Offene Staatlichkeit: Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783428483983, 9783428083985

»Offene Staatlichkeit« ist ein Schlüsselbegriff der Staatsentwicklung im gegenwärtigen Europa. Denn Öffnung ermöglicht G

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Offene Staatlichkeit: Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783428483983, 9783428083985

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OFFENE STAATLICHKElT Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde

Offene Staatlichkeit Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag herausgegeben von Rolf Grawert, Bernhard Schlink Rainer Wahl, Joachim Wieland

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Offene Staatlichkeit : Festschrift für Emst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag I hrsg. von Rolf Grawert ... Berlin : Duncker und Humblot, 1995 ISBN 3-428-08398-9 NE: Grawert, Rolf [Hrsg.]; Böckenförde, Emst-Wolfgang: Festschrift

Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-08398-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 i§

Vorwort "Offene Staatlichkeit" ist ein Schlüsselbegriff der Staatsentwicklung im gegenwärtigen Europa. Denn Öffnung ermöglicht Grenzüberschreitungen: Der für gewiß gehaltene Status des Staates wird dem Gestaltwandel ausgesetzt und in ein Gefüge supranationaler sowie menschenrechtlicher Rechtsbeziehungen überführt. Was ist, was bleibt in diesem Gefüge "Staat"? Die in dieser Festschrift versammelten Überlegungen sind Beiträge zur Antwort auf jene Frage, die Emst-Wolfgang Böckenförde, den Mitgründer der Zeitschrift "Der Staat", den Universitätsprofessor für Öffentliches Recht, den Richter des Bundesverfassungsgerichts, wissenschaftlich ständig beschäftigt hat. Die Autoren setzen damit zugleich das Gespräch mit ihrem Lehrer in Heidelberg, Bielefeld und Freiburg i. Br. fort. Sie alle waren oder sind Doktoranden Emst-Wolfgang Böckenfördes. Sie bilden dennoch keine Schule. Vielmehr haben sie von ihrem Lehrer unvoreingenommenes, offenes Nachdenken und Argumentieren erfahren. Deshalb widmen sie ihre Beiträge und diese Festschrift Emst-Wolfgang Böckenförde zu dessen 65. Geburtstag in Dankbarkeit und Verehrung. Die Herausgeber

Inhalt I. STAATSTHEORIE Rainer Eckertz Bundesstaat und Demokratie. Ein Problem politischer Einheit?

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Christoph Enders Offene Staatlichkeit unter Souveränitäts vorbehalt - oder: Vom Kampf der Rechtsordnungen nach Maastricht ........................................................

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Johannes Masing Methodische Grundlagen für die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention .....

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RainerWahl Die Person im Ständestaat und im Rechtsstaat. Vergleichende Betrachtungen zur europäischen und japanischen Entwicklung ........................................

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11. SUPRASTAATLICHKElT Bengt Beutler Offene Staatlichkeit und europäische Integration................................... 109 Rolf Grawert Der Deutschen supranationaler Nationalstaat....................................... 125 Albert Janssen Notwendiger Wandel der Dogmatik des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts in einem zusammenwachsenden Europa? Überlegungen zum Verständnis der Europäischen Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft .................................... 145 Herbert Mandelartz Europäische Integration. Gefährdungen und Chancen für die kommunale Selbstverwaltung ........................................................................ 163

8

Inhalt

Wilhelm Opfennann Der europäische VennittIungsausschuß ............................................ 177 Klaus Rennert Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit. Fragen zum neuen Art. 24 Absatz la GG ................................................................................ 199 Joachim Wieland Die Beteiligung der Bundeswehr an gemischtnationalen Einheiten. Rechtsfragen offener Staatlichkeit auf militärischem Gebiet ..................................... 219

III. STAAT UND PERSON Franz Bardenhewer Effektive Durchsetzung des europäischen Gemeinschaftsrechts und nationaler Vertrauensschutz. Bemerkungen zur Rückforderung gemeinschaftsrechtswidriger nationaler Beihilfen .................................................................. 239 Thomas Clemens Nonnenstrukturen im deutschen Recht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. 259 Johannes Hellennann Der Staat als Akteur auf ausländischen Märkten. Verfassungsrechtliche und staatstheoretische Aspekte der auswärtigen Aktivität öffentlicher Unternehmen .......... 277 Frank Hennecke Die verfaßte StaatIichkeit als Bedingung der Grundrechtsgeltung .................. 299 Ute Sacksofsky Mehrfache Staatsangehörigkeit - ein Irregulare? ................................... 317 Bernhard Schlink Vergangenheit als Zumutung? Zum Kündigungsgrund der Unzumutbarkeit weiterer Beschäftigung nach früherer Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit nach Kapitel XIX Sachgebiet AAbschnitt m Nr. lAbs. 5 2. Alternative der Anlage I zum Einigungsvertrag ............................................................. 341

Inhalt

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IV. VERFASSUNGSGESCHICHTE Dieter Gosewinkel Die Staatsangehörigkeit als Institution des Nationalstaats. Zur Entstehung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 ................................ 359 Damian Hecker Plädoyer für einen offenen Eigentumsbegriff. Zu einem Freiheits- und Eigentumsbegriff ohne Recht zur Herrschaft über Sachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 379 Achim Kurz Zur Interpretation des Artikels 48 Abs. 2 WRV 1930 - 33. Ein Überblick........... 395 Thomas Wisser Die Diktaturmaßnahmen im Juli 1930 - Autoritäre Umwandlung der Demokratie? 415

AUTOREN

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I. Staatstheorie

Bundesstaat und Demokratie Ein Problem politischer Einheit?* Von Rainer Eckertz, Berlin

I. Seit Mitte 1990 bestehen in Bundestag und Bundesrat unterschiedliche Mehrheiten 1• Als Ergebnis der Wahlen mehrerer Landtage und des Bundestags im Jahr 1994 hat sich diese Konstellation sogar verfestigt. In für die Entwicklung des staatlich geeinten Deutschland entscheidenden Bereichen mußten und müssen daher die Bundesregierung und die sie tragende Mehrheit im Bundestag die Einigung mit Landesregierungen suchen, die von der im Bundestag in Opposition stehenden Partei geführt werden. Warum auch nicht? Unter umgekehrtem parteipolitischem Vorzeichen hatte eine solche Konstellation bereits während der Regierungszeit der Bonner sozialliberalen Koalition bestanden. Damals hatten Anhänger der sozialliberalen Reformpolitik die Einschränkungen der vom Wähler der Bundesregierung und der sie tragenden Parlamentsmehrheit verliehenen ,,Macht auf Zeit" durch den Bundesrat als undemokratisch empfunden. Böckenförde hat dieses Problem in einer 1980 veröffentlichten Studie unter dem Titel "Sozialer Bundesstaat und parlamentarische Demokratie,,2 aufgegriffen und in den Gesamtzusarnmenhang der bundes staatlichen Entwicklung der Bundesrepublik gestellt. Böckenförde führt in diesem Beitrag die durch die unterschiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat sichtbar gewordene Spannung zwischen bundes-

* Dieser Beitrag ist aus einer größeren Arbeit hervorgegangen, bei der mich als beständigster Gesprächspartner Martin Brandt begleitet hat. Dafür sei ihm hier gedankt. I Die SPD-geführten Länder gewannen mit der Bildung der rot-grünen Koalition am 7. Juni 1990 in Niedersachsen die Mehrheit im Bundesrat. 2 E.-W Bäckenfärde, in: J. Jekewitz/M. Melzer/W. Zeh (Hrsg.), Politik als gelebte Verfassung. Aktuelle Probleme des modemen Verfassungsstaates, Festschrift für Friedrich Schäfer, 1980, S. 182 ff. Im folgenden Seitenangaben im Text. Bäckenfärde hat diese an der Verfassungswirklichkeit orientierte Studie nicht in die beiden 1991 unter den Titeln "Recht, Staat, Freiheit" und "Staat, Verfassung, Demokratie" veröffentlichten Aufsatzsammlungen aufgenommen. Läßt der Bundesstaat sich nicht dem kategorialen Rahmen dieser beiden Bände, in denen er allenfalls am Rande thematisiert wird, einfügen?

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staatlicher Ordnung und parlamentarischer Demokratie auf ein tiefer liegendes "Strukturproblem des demokratischen Bundesstaats" zurück. Er zeigt zunächst, wie sich in der Bundesrepublik aus dem vom sozialstaatlichen Leitbild einheitlicher Lebensverhältnisse geprägten "unitarischen Bundesstaat" der kooperative Föderalismus entwickelt hat. In diesem wird das Mehrheitsprinzip durch einen weitgehenden Einigungszwang zurückgedrängt. Da zudem seine Träger die Exekutiven von Bund und Ländern sind, führt er zu einer Entmachtung der Parlamente (S.184ff.). Das eigentliche "Strukturproblem" sieht Böckenförde aber auch nicht in dieser Entparlamentarisierung, sondern in dem "Beteiligungsföderalismus", der durch die Kompensation des Verlustes eigenständiger Kompetenzen der Länder durch die Erweiterung ihrer Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes zum entscheidenden Merkmal des Bundesstaats geworden ist. Böckenförde wendet sich nicht gegen die übliche Auffassung des Beteiligungsföderalismus als einer Fonn der Gewaltenteilung, aber gegen die Folgerung, dieser füge sich damit bruchlos in die freiheitlich organisierte demokratische Ordnung ein. Er deutet den "Beteiligungsföderalismus" als eine Rückkehr zu Montesquieus ständestaatlichem Konzept der "Gewalt-teilung", das er von dem Art. 20 Abs. 2 GG zugrunde liegenden souveränitätsbezogenen Prinzip der Gewaltentrennung scharf unterscheidet. Während nach Montesquieus Konzept verschiedene konkrete Machtträger mit je eigener Legitimationsbasis an der Ausübung einer Funktion beteiligt werden, werden nach dem souveränitätsbezogenen Konzept auf der Basis eines einheitlichen Trägers der Staatsgewalt verschiedene Staatsfunktionen organisatorisch getrennt. Da Böckenförde die Staatsfonn der Demokratie dem souveränitätsbezogenen Konzept der einheitlichen Herrschaftskonstituierung zuordnet 3 , findet er in dem Widerspruch zwischen diesen beiden Konzepten das Strukturproblem der bundesstaatlichen Demokratie (S. 188 f.). Damit verschiebt sich aber die Fragestellung. Der Stein des Anstoßes, die Einschränkung der vom Wähler verliehenen Macht auf Zeit durch den Exekutivföderalismus, wird an den Rand gerückt. Das Kemproblem ist die Aufspaltung der einheitlichen Staatsgewalt durch die Beteiligung verschiedener föderaler Machtträger. Unausgesprochen ist so auch in dieser Studie das eigentliche Thema Böckenfördes die Frage nach der Erhaltung politischer Einheit4 • Seine Erfahrungsbasis ist die 3 Nach diesem Verständnis der Volkssouveränität übernimmt das Volk vom Monarchen die Trägerschaft der souveränen Staatsgewalt, die sich im Absolutismus ausgebildet hat; s. dazu Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip", in: Staat, Verfassung, Demokratie (FN 2), S. 289ff. (293). 4 Als terminus technicus in dem von earl Schmitt geprägten Sinn (dazu unten 11. 3) verwendet Böckenförde den Begriff "politische Einheit" hier nur am Rande (S. 187). Er paraphrasiert ihn aber durch Formulierungen wie "Organisationsprinzip eines einheitlichen politischen Gemeinwesens" (S. 187), "Inhalt einer politischen Entscheidung" (die wie Schmitts "Verfassung als Entscheidung" den Verfassungsgesetzen vorausliegt, S. 193) oder "politisch zu existieren vermag" (S. 194).

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"Stabilität und Kontinuität der politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik" (S. 187; vgl. S. 193). Auf diesem Boden kehrt sich die Bewertung des als Prinzip die politische Einheit in Frage stellenden Beteiligungsföderalismus wie von selbst um. Er trägt in der Staatspraxis wesentlich zur Stabilität der Bundesrepublik bei, weil er die verschiedenen Organe und die in ihnen wirksamen politischen Kräfte ständig auf Ausgleich und Kompromiß verweist. Demgemäß sucht Böckenförde die Lösung des Strukturproblems der bundesstaatlichen Demokratie nicht im Verfassungsrecht, sondern in der Verfassungswirklichkeit. Das von ihm zunächst herausgearbeitete staatsrechtliche ,,Defizit an demokratischer Struktur" (S. 190) sieht er dadurch "politisch weithin ausgeglichen" (S. 192), daß sich "über der je originären und staatsrechtlich unvermittelten Ausgangsbasis von Landes- und Bundesstaatsgewalt die nämlichen politischen Parteien als legitimierte Inhaber der politischen Entscheidungspositionen erheben" (S. 190 f.)5. Dies ist möglich, weil alle ins Gewicht fallenden politischen Parteien in dem Sinne unitarische Parteien sind, daß sie jeweils bundesweit in Bund und Ländern zugleich agieren (S. 190). Die Doppelrolle dieser Parteien als Regierungsund Oppositionsparteien führt in dem auf Einigung angewiesenen Bundesstaat zu einer "materiellen Allparteienregierung". Die Entscheidungsmechanismen des Beteiligungsföderalismus sind ,,Funktionsweisen des Allparteienbundesstaats" (S. 191). Ohne dies ausdrücklich zu sagen, sieht Böckenförde offenbar im "Allparteienbundesstaat" die Lösung des von ihm aufgewiesenen Strukturproblems des demokratischen Bundesstaats. Der Begriff "Allparteienbundesstaat", den Böckenförde gewiß nicht naiv verwendet, rezipiert aber einen Begriff, der seinem Ursprung nach einen gegen die Verhältnisse in der Weimarer Republik gerichteten Sinn hat, den des ,,Parteienbundesstaats". Durch seine Rückführung des Ausgangsproblems der Vereinbarkeit von Bundesstaat und parlamentarischer Demokratie auf das Problem der politischen Einheit des Bundesstaats nimmt Böckenförde auch systematisch die Fragestellung in der Fassung wieder auf, die ihr der Vordenker der Fundamentalkritik an der Weimarer Republik earl SchmUt gegeben hat. Böckenfördes Studie zum Bundesstaat impliziert damit eine - allerdings auch in den Anmerkungen nicht ausgewiesene - Auseinandersetzung mit der Kritik am Parteienbundesstaat. Sie ist so ein Prüfstein dafür, ob die Kategorien earl Schmitts einerseits auch Strukturprobleme der Bundesrepublik diagnostisch zu erfassen vennögen, andererseits auf ihrem Boden so refonnuliert werden können, daß sie deren Verfassungsordnung nicht delegitimieren, sondern rechtfertigen 6 . 5 Diese Sichtweise entsprach dem Selbstverständnis der Akteure. So hat der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Dr. Filbinger die parteipolitisch geprägte Beurteilung von Streitfragen im Bundesrat damit verteidigt, daß auch die Politik der Bundesregierung sowie der Koalitions- und Oppositionsfraktion im Bundestag legitimerweise vom parteipolitischen Denken getragen sei: "Wenn wir politisch urteilen, dann tun wir das als Männer, die Parteien angehören, die legitime Mitträger unserer Verfassung sind, ebenfalls in legitimer Art und Weise" (413. Sitzung des Bundesrats v. 8.11. 1974, PlenProt. S. 403C).

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11. 1. Der Begriff "Parteienbundesstaat" hat seine Wurzel im Problem des Übergangs vom monarchischen Bundesstaat der Bismarckschen Reichsverfassung zum demokratischen Bundesstaat der Weimarer Republik. Gegen die sich im Ersten Weltkrieg anbahnende Parlamentarisierung des Deutschen Reiches 7 hat Erich Kaufrrumn die heute kaum noch bekannte These ins Feld geführt, der Bundesstaat mache den Parlamentarismus unmöglich 8 . An diese These knüpfte die Kritik am Parlamentarismus der Weimarer Republik an. earl Schmitt erklärte im Jahr 1931 das (bloße) Faktum, daß in der Weimarer Republik bis dahin die bundesstaatliche Ordnung und der Parlamentarismus nebeneinander bestanden hatten, mit einem durch die Parteien bewirkten Struktur- und Funktionswandel der bundesstaatlichen Organisation. Demnach sind die staatlichen Machtpositionen, die die verschiedenen, den pluralistischen Staat bildenden sozialen Machtkomplexe und ihre Organisationen in den einzelnen Ländern errungen haben, zu ihren Stützpunkten bei der Verteidigung gegen eine im Reich oder in anderen Ländern herrschende feindliche Partei oder Koalition geworden. Diese Verbündung des Föderalismus mit dem Pluralismus hat indes eine "Auflockerung der Geschlossenheit und Festigkeit der staatlichen Einheit" zum Preis9 • Zwar kann die bundesstaatliche Organisation als ein Mittel territorialer Dezentralisation auch ein "Gegengewicht gegen die durchgängigen pluralistischen Machtgebilde und die Methoden ihrer Parteipolitik" sein 10. Eine Notlage erfordert aber einen entscheidungsfähigen Staat, den die Weimarer Verfassung nach Schmitt dadurch ermöglicht hat, daß der Reichspräsident als "Hüter der Verfassung" durch das ganze

6 R. Mehring interpretiert in seiner Sammelbesprechung der Schriften Bäckenfärdes dessen gesamtes Werk von dieser Intention her: AöR 117 (1992), S. 449 ff., bes. S. 450, 472. 7 Dazu Bäckenfärde, Der Zusammenbruch der Monarchie und die Entstehung der Weimarer Republik, in: Recht, Staat, Freiheit (FN 2), S. 306ff. (314ff.). 8 Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung, 1917, S. 67ff., 98. Kritisch zu Kaufmanns Ablehnung einer Parlamentarisierung Bäckenfärde in: Recht ... (FN 2), S. 273 ff. (300 f., FN 66). Nach earl Schmitt galt die Unvereinbarkeit von Parlamentarismus und Föderalismus unter der Bismarck-Verfassung als offizielle Doktrin (Verfassungslehre, 1928, S. 334; vgl. S.66). 9 Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 95. 10 Ebd., S. 95 f. S. auch Schmitt, Das Problem der innenpolitischen Neutralität des Staates (1930), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1. Auf!. 1958, S. 41 ff. (53). Vgl. zu beiden Aspekten G. Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 1976, S. 57 ff. Lehmbruch sieht einerseits die - seit Mitte der zwanziger Jahre auch akut gewordene - Gefahr, daß aufgrund des Übergangs zu parlamentarischen Parteiregierungen die zuvor selbstverständliche Homogenität von Reichs- und Länderregierungen durch politische Richtungsgegensätze in Frage gestellt wurde (S. 58 ff.). Nach seiner Auffassung ist diese Gefahr aber durch die Überlappung der Koalitionen und das gegen Parteipolitik gerichtete "gouvernemental-administrative" Selbstverständnis der Länderregierungen und insbesondere des Reichsrats relativiert worden (S. 62 ff.).

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deutsche Volk gewählt ist und im Konfliktfall an dieses appellieren kann 11. Mit den "pluralistischen Zerteilungen", über die hinweg sich das deutsche Volk im entscheidenden Augenblick zusammenfinden SOll,12 meint Schmitt zweifellos auch die von den Parteien durchdrungene bundesstaatliche Organisation. Schmitts Diagnose eines durch die Parteien bewirkten Funktionswandels der bundesstaatlichen Ordnung konnte so in einer Lage, in der sich die Reichsregierung nicht mehr auf das Parlament, sondern auf den Reichspräsidenten stützte, zu dem Verdikt einer gegen das Reich gerichteten Verbindung der Parteien mit den Ländern zugespitzt werden. Im Streit um die Verfassungsmäßigkeit des sog. Preußenschlags vom 20. Juli 1932 13 verdichtete sich dieser polemische Sinn zu dem Begriff "Parteienbundesstaat". Die Notverordnung des Reichspräsidenten, aufgrund deren der Reichskanzler v. Papen als Reichskommissar der sozialdemokratisch geführten Regierung des Landes Preußen ihre Befugnisse entzogen hatte, wurde als gegen den "Parteienbundesstaat" gerichtete "bundesstaatliche Aktion des Reichspräsidenten" gerechtfertigt 14. Vom Standpunkt des nationalsozialistischen Staates aus brandmarkte dann Ernst Rudolf Huber den Föderalismus der Weimarer Republik als den "verderbte(n) Föderalismus des Parteienbundesstaats, in dem die politischen Parteien die Einzelstaaten durchsetzten und als Bastionen für ihren Kampf gegen das Reich benutzten" 15. Bald nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes hat Werner Weber den Begriff des Parteienbundesstaats in bewußter Anknüpfung an diese Tradition auch gegen die junge Bundesrepublik gewendet l6 . 2. Ist durch die Entwicklung der Bundesrepublik zum "Allparteienbundesstaat", wie sie Böckenförde analysiert hat, die Kritik am Parteienbundesstaat überwunden Der Hüter ... (FN 9), S. 115 ff., 149, 159. Ebd., S. 159. 13 S. dazu die (differenzierende) Entscheidung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich v. 25. 10. 1932, Anhang zu RGZ 138, S. I ff., insbes. S. 36ff. 14 (K.) Bilfinger, Exekution, Diktatur und Föderalismus, DJZ 1932, Sp. 1017 (1018); E. R. Huber; Reichsgewalt und Staatsgerichtshof, 1932, S. 18 ff., mit der Kapitelüberschrift "Die Front des Parteienbundesstaats". - Tatsächlich verlief die Front zwischen den republiktreuen Kräften, deren letzte Bastion die von den Parteien der Weimarer Koalition gebildete, aHerdings über keine parlamentarische Mehrheit mehr verfügende preußische Regierung war, und den einen autoritären Staat anstrebenden Wegbereitern Hitlers; s. im einzelnen K. D. Braeher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 5. Aufl. 1971, S. 491 ff., der die Aktion als Staatsstreich qualifiziert. 15 Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 2. Aufl. 1939, S. 23. Der Reichsrat sei "die föderalistische Fassade vor der politischen Wirklichkeit des Parteienstaates" gewesen (ebd.). Die Grundlage des Parteienbundesstaats sieht Huber im Länderparlamentarismus (ebd., S. 20). Ähnlich Schmitt in seiner Kölner Antrittsvorlesung v. 20. 6. 1933 mit dem Titel "Reich - Staat - Bund", in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar - GenfVersailles, 1940, S. 190 ff. (197). 16 Fiktionen und Gefahren des westdeutschen Föderalismus (zuerst 1951), in: ders., Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 57 ff. (63 ff.). Bökkenförde führt in seiner Studie zum Bundesstaat (FN 2) diesen Text an systematisch zentraler SteHe an (FN 37 zu S. 187), übergeht dabei aber den Begriff "Parteienbundesstaat". 11

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worden? Um diese Frage beantworten zu können, muß zunächst die Entwicklung des Bundesstaates in der Bundesrepublik mit der Entwicklung verglichen werden, aus der in der Weimarer Republik die Kritik am Parteienbundesstaat hervorgegangen ist. Genauer betrachtet steht der Kamptbegriff "Parteienbundesstaat" am Ende einer Entwicklung, in der sich nacheinander drei Antinomien entfaltet haben. Diesen können entsprechende Strukturprobleme des Bundesstaats in der Bundesrepublik zugeordnet werden. a) Erich Kaufmann hatte das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative im Auge. Die Bismarcksche Reichsverfassung legte der Aufteilung der Kompetenzen zwischen dem Reich und den Ländern die Teilung der Gewalten zwischen Exekutive und Legislative zugrunde. Dem Reich fiel das Schwergewicht auf dem Gebiet der Gesetzgebung zu, den Gliedstaaten auf dem Gebiet der Verwaltung 17 . Der an der Gesetzgebung des Reiches beteiligte Bundesrat stellte die Verbindung zwischen beidem her l8 . Kaufmann meinte, die prinzipielle Zuständigkeit der Länder für die Vollziehung mache eine Parlamentarisierung der Reichsregierung unmöglich, weil im parlamentarischen Regierungssystem die der Majorität des Parlaments entstammende Regierung "Haupt der Vollziehung" sein müsse l9 . Er setzte dabei voraus, daß die dem Parlament verantwortliche Regierung auch für die gesamte Vollziehung verantwortlich sein muß und deshalb die Exekutivkompetenzen nicht zwischen dem Zentralstaat und den Gliedstaaten aufgeteilt werden dürfen. Die der Unterscheidung von Gesetzgebung und Gesetzesvollzug folgende Aufteilung der Kompetenzen zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten ist das grundlegende Strukturrnerkrnal des deutschen Bundesstaats geblieben. Auch nach dem Grundgesetz liegt der Schwerpunkt der Gesetzgebung beim Bund und der der Verwaltung bei den Ländern. Und auch nach dem Grundgesetz stellt der an der Gesetzgebung und sogar an der Verwaltung des Bundes beteiligte Bundesrat die Verbindung zwischen beidem her. Das bundesstaatliche Organisationsrecht der Bundesrepublik zeichnet insoweit die Grundlinien der Bismarckschen Reichsverfassung nach. Das Problem der Vereinbarkeit des parlamentarischen Regierungssystems mit dieser bundesstaatlichen Organisation ist durch eine Einschränkung des Parlamentarismus gelöst worden. Wenn die parlamentarisch verantwortliche Regierung des Zentralstaats nicht, wie Kaufmann unterstellt hat, auch das Haupt der gesamten Exekutive ist, ist eine Koordinierung der Exekutiven mittels ihrer Ko17 E. Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, 1931, S. 34f. Aufgrund der Trennung der gesetzgebenden und verwaltenden Funktion war es der Bismarckschen Reichsverfassung möglich, "den Zentralstaat, das Deutsche Reich, in so reichem Maße mit Kompetenzen auszustatten, die die schnelle Herstellung einer weitgehenden Rechtseinheit ermöglichten, ohne das Reich zu einem die Gliedstaaten erdrückenden, übermächtigen Staatswesen zu machen" (ebd., S. 35). Ähnlich E. Kaufmann (FN 8), S. 64f.: "So föderalistisch unser Reich auch in bezug auf seine Organisation gestaltet ist, so unitarisch ist es in bezug auf seine Ausstattung mit Kompetenzen ... " (S. 64). 18 Kaufmann (FN 8), S. 65 f. 19 Ebd., S. 67.

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operation praktisch unausweichlich 2o . Der von der Exekutive dominierte Beteiligungsföderalismus ist daher nicht erst aus dem unitarisch verstandenen Sozialstaat hervorgegangen, sondern schon in der staatsorganisationsrechtlichen Grundstruktur des deutschen Bundesstaats angelegt. Er ist "Bismarcks Erbe". b) earl Schmitt sah aber den "eigentliche(n) Grund der Unvereinbarkeiten" gar nicht im Gegensatz von Parlamentarismus und Föderalismus, sondern in der unitarischen Konsequenz des demokratischen Prinzips der Identität21 . In einem demokratischen Bundesstaat gehe "die homogene Einheit des Volkes" über die politischen Grenzen der Gliedstaaten hinweg und beseitige den für einen (echten) Bund kennzeichnenden "Schwebezustand des Nebeneinanderbestehens von Bund und politisch-selbständigen Gliedstaaten zugunsten einer durchgängigen Einheit,m. Aus einer solchen Verbindung von Demokratie und bundesstaatlicher Organisation entsteht der "Bundesstaat ohne bündische Grundlage", in dem die bundesstaatliche Organisation zu einem Mittel der Gewaltenunterscheidung und Dezentralisation wird23 . Die Antinomie zwischen der Einheit des deutschen Volkes als des Trägers der Demokratie und der politischen Selbständigkeit der Gliedstaaten wird hier dahin aufgelöst, daß eine Eigenstaatlichkeit der Länder nur fingiert wird 24 • In dieser Entwicklungslinie steht der "unitarische Bundesstaat", der die "alte" Bundesrepublik geprägt hat. Die ihn bejahende Staatsrechtslehre sieht in dem Fehlen einer historisch gegebenen politischen Eigenart der Länder keinen Mangel, sondern im Gegenteil in der auf die Einheitlichkeit und Gleichmäßigkeit der staatlichen Aufgabenerfüllung gerichteten "sachlichen Unitarisierung" ein zwingendes Erfordernis des Sozialstaats. Von einem dezentralisierten Einheitsstaat unterscheidet sich der unitarische Bundesstaat nach dieser Lehre durch die Teilung der vollziehenden Gewalt zwischen Bund und Ländern und die Kontrolle der Bundesexekutive nicht nur durch das Parlament, sondern auch durch die im Bundesrat vertretene Exekutive der Länder25 . Allerdings ist der Bonner unitarische Bundesstaat nicht - wie nach Schmitts Lehre die aus der Novemberrevolution hervorgegangene Weimarer Republik - das Resultat einer Beseitigung der bündischen Grundlage durch das demokratische Prinzip der Identität. Die Volkssouveränität ist unter dem Grundgesetz zu einer realitätslosen Doktrin verblaßt26 . Diese Schwäche des Demokratieprinzips ist in 20 Zudem mußte der Wegfall der Hegemonie Preußens, auf der die Bismarcksche Konstruktion aufbaute, durch eine Verstärkung der Kooperation ausgeglichen werden. 21 Der Hüter ... (FN 9), S. 95; Verfassungslehre, 1928, S. 65 f., 334, 388 ff. 22 Verfassungslehre, S. 388. 23 Ebd., S. 389. 24 Zum nur fingierten Föderalismus W. Weber (FN 16), S. 360 ff. 25 Grundlegend K. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962. 26 Zu dem nur normativen Sinn der Berufung auf die verfassungsgebende Gewalt des Volkes in der Präambel s. u. 3 b. Das Grundgesetz hat aber auch in seiner Ausgestaltung des Demokratieprinzips das Volk "blaß und wie in einer Vitrine gezeichnet" (w. Weber, Der Ein-

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den ersten drei Jahrzehnten, auf die Böckenförde in seiner Studie zurückblickt, durch den unitarisch verstandenen Sozialstaat kompensiert worden. Durch die Erfüllung der sozialstaatlichen Erwartungen der Bürger, zu denen insbesondere die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse gehörte, hat sich der Allparteienbundesstaat gewissermaßen demokratisch legitimiert27 . c) Während Böckenförde den Bonner Allparteienbundesstaat als eine Verwirklichung des unitarisch-sozialen Bundesstaats bejaht, sahen die Kritiker des "Parteienbundesstaats" in diesem eine Entartung des aus der Novemberrevolution hervorgegangenen Bundesstaats ohne bündische Grundlage. Dadurch, daß in der Weimarer Republik die politischen Parteien und die hinter ihnen stehenden pluralistischen Mächte in die von der Verfassung aufrecht erhaltenen bundes staatlichen Einrichtungen und Positionen eingerückt sind, hat sich die Antinomie zwischen dem demokratischen Prinzip der Identität und dem bündischen Prinzip eines echten Bundesstaats in eine dritte Antinomie verwandelt, die zwischen dem vom Pluralismus okkupierten Föderalismus und einer entscheidungsfähigen politischen Einheit. In Umkehrung des Ausgangsproblems, der Beseitigung der föderalen Eigenständigkeit der Länder durch das demokratische Prinzip der Identität, wird dann die Erhaltung der politischen Einheit des Bundesstaats zum eigentlichen Problem. Diese dritte Antinomie rekonstruiert Böckenförde in seiner Studie VOn 1980 als das "Strukturproblem des demokratischen Bundesstaats". Seine Umdeutung der harmonisierenden Vorstellung von einer föderalen Gewaltenteilung in eine "Gewalt-teilung", durch die verschiedene politisch-soziale Kräfte an der Ausübung staatlicher Funktionen beteiligt werden, rezipiert Schmitts Diagnose einer Verbündung von Pluralismus und Föderalismus. Da er an dieser Stelle auch an dem strikten Verständnis der demokratischen Staatsform als Konstitutionsprinzip einer einheitlichen Staatsgewalt festhält, treten Demokratie und Beteiligungsföderalismus in einen prinzipiellen Gegensatz. Im Unterschied zu earl Schmitt diskreditiert Böckenförde jedoch das Bündnis des Föderalismus mit dem Pluralismus nicht als illegitim. Er verwirft keineswegs die bundesrepublikanische Rechtfertigung des Bundesstaats als föderale Gewaltenteilung, sondern verleiht ihr durch ihr Verständnis im Sinne Montesquieus eine eigene Dignität. Die Besetzung der bundesstaatlichen Positionen durch die politischen Parteien erscheint dann nicht mehr als eine Usurpation. Dementsprechend setzt Böckenförde auch bei der Lösung des Strukturproblems des demokratischen bruch politischer Stände in die Demokratie [zuerst 1951], in: Spannungen ... [FN 16], S. 36ff. [42]). Symptom der "teils gar nicht, teils nur gebrochen" herstellbaren demokratisch legitimierenden Verbindung zwischen dem Volk und den Parteien (ebd., S. 54) ist heute die "Politikverdrossenheit" . 27 Vgl. Bäckenfärde, Sozialer Bundesstaat ... (FN 2), S. 194, unter Gleichsetzung der Legitimation durch das Postulat der "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" mit der unitarischdemokratischen Legitimationsgrundlage.

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Bundesstaats auf die sich die Macht teilenden Parteien. Sie sind durch den Sozialstaat auf Kooperation und Komprorniß verwiesen. Der unitarische Sozialstaat nimmt die bundesstaatliehe Organisation in seinen Dienst und bewirkt, daß aus dem die politische Einheit gefährdenden "Parteienbundesstaat" der die politische Stabilität der Bundesrepublik gewährleistende "Allparteienbundesstaat" wird. Zu dieser Umwertung kommt es, weil Böckenförde den Begriff der politischen Einheit, der den Maßstab der Kritik am Parteienbundesstaat gebildet hat, durch den Befund der politischen Stabilität der Bundesrepublik austauscht, der die Erfahrungsbasis seiner Bejahung des sozialen Allparteienbundesstaats ist. Zusammengefaßt und zugespitzt bringt Böckenfördes Studie von 1980 Bundesstaat und Demokratie durch eine zweimalige Problemverschiebung in Einklang. Aus der Ausgangsfrage nach der Vereinbarkeit der parlamentarischen Demokratie mit dem Beteiligungsföderalismus wird die Frage nach der politischen Einheit des verschiedene Machtträger an den Staatsfunktionen beteiligenden Bundesstaats und aus dieser die Frage nach den Bedingungen der politischen Stabilität der Bundesrepublik. Durch den ersten Schritt wird der Begriff der Demokratie vom Begriff der politischen Einheit abhängig. Im zweiten Schritt ändert sich mit dem Austausch des Begriffs der politischen Einheit durch den Befund politischer Stabilität der Sinn des so zur abhängigen Variablen gewordenen Demokratiebegriffs. An die Stelle des Volkes als des einheitlichen Trägers der Staatsgewalt treten die politischen Parteien, die das durch den Beteiligungsföderalismus bewirkte staatsrechtliche Demokratiedefizit so überlagern, daß es als solches nicht erlebt wird28 . Die systematische Kernfrage ist demnach, ob für das Verhältnis von Bundesstaat und Demokratie der Begriff der politischen Einheit maßgeblich ist. Zur Präzisierung dieser Frage ist zunächst nach dem Verhältnis des Begriffs der politischen Einheit zu dem Befund der politischen Stabilität des Allparteienbundesstaats zu fragen. Diese Frage stellt sich durch die staatliche Einigung Deutschlands neu. 3. a) Für earl Schmitts Begriff der politischen Einheit ist sein Begriff des Politischen maßgeblich. Gerade Böckenförde hat in diesem Bezug den Schlüssel zum Staatsrechtsdenken Schmitts gefunden 29 . Auch Böckenfördes Interpretation geht davon aus, daß das Politische keinen abgrenzbaren Gegenstandsbereich hat; "es stellt vielmehr ein öffentliches Beziehungsfeld zwischen Menschen und Menschengruppen dar, das durch einen bestimmten Intensitätsgrad der Assoziation oder Dissoziation bis hin zur Freund-Feind-Unterscheidung gekennzeichnet ist, der 28 Dazu, daß dieser analytische Befund nicht die wahre Meinung des Staatsrechtslehrers und Verfassungsrichters Bäckenfärde ist, s. seine abw. Meinung zu dem Parteienfinanzierungsurteil v. 14. 7. 1986 (BVerfGE 73, 40, 103 [112]). Hier wird die Kluft zwischen dem kategorialen Konzept Bäckenfärdes und der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik sichtbar; vgl. o. FN 2). 29 Bäckenfärde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk earl Schmitts, in: Recht ... (FN 2), S. 344ff. (349).

