radegundis verbracht. Ihre Brüder wurden geschoren und in aquitanische Klöster gesteckt. Bernhard von Barcelona suchte sein Heil in der Flucht. Von Karl verlautet nichts. In der Folgezeit ging es hin und her: Lothar gewann kurzzeitig die Oberhand. Ludwig musste im Mai 830 in Compiègne ein Schuldbekenntnis ablegen und seine Maßnahmen widerrufen. Doch schon im Herbst neigte sich die Waagschale wieder zu seinen Gunsten. Im Oktober 830 hielt er in Nimwegen regelrecht Gericht: Die Anführer der Rebellion wurden abgesetzt beziehungsweise des Hofes verwiesen und in Klöster gesteckt, darunter Hilduin von Saint Denis und Wala. Lothar musste einen Unterlassungseid leisten. Die Kaiserin sollte an den Hof zurückkehren – offenbar unter Vorbehalt, denn am 2. Februar 831 musste sie auf einer Reichsversammlung in Aachen einen Reinigungseid ablegen. Lothar wurde gezwungen, auf sein Mitkaisertum zu verzichten. Im Oktober 831 wurde auch Bernhard von Barcelona rehabilitiert – ebenfalls durch einen Reinigungseid. Und schließlich wurde eine neue, undatiert überlieferte Erbfolgeregelung erlassen, die eine Vergrößerung der Reichsteile Ludwigs des Deutschen sowie Pippins vorsah und Lothar auf Italien beschränkte. Der Rest seines ursprünglichen Teils – und dies war der Löwenanteil – sollte an Karl fallen. Judith hatte sich durchgesetzt. Die Ordinatio Imperii war Geschichte.25 Judiths Geschichte aber ging weiter. Bis zum Tod Ludwigs des Frommen im Jahre 840 jagte förmlich eine Krise die andere. Und Judith war zumeist mittendrin. Sie versuchte ihrem Sprössling Pippins aquitanisches Unterkönigtum zu verschaffen beziehungsweise ihren Gemahl dazu zu bewegen, auch Ludwig den Deutschen auszuschalten. Der Weg für eine Aufteilung des Reichs zwischen Lothar und Karl wäre frei gewesen. Das Vorhaben scheiterte. Auf dem Lügenfeld in Colmar unterlag Ludwig im Mai 833 kampflos seinen Söhnen. Seine Anhänger hatten ihn schlichtweg verlassen. Lothar inhaftierte den Vater im Kloster Saint-Médard in Soissons, Karl in der Eifelabtei Prüm. Judith wurde

http://www.regesta-imperii.de/id/0830-00-00_1_0_1_1_0_1898_874a [abgerufen am: 28. Januar 2021]. – Nikolaus Staubach: „Des großen Kaisers kleiner Sohn“. Zum Bild Ludwigs des Frommen in der älteren deutschen Geschichtsforschung, in: Godman/Collins: Charlemagne’s Heir, S. 701–721, hat in diesem Zusammenhang von der sogenannten loyalen Palastrevolution gesprochen. Zu den Ereignissen vgl. generell Koch: Kaiserin Judith, S. 103–166, auch für die folgenden Ausführungen. 25 Die Forschung hat in den letzten Jahren zu einem Urteil von erstaunlicher Einmütigkeit über die Gründe des Scheiterns der Ordinatio Imperii gefunden: Große Verantwortung daran wird Ludwig dem Frommen angelastet, der durch sein Streben nach Beteiligung Karls selbst die Bestimmungen der Ordinatio Imperii zur Disposition gestellt habe. Die Hauptschuld wird jedoch Lothar zugeschrieben, der es nicht verstanden habe, in der Situation der Jahre 829/830 der ‚loyalen Palastrebellion‘ durch eine Politik mit Augenmaß und Entschlossenheit zum Erfolg zu verhelfen. Mitunter wird sogar von seinem Versagen gesprochen.

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nach Tortona in Italien verbannt. Die Lage blieb volatil. Am 1. März 834 wurde Ludwig der Fromme in Saint Denis wieder als Kaiser anerkannt. Lothar musste sich unterwerfen und mit Italien begnügen. Auch in den folgenden Jahren bestimmten die Auseinandersetzungen um die Größe der einzelnen Reichsteile die Szenerie. Judith und Karl weilten offenbar die meiste Zeit im Gefolge des Kaisers.26 Ludwig blieb – angestachelt von Judith? – hartnäckig in seinem Versuch, Karl auszustatten. Der Tod Pippins von Aquitanien am 13. Dezember 838 machte dann scheinbar den Weg für einen Ausgleich frei. Nun wurde eine Aufteilung der größten Teile des Reichs geplant: Lothar sollte den östlichen Teil erhalten, abzüglich des ‚bayerischen Pflichtteils‘ für Ludwig den Deutschen, der mittlerweile volljährige Karl den westlichen. Ludwig der Deutsche akzeptierte diese im Mai 839 in Worms getroffene Verabredung ‚natürlich‘ nicht, sondern versuchte auch Thüringen an sich zu bringen. Die Söhne Pippins von Aquitanien dachten ebenfalls nicht daran, das Erbe ihres Vaters kampflos preiszugeben. Erneute Kriegszüge drohten. Ehe es zu einer Klärung kam, starb Ludwig der Fromme am 20. Juni 840 auf einer Rheininsel bei Ingelheim. Auf dem Sterbebett verzieh er Lothar, ließ ihm die Krone überbringen und ihn zugleich eidlich zusichern, Judith und Karl in seinen Schutz zu nehmen und seinem Halbbruder den ihm übertragenen Reichsteil zu belassen. Wenig später wurde Ludwig an der Seite seiner Mutter Hildegard in der Kirche von Metz, der Kirche des karolingischen Familienheiligen Arnulf, beigesetzt. Die Beisetzungsfeierlichkeiten leitete Ludwigs Halbbruder und letzter Erzkanzler, Bischof Drogo von Metz. Von Ludwigs Söhnen war keiner anwesend, und auch Judith weilte fernab von ihm in Poitiers. Karl übernahm nun den Schutz seiner Mutter, die erneut Ziel von Angriffen wurde – diesmal seitens Pippins II. von Aquitanien († nach 864).27 Judith hielt sich in den Folgejahren häufig an Karls Seite auf und scheint sich vereinzelt auch in

26 Vgl. dazu die detaillierten Aufstellungen in den Regesta Imperii online. Die Einzelnachweise sind hier verzichtbar. 27 Nithard, Libri historiarum quattuor, 3. Aufl., hg. v. Ernst Müller (MGH SS rer. Germ. in usum scholarum 44), Hannover/Leipzig 1907, II, c. 3. – Die Neuedition: Histoire des fils de Louis le Pieux/Nithard. Edit et traduit de Philippe Lauer. Revue par Sophie Glansdorff, Paris 2012, wurde nicht berücksichtigt. – Vgl. dazu ausführlich RI I,2,1 n. 122, in: Regesta Imperii Online, http:// www.regesta-imperii.de/id/0840-10-00_1_0_1_2_1_122_122 [abgerufen am: 28. Januar 2021]. Vgl. dazu auch RI I,2,1 n. 116, in: Regesta Imperii Online, http://www.regesta-imperii.de/id/0840-0800_2_0_1_2_1_116_116 [abgerufen am: 28. Januar 2021], wonach ein Bote Karl darüber informiert habe, dass Pippin II. von Aquitanien einen Angriff auf Judith plane.

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politische Angelegenheiten eingeschaltet zu haben.28 Im Detail sei dies aber nicht mehr betrachtet. Judith starb 843 und wurde in St-Martin in Tours bestattet.29 Womöglich verbrachte sie dort ihre letzte Lebenszeit, insbesondere nach der Eheschließung Karls mit Irmentrud († 869) am 13. Dezember 842.30 Ihr Sohn Karl hat ihr ihr jahrelanges Engagement für seinen Erbteil scheinbar nicht gedankt, denn die Xantener Annalen berichten zum Jahr 843, Judith sei vor ihrem Tod vom Sohn allen Besitzes beraubt worden.31 „Oh – wie schaden schlechte Frauen ihren Männern!“32 Der Faktencheck zeigt, dass Judith in zahlreiche Ereignisse der Herrschaft Ludwigs des Frommen involviert war. Im Kontext der Geburt ihres Sohnes wurden Maßnahmen zur Bewahrung der Ordinatio Imperii getroffen und sie selbst war bemüht, Karl von Anfang an den Schutz Lothars zu sichern. Später standen Judith und Bernhard von Barcelona im Brennpunkt der Aufstände gegen Ludwig den Frommen, und es wurden mehrmals Versuche unternommen, sie aus seinem Umfeld zu entfernen. Agobards Verdikt über Judith scheint somit bestätigt. Zeitgenössische und spätere Autoren, ältere und neuere Forschung stimmen in dieser Meinung überein: Judith komme ein gerütteltes Maß an Verantwortung für die schweren Auseinandersetzungen in der letzten Phase der Regierungszeit Ludwigs des Frommen zu. Zugleich ist für die neuere Forschung unstrittig – gegenüber älteren Wertungen ein erheblicher

28 Nach Agnellus von Ravenna, Liber pontificalis Ecclesiae Ravennatis, hg. v. Oswald Holder-Egger (MGH Scriptores rerum Langobardicarum et Italicarum, 1), Hannover 1878, S. 278–391, hier c. 174, S. 390 Z. 20–25, war Judith am Ort der Schlacht von Fontenoy anwesend und soll sich bei Karl und Ludwig dem Deutschen für den Ravennater Erzbischof Georg verwendet haben. Vgl. dazu Koch: Kaiserin Judith, S. 202 sowie RI I,2,1 n. 225, in: Regesta Imperii Online, http://www.regestaimperii.de/id/0841-06-28_1_0_1_2_1_225_225 [abgerufen am: 28. Januar 2021]. 29 RI I,2,1 n. 361, in: Regesta Imperii Online, http://www.regesta-imperii.de/id/0843-0419_1_0_1_2_1_361_361 [abgerufen am: 28. Januar 2021]. – Vgl. dazu Koch: Kaiserin Judith, S. 203–205, der annimmt, dass dort Judiths Witwengüter lagen und sie sich dorthin nach Ludwigs Tod zurückgezogen habe. 30 Vgl. dazu Kasten: Kaiserinnen, S. 15 mit Verweis auf Koch: Kaiserin Judith, S. 204–207; Nelson, Janet L.: Charles the Bald, London/New York 1992, S. 127–130 und Hyam, Jane: Ermentrude and Richildis, in: Margret T. Gibson/Janet L. Nelson (Hg.), Charles the Bald. Court and Kingdom, Oxford 1981, 2. Aufl. 1990, S. 154–168, hier S. 154–156. 31 Annales Xantenses, hg. v. Bernhard von Simson (Monumenta Germaniae Historica Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 12), Hannover 1912, S. 13. – Vgl. dazu Nelson, Janet L.: Les reines carolingiennes, in: Stéphane Lebecq u. a. (Hg.), Femmes et pouvoirs des femmes à Byzance et en Occident (VIe –XIe siècle), Lille 1999, S. 121–132, hier S. 130; Nelson: Charles the Bald, S. 130; Koch: Kaiserin Judith, S. 203–207. – Der Umstand, dass Karl der Kahle seiner um 844 geborenen ersten Tochter den Namen Judith gab, spricht allerdings für eine positive Erinnerung an seine Mutter über deren Tod hinaus. 32 Agobard, Libri duo, S. 278,17.

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Fortschritt –, dass die Krise der Herrschaft Ludwigs des Frommen zahlreiche weitere strukturelle Ursachen hatte. Judiths unnachgiebiges Streben nach einem Erbteil für ihren Sohn Karl gilt aber dennoch weiterhin als eine der zentralen Ursachen für das Scheitern der Ordinatio Imperii.33 Die Wahrung der Reichseinheit war perdu. Der weitere Weg des Frankenreichs führte zur Herausbildung von Teilreichen im Westen und im Osten. Im westlichen stand Karl bis 877 an der Spitze. Damit könnte man es bewenden lassen. ABER: Alle Einschätzungen sind abhängig von den über die Ereignisse berichtenden Quellen. In den bisherigen Forschungen wurden sie ausgewertet, in der Regel aber in einer Art Zusammenschau homogenisiert, die das vorgeführte Bild zeitigte.34 Daher wird im Folgenden methodisch ein anderer Weg beschritten. Die Devise lautet „Vergessen Sie alles, was Sie wissen!“ Dies bedarf der Erläuterung: Betrachtet man die Quellen und deren Urheber jeweils für sich gesondert, beleuchtet sie quellenkritisch, aber ohne Berücksichtigung der ihnen bislang seitens der Forschung zuteil gewordenen Wertungen und unternimmt man den Versuch, die darin anzutreffenden Sichtweisen auf Judith möglichst unvoreingenommen zu analysieren, so treten bislang nicht beachtete markante Unterschiede und Auffälligkeiten zutage.

Die schöne Judith – ‚Quellencheck‘ Zahlreiche Autoren schreiben über Judith: Der anonyme Verfasser der Reichsannalen, Thegan, der Astronomus, Frechulf von Lisieux, Ermoldus Nigellus, der anonyme Verfasser der Annales Bertiniani, Nithard, Walahfrid Strabo, Hrabanus Maurus, Paschasius Radbertus und nicht zuletzt Agobard von Lyon. Allesamt waren sie Zeitgenossen Judiths. Beinahe alle zählten zur Führungselite des karolingischfränkischen Reichs. Die meisten haben Judith vermutlich sogar persönlich gekannt. Es sind hochrangige Quellenzeugnisse. Entstanden sind die Texte überwiegend nach 830 oder noch später. Sie wurden also aus dem wissenden Rückblick geschrieben. Dies birgt die Gefahr von Verzerrungen. Einzig die Annales regni Francorum, die sogenannten Reichsannalen, bieten

33 Zu den diesbezüglichen Positionen der älteren Forschung vgl. Koch: Kaiserin Judith, S. 129 mit Anm. 194 und 195. 34 Dies gilt auch für die Dissertation von Koch: Kaiserin Judith. Kochs Arbeit stellt die bislang ausführlichste Beschäftigung mit den Quellen zu Judith dar. Er nimmt eine sorgsame Einbettung der Quellen in deren Entstehungskontext vor und bezieht auch deren jeweilige Darstellungsabsicht in seine Überlegungen ein, bleibt letztlich aber bei der traditionellen Herangehensweise, sprich einer Verdichtung der unterschiedlichen Quellenaussagen zu einem Gesamtbild.

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eine zeitnahe Sicht.35 Ab 820 (bis 829) wurden sie vermutlich durch Hilduin von Saint Denis jahrweise verfasst. Seit 814 Abt der hochangesehenen Abtei Saint Denis, seit 819 Leiter der Hofkanzlei und Berater Ludwigs des Frommen, zählte Hilduin zu den führenden Vertretern der Reichseinheitspartei. Er gilt als mit federführend bei der Formulierung der Ordinatio Imperii des Jahres 817.36 In auffallender Häufigkeit werden in den von ihm verantworteten Passagen der Reichsannalen furchterweckende Himmelszeichen erwähnt, ganz besonders zu Beginn des Jahres 829.37 Judith hingegen wird von Hilduin kein einziges Mal namentlich genannt, die Geburt ihres Sohnes Karl nicht erwähnt.38 Über Lothar I., Pippin und Ludwig den Deutschen, Ludwigs Söhne aus der Ehe mit Irmengard, wird im entsprechenden Zeitraum hingegen regelmäßig berichtet.39 Hilduins Schweigen sagt mehr als tausend Worte! In Verbindung mit den unheilverkündenden Himmelszeichen ist es wohl als von Anfang an bestehende Distanz zur Kaiserin und später als deutliche Kritik an deren Versuchen, ihrem Sprössling einen erklecklichen Anteil am väterlichen Erbe zuzuschanzen, zu deuten. Nicht zuletzt Hilduins Sorge um die Wahrung der Reichseinheit hatte ihn zu einem der schärfsten Widersacher Judiths werden lassen. Offenen Widerstand gegen Ludwig wagten er und seinesgleichen erst 830, nachdem der Kaiser seinem Sohn Karl offen einen eigenen Erbteil übertragen hatte.

35 Annales regni Francorum inde ab a. 741 usque ad a. 829, qui dicuntur Annales Laurissenses maiores et Einhardi, hg. v. Friedrich Kurze (MGH SS rerum Germanicarum in usum scholarum 6), Hannover 1895 [im Folgenden: Annales regni Francorum]. – Zum Werk vgl. Becher, Matthias: Eid und Herrschaft. Untersuchungen zum Herrscherethos Karls des Großen, Sigmaringen 1993, S. 45–51, 74f.; McKitterick, Rosamond: Constructing the Past in the Early Middle Ages. The Case of the Royal Frankish Annals, in: Transactions of the Royal Historical Society 6th series 7 (1997), S. 101–129; Dies.: Die Anfänge des karolingischen Königtums und die Annales regni Francorum, in: Walter Pohl/Maximilian Diesenberger (Hg.), Integration und Herrschaft, Wien 2002, S. 151–168; Dies: Charlemagne. The Formation of a European Identity, Cambridge 2008, S. 31–49. 36 Zu Hilduin vgl. Depreux, Philippe: Prosopographie de l’entourage de Louis le Pieux (781–840), Sigmaringen 1997, S. 250–256. 37 Annales regni Francorum, S. 161: „Nach dem Ende des Winters geschah gerade während der heiligen vierzigtägigen Fastenzeit, wenige Tage vor dem heiligen Osterfest, zu Aachen bei Nacht ein Erdbeben und es erhub sich ein so heftiger Sturmwind, daß nicht allein die geringeren Häuser, sondern auch die mit Bleiplatten gedeckte, die Kapelle genannte Kirche der heiligen Mutter Gottes zu einem nicht geringen Teil abgedeckt wurde.“ – In Verbindung mit der Nichterwähnung von Karls Geburt könnte dies durchaus ein Indiz dafür bieten, dass man im Umfeld des Hofes Sorge angesichts möglicher künftiger Entwicklungen hatte. 38 Judith wird nur für das Jahr 824 erwähnt (Annales regni Francorum, S. 164), aber auch das nur indirekt, wenn es heißt, dass Ludwig nach Rouen zurückgekehrt sei, wo ihn seine Gemahlin erwartet habe. 39 Lothar zu 821, 822, 823, 824, 825, 828, 829; Pippin zu 822, 824, 826, 827, 828; Ludwig der Deutsche zu 824, 825.

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Sie büßten dafür mit dem Verlust ihrer Ämter. Die Reichsannalen wurden nicht fortgeführt. Wesentlich breiter sind die Schilderungen Judiths in den beiden Lebensbeschreibungen Ludwigs des Frommen. Die Gesta Hludowici imperatoris verfasste der Trierer Chorbischof Thegan († zwischen 849 und 853) vermutlich in einem Stück zwischen 835 und 838, als die Spannungen im Reich massiv zunahmen.40 In annalistischer Form aufgebaut, setzt die Darstellung mit der Erhebung Ludwigs zum Mitkaiser im Sommer 813 ein und bricht im Sommer 835 (c. 58) ab. Thegan stützte sich großenteils auf eigene Kenntnisse, scheint jedoch auch über sehr gute Gewährsleute verfügt zu haben. Möglicherweise sind diese im Kreis von befreundeten Äbten anzutreffen. Thegan mischte sich mit seinem Werk bewusst in die politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit ein und bezog Stellung im Kampf um Macht und Herrschaft. Sein Hauptanliegen war es, die Person des Kaisers vor seinen Kritikern zu rechtfertigen und an Ludwig und seine Umgebung Ermahnungen für die Zukunft zu richten. Insbesondere das Verhältnis Ludwigs zu seinem gleichnamigen Sohn Ludwig dem Deutschen, dem ostfränkischen König, lag Thegan am Herzen. In einem Einverständnis der beiden sah er die Gewähr für eine günstige Weiterentwicklung des Reiches. Thegans Aussagen gelten als sorgfältig und zuverlässig. Zum Jahr 819 erwähnt er die Vermählung Ludwigs mit Judith, nennt deren hochadelige Herkunft, ihre Erhebung zur Königin und betont, dass sie sehr schön – „pulchra valde“ – gewesen sei.41 Zwei weitere Nennungen erfolgen zu 826 und 829. Im 33. Kapitel schreibt Thegan von der Taufe Heriolds (Harald Klak) von Dänemark durch Ludwig den Frommen und erwähnt in diesem Zusammenhang, dass dessen Gemahlin durch die Kaiserin Judith aus der Taufe gehoben worden sei.42 Für 829 berichtet Thegan von einer im August in Worms abgehaltenen Reichsversammlung, auf der

40 Thegan, Gesta Hludowici. – Thegan entstammte einer vornehmen fränkischen Familie aus dem Mittelrheingebiet. Vgl. zu den beiden Lebensbeschreibungen auch Weihs, Alexander: Pietas und Herrschaft. Das Bild Ludwigs des Frommen in den Vitae Hludowici, Münster 2004. 41 Thegan, Gesta Hludowici, S. 214, 11–15. – Das Register der MGH-Edition ist in Bezug auf die Judith-Nennungen sowohl für Thegan als auch für den Astronomus absolut unzuverlässig und verzeichnet etwa die Hälfte der Nennungen nicht. Sie wurden hier ergänzt. 42 Ebd., S. 202, 3f. – Vgl. dazu auch Ermoldus Nigellus, In honorem Hludowici christianissimi Caesaris Augusti, in: MGH Poetae Latini medii aevi 2: Poetae Latini aevi Carolini (II), hg. v. Ernst Dümmler, Berlin 1884 [im Folgenden: Ermoldus Nigellus, In honorem Hludovici], S. 1–93, hier S. 70, V. 421–426. Die Neuedition Ermold le Noir: Poème sur Louis le Pieux et épitres au roi Pépin, hg. und übersetzt von Edmond Faral, Paris 1964, wurde nicht berücksichtigt. – In der Vita Hludowici des Astronomus wird Harald zwar mehrmals erwähnt, nicht aber seine Taufe und demzufolge auch keine Beteiligung Judiths an der Taufe von dessen Gemahlin. – Zum politischen Hintergrund der Taufe Haralds vgl. Angenendt: Kaiserherrschaft, S. 215–223; Nelson: Charles the Bald, S. 77–79; Depreux: Prosopographie, S. 150; Koch: Kaiserin Judith, S. 75.

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Ludwig „[…] seinem Sohn Karl, der von der Kaiserin Judith geboren worden war, das alemannische und rätische Land sowie einen Teil von Burgund […]“ übergeben habe.43 Darüber hätten sich die anwesenden Söhne Lothar und Ludwig ebenso entrüstet wie der offenbar nicht anwesende Pippin. Eine Wertung des Vorgangs durch Thegan erfolgt nicht. Als treibende Kraft wird ganz klar Ludwig dargestellt. Zum Jahre 830 berichtet Thegan vom Aufstand gegen Ludwig den Frommen und dem Versuch, ihn zu vertreiben, was sein Sohn Ludwig der Deutsche verhindert habe. Thegan bezieht hier klar Stellung: „Die genannten Frevler warfen ihm viel Widerwärtiges vor, was zu sagen oder glauben Sünde wäre: sie behaupteten, die Königin [sic!] Judith sei von einem gewissen Bernhard […] geschändet worden – alles Lügen. Sie nahmen die Königin Judith gefangen, zwangen ihr den Schleier auf und schickten sie ins Kloster […].“44 Nach Niederschlagung des Aufstands kam Judith im Herbst des Jahres zum Kaiser nach Aachen, der sie „[…] auf Geheiß des römischen Papstes Gregor und nach dem gerechten Urteil der anderen Bischöfe ehrenvoll aufnahm.“45 In diesen Kontext gehört auch die Reinigung Bernhards von Barcelona vom Vorwurf des Ehebruchs, die im folgenden Jahr in Diedenhofen erfolgte.46 Im Zusammenhang mit der Absetzung Ludwigs des Frommen auf dem Lügenfeld bei Colmar bietet Thegan im 42. Kapitel den Hinweis, dass Ludwigs Söhne Judith bereits zuvor von ihm getrennt und nach Tortona in Italien geschickt hatten. Dabei hätten sie allerdings eidlich zugesichert, sie weder töten noch verstümmeln zu wollen. Entsprechende Befürchtungen machten offenbar die Runde.47 Nachdem es Ludwig bis in den Frühsommer des Jahres 834 gelungen war, die Herrschaft wiederzuerlangen, „[…] schickte er“ – so Thegan c. 51 – „treue Boten nach Italien, um seine vielfach 43 Thegan, Gesta Hludowici, S. 220, 10f. 44 Ebd., S. 222f. Weitere Literatur in den dortigen Fußnoten. 45 Ebd., c. 37, S. 224, 8–10. Siehe dazu auch die Darstellung des Astronomus unten bei Anm. 56, der von der Ableistung eines Reinigungseids spricht. Die Zustimmung des Papstes war erforderlich, weil Judith – wenngleich zwangsweise – ins Kloster eingetreten war. Sie stellt demzufolge keine Wertung dar. Ähnlich berichten auch die Annales Mettenses, S. 97 zum Jahr 830. 46 Thegan, Gesta Hludowici, c. 38, S. 224, 11–15. – Der Zusatz Thegans, niemand habe sich finden lassen, der es gewagt hätte, Bernhard diese Schuld mit Waffen nachzuweisen, kann durchaus als Stellungnahme zugunsten Judiths interpretiert werden. Siehe dazu auch Astronomus, Vita Hludowici, c. 46 mit Anm. 678. 47 Thegan, Gesta Hludowici, c. 42, S. 230, 4–8. – Von Tötungsabsichten wollen die Annales Bertiniani, hg. v. Georg Waitz (MGH Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 5), Hannover 1883 [im Folgenden: Annales Bertiniani], S. 13 zu 834 wissen: „[…] cum sentirent […] fideles […], quod coniugem eius quidam inimicorum morti tradere vellent.“ Die Neuausgaben Annales de Saint-Bertin, hg. v. Félix Grat/Jeanne Vielliard/Suzanne Clémencet (mit Einführung von Léon Levillain), Paris 1964 sowie The Annals of St-Bertin, hg. v. Janet L. Nelson, Manchester 1991, wurden nicht berücksichtigt. – Zu möglichen Mordabsichten gegen Judith vgl. Koch: Kaiserin Judith, S. 151f.

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verleumdete Gemahlin heimzuholen. Sie kamen dorthin, nahmen sie mit allen Ehren in Empfang und führten sie unter Jubel und Freude vor das Angesicht des Kaisers, der damals in der Pfalz Aachen weilte.“48 Dies ist zugleich die letzte Erwähnung Judiths in den Gesta Hludowici. Thegans Darstellung erscheint in Bezug auf Judith zumindest neutral, beziehungsweise nimmt er sie sogar gegen Kritiker und Vorwürfe in Schutz. Ein Hinweis darauf, dass er sie in irgendeiner Form für die Geschehnisse seit 829 verantwortlich machen würde, findet sich jedenfalls nicht. Die Ludwigs ganzes Leben umfassende Vita Hludowici Imperatoris ist hingegen anonym überliefert. Aufgrund seiner herausragenden Kenntnisse des Sternenhimmels wurde und wird der Autor als Astronomus bezeichnet. Neueren Forschungen zufolge ist er mit Jonas von Orléans († 843) zu identifizieren.49 Die auffallend guten medizinischen Kenntnisse des Verfassers und seine detaillierten Schilderungen der kaiserlichen Verletzungen und Erkrankungen sprechen für eine unmittelbare persönliche Nähe des Autors zum Kaiser beziehungsweise zu dessen Leibärzten. Die eingehende Schilderung des Bischofs Drogo von Metz, eines Halbbruders Ludwigs des Frommen, der ab 834 die Hofkapelle leitete, deutet zudem auf ein enges Vertrauensverhältnis zwischen dem Astronomus und Drogo hin. Der Autor hat demnach zahlreiche Ereignisse als Augenzeuge miterlebt. Die Vita Hludowici ist vermutlich kurz nach Ludwigs Tod am 20. Juni 840 entstanden und wurde vor der Schlacht von Fontenoy am 25. Juni 841, mit der die Hoffnungen auf eine friedliche Einigung in der Thronfolgefrage zerbrochen waren, beendet. Der Verfasser stand in einem engen Loyalitätsverhältnis zu Lothar I. und hat die Vita vielleicht sogar in dessen Auftrag abgefasst. Judith wird darin regelmäßig genannt. Den Auftakt bildet Ludwigs Brautschau.50 Es folgt die Nachricht von der Geburt Karls im Juni.51 Sie wird in nüchternen Worten, ohne weitere Kommentierung geboten. Allerdings berichtet der Autor für die Zeit vor der Niederkunft von bösen Vorzeichen, Erdbeben, Hagel und Seuchen, die den Kaiser beunruhigt hätten und denen er durch Fasten,

48 Thegan, Gesta Hludowici, c. 51, S. 244, 5–9. – Siehe dazu auch die Schilderung des Astronomus unten bei Anm. 59. 49 Astronomus, Vita Hludowici. – Zu Jonas von Orléans als möglichem Verfasser der Vita Hludowici vgl. Tischler, Matthias M.: Einharts Vita Karoli. Studien zur Entstehung, Überlieferung und Rezeption, Hannover 2001, S. 1109. Depreux: Prosopographie, S. 113f., 159f., 276f., identifiziert den Astronomus mit dem Iren Dicuil, dem Verfasser eines astronomischen Werks; vgl. auch Anton, Hans Hubert: Jonas von Orléans, in: Lexikon des Mittelalters 5 (1991), Sp. 625. – Im Prolog schreibt der Astronomus über sich, dass er nach 814 am Hof gewirkt und einen Teil des Geschehens als Augenzeuge erlebt habe. Das sowie seine Kenntnisse des kanonischen Rechts würden auf Jonas von Orléans zutreffen. 50 Astronomus, Vita Hludowici, c. 32, S. 392, 9–12. – Zur Brautschau siehe oben S. 211f. 51 Astronomus, Vita Hludowici, c. 37, S. 422, 3f.

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Gebete und Almosen begegnen wollte. Einen unmittelbaren verbalen Zusammenhang zur Geburt Karls stellt er nicht her. Dennoch haben Teile der Forschung dies als eine unverhohlene Stellungnahme des Astronomus gewertet. Die ausführlichste Schilderung Judiths erfolgt im 44. Kapitel.52 Sie formt zugleich den Kern des in Teilen bis in die Gegenwart tradierten Judith-Bildes. Der Astronomus schildert darin die Verschwörung des Jahres 830 gegen Kaiser Ludwig den Frommen. Die für die Aufrührer gewählten drastischen Worte (Hunde und Raubvögel, aus dem Schaden anderer Gewinn für sich ziehend) zeigen deutlich, wie sehr der Verfasser deren Agieren missbilligt. Die gegenüber Judith erhobenen Vorwürfe empören ihn: […] auch erklärten sie – eine frevelhafte Behauptung! –, Bernhard sei der Schänder des väterlichen Ehebettes; der Vater sei durch Zaubereien so berückt worden, daß er diese nicht nur nicht bestrafen, sondern nicht einmal wahrnehmen könne. Ein guter Sohn müsse daher, sagten sie, über die Schande des Vaters empört sein, solches aus seiner Mitte entfernen und ihm Verstand und Würde zurückgeben […],

wodurch der Kaiser den Ruf seiner Tugendhaftigkeit zurückerlangen werde. Auf die Nachricht vom „[…] bewaffneten Aufstand gegen ihn, seine Gattin und Bernhard […]“ habe Ludwig dem Grafen die Erlaubnis gegeben, „[…] sich durch Flucht in Sicherheit zu bringen, die Gattin sollte nach seinem Willen in Laon bleiben und sich im Kloster der heiligen Maria aufhalten [...].“ Ludwig begab sich daraufhin nach Compiègne. In der Zwischenzeit brachte ein Teil der Verschwörer Judith in ihre Gewalt. War bereits die Entführung ein Verbrechen, so erhielt dieses durch die Fortführung aus der Klosterkirche, einem sakralen und daher besonders geschützten Bereich, eine zusätzliche Schwere. Der Astronomus kommentiert dies nicht, kann er doch darauf vertrauen, dass die geistlichen Leser/Hörer seines Textes dies wissen. Judith sei unter Peinigungen und Tötungsandrohungen schließlich dazu gezwungen worden, dem Kaiser zur Niederlegung der Waffen und anschließendem Klostereintritt zu raten. Sie selbst solle den Schleier nehmen und ebenfalls ins Kloster eintreten. Anschließend hätten sie die Königin zwar nicht weiter belästigt, „[...] doch gaben sie dem Geschrei der Menge nach, ließen sie ins Exil wegbringen und ins Kloster der heiligen Radegundis [in Poitiers] einschließen.“ Der Inhalt der Judith gegenüber erhobenen Anschuldigungen lautete demnach Ehebruch und Zauberei. Damit habe sie Schande über ihren Mann gebracht und müsse von ihm entfernt werden. Der Astronomus distanziert sich davon. Und auch Ludwig der Fromme stellte sich auf Judiths Seite. Der Bericht des Astronomus macht deutlich, dass die Verschwörer Judiths Einfluss auf den Kaiser außerordentlich hoch veranschlagten. Ihre dauerhafte Entfernung aus

52 Ebd., c. 44, S. 456–458.

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seiner Umgebung war ihnen daher ein zentrales Anliegen. Der einzige Weg, dies zu bewerkstelligen, ohne auf sich selbst große Schuld zu laden, war die Einweisung ins Kloster. Im 45. Kapitel wird Judith en passant erwähnt, als von der Blendung Heriberts, Bernhards Bruder, und der Entwaffnung und Exilierung Odos, berichtet wird, weil beide Mitwisser und Förderer der Verbrechen gewesen seien, derer Bernhard von Barcelona und die Königin beschuldigt worden waren.53 Im Winter 830/831 hielt sich Ludwig, der zwischenzeitlich die Herrschaft wiedererlangt hatte, in Aachen auf. Damals ließ er Judith aus Aquitanien zurückholen. Ohne weitere Kommentierung setzt der Astronomus seinen Bericht fort „[...] Judith würdigte er jedoch nicht der ehelichen Ehre, bis sie sich auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise von den Vorwürfen gereinigt hatte.“54 Die Annales Bertiniani und Nithard wollen später wissen, dass dies in Form eines öffentlichen Reinigungseides erfolgt sei.55 Formal und auch um den Anschuldigungen für die Zukunft den Boden zu entziehen, war dies notwendig. Inwieweit Ludwig der Fromme dadurch für sich selbst etwaige Verunsicherungen beseitigt wissen wollte, ist nicht zu entscheiden. Der Astronomus enthält sich eines Kommentars. Im Oktober 831 leistete Bernhard in Diedenhofen ebenfalls einen Reinigungseid und wurde rehabilitiert.56 Im Oktober 832 erfolgte dann jedoch dessen endgültige Absetzung – diesmal durch Ludwig den Frommen – unter dem Vorwurf der erneuten Verschwörung in Gemeinschaft mit Pippin.57 Dass die früheren Beschuldigungen des Ehebruchs mit Judith dabei unterschwellig eine Rolle spielten, muss Spekulation bleiben. Im Kontext der Schilderung der Ereignisse auf dem Lügenfeld bei Colmar schreibt der Astronomus, dass der Kaiser seine Söhne bei der Zusammenkunft an deren Versprechen „[...] in Bezug auf ihn, seinen Sohn [Karl, St. Fr.] und seine Gemahlin [...]“ erinnert habe, ehe er ihnen in ihr Lager gefolgt sei. „Bei seiner Ankunft wurde die Gattin von ihm getrennt und zu den Zelten Ludwigs [Ludwig der Deutsche, St. Fr.] gebracht […].“58 „Die Gemahlin des Vaters […] wurde wieder in die Verbannung geschickt, diesmal in die Stadt Tortona in Italien.“ Bis Anfang März 834 gewann Ludwig der Fromme erneut die Oberhand. Er begab sich schließlich nach Aachen „[…] und empfing hier die Kaiserin Judith, die ihm Bischof Rathold 53 Ebd., c. 45, S. 460, 8. 54 Ebd., c. 46, S. 464, 12–15. 55 Annnales Bertiniani, S. 4 zum Jahre 831: „[…] purificavit se secundum iudicium Francorum de omnibus, quibus accusata fuerat.“ Bei Nithard, Libri historiarum quattuor I, 4, S. 18/20 heißt es: „Verumtamen haud est thoro regio recepta, donec se criminibus obiectis innoxiam […] sacramento […] coram plebe effecit […].“ – Zu den Annales Bertiniani und zu Nithard siehe unten ab Anm. 95 bzw. ab Anm. 69. 56 Astronomus, Vita Hludowici, c. 46, S. 466, 16–20. 57 Ebd., c. 47, S. 468–470. Erneut war kein Ankläger bereit, die Vorwürfe im Zweikampf zu beweisen. 58 Ebd., c. 48, S. 478, auch für das Folgende. – Thegan (siehe oben S. 223), schreibt von einer Verbannung nach Tortona.

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und Bonifatius aus Italien herbeiführten […].“59 Anders als bei Thegan werden die Boten namentlich genannt, der Empfang selbst aber nur knapp geschildert. Im Winter 835/836 hielt sich der königliche Hof in Aachen auf. Von dort aus forderte Ludwig seinen Sohn Lothar zu Versöhnungsverhandlungen auf. Die vom Astronomus ausgeführten Hintergründe dieses Vorgehens sind aufschlussreich: Da die Kräfte des Kaisers offenbar nachließen, hatte die Kaiserin Judith nämlich mit seinen Räten verhandelt, und man war zur Einsicht gelangt, daß, wenn sein Tod eintrete, ihr und Karl Gefahr drohe, falls sie nicht an einem der Brüder einen Rückhalt gewännen. Sie fanden keinen von den Söhnen des Kaisers besser dazu geeignet als Lothar; daher forderten sie den Kaiser auf, Friedensboten zu ihm zu schicken und ihn zu diesem Zweck einzuladen.60

Die Verhandlungen fanden schließlich im Mai 836 in Diedenhofen statt. Judith war an führender Stelle daran beteiligt: „Nachdem man die Angelegenheit erörtert und zum Abschluß gebracht hatte, suchten der Kaiser und seine Gattin sich vor allem mit Wala zu versöhnen […].“61 Wohl im Spätherbst des Jahres 837 übertrug Ludwig der Fromme „[…] in Aachen auf Drängen der Kaiserin und der Hofbeamten seinem über alles geliebten Sohn Karl einen Teil des Reiches […].“62 Der Astronomus stellt dies wertungsfrei dar. Nach der Schwertleite Karls in Quierzy im August 838 und dem Tod Pippins am 13. Dezember wurden in der ersten Hälfte des Jahres 839 weitere Maßnahmen ergriffen, um Karls Beteiligung am väterlichen Erbe abzusichern. Unterdessen erinnerte sich die Kaiserin Judith an den Plan, den sie früher mit den kaiserlichen Räten und den übrigen Vornehmen des Frankenreiches entworfen hatte, und zusammen überredeten sie den Kaiser, zu seinem Sohn Lothar Gesandte zu schicken, die ihn unter der folgenden Bedingung zum Vater einladen sollten: Wenn er seinen Bruder Karl lieben, unterstützen, schützen und behüten wolle, dann solle er zum Kaiser kommen und wissen, daß er von ihm Verzeihung für all seine Vergehen erlangen und zugleich auch

59 Astronomus, Vita Hludowici, c. 52, S. 490, 492. 60 Ebd., c. 54, S. 504, 506. Der Herausgeber Ernst Tremp gibt aber zu bedenken, dass die Sorge um den Gesundheitszustand des Kaisers eigentlich besser in den Kontext des Jahres 839 passt. – Vgl. dazu auch Nithard Libri historiarum quattuor I, 6, S. 28: „Verumtamen ingruente senili aetate et propter varias afflictiones poene decrepita imminente, mater ac primores populi […] ratum duxerunt, ut quemlibet e filiis pater in supplementum sibi assumeret.“ 61 Astronomus, Vita Hludowici, c. 55, S. 506. 62 Ebd., c. 59, S. 524. Die Maßnahme wurde aufgrund der nachfolgenden Ereignisse nicht umgesetzt. Vgl. dazu Tremp, S. 525, Anm. 893.

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die Hälfte des Reiches, Bayern ausgenommen, erhalten werde. Dieses Angebot erschien Lothar und den Seinen in jeder Beziehung als vorteilhaft.63

Erneut agiert Judith als einflussreiche Beraterin Ludwigs und zugunsten ihres Sohnes. Und wiederum wird das vom Astronomus keineswegs als anstößig empfunden. Die daraufhin schließlich mit Lothar einvernehmlich getroffenen Vereinbarungen, die für Karl den westlichen Teil des Reiches vorsahen, stießen in Aquitanien bei Anhängern von Pippins gleichnamigem Sohn auf Widerstand. Der Kaiser zog daher im Herbst 839 Richtung Aquitanien – in Begleitung Judiths und Karls.64 Nach dem in Poitiers begangenen Weihnachtsfest brachten Boten die Nachricht von einem erneuten Aufstand Ludwigs des Deutschen. Der zu diesem Zeitpunkt bereits schwer erkrankte Kaiser unterbrach daraufhin das gemeinsam mit Judith und seinem Sohn Karl begonnene vierzehntägige Fasten vor Ostern65 und zog über Aachen (Feier des Osterfests) nach Thüringen und von dort unverrichteter Dinge zurück ins Rheinland. In der Nähe von Ingelheim zwang den Kaiser seine Krankheit nieder.66 Auf dem Sterbebett beauftragte er seinen Halbbruder Drogo von Metz mit der Verteilung seiner persönlichen Habe. „Lothar schickte er die Krone und das mit Gold und Edelsteinen ausgelegte Schwert unter der Bedingung, daß er Karl und Judith die Treue halte und diesem seinen ganzen Reichsteil belasse und schütze […].“67 Ludwigs Sorge um Judith und die Verbundenheit mit ihr hatten bis zu seinem Tod Bestand. Das vom Astronomus gezeichnete Judith-Bild ist – vergleichbar der Darstellung Thegans – neutral bis sogar positiv. Zwar werden die gegenüber Judith erhobenen Vorwürfe genannt, doch der Astronomus distanziert sich zugleich davon. Sein Hauptanliegen ist die Rechtfertigung beziehungsweise Verteidigung Ludwigs, Judith spielt demgegenüber eine untergeordnete Rolle.68 Gleichwohl sind die Aussagen als Ganzes aufschlussreich: Sie zeigen, dass Judith für den Astronomus – neben anderen, das wurde seitens der Forschung zumeist nicht erwähnt – zum Beraterkreis

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Astronomus, Vita Hludowici, c. 59, S. 528. Ebd., c. 61, S. 538. Ebd., c. 62, S. 540. Nach Boshof: Ludwig der Fromme, S. 247 (gestützt auf die detaillierte Schilderung des Astronomus, S. 546), handelte es sich um Magen- und Speiseröhrenkrebs, möglicherweise zuletzt in Verbindung mit einer Bronchitis. 67 Astronomus, Vita Hludowici, c. 63, S. 548. 68 Vgl. zum Bestreben des Astronomus, Ludwig den Frommen als tugendhaft darzustellen, Zotz, Thomas: Ludwig der Fromme oder Ludwig der Gnädige? Zur Herrschertugend der pietas im frühen und hohen Mittelalter, in: Andreas Bihrer/Elisabeth Stein (Hg.), Nova de veteribus. Mittel- und neulateinische Studien für Paul Gerhard Schmidt, München/Leipzig 2004, S. 180–192, hier S. 184f.

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Ludwigs des Frommen zählte und großen Einfluss auf ihn ausübte. Wohl aus diesem Grund waren die Aufrührer gegen Ludwig stets bestrebt, Judith von seiner Seite zu entfernen, in die Verbannung zu schicken oder möglichst auf Dauer hinter Klostermauern wegzuschließen. Sie wurde offenbar als potenzielle Gefahrenquelle ausgemacht. Ludwig seinerseits war es darum zu tun, Judith jeweils rasch wieder an seine Seite zu holen. Eine in Teilen abweichende Darstellung der Ereignisse der Regierungszeit bietet Nithard († 845) in den Libri historiarum IV.69 Nithard war der Sohn Berthas, der Schwester Ludwigs des Frommen, aus deren unehelicher Beziehung mit Angilbert von St. Riquier. Er war somit ein Neffe des Kaisers. Nithard ist einer der wenigen Laienautoren jener Zeit.70 Das Werk wurde als Auftragsarbeit Karls des Kahlen abgefasst und sollte dessen Taten darstellen. Nithard schildert darin aus dem Rückblick die Ereignisse seit dem Tod Karls des Großen bis zum Tod Ludwigs des Frommen im Jahre 840, insbesondere die innerkarolingischen Auseinandersetzungen, und behandelt dann in den Büchern zwei bis vier seine unmittelbare Zeitgeschichte bis zum 19. Mai 843.71 Im Kampf für Karl den Kahlen wurde Nithard am 14. Juni 844 getötet.72 Nithard konnte vermutlich auf ähnliche Quellen zugreifen wie der Astronomus, daher sind die Unterschiede zu dessen Darstellung aufschlussreich. Die Eheschließung Ludwigs mit Judith wird von Nithard knapp und kommentarlos geschildert.73 Interessant sind die Äußerungen zu den daraus resultierenden Folgen: Nach Karls Geburt wußte der Kaiser nicht, was er mit ihm machen solle, da er das ganze Reich unter die übrigen Söhne verteilt hatte. Und da der Vater, hierüber in Sorge für den Sohn, die Söhne anging, verstand sich endlich Lothar dazu und bezeugte durch einen Eid,

69 Nithard, Libri historiarum quattuor. 70 Vgl. zu ihm zuletzt Bachrach, Bernard S./Bachrach, David S.: Nithard as a Military Historian of the Carolingian Empire, c. 833–843, in: Francia 44 (2017), S. 29–55; Seibert, Hubertus: Nithard, in: Neue Deutsche Biographie 19 (1999), S. 291; Goetz, Hans-Werner: Nithard, in: Lexikon des Mittelalters 6 (1993), Sp. 1201; Bulst-Thiele, Marie Luise: Nithard, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 6 (1987), Sp. 1164–1166; Nelson, Janet L.: Public Histories and Private History in the Work of Nithard, in: Speculum 60 (1985), S. 251–293. 71 Vgl. den Prolog, Nithard, S. 1. – Zum Verhältnis von Nithards Darstellung zu der des Astronomus vgl. die Ausführungen von Ernst Tremp in: Astronomus, Vita Hludowici, S. 86–91, der entgegen der älteren Forschungsmeinung, wonach der Astronomus Nithards Libri als Quelle benutzt habe, von einer gemeinsamen Quelle ausgeht, die beiden zu Verfügung gestanden habe. 72 Nithard erlitt eine tödliche Kopfverletzung, die nach der Grabinschrift des Mönches Micon, MGH Poetae latinae III, S. 310, Nr. 33, im 11. Jahrhundert anlässlich einer Umbettung noch zu sehen war. 73 Nithard, I, 2, S. 3. „[…] und bald darauf nahm Kaiser Ludwig Judith zur Gemahlin: ihr Sohn ist Karl.“ Die folgende Schilderung in c. 3, S. 3.

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der Vater solle einen Teil des Reichs, welchen er wolle, dem Sohne geben; er selbst werde Karls Beschützer und Verteidiger gegen alle Feinde für die Zukunft sein. Auf Anstiften Hugos aber, dessen Tochter Lothar zur Frau genommen hatte, und Matfrids, sowie anderer reute ihn später dies und er arbeitete auf alle Weise darauf hin, wie er das Geschehene rückgängig machen könne; dies entging Vater und Mutter nicht; und daher war Lothar seitdem bemüht, wenn nicht offen, so doch im Geheimen, das was der Vater festgesetzt hatte, zu vernichten.

Anders als beim Astronomus, der Judiths Streben um Beteiligung ihres Sohnes Karl am väterlichen Erbe herausstreicht, schreibt Nithard Ludwig dem Frommen selbst diese Intention zu. Übereinstimmend ist hingegen beider Darstellung bezüglich der Lothar zugedachten Rolle als Sachwalter von Karls Erbteil. Nachdem Lothar dann aber gegen das väterliche Ansinnen zu agieren begann, suchte der Kaiser – so Nithard – an seiner Stelle Unterstützung bei Bernhard von Barcelona, der sich dafür aber als ungeeignet erwiesen habe. Dessen angebliches Verhältnis zu Judith wird nicht erwähnt. Die folgenden Geschehnisse, insbesondere der Aufstand der Söhne aus Ludwigs erster Ehe gegen den Vater und dessen erste Absetzung, werden weitgehend summarisch geschildert. Nach dessen Wiedereinsetzung habe der König die Königin und ihre Brüder zurückerhalten.74 Dass Judith zuvor inhaftiert worden war, wird nicht erwähnt. Im Zusammenhang mit den Ereignissen des Jahres 833 auf dem Lügenfeld bei Colmar schreibt Nithard dann aber „[…] seine Gemahlin [wurde, St. Fr.] ihm entrissen und nach der Lombardei in die Verbannung geschickt […].“75 Bekanntermaßen gelang es Ludwig erneut, die Herrschaft an sich zu bringen. Und schließlich wurde ihm auch Judith wieder zugeführt. Inzwischen hörten die Männer, welche Judith in Italien bewachten, daß Lothar die Flucht ergriffen habe und der Vater wieder das Reich regiere: sie nahmen daher Judith, flohen mit ihr, gelangten glücklich nach Aachen und übergaben sie dem Kaiser als teures Geschenk. Nicht eher aber wurde sie auf den königlichen Thron wieder aufgenommen, als bis sie sich von den gegen sie erhobenen Anschuldigungen, da kein Ankläger erschien, durch einen Eid zusammen mit den Verwandten vor dem Volke gereinigt hatte.76

Worin die Judith gegenüber erhobenen Vorwürfe bestanden hatten, erwähnt Nithard nicht. Dass sie einen Reinigungseid zu leisten hatte, stimmt mit der Schilderung des Astronomus überein. Das nächste Mal genannt wird Judith im Zu-

74 Nithard, I, 3, S. 4. 75 Nithard, I, 4, S. 5. 76 Nithard, I, 4, S. 7.

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sammenhang mit dem erneuten, durch Ludwig den Frommen niedergeschlagenen Aufstand Ludwigs des Deutschen. Angesichts des Greisenalters und der hinfälligen Gesundheit des Kaisers […] fürchteten die Mutter [i. e. Judith, St. Fr.] und die Vornehmsten des Volkes, die nach dem Willen des Vaters für Karl gearbeitet hatten, daß wenn der Kaiser ohne Regelung der Erbschaft stürbe, sie dem Zorne der Brüder zur Vernichtung preisgegeben sein würden […].77

Vergleichbar der Schilderung des Astronomus, in der Wortwahl aber anders, erscheint Judith hier als gemeinsam mit den Großen aus Ludwigs Umgebung agierend, wobei erneut Ludwig die Initiative zugeschrieben wird. Auch der im Folgenden gebotene Hinweis, dass die erneute Hinwendung zu Lothar als Garanten für Karls Erbteil mit dessen früher Vater, Mutter und Karl geleistetem Eid begründet wurde, zeigt die starke Rolle Judiths. Wieder an Ludwigs Seite erwähnt wird Judith, als der Kaiser nach Aquitanien zog, um dort das Erbe des kurz zuvor gestorbenen Pippin an Karl zu übertragen.78 Von Aquitanien aus musste sich Ludwig schließlich erneut nach Thüringen begeben, um Ludwig den Deutschen in die Schranken zu weisen. „[…] Karl mit seiner Mutter [ließ der Vater, St. Fr.] in Poitiers zurück […].“ Es ist die letzte Erwähnung Judiths zu Lebzeiten Ludwigs. Kurz danach ist er gestorben. In den Büchern II und III wird Judith dann noch einige Mal kurz erwähnt: Als Pippins gleichnamiger, auf das väterliche Erbe Anspruch erhebender Sohn einen Angriff auf Judith plante, nötigte dies Karl zur Rückkehr nach Aquitanien.79 Doch „[…] da er für seine Mutter in Aquitanien keinen Ort wußte, sie sicher unterzubringen, [eilte er, St. Fr.] mit ihr nach Francien.“ Judith spielte auch in der Folgezeit eine wichtige Rolle, wie der Auftakt des sechsten Kapitels des zweiten Buches belegt: „Karl befahl daher allen Aquitaniern, die seiner Partei angehörten, in Gemeinschaft mit seiner Mutter ihm zu folgen […].“80 Unter anderem führte sie Karl aquitanische Truppen nach Chalons sur Marne zu.81 Letztmals erwähnt wird Judith, als Karl, nach einer erneuten Übereinkunft mit Ludwig dem Deutschen, mit ihr an die Loire zog.82 Über Judiths weiteres Schicksal und ihren Tod am 19. April 843 schreibt Nithard nichts mehr. Die wesentlich kürzere Darstellung der Ereignisse zwischen 814 und 840 durch Nithard stimmt mit der des Astronomus in Bezug auf Judith in einem wesentlichen Punkt überein: Sie wird relativ häufig an Ludwigs Seite

77 Nithard, I, 6, S. 10. 78 Nithard, I, 8, S. 12, dort auch das folgende Zitat. 79 Nithard, II, 3, S. 15 (beide Zitate). Judith wird hier erneut nicht namentlich genannt, sondern als „mater Karoli.“ 80 Nithard, II, 6, S. 19. 81 Nithard, II, 9, S. 23. 82 Nithard, III, 2, S. 29.

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erwähnt, zugleich erwähnt auch Nithard, dass sie im Kontext der Aufstände stets vom Herrscher getrennt wurde. Als treibende Kraft im Kampf um Karls Erbteil erscheint sie hingegen nicht, dies wird dem Vater zugeschrieben. Berücksichtigt man, dass Nithard im Auftrag Karls des Kahlen schrieb und die Abfassung erfolgte, als dieser darum kämpfte, sein Erbteil zu bewahren, erscheint dies logisch. Die väterlich-kaiserliche Autorität wog als Legitimierung schwerer als die mütterliche. Angesichts des Umstands, dass Judith vom Astronomus explizit zum Beraterkreis Ludwigs des Frommen gezählt wird und bei Nithard ihre einflussreiche Stellung zumindest implizit hervortritt, soll dieser Aspekt durch Betrachtung der Urkunden Ludwigs des Frommen überprüft werden. Damit wird Neuland betreten, lagen Ludwigs Diplome bis vor kurzem doch noch nicht in einer kritischen Edition vor. Die erste Erwähnung ist ein Sonderfall: Zwischen Anfang 819 und August 826 gewährte Ludwig auf Bitten Judiths – „dilecta coniux nostra Iudith“ – dem Kloster S. Salvatore in Brescia Immunität mit Königsschutz und allen Privilegien.83 Das Kloster war Judith offenbar anlässlich der Eheschließung als Benefizium übertragen worden, ihr Einsatz dafür versteht sich daher von selbst. Als Fürsprecherin wird Judith erstmals am 4. März 828 in der Bestätigung eines Tauschvertrags genannt.84 Die Erwähnung erfolgt allerdings in tironischen Noten (eine römische Kurzschrift, die von Urkundenschreibern bis in die Karolingerzeit verwendet wurde) in der Signumzeile, mithin in versteckter Form. Die nächsten Diplome, in denen Judith erwähnt wird, stammen dann aus der Zeit nach 830. Am 19. Oktober 831 schenkte Ludwig der Äbtissin Hrotrud – wiederum auf Bitten Judiths – fünf Hörigenfamilien.85 Kurz darauf, am 4. November 831, bestätigte Ludwig auf Fürsprache Judiths dem Kloster St-Martin in Tours die Befreiung von der bischöflichen Gewalt und die freie Wahl des Abtes.86 Vom 19. November 832 stammt eine Besitzbestätigung zugunsten von

83 Die Urkunden der Karolinger. Zweiter Band: Die Urkunden Ludwigs des Frommen, bearbeitet von Theo Kölzer (MGH Diplomata 1–3), Wiesbaden 2016 [im Folgenden: DLdFr] 246, S. 615f. – Zur Übertragung vgl. Koch: Kaiserin Judith, S. 204, der vermutet, dass S. Salvatore später zugunsten von St-Martin in Tours eingetauscht wurde. 84 DLdFr 272, S. 678–680. Die Nennung Judiths S. 680, 21: „domina regina Iudith ambasciavit.“ – Koch: Kaiserin Judith, S. 90 und Philippe Depreux: Bitte und Fürbitte am karolingischen Hof. Zugleich ein Beitrag zur politischen Bedeutung der Ambasciatoren- und Impetratorenvermerke (Mitte 8. bis Mitte 9. Jahrhundert), in: Archiv für Diplomatik 58 (2012), S. 57–101, hier S. 66f., weisen darauf hin, dass die Erwähnung Judiths nach dem Sturz Matfrids und Hugos erfolgte. 85 DLdFr 306, S. 756f. 86 DLdFr 307, S. 758–760, ausgestellt in Diedenhofen. Die Intervention Judiths wird wie folgt ausgedrückt: „[…] dilecta coniux nostra Iudith nobis suggessit per privilegium patris nostri domni Karoli […] seu caetera regalia necnon etiam apostolica privilegia […].“ Dieser Hinweis auf das Vorzeigen älterer Urkunden, der bereits in DLdFr 306 enthalten ist, macht es wahrscheinlich, dass Judith gebildet war und lesen und schreiben konnte. An späterer Stelle ist dann zu lesen: „Nos

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Kloster Marmoutier (Maursmünster) im Elsass auf Bitten Judiths.87 Am 20. Januar 833 schenkte Ludwig der von Abt Hilduin von Saint Denis erbauten Kirche einen Teil der „villa Mitry.“ Zudem bestätigt der Kaiser eine Dotation Hilduins für Lichter etc. sowie für eine Mahlzeit für die Brüder an bestimmten Festtagen und an seinem und Judiths Jahrtag – „in anniversiario nostro et coniugis nostrae Iudith.“88 Die Urkunde ist eine Empfängerausfertigung. Sie wurde geschrieben, nachdem Hilduin, der einstige Erzkaplan Ludwigs des Frommen und führende Vertreter der sogenannten Reichseinheitspartei, der infolge des Aufstands von 830 diese Funktion verloren hatte, zumindest das Amt des Abtes von Saint Denis wiedererlangt hatte. Während er in den Reichsannalen Judith konsequent mit Nichterwähnung bedacht hatte, wird sie hier mehrmals genannt und durch die jährliche Feier ihres Jahrestags besonders geehrt. Ob dies auf Druck Ludwigs geschah, lässt sich nicht entscheiden, bemerkenswert ist das Ganze aber durchaus. Am 31. Januar 833 verlieh Ludwig Judiths Eigenmann Hildefrid ein Benefizium.89 Die letzte Nennung – wiederum in Form tironischer Noten – erfolgte am 10. Juni 833.90 Nach den Ereignissen auf dem Lügenfeld wurde Judith in Ludwigs Urkunden nicht mehr erwähnt.91 Der durch die Darstellungen des Astronomus und Nithards vermittelte Eindruck, dass Judith auf die Herrschaft Ludwigs des Frommen Einfluss ausübte, wird durch

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quoque eiusdem dilectae coniugis nostrae Iudith salubri suggestione commoti simul hortatu atque interventu fidelium nostrorum ad hoc perficiendum commoniti […].“ Judiths Vorschlag steht hier gleichrangig neben der Fürsprache durch Ludwigs Getreue. Vgl. dazu auch Koch: Kaiserin Judith, S. 134. DLdFr 319, S. 390f. Vgl. dazu auch Koch: Kaiserin Judith, S. 134. DLdFr 324, S. 802–805, das Zitat S. 804, 15. Der Jahrestag/Geburtstag Ludwigs war der 20. Juni, derjenige Judiths der 19. April. Bei dem im Original überlieferten Diplom handelt es sich um eine Empfängerausfertigung. – Hilduin wechselte kurz danach die Seiten vgl. dazu Boshof: Agobard, S. 211–213; Ders.: Ludwig der Fromme, S. 197. Die Schenkung Ludwigs erfolgt „[…] pro praesenti et perpetua nostra salute, coniugis et prolis sive imperii statu […].“ S. 804, 5f. Und auch im Zusammenhang mit der Ermahnung seiner Nachfolger, die Einhaltung dieser Bestimmungen unverändert zu beachten, wird nochmals betont, dass diese erlassen worden seien „[…] pro prosperitate nostra, coniugis et prolis, et statu imperii […].“ DLdFr 325, S. 805f. Judith wird erneut als „dilecta coniunx nostra“ bezeichnet. DLdFr 331, S. 817–820. Verleihung von Immunität und Königsschutz an Kloster Ste-Colombe in Sens. – Es handelt sich um die letzte Urkunde Ludwigs vor den Ereignissen auf dem Lügenfeld. Judith wurde in den Tironischen Noten nachträglich als „impetrator“ (Bittsteller) eingefügt. Weitere Nennungen Judiths erfolgen in gefälschten Ludwigsdiplomen auf den 16. Februar 836: DLdFr † 363, S. 904–909, die Nennung Judiths S. 909, 18; auf den 9. März 837: DLdFr † 373, S. 931–933, die Nennungen Judiths S. 930, 28, 932, 26; sowie einem undatierten: DLdFr † 416, S. 1026–1028, die Nennung Judiths S. 1028, 36. – Zudem wurden mehrere Deperdita ausgemacht, die auf Bitten Judiths ausgestellt worden sein sollen. DLdFr Dep. 64 zugunsten von Kloster Ferrières; Dep. 76, eine Schenkung an Graf Gerard II. von Vienne. – Und auch in den MGH Formulae findet sich unter Nr. 51 eine mit Nennung Judiths.

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die Analyse seiner Urkunden bestätigt.92 Die Nennungen erfolgen – abgesehen vom Sonderfall Brescia – allerdings allesamt in einer relativ kurzen Zeitspanne zwischen 828 und 833. Das ist jene Phase der Herrschaft Ludwigs des Frommen, in der es zu einer krisenhaften Entwicklung kam, die in der Absetzung des Kaisers auf dem Lügenfeld in Colmar gipfelte. Ob Judith in jener Zeit verstärkt Einfluss auf Ludwig nahm und damit – so die traditionelle Sicht der Forschung – mitverantwortlich für die Krise war oder sie zwischen 819 und 828, als Hilduin die Geschicke der Kanzlei lenkte, schlichtweg auch in den Urkunden mit Schweigen übergangen wurde, lässt sich nicht entscheiden. Dass sie eine einflussreiche Stellung am Hof einnahm, kann aber nicht strittig sein. Dies bestätigt auch eine Passage in einem Brief des Lupus von Ferrières († nach 861).93 Judith ist damit ein Sonderfall: Die Welfin ist eine der ersten mittelalterlichen Königinnen, deren Anteil an der Herrschaft ihres Mannes in dieser Form sichtbar wird. In der Zeit der Karolinger war dies noch die Ausnahme. Erst in der Zeit der Ottonen und Salier traten die Königinnen/Kaiserinnen häufig als Petentinnen und Intervenientinnen in Urkunden auf.94 Darüber hinaus hat Judith die Aufmerksamkeit zahlreicher weiterer Autoren ihrer Zeit auf sich gezogen: Mehrmals erwähnt wird Judith in den sogenannten Annales Bertiniani, einer an unbekanntem Ort im Westfrankenreich entstandenen Fortsetzung der Reichsannalen.95 Während für den Zeitraum von 829 bis 835

92 Eine eingehende Untersuchung aller Petitionen und Interventionen in den Ludwigsurkunden im fraglichen Zeitraum könnte Judiths Anteil noch konkretisieren. Dies kann im Rahmen der vorliegenden Untersuchung aber nicht geleistet werden. 93 Loup de Ferrières: Correspondance, hg. und übersetzt von Léon Levillain, Bd. 1, Paris 1927, Nr. 11, S. 84: „[…] ad palatium, regina, quae plurimum valet, evocante, promoveo, multique existimant fore ut cito mihi gradus dignitatis aliquis conferatur.” – Vgl. dazu Koch: Kaiserin Judith, S. 176–179. Dieser weist S. 163–165 auch auf einen Brief Karls des Kahlen an Papst Nikolaus I. aus dem Jahre 867 angesichts der Befassung der Synode von Troyes mit der Absetzung Ebos von Reims hin, dem die Funktion Judiths als Vermittlerin ebenfalls zu entnehmen ist. Und auch ein zwischen 835 und 837 verfasster Brief Hrabans an die Kaiserin, in der er diese um Unterstützung wegen des Verlusts von Hafenzöllen bat, zeigt deren gewichtige Rolle am Hof. 94 Anhand dieser Nennungen lässt sich auch der Anteil der Königinnen am Zustandekommen von Rechtsgeschäften bestimmen. Vgl. dazu Freund, Stephan: Rolle und Handlungsspielräume ottonischer Königinnen, in: Ders./Gabriele Köster (Hg.), Dome – Gräber – Grabungen. Winchester und Magdeburg. Zwei Kulturlandschaften des 10. Jahrhunderts im Vergleich, Regensburg 2016, S. 67–86, mit Beispielen für die Einflussnahme von Königinnen. – Dass die Gemahlin des Herrschers einen Teil der vielfältigen Aufgaben des Hofes übernehmen solle, war grundsätzlich auch in karolingischer Zeit anerkannt. Vgl. dazu für Judith: Koch: Kaiserin Judith, S. 40–45. 95 Die Annales Bertiniani. – Vgl. dazu Rau, Reinhold: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, zweiter Teil, Darmstadt 1958, S. 1–5. – Zuletzt Scharff, Thomas: Erzählen von der Krise. Die Jahre 827/830–835 in Thegans Gesta Hludowici und den Annales Bertiniani, in: Martin Gravel/Sören

Die schöne Judith, der betörte Ludwig, Eva und die Folgen

kein Verfasser ausgemacht werden konnte, gilt für die Zeit danach Prudentius von Troyes († 861) als Autor. Dieser war Kapellan Ludwigs des Frommen und womöglich Urheber einer Sammlung von Psalmen für Kaiserin Judith.96 Im anonymen Teil wird Judith mehrmals erwähnt.97 Die Stellungnahme des Autors und seine Formulierungen sind eindeutig: Er missbilligt die Empörung gegen den Kaiser sowie den Umgang mit ihm und Judith zutiefst. In den Prudentius zugeschriebenen Jahresberichten wird Judith nur zwei Mal am Rande erwähnt. Auffällig ist hier jedoch, dass Ludwigs Ansinnen, ihren gemeinsamen Sohn Karl mit einem Erbteil auszustatten, an keiner Stelle als Grund für die Aufstände der Söhne aus der ersten Ehe des Kaisers benannt wird. Die um 830 erfolgende Zusammenstellung, Widmung und Übersendung der Psalmensammlung an Judith, wörtlich an eine Dame, von der Prudentius schreibt, dass sie von mehreren bedrängt und von zahlreichen Drangsalen zutiefst geängstigt worden sei, stellt ebenfalls eine klare Positionierung für sie dar. Die Psalmen sollten ihr in Stunden der Gefahr Trost spenden. Zudem ist damit ein weiterer Beweis für Judiths Bildung erbracht. Der möglicherweise aus Kloster Fulda stammende und einige Zeit am Hofe Ludwigs des Frommen tätige Frechulf (Bischof von Lisieux von 823 bis vor 853, † ~860) widmete Judith um 829 den zweiten Teil seiner Weltchronik. Es war für die Erziehung Karls – durch Judith! – gedacht.98 In der Einleitung des Widmungsbriefes Kaschke (Hg.), Politische Kultur und Textproduktion unter Ludwig dem Frommen. Culture politique et production littéraire sous Louis le Pieux, Ostfildern 2019, S. 251–268. 96 Zu Prudentius († 861), seit vermutlich 846 Bischof von Troyes, vgl. Depreux: Prosopographie, S. 349–351; Stratmann, Martina: Prudentius, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), Sp. 289, allerdings mit einer falschen Angabe zum Erscheinungsort des Psalmenkommentars. Dieser findet sich in MGH Epistolae 5 (Karolini aevi 3), hg. v. Ernst Dümmler, Berlin 1899, Nr. 17, S. 323f. 97 Annales Bertiniani: Zum Jahr 830, S. 2: Der Autor gibt deutlich zu erkennen, wie sehr er das Vorgehen der Söhne gegen Ludwig und Judith missbilligt. Er spricht von Erbitterung des Volkes, davon, dass die Großen die Söhne aufgefordert hätten, die Stiefmutter zu beseitigen („novercam suam perdere“). Dass die Söhne sie gezwungen hätten, den Schleier zu nehmen; von der Tücke der Verschwörer und dem widerrechtlichen Umgang mit der Kaiserin („iniuste et sine lege ac iudicio“). Zum Jahr 831, S. 3: Hier wird vom Reinigungseid der Kaiserin berichtet, obwohl sich niemand gefunden habe, der Anklage gegen sie erheben wollte und ihr irgendwelche Schuld vorgeworfen habe („qui quodlibet illi malum inferret“). Zum Jahr 833, S. 6f.: Die Rede ist von schändlichen Überredungskünsten und falschen Versprechungen der Söhne an das Volk („pravis persuasionibus et falsis promissionibus“) und von der gewaltsamen Entfernung seiner Gemahlin und deren Verbannung nach Tortona. Insbesondere Bischof Ebo von Reims habe sich dabei hervorgetan. Für 834, S. 7–9, wird vom grausamen Wüten gegen den inhaftierten Kaiser gesprochen sowie davon, dass einige von Lothars Anhängern die Kaiserin töten wollten (wie oben Anm. 47), woraufhin sie befreit und zum Kaiser nach Aachen gebracht worden sei. 98 Frechulf, Prologus ad Iudith imperatricem, in: Frechulfi Lexoviensis episcopus opera omnia, hg. v. Michael I. Allen, Turnhout 2002 [im Folgenden: Frechulfi opera omnia], II, S. 435–437; auch in: MGH Epistolae 5, Nr. 14, S. 319f. (danach zitiert), das Zitat S. 319: „Si autem de venustate corporis […] pulchritudine superas omnes […] reginas.“ In eine ähnliche Richtung zielt auch der Lobpreis

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wird Judiths Schönheit mit glühenden Worten gerühmt: Sie überrage an Liebreiz des Körpers und Schönheit alle Königinnen. Zudem sei sie von Gott mit Verstand und natürlichen Geistesgaben bedacht worden. Und schließlich ist hier auch die panegyrische Dichtung des Ermoldus Nigellus († um 838) für Ludwig den Frommen anzuführen, mit der dieser den Kaiser zu einer Aufhebung seiner Verbannung zu bewegen versuchte.99 Judith wird im Gedicht mehrfach erwähnt und ihre Schönheit gerühmt.100 Der Dichter maß ihr demzufolge ebenfalls erheblichen Einfluss auf den Herrscher zu. Dem armen Walahfrid Strabo († 849), als noch junges Mönchlein (* 808/09) im Jahre 829 von der Reichenau an den Hof Ludwigs des Frommen berufen, scheint sie – scheinbar „sine spe“ – regelrecht den Kopf verdreht zu haben:101 Weise und intelligent sei sie gewesen, von starkem Geist und beredt, zugleich aber voller Liebe, keusch und fromm, so schreibt er unter anderem in einem Brief an Judith, die er darin mit Rahel, der schönen zweiten Frau Jakobs, vergleicht. Weitere Parallelisierungen erfolgen zur ebenfalls schönen, gottesfürchtigen und klugen biblischen Judit sowie zur musikalischen, weisen, frommen, keuschen und beredten Maria, der Schwester Aarons.102

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ihres Sohnes Karl, der an Eleganz des Körpers, Sitten und Klugheit nicht nur alle Altersgenossen überrage, sondern glauben mache, dass sein Großvater – Karl der Große! – nicht gestorben sei, sondern in ihm fortlebe. – Zur zeitlichen Einordnung und zur Interpretation der auf Karl bezogenen Passagen vgl. Allen, in: Frechulfi opera omnia, I, S. 16*. – Zu Frechulf vgl. Depreux: Prosopographie, Nr. 101, S. 197f. – Zur Panegyrik des Textes vgl. Koch: Kaiserin Judith, S. 39; zur Erziehung Karls durch Judith ebd., S. 71f. Ermoldus Nigellus, In honorem Hludowici. – Das Werk wurde von Ermold an den Kaiser, die Kaiserin sowie König Pippin gesandt. – Zu Ermold vgl. Schaller, Dieter: Ermoldus Nigellus, in: Lexikon des Mittelalters 3 (1986), Sp. 2160–2161. Weitere Literatur bei Koch: Kaiserin Judith, S. 11, Anm. 7. Ermoldus Nigellus, In Honorem Hludowici, S. 72, V. 497f.: „Iam pia scandit equum pulcherrima coniunx Caesaris, ornata comptaque mirifice.“ – Dem Gedicht ist unter anderem ein Einblick in die frühe Kindheit Karls zu entnehmen. So ist (S. 72f., V. 519–526) davon die Rede, dass Judith, die hier als „pulchra creatrix“ bezeichnet wird, ihren dreijährigen Sprössling nach der Taufe Haralds von Dänemark am 25. Juni 826 nur mit Mühe und gemeinsam mit Karls „pedagogus“ davon abhalten konnte, wie sein Vater zur Jagd zu gehen. – Vgl. dazu RI I,2,1 n. 4, in: Regesta Imperii Online, http://www.regesta-imperii.de/id/0826-06-25_1_0_1_2_1_4_4 [abgerufen am: 21. Januar 2021]. Dort auch weitere Literaturhinweise zur Darstellung Karls durch Ermoldus. Zu Walahfrid vgl. Fees, Irmgard: War Walahfrid Strabo der Lehrer und Erzieher Karls des Kahlen?, in: Matthias Thumser/Annegret Wenz-Haubfleisch/Peter Wiegand (Hg.), Studien zur Geschichte des Mittelalters. Jürgen Petersohn zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2000, S. 42–61, welche die lange Zeit vertretene Auffassung, Walahfrid sei der (alleinige) Erzieher Karls des Kahlen gewesen, widerlegt. – Zu Walahfrid vgl. auch Depreux: Prosopographie, S. 393f. Walahfrid Strabo, De imagine Tetrici, hg. v. Ernst Dümmler, in: MGH Poetae latini 2, S. 376, V. 203–208: „In qua multa simul nobis miranda videmus: Semine stat locuples, apparet dogmate dives, Est ratione potens, est cum pietate pudica, Dulcis amore, valens animo, sermone faceta:

Die schöne Judith, der betörte Ludwig, Eva und die Folgen

Hrabanus Maurus († 856), Mönch und ab 822 Abt von Kloster Fulda und über Jahrzehnte hinweg in engen Beziehungen zum Hofe Ludwigs des Frommen stehend, hat Judith vermutlich im Jahre 831 einen Kommentar zum Buch Judit sowie einen zweiten zum Buch Esther gewidmet und versehen mit entsprechenden Begleitbriefen übersandt. Mit der einen von beiden teile sie den Namen, mit der anderen die Würde.103 Verdeutlicht bereits allein der Umstand, dass der Gelehrte erstmals überhaupt Kommentare über biblische Frauen verfasste und diese der Kaiserin widmete, welch eigenständige Stellung am Hofe er ihr beimaß, so sind seine weiteren Ausführungen dazu aufschlussreich: Hraban rühmt Judiths Klugheit und bezeichnet sie – vergleichbar der biblischen Judit – als „castitatis exemplum.“ Darüber hinaus zieht er zahlreiche Parallelen zu den beiden biblischen Frauengestalten und parallelisiert damit das Agieren der Kaiserin.104

Laeta cubans, sit laeta sedens, sit laeta resurgens, Laeteturque poli felix in sede locata.” V. 197f. attestiert er der Kaiserin zudem musikalische Begabung. – Koch: Kaiserin Judith, S. 10f. (dort auch umfangreiche weitere Literaturhinweise zum Gedicht), insbesondere S. 95–99, wertet diese Aussagen als höfische Panegyrik, was sie zweifellos auch sind, meines Erachtens aber nicht nur. Siehe dazu unten Abschnitt ‚Motivcheck‘. – In Walahfrid, Ad Iudith imperatricem, in: MGH Poetae latini 2, Nr. 23a, S. 378f., wird der Lobpreis Judiths wiederholt, in Teilen sogar noch gesteigert. Ähnliches gilt für Dens., Iudith Augustae, in: ebd., Nr. 26, S. 382. – Zu Walahfrids auf Judith bezogene Werke generell vgl. Koch: Kaiserin Judith sowie die bereits alte, in ihren Wertungen überholte, für die Sichtung des Materials aber noch immer grundlegende Untersuchung von Bezold, Friedrich von: Kaiserin Judith und ihr Dichter Walahfrid Strabo, in: Historische Zeitschrift 130 (1924), S. 377–439. – Dass Judith Walahfrid wenig Interesse entgegenbrachte, vermutet Koch: Kaiserin Judith, S. 95; ähnlich bereits Bezold, S. 424. 103 Die beiden Briefe finden sich in: MGH Epistolae V, Nr. 17a, S. 420f. bzw. Nr. 17b, S. 421f.; der Verweis auf Judith und Esther findet sich S. 420f., II, 34–38. – Die Kommentare Expositio in librum Esther sowie Expositio in librum Judith finden sich in: Migne PL 109 ab Sp. 635 bzw. ab Sp. 539. – Zu Hrabanus Maurus vgl. Koch: Kaiserin Judith, S. 11 und die dort in Anm. 21 genannte Literatur sowie Depreux, Philippe (Hg.): Hraban Maur et son temps, Turnhout 2010; Felten, Franz Josef/ Nichtweiß, Barbara (Hg.): Hrabanus Maurus. Gelehrter, Abt von Fulda und Erzbischof von Mainz, Mainz 2006. Vgl. zur Datierung sowie zu den Widmungsgedichten und den Kommentaren generell Koch: Kaiserin Judith, S. 11, mit Anm. 22 und weiterer Literatur, S. 121–125 sowie vor allem de Jong, Mayke: Exegesis for an Empress, in: Ester Cohen/Dies. (Hg.), Medieval Transformations. Texts, Power, and Gifts in Context, Leiden 2001, S. 69–100. Ihr zufolge wurde das Werk bereits um 830/831 verfasst, wohingegen die bisherige Forschung den Text um 834 datierte. Beide sehen darin einen Ausdruck der starken Rolle Judiths am Hof, zugleich aber dezidierte Stellungnahmen Hrabans gegen die im Jahre 830 gegen sie erhobenen Vorwürfe und eine Zurückweisung ihrer Gegner. De Jong macht auch darauf aufmerksam, dass Hraban erstmals Kommentare über biblische Frauen verfasst und diese zudem einer Frau, der Kaiserin Judith, gewidmet habe. 104 Hrabanus, in: MGH Epistolae 5, Nr. 17a, S. 42: „Sic et vestra nunc laudabilis prudentia, quae iam hostes suos non parva ex parte vicit […].” Zu den Parallelisierungen in den beiden Kommentaren sei hier auf die eingehenden Ausführungen von De Jong: Exegesis verwiesen, die zudem eine umfassende Kontextualisierung der Werke in den zeitlichen Kontext, aber auch in die sonstigen, an Lothar und Ludwig geschickten Kommentare Hrabans vornehmen, wodurch die vom Fuldaer Abt

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Diese im wörtlichen und übertragenen Sinne ‚herausragende‘ Stellung Judiths bezeugen auch die Stellungnahmen des eingangs zitierten Agobard von Lyon und Paschasius’ Radbertus, der beiden erbittertsten Gegner Judiths. Paschasius Radbertus († um 865), Mönch und später Abt von Corbie, hat spätestens um 856 eine Lebensbeschreibung Walas von Corbie verfasst, das Epitaphium Arsenii.105 Wala († 836), einer der vehementesten Verfechter der Reichseinheit, hatte im Jahre 828 mit einer aufsehenerregenden Denkschrift Missstände am Hofe Ludwigs des Frommen kritisiert und zur Bewahrung der Reichseinheit aufgerufen.106 Dies hatte schließlich zur Folge, dass er in den Jahren 830–833 vom Hof verbannt wurde. Walas posthume Rechtfertigung steht im Zentrum der Darstellungsabsicht von Paschasius’ Werk, das zugleich eine Abrechnung mit der Herrschaft Ludwigs des Frommen bildete. Nicht zuletzt deshalb wurden für die handelnden Personen Pseudonyme gewählt: Justinian für Ludwig den Frommen, Justina für Judith. Iustina († 388) war die zweite Gemahlin Valentinians I. (364–375). Sie hatte nach dem Tod ihres Mannes die Nachfolge ihres Sohnes als Kaiser durchgesetzt, hing dem Arianismus an und befand sich deshalb in einer heftigen Auseinandersetzung mit dem Kirchenvater Ambrosius, dem Erzbischof von Mailand. Für gebildete Leser, also für die Mönche und Geistlichen, an deren Adresse sich Paschasius mit seinem Werk wandte, waren die Parallelen zu Judith mehr als offensichtlich.107 Im Zentrum der Angriffe auf den Königshof stand freilich Judith. Der Forschung ist dies bereits früher aufgefallen, ohne dass dafür eine wirklich befriedigende Erklärung

intendierte Unterstützung Judiths deutlich sichtbar wird. Im Zusammenhang mit der Brautschau Ludwigs des Frommen behandelt de Jong: Bride shows den Esther-Kommentar ebenfalls. 105 Vita Walae abbatis Corbeiensis, hg. v. Georg Heinrich Pertz, Scriptores rerum Sangallensium. Annales, chronica et historiae aevi Carolini (MGH Scriptores 2), Hannover 1829 [im Folgenden: Vita Walae], S. 533–569 (Auszüge, eine vollständige Ausgabe der Vita fehlt bislang). – Zur Datierung des Werks vgl. Ganz, David: The Epitaphium Arsenii and Oppositio to Louis the Pious, in: Godman/ Collins, Charlemagne’s Heir, S. 537–550, hier S. 538–540. Zu Paschasius Radbertus vgl. Aris, MarcAeilko: Paschasius Radbertus, in: Lexikon des Mittelalters 6 (1993), Sp. 1754f.; Ward, Elizabeth: Agobard of Lyons and Paschasius Radbertus as Critics of the Empress Judith, in: William J. Sheils/ Diana Wood (Hg.), Women in the Church. Papers read at the 1989 summer meeting and the 1990 winter meeting of the Ecclesiastical History Society, Oxford 1990, S. 15–25. – Zum Epitaphium Arsenii zuletzt de Jong, Mayke: Paschasius Radbertus and Pseudo-Isidore: The Evidence of the Epitaphium Arsenii, in: Rome and Religion in the Medieval World (2014), S. 149–177; Dies.: For God, King and Country: the Personal and the Public in the Epitaphium Arsenii, in: Early Medieval Europe 25 (2017), S. 102–113. 106 Siehe dazu oben bei Anm. 21. 107 Ganz: Epitaphium Arsenii, S. 538, vertritt, insbesondere aufgrund des Umstands, dass das Werk in nur einer Handschrift überliefert ist, die Auffassung, es sei gar nicht zur öffentlichen Verbreitung gedacht gewesen, sondern habe eine „private nature“ besessen.