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sein Material aus allen Sach- oder Lebensbereichen beziehen kann,,30. Die Kernaussage ist für ihn aber, daß "der Staat die politische Einheit eines Volkes" ist. Damit rückt die friedensstiftende Seite der Unterscheidung von Freund und Feind in den Vordergrund: Der Staat ist "eine in sich befriedete Einheit", innerhalb deren alle Gegensätze, Konflikte und Auseinandersetzungen unterhalb der Ebene einer Unterscheidung nach Freund und Feind verbleiben, die die Bereitschaft zum bewaffneten Kampf einschlösse 31 . Durch diese Interpretation gibt Böckenförde dem zentralen Kampfbegriff earl Schmitts eine Wendung, durch die er sich den stabilen Verhältnissen in der Bundesrepublik einpaßt. In einem solch moderaten Sinne ist die Bundesrepublik Deutschland zweifellos eine "politische Einheit". Ist damit aber auch der Begriff der politischen Einheit so in der Erfahrungstatsache politischer Stabilität aufgegangen, daß die Grundlage der Kritik am Parteienbundesstaat entfallen ist? b) Die Antinomie zwischen dem von den politischen Parteien in Besitz genommenen Bundesstaat und einer entscheidungsfähigen politischen Einheit, die Bökkenförde als das Strukturproblem des demokratischen Bundesstaats rekonstruiert, bricht am Problem der Verfassungsgebung auf. Wie Böckenförde herausstellt, ist earl Schmitts Verfassungsbegriff eine Ausprägung seines Begriffs der politischen Einheit: "Die Verfassung ist nicht Vertrag, sondern Entscheidung, und zwar Entscheidung über Art und Form der politischen Einheit. Als Vertrag ist die Verfassung nur möglich ... zwischen politischen Einheiten, die ein Bundes-, möglicherweise auch ein bundesstaatliches Verhältnis begründen." Innerhalb eines Staates kann die Verfassung nicht auf Vertrag beruhen, weil dies "ein Vertrag selbständiger in sich stehender Kräfte innerhalb des Staates" wäre und dadurch "das Einheitsprinzip und die Einheitsgewähr für den Staat als politische Einheit" in Frage gestellt würden 32 . Nach Schmitts Verfassungslehre kann daher die Verfassung einer politischen Einheit allein auf einer Entscheidung des Trägers der verfassungsgebenden 33 Gewalt, in der Demokratie des Volkes, gründen 34 . Nach diesem Begriff der verfassungsgebenden Gewalt kann das Volk aber nur als eine politisch aktionsfähige, realgegenwärtige Einheit ihr Träger sein 35 . In der Beseitigung der deutschen FürEbd., S. 346. Ebd. 32 Ebd., S. 352f., unter Bezug auf Schmitt, Verfassungslehre (FN 21), S. 20, 21-23, 62ff. Diese Lehre hat sich Bäckenfärde zu eigen gemacht: Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, in: Staat ... (FN 2), S. 29ff. (36ff.). 33 So (mit einem Fugen-s) die Schreibweise der alten und neuen Fassung der Präambel des Grundgesetzes. 34 Schmitt (FN 32), S. 23 f. 35 Vgl. ebd., S. 79, 205. Nach Schmitt (ebd., S. 85) entscheidet die identitätstheoretisch verstandene verfassungsgebende Gewalt des Volkes über die Verfassung im Unterschied zum Verfassungsgesetz, das - wie nach ihrem Art. 181 die Weimarer Verfassung - durch eine 30 31

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stentümer und damit der bündischen Grundlage des Bismarckschen Bundesstaats durch die Novemberrevolution hatte diese Vorstellung eine Erfahrungsbasis 36 . Die Bundesrepublik Deutschland ist jedoch nicht wie die Weimarer Republik auf der Grundlage der nationalen Souveränität des deutschen Volkes entstanden. Das Grundgesetz hat sich zwar schon in der ursprünglichen Fassung seiner Präambel 3? wie die Weimarer Verfassung aus der verfassungsgebenden Gewalt des Deutschen Volkes hergeleitet. Tatsächlich war aber die Entscheidungsmacht des Grundgesetzgebers räumlich auf die westlichen Besatzungszonen und inhaltlich durch die Besatzungsmächte beschränkt38 • In dieser Situation konnte die Berufung auf die verfassungsgebende Gewalt des Deutschen Volkes nur den Sinn der kontrafaktischen Inanspruchnahme einer unveräußerlichen Rechtsposition haben. Die von earl Schmitts Begriff der verfassungsgebenden Gewalt nicht abtrennbare tatsächliche Durchsetzungsmacht fehlte 39 • Diese schon im Gründungsakt der Bundesrepublik angelegte politische Schwäche des Prinzips der Volkssouveränität ist nicht nur durch den Allparteienbundesstaat kompensiert worden (0. 2. b), sondern hat ihn auch erst ermöglicht. c) Durch die staatliche Einigung Deutschlands und die Einräumung der vollen Souveränität durch die vier Siegermächte40 sind die äußeren Beschränkungen der verfassungs gebenden Gewalt des deutschen Volkes entfallen. Demgemäß beruft sich die neu gefaßte Präambel des Grundgesetzes41 in ihrem ersten Satz nun einschränkungslos auf die verfassungsgebende Gewalt des Deutschen Volkes 42 • Da Nationalversammlung als Repräsentanten des Volkes beschlossen und verabschiedet werden kann. 36 Zur Verkörperung einer "souveränen Diktaturgewalt" in den Arbeiter- und Soldatenräten s. Böckenförde (FN 7), S. 320. Allerdings liegen zwischen der Novemberrevolution und der Verabschiedung der Weimarer Verfassung durch die Nationalversammlung bürgerkriegsähnliche Kämpfe in Berlin und anderen Teilen des Reichs. Die Weimarer Republik wurde faktisch durch eine Reihe von Verträgen zwischen politischen Machtträgern begründet; s. schon Franz Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Demokratischer und autoritärer Staat, 1967, S. 31 ff. (56). 37 Grundgesetz v. 23. 5. 1949 (BGB!. S. 1). 38 Wegen dieser doppelten Beschränkung behielt der Grundgesetzgeber im damaligen Art. 146 die eigentliche "Verfassung"-Gebung einer freien Entscheidung des (ganzen) deutschen Volkes vor. 39 Dazu eingehend D. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 23 ff., bes. S. 95. 40 Art. 7 des Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland v. 12. 9. 1990 (BGB!. 11 S. 1318) mit Festlegung der Außengrenzen des vereinten Deutschland auf die der Bundesrepublik und der DDR in Art. 1. 41 Gern. Art. 4 Nr. I des Einigungsvertrags v. 31. 8. 1990 neugef. durch das Zustimmungsgesetz v. 23. 9. 1990 (BGB!. 11 S. 885). 42 Nach Auffassung der dem Entwurf eines Einigungsvertragsgesetzes der Fraktionen der CDU I CSU und FDP beigefügten Denkschrift zum Einigungsvertrag hat sich der "Anspruch des Grundgesetzes, aus der verfassungsgebenden Gewalt des Deutschen Volkes hervorzugehen, ... erfüllt" (BTDrucks. 11/7760, S. 355 ff. [358]).

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die staatliche Einheit Deutschlands aber nicht im Wege einer gesamtdeutschen Verfassungsgebung nach der Urfassung des Art. 146 GG, sondern auf dem schnelleren Weg eines Beitritts der DDR nach Art. 23 Satz 2 GG a.F. 43 herbeigeführt worden ist, ist diese Herleitung jedoch eine bloß rechtliche Konstruktion geblieben44 . Die Beitrittserklärung der Volkskammer, deren Rechtsfolge nach Art. 23 Satz 2 GG a.F. nur die Verpflichtung der Staatsorgane der alten Bundesrepublik war, das Grundgesetz in dem beigetretenen Gebiet in Kraft zu setzen45, konnte eine Ausübung der verfassungsgebenden Gewalt des deutschen Volkes unter Beteiligung der Deutschen in der DDR nicht ersetzen. Für eine gesamtdeutsche Verfassungsgebung nach Art. 146 GG in der damaligen Fassung fehlte nicht nur die Zeit. "Die Deutschen" in den alten und neuen Ländern, denen die neue Präambel in ihrem zweiten Satz die Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands zuschreibt, haben bei der staatlichen Einigung Deutschlands keinen politischen Willen gebildet, durch den sie als Volk zum realen Träger der verfassungs gebenden Gewalt hätten werden können. Die sich in dem Demonstrationsruf "Wir sind das Volk" manifestierende Idee der Volkssouveränität vermochte es zwar, der SED-Parteiherrschaft die Legitimationsgrundlage zu entziehen 46 , trat aber nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze hinter dem alten sozialstaatlichen Leitbild einheitlicher Lebensverhältnisse zurück, das nun andere Demonstranten mit dem Ruf "Wir sind ein Volk" für den östlichen Teil Deutschlands reklamierten. Der Wunsch einer großen Mehrheit der Wähler in der DDR nach einer raschen Teilhabe am Wohlstandsniveau der Bundesrepublik47 bereitete der Machtübernahme durch den Allparteienbundesstaat den Weg. Die von der Parole "Wir sind ein Volk" verdeckten tiefgreifenden Unterschiede zwischen den beiden Teilen Deutschlands und ihren Menschen traten bald hervor. Damit fehlt dem staatlich geeinten Deutschland das Minimum an schon vorgegebener gesellschaftlicher Homogenität, das die innere Voraussetzung des aus dem unitarischen Bundesstaat hervorgegangenen, zum Einstimmigkeitsprinzip tendierenden kooperativen Föderalismus ist48 . Zudem war das unitarisch-sozialstaatliche

Beitrittserklärung der Volkskammer v. 23. 8. 1990 (BGBl. I S. 2057). Vgl. R. Wahl, Die Verfassungsfrage nach dem Beitritt, StWStPr 1990,468 (475 f.); M. Sachs, Das Grundgesetz im vereinten Deutschland endgültige Verfassung oder Dauerprovisorium?, JuS 1991,985 (990). 45 Die Inkraftsetzung des Grundgesetzes ist zwar im Einigungsvertrag geregelt worden (Art. 3 mit den Einschränkungen der Art. 6 und 7). Vollzogen werden konnte die Inkraftsetzung aber nur durch das Zustimmungsgesetz; so zutreffend E. Klein, Der Einigungsvertrag, DÖV 1991,569 (569). 46 Vgl. E. G. Mahrenholz, Die Verfassung und das Volk, 1992, S. 25. 47 Nach der infas-Analyse der Volkskammer-Wahl v. 18.3. 1989 (Frankfurter Rundschau vom 20. 3. 1990) meinten die Wähler mit der raschen Einigung "weniger die verfassungsrechtlichen Fragen als die Probleme des alltäglichen Wohlergehens und des Lebensstandards". 43

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Fundament des kooperativen Föderalismus schon in der alten Bundesrepublik in den letzten Jahren durch einen sozialen und ökonomischen Strukturwandel49 sowie durch das auf breiter Front vordringende neoliberale Weubewerbsdenken 50 ausgehöhlt worden. Im vereinten Deutschland ist es auch an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit gestoßen. Dennoch hat sich der Einigungsprozeß nach einer vom Bundeskanzler dominierten Anfangsphase weitgehend in den Formen des kooperativen Föderalismus vollzogen 51 • Insbesondere bei der Regelung der Finanzierung der deutschen Einheit hat dieser noch einmal seine Kompromißfähigkeit erwiesen 52 . So hat das institutionelle Gefüge der Bundesrepublik bisher auch im vereinten Deutschland in erstaunlichem Maße seine Stabilität und Kontinuität wahren können. Andererseits hat jedoch auch das staatlich geeinte Deutschland keine "Verfassung", die gemäß Art. 146 GG in seiner ursprünglichen und in der neuen Fassung des Einigungsvertrags "vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden" wäre. Aus dem Streit um eine gesamtdeutsche Verfassungsgebung nach Art. 146 GG53 ist der Komprorniß des Art. 5 EV hervorgegangen, in dem die Regierungen der beiden Vertragsparteien den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschland empfohlen haben, sich mit den "im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes" zu befassen. Durch diesen Kompromiß wurde die Verfassungsrevision dem aus der alten Bundesrepublik überkommenen institutionellen Rahmen eingepaßt und dadurch auch inhaltlich präjudiziert. Die zu seiner Ausführung im 48 Zu dieser Voraussetzung w-o. Schultze, Entwicklungen des Föderalismus in Deutschland, Kanada und Australien: Wider den Fatalismus unbefragter Unitarisierungsannahmen, ZPar11984, 291 (295,304). 49 Vgl. A. Benz, in: A. G. Gunlicksl R. Voigt (Hrsg.), Föderalismus in der Bewährungsprobe, 1991, S. 197 ff. (211 f.); F. Scharpf, in: ders.lL. Späth, Regionalisierung des europäischen Raums, 1989, S. 7 ff. (24 ff.). 50 Einen ökonomisch orientierten "Weubewerbsföderalismus" vertreten vor allem G. Kisker; Ideologische und theoretische Grundlagen der bundesstaatlichen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland, in: E. Benda u.a., Probleme des Föderalismus, 1985, S. 23 ff. (S. 34ff.); Wendt, Neuorientierung der Aufgaben- und Lastenverteilung im "sozialen Bundesstaat", StWStPr 1993,56; K.-D. Henke/G. F. Schuppert, Rechtliche und finanzwissenschaftliehe Probleme der Neuordnung der Finanzbeziehungen von Bund und Ländern im vereinten Deutschland, 1993. 51 G. Lehmbruch, Die deutsche Vereinigung, in: B. Kohler-Koch (Hrsg.), Staat und Demokratie in Europa, 1992, S. 22 ff.; zur ersten Phase S. 23 ff. 52 Bei der Einführung des gesamtdeutschen Finanzausgleichs hat aber auch die Entparlamentarisierung durch den kooperativen Föderalismus ihren unüberbietbaren Höhepunkt erreicht. Dazu R. Eckertz, Die Aufhebung der Teilung im gesamtdeutschen Finanzausgleich, ZRP 1993,297; ders., Schwieriger Balanceakt, Evang. Kommentare 1994, 100; W Renzsch, Föderative Problembewältigung: Zur Einbeziehung der neuen Länder in einen gesamtdeutschen Finanzausgleich ab 1995, ZParl 1994, 116. 53 S. dazu B. Guggenberger/T. Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, 1991.

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November 1991 von Bundestag und Bundesrat54 eingesetzte Gemeinsame Verfassungskommission war Fleisch vom Fleische des Allparteienbundesstaats. Die ohnehin schon wenigen Änderungsvorschläge der Kommission 55 wurden schließlich - bezeichnenderweise auf der Grundlage eines im Vermittlungsausschuß erzielten Kompromisses - nur zum Teil verabschiedet56 . Dieses Ergebnis rechtfertigte in der Tat nicht eine Anwendung des Art. 146 GG n.F. 57 , der somit ein memento der Vorläufigkeit des Grundgesetzes geblieben ist58 . An der Unfähigkeit des Allparteienbundesstaats zur Verfassungsgebung hat sich erwiesen, daß er keine politische Einheit ist. Aber auch die Bevölkerung des geeinten Deutschland hat kaum Interesse an der Verfassungsdiskussion gezeigt. Warum sollte es dann nicht genügen, daß die Bundesrepublik politisch stabil ist?59

III. Der Begriff der politischen Einheit unterscheidet sich dadurch von dem Befund politischer Stabilität, daß ihm ein stärkerer Begriff des Politischen zugrundeliegt. An diesem Begriff des Politischen gemessen, erscheint die Unfähigkeit zur Verfassungsgebung als ein Mangel. Woran mangelt es einem stabilen Staat, der zur Verfassungsgebung unfähig ist? Unterscheidet man mit earl Schmitt zwischen "Verfassung" und "Verfassungsgesetz,,60, ist zu antworten: Der auf das Beitrittsgebiet ausgedehnte Allparteienbundesstaat ist nicht fähig, zwischen den Verfassungsgesetzen, die nach dem Grundgesetz in dem in Art. 79 Abs. 2 geregelten Gesetzgebungsverfahren jederzeit änderbar sind, und einer "Verfassung" zu unterscheiden, durch die das deutsche Volk nach seiner staatlichen Einigung seinen Standort definieren müßte61 . Nach 54 Der Bundesrat hatte zuvor eine eigene Verfassungskommission eingesetzt, die ihren Bericht am 14.5. 1992 vorgelegt hat (BRDrucks. 360/92). 55 Bericht v. 5.11. 1993, BRDrucks. 800/93. 56 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 27. 10. 1994 (BGBI. I S. 3146). Zum Verfahren s. ZRP 1994,415 f., 493 f. 57 S. dazu den Kommissionsbericht (FN 55), S. 111 f. 58 Dagegen etwa ehr. Starck, Der neue Art. 146 GG und die Gemeinsame Verfassungskommission, in FS H. HeImrich, 1994, S. 289 ff. (301 f.), der die entscheidende Frage, ob das Grundgesetz auch in seinem neuen Art. 146 seinen Geltungsanspruch zugunsten der originären verfassungsgebenden Gewalt des Volkes beschränkt, verneint (S. 292 f.); a.A. Wahl (FN 44), S. 478; Sachs (FN 44), S. 988 f., 990. 59 Die Koalitionsfraktionen im Bundestag haben gegen eine neue gesamtdeutsche Verfassung eingewendet, das Grundgesetz habe der Bundesrepublik Deutschland eine politische und demokratische Stabilität garantiert, die nicht aufs Spiel gesetzt werden dürfe (Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BTDrucks. 12/8165, S. 26). 60 Verfassungs lehre (FN 21), S. 20ff.; vgl. o. FN 35. 61 In einer solchen Selbstbeschreibung hat auch ein Schmitt so fern stehender Verfassungsjurist wie D. Grimm den Hauptsinn einer Verfassungsgebung für das vereinte Deutschland

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Schmitts Lehre ist auch für diesen Verfassungs begriff sein Begriff des Politischen maßgeblich. Danach wird durch die den Verfassungsgesetzen vorausliegende "Verfassung" ein Gegensatz entschieden, durch den sich Freund und Feind unterscheiden. Das Kriterium dieser Feindschaft ist die reale Möglichkeit der Tötung 62 . Ist also das durch den Allparteienbundesstaat geeinte Deutschland zur Verfassungsgebung unfähig, weil es keinen wirklichen Feind hat? In Böckenfördes Interpretation des "Begriffs des Politischen" bleibt die Feindschaft dem Staat als der politischen Einheit des Volkes äußerlich. Gewiß ist auch in seiner moderaten Version das Politische auch im Innern des Staates als die Möglichkeit eskalierender Freund-Feind-Gruppierung "stets gegenwärtig, selbst wenn es in der Normallage nicht sichtbar hervortritt,,63. Der Staat, dem es durch eine kluge Politik gelingt, eine solche Eskalation zu verhindern, scheint aber als neutraler Dritter über diesen Gegensätzen zu stehen. Damit wird earl Schmitts Begriff des Politischen verharmlost. Die Interpretation von Schmitts Begriff der politischen Einheit darf nicht bei seinem Begriff des Politischen stehen bleiben. Dieser bezieht seinen polemischen Sinn aus Schmitts "Politischer Theologie". Das Zwischenstück ist der Streit um die "Natur" des Menschen: Die Negation des Politischen setzt den Menschen als "gut", "alle echten politischen Theorien" setzen ihn dagegen als "böse" voraus 64 . Das Politische ist ein "status des Menschen" und zwar der "status naturalis", den Schmitt wie sein geistiger Ahnherr Thomas Hobbes als den "status belli" begreift65 . Während aber Hobbes dadurch, daß er den Staat als Überwindung dieses "Naturstandes" konzipierte, der Negation des Politischen den Weg bereitet hat, bleibt für Schmitt die Feindschaft auf Leben und Tod der fundamentale status des Menschen66 . Böckenförde kehrt in seiner liberalen Interpretation des Begriffs des Politischen zu Hobbes zurück. Er ersetzt das Politische durch den Stabilität gewährleistenden Staat. Der Gang von Schmitts Begriff der politischen Einheit über seinen Begriff des Politischen zu seiner "Politischen Theologie" führt auf den Grund, auf dem die Frage nach dem Verhältnis von Bundesstaat und Demokratie neu zu stellen wäre. Ist der Mensch nach Schmitts Politischer Theologie nur entweder gut oder böse, so ist er nach Martin Luthers Rechtfertigungslehre vor Gott "simul iustus et pecca-

gesehen: Zwischen Anschluß und Neukonstitution, in: Guggenberger / Stein (FN 53), S. 119ff. (125f.). 62 Der Begriff des Politischen, Text von 1932, 1963, S. 33. 63 Der Begriff ... (FN 29), S. 348. 64 Der Begriff des Politischen (FN 62), S. 59 ff. 65 Dies hat Leo Strauss in seinen 1932 veröffentlichten "Anmerkungen" zu Schmitts Schrift herausgearbeitet; Nachdruck in: Heinrich Meier, earl Schmitt, Leo Strauss und "Der Begriff des Politischen", 1988, S. 97 ff. (106 ff.). 66 Um die darin implizierte Kritik am Liberalismus geht es Strauss in seiner tief dringenden Interpretation (ebd.).

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tor,,67. Während nach Schmitts Souveränitätsbegriff auch die Demokratie im Gegensatz zu dem vertraglich begründeten Bund steht, hat die vertragstheoretische Begründung der Demokratie ihre Wurzel im Bundesgedanken der reformierten Föderaltheologie 68. Das Demokratieprinzip und der Bundesgedanke treten in eine nur einseitig auflösbare Antithese, wenn sie in der demokratischen Staatsform und im Bundesstaat69 so mit dem Staat verschmolzen werden, daß sie sich von der Sphäre ablösen, in der sich die innere Bindungsfähigkeit der Bürger bildet und in der deshalb eine freiheitliche Demokratie ihre für den Staat unverfügbare Grundlage hat7o . In dieser Sphäre, die traditionell "Religion" heißt, wird die intensivste Dissoziation erfahren, die Anfechtung durch den "altbösen Feind,,7l, zugleich aber die Hoffnung auf dessen Überwindung am Leben erhalten.

67 Eckertz, Das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Grenzproblem des Rechts, 1986, S. 261 ff. 68 Zu dem historischen Zusammenhang s. G. Oestreich, Die Idee des religiösen Bundes und die Lehre vom Staatsvertrag, in: Festgabe für Hans Herzfeld, 1958, S. 11 ff. Als Zeugnis der Lebenskraft dieses Denkens s. die Analyse der "Wende" in der DDR des angloamerikanischen Theologen W J. Everett, Neue Öffentlichkeit in neuem Bund, Texte und Materialien der Forschungsstätte der Evang. Studiengemeinschaft, Heidelberg 1992. 69 Zur Entstehung des deutschen Bundesstaatsbegriffs aus einer "Verstaatlichung des Bundes" im 19. Jahrhundert Koselleck, Bund. Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat, in: Brunnerl Conze/ders.: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1., 1972. S. 582ff. (651 f.). 70 Vgl. Bäckenfärde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (zuerst 1967), in: Recht.. (FN 2), S. 92ff. (bes. S. 113f.), und dazu Eckertz, Die säkularisierte Gewissensfreiheit: Der Staat 25 (1986), 251 ff. (261 ff.). 71 Im heutigen Deutschland dürfte das Wort Feind in keinem anderen Druckwerk in solcher Häufung zu finden sein wie im Evangelischen Kirchengesangbuch.

Offene Staatlichkeit unter Souveränitätsvorbehalt oder: Vom Kampf der Rechtsordnungen nach Maastricht Von Christoph Enders, Freiburg

I. Das Demokratieprinzip schien im Vordergrund zu stehen, als das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1993 darüber zu befinden hatte, ob die nationale Zustimmung zum Vertrags werk von Maastricht und seiner Begründung einer Europäischen Union I vor dem Grundgesetz Bestand habe 2 • Nicht weil das Zustimmungsverfahren selbst dem Verdacht undemokratischen Gebarens ausgesetzt gewesen wäre. Die zuständigen gesetzgebenden Körperschaften hatten sich formal innerhalb der eigens mit Blick auf die europäische Integration neu statuierten Regelung des Art. 23 Abs. I Satz 3 GG 3 bewegt und das Quorum der Zweidrittel-Mehrheit eingehalten. Insoweit stand die lückenlose demokratische Legitimation des Zustimmungsaktes außer Zweifel. Dafür rückte die materiell-rechtliche Frage, ob der durch diesen Akt sanktionierte künftige Rechtszustand den grundgesetzlichen Anforderungen an eine demokratische Organisation staatlicher Hoheitsgewalt Rechnung trage, ganz in den Mittelpunkt des Interesses 4 • Denn die Maßgaben des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG hatte auch der integrationsfreudige verfassungsändernde Gesetzgeber mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG weder beseitigen wollen, noch unter Einhaltung des Art. 79 Abs. 3 GG überhaupt beseitigen können. Ein anderes Problem wurde über diese Fixierung auf das Demokratieprinzip an den Rand gedrängt und vom BVerfG scheinbar nachrangig behandelt: Die Übertragung von Hoheitsrechten berührt, wenn man sie in Anlehnung an Erwägungen des BVerfG umgekehrt als integrationsbedingte Rücknahme der unumschränkten (inner-)staatlichen Definitionsgewalt auffaßt5 , die Rechtsetzungsmacht des modemen Staates. In dieser 1 Zustimmungsgesetz vom 28. 12. 1992, BGBI. 11 S. 1251, in Kraft getreten am 31. 12. 1992. 2 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats v. 12. 10. 1993, E 89,155. 3 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. 12. 1992, BGBI. I S. 2086, in Kraft getreten am 25.12.1992. 4 Vgl. BVerfGE 89, 155 (171 f.). Zur Möglichkeit oder gar Notwendigkeit einer Volksabstimmung über Maastricht s. unten III. 5 BVerfGE 37, 271 (280); 58, 1 (28); 73, 339 (374); vgl auch E 89, 155 (183): "Einräumung von Hoheitsbefugnissen". Ferner BVerfG, Urt. v. 12. 7. 1994, EuGRZ 1994, S. 281, 300.

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ihm originär und ausschließlich zukommenden Autorität gründet wesentlich seine nach innen sich selbst setzende, nach außen zu behauptende Souveränität, in welcher er seine spezifische Daseinsform und individuelle Existenz hat und erhält6 . Auch die an sich autonome Beschränkung steht so als Rechtsakt unter den Bedingungen der Rechtsgeltung, wie sie die Grenzen jeder Souveränitätsausübung bezeichnen 7 . Diese Bedingungen und Grenzen wiederum, unter deren Anforderungen sich das Recht, die verbindliche, nach innen gerichtete Willensäußerung des Staates konstituiert, und die in Wahrheit den Rahmen des vom Grundgesetz als "Übertragung von Hoheitsrechten" umschriebenen Vorgangs bilden, werden durchaus verschieden eingeschätzt. Die Erwägungen des BVerfG im Maastricht-Urteil verlassen gerade in diesem Punkt den Weg der Solange-RechtsprechungS und belegen einen Auffassungswandel, der in der verfassungsrechtlichen Steuerung der europäischen Integration durch das Bonner Grundgesetz die Akzente verschiebt. 1. Wenn gesagt wird, Souveränität bedeute heutzutage höchste Gewalt "von Rechts wegen" und damit - im Innem - vor allem verfassungsrechtliche Maßgaben angesprochen sind9 , markiert dies schon deshalb keine heteronome Beschränkung staatlicher Gewalt, weil die Verfassung ihrerseits Ausfluß des souveränen Staatswillens und als Akt freiwilliger Selbstbindung grundsätzlich - wenn auch unter Einhaltung bestimmter Formen - mehr oder weniger ausgeprägten Modifikationen und Revisionen bis hin zur Beseitigung im Wege der Verfassungsneugebung unterworfen ist. Freilich werden nicht selten darüber hinausgehend bestimmte inhaltliche Qualitäten zum Kriterium der Rechtsgeltung erklärt. Darf nur ,,richtiges" Recht Geltungsanspruch erheben, so sind Bindungen der hoheitlichen Setzung und Durchsetzung staatlichen Rechts gemeint, die sich der souveränen - auch verfassungsrechtlichen - Verfügung entziehen IO• Nun ist dies nicht platt im Sinne eines der je einzelnen Detailregelung eindeutig vorgegebenen Rechtsgehalts mißzuverstehen 11. Vielmehr sind Vorprägungen aufgewiesen, die sich insgesamt zu einem den souveränen Willen bereits bei der Ver6 Randelzhojer, Staatsgewalt und Souveränität, in: Isensee I Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 15, Rdnr. 8, 23 f., 37, 39; auch Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der Integration, ebda, Bd. VII, 1992, § 183, Rdnr. 55. 7 Zu diesem Gesichtspunkt der nationalen Souveränität BVerfGE 89, 155 (182ff., 183f., 186, 189 u. insb. 190). 8 BVerfGE 37, 271 - Solange I; 73, 339 - Solange II. 9 Randelzhojer (Fn. 6), Rdnr. 23, 37. Ferner Kirchhoj(Fn. 6), Rdnr. 24. 10 Kirchhof, Brauchen wir ein erneuertes Grundgesetz?, hrsg. v. der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, 1992, S. 19: "Eine Verfassung ist legitim, weil die Richtigkeit ihrer Kerninhalte in der Gegenwart überzeugt, nicht weil eine Mehrheit ihr zustimmt", freilich im folgenden differenzierend; ders. (Fn. 6), Rdnr. 34. Vgl. auch BVerfGE 1, 14 (61); 3, 225 (232f.). - Das kann umgekehrt zur Anwendung überpositiv "geltenden" Rechts führen, vgl. BGHSt 39, I (15 ff.); BGH NIW 1994, S. 2708, 2710. Kritik bei Schlink, Rechtsstaat und revolutionäre Gerechtigkeit, NI 1994, S. 433 ff. 11 Kirchhoj(Fn. 10), S. 19ff.; ders. (Fn. 6), Rdnr. 34ff.

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fassungsgebung einbindenden Entstehungszusammenhang fügen 12 . Man muß aber in und hinter diesem stets die geistesgeschichtlichen Wegmarken sehen, um zu begreifen, daß insgesamt Wahrheiten von historischer Gestalt und gleichwohl normativem Anspruch gemeint sind. So kann man in den von Kant seiner Rechtslehre vorangestellten und an sich abstrakten Rechtsprinzipien 13 für eine mögliche Rechtsordnung allgemeingültig proklamierte Grundsätze erkennen, weil und sofern sie namentlich die wesentlich gleiche Freiheit des Menschen (als Menschen) in die Forderung auch äußerer gesetzmäßiger Allgemeinheit fassen l4 . Es leuchtet ein, daß solche Grundsätze, in der praktischen Vernunft und d. h. Moralität des Menschen 15 fundiert, den Bereich der zwischenmenschlichen Rechtsbeziehungen genauso beherrschen müssen wie das staatlich gesetzte (öffentliche) Recht im ganzen l6 , daß sie schließlich den Anspruch auf Selbstbestimmung und Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten des Gemeinwesens nicht allein zu begründen 17 , sondern auch zu begrenzen vermögen 18. In dieser Perspektive trifft schließlich auch zu, daß Gesetze und Verfassungen nicht einfach "gemacht" werden können, vielmehr dem Geist eines Volkes gemäß sich entwickeln müssen 19 und jedes Volk "die Verfassung (hat), die ihm angemessen ist und für dasselbe gehört,,2o. Wenn man auf diesem Hintergrund im Bonner Grundgesetz die gewissermaßen genuine Einheitsverfassung des wiedervereinigten Deutschlands entdeckt, so wohl vor allem deshalb, weil man hier eine besonders geglückte Manifestation abendländischen Geistes sich bewähren sieht und so die in Art. 79 Abs. 3 GG verewigten Grundsätze bestätigt findet 21 .

2. Nur sollte über all dem die für das juristische Urteil unabdingbare Trennung der Ebenen nicht außer acht gelassen werden. Sicherlich trifft zu, daß man die einheits- und legitimitäts stiftende Grundlegung der Rechtsordnung in vorrechtlichen Ders. (Fn. 6), Rdnr. 36 a. E. Kant, Metaphysik der Sitten, in: Werke, hrsg. v. W. Weischedel, 1956ff., Bd. IV, (Einleitung in die Rechtslehre, § A - E ) S. 336 ff., S. 344 ff. 14 Heget, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, III, Werke, hrsg. v. E. Moldenhauer/K. M. Michel, 1970ff., Bd. 10, § 539, Anm., S. 332f.: "Daß ... es der Mensch ist ... , welcher als Person anerkannt ist und gesetzlich gilt, dies ist so wenig von Natur, daß es vielmehr nur Produkt und Resultat von dem Bewußtsein des tiefsten Prinzips des Geistes und von der Allgemeinheit und Ausbildung dieses Bewußtseins ist." 15 Vgl. Kant, (Fn. 13), S. 331 f., 347. 16 Ebda, § 9, S. 366, § 41, S. 423 f., § 44, S. 430 f. 17 Vgl. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: ders.: Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 289, 321 f. 18 Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes - Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, in: Staat, Verfassung, Demokratie (Fn. 17), S. 90, 110; Kirchhof(Fn. 10), S. 22. 19 Heget, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke (Fn. 14) Bd. 7, § 273, Anm., S. 439; ders., (Fn. 14), § 540, Anm., S. 336. 20 Ders.(Fn. 19), § 274 Anm. , S. 440, sowie Zus. ebda. Vgl. Böckenförde (Fn. 18), S. 111. 21 Isensee, Staatseinheit und Verfassungskontinuität, in: VVDStRL 49 (1990), S. 39, 56f.; Kirchhof (Fn. 10), S. 13 ff., insb. S. 15 f., 22. 12

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Faktoren nie aus dem Blick verlieren darf. Kants Beobachtung, daß im bürgerlichen (d.i. staatlichen) Zustand, den Kant auch als den Zustand des öffentlichen Rechts kennzeichnet, "nicht mehr, oder andere Pflichten der Menschen unter sich" existieren, als im natürlichen Zustand des Privatrechts gedacht werden können, zeugt von durchgängigen Konstruktionsprinzipien, die auch Auslegung und Anwendung des positiven Rechts anzuleiten vermögen22 . Der eigene normative Geltungsanspruch des jeweils maßgeblichen positiven Rechts versteht sich aber erst aus der Qualifizierung des natürlichen oder vorstaatlichen als zugleich nicht-rechtlichen Zustands, der für sich provisorisch bleiben müßte 23 , träte nicht im staatlichen Zustand "ein jeden anderen verbindender, mithin kollektiv-allgemeiner (gemeinsamer) und machthabender Wille ... (hinzu), welcher jedermann ... Sicherheit (scil.: des Seinigen, allgemein: der privaten Rechtssphäre) leisten kann,,24. In diesem Sinne erweist sich alles geltende Recht notwendig als öffentliches Recht 25 , welches der jederzeit durchsetzbaren Verbindlichkeit gewiß sein kann, darum für den einzelnen in der Diktion lellineks stets auch ein von der bloßen Zulassung natürlicher Freiheit verschiedenes "Können" statuiert 26 . Es hebt sich nämlich hierfür steht die Idee des Gesellschaftsvertrags in ihrer Vereinigung der Vielheit zur Gesamtheit - durch allgemeine äußere (öffentliche) Setzung für und gegen jedermann von den bloß kraft innerer Vernünftigkeit gültigen Rechtsprinzipien ab 27 . In der mit dem Begriff des Allgemeinen bezeichneten Notwendigkeit tritt folglich eine Spaltung ein. Allerdings statuiert die in der Idee des Gesellschaftsvertrags mit einem äußeren Verwirklichungsanspruch versehene Vorstellung allgemeiner Gesetzgebung ein Recht auf Selbstbestimmung, das, wenn es auch aktuelle Teilhabe nur idealiter meint 28 , doch wenigstens der machthabenden Gewalt ein "Vernunftprinzip der Beurteilung aller öffentlichen Verfassung überhaupt" an die Hand gibt29 . Aber diese Maßgaben bewegen sich nach eben diesem Vernunftprinzip in den vorgefundenen rechtlichen Formen. Denn die Geltung des Rechts liegt zunächst in der Allgemeinheit, die es aus seiner souveränen Setzung ohne Ansehung der Inhalte erhält. Auch die demokratische Legitimation des Setzungsakts stellt keine kategoriale conditio sine qua non der Allgemeinheit und damit Geltung des Rechts 30 dar. Das Volk steht vielmehr nach Kant als Staatsvolk in der konkreten

Kant (Fn. 13), § 41, S. 423 f. (Zit.), § 9, S. 366, § 44, S. 431. Ebda, S. 423, § 44, S. 430 f. 24 Ebda, § 8, S. 365 f.; ferner § 9, S. 366; § 44, S. 430. 25 Kant, Über den Gemeinspruch ... , in: Werke (Fn. 13), Bd. VI, S. 125, 144; ders., (Fn. 13), S. 350; § 41, S. 423 f., § 43, S. 429, § 44, S. 430f. 26 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Auf!. 1905, S. 50, 51, 56. 27 Kant (Fn. 25), S. 144, 150 f.; ders. (Fn. 13), § 46, S. 432, § 47, S. 434. Der Zwang zum "Abschluß" des Vertrages, genauer: die Notwendigkeit der aus ihm hervorgehenden Gebote folgt wiederum aus den erwähnten Vemunftgrundsätzen. 28 Böckenförde (Fn. 17), S. 321 f .. 29 Kant (Fn. 25), S. 159, vgl. auch S. 153. 22 23

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historischen Situation immer schon unter öffentlichen Rechts- und Zwangsgesetzen 31 . Der "Souverän, der sie gibt, ist gleichsam unsichtbar; er ist das personifizierte Gesetz selbst,,32, nämlich das allgemeine Gesetz, die vorgestellte ständige Repräsentation des Volks willens. Weil das so ist, vermag auch die Verfassung, das zwar ranghöchste, gleichwohl positive Gesetz ihr Hervorgehen aus tatsächlichen Gegebenheiten sowenig zu hinterfragen, das vielmehr als unbegreitbares Phänomen in ihr nur "aufscheint,,33, wie sie in der Lage ist, auf den vor-positiven Grund ihrer Geltung rechtsverbindlich zu rekurrieren und diesen verfügbar zu machen 34 . Es bleibt so dabei - und die rechtliche Unmöglichkeit eines Widerstandsrechts unterstreicht den Befund35 : Über die Geltung der Rechtsordnung als solche soll niemand "als ein noch in Ansehung des ihr schuldigen Gehorsams zu bezweifelndes Recht ... , werktätig vemünjteln,,36. Ihre Legitimität, woher sie auch rührt, vermittelt sich von Rechts wegen nur über die Legalität. Gerade auch die Rechtsauslegung kann daher nach dem praktischen Vemunftprinzip "der jetzt bestehenden gesetzgebenden Gewalt gehorchen zu sollen; ihr Ursprung mag sein welcher er wolle,m, normative Geltung nur in einem rechtlichen, durch die hierzu aufgerufenen Organe vermittelten Delegationszusammenhang darstellen und aus ihm deduzieren. Auf nichts weiter als diese normativ bedingte Grenze der Rechtsauslegung und -anwendung will Kelsens Grundnorm hinweisen 38 , die zugleich die vorgenannten Fragen nach der Legitimität der Rechtsordnung nicht erledigt, jedoch dem Bereich einer vorrechtlich argumentierenden Lehre vom Staat zuordnet 39 .