Die schöne Judith, der betörte Ludwig, Eva und die Folgen

gefunden worden wäre.108 Zieht man die Überlegungen der neueren Forschung zu Paschasius Radbertus hinzu, so ergibt sich möglicherweise ein neuer Blick auf diese Frage: Paschasius wurde mit guten Gründen als Urheber oder zumindest Mitwirkender bei der Abfassung der pseudoisidorischen Dekretalen identifiziert. In dieser fiktiven Kirchenrechtssammlung wurden echte und gefälschte kirchenrechtliche Bestimmungen zusammengestellt, die die Unrechtmäßigkeit des Vorgehens gegen Bischöfe und Äbte erweisen sollten. Die Rechtssätze wandten sich gegen die von Ludwig dem Frommen im Jahre 830 vorgenommenen Absetzungen.109 Sie – und damit Paschasius – zielen auf Ludwig selbst ab; das Epitaphium Arsenii auf Judith, die offenbar als zweites Machtzentrum am Hof angesehen wurde.110 Die gegenüber Judith erhobenen Vorwürfe tendieren in exakt diese Richtung: Nachdem sie das Ehebett erobert habe,111 habe sie Einfluss auf die Auswahl von Ludwigs

108 So unter anderem Ward: Agobard and Paschasius. Koch: Kaiserin Judith, S. 10, sieht als Erklärung für die Stoßrichtung gegen Judith, dass Wala durch die Ereignisse „[…] zu einem erbitterten Gegner der Kaiserin […]“ geworden sei. 109 Zu Paschasius als Urheber der pseudosidorischen Dekretalen vgl. Zechiel-Eckes, Klaus: Ein Blick in Pseudoisidors Werkstatt. Studien zum Entstehungsprozeß der Falschen Dekretalen. Mit einem exemplarischen editorischen Anhang (Pseudo-Julius an die orientalischen Bischöfe, JK † 196), in: Francia 28/1 (2001), S. 37–90; Ders.: Auf Pseudoisidors Spur. Oder: Versuch, einen dichten Schleier zu lüften, in: Wilfried Hartmann/Gerhard Schmitz (Hg.), Fortschritt durch Fälschungen? Ursprung, Gestalt und Wirkungen der pseudoisidorischen Fälschungen. Beiträge zum gleichnamigen Symposium an der Universität Tübingen vom 27. und 28. Juni 2001, Hannover 2002, S. 1–28; Vgl. dazu auch: Ubl, Karl/Ziemann, Daniel (Hg.): Fälschung als Mittel der Politik? Pseudoisidor im Licht der neuen Forschung. Gedenkschrift für Klaus Zechiel-Eckes, Wiesbaden 2015; Patzold, Steffen: Gefälschtes Recht aus dem Frühmittelalter. Untersuchungen zur Herstellung und Überlieferung der pseudoisidorischen Dekretalen, Heidelberg 2015; Fried, Johannes: Der lange Schatten eines schwachen Herrschers. Ludwig der Fromme, die Kaiserin Judith, Pseudoisidor und andere Personen in der Perspektive neuer Fragen, Methoden und Erkenntnisse, in: Historische Zeitschrift (284) 2007, S. 103–138, hier S. 103f., hat folgendermaßen geurteilt: „Die ohne Zweifel wichtigste mediävistische Entdeckung der letzten Zeit stellt die Identifikation des berüchtigten Pseudoisidor durch die Zuweisung seines Machwerks nach dem Kloster Corbie dar. Sie wird Klaus Zechiel-Eckes verdankt.“ – Kritisch gegenüber der These von Zechiel-Eckes, wonach die Pseudoisidorischen Dekretalen eine unmittelbare Reaktion auf die Ereignisse der 830er Jahre darstellten, zuletzt Knibbs, Erich: Ebo of Reims, Pseudo-Isidore and the Date of the False Decretals, in: Speculum 92 (2017), S. 144–183, der neue Argumente für deren Abschluss in den 850er Jahren beibringt, aber gleichwohl von einer Beteiligung, wenngleich nicht alleinigen Urheberschaft des Paschasius Radbertus ausgeht. 110 Dass Judith als Machtzentrum und damit als „gesonderte[r] Zielpunkt“ angesehen wurde, sah bereits Koch: Kaiserin Judith, S. 110f. und ähnlich S. 126f., ohne aber zu erkennen, dass die Angriffe des Paschasius Radbertus mit Ludwig und Judith zwei Ziele hatten. 111 Vita Walae 2, c. 7, S. 551: „[…] thorum occupavit […].” Das ganze Kapitel ist voll von Vorwürfen gegenüber der namentlich nicht genannten Kaiserin. Lediglich einige wenige seien angeführt: „[…] cuncta in subito convulsit et commaculavit, et omnem dignitatem regiam evacuavit; foedera disrupit, confudit ordinem; ut nullus esset status, singula immutavit; diem convertit in noctem,

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Ratgebern genommen,112 die Geschicke des Hofes nach ihrem Gutdünken gelenkt, eine Aussage, die in eine ausgesprochen eingängige Metapher gekleidet wird,113 und generell sei sie nichtsnutz.114 Alle Tugenden seien durch die weibliche Macht [i. e. Judith, St. Fr.] zunichte gemacht worden, so der zentrale Vorwurf des Textes.115 Aus Gründen der Textdramaturgie, aber entgegen der Chronologie seien zuletzt die Äußerungen des schärfsten Judith-Kritikers analysiert – Agobard von Lyon († 840).116 Agobard, von 816 (mit einer Unterbrechung zwischen 835 und 837/ 839) bis 840 Erzbischof von Lyon, zählte zu den führenden kirchlichen Beratern Ludwigs des Frommen und war einer der produktivsten Autoren seiner Zeit. Er gilt als unbedingter Vertreter des Reichseinheitsgedankens sowie des Vorrangs des geistlichen Standes vor dem weltlichen. Traurige Berühmtheit erlangte er durch mehrere judenfeindliche Werke. Infolge der Beteiligung am Aufstand des Jahres 833 gegen Ludwig den Frommen wurde er im Februar/März 835 auf einer Reichsversammlung in Diedenhofen angeklagt und verlor – ohne selbst erschienen zu sein – sein Amt. Im sogenannten Liber apologeticus, zwei vor Ludwigs Gefangennahme im Juni 830 beziehungsweise nach dessen Absetzung um den Oktober 833 verfassten Klageschriften gegen Judith und zugunsten der Söhne Ludwigs, rechtfertigt Agobard sein Agieren und das der Gegner Ludwigs des Frommen.117 Der Text ist von heftigen

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rursus noctem commutavit in diem. Patri abdicavit filios, et patrem filiis, sicque tyrannidis eius profecit, ut excederet ultra omnes, et nihil integrum reliquerit.” Vita Walae 2, c. 9, S. 554. Vita Walae 2, c. 16, S. 562: „[…] movebat totius monarchiae rursus sceptra, concitabat fluctus et maria, impellebat ventos, et corda virorum ad omnia quae vellet convertebat […].” Vita Walae 2, c. 23, S. 568, im Zusammenhang mit dem Bericht, dass Wala im Exil habe bestattet werden müssen. Vita Walae 2, c. 7, S. 551: „Interea confregerat omnia ossa virtutum vis feminea.” Vgl. dazu Koch: Kaiserin Judith, S. 125 und Nelson: reines carolingiennes, S. 130. Zu Agobard und seinem Werk vgl. Koch: Kaiserin Judith (an zahlreichen Stellen, auf Einzelnachweise wird hier verzichtet); Depreux: Prosopographie, S. 406–408; Boshof, Egon: Erzbischof Agobard von Lyon. Leben und Werk, Köln/Wien 1969; Ward: Agobard; in größerem Kontext Ward: Caesar’s Wife. – Zu Agobards antijüdischen Schriften vgl. Heil, Johannes: Agobard, Amulo, das Kirchengut und die Juden von Lyon, in: Francia 25 (1998), S. 39–76. Liber apologeticus I und II. – Zum Text ausführlich: Boshof: Agobard, S. 228–240, der es für denkbar hielt, dass es sich dabei um eine nachträgliche Verschriftlichung einer von Agobard auf dem Lügenfeld bei Colmar gehaltenen Predigt handelte. Diese Auffassung wird heute nicht mehr vertreten. Boshof bezeichnet den Text als „Pamphlet“ (S. 230), spricht von „Schärfe und Maßlosigkeit des Tones“ (S. 234) sowie von „übler Demagogie“ (S. 236). – Zuletzt: Patzold, Steffen: Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts, Ostfildern 2008, S. 204–208, der insbesondere das hier zu greifende Verständnis Agobards vom Verhältnis zwischen Königtum und Priestertum in den Blick nimmt; Dohmen, Linda: Gegen die

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Polemiken vor allem gegen Judith charakterisiert. Sie gilt Agobard als die Urheberin alles Bösen und allen Übels – „auctrix vero malorum“118 ; „tocius mali causa“119 . Kindisch sei sie,120 hetze den Vater gegen seine Söhne [aus erster Ehe!, St. Fr.] auf.121 Vor allem aber sei sie voller Lüsternheit und eine Ehebrecherin.122 Weitere Ausfälle richten sich gegen ihre Schönheit123 und ihre fleischlichen Reize, durch die allein sie den Kaiser in ihren Bann geschlagen habe.124 Seine junge Gemahlin habe schändliche unsittliche Dinge begangen, zunächst im Verborgenen, dann ganz schamlos, wovon zunächst nur wenige gewusst hätten, danach mehrere, schließlich die meisten des Hofes und des Reiches und zu guter Letzt die ganze Welt. Sie habe das väterliche Ehebett befleckt, den Palast beschmutzt, das Reich in Unordnung gebracht und den Namen der Franken verdunkelt.125 Agobard geht noch einen Schritt weiter: Dass Judith nach der Niederschlagung des ersten Aufstands im Oktober 830 an den kaiserlichen Hof zurückkehren durfte, sei ein Werk des Teufels gewesen und habe gegen jedes Recht verstoßen.126 Agobard schäumt vor Wut und glüht regelrecht vor Hass. Seine Ausfälle gegen Judith sind gänzlich außergewöhnlich. Zu keiner Zeit war eine Königin/Kaiserin des Früh- und Hochmittelalters Gegenstand derartiger verbaler Angriffe. Einen Teil seiner Motive verrät Agobard selbst: Der Kaiser scherte sich nicht um die Meinung seines Ratgebers. Dessen Frustration war die Folge. Seine und seiner Kollegen Macht und Einfluss waren zugunsten Judiths beschnitten worden.127 Sensible Fragen der

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göttliche Vorsehung. Agobard von Lyon (gest. 840) und seine Apologie der beiden Aufstände gegen Kaiser Ludwig den Frommen 830 und 833, in: Das Mittelalter 20/1 (2015), S. 139–159. Liber apologeticus I, c. 2, S. 275. Liber apologeticus I, c. 2, S. 275. Liber apologeticus I, c. 5, S. 276: „[…] ludat pueriliter […].” Liber apologeticus I, c. 5, S. 276: „[…] non esse maius litigium, quam boni patris bonos filios irritare, exacebare, exhonorare et poenitus a patre alienare uelle.” Liber apologeticus I, c. 2, S. 275. Liber apologeticus I, c. 5, S. 276: „Fallax gratia, et vana est pulcritudo.” (Proverb. 31, 30). Liber apologeticus I c. 2, S. 275: „[…] per carnalium blandimenta […]”; c. 5, S. 276: „[…] quia propter solam pulcritudinem a viro inofficiose diligi fertur.” Liber apologeticus I, c. 2, S. 275: „[…] videntes maculatum stratum paternum, sordidatum palacium, confusum regnum et obscuratum nomen Francorum […].” Liber apologeticus II, c. 3, S. 277: „His ita transactis, inimicus omnis boni auctorque omnis mali, qui non reliquerat corda possessa, sategit instaurare et redintegrare malum suum; et regina, quae mutato habitu regali putabatur perdurare in habitu sanctimoniali, sicut ordo poscebat et rectitudo indicii docebat, reducta est in palacium, et assumpta in consorcium quasi legitima coniux, quod esse iam nullatenus poterat.” Liber apologeticus I, c. 2, S. 275: „[…] prelata consiliis et consiliariis […].” – Vgl. dazu bereits Depreux: Prosopographie, S. 285, Anm. 61, der davon spricht, dass Judiths Meinung sowohl derjenigen der Ratgeber (consiliarii) als auch derjenigen größerer Versammlungen (consilii) vorgezogen worden sei. Vgl. dazu auch Dohmen, Linda: ... evertit palatium, destruxit consilium ... – Konflik-

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Rangordnung und der Mächteverhältnisse am Hof waren in einer Agobards Rolle schmälernden Weise zugunsten Judiths beantwortet worden.128 Dass Agobard trotz dieser Ausfälle etwa in der Mitte des Jahres 839 in sein erzbischöfliches Amt zurückkehren durfte, mutet merkwürdig an. Doch Ludwig hegte nach dem Tod seines Sohnes Pippin den Wunsch nach einer Aussöhnung mit Lothar unter Einbeziehung seiner einstigen Gegner, die zugleich auch das Erbe Karls sichern sollte.129 Im frühen 10. Jahrhundert urteilte dann schließlich Regino von Prüm († 915) in seiner um 907 verfassten Weltchronik apodiktisch: „Diese Absetzung [i. e. Ludwigs des Frommen im Jahre 838, St. Fr.] erfolgte hauptsächlich wegen der vielfältigen Hurerei seiner Gemahlin Judith – propter multimodam fornicationem Iudith uxoris eius.“130 Das Urteil über Judith hatte sich offenbar verfestigt und fand in dieser negativen Form später Eingang in die deutsche Geschichtswissenschaft.131 Allein der Umstand, dass Judith eine derart große Aufmerksamkeit erfahren hat, spricht für sich. Für keine Gemahlin eines karolingischen Herrschers vorher oder nachher ist Vergleichbares zu beobachten und mit den Frauen der Ottonen und Salier verhält es sich nicht anders. Stellt man die Aussagen über Judith nebeneinander, macht man also den ‚Quellencheck‘, so ist gegenüber der bisherigen Sicht festzuhalten: Nur die allerwenigsten Autoren machen Judith für die Probleme der Herrschaft Ludwigs des Frommen direkt verantwortlich. Viele aber sahen, dass sie durchaus großen Einfluss auf ihn und seine Herrschaft hatte. Und zuletzt: Die Variationsbreite der Aussagen ist ausgesprochen vielfältig. Neutrale Beobachter,

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te im und um den Rat des Herrschers am Beispiel der Auseinandersetzungen am Hof Ludwigs des Frommen (830/31), in: Matthias Becher/Alheydis Plassmann (Hg.), Streit am Hof im frühen Mittelalter, Bonn 2011, S. 285–316. – In eine ganz ähnliche Richtung zielt die Fortsetzung c. 2, S. 275: „[…] cuius instigacionibus mutata est mens rectoris, et cepit duris cornibus ventilare filios et conturbare populos.“ Das bedeutet jedoch nicht, dass es Agobard nicht auch um die Wahrung der Ordinatio Imperii gegangen wäre. Dafür spricht die um 829/830 verfasste Flebilis epistola de divisione imperii Francorum inter filios Ludovici imperatoris. Ediert in: MGH Epistolae 5, Nr. 15, S. 223–226, in der Agobard den Kaiser zu deren Einhaltung aufgefordert hatte. Vgl. dazu Koch: Kaiserin Judith, S. 16; Boshof: Agobard, S. 38–41 und 200–205. Vgl. dazu Boshof: Ludwig der Fromme, S. 240–243; Ders.: Agobard, S. 305. Reginonis abbatis Prumiensis Chronicon cum continuatione Treverensi, hg. v. Friedrich Kurze (MGH Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 50), Hannover 1890, S. 74. – Zu Regino von Prüm vgl. Hartmann, Wilfried: Regino von Prüm, in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 269f. Es wäre eine lohnende Aufgabe, dem Judith-Bild im deutschsprachigen Bereich für die Frühe Neuzeit und das 19. Jahrhundert nachzuspüren und es mit den Einschätzungen in Frankreich zu vergleichen, doch dies kann im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden.

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glühende Bewunderer und vehemente Feinde. An Judith schieden sich bereits zu Lebzeiten die Geister. Doch: Es ist eine von Männern und beinahe ausnahmslos Geistlichen dominierte Perspektive!

Der betörte Ludwig, Eva und die Folgen – ‚Motivcheck‘ Klug, mächtig, schön – auf diesen Dreiklang möchte ich die Resultate des Quellenchecks zuspitzend zusammenfassen. Judiths Bildung und ihre permanente Nähe zu Ludwig und damit zur Macht ließen sie in einem männerdominierten Beraterkreis zu einem einflussreichen Faktor werden. Ihre Schönheit tat ein Übriges. Sie mag das eigentliche Motiv für das mehrfache Vorgehen gegen die Kaiserin gewesen sein. Denn eines fällt auf: Keiner der über Judith schreibenden Autoren macht sie explizit für die Veränderung der Bestimmungen der Ordinatio Imperii verantwortlich. Die einzige Ausnahme bildet Agobard von Lyon. Seine Klage über den von schönen Frauen angerichteten Schaden mag nochmals den Weg weisen, wenn abschließend nach möglichen Erklärungen gefragt wird, warum Judith in Teilen eine derartige Ablehnung, ja regelrechter Hass entgegenschlug. Beschritten sei hierzu ein von der Mediävistik nur selten eingeschlagener Weg oder vielmehr Pfad – der der sogenannten Psychohistorie. Darunter versteht man den Versuch, das Verhalten von Menschen, insbesondere die sich dahinter verbergenden Motivationen, mit modernen psychologischen Erklärungen zu analysieren und verständlich zu machen. Dieser Ansatz stößt insbesondere für die Zeit des Mittelalters zumeist auf Ablehnung und wird häufig als anachronistisch bezeichnet.132 Dennoch – Beiträge zu Festschriften bieten eine gewisse Freiheit – sei diese Methode hier in Teilen angewandt, um weitere mögliche Erklärungen für die Judith zuteilwerdenden Reaktionen aufzuzeigen. Schön, willensstark, durchsetzungsfähig und allein dadurch unbequem. Das alles traf sicherlich auf Judith zu. Schwachen Männern oder solchen, die sich vor unerfüllter und unerfüllbarer Lust verzehrten und ihrer Anwandlungen nicht Herr zu werden wussten, waren solche Frauen ein Feindbild, das es zu eliminieren galt. Die Geschichte ist voll von Beispielen dafür. Judith entspricht dem Typus vieler in den Hexenverfolgungen zu Tode gekommener Frauen.133 Und auch heutzutage sind

132 Zur Psychohistorie vgl. Röckelein, Hedwig: Psychohistorie und Mediävistik, in: Hans-Werner Goetz (Hg.), Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt 1999, S. 288–299; deMause, Lloyd: Was ist Psychohistorie? Eine Grundlegung, Gießen 2000. 133 Insbesondere im Zusammenhang mit den Ereignissen des Jahres 833 wurde in der Darstellung des Paschasius Radbertus gegenüber Bernhard von Septimanien explizit, gegenüber Judith implizit der

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derartige Verhaltensmuster – sie laufen in der Gegenwart subtiler ab, das immerhin! – anzutreffen: ‚Kleine‘ Männer und große Frauen – das knirscht mitunter. Die dafür gebotenen psychologischen Erklärungsansätze sind vielfältig und mitunter umstritten, sei’s drum: Der österreichische Arzt, Psychologe und Psychotherapeut Alfred Adler (1870–1937), der als Begründer der Individualpsychologie in Europa gilt, also dem Versuch, Menschen und menschliches Verhalten aus ihrer individuellen, durch zahlreiche unterschiedliche Einflüsse geprägten Lebensgeschichte zu verstehen, hat dafür den Begriff „Napoleon-Komplex“ geprägt. Aggressives Verhalten – auch gegenüber Frauen – ist für ihn Folge eines Minderwertigkeitskomplexes.134 In eine ähnliche Richtung, wenngleich aus anderer Perspektive abgeleitet, zielt die Erklärung derartigen Verhaltens als „psychologische Reaktanz“. Der Begriff wurde geprägt von Jack W. Brehm (1928–2009) und anderen.135 Demzufolge werden Aggression und Aggressivität ausgelöst durch zeitunabhängige, weil im limbischen System des Menschen verankerte Verhaltensmuster. Brehm war der Auffassung, dass insbesondere die sogenannte emotionale Aggression durch äußere Reize ausgelöst werde. Brehm zufolge wirken kulturgeschichtliche und physiologische Faktoren wie Hormone bei der Entstehung von Aggressionen zusammen. Gemäß der Frustrations-Aggressions-Hypothese der amerikanischen

Vorwurf erhoben, am Hofe Zauberei ausgeübt und den Herrscher durch Liebestränke verwirrt zu haben. Bernhards Schwester Gerberga wurde im Jahre 834 wegen angeblicher Giftmischerei sogar in einem Weinfass in einem Fluss ertränkt. Vgl. dazu Koch: Kaiserin Judith, S. 111 (mit allen Quellenbelegen). – Einen psychohistorischen Zugang zum Phänomen der Hexenverfolgungen bietet Jerouschek, Günther: Heinrich Kramer – Zur Psychologie des Hexenjägers. Überlegungen zur Herkunft des Messers, mit dem der Mord begangen wurde, in: Günther Mensching (Hg.), Gewalt und ihre Legitimation im Mittelalter. Symposion des Philosophischen Seminars der Universität Hannover vom 26. bis 28. Februar 2002, Würzburg 2003, S. 113–137, bes. S. 113–118. – Zu Hexerei und Zauberei vgl. generell die zahlreichen Arbeiten der Jubilarin: Labouvie, Eva: Geschlechtsspezifische Aspekte in Hexenglauben und Volksmagie, in: Ringvorlesungen der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Bd. 6 (Sommersemester 1995 – Wintersemester 1996/97), Mainz 1997, S. 62–74; Dies.: Männer im Hexenprozess. Zur Sozialanthropologie eines ‚männlichen‘ Verständnisses von Hexerei, in: Claudia Opitz (Hg.), Der Hexenstreit. Frauen in der frühneuzeitlichen Hexenverfolgung, Freiburg/Basel/Wien 1995, S. 211–245; Dies.: Die Geburt einer Hexe. Aspekte von Ausgrenzung und Verfolgung nach einer dörflichen ‚sozialen Logik‘, in: Kriminologisches Journal, 5. Beiheft: Geschlechterverhältnis und Kriminologie (1995), S. 192–207; Dies.: Hexenspuk und Hexenabwehr. Volksmagie und volkstümlicher Hexenglaube, in: Richard van Dülmen (Hg.), Hexenwelten. Magie und Imagination vom 16.–20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1987, S. 49–73; Dies.: Zauberei und Hexenwerk. Ländlicher Hexenglaube in der frühen Neuzeit, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1993 (Erstauflage 1991). 134 Adler, Alfred: Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie, Wiesbaden 1912. 135 Brehm, Jack W.: Theory of Psychological Reactance, New York 1966. – Vgl. dazu, eingebettet in einen breiteren Überblick Schwarzer, Ralf: Streß, Angst und Handlungsregulation, 4. Aufl., Stuttgart 2000, S. 166–173.

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Psychologen John S. Dollard (1900–1980) und Neal E. Miller (1909–2002) kann auch Frustration als Aggressionsauslöser wirken.136 Arbeitete Dollard aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive heraus, so ging Millers Ansatz von neurophysiologischen Faktoren aus. Beiden zufolge sind Aggressionen das Resultat von Frustrationen unterschiedlicher Intensität und Dauer. Ihrer Auffassung nach müssen sich Aggressionen nicht zwingend körperlich ausdrücken, sondern können das genauso in versteckter Form tun, vor allem wenn hemmende Faktoren eine Rolle spielen. Sie sprechen in diesen Fällen von ‚Aggressionsverschiebung‘. Abgewandelt und auf Judith übertragen wäre ihre Stellung als Kaiserin zweifellos ein derart hemmender Faktor, der unmittelbare Aggressionen gegen sie unmöglich machte. Die Attacken gegen Bernhard von Barcelona wären als Handeln gegen ein Ersatzobjekt im Sinne der Dollard-Miller’schen Theorie zu interpretieren. Doch auch der Versuch, Judith vom Kaiser zu entfernen und in ein Kloster zu stecken, wäre demzufolge als Aggressionsverschiebung anzusprechen. Dass diese Versuche mehrmals gescheitert sind, könnte wiederum erklären, warum die Reaktionen auf Judith im Laufe der Zeit heftiger wurden und sich zum Beispiel Agobards Frustration in den zitierten verbalen Angriffen auf Judith Luft verschaffte. In eine andere Richtung, die aber letztlich zu ähnlichen Resultaten führen könnte, argumentierte der österreichische Biologe, Medizinnobelpreisträger und, aufgrund seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus sowie seines Festhaltens an evolutionsbiologischen Positionen allerdings höchst umstrittene, Verhaltensforscher Konrad Lorenz (1903–1989).137 Lorenz’ an Tieren getätigten Beobachtungen zufolge gibt es einen sogenannten Aggressions-Instinkt, welcher der Aufrechterhaltung von Rangordnungen diene.138 Dabei wirken äußere Reize und innere, angeborene Faktoren zusammen. Lorenz hat zahlreiche seiner Beobachtungen relativ unkritisch auf menschliche Verhaltensmuster übertragen und wurde für diesen Anthropomorphismus heftig kritisiert. Dennoch lohnt es, sein Erklärungsmodell für Judith zu reflektieren: Ihre Eheschließung mit Ludwig dem Frommen und ihr Einfluss auf den Kaiser hatten eine nachhaltige Veränderung innerhalb des kaiserlichen Beratergremiums zur Folge. Eine neue Rangordnung entstand. Die bislang eine führende Rolle einnehmenden Personen, sahen sich nun herabgesetzt und bedroht (frustriert!) und setzten sich

136 Dollard, John u. a: Frustration and Aggression, New Haven 1939. – Zur sogenannten Aggressionsverschiebung vgl. Miller, Neal E.: Experimental Studies of Conflict Behavior, in: Joseph McVicker Hunt (Hg.), Personality and Behavior Disorders, New York 1944, S. 431–465. 137 Vgl. dazu Föger, Benedikt/Taschwer, Klaus: Die andere Seite des Spiegels. Konrad Lorenz und der Nationalsozialismus, Wien 2001; Deichmann, Ute: Biologen unter Hitler. Vertreibung, Karrieren, Forschung. Vorwort von Benno Müller-Hill, Frankfurt am Main/New York 1992; überarbeitete und erw. Aufl.; Dies.: Biologen unter Hitler. Portrait einer Wissenschaft im NS-Staat, Frankfurt am Main 1995. 138 Lorenz, Konrad: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, Wien 1963.

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dagegen zur Wehr. Dies wiederum führte zu den von Lorenz für die Tierwelt beobachteten Behauptungskämpfen.139 Überträgt man diese Ansätze auf Judith, so waren ihre – hormonelle Reaktionen auslösende – Schönheit ebenso wie die von ihr eingenommene Rolle innerhalb einer traditionell männerdominierten Umgebung die impulsgebenden Auslöser. Zudem bedeuteten ihre Klugheit und Bildung einen Angriff auf die Rangordnung bei Hof. All dies zusammen bedingte eine Frustration der Kleriker in mehrfacher Hinsicht: Unerfüllte Sexualität und zugleich Beschneidung ihres Einflusses auf Ludwig in Verbindung mit einem Eindringen Judiths in deren Bildungsmonopol. Kulturgeschichtlich-theologische Faktoren taten ein Übriges – die kirchliche Lehre von der Erbsünde und die damit einhergehende Diffamierung von Frauen als lüstern. Aus dieser Perspektive war Judith die ‚klassische‘ Eva! Eva wurde in der theologischen Lehre – ausgehend von der Schilderung ihrer Erschaffung aus der Rippe Adams im biblischen Schöpfungsbericht (Genesis 1,27) – das lüsterne Weib und damit das Gegenbild zur jungfräulichen Gottesmutter Maria. Eva ließ sich von der Schlange – dem Sinnbild des Teufels – dazu überreden, eine Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen. Adam tat es ihr gleich. Der Schritt galt als Ungehorsam gegenüber Gott und hatte die Vertreibung beider aus dem Paradies zu Folge. Dieser Sündenfall war die Ursache der vom Apostel Paulus entwickelten theologischen Vorstellung von der Erbsünde.140 Zugleich stand Eva sinnbildlich für die Unterordnung des Weibes unter den Mann – sie befinde sich ihm gegenüber in einem status subiectionis. Auch hiergegen verstieß Judiths selbstbewusstes, in die Politik ihres Mannes (und anderer Männer!) eingreifendes Verhalten. In der weiteren theologischen Diskussion, insbesondere im Hochmittelalter, die schon bald ihren Niederschlag in der Kunst fand, wurde Eva dann zugleich als starke Frau gesehen und dargestellt, als Urmutter der Menschheit und als gottgegebene Begleiterin Adams.141 Letzteres bildete den Hintergrund der seit der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts anzutreffenden Vorstellung vom consortium regni, einer Teilhabe der Frau an der Königsherrschaft.142 Auf Judith trifft auch das zu – avant la lettre.

139 Zum Gesamtkomplex, aber auch zur Lehre von Konrad Lorenz vgl. Wahl, Klaus: Aggression und Gewalt. Ein biologischer, psychologischer und sozialwissenschaftlicher Überblick, Heidelberg 2012. 140 Stickelbroeck, Michael: Urstand, Fall und Erbsünde in der nachaugustinischen Ära bis zum Beginn der Scholastik. Die lateinische Theologie, Freiburg 2007. 141 Vgl. dazu Flasch, Kurt: Eva und Adam. Wandlungen eines Mythos, München 2004. 142 Vgl. dazu Erkens, Franz-Reiner: Consortium regni – consecratio – sanctitas: Aspekte des Königinnentums im ottonisch-salischen Reich, in: Stefanie Dick/Jörg Jarnut/Matthias Wemhoff (Hg.), Kunigunde – consors regni. Vortragsreihe zum tausendjährigen Jubiläum der Krönung Kunigundes in Paderborn (1002 – 2002), München 2004, S. 71–82; Ders.: ‚Sicut Esther regina‘. Die westfränkische Königin als consors regni, in: Francia 20 (1993), S. 15–38, hier ab S. 18. Erkens stützt sich dabei auf die grundlegende Untersuchung von Vogelsang, Thilo: Die Frau als Herrscherin im hohen Mittelalter. Studien zur „consors regni“ Formel, Göttingen 1954.

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Das Mittel, dessen man sich beim Vorgehen gegen Judith bediente, zählt zum gewissermaßen klassischen Repertoire – es ist der Vorwurf des Ehebruchs.143 Derartige Vorwürfe wurden später – legendarisch – gegenüber Kaiserin Kunigunde († 1033) erhoben, die sich durch einen Gang über glühende Pflugschare davon befreien musste.144 Und auch die Kaiserinwitwe Agnes musste sich derartiger Anschuldigungen erwehren, zu einem Zeitpunkt, als sie die Regentschaft für ihren unmündigen Sohn innehatte – zum Ärger Erzbischof Annos von Köln.145 Am Schlimmsten trieb es jedoch Heinrich IV. beim Versuch, sich seiner ungeliebten Ehefrau Bertha zu entledigen. Ein gedungener Liebhaber sollte ihm den Vorwand dazu liefern – zumindest stellt dies Bruno in seinem Buch vom Sachsenkrieg so dar. Heinrich IV. bezog dafür doppelt Prügel: Im wörtlichen Sinne, wurde sein Vorhaben doch entlarvt und er als Eindringling ins Gemach seiner vermeintlich unwissenden Ehefrau durchgeknüppelt.146 Aber auch im übertragenen Sinne, denn sein Scheidungsvorhaben scheiterte, und er musste fortan die Last des Kinderzeugens mit seiner Frau

143 Vgl. dazu Dohmen, Linda: Die Ursache allen Übels. Untersuchungen zu den Unzuchtsvorwürfen gegen die Gemahlinnen der Karolinger, Ostfildern 2017. – Nach Bührer-Thierry, Geneviève: La Reine adultère, in: Cahiers de civilisation médiévale 35 (1992), S. 299–312 (im Vergleich mit anderen Herrscherinnen, gegen die ähnliche Vorwürfe erhoben worden sind), S. 312, diente der Fall Judith – Bernhard dabei als Vorbild. – Zu dem gegenüber Judith, der Gemahlin Heinrichs des Zänkers, erhobenen Verdacht, nach dessen Tod ein Verhältnis mit dem Freisinger Bischof Abraham gehabt zu haben, vgl. Freund, Stephan: A Wicht schreibt Gschicht, in: Michael Belitz u. a. (Hg.), Thietmar von Merseburg zwischen Pfalzen, Burgen und Federkiel, Regensburg 2021, S. 9–36, hier S. 23. 144 Vgl. dazu die älteste Darstellung der Pflugscharprobe in der Handschrift Bamberg, Staatsbibliothek, R. B. Msc. 120, fol. 32v, entstanden um 1200/1220, abgebildet in: Matthias Wemhoff (Hg.), Kunigunde – empfange die Krone, Paderborn 2002, S. 84. Die Darstellung zeigt Kunigundes Gang über glühende Pflugschare – gerahmt von die Zeremonie überwachenden Klerikern (!). – Vgl. dazu auch: Steinhoff, Hans-Hugo: Epilog: Legenden um Kunigunde, in: ebd., S. 85–92, hier S. 85f. – Vgl. dazu in größerem Kontext Blümle, Claudia: Wunder oder Wissen. Formen juridischer Zeugenschaft in der Eidesleistung von Derick Baegert, in: Wolfram Drews/Heike Schlie (Hg.), Zeugnis und Zeugenschaft. Perspektiven der Vormoderne, München 2011, S. 33–52, hier S. 34f. 145 Vgl. Lampert von Hersfeld, Annalen/Lamperti monachi Hersfeldensis Opera, hg. v. Oswald HolderEgger (MGH SS rer. Germ. 38), Hannover/Leipzig 1894, S. 79f. Agnes’ bevorzugter Ratgeber war Bischof Heinrich von Augsburg. Die Fürsten des Reiches, namentlich Erzbischof Anno von Köln, setzten daraufhin das Gerücht in Umlauf, ein so vertrauliches Verhältnis sei nicht ohne unsittlichen Verkehr erwachsen. Kurz danach brachte der Kölner den unmündigen Heinrich IV. im sogenannten Staatsstreich von Kaiserswerth in seine Gewalt. Agnes zog sich vom weltlichen Leben zurück. Vgl. dazu Struve, Tilman: Lampert von Hersfeld, der Königsraub von Kaiserswerth im Jahre 1062 und die Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Kulturgeschichte 88 (2006), S. 251–278; Black-Veldtrup, Mechthild: Kaiserin Agnes (1043–1077). Quellenkritische Studien, Köln u. a. 1995. 146 Brunonis Saxonicum bellum. Brunos Sachsenkrieg. Übersetzt von Franz-Josef Schmale, in: Quellen zur Geschichte Kaiser Heinrichs IV., Darmstadt 1968, S. 191–405, hier c. 6–8, S. 200–203.

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auf sich nehmen, dabei hatte er doch öffentlich gelobt, sie niemals anzurühren.147 Erneut werden hier männerdominierte, klerikale Perspektiven sichtbar. Die Muster waren immer die gleichen. Deren Wirksamkeit aber zweifelhaft. Judith befand sich mehrmals in derartigen Zwangslagen. Einzig ihr kaiserlicher Status rettete sie. Stellt man die einzelnen Quellenaussagen über sie nebeneinander, ergeben sich neue, von der Forschung bislang nicht berücksichtigte Einsichten. Dass Judith umstritten war, ist allen Aussagen zu entnehmen. Die Gründe dafür sind vielschichtig und hatten wohl tiefer liegende Motive: Die Sorge um den Zustand des Reiches ist den einzelnen Autoren gewiss nicht abzusprechen. Dennoch ging es ihnen wohl weniger um die von der Forschung vielfach postulierte Wahrung der Reichseinheit, deren Konstruktcharakter seit geraumer Zeit zu Recht betont wird,148 sondern vielmehr um konkrete Machtverhältnisse. Judiths Position am Hof war stark, Ludwigs Vertrauen in seine Frau groß. Rangfragen und Konkurrenzdenken, Unzufriedenheit und Frustration, Eifersüchteleien und Ränkespiele waren die Folge. Dies alles – möglicherweise in Verbindung mit unerfülltem erotischen Verlangen149 – ließ Judith zur Zielscheibe verbaler und tatsächlicher Angriffe werden. Die Unzufriedenheit von Ludwigs Söhnen aus der ersten Ehe über die Beteiligung ihres Halbbruders am väterlichen Erbe tat ein Übriges und bot den willkommenen Anlass zum Vorgehen gegen die schöne und im doppelten Sinne ‚unantastbare‘ Judith. Sie war das eigentliche Ziel, nicht wie mitunter angenommen, Ludwig, den man nicht anzugreifen gewagt habe.150 Die bisherige Sicht auf Judith

147 Vgl. dazu die Annalen Lamperts von Hersfeld zum Jahre 1069, S. 109–111. – Vgl. dazu Freund, Stephan: Das Reich im Aufruhr. Der historische Kontext der Schlacht am Welfesholz, in: 900 Jahre Schlacht am Welfesholz, Teutschenthal 2015, S. 15–29, hier S. 16 mit Anm. 13 (mit weiterer Literatur). – Vgl. dazu generell: Becher, Matthias: Luxuria, libido und adulterium. Kritik am Herrscher und seiner Gemahlin im Spiegel der zeitgenössischen Historiographie (6. bis 11. Jahrhundert), in: Gerd Althoff (Hg.), Heinrich IV, Ostfildern 2009, S. 41–71. 148 Vgl. Patzold: „loyale Palastrebellion“. 149 Die Abschätzigkeit, mit der Agobard von Lyon über Judiths körperliche Reize schreibt, mittels derer sie die Rückkehr an die Seite Ludwigs des Frommen erreicht habe, ist ein klarer Hinweis in diese Richtung. Siehe dazu oben Anm. 123. 150 Die hier vorgetragene Sicht wird durch die zeitgenössischen Annales Mettenses gestützt. Dort heißt es zum Jahre 830, S. 96: „Pro quo quidem filiastri eius atque aliqui ex optimatibus eis coniuncti odio ducebant prefixam imperatricem atque suum iam dictum parvulum filium, timentes quoque, ne in regno patris heres succederet.“ – Vgl. dazu generell Koch: Kaiserin Judith, S. 15. Dieser sieht zwar zutreffend, dass die späteren Quellen die Bedeutung der Ordinatio Imperii „herunterzuspielen“ versuchen, zieht daraus aber die falschen Schlüsse, wonach es „spätestens ab Ende der 820er nicht mehr opportun [gewesen sei], an die ordinatio zu erinnern.“ Anzunehmen ist vielmehr die einfachere Erklärung, dass der Anspruch des 817 gefassten Beschlusses von der Forschung schlichtweg zu hoch veranschlagt wurde. Auch Kochs Annahme (S. 110), Judith und Bernhard seien „Stellvertreteropfer“ Paschasius’ und Agobards gewesen, weil diese es nicht gewagt hätten,

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bedarf in mehrfacher Hinsicht einer Relativierung. Judiths Beispiel zeigt aber auch: Ein kritischer Umgang mit traditionellen Rollenbildern tut ebenso dringend not wie die aktuellen Debatten der Gegenwart. Noch immer gibt es viel zu tun: Für die Forschung, aber auch für unser tägliches Miteinander. Die konsequente Einnahme einer gendergerechten Perspektive vermag auch für weit zurückliegende Zeiten neue und zeitgemäße Erkenntnisse zu zeitigen, und sie vermag uns zugleich dafür zu sensibilisieren, dass wir in unserer Entwicklung noch gar nicht so weit sind, wie wir sein sollten. Hatte zu Beginn der Judith-Feind Agobard von Lyon das Wort, so soll dies ganz zuletzt Hrabanus Maurus übertragen werden: Große Augen, lange Wimpern, eine schmale, fein ziselierte Nase, zarte Lippen und ein ebenmäßiges, ovales Gesicht als Ganzes. So hat der berühmte Fuldaer Gelehrte Judith in seinem Kommentar zum Buch Judith in einem kleinen, in ein Figurengedicht eingefügten Medaillon darstellen lassen151 – die einzige Abbildung einer karolingischen Königin überhaupt. Den Gepflogenheiten der Zeit folgend handelt es sich freilich nicht um ein Portrait, sondern um eine stilisierte Darstellung. Doch im Rahmen eines Beitrags zur EvaFestschrift ist dies eine akademische Betrachtungsweise, weshalb mit Hraban – und hierin stimmen alle Autoren überein – nochmals festgehalten sei: Judith war eine schöne Frau!

den Kaiser direkt anzugreifen, geht in die Irre. Ebenso seine S. 147 geäußerte Einschätzung, „Über Judith sollte Ludwig als der Kaiser disqualifiziert werden.“ 151 Hrabanus Maurus, Kommentar zu den Büchern Judith, Esther und der Makkabäer, Reims, um 830. Genf, Bibliothèque de la Ville, Ms 22, fol. 3v, 280 x 210 Millimeter. Eine Abbildung sowie weitere Angaben dazu finden sich bei Schramm, Percy Ernst: Denkmale der deutschen Könige und Kaiser, Bd. 1: Schramm, Percy Ernst/Mütherich, Florentine: Ein Beitrag zur Herrschergeschichte von Karl dem Großen bis Friedrich II. 768–1250, München 1962, S. 159f. Nr. 17. Über dem gekrönten Frauenantlitz befindet sich die Hand Gottes. Dessen Schutz wird für Judith durch eine Inschrift erbeten. Bei Koch: Kaiserin Judith dient die Abbildung als Titelbild des Werks, ebd., S. 122 und 125 zur Darstellung. – Die Fertigstellung des Beitrags erfolgte am 8. März 2021, dem Weltfrauentag.

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Blitz, Donner – und Gott Furcht und Ehrfurcht im 18. Jahrhundert „Gefühle sind nicht nur geschichtsmächtig, sondern auch […] geschichtsträchtig. Sie machen nicht nur Geschichte, sie haben auch eine. Sie sind keine anthropologischen Konstanten, sondern verändern sich in Ausdruck, Objekt und Bewertung.“1 Bereits 2009 hat Ute Frevert deutlich gemacht, dass Gefühle nicht ahistorisch sind. Auch wenn es starke und damit fast zeitlose Emotionen (Wut, Angst, Liebe, Freude)2 gibt, könnten Gefühle als solche sowie der Stellenwert, den sie jeweils in einer Gesellschaft hätten, nicht ohne den Kontext, die Kommunikation und ihre Interpretation verstanden werden.3 Mit Blick auf die Furcht in der Frühen Neuzeit hat Andreas Bähr entlang dieser Linie präzisiert, dass sich eine wenig hilfreiche „Anthropologisierung und Essentialisierung“ von Gefühlen nur umgehen ließe, wenn selbige nicht als „Phänomen“ untersucht, sondern vielmehr die „Begriffe, die diese Phänomene beschreiben sollen“, in den Mittelpunkt gerückt würden.4 Ausgehend von diesen Setzungen geht es im Folgenden darum, die Rede von Gefühlen in ihrer Abhängigkeit von Welt- und Gottesbildern, Erkenntnisfortschritt und Kommunikation zu erkennen und zu zeigen, wie sehr sich dabei gerade in Zeiten des Umbruchs Narrative überlappen konnten und Diskurse forciert wurden. Dazu wird der Blick auf die Rede von der Gewitterfurcht im 18. Jahrhundert gerichtet. Hier geht es sowohl um die Rede von einer starken Emotion (Furcht) als auch mit dem Gewitter um ein beeindruckendes und deshalb furchterregendes Ereignis.

1 Frevert, Ute: Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 183–208, hier S. 202. 2 Vgl. zu Angst und Furcht als evolutionäres Erbe Eibl, Karl: Von der biologischen Furcht zur literarischen Angst. Ein Vertikalschnitt, in: KulturPoetik 12 (2012), S. 155–186, hier S. 157–165. Zu Angst/ Furcht als Basisemotion vgl. Flemming, Felix: Die Ängste der Wähler, Wiesbaden 2020, S. 13–22. 3 Schon die Frage nach der Emotion eröffnet ein weites Forschungsfeld, das jüngst – mit Blick auf die bis dato geleistete Forschung – abgeschritten wurde etwa von Plamper, Jan: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012, S. 20–50; Hitzer, Bettina: Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen, in: H-Soz-Kult 23. November 2011, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ forum/2011-11-001 [abgerufen am: 2. Juni 2021]. 4 Bähr, Andreas: Die Furcht der Frühen Neuzeit, in: Historische Anthropologie 16 (2008), S. 291–309, hier S. 307. Dass dies ein anspruchsvolles Unterfangen ist, hat Jean Delumeau deutlich formuliert: „Nichts ist schwieriger, als die Angst analysieren zu wollen.“ Delumeau, Jean: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 25.

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Dabei lassen sich unterschiedliche, aber immer deutlich akzentuierte und zugleich explizit konkurrierende Vorstellungen von Furcht verdichtet nachzeichnen, die mit unterschiedlichen Welt- und Gottesbildern korrespondierten. Das heißt: Das 18. Jahrhundert ist sowohl von einer zeitbezogenen als auch von einer hochgradig dynamischen Rede von Furcht gekennzeichnet, die bei aller Unschärfe zwei Pole hatte, die in einem interdependenten und zugleich reziproken Verhältnis standen: die Rede von der „knechtischen Furcht“, die sich auf den strafenden Gott richtete, und die sich erst etablierende, aber wirkmächtige Rede von der „kindlichen Furcht“5 , die Gott als liebend beschrieb. Im Kontext eines neuen Weltverständnisses (rationales Weltbild und neue Erkenntnisse etwa über Elektrizität) und vor dem Hintergrund eines neuen Selbstverständnisses des Menschen (optimistische Vorstellung von der Denk- und Handlungsfähigkeit sowie von Vernunft und Tugendhaftigkeit des Menschen) entstand dann ein Diskurs, in dem sowohl die Rede von der unbeherrschbaren Angst als auch die Rationalisierung von Furcht Platz hatten.6 Die facettenreiche Rede von der Gewitterfurcht wurde im 18. Jahrhundert primär in protestantischen Traktaten und Wetterpredigten geführt.7 Eingebettet in diese war immer auch die Auseinandersetzung mit volksfrommen – in den Quellen wahlweise als katholisch oder abergläubisch gebrandmarkten – Weisen, der Gewitterfurcht zu begegnen. Zudem stellte die Erfindung des Blitzableiters, des „Wetterleiters“8 , die Benjamin Franklin zugeschrieben wurde, zumindest in der Rede von der Gewitterfurcht eine Zäsur dar. In der sozialen Praxis war jedoch deutlich mehr Überzeugungsarbeit erforderlich, hier konnte sich der Blitzableiter erst langsam gegen das Wetterläuten, das Anrufen von Heiligen, Donnerkeile und Gewitterkerzen durchsetzen.9

5 Zu dem Begriffspaar vgl. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 11. Halle/Leipzig 1735, Sp. 392–394, hier Sp. 393. 6 Dadurch ist die Angst nicht abgeschafft worden, sondern zur wachsenden ‚inneren Angst‘ geworden. Vgl. Kittsteiner, Heinz Dieter: Die Angst in der Geschichte und die Re-Personalisierung des Feindes, in: Sabine Eickenrodt/Stephan Porombka/Susanne Scharnowski (Hg.), Übersetzen, Übertragen, Überreden, Würzburg 1999, S. 145–162, hier S. 151. 7 Doch nicht nur in Traktaten und Predigten wurde über das Gewitter reflektiert. Das geschah auch in Wetterliedern, die hier aber nicht weiter berücksichtigt werden. Vgl. Bernd-Brinkmann, Anne: Wetterlieder im 17. und 18. Jahrhundert, in: Lied und populäre Kultur 45 (2000), S. 89–108. Vgl. auch Johnston, Sky Michael: Printing the Weather. Knowledge, Nature, and Popular Culture in Two Sixteenth-Century German Weather Books, in: Renaissance Quarterly 73 (2020), S. 391–440. 8 Vgl. als eine der zahlreichen Verteidigungen des Blitzableiters Busse, Friedrich Gottlieb von: Beruhigung über die neuen Wetterleiter, Leipzig 1791 [VD18 1137943]. 9 Vgl. Begemann, Christian: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1987, S. 76f. Zur zeitgenössischen Auseinandersetzung mit diesen Praktiken vgl. Fischer, Johann Nepomuck: Beweiß, daß das

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Um die Momente der Überlappung im facettenreichen Diskurs zur Gewitterfurcht deutlich zu machen, ist nach der Differenzierung zwischen Furcht und Angst die Rede von der „knechtischen Furcht“ in den Blick zu nehmen, bevor anschließend das Verhältnis von dieser zur Rede von der „kindlichen Furcht“ in den Mittelpunkt rückt.

Furcht – und nicht Angst In der Rede von der Gewitterfurcht ist Angst im 18. Jahrhundert kein ausdifferenzierter Begriff. Entsprechend schmal ist der Eintrag in Zedlers Universallexikon von 1732, der Angst nur als „Grad der Furcht“10 beschreibt. Furcht war also der eigentliche Begriff, um diese starke Emotion zu beschreiben. Hierbei wurde zwischen „vernünftiger“ und „unvernünftiger“ Furcht unterschieden.11 „Vernünftige“ Furcht, so Zedler, zeichne sich dadurch aus, sich ein Bild von der Sache zu machen, um dann die Mittel zu ergreifen, „die in unserer Gewalt sind“, um der Furcht erfolgreich zu begegnen.12 Jean Delumeau hat diese Spur aufgenommen und weiterführend festgehalten: „Die Furcht wird von etwas Bestimmtem hervorgerufen, dem man entgegentreten kann. Die Angst hingegen ist die schmerzhafte Erwartung einer Gefahr, die umso beunruhigender ist, als man sie nicht genau definieren kann: Sie ist ein Gefühl allgemeiner Unsicherheit.“13 Das heißt: Angst steht nun für den bei Zedler benannten „großen Grad der Furcht“14 , der dafür sorgt, sich einer Situation ausgeliefert zu erleben. Furcht indes, so Delumeau, erlaube es, Handlungsspielräume zu gewinnen und so die als bedrohlich empfundene Situation aus eigener Kraft zu bewältigen.15 Diese Differenzierung hat Delumeau bei Sören Kirkegaard entlehnt – in der Forschung ist sie bis heute leitend.16

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Glockenläuten bey Gewitter mehr schädlich als nützlich sey. Nebst einer allgemeinen Untersuchung ächter und unächter Verwahrungsmittel gegen die Gewitter, München 1784 [VD18 1179643]. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 1, Halle/Leipzig 1732, Sp. 1476f. Vgl. auch Begemann: Furcht und Angst, S. 5–8. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 9, Halle/Leipzig 1735, Sp. 2324f., hier Sp. 2324. Ebd., Sp. 2325. Delumeau: Angst im Abendland, S. 29. Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 1, Sp. 1476. Vgl. Kittsteiner, Heinz Dieter: Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 1618–1715, München 2010, S. 138. Vgl. hierzu auch Begemann: Furcht und Angst, S. 4f. Vgl. ebenso Imhof, Arthur E.: Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren und weshalb wir uns heute so schwer damit tun, München 1984, S. 91–96.

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Das Analogon zur Furcht im Sinne von Delumeau und Kirkegaard ist im 18. Jahrhundert die „vernünftige Furcht“; die Angst indes umfasst die Eigenschaften der „unvernünftigen Furcht.“ Hinzu kam in dieser Zeit die Aufgabe, die Angst als „großen Grad der Furcht“17 in „vernünftige Furcht“ zu überführen. Dies sollte nicht zuletzt gelingen durch den Erkenntnisfortschritt, die (Über)betonung der menschlichen Kraft der Vernunft, aber auch durch die Etablierung neuer Gottesbilder in einer sich wandelnden Theologie.18 Furcht in der Frühen Neuzeit wird aber nur unvollständig abgebildet, wenn sie nicht zusammen mit der Rede von der Gottesfurcht gesehen wird.19 Die Macht Gottes galt in der Frühen Neuzeit zu Recht als Grund aller Furcht, wurde dieser doch als allmächtig erlebt und verstanden.20 Das heißt: Wesentliche Merkmale Gottes waren seine Unverfügbarkeit und seine Möglichkeit, souverän über jedes einzelne Leben zu entscheiden und zu richten. Diesem Gott sei Respekt zu zollen, das habe auch die Vernunft zu erkennen. Genauer: Es sei, so Zedler, sogar der „wahre Gottesdienst“21 , diesen Gott zu fürchten. Die Rede von (Ehr)furcht vor dem Gericht haltenden Gott war im 16. und 17. ausgeprägter als im 18. Jahrhundert. Gleichwohl war sie auch hier präsent und zeigte damit auch weiterhin ihre Heilsrelevanz an.22 Anders ist kaum zu erklären, dass ungeachtet des Siegeszuges der Vernunft insbesondere im ausgehenden 18. Jahrhundert die Rede von Gott nicht plötzlich aufhörte. Im Zusammenspiel der unterschiedlichen Redeweisen über Furcht und Ehrfurcht etablierte sich dann auch die religiös konnotierte Rede von der „knechtischen“ und der „kindlichen Furcht.“23 Es ist just diese Rede, an der sich ablesen lässt, wie – mit Blick auf die Gewitterfurcht – Welt- und Gottesbilder miteinander korrespondierten und so eine neue und dabei höchst mehrdeutige Rede von Furcht bereitstellten.

17 Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 1, Sp. 1476. 18 Vgl. Kittsteiner: Stabilisierungsmoderne, S. 139. Vgl. auch Begemann: Furcht und Angst, S. 6. 19 Vgl. Bähr, Andreas: Furcht und Furchtlosigkeit. Göttliche Gewalt und Selbstkonstitution im 17. Jahrhundert, Göttingen 2013, S. 16. 20 Vgl. Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 11, Sp. 392. 21 Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 9, Sp. 2325. 22 Vgl. Bähr: Furcht und Furchtlosigkeit, S. 31. 23 Vgl. ebd., S. 56. Vgl. Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 9, Sp. 2325, wo explizit der Bezug zur Gottesfurcht hergestellt wird.

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Das Erbe: die Rede von der „knechtischen Furcht“ und vom strafenden Gott „Der Gedanke, daß die Gottheit die schuldigen Menschen straft, ist sicher so alt wie die Menschheit“, hielt Jean Delumeau fest.24 Und in der Tat: Auch frühe biblische Bilder, die sich des Gewitters bedienen, sind zumeist bedrohliche Bilder, die Angst evozieren: So kündigt der Prophet Jesaja dem Gottesvolk an, dass Gott dieses „mit Wetter und Erdbeben und großem Donner“25 heimsuchen werde, während der Psalmist ehrfurchtsvoll und voller Schrecken auf Gottes Kraft verweist, Blitze zu senden und vom Himmel zu donnern.26 Die Furcht, die mit einem solchen Handeln Gottes einhergeht, hat Elihu in Sprache gebracht, als er Hiob erklärte, dass Gott den Donner „unter dem ganzen Himmel und seinen Blitz über die Enden der Erde“27 dahinfahren lasse und nicht zurückhalten werde. Noch im 17. Jahrhundert hatte sich wenig an dieser Einschätzung geändert: Unwetter waren „gewaltsame Ereignisse der Natur“28 , die Rede vom strafenden Gott schien angesichts ihrer Stärke mehr als naheliegend. Dabei ging es um nichts weniger als um das Gericht – für den einzelnen Menschen, aber auch für die ganze Welt.29 Gleichwohl hatte schon Elihu nicht übersehen, dass Donner und Blitz nicht allein der Bestrafung der Frevler, Gottlosen und des abtrünnigen Volkes dienten, sondern sie waren auch Begleiterscheinungen des machtvollen Redens Gottes.30 Diese Ambivalenz zwischen Furcht und Ehrfurcht kennzeichnete dann auch das 18. Jahrhundert. Zwar wurde hier festgehalten, dass die Rede vom strafenden Gott und damit von der „knechtischen Furcht, da man sich vor der Strafe fürchtet“31 , eine wesentliche sei, aber dabei sollte es nicht bleiben. So hat etwa der Schriftsteller Johann Christoph Gottsched (1700–1766) diese Rede von der Furcht stellvertretend für viele seiner Zeitgenossen an die „wahre Gottesfurcht“ geknüpft und damit ein neues Kapitel aufgeschlagen: Es sei nicht zu unterschätzen, dass die Furcht vor Strafe „bei vielen gute Wirkungen nach sich zieht.“ Gleichwohl – und hier relativiert Gottsched diese Verbindung etwas – sei eine solche Kombination und damit auch die aus der „knechtischen Furcht“ hervorgehende Gottesfurcht „doch

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Delumeau: Angst im Abendland, S. 342. Jesaja 29,6, nach Luther-Übersetzung 2017. Psalm 18, 14f., nach Luther-Übersetzung 2017. Hiob 37, 3f., nach Luther-Übersetzung 2017. Bähr: Furcht und Furchtlosigkeit, S. 192. Vgl. Begemann: Furcht und Angst, S. 74. Vgl. ebd., S. 37. Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 9, Sp. 2325.

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nicht tugendhaft“, weil sie nicht den gegenwärtig adäquaten Vorstellungen von Gott entspräche.32 Dass Gottsched mit dieser Einschätzung nicht allein war, zeigt der Eintrag ‚GottesFurcht‘ in Zedlers Universallexikon.33 Dieser hält fest, dass „wir“ zur Liebe zu Gott verpflichtet seien, dabei aber immer in Betracht ziehen sollten, „über alles schuldig“ zu sein und deshalb die „göttliche Straffe“ zu verdienen.34 Doch deute – und hier wird der Übergang zur Rede von der „kindlichen Furcht“ intoniert – die „GottesFurcht […] nicht […] auf Furcht und Schrecken […], sondern, daß es sey das gantze Leben und Wesen, das da gehet in Ehren und Scheu vor Gott, denn es wird niemand Gott dienen, denn wer sich vor ihm fürchtet.“35 Furcht sei also mehr als angemessen, sie allein sei die „Wurtzel aller Tugenden“36 , doch diese Furcht sollte nicht dem Schrecken, sondern der Scheu Gott gegenüber entspringen. Dies kommt einer Absage an die „knechtische Furcht“ gleich, die allein von einer „unvollkommenen Erkenntnis Gottes“37 herrühre. Denn: Wer Gott kenne, wisse, dass jedwede Strafe Gottes allein seiner Liebe entspringe, mit welcher er den Menschen zum Leben hin zu korrigieren suche.

Gegenwart im 18. Jahrhundert: Ambiguität in der Rede von der Furcht „Beobachten wir Gottes Befehle willig und gerne, so ist kindliche Furcht da; geschieht aber solches ungern und mit Widerwillen, so ist eine knechtische Furcht da.“38 Diese Differenzierung aus Zedlers Universallexikon markiert die unterschiedliche Rede von der Furcht im 18. Jahrhundert, die nicht nur auf das Gottesbild, sondern auch auf das Selbstverständnis der Menschen zielte. „Knechtische Furcht“ sei als „Furcht vor Gott ohne Liebe“ und als „furchtsamer Abscheu“ zu verstehen, weil hier keine hinreichende Erkenntnis Gottes vorliege.39 Erstrebenswert sei also die „kindliche Furcht“, die in letzter Instanz einem neuen Gottesbild zu entspringen hatte: Der vormals strafende Gott musste umgedeutet werden in das „Bild

32 Alle Zitate bei Gottsched, Johann Christoph: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, darinn alle philosophische Wissenschaft in ihrer natürlichen Verknüpfung abgehandelt werden, Leipzig 1733, S. 463. 33 Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 11, passim. 34 Ebd., Sp. 393. 35 Ebd., Sp. 394. 36 Ebd. 37 Ebd., Sp. 393. 38 Ebd. 39 Ebd., Sp. 393f.

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eines gütigen Gottes“, der die Welt so eingerichtet hat, dass sie harmonisch und unhintergehbar auf das Gute ausgerichtet ist.40 Doch damit nicht genug: Auch die potenziellen Strafen und das Donnern Gottes in der Welt war in diese Rede vom ausschließlich liebevollen und ‚gütigen Gott‘ einzuordnen. Das heißt: Die Gesetze und Strafen Gottes waren fortan als „Mittel seines Wohlergehens“ und seiner Liebe zu verstehen. In der Konsequenz mussten alle Kräfte des „Gemüths, des Verstands, des Willens und derer Sinne“ darauf ausgerichtet werden, Gott gehorsam zu folgen und zu fürchten, um so „Glückseligkeit“ zu erlangen.41 Diese Rede von der Größe Gottes42 sollte dazu beitragen, die unvernünftige Furcht gänzlich aus dem bürgerlichen – und damit tugendhaften – Repertoire an Emotionen zu entfernen.43 Doch wie sollte das gelingen? Nichts weniger als die „Domestizierung der Natur durch die Technik“, die mit dem „Sieg eines rationalen Weltbildes“ einherging, sollte nach Richard Alewyn dafür sorgen, sowohl das Welt- als auch das Gottesbild sowie die Rede von der Furcht signifikant zu verändern.44 Mit anderen Worten: Die bei Zedler als Ziel benannte „wahre Weisheit“ und „wahre Glückseligkeit“ des vernünftigen Menschen war allein durch eine „kindliche“ und damit vernünftige Gottesfurcht zu erreichen. Wie dies geschehen konnte, hat das Universallexikon von Zedler in seinem Eintrag ‚Blitz‘ intoniert. Darin wird angenommen, dass Gott die „unmittelbare Ursache dieser Dinge“ sei.45 Aber: Dort, „wo die ordentlichen Wege der Natur [...] Statt finden“, sei „seinem unmittelbaren Beytrage nichts zu[zu]schreiben.“46 Deshalb sei auch die Vernunft zu nutzen, um nicht von vermeintlich „wundervollen Dingen verwirrt“47 zu werden. Mit anderen Worten: Die natürliche Ursache von Blitz und Donner sei zu klären, die Natur sei sich also anzueignen48 – und eben diese Klärung sei durch Aristoteles’ Lehre von den Dünsten sowie durch den Blick auf die Wolken, die Ausdünstungen der Erde und die Wirkungen des Blitzes möglich.49 Gott indes sei als Schöpfer zu würdigen, ansonsten aber aus dem Geschehen zu expedieren. Dies schien die beste Wahl zu sein, um Glaube und Vernunft in Einklang

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Begemann: Furcht und Angst, S. 79. Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 11, Sp. 394. Begemann: Furcht und Angst, S. 81. Vgl. ebd., S. 21 und S. 62f. Zur Domestizierung vgl. ebd., S. 92f. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 4. Halle/Leipzig 1733, Sp. 166–173. Ebd., Sp. 166. Ebd., Sp. 167. Vgl. Begemann: Furcht und Angst, S. 88. Ebd.

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zu bringen und so den Übergang von der „knechtischen“ zur „kindlichen Furcht“ zu vollziehen. Doch gelungen ist dieser Schritt nur jenen, die im ab 1750 bekanntgemachten Blitzableiter „die Entzauberung der Götterwelt“ sowie „die Ersetzung von Mythos durch Naturgesetz“ gesehen haben.50 Wer fortan davon ausging, dass der „Schrecken vom Himmel“51 nun erklärbar war, konnte also jenseits von theologischen Vorstellungen nach Mitteln suchen, die Gefahr des Gewitters abzuwehren. Zugleich rückte die Verpflichtung gegenüber anderen Menschen und der Gesellschaft in den Mittelpunkt, auch und gerade im Gewitter vernunftgemäß und damit tugendhaft, weil zum Wohl aller zu agieren. Dies entsprach der „vernünftigen Furcht“, welche die Naturereignisse respektierte, aber sie nicht mehr als Ruf sah, sich in besonderer Weise vor Gott zu rechtfertigen.52 Eine solche Haltung hatte notwendigerweise Konsequenzen für die Rede von der Ehrfurcht gegenüber Gott, da dieser nun nicht mehr durch Naturphänomene strafte, sondern schlicht zum „gleichmäßigbeständigen Gott der Liebe“53 wurde. Wer dies nicht sehe, habe – so hatte es bereits Zedler intoniert – eine falsche Vorstellung von Gott. Der Blitzableiter, dessen Einführung diese Debatte befeuerte, ging auf Benjamin Franklin (1706–1790) zurück, der ihn 1750 der Öffentlichkeit vorstellte.54 1769 wurde in Hamburg (Hauptkirche St. Jakobi) der erste Blitzableiter installiert. Begleitet wurde diese Installation von zahlreichen Schriften, die das Für und Wider dieses „Wetterleiters“ diskutierten.55 In den 1770er Jahren nahm die Debatte noch einmal Fahrt auf, als es darum ging, den Blitzableiter flächendeckend einzuführen.56 „Dank sey’s dem grossen Franklin! Sein Name verdient Unsterblichkeit!“57 – so intonierte Johann Jakob Stoll 1790 sein Lob auf den Blitzableiter, den Johann Nepomuck Fischer unverblümt als „Geschenk des Himmels“58 feierte. Beider Lob

50 Gregory, Stephan: Unter der schwarzen Wolke. Transformationen der Blitzgefahr im 18. Jahrhundert, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Gefahrensinn, München 2009, S. 35–44, hier S. 41. 51 Kittsteiner, Heinz Dieter: Gewissen und Geschichte. Studien zur Entstehung des moralischen Bewusstseins, Heidelberg 1990, S. 46. 52 Vgl. ebd., S. 53. 53 Ebd., S. 50. 54 Vgl. Möhring, Christa: Die Geschichte des Blitzableiters. Die Ableitung des Blitzes und die Neuordnung des Wissens um 1800. (Diss., Ms), Weimar 2005, S. 48–66. Hier debattiert sie auch die Frage, ob Thomas Francois Dalibard (1703–1779) Franklin möglicherweise zuvorgekommen sei. 55 Vgl. hierzu Schock, Flemming: Donnerstrahl und Eisenstange. Die Debatte über den Blitzableiter in den Journalen der Gelehrtenrepublik, in: Aufklärung 26 (2014), S. 67–99. 56 Vgl. ebd., S. 92. 57 Stoll, Johann Jakob: Beleuchtung einiger Vorurtheile in Ansehung der Donnerwetter und Blitzableiter, Lindau 1790 [VD18 12507202-001], S. 17. 58 Fischer: Beweiß, daß das Glockenläuten, S. 110.

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kam fast gänzlich ohne Gott als den Schöpfer aus.59 Vielmehr habe, so Stoll, dieser den Samen der Vernunft in den Menschen gelegt – und eben dieser Samen breche nun eigenständig auf und verschaffe Einsicht in die „Geheimnisse der Natur.“60 Auch der Tod des Physikprofessors Georg Wilhelm Richmann (1711–1753) am 6. August 1753 konnte zumindest in diesem Kreis die neue Rede von Furcht und Ehrfurcht nicht aufhalten. Richmann war bei einem Gewitterexperiment vom Blitz erschlagen worden. Doch auch wenn damit die Gefahr des Gewitters erneut deutlich vor Augen getreten war, wurde er in der Wissenschaft primär als Märtyrer der Forschung gefeiert. Die Frage, ob Gott hier eingegriffen und signalisiert habe, dass derlei Experimente nicht in seinem Interesse seien, stellte sich also in diesem Kreis nicht.61 Hier hatte sich vielmehr die allein vernunftbasierte und damit neue Rede von der Furcht angesichts des Gewitters durchgesetzt. Doch so eindeutige Positionen waren eher in der Minderheit. Das Gros derer, die mit Blick auf das Gewitter nach einer neuen Rede von der Furcht suchten, kam ohne Gott nicht aus, im Gegenteil: Nachhaltig prägte eine theozentrische Perspektive die Rede von der Furcht, ohne sich allerdings den neuen Gegebenheiten zu verschließen. Dies führte zu einer mehrdeutigen Rede von Furcht, die auf drei Ebenen zu erkennen ist: Erstens präsentierte die Physikotheologie ein Gottesbild, das die einzelnen Naturerscheinungen auf die gute Ordnung Gottes zurückführte, während sie gleichzeitig von einem Gott sprach, der sich nach der Schöpfung aus dem weiteren Weltenlauf zurückgezogen habe.62 In der Konsequenz ließen sich nicht nur sämtliche Naturerscheinungen jenseits von Gottes Wirken erklären, sondern gleichzeitig konnte auch die Rede von der „knechtischen Furcht“ in die Rede von der „kindlichen Furcht“ überführt werden. Das tat der Ehrfurcht gegenüber Gott keinen Abbruch, auch wenn dieser nur noch wegen der guten und weisen Ordnung geehrt wurde, die er geschaffen hatte.63 Besonders eindrücklich lässt sich dies an der ‚Bronto-Theologie‘ von Peter Ahlwardt (1710–1791) zeigen, die 1746 erschienen ist.64 Hier ging es nicht mehr um das Strafgericht Gottes, sondern um die „aufrichtige Beförderung einer dauerhaften

59 Ähnlich Lichtenberg, Ludwig Christian: Verhaltungs-Regeln bey nahen Donnerwettern nebst den Mitteln sich gegen die schändlichen Wirkungen des Blizes in Sicherheit zu setzen. Zum Unterrichte für Unkundige, Gotha 1774 [VD18 10538097-002]. 60 Stoll: Beleuchtung einiger Vorurtheile, S. 21. 61 Vgl. zur ausführlichen Darstellung Möhring: Geschichte des Blitzableiters, S. 67–75. 62 Vgl. Begemann: Furcht und Angst, S. 82. 63 Vgl. ebd., S. 83. 64 Vgl. Ahlwardt, Peter: Bronto-Theologie oder: Vernünftige und Theologische Betrachtungen über den Blitz und Donner, wodurch der Mensch zur wahren Erkenntniß Gottes und seiner Vollkommenheiten, wie auch zu einem tugendhaften Leben und Wandel geführt werden kann, Greifswald/Leipzig 1746 [VD18 12229946-002].

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Glückseligkeit“65 des Menschen. Damit einher ging eine vernünftige Rede von der Gewitterfurcht, aber auch von der Ehrfurcht gegenüber Gott, dessen „Liebe, Güte und Gnade“66 zu preisen seien. Ahlwardt verstand diesen Wandel als Weg zum „wahren Dienst Gottes“, der aus der Hoffnung lebte, die Menschen würden sich fortan nicht mehr durch den Vorwurf der „eigenen Schuld unglücklich machen“67 , sondern aus einer vernünftigen Erklärung vom Gewitter ihre Verpflichtung ableiten, für das Leben und für den Nächsten einzutreten und so Gott zu dienen.68 All dies sorgte jedoch nicht dafür, dass Ahlwardt an der ehrfurchtsvollen Rede von Gott Abstriche machte, im Gegenteil: Eine solche Rede sei die „Pflicht der Menschen“69 , will heißen: Gott sei weiterhin „sowol in der Höhe als auf und in unserer Erde, vollkommen“ und ein „ewiger und höchstvollkommener Schöpfer, von welchem alles seinen Ursprung haben muß.“70 Dies schließe unbedingt auch das Gewitter ein, durch welches Gott jedem „vernünftigen Geschöpf “ einen Eindruck von seiner Wirklichkeit gebe.71 Jedwede ehrfurchtsvolle Rede erschien also gerechtfertigt, auch wenn sie sich nun auf einen Vollkommenheit schaffenden,72 danach aber abwesenden Gott richtete. Dennoch ist hier von Ambiguität auszugehen, denn Ahlwardt hielt sich in seinen Überlegungen eine Hintertür offen: In Ausnahmefällen, so Ahlwardt, würde sich tatsächlich „die Weisheit des Höchsten […] des Donners und Blitzes auf eine übernatürliche Art zur Erhaltung seiner letzten Absicht“73 bedienen. Das heißt: Gott behielt sich nach Ahlwardt das Recht vor, doch direkt in die Geschicke des Menschen einzugreifen, indem er durch das Gewitter seinen Willen kundtue und gleichzeitig – und auch dies hat Ahlwardt betont – die Menschen wegen ihres „Schlafes der Sünde“ bestrafe. Diese Fälle, so Ahlwardt, seien allerdings selten74 und nur dann zu erwarten, wenn die Menschen ihre von Gott geschenkte Freiheit missbrauchten.75 Wenn dies geschehe, kämen in der Tat sowohl der „zornige Gott“ als auch die „Strafgerechtigkeit Gottes“ zum Ausdruck.

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Ebd., Vorrede, fol. a4v. Ebd., S. 200. Ebd., fol. b2r. Ebd., S. 6. Ebd., S. 187. Ebd., S. 164. Ebd., S. 178f. Vgl. ebd., S. 194. Ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 202f. An dieser Stelle macht Ahlwardt allerdings einen fast schon zynischen Schlenker, wenn er festhält, dass die Gnade Gottes auch darin erkannt werden könne, dass Blitz und Donner zwar Häuser anzündeten und Menschenleben kosteten, dies aber nicht das eigene Haus oder Leben betreffe. Die

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Spätestens hier wird sichtbar, welche argumentativen Klimmzüge Ahlwardt zu vollbringen hatte, um nicht dem zornigen Gott allein das Wort zu reden, sondern auch weiterhin die Perspektive eines Gottes aufzuzeigen, welche die Rede von der „kindlichen Furcht“ rechtfertigte. So hielt Ahlwardt dann auch fest: „Es ist wahr: Gott straffet und züchtiget die Menschen; Allein, es ist auch wahr: unser Gott ist gerecht, er straffet nicht aus einer blinden Begierde zu straffen, er ist keineswegs als ein grausamer Tyrann anzusehen, er straffet mit Recht, er züchtiget mit Gerechtigkeit, wie es seine unendliche Weisheit erfordert.“76 Zwei vermeintlich einander widersprechende Aussagen zum strafenden Gott werden als ‚wahr‘ klassifiziert. Dies unterstreicht die Ambivalenz von Ahlwardts Argumentation, welche ihn auf der Schwelle zwischen der Rede von der „knechtischen“ und von der „kindlichen Furcht“ situiert. Doch insgesamt wollte Ahlwardt nicht den geringsten Verdacht aufkommen lassen, dass die Furcht vor einem strafenden Gott das Prä hätte, dies „sey ferne.“77 Deshalb markierte er ein solches Eingreifen Gottes in die Welt als Ausnahme und als „übernatürlich.“ Gleichwohl verhinderte er damit den gänzlichen Schritt zur „kindlichen Furcht“, die ohne einen strafenden Gott auskommen sollte. Vom strafenden Gott gingen zweitens auch all jene aus, die das Gewissen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellten. Allerdings galt auch hier: Die Strafe sollte als Akt der Liebe Gottes verstanden werden, ein Strafgericht Gottes war also nicht zu fürchten,78 die Rede von der Furcht konnte sich also in der Spannung zwischen „knechtisch“ und „kindlich“ durchaus für „kindlich“ entscheiden. Gleichwohl konnte eine solche Entscheidung die Allmacht und damit auch die Strafgewalt Gottes nicht wegdiskutieren.79 Ein derartiger Verweis auf das Gewissen ist keine Erfindung des 18. Jahrhunderts,80 wohl aber rückte dieses nun besonders in den Vordergrund. Hintergrund

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theologischen Implikationen dieser Aussage sind weitreichend, auch wenn er betont, dass dieses Erleben den Verschonten zur Buße rufen würde. Vgl. ebd., S. 203f. Ebd., S. 206f. Ebd., S. 210. Vgl. Schelhorn, Johann Georg: Unterhaltungen beym Donnerwetter seinen werthesten Mitbürgern, und dem lieben Landvolk seiner Vaterstadt besonders gewiedmet, Memmingen 1783 [VD18 11705523], S. 32. Vgl. etwa Giesinger, Georg Friedrich: Gründe und Mittel wider die allzugrosse Furcht für den Gewittern, Stuttgart 1774 [VD18 1180193X], S. 12–18 und S. 73. Vgl. hierzu auch die eindrücklichen Passagen bei Ulber, Christian Samuel: Der christliche Creutzträger, oder erbauliche Betrachtungen über das menschliche Elend des Leibes und der Seele, Hamburg 1760 [VD18 DD92A33093], S. 73. Hier hält er fest: „Ich weiß doch auch, daß mein allmächtiger Schöpfer der Herr der Natur ist, und eben diesen Schwefel und Salpeter [zur Reinigung der Luft, d. Verf.] zu meinem Schaden brauchen kann.“ Vgl. Kittsteiner: Gewissen und Geschichte, S. 28–38.

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war die „Neuordnung des Kosmos“81 , also die Durchsetzung des mechanischen Weltbildes, während gleichzeitig Gott verstärkt als Ursache allen Lebens gesehen, ansonsten aber aus der Welt expediert wurde. Nun ging es vielmehr um den einzelnen Menschen und die Bewahrung seines Gewissens. Angesichts des Gewitters und der Allmacht Gottes sollte der Mensch sich seiner gewahr werden, um sich dann um der Selbsterhaltung willen zur Umkehr und zum tugendhaften Leben zu entschließen. Rückte das Gewissen in den Mittelpunkt, veränderte sich auch die Rede von der Furcht. „Woher kommt denn deine so große Furchtsamkeit?“, fragte der Theologe Christian Samuel Ulber (1714–1776) im Jahr 1760, um dann darauf zu verweisen, dass nur ein „bößes Gewissen“ mit Gott in Feindschaft sei und sich fürchte. Eben daran erinnere auch das Gewitter, dadurch fordere Gott, Buße zu tun. Geschehe dies nicht, „kann auch meine Angst nicht weichen.“82 Vorbehalte gegenüber einer allein vernunftorientierten Rede von der Furcht und damit auch von Gott ergaben sich drittens auch aus der Vorstellung, damit gegebenenfalls Gott herauszufordern. Konkret bestand die Sorge, durch das Bemühen, sich die Natur anzueignen und zu beherrschen, den strafenden Gott auf den Plan zu rufen.83 Schließlich würde ein solches Verhalten seine Allmacht beschneiden, kurzum: Dies könne nur als Ausdruck menschlichen Hochmuts verstanden werden, der unweigerlich Konsequenzen nach sich ziehen würde.84 Überspitzt und zugleich eindrücklich hat dies Johann Jakob Stoll (1711–1771) kritisch auf den Punkt gebracht, als er 1790 festhielt: „Es gibt […] noch so viele Menschen, die die Gewitter nur als Strafgerichte und Zuchtruthen in der Hand eines über uns erzörnten Gottes betrachten, und daher nur aus diesem Grunde oder vielmehr Ungrunde, schon bey entfernter Vermuthung, daß jetzo ein Gewitter entstehen möchte, in schröckliche Angst geraten.“85 Solche Menschen, so Stoll, seien von Vorurteilen durchsättigt,86 bräuchten eine vernünftige Erziehung und würden dann sicher den Nutzen des Gewitters und die Allmacht Gottes dahinter erkennen. Unverkennbar trat diese Rede von der Furcht nach dem Tod von Georg Wilhelm Richmann hervor: Nun habe sich die strafende Allmacht Gottes gezeigt, welcher

81 Vgl. ebd., S. 42f. 82 Für die Zitate Ulber: Der christliche Creutzträger, S. 75 und S. 77. 83 Vgl. Begemann: Furcht und Angst, S. 95. Vgl. auch Bego-Ghina, Benedikt/Rosendahl, Wilfried: Wenn der Himmel zürnt. Wetterphänomene in der Zeit von Leopold Mozart mit einem besonderen Blick auf Gewitter, Blitzschlag, Brandbekämpfung, in: Rüdiger Thomsen-Fürst (Hg.), „Es ist nur ein Dorf “. Schwetzingen mit den Augen Leopold Mozarts, Heidelberg 2020, S. 157–172, hier S. 164. 84 Vgl. Kittsteiner: Gewissen und Geschichte, S. 46. 85 Stoll: Beleuchtung einiger Vorurtheile, S. 11. 86 Von „blinden Vorurteilen“ spricht auch Lichtenberg: Verhaltungs-Regeln, S. IVf.

Blitz, Donner – und Gott

der menschlichen Hybris eine klare Grenze gesetzt habe.87 Deutlich hat dies der Prediger Johann Karl Koken gut drei Jahre nach dem Tod von Richmann formuliert: „Gott [..] setzet sich auf seinen Richterstuhl.“88 Anschließend herrsche er durch seine „Strafruthe“89 und „Zornruthe“90 und zeige in Blitz und Donner „ein hartes und fürchterliches Strafgericht [...] über die sündigenden […] Menschen.“91 Nur der Glaube könne die „bange Furcht und [den] knechtischen Schrecken“92 besiegen, der nun die Menschen erfasse – doch dieser Glaube sei nur einer Minderheit von Menschen vorbehalten. So martialisch die Position von Koken auch klingt, letztlich konnte sich seine Rede von der knechtischen Furcht nicht durchsetzen. Eben dies zeigt den „säkularen Umbruch“,93 der zumindest bei der Rede von der Gewitterfurcht im ausgehenden 18. Jahrhundert zu beobachten ist.

Gewitter und Gott – ein Fazit Gefühle sind in dem Sinne geschichtsträchtig und insofern geschichtsmächtig, als dass sie in Narrativen versprachlicht und mit interessengeleiteter Deutung versehen werden. In Phasen der Verdichtung wird dies besonders deutlich. Eine solche Phase war das 18. Jahrhundert, als sich in der Neubestimmung von Wetterphänomenen unterschiedliche Diskurse und damit auch Redeweisen von Furcht überlagert haben. Dabei sollte die Rede von der „knechtischen“ durch die Rede von der „kindlichen“ Furcht abgelöst werden. Doch was im elitären Diskurs gelingen konnte, ließ sich nur schwerlich in die soziale Praxis überführen. Genauer: Am Ende des 18. Jahrhunderts entstand das „Paradoxon der furchtlosen Furcht.“94 Darauf war die erziehende, aufklärerische Rede von der Furcht ausgerichtet, mit welcher der Sieg der Vernunft über die irrationale Furcht beschrieben werden sollte. Eine solche Rede zu etablieren, gelang jedoch nicht hinreichend. Stattdessen kam es zur Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und damit zur Ambiguität, die erstens darin zum Ausdruck kam, dass die Physikotheologie eine ambivalente Position einnahm, indem sie betonte, dass Gott die Natur geschaffen und geordnet, dann aber sich selbst in seiner Ausübung der Macht begrenzt und

87 Vgl. Flemming: Donnerstrahl und Eisenstange, S. 82. 88 Koken, Johann Karl: Offenbarung Gottes im Wetter wurde nach dem, am dritten Pfingsfeyertage 1756. gefallenen, schröcklichen Hagelwetter […], Hildesheim 1756 [VD18 10083006], S. 10. 89 Ebd., S. 52. 90 Ebd., S. 54. 91 Ebd., S. 55. 92 Ebd., S. 71. 93 Ebd., S. 98. 94 Bähr: Furcht und Furchtlosigkeit, S. 546.