30 Bäckenfärde, Freiheit und Recht, Freiheit und Staat, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 42, 53. 31 Kant (Fn. 13), § 45, ferner § 49 Allgern. Anrn. A, S. 437; ders. (Fn. 25), S. 159, Fn., 159f. 32 Kant (Fn. 25), S. 149, Fn.; vgl. auch (Fn. 13), § 52, S. 464. 33 Bäckenfärde (Fn. 18), S. 91 f. 34 So freilich insb. BVerfGE 3, 225 (232 f.); dagegen Bäckenfärde (Fn. 18), S. 109 f. 35 Kant (Fn. 25), S. 153 ff., 156, 160; ders. (Fn. 13), § 49, Allgern. Anrn. A, S. 438, 439 f.; Hegel (Fn. 19), § 258, Zus., S. 403 f. Hierzu Enders, Bürgerrecht auf Ungehorsam? - Von den Grundlagen und Grenzen bürgerlicher Freiheit, Der Staat 25 (1986), S. 351 ff. 36 Kant (Fn. 13), § 49, Allgern. Anrn. A, S. 437. 37 Ebda, S. 438. 38 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 203 f., 205. Insoweit ginge die Kritik an der methodendualistischen Auseinanderreißung von Sein und Sollen - etwa bei Bäckenfärde (Fn. 18), S. 92 f., 111, und insb. Kirchhof (Fn. 6), Rdnr. 34 - fehl. 39 Kelsen, Das Verhältnis von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik, 1921, S. 57, 59 f. lsensee, Verfassungsrecht als "politisches Recht", in: ders. / Kirchhof (Fn. 6), Bd. VII, § 162, Rdnr. 36, ders., Schlußbestimmung des Grundgesetzes: Artikel 146, ebda, § 166, Rdnr. 46.

3 Festschrift Böckenförde

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11. 1. Bis Maastricht hat das BVerfG das Verhältnis der nationalen deutschen zur europäischen Rechtsordnung unter dem Stichwort "solange" ganz auf dem Boden der zuerst dargelegten Auffassung entwickelt4o . Nicht daß überhaupt verfassungsrechtliche Grenzen der Integrationsoffenheit aus dem Gesamtzusammenhang des Grundgesetzes hergeleitet werden, kennzeichnet den spezifisch materialen Gehalt dieser Position. Sondern wie diese verstanden werden, unter welchen näheren Voraussetzungen man ihre Anforderungen erfüllt sieht, das verrät die normativ außerhalb des grundgesetzlichen Delegationszusammenhangs gelegene Warte.

Freilich hat sich bereits über jene erste Frage nach den verfassungsrechtlichen Maßstabsnormen einer Hoheitsrechtsübertragung gern. Art. 24 Abs. 1 GG ein Verfassungsrechtsgebrauch herausgebildet, der eines verläßlichen Rückhalts im Verfassungstext entbehrt. Fest steht nur, daß der Verfassungsgeber ursprünglich davon ausging, daß eine solche Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen eine Verfassungsänderung nie darstelle und durch einfaches Gesetz erfolgen könne 41 . Nun werden Hoheitsrechte als aus der Staatsgewalt fließende Kompetenzen im demokratischen Rechtsstaat nicht vorausgesetzt, sondern grundsätzlich begrenzt zugewiesen. Aus dieser begrenzten Zuweisung folgen auch Befugnisgrenzen bei der Wahrnehmung, wie sie das Grundgesetz nicht nur für den Regelfall durch Bindungen sämtlicher staatlicher Gewalt, sondern bereits gegenüber dem Verfassungsgesetzgeber verdeutlicht. So gesehen erkennt die einfachgesetzliche Übertragung von Hoheitsrechten zunächst Aufgabenbestimmung und Mittelwahl seitens der außerstaatlichen Gewalt gegenständlich begrenzt als verbindlich an. Jedoch läßt sich diese Anerkennung durchaus von der weiteren Ausübung jener Rechte loslösen, welche die nationale Hoheitsgewalt nicht uneingeschränkt zurückdrängt, vielmehr die deutschen Staatsorgane in ihrem Zuständigkeitsbereich nur nach Maßgabe des in jeder Hinsicht grundgesetzgebundenen Anwendungsbefehls unter den Vorrang der fremden Rechtsordnung stellt42 . Nur kommt es dort zu Engführungen, wo der souveräne nationale Ermächtigungsakt mit der begrenzten Rücknahme der Hoheitsgewalt (etwa durch Anerkennung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger i. S. v. Art. 8b Abs. 1 Satz 1 EGV) auf der einen Seite und die Setzung primären Gemeinschaftsrechts (der EG"Verfassung,,43) auf der anderen Seite sachlich in eins fallen und damit der Wider-

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Fn.8.

41 Vgl. Abg. Katz, Parlament. Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 6. Sitzung v. 19.

11. 1948, HA-Steno, S. 70: "Die Pointe ist gerade die, daß es durch einfaches Gesetz geschehen kann"; ferner Abg. Eberhard, ebda, 29. Sitzung v. 5. 1. 1949, HA-Steno, S. 346. 42 Vgl. (teilweise abweichend) Huber, Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof als Hüter der Gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzordnung, AöR 116 (1991), S. 210, 225 ff.; Lerche, Gemeinsame Verfassungskommission, Öffentliche Anhörung "Grundgesetz und Europa" am 22. Mai 1992, (Anhang) S. 104.

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spruch zur nationalen Rechtsordnung uno actu hervorgerufen wird, wenn auchformal geschieden nach der vertraglichen, die Gemeinschaftsgewalt konstituierenden Willenserklärung und dem innerstaatlichen, vorrangbegründenden Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes 44 . Hier noch zwischen einer von der Intergrationsennächtigung (ursprünglich Art. 24 Abs. 1 GG, nunmehr Art. 23 Abs. 1 GG) dem Grunde nach gedeckten Rücknahme von Hoheitsgewalt und einer im Einzelfall nur begrenzt zulässigen Ausübung trennen zu wollen, erscheint unmöglich45 • Auf unser Beispiel bezogen liegt auf der Hand, daß bereits die zwischenstaatliche Anerkennung eines Kommunalwahlrechts für Unionsbürger den Grundsatz des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG46 verletzt und die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen des Integrationsakts aufwirft47 • Aber auch dort, wo der Widerspruch weniger unmittelbar hervortritt, weil die Aufspaltung nach Kompetenz und Befugnisgrenzen sich - im sekundären Gemeinschaftsrecht - durchhalten läßt, hat der Verfassunggeber die Verfassung des Grundgesetzes mit Art. 24 Abs. 1 GG doch für einen dynamischen Integrationsprozeß offenhalten wollen48 , dessen rechtliche Folgen vielleicht nicht in vollem Umfang bedacht wurden, den aber jedenfalls eine rigide Bindung an die verfassungsmäßige Ordnung ständig behindert. Das BVerfG hat angesichts dieses Dilemmas die verfassungsrechtlichen Grenzen der Integration nach Art. 24 Abs. 1 GG auf einem mittleren Niveau angesiedelt: Es hat in der Sache eine Kategorie von "einfachen" Hoheitsrechtsübertragungen geschaffen, die sich gerade dadurch auszeichnen, daß sie nur zu - wie fonnuliert wurde - "Verfassungsänderungen einfacher Art" führen 49 , die dann insgesamt nicht den Anforderungen des Art. 79 GG unterliegen sollen. Wiewohl freilich keineswegs feststeht, wo eigentlich positiv die verfassungsrechtlichen Grenzen "einfacher" Integrationsakte zu ziehen wären, hat sie das BVerfG bislang stets unter43 BVerfGE 22, 293 (296); Oppermann, Europarecht, 1991, Rdnr. 394, 525; Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, 4. Auf!. 1993, S. 186,577 m. Fn. 2; v. Bogdandy, Skizzen einer Theorie der Gemeinschaftsverfassung, in: v. Danwitz/Heintzen u.a., Auf dem Wege zu einer Europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 9, 24ff. 44 Vgl. BVerfGE 37, 271 (280); 73, 339 (375). Zum bloßen Anwendungsvorrang SchmidtAßmann, Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht, DVBI. 1993, S. 924, 930f. 45 Deshalb wird darauf hingewiesen, daß ein solcher unmittelbar verfassungsgestaltender Akt keine Übertragung von Hoheitsrechten mehr darstelle, etwa Stern, Gemeinsame Verfassungskommission (Fn. 42), S. 19, (Anhang) S. 158, 163; Randelzhofer, ebda, S. 14, (Anhang) S. 117, 124, ders., in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 24 I (1992), Rdnr. 168; anders Everling, Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, DVBI. 1993, S. 936, 943 in Fn. 69; Oppennann (Fn. 43), Rdnr. 1478. 46 In der Auslegung von BVerfGE 83, 37. 47 Vgl. Stern (Fn. 42), (Anhang) S. 154, 158. 48 Vgl. Abg. Schmid, Parlament. Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 6. Sitzung v. 19. 11. 1948, HA-Steno, S. 69: "Die grundSätzliche Entscheidung, ich möchte sagen, die Entscheidung vom Rang einer Verfassungsbestimmung soll nicht bei den einzelnen Akten, sondern schon in dem Augenblick, in dem wir das Grundgesetz beschließen, als eine Entscheidung allgemeiner und fundamentaler Art getroffen werden". 49 Isensee, Gemeinsame Verfassungskommission (Fn. 42), S. 9.

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halb der absoluten Schwelle des Art. 79 Abs. 3 GG verortet 50 . Das kann, wenn schon die "einfache" Hoheitsrechtsübertragung die verfassungsmäßige Ordnung nicht ausnahmslos einhalten muß, nicht dem anfänglichen Hinweis des Gerichts entnommen werden, daß Abweichungen von der Verfassung eigentlich der förmlichen Verfassungs(text)änderung bedürfen51 . Die Anerkennung auch der geringfügigsten Abweichung billigt ja, da das Grundgesetz das Erfordernis förmlicher Änderung nun einmal ohne Einschränkung errichtet (Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG)52, eine Verfassungsdurchbrechung 53 . Wohl aber lassen offenkundig jene vom BVerfG angezogenen, "die Identität der geltenden Verfassung . . . konstituierenden Strukturen" doch nur geringfügige, daher an einfache Mehrheiten gebundene Verfassungsdurchbrechungen außerhalb von Art. 79 GG zu: Denn zu den integrationsfesten essentiellen Strukturen zählt das Gericht etwa den Grundrechtsteil im ganzen54 während Art. 79 Abs. 3 GG lediglich die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze schützt; es zählt zu ihnen den Rechtsstaatsgrundsatz 55 , der als solcher gleichfalls Verfassungsänderungen nicht entzogen ist und nur in Teilgehalten wie dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit und der Gewaltenteilung garantiert wird 56 . Anhand dieser verfassungsrechtlichen Maßgaben geprüft wird aber letztlich nicht der Akt der Souveränitätsbeschränkung als solcher, der im Gefüge verfassungsrechtlicher Machtdelegation steht; stattdessen wird nach einer Kompensation für den Verlust staatlicher (vom Grundgesetz verfaßter) Definitionsgewalt auf der europäischen Ebene gesucht. Der Konflikt der Rechtsordnungen wird als Problem ihrer sich potentiell widersprechenden Inhalte qualifiziert 57 , seine Auflösung orientiert sich demgemäß an einer aus dem Delegationszusammenhang herausgelösten Bedeutung von Institutionen und insbesondere rechtlichen Grundsätzen, die 50 RandelzhoJer, in: Maunz/Dürig (Fn. 45), Rdnr. 75 f. m. Nw. in Fn. 239, ders., Gemeinsame Verfassungskommission (Fn. 42), S. 14 f., (Anhang) S. 118; in diese Richtung auch Lerche, ebda, S. 12, (Anhang) S. 105 f.; Everling (Fn. 45), S. 943; ablehnend Magiera, Die Grundgesetzänderung von 1992 und die Europäische Union, Jura 1994, S. 1,4,7. 51 BVerfGE 37, 271 (279). 52 lsensee, Verfassungsrecht als "politisches Recht" (Fn. 39), Rdnr. 40. Zu Art. 79 Abs. I Satz 2 GG Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl. 1993, Rdnr. 698 f. 53 Zum Begriff Schmitt, Verfassungslehre, 6. Aufl. 1983, S. 99, 106 ff.; Hesse (Fn. 52), Rdnr. 39, 695, 698 f. Huber (Fn. 42), S. 226, 234, erklärt im Ergebnis die integrationsbedingte Abweichung von der Verfassung zu einer Frage "praktischer Konkordanz". 54 BVerfGE 37, 271 (280); später etwas einschränkend "die Rechtsprinzipien, die dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes zugrundeliegen", wobei insb. die Wesensgehaltgarantie nach Art. 19 Abs. 2 GG gemeint ist, E 73, 339 (376), vgl. auch E 89, 155 (175). RandelzhoJer, in: Maunz/Dürig (Fn. 45), Rdnr. 75 f.; anders etwa lsensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: ders./Kirchhof (Fn. 6), Bd. V, 1992, § 115, Rdnr. 71 (Art. 79 Abs. 3 GG). 55 BVerfGE 73, 339 (373). 56 BVerfGE 30, I (25). 57 BVerfGE 37, 271 (278).

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der vergleichend bewertenden Perspektive zugrunde gelegt wird58 . Das nationale Recht setzt sich durch, solange ein vollwertiger Ausgleich fehlt; es tritt zurück, sobald und solange jene allgemeinen Rechtswerte Anerkennung auf europäischer Ebene erfahren haben (vgl. Art. F. Abs. 2 EUV). Die Standpunkte des BVerfG in Solange I und Solange 11 unterscheiden sich nur dadurch, daß die Frage nach einer der aufzugebenden Rechtshoheit "adäquaten" Kompensation - entsprechend dem Fortgang der europäischen Integration - zunächst verneint und später bejaht wird59 . Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat der höchstrichterlichen Sicht der Dinge Folge geleistet: Die Struktursicherungsklausel in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG60 steht (wie auch Art. 88 Satz 2, 2. Halbsatz GG) mit dem Rücken zum Grundgesetz. Sie will, der kommenden europäischen Ordnung zugewandt, der Integration eine bestimmte Richtung geben. 2. Art. 23 Abs. I GG entwirft freilich im übrigen ein neues Prüfungsprogramm, dem das in Art. 23 Abs. 1 Satz I GG ausgeformte Staatsziel "des vereinten Europas" kaum rechtliche Anhaltspunkte liefert 61 . Zwar ist das Handeln der Verfassungsorgane und vor allem der Bundesregierung im Rat an die Vorgaben der Struktursicherungsklausel gebunden 62 . Aber diese verleiht - anders als Art. 23 Abs. 2ff. - keine Rechtspositionen, die im Wege eines Organstreits geltend gemacht werden könnten. Als objektiv-rechtlicher Maßstab von Zustimmungsgesetzen wird sie demgegenüber wegen der neuen Grenzziehung des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG auf einen marginalen Anwendungsbereich reduziert 63 : Nach der ausdrücklichen KlarsteIlung in Satz 3 ist künftig die aus der Not geborene ,,kleine", einfachgesetzliche Verfassungsdurchbrechung zum Zwecke der unmittelbaren Vertragsgestaltung untersagt, weil insoweit jede inhaltliche Änderung oder Ergänzung der Verfassung und d. h.: selbst eine noch so geringfügige Abweichung vom Verfassungs-

58 BVerfGE 37, 271 (280); 73, 339 (378). Diese Perspektive herrscht auch vor bei Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, JZ 1993, S. 585, 587 ff.; Pemice, Maastricht, Staat und Demokratie, Die Verwaltung 26 (1993), S. 449, 452 ff.; Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation, AöR 119 (1994), S. 238, 243 ff. 59 Anders RandelzhoJer, in: Maunz/Dürig (Fn. 45), Rdnr. 77 ff. 60 Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, Zur Sache 5/93, S. 40; Hofmann, Grundgesetz und Europäische Union, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 52-53/93, S. 33 f. Im Vorfeld der Verfassungsänderung Lerche, Gemeinsame Verfassungskommission (Fn. 42), (Anhang) S. 108; RandelzhoJer, ebda, (Anhang) S. 120, 125; Tomuschat, ebda, (Anhang) S. 175 f. Ferner RandelzhoJer, in: Maunz/Dürig (Fn. 45), Rdnr. 202. 61 Vgl. auch BVerfGE 89, 155 (179). Anders die Einschätzung von Schnoor, Gemeins. Verfassungskommission, 7. Sitzung v. 4.6. 1992, Steno Ber., S. 5, 8. Sitzung V. 26. 6. 1992, Steno Ber., S. 6; Tomuschat (Fn. 41), (Anhang) S. 176; Oppennann/Classen, Europäische Union: Erfüllung des Grundgesetzes, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 28/93, S. ll, 14 ff.; Götz, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, JZ 1993, S. 1081, 1083. 62 Schnoor (Fn. 61), 7. Sitzung V. 4. 6. 1992, Steno Ber., S. 5; Hofmann (Fn. 41), S. 33; Bericht (Fn. 41), S. 40. So auch BVerfGE 89, 155 (211). 63 Ungenau Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, Der Staat 32 (1993), S. 191, 207.

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text Art. 79 Abs. 2 und 3 GG genügen muß, auch wenn sie im übrigen dem Integrationsziel dient64 . Damit regelt Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG nicht mehr einfach die begrenzte Übertragung von Hoheitsrechten und den Fall einer ausnahmsweise möglichen Verfassungsabweichung. Er erhebt, da auf dem mittlerweile erreichten Stand der Integration die strenge Begrenzung der supranationalen Befugnisse weder politisch möglich noch gewollt ist, die Verfassungsdurchbrechung gezielt zum regulären Integrationsinstrument65 • Zugleich ist darin ein einheitlicher verfassungsrechtlicher Maßstab begründet, der das Handlungsmittel des einfachen Gesetzes zur Bedeutungslosigkeit verurteilen muß66 . Scheinen nach dem Wortlaut von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG einfachrechtliche Integrationsakte nach wie vor nicht ausgeschlossen 67 , so genießen solche Akte nach Logik und Zweck der Vorschrift das Privileg der einfachen, lediglich an die Zustimmung des Bundesrats gebundenen Gesetzesform doch nur dann, wenn sie sich - rechtlich überprüfbar - im Rahmen des vorgegebenen Vertragsrechts, damit des an Art. 79 Abs. 2 und 3 zu überprüfenden Zustimmungsgesetzes halten. Sofern nämlich nicht bereits überkommene (i.S. v. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG verfassungsmäßige) Vertragsregelungen die geforderte Bindung vermitteln (v gl. Art. K. 9 EUV, Art. 138 Abs. 3, Art. 201 EGV), bedarf jeder Integrationsakt, der dadurch von der Verfassung abweicht, daß er keine strikte Verfassungsbindung der einzelnen EG-rechtlichen Maßnahme erzeugen soll, so daß die Wahrnehmung der Ermächtigung nicht durchweg an die von der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes errichteten Befugnisgrenzen gebunden bleibt, eines qualifizierten Zustimmungsgesetzes (Art. 79 Abs. 2 GG) und ist an Art. 79

64 Die Streichung der "wesentlichen Strukturen" aus dem Text brachte insofern einen Wandel, vgl. Schnoor (Fn. 61), 7. Sitzung v. 4. 6. 1992, Steno Ber. S. 5 einerseits, 8. Sitzung v. 26. 6. 1992, Steno Ber., S. 6f. andererseits. Lerche (Fn. 42), (Anhang) S. 107, 108; Everling (Fn. 45), S. 943 b. Fn. 75. 65 Sie kommt sämtlichen integrationsbedingten Souveränitätsverzichten zugute, auch der EG-rechtlichen Verleihung des Kommunalwahlrechts an Unionsbürger. Letztere stellt i.e.S. keine Übertragung von Hoheitsrechten dar. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG macht aber angesichts der richtigen Erwägung in BVerfGE 37, 271 (279), daß die Rede von der "Übertragung" von Hoheitsrechten nicht wörtlich genommen werden dürfe, eine solche nicht länger zur Tatbestandsvoraussetzung. Abgesehen davon ist die Entscheidung über den status activus Ausübung von Hoheitsgewalt, vgl. Jellinek (Fn. 26), S. 85 f., 136, die, wenn außerhalb des staatlich verfaßten Delegationszusammenhangs getroffen, eine (Selbst-) Beschränkung der staatlichen Souveränität erfordert. Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG ist daher, soweit mit Art. 20 Abs. 2 Satz I GG vereinbar, überflüssig, vgl. Herdegen, Die Belastbarkeit des Verfassungsgefüges auf dem Weg zur Europäischen Union, EuGRZ 1992, S. 589, 591 f., auch BT-Drs. 12/3338, S. 5. Anders Randelzhofer, in: Maunz 1Dürig (Fn. 45), Rdnr. 167 f. m. Fn. 480a. 66 Insoweit ähnlich BR-Drs. 501192, Beschluß Nr. I, S. 1 f., BT-Drs. 12/3338, S. 12; Randelzhofer, in: Maunz 1Dürig (Fn. 45), Rdnr. 203, jeweils im Anschluß an BVerfGE 58, 1 (36) unter Annahme des zwingend verfassungsändernden Charakters von Hoheitsrechts-"Übertragungen". Umgekehrt meint Everling (Fn. 45), S. 943 f., daß Satz 3 abgesehen vorn Hinweis auf Art. 79 Abs. 2, 3 GG gegenstandslos sei. 67 Amtliche Begründung, BR-Drs. 501192, S. 15, BT-Drs. 12/3338, S. 7.

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Abs. 3 GG zu messen. Erfüllt der Integrationsakt die Anforderungen des Art. 79 Abs. 2, 3 GG, ohne daß die vertraglichen Grundlagen der EU ausdrücklich geändert würden, handelt es sich um eine zulässige "vergleichbare Regelung". Auf diese Weise wird der Integrationsgesetzgeber, da eine Freistellung von Kautelen des "einfachen" Verfassungsrechts nach allem nicht nur unumgänglich, sondern von Verfassung wegen beabsichtigt ist, in der Sache als verfassungsändernder, jedoch vom Gebot des Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG entbundener Gesetzgeber ermächtigt6S • Iustitiabler Gehalt käme der dem Kompensationsgedanken verpflichteten politisch sicher nicht gleichgültigen - Staatszielbestimmung in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG also nur zu, soweit ihre Kongruenzforderung in Art. 79 Abs. 3 GG gründete. 3. Das ist, wegen der völlig verschiedenen Perspektiven der beiden Bestimmungen, nicht der Fal169 . Die Maastricht-Entscheidung belegt es. Sie faßt stattdessen, im Ansatz von der souveränen staatlichen Rechtsetzungsmacht ausgehend, legitime Machtausübung auf europäischer Ebene gegen die bisherige Rechtsprechung deutlicher als rechtliches, und zwar im Grundgesetz (Art. 79 GG) begründetes Delegationsverhältnis aufo: Die erforderliche Legitimation vermitteln die Staatsvölker über die nationalen Parlamente, so daß jedes Staatsvolk "Ausgangspunkt für eine auf es selbst bezogene Staatsgewalt" bleibt71 • Daraus resultieren Bindungen, die sich dem europäischen Integrationsprozeß aus Sicht des Grundgesetzes nicht nur über eine begrenzt ausgesprochene nationale Zustimmung, sondern zwangsläufig über die absoluten rechtlichen (inneren) Grenzen mitteilen, welchen die Staatsgewalt bereits bei dieser Zustimmung unterliegt72. Das Gericht kehrt so die Fragerichtung um, verlangt nicht ein material zu bestimmendes Ausmaß freiheitlicher und demokratischer Ordnung auf europäischer Ebene, sondern einen verfassungsmäßigen, auf seine sinnentsprechende Umsetzung stets (inzident) kontrollierbaren Zustimmungsakt73 • Insgesamt wären also die Verfassungsbeschwerden als unzuläs68 Schnoor, (Fn. 61), 8. Sitzung v. 26. 6. 1992, Steno Ber., S. 6f.; Bericht (Fn. 60), S. 42: "Im Ergebnis bewirkt der Regelungsvorschlag zu Satz 2 und 3 damit, daß die mit der Ratifizierung des Unions-Vertrages verbundenen und alle weiteren (?!) 'europäischen' Hoheitsrechtsübertragungen der verfassungsändernden Mehrheiten des Artikel 79 Abs. 2 GG bedürfen und den in Artikel 79 Abs. 3 GG genannten, vor Verfassungsänderungen festen Kern des Grundgesetzes nicht tangieren dürfen ... "; BR-Drs. 501192, Beschluß Nr. I, S. 1 f., BTDrs. 12/3338, S. 12. Anders die Bundesregierung, ebda., S. 7, 14. Vgl. auch Wolf, Die Revision des Grundgesetzes durch Maastricht, JZ 1993, S. 594, 599. 69 Anders die amtl. Begründung, BR-Drs. 501192, S. 5, 12, BT-Drs. 12/3338, S. 4, 6. Die Verschiedenheit der Perspektiven konzediert auch Randelzhofer, in: Maunz/Dürig (Fn. 45), Rdnr. 204; ebenso Götz (Fn. 61), S. 1082 (I. Sp.). 70 BVerfGE 89, 155 (182, 184, 186ff., 190); richtig Götz (Fn. 61), S. 1082 (r. Sp.). Vgl. auch BVerfGE 83, 60 (72). 71 BVerfGE 89, 155 (186); ebda: ,,Ermächtigungen souverän bleibender Staaten", ebenso

S.190.

BVerfGE 89, 155 (182 ff., 184, 187 f., 195). Insb. BVerfGE 89, 155 (188). Götz (Fn. 61); vgl. auch Kokott, Deutschland im Rahmen der Europäischen Union - zum Vetrag von Maastricht, AöR 119 (1994), S. 207, 212 ff., 216. 72 73

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sig zu verwerfen gewesen, weil, wenn aus Art. 38 nicht ein allgemeines subjektives Recht des Wahlbürgers auf hinreichend bestimmte Gesetze folgen soll, ihm auch i.Y.m. Art. 79 Abs. 3, Art. 20 Abs. I und 2 GG kein Anspruch auf eine gehörige Masse möglichst gewichtiger Entscheidungen zusteht 74 . Das Grundgesetz setzt die teils tatsächlichen, teils ideellen Bedingungen der von ihm verfaßten Ordnung - auch die Homogentität des Staatsvolkes75 und die Staatlichkeit als solche76 - ebenso unhinterfragt voraus wie die menschliche Würde und Freiheitsnatur, gewährleistet nur ihre rechtlich anerkannten Ausprägungen in der Fonnalisierung und überprüfbaren Begrenzung verbindlicher Entscheidungen77 . Deshalb bedeutet die Bindung durch Art. 79 Abs. 3 GG, abgesehen davon, daß das Erfordernis demokratischer Legitimation der deutschen Staatsorganisation und ihre bundesstaatliche Gliederung nicht aufgegeben werden darf, materiell in allererster Linie, daß das Zustimmungsgesetz das Integrationsprogramm hinreichend bestimmt festzulegen hat (Art. 20 Abs. 3 GG 78 ), was zugleich die Gewaltenteilung sichert und vor Kompetenzanmaßungen 79 schützt, nicht indessen die nationale Umsetzung von diesen rechtsstaatlichen Erfordernissen freistellt 8o . Darüber hinaus spielt aber die Grundrechtsbindung eine zentrale Rolle (Art. lAbs. 3 GG), obwohl die einzelne Gewährleistung nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3, 79 Abs. 3 GG keine Bindungswirkung gegenüber dem Zustimmungsgesetz und damit auch nicht gegenüber zustimmungskonfonn ergangenen Maßnahmen des Gemeinschaftsrechts entfaltet 8l . Ein Totalverbot von Tabakwerbung etwa, als gezielter Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung82 kein allgemeines Gesetz gern. Art. 5 Abs. 2 GG 83 74 Entgegen BVerfGE 89,155 (172,182,186 und insb. 187). Kritisch auch Kokott (Fn. 73), S.211. 75 So auch BVerfGE 89, 155 (185); vgl. auch BVerfGE 83, 37 (52). Anders Di Fabio (Fn. 63), S. 202 ff., 205. 76 Anders Huber (Fn. 42), S. 229; Kirchhof (Fn. 6) Rdnr. 60; ders. (Fn. 10), S. 42; Murswiek, Maastricht und der pouvoir constituant, Der Staat 32 (1993), S. 161, 162ff., 186f.; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig (Fn. 45), Rdnr. 204; Rupp, Muß das Volk über den Vertrag von Maastricht entscheiden?, NJW 1993, S. 38,39; dagegen Oppermann/Classen (Fn. 61), S. 19 f.; Di Fabio (Fn. 63), S. 201; zweifelnd äußert sich auch Pemice (Fn. 58), S. 472 f. 77 Vgl. BVerfGE 89,155 (180). 78 BVerfGE 8, 274 (325 f.); 9, 137 (l47f.); 9, 83 (87); 20, 150 (155 ff.), auch 17, 306 (314); BVerfGE 89, 155 (187 f.). 79 Durch dynamische Vertragsabrundung gern. Art. 235 EGV und Ausdehnungen der Hoheitsgewalt über "implied powers" und nach Maßgabe des "effet utile" - hierzu Oppermann (Fn. 43), Rdnr. 437 ff. - BVerfGE 89, 155 (192 f., 210). 80 Huber (Fn. 42), S. 237 f. 81 Das gilt nicht nur gegenüber den allgemeinverbindlichen, unmittelbar wirkenden Verordnungen, sondern auch gegenüber den verbindlichen Zielvorgaben durch Richtlinien, Art. 189 Abs. 2, 3 EGV; Herdegen (Fn. 65), S. 592, Schneider, Effektiver Rechtsschutz Privater gegen EG-Richtlinien nach dem Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, AöR 119 (1994), S. 294, 299 m. w. N. in Fn. 25. 82 Wenn man kommerzielle Werbung mit BVerfGE 71, 162 (175) als Meinungsäußerung anerkennt. '

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und daher unter dem Grundgesetz ohne weiteres verboten, wäre auf gemeinschaftsrechtlicher Grundlage erlaubt. Und wie hier fällt auch sonst der vom Grundgesetz vorgesehene - wenn auch vom BVerfG weitgehend nivellierte - Schutz der Geistesfreiheit, nach dem gezielte Eingriffe in die Freiheit des Glaubens und Gewissens, der Berichterstattung durch Rundfunk, der Wissenschaft oder der Kunst unzulässig sind, in Anbetracht gegenläufiger Zielsetzungen des Gemeinschaftsrechts ersatzlos fort. Die spezifischen grundrechtlichen Abwehrmöglichkeiten werden also deutlich geschmälert, zumal die Schranke der Wesensgehaltgarantie nach Art. 19 Abs. 2 GG, die nur den einfachen, nicht den verfassungsändemden Gesetzgeber bindet, ebensowenig Schutz vor EG-rechtlich geforderten Eingriffen bietet 84 . Dennoch bleibt nach Art. 1 Abs. 3, 79 Abs. 3 gerade die allgemeine rechtsstaatliche Freiheitsvermutung 85 in Kraft, aus der der grundsätzliche Vorrang bürgerlicher Freiheit und die Rechtfertigungsbedürftigkeit staatlicher Eingriffe, damit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit resultiert 86 , der die Eigenart grundgesetzlicher Freiheitsgewährleistung ausmacht 87 • Wo das Zustimmungsgesetz notwendig unbestimmt bleiben muß 88 , ist es daher nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit auszulegen. Der gemeinschaftsrechtliche Eingriffsakt ist zwar nicht unmittelbar an den Grundrechten des Grundgesetzes zu messen, wohl aber als Mittel zum begrenzten Zweck in Relation zur zustimmungskonform ausgelegten vertraglichen Ermächtigung zu setzen. Denn in der Vorstellung einer (bestimmten) Ermächtigung liegt beschlossen, daß die Ausübung der Befugnis nicht über das zur sachgerechten Aufgabenerfüllung unumgänglich Notwendige hinausgehen darrB9 . Auch § 48 VwVfG - um ein Beispiel zu nennen - entspringt in diesem Sinne dem Verfassungsgebot des Art. 1 Abs. 3 GG, soweit er ein unbegrenztes staatliches Recht auf gesetzwidrige Hoheitsakte ausschließt, es demnach der Verwaltung verbietet, außerhalb des Gesetzes nach Belieben Rechtspositionen zu definieren. Selbst eine Leistung ist im Hinblick auf die ungewissen tatsächlichen und zeitlichen Umstände einer möglichen Rücknahme keine Maßnahme ohne Eingriffscharakter. Das Behaltendürfen muß von Anfang an gesetzlich in einer Weise bestimmt sein, die die Äquivalenz von Leistung und Rückerstattung sichert. Dem dient der regelmäßige Schutz berechtigten Vertrauens, also insbesondere gutgläubig getätigter, irreversibler VerBVerfGE 71,162 (175f.); 71, 206 (214). Vgl. Ste m, Der verfassungsändemde Charakter des Einigungsvertrages, DtZ 1990, S. 289, 291, Fn. 10. Inkonsequent daher BVerfGE 89, 155 (175). Anders, wenn man Identität von Wesensgehalt und Menschenwürdegehalt annimmt, so Dürig, in: Maunzlders. (Fn. 45), Art. I Abs. I (1958), Rdnr. 8 f.; Huber (Fn. 42), S. 236. 85 BVerfGE 17,306 (313f.); 19, 342 (348f.). Dasselbe meint das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip bei Schmitt (Fn. 53), S. 126 f. 86 BVerfGE 7,377 (403f.); 8, 71 (80). Schlink, EuGRZ 1984, S. 457, 459f.; ders., Die Amtshilfe, 1982, S. 106; Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Auf!. 1994, S. 112 f. 87 BVerfGE 19,342 (348 f.). 88 BVerfGE 89, 155 (187). 89 Schlink, Amtshilfe (Fn. 86), S. 95ff., 104. Vgl. auch BVerfGE 89,155 (192, 209f.). 83

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mögensdispositionen (§ 48 Abs. 2 Satz 2 und 3 VwVfG), von dem man Ausnahmen nur unter atypischen, der Bösgläubigkeit des Leistungsempfängers gleichzustellenden Verhältnissen wird zulassen können. Die Vernachlässigung etwa der staatlichen Notifizierungspflicht des Art. 93 Abs. 3 EGV kann danach bei der gebotenen verfassungskonformen Auslegung nicht zulasten des Bürgers rechtsfreie Räume begründen. Wenn dann eine Investitionszulagebescheinigung unter Verstoß gegen Art. 92 EGV auch materiell gemeinschaftsrechtswidrig erteilt wird, steht, ungeachtet gegenteiliger letztverbindlicher Entscheidungen auf der Basis des EGRechts (Art. 164ff., 189 Satz 4 EGV), der Rücknahme der Bescheinigung und Rückforderung der Beihilfe § 48 VwVfG aus zwingenden verfassungsrechtlichen Gründen entgegen90 . Die Bindung der staatlichen Gewalt nach Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG zeichnet sich aber noch durch einen formalen Aspekt aus, ohne den jene inhaltlichen Beschränkungen leerlaufen müßten: Letztentscheidungen dürfen aus der souveränen staatlichen Definitionsmacht unter keinen Umständen entlassen werden. Auf diesem Gedanken basiert das vom BVerfG mit voller Berechtigung in Anspruch genommene Prüfungsrecht91 . Es kommt freilich, entgegen den Andeutungen des Gerichts 92 , keinesfalls schlechthin den deutschen Staatsorganen zu. Eben weil die Möglichkeit einer Anrufung des BVerfG durch europäische Instanzen nicht gegeben ist, könnten sonst die staatlichen Gewalten selbst über Auslegung und Anwendung des Zustimmungsgesetzes, mithin autoritativ über das Ausmaß ihrer Bindung befinden. Und dies würde nur der gegenläufigen Integrationsförderung praeter pacturn, etwa vermittels der Direktwirkung von EG-Richtlinien, der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts 93 oder einer Sanktionierung der Nichtumsetzung von Richtlinien durch gemeinschaftsrechtlich begründete, staatsgerichtete Schadensersatzansprüche94 , weiteren Vorschub leisten. Deshalb ist daran festzuhalten, daß sämtliche Staatsorgane, auch die der (nicht gerade insofern verfassungsändernden) gesetzgebenden Gewalt95 , aufgrund des Rechtsanwendungsbe-

90 Unzutreffend BVerwGE 92,81 (84ff.). Der allgemeine Durchsetzungsanspruch des Europarechts begründet (als Regel) keine atypische Situation, die in die Abwägung nach § 48 Abs. 2 Satz 1 VwVfG eingestellt werden dürfte, um internrechtliche Lösungen zu tragen. Zu solchen Kadelbach, Der Einfluß des EG-Rechts auf das nationale Allgemeine Verwaltungsrecht, in: v. Danwitz I Heintzen u.a. (Fn. 43), S. 131, 137. 91 BVerfGE 89,155 (174f., 178, 188, auch 182: ,,zurechnungszusammenhang"). 92 BVerfGE 89, 155 (188, 195,210). 93 Näher BeutlerlBieber u.a. (Fn. 43), S. 206ff., 210; Oppermann (Fn. 44), Rdnr. 466f.; Sacksojsky, Europarechtliche Antworten auf Defizite bei der Umsetzung von Richtlinien, in: v. Danwitz/Heintzen u.a. (Fn. 43), S. 91 ff.; Streinz, Der Vollzug des Europäischen Gemeinschaftsrechts durch deutsche Verfassungsorgane, in: Isensee I Kirchhof (Fn. 6), Bd VII, § 182, Rdnr. 14; vgl. auch BVerfGE 75, 223 (235 ff.) 94 EuGH Sig. I 1991,5357 - Francovich. Hierzu m. Nw. Jarass, Haftung für die Verletzung von EU-Recht durch nationale Organe und Amtsträger, NJW 1994, S. 881 ff. 95 BVerfGE 75, 223 (244 f.)