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auf ein weiteres Eingreifen in die Geschicke der Welt verzichtet habe. Zweitens erscheint es ambivalent, die Rede von der Furcht mit dem Gewissen zu verknüpfen. Auch dies gelang nicht ohne den Verweis auf den strafenden Gott, sodass auch hier die Rede von der „knechtischen Furcht“ zumindest in Teilen fortbestand. Und schließlich wurde eben diese Rede ganz prominent gemacht, als es um die Auseinandersetzung mit dem Blitzableiter ging, der flächendeckend installiert werden sollte. Doch gerade dies wurde als Provokation gegenüber Gott verstanden. Harsche Positionen verunmöglichten es nun, die Rede von der „knechtischen“ in die „kindliche Furcht“ zu überführen. Der Blick auf diese Ambivalenzen macht deutlich, wie ausgesprochen interdependent und reziprok im 18. Jahrhundert das Verhältnis von Gottesrede, Rede von der Furcht und Welt- und Menschenbildern war. Eine Verschlankung dieses Diskurses sollte erst im 19. Jahrhundert einsetzen, als sich das Anliegen der Aufklärung letztlich erfüllte,95 weil sich nun sowohl die „Entzauberung der Welt“96 als auch die Betonung der Selbstbestimmtheit des einzelnen Menschen expliziter zeigten.97

95 Begemann: Furcht und Angst, S. 86. Vgl. auch Lazier, Benjamin/Plamper, Jan: Introduction, in: Dies. (Hg.), Fear. Across the Disciplines, Pittburgh 2012, S. 1–14. 96 Vgl. Lehmann, Hartmut: Die Entzauberung der Welt. Studien zu Themen von Max Weber, Göttingen 2009. 97 Vgl. für die weiterführende Perspektive bis ins 20. Jahrhundert hinein Bauman, Zygmunt: Liquid Fear, Cambridge 2006.

Maren Lorenz

Das weibliche Geschlecht ist völlig von der Arzneykunst auszuschließen und durch obrigkeitliche Befehle davon abzuhalten Fragile akademische Männlichkeit und Konkurrenzangst um 1750

Einleitung Mit dem Humor ist das so eine Sache. Lachen ist gesund und gilt als vielleicht günstigste medizinische Therapie. Gleichzeitig fungiert Humor als die subtilste Form der Aggression, hinter der sich wiederum oft Ängste verbergen. Festreden können diesbezüglich besonders heikel sein. – Ende Oktober 1750 hielt der aus Leipzig stammende Arzt Friedrich Börner (1723–1761) bei der nach der pompösen Zeremonie der Verleihung üblichen großen Promotionsfeier und anschließendem Festmahl zu Ehren von Urban Friedrich Benedikt Brückmann (1728–1812) an der Universität Helmstedt einen launigen Vortrag.1 Börner war bereits zwei Jahre zuvor ebenda zum Doktor der Medizin promoviert worden und seitdem mit eigener Praxis in Wolfenbüttel ansässig; vor allem aber war er der Schwager des Gefeierten. Börner hatte, wie damals aus Kostengründen häufig, am 27. September 1748 seine eigene Promotion direkt mit der Hochzeit zusammengelegt, zu der seinerseits sein neuer Schwager, der Cand. Med. Urban F. B. Brückmann, die Festrede gehalten hatte.2 Dabei nahm Brückmann der Einfachheit halber sein späteres Promotions-

1 Zum frühneuzeitlichen Ritus der Promotion siehe umfassend Füssel, Marian: Ritus Promotionis. Zeremoniell und Ritual akademischer Graduierungen in der frühen Neuzeit, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Examen, Titel, Promotion. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert, Basel 2007, S. 411–450. 2 Zu diesen Traditionen siehe Füssel, Marian: Akademische Solennitäten. Universitäre Festkulturen im Vergleich, in: Michael Maurer (Hg.), Festkulturen im Vergleich. Inszenierungen des Religiösen und Politischen, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 43–60, hier S. 46f. – Brückner selbst hingegen heiratete erst am 15. April 1755 Anna Magdalena Christina Kayser, mit der er im Laufe der nächsten Jahre zwei Söhne und vier Töchter bekommen sollte, die alle das Erwachsenenalter erreichten und ihrerseits bürgerlich erfolgreiche Ehen eingingen. Siehe dazu Brückners Selbstauskunft, in: Ernst Gottfried Baldinger: Biographien jetztlebender Ärzte und Naturforscher in und ausser Deutschland, 1. Bd., 1. Stück, Jena 1768, S. 113–120, hier S. 117. Ausführlicher zu Brückner: Lorenz, Maren: „Ein Fürst in seinem Nachtzeuge ist oft ein ganz anderes Geschöpf, als wenn er mit Stern und Ordensband erscheint“. Der ärztliche Blick auf Körper und Stand an einem spätaufklärerischen Hof, in: Anna

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thema vorweg, indem er nämlich über Gesundbrunnen sprach.3 Laudator Börner war zum Zeitpunkt der Gratulationsrede, trotz seiner kurzen Berufspraxis, gerade zum Mitglied der Leopoldina ernannt worden, eine Ehre, die dem 1750 gefeierten Brückmann erst 30 Jahre später zuteilwerden sollte.4 Außerdem waren bereits 1749 die beiden ersten Bände von Börners voluminösen dreibändigen Nachrichten von den vornehmsten Lebensumständen und Schriften jetztlebender berühmter Aerzte und Naturforscher in und um Deutschland erschienen, die nach seinem frühen Tod von seinem Kollegen Ernst Gottfried Baldinger (1738–1804) weitergeführt werden sollten.5 Ganz offenkundig trieben Börner Statusfragen, beziehungsweise die von ihm als notwendig erkannte gesellschaftliche Aufwertung seines neuen akademisch-empirischen Berufsstandes um. In seiner Festrede spitzte er darum sicher nicht zufällig die altbekannte Frage nach der Sinnhaftigkeit der Bildung von Frauen und Mädchen rhetorisch auf die Frage nach deren beruflicher Konkurrenzfähigkeit zu, nämlich „ob dem Frauenzimmer erlaubt sey, die Arzeneykunst auszuüben?“6 – Frauen fanden darum in seinem Ärzteverzeichnis nur Erwähnung als unterstützende Mütter und Gattinnen oder Untersuchungsobjekte. Der gesamte Duktus der mit dramatischen Bildern gespickten Rede demonstriert das bemühte Zurschaustellen der zeittypischen Kunst der gelehrten Beredsamkeit.7 Das folgende Fallbeispiel dieser humoristischen Rede, die in diversen Bibliotheken als typisches akademisches Kleinschrifttum (von 16 Druckseiten inklusive

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Becker u. a. (Hg.), Körper – Macht – Geschlecht. Einsichten und Aussichten zwischen Mittelalter und Gegenwart, Frankfurt am Main 2020, S. 239–254. Urban Friederich Benedickt Brückmann: Zu der glücklichen Verbindung Des […] Herrn Friederich Börner […] mit […] Mademoiselle Johanna Dorothea Sophia Brückmannin, Welche den 17. Sept. 1748 zu Wolfenbüttel feyerlich vollzogen wurde, stattet seinen verpflichtesten und schuldigsten Glückwunsch ab, und handelt in einem Sendschreiben […] Von der Beschaffenheit des bey Jene gelegenen Fürsten-Brunnens, Jena 1748. Online-Matrikel der Leopoldina: https://www.leopoldina.org/mitgliederverzeichnis/mitglieder/member/Member/show/friedrich-boerner/ und https://www.leopoldina.org/mitgliederverzeichnis/mitglieder/member/Member/show/urban-friedrich-benedict-brueckmann/ [abgerufen am: 20. Juni 2021]. Der dritte Band erschien erst posthum 1764. Zu Börner und seinem vielfältigen zeittypischen Schrifttum, vgl. https://www.uni-wittenberg.de/kollegen/boerner-friedrich/ sowie https://www.deutschedigitale-bibliothek.de/person/gnd/136358756 [abgerufen am: 20. Juni 2021]. Friedrich Börner: Als der Hochedelgebohrne und Hocherfahrne Herr Urb. Friedr. Benedict Brückmann, aus Wolfenbüttel, den des Wintermonats im Jahre 1750 die längstverdiente höchste Würde in der Arzeneykunst auf der berühmten Julius-Carls-Universität zu Helmstädt empfing, wollte in gegenwärtigem Sendschreiben kürzlich untersuchen: ob dem Frauenzimmer erlaubt sey, die Arzeneykunst auszuüben? und zugleich seinen aufrichtigen Glückwunsch abstatten D. Friedrich Börner, der Röm. Kaiserl. Akademie der Naturforscher Mitglied, Leipzig 1750. Hahne, Nina: Der Rede-Essay als Selbsttechnik in Deutschen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts, in: Aufklärung 28 (2016), S. 191–214.

Das weibliche Geschlecht ist völlig von der Arzneykunst auszuschließen

weniger Fußnoten) überliefert ist, soll die Bedeutung von beruflichem Karriereund ökonomischem Erfolgsdruck für akademische Männlichkeit und den Bezug zu spezifischem Bedrohungserleben in einer zunehmend in Bewegung geratenden Ständegesellschaft näher beleuchten. Aus geschlechterhistorischer Perspektive Einblick in Vorstellungen zu weiblicher Berufstätigkeit aus Sicht männlicher Hochschulabsolventen Mitte des 18. Jahrhunderts zu nehmen, verspricht Erkenntnisgewinn auf verschiedenen Ebenen. Denn hier lassen sich zeitgenössische Diskurse verschiedener Provenienz in Verbindung mit spezifischen akademischen Ritualen vor individuellen biographischen und sozialen Hintergründen wie in einem Brennglas aus der Nähe betrachten.

Das ärztliche akademische Prekariat im 18. Jahrhundert Bereits die Umstände des Anlasses, wie auch das Thema der Gratulationsrede, verweisen auf ein zentrales Problem der meisten frisch promovierten Ärzte Mitte des 18. Jahrhunderts: Unsicheres Einkommen, das mühsame Etablieren einer einträglichen Praxis, deren Ruf und Einnahmen durch weitere Ehrentitel oder öffentliche Aufgaben angesichts vielfältiger Konkurrenz möglichst gemehrt werden mussten. Denn die Kosten von Studium, Gebühren der Promotion, der anschließenden Feierlichkeit mit üppigem Speis und Trank, zu der alle Honoratioren der Universität, teilweise auch der Stadt, der Landesregierung und Kommilitonen geladen werden mussten, sowie die vom Kandidaten dabei an die Gäste zu verteilenden Geschenke, überstiegen oft die finanziellen Möglichkeiten der Absolventen und stellten ein soziales Selektionskriterium im Kampf gegen die bereits damals beklagte Akademikerschwemme dar.8 Da es sich bei der Promotion um einen öffentlich vollzogenen Statuswechsel handelte, bei dem Klientelnetzwerke begründet und vertieft werden konnten, musste der akademisch geadelte Bürger künftig einen ebensolchen Habitus und Lebensstil pflegen, selbst wenn zu diesem Zeitpunkt die Zukunft für die meisten Doctores Medicinae angesichts der knappen Stellen in der öffentlichen Verwaltung und der hohen Ärztedichte in den Städten und Residenzorten noch recht unsicher und der Einstieg in die Selbstständigkeit auch dadurch erst einmal mit erheblichen Krediten belastet war.9

8 Vgl. dazu Füssel: Ritus Promotionis, hier S. 424–429. 9 Vgl. dazu Labouvie, Eva: Weder Götter noch in Weiß. Zur Professionalisierung von Medizinern und Chirurgen im 18. Jahrhundert, in: Eva Brinkschulte/Dies. (Hg.), Dorothea Erxleben – Weibliche Gelehrsamkeit und medizinische Profession seit dem 18. Jahrhundert, Halle (Saale) 2006, S. 80–93. So konkurrierte z. B. der Vater von Dorothea Erxleben, Christian Polycarp Leporin, um 1715 allein mit zwanzig weiteren akademischen Ärzten in Quedlinburg mit seinen unter 8.000 Einwohnern: Dazu Markau, Kornelia Steffi Gabriele: Dorothea Christiana Erxleben (1715–1762). Die erste promovierte

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Die soziale wie ökonomische Fragilität der akademischen medizinischen Autorität beziehungsweise gelehrten Ärzte spiegelt sich in einer zeittypischen Opferrhetorik und dem immer offensiver geführten Kampf gegen, wie auch Börner sie durchgängig nannte, „Fremdlinge, Afterärzte, Scharlatane, Kurpfuscher“ und „Medicaster“ wider, die sich unermüdlich an dem Vertrauen abarbeitete, das viele Menschen eher einer Vielzahl von „Practici“ entgegenbrachten.10 Dabei scheint die ökonomische Position der Studierten gegenüber den „Practici“ de facto gar nicht so schwach gewesen zu sein, wie Börners Vortrag zu suggerieren versuchte. Denn Reputation und damit im Bourdieuschen Sinne kulturelles und damit letztlich auch finanzielles Kapital in der eigenen Community ließ sich auch dadurch anhäufen, dass man mit (lateinischen) Traktaten, Lehr- und Handbüchern und mit gedruckten Fallsammlungen (ab den 1730er Jahren dann meist in Volkssprache) an die studierte Öffentlichkeit trat, wie Börner es ja selbst auch tat.11 Durch diese Form der Selbstinszenierung ließ sich auch darüber hinwegtäuschen, wie ungewiss der Erfolg von ärztlichem Rat und ärztlicher Therapie letztlich immer waren und wie häufig auch Laien mit Hausmitteln, Kräutern und (semi-)magischen Praktiken Heilerfolge erzielten.12

Ärztin Deutschlands. Eine Analyse ihrer lateinischen Promotionsschrift sowie der ersten deutschen Übersetzung, Diss. Med. Halle (Saale) 2006, S. 11. 10 Zur Pluralität des medizinischen Angebotes siehe neuerdings Stolberg, Michael: Gelehrte Medizin und ärztlicher Alltag in der Renaissance, Berlin/Boston 2021, S. 486–520. Die Kontinuität betonten bereits Elkeles, Barbara: Medicus und Medikaster. Zum Konflikt zwischen akademischer und „empirischer“ Medizin im 17. und frühen 18. Jahrhundert, in: Medizinhistorisches Journal 22, 2/3 (1987), S. 197–211; Jütte, Robert: Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit, München/Zürich 1991 am Beispiel Kölns im 16. und 17. und für das 18. Jahrhundert: Probst, Christian: Fahrende Heiler und Heilmittelhändler. Medizin von Marktplatz und Landstraße, Rosenheim 1992 und Kinzelbach, Annemarie: Wahnsinnige Weyber betriegen den unverstendigen Poeffel. Anerkennung und Diffamierung heilkundiger Frauen und Männer, 1450 bis 1700, in: Medizinhistorisches Journal 32 (1997), S. 29–56, insbesondere S. 38–43. 11 Siehe dazu Stolberg, Michael: Formen und Strategien der Autorisierung in der frühneuzeitlichen Medizin, in: Wulf Oesterreicher/Gerhard Regn/Winfried Schulze (Hg.), Autorität der Form – Autorisierung – Institutionelle Autorität, Münster 2003, S. 205–218 sowie Ders.: Frühneuzeitliche Heilkunst und ärztliche Autorität, in: Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft 1500–1820, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 111–130; sowie zum Zwittergenre der Fallsammlungen als neuen Lehrbüchern und bürgerlicher Sachbuchunterhaltung: Lorenz, Maren: Kriminelle Körper – Gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung, Hamburg 1999, hier S. 27–67. 12 Vgl. dazu, wenn auch vornehmlich bezogen auf das 16. und 17. Jahrhundert, Stolberg, Michael: Zwischen Identitätsbildung und Selbstinszenierung. Ärztliches Self-Fashioning in der Frühen Neuzeit, in: Dagmar Freist (Hg.), Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung, Bielefeld 2015, S. 33–55 und vor allem Labouvie, Eva: Verbotene Künste. Volksmagie und ländlicher Aberglaube in den Dorfgemeinden des Saarraumes (16.–19. Jahrhundert), St. Ingbert 1992 sowie Dies.: Volksheilkunde, ‚Gesundbeten‘ und Segnerei – die beiden Brauchhefte der Anna

Das weibliche Geschlecht ist völlig von der Arzneykunst auszuschließen

Genau an dieser Nahtstelle des fragilen Übergangs vom akademischen Prekariat zum Patriziat setzte der Vortrag Börners an. Ausgerechnet Brückmann und Börner mussten sich allerdings sicher keine Sorgen um ihre berufliche Zukunft machen. Die Schwäger repräsentierten durch strategische Hochzeiten eng verflochtene familiäre, akademische, auch medizinische Dynastien.13 Ihre Promotionen und Titel waren nicht mehr als formal-symbolische Eintrittskarten in den territorialen Verwaltungsdienst, die reputationsträchtige Lehre und/oder eine einträgliche Leibarzttätigkeit. Die private Praxis gehörte als festes Standbein immer dazu. Die Häufung von Ämtern und Aufgaben war vor allem dann ein Selbstläufer, wenn bereits die Väter (und Großväter) erfolgreiche und zudem gut vernetzte Theologen (Börner) oder sogar Mediziner (Brückmann) gewesen waren und solvente Patientinnen und Patienten wie Landesherren und deren höfische Gesellschaften teils unregelmäßig, dafür aber üppig bezahlten oder mit Pfründen und Protektion entlohnten.14 Geschadet hatte zum Beispiel sicherlich nicht, dass bei Börners Immatrikulation in Leipzig 1739 sein Vater der aktuelle Universitätsrektor war.15 Und nun waren Laudator und Laureat über die Schwester Johanna Dorothea Sophia Börner, geborene Brückmann, doppelt (schwieger-) väterlich im Status abgesichert.16 Beide brachten es sogar, wie ihre Väter, noch zu Lebzeiten nicht nur in verschiedene Akademien und prominente Ärzteverzeichnisse, sondern auch zu eigenen Einträgen in Zedlers berühmtem Universallexikon.17

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Rothenbusch aus Wiesbaden, in: Bärbel Kuhn/Hans Günther Maas/Andreas Schorr (Hg.), Wiesbach. Geschichte eines saarländischen Dorfes, St. Ingbert 2018, S. 183–194. Zur Rolle der Professorentöchter dabei siehe Wunder, Heide: Die ‚Professorin‘ und die Professorentöchter – Ein Beitrag zur Sozialgeschichte des Professorenstandes in der Frühen Neuzeit, in: Horst Carl/Friedrich Lenger (Hg.), Universalität in der Provinz. Die vormoderne Landesuniversität Gießen zwischen korporativer Autonomie, staatlicher Abhängigkeit und gelehrten Lebenswelten, Darmstadt 2009, S. 233–271. Franz Ernst Brückmann (1697–1753) war reichsweit bekannter Naturforscher und Mitglied der Leopoldina sowie der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Vgl. dazu: Zaunick, Rudolph: Brückmann, Franz Ernst, in: Neue Deutsche Biographie 2 (1955), S. 655f.; sowie Brückmann, Franz Ernst, in: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Supplement 4, Leipzig 1754, Sp. 763–774. Vater Christian Friedrich Börner (1683–1753) war weitgereist und europaweit hervorragend vernetzt. Siehe dazu: Börner, Christian Friedrich, in: Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Supplement 4, Sp. 57–63. Johanna Börner starb 1758, also sogar noch vor ihrem Mann; die 1749 geborene Tochter starb bereits 1753. 1752 wurde Sohn Georg Friederich Christian geboren, über den nichts weiter ermittelt werden konnte. Börner, Friedrich, in: Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Supplement 4, Sp. 63f.; Brückmann, Urban Friedrich Benedict, in: ebd., Sp. 775f.

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Status- und Einkommensverlust durch weibliche Konkurrenz Der launige Vortrag, der sich nach den ersten Scherzen allerdings auf weiten Strecken eher als aggressiv-theatralische Philippika gegen Kurpfuscherei liest und damit gegen die Usancen einer Lobpreisung des akademischen Fleißes des Geehrten verstieß,18 lässt sich vor diesem biographischen Hintergrund auf verschiedenen Ebenen beleuchten. Direkt nach den Gratulationswünschen bat der Schwager und Kollege kokett sarkastisch um Vergebung dafür, wenn ich meinen Glückwunsch in ein Condolenzschreiben verwandle; wenn ich Sie viel mehr bedaure, daß Sie sich einem Theile der Gelehrsamkeit gewidmet, der ein Eckstein des Anstoßes ist. Ueberlegen Sie einmal selbst, wie lange muß ein junger Arzt gemeiniglich warten, ehe sich ein Kranker meldet, der von ihm auf den Kirchhof versetzt seyn will.19

Die erste Hälfte der Rede war in mühsam ironischem Jammerton dem Beklagen und Vergleichen des fragilen Status der Medizin mit den arrivierteren und vor allem angeblich finanziell einträglicheren Fächern Theologie und Jurisprudenz, aber auch dem durch zünftische Kontrolle besser vor „Bönhasen“ geschützten Handwerk gewidmet. Das Schicksal eines jungen Arztes wurde dazu in den dunkelsten Farben skizziert. Mangels Patienten habe der Novize genügend Zeit, „Federn und Recepte zu schneiden und sie in Vorrath hinzulegen“ (S. 4), bis endlich mal jemand zur Urinbeschau vorbeikäme, während die Konkurrenz und ignorante Obrigkeiten einem nur Steine in den Weg legten. Am schlimmsten sei jedoch die „eine Krankheit“, die nur die Ärzte befalle, weil sie von den Obrigkeiten und Gerichten nur bei diesem Berufsstand nicht bekämpft werde. Darum grassiere allerorten durch „Fremdlinge und Afterärzte“ eine „unsägliche und bejammernswürdige Pfuscherey“, eine immer schlimmere „Plage.“ Namentlich genannt wurden „Barbierer, Feldscheerer, Bader und Apotheker“; diese überdehnten ihre eng definierten Zuständigkeiten. Hinzu kämen völlig Fachfremde: „Geistliche und Weltliche, Juden und Mönche, Kramer, ja sogar alte Weiber, Schäfer und Scharfrichter unterstehen sich in das Amt eines Arztes einen Eingriff zu thun, und theils durch abergläubische, altvettelische und gottlose, theils durch ihre wider alle Vernunft und Regeln der Medicin streitende Curen“, das Fach zu beleidigen und die Kranken „um Leib und Leben zu bringen“ (S. 5f.). Börner bezeichnete diese Gruppen gar als „öffentliche Todschläger“ (S. 7). Eine kürzlich in den „Braunschweigischen Anzeigen“ gestellte Frage habe seine

18 Siehe dazu Kirwan, Richard: Akademische Repräsentationspraktiken und der Umgang mit dem Öffentlichkeitsbild der Institution, in: Jens Bruning/Ulrike Gleixner (Hg.), Das Athen der Welfen. Die Reformuniversität Helmstedt 1576–1810, Wolfenbüttel 2010, S. 120–127, hier S. 124. 19 Börner: Untersuchung Frauenzimmer, S. 3f.

Das weibliche Geschlecht ist völlig von der Arzneykunst auszuschließen

Aufmerksamkeit jedoch auf das besondere Thema der Ärztinnen gelenkt. Dort sei gefragt worden: „Ob die Marghareta in Pohlen wirklich vom Könige Ladislaus die Freyheit erhalten Kranke zu curiren; ob mehr dergleichen Exempel von Frauenzimmer vorhanden; und ob es überhaupt dem andern Geschlechte erlaubt ist, Curen zu unternehmen?“20 (Solche populären Fragen sollten offenbar die Leserschaft zur Lektüre des Regierungsanzeigers animieren und standen immer direkt vor dem Anzeigen- und nach dem Rezensionsteil.) Börner verriet hier aber nicht, dass er die entscheidende heikle dritte Frage frei dazu erfunden hatte. Das Thema der grundsätzlichen Erlaubnis wurde nämlich im Anzeiger gar nicht angesprochen. Den „Töchtern des Landes“ aller Stände und jeden Alters sollte sein Vortrag „mit gewidmet seyn“, weshalb er diesen ausnahmsweise auch in „deutscher Sprache“ halte, „zur Lehre und Warnung“, damit die ungebildeten Frauen ihn auch verstünden. Der Gefeierte hingegen solle sich einfach gut unterhalten lassen und die Warnung vor den praktizierenden Frauen als weitere Beileidsbezeugung annehmen (S. 8). Faktisch ist jedoch davon auszugehen, dass bei der Promotionsfeier, wie seit 1652 offiziell geboten, gar keine Frauen anwesend waren, der Appell also rein rhetorisch zur Selbstvergewisserung und Stärkung der Gruppenidentität an das männliche Publikum und vielleicht auch an eine künftige Leserschaft gerichtet war.21 Die weiteren Ausführungen liefern eine typische Kurzversion der alten Diskussion um „gelehrte Frauenspersonen“, die es ja immer mal gebe, aber – und hier fällt bereits der rhetorische Todesstoß – deren persönliches Studierbedürfnis völlig unerheblich sei, denn dies widerspreche jenem „Zweck, warum sie von dem Schöpfer in diese Welt gesetzet worden“, nämlich für die Vermehrung der Menschen zu sorgen (S. 9). Um diese normative Aussage zu untermauern, folgt in einer Fußnote der warnende Hinweis, bereits der „Herr Hofrath [Michael] Alberti“ habe erst vor kurzem in einer Schrift auf „die Unfruchtbarkeit gelehrter Weibspersonen“ hingewiesen. Damit bezog sich Börner auf eine neuere, selbstverständlich lateinische,

20 Im Original in größeren Fonts gedruckt. Dabei bezog er sich auf die ‚Aufgabe‘ in: Braunschweigische Anzeigen, Bd. 6, 75. Stück vom 19. September 1750, S. 1512. Sie erschienen ab 1745 als Regierungsblatt für amtliche Verkündigungen aller Art. Die Geschichte ähnelt jener der heilkundigen Kaufmannstochter und verheirateten Goldschmiedin Anna Würster aus Breslau, die im 17. Jahrhundert vom Böhmischen König auf ihre Supplik hin eine Praxis eröffnen durfte. Vgl. dazu Conrads, Norbert: Anna Würster, die erste privilegierte Medizinerin Schlesiens (1657); in: Konrad Goehl/ Johannes Gottfried Mayer (Hg.), Editionen und Studien zur lateinischen und deutschen Fachprosa des Mittelalters. Festgabe für Gundolf Keil, Würzburg 2000, S. 1–15. 21 Vgl. dazu Wunder, Heide: Helmstedter Professorinnen. Zur Konstituierung des Professorenstandes, in: Bruning/Gleixner: Athen der Welfen, S. 152–159, hier S. 152; sowie Füssel: Akademische Solennitäten, S. 47f.

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medizinische Dissertation,22 von der es in den Pommerschen Nachrichten in einer knappen Mitteilung nur herablassend hieß: Unter des Herren Hofraths und Prof. Medic. Herren Michael Alberti Beystand vertheidigte Herr C.G. Richter [in Halle] seine medicinische Inauguraldissertation […], von der Unfruchtbarkeit gelehrter Weibspersonen. Der Herr Verfasser will erstlich die Unfruchtbarkeit nach ihren verschiedenen Arten und Ursachen bestimmen; hienächst durch Erfahrung und Gründen beweisen, daß unter andern der übermässige Gebrauch der Kräfte der Seelen, oder ein gar zu eifriges Studiren und Nachsinnen in den Wissenschaften bey dem Frauenzimmer die Unfruchtbarkeit befördere; und zuletzt dienliche Mittel wieder solchen Fehler vorschlagen. Eine genauere Ordnung und tüchtigere Beweise, als man in dieser Schrift findet, würden manchem nicht unangenehm gewesen sein.23

Dieser Hinweis Börners, auf die nach Ansicht des Rezensenten allerdings nicht annähernd überzeugend belegte Sterilität als Folge weiblicher Wissbegier – trotz des prominenten wahren Urhebers, der an der renommierten, relativ neuen (1694) Universität Halle lehrte24 – war auch Mitte des 18. Jahrhunderts eine sehr seltene Drohargumentation, die sich vergeblich den Anschein neuer empirischer Validität zu geben versuchte.25 Allerdings sollte diese Angstkulisse trotz der spätaufklärerischen Konstruktion einer weiblichen Sonderanthropologie erst wieder im 19. Jahrhundert, seitdem aber gehäuft, in medizinischen Traktaten auftauchen.26 Diese hochwillkommene Erzählung hielt sich dann unhinterfragt bis in die 1960er

22 Richter, Carl Gottfried: Dissertatio inauguralis medica de infoecunditate corporis ob foecunditatem animi in foeminis, von der Unfruchtbarkeit gelehrter Weibes-Personen, Magdeburg 1743. 23 Pommersche Nachrichten von Gelehrten Sachen, Bd. 1, Greifswald 1743 (Freytag den 21. Junius, S. 397). 24 Der treue Stahlianer, Gerichtsmediziner und Pietist Michael Alberti (1683–1757) war über Jahrzehnte der mächtigste Mann an der Hallenser Universität und publizierte als medizinscher Universalgelehrter zu fast allen Themen. Zur Standardpraxis bei Dissertationen noch Mitte des 18. Jahrhunderts vgl. umfassend Marti, Hanspeter: Von der Präses- zur Respondentendissertation. Die Autorschaftsfrage am Beispiel einer frühneuzeitlichen Literaturgattung, in: Schwinges, Examen, Titel, Promotionen, S. 251–274. 25 Tatsächlich tauchen im 36seitigen lateinischen Text nur vier anonymisierte, wenige Zeilen lange, rein summarische Beispiele auf, die keine Kausalerklärungen erlaubten. (Vgl. Richter: Dissertatio inauguralis medica, § 6, S. 24f.). 26 Dazu umfassend nach wie vor Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750–1850, Frankfurt am Main 1991; sowie Helduser, Urte: „Hoffnungslose Geschlechter“. Unfruchtbarkeit als Pathologie der Moderne um 1900, in: Ursula Pasero/Anja Gottburgsen (Hg.), Wie natürlich ist Geschlecht? Gender und die Konstruktion von Natur und Technik, Wiesbaden 2002, S. 319–333.

Das weibliche Geschlecht ist völlig von der Arzneykunst auszuschließen

Jahre als medizinische Tatsache und Gegenstand ärztlicher Ausbildung in allen deutschen Lehrbüchern.27 Das eigentliche Interesse Börners galt aber weniger den „medicinischen Langröcken“ vergangener Zeiten, von denen er einige, zum Beispiel Trotula und Hildegard von Bingen, und ihre Werke knapp herablassend vorstellte, als vielmehr der Frage, ob Frauen „gegenwärtig wirklich Curen unternehmen und sich in die Krankenstuben begeben“ dürften (S. 10f.).28 Denn es war seit Jahrhunderten üblich, dass sich qualifizierte Frauen selbst von Obrigkeiten für die Herstellung von Arzneien und auch chirurgische Eingriffe entlohnen ließen.29 Ohne sich mit Argumenten aufzuhalten, lautete die Antwort an „die guten Weiberchen: Kurz, das weibliche Geschlecht ist völlig von der ausübenden Arzeneykunst auszuschließen und durch obrigkeitliche Befehle davon abzuhalten“ (S. 13). Frauen sollten gern medizinische Literatur lesen, um sich physiologische Grundlagen dergestalt anzueignen, dass sie gut für die familiäre Gesundheit (vor-)sorgen könnten – die Tradition der Hausmutterliteratur.30 Argumente folgten allerdings nicht, stattdessen Polemik, wie sie sich durch die folgenden Jahrhunderte ziehen sollte, von Börner noch garniert mit Gedichten und literarischen Zitaten, zum Beispiel aus Gottscheds ‚Vernünftigen Tadlerinnen‘, mit dem Tenor: Durch Zulassung von Frauen als „Pfuscher“ litten nur „das Ansehen und die Würde der Arzeneykunst.“ Ihr von Gott zugewiesenes „Amt“ sei „die Küche zu verwalten und das Hauswesen in Acht zu nehmen“ (S. 13). Für das langjährige und anspruchsvolle Studium fehlten ihnen die physische Kraft und weitere elementare Voraussetzungen. In erster Linie mangele es ihnen an Verschwiegenheit. Denn da ihnen „nach der Art der Gänse der Mund niemals stille stehet“, könnten sie wie „ein Sieb das Wasser“ bekanntlich nicht „gut bey sich behalten.“ Zur „Wissenschaft“ eigneten sie sich rein verstandesmäßig nicht, dazu

27 Vgl. etwa Seitz, Ludwig/Amreich, Alfred I. (Hg.): Biologie und Pathologie des Weibes. Ein Handbuch der Frauenheilkunde und der Geburtshilfe, Berlin u. a. 1953–55. Ursprünglich neun Bände aus den 1920er Jahren, 1954–1957 neu aufgelegt und auf zwölf Bände erweitert. Weibliche intellektuelle Tätigkeit wird dort ebenso für Infertilität und Gebärmutterdeformationen verantwortlich gemacht wie weibliche Berufstätigkeit allgemein für ‚Männerscheu‘ und ‚Ehescheu‘ bei zunehmender Homosexualisierung. Siehe z. B. Stransky, Erwin: Medizinische Psychologie. Grenzzustände und Neurosen beim Weibe (Original 1927), Bd. 6, Berlin 1954, 3. Teil, S. 217–342, oder Albrecht, O.: Vita sexualis und deren Störungen, ebd., S. 382–420. 28 Meinungsmache gegen (praktizierende aber nicht studierte) Ärztinnen war allerdings bereits seit dem Mittelalter unabhängig von der faktischen Dimension des (gefühlten) Problems in Europa ein Thema. Vgl. knapp Minkowski, William L.: Women Healers of the Middle Ages. Selected Aspects of Their History, in: American Journal of Public Health 82 (1992), S. 288–295. 29 Dazu mit Fallbeispielen und weiterführender Literatur: Kinzelbach: Wahnsinnige Weyber, insbesondere S. 43–54. 30 Vgl. Fuhrich-Grubert, Ursula/Ulbrich, Claudia: Hausmutter, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_COM_278565 [abgerufen am: 20. Juni 2021].

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gehöre auch „mehr als die, welche die Weiberchen aus der Frau Großmutter ihren Handkörbchen haben.“ Dieser Apodiktik folgten weitschweifige Ausführungen der notwendigen intellektuellen, ethischen und fachlichen Anforderungen an den „rechtschaffenden Arzt“, der sich durch „guten Verstand, reifes Nachsinnen, trifftige Überlegung“ auszeichne. (S. 14). Der „schweren Verantwortung“ im Umgang mit Kranken seien „die medicinischen Bönhasen des anderen Geschlechtes“ mit der (mehrfach wiederholt) primär von den „Großmüttern“ überlieferten „Quacksalberey“ niemals gewachsen. Dies hätten bereits die „weisen Athenienser“ erkannt, die qua Gesetz ihren Frauen die Medizin verboten hätten.31 Nur wer umfassend gelernt, an Universitäten studiert, „geprüfet und daselbst die durch Römisch-Kaiserl. Privilegia bestätigte höchste Würde erhalten habe“, dürfe praktizieren. Insbesondere die Medizin hatte Mitte des 18. Jahrhunderts noch erheblich mit Reputationszweifeln zu kämpfen. Besonders gern machte man sich über deren Promotionsverfahren beziehungsweise die intellektuellen Qualifikationen der Kandidaten lustig, so dass die Liste der weiblichen Defizite vor allem wohl der Selbstvergewisserung dienen sollte.32 Denn angesichts dieser massiven weiblichen natürlichen und nicht kompensierbaren Mängel hätten sich die geneigten Zuhörer eigentlich fragen müssen, wie man Frauen dann den Kern und die Zukunft eines jeden Staatswesens anvertrauen könnte, nämlich die Versorgung und Erziehung der Kinder, von der vorher geforderten Gesundheitsfürsorge für die gesamte Familie, inklusive Gatten und Gesinde, ganz zu schweigen.

Frauenstudium als bürgerliches Menetekel Da die zentrale Botschaft aber in eine ganz andere, nämliche die ökonomische und statusspezifische Richtung zielte, fochten den Redner solche Widersprüche nicht an, die auch schon in vielen Schriften zur Frauenbildung diskutiert worden waren. Frauen sollten schlicht ihre „ungewaschene[n] Hände ohne alle Geschicklichkeit“ aus der Medizin heraushalten (S. 15). Angesichts des festlichen Anlasses irritieren die unverhohlen aggressive Kaskade an Verwünschungen gegen die unstudierte Konkurrenz und die fast verzweifelten Appelle an die Gesetzgeber, dem Treiben der Frauen endlich Einhalt zu gebieten. Der Text schließt angesichts dieser offenbar überwältigenden und kostengünstigeren Konkurrenz mit einem sarkastischen Lamento und dramatischen Mahnruf in Richtung des Promovierten: Er solle dennoch

31 Eine Fußnote verweist dabei auf eine andere gedruckte Festrede, die der Medizinprofessor Andreas Ottomar Goelicke 1713 in Halle, allerdings auf Latein, zu Ehren des Promovenden Johann Georg Weber gehalten hatte. Das Thema Frauenschelte war bei diesem Anlass also nicht so ungewöhnlich. 32 Wollgast, Siegfried: Zur Geschichte des Dissertationswesens in Deutschland im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Berlin 1999, S. 32 und Stolberg: Identitätsbildung, S. 49.

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„den Muth deswegen nicht sinken lassen“ und darauf hoffen, dass „der Himmel“ ihm „Ehre, Vergnügen, Reichthum und wer weis wie bald, eine angenehme Frau Doctorinn“ zutrüge (S. 16). Die logische Leerstelle, dass man, um Unprofessionalität und gesundheitsgefährdende Behandlungen zu vermeiden, demnach einfach jenen interessierten Frauen die Universitäten und gleichen Ausbildungschancen zugänglich machen müsste, die die gleichen Bildungsvoraussetzungen wie ihre Brüder und Söhne erfüllten, bleibt nicht zufällig unerwähnt. Die Büchse der Pandora des Frauenstudiums musste unbedingt geschlossen bleiben. Denn Frauen sollten niemals dieses rein männliche Ritual durchlaufen, dessen Funktion vor allem darin bestand, sich von jenen abzugrenzen, die es „unter keinen Umständen durchlaufen werden.“33 Dazu gehörten neben den ständischen Unterschichten Juden34 und eben die Frauen des eigenen bürgerlichen Standes. Diese Grenze, jedenfalls zur männlichen Konkurrenz, schien immer löchriger zu werden, durch Ausnahmegenehmigungen, soziale Aufstiege von Handwerkersöhnen und Konversionen, aber auch durch den steigenden Bedarf an medizinischem Verwaltungspersonal in den ungeliebten, weil weniger einträglichen ländlichen Regionen, die ja den überwiegenden Teil des Reichsgebietes darstellten.35 Der wachsende Personalbedarf entspannte die Situation kaum, einerseits weil Regierungen die zusätzlichen Kosten scheuten, aber andererseits stand auch der eigene Habitus vielen Ärzten im Weg, da „die an einer medizinischen Fakultät akademisch ausgebildeten Ärzte in der Regel von praktisch-manueller Heiltätigkeit absahen und sich auf internistische Maßnahmen beschränkten.“36 Börners eigene Frau gehörte im Übrigen genau in diese Kategorie der potenziellen Konkurrentinnen: Hatte er doch selbst nur zwei Jahre zuvor in einem Brief an den berühmten Dichter Gottsched, den er mehrfach um Protektion ersuchte, mit eben jener im Vortrag so geschmähten, weil zu gefährlichem Ehrgeiz motivierenden

33 Dazu Füssel: Ritus Promotionis, S. 429. 34 Der erste war Moses Salomon Gumpertz (gest. 1742), der am 15. Oktober 1721 mit Erlaubnis von König Friedrich Wilhelm I. an der Brandenburgischen Universität in Frankfurt (Oder) zum Doktor der Medizin promoviert wurde und in Prag studiert hatte. Er durfte offiziell nur die Prager Juden behandeln. Der zweite war Moses Sobernheim aus Bingen, der 1724 in Halle promoviert wurde, in Frankfurt am Main studiert hatte und ausschließlich die Mainzer jüdische Gemeinde behandeln durfte. Zu beiden siehe Kisch, Guido: Der erste in Deutschland promovierte Jude, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 78 (1934), S. 350–363. 35 Vgl. Eckart, Wolfgang Uwe/Jütte, Robert: Medikalisierung, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_COM_309074 [abgerufen am: 20. Juni 2021], sowie Stolberg, Michael: Heilkundige. Professionalisierung und Medikalisierung, in: Nobert Paul/Thomas Schlich (Hg.), Medizingeschichte. Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt am Main 1998, S. 69–86. 36 So Eckart, Wolfgang Uwe: Medizinalpersonen, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, http://dx.doi. org/10.1163/2352-0248_edn_COM_309487 [abgerufen am: 20. Juni 2021].