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fehls im Zustimmungsgesetz im Rahmen ihrer Kompetenzen zum Vollzug von EG-Recht verpflichtet sind96 • Auch ist das BVerfG weder nach Europäischem Recht (Art. 164ff. EGV: EuGH) noch nach dem Grundgesetz (Art. 93 GG) befugt, Maßnahmen von Organen der EG, seien es Rechtsnormen oder sonstige Entscheidungen, als solche zu prüfen und zu verwerfen 97 . Als Prüfungsgegenstand kommt allein die Bindung der deutschen Staatsgewalt im Lichte des verfassungskonform ausgelegten Zustimmungsgesetzes (und des zustimmungskonform ausgelegten Vertrages) in Betracht, sei es im Rahmen von Verfassungsbeschwerden gegen Umsetzungsakte oder von konkreten Normenkontrollen (analog Art. 100 Abs. 1 und 2 GG)98. Spätestens anhand des Vollstreckungsaktes muß jedoch, wenn ein Rechtsweg hiergegen nicht eröffnet ist, die Verfassungsmäßigkeit der EG-rechtlichen Belastung kontrolliert werden können, damit keine unumkehrbaren Tatsachen eintreten. Wird ein Zahlungstitel, etwa auch eine Geldbuße oder ein Zwangsgeld, über Art. 192 EGV vollstreckt99, ist mangels eines Rechtsweges - der wegen Art. 1 Abs. 3 GG an sich durchgreifende Antrag beim Vollstreckungsgericht analog §§ 768, 769 Abs. 2 ZPO stellt einen solchen nicht dar, wo es am Prozeßgericht fehlt primär und entgegen Art. 192 Abs. 4 Satz 1 EGV das BVerfG aufgerufen, die Zwangsvollstreckung auszusetzen. Ein Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung (§ 32 BVerfGG) wäre mit Blick auf Art. 1 Abs. 3 GG zulässig und begründet. Mehr noch: Obwohl der Verfassungsbeschwerde kein Suspensiveffekt beigelegt ist 1OO , wäre auch ohne jenen Antrag eine Vollstreckung vor Abschluß eines allfälligen Verfassungsbeschwerdeverfahrens rechtsmißbräuchlich.

III. 1. Der Widerspruch trennt die Rechtsordnungen im Grundsätzlichen, nicht im Detail. Die schöne Rede vom "Kooperationsverhältnis" zwischen BVerfG und 96 Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 1993, S. 489, 494; Kokott (Fn. 73), S. 220. Über Reibungen mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit, Kadelbach, (Fn. 90), S. 135 f., kann auch der Hinweis auf das Zustimmungsgesetz nicht hinwegtäuschen. Jedoch kommt Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG die Funktion einer normordnungsintemen Vorrangregel zu. 97 BVerfGE 37, 271 (281 f.); BVerfGE 58, 1 (27). Die Abkehr von diesen Grundätzen in BVerfGE 89, 155 (174f., 188) ist nicht haltbar und nicht geboten. Vgl. Schröder, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Staates im Prozeß der europäischen Integration, DVBI. 1994, S. 316, 324; Tomusehat (Fn. 96), S. 494. 98 BVerfGE 37, 271 (284 f.). Geschützt wird nach dieser Rechtsanalogie im Grunde mittelbar der Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes. Unklar Kokott (Fn. 73), S. 221 f. 99 Etwa verhängt von der EZB wegen Nichterfüllung von Informationsanforderungen, Art. 108a Abs. 2 Satz 3 u. 4, Abs. 3 EGV i.Y.m. Protokoll über die Satzung des ESZB und der EZB, Art. 5.1,5.4 mit Art. 34, 42. Vgl. Grabitz, in: ders./Hilf, Kommentar zur Europäischen Union, Stand: 6. Ergänzungslieferung März 1994, Art. 192 E(W)GV, Rdnr. 5f., 18; Oppermann (Fn. 43), Rdnr. 592 f. 100 Schia ich, Das Bundesverfassungsgericht, 3. Aufl. 1994, Rdnr. 187,434.

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EuGH lO1 bleibt juristisch ein Lippenbekenntnis lO2 • Denn die "generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards"I03 kann doch - und das wurde offen ausgesprochen für die Überwachung der Vertragsdurchführung lO4 - nichts anderes meinen als die grundsätzliche Befugnis jederzeitiger Überprüfung lO5 • Dadurch wird im Bereich der Zuständigkeit des BVerfG der verbindlichen Anordnung des Art. 177 Abs. 3 EGV lO6 die Anwendung als Regel versagt, weil das BVerfG, wann immer es Zweifel an der Zustimmungskonformität von EG-Akten hat, ungeachtet einer Vorabentscheidung des EuGH selbst judizieren muß. Nirgendwo tritt so der Widerspruch der Rechtsordnungen deutlicher hervor als in Gestalt dieser vom Grundgesetz geforderten, vom Gemeinschaftsrecht verbotenen Letztentscheidungskompetenz. Unterwerfen nun zwei Normen denselben Sachverhalt (Überprüfung sekundären Gemeinschaftsrechts) gegenläufigen Rechtspflichten, verlangt man für gewöhnlich eine verbindliche Vorrangregel. Da eine Norm nur entweder gilt oder nicht gilt, heben sich nämlich andernfalls die widerstreitenden Normen auf und es entsteht eine "Kollisionslücke", die nach allgemeinen Grundsätzen zu schließen wäre lO7 • Gleichgültig aber, ob derartige Normwidersprüche durch Vorrangregeln behoben oder im Wege der Kollisionslückenschließung geheilt werden sollen: Nur auf dem Hintergrund der auf einen Zurechnungspunkt zulaufenden, souverän gesetzten Rechtsordnung können diese eine einheitlich normgebende Instanz voraussetzenden Auslegungsinstrumente Anwendung finden. Außerhalb eines solchen Zurechnungsrahmens, einer den Konflikt überspannenden Grundnorm 108, handelt es sich nicht um ein rechtsnormativ zu lösendes Geltungsproblem, sondern um die Frage, welcher Rechtsbefehl sich im Kampf um Anerkennung tatsächlich (politisch) durchsetzt. 2. Wegen Art. 79 Abs. 3 GG ist nun die Überwindung jenes Widerspruchs keine Frage der Kompensation, auch nicht in Gestalt einer gemeinschaftsrechtlichen, mit Art. 79 Abs. 3 GG inhaltsgleichen Ewigkeitskiausel 109 . Weil das Grundgesetz im Rahmen des Art. 79 Abs. 3 GG nur eine von Anfang an rechtlich verfaßte Souveränität kennt, müssen sämtliche Hoheitsakte in einer sowohl lückenlosen wie den Beschränkungen der souveränen Gewalt gemäßen Ermächtigungskette auf diese zurückführbar sein, stehen sie in einem ursprünglich und dauerhaft geschlossenen BVerfGE 89,155 (175,178). Anders Schneider (Fn. 81), S. 297 f.; Zuleeg, Die Rolle der rechtsprechenden Gewalt in der europäischen Integration, JZ 1994, S. 1,5; allgemein: Schwarze (Fn. 58), S. 591. 103 BVerfGE 89,155 (175). 104 BVerfGE 89, 155 (188,209 f.); Schräder (Fn. 97), S. 324. 105 Tomuschat (Fn. 96), S. 490; vgl. auch Huber (Fn. 42), S. 224. 106 Vgl. Oppermann (Fn. 43), Rdnr. 654f.; Classen (Fn. 58), S. 244. 107 Engisch, Einführung in das juristische Denken, 8. Auf!. 1983, S. 162 f. 108 Grnssmann, Grundnorm und Supranationalität, in: v. Danwitz/Heintzen (Fn. 43), S. 47, 49 ff., 59 ff. 109 So aber Wiederin, Die Verfassunggebung im wiedervereinigten Deutschland, AöR 117 (1992), S. 410, 445 ff. 101

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Rechtserzeugungs- und -anwendungszusammenhang. Art. 79 Abs. 3 GG proklamiert dadurch, soweit er reicht, die totale Definitionsmacht des Grundgesetzes und folglich der zu seiner Auslegung und Anwendung ermächtigten Organe über den rechtlichen Geltungsanspruch hoheitlicher Gewaltausübung, steht also einem echten Vorrang des Gemeinschaftsrechts beständig entgegen. Im Wege der Verfassungsänderung kann aber Art. 79 Abs. 3 GG nach seiner inneren Logik nicht aufgehoben werden 11 0. Eine solche Perspektive eröffnet nur die Möglichkeit der Verfassungsablösung über Art. 146 GG 111 , soweit dieser, wie für Art. 146 GG a.F. einhellig angenommen ll2, die verfassunggebende Gewalt von den Fesseln des Art. 79 GG befreit, mithin eine Streichung der Ewigkeitsgarantie zuläßt. Auf den ersten Blick füllt der um eine - schon mit Rücksicht auf die alliierten Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes unvermeidbare - Klarstellung ll3 erweiterte, im übrigen unveränderte neue Art. 146 GG seinem Wortlaut nach denselben Raum aus, der bis dahin von Art. 146 GG a. F. gewissermaßen normativ freigehalten wurde 114 . Wie aber, wenn der nach Art. 23 GG a.F. vollzogene Beitritt der DDR zum Ge1tungsbereich des Grundgesetzes Art. 146 "verbraucht" hätte, ihn in seinem früheren Sinngehalt hätte obsolet werden lassen und damit der neue Art. 146 zwangsläufig auf den Rang einer einfachen Verfassungsbestimmung hinabgedrückt wäre 115 ? Der hiergegen ins Feld geführte Hinweis auf die einer abschließenden Normierung entzogene verfassungsgebende Gewalt muß angesichts der anderen, diese Gewalt eindeutig normativ einbindenden Entscheidung des Grundgesetzes ins Leere stoßen: Vorrechtliche Erwägungen über den "eigentlichen" Anspruch der verfassungs gebenden Gewalt vermögen die rechtliche Geltung der Verfassung weder zu schmälern noch zu begründen. Sie disqualifizieren sich im rechtsnormativen Zusammenhang durch die Leugnung eines solchen 116. Stattdessen ist der Regelungsumfang des Art. 146 GG zwangsläufig gerade an der normativ unumstößlichen Ewigkeitsentscheidung zu überprüfen. Das Grundgesetz, so erweist sich dann, hat im Lichte des Art. 79 GG gesehen keinen Begriff der zulässigen Verfassungsgebung, nur der inhaltlich begrenzten VerfassungsändeSchmitt (Fn. 53), S. 106. Zum folgenden zusammenfassend Wiederin (Fn. 109); Isensee, Schlußbestimmung des Grundgesetzes: Art. 146 (Fn. 39). 112 Vg\. Wiederin (Fn. 109), S. 430 (m. Nw.); mit Ausnahme gewisser überpositiver Kerngehalte auch Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 136ff.; Isensee (Fn. 111), Rdnr. 19,22. 113 Vg\. Art. 1 Abs. 4 des Vertrags über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland (sog. "Zwei-Plus-Vier-Vertrag") vom 12.9. 1990 (BGB\. 11 S. 1318, mit Zustimmungsgesetz vom 11. 10. 1990, BGB\. 11 S. 1317); Isensee (Fn. 111), Rdnr. 48. 114 Sachs, Das Grundgesetz im vereinten Deutschland - endgültige Verfassung oder Dauerprovisorium?, JuS 1991, S. 985, 990. 115 So Isensee (Fn. 111), Rdnr. 23 ff., 30, 47. 116 Wiederin (Fn. 109), S. 417; Isensee (Fn. 111), Rdnr. 46. 110

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rung. Indem Art. 79 Abs. 3 GG den Begriff der Verfassungsänderung totalisiert, verweigert er einer Revolution den Segen der Legalität. Aber die Totalisierung wird nur auf der Ebene des Begriffs und nur unter Vorbehalt betrieben. Inwiefern genau das Grundgesetz die (verfassungsmäßige) Verfassungsänderung in Art. 79 Abs. 3 GG materiell begrenzt, d. h. eine Verfassungsbeseitigung 1I7 im Verfahren der Verfassungsänderung ausschließen will, klärt es durch Art. 146 GG vermittels einer Geltungsanordnung. Art. 146 GG, der belegt, daß das Grundgesetz nicht jede Verfassungsbeseitigung als unzulässige Verfassungsänderung versteht, hat daher von Anfang an seinen Zweck als Rechtsnorm nicht in der Rechtsfolge der Wiedervereinigung II 8, die er vielmehr mit dem Begriff "Volk" voraussetzt l19 , sondern allein in einer rechtlich-normativen Geltungsbegrenzung 12o• Welche rechtlichen Wirkungen die "Wiedervereinigung" als Staatsziel im politischen Prozeß zeitigen konnte, ist hierfür gleichgültig. In Art. 146 GG begegnet sie als Teil der rechtlichen und zwar auflösenden Bedingung 121 freier gesamtdeutscher Verfassungsgebung, unter die nicht etwa Art. 79 Abs. 3 GG nachträglich gestellt wird 122 , sondern unter der er immer schon steht und ohne welche er nicht erlassen worden wäre 123 . Diese immanenten rechtlichen (Geltungs-)Grenzen der Ewigkeitsgarantie können durch isolierte Aufhebung der auflösenden Bedingung sowenig legal beseitigt werden, wie Art. 79 Abs. 3 GG selbst, obwohl nicht ausdrücklich geschützt, einer Verfassungsänderung unterliegt. Art. 146 GG außerhalb des Vorgangs der gesamtdeutschen Verfassunggebung zu streichen, stellte daher einen von Art. 79 Abs. 3 GG verbotenen Akt der substantiellen Verfassungsbeseitigung dar 124. Zu diesem ist es, Schmitt (Fn. 53), S. 99, 104f. So aber lsensee (Fn. 111), Rdnr. 8, 26ff; Wolf(Fn. 68), S. 600. 119 Storost, Das Ende der Übergangszeit, Der Staat 29 (1990), S. 321, 323; denn auch die verfassungsgebende Gewalt als Ursprung der Staatsgewalt muß "das Volk als eine zur Einheit verbundene Gruppe von Menschen zu ihrem Subjekt haben", BVerfGE 83, 37 (51). Wiederin (Fn. 109), S. 425 in Fn. 74: bloß eine faktische Frage. 120 Ein Regel-Ausnahme-Verhältnis ließe sich allenfalls aus verfassungstheoretischer Perspektive behaupten, träfe dann freilich nur in umgekehrter Wendung zu. Anders Wiederin, (Fn. 109), S. 420. 121 Weil der Wegfall der Beschränkung durch Art. 79 Abs. 3 GG von dem ungewissen Eintritt eines zukünftigen Ereignisses abhängt (vgl. § 36 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG). Eine Befristung liegt darin nicht, Wiederin (Fn. 109), S. 441 f.; anders etwa Sachs (Fn. 114), S. 991; Heckmann, Das "unvollkommen-plebiszitäre Element" des Art. 146 GG, in: Borgmann/Geis u.a. (Hg.), Verfassungsreform und Grundgesetz, 1992, S. 8, 23 f. 122 So lsensee (Fn. 111), Rdnr. 28. 123 So attestiert der Allgern. Redaktionsausschuß, Drs. 301 v. 24. 11. 1948, ParI. Rat, Grundgesetz (Entwürfe), 1948/49, S. 39, der (Vorgänger-) Vorschrift (Art. 149 des Entwurfs) "einen bedeutsamen Rechtsinhalt(!), nämlich die Aufhebung der Erschwernisse einer Verfassungsänderung für den hier vorgesehenen Fall, daß durch eine gesamtdeutsche Nationalversammlung die endgültige Verfassung beschlossen wird". Vgl. auch Abg. Schmid (Fn.), 19. Sitzung v. 6. 12. 1948, HA-Steno, S. 238; ebenso ders., Plenum, 6. Sitzung v. 20. 10. 1948 u. 9. Sitzung v. 6. 5.1949, StenBer. S. 71 u. 174. 124 Im Ergebnis ebenso: Murswiek (Fn. 112), S. 252; Storost (Fn. 119), S. 326f.; ders., Legitimität durch Erfolg?, Der Staat 30 (1991), S. 537, 542, 545f.; zustimmend Wahl, Die 117

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Offene Staatlichkeit unter Souveränitäts vorbehalt

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ungeachtet der subjektiven Vorstellungen der Beteiligten 125, nicht gekommen, stattdessen zu einem dilattorischen Formelkompromiß, der eine verfassungskonforme Deutung zuläßt: Das Grundgesetz hat danach mit Art. 146 GG keinen bestimmten Weg der Verfassungsgebung vorgeschrieben - wiewohl sich eine abschließende Volksabstimmung nahelegt l26 . Entscheidend ist, daß die Bindung an Art. 79 GG in jeder Hinsicht entfällt 127. Die absolute Integrationssperre des Art. 79 Abs. 3 GG kann deshalb, wenn der politische Wille vorhanden ist, im Wege der Verfassungsgebung gestrichen werden. 3. Offen ist die vom Grundgesetz verfaßte Staatlichkeit gerade und nur in dieser Option der Verfassungsgebung. Sie gestattet es, den Konflikt der Rechtsordnungen zu entschärfen und die in Gestalt des Art. 28 Abs. I Satz 3 GG bis in die Verfassung hineinragenden Widersprüche 128 aufzulösen. Die Anwendung des Art. 146 GG und die europäische Integration stehen aber auch geistes geschichtlich keineswegs in einem rein äußerlichen Verhältnis: Konnte die Wiedervereinigung Deutschlands in der machtpolitischen Situation nach dem Zweiten Weltkrieg nur über die europäische Integration gelingen 129, wird diese letztlich allein über die Verfassungsfrage nach dem Beitritt, Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1990, S. 468, 475 ff. Dagegen Wiederin (Fn. 109), S. 416 b. Fn. 28, 443. 125 Zu diesen lsensee (Fn. 111), Rdnr. 48 ff.; Wiederin (Fn. 109), S. 433 ff. 126 Hierzu Schmitt (Fn. 53), S. 84ff.; Böckenförde (Fn. 18), S. 102f. 127 Anders die h. A. zu Art. 146 n.F., etwa Di Fabio (Fn. 63), S. 212f. m. Fn. 79; Hesse (Fn. 52), Rdnr. 707; Heckmann, Verfassungsrefonn als Ideenwettbewerb zwischen Staat und Volk, DVBI. 1991, S. 847, 854 f.; Isensee (Fn. 111), Rdnr. 61; Stern (Fn. 84), S. 293 f.; Zippe[jus, Brauchen wir eine neue Verfassung?, Politische Studien, Sonderheft 2, 1991, S. 30, 32. Würtenberger, Art. 146 GG n.F.: Kontinuität oder Diskontinuität im Verfassungsrecht?, in: Stern (Hg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. I, 1991, S. 95, verlangt einerseits Einhaltung des Art. 79 Abs. 2 GG, S. 105, nimmt andererseits einen materiell veränderungsfesten naturrechtlichen Kerngehalt an, S. 102. 128 Wenn man in dieser von BVerfGE 89, 155 (179f.) nicht entschiedenen Frage den tragenden Gründen in BVerfGE 83, 37 folgt, ist ein Kommunalwahlrecht für EU-Bürger (Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG) nicht mit Art. 20 Abs. 2 GG vereinbar, so aber Böckenförde (Fn. 17), S. 313 in Fn. 43, unter Hinweis auf das obiter dictum in BVerfGE 83, 37 (59). Einerseits geht nach dem BVerfG die Legitimation der gesamten Staatsgewalt einheitlich von ihrem Inhaber, dem (deutschen) Staatsvolk aus, BVerfGE 83, 37 (52, 53, 55) und wird die Einheitlichkeit der Legitimationsgrundlage "für die staatliche Ebene" in Art. 20 Abs. 2 GG gewährleistet, (S. 55). Andererseits soll die kommunale Selbstverwaltung vorbehaltlos in diese einheitliche und einheitlich zu legitimierende Staatsgewalt integriert sein (S. 54). Dann wäre die "Ausgestaltung" der Legitimation (S. 55) in Art. 28 Abs. 1 GG sicher nicht dem verfassungsändernden Gesetzgeber überlassen, sondern an Art. 20 Abs. 2, 79 Abs. 3 GG zu messen. Da der Ausweg, die kommunale Selbstverwaltung als in bestimmten Beziehungen selbständigen Teil organisierter Hoheitsgewalt aufzufassen, durch das Votum des Bundesverfassungsgerichts verbaut ist, verstößt die Neuregelung des Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG gegen Art. 20 Abs. 2, 79 Abs. 3 GG, vgl. auch BVerfGE 83, 60 (75); anders Randelzhofer, in: Maunz / Dürig (Fn. 45), Rdnr. 171 f. 129 Adenauer, Erinnerungen 1945-1953, 1965, S. 534ff., 536 (zum Hintergrund von Deutschland- und EVG-Vertrag): ,,Es konnte niemand erklären, wie ohne ein starkes und einiges Europa die deutsche Einheit in Freiheit zu verwirklichen wäre. Wenn ich ,in Frei-

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von Art. 146 GG angesprochene gesamtdeutsche Verfassung vom Mittel zum Zweck und von der vorläufigen Ewigkeit mit der alliierten Besetzung und der Teilung Deutschlands verbundener Vorbehalte erlöst 130 . Nachdem mit Herstellung der deutschen Einheit der Wille des Deutschen Volkes "seine nationale und staatliche Einheit zu wahren,,!3! künftig in den selbstverständlichen Bahnen wiederhergestellter Souveränität!32 sich bewegt 133 , steht einer solchen - mit Eintreten der Anwendungsvoraussetzung des Art. 146 GG rechtlich möglichen - aus europäischer Perspektive erforderten, in freier Entscheidung und daher ohne Rückversicherung nach Art des Art. 79 Abs. 3 GG gegebenen gesamtdeutschen Verfassung nichts im Wege!34. Schließlich ist, soll eine Verfassung aus dem Geist eines Volkes hervorgehen, nicht die je vorhandene immer schon die bestmögliche Verfassung. Das Wirklichwerden des Geistes in der Verfassung beschreibt auch die Aufgabe, die Zeit als "in die Form der Allgemeinheit verarbeiteten Inhalt", in vernünftige Bestimmungen, d.i. Gesetze zu fassen 135. Einem Volk hierzu unter Berufung auf "selbstverständliehe" Grundlagen staatlicher Ordnung die Befähigung und Berechtigung abzusprechen 136, würde nur zeigen, daß die vorhandene Verfassung nicht aus einem Akt der Selbstbestimmung entstanden, sondern eben das ist, was sie nicht sein soll: von fremder Hand "gegeben", weil man der selbsttragenden Kraft jener vorpositiven Grundlagen mißtraut. Und damit stünde die wirkliche Vernünftigkeit des staatlichen Gemeinwesens selbst in Frage!37. Diesem Dilemma vermag auch der heit' sage, so meine ich die Freiheit vor, während und vor allem auch nach gesamtdeutschen Wahlen", vgl. auch S. 538 f. 130 Vgl. Abg. Schmid, ParI. Rat, Plenum, 6. Sitzung v. 20. 10. 1948, StenBer. S. 71: "Während man sonst Souveränität wollte, um sie ... zum Selbstzweck zu machen, wollen wir heute Souveränität haben, um Deutschland in Europa aufgehen zu lassen"; ähnlich 9. Sitzung v. 6. 5. 1949, StenBer. S. 174. Hierzu Murswiek (Fn. 76), S. 185. 131 Präambel a. F. m Nach Art. 7 des Vertrags über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland ("Zwei-Plus-Vier-Vertrag", Fn. 113) sind nunmehr die alliierten "Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes endgültig beendet" (zum 15. 3. 1991, vgl. BGBI. 11 S. 587; zunächst waren sie nur ausgesetzt) und hat das "vereinte Deutschland ... volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten" erlangt, Art. 7 Abs.2. 133 Die Passage wurde durch das Einigungsvertragsgesetz v. 23. 9. 1990 i.Y.m. Art. 4 Nr. 1 EVertr v. 31. 8. 1990, (BGBI. 11 S. 885, 889) gestrichen. 134 Ähnlich Huber (Fn. 42), S. 250. Rupp (Fn. 76), S. 40 und Murswiek (Fn. 76), S. 187 ff. halten eine isolierte Volksabstimmung über die europäische Integration für möglich und geboten. 135 Hegel (Fn. 20), § 270, Anm., S. 424; vgl. auch ebda Vorrede, S. 20: Das Wesen des Gesetzes ist dadurch gekennzeichnet, daß in ihm "Recht und Sittlichkeit, und die wirkliche Welt des Rechts und des Sittlichen, sich durch den Gedanken erfaßt, durch Gedanken sich die Form der Vernünftigkeit, nämlich Allgemeinheit und Bestimmtheit gibt"; ferner § 211, Anm., S. 361 f., 363 und Zusatz, S. 364, § 258, Anm., S. 399. 136 Ebda, Vorrede, S. 20, § 211 Anm. a. E., S. 363, § 258, Fn., S. 406.

Offene StaatIichkeit unter Souveränitätsvorbehalt

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noch so aufrichtige Wunsch nach einer sittlich verfaßten Ordnung nicht zu entrinnen: Sittlichkeit kann nie oktroyiert werden, sie entsteht nur aus freier, selbstverantworteter Entscheidung 138.

Ebda, Vorrede, S. 24; § 270, Anm., S. 424. Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs. in: Recht, Staat, Freiheit (Fn. 30), S. 143, 167 f.; ders., (Fn. 18), S. 112; Enders (Fn. 35), S. 371 f. 137 138

4 Festschrift Böckenförde

Methodische Grundlagen für die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention Von Johannes Masing, Freiburg / Karlsruhe I.

Als Berichterstatter für das Asylrecht war Emst-Wolfgang Böckenförde maßgeblich an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylrecht beteiligt und hat ihr unverkennlich seine Handschrift eingeschrieben. In seine Zeit fallen die großen Grundsatzentscheidungen, mit denen das Gericht der lapidaren, aber anspruchsvollen Versprechung des Grundgesetzes "Politisch Verfolgte genießen Asyl" dogmatische Gestalt zu geben gesucht hat. Wesentlicher Bestandteil dieser Rechtsprechung ist die endgültige I Ablösung der Asylgarantie vom internationalen Flüchtlingsrecht und damit insbesondere auch von der Genfer Flüchtlingskonvention 2 • Zwar nimmt das Gericht in Einzelfragen bei völkerrechtlichen Standards und Verständnisweisen oft Anleihe 3 • Vom Grundsatz her interpretiert es das Asylrecht jedoch als eine inhaltlich vom Völkerrecht unabhängige und dieses auch nicht notwendig umfassende Verbürgung, die als Verfassungsgarantie ihren selbständigen normativen Gehalt hat. Praktisch bedeutsam ist vor allem, daß das Asylrecht danach auch weniger weit reichen kann als die Verbürgungen des internationalen Rechts, wie das Gericht für selbstgeschaffene Nachfluchtgründe4 und verwirkten Drittschutz5 explizit ausgeführt hat. Während sich zu Beginn der Republik das Flüchtlingsrecht praktisch ausschließlich an den Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention ausrichtete, anschließend dann ganz vom Grundrecht des als umfassend vorgestellten - Asylrechts beherrscht wurde, stehen heute Asylrecht und völkervertragsrechtlicher Flüchtlingsschutz selbständig nebeneinander. Dieses Nebeneinander der verschiedenen Gewährleistungen ist mittlerweile umso mehr als angesichts der politischen Entwicklungen jeder Vorschrift vornehmVgl. zuvor schon BVerfGE 54,341,359. Abkommen vom 28. Juli 1951 über die RechtsteIlung der Flüchtlinge, BGBI. 195311, 559; Protokoll vom 31. Januar 1967, BGBI. 196911, 1293; neben der Flüchtlingskonvention sind insbesondere die Antifolterkonvention der Vereinten Nationen und Art. 3 EMRK von Bedeutung. 3 Vgl. etwa BVerfGE 74,51,59; 80, 315, 343. 4 BVerfGE 74, 51, 66f. 5 BVerfG (Kammer) NVwZ 1992, S. 659. 1

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lich in ihrer selektiven Kraft Bedeutung zukommt - zu einem komplizierten, in seinen Konsequenzen kaum mehr zu überblickenden Geflecht geworden. Dabei ist die Differenzierung der verschiedenen Gewährleistungen keineswegs am Ende angelangt. Insbesondere in bezug auf die Genfer Flüchtlingskonvention steht man in mancher Hinsicht erst am Anfang. Eine spezifische Dogmatik zu ihrem Flüchtlingsbegriff existiert bisher nur in rudimentären Ansätzen und beschränkt sich im wesentlichen auf die Aspekte, auf die das Bundesverfassungsgericht - seine eigene, restriktive Asylrechtsprechung hilfesuchend konterkarierend - ausdrücklich verwiesen hat. Damit sind die Konsequenzen der Trennung von Konventionsschutz und Asylrecht jedoch nicht erschöpft. Da und soweit die Interpretation des Asylrechts prinzipiell von einem innerstaatlichen Verständnishorizont aus erfolgte und von hier aus Grenzen festlegte, kann dessen Dogmatik generell nicht unbesehen auf die Genfer Flüchtlingskonvention übertragen werden. Es mögen sich zwar in manchen Hinsichten Kongruenzen ergeben, aber diese müssen erst aufgewiesen und neu begründet werden. Die hierfür allein zuständige Fachgerichtsbarkeit hält sich dabei noch sehr zurück. Soweit irgend möglich stellt sie die Identität des Flüchtlingsbegriffs in der Konvention und im Asylrecht nicht in Frage und geht näheren Begründungen aus dem Weg. Angesichts des als rechtsstaatlichen und gerichtlich nachprüfbar ausgestalteten Verfahrens läßt sich diese Abwehrhaltung auf Dauer jedoch nicht halten. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Staatlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention 6, die wohl nicht zuletzt auf den Druck der Veröffentlichungen des UNHCR hin ergangen ist7 , ist hier nur der erste Schritt. Die eigenständige gerichtsförmige Auslegung der Bestimmungen der Flüchtlingskonvention ist - ähnlich wie die anderer völkerrechtlich begründeter Vorschriften - freilich mit einigen Schwierigkeiten und Aufwand verbunden. Ein sich dabei grundsätzlich stellendes Problem soll im folgenden näher erörtert werden: Was sind die methodischen Grundlagen für die Auslegung des im internationalen Recht radizierten Flüchtlingsrechts ? An der Schnittstelle zwischen staatlichem Recht und Völkerrecht gelegen, sind diese Grundlagen keineswegs evident. Wenn das Bundesverwaltungsgericht feststellt, daß die Genfer Flüchtlingskonvention ,jedenfalls deutsches Recht" nur mit einem bestimmten Inhalt geworden sei 8 , wird deutlich, daß auch in der Praxis diesbezüglich Unsicherheiten bestehen: Kann die Konvention im internationalen Verkehr etwas anderes bedeuten als im deutschen Recht? Gelten für die Auslegung der international radizierten Vorschriften die völkerrechtlichen oder die innerstaatlichen Auslegungsregeln ? Wenn völkerrechtliche Regeln gelten, was folgt daraus? Der UNHCR verwies für die Frage der "StaatBVerwG InfAuslR. 1994, S. 196. Vgl. Stellungnahme des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Naionen (UNHCR) zur Frage der Urheberschaft von Verfolgung im Sinne des Art. 1 A (2) GFK bzw. Art. 33 (1) GFK, Bonn, 19. Mai 1992, abgedr. in: § 51 Abs. I AuslG und der Verfolgungsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention, ZDWF-Schriftenreihe Nr. 51, 1992. 8 BVerwG InfAuslR. 1994, S. 196, 198. 6

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Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention

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lichkeit" von Verfolgungsmaßnahmen auf zahlreiche ausländische Entscheidungen. Kommt ihnen nach völkerrechtlichen Grundsätzen als "spätere Übung" ein besonderer Stellenwert zu? Was konstituiert eine "spätere Übung"? Belegt der Nachweis einer Anerkennungspraxis in einem, einigen, vielen oder der Mehrheit der Konventionsstaaten, daß diese völkervertraglich geboten ist? Gelten bei einer divergierenden Praxis im Zweifel alle Auffassungen als vertragsgemäß? Welche Art von Praxis ist maßgeblich und wie weit muß hierbei Sachverhaltsaufklärung betrieben werden? Kann und muß auch nach völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätzen die Entstehungsgeschichte der zugrundeliegenden völkerrechtlichen Verträge berücksichtigt werden? Wie schließlich steht es mit dem auch in der Rechtsprechung vielzitierten Handbuch des UNHCR9 bzw. mit anderen offiziellen Stellungnahmen seiner Behörde? Sind sie für die Auslegung der Konvention bindend? Eine Besinnung auf die methodischen Grundlagen für die Auslegung solcher Vorschriften ist angesichts dieser Fragen geboten.

11. Völkerrechtlich gelten für die Auslegung internationaler Vereinbarungen andere Grundsätze als für die Auslegung innerstaatlicher Vorschriften oder Verträge. Den spezifischen Strukturen des Völkerrechts, in denen Auslegung nicht vor dem Hintergrund grundsätzlich geklärter und durch ein übergreifendes Gewaltmonopol gesicherter Kräfteverhältnisse stattfindet, entsprechen auch eigene methodische Grundsätze. Diese Grundsätze gelten zunächst im internationalen Verkehr. Sie sind maßgeblich für die Interpretation völkerrechtlicher Verträge und haben Bedeutung im Verhältnis der Staaten untereinander und vor internationalen Gerichten. Insoweit ist ihre Anwendung auf die Flüchtlingskonvention unzweifelhaft. Gelten die völkerrechtlichen Auslegungsregeln darüberhinaus aber auch für den innerstaatlichen Umgang mit völkerrechtlichen Verträgen? 1. Die Frage nach der Anwendbarkeit der völkerrechtlichen Auslegungsregeln stellt sich zunächst für die durch Zustimmungsgesetz in die deutsche Rechtsordnung übernommenen Bestimmungen der Flüchtlingskonvention selbst. Durch Zustimmungsgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 GG sind diese einschließlich des Zusatzprotokolls von 1967 innerstaatliches Recht geworden und binden - soweit nicht durch späteres Gesetz derogiert - alle staatlichen Behörden und Gerichte. Da sie darüberhinaus auch die Voraussetzungen erfüllen, nach denen sich einzelne, hier also die Flüchtlinge, auf die Vorschriften unmittelbar berufen können lO , hat die Frage nach den einschlägigen Auslegungsregeln schon für diese Gesetz gewordenen Vertrags bestimmungen erhebliche praktische Relevanz. Pointiert läßt sich fragen: Hat Art. 1 A GFK für die zuständigen deutschen Behörden und Gerichte einen anderen Inhalt als im internationalen Verkehr für die Bundesrepublik? 9 UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Genf 1979. 10 BVerwGE 87, H, 13 f.; Buchholz 402.22 Art. 1 GFK Nr. 21 und Nr. 22.

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a) Das Bundesverwaltungsgericht scheint einen solchen Unterschied zwischen nationalem und internationalem Gehalt völkervertragsrechtlicher Normen anzunehmen. Insbesondere in seiner frühen Rechtsprechung bezog es insoweit eindeutig Position und führte - bezogen auf die Flüchtlingskonvention - aus: "den Vorschriften dieser Konvention ist ... Gesetzeskraft innerhalb des Bundesgebietes verliehen worden. Die Vorschriften sind daher im Rahmen der deutschen Rechtsordnung auszulegen und anzuwenden"ll. Nun mag man diese Feststellungen in erster Linie auf das Verhältnis der Flüchtlingskonvention zu Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG (a.F.) beziehen und in ihnen die mittlerweile überholte Auffassung vom lückenlosen Schutz des deutschen Asylrechts sehen. Jedoch wird in solchen Formulierungen zugleich auch deutlich, daß der völkerrechtlichen Herkunft solcher Normen für die Auslegung keine Bedeutung beigemessen wurde. Das ist bis heute unverändert. Zwar erkennt mittlerweile das Bundesverwaltungsgericht die flüchtlingskonvention als Normen mit eigener Substanz an und konzediert Unterschiede zum deutschen Asylrecht. Daß insoweit aber eigene Interpretationsbemühungen, die sich unter Umständen bereits methodisch von der innerstaatlichen Rechtsanwendung unterscheiden, erforderlich sein könnten, wird weder der Form noch der Sache nach vollzogen. Die jüngste Entscheidung, nach der Art. I A GFK ,jedenfalls deutsches Recht" nur insoweit geworden sei, als er vor staatlicher Verfolgung schützt 12, bestätigt das. Die Auslegung erfolgt ohne weitere Reflektion nach den innerstaatlichen Grundsätzen. Anders, wenngleich freilich nicht auf die Flüchtlingskonvention bezogen, verhält sich demgegenüber der Bundesgerichtshof. Er trägt bei seinem Umgang mit staatlich umgesetzten Völkerrechtsverträgen deren Herkunft bewußt Rechnung und hält für sie völkerrechtliche Auslegungsgrundsätze für maßgeblich 13 • Damit steht er in der Tradition schon des Reichsgerichts, in dessen Rechtsprechung ebenfalls die Eigenheiten des Völkerrechts betont wurden, wenn internationale Vereinbarungen als staatliches Recht auszulegen waren 14. Auch das Bundesverfassungsgericht hat dies wie selbstverständlich angenommen. Völkerrechtliche Regelungen seien "im Licht der allgemeinen Regeln und Grundsätze des Völkerrechts auszulegen und anzuwenden,,15. 11 BVerwG AVR 10 (1962/63), S. 237, 238; kritisch zu diesem Umgang mit völkerrechtlichen Normen Ch. Tomusehat, Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 19581965, ZaöRV 28 (1968), S. 48, 141 f.; Ch. Schreuer, Wechselwirkungen zwischen Völkerrecht und Verfassung bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge, BDGV 23 (1982), S. 61, 66 und 82. 12 BVerwG InfAuslR. 1994, 196, 198. 13 BGHZ51,216,220ff. 14 RGZ 104, 352, 356; 130,220, 22l. 15 BVerfGE 46,342,361; die insoweit gelegentlich zitierte Entscheidung zum Saarstatut (BVerfGE 4, 157, 168) ist nur begrenzt aussagekräftig, da es dort um die Prüfung schon der Wirksamkeit des Zustimmungsgesetzes selbst ging, nicht aber um deren innerstaatliche Anwendung im Einzelfall.

Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention

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b) Sucht man nach einer näheren Begründung, wird man zunächst auf das Problem des Ge1tungsgrundes solcher Vorschriften verwiesen: Bleiben innerstaatlich für anwendbar erklärte Vertragsbestimmungen ihrer Substanz nach Völkerrecht oder gelten sie, da nach innen erst durch den staatlichen Gesetzgeber verbindlich geworden, als staatliches Recht? Die Theoriebildung ist hierzu bis heute nicht abgeschlossen. Vollzugstheorie und Transformationstheorie stehen sich mit zahlreichen Varianten und Abstufungen nach wie vor gegenüber l6 . Für die Vollzugstheorie ist die Lösung eindeutig. Nach ihr bleibt Völkervertragsrecht auch innerstaatlich Völkerrecht und wird durch den Anwendungsbefehl des Gesetzgebers lediglich für vollziehbar erklärt. Wenden staatliche Behörden oder Gerichte diese Vorschriften an, müssen sie folglich deren Inhalt und Bedeutung nach den völkerrechtlichen Regeln ermitteln 17. Die Transformationstheorie scheint demgegenüber zu anderen Ergebnissen zu führen. Nach ihr erläßt der Gesetzgeber aufgrund nationaler Hoheitsgewalt eigene, vom Vertrag unabhängige Rechtsvorschriften, welche dem Vertrag lediglich entsprechen. Der völkerrechtliche Vertrag wird durch einen neuen, konstitutiven Rechtssetzungsakt in innerstaatliches Recht transformiert. Folgerichtig müßten für entsprechende Vorschriften grundSätzlich die Regeln gelten, die allgemein für innerstaatliche Gesetze gelten. Dennoch gehen auch die meisten Anhänger der Transformationstheorie - unter ihnen schon das Reichsgericht - regelmäßig von der Anwendbarkeit der völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätze aus 18. Entgegen manchen Behauptungen 19 ist dies, auch wenn insoweit eine Begründung in der Tat nur selten versucht wird, keineswegs inkonsequent. Zwar muß die Transformationstheorie in einem logisch ersten Schritt tatsächlich zunächst von innerstaatlichen Auslegungsregeln ausgehen. Jedoch kann und wird eine solche Auslegung eines Transformationsgesetzes ohne weiteres zu dem Ergebnis führen, daß dieses nach Maßgabe völkerrechtlichen Verständnisses gelten so1l20. Das inländische Recht macht sich insofern nicht 16 Vgl. hierzu nur G. Dahml J. Delbrückl R. Wolfrum, Völkerrecht 111, 2. Aufl. 1989, S. 100ff.; H. Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, 1957, S. 13 ff.; K. J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, BDGV 6 (1964), S. 13 ff.; R. Walter, Völkerrecht und deutsches Recht, 1967, S. 128 ff. und 171 ff. 17 G. Dahml J. Delbrückl R. Wolfrum (Fn. 16), S. 105 ff.; H. Mosler (Fn. 16), S. 25 ff.; Ch. Schreuer (Fn. 11), BDGV 23 (1982), S. 61, 65 ff.; K. J. Partsch (Fn. 16), S. 109 ff. 18 G. Boehmer; Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, 1965, S. 88 ff.; R. Walter (Fn. 16), S. 171; vgl. hierzu G. DahmlJ. DelbrücklR. Wolfrum (Fn. 16), S. 105; K. J. Partsch (Fn. 16), S. 111 ff.; ohne Bezug auf die Geltungstheorien im Ergebnis ebenso die h.L.: A. Bleckmann, Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1969-1970, ZaöRV 32 (1972), S. 71, 138 ff.; P. Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 1, Basel 1948, S. 122 f.; M. Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, 1973, S. 124ff. 19 Vgl. H. Mosler (Fn. 16), S. 25 ff.; K. J. Partsch (Fn. 16), S. 111; Ch. Schreuer (Fn. 11), BDGV 23 (1982), S. 61, 65 ff. 20 Wie hier wohl auch G. Ress, Wechsel wirkungen zwischen Völkerrecht und Verfassung bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge, in: BDGV 23 (1982), S. 7, 38f.; vgl. ähnlich auch G. Boehmer (Fn. 18), S. 88 ff.; indem dieser aber nicht zunächst klar und konsequent von den innerstaatlichen Auslegungsregeln ausgeht, bleibt seine Argumentation schwach und

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nur die Vertrags bestimmungen in ihrem Wortlaut, sondern auch die damit verbundenen Auslegungsregeln zu eigen. Da es sich jedenfalls bei der direkten Transformation von völkerrechtlichen Verträgen durch Zustimmungsgesetz um die wörtliche Übernahme der vertraglichen Bestimmungen handelt, kann dies als Regel auch vermutet werden. Denn es ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber, der seinen internationalen Verpflichtungen durch ein entsprechendes Transformationsgesetz nachzukommen sucht, dieses in Abkehr von völkerrechtlichen Maßstäben nach innerstaatlichen Auslegungsgrundsätzen interpretiert sehen will. Dafür, daß eine (implizite) gesetzliche Anordnung völkerrechtlicher Auslegungsregeln nicht möglich sein soll, ist nichts ersichtlich 21 . Bedenken könnten allenfalls dahingehend erhoben werden, daß der Verweis auf völkerrechtliche Auslegungsregeln die Problematik dynamischer Gesetzesverweise in sich trägt. Immerhin können sich völkerrechtliche Auslegungsregeln ändern, und auch ihrem Inhalt nach verschaffen sie einer nicht ganz vorhersehbaren späteren Praxis stärkere Geltung als die innerstaatlichen Auslegungsregeln 22 . Jedoch schlagen solche Bedenken im Ergebnis nicht durch. Schon die Qualifizierung einer gesetzlichen Anordnung der völkerrechtlichen Auslegungsregeln als "dynamischer Gesetzesverweis" ist zweifelhaft und jedenfalls ist ein solcher Verweis nach den hierfür verfassungsrechtlich entwickelten Kriterien in dieser Konstellation nicht unzulässig 23 . Mit dem Verweis auf die völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätze werden Regeln in Bezug genommen, die sich ohne Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland24 allenfalls im zeitlichen Rahmen der Entwicklung von Völkergewohnheitsrecht ändern können und dabei auch kaum weniger präzise sind als die innerstaatlichen Regeln. Die damit freilich ermöglichte Öffnung der Norm für die Berücksichtigung der - von der Bundesrepublik mitgestalteten - späteren Praxis entspricht nur den internationalen Verpflichtungen. Daß sich insoweit die umgesetzten Normen in ihrer Substanz änauf halbem Weg stecken (vgl. das letztlich doch konzedierte Auseinanderfallen von Völkerrecht und Staatsrecht S. 90). 21 Eine andere Frage ist es, inwieweit Auslegungsregeln überhaupt normierbar sind; vgl. hierzu kritisch H. F. Köck Vertragsinterpretation und Vertragsrechtskonvention, 1976, S. 56 ff. Soweit Auslegungsregeln von vornherein nicht als Rechtsregeln normierbar sind, ergeben sie sich aus der Sache, so daß die theoretische Frage zwischen der Anwendbarkeit völkerrechtlicher und innerstaatlicher Regeln ohnehin nicht besteht. 22 G. Boehmer (Fn. 18), S. 88 ff. will solche Änderungen für das innerstaatliche Recht als unerheblich ansehen. Die Konsequenz einer solchen "Versteinerung" wirft Ch. Schreuer (Fn. 11), BDGV 23 (1982), S. 61, 65 der Transformationslehre als unausweichlich vor. 23 Nicht jeder dynamische Verweis ist automatisch unzulässig, vgl. BVerfGE 26, 338, 365 ff.; grundSätzlich zur Problematik gesetzlicher Verweisungen vgl. Th. Clemens, Die Verweisung von einer Rechtsnorm auf andere Vorschriften, AöR 111 (1986), S. 65 ff. H.-u. Karpen, Die Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, 1970, S. 101 ff. (zu Verweisen auf Völkerrecht: S. 47ff. und 51); W.-R. Schenke, Verfassungsrechtliche Grenzen gesetzlicher Verweisungen, in: Festschrift für L. Fröhler, 1980, S. 87, 99ff.; R. Schotz, Technik und Recht, in: Festschrift zum 125-jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 691, 704f. 24 Damit auch des deutschen Gesetzgebers, vgl. Art. 59 Abs. 2 GG.

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dern 25 , ist nicht anzunehmen und muß damit auch vom Gesetzgeber nicht prinzipiell unterstellt werden 26 . c) Gelten unabhängig von den Theorien grundsätzlich die völkerrechtlichen Regeln für die innerstaatliche Auslegung völkerrechtlicher Verträge, bleibt zu fragen, ob die innerstaatlichen Auslegungsgrundsätze wenigstens ergänzend herangezogen werden können. G. Boehmer nimmt dies - vom Boden der Transformationslehre her - an: Wenn der Vertragsinhalt nach Erschöpfung der völkerrechtlichen Auslegungsregeln im unklaren bleibe, dann würden die allgemeinen Regeln des innerstaatlichen Rechts zur Anwendung kommen 27 . Hiergegen sind jedoch Bedenken zu erheben. Zum einen kann gerade im Völkerrecht in Fällen, in denen ein Vertrag bestimmte Fragen offenläßt, den Parteien auch ein Entscheidungsfreiraum belassen sein 28 . Läßt sich nicht zeigen, daß der Vertrag einen in Frage stehenden Sachverhalt regeln sollte 29 , ist davon auszugehen, daß sich die Vertragsparteien insoweit auch nicht binden wollten. Nimmt der Gesetzgeber die Ausgestaltung insoweit nicht erkennbar in die Hand, sondern beschränkt sich auf die bloße Transformation der völkerrechtlichen Verpflichtung, bleibt deren Konkretisierung - nach Maßgabe innerstaatlicher Gewaltenteilung 30 den Behörden überlassen. Die innerstaatlichen Auslegungsregeln können hier nicht weiterhelfen. Aber auch wenn der Vertragstext keinen Gestaltungsfreiraum beläßt, läßt sich nicht ergänzend auf staatliche Auslegungsregeln zurückgreifen. Die Vorstellung, eine Auslegung könne nach völkerrechtlichen Interpretationsregeln zweifelhaft bleiben und dann durch die Anwendung innerstaatlicher Regeln geklärt werden, ist inkonsequent. Über den Inhalt einer Norm bestehen, wenn sie überhaupt auslegungsbedürftig ist, zunächst immer Zweifel. Die Auslegungsregeln geben nun aber gerade an, nach welchen Prinzipien die Zweifel aufzuläsen sind. Solange Zweifel verbleiben, die eine Entscheidung noch nicht möglich machen, ist die Auslegung nicht abgeschlossen. Ein Paradigmenwechsel auf halber Strecke ist damit nicht möglich. Indem er die einen Prinzipien durch andere zu ergänzen sucht, hebt er sie selbst auf bzw. führt zu Widersprüchen: Ein nach völkerrechtlichen Grundsätzen 25 Zu diesem Kriterium für die Zulässigkeit dynamischer Verweise vgl. BVerfGE 26, 338, 366f. 26 Für die Wiener Vertragsrechtskonvention ergibt sich dies bereits aus dem Art. 31 WVK, der nur für die Auslegung der Verträge, nicht aber für deren Änderung gelten soll; kritisch zu dieser Unterscheidung und zur Lage nach allgemeinem Völkergewohnheitsrecht W Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, 1983, S. 212 ff. 27 G. Boehmer (Fn. 18), S. 91 ff. 28 Siehe unten 111. 3. c). 29 Zur Unterscheidung von beabsichtigten Unbestimmtheiten, aus denen ein Ermessen der Vertragspartner folgt, und unbeabsichtigten bzw. dilatorischen Unbestimmtheiten, die durch Auslegung einer Lösung zugeführt werden müssen, vgl. P. Guggenheim (Fn. 18), S. 123 f. 30 Insoweit kann im Einzelfall ein Handeln des Gesetzgebers bzw. auch Zurückhaltung der Gerichte geboten sein.

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unter Umständen nicht zulässiger Rückgriff auf etwa die travaux preparatoires kann auch bei verbleibenden Zweifeln dann am Ende nicht doch erlaubt sein. Prinzipien müssen bis zum Ende durchgehalten werden, sonst sind sie keine Prinzipien mehr31 . Einen - für das Flüchtlingsrecht freilich kaum relevanten - Sonderfall stellt allerdings der Grundsatz der verfassungskonfonnen Auslegung dar32 . Dieser Grundsatz kann unter Umständen tatsächlich auch bei der innerstaatlichen Auslegung völkerrechtlicher Verträge zur Anwendung kommen. Eindeutig ist das zunächst, wenn eine völkerrechtliche Vereinbarung den Vertragsparteien einen Gestaltungsspielraum läßt. Daß dieser dann innerstaatlich nur im verfassungsrechtlichen Rahmen genutzt werden darf, ergibt sich von selbst. Vom Boden der Transfonnationstheorie her kann die verfassungskonfonne Auslegung darüberhinaus aber auch ohne einen solchen Gestaltungsspielraum als innerstaatlicher Grundsatz neben die völkerrechtlichen Auslegungsregeln treten: Entspricht nämlich eine völkervertragliche Bestimmung nicht in allen Facetten der innerstaatlichen Verfassungsordnung, wird vennutet werden können, daß der Gesetzgeber diese auch nur insoweit in Geltung setzen wollte, wie sie verfassungsrechtlichen Bestand haben kann. Andernfalls nämlich wäre die Umsetzung insgesamt verfassungswidrig und damit sofern eine Verwerfungskompetenz der Gerichte besteht - vollends gescheitert33 • Festzuhalten bleibt aber, daß grundsätzlich für die innerstaatliche Auslegung internationaler Verträge und damit auch der Flüchtlingskonvention allein die völkerrechtlichen Interpretationsregeln gelten. Durch das Zustimmungsgesetz sollte ihr Inhalt, so wie im Völkerrecht maßgeblich, für alle staatlichen Stellen unmittelbar anwendbares Recht werden. 2. Die Frage nach den einschlägigen Auslegungsgrundsätzen stellt sich allerdings nicht nur für die durch Zustimmunsgesetz unmittelbar anwendbar gewordenen Vertrags bestimmungen selbst. Garantien der Konvention sind vielmehr auch durch andere gesetzliche Regelungen, wie insbesondere den Abschiebungsschutz des § 51 Abs. 1 AuslG gesichert. Gelten nun auch für solche Vorschriften völkerrechtliche Auslegungsregeln ? Die Antwort auf diese Frage ist durch die bisherigen Ausführungen vorgezeichnet: Wenn eine Vorschrift speziell die Funktion hat, ge31 Bei Interpretationsschwierigkeiten, die bereits bei den Vertragsverhandlungen zutage getreten, aber nicht endgültig geklärt worden sind, ist allerdings zu erwägen, ob Interpretationserklärungen des eigenen Landes im Rahmen der innerstaatlichen Auslegung ein Gewicht beigemessen werden kann. Es ist insoweit möglich, daß die Transformation der Bestimmungen dann in dem Sinne folgen sollte, wie sie von dem eigenen Staat verstanden wurde. Allerdings wird es - insbesondere auch aus Rücksicht auf die verschiedenen insoweit beteiligten Organe - insoweit auf den Einzelfall ankommen, und auch wäre der Gesetzgeber jedenfalls nicht gehindert, die völkerrechtliche Vorschrift durch Ausgestaltungsregeln später anders zu interpretieren. 32 Vgl. hierzu G. Boehmer (Fn. 18), S. 91 ff.; H. Mosler (Fn. 16), S. 27f.; G. Ress (Fn. 20), BDGV 23 (1982), S. 7,39 ff. 33 Auch das Bestehen einer völkerrechtlichen Verpflichtung ändert nichts daran, daß verfassungswidrige Gesetze nichtig sind.

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rade die Garantien der Konvention sicherzustellen, so haben auch für sie die völkerrechtlichen Auslegungsregeln zu gelten. Nur so nämlich wird man - und zwar insoweit zunächst nach innerstaatlichen Auslegungsgrundsätzen - dem von dem Gesetzgeber gewollten Regelungsinhalt gerecht. Will dieser ein Auseinanderdriften von staatlichem und internationalem Recht durch eine Vorschrift gerade verhindern, soll dies auch durch verschiedene Auslegungskriterien nicht unterlaufen werden. Unter dem Stichwort der "völkerrechtskonformen Auslegung" erkennt das im Ergebnis auch die herrschende Lehre an 34 . Die dargelegte Rückbindung dieses für das Vertragsrecht erratisch gebliebenen Grundsatzes an die allgemeinen Auslegungsregeln und seine Herleitung aus dem Willen des Gesetzgebers gibt diesem Topos aber für das Völkervertragsrecht erst eine Begründung und knüpft an ihn mit den völkerrechtlichen Auslegungsregeln klare Konsequenzen. Ob eine eigenständig gefaßte, in allgemeine Kodifikationen aufgenommene Vorschrift wie insbesondere der § 51 Abs. 1 AuslG innerstaatlich tatsächlich nur der unveränderten Sicherstellung einer völkerrechtlichen Verpflichtung dient, ist allerdings zunächst sorgfältig zu prüfen. Insbesondere wenn der Text von den Formulierungen der völkerrechtlichen Vereinbarung abweicht, bedarf dies, anders als bei einem Transformationsgesetz, einer eigenen Begründung. Gerade wenn völkerrechtlich ein Interpretations- und Gestaltungsspielraum besteht, ist es insoweit möglich, daß der Gesetzgeber diesen durch präzisierende Formulierungen selbst nutzen und nicht den Gerichten überlassen will. Für § 51 Abs. 1 AuslG ist dies jedoch, wie hier nur angedeutet werden kann, nicht der Fall. Anders als das Asylrecht soll § 51 Abs. 1 AuslG - jenes ergänzend spezifisch den Abschiebungsschutz der Flüchtlingskonvention sichern und diesen in das vom Asylrecht beherrschte Anerkennungsverfahren integrieren. Dieser Bezug auf die Flüchtlingskonvention ergibt sich nicht nur aus der fast wörtlichen Übereinstimmung der Vorschrift mit Art. 33 Abs. 1 GFK, sondern ist auch durch die Gesetzesmaterialien belegt35 . Der Sinn dieser dem Asylrecht so ähnlichen Vorschrift kann nur darin gesehen werden, die etwaigen Lücken des Asylrechts in Erfüllung der Konventionspflichten zu sch1ießen 36 . Insoweit ist dem Bundesverwaltungsgericht, das der Ansicht ist, der Gesetzgeber habe "für die Genfer Konvention als innerstaatliches Recht,,37 eigens entschieden, daß nur staatliche Verfolgung im 34 Vgl. H. Mosler (Fn. 16), S. 26; G. Ress (Fn. 20), BDGV 23 (1982), S. 7, 38f.; H. Meyer-Lindenberg, Zum Begriff der Verträge, die sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG), in: Festschrift für H. Jarreiß, 1964, S. 269, 284. 35 V gl. die Erläuterungen zu der Erstfassung dieser Vorschrift im Ausländergesetz 1965, BT-Drs. IV, 868, S. 15: "Die Bezeichnung der Verfolgungsgründe ist Art. 33 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge angepaßt". Daß dieser über den Schutzbereich des Art. 16 Abs. 2 GG hinausreichen könnte, lag freilich damals noch außerhalb des Denkhorizonts. 36 Belegt wird dies auch durch den systematischen Zusammenhang mit § 51 Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 3 AuslG; vgl. auch BVerwG (1. Senat), Buchholz 402.22 Art. 1 GFK Nr. 22, S. 18. 37 BVerwG InfAuslR. 1994, S. 196, 199.

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Sinne des Asylrechts Schutz begründe, zu widersprechen. Zwar mag man zum Zeitpunkt der Gesetzgebung mangels näherer Aufarbeitung dieser Frage insoweit von einer Identität von Asylrecht und Flüchtlingsschutz zunächst ausgegangen sein. Auch soll dahinstehen, ob die Konvention im Ergebnis tatsächlich allein von "staatlicher" Verfolgung ausgeht bzw. was dieses völkerrechtlich bedeutet 38 . Sicher ist jedoch, daß der Gesetzgeber gerade nicht eine eigenständige, von der Entwicklung der Konvention unabhängige Definition vorgeben und damit das Risiko einer Divergenz von Völkerrecht und staatlichem Recht schaffen wollte. Die neben das Asylrecht gestellte und dabei praktisch wörtliche Übernahme des Art. 33 Abs. I GFK 39 zeigt vielmehr, daß grundsätzlich alle Schutzlücken, die sich aus der von der Konvention abgelösten Asylrechtsprechung ergeben würden, definitiv und automatisch durch diese Vorschrift geschlossen werden sollten 4o .

III. Sind für die Auslegung der Flüchtlingskonvention völkerrechtliche Grundsätze heranzuziehen, ist zu fragen, was diese Grundsätze besagen und wie sie sich von innerstaatlichen Auslegungsregeln unterscheiden. Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei, wie sich diese zunächst allgemeinen Grundsätze auf multilaterale Vertragswerke auswirken, die wie die Flüchtlingskonvention als allgemeine Rechtsverbürgung gewollt und auf innerstaatliche Umsetzung angelegt sind. Aus den Spezifika solcher Konventionen ergeben sich für die Auslegung nämlich eigene, auch in allgemeiner Form faßbare Konsequenzen, deren Aufarbeitung bisher noch fehlt.

Vgl. aber auch unten V. Art. 33 Abs. 1 GFK und § 51 Abs. 1 AuslG stimmen freilich nicht vollständig miteinander überein. So ist der erste Satzteil des Art. 33 Abs. I GFK in § 51 AuslG zusammengefaßt. Ebenso verweist Art. 33 Abs. 1 GFK auf den "Flüchtling" im Sinne des Art. 1 GFK, während § 51 AuslG schlicht von "Ausländer" spricht. Hierdurch sind sachlich aber keine Unterschiede zwischen der Flüchtlingskonvention und dem Ausländergesetz begründet. Ungeachtet der streitigen Frage, ob Art. 33 Abs. 1 GFK im Gegensatz zu Art. 1 A GFK einen objektiven Maßstab anlegt, will § 51 AuslG jedenfalls keinen Unterschied zu Art. 33 Abs. I GFK aufkommen lassen. So, wie diesbezüglich Art. 33 Abs. 1 GFK auszulegen ist, ist auch § 51 Abs. 1 AuslG auszulegen. Auch daß falschlicherweise "nationalite" nicht mit Nationalität, sondern mit Staatsangehörigkeit übersetzt wurde, sollte einen Unterschied zwischen beiden Vorschriften nicht begründen (so zu Recht BayVGH InfAuslR. 1990, S. 179). In einer Hinsicht bezieht § 51 Abs. 1 AuslG allerdings klar Position: Er versteht Art. 33 Abs. 1 GFK ausdrücklich nur als Abschiebungsschutz. Dies dürfte aber dem - freilich hoch umstrittenen - völkerrechtlichen Verständnis entsprechen. 40 Beurteilt man dies anders, bleibt zu fragen, ob dann neben § 51 Abs. 1 AuslG ergänzend auf Art. 33 Abs. 1 GFK zurückgegriffen werden muß; daß dieser durch eine sinnreduzierende Vorschrift derogiert werden sollte, ist kaum anzunehmen (vgl. BVerfGE 74, 358, 370: "Es ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen ... abweichen ... will."). 38 39

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1. Ein wichtiger Schritt, um über die Auslegungsgrundsätze auf internationaler Ebene zu größerer Klarheit zu gelangen, war die Schaffung der Art. 31 bis 33 Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK), die der Konzeption nach Grundlage jeglicher völkerrechtlichen Vertragsauslegung werden sollen41 . Auf die Genfer Flüchtlingskonvention sind sie unmittelbar allerdings nicht anwendbar. Sowohl die 1951 beschlossene Genfer Flüchtlingskonvention selbst als auch das Zusatzprotokoll von 1967 sind noch vor Abschluß der Vertragsrechtskonvention 1969 entstanden und fallen so gemäß Art. 4 WVK aus deren Anwendungsbereich heraus.

Deswegen ist die Wiener Vertragskonvention jedoch nicht bedeutungslos. Denn konzipiert als allgemeine Kodifikation des Vertragsrechts und vorbereitet im Schoß der Vereinten Nationen von der International Law Commission liegt ihr Referenz- und Ausgangspunkt im Völkergewohnheitsrecht42 . In weiten Teilen liegt ihr Verdienst gerade darin, die gewohnheitsrechtlichen Regeln aufgearbeitet und strukturiert zu haben, womit diese nur greifbarer und verläßlicher gemacht werden sollten. Von daher nimmt es nicht Wunder, daß die Literatur regelmäßig auch dann auf die Vertragsrechtskonvention zurückgreift, wenn diese förmlich nicht anwendbar ist, und sie als "essential starting point for any discussion of the present law,,43 gilt. Zwar ist die Konvention mit dem Völkergewohnheitsrecht deshalb nicht identisch. Es bleibt der Vorbehalt, daß im Einzelfall die überkommenen Grundsätze des Völkerrechts von der Vertragskonvention abweichen können und sich die Konventionsvorschriften als neuer Weg darstellen 44 • Durch die prägende Kraft der Konvention selbst in Richtung Völkergewohnheitsrecht verliert dieser Vorbehalt jedoch immer mehr an Gewicht. Angesichts der Unwägsarnkeiten und Unübersichtlichkeit der Rechtslage, wie sie sich unabhängig von der Konvention oft darstellt, orientiert sich die Staatenpraxis, gefolgt vom Schrifttum, zunehmend auch dann an den Regeln der Wiener Vertragskonvention, wenn diese formal nicht anwendbar sind, und prägt sie allmählich zu allgemeinen Grundsätzen des Völkerrecht um45 . 25 Jahre nach ihrer Verabschiedung dürfte die Konvention heute in ihren größten Teilen mit den allgemeinen Regeln des Völkerrechts konvergieren.

41 Zu deren Entstehung vgl. St. Verosta, Die Vertragsrechts-Konferenz der Vereinten Nationen 1968/69 und die Wiener Konvention über das Recht der Verträge, ZaöRV 29 (1969), S.654ff. 42 Vgl. nur W Karl (Fn. 26), S. 353; H. Lauterpacht, Codification and Development of International Law, AJIL 49 (1955), S. 16ff.; U. Scheuner, Internationale Verträge als Elemente der Bildung von völkerrechtlichem Gewohnheitsrecht, in: Festschrift für F.A. Mann, 1977, S. 409, 424. 43 D. W Greig, International Law, 2. Aufl., London 1976, S. 450; vgl. auch O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 4. Aufl. 1990, S. 462. 44 Vgl. differenzierend zu den einzelnen Vorschriften A. Verdross, Die Quellen des universellen Völkerrechts, 1973, S. 92 ff. 45 Vgl. etwa H. Miehsler, The European Social Charta and the Civil Servants Right to Strike, in: Festschrift für A. Verdross 1971, S. 447, 565.

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Dies gilt jedenfalls für die Interpretationsgrundsätze der Artikel 31 bis 33 WVK. Als Desiderat der internationalen Praxis sowie des völkerrechtlichen Schrifttums führen sie deren verschiedene - im einzelnen freilich auch vielfach divergierenden - Elemente zu einem flexiblen, Differenzierungen wie weitere Diskussionen zulassenden Instrumentarium zusammen46 . Sie finden heute aIIgemeinhin Anerkennung47 und werden auch von internationalen Gerichten unabhängig von ihrer förmlichen Geltung zur Vertragsinterpretation herangezogen. Namentlich der EGMR konstatierte schon 1975: "Cette convention n'est pas encore en vigueur ... , mais ses articles 31 a33 enoncent pour l'essentiel des regles de droit international communement admises ... ,,48. Auch für die Interpretation der Flüchtlingskonvention können diese Vorschriften folglich den Ausgangspunkt bilden49 . 2. Art. 31 WVK benennt zunächst ein Spektrum allgemeiner Prinzipien, die in ähnlicher Weise für jede Art von Auslegung rechtserheblicher Texte gelten und auch dem staatlichen Recht bekannt sind. So sind Verträge von ihrem Wortlaut her zu interpretieren, ihr Sinn ist nach Treu und Glauben zu erschließen, ihre Bestimmungen sind im Vertragszusammenhang zu sehen und dabei sollen Ziel und Zweck des Vertrages Berücksichtigung finden 50 . Obgleich wichtig, soll auf diese Grundsätze vorliegend nicht näher eingegangen werden. Bei der Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention werfen sie nicht grundlegend andere Probleme auf, als sich bei der Auslegung entsprechender innerstaatlicher Normen stellen. Verzichtet werden soll auch auf einen allgemeinen Überblick über die verschiedenen im Völkerrecht bekannten Auslegungssätze wie: Verträge sind so auszulegen, daß sie zu voller Wirksamkeit gelangen (effet utile), Einschränkungen der staatlichen Souveränität sind im Zweifel restriktiv auszulegen (in dubio mitius) oder unklare Formulierungen sind zu Lasten dessen auszulegen, der sie vorgeschlagen hat (contra proferentem)51. Zum einen wurden sie bewußt nicht in die VertragsrechtskonVgl. A. Verdross (Fn. 44), s. 68 ff. und 93. Die Auslegungsregeln waren auch bei der Abstimmung über die Vertragsrechtskonvention keinerlei Anstoß zu Auseinandersetzungen. Insbesondere auch Frankreich, das als einziges Land gegen die Vertragsrechtskonvention stimmte, hatte insoweit keinerlei Vorbehalte (vgl. hierzu o. Deleau, La position franrraise a la conference de Vienne sur le droit des traites, AFDI 15 (1969), S. 7,11; vgl. hierzu A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Auf!. 1984, S. 492. 48 EGMR - Golder -, Publications Bd. 18 (1975), S. 14; vgl. auch IGH - Beagle Channe1-,ILM 17 (1978), S. 632, 645. 49 Zu Vorbehalten im Schrifttum hinsichtlich der Deckungsgleihheit von Konvention und Völkergewohnheitsrecht in bezug auf die spätere Übung vgl. unten, Fn. 81. 50 Zu diesen allgemeinen Grundsätzen vgl. F.G. Jacobs, Varietes of Approach to Treaty Interpretation: with special Reference to the Draft Convention on the Law of Treaties before the Vienna Diplomatie Conference, ICLQ 18 (1969), S. 318, 332 ff.; Lord McNair, The Law of Treaties, Oxford 1961, S. 366ff.; eh. de Visscher, Problemes d'interpretation judiciaire en droit international public, Paris 1963, S. 50ff.; M.M. Whiteman, Digest of International Law, Bd. 14, Washington 1970, S. 364ff.; kritisch zur Norrnierbarkeit solcher Regeln: H. F. Köck (Fn. 21), S. 56 ff. (allgemein) und S. 83 ff. (zur Vertragsrechtskonvention). 46 47

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vention aufgenommen, weil ihnen - sofern nicht schon ihre Geltung zweifelhaft ist52 - jedenfalls nicht die Bedeutung in sich eigenständiger bzw. allgemeingültiger Grundprinzipien zukommt53 , und zum anderen haben sie für die Auslegung der Flüchtlingskonvention keine in allgemeiner Weise greifbare Bedeutung. Für die Grundlegung der Interpretation der Flüchtlingskonvention sollen aus den völkerrechtlichen Interpretationsregeln genauer hingegen zwei Problembereiche herausgegriffen werden: Die Berücksichtigung der späteren Übung und die Heranziehung der travaux preparatoires. Eine Auseinandersetzung mit ihnen ist bereits auf grundsätzlicher Ebene ertragreich. Zum einen bestimmen sie in von innerstaatlichen Grundsätzen unterschiedener Weise das Herangehen an die Auslegung der Vertragsbestimmungen überhaupt, betreffen also bereits den prinzipiellen Zugriff. Zum anderen ist insoweit noch wenig geklärt, welche Anforderungen sich für die Auslegung von multilateralen Gesetzesverträgen wie der Flüchtlingskonvention praktisch ergeben. 3. Die Berücksichtigung der Auslegung und Anwendung des Vertrags nach dessen Abschluß, die "spätere Übung", ist ein allgemein anerkanntes und unverzichtbares Element bei der Interpretation völkerrechtlicher Verträge. Im Grundsatz gilt dies, wie aus Art. 31 WVK ersichtlich, für alle Arten völkerrechtlicher Verträge und somit auch für die Flüchtlingskonvention. Allerdings stößt man hierbei schon praktisch auf besondere Schwierigkeiten. Die Zahl der Signatarstaaten ist so hoch, daß deren Praxis kaum überschaubar ist. Der Umgang mit der Flüchtlingskonvention stellt sich regelmäßig als innerstaatliche Verwaltungstätigkeit dar, die mit dem jeweiligen Ausländerrecht eng verwoben ist. Von außen ist diese oft nur begrenzt einsehbar, und Entscheidungen zum Flüchtlingsrecht enthalten vielfach keine Begründung. Die Aussagekraft begründeter Entscheidungen bleibt häufig zweifelhaft. Nicht selten sind die Konventionsvorschriften innerstaatlich durch eigene Regeln überlagert, deren Verhältnis zu den Konventionsverbürgungen verschieden gestaltet sein kann. In diesen Schwierigkeiten zeigt sich zugleich auch mehr als ein praktisches Problem. Die Berücksichtigung der Staatenpraxis wirft bei einer Konvention, die als "traite loi" bzw. als "traite multilateral general',54 eine Vielzahl von Staaten auf 51 Zu solchen Auslegungssätzen vgl. Lord McNair (Fn. 50), S. 383 ff.; eh. de Visscher (Fn. 50), S. 84ff.;A. Verdross/B. Simma (Fn. 47), S. 493ff. 52 R. Bemhardt, Interpretation and implied (tacit) modification of Treaties, ZaöRV 27 (1967), S. 491, 504 (zum Grundsatz der souveränitätsfreundlichen Auslegung); A. Verdross/ B. Simma (Fn. 47), S. 493 ff. 53 R. Bemhardt, Interpretation in International Law, in: Encyclopedia of Public International Law, Bd. 7, Amsterdam/New York u.a. 1984, S. 318, 323; A. Verdross/B. Simma (Fn. 47), S. 493 ff.; Commentary of the International Law Commission, YILC 1966, Bd. 2, S. 54 f. und 218 ff. (vgl. auch S. 60 einerseits und S. 219 andererseits). 54 Zur Unterscheidung der verschiedenen Vertragstypen vgl. nur F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, 2. Auf!. 1975, Bd. I, S. 443ff.; W. Lang, Les regles d'interpretation codifiees

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überdies innerstaatlich durchzusetzende Verhaltensweisen verpflichtet, schon prinzipiell besondere Probleme auf. Während eine spätere Übung bei Verträgen, die politische Beziehungen zwischen einzelnen Staaten regeln, oft ohne weiteres greifbar und als im Gegenüber getätigte Praxis per se auch aussagekräftig ist, ist dies bei Konventionen wie der Flüchtlingskonvention nicht in gleicher Weise evident. Läßt sich solchen verschiedenen Sachstrukturen nach den Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskonvention Rechnung tragen? a) Gemäß Art. 31 Abs. 2 Nr. 3b WVK ist für die Auslegung "jede spätere Übung der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht" zu berücksichtigen. Zunächst ist insoweit der Gegenstand der "späteren Übung" näher zu fassen. In der Literatur wird er definiert als "Brauch, Übung oder herrschender Standpunkt ... , der in Akten, Entscheidungen und Äußerungen zu einem bestimmten Vertrag zutage trat,,55. Im Rahmen der Flüchtlingskonvention ist damit - was die praktischen Probleme des Flüchtlingsbegriffs und des Abschiebungsschutzes angeht - vor allem die Anerkennungspraxis der verschiedenen Staaten erheblich. Daß es sich insoweit regelmäßig nur um innerstaatliche Entscheidungen handelt, steht dem nicht entgegen. Die mögliche völkerrechtliche Autorität auch nationaler Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen als spätere Übung ist nach dem Grundsatz des dectoublement fonctionel anerkannt 56 , und für das Flüchtlingsrecht entspricht eine solche nationale Entscheidungspraxis nur der Natur der Konventionsverpflichtungen. Maßgeblich kann insoweit allerdings nur eine Entscheidungspraxis sein, die sich als Umsetzung gerade der Konventionsverpflichtungen versteht. Eine spätere Übung muß "vertragsbezüglich" sein, um bei der Auslegung Berücksichtigung zu finden 57. Das heißt nicht, daß nur die Praxis solcher Staaten gewürdigt werden kann, die die Genfer Flüchtlingskonvention unmittelbar in innerstaatliches Recht umgesetzt haben. Auch eine durch eigene nationale Vorschriften gesteuerte Praxis ist erheblich, wenn sie als konkretisierende Ausforrnung und Umsetzung gerade der völkervertraglichen Verpflichtung verstanden wird bzw. sich hieraus ein bestimmtes Verständnis der Konventionsbestimmungen positiv ergibt. Jedoch können Gewährleistungen, die in einzelnen Staaten von der Konvention unabhängig und insbesondere über sie hinausgehend verbrieft werden, nicht herangezogen werden. Das deutsche Asylrecht oder die Asylverheißung in der Präambel der französischen Verfassung 58 sind ebensowenig wie deren Interpretationen durch die Ge-

par la convention de Vienne sur le droit des traites et les divers types de traites, ÖZÖR 24 (1973), S. 113, 124ff. 55 W Karl (Fn. 26), S. 112. 56 W Karl (Fn. 26), S. 175 f.; G. Scelle, Le phenomene juridique du dedoublement fonctionel, in: Festschrift für H. Wehberg 1956, S. 324ff.; A. Verdross/B. Simma (Fn. 47), S. 322. 57 Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 31 Abs. 2 Nr. 3b WVK; vgl. auch R. Bemhardt, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, 1963, S. 127 f.; W Karl (Fn. 26), S.118.

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richte eine für die Auslegung der Konvention heranziehbare spätere Übung 59 . Als erkennbar von der Konvention losgelöst fehlt auf solche Vorschriften gestützten Entscheidungen die Vertragsbezüglichkeit. b) Nach Art. 31 WVK reicht eine vertragsbezügliche Praxis allein noch nicht, um als Auslegungshilfe herangezogen werden zu können. Hinzu kommen muß, daß sie einen Konsens der Parteien erkennen läßt6o . aa) Vom Grundsatz muß es sich hierbei um die Übereinstimmung aller Parteien handeln. Im Vorentwurf zu Art. 31 WVK war dies ausdrücklich gefordert. Die entsprechende Formulierung ("understanding of all the parties") wurde zwar nicht in die endgültige Fassung übernommen. Jedoch sollte damit das Erfordernis einer allgemeinen Übereinstimmung, das auch von der früheren, von der Kommission in bezug genommenen Rechtsprechung vorausgesetzt wurde61 , im Grundsatz nicht angetastet werden 62 . Der Kommentar macht damit allerdings zugleich deutlich, daß das praktisch erhebliche Problem weniger in der Allseitigkeit als vielmehr in der Frage liegt, was Übereinstimmung heißt. Wie schon aus der Stellungnahme der Law Commission ersichtlich, erfordert diese sicherlich nicht eine von allen Parteien gleichermaßen geübte Praxis, also eine gemeinsame aktive Übung 63 . Ebensowenig ist eine ausdrückliche Übereinkunft oder auch nur ein positiv getätigter Zustimmungsakt der Parteien zu einer bestimmten Praxis notwendig. Hinreichend ist vielmehr, daß die Übereinstimmung aus der späteren Praxis konkludent ,,hervorgeht". Es reicht in so58 Vgl. die Entscheidung des französischen Conseil Constitutionel, der diese Vorschrift als spezielle, von der Flüchtlingskonvention unabhängige Entscheidung interpretiert (CC EuGRZ 1993, S. 508, 510). 59 Die diesbezügliche methodische Ungenauigkeit - Entscheidungen zum deutschen Asylrecht werden durchgehend als Beleg für die Interpretation der Flüchtlingskonvention herangezogen - entwertet die vielfach als Standardwerk angesehen Arbeiten von A. Grahl-Madsen, The Statut of Refugees in International Law, 1966, erheblich. 60 Allg. Meinung, vgl. nur ].-P. Cot, La conduite subsequente des parties a un traite, RGDIP 70 (1966), S. 632, 638 ff.; W. Karl (Fn. 26), S. 188 ff.; M. K. Yasseen, L'interpretation des traites d'apres la convention de Vienne sur le droit des traites, RdC 151 (1976), III, S. 1, 48. 61 Zu dieser Rechtsprechung vgl. R. Bemhardt (Fn. 57), S. 126ff.; M. S. McDougal/H.D. Lasswell/ ].e. Miller; The Interpretation of Agreements and World Public Order, New Haven/London 1967, S. 135ff.; Ch. de Visscher(Fn. 50), S. 122ff. 62 Vgl. den Kommentar der International Law Commission, YILC 1966, Bd. 2, S. 222: "By omitting the word 'all' the Commission did not intend to change the rule. It considered that the phrase 'the understanding of the parties' necessarily means 'the parties as a whole'. It omitted the word 'all' merely to avoid an)' possible misconception that every party must individually have engaged in the practice where it suffices that it should have accepted the practice"; siehe auch M.K. Yasseen (Fn. 60), RdC 151 (1976),111, S. 1, 48 f.; W. Karl (Fn. 26), S. 189 f. 63 Wenn eine solche vorliegt, ist sie für die Auslegung selbstverständlich immer maßgeblich.

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fern die schlichte Billigung einer gewissen Anwendungspraxis durch die anderen Parteien. bb) Nach dem Grundsatz "qui tacet consentire videtur" kann unter Umständen auch ein widerspruchsloses Gewährenlassen als Billigung gelten64 . Insoweit knüpft die Auslegung im Ergebnis oft einfachhin schon an dem objektiven Faktum einer Praxis selbst an. Allerdings kann deshalb nicht jedes Gewährenlassen als Übereinstimmung aufgefaßt werden65 . Eine "Übereinstimmung" i.S. von Art. 31 Abs. 3 Nr. 3b WVK erfordert vielmehr, daß das widerspruchslose Geschehenlassen als Ausdruck von Zustimmung der schweigenden Partei auch zurechenbar ist. Die Zurechenbarkeit schlichten Gewährenlassens richtet sich dabei nach der völkerrechtlichen Lehre des "Acquiescement,,66 und ihrem Korrelat, den Grundsätzen zur Obliegenheit der Staaten zu rechtswahrender Protesterhebung67 . Von hier ausgehend lassen sich die Kriterien für die Erheblichkeit späterer Übung nun näher umschreiben 68 . (1) Zum einen muß eine Praxis, die als von Übereinstimmung getragen in Betracht kommt, den Vertragspartnern überhaupt zur Kenntnis gekommen sein69 . Hierfür bedarf es zwar nicht des Nachweisens eines positiven Wissens. Es reicht vielmehr, daß sie "dem aquieszierenden Staat zumindest nicht hätte entgehen können, wenn er seine Angelegenheiten mit der erforderlichen Sorgfalt versehen hätte,,7o. Jedoch zumindest ein solches "constructive knowledge" ist unerläßlich 71. Bei Verträgen, die Staaten zur innerstaatlichen Umsetzung humanitärer Standards verpflichten scheidet schon damit ein erheblicher Teil des praktischen Umgangs 64 Vgl. nur T.O. Elias, The modem Law of Treaties, Leyden 1974, S. 76f.; H. F. Köck (Fn. 21), S. 43; J. P. Müller, Vertrauensschutz im Völkerrecht, 1971, S. 132 f. und 171 ff. 65 Zur Frage des subjektiven bzw. objektiven Charakters dieses Auslegungskriteriums vgl. W. Lang (Fn. 54), ÖZÖR 1973, S. 113, 162ff. und 170f.; W. Karl (Fn. 26), S. 184ff, 188; M. K. Yasseen (Fn. 60), RdC 151 (1976), III, S. 1, 47f. 66 Vgl.l.c. McGibbon, The Scope of Aquiescence in International Law, BYIL 31 (1954), S. 143ff.; J. Barale, L'acquiescement dans lajurisprudence internationale, AFDI 11 (1965), S. 389 ff.; W. Karl (Fn. 26), S. 276ff; J.B. Müller (Fn. 64), S. 132 f. 67 Vgl. hierzu I. C. McGibbon, Some Observations on the Part of Protest in International Law, BYIL 30 (1953), S. 293ff.; J. L. Kunz, Artikel: Protest, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer (Hg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, 1961, S. 8IOff.; bereits das Rechtssprichwort lautet vollständig "Qui tacet consentire videtur si loqui debuisset ac potuisset". 68 Da die Grundsätze des Aquiescement nicht nur für Rechtsgeschäfte gelten (vgl. I. C. McGibbon [Fn. 66], S. 146 f.; W. Karl [Fn. 26], , S. 277 ff.), kommt es auf die Frage, ob "Übereinstimmung" LS. von Art. 31 Abs. 3 Nr. 3b WVK eine rechtsgeschäftliche Übereinstimmung meint, an dieser Stelle nicht an. Vgl. dazu R. Bemhardt (Fn. 52), ZaöRV 27 (1967), S. 491, 499; W. Karl (Fn. 26), S. 190ff.; A. Rest, Interpretation von Rechtsbegriffen in internationalen Verträgen, 1971, S. 147 f. 69 J. Barale (Fn. 66), AFDI 11 (1965), S. 389,401 ff.; W. Karl (Fn. 26), S. 279. 70 W. Karl (Fn. 26), S. 279. 71 J. Barale (Fn. 66), AFDI 11 (1965), S. 389,401 ff.; G. Fitzmaurice, The Law and Procedure of the International Court of Justice, 1951-54: General Principles and Sources of Law, BYlL 30 (1953), S. 1, 33ff; W. Karl (Fn. 26), S. 279.

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mit den vereinbarten Bestimmungen als irrelevant aus. Anders als bei zwischenstaatlichen Verpflichtungen im Sinne des klassischen Völkerrechts, die ein unmittelbares Eigeninteresse der beteiligten Vertrags staaten betreffen und deren Umsetzung dann naturgemäß auch in die Wahrnehmbarkeit der anderen Parteien fällt, dringen hier die innerstaatlichen Maßnahmen nämlich oft nicht nach außen72 • Unerheblich sind dementsprechend Entscheidungen, die - wie im Flüchtlingsrecht häufig - weder öffentlich getroffen noch sonst publiziert werden bzw. denen Sachverhalt und Begründung fehlen 73. Nicht anders aber ist es auch, wenn Entscheidungen zwar in formell öffentlichen innerstaatlichen Verfahren gefällt werden, sie aber nicht oder nur in untergeordneten nationalen Publikationsorganen veröffentlicht werden, so daß sie auch einer interessierten internationalen Öffentlichkeit praktisch unzugänglich sind. Es gehört insoweit nicht zu der erforderlichen Sorgfalt der Signatarstaaten, in allen Konventionsstaaten die intern ablaufenden Entscheidungsprozesse zu recherchieren und diese, auch wenn sie abseits der politischen Diskussion stehen, zu verfolgen. Bezogen auf die Flüchtlingskonvention wird die Arbeit des Flüchtlingskommissars zwar in gewißem Rahmen auch zu einer stärkeren internationalen Transparenz der Vertragspraxis führen 74 . Dennoch kann auch insofern eine umfassende Kenntnis der Konventionsstaaten über die ausländische Verwaltungspraxis nicht vorausgesetzt werden. Schon von daher bleibt das als bekannt und gebilligt anzuerkennende und damit auch bei der Interpretation zu berücksichtigende Material im Ergebnis begrenzt. (2) Zum anderen läßt sich eine bestimmte Praxis anderen Vertragsparteien nur vorhalten, wenn von diesen bei gegenteiliger Auffassung eine aktive Reaktion zu erwarten wäre. Nur wenn angesichts der Interessenlage der stillschweigende Partei Protest die natürliche Reaktion gewesen wäre, kann in dessen Fehlen, also in dem Gewährenlassen, ein Ausdruck der Zustimmung gesehen werden 75. Auch hier bringen sich Besonderheiten allgemeiner Kodifikationen wie der Flüchtlingskonvention zur Geltung. In solchen Verträgen regeln Staaten nicht ihr substantiell eigenes Interesse. Sie verabreden vielmehr - geleitet von insbesondere humanitären Zielsetzungen - ein bestimmtes innerstaatliches Verhalten 76. Damit aber berührt auch 72 Zur diesbezüglichen Unterscheidung verschiedener Vertragsstrukturen vgl. B. Simma, Das Reziprozitätselement im Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge, 1972, S. 73 ff. und 161 ff. 73 Die Begründung kann sich freilich auch aus politischen Erklärungen ergeben, wenn diese als rechtliche Erläuterung bestimmter flüchtlingsrechtlicher Maßnahmen abgegeben werden. 74 Zu der Bedeutung des UNHCR für die Auslegung der Flüchtlingskonvention vgl. unten

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75 W. Karl (Fn. 26), S. 279; l. C. McGibbon (Fn. 66), BYIL 31 (1954), S. 143, 171 und 182; J. B. Müller (Fn. 64), S. 39. 76 Häufig laufen in solchen Verträgen auch verschiedene Interessenlagen - sowohl eigenstaatliche als auch humanitäre - ineinander. Dies ist gerade auch bei der Flüchtlingskonvention sichtbar. Zumindest in ihrer ursprünglichen Fassung von 1951 hatte sie auch eine ordnungsstiftende Funktion bei der internationalen Bewältigung des damaligen F1üchtlingspro-

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die Nicht- oder Schlechterfüllung des Vertrages Eigeninteressen der anderen Vertragspartner nur in abgeschwächter Weise. Dies ist Folge der grundverschiedenen Reziprozitätsstrukturen solcher Verträge gegenüber klassischen zwischenstaatlichen Verträgen77 . Indem ihnen die reziproke Einräumung materieller Vorteile fehlt, fehlt ihnen auch die funktional soziologische Konsequenz dieses Elements, die allseitige Interdepenz der Leistungen78. Die Signatarstaaten haben zwar ein generelles Interesse an der Beachtung der Konvention. Auf die Erfüllung im einzelnen, die weder die eigenen Staatsangehörigen noch staatliche Eigeninteressen berührt, erstreckt sich dieses jedoch nicht. Dementsprechend liegt die Protestschwelle gegenüber vertragsuntreuem Verhalten hier höher. Die Völkerrechtsgemeinschaft erwartet nicht, daß gegen jede mißbilligte Vertragspraxis Protest zu erheben ist, wenn Vertragsbestimmungen später mit der Behauptung des Rechts noch eine andere Bedeutung beigelegt werden können soll. Eine generelle Obliegenheit zur Aufsicht über die exakte Umsetzung der humanitären Vereinbarungen in der Welt trifft die Parteien solcher Konventionen nicht79 • Für die großen humanitären Konventionen und auch für die Flüchtlingskonvention hat vielmehr jede Partei die Umsetzung zunächst selbst zu verantworten 80 . Sie vollzieht sich als innerstaatliche Praxis nicht im Gegenüber, sondern im Nebeneinander. Eine Hinnahme einer bestimmten Vertragspraxis anderer Staaten kann dementsprechend nicht grundsätzlich als Zustimmung interpretiert werden. Erst recht gilt das, wenn andere Staaten zwar nicht nach außen Protest erheben, aber die Vertragsverpflichtungen selbst aufgrund eines unterschiedlichen Rechtsstandpunkts anders umsetzen. Von "Übereinstimmung" im Sinne der Vertragsrechtskonvention kann dann regelmäßig nicht die Rede sein. Allerdings läßt sich eine Obliegenheit zu Protestreaktionen gegenüber einer für falsch erachteten Vertragspraxis auch nicht generell verneinen. Verdichtet sich die blems. Diese Zielrichtung ist im Laufe der Zeit, insbesondere durch das Zusatzprotokoll von 1967, gegenüber der humanitären Intention weiter zurückgetreten. Auf solche Abgrenzungen kommt es in vorliegendem Zusammenhang jedoch nicht an. Es wird vorliegend nicht behauptet, für bestimmte Vertragstypen - die dann genau zu definieren wären - gebe es verschiedene Auslegungsregeln. Vielmehr geht es darum, die allgemein geltenden Auslegungsregeln in ihren verschiedenen Konsequenzen für die Praxis näher zu fassen. Daß es hierbei wie bei den verschiedenen Interessenlagen und Vertragstypen zahlreiche Zwischentöne gibt, versteht sich von selbst. 77 Vgl. hierzu grundlegend B. Simma (Fn. 72), S. 194ff. 78 B. Simma, ebd., S. 205. 79 Oft wird sogar umgekehrt Kritik an der innerstaatlichen Umsetzung solcher Vereinbarungen schon grundSätzlich als unfreundlicher Akt angesehen - und zwar selbst, wenn dabei von speziell vorgesehenen Mitteln wie einer Staatenbeschwerde Gebrauch gemacht wird, vgl. B. Simma (Fn. 72), S. 201 m.w.N. 80 Das bedeutet nicht, daß die Umsetzung als ausschließlich innere Angelegenheit der Vertragsstaaten angesehen werden kann. Die vertragliche Bindung hebt diese Angelegenheiten insoweit aus dem rein internen Bereich heraus; vgl. nur B. Simma (Fn. 72), S. 201. Zur Eigenverantwortlichkeit der Staaten näher auch unten c).

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Vertragspraxis auf einheitliche Linien oder erreicht sie besondere öffentliche Brisanz, dann läßt das Interesse an einer generellen Beachtung der Vereinbarungen auch bei allgemeinen multilateralen Konventionen eine Reaktion erwarten. Angesichts etwa eines sich herausbildenden gemeinsamen Verständnisses bestimmter Vorschriften kann insoweit zur Wahrung eines widersprechenden eigenen Rechtsstandpunkts ein nach außen gerichteter Akt des Protests erforderlich sein. Folglich kann in Fällen, in denen sich mit breiter Zustimmung und gewisser Dauer eine gewisse Praxis in der Mehrheit der Staaten etabliert, mit dem bloßen Verweis auf vereinzelte andersgeartete Anwendungsbeispiele die Indizwirkung nicht mehr bestritten werden. Entsprechendes gilt auch gegenüber Erklärungen und Maßnahmen, welche ostentativ vor der Weltöffentlichkeit ausgebreitet und quasi an sie gerichtet werden bzw. sonst politische Brisanz auf internationaler Ebene erhalten haben. Je nach Einzelfall kann hier Protest geboten sein. Bleibt er aus, liegt darin ein Gewährenlassen, das auch einzelnen und einseitigen Maßnahmen die Anerkennung späterer Vertragspraxis als Ausdruck allgemeiner Übereinstimmung der Parteien verschafft 81 . c) Liegen die Voraussetzungen für die Heranziehung einer bestimmten späteren Praxis nicht vor, kann sie als Auslegungsgesichtspunkt nicht verwendet werden, d. h. sie kann auch nicht in der Weise gewürdigt werden, daß sie im Zweifel als vertragsmäßig zu gelten hätte. Die je eigene Verantwortung der Staaten für die Umsetzung allgemeiner Gesetzesverträge82 bedeutet insofern nicht eine inhaltliche Relativierung der Vereinbarungen. Sie läßt den eigenständigen Anspruch der Vertragsvorschriften vielmehr unberührt. Ihre Interpretation ist von den einzelnen Staaten sachlich eigenständig nach den sonstigen (völkerrechtlichen) Auslegungs81 Dem Art. 31 Abs. 2 Nr. 3b WVK liegt als Begründung der späteren Übung die Herrschaft der Parteien über die von ihnen geschlossenen Verträge zugrunde. In der Literatur wurde - namentlich von W. Karl - neben diese "subjektive" Begründung eine weitere, "objektive" gestellt (w. Karl [Fn. 26], S. 164 ff.). Die spätere Übung sei als "faktische Ordnung von beträchtlicher sozialer Relevanz" (ebd., S. 165) ein als solcher zu respektierender Wert, sie würde auch als Präjudiz wahrgenommen, und eine Anknüpfung an sie sichere eine dem Gleichheitsprinzip entsprechende gleichförmige Anwendung. Jedenfalls subsidiär - im Rahmen der Vertragsrechtskonvention dann gemäß Art. 32 als "ergänzendes Auslegungsmitte\" (ebd., S. 194 f.; vgl. auch M. K. Yasseen [Fn. 60], RdC 151 [1976],111, S. 1,52) - sei insoweit auch eine Praxis zu berücksichtigen, die sich nicht aus der Vertragshoheit der Parteien herleiten ließe. Ob in diesem Sinne die reine Faktizität späterer Vertragspraxis tatsächlich unabhängig von den in der Vertragsrechtskonvention umschriebenen Bedingungen ergänzend herangezogen werden kann, ist jedenfalls zweifelhaft. Die von W. Karl hierfür aufgezeigten Belege weisen allenfalls die tatsächliche Bedeutsamkeit solcher faktischen Vertragspraxis auf, nicht aber ihre normative Anerkennung im Völkerrecht - schon gar nicht für die Zeit nach Verabschiedung der Wiener Vertragsrechtskonvention. Letztlich kann dies in hiesigem Zusammenhang dahinstehen. Denn jedenfalls für die Flüchtlingskonvention ergäbe sich auch bei einer solchen Ausdehnung des Begriffs der späteren Übung im Ergebnis keine Weiterung. Auch W. Kar! setzt eine als objektive Ordnung greifbare und im wesentlichen auch einheitliche Praxis voraus (ebd., S. 165ff., 170ff. und 177ff.; ebenso die von W. Karl angeführten Entscheidungen, die im übrigen alle aus der Zeit vor der Vertragsrechtskonvention stammen). 82 Vgl. nur S. Sur, L'interpretation en droit international public, Paris 1974, S. \08 ff.

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regeln vorzunehmen. Sehen sich dabei verschiedene Staaten durch dieselbe Vorschrift verschieden weit gebunden, können nicht alle Interpretationen als vertragsmäßig gelten, mit der Folge, daß letztlich nur das schwächste Glied tatsächlich als maßgeblich angesehen werden kann. Vielmehr bleibt der "wirkliche" Inhalt des Vertrags bei einer divergierenden Praxis in der Schwebe. Anders liegt es allerdings, wenn vertragliche Bestimmungen eine frei zu handhabende Konkretisierungsbefugnis einräumen. Gerade in Gesetzesverträgen wird den Vertragspartnern für die Art der Umsetzung oft ein weiter Spielraum belassen. Dies ist jedoch eine Frage des konkreten Vertragsinhalts und muß im Einzelfall geprüft werden. Nicht jede divergierende Vertragspraxis ist durch eine Konkretisierungsbefugnis gedeckt. Wollen Vertragsbestimmungen - etwa indem sie Mindeststandards umschreiben oder eine Vereinheitlichung anstreben - bestimmte Fragen abschließend klären, so kann deren divergierende Interpretation durch verschiedene Staaten nicht als vertragsrechtlich unbedenklicher Ausdruck eines Interpretationsspielraums gedeutet werden 83 . Insbesondere wenn die Staaten selbst die verschieden interpretierten Bestimmungen als bindend auffassen 84 , läßt sich die Vertragsmäßigkeit der verschiedenen Auslegung nicht pauschal vermuten 85 . Der Inhalt der vertraglichen Verpflichtungen bleibt hinsichtlich der späteren Übung dann eben offen und ist aufgrund anderer Auslegungsmittel zu bestimmen 86 . d) Zusarnrnenfassend ist festzuhalten, daß bei der Interpretation der Genfer Flüchtlingskonvention auf eine Einbeziehung der internationalen Praxis, insbesondere der Anerkennungs- und Abschiebungspraxis, nicht verzichtet werden kann. Signifikante Bedeutung kommt solcher Praxis jedoch nur dann zu, wenn sich insoweit eine allgemein gebilligte Rechtspraxis nachweisen läßt, wobei eine - grundsätzlich mögliche - stillschweigende Billigung nicht schon in jeder Hinnahme anderer Umsetzungspraxis liegt und ohnehin nur gegenüber einer solchen Praxis in Betracht kommt, die aus international zugänglichen Quellen ohne extensive Recherchen zugänglich sind. Sind die Auslegungsergebnisse der Staatenpraxis verschieden oder bleiben bestimmte Handhabungen vereinzelt, ergibt sich aus der Praxis für die Auslegung nichts. Der fehlende Protest anderer Staaten läßt sich hier 83 Vgl. nachdrücklich l. Seidl-Hohenveldem, Internationale Präjudizentscheidungen zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge, Internationale Festschrift für A. Verdross, 1971, S. 479ff. m.w.N. 84 Insoweit verweist freilich auch die Frage, ob hinsichtlich einer Bestimmung eine Konkretisierungsbefugnis besteht, auf die spätere Übung als Auslegungsmiuel zurück. 85 Unzutreffend folglich St. Richter, (Selbstgeschaffene Nachfluchtgründe [... ], ZaöRV 1991, S. I, 27), nach dessen Ansicht von vornherein nicht angenommen werden könne, daß eine Interpretation der Flüchtlingskonvention durch die Schweiz (in concreto: bezüglich der selbstgeschaffenen Nachfluchtgründe) falsch sei. 86 Bezogen auf die Genfer Flüchtlingskonvention sollte vertraglich abschließend bestimmt werden, wer als Flüchtling anzusehen ist (vgl. nur St. Richter [85], ZaöRV 1991, S. I, 30f.). Eine Konkretisierungsbefugnis und weite Spielräume verbleiben hingegen den Staaten für die Einrichtung des Verfahrens und für die bei der Beurteilung erforderlichen Gefahrenprognosen.

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regelmäßig nicht als Zustimmung interpretieren. Eine Vennutung, daß im Zweifel jede innerstaatliche Umsetzung der Konvention entspricht, besteht nicht. Die Auslegungsfrage kann insofern lediglich als nicht abschließend geklärt angesehen werden. Der Vertragsinhalt bleibt folglich unentschieden und unterliegt der Auslegung durch die einzelnen Staaten, in Deutschland durch die Gerichte. Damit ist die praktische Bedeutung der späteren Übung für die Auslegung der Flüchtlingskonvention sehr begrenzt. Sie verwehrt den Staaten plötzlich mit überraschenden Rechtsbehauptungen in einen allgemeinen Konsens einzubrechen und mit Hilfe von eigenwilligen Vertragsauslegungen völlig neue Wege zu beschreiten. Als Interpretationshilfe für die Klärung der zahlreichen Einze1fragen im Umgang mit der Konvention wird die Vertragspraxis jedoch oftmals unergiebig bleiben. Dies entspricht aber letztlich nur dem Charakter der Konvention. Ebensowenig wie der Inhalt der großen humanitären Konventionen - sei es der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, sei es die Europäische Menschenrechtskonvention 87 - läßt sich auch der Inhalt der Flüchtlingskonvention nach der Umsetzung durch ihr schwächstes Glied bemessen. Solche Konventionen 88 setzen vielmehr, in dem sie über die befriedende Ordnung des äußerlichen Miteinanders von Staaten hinauszielen, auf grundsätzlichen Überzeugungen beruhende, in sich stehende Ansprüche an alle Mitgliedstaaten. Durch die internationale Vielfältigkeit ihrer Auslegung und auch durch Umsetzungsdefizite werden diese nicht ohne weiteres zurückgenommen. Ihre Interpretation liegt zwar weitgehend in innerstaatlicher Hand, jedoch läßt dies ihren rechtlichen Anspruch unberührt. Sie bleiben stets eine Herausforderung 89 . 4. Schwierigkeiten wirft im Völkerrecht auch die Heranziehung der travaux preparatoires auf, der Rückgriff auf Vorarbeiten und Materialien eines Vertrages. Anders und grundsätzlicher als im innerstaatlichen Recht schlägt dieser Auslegungsmethode hier für bestimmte Vertragstypen verbreitet schon prinzipielle Skepsis entgegen90 • Gefürchtet wird, daß der Rückgriff auf die travaux preparatoires als Vorwand benutzt werden kann, um vertragliche Abmachungen in ihrem Kompromißcharakter zu unterlaufen und durch in den Verhandlungen angedeutete einseiti87 Hier besteht freilich die Besonderheit, daß die Auslegung maßgeblich durch den EGMR geprägt wird. 88 Daß die Menschenrechtskonventionen und die Flüchtlingskonvention in der Unabdingbarkeit ihrer Forderungen geschichtlich betrachtet nur begrenzt miteinander vergleichbar sind (vgl. auch oben Fn. 76), bleibt trotz dieser Parallelisierung unberührt. 89 In der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegt insofern auch ein spezifisches Problem solcher Konventionen; vgl. nur B. Simma (Fn. 72), S. 161 ff., 194ff. Vor einer übermäßigen Festlegung heerer Prinzipien, die in der Staatenpraxis de facto dann aber unter den politischen Umständen nicht erfüllbar sind, kann, um solche Konventionen nicht insgesamt zu entwerten, nur gewarnt werden. 90 A. P. Fachiri, Interpretation of Treaties, AJIL 23 (1929), S. 745 ff.; P. Guggenheim (Fn. 18), S. 125f.; eh. Rousseau, Droit international public, Bd. I, Paris 1970, S. 294f.; vgl. auch die Diskussionen der International Law Commission, YILC 1966, Bd. 2, S. 57 ff.

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ge Standpunkte zu konterkarieren. Da Verhandlungen auf internationaler Ebene oft nur unvollständig dokumentiert und von diplomatischen Rücksichtnahmen geprägt seien, seien diese als Auslegungshilfe ungeeignet. Auch würden völkerrechtliche Entwicklungen durch ein Festhalten an den ursprünglichen Parteivorstellungen unangemessen behindert. In grundsätzlichster Weise läßt sich die Diskussion insoweit schließlich auf den Gegensatz zwischen der objektiven und subjektiven Schule bzw. zwischen Naturrechtlern und Willenstheoretikern 91 und damit den Umgang mit dem völkerrechtlichen Problem der fehlenden Rechtssetzungsinstanz zurückführen 92 : Je mehr man das Völkerrecht als eine von staatlichen Willensakten unabhängige Ordnung versteht, desto skeptischer steht man - jedenfalls bei allgemeinen Kodifikationen - einer Berücksichtigung der Materialien und damit des ursprünglichen Vertragswillens der Parteien gegenüber, je deutlicher hingegen man die Völkerrechtsordnung in dem Willen souveräner Staaten gegründet sieht, desto weniger wird die Heranziehung der travaux preparatoires auf grundsätzliche Bedenken, die über die Frage der praktischen Aussagekraft im Einzelfall hinausgingen, stoßen. Unter diese Diskussion konnte und wollte auch die Wiener Vertragsrechtskonvention keinen Schlußstrich setzen. Dementsprechend formuliert sie im wesentlichen nur das, was als breiter Konsens aus völkerrechtlichen Grundsätzen herausdestilliert werden konnte 93 , und bietet im übrigen einen elastischen Rahmen, der eine je nach Einzelfall differenzierte Handhabung und auch eine Fortentwicklung der Diskussion erlaubt. In Art. 32 WVK heißt es insoweit: " ... die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses können herangezogen werden, um die sich unter Anwendung des Art. 31 ergebende Bedeutung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Auslegung nach Art. 31: a) die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel läßt oder b) zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt." a) Damit ist zum einen klargestellt, daß die travaux preparatoires dem Grundsatz nach bei allen Vertragstypen berücksichtigt werden können und nicht schon von vornherein für bestimmte Verträge als unerheblich auszublenden sind94 . Zu Recht hat damit der Versuch, für multilaterale Verträge oder "traites lois" die Heranziehung der Vorarbeiten generell zu verbieten 95 , keine Gefolgschaft gefunden. Auch sie verdanken Inhalt und Geltungskraft der sie ins Leben rufenden Vereinbarung und lassen sich von dem insoweit gemeinsam Gewollten nicht ablösen. Insofern Vgl. hierzu nur G. Dahml J. Delbrückl R. Wolfrum (Fn. 16), S. 34 ff. Vgl. W. Lang (Fn. 54), ÖZÖR 1973, S. 113, 127. 93 Zur Entstehung von Art. 32 WVK vgl. H. Neuhold, Die Wiener Vertragsrechtskonvention 1969, AVR 15 (1970171), S. I, 27ff.; E. S. Yambrusic, Treaty Interpretation, Lanhaml New York u.a. 1987, S. 169ff. 94 Vgl. auch Art. 5 WVK und YILC 1966, Bd. 2, S. 57ff.; vgl. hierzu eingehend W. Lang (Fn. 54), ÖZÖR 1973, S. 113, 117ff. und 121 ff. 95 Vgl. die Nachweise Fn. 90; hierzu auch W. Lang (Fn. 54), S. 124ff. 91

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aber enspricht es nur der Natur eines Vertrages, bei Auslegungsproblemen auch auf die das Gewollte verdeutlichenden Verhandlungen und Vorarbeiten zurückzugreifen 96 • Dies war auch vor Abschluß der Wiener Vertragsrechtskonvention herrschende Lehre 97 . Die hiergegen gelegentlich angeführten Ausführungen des Ständigen Internationalen Gerichtshofs von 1927 und 192998 waren nie als allgemeiner Völkerrechtsgrundsatz generalisierbar und haben einen prinzipiellen Ausschluß der travaux prt!paratoires für die Auslegung bestimmter Vertragstypen nicht begründet99 . Insofern gilt auch für die Flüchtlingskonvention, daß die Heranziehung der travaux preparatoires nicht schon aus grundsätzlichen Erwägungen ausgeschlossen ist: Weder die Tatsache, daß es sich bei ihr um einen multilateralen Vertrag handelt, noch auch, daß man in ihr einen "traite loi" sehen kann, zwingt dazu, die Vorarbeiten zur Konvention zu ignorieren. Mit der grundsätzlichen Anwendbarkeit des Art. 32 WVK auf alle Verträge ist freilich nicht gesagt, daß die Materialien in jedem Fall als (ohnehin nur subsidiäreslOO) Auslegungsmittel herangezogen werden können. Gerade bei multilateralen Verträgen, die jedem Staat zum Beitritt offenstehen, können im Einzelfall Umstände gegeben sein, die einen Rückgriff auf die travaux preparatoires ausschließen. Das ist allerdings nicht schon immer dann der Fall, wenn einem Abkommen später Staaten beitreten, die selbst nicht an den Vertrags verhandlungen teilgenommen haben lOl . Auf diese Weise würde man die grundsätzlich gewollte Anwendbarkeit des Art. 32 WVK auch auf die sogenannten "traites lois" im Ergebnis umdrehen. Auch sachlich wäre das nicht gerechtfertigt. Wenn ein Staat einem Abkommen beitritt, schließt er sich dem an, was unter den bisherigen Parteien vereinbart wurde. Vor einem Beitritt ist er deshalb gehalten, sich über den Inhalt und Kontext dieses Vertrages zu vergewissern. Dazu gehört grundsätzlich auch, daß er die Entstehungsgeschichte des betreffenden Vertrages und die hierzu vorliegenden Materialien zur Kenntnis nimmt. Entsprechend muß er sich dann auch für die Auslegung an dem 96 Vgl. M. K. Yasseen (Fn. 60), RdC 151 (1976), III, S. 1, 85: "En tout etat de cause, admettre ce recours dans une certaine mesure, c'est en quelque sorte obeir a la nature des choses. Lorsque le texte aappliquer presente une certaine obscurite, I'interprete, juge ou arbitre, retourne instinctivement, pour ainsi dire, aux travaux preparatoires. Qu' on le veuille ou non, c'est un moyen dont il est fait necessairement usage pour interpreter le traite ( ... ) vu la nature meme du traite, acte de volonte, et la necessite, dans I'interet des parties, d'en connaitre le sens exact." 97 Vgl. R. Bemhardt (Fn. 57), S. 120; H. Lauterpacht, The Development of International Law by the International Court, London 1958, S. 136 f.; eh. de Visscher (Fn. 50), S. 120. 98 CPJI 1927, Serie B, Nr. 14, S. 32 - Europäische Donaukommission -; CPJI 1929, Serie A Nr. 23, S. 42 - Oderkommission -. 99 Vgl. R. Bemhardt (Fn. 57), S. 117; Sh. Rosenne, Travaux preparatoires, ICLQ 12 (1963), S. 1378, 1380 ff.; vgl. zur internationalen Rechtsprechung auch Lord McNair (Fn. 50), S. 411 ff.; M.M. Whiteman (Fn. 50), S. 386 ff. 100 Dazu sogleich b). 101 So aber R. Bemhardt (Fn. 57), S. 120; vgl. weiter auch die allgemein den travaux preparatoires gegenüber kritischen Autoren (Fn. 90).

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Sinnzusammenhang des Vertrages, wie er insbesondere in Vorarbeiten zum Ausdruck kommt, festhalten lassen. Anders freilich ist es, wenn die Vorarbeiten gegenüber beitretenden Staaten unter Verschluß gehalten wurden. Dann kommt ein Rückgriff auf die travaux preparatoires nicht Betracht lO2 • Die flüchtlingskonvention trifft ein solcher Vorbehalt jedoch nicht. Ihre Verhandlungen waren allen beitrittsinteressierten Staaten als Dokumente der Vereinten Nationen stets zugänglich. Sie können folglich für die Interpretation der Konventionsvorschriften herangezogen werden. Der Literatur zur Flüchtlingskonvention, sofern sie ohne Bedenken auf die Vorarbeiten zurückgreift lO3 , ist insoweit nichts entgegenzuhalten. b) Ist Art. 32 WVK in seiner Erstreckung auf grundsätzlich alle Vertragstypen weit, enthält er sachlich jedoch eine erhebliche Einschränkung: Der Rückgriff auf die travaux pn!paratoires ist subsidiär. Er ist nur zulässig, wenn eine Auslegung gemäß Art. 31 WVK den Vertrag mehrdeutig oder offensichtlich sinnwidrig erscheinen läßt. Diese Subsidiarität ist ernst zu nehmen 104. Ergeben sich aus dem Wortlaut klare Aussagen, können sie nicht unter Berufung auf die Entstehungsgeschichte entkräftet werden. Gerade bei Verträgen im internationalen Bereich, deren Verhandlungen oft von unausgesprochenen Interessen und Rücksichtnahmen begleitet sind, muß sich jede Partei auf deutliche Formulierungen verlassen können, ohne widersprüchlichen Erklärungen anderer Vertragspartner entgegentreten zu müssen. Konsequenz der Subsidiarität ist auch, daß die anderen in Art. 31 WVK genannten Auslegungsmittel, insbesondere auch die spätere Praxis, der Berücksichtigung der travaux pn!paratoires vorgehen. Den Vertragsparteien wird ermöglicht, ihren Verträgen eine gewisse Dynamik zu verleihen und so auf geänderte Verhältnisse elastisch zu reagieren. Während der Vertragsverhandlungen nicht vorgesehene Umstände oder gewandelte Verhältnisse sollen so auch ohne die Einleitung förmlicher Neuverhandlungen, die im internationalen Verkehr aufwendig und schwierig sind, in der Vertragspraxis Berücksichtigung finden können. Andererseits verlangt Art. 32 WVK nicht, daß Vertragsbestimmungen schlechthin unverständlich oder in sich widersprüchlich sein müßten, um den Rückgriff auf die Vorarbeiten zu eröffnen 105. Für ein solchermaßen striktes Verständnis ergibt sich aus dieser Vorschrift, die ihrem Wortlaut nach schlichthin Mehrdeutigkeit ausreichen läßt, nichts. Auch die International Law Commission legte ihr einen sol102 H. Lauterpacht (Fn. 97), S. 136f.; W. Wengier, Völkerrecht, Bd. I, 1964, S. 354; M.K. Yasseen (Fn. 60), RdC 151 (1976), III, S. I, 89f.; K. Ipsen/C. Gloria, Völkerrecht, 3. Auf). 1990, § 11 Rdnr. 18; A. Verdross/B. Simma (Fn. 47), S. 492 mit Fn. 8. 103 Zum Beispiel O. Kimminnich, Der internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, 1962, S. 296; St. Richter (Fn. 85), ZaöRV 1991, S. 1, 14ff.; ablehnend allerdings W. Kälin, Das Prinzip des non-refoulement, Bern/Frankfurt 1982, S. 109. 104 Zur Subsidiärität vgl. J. L. Brierly, The Law of Nations, 6. Auf). (hgg. von H. Waldock), Oxford 1978 , S. 325 f.; F. G. Jacobs (Fn. 50), ICLQ 18 (1969), S. 318, 325 ff. und 338 ff.; A. Rest (Fn. 68), S. 22 ff. 105 Zu eng etwa R. Bemhardt (Fn. 57), S. 120; H. Neuhold (Fn. 93), AVR 15 (1970/71), S. I, 27ff.