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wissenschaftlichen Bildung seiner Ehefrau in spe geprahlt, in dem er Johanna Dorothea Sophia Brückmann als „selbst in Sprachen und guten Wissenschaften erfahren“ bezeichnete.37 Auch wenn es Spekulation bleiben muss: Richtete sich die scharfe, ja aggressive Rhetorik möglicherweise implizit auch gegen die eigene kluge Gattin, die sich mit dem nach zwei Jahren Ehe noch kinderlosen Hauswesen Börner unterfordert fühlte? Machte Börner vielleicht akademische Ambitionen seiner Frau für den ausbleibenden Nachwuchs verantwortlich? Die Wahl des Vortragsthemas war jedenfalls sicherlich kein Zufall: Die Rede, die gerade vor der medizinischen Konkurrenz von Ärztinnen warnte, fand zwar noch Jahrzehnte vor dem Auftreten der sogenannten Universitäts-Mamsellen statt, jenen fünf Göttinger Professorentöchtern, die zur Zeit der Französischen Revolution sowohl auf Bildung und wissenschaftliche Tätigkeiten Wert legten als auch ein unerwartet autonomes Eheleben (bis hin zur Scheidung) pflegten.38 Aber ein Politikum wurde bereits früher daraus, als eine andere Arzt-, nicht einmal Professorentochter, sich erdreistete, nicht nur öffentlich das Recht auf ein Universitätsstudium einzufordern, sondern dies auch noch mit wissenschaftlichen Argumenten, in Form einer ordentlichen Disputation, betrieb. In genau den 1740er Jahren, in denen Brückmann und Börner in Jena beziehungsweise Leipzig und Wittenberg studierten und dann gemeinsam in Helmstedt promovierten, hatten vor allem die medizinisch-wissenschaftlichen und beruflichen Ambitionen der Tochter des streitbaren Quedlinburger Stadtphysikus Christian Polycarp Leporin (1689–1747) für mehr als einen Sturm im akademischen Wasserglas gesorgt. Dorothea Christiana Leporin (1715–1762) war nach umfassendem ‚Home-Schooling‘ direkt in die Praxis ihres stolzen Vaters mit eingestiegen, hatte also fast die moderne Form der Medizinausbildung durchlaufen, die neben der Lektüre nun vermehrt auch die Empirie am Krankenbett vorsah.39 Und auch in Helmstedt selbst musste allen Anwesenden das zunehmend selbstbewusste Agieren von Professorenfrauen und -töchtern bewusst gewesen sein, denn es waren ihre eigenen Ehefrauen, Töchter und Schwestern, vor denen sie sich durch (männlich-)akademische Privilegien und Einhegung der

37 Friedrich Börner an Gottsched: Wolfenbüttel, 2. August 1748: in: Sabine Köhler u. a. (Hg./Bearb.), Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Bd. 13: Januar 1748–Oktober 1748, Berlin/Boston 2019, S. 436f., hier S. 437. 38 Zu deren Lebensläufen und Aktivitäten: Kleßmann, Eckart: Universitätsmamsellen. Fünf aufgeklärte Frauen zwischen Rokoko, Revolution und Romantik, Frankfurt am Main 2008; Harprecht, Klaus/ Dane, Gesa: Die Universitäts-Mamsellen. Fünf Göttinger Damen, die teilweise schön, allesamt reizvoll, begabt und gebildet, gewiß aber so gescheit waren wie die meisten der Professoren, Göttingen 1988. 39 Zu Familiengeschichte und Lebenslauf vgl. Labouvie, Eva: Erxleben, Dorothea Christiana (1715–1762), in: Dies. (Hg.), Frauen in Sachsen-Anhalt. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 127–133.

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weiblichen Bildungsambitionen rigoros zu schützen versuchten.40 Gleichzeitig war ein Professorenhaushalt ohne die Arbeitsleistungen und die intellektuelle Klasse der Ehefrauen und Töchter gar nicht funktions- und repräsentationsfähig.41 Studierende Frauen, selbst wenn sie dies ohnehin weitgehend autodidaktisch und privat mit Hauslehrern oder ihren Vätern taten, wurden zum Skandalon erklärt, jedenfalls so lange wie möglich nicht ernst genommen. Trotzdem war es Vater Leporin gelungen, die offizielle Erlaubnis zur Promotion auch ohne Universitätsbesuch der Tochter vom Preußischen König Friedrich II. zu erbitten, was dieser 1741 auch gewährte und die Universität Halle entsprechend anwies. Geschickt hatte der Vater den Antrag in einer Gnadensupplik für den vom preußischen Militärdienst desertierten Bruder untergebracht. Denn dieser hatte seine Desertion unmittelbar nach der Zulassung zur Immatrikulation in Halle mit dem Wunsch gerechtfertigt, gemeinsam mit der begabten und geliebten Schwester ein Studium der Medizin aufzunehmen. Nur seine Anwesenheit konnte sie in der verführerischen, reinen Männerwelt vor Rufschädigung durch Verlust der Keuschheit schützen.42 1747 hatte Dorothea Leporin mit einer weiteren königlichen Sondererlaubnis, auch ohne Promotion, die Praxis ihres mittlerweile verstorbenen Vaters als selbstständige Ärztin übernommen und musste sich seitdem gegen massive Anfeindungen und Verleumdungen der förmlich approbierten Konkurrenz, insbesondere der direkten städtischen Kollegen, wehren, denen sie und ihr streitbarer Vater schon lange Dornen in den Augen gewesen waren.43 All diese skandalösen Entwicklungen waren in der Helmstedter Universität und den Professorenfamilien sicher sehr gut bekannt, so dass Börner hier ein brandaktuelles Reizthema aufgegriffen hat. Nicht zuletzt durch ein über den Vater mühsam etabliertes und von ihr selbst weiter gepflegtes Patronagesystem konnte sich die seit 1742 auch als Pfarrfrau tätige Dorothea Erxleben bis zu ihrem frühen Krebstod 1762 als erfolgreiche Ärztin halten, obwohl sie seit der aus Familienloyalität eingegangenen Ehe eine PatchworkFamilie mit neun Kindern managen und die Promotion dadurch immer wieder aufschieben musste.

40 Vgl. dazu die Beiträge von: Gleixner, Ulrike: Der Professorenhaushalt, S. 130–143; Niekus Moore, Cornelia: Mädchenbildung in Helmstedter Professorenfamilien, S. 160–168, Wunder: Helmstedter Professorinnen, sämtlich in: Bruning/Gleixner: Athen der Welfen; sowie zum eklatanten Missverhältnis zwischen dem Zwang zur Selbstverleugnung und dem hohen Bildungsniveau der Gattinnen: Wunder: Die ‚Professorin‘ und die Professorentöchter, S. 259. 41 Dazu umfassend Harding, Elisabeth: Der Gelehrte im Haus. Ehe, Familie und Haushalt in der Standeskultur der frühneuzeitlichen Universität Helmstedt, Wolfenbüttel 2014. 42 Dazu Schmiedgen, Ursula: Dorothea Christiana Leporin, verheiratete Erxleben (1715–1762). Pfarrfrau und streitbare Ärztin in Quedlinburg, in: Brinkschulte/Labouvie: Dorothea Christiana Erxleben, S. 32–54, hier S. 42. 43 Zur Biographie und den persönlich-gesellschaftspolitischen Kontexten vgl. umfassend Schmiedgen: Dorothea Christiana Leporin.

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Dass Dorothea Erxleben schließlich unter dem Vorwand, den Tod einer Patientin verschuldet zu haben, wegen Kurpfuscherei angezeigt und nach erfolgreicher Zurückweisung der Beschuldigung schließlich 1754 an der Universität Halle, gemäß den strikten Ausschlussregeln in Abwesenheit, doch formal promoviert und nach 20 Jahren medizinischer Praxis nachträglich approbiert werden würde, konnte Börner 1750 nicht voraussehen; es wäre aber sicher Wasser auf seine Mühlen gewesen. Schließlich hatte diese Frau Doktor nie eine Universität von innen gesehen, geschweige denn ordnungsgemäß studiert.44 Leporins Anfang der 1740er Jahre auf Latein und schnell auch in deutscher Übersetzung erschienenes Traktat, in dem sie die Öffnung der Universitäten für Frauen gefordert und luzide begründet hatte, hatte mindestens für genauso erregte öffentliche Diskussionen gesorgt wie ihre Praxistätigkeit. Ihre Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studiren abhalten wird bis heute als früh-feministisches rationales Werk gewürdigt, gerade weil sich die Autorin mit ihren Argumenten nicht nur auf der Höhe der Wissenschaftsdiskurse der Zeit bewegte, sondern sie ihre Gegner mit deren eigenen Mitteln schlug, beziehungsweise den Finger in deren wissenschaftliche Wunden sprich Schwächen legte.45 So nutzte sie zum Beispiel ausgerechnet Gedanken aus dem zentralen Werk Michael Albertis, der als dezidierter Gegner der Frauengelehrsamkeit bekannt war, in ihrem Sinne und zeigte dessen patriarchale blinde Flecken vulgo Unlogiken auf.46 Ausgerechnet Alberti saß jedoch gut zehn Jahre später in ihrer Promotionskommission in Halle und musste sich nach zweistündiger mündlicher Prüfung der Begeisterung der Kollegen anschließen, die einen derartig scharfen Verstand und lateinische Eloquenz nur selten erlebt hatten.47 Möglicherweise war die von Börner zitierte Dissertation zur weiblichen Unfruchtbarkeit bei Akademikerinnen, die im Auftrag Michael Albertis nur ein Jahr nach Leporins Emanzipationsschrift

44 Dazu Fulda, Annette: „Da dergleichen Exempel bey dem weiblichen Geschlechte insonderheit in Deutschland etwas rar sind“. Gelehrtes Wissen, ärztliche Praxis und akademische Promotion Dorothea Christiana Erxlebens (1715–1762), in: Michaela Hohkamp/Gabriele Jancke (Hg.), Nonne, Königin und Kurtisane. Wissen, Bildung und Gelehrsamkeit von Frauen in der Frühen Neuzeit, Königstein (Taunus) 2004, S. 60–82. 45 Dorothea Christiane Leporin: Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das Weibliche Geschlecht vom Studiren abhalten, Darin deren Unerheblichkeit gezeiget, und wie möglich, nöthig und nützlich es sey, Daß dieses Geschlecht der Gelahrtheit sich befleisse, umständlich dargeleget wird, Berlin 1742. Die lateinische Fassung erschien bereits 1741. 46 Dazu detailliert Stiening, Gideon: Feministische Vorurteilskritik. Dorothea Christiane Leporins Argumente wider das Verbot des Frauenstudiums, in: Ders./Isabel Karremann (Hg.), Feministische Aufklärung in Europa/The Feminist Enlightenment across Europe, Leipzig 2020, S. 173–204, hier S. 193f. 47 Zum Ablauf des Verfahrens und der auch öffentlich geäußerten Begeisterung des Kommissionsvorsitzenden Johann Juncker, vgl. Markau: Dorothea Christiana Erxleben, S. 26–33.

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verfasst worden war, nichts anderes als eine persönliche, akademisch verbrämte Attacke eines ‚weißen alten Mannes‘ gegen die selbstbewusste und ehrgeizige junge Frau. Dabei spielte er geschickt über Bande, da die Gegnerin ihm im Status so weit unterlegen war, dass er sie durch eine direkte Replik nur weiter aufgewertet hätte. In diesem Zusammenhang kann auch der Vortrag Börners als bissige Reaktion auf die Causa Erxleben sowie einen weiteren aktuellen prominenten Fall gesehen werden: In Börners Heimatstadt Leipzig wurde seit rund 20 Jahren die reichsweit bekannte Salonière und vermögende Witwe Christiana Mariana von Ziegler (1695–1760) (geborene Romanus, verwitwete von Könitz, verheiratete von Steinwehr) gefeiert. Die preisgekrönte Poetin und Frauenrechtlerin hatte 1730 als erste Frau ihre Antrittsrede vor der dortigen Deutschen Gesellschaft gehalten, durfte aber trotz ihrer Vorrangstellung als Preisträgerin an deren Sitzungen aufgrund ihres Geschlechts auch später nicht teilnehmen. 1739, noch zwei Jahre vor Leporin, hatte sie eine dezidiert kämpferische Schrift mit der Forderung nach weiblicher Teilhabe an wissenschaftlicher Forschung und Lehre publiziert, die die Quedlinburgerin sehr aufmerksam gelesen haben dürfte: Abhandlung, ob es dem Frauenzimmer erlaubet sey, sich nach den Wissenschaften zu bestreben?, was ihr sofort misogyne Schmähschriften seitens aufgebrachter Studenten einbrachte.48 1739 war genau das Jahr, in dem Friedrich Börner sich in Leipzig immatrikulierte. Ob er in die Proteste involviert war, ist derzeit nicht bekannt. Die besonders an den Universitäten hitzige Debatte über die Frauengelehrsamkeit und damit auch die Selbstständigkeit von Frauen, bekannt als ‚Querelle des Femmes‘, wurde europaweit mal mehr mal weniger intensiv seit dem Mittelalter geführt.49 Im Zuge der Frühaufklärung wurde ab Mitte des 18. Jahrhunderts aber immer erbitterter gestritten50 , nachdem es zwischenzeitlich sogar so ausgesehen hatte, als sei durch die breit rezipierten und teilweise mehrfach nachgedruckten

48 Zu diesen Ereignissen vgl. Hahne: Rede-Essay, S. 199–203. Siehe auch Schneider, Susanne: Christiana Mariana von Ziegler (1695–1760), in: Kerstin Merkel/Heide Wunder (Hg.), Deutsche Frauen der Frühen Neuzeit. Dichterinnen, Malerinnen, Mäzeninnen, Darmstadt 2000, S. 139–152. 49 Siehe dazu neuerdings: Opitz, Claudia: Streit um die Frauen und andere Studien zur frühneuzeitlichen ‚Querelle des femmes‘, Roßdorf b. Darmstadt 2020; Hassauer, Friederike (Hg.): Heißer Streit und kalte Ordnung. Epochen der ‚Querelle des femmes‘ zwischen Mittelalter und Gegenwart, Göttingen 2008; Bock, Gisela/Zimmermann, Margarete (Hg.): Die europäische Querelle des Femmes. Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1997; Drexl, Magdalena: Weiberfeinde – Weiberfreunde? Die Querelles des Femmes im Kontext konfessioneller Konflikte um 1600, Frankfurt am Main 2006 sowie Engel, Gisela u. a. (Hg.): Geschlechterstreit am Beginn der europäischen Moderne. Die Querelle des Femmes, Königstein (Taunus) 2004. 50 Cöppicus-Wex, Bärbel: Der Verlust der Alternative. Zur Disqualifizierung weiblicher Bildungsideale im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts am Beispiel zweier Ausgaben des Nutzbaren, galanten und curiosen Frauenzimmer-Lexikons, in: Claudia Opitz/Ulrike Weckel/Elke Kleinau (Hg.), Tugend,

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umfangreichen Sammelwerke über gelehrte Frauenzimmer (Eberti, Lehms, Paullini) hinreichend enzyklopädisch nachgewiesen, dass Frauen bei angemessener Förderung und Ausbildung intellektuell mit Männern nicht nur mithalten, sondern diese in allen wissenschaftlichen und künstlerischen Feldern auch überflügeln konnten.51 Vielleicht war eben genau das das Problem. Die Frage der weiblichen Leistungsfähigkeit und Intelligenz wurde öffentlich genau zu der Zeit immer lauter gestellt, als vernunftgeleitete Männer wie Frauen die religiös legitimierte Geschlechterordnung immer mehr in Frage stellten und darüber in der breiter werdenden Medienlandschaft offen diskutieren konnten. Gleichzeitig produzierte das aufstrebende Bürgertum immer mehr Söhne, aber auch Töchter, die den Willen hatten und die Möglichkeit sahen, sich nicht nur als vergleichsweise autonome Individuen zu entwickeln, sondern auch berufliche Unabhängigkeit anzustreben. Während in England auch für die männlichen Gelehrten noch das zölibatäre Lebensmodell dominierte, ermöglichte in der deutschsprachigen Aufklärung das Konzept der Gelehrtenfamilie den Frauen unter dem Deckmantel der ‚Gehilfin‘ des genialen Gatten immerhin eine, wenn auch oft nur anonymisierte eigene Forschungstätigkeit, die bei einigen weiteren Ehrgeiz weckte.52 Wie bereits Karin Schmidt-Kohberg in ihrer Untersuchung der 15 am breitesten rezipierten Frauenzimmerlexika feststellte, attestierten zwar zwischen Mitte des 17. und Mitte des 19. Jahrhunderts die Hälfte der Autoren dieser Sammlungen Frauen explizit „die gleichen intellektuellen Fähigkeiten“ wie Männern, beharrten aber genau wie Börner axiomatisch darauf, ihre eigentliche „Hauptaufgabe“ bliebe dennoch die „Verwaltung des Hauswesens.“53 Auch der Übervater der Pädagogik und politische Utopist einer post-ständischen Bürgergesellschaft Jean Jacques Rousseau (1712–1778) behauptete in seinem millionenfach rezipierten Erziehungsratgeber Émile niemals eine ‚natürliche‘ intellektuelle Unterlegenheit der Frauen.

Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten, Münster 2000, S. 271–285. 51 Zu diesem Phänomen siehe mit weiterführender Literatur: Schmidt-Kohberg, Karin: „Manche Weibspersonen haben offtmals viel subtilere Ingenia als die Manspersonen“. Weibliche Gelehrsamkeit am Beispiel frühneuzeitlicher Frauenzimmerlexika und Kataloge, Königstein (Taunus) 2014; Westphal, Siegrid: Frauenzimmerlexika der Frühen Neuzeit als nationaler Mythosentwurf, in: Georg Schmidt (Hg.), Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa. Politische Ordnung und kulturelle Identität?, Berlin 2010, S. 225–244; sowie Brockmann-Nooren, Christiane: Weibliche Bildung im 18. Jahrhundert. „Gelehrtes Frauenzimmer“ und „gefällige Gattin“, Oldenburg 1994. 52 Vgl. Goodman, Katherine R.: Learning and Guildwork. Luise Gottsched as ‚Gehülfin‘, in: Hohkamp/ Jancke: Nonne, Königin und Kurtisane, S. 83–108; sowie Mommertz, Monika: Geschlecht, Macht, Wissen. Der Haushalt als Ermöglichungsstruktur frühneuzeitlicher Wissenschaften, in: Becker u. a.: Körper – Macht – Geschlecht, S. 15–30. 53 Schmidt-Kohberg: Weibspersonen, S. 135 sowie Niekus Moore: Mädchenbildung S. 164 u. S. 166.

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Doch auch dieser mächtige Vordenker zog sich bequem auf die biblische Deutung der Frauen als Gebär- und Aufzuchtmaschinen zurück, ohne dafür überzeugende naturwissenschaftliche ‚vernunftgeleitete‘ beziehungsweise naturrechtliche Argumente anzuführen, wie er sie sonst selbst forderte. Nicht überraschend also, dass solche Domestikationsbestrebungen ab 1750 auch im Genre der weiblichen Gelehrsamkeit massiv zunahmen und kein einziger Verfasser der Frauenzimmerlexika forderte, „dem weiblichen Geschlecht [solle] der Zugang zu Lateinschulen oder anderen höheren Bildungseinrichtungen wie Universitäten oder Akademien gestattet werden“, geschweige denn, dass Frauen akademische Berufe ausüben und damit in Konkurrenz zu Männern treten sollten.54 Ganz im Gegenteil wurde in den neueren Ausgaben ab 1750 zusätzlich davor gewarnt, solcher Ehrgeiz mindere besonders die Heiratschancen von Akademikertöchtern, die schließlich die Mehrheit der gebildeten Frauen darstellten, während literarische Fähigkeiten, aber auch Gelehrsamkeit insgesamt dem Verständnis und der Einübung eines gottgefälligen tugendsamen Lebens, dem Streben nach der Ebenbildlichkeit Gottes, nützlich seien.55 Die überwiegende Mehrheit der in den Sammlungen gewürdigten über 2.000 Frauen hatte in den Bereichen Theologie und Literatur reüssiert. Die Medizin als Erfahrungswissenschaft und dabei primär der Bereich des Entbindungswesens war mit knapp 100 Protagonistinnen zahlenmäßig weit unterrepräsentiert. In den neuerdings noch mehr experimentell-empirisch orientierten Naturwissenschaften wurden allerdings mit 90 Nennungen noch weniger Frauen für erwähnenswert gehalten.56 Da eine eigenständige ökonomische Existenz für Frauen des Bürgertums ohne Witwenschaft aufgrund der Berufsverbote außerhalb einer Ehe kaum vorstellbar war, musste eine Heirat zwangsläufig das realistischere Ziel einer jeden höheren Tochter bleiben, sofern sie kein reiches Erbe in Aussicht hatte und somit hätte ledig bleiben können.57

Fazit: Alte Statusängste – Neue Gefahren Der von Misogynie nur so triefende Vortrag demonstriert deutlich, wie sehr sich die akademische Welt in Aufruhr befand, Menschenbilder in Bewegung gerieten,

54 Ebd., S. 136 u. 141. 55 Ebd., vgl. S. 136–141. Nur ein Viertel der in den Sammlungen erwähnten Frauen war verheiratet, zehn Prozent lebten im Kloster, vier Prozent waren verwitwet. Vgl. ebd., S. 199 sowie S. 218–223. 56 So die Auswertung von ebd., S. 193–199 sowie S. 224f. 57 Dazu Niemeyer, Beatrix: Ausschluß oder Ausgrenzung? Frauen im Umkreis der Universitäten im 18. Jahrhundert, in: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hg.), Handbuch zur Geschichte der Mädchenund Frauenbildung (12.–20. Jahrhundert), Bd. I Vom Mittelalter bis zur Aufklärung, Frankfurt am Main 1996, S. 275–294.

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Geschlechternormen neu legitimiert werden mussten, aber auch ganz konkret, wie sehr der Berufsstand des akademischen Arztes vielen Absolventen immer noch zu selten sicheres Einkommen zu garantieren schien. Der Kampf um die weibliche Gelehrsamkeit war Teil eines konkreten, sich weiter zuspitzenden ökonomischen Verteilungskonflikts. Die spezifische Angst unter Medizinstudenten vor der weiblichen Konkurrenz, zusätzlich zu der von herkömmlichen Praktikern, war nicht irrational. Gerade weil städtische und territoriale Obrigkeiten schon seit dem 16. Jahrhundert fast ausschließlich promovierte Mediziner zu Stadt- und Kreisphysici und damit zu fachlichen Vorgesetzten von Apothekern, Chirurgen und Hebammen machten und die Doctores auch die Mitte des 18. Jahrhunderts bereits vielerorts installierten Collegia Medica besetzten,58 waren die eigenen Schwestern und Ehefrauen im Vergleich zu den übrigen Laien mittelfristig die erheblich bedrohlichere Konkurrenz auf dem Medizinmarkt. Insbesondere rund um die Frauenund Kinderheilkunde hätten die Frauen bei gleicher Bildungsteilhabe den Männern Kundschaft abjagen können, teils wegen ihrer Vertrautheit mit ‚Weibersachen‘, teils weil ihnen die weibliche Bevölkerungshälfte wohl eher vertraute und auch Sittlichkeitsgrenzen dadurch nicht tangiert wurden. Zwar konnte die dramatische Inszenierung der Konkurrenzangst im Vortrag bei den Zuhörern als scherzhafte Anspielung auf die Zukunftsangst von Abwesenden abgetan werden. Die meisten Geladenen, wohlbestallt und gut vernetzt, konnten sich amüsieren und auf der sicheren Seite (gelandet) fühlen, aber ein gewisses Unbehagen war sowohl Ursache für die Wahl des Vortragsthemas als auch dessen Wirkung. Die Erschütterung der Einschläge in Halle, Leipzig und Quedlinburg war in Helmstedt deutlich zu spüren. Würden die privilegierten Ausnahmen generell legalisiert, könnten die Absolventinnen morgen in allen Städten des Reiches eigene Praxen eröffnen. Die Frontlinie musste scharf zwischen „verwegenen Mördern“ und „rechtschaffnen Ärzten“ gezogen werden. „In der besten Welt“ blieben der „rothe Hut, der große Buchstabe“ vor dem eigenen Namen „rechtschaffenen und gründlichgelehrten Männern“ vorbehalten. Der frischgebackene Herr Doktor müsse darum Gott vertrauen.59 Mehr als solche Durchhalteparolen hatte der kämpferische Schwager seinem „Hochgeehrteste[n] Herrn Bruder“ allerdings nicht anzubieten, denn die beste Welt war es offenbar nicht da draußen, in der nach wie vor jeder und jede vor sich hin zu medizinieren schien, wie es ihm oder ihr – oder den geneigten Obrigkeiten gerade passte.

58 Vgl. dazu mit breiterem europäischem Fokus: Kinzelbach, Annemarie/Mendelsohn, Andrew/ Schilling, Ruth (Hg): Civic Medicine. Physician, Polity, and Pen in Early Modern Europe, London 2019. 59 Börner: Untersuchung Frauenzimmer, S. 16.

Claudia Opitz-Belakhal

Mütterlichkeit, Mitgefühl und Revolution Germaine de Staels Reflexionen über den Prozess der Königin – von einer Frau (1793) Als Germaine de Stael (1766–1817) im August 1793 ihre Reflexions sur le procès de la Reine par une femme veröffentlichte, war dies eine der ersten öffentlichen Wortmeldungen der ebenso ambitionierten wie gebildeten jungen Frau – und eine ganz und gar nicht ungefährliche zudem. Germaine de Stael, geborene Necker, war ein frühreifes Kind gewesen und im Salon ihrer Mutter Suzanne Curchod-Necker (1737–1794) schon früh mit den berühmtesten Gelehrten und Politikern ihrer Zeit in Kontakt gekommen. Ihr Vater, der aus Genf stammende Bankier Jacques Necker (1732–1804), obgleich kein gebürtiger französischer Staatsbürger, war kurz vor und in den ersten Jahren der Revolution (1788–1789) Finanzminister des Königs geworden und damit in eine der wichtigsten Positionen im Staate aufgestiegen. Schon früh versuchte sich Germaine als Autorin; so verfasste sie mit zwölf Jahren eine Komödie. 1788 ließ sie erstmals eines ihrer Werke, die Lettres sur le caractère et les écrits de Jean-Jacques Rousseau drucken, andere, etwa gleichzeitig verfasste Novellen und Dramen, gab sie erst nach 1790 in Druck. Ihre Réflexions sur le procès de la reine par une femme war somit eine ihrer frühesten politisch ausgerichteten Publikationen, mit denen sie später ebenso bekannt werden sollte wie mit ihren literarischen Werken.1 1786 hatte Germaine den deutlich älteren schwedischen Botschafter Erik Magnus Baron von Stael-Holstein (1749–1802) geheiratet und wurde von ihm bei Hofe eingeführt. Sie kannte also die Königsfamilie auch in gewisser Weise persönlich. Der kurzzeitige Kriegsminister Narbonne (1755–1813) war 1789 ihr Geliebter und während der Revolutionsjahre profitierte sie von ihrem Status als Botschaftergattin und ermöglichte ihm und einigen anderen hochadligen Freunden, der Verfolgung durch radikale Eiferer zu entkommen. Obgleich sie keine Monarchistin war und viel Sympathien für die liberalen Strömungen der frühen Revolutionsjahre zeigte, bedrohten die revolutionären Umwälzungen aber schließlich auch ihr Leben, sodass sie im September 1792 Paris verließ und einige Jahre im Ausland verbrachte. Ihr Pamphlet zur Verteidigung der Königin verfasste sie aus dem sicheren Exil in England, wo sie den geflüchteten Narbonne wiedertraf; doch

1 Ich zitiere hier aus der deutschen Übersetzung: Germaine de Stael: Rettet die Königin! Aufruf zur Verteidigung von Marie-Antoinette und andere Dokumente zur Französischen Revolution. Aus dem Französischen übertragen und mit einem Nachwort von Ruth Schirmer, Zürich 1989, S. 7–35.

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auch von dort aus nahm sie lebhaften Anteil an den Ereignissen und politischen Entwicklungen in Paris. Dass de Staels Pamphlet wenig gegen die geballte Wut der radikalen Revolutionäre und ihrer Anhängerinnen und Anhänger in Paris ausrichten konnte und Marie-Antoinette (1755–1793) nur wenige Wochen nach der Anklageerhebung zum Tode verurteilt und auf dem Schafott hingerichtet wurde, braucht wohl kaum erwähnt zu werden. Im Hinblick auf die Verteidigung der Königin konnte es also nichts ausrichten. Dennoch ist es eine interessante Positionsnahme der Ministertochter und Diplomatengattin im Kontext der vielfältigen weiblichen Stimmen, die sich zur Zeit der Revolution über die Beteiligung von Frauen am neu zu gestaltenden politischen Gemeinwesen öffentlich äußerten. Im Folgenden möchte ich daher zunächst den Entstehungskontext der kleinen, kaum 30 Seiten umfassenden Druckschrift beleuchten, bevor ich im weiteren de Staels Argumentation bezüglich der Königin als guter Mutter und tugendhafter Vertreterin des weiblichen Geschlechts betrachten werde, um in einem dritten Schritt die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen für die von de Stael geforderte Parteinahme für die Königin als Mutter sowie über weibliche politische Partizipation insgesamt genauer herauszuarbeiten.

Die Ausgangslage im Sommer 1793 Im August 1793, als das anonyme Pamphlet (Réflexions […] par une femme) in Paris an die Öffentlichkeit gelangte, strebte die Radikalisierung der revolutionären Strömungen in Frankreich auf einen Höhepunkt zu; Zeichen dafür war die um sich greifende Terrorherrschaft der Jakobinerdiktatur, die vor allem eine Folge der Kriegserklärung an die Nachbarstaaten, aber auch ein Effekt der wachsenden inneren Unruhen und eines beginnenden Bürgerkriegs waren. Der Kampf des Wohlfahrtsausschusses gegen innere und äußere Feinde machte auch vor den Angehörigen des weiblichen Geschlechts nicht Halt, denen man ansonsten die politische Mitsprache verweigert hatte. Tatsächlich hatte die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte im August 1789 zunächst noch offengelassen, wer sich zum Souverän zählen und (aktive) Bürgerrechte genießen konnte und sollte. Doch bereits mit der Verabschiedung der Verfassung im Sommer 1791 wurde deutlich, dass Frauen keine Staatsbürgerinnen im vollen Wortsinn sein konnten, sondern allenfalls die Ehefrauen von Staatsbürgern.2 Auch der republikanische Neuentwurf der Verfassung, die im Juni 1793 verabschiedet wurde, sah keine politischen Rechte für 2 Vgl. dazu die Übersetzung des Wortlauts der Verfassung von 1791 in Reinalter, Helmut (Hg.): Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit. Reform Umbruch und Modernisierung in Aufklärung und Französischer Revolution, Düsseldorf 1989, S. 53–75. Hier ist generell von ‚Bürgern‘ die Rede, nur im Titel II

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Frauen vor. Das aber waren viele Französinnen nicht mehr bereit zu akzeptieren; neben Olympe de Gouges (1748–1793) und ihrer mittlerweile berühmten Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin oder der aus Holland stammenden Etta Palm d Aelders (1743–1799), die zur gleichen Zeit einen Appell an die Französinnen zur Regeneration der Sitten richtete, in dem sie unter anderem forderte, zum Zweck dieser Erneuerung der Sitten den Frauen Stimm- und Wahlrecht zu erteilen, gingen auch zahlreiche Frauen aus dem Volk auf die Straße, um ihren Ansprüchen auf Mitsprache im neu verfassten republikanischen Staatswesen Nachdruck zu verleihen. Bereits im Mai 1793 war in Paris sogar ein radikal-republikanischer Frauenclub gegründet worden, der sich solche und weitere Forderungen auf die Fahnen schrieb und seine Forderungen in den Pariser ‚Sektionen‘, die das politische Rückgrat der Jakobinerherrschaft bildeten, lautstark vortrug.3 Solche Forderungen führten jedoch weniger zu einem Einlenken der politisch Verantwortlichen, sondern verstärkten noch deren massive und gewalttätige Versuche, die innere Ordnung aufrechtzuerhalten oder wiederzugewinnen. Ein Opfer dieser Versuche war die Feministin Olympe de Gouges, ein weiteres – und weit berühmteres – die ehemalige französische Königin Marie-Antoinette, nun ‚Witwe Capet‘ genannt. Sie war bereits im Juni 1792, nach der Flucht aus Frankreich, die im nordfranzösischen Varennes geendet hatte, im Temple eingesperrt worden und am 1. August überstellte man sie in das Conciergerie-Gefängnis, um auch ihr den Prozess wegen Hochverrats zu machen, nachdem zu Beginn des Jahres 1793 ihr Ehemann Louis XVI. (1754–1793) wegen Hochverrats hingerichtet worden war. Man hatte sie schon früher von ihrem Sohn, dem ehemaligen Thronfolger Louis getrennt, nun trennte man sie auch noch von ihrer Tochter Marie-Thérèse-Charlotte und von der Schwester ihres Mannes, Madame Elisabeth, die bis dahin ihre Gefangenschaft geteilt hatten. Im August 1793 begann der Prozess gegen die ehemalige Königin. Trotz beeindruckender Charakterfestigkeit und einigem Verhandlungsgeschick gelang es Marie-Antoinette nicht, sich von den Vorwürfen freizumachen, zumal der Prozess eindeutig politisch motiviert war und lediglich zum Zwecke der Verurteilung der Angeklagten geführt wurde. Am 16. Oktober wurde das Todesurteil über sie gesprochen, und noch am selben Tag wurde sie auf das Schafott geführt und hingerichtet.4

Artikel 3 wird das Bürgerrecht einem Ausländer zugesichert, der mit einer ‚Französin‘ verheiratet ist; es heißt hier aber eben nicht ‚mit einer französischen Staatsbürgerin‘! (vgl. ebd., S. 55). 3 Vgl. dazu Opitz, Claudia: Die erste Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 oder: Die Konstituierung der Bürgerrechte als Männerrechte, in: Dies.: Aufklärung der Geschlechter – Revolution der Geschlechterordnung. Studien zur Politik und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Münster u. a. 2002, S. 147–157. 4 Vgl. dazu Hunt, Lynn: The family romance of the French Revolution, London 1992, bes. Kapitel 4: The Bad Mother.

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Die Königin als Vor- und Gegenbild weiblicher Politikfähigkeit Die Praxis, die Königin für alle Schwächen der Monarchie verantwortlich zu machen, zeichnete sich bereits lange vor der Revolution ab, und nach Einführung der Pressefreiheit 1789 gab es kein Halten mehr: Fingierte illustrierte Lebensgeschichten der Marie-Antoinette, die insbesondere ihre erotischen Ausschweifungen dem geneigten Publikum vor Augen führten, trugen ebenso zur Entsakralisierung und Erniedrigung der Königin bei wie pornographische oder satirische Flugblätter, die die Impotenz des Königs verlachten und die inzwischen doch recht zahlreichen Kinder der Königsfamilie als Bastarde kennzeichneten, welche aus ehebrecherischen Beziehungen der ,Autrichienne‘ (beziehungsweise. wortspielerisch ‚l’autre chienne‘ – wörtlich „die andere Hündin“ oder ‚jene Hündin‘) genannten Marie-Antoinette hervorgegangen waren. Nicht selten wurde sie als tierisches ‚Monster‘ dargestellt oder als ‚Chimäre‘, also als Mischwesen aus Mensch und Tier. Die Angriffe auf die ‚reine scelerate‘, die schändliche und verbrecherische Königin, wurden ab 1790 zu einem Hauptinstrument der Monarchie-Kritik, wobei die wachsende Unbeliebtheit der Königin radikale wie gemäßigte revolutionäre Kräfte mehr einte als die Kritik am König, der zu lange zögerte, auf die von der Nationalversammlung erarbeitete Verfassung zu schwören und damit der Einschränkung seiner ererbten Machtfülle zuzustimmen, und der sich schließlich dieser Zumutung durch Flucht ins Ausland zu entziehen versuchte.5 Als besonders aggressiver und hämischer Angriff auf die französische Königin kann das anonym publizierte, fast 400 Seiten umfassende Pamphlet Les crimes des reines de France, depuis le commencement de la monarchie jusqu‘à Marie-Antoinette gelten, das seit Sommer 1791 in mehreren Auflagen in Paris kursierte und in dem die Königin mit allen denkbaren Untaten in Verbindung gebracht wurde.6 Bereits im Avant-propos, im Vorwort des Werkes, wird zum Zweck der ,angemessenen‘ Be- und Verurteilung der Königin eine Geschlechteranthropologie entworfen, die im Sinne Rousseaus der ,Natur‘ eine zentrale Rolle zuweist. Frauen, so heißt es hier, seien von Natur aus „schwache und furchtsame Wesen“, die jedoch zu furchtbaren Monstern („animaux plus féroces et plus indomptables que les hommes les plus barbares et les plus ignorants“) würden, sobald sie durch die Gelegenheit zur Machtausübung korrumpiert wären.7 Dies sei bei Marie-Antoinette ohne Zweifel der Fall, die daher vom Thron gestoßen und mundtot gemacht werden müsse – und mit ihr alle diejenigen Angehörigen des weiblichen Geschlechts, die ebenfalls 5 Vgl. dazu Thomas, Chantal: La reine scelerate. Marie-Antoinette dans les pamphlets, Paris 1988 sowie Hunt: The family romance. 6 Anonym: Les crimes des reines de France, depuis le commencement de la monarchie jusqu‘à MarieAntoinette. Publiés par L. Prudhomme, Londres 1792. 7 Ebd., S. 2.

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nach der politischen Macht zu greifen versuchten. Alle Frauen, Königinnen oder einfache Bürgerinnen, sollten sich vielmehr an die Lehre von Vernunft und Natur halten, die da laute: Liebe Deinen Ehemann, denn Du hast [von der Natur] alles erhalten, um ihm zu gefallen. Ehre den Vater Deiner Kinder, Deine physische Konstitution [„organization“] erlegt Dir Sanftheit und Zurückhaltung als einziges Gesetz auf. Deine einzigen (Macht-)Mittel liegen darin, um Dich herum eine gute Ordnung walten zu lassen. Eine über Deinen Haushalt ausgreifende Verwaltungstätigkeit liegt nicht in Deiner Reichweite, denn Du müsstest Dich auf List und Tücke verlegen, um die Schwäche Deiner Kräfte auszugleichen. Herrsche über Deine Familie mit Liebe und Anerkennung. Unterhalte Deine Kinder mit dem Lärm von Kinderrasseln, aber das Steuer(-ruder) des Staates gehört nicht in Deine schwachen und unsicheren Hände!8

Das Pamphlet ist an antifeministischer Haltung und misogyner Argumentationsweise kaum zu überbieten.9 Interessanterweise übte aber auch Olympe de Gouges in ihrer auf Geschlechtergleichheit abzielenden ‚Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne‘ zur gleichen Zeit eine ganz ähnliche Kritik an der weiblichen ,Politik im Boudoir‘, welche den Frauen in der höfischen Welt, angefangen mit der (Noch-)Königin, eine ungeheure, aber auch unkontrollierte und ,geheime‘ und daher illegitime Macht gewährt habe. Jahrhundertelang stand besonders die französische Regierung in der Abhängigkeit von Frauen, die nachts Politik betrieben. Das Kabinett war vor ihren Indiskretionen nicht sicher. Ebensowenig die Botschaft, die Heerführung, das Ministerium, die Präsidentschaft, das Bischofs- und das Kardinalsamt. Ja alles, was die Dummheit der Männer ausmacht, ob im säkularen oder im religiösen Bereich, alles war der Habgier und der Ambition

8 „C’étoit avertir les femmes de la sorte d’empire à laquelle elles pouvoient aspirer et devoir borner leurs prétensions, c’estoit dire à chacune d’esses: aime ton mari, tu a reçu en don tout ce qu’il te faut pour lui plaire. Honore le père de tes enfans, ton organization te fait une loi de la douceur et du calme. Tu n’as de moyens que pour faire regner l’ordre autour de toi. Une administration plus vaste, plus compliquée que celle de ton ménage est hors de ta portée; il te faudroit recourir à la ruse pour suppléer au défaut des forces. Regne sur ta famille par l’amour et la reconnaissance. Amuse tes enfants au bruit du hochet, mais le timon de l’état ne convient pas à ta main débile et mal assure.“ (ebd., S. IXf.; Übersetzung von C. Opitz-Belakhal). 9 Es stammt dennoch zweifellos aus der Feder einer Frau, der Journalistin und Revolutionärin Louise de Kéralio (1757–1821), die mit dem Herausgeber des Pamphlets, Louis Prudhomme (1752–1830), schon seit längerem zusammenarbeitete. Vgl. dazu Geffroy, Annie: Louise de keralio-robert, pionnière du républicanisme sexiste, in: Annales historiques de la Révolution française 344 (2006), S. 107–124, http://journals.openedition.org/ahrf/6113; DOI : https://doi.org/10.4000/ahrf.6113 [abgerufen am: 20. Dezember 2020].

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dieses Geschlechts unterworfen, ein Geschlecht, das früher verachtenswert war, doch geehrt wurde, und das seit der Revolution ehrenwert ist, doch verachtet wird.10

Immerhin widmete sie ihre Declaration im Frühsommer 1791 noch der Königin, zweifellos als der noch immer ersten Frau im Staate, die sie dabei jedoch ernsthaft ermahnte, sich als Patriotin zu verhalten und nicht „als unversöhnliche Feindin der Franzosen.“ Sie solle verhindern, dass fremde Mächte über Frankreich herfielen und so die politische Situation außer Kontrolle gerate. Und sie beschwor sie, sich der Sache der Frauen anzunehmen, also eine „so schöne Sache“ wie die Gleichheit der Geschlechter zu unterstützen: „Verteidigen Sie dieses unglückliche Geschlecht, und sie werden bald die Hälfte des Königreichs auf ihrer Seite haben, und mindestens ein Drittel der anderen.“11 Ein Jahr später hatte sich die Situation jedoch noch weiter zu Ungunsten der Königin entwickelt; ‚fremde Feinde‘ bedrohten die junge Republik, und die Anklagen richteten sich mittlerweile vor allem gegen die Königin, von der Olympe de Gouges bereits 1791 konstatiert hatte, daß „das ganze Reich Sie beschuldige und Sie für sein Elend verantwortlich mache“, ja, die sogar bereits das Schwert gegen sie gerichtet sah.12 Wie also konnte in einem solchen Klima die allseits verhasste Königin überhaupt noch verteidigt werden? Germaine de Stael hatte sich tatsächlich eine höchst schwierige Aufgabe gestellt, als sie im Spätsommer 1793 – aus ihrem Exil heraus – versuchte, die gefangengesetzte Marie-Antoinette zu verteidigen und damit deren Leben zu retten. Zunächst versuchte sie in ihrer kleinen Schrift, einige der gegen sie vorgebrachten Anschuldigungen als üble Nachreden zu widerlegen: „Verleumdung hing der Königin an, schon bevor der Parteigeist die Wahrheit aus der Welt verbannt hat. Ein trauriger und einfacher Grund ist die Ursache dafür: weil sie die glücklichste aller Frauen war.“13 Es war aus ihrer Sicht also das rätselhafte Rad des Schicksals, das die Schönen und Mächtigen so rasch wie erbarmungslos stürzen kann (la fortune) – es waren aber auch die ungezügelten und unberechenbaren Leidenschaften des Volkes, der Leute von der Straße, die Marie-Antoinette einst bei ihrem Einzug in Paris mit Blumen überhäuft hätten und sie nun mit Unrat bewürfen. Und vor allem seien es die Feinde der Monarchie, die voller Neid und Hass auf das „alte Regime“ erst den König getötet hätten und sich nun auch über die Königin hermachten, wenn auch völlig zu Unrecht:

10 Zit. n. de Gouges, Olympe Marie: Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin, 1791, in: Die Frau ist frei geboren. Texte zur Frauenemanzipation, hg. u. kommentiert von Hannelore Schröder, Bd. I, München 1979, S. 31–54, hier S. 41. 11 Ebd., S. 34. 12 Ebd. 13 De Stael: Rettet die Königin!, S. 8f.