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chen Inhalt nicht bei. Ihr Anliegen war es sicherzustellen, daß der Wortlaut einer Bestimmung verbindlicher und maßgeblicher Ausgangspunkt der Auslegung ist und nicht der Wille der Vertragsparteien als solcher lO6 . Der Vertragstext soll nicht als bloßes Indiz für einen bestimmten Willen gelten, sondern als die für die Auslegung autoriative FestIegung selbst. Läßt der Vertragstext jedoch verschiedene Auslegungen zu und schaffen insoweit auch die AuslegungsmiUel des Art. 31 WVK keine Klarheit, so ist der Rückgriff auf die Materialien ohne weiteres zulässig 107 . Das Verhältnis der Auslegungsrniuel zueinander ist insoweit auch kein mechanistisches: Zur Bestätigung und inneren Erklärung gewonnener Ergebnisse erklärt die Konvention die Entstehungsgeschichte immer für heranziehbar. Auch nach Art. 32 WVK soll der Vertragstext nicht als geschichtliches Abstraktum gedeutet werden. Unzulässig ist nur, klare Ergebnisse durch die Berufung auf die vertraglichen Vorarbeiten in Frage zu stellen. Dieses Verbot ist strikt. Bei der Berücksichtigung von vertraglichen Vorarbeiten ist im Völkerrecht allerdings im Einzelfall Vorsicht geboten. Nicht jede Erklärung einer Partei kann als maßgebliche Interpretation der Vertragsziele, nicht jedes Schweigen als Zustimmung verstanden werden. Auch bei der Heranziehung der Materialien ist zu beachten, daß sie nur dann aussagekräftig sind, wenn sich aus ihnen ein gemeinsames Verständnis grundsätzlich aller Parteien ergibt lO8 • Insbesondere wenn an Verhandlungen viele Staaten mit verschiedenen Interessen beteiligt sind, ergeben sich hieraus erhebliche Hürden. Vertragsforrnulierungen sind hier nicht selten dilatorische Forrnelkomprornisse, die zu bestimmten Punkten gerade keinen gemeinsamen Willen verkörpern. Dann aber kann zur Auslegung einer solchen Bestimmung auch nicht auf die Erläuterung der einen oder anderen Partei zurückgegriffen werden. Die Entstehungsgeschichte bleibt insoweit aussagelos. Dies hindert aber aber auch bei breit angelegten Vertragswerken nicht, überhaupt auf die Vorarbeiten zurückzugreifen. Aus ihnen ergeben sich insbesondere durch Berücksichtigung der historischen Hintergründe oftmals gemeinsame Gewißheiten oder Zielsetzungen, die im Lauf der Zeit in Vergessenheit geraten sind, für den Gehalt der Vertragsbestimmungen aber aussagekräftig sein können. Gerade für die FlüchtIingskonvention wird dies noch viel zu wenig berücksichtigt 109.

YILC 1966, Bd. 2, S. 220. F. Berber (Fn. 54), S. 480f.; I. M. Sinclair, The Vienna Convention on the Law of Treaties, Manchester 1973, S. 71 ff.; M. K. Yasseen (Fn. 60), RdC 151 (1976), III, S. I, 84ff.; zu weitgehend hingegen l. Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, 7. Auf!. 1992, Rdnr. 333. 108 R. Bemhardt (Fn. 57), S. 120; J. Soubeyrol, L'interpretation internationale des traites et la consideration de I'intention de parties, JDI (Clunet), 1958, S. 687, 702; eh. de Visscher (Fn. 50), S. 15; M. K. Yasseen (Fn. 60), RdC 151 (1976), III, S. 1,85 f. 109 Die Materialien zur Entstehungsgeschichte sind mittlerweile in der Ausgabe von A. Takkenberg I Ch.C. Tahbaz (The collected travaux preparatoires of the 1951 Geneva Convention relating to the Status of Refugees, Amsterdam 1990) gut zugänglich. 106

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IV. Für die Flüchtlingskonvention stellt sich schließlich noch ein spezifisches flüchtlingsrechtliches Auslegungsproblem: Das Verhältnis der Genfer Flüchtlingskonvention zu den Statuten des Amts des Hohen Kommissariats der Vereinten Nationen für das Flüchtlingswesen (UNHCR). Hat sich die Auslegung der Flüchtlingskonvention auch an den Bestimmungen für den Flüchtlingskommissar zu orientieren? Kommt dem Flüchtlingskommissar die Kompetenz zu einer autoritativen Interpretation der Konvention zu? 1. a) Für eine Parallelität zwischen Schutzbereich der Konvention und Arbeitskreis des Flüchtlingskommissars gibt es zunächst erhebliche Anhaltspunkte. Immerhin nämlich verwendet das Statut des UNHCR vom 14. Dezember 1950 für die Abgrenzung seines Tätigkeitsbereichs eine Flüchtlingsdefinition, die mit Art. 1 A GFK annähernd wortgleich ist 110 . Beide Definitionen entstanden - ihrerseits zurückgehend bereits auf Definitionen der International Refugee Organisation (IRO)lIl - im wesentlichen parallel zueinander und wirkten im Rahmen der Vorarbeiten wechselseitig aufeinander ein 112 . Die schließlich zur endgültigen Abfassung der Flüchtlingskovention eingesetzte Bevollmächtigtenkonferenz, bei deren Zusammentreten im Juli 1951 das Statut des UNHCR gerade beschlossen war, nahm für die Konvention nur geringfügige Änderungen vor 113 . b) Eine grundSätzliche Parallelität der Definitionen von Konventionsflüchtling und UN-Flüchtling war jedoch weder historisch gewollt noch hat sie tatsächlich je bestanden. Dies gilt auch im Blick auf die rechtlichen Grundbestimmungen. Wich110 Art. 6 B lautet: ,,Jede Person, die sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität oder wegen ihrer politischen Auffassung außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und die nicht imstande oder, wegen solcher Furcht aus anderen Gründen als persönlichem Belieben, nicht gewillt ist, den Schutz dieses Landes in Anspruch zu nehmen; sowie jede Person, die nicht im Besitz einer Staatsangehörigkeit ist und sich außerhalb des Landes ihres früheren gewöhnlichen Aufenthalts befindet und die imstande oder, infolge dieser Furcht oder aus anderen Gründen als persönlichem Belieben, nicht gewillt ist, dorthin zurückzukehren" (Abgedruckt in G. Käfner / P. Nicolaus, Grundlagen des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 1986, Bd. 1, S.I72). 111 Vgl. hierzu M. Marugg, Völkerrechtliche Definitionen des Ausdrucks ,,Flüchtling", Baseil Frankfurt 1990, S. 100 ff. 112 Vgl. nur O. Kimminich (Fn. 103), S. 274 ff.; G. Käfner / P. Nicolaus (Fn. 110), S. 170 ff.; M. Marugg (Fn. 111), S. 113 ff. 113 Zum einen erweiterte sie die Verfolgungsmerkmale um die ,,zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe", zum anderen strich sie die Formulierung "infolge dieser Furcht oder aus anderen Gründen als persönlichem Belieben, nicht gewillt ist ... ". Anders als man zunächst meinen möchte, betreffen diese Änderungen keineswegs ein zentrales Element der Definition. Aus ihnen folgt insbesondere keine Öffnung für alle, die aus beliebigen Gründen tatsächlich auf der Flucht sind, da unberührt bleibt, daß sich eine Person speziell aus den auch in der Konvention genannten Gründen (Verfolgung wegen Rasse, Nationalität etc.) außer Landes befinden muß.

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tiger als die vernachlässigbaren Unterschiede in der Generaldefinition waren früher nämlich die besonderen Einschränkungen, die die Konvention im Unterschied zu dem Statut des UNHCR vorsah (und in einigen Ländern auch noch vorsieht). Bis zum Jahre 1967 ergab sich eine Differenz insoweit vor allem schon aus der Stichtagsklausel, die als fluchtauslösende Ereignisse für die Konvention nur solche vor dem 1. Januar 1951 anerkannte. Über diese Beschränkung, die de facto den Schutz auf bestimmte bekannte Flüchtlingsgruppen beschränkte l14 , ging das Statut des UNHCR bewußt hinaus. Auch kennt es eine geographische Beschränkung nicht, wie sie bis heute aus Art. 1 B Nr. 1 GFK für einige Mitgliedsstaaten der Konvention gilt. Das Amt des Flüchtlingskommissars sollte von Anfang an weltweit und auch zur Betreuung künftiger Flüchtlinge zuständig sein, so daß sein Tätigkeitsbereich vom Anspruch her stets über die von der Konvention geschützten Personen hinausging. Der Kreis der UN-Flüchtlinge und der der Konventionsflüchtlinge entwickelte sich dann aber auch unabhängig von diesen Unterschieden schnell auseinander. Schon bald nämlich wurde das Statut des UNHCR als unzureichend empfunden und durch zahlreiche ad hoc gefaßte Resolutionen der Generalversammlung bzw. des Exekutivkomitees erweitert, so daß es letztlich in seiner praktischen Bedeutung verdrängt wurde ll5 . Die Resolutionen galten zunächst zwar vor allem der sachlichen Zuständigkeit des Flüchtlingskomrnissars l16 , erfaßten in deren Schatt~ aber auch den personellen Zuständigkeits bereich. Zweifel, welche Flüchtlinge von der Definition des Statuts urnfaßt waren, das Bedürfnis, angesichts akuter Ereignisse ganze Flüchtlingsgruppen ohne individuelle Prüfung des Einzelschicksals berücksichtigen zu können, die Notwendigkeit, in faktische Flucht- und Migrationsbewegungen lenkend oder vermittelnd einzugreifen, und nicht zuletzt politische Rücksichtnahmen bei der Qualifizierung bestimmter Personengruppen als Flüchtlinge führten dazu, daß die Tätigkeit des Flüchtlingsamtes unabhängig von einer Interpretation des Flüchtlingsbegriffs im Statut auf einzelne Resolutionen gestützt bzw. von ihnen später gebilligt wurde ll7 . Solche Resolutionen benannten regelmäßig konkret die begünstigten Gruppen und waren insoweit leichter handhabbar. In ihrem Zuge erweiterte sich die personelle Zuständigkeit des UNHCR erheblich und koppelte sich von der Definition sowohl des Statuts wie der Flüchtlingskonvention völlig ab. So ist heute z. B. allgemein anerkannt, daß seine Zuständigkeit auch die Flüchtlinge nach der OAU umfaßt l18 , obwohl deren Definition über die 114 In Umkehrung dessen maß man der Begriffsdefinition des Flüchtlings selbst praktisch keine ausgrenzende Bedeutung bei; die entscheidenden Auseinandersetzungen, an der die Konferenz beinahe gescheitert wäre, galten der StichtagskIausel und dem Europavorbehalt: Allein durch sie suchte man die Garantien der Konvention begrenzt zu halten. 115 Vgl. nur G. Köfnerl P. Nicolaus (Fn. 110), S. 170 ff.; M. Marugg (Fn. 111), S. 150 ff. 116 So die Resolutionen über die guten Dienste des UNHCR, die darüber hinweg helfen sollten, daß das Flüchtlingskommissariat - anders als früher die IRO - zunächst als nichtoperationale Organisation eingerichtet war; vgl. G. KöfnerlP' Nicolaus (Fn. 110), S. 174. 117 Vgl hierzu M. Marugg (Fn. 111), S. 150ff.

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des Statuts des UNHCR eindeutig hinausgeht l19 • Ein Rückschluß von der personellen Zuständigkeit des Flüchtlingskommissars auf die Reichweite der flüchtlingskonvention ist damit nicht möglich. Er ist auch als Urnkehrschluß nicht möglich. Die Resolutionen zur Arbeit des Flüchtlingskommissariats sind auch negativ nicht Ausdruck der Überzeugung, daß die Zuständigkeit nach dem Statut überschritten wäre. Sie regelten Zweifelsfälle, Gemengelagen und eindeutige Fälle gleichermaßen l2o. Eine begriffliche Abgrenzung zu den Statuten wurde in keiner Richtung gesucht. Genausowenig lassen sich im übrigen aus dem in der Lehre entwickelten Begriff der "de facto-Flüchtlinge" Folgerungen für das Verständnis der Flüchtlingsdefinition ziehen. In der Regel ist das schon deshalb nicht möglich, weil "de facto-Flüchtlinge" üblicherweise negativ, nämlich als Restmenge der schutzsuchenden Personen, die keine Flüchtlingsanerkennung gefunden haben, definiert werden 121. Aber auch die Gegenüberstellung von Konventions- und de facto Flüchtlingen, die insoweit begrifflich gegeben ist, erlaubt keine Rückschlüsse: Die Bezeichnung de facto Flüchtling soll unabhängig von der Richtigkeit der angewandten Kriterien und Einzelentscheidungen ein tatsächliches politisches Problem erfassen. Die Frage nach insoweit unter Umständen verkannten Rechtspositionen wird - gerade auch um angesichts der unterschiedlichen Praxis in den Staaten eine gemeinsame Sprachebene zu finden - durch sie bewußt offengelassen. 2. Lassen sich aus dem Zuständigkeitsbereich des Flüchtlingskommissariats keinerlei Erkenntnisse über den Anwendungsbereich der Flüchtlingskonvention gewinnen, so ist umgekehrt aber eindeutig, daß Konventionsflüchtlinge immer auch unter das Mandat des UNHCR fallen. In Art. 35 GFK, der dem Flüchtlingskommissar die Kompetenz zuspricht, über die Durchführung der Konventionsbestimmungen zu wachen, ist dies ausdrücklich geregelt. In seinem "Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft,d22 sowie in zahlreichen Stellungnahmen und Initiativen greift der UNHCR diese Aufgaben auf und nimmt an der Auseinandersetzung um die richtige Interpretation der Konvention teil. 118 G. Köfner/ P. Nicolaus (Fn. 110), S. 180, mit Nachweisen auch zum Selbstverständis des UNHCR. Die OAU-Definition entstand sogar in enger Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingskommissar. 119 In bewußter Ergänzung zu den bisherigen Flüchtlingsdefinitionen lautet Art. lAbs. 2 der OAU-Konvention: "Der Begriff Flüchtling soll außerdem auf jede Person Anwendung finden, die wegen Aggression von außen, Besetzung, Fremdherrschaft oder aufgrund von Ereignissen, welche die öffentliche Ordnung in einem Teil des Landes oder in dem gesamten Land ernsthaft stören, gezwungen ist, den Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts zu verlassen, um an einem anderen Ort außerhalb des Landes ihrer Herkunft oder Staatsangehörigkeit Zuflucht zu suchen." 120 VgI.M.Marugg(Fn.l11),S.150ff. 121 P. Weiss, Die juristischen Aspekte der Probleme von de facto Flüchtlingen, in: Grenzfragen des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Auf. 1987, S. 140; vgl. hierzu näher M. Marugg (Fn. 111), S. 181 ff. 122 Genf 1979.

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Aus dieser Kompetenz kann jedoch nicht die Befugnis zu autoritativen Festlegungen geschlossen werden 123. Der Flüchtlingskommissar hat keinerlei Exekutivbefugnisse gegenüber den Staaten und kann ihnen auch keine bestimmte Interpretation vorschreiben. Zuständig für die Anwendung und damit auch die Interpretation der Konvention sind allein die Mitgliedstaaten, nicht aber die Vereinten Nationen bzw. ihre Untergliederungen. Das Flüchtlingskommissariat und die Flüchtlingskonvention stehen insoweit selbständig nebeneinander. In Art. 35 GFK ist dies auch eindeutig formuliert: Die Vertragsstaaten verpflichten sich dort mit dem Flüchtlingskommissar "zusammenzuarbeiten", nicht aber, sich seinen Anweisungen zu unterwerfen. Der Flüchtlingskomrnissar hat nur das Gewicht seiner Argumente. Dieses ist angesichts der Spezialisierung seiner Behörde und des internationalen Überblicks in der Regel freilich groß.

v. Die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention kann, so das Ergebnis der Untersuchung, auch bei ihrer innerstaatlichen Anwendung nur nach völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätzen erfolgen. Vor allem für die Berücksichtigung der späteren Übung und der travaux preparatoires ergeben sich hieraus auch eigene Anforderungen. Diese Anforderungen sind vom Aufwand her für die Praxis nicht unerfüllbar. Nicht selten werden sie sogar - da sich die Umsetzung der Konvention durch die anderen Vertragspartner oft schon schnell als uneinheitlich und aussagelos darstellen wird - zu einer Auslegung zurückführen, die methodisch von der Auslegung innerstaatlichen Rechts letztlich nicht weit entfernt ist. Allerdings ist es unerläßlich, sich der internationalen Wurzeln dieser Vorschriften bewußt zu bleiben und sie als Garantien mit eigenem Gehalt ernstzunehmen. Eine unbesehene Übertragung der Asylrechtsdogmatik auf das völkerrechtlich radizierte Flüchtlingsrecht ist - soweit sich aus diesem dabei eigene Anhaltspunkte ergeben - nicht möglich. Die Praxis ist insoweit vor neue, noch nicht bewältigte Aufgaben gestellt. Selbst für die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Januar 1994, die immerhin dem Anspruch nach der Eigenständigkeit der Konvention Rechnung trägt, scheint zweifelhaft, ob dieser Aufgabe genügt wurde: Daß Verfolgungsmaßnahmen nicht nur "staatlich" sein müssen, sondern daß "staatlich" dabei auch ebenso zu verstehen ist, wie es das Bundesverfassungsgericht in grundSätzlicher Ausgrenzung der Bürgerkriegsflüchtlinge für das Asylrecht entschieden hat, ist nicht nur unbegründet geblieben 124, sondern scheint angesichts dessen, daß die Flüchtlings123 A. Grahl-MOOsen (Fn. 59), Bd. 1, S. 333; L. W. Holborn, Refugees: A Problem of our Time, Bd. 1, Metuchen NJ., 1975, S. 161 f.; St. Richter (Fn. 85), ZaöRV 1991, S. 1, 14. 124 Daß "staatlich" im Sinne der Konvention die gleiche Bedeutung hat, wird vorausgesetzt, findet in der Entscheidung aber keinerlei Begründung. Sachlich ist es indes nicht von vomeherein abwegig, unter bestimmten Umständen etwa sich bekriegende Bürgerkriegsparteien in weiterem Umfang als im Asylrecht als "staatliche" Gewalten aufzufassen. Die me-

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probleme der Genfer Flüchtlingskonferenz zum größten Teil ihren Ausgangspunkt in Bürgerkriegssituationen hatten, wenig einleuchtend. Für andere Probleme wie etwa das Verständnis von "religiöser Verfolgung" ist die Frage von der Übertragbarkeit der Asylrechtsdogmatik auf das Flüchtlingsrecht noch nicht einmal gestellt: Ist auch nach der Konvention religiöse Verfolgung immer schon dann zu verneinen, wenn nur die Religionsausübung in der Öffentlichkeit mit Verboten und Repressalien verfolgt wird 125 ? Die allgemeine Menschenrechtserklärung jedenfalls, auf die die Präambel der Flüchtlingskonvention ausdrücklich verweist, garantiert auch die öffentliche Religionsausübung. Die vom Bundesverfassungsgericht für das Asylrecht entwickelte Dogmatik ist somit für die Flüchtlingskonvention insgesamt neu zu hinterfragen. Möglicherweise wird sich ihre Bedeutung dadurch für einige, vielleicht auch wichtige Problembereiche relativieren. Das Bundesverfassungsgericht hat dies - jedenfalls für die Nachfluchtgründe - offensichtlich auch gewollt. Freilich kann auf diesem Wege nur die eine Dogmatik, die des Asylrechts, durch eine andere, die des internationalen Flüchtlingsrechts, ersetzt bzw. ergänzt werden. Die grundsätzlichere Frage, ob die Probleme der Flüchtlingsanerkennung überhaupt menschengerecht auf der Grundlage von rechtsbegrifflichen Abgrenzungen und rechts förmlicher Subsumtion zu lösen sind, bleibt davon unberührt. Schon angesichts der Beurteilungsschwierigkeiten scheinen solche in feinsinniger Auslegung gewonnene Differenzierungen nicht selten als abgehobene Luftgebilde und Scheinprobleme, und nicht zufällig ergänzt wenigstens auf theoretischer Ebene mittlerweile eine Schutzvorschrift die andere, weil echte Schutzlücken letztlich doch nicht eingestanden werden sollen 126 • Soweit das Sachproblem in der Beurteilung der Glaubwürdigkeit und des tatsächlich drohenden Schicksals der Flüchtlinge liegt, kann hiergegen nicht eine in sorgfältiger Auslegung gewonnene Begrifflichkeit Antwort geben, sondern allenfalls eine grundsätzliche Umstellung des Anerkennungsverfahrens von rechtlichen Formalgarantien auf humanitäre Einschätzungsspielräume, die auch eine freiere Würdigung der Einzelschicksale erlauben. Solange aber die Anerkennung als rechtsförmliches Verfahren eingerichtet ist, indem jeder Flüchtling die genaue gerichtliche Subsumtion seines - angeblichen oder tatsächlichen - Schicksals unter die rechtlichen Bestimmungen verlangen kann und damit auch muß, ist eine sorgfältige Auslegung und begriffliche Aufarbeitung der einschlägigen Vorschriften unerläßlich. Daß die Flüchtlingskonvention dabei eine eigene dogmatische Durchformung erfährt, die das Flüchtlingsrecht weiter verkompliziert, ist unvermeidlich. thodischen Unsicherheiten der Entscheidung finden insoweit auch im Ergebnis ihren Niederschlag. 125 So zum Asylrecht BVerwGE 76,143. 126 So hat sich die als unbefriedigend empfundene Rechtsprechung, nach der Folter allein noch keine politische Verfolgung begründet, dadurch relativiert und der Sache nach erledigt, daß mittlerweile anerkannt ist, daß insoweit zwar nicht das Asylgrundrecht, aber doch Art. 3 EMRK und die Antifolterkonvention der Vereinten Nationen Schutz bieten.

Die Person im Ständestaat und im Rechtsstaat Vergleichende Betrachtungen zur europäischen und japanischen Entwicklung * Von Rainer Wahl, Freiburg

Den Übergang von der alteuropäischen Gesellschaft zur modemen Staatsbürgergesellschaft kann man unter verschiedene Oberbegriffe fassen. In Anlehnung an das Thema bieten sich Entgegensetzungen an wie: von Rang und Stand zur allgemeinen Rechtsperson; von der Funktion des Standes für das Ganze der Gesellschaft zur Entfaltung des einzelnen, zur Freisetzung des autonomen Individuums; von der Vorordnung der Gemeinschaft und der Gemeinschaften zur Vorordnung des Individuums. Im begriffsgeschichtlichen Kontext ist bekanntlich für die Jahre nach 1750 von einer Sattelzeit die Rede l . In ihm kommt die Entwicklung anschaulich im Übergang von Pluralbegriffen zu Singularbegriffen zum Ausdruck, so im Übergang von "Freiheiten" zu "Freiheit", von "Rechten" zu "Recht". Selten ist ein Zäsur-Bewußtsein so stark wie das, das sich an der französischen Revolution und ihren Folgen um das Jahr 1800 festgemacht hat. Schon in den Begriffen von der alteuropäischen Gesellschaft und der nachfolgenden staatsbürgerlichen Gesellschaft zeigt sich, daß der Übergang als ein epochaler Einschnitt verstanden wird. Dieses starke Zäsurbewußtsein ist berechtigt, weil es sich nicht nur um einen Regierungs- oder Regimewechsel, nicht nur um einen Wechsel der Staatsvorstellung handelte, sondern, viel tiefer und umfassender, um eine Änderung der Gesellschaftsordnung 2 • Deshalb kann auch im folgenden nicht bloß im Kontext von Staat und Regierung gesprochen werden, sondern es geht um die Gesellschaft als Ganze. Wenn dem aber so ist, wenn es um die Änderung von Gesellschaftsformationen geht, um den Übergang von einer ständisch geprägten Gesellschaft zu einer neuen

* Überarbeitete Fassung eines Vortrages vor der Internationalen Vereinigung für Rechtsund Sozialphilosophie am 29. September 1994 in Mannheim. 1 R. Koselleck, Einleitung, in: O. Brunner/W. Conze/R.Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. I, 1972, Xv. 2 In der Tiefe erfaßt ist dieser Vorgang von Lorenz von Stein. Dazu R. Wahl, Der Übergang von der feudal-ständischen Gesellschaft zur staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung als Rechtsproblem. Die Entwährungslehre Lorenz von Steins, in: R. Schnur (Hrsg.), Staat und Gesellschaft. Studien über Lorenz von Stein, 1978,337 ff. 6 Festschrift Böckenförde

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und anderen Form, dann legt sich eine Blickerweiterung und eine größere Perspektive nahe. Dieser Übergang ist nicht ein einmaliger Vorgang in Europa, sondern er hat in anderen Kulturen durchaus Parallelen. Denn eine Ständegesellschaft oder eine Art Feudalismus im weitesten Sinne des Begriffes verstanden gab es nicht nur in Europa, sondern etwa auch in Japan 3 . Den dadurch nahegelegten Vergleich möchte ich im folgenden aufgreifen. In Teil 1 geht es dabei um den Übergang von der Ständeordnung zur modemen Gesellschaft in Kontinentaleuropa. Teil 2 ist einer Skizze des entsprechenden Vorgangs in Japan und Teil 3 einigen ausgewählten Besonderheiten des japanischen Verständnisses zum Verhältnis des einzelnen zu Gesellschaft und Staat gewidmet.

I. 1. Die zunächst erforderliche Anschauung über den Sachverhalt der Ständegesellschaft4 bezieht der Jurist primär und am ergiebigsten aus den vielen Rechtsvorschriften, welche die Ständeordnung konstituieren, die einzelnen Stände abgrenzen und sie mit unterschiedlichen Rechten ausstatten. Damit ergibt sich und erschließt sich eine gewaltige Masse von konkretem Rechtsstoff, eine Quelle schwer zu fassender Vielfalt und FülleS. Die rechtlich konstituierten Berufs- und Geburtsstände sind die Übersetzung des allgemeinen Ständegedankens in die Rechtsordnung und Rechtspraxis. Die juristische Fassung konkretisiert die allgemeine Ständevorstellung6 für eine bestimmte Zeit und ein spezielles Territorium; sie verankert den Grundgedanken in einer konkreten Ordnung. Angesichts der hohen Bedeutung, die das Recht in westlichen Gesellschaften hat, drückt sich die Ständeordnung stark im Medium des Rechts aus. Deshalb gibt es vor 1800 zahlreiche Rechtsvorschriften über den Aufbau der Stände, die Zuschreibung von Eigenschaften, Rechten und Vorrechten der einzelnen Stände und eine ins Detail gehende Ausformung im konkreten Recht. Solche Vorschriften finden sich ursprünglich häufig in Selbstregulierungen der Stände (z. B. 3 M. Bloch, Die Feudalgesellschaft, 1986, 524 ff. Zur Frage: Feudalismus oder Feudalismen, Einzahl oder Mehrzahl?: Der Feudalismus war kein "Ereignis, das sich in der Welt nur einmal ereignet hat" (532f.). Ein guter Überblick über die im einzelnen sehr umstrittene Begriffsverwendung von Feudalismus für die japanische Geschichte von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (im Zusammenhang der unterschiedlichen historiographischen Konzeptionen) bei J. W. Hall, Stichwort ,,Feudalismus", in H. Hammitzsch (Hrsg.), Japan-Handbuch, 1981, Sp. 388ff. 4 Dazu allgemein R. van Dülmen, Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit, Bd. 2, 1992, 7ff., 175-219 (mit der Bemerkung [325 Anm. 1], daß eine größere Untersuchung über die frühneuzeitliche Ständegesellschaft bis heute fehle). 5 Überblick über die Ständeordnung im Mittelalter und der Neuzeit bei H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1,2. Aufl. 1962, 296ff.; Bd. 2,1966, 206ff. 6 Umfassende begriffsgeschichtliche Aufarbeitung des Wortfelds bei O. Oexle und W. Conze, Art. "Stand, Klasse", in: Brunner/Conze/Koselleck (Anm. 1) Band 6, 1990, 155284.

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Ordnungen der bürgerlichen Schwureinigungen, Zunftordnungen), seit dem frühmodemen Staat zunehmend in obrigkeitlicher Reglementierung 7 , so insbesondere in den Polizeiordnungen, die aber auch Vorschriftenkomplexe enthalten, die heute als privatrechtliche Normen verstanden werden, weil sich selbstverständlich die konstituierenden Grundunterscheidungen einer Gesellschaft im gesamten Rechtsstoff widerspiegeln. Konkret faßbar sind die ständischen Unterschiede etwa in den Eheordnungen (Ebenbürtigkeitsprinzip), Kleiderordnungen 8, Titelzuweisungen, besonderen Anreden, Sitzordnungen, aber auch in der Bodenordnung9 und den Regeln über den Zugang zu konkreten Berufen. Den Ständen und Berufen waren bestimmte Ehren, Würden, Rechte und Freiheiten zugeordnet. "Ungleichheit" war ein positiv besetzter Begriff der ständisch bestimmten Welt lO • Für den heutigen Betrachter legt es sich insbesondere nahe, diese Komplexe von Rechtsvorschriften im Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten von 1794, in einer Spätform, wahrzunehmen. Die ständische Ordnung begründet I 1 § 2 ALR in den Worten: "Die bürgerliche Gesellschaft besteht aus mehreren kleineren, durch Natur oder Gesetz, oder durch beide zugleich, verbundenen Gesellschaften und Ständen". "Personen, welchen vermöge ihrer Geburt, Bestimmung oder Hauptbeschäftigung gleiche Rechte der bürgerlichen Gesellschaft beigelegt sind, machen zusammen einen Stand des Staates aus" (I 1 § 6 ALR). Der 7. bis 10. Titel des Zweiten Teils des ALR ist den einzelnen Ständen, den Rechten und Pflichten des Bauern-, des Bürger-, des Adelsstandes und den Dienern des Staates gewidmet. Hier finden sich die Vorrechte des Adels aufgezählt (11 9 §§ 34 ff.), etwa ihr privilegierter Gerichtsstand, ihr andere Stände ausschließendes Recht auf bestimmte Ämter, die Steuer- und Zollfreiheit sowie die Privilegien des Adels in seiner Eigenschaft als Gutsherr (Patrimonialgerichtsbarkeit, Recht auf Hand- und Spanndienste). In diesen Vorschriften werden auch die Standes schranken im einzelnen gezogen: Nur der Adel ist zum Besitz adeliger Güter berechtigt (11 9 § 37 ALR); Adelige sollen in der Regel keine bürgerliche Nahrung und Gewerbe treiben (11 9 § 76 ALR); wer zum Bauernstand gehört, darf ohne Erlaubnis des Staates weder selbst ein bürgerliches Gewerbe treiben, noch seine Kinder dazu widmen (11 7 § 2 ALR). Zu dieser Abgrenzung der Stände gegeneinander gehört auch das Ebenbürtigkeitsprinzip im Eherecht ". Das ALR bleibt eine Fundgrube für das rechtlich geordnete Sozialmodell des Ständestaates, auch wenn man hinzufügen 7 Zum sich wandelnden Verhältnis von ständischer Autonomie und staatlicher Reglementierung van Dülmen (Anm. 4), 222 ff. 8 Die Reichskleiderordnung von 1577 bestimmte, "daß sich ein jeder des Würden und Herkommen er sei, nach seinem Stand, Ehren und Vermögen trage, damit in jedem Stand unterschiedliche Erkenntnis sein möge", zitiert bei Conrad (Anm. 5), Bd. 2, 206 f. 9 Insoweit wurde zwischen Adels- und Bauemland sowie dem Bürgertum der Stadt vorbehaltenen städtischen Grundbesitz unterschieden. 10 Conze, Art. "Stand, Klasse" (Anm. 6), 207. 11 Vgl. II I § 30 ALR: "Mannspersonen von Adel können mit Weibspersonen aus dem Bauem- oder geringeren Bürgerstande keine Ehe zur rechten Hand schließen".

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muß, daß mit ihm längst eine Übergangsphase erreicht ist. Zahlreiche Vorschriften, insbesondere in den allgemeinen Regelungen der Einleitung und im Ersten Teil des Gesetzbuches, weisen nämlich über die Ständeordnung hinaus und nehmen den einzelnen Menschen unabhängig von seinen ständischen Rechten und Pflichten ins Blickfeld. Das ALR gehört zu den zweischichtigen Rechtskodifikationen, die Altes aufzeichnen und zugleich auf Neues weisen 12 . 2. Der Übergang von der ständischen zur modemen Gesellschaftsordnung drückt sich anschaulich und exemplarisch in der Entstehung des Begriffs der allgemeinen Rechtsfähigkeit aus. Denn natürlich hatte die Vorstellung einer allgemeinen Rechtsfähigkeit in der ständisch gegliederten Ordnung keinen Platz; systemangemessen war nur ein Konzept einer abgestuften, statusgebundenen Rechtsfähigkeit. Jeder Stand hatte sein eigenes objektives Recht; deshalb richtete sich die Rechtsstellung des Menschen zunächst nach seinem Stand 13. Abstufungen der Rechtsfähigkeit gab es insbesondere nach der Freiheit und der Ehre l4 . Für den Übergang von der statusgebundenen zur allgemeinen Rechtsfähigkeit 15 war das "jüngere" Naturrecht des späten 18. Jahrhunderts die treibende geistige Kraft und dabei vor allem die Forderung, Freiheit und Persönlichkeit des Menschen auch im positiven Recht zu respektieren. Die ältere Naturrechtslehre hatte insoweit noch eine Zwischenstufe gebildet. Sie hatte zwar auch die natürliche Freiheit und Gleichheit des Menschen im vorstaatlichen Zustand anerkannt, hatte diese Rechte jedoch für verzichtbar gehalten, so daß sich aufgrund der verschiedenen zur Staatsbildung führenden Vertragsschlüsse im positiven Recht auch wieder Rechtsungleichheit und ständisch abgestufte Rechtsfähigkeit ergeben konnten. Person im Sinne eines Rechtssubjektes war daher nach der älteren Naturrechtslehre nicht jeder Mensch, sondern nur derjenige, dem im Staat gewisse Rechte und Pflichten zukamen 16. Erst das jüngere Naturrecht hielt Freiheit und Rechtspersönlichkeit auch im staatlichen Recht für unverzichtbar. Im Hinblick auf die Rechtsfähigkeit wird dieses Postulat erstmals im Code Civil von 1804 17 und im Österreichischen Allgemei12 Dazu grundsätzlich R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791-1848, 1967. 13 Conrad (Anm. 5), Bd. I, 395: "Das Mittelalter dachte in ständischen Gemeinschaften; jeder stand in einer Gemeinschaft, von der aus sich seine Rechtsstellung bestimmte." - I 1 § 7 ALR: "Die Mitglieder eines jeden Standes haben, als solche, einzeln betrachtet, gewisse Rechte und Pflichten". 14 J. Schröder, Art. "Rechtsfähigkeit", in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, 1990, Sp. 289. Unfreie waren in ihrer Rechtsfähigkeit gemindert, wenn auch, anders als die römischen Sklaven, nicht völlig rechtsunfähig. Unehrenhafte Geburt, gewisse unehrenhafte Gewerbe- oder Verhaltensweisen machten rechtlos und führten zu Minderungen der Geschäftsfähigkeit bis zur völligen Rechtsunfähigkeit des Geächteten. 15 Dargestellt nach Schröder (Anm. 14). 16 Vgl. I 1 § 1 ALR: "Der Mensch wird, insofern er gewisse Rechte der bürgerlichen Gesellschaft genießt, eine Person genannt".