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Nun ist aber auch in die geheimsten Winkel Licht gebracht worden. Tausende von Beobachtern wurden angesetzt, die Spuren des Ancien Régime auszuleuchten: Man hat die Denunziation belohnt, die Treue mit Schrecken erfüllt, den Terror schamlos geschützt, und den Fanatismus, wissend um die Gefahr, angeheizt. Alle menschlichen Leidenschaften sind freigesetzt worden, um sich gegen das alte Regime zu wenden, gegen Personen, die man einst beneidet hatte, aber jetzt nicht mehr zu fürchten brauchte. […] Um aber die Massen gegen die Königin aufzuwiegeln, hat man ununterbrochen wiederholt, sie sei eine Feindin der Franzosen, und diese Anschuldigung hat man in wüstester Form vorgebracht.14

Marie-Antoinette wird hier zur tragischen Figur erhoben, deren Handeln keinesfalls schuldhaft und deren hartes Schicksal daher letztlich unverdient sei. Weder habe sie unmäßig Geschenke unter ihre Günstlinge verteilt, noch habe sie Minister ins Amt gehoben oder ihre Entlassung betrieben, und vor allem sei es in höchstem Grade unwahr, dass sie Frankreich, ihre neue Heimat, hasse und als Österreicherin gegen die Interessen Frankreichs handele – schließlich habe sie in Frankreich ihr großes Glück gefunden, als gekrönte Königin und als Ehefrau eines regierenden Fürsten. Ihre Kontakte nach Wien seien ganz ihrem töchterlichen Gehorsam gegenüber ihrer ‚großen Mutter‘, der Kaiserin Maria Theresia (1717–1780), zuzuschreiben; ihre Loyalität aber liege eindeutig bei ihrer königlichen Familie in Frankreich. Es wäre höchst unsinnig anzunehmen, dass sie sich selbst und ihrer Familie durch irgendwelche anti-französische Haltungen und Handlungen geschadet hätte. Neben solchen eher strategisch-vernunftbasierten Argumenten verschleiert de Stael aber auch nicht ihre Empörung über die besonders infame Anklage wegen Inzests, der der Königin vorgeworfen werde und der die üble Nachrede der sexuellen Leichtfertigkeit, unter der vor allem Frauen zu leiden hätten, noch in unerträglicher Weise verschärfe: Man versucht auf gemeinste Weise, den Respekt, den die Königin einflößt, durch jene Art von Verleumdung zu untergraben, die die Frauen so leicht entehrt, jene ungerechtfertigte Verleumdung, die an sich schon so herabwürdigen kann wie ein tatsächliches Vergehen; doch ist die Königin durch ihren schicksalhaften Rang erhoben über das gewöhnliche

14 Ebd., S. 16. Die rätselhafte Dynamik der ‚öffentlichen Meinung‘ sollte De Stael auch in den folgenden Jahren noch intensiv beschäftigen. Sie verfasste über die ‚passions‘ als zentrale Einflussfaktoren auf die Schicksale nicht nur von Einzelnen, sondern von ganzen Völkern und Nationen eine umfangreiche Abhandlung, die sie 1796 erstmals drucken ließ (de Stael, Germaine: De l’influcence des passions sur les individus et les nations, Lausanne 1796); vgl. dazu auch Fontana, Biancamaria: Germaine de Stael. A Political Portrait, Stanford/Princeton/Oxford 2016, bes. Kapitel 3 und 6.

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Los der Frauen. Ihr Leben spielt sich zu sehr im Licht der Öffentlichkeit ab, um nicht die üble Nachrede Lügen zu strafen.15

Letztlich attestiert de Stael der Königin – entgegen aller Anwürfe, unter denen sie zu leiden hätte – einen tadellosen Charakter. Sie sei „von Natur aus gut, ja gütig, und blind für die eigene Gefahr.“16 Sie habe keinem Menschen Böses zugefügt und nicht einmal jetzt, in ihrer furchtbaren Lage, kämen ihr Rachegedanken. Ihre Verurteilung und Hinrichtung sei allenfalls ein „Opfergang dieser unglücklichen Fürstin“, der die Gesetze der Gastfreundschaft und der Natur verletze. Und folgerichtig endet de Stael ihr Pamphlet mit einer Warnung, ja, einer Drohung an das gesamte französische Volk, sollte es von seinen ungerechten Anschuldigungen und seiner Hetze nicht absehen: Aber wehe dem Volk, das seine Schreie nicht hört, Unglück über das Volk, das weder gerecht noch großmütig handelt! Ihm wird die Freiheit nicht blühen. Die Nationen, die so lange dem Schicksal Frankreichs verbunden waren, könnten sich in Zukunft kein Ereignis vorstellen, das wieder gutmacht, was diese entfesselte Generation anrichten will.17

Mütterliches Mitgefühl: eine weibliche Basis der Politik? Wie erwähnt, fruchteten de Staels teils politisch sehr hellsichtige, teils aber auch etwas widersprüchliche und im Hinblick auf die Königin sehr emotional vorgetragene Argumente wenig. Der Versuch, die politisierten Massen ebenso wie die Richter zu Mitgefühl zu bewegen, misslang.18 Wenig erstaunlich, denn schon de Staels Vater, dem ehemaligen französischen Finanzminister Jacques Necker, war es einige Monate zuvor ebenso wenig gelungen, die Richter des Königs Ludwig XVI. zu politischer Umsicht, Fairness und Mitgefühl zu bewegen, als er im Oktober 1792 eine Verteidigungsschrift für den König – ebenfalls aus dem Exil – publizierte und in Paris verteilen ließ. Auch er hatte in hochemotionaler Weise die Folgen einer Hinrichtung des entthronten Königs geschildert; auch er hatte dem Monarchen

15 Ebd., S. 19. 16 Ebd. Auch Olympe de Gouges verteidigte in ihrer Deklaration den Charakter der Königin gegen alle üblen und unfairen Anschuldigungen: „Ich konnte nie daran glauben, dass eine Prinzessin, die in Glanz und Ehren groß geworden ist, allen Lastern der Niedrigkeit anhängen sollte.“ (zit. n. De Gouges: Deklaration, S. 33). 17 Ebd., S. 25. 18 Die Schrift provozierte allerdings einen Schwall von empörten Reaktionen von allen Parteiungen und bewirkte, dass de Stael in Paris weiterhin eine persona non grata blieb. Vgl. dazu Fontana: Germaine de Stael, S. 63.

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selbst einen vorbildlichen Charakter attestiert und ihn als einen Regenten präsentiert, der ein besonders hartes Schicksal zu ertragen habe und mit der historisch völlig neuartigen Situation einer Revolution völlig überfordert sei; folglich hatte er ihn als „Monarque infortuné“ bezeichnet.19 Auch über die Königin hatte er einige wenige Sätze verloren, die schon zu dieser Zeit (vor allem wegen ihrer Rolle bei der Flucht der Königsfamilie aus Paris) als Anstifterin zum Hochverrat und „Autrichienne“, also ausländische Feindin im Königshaus verleumdet wurde. Sie wird von Necker vor allem als die gehorsame Tochter der großen Kaiserin MariaTheresia präsentiert, sowie als treue Gattin des Monarchen („la fidèle compagne de ces infortunés […] et la fille chérie de Marie-Thérèse, de cette illustre impératrice“), die die sprichwörtliche Gastfreundschaft der Franzosen verdient hätte und nicht die unsäglichen Anschuldigungen und den Hass der Ankläger ihres Gatten.20 Sicherlich hatte sich de Stael bei ihrer Verteidigungsschrift am Vorbild der väterlichen Réflexions über den Prozess des Königs orientiert, zumal sie ihren Vater rückhaltlos bewunderte und auch im Exil ständig Kontakt zu ihm hielt, also auch seine Verteidigungsschrift sehr gut kannte. Im Titel wie im argumentativen Gestus ist de Staels Schrift daher den Reflexions ihres Vaters eng verwandt. Allerdings betont de Stael besonders Marie-Antoinettes Leistungen und ihr Schicksal als (leidende) Mutter: Künftig werdet Ihr sie zu sehen glauben, wie sie am 6. Oktober auf den Balkon vor das Volk hintrat, umgeben von ihren beiden Kindern, welche die Anmut ihres Herzens verkörpern und den Glanz auf ihrem Leben ausmachen. Da brüllte die erregte Menge: „Weg mit den Kindern!“ Bei diesem Angst einjagenden Geschrei fürchtete die Königin, auch sie der Gefahr auszusetzen und beeilte sich, sie zu entfernen.21

Mehrfach kommt de Stael im Folgenden noch auf die besondere Leidenssituation der Familienmutter und Witwe zu sprechen, deren einzig noch verbliebener Sinn im Leben die Verantwortung für ihre Kinder sei: In der furchtbaren Zeit nach des Königs Tod hat die Königin ihren Kindern, wann immer es möglich war, neue Beweise ihrer Liebe geschenkt; während der Krankheit ihrer Tochter

19 Necker, Jaques: Réflexions présentés à la Nation Francaise sur le procès intenté à Louis XVI par M. Necker, Paris 1792, hier S. 8. 20 Ebd., S. 28. Es heißt hier abschließend: „O Francois! Au nom de votre gloire, au nom de votre ancienne renommée, hélas! Peut-etre encore au nom de cette sensibilitè, de cette générosité qui firent si long-temps notre plus bel ornement, mais surtout au nom du ciel, au nom de la piété, repoussez tous ensembles les projets de ceux qui cherchent à vous entrainer au dernier temps de l´ingratitude, et qui veulent vous associer à leurs violentes passions et à leurs sombres pensées.“ (S. 29). 21 De Stael: Rettet die Königin!, S. 20.

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hat sie ihr jeden erdenklichen Dienst in ihrer zärtlichen Unruhe erwiesen; schien es doch, als müßte sie nun die Menschen, die ihr geblieben waren, fortwährend im Auge behalten, um die Kraft zu leben wiederzugewinnen.22

Umso grausamer und unmenschlicher erscheint dann die Behandlung, die der entthronten Königin durch die revolutionäre Justiz aufgezwungen wurde: Und dennoch ist man eines Tages gekommen und hat ihren Sohn genommen; das Kind hat zweimal vierundzwanzig Stunden jede Nahrungsaufnahme verweigert. […] So also sieht das Jahr aus, das die unglückliche Frau gerade durchlebt hat! Und dennoch existiert sie noch immer; sie lebt, weil sie liebt, und weil sie Mutter ist. Ach, könnte sie denn ohne dieses geheiligte Band denen vergeben, die ihr Leben verlängern möchten?23

De Stael zeichnet dieses Bild einer leidenden Mutter zwar nicht zuletzt auch, um deren männlichen Verfolger und Richter zu rühren,24 jedoch richtet sie ihr Pamphlet zuallererst und vor allem an die Frauen aller Länder, aller Stände: Oh, Ihr Frauen aller Länder, aller Stände, hört mich mit der gleichen Ergriffenheit an, die mich erfaßt hat; das Schicksal der Marie-Antoinette umfaßt alles, was Euer Herz berühren kann: Wenn Ihr glücklich seid, so ist sie es auch gewesen; wenn Ihr leidet, seit einem Jahr und länger haben auch alle Qualen des Lebens ihr das Herz zerrissen; wenn Ihr empfinden könnt, wenn Ihr Mütter seid – [auch] sie hat mit ganzer Seele geliebt, und das Leben ist immer noch liebenswert, solange uns noch nahe Menschen bleiben.25

Und wie sie ihre Verteidigungsschrift mit einem Aufruf an die Frauen begonnen hat, so beendet sie sie auch, und appelliert nochmals an deren Muttergefühle: Ich wende mich wieder an Euch, Ihr Frauen, die Ihr alle in der einen so zärtlichen Mutter hingeopfert würdet durch das Verbrechen, das ohne Mitleid an der Hilflosigkeit verübt würde. Das wird aus Eurem Leben, wenn das ungezähmte Grauen regiert, das wird aus Eurer Bestimmung, wenn Eure Tränen vergeblich fließen. Verteidigt die Königin mit allen Waffen, die Euch die Natur verliehen hat! Nehmt Euch dieses Kindes an, das umkommt,

22 Ebd., S. 34. 23 Ebd. 24 So heißt es gegen Ende der Réflexions etwa: „Seht sie Euch an, Ihr grausamen Burschen, […] wie sie von Tränen entstellt ist! Seht Ihr die Spuren eines Jahres der Verzweiflung! Was braucht Ihr noch mehr, wenn sie schuldig war? Und was müssen erst diejenigen durchmachen, die von ihrer Unschuld überzeugt sind?“ (ebd., S. 35.). 25 Ebd., S. 8.

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wenn es die verlieren muß, die es so geliebt hat; es wird bald selbst ein unerwünschtes Wesen sein, durch das unbeschreibliche Interesse, das so viel Unglück auf sein Haupt häuft: Seht, wie es auf Knien den Segen der Mutter erfleht! Ein Kind kann bitten, ein Kind ist sich seiner selbst noch nicht bewußt.26

Man kann sich fragen, ob beziehungsweise inwiefern de Stael hier auf eine Mobilisierung der Frauen abzielte, ähnlich wie Olympe de Gouges, die in ihrer Deklaration ebenfalls an die Angehörigen des weiblichen Geschlechts appellierte, um sie zu motivieren, für ihre Rechte zu kämpfen: „Frauen, wacht auf! Die Stimme der Vernunft läßt sich auf der ganzen Welt vernehmen! Erkennt Eure Rechte! […] O Frauen! Frauen, wann hört Ihr auf, blind zu sein?“27 Tatsächlich klingt de Staels Verteidigungsschrift an einigen Stellen ganz ähnlich, so etwa, wenn sie sich direkt an ihre Leserschaft wendet mit den folgenden Worten: Ihr, denen sie geholfen hat, die Ihr Teil des heute allmächtigen Volkes seid, wollt Ihr es dulden, daß man die Königin in Eurem Namen für die großmütigen Taten ihres Mitleids mit Euch bestraft? Und Ihr Mütter, die Ihr eine so rührende Bevorzugung genießt, sagt, ob Ihr es wollt, daß man die Königin anklagt der Gaben wegen, die sie an Euch verschwendet hat?28

Und ganz eindeutig sieht auch de Stael, wie de Gouges, ihr Feindbild insbesondere in den Vertretern des männlichen Geschlechts, wenn auch de Stael vor allem diejenigen Volksvertreter angreift, die die Verurteilung der Königin aus blankem Eigeninteresse vorantreiben,29 während de Gouges an sämtliche Vertreter des männlichen Geschlechts appelliert: „Mann, bist Du fähig, gerecht zu sein? Eine Frau stellt dir diese Frage. […] Sag mir, wer hat dir die selbstherrliche Macht verliehen, mein Geschlecht zu unterdrücken?“30 Allerdings ist de Staels Pamphlet durchsetzt von weiteren Appellen an „die Franzosen“, also an das gesamte französische Volk, ohne Ansehen des Geschlechts.31

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Ebd., S. 35. De Gouges: Deklaration, S. 40. De Stael: Rettet die Königin!, S. 11. „Die führenden Männer einer Volkspartei bedienen sich aller Mittel, das Volk für ihre eigenen Zwecke bedenkenlos zu gebrauchen.“ (ebd., S. 22). 30 De Gouges: Deklaration, S. 35. 31 So etwa in De Stael: Rettet die Königin!, S. 28: „Franzosen, verleugnet nicht den letzten Rest Eures antiken Herkommens! Ihr habt über fremde Heere gesiegt, schon habt Ihr sie aus französischem Territorium vertrieben: wollt Ihr die Tapferkeit selbst wertlos machen, indem Ihr sie von allen anderen Tugenden trennt? Wenn Ihr auf Eurer Grausamkeit beharrt, wenn Ihr die Königin opfert, brandmarkt Ihr Eure eigenen Erfolge.“

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Es geht ihr insofern zwar in der Tat darum, eine breite Volksbewegung zur Rettung der Königin ins Leben zu rufen, nicht jedoch, die politische Emanzipation des weiblichen Geschlechts voranzutreiben. Doch während sie den Richtern wie dem gesamten französischen Volk die Verachtung der Menschheit und die Feindschaft der Nachbarstaaten androht, um sie zum Umdenken zu bewegen,32 spricht sie die weibliche Hälfte des Volkes mit eher freundlichen Worten an, um ihr mütterliches Mitgefühl mit der Königin und Mutter zu erwecken. Und sie wendet sich an sie als ‚eine Frau‘. Im Spätsommer 1793 war Germaine de Stael selbst junge Mutter von zwei Kindern und bereits von eben dem Schicksal gezeichnet, das viele junge Mütter im 18. Jahrhundert erleiden mussten: 1787 hatte sie ihr erstes Kind, Gustavine, geboren, das aber leider bereits zwei Jahre später, im August 1789, starb. War sie deshalb so sehr vom schweren Schicksal der Königin beeindruckt, der man nicht nur den Ehemann genommen hatte, sondern auch ihre beiden Kinder? Möglicherweise spielte ihre eigene Erfahrung hierbei auch eine Rolle – aber sie schrieb das Pamphlet als Frau, nicht als Mutter. Und sie richtete es an „die Frauen aller Länder, aller Stände.“ Immerhin handelte es sich bei der Königin um die wichtigste weibliche politische Akteurin in Zeiten der Revolution. Und dies scheint de Stael wie Olympe de Gouges deutlich bewusst gewesen zu sein, die ihr, wie erwähnt, 1791 ihre ‚Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin‘ gewidmet hatte, wie ja in der Tat auch mit der Verurteilung und Hinrichtung der Marie-Antoinette im Herbst 1793 die Repression gegen die offen für Frauenrechte plädierenden und agitierenden Frauen begann.33 Allerdings scheint mir dabei noch wesentlicher zu sein, dass es de Stael in ihrem Pamphlet, wie sie einleitend schreibt, vor allem darum ging, „die allgemeine Meinung“ zu beeinflussen – und weniger, die Königin „wie ein Advokat“ zu verteidigen.

32 „Täuscht Euch nicht darüber hinweg: Es ist vermutlich die Zerstörung des Königtums und der privilegierten Stände, was die meisten Regierungen Europas gegen Euch aufbringt. Jedoch das, wogegen sich die Völker erheben, ist Eure brutale Aufhebung der Gesetze. Ihr regiert mit dem Tod; die Macht, die Eurem Regierungssystem fehlt, ersetzt Ihr durch eine Terrorjustiz; und da, wo es einen Thron gab, habt Ihr ein Schafott errichtet. Das, was die Anziehungskraft der ersten Prinzipien der Revolution ausmachte, war ihre scheinbare Rückkehr zu den Naturgesetzen. Aber gibt es eine schrecklichere Verkehrung der angeborenen Regungen des menschlichen Herzens als die Zur-Schau-Stellung der Grausamkeit, als den Redeschwall, der sich bloßer Drohungen bedient, als diese Versprechungen, die nichts anderes verheißen als den Tod?“ (ebd., S. 28f.). 33 Vgl. dazu etwa Gutwirth, Madlyn: Marie-Antoinette, Scourge of the French People, in: Dies., The Twilight of the Goddesses. Women and Representation in the French Revolutionary Era, New Brunswick (NJ) 1992, S. 228–245 und Hunt, Lynn: The Many Bodies of Marie-Antoinette. Political Pornography and the Problem of the Feminine in the French Revolution, in: Dies. (Hg.), Eroticism and the Body Politic, Baltimore 1991, S. 108–130.

Mütterlichkeit, Mitgefühl und Revolution

Die öffentliche Meinung war in den Jahren der Revolution und der Jakobinerherrschaft zu einer mächtigen Waffe geworden, die nicht nur den Sturz der Monarchie mitverursacht hatte, sondern die nun drohte, die Errungenschaften der Revolution vollends mitzureißen und zu zerstören. De Stael selbst spricht diesen genuin politischen Mechanismus in ihren Réflexions mehrfach explizit an; ja, der Prozess gegen die Königin ist aus ihrer Sicht ausschließlich auf der schwankenden Basis der öffentlichen Meinung, mehr noch, der Verleumdung aufgebaut.34 Um diese ‚allgemeine Meinung‘ wieder zu Vernunft und Wahrheit zurückzuführen, erscheint es de Stael nun offensichtlich notwendig und unerlässlich, insbesondere das weibliche Geschlecht davon zu überzeugen, mit ihr gemeinsam der Verurteilung und Hinrichtung der Königin entgegenzuwirken. Die Angehörigen des weiblichen Geschlechts erscheinen in de Staels Pamphlet als eine wesentliche Wirkkraft im politischen Alltag, die indes auf andere, besondere Weise in Bewegung versetzt werden muss als durch vernunftbasierte Argumente, nämlich durch Emotionen, vor allem durch die Erweckung von Mitgefühl, das insbesondere in mütterlichen (und allenfalls auch väterlichen) Herzen verankert erscheint. Auch die radikalen republikanischen Revolutionäre widmeten zu dieser Zeit den ‚patriotischen Müttern‘ besondere Aufmerksamkeit und trieben gar einen ‚Kult‘ patriotischer Mütterlichkeit, inklusive öffentlichem, kollektivem Stillen, voran – wobei sie auch all jenen ihrer Anhängerinnen Tribut zollten, die bereits im Oktobermarsch nach Versailles als Familienmütter „Brot und die Verfassung“ gefordert hatten.35 Auf diese wachsende Bedeutung der „Mütter aller Stände und Nationen“ konnte sich auch de Stael beziehen, wenn sie der Leserschaft die mütterlichen Gefühle der Königin und ihr Leiden so deutlich vor Augen führte. Die These allerdings, die Lori J. Marso in Anlehnung an Wendy Gunther-Canada präsentiert hat, dass nämlich diese emotionenbezogene Mobilisierung bei de Stael vor allem auf die weiblichen politischen Akteure zielte, während die männlichen politischen Akteure vor allem durch vernunftbasierte Argumente gewonnen werden sollten, erscheint mir nicht zutreffend.36 Denn auch die männlichen politischen Akteure spricht de Stael durchaus mithilfe von Emotionen an, versucht auch bei ihnen Mitgefühl für die

34 „Verleumdung hing der Königin an, schon bevor der Parteigeist die Wahrheit aus der Welt verbannt hat […].“ (zit. n. De Stael: Rettet die Königin!, S. 8). 35 Vgl. dazu Baxmann, Inge: Die Feste der Revolution. Inszenierung von Gesellschaft als Natur, Weinheim/Basel 1989; Godineau, Dominique: Les femmes du peuple à Paris pendant la Révolution francaise, Aix-en-Provence 1988, sowie Hufton, Olwen: Women and the Limits of Citizenship in the French Revolution, Toronto 1992, bes. Kapitel 2 und Jacobus, Mary L.: Incorruptible Milk. Breastfeeding and the French Revolution, in: Sarah E. Melzer/Leslie W. Rabine (Hg.), Rebel Daughters. Women and the French Revolution, Oxford 1992, S. 54–75. 36 Vgl. dazu Marso, Lori J.: Defending the Queen. Wollstonecraft and Stael on the Politics of Sensibility and Feminine Difference, in: The Eighteenth Century 43/1 (Spring 2002), S. 43–60.

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unglückliche Königin zu wecken, wenn sie etwa schreibt: „Republikaner, Konstitutionelle, Aristokraten, wenn Sie Unglück erfahren haben, wenn Sie des Beistands bedurften, der Gedanke an die Zukunft Ihnen Angst macht, vereinigen Sie sich, um die Königin zu retten.“37 Vielmehr zeigt sich meines Erachtens in dieser direkten Adressierung der „Frauen aller Länder aller Stände“ – „von einer Frau“ eine besondere Verantwortung und – vor allem unter den gegebenen Umständen, d. h. der Gefangensetzung, Anklage und Aburteilung einer Königin – eine besonders bedeutsame politische Rolle von Frauen bei diesem revolutionären Umbruch. Einerseits tritt hier die große Bedeutung der weiblichen Bevölkerung bei der Entstehung und Verbreitung von Gerüchten und „Meinungen“ zutage38 – und andererseits ihre besondere Verantwortung für die Verteidigung von Mitgefühl und Menschlichkeit auf der Basis der besonderen weiblichen oder besser: mütterlichen Fähigkeit zu Empathie und Fürsorge. Dass Mitgefühl im Kontext der französischen Revolution eben gerade keine ausschließlich weibliche Empfindung und Fähigkeit darstellte, sondern als die menschliche Emotion schlechthin betrachtet wurde, die friedliches menschliches Zusammenleben überhaupt erst ermöglichte, hat Lynn Hunt in ihrer emotionsgeschichtlichen Studie über die ‚Erfindung‘ der Menschenrechte gezeigt.39 Dass es hierbei dennoch eine spezifisch weibliche oder genauer: mütterliche Kompetenz geben konnte und sollte, unterstreicht meines Erachtens de Staels Aufruf an die Frauen, in dem sie die Verteidigung der Königin auf deren bedauerlichem Schicksal als vielleicht unglückliche, aber doch ohne Zweifel hingebungsvolle Mutter aufbaute. Denn de Stael war keineswegs eine Monarchistin, die mit der Verteidigung der Königin auch die Monarchie retten wollte. Marie-Antoinette war vielmehr in ihren Augen ebenso „eine Frau“ und Mutter wie die Verfasserin der Verteidigungsschrift selbst – und wie alle diejenigen, die sich im Oktober 1789 – eben auch um ihrer Kinder und deren Zukunft willen – nach Versailles begeben hatten, um für „Brot und die Verfassung“ zu kämpfen. Es brauchte daher im Sommer des Jahres 1793 auch keinen Aufruf mehr an die Frauen zum Zweck ihrer Politisierung und Einmischung in das politische Tagesgeschäft, sondern es brauchte nun, so zeigt es Germaine de Stael in ihren Réflexions über den Prozess der Königin Marie-Antoinette, ein

37 De Stael: Rettet die Königin!, S. 8. An anderer Stelle appelliert sie sogar an die „väterlichen Gefühle“ der Richter: „[…] ja, wenn unter den Richtern der Marie-Antoinette sich ein Vater befindet“, der einer zärtlichen Regung fähig ist, so wird er ihr Verteidiger sein. Sein angeborener Instinkt wird ihn die Wahrheit entdecken lassen trotz der Fallen der Verleumder, und Erinnerung und Einfühlungsvermögen werden ihn unfähig machen, ein solches Unglück zu vollenden“ (ebd., S. 19). Vgl. dazu auch Fontana: Germaine de Stael, bes. Kapitel 3. 38 Vgl. dazu Jarvis, Katie: Politics in the Marketplace. Work, Gender and Citizenship in Revolutionary France, Oxford 2019. 39 Hunt Lynn: Inventing Human Rights. A History, New York 2007.

Mütterlichkeit, Mitgefühl und Revolution

„mouvement“, eine Bewegung der Herzen und Seelen hin zu den Gesetzen der (menschlichen) Natur und damit zu gemeinsamem politischen Handeln unter dem Vorzeichen von Mütterlichkeit und (Mit-)Menschlichkeit.

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ANHANG

Abkürzungsverzeichnis

Aufl. Bd./Bde. bearb./Bearb. bes. bzgl. bzw. c. ca. cf. Ders./Dies. Ed. erw. Hg. hg. v. HRG Id. LASA o. O. p. r S. u. u. a. unpag. v Vgl. ZHF Zit. n. zus.

Auflage/n Band/Bände bearbeitet/Bearbeiter/in besonders bezüglich beziehungsweise capitulum circa confer Derselbe/Dieselbe Editor(s) erweitert(e) Herausgeber:innen Herausgegeben von Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Idem Landesarchiv Sachsen-Anhalt ohne Ort page recto (Vorderseite eines Quellentextes) Seite(n) und und andere unpaginiert verso (Rückseite eines Quellentextes) Vergleiche Zeitschrift für historische Forschung Zitiert nach zusammen

Bildnachweise

Umschlagabbildung: Die vitruvianische Venus, © Vanessa Mundle, Magdeburg 2021. Frontispiz: Porträt von Eva Labouvie, © Harald Krieg, Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg. Willem de Blécourt: The Mystery of the Cow’s Leg: The Animalisation of Illicit Liaisons Figure 1: Drawing by the author, after: Tiny Romme: Charivari, p. 100. Figure 2: From: Jacobs: ‘Justitieel optreden’, p. 356. Figure 3: From: Van den Bergh: Volksgerichten in Limburg, p. 87. Figure 4: From: Jan de Vries: De wetenschap der volkskunde, Amsterdam 1941, p. 41. Jürgen Schlumbohm: Heikle Hände: Die manuelle Untersuchung in der Lehre und Praxis deutscher Geburtshelfer, 1750–1830 Abbildung 1: Georg-August-Universität Göttingen, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Foto: Nadine Schillig. Abbildung 2: Georg-August-Universität Göttingen, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Foto: Stephan Eckardt.

Eva Labouvie. Forschungen 1985–2021. Eine Bibliographie

Monografien Beistand in Kindsnöten. Hebammen und die Gemeinschaft der Frauen auf dem Land (1550–1910), 2. Aufl., Frankfurt am Main/New York 2020 (Erstauflage 1999). Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt, 2. Aufl., Köln/Weimar/Wien 2000 (Erstauflage 1998, zugleich Habilitationsschrift Universität des Saarlandes 1997). Zauberei und Hexenwerk. Ländlicher Hexenglaube in der frühen Neuzeit, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1993 (Erstauflage 1991, zugleich Dissertation Universität Saarbrücken 1989, 1. Teil). Verbotene Künste. Volksmagie und ländlicher Aberglaube in den Dorfgemeinden des Saarraumes (16.–19. Jahrhundert), St. Ingbert 1992 (zugleich Dissertation Universität Saarbrücken 1989, 2. Teil). Zus. mit Matthias Labouvie: Hexenwelten. Didaktisches Beiheft zur Ausstellung und zur Behandlung der Hexenthematik im Schulunterricht, Saarbrücken 1987.

Herausgeberschaften Reihen Mitherausgeberin der Reihe „Studien zu Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands“ beim Mitteldeutschen Verlag seit 2011. Mitherausgeberin der Reihe „Studien zur Landesgeschichte“ beim Mitteldeutschen Verlag 2005–2011.

Sammelbände Frauen in Sachsen-Anhalt 2. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon vom 19. Jahrhundert bis 1945, Köln/Weimar/Wien 2019. Glaube und Geschlecht – Gender Reformation, Köln/Weimar/Wien 2019. Frauen in Sachsen-Anhalt. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2016. Adel an der Grenze. Höfische Kultur und Lebenswelt im SaarLorLux-Raum (1697–1815), Saarbrücken 2009.

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Schwestern und Freundinnen. Zur Kulturgeschichte weiblicher Kommunikation, Köln/ Weimar/Wien 2009. Adel in Sachsen-Anhalt. Höfische Kultur zwischen Repräsentation, Unternehmertum und Familie, Köln/Weimar/Wien 2007. Leben in der Stadt. Eine Kultur- und Geschlechtergeschichte Magdeburgs, Köln/Weimar/ Wien 2004. Saarländische Geschichte. Bd. 2: Ein Quellenlesebuch, Blieskastel 2001. Ungleiche Paare. Zur Kulturgeschichte menschlicher Beziehungen, München 1997. Frauenleben – Frauen leben. Zur Geschichte und Gegenwart weiblicher Lebenswelten im Saarraum (17.–20. Jahrhundert), St. Ingbert 1993. Zus. mit Ramona Myrrhe: Familienbande – Familienschande. Geschlechterverhältnisse in Familie und Verwandtschaft, Köln/Weimar/Wien 2007. Zus. mit Eva Brinkschulte: Dorothea Christiana Erxleben – Weibliche Gelehrsamkeit und medizinische Profession seit dem 18. Jahrhundert, Halle (Saale) 2006. Zus. mit Katharina Bunzmann: Ökonomien des Lebens. Zum Wirtschaften der Geschlechter in Geschichte und Gegenwart, Münster 2004. Zus. mit Richard van Dülmen: Die Saar. Geschichte eines Flusses, 2. Aufl., St. Ingbert 1993 (Erstauflage 1992).

Artikel Magie des Körpers – Körpermagie, in: Marie-Thérèse Mourey/Mark Hengerer (Hg.), Der Körper in der Frühen Neuzeit. Praktiken, Rituale, Performativität (im Druck). Aufklärung, Bildung und die ‚Erziehung der Menschengeschlechter‘. Schulwesen, Bildung und Reformpädagogik in (Mittel-)Deutschland, in: Christian Soboth u. a. (Hg.), Johann Adam Steinmetz und Kloster Berge. Zwei Institutionen im 18. Jahrhundert, Halle (Saale) 2021, S. 175–194. Marginalisiert, separiert, selbstverständlich, verselbstständigt? Bilanzen nach 30 Jahren Geschlechtergeschichte, in: Anna Becker u. a. (Hg.), Körper – Macht – Geschlecht. Einsichten und Aussichten zwischen Mittelalter und Gegenwart, Frankfurt am Main/New York 2020, S. 111–124. FrauenGestalten Moderne – Eine Einleitung, in: Eva Labouvie (Hg.), Frauen in SachsenAnhalt 2. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon vom 19. Jahrhundert bis 1945, Köln/Weimar/Wien 2019, S. 15–41. Kayser, Maria Elisa (Marie-Elise) (1885–1950), in: Eva Labouvie (Hg.), Frauen in SachsenAnhalt 2. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon vom 19. Jahrhundert bis 1945, Köln/Weimar/Wien 2019, S. 240–244. Reformation und Geschlecht – Glaube und Geschlecht. Eine Einführung zum Band, in: Eva Labouvie (Hg.), Glaube und Geschlecht – Gender Reformation, Köln/Weimar/Wien 2019, S. 13–33.

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Eva Labouvie. Forschungen 1985–2021. Eine Bibliographie

Schwangerschaft, Elternschaft, Familie. Zur Familiarisierung des Ungeborenen und Geborenen (1500–1800), in: Christoph Wulf/Anja Hänsch/Micha Brumlik (Hg.), Das Imaginäre der Geburt. Praktiken, Narrationen und Bilder, München 2008, S. 149–170. Alltagswissen – Körperwissen – Praxiswissen – Fachwissen. Zur Aneignung, Bewertungsund Orientierungslogik von Wissenskulturen, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte/ History of Science and Humanities 30/2 (2007), S. 119–134. „…Frauen [müssen] ihren haushalt, die Kinder und das Gesinde gut lenken können“. Geburtsarbeit und Kindsnöte: Frauen, Hebammen und weibliche Kultur (16.–19. Jahrhundert), in: Hanna Kasparick (Hg.), „Wer nit arbeitet, soll auch nit essen …“? Die neue Frage nach der Arbeit, Wittenberg 2007, S. 47–65. Hebamme, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2007, Sp. 263–266. Lebensfluss – Schwangerschaft, Geburt und Blut (16.–19. Jahrhundert), in: Christina von Braun/Christoph Wulf (Hg.), Mythen des Blutes, Frankfurt am Main/New York 2007, S. 204–226. Marschall Michael Ney (1769–1815) – Aufstieg und Fall des „Tapfersten der Tapferen“, in: Mathias Tullner/Sascha Möbius (Hg.), 1806: Jena, Auerstedt und die Kapitulation von Magdeburg. Schande oder Chance?, Protokoll der wissenschaftlichen Tagung vom 13. bis 15. Oktober 2006 in Magdeburg, Halle (Saale) 2007, S. 173–187. Nachkommenschaft und Dynastie. Geburten und Tauffeste im anhaltinischen Adel zwischen Repräsentation, Präsentation und Präsenz (1607–1772), in: Eva Labouvie (Hg.), Adel in Sachsen-Anhalt. Höfische Kultur zwischen Repräsentation, Unternehmertum und Familie, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 207–243. Zwischen Geschlechterordnung und neuen Lebenswegen – Frauen im 19. Jahrhundert, in: Matthias Puhle (Hg.), „Die Seele möchte fliegen“. Ein Frauenleben zwischen Anpassung und Aufbruch. Marie Nathusius (1817–1857). Begleitband zur Ausstellung im Kulturhistorischen Museum Magdeburg, 30.11.2007–30.3.2008, Halle (Saale) 2007, S. 194–215. Empfängnisverhütung, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 261–263. Frauenkulturen im heutigen Europa. Geburt und Schwangerschaft zwischen Körperritual, Erlebnisraum und der Medikalisierung von Mentalitäten, in: Rüdiger Fikentscher (Hg.), Europäische Gruppenkulturen. Familie, Freizeit, Rituale, Halle (Saale) 2006, S. 41–57. Geburt, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 229–231. Geburtsrituale, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 231–234. Konfessionalisierung in der Praxis – oder: War der Dreißigjährige Krieg ein Konfessionskrieg? Krieg, Bevölkerung und lutherische Konfession im Deutschen Reich und im heutigen Sachsen-Anhalt, in: Margit Scholz/Christina Neuß (Red.), Konfession, Krieg und Katastrophe. Magdeburgs Geschick im Dreißigjährigen Krieg. Tagung des Vereins für Kirchengeschichte der Kirchenprovinz Sachsen, 9.–10. Mai 2005, Magdeburg 2006, S. 69–92. Schiller in love. Vorstellungen zur Beziehung der Geschlechter eines Dichters, Ehemanns und Liebhabers, in: Wirkendes Wort 56/2 (2006), S. 199–219.

Eva Labouvie. Forschungen 1985–2021. Eine Bibliographie

Weder Götter noch in weiß. Zur Ausbildung und zur Professionalisierung von Medizinern und Chirurgen im 18. Jahrhundert, in: Eva Brinkschulte/Eva Labouvie (Hg.), Dorothea Christiana Erxleben. Weibliche Gelehrsamkeit und medizinische Profession seit dem 18. Jahrhundert, Halle (Saale) 2006, S. 80–93. Beschwörung, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2005, Sp. 78–80. Besessenheit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2005, Sp. 80–82. Interdisziplinäre Geschlechterforschung – nicht Fachdisziplin, sondern Perspektive, in: Wissenschaftsjournal der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Ausgabe April 2005. „Leben in der Stadt“. Ein Forschungs-, Buch- und Ausstellungsprojekt zum 1200jährigen Jubiläum der Landeshauptstadt Magdeburg, in: Wissenschaftsjournal der Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg, Ausgabe Oktober 2005. „Weiber-Recht“ in „Weiber-Noth“. Zum kollektiven Widerstand von Frauen gegen obrigkeitliche Anordnungen im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert, in: Julia Frindte/Siegrid Westphal (Hg.), Handlungsspielräume von Frauen um 1800, Heidelberg 2005, S. 211–222. Commerce, Communication und Contagium. Die Pest in der Stadt Magdeburg 1680–1682, in: Eva Labouvie (Hg.), Leben in der Stadt. Eine Kultur- und Geschlechtergeschichte Magdeburgs, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 37–56. Frühneuzeitliche Unternehmerinnen. Frauen im Bergbau, in der Eisen- und Glashüttenindustrie, in: Eva Labouvie/Katharina Bunzmann (Hg.), Ökonomien des Lebens. Zum Wirtschaften der Geschlechter in Geschichte und Gegenwart, Münster 2004, S. 135–162. Leiblichkeit und Emotionalität. Zur Kulturwissenschaft des Körpers und der Gefühle, in: Jörn Rüsen/Friedrich Jäger (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 3: Themen und Tendenzen, Sonderausgabe Stuttgart/Weimar 2011, S. 79–91 (Erstausgabe 2004.) Was ist Geschlechterforschung?, in: Heinz Fischer (Hg.), Individuum und Kosmos. Die kleine und die große Welt, Mainz 2004, S. 57–74. „... daß ich dich undt dein Kindt nicht mehr sehe“. Das Schweigen der Kindsmörderinnen und die Ökonomie des weiblichen Körpers, in: Heinz-Günther Borck (Hg.), Unrecht und Recht. Kriminalität und Gesellschaft im Wandel 1500–2000. Wissenschaftlicher Begleitband zur gemeinsamen Landesausstellung der rheinland-pfälzischen und saarländischen Archive, Trier 2002, S. 429–452. Hebammen in der frühen Neuzeit. Zur weiblichen Kultur auf dem Lande, in: Peter Müller (Hg.), Frauengeschichte(n). Vorträge im Rahmen der Bronnbacher Gespräche 2001, Stuttgart 2002, S. 35–56. Kniefall und ewige Kampfansage. Frauendarstellungen im Werk des Künstlers Ernst Alt, in: Armin Schmitt/Thomas Schwarz (Hg.), Mnemosyne. Der Maler und Bildhauer Ernst Alt, Blieskastel 2002, S. 95–105. Men in witchcraft trials: towards a tocial anthropology of ‘male’ understandings of magic and witchcraft, in: Ulinka Rublack (Hg.), Gender in Early Modern German History, Cambridge 2002, S. 49–70.

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Perspektivenwechsel. Magische Domänen von Frauen und Männern in Volksmagie und Hexerei aus der Sicht der Geschlechtergeschichte, in: Ingrid Ahrendt-Schulte u. a. (Hg.), Geschlecht, Magie und Hexenverfolgung, Bielefeld 2002, S. 39–56. Verschwundene Entdeckungen, oder: Wie Frauen zu Geschichte kamen, in: DIFA e.V. (Hg.), Gereimtes und Ungereimtes. Texte von prominenten Frauen, Dillingen 2002, S. 56–72. Das Ende dörflicher Hexeninquisition im Saarraum, in: Eva Labouvie (Hg.), Saarländische Geschichte. Bd. 2: Ein Quellenlesebuch, Blieskastel 2001, S. 66–74. Der Leib als Medium, Raum, Zeichen und Zustand. Zur kulturellen Erfahrung und Selbstwahrnehmung des schwangeren Körpers, in: Paul Münch (Hg.), „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte, München 2001, S. 115–126. Frauenberuf ohne Vorbildung? Hebammen in den Städten und auf dem Land, in: Christine Loytved (Hg.), Von der Wehemutter zur Hebamme. Die Gründung von Hebammenschulen mit Blick auf ihren politischen Stellenwert und ihren praktischen Nutzen, Osnabrück 2001, S. 19–34. Individuelle Körper. Zur Selbstwahrnehmung ‚mit Haut und Haar‘ (1500–1750), in: Richard van Dülmen (Hg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 163–195. Weibliche Hilfsgemeinschaften. Zur Selbstwahrnehmung der Geburt durch Gebärende und ihre Hebammen in der ländlichen Gesellschaft der Vormoderne (16.–19. Jahrhundert), in: Ulrike Jekutsch (Hg.), Selbstentwurf und Geschlecht. Kolloquium des Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterstudien an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Würzburg 2001, S. 13–32. Wie unsere Vorfahren die Gestalt und das Geschlecht der Ungeborenen zu manipulieren versuchten, in: Die Welt, 31. Mai 2001, S. 35. Geistliche Konkubinate auf dem Land. Zum Wandel von Ökonomie, Spiritualität und religiöser Vermittlung, in: Geschichte und Gesellschaft 26/1 (2000), S. 105–127. Macht der Begrenzung. Von der Nutzbarmachung gesellschaftlicher Vorstellungen von Weiblichkeit durch Frauen in Strafjustiz und Rechtsprechung (16.–19. Jahrhundert), in: Kriminologisches Journal, 7. Beiheft (1999), S. 65–80. Saarlouis, in: Wolfgang Behringer/Bernd Roeck (Hg.), Das Bild der Stadt in der Neuzeit 1400–1800, München 1999, S. 358–364. Geburt und Tod in der Frühen Neuzeit. Letzter Dienst und der Umgang mit besonderen Verstorbenen, in: Jürgen Schlumbohm u. a. (Hg.), Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte, München 1998, S. 289–307. Sofia Weinranck, Hebamme von St. Johann. Städtische Geburtshilfe und die Entrechtung der Bürgerinnen im 18. Jahrhundert, in: Annette Keinhorst/Petra Messinger (Hg.), Die Saarbrückerinnen. Beiträge zur Stadtgeschichte, St. Ingbert 1998, S. 225–248. Weibliche Festkultur um die Geburt. Bräuche, Feiern und Riten aus dem Saar- und Moselraum, der Pfalz und Lothringen vom 16.–19. Jahrhundert, in: Eckstein. Journal für Geschichte 2 (1998), S. 4–16.

Eva Labouvie. Forschungen 1985–2021. Eine Bibliographie

Wurzelgeflecht vor der Eisenzeit. Sagenhaftes Saarbrücken, in: Klaus Behringer/Marcella Berger/Fred Oberhauser (Hg.), Kähne, Kohle, Kußverwandtschaft. Ein Saarbrücker Lesebuch, Saarbrücken 1998, S. 62–67. Geheimnisvolle Neigungen. Ein Herzog und sein Alchemist (1764–1775), in: Eva Labouvie (Hg.), Ungleiche Paare. Zur Kulturgeschichte menschlicher Beziehungen, München 1997, S. 100–129. Geschlechtsspezifische Aspekte in Hexenglauben und Volksmagie, in: Ringvorlesungen zu Themen aus der Frauenforschung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Bd. 6 (Sommersemester 1995 – Wintersemester 1996/97), Mainz 1997, S. 62–74. Rekonstruktion einer Verfolgung. Hexenprozesse und ihr Verlauf im Saar-Pfalz-Raum und der Bailliage d’Allemagne (1520–1690), in: Gunther Franz/Günter Gehl/Franz Irsigler (Hg.), Hexenprozesse und deren Gegner im trierisch-lothringischen Raum, Weimar 1997, S. 43–58. Frauenberuf ohne Vorbildung? Hebammen in den Städten und auf dem Land, in: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung in Deutschland, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung, Frankfurt am Main/New York 1996, S. 218–233. Unter Schmerzen gebären. Gedanken zur weiblichen Empfindungswelt um die Geburt, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung 15 (1996), S. 79–100. Absage an den Teufel. Zum Ende dörflicher Hexeninquisition im Saarraum, in: Dieter R. Bauer/Sönke Lorenz (Hg.), Das Ende der Hexenverfolgung, Stuttgart 1995, S. 55–76. Das Ende dörflicher Hexeninquisition im Saarraum, in: Richard van Dülmen/Reinhard Klimmt (Hg.), Saarländische Geschichte. Eine Anthologie, St. Ingbert 1995, S. 66–74. Die Geburt einer Hexe. Aspekte von Ausgrenzung und Verfolgung nach einer dörflichen ‚sozialen Logik‘, in: Kriminologisches Journal, 5. Beiheft: Geschlechterverhältnis und Kriminologie (1995), S. 192–207. Frauen im Monopol- und Großhandel. Eine Regionalstudie im deutsch-französischen Grenzraum, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 6/1 (1995), S. 46–61. „Gott zu Ehr, den Unschuldigen zu Trost und Rettung ...“. Hexenverfolgungen im Saarraum und in den angrenzenden Gebieten, in: Gunter Franz/Franz Irsigler (Hg.), Hexenglaube und Hexenprozesse im Raum Rhein-Mosel-Saar, 2. Aufl., Trier 1996, S. 389–403 (Erstauflage 1995). Männer im Hexenprozeß. Zur Sozialanthropologie eines ‚männlichen‘ Verständnisses von Hexerei, in: Claudia Opitz (Hg.), Der Hexenstreit. Frauen in der frühneuzeitlichen Hexenverfolgung, Freiburg/Basel/Wien 1995, S. 211–245. Hexenforschung als Regionalgeschichte. Probleme, Grenzen und neue Perspektiven, in: Gisela Wilbertz/Gerd Schwerhoff/Jürgen Scheffler (Hg.), Hexenverfolgung und Regionalgeschichte. Die Grafschaft Lippe im Vergleich, Bielefeld 1994, S. 45–60.

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Eva Labouvie. Forschungen 1985–2021. Eine Bibliographie

Wissenschaftliche Theorien – rituelle Praxis. Annäherungen an die populäre Magie der Frühen Neuzeit im Kontext der „Magie- und Aberglaubensforschung“, in: Historische Anthropologie 2/2 (1994), S. 287–307. Frauenleben – Frauen leben. Ein ‚anderer Blick‘ auf Geschichte und Gegenwart, in: magazin forschung 2 (1993), S. 71f. In weiblicher Hand. Frauen als Firmengründerinnen und Unternehmerinnen (1600–1870), in: Eva Labouvie (Hg.), Frauenleben – Frauen leben. Zur Geschichte und Gegenwart weiblicher Lebenswelten im Saarraum (17.–20. Jahrhundert), St. Ingbert 1993, S. 88–131. Saarländerinnen in Führungspositionen, in: SaarWirtschaft 12 (1993), S. 607. Verwünschen und Verfluchen. Formen der verbalen Konfliktregelung in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Peter Blickle (Hg.), Der Fluch und der Eid. Die metaphysische Begründung gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischer Ordnung in der ständischen Gesellschaft, Berlin 1993, S. 121–145. Flussbeschreibungen. Geschichte einer Wahrnehmung, in: Richard van Dülmen/Eva Labouvie (Hg.), Die Saar. Geschichte eines Flusses, St. Ingbert (Universitätsverlag) 1992, S. 203–237. Selbstverwaltete Geburt. Landhebammen zwischen Macht und Reglementierung (17.–19. Jahrhundert), in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 18/4 (1992), S. 477–506. Von Abreschviller bis Konz. Eine historische Reise entlang der Saar, in: Richard van Dülmen/Eva Labouvie (Hg.), Die Saar. Geschichte eines Flusses, St. Ingbert (Universitätsverlag) 1992, S. 263–363. Von Kassandra bis Dr. Faustus. Männliche und weibliche Magie vom 16. Jahrhundert bis heute, in: Saarpfalz-Kreis (Hg.), Frau und Geschichte. Beiträge zur verkannten und verdrängten Wirklichkeit von Frauen, Homburg 1991, S. 69–80. Männer im Hexenprozeß. Zur Sozialanthropologie eines ‚männlichen‘ Verständnisses von Magie und Hexerei, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 16/1 (1990), S. 56–78. Wider Wahrsagerei, Segnerei und Zauberei. Kirchliche Versuche zur Ausgrenzung von Aberglaube und Volksmagie seit dem 16. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen (Hg.), Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle. Studien zur historischen Kulturforschung III, Frankfurt am Main 1990, S. 15–55. Einbrüche in die Zunft. Aspekte zur historischen Frauenforschung, in: Eckstein. Journal für Geschichte 2 (1989), S. 16–23. Ausstellung (beschreibender und bebilderter Teil der Ausstellung „Hexenwelten“, Saarbrücken, Kassel, München 1987), in: Richard van Dülmen (Hg.), Hexenwelten. Magie und Imagination vom 16.–20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1987, S. 331–437. Hexenspuk und Hexenabwehr. Volksmagie und volkstümlicher Hexenglaube, in: Richard van Dülmen (Hg.), Hexenwelten. Magie und Imagination vom 16.–20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1987, S. 49–93.

Eva Labouvie. Forschungen 1985–2021. Eine Bibliographie

Die Kirchen; Die Einheitsfront; Reichsdeutsche Emigranten, in: Richard van Dülmen (Hg), Erinnerungsarbeit. Die Saar ‘33 bis ‘35. Zur 50jährigen Wiederkehr der Saarabstimmung vom 13. Januar 1935, St. Ingbert 1985, S. 55–58, 77–80, 84–87. Zus. mit Agnes-Almuth Griesbach, Russland, Katharina II. (die Große) von (1729–1796), in: Eva Labouvie (Hg.), Frauen in Sachsen-Anhalt. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 316–322. Zus. mit Richard van Dülmen: Die Saar. Geschichte eines Flusses – Eine Kultur- und umweltgeschichtliche Erkundung, in: magazin forschung 1 (1992), S. 2–9.

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Willem de Blécourt, Dr., is a historical anthropologist specialized in the study of witchcraft, werewolves and fairy tales in Europe from the Late Middle Ages to the twentieth century. He is an independent researcher, an Honorary Research Fellow at the Meertens Institute (Amsterdam) and an editor of the series ‘Historical Studies in Witchcraft and Magic’. His books include: Tales of Magic, Tales in Print. On the Genealogy of Fairy Tales and the Brothers Grimm, Manchester 2012; (Ed.): Werewolf Histories, Basingstoke/New York 2015; (Ed.) with Mirjam Mencej: Werewolf Legends (will be released in 2022) and (Ed.) with Christa Tuczay: Tierverwandlungen. Codierungen und Diskurse, Tübingen 2011. He is preparing his major monograph ‘The Cat and the Cauldron. A Cultural History of Witchcraft in the Low Countries’. Eva Brinkschulte, Prof. Dr., ist Medizinhistorikerin und Medizinethikerin. Seit 2003 ist sie Leiterin des Instituts für Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und seit 2018 Vorsitzende des Klinischen Ethikkomitees (KEK) der Universitätsmedizin Magdeburg. Forschungsschwerpunkte: Historische Frauen- und Geschlechtergeschichte in der Medizin, Patienten- und Krankenhausgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichte der Sportmedizin und Orthopädie, Medizin und Öffentlichkeit sowie mediale Kultur der Medizin. Publikationen (Auswahl): Krankenhaus und Krankenkassen: soziale und ökonomische Faktoren der Entstehung des modernen Krankenhauses im frühen 19. Jahrhundert, die Beispiele Würzburg und Bamberg, Husum 1998 (zugleich Dissertation Freie Universität Berlin 1996); Körperertüchtigung(en) – Sportmedizin zwischen Leistungsoptimierung und Gesundheitsförderung 1895–1933, 2002 [online] (zugleich Habilitationsschrift Freie Universität Berlin 2002); (Hg.): Zweihundert Jahre Krankenhausgeschichte(n). Vom städtischen Krankenhaus Altstadt zum Klinikum Magdeburg, Magdeburg 2017; (Hg.) zus. mit Philipp Teichfischer: Johann Lukas Schönlein (1793–1864): Mon chèr Monsieur Schönlein. Briefe an den Arzt, Lehrer und Vater, Stuttgart 2016; (Hg.) zus. mit Ada Borkenhagen u. a.: Schönheitsmedizin: kulturgeschichtliche, ethische und medizinpsychologische Perspektiven, Gießen 2016; (Hg.) zus. mit Fritz Dross u. a.: Medizin und Sprache – die Sprache der Medizin. Medycyna i język – język medycyny, Frankfurt am Main 2015, (Hg.) zus. mit Eva Labouvie: Dorothea Christiana Erxleben – Weibliche Gelehrsamkeit und medizinische Profession seit dem 18. Jahrhundert, Halle (Saale) 2006; Der „medizinische Sonntag“: eine Form der

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Ritualisierung der Gesundheitsaufklärung in der DDR?, in: Heinz-Peter Schmiedebach (Hg.), Medizin und öffentliche Gesundheit. Konzepte, Akteure, Perspektiven, Berlin 2018, S. 179–199; Schneller, höher, stärker. Zum Wandel männlicher Körpernormen um 1900, in: Eva Brinkschulte/Mariacarla Gadebusch Bondio (Hg.), Norm als Zwang, Pflicht und Traum. Festschrift zum 60. Geburtstag von Heinz-Peter Schmiedebach, Frankfurt am Main 2015, S. 51–78. Stefanie Fabian, Historikerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Geschichte der Neuzeit (17.–19. Jahrhundert) mit Schwerpunkt Geschlechterforschung an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Sie arbeitet an ihrer Dissertation, einer vergleichenden Partikularstudie über Alltag und Leben im Dreißigjährigen und im Siebenjährigen Krieg mit einem historisch-anthropologischen wie geschlechtergeschichtlichen Fokus (Begegnungen mit der entfesselten und gezähmten Bellona 1618–1763). Forschungsschwerpunkte: Historische Anthropologie, Historische Frauen- und Geschlechterforschung, Regionalgeschichte Sachsen-Anhalts in der Vormoderne, Krieg und Militär in der Frühen Neuzeit, Kulturgeschichte der Gewalt. Publikationen (Auswahl): Zwischen Aufopferung und Selbstüberschätzung – Vorgeschichte, Deutungen und Folgen der selbstbewussten Positionierung Magdeburgs im Kontext der Belagerung von 1631, in: Olga Fejtová/Martina Maříková/ Jiří Pešek (Hg.), Města dobývaná, dobytá a okupovaná. Kontexty a důsledky neúspěšné obrany měst od středověku do 20. století, Prag (erscheint 2022); Zwischen Schutzbedürftigkeit, Ermannung und Pragmatismus – weibliche Handlungsspielräume und Überlebensstrategien im Dreißigjährigen Krieg, in: Astrid Ackermann u. a. (Hg.), Mitten in Deutschland – mitten im Krieg. Leben und Handeln in einer Ausnahmesituation, 1618–1648 (erscheint 2022); Ein feste Burg wider den Kaiser – Alltag und Leben im belagerten Magdeburg, in: Maren Ballerstedt/Gabriele Köster/Cornelia Poenicke (Hg.), Magdeburg und die Reformation. Teil 1: Eine Stadt folgt Martin Luther, Halle (Saale) 2016, S. 403–425. Mareike Fingerhut-Säck, Dr. phil., Historikerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Geschichte der Neuzeit (16.–19. Jahrhundert) mit Schwerpunkt Geschlechterforschung an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte der Neuzeit (17.–19. Jahrhundert), Forschungen zur Kulturgeschichte, Kriminalitätsforschung, Religionsforschung sowie Frauen- u. Geschlechterforschung. Publikationen (Auswahl): Das Gottesreich auf Erden erweitern. Einführung und Festigung des Pietismus durch das Grafenpaar Sophie Charlotte und Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode in seiner Grafschaft (1710–1771), Halle (Saale) 2019 (zugleich Dissertation Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg 2017); Pietismus in weiblicher Generationenfolge. Christine zu Stolberg-Gedern und Sophie Charlotte zu Stolberg-Wernigerode als Gestalterinnen des Pietismus in der Grafschaft Wernigerode, in: Eva Labouvie

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(Hg.), Glaube und Geschlecht – Gender Reformation, Köln/Weimar/Wien 2019, S. 235–253; zus. mit Ian Wolff: Edition des Tagebuchs von Louis Sommerlatte, in: Ian Wolff (Hg.), Bürgerliches Leben in Oranienbaum. Das Tagebuch des Kaufmanns Louis Sommerlatte (1813–1862), Halle (Saale) 2021, S. 119–410. Stephan Freund, Prof. Dr. phil. habil., Historiker, ist Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Fakultät für Humanwissenschaften, Institut II: Gesellschaftswissenschaften, Bereich Geschichte der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Er ist Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Zentrums für Mittelalterausstellungen Magdeburg; Vorsitzender des Pfalzenarbeitskreises Sachsen-Anhalt und Leiter des Forschungsprojekts „Repertorium der deutschen Königspfalzen. Band Sachsen-Anhalt.“ Forschungsschwerpunkte: Europäische Geschichte des frühen und hohen Mittelalters im epochen- und länderübergreifenden Vergleich; besonderes Augenmerk gilt dabei der Kommunikations-, Kultur- und Kirchengeschichte sowie der sächsischen und bayerischen Landesgeschichte. Publikationen (Auswahl): Von den Agilolfingern zu den Karolingern. Bayerns Bischöfe zwischen Kirchenorganisation, Reichsintegration und karolingischer Reform (700–847), München 2004; Studien zur literarischen Wirksamkeit des Petrus Damiani. Anhang: Johannes von Lodi, Vita Petri Damiani, Hannover 1995; Herausgeber zahlreicher Bände unter anderem: Palatium. Studien zur Pfalzenforschung in Sachsen-Anhalt (bislang Bände 1–7); (Hg.) zus. mit Gabriele Köster: Albrecht der Bär, Ballenstedt und die Anfänge Anhalts, Regensburg 2020; (Hg.) zus. mit Gabriele Köster: Plötzlich König: Heinrich I. in Quedlinburg, Regensburg 2019. Rainer Gries, Univ.-Prof. Dr. phil., Historiker und Kommunikationswissenschaftler, ist Leiter des Fachbereiches Psychologische und Historische Anthropologie an der Fakultät für Psychologie der Sigmund Freud Privat Universität Wien sowie Inhaber des Franz Vranitzky Chair for European Studies am Institut für Zeitgeschichte und am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Vergleichende Geschichte der sozialistischen Staaten und ihrer (Nachfolge-)Gesellschaften bis heute; ‚Generation‘ als Paradigma in der Geschichts-, Kommunikations- und Kulturwissenschaft; medial vermittelte Geschichtskulturen im 21. Jahrhundert; die „Kinder der Balkankriege“ – Jugendliche und junge Erwachsene in Südosteuropa: Geschichte – Psychologie – Politik; Geschichte, Politik und Psychologie des Ländlichen im europäischen Vergleich. Publikationen (Auswahl): Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR, Leipzig 2003 (zugleich Habilitationsschrift Friedrich-Schiller-Universität Jena 2001); zus. mit Eva Asboth und Christina Krakovsky: Generation In-Between. Die Kinder der Balkankriege. Annäherungen an eine europäische Schlüsselgeneration. Mit einem Beitrag von Botschafter i. R. Dr. Wolfgang Petritsch. In deutscher und englischer

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Sprache, Wien 2016; zus. mit Silke Satjukow: „Bankerte!“ Besatzungskinder in Deutschland nach 1945, Frankfurt am Main/New York 2015; (Hg.) zus. mit Stefan Schwarzkopf: Ernest Dichter and Motivation Research. New Perspectives on the Making of Post-war Consumer Culture, Basingstoke/New York 2010; (Hg.) zus. mit Thomas Ahbe und Annegret Schüle: Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipzig 2006. Nicole Grochowina, PD Dr. phil., Historikerin, ist Projektmitarbeiterin am Lehrstuhl Neuere Kirchengeschichte II („Evangelische Communitäten nach 1945“) sowie Lehrbeauftragte am Lehrstuhl der Geschichte der Frühen Neuzeit an der Friedrich-Alexander-Universität Nürnberg/Erlangen. Zudem ist sie evangelische Ordensschwester in der Communität Christusbruderschaft Selbitz. Forschungsschwerpunkte: Konfessionelle Ambiguität, Märtyrertum in der Frühen Neuzeit, zivile Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert, evangelische Orden, Ordenstheologie der Gegenwart. Publikationen (Auswahl): Reformation, Berlin/Boston 2020; Franziskus und Luther. Freunde über die Zeiten, Würzburg 2017; Das Eigentum der Frauen. Konflikte vor dem Jenaer Schöppenstuhl im ausgehenden 18. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2009; (Hg.) zus. mit Herbert Lauenroth und Lothar Penners: Prophetie im Prekären. Reflexionen zu „Miteinander für Europa“, Münster 2019; (Hg.) mit Rainer Oechslen: Streit der Religionen. Konflikte und Toleranz, Erlangen 2013; (Hg.) zus. mit Stefanie Freyer und Katrin Horn: FrauenGestalten WeimarJena um 1800. Ein bio-bibliographisches Lexikon, Heidelberg 2009; „The times, they are a-changing” – Uitdagingen voor de religieuze orden in Europa vandaag, in: Tijdschrift voor geestelijk leven 77 (2021), S. 23–33; Quand un ordre religieux protestant rencontre la spiritualite franciscaine l’histoire d’une profonde, in: Positions luthériennes 68 (2020), S. 37–59; Geschlechterunordnung durch neue Lebensformen? Weiblichkeit und Männlichkeit in täuferischen Martyrologien, in: Eva Labouvie (Hg.), Glaube und Geschlecht. Gender Reformation, Köln/Weimar/Wien 2019, S. 217–235. Maren Lorenz, Prof. Dr. phil., Historikerin, ist Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit und Geschlechtergeschichte an der Ruhr-Universität Bochum (RUB). Sie ist stellvertretende Sprecherin des Marie Jahoda Center for International Gender Studies an der RUB, im Vorstand und Schatzmeisterin des bundesweiten Arbeitskreises für Historische Frauen- und Geschlechterforschung (AKHFG), im Vorstand der AG Frühe Neuzeit des VHD und war viele Jahre lang eine der Koordinatorinnen des Arbeitskreises für Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit (AKGG-FNZ). Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Körper- und Geschlechtergeschichte, Wissenschafts- und Ideengeschichte der Aufklärung, Gewaltforschung, Rechts- und Kriminalitätsgeschichte, Geschichtstheorie und -methoden, Geschichtswissenschaft und die neuen Medien.

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Publikationen (Auswahl): Menschenzucht. Frühe Ideen und Strategien 1500–1870, Göttingen 2018; Vandalismus als Alltagsphänomen, Hamburg 2009 (Neuausgabe durch die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2012); Das Rad der Gewalt. Militär und Zivilbevölkerung in Norddeutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg (1650–1700), Köln/Weimar/Wien 2007; Tiefe Wunden. Gewalterfahrung in den Kriegen der Frühen Neuzeit, in: Ulrich Bielefeld/Heinz Bude/Bernd Greiner (Hg.), Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag, Hamburg 2012, S. 332–354; Geschichtsdarstellung und Geschichtsverhandlung in Wikipedia oder Die Sehnsucht nach Beständigkeit im Unbeständigen, in: Barbara Korte/Sylvia Paletschek (Hg.), History goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld 2009, S. 289–312. Heiner Lück, Prof. i. R. Dr. iur., Rechtshistoriker, war 1994–2019 Professor für Bürgerliches Recht, Europäische, Deutsche und Sächsische Rechtsgeschichte an der Juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er ist Ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Korrespondierendes Mitglied der Nationalen Andalusischen Akademie für historischjuristische Wissenschaften zu Córdoba, Mitglied der Historischen Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt, Mitglied der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica sowie Vorsitzender des Kuratoriums am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung Halle. Von 2011 bis 2014 war er Vorsitzender des internationalen wissenschaftlichen Beirats am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main; von 2007–2017 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats zur Vorbereitung des 500. Reformationsjubiläums bei der EKD. Forschungsschwerpunkte: Sachsenspiegel und Magdeburger Recht in Ostmitteleuropa, Universitätsgeschichte, Recht und Verfassung im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung, Recht und Gericht im Mittelalter, Rechtsikonographie, Rechtsarchäologie. Von 2004–2020 war Lück Projektleiter des Langzeitforschungsvorhabens ‚Das sächsischmagdeburgische Recht als kulturelles Bindeglied zwischen den Rechtsordnungen Ost- und Mitteleuropas‘ an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Publikationen (Auswahl): ALMA LEUCOREA. Eine Geschichte der Universität Wittenberg 1502 bis 1817, Halle (Saale) 2020 (Studienausgabe 2021); Der Sachsenspiegel – das berühmteste deutsche Rechtsbuch des Mittelalters, Darmstadt 2017; Die Spruchtätigkeit der Wittenberger Juristenfakultät. Organisation – Verfahren – Ausstrahlung, Köln/Weimar/Wien 1998; (Hg.): Eike von Repgow. Der Sachsenspiegel. Die Dresdner Bilderhandschrift, Faksimile, Textband, Aufsätze und Untersuchungen, Graz 2006–2011; Mitherausgeber des ‚Handwörterbuchs zur deutschen Rechtsgeschichte‘, 2. Aufl., Berlin 2008ff.; Urban Law. The Law of Saxony and Magdeburg, in: Heikki Pihlajamäki u. a. (Hg.), The Oxford Handbook of European Legal History, Oxford 2018, S. 474–508.

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Gisela Mettele, Prof. Dr. phil., Historikerin, ist Professorin für Geschlechtergeschichte am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie ist Mitglied im Vorstand und war Vorsitzende des bundesweiten Arbeitskreises für Historische Frauen- und Geschlechterforschung (AKHFG). Forschungsschwerpunkte: Frauen- und Geschlechtergeschichte, Religions- und Migrationsforschung, Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung, Romantikforschung, Bürgertumsforschung. Publikationen (Auswahl): Weltbürgertum oder Gottesreich? Die Herrnhuter Brüdergemeine als globale Gemeinschaft 1760–1857, Göttingen 2009; Bürgertum in Köln 1775–1870. Gemeinsinn und freie Association, München 1998; (Hg.) zus. mit Katharina Muth und Michael Wermke: Religion im Transit. Transformationsprozesse im Kontext von Religion und Migration, Berlin 2021; (Hg.) zus. mit Sandra Kerschbaumer: Romantische Urbanität. Transdisziplinäre Perspektiven vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2020; (Hg.) zus. mit Karen Hagemann und Jane Rendall: Gender, War and Politics. Transatlantic Perspectives, 1775–1830, Basingstoke/New York 2010; Gemeine auf hoher See. Meeresüberfahrten der Herrnhuter Brüdergemeine im 18. Jahrhundert, in: Peter Burschel/Sünne Juterczenka (Hg.), Das Meer: Maritime Welten in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2020, S. 405–426; Das Vogtland in Berlin. Bettina von Arnims Kritik der sozialen Verhältnisse in der preußischen Metropole, in: Yaman Kouli u. a. (Hg.), Regionale Ressourcen und Europa. Dimensionen kritischer Industrie- und Unternehmensgeschichtsschreibung, Berlin 2018, S. 363–380; Kinder wünschen – Mütter leihen. Geschlechtergeschichtliche Überlegungen zur Familie und ihrer Machbarkeit, in: Edward Schramm/Michael Wermke (Hg.), Leihmutterschaft und Familie. Impulse aus Recht, Theologie und Medizin, Berlin 2018, S. 25–35; Unbeschreibliches mitteilen. Die Medien des Pietismus im langen 18. Jahrhundert, in: Christian Soboth u. a. (Hg.), „Schrift soll leserlich seyn“. Der Pietismus und die Medien, Halle (Saale)/ Tübingen 2016, S. 3–32. Marita Metz-Becker, apl. Prof. Dr., ist Professorin am Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, Medikalkulturforschung, Biographieforschung, Frauen- und Geschlechtergeschichte. Sie hat in diesen Forschungsgebieten sowohl einschlägige Publikationen vorgelegt als auch zahlreiche Ausstellungsprojekte kuratiert. Marita Metz-Becker ist Erste Vorsitzende des Marburger Hauses der Romantik e. V. Auszeichnungen: 2004 Marburger Stadtsiegel, 2008 Frauenförderpreis der Philipps-Universität, 2010 Otto-Ubbelohde-Preis des Kreises Marburg-Biedenkopf. Publikationen (Auswahl): Drei Generationen Hebammenalltag. Wandel der Gebärkultur in Deutschland, Gießen 2021; Gretchentragödien – Kindsmörderinnen im 19. Jahrhundert (1770–1870), Gießen 2021 (Neuausgabe der 1. Aufl. von 2016); Der verwaltete Körper. Die Medikalisierung schwangerer Frauen in den Gebärhäusern des frühen 19. Jahrhunderts, Frank-

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furt am Main/New York 1997; Warum Kinder getötet werden. Eine kleine Kulturgeschichte des Kindsmords, in: Armin Nassehi/Peter Felixberger (Hg.), Kursbuch 201 (März 2020), Menschenskinder!, Hamburg 2020, S. 179–199; „Da bist Du zu keinem Doktor gegangen, das gab es alles nicht...“ – Geburt und Mutterschaft in einem Westerwälder Dorf, in: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung, Neue Folge 53 (2017), S. 27–42; Hebammen und medizinische Geburtshilfe im 18. und 19. Jahrhundert, in: Jens Gillessen (Hg.), Berufsfelder im Professionalisierungsprozess. Geschlechtsspezifische Chancen und Risiken, Wittenberg 2013, S. 33–42. Claudia Opitz-Belakhal, Prof. Dr. phil., ist Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Basel. Ihre Arbeitsgebiete umfassen insbesondere die politische Geschichte Frankreichs in der Frühen Neuzeit, die (Geschlechter-)Geschichte der Aufklärung, der Generationen- und Geschlechterbeziehungen von ca. 1500–1800 sowie die Emotionengeschichte. Seit 2011 ist sie Redaktionsmitglied von L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft. Publikationen (Auswahl): Im Reich der Leidenschaften. Montesquieus politische Anthropologie, Frankfurt am Main/New York 2021; Streit um die Frauen und andere Studien zur frühneuzeitlichen „Querelle des femmes“, Roßdorf 2020; Geschlechtergeschichte, 2. aktualisierte und erw. Aufl., Frankfurt am Main/New York 2018; Böse Weiber. Wissen und Geschlecht in der Dämonologie der Frühen Neuzeit, Sulzbach (Taunus) 2018; (Hg.) zus. mit Joachim Eibach: Zwischen Kulturen. Mittler und Grenzgänger vom 17. bis 19. Jahrhundert, Hannover 2018; (Hg.) zus. mit Wolfgang Behringer: Hexenkinder – Kinderbanden – Straßenkinder, Bielefeld 2016; (Hg.) zus. mit Monika Mommertz: Das Geschlecht des Glaubens. Religiöse Kulturen in Europa zwischen Mittelalter und Moderne, Frankfurt am Main 2008; (Hg.) zus. mit Elke Kleinau: Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, 2 Bände., Frankfurt am Main/New York 1996. Silke Satjukow, Prof. Dr. phil., ist Inhaberin des Lehrstuhls Geschichte der Neuzeit an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sie befasst sich mit Modernisierungsprozessen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den Konflikten und Krisen, Katastrophen und Kriegen, aber auch auf den langfristigen und nachhaltigen Strukturen des 20. Jahrhunderts. Sie werden politik-, kultur- und sozialgeschichtlich befragt und bearbeitet – mit dem Ziel, auf diesem Wege Beiträge zu einer Geschichte Europas in der Welt zu leisten. Aktuelle Forschungsprojekte: Geschichtsaneignung in der Mediengesellschaft: Kriegsund Besatzungskinder, Kulturen des Ländlichen in Sachsen-Anhalt, Geschlechterund Sexualitätsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Geschichte der Jugoslawienkriege. Publikationen (Auswahl): Besatzer. Die „Russen“ in Deutschland 1945 bis 1994, Göttingen 2008; zus. mit Rainer Gries: „Bankerte!“

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Besatzungskinder in Deutschland nach 1945. Frankfurt am Main/New York 2015; (Hg.) zus. mit Gerulf Hirt und David Schmiedel: Die Päpste und die Protestanten. Begegnungen im modernen Europa, Köln/Weimar/Wien 2017; (Hg.) zus. mit Lutz Niethammer: „Wenn die Chemie stimmt...“. Geschlechterbeziehungen und Geburtenplanung im globalen Zeitalter der Pille/Gender Relations and Birthcontrol in the Global Age of the Pill, Göttingen 2016; (Hg.) zus. mit Barbara Stelzl-Marx: Besatzungskinder. Die Nachkommen alliierter Soldaten in Deutschland und Österreich, Köln/Weimar/Wien 2015; (Hg.) zus. mit Franka Maubach und Klaus Latzel: Soldatinnen. Gewalt und Geschlecht im Krieg vom Mittelalter bis heute, Paderborn 2011. Norbert Schindler, Univ.-Doz. Dr. phil., Historiker, Promotion 1990 an der Universität Konstanz, Habilitation 2000 an der Universität Salzburg. Lehrte unter anderem in mehreren Gastprofessuren, an der Freien Universität Berlin, den Universitäten Konstanz, Basel, Innsbruck, Wien und Salzburg. 1993–2017 war er Mitherausgeber der Zeitschrift Historische Anthropologie. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der populären Kultur in der frühen Neuzeit, Kulturgeschichte des Bürgertums im 18. Jahrhundert, Geschichte des Mittelmeerraums. Publikationen (Auswahl): Der Prozess der Zivilisation in der Kleinstadt. Die Traunsteiner Kaufmannsfamilie Oberhueber (1600–1800), Köln/Weimar/Wien 2007; Wilderer im Zeitalter der Französischen Revolution. Ein Kapitel alpiner Sozialgeschichte, München 2001; Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1992; (Hg.) zus. mit Richard van Dülmen: Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.–20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1984; Die Piraten der Mani. Seeräuberei und Kriegswirtschaft auf der südlichen Peloponnes (16.–19. Jahrhundert), in: Historische Anthropologie 27 (2019), S. 192–224; Korsischer Exodus. Auf den Spuren der mediterranen Mobilität am Beispiel der Geschichte der Griechenkolonie von Cargèse, in: Historische Anthropologie 18 (2010), S. 25–68; Die Kröten der Adria. Venezianische Lagunenpolitik im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Saeculum 65/2 (2015), S. 291–320; Hundekonflikte und Menschenrechte. Zur Wahrnehmung politischer Willkür am Ende des Ancien Régime, in: Gerhard Ammerer/Alfred Stefan Weiß (Hg.), Die Säkularisation Salzburgs 1803. Voraussetzungen – Ereignisse – Folgen, Frankfurt am Main u. a. 2005, S. 84–119; Die Hüter der Unordnung. Rituale der Jugendkultur in der frühen Neuzeit, in: Giovanni Levi/Jean-Claude Schmitt (Hg.), Geschichte der Jugend, Bd. 1: Von der Antike bis zum Absolutismus, Frankfurt am Main 1995, S. 319–382. Jürgen Schlumbohm, Prof. Dr. phil. Dr. h. c., Historiker, hat lange am Max-PlanckInstitut für Geschichte geforscht und an verschiedenen Universitäten des In- und Auslands gelehrt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Sozial-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte vom 17. bis 19. Jahrhundert. Insbesondere hat er sich mit

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der Geschichte von Familie, Verwandtschaft, Kindheit, Geburt und Geburtshilfe beschäftigt. Publikationen (Auswahl): Verbotene Liebe, verborgene Kinder. Das Geheime Buch des Göttinger Geburtshospitals, 1794–1857, Göttingen 2018; Lebendige Phantome. Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751–1830, Göttingen 2012; Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit 1650–1860, Göttingen 1994; zus. mit Peter Kriedte und Hans Medick: Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1977 (übersetzt ins Englische, Spanische und Italienische); (Hg.) zus. mit Claudia Wiesemann: Die Entstehung der Geburtsklinik in Deutschland 1751–1850. Göttingen, Kassel, Braunschweig, Göttingen 2004; (Hg.) zus. mit Barbara Duden und Patrice Veit: Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungsund Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17.–20. Jahrhundert, Göttingen 2002. Gerd Schwerhoff, Prof. Dr. phil, Historiker, Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden. Forschungsschwerpunkte sind Geschichte der Kriminalität und des abweichenden Verhaltens, Geschichte der Hexerei und der Hexenverfolgung, Stadtgeschichte, Geschichte der öffentlichen Räume, Religionsgeschichte und Geschichte des Glaubens sowie die Geschichte der Schmähung und Herabsetzung. Publikationen (Auswahl): Verfluchte Götter. Die Geschichte der Blasphemie, Frankfurt am Main 2021; Köln im Ancien Régime 1686–1794, Köln 2017; (Hg.) zus. mit Petr Hrachovec u. a.: Die Reformation als Kommunikationsprozess. Böhmische Kronländer – Sachsen – Mitteleuropa, Köln 2021; Invektivität und Geschichtswissenschaft. Konstellationen der Herabsetzung in historischer Perspektive – ein Forschungskonzept, in: Historische Zeitschrift 311 (2020), S. 1–36; Frühneuzeitliche Stadtgeschichte im Cultural Turn – eine Standortbestimmung, in: Julia A. Schmidt-Funke/Matthias Schnettger (Hg.), Neue Stadtgeschichte(n). Die Reichsstadt Frankfurt im Vergleich, Bielefeld 2018, S. 11–40; Crimen Maleficarum. Das Verbrechen der Hexerei im kriminalitätshistorischen Vergleich, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 39 (2017), S. 1–25. Mathias Tullner, Prof. Dr. phil., Historiker, ist Professor im Ruhestand für Geschichte der Neuzeit mit Schwerpunkt Landesgeschichte. Forschungsschwerpunkte sind politische, wirtschaftliche und kulturelle Probleme der Landesgeschichte Sachsen-Anhalts im 19. und 20. Jahrhundert. Frühere Arbeiten zum Vormärz und der Revolution von 1848/49 in verschiedenen deutschen Regionen; Beiträge zur Afrika-Politik der DDR besonders hinsichtlich der Beziehungen der DDR zu Mosambik. Publikationen (Auswahl): Die Revolution von 1848/49 in Sachsen-Anhalt, 2. erw. Aufl., Halle (Saale) 2014; Geschichte Sachsen-Anhalts, München 2008; Halle

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1806 bis 2006, Halle (Saale) 2007; Geschichte des Landes Sachsen-Anhalt, 3. Aufl., Opladen 2001; (Hg.) zus. mit Maik Reichel: Sachsen-Anhalt. Das besondere Bundesland an der Mittelelbe, Dössel 2021; Der Landtag von Sachsen-Anhalt. Langer Weg zum modernen Parlament, in: Julia Schwanholz/Patrick Theiner (Hg.), Die politische Architektur deutscher Parlamente, Wiesbaden 2020, S. 341–357; Der Magdeburger Lehrer Joachim Kindler und der Beginn der Zusammenarbeit der DDR mit Mosambik, in: Birgit Neumann-Becker/Hans Joachim Döring (Hg.), Für Respekt und Anerkennung. Die mosambikanischen Vertragsarbeiter und das schwierige Erbe aus der DDR, Halle (Saale) 2020, S. 145–155; Die Fremden in einer Kleinstadt der DDR. Die „Schule der Freundschaft“ von Staßfurt und ihr Verhältnis zu Stadt und Region, in: ebd., S. 156–172; Sachsen-Anhalt, Ursprungsland der Reformation, in: Franz Kadell/Konrad Breitenborn (Hg.), Lutherland Sachsen-Anhalt, Halle (Saale) 2015, S. 9–54. Kerstin Wolff, Dr. phil., Historikerin, ist Forschungsreferentin im Archiv der deutschen Frauenbewegung (AddF) in Kassel und Mitglied im Leitungsteam. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte der Frauenbewegung im 19. und 20. Jahrhundert, Aktivistinnen, Protestformen und Themen. Publikationen (Auswahl): Die Staatsbürgerschaft der Frau als Verpflichtung oder politische Selbstermächtigung. 100 Jahre Frauenwahlrechtsjubiläum in Deutschland, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 32/1 (2021), S. 37–54; Die Funktion von Briefen in der Frauenbewegungskultur, in: Marie Isabel MatthewsSchlinzig u. a. (Hg.), Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Berlin 2020, S. 1337–1347; zus. mit Julia Paulus: Landesgeschichte als Geschlechtergeschichte, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 70 (2020), S. 79–94.