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nen Gesetzbuch von 1811 18 verwirklicht. Im außerösterreichischen Deutschland setzte sich der Gedanke der allgemeinen Rechtsfähigkeit zwischen 1820 und 1840 mehr und mehr durch, wobei aber die naturrechtliche Begründung meist schon wieder zurücktritt. Der Endpunkt der Entwicklung ist das BGB, das den Grundsatz der allgemeinen Rechtsfähigkeit bereits als selbstverständlich übergeht. Hier wird für den heutigen Betrachter nicht mehr deutlich, was die eigentliche Errungenschaft des Systemwechsels war. § 1 BGB beginnt lapidar mit den Worten: "Die Rechtsfähigkeit beginnt mit der Vollendung der Geburt". Die Systemidee wird von einem technischen Problem überdeckt, nämlich von dem des genauen Zeitpunkts, an dem die Rechtsfähigkeit beginnt. Deshalb wird für den heutigen Leser kaum mehr bewußt, was hinter dieser Vorschrift steckt, was in den beiden ersten Worten "die Rechtsfähigkeit" an grundlegendem Gehalt mitgedacht ist. Das, was in der Revolution erstrebt worden war, die Ablösung der ständischen Gesellschaft und eine gleiche Staatsbürger-Gesellschaft, ist hier im Privatrecht, natürlich schon vor 1900, verankert; es ist auf den Boden des einfachen Rechts geholt und dort befestigt l9 . An einem weiteren Beispiel wird deutlich, welcher Prinzipienwechsel hinter dem Übergang steckt. Noch 1794 schreibt 11 9 § 1 ALR vor: "Dem Adel, als dem ersten Stande im Staate, liegt, nach seiner Bestimmung, die Verteidigung des Staates, sowie die Unterstützung der äußeren Würde und inneren Verfassung desselben, hauptsächlich ob". Das Grundgesetz macht dagegen den Zugang zu öffentlichen Ämtern von der Leistung abhängig (Art. 33 Abs. 2 GG: "Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte."). Es handelt sich also um eine Umstellung von Rang auf Leistung; generell werden die bisherigen Zentralbegriffe der Ehre, der Reputation, des Privilegs und der Geburt ersetzt durch Kriterien wie Leistung, Verdienst und Rechtsgleichheit. 3. Die Vorstellung der gegliederten ständischen Ordnung hatte ihre wichtigste Wurzel im Grundgedanken der Ungleichheit und dem ebenso fundamentalen Gedanken des Zusammenwirkens der einzelnen unterschiedlichen Stufen und Stände 17 Art. 8: "Tout Fran~ais jouira des droits civils" (allerdings mit Ausnahmen für Ausländer, Art. 11). 18 § 16 ABGB: ,,Jeder Mensch hat angeborene schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. Sklaverei oder Leibeigenschaft und die Ausübung einer darauf bezogenen Macht wird in diesen Ländern nicht gestattet". § 18: "Jedermann ist unter den von den Gesetzen vorgeschriebenen Bedingungen fähig, Rechte zu erwerben". Zur historischen Entwicklung U. Floßmann, Österreichische Privatrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1992, 22 ff. 19 Ähnlich verhält es sich mit der Frage, was dieser Jedermann, der die allgemeine Rechtsfähigkeit hat, tun darf. Gemäß der allgemeinen Privatautonomie kann er praktisch alles tun, was die zwingenden Vorschriften des BGB als eines Rahmengesetzes des privatautonomen Handeins nicht verbieten. Auch die Privatautonomie als solche ist im BGB nicht mehr ausdrücklich genannt, sondern vorausgesetzt. - Das Verfassungsrecht des Grundgesetzes formuliert diese tragende Systementscheidung in Art. 2 Abs. 1 GG nach.

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in dem großen Ganzen des Kosmos und der Gesellschaft, in dem sie jeweils ihre eigenen, spezifischen Funktionen ausüben und zu erfüllen haben, damit das Ganze in seiner Ordnung gehalten wird2o . In der ständischen Ordnung ist die für die europäische Metaphysik typische Verknüpfung von Ontologie, Erkenntnislehre und Ethik wesentlich. Im gesamten Ständedenken sind von Anfang an Funktionsgesichtspunkte von wesentlicher Bedeutung. Schon in der Antike findet sich das Schema einer Dreiteilung des sozialen Ganzen nach drei Funktionsständen. Neuere Forschungen belegen darüber hinaus, daß dieses Schema in der Geschichte der indoeuropäischen Völker tief verwurzelt ise'. In Griechenland tritt die funktionale Dreiteilung in voller Entfaltung in den Schriften Platons aue2. Sie ist dort die Grundlage der Ordnung von Platons idealem Gemeinwesen, in dem zwar alle Menschen Brüder sind, gleichwohl aber Gott die einzelnen zu unterschiedlichen Funktionen berufen hat, nämlich die einen zu herrschen, die anderen zu deren Helfern und die Dritten schließlich zu Bauern, Handwerkern und Arbeitern bestimmt hat, in dem er bei ihrer Geburt Gold, Silber und Eisen beimischte. In dieser metaphysisch als ungleich begründeten Sozialordnung werden einzelnen Ständen spezifische Kardinaltugenden zugewiesen. Die übergreifende und umfassende Lebensnorm für alle lautet dabei: Das Seine tun und sich nicht in vielerlei einmischen 23 . Das Dreierschema der Funktionsstände findet sich in sehr unterschiedlicher inhaltlicher Ausgestaltung durch das gesamte Mittelalter und die frühe Neuzeit hindurch. Seit Beginn des 11. Jahrhunderts etwa wird eine Unterscheidung formuliert zwischen jenen, die beten, jenen, die kämpfen und jenen, die arbeiten (oratores, bellatores, laboratores)24. Die Drei-Stände-Lehre wurde auch über die Reformation hinaus weiter tradiert 25 . Eine sehr geläufige Unterscheidung war die in Wehrstand, Lehrstand und Nährstand. Gelegentlich tauchten auch Vierteilungen auf: Geistliche, Adel, Bauern und Bürger. Das Wort "Stand" war beinahe unbegrenzt verwendbar, denn das Prinzip der wohlgefügten Ordnung galt für die Teile ebenso wie für das Ganze. Stand wurde demgemäß nicht nur für die drei oder vier Hauptstände gebraucht, sondern für alle Ämter, Berufe, Tätigkeiten und Stellungen. In der Literaturgattung der Ständebücher des 16. und 17. Jahrhunderts wurde dies exOexle, Art. "Stand, Klasse" (Anm. 6), 156 f. Unterscheidungen finden sich in der indischen Gesellschaft oder in den Göttertriaden des alten Roms und der germanischen Welt. Im alten Testament fehlt das Schema dagegen völlig, näher dazu Oexle, Art. "Stand, Klasse" (Anm. 6). 22 Dazu und zum folgenden Oexle, Art. "Stand, Klasse" (Anm. 6), 161. 23 Besonnenheit ist insbesondere die Einsicht in die Struktur der Ständeordnung und die Verschieden wertigkeit der Stände. Gerade deshalb ist Besonnenheit die insbesondere dem dritten Stand zugewiesene und angemessene soziale Norm. 24 Die tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Wandlungen des I!. und 12. J ahrhunderts führten dazu, daß dem klassischen Dreierschema im 12. Jahrhundert die Kaufleute als ein neuer Stand angegliedert wurden, vgl. Oexle, Art. "Stand, Klasse" (Anm. 6), 185 f., 188. 25 Dazu und zum folgenden Conze, Art. "Stand, Klasse" (Anm. 6), 20 I, 205 f. 20

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trem ausgedehnt; so kann Hans Sachs 114 Stände in seinem Ständebuch beschreiben; dies weist auf die Einengung des Standesbegriffs auf die späteren Berufsstände und überhaupt auf die Berufe im 19. Jahrhundert voraus. Die Vielzahl der angeführten Stände ist zugleich ein Indiz dafür, daß sich mit den Dreiteilungen, überhaupt mit der Gliederung in feste Stände, die sich ausbildende Differenzierung der Gesellschaft nicht mehr bewältigen ließ 26 . Der Ständebegriff verlor seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zunehmend seine alte Sicherheit. Angesichts der langen Tradition des Ständedenkens und seiner intensiven Verwurze1ung in metaphysisch-theologischen Begründungen verwundert es nicht, daß Voraussetzung für diese Entwicklung die Entstehung einer neuen Fundamentaltheorie über Gesellschaft und Staat war. Es ist das moderne Naturrecht, das mit seinem dem Menschen im Naturzustand zugeschriebenen Eigenschaften der allgemeinen Freiheit und Gleichheit, überhaupt mit seinem individualistischen Ansatz beim einzelnen, dem Ständedenken langsam, aber sicher den Boden entzieht. Der Prozeß der naturrechtlichen Abwertung des Ständebegriffs beginnt in Deutschland mit Pufendorf. Er führt zu einer neuen Konzeption, die vom Individuum und seiner Vorordnung vor den Gemeinschaften ausgeht. Treffend faßt Conze das Ergebnis dieses Prozesses zusammen: "In den 70er bis 90er Jahren des 18. Jahrhunderts wurde das Denken über Freiheit und Gleichheit der Person im Gegensatz zu den noch immer geltenden ständischen Freiheiten und Rangabstufungen naturrechtlich radikalisiert und popularisiert. Wie auch immer Freiheit und Gleichheit verfassungsrechtlich und sozialpolitisch konkretisiert und damit Stufungen oder Eingrenzungen persönlicher Freiheit und Gleichheit neu begründet werden mochten, so waren sich doch alle der Aufklärung zugewandten Menschen darin einig, daß Stände, besonders wenn sie erblich vorbestimmt waren, in Staat und Gesellschaft keinen Platz mehr haben konnten und der Auslese nach Leistung und Eignung im gesellschaftlichen Funktionszusammenhang zu weichen hatten. Dies wurde sowohl zweckrational wie ethisch mit dem Postulat der Würde des Menschen begründet,,27. 26 Zum allmählichen Obsoletwerden der Funktionsstände trug vor allem auch bei, daß mit den zugeschriebenen Funktionen längst nicht mehr die Realität erfaßt werden konnte. Der Adel hatte die ihm zugeschriebene Schutzfunktion seit der frühen Neuzeit verloren; besonders anstößig war der Widerspruch zwischen der behaupteten Funktion und dem bloßen Privilegiencharakter seiner Stellung in Frankreich. 27 Conze, Art. "Stand, Klasse" (Anm. 6), 216. Dort auch die Kernsätze, mit denen Kant das Ende des Prinzips des Standes begründet: Der bürgerliche Zustand, das Gegenteil zur Ständeordnung, beruhte für Kant auf der "Freiheit jedes Gliedes der Sozietät als Menschen, auf der Gleichheit ... als Untertan sowie auf der Selbständigkeit jedes Gliedes eines gemeinen Wesens, als Bürger". Aus der allgemeinen Rechtsgleichheit im Gemeinwesen folgte für ihn: ,,Jedes Glied desselben muß zu jeder Stufe eines Standes in denselben ... gelangen dürfen, wozu ihn sein Talent, sein Fleiß, und sein Glück hinbringen können: ... Da nun Geburt keine Tat desjenigen ist, der geboren wird, mithin diesem dadurch keine Ungleichheit des rechtlichen Zustandes und keine Unterwerfung unter Zwangsgesetze, als bloß diejenige, die ihm als Untertan der alleinigen obersten gesetzgebenden Macht mit allen anderen gemein ist, zugezogen wird: so kann es kein angeborenes Vorrecht eines Gliedes des gemeinen Wesens

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4. Die Ausformulierung des Ständestaates in den Elementen der Berufsstände und die spezifische Form der Ausformulierung im Recht dürfen nicht zu dem Mißverständnis führen, daß die Ständeordnung nur im Recht verwurzelt sei, sozusagen von außen her komme. Die Ständeordnung ist stattdessen, wie schon erwähnt, tief in der Gesellschaft und ihren Grundanschauungen verwurzelt. Sie wird dort prekär, wo diese Verwurzelung in der Gesellschaft im Schwinden begriffen ist, wo die Gesellschaft aus sich heraus die bisher konstituierende Ungleichheit nicht mehr mitträgt. In der Ständegesellschaft ist der Rang des einzelnen der Wegweiser zu all dem, was für den einzelnen wichtig ist und was andere an ihm interessiert. Über das Gegenüber in einer menschlichen Beziehung weiß man erst und vor allem Bescheid, wenn man seinen Rang kennt. Rang ist die Abbreviatur seiner ihm zugeordneten Eigenschaften und Rechte, eine Abkürzung für seine je eigene Substanz. Für die Ständeordnung ist die Vorordnung des Ganzen, des Standes oder der Gemeinschaft vor dem Individuum kennzeichnend. Vom einzelnen als solchem wird Einordnungsbereitschaft und Verständnis für die Einordnung verlangt28 ; es gibt viele konkrete Rechte der einzelnen Stände und damit ihrer Angehörigen. Es handelt sich dabei immer um Rechte im Plural. Es gibt gemessene, zugemessene, immer aber nur konkrete Rechte. Bei dem einzelnen ist primär seine Zugehörigkeit zu einem Stand. Daraus leiten sich seine Rechte, seine Position und Funktion ab. Der Rang ist die Veranschaulichung der Stelle in der hierarchisch aufgebauten Ordnung. Was uns heute bei den oberen Ständen als bloßes Vorrecht erscheinen mag, ist nach dem zeitgenössischen Selbstverständnis das diesen Ständen Zukommende, das ihnen Gemäße. Diese - unterschiedlichen - Zuweisungen sind notwendig um der Funktionsfähigkeit des Ganzen willen. Noch umfassender gilt: Primär ist für das Ständedenken die Seinsordnung, eine Ordnung, die ihrerseits als gestuft vorgestellt wird. Positiv besetzt ist der Gedanke der Ungleichheit an Funktionen und an Rechten. Die wichtigste Maxime ist: Jeder hat das Seine, das ihm Gemäße und Zugeordnete zu tun (und sich von dem anderen femzuhalten). Dies wendet sich natürlich in besonderer Weise an die Unteren in der ständischen Gliederung. Der Übergang zur modemen Gesellschaft und zum Rechtsstaat ist ein grundlegender Systemwechsel, dem als solchem eine neue Fundamentaltheorie zugrunde liegt. Primär ist nun das Individuum. Die Individuen werden als Personen, als Rechtspersonen zur Grundlage des Gesellschaftsmodells und des Rechts. Dies gilt als Mituntertan vor dem anderen geben; und niemand kann das Vorrecht des Standes, den er im gemeinen Wesen inne hat, an seine Nachkommenschaft vererben". 28 Dies schließt Mobilität und insbesondere Auf- und Abstieg im Generationswechsel nicht aus. Aber im Unterschied zur modernen industriellen Gesellschaft mußte sich Mobilität in der Ständegesellschaft gegen das geltende Normsystem für soziales Verhalten durchsetzen, so zu Recht A. Laufs/ A. Eichener, Art. "Stände, Ständewesen", Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, 1990, Sp. 1904.

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sowohl im Privatrecht, das mit den Grundsätzen der allgemeinen Rechtsfähigkeit und der Privatautonomie jede Person befähigt, mit allen anderen Personen in Rechtsbeziehungen zu treten. Insbesondere wird das darauf aufbauende Privatrecht inhaltlich knapp: Personen agieren miteinander unter den relativ wenigen Rahmenbedingungen des zwingenden Rechts. Das Individuum ist auch der Ausgangspunkt im Verhältnis von Staat zu seinen Angehörigen. Gemäß der naturrechtlichen Vertragskonstruktion waren und sind es die einzelnen, die sich zur Gesellschaft und zum Staat zu bestimmten Zwecken zusammengeschlossen haben. Ungefiltert treffen die allgemeine Staatsgewalt und der einzelne aufeinander. In diesem Grundverhältnis hat der einzelne nicht spezielle Freiheiten, sondern primär die allgemeine Freiheit im Rahmen der Gesetze. Der einzelne entfaltet sich, er erbringt Leistungen, er erwirbt dadurch Positionen und er Hat Anspruch auf fairen Zugang zu Ämtern. Wichtig ist nun im weiteren: In der vernunftrechtlich vorgeprägten individualistischen Staatstheorie hat der einzelne keine explizite Funktion für das Ganze. Seine Grundausstattung als rechtlich voll befähigte Person ist nicht funktionalisiert auf das Ganze der Gesellschaft oder des Staates. Er hat seine Position nicht, um damit in einem speziellen oder ausformulierten Sinn einen Beitrag zum Ganzen zu leisten. Die neue Theorie ist damit nicht nur eine individualistische Staatstheorie, sondern auch eine individualistische Gesellschaftstheorie. Der einzelne hat auch für die Gesellschaft nicht mehr eine explizite Funktion, von der aus sein Entfaltungswille ein bestimmtes Ziel erhalten würde. Wenn man über den Zusammenhang zwischen der Entfaltung der vielen einzelnen und dem Ganzen eine Aussage machen will, dann stößt man wohl auf die gedankliche Grundfigur von Adam Smith, mit der er zunächst die Ökonomie, dann wohl das ganze westliche Denken fasziniert hat: Über das Ganze braucht man sich nach diesem Verständnis keine weiteren Gedanken zu machen, auch nicht darüber, ob es zu einem guten Ganzen kommt, wenn man nur die Entfaltung der einzelnen ermöglicht, ja entfesselt. Wenn man nur das Gewinnstreben, den Egoismus, den Eigensinn der einzelnen freisetzt, dann wird sich hinter dem Rücken der vielen Egoisten das allgemein Richtige und Gute von allein herstellen. In diesem Sinne vertraut die modeme Gesellschaft auf Markt, auf Wettbewerb und Konkurrenz und sie fühlt sich in den Herausforderungen der jeweiligen Zeit so sicher oder unsicher, wie sie tatsächlich und überzeugt auf diesen Mechanismus (und auf die ergänzende Aufgabenwahmehmung durch den Staat) vertraut oder vertrauen kann. 11.

In der europäischen Entwicklung ist der geschilderte Übergang ein Markstein in der Modernisierung. Nicht nur, daß es zur Ablösung der ständischen Gesellschaft kam, sondern auch, wie dieser Prozeß geistig vorbereitet war, durch welche neue Annahmen die staatsbürgerliche Gesellschaft fundiert wurde, ist für den europä-

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ischen Weg der Modernisierung und für die Entwicklung der gegenwärtigen europäischen Rechtskultur von Bedeutung gewesen. Wenn im folgenden der Blick auf die japanische Entwicklung gelenkt wird, so geschieht dies nicht allein aus dem generellen Reiz des Vergleichs als solchem, sondern speziell aus der Erwartung, daß der den eigenen Kulturkreis überschreitende Vergleich angesichts des beschleunigten Austausches zwischen den verschiedenen Weltregionen heute ein zunehmend wichtiger werdendes Forschungsthema ist29 • 1. Von den verschiedenen Epochen der japanischen Geschichte interessiert hier die Zeit nach den langen Bürgerkriegen und der Reichseinigung um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Nach 1615 hat sich das Tokugawa-Shogunat stabilisiert und die weitere Geschichte bis 1868 bestimmt. In dieser Tokugawa- oder Edo-Zeit hat es ein Ständesystem mit vier Klassen gegeben, die stark gegeneinander abgeschottet waren. In der davorliegenden japanischen Geschichte gab es schon einige Epochen, in denen man die Gesellschaftsordnung als feudalistisch bezeichnen könnte; sie sollen hier indessen nicht betrachtet werden; Gegenstand ist vielmehr die eigentümlich ständisch-feudale Struktur der Tokugawa-Zeit3o • Aus der Literatur ergibt sich das folgende Bild: Die frühen Tokugawa-Shogune standen dem akuten Problem gegenüber, nach langen Kriegswirren die gesellschaftliche Ordnung wiederherzustellen. Ihre Antwort war die Formierung einer Gesellschaft der Klassen und der großen Gruppen, die Abkehr von der persönlichen Machtausübung und die Hinwendung zur Gesetzesherrschaft. Die Beurteilung dieser Zeit und ihrer Gesellschaftsordnung ist durchaus unterschiedlich. Verschiedene Historiker haben hart über den konservativen und restriktiven Charakter des Tokugawa-Regimes geurteilt. Die Gesetze der Zeit gelten als drohend und repressiv. Andere Autoren machen demgegenüber geltend, daß diese Regelungen weit verbreiteten japanischen Anschauungen entsprechen. Hier interessiert, daß die Tokugawa-Gesetzgebung31 von der Voraussetzung ausgeht, daß eine natürliche Ordnung existiere. In der Annahme, daß die Gesellschaft von Natur aus eine Klassenhierarchie hervorbringe, wurden die Gesetze auf soziale Grundkategorien hin 29 Das folgende ist ein erster Versuch. Er wird nicht mit dem Anspruch unternommen, daß ein Japankenner eigene Forschungserkenntnisse ausbreitet. Die Darstellung fußt in den inhaltlichen Aussagen und Wertungen auf der angegebenen Literatur und bringt dies auch durch die Form des wörtlichen Zitats immer wieder zum Ausdruck. 30 Zur Begriffsverwendung von Feudalismus vgl. Hall (Anm. 3). Jedenfalls besteht Einigung darüber, daß durch tiefgreifende (gesetzliche) Maßnahmen zu Beginn der TokugawaZeit die japanische Gesellschaft grundlegend verändert worden ist und eine eigengeartete politisch-gesellschaftliche Struktur entstand, die häufig als zentralisierter Feudalismus gekennzeichnet wird; dazu auch Juniehe Murakami, Einführung in die Grundlagen des japanischen Rechts, 1974, 9f. 31 Hier und im folgenden nach J. W. Hall, Das japanische Kaiserreich, 1968 (Fischers Weltgeschichte). - Zur Klassenstruktur vgl. auch Wakita Osama, The Sozial and Political Consequences of Unification, in: J. W. Hall (ed.), The Cambridge History of Japan, vol. 4, 1991, 122 ff. und die Stichworte "Bauer", "Bürger" und "Krieger", in: Hammitzsch (Anm. 3) Sp. 370 ff., 378 ff., 435 ff.

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angelegt, um eine Machtausübung aufgrund der Standeszugehörigkeit zu ermöglichen. Unter dem Tokugawa-Regime setzte sich mehr und mehr die funktionelle Unterscheidung von vier großen Klassen durch, und man stufte den einzelnen zuerst nach seinem Rang oder seiner Stellung und dann innerhalb seiner Gruppe oder Gemeinde ein. Man hat dieses Regime als Herrschaft durch Standeszugehörigkeit 32 bezeichnet. Viele der von den Tokugawa-Shogunen erlassenen Gesetze dienten daher der Klärung der Grenzen zwischen den verschiedenen Klassen und dem Bemühen, das jeder Schicht angemessene Verhalten festzulegen. Das Vier-Klassen-System bestand aus: Samurai, Bauer, Handwerker und Kaufmann 33 . Die Heirat zwischen Personen unterschiedlichen Standes war verboten. Für jede Klasse galten bestimmte grundlegende Gesetze und Einzelverordnungen, die z.T. in Sammlungen zusammengefaßt waren, wie etwa im Samurai-Kodex, in dem u.a. der Kleidungsstil, die Art der Häuser, die Konsumgewohnheiten und sogar die Form der Unterhaltung spezifiziert wurden 34 . Auch für die anderen drei Klassen waren in Einzelvorschriften ihr spezifischer Lebensstil im näheren geregelt; für jeden Stand waren Wohnort, Beruf und Kleidung vorgeschrieben. Die Samurais waren die aktiven Führer der Gesellschaft mit Aufgaben der kriegerischen Bereitschaft und - je länger, desto mehr - in der zivilen Verwaltung. Eingang in die Samurai-Klasse zu finden, war nur schwer möglich, nachdem die Konsolidierungskriege einmal vorüber waren. Man machte alle Anstrengungen, fließende Grenzen zu verhindern. Nur gelegentlich erhielten einzelne Angehörige der obersten Schichten der Bauernschaft oder Kaufmannschaft, meist aber nur für sich persönlich, das Privileg, in die Samurai-Klasse einzurücken. Das Vier-Klassen-System führte im übrigen nicht nur zu einer funktionalen Differenzierung, sondern diente auch als Begründung für eine physische Trennung in der frühen Tokugawa-Zeit. Kaufleute und Handwerker zog man in den Städten zusammen, um den Samurai den Zugang zu ihren Dienstleistungen zu erleichtern und den Kontakt zwischen ihnen und den Bauernproduzenten möglichst gering zu halten. Auf diese Weise hatten die Bauern nur einen geringen Kontakt mit Kaufleuten und Handwerkern. Räumliche Trennung sollte die funktionale Differenzierung erleichtern 35 .

32 Diese Charakterisierung geht auf die Arbeiten von D. Hendersen zurück, so: Conciliation and Japanese Law: Tokugawa and Modem, 1965; ders., Law and Political Modemization in Japan, in: Ward (ed.), Political Development in Modem Japan, Princeton University Press, 1968. 33 So die übliche Bezeichnung und die die gesellschaftliche Struktur hervortreten lassende generelle Charakterisierung. Neben den vier Klassen sind noch die Hofbeamten, die Priester und jenseits der Klassen die "Paria" zu erwähnen; im einzelnen dazu Hall (Anm. 31), 178. 34 Mehr dazu P. Duus, Stichwort "Krieger", in: Hamitzsch (Anm. 3), Sp. 435 ff. 35 WB. Hauser, Stichwort ,,Bürger", in: Hammitzsch (Anm. 3), Sp. 379 f.

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Die Stellung des einzelnen in dieser ständischen Ordnung faßt HaU 36 wie folgt zusammen: Für das Individuum galten in Japan der Tokugawa-Zeit zunächst diese allgemeinen ständischen Verordnungen, unmittelbar unterstand es jedoch der Regierungsbehörde der Verwaltungseinheit, in der es lebte. Die Samurai lebten in Verbänden von Gefolgsleuten und weiter in kleineren Mannschaften, deren jede einen Mannschaftsführer besaß. Die Bauern waren in Dörfern und in diesen wiederum in Gruppen gegenseitig verantwortlicher Familien (Fünferschaft), die auf 10 Familien erweitert werden konnten, zusammengeschlossen. Sie unterstanden somit zuerst dem Oberhaupt der Gruppe und dann dem Dorfvorsteher. Charakteristisch für die Tokugawa-Zeit ist, daß in jeder der oben erwähnten Einheiten die einzelnen sorgfältig nach Haushalten registriert wurden. Wichtig ist auch die Gruppenverantwortlichkeit und - wenn Vergehen oder Verbrechen vorlagen - das Verfahren der stellvertretenden Bestrafung. "Die Einzelpersönlichkeit als solche gab es im Tokugawa-Recht in Wirklichkeit nicht. Die kleinste Einheit war vielmehr die Familie und das Individuum existierte nur als Mitglied der Familie - als Familienoberhaupt, als Sohn und Erbe, als zweiter Sohn, Tochter, Frau usw. In allen Gesellschaftsschichten wurden der Familienstatus und die Erhaltung der Familie, der als Einheit aller Besitz und alle Privilegien gehörten, Faktoren von äußerster Wichtigkeit. Welche Bedeutung sie in der Klasse der Samurai hatten, zeigt sich an der Häufigkeit des rituellen Selbstmordes (seppuku), durch den ein Samurai ein Verbrechen sühnen und gleichzeitig das Fortbestehen seines Familiennamens sichern konnte." 2. Für die Ständeordnungen Alteuropas hat sich ergeben, daß die konkreten Ständegliederungen und ihre rechtliche Ausformulierung tief verwurzelt waren in metaphysisch-ethisch-religiösen Grundannahmen. Ähnliches gilt für die Vier-Klassen-Gliederung der Tokugawa-Zeit. Sie fand ihre geistige Grundlage im Neokonfuzianismus, der für diese Zeit zur wichtigsten geistigen Grundlage der Gesellschaft wurde und insbesondere die Vorstellungen von staatlicher Ordnung und den sozialen Verhalten stark prägte37 . Im vorliegenden Zusammenhang lag die Bedeutung des Konfuzianismus für die politische Ordnung darin, "daß er eine neue Philosophie bot, auf die sich eine harmonische Gesellschaft stützen konnte. Er gab der Vorstellung, daß eine Gesellschaft aus einer natürlichen Klassenhierarchie besteht, in der jeder, der seinen ihm zugeteilten Platz einnimmt, seine Bestimmung erfüllt, eine rationale Grundlage. Damit trug er zur Stärkung des Trends zur Klassentrennung und zur Kodifizierung des jeden Stands angemessenen Verhaltens bei,,38. Im (Anm. 31),179. Im einzelnen war die Situation komplizierter: Buddhismus und Shinto waren in der Tokugawa-Zeit nicht völlig verdrängt, sondern auf alle drei Strömungen stützte sich die Gesellschaft, wenn auch mit unterschiedlichem Anwendungsbereich: Dem Durchschnittsjapaner formten Buddhismus und Shinto ein religiöses Weltbild, während seine Vorstellungen von staatlicher Ordnung dem Shinto und Konfuzianismus entstammten und Konfuzianismus und Buddhismus ihm die Werte sozialen Verhaltens lehrten, so Hall (Anm. 31), 180. 38 Hall (Anm. 31),184. 36 37

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Konfuzianismus wurden nämlich Theorien über das statusgemäße Verhalten für jede Klasse und für jeden Beruf entwickelt. Jede Gruppe hatte danach ihren "Weg" (do), wie z. B. den bushido (Weg des Samurai) oder den chonindo (Weg des Kaufmanns). Mit einiger Berechtigung hat man auf die Parallele zwischen dieser Spielart des Neo-Konfuzianismus mit dem europäischen Aristotelismus hingewiesen 39 . Was dagegen in dieser Zeit im Vergleich zur europäischen Entwicklung fehlt, ist die Ausbildung einer prinzipiellen Kritik und einer opponierenden Theorie. Murakami'~o spricht zwar bei einzelnen Denkern von einer Tendenz zu einem vernunftrechtlichen Denken und von Versuchen, mit dem Begriff der Natur im Sinne des Naturzustandes die ständische Gesellschaftsordnung zu kritisieren. Bezeichnenderweise fügt er hinzu: "Es fehlen ihm aber die Voraussetzung dafür, mit seiner Kritik die Subjektivität des Individuums zu verbinden und dann mit Hilfe des Denkschemas des Vertrages eine neue politische Ordnung zu entwerfen". Die Kennzeichnung der offiziellen Schulphilosophie der Tokugawa-Zeit als Neo-Konfuzianismus bringt im übrigen zutreffend zum Ausdruck, daß damit an ältere Traditionen angeknüpft wurde. Grundlegende Vorstellungen des Konfuzianismus waren auch in früheren Epochen der japanischen Gesellschaft wirksam und sind nicht an die hier betrachtete Epoche gebunden. Dazu gehört insbesondere die Maßgeblichkeit eines vertikalen Gesellschaftsmodells, d. h. die grundlegende Vorstellung von einem hierarchischen System der Über- und Unterordnung und der daraus resultierenden Notwendigkeit der Einordnung des einzelnen. 3. Die weitere Entwicklung in Japan nach der Tokugawa-Zeit ist in zwei Abschnitte einzuteilen, einerseits in die Epoche von 1868 bis 1945 und andererseits in die Nachkriegszeit nach 1945. Im Jahrzehnt nach 1868 wurden die meisten der alten Einschränkungen hinsichtlich der gesellschaftlichen Mobilität und wirtschaftlichen Betätigung aufgehoben. Das Vier-Klassen-System wurde abgeschafft, wobei die Absicht im Vordergrund stand, die Freiheit der Berufsausübung zu gewährleisten. Mit einem neuen Steuersystem wurden die Beschränkungen der Bauern aufgehoben 41 • Die schrittweise Abschaffung des Samurai-Standes war in erster Linie eine Folge des Aufbaus eines dienstpflichtigen Heeres. Andererseits räumte man Ex-Samurai und Ex-Daimyo noch einige Zeit eine gesonderte Behandlung ein; man schuf sogar eine neue Aristokratie. Zu Recht hebt Hall hervor, daß das modeme Japan auch weiterhin eine hierarchische Gesellschaftsordnung dort akzeptierte, wo es angemessen schien42 • Darauf ist zurückzukommen. Durch die Beendigung der Bindung an Klasse und Beruf wurden enorme Quellen menschlicher Energie freigesetzt. Den Murakami (Anm. 30) 15 f. Murakami (Anm. 30),19. 41 Hall (Anm. 31), 272 zu dem Unterschied in den Besitzverhältnissen zwischen dem feudalistischen Europa und Japan. 42 (Anm. 31), 275. 39

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Begabten wurde der Weg zu einer Vielzahl neuer Beschäftigungen und Berufe geöffnet43 . Im weitgehenden oder vollständigen Abbau der alten Schranken entspricht die japanische Entwicklung der kontinentaleuropäischen. Im vorliegenden Zusammenhang ist nunmehr die entscheidende Frage, was in Japan an die Stelle der Stände trat, ob dies, wie in der staatsbürgerlichen Gesellschaft Europas, grundsätzlich das Individuum ist (mag auch die Durchsetzung dieses Modells im 19. Jahrhundert noch einige Zeit in Anspruch genommen haben). Die Ablösung der Ständegesellschaft und der ihr zugrunde liegenden Auffassungen war in Europa mit einem Paradigmenwechse1 in den Auffassungen über Staat und Gesellschaft und der Stellung des einzelnen in beiden verbunden. Eine entsprechende Abkehr von den geistigen Grundlagen der davorliegenden Epoche und den traditionellen Anschauungen findet sich in Japan nicht. Nach dem Beginn der Modernisierung kam es zu einer Renaissance des Konfuzianismus. Der Doppe1charakter des japanischen Wegs der Modernisierung kann durch die einflußreiche und wirkkräftige Parole: "Japanischer Geist mit westlichem Wissen,,44 gekennzeichnet werden. Ein Niederschlag dieses Doppe1charakters findet sich auch und gerade im Recht. Auf der einen Seite kam es zur Rezeption des westlichen Rechts, insbesondere des deutschen und französischen Zivilrechts in allen Bereichen, die mit der modemen Verkehrswirtschaft zusammenhängen. Während in diesen Teilen der Rechtsordnung der Individualismus systembestimmend wurde45 , dominierten im Familien- und Erbrecht traditionelle Vorstellungen, die ein anderes und eigenständiges Menschenbild zur Geltung brachten. Von allen Beobachtern der japanischen Entwicklung in der Zeit zwischen 1868 und 1945 wird der Übernahme des traditionellen Haussystems in das Zivilgesetzbuch große Bedeutung nicht nur für das Privatrecht, sondern weit darüber hinaus für das gesamte Rechts- und Staatswesen Japans bis 1945 beigemessen46 . Die Vorstellung des vom Hausherm geleiteten Hauses wurde nämlich weit über seine Verwendung im Zivilrecht hinaus zu einem Grundmodell des sozialen-politischen Denkens, sie konnte eine besonders intensive Verbindung mit der konfuzianischen Haussittlichkeit eingehen und darüber hinaus in der Fonn eines abstrakten Hausbegriffes auch das entscheidende Grundrnuster des Staatsverständnisses werden: Um die Jahrhundertwende war die ideologiHall (Anm. 31), 297. Zu dieser Parole "wakon yosai" G. Rahn, Rechtsdenken und Rechtsauffassung in Japan. Dargestellt an der Entwicklung der modernen japanischen Zivilrechtsdogmatik, 1990,65 sowie R. R. Bahr, Die Grenzen westlicher Rationalität und Wissenschaft bei der Beurteilung der Modernisierungsprozesse in Japan, in: FS für Zentaro Kitagawa, 1992,3 ff., 15 ff. 45 Murakami (Anm. 30), 51. 46 Zum Hauswesen und zur Hausideologie Murakami (Anm. 30), 52, 53 ff.; Rahn (Anm. 44); R. Mathias-Pauer, Mensch und Gesellschaft, in: M. Pohl (Hrsg.), Japan, 1986, 207 f. Vgl. auch S. Linhart, Stichwort "Familie", in: Hammitzsch (Anm. 3) Sp. 546ff.; W MüllerFreien/eis, Japanisierung des westlichen Rechts oder Verwestlichung japanischen Rechts, in: H. Coing u.a. (Hrsg.), Japanisierung des westlichen Rechts, 1990, 179 f. 43

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sche Konstruktion eines japanischen Familienstaates voll ausgebildet. Die zentrale Vorstellung des Hauses bildete sozusagen die Brücke zwischen der kindlichen Ehrfurcht im kleineren Familienverband und den Untertanenpflichten gegenüber dem Kaiserhaus als dem höchsten Stammhaus. Konfuzianische Ethik und Staats-Shintoismus mit seiner Mitte im Ahnenkult der Vorfahren des Kaisers wuchsen zusammen zu einer Staatsauffassung, mit der die Einzigartigkeit der japanischen Nation aus ihrer Homogenität undjahrtausendealten Traditionen begründet wurde47 . Im Ergebnis wurden durch die Aufnahme des Hauswesens in die positive Rechtsordnung bestimmte Vorstellungen aus der Tokugawa-Zeit (die damalige Ethik der obersten Klasse der Samurai) in der modemen Gesellschaft nicht nur bewahrt und kultiviert, sondern verstärkt, nämlich für alle Schichten verbindlich gemacht48 . Die erwähnte Parallele zwischen dem Verhältnis von den Kindern und Eltern (die volle Unterordnung und die kindliche Ehrfurcht) mit dem Verhältnis Untertan-Kaiser leistete die Einordnung aller in die große Gemeinschaft der Nation einerseits und die Einordnung des einzelnen in den engeren Verband des Hauses andererseits. Die Rolle des "Hauses" im Zivilgesetzbuch beschreibt Murakami 49 wie folgt: Die haus väterliche Gewalt bestand aus verschiedenen Befugnissen. "Der Hausherr konnte der Eheschließung eines Hausmitglieds Erlaubnis erteilen (allerdings nicht unbedingt notwendig), den Wohnort eines Familienmitglieds bestimmen, im Falle des Verstoßes gegen seinen Befehl ein Hausmitglied aus dem in Häusern gegliederten öffentlichen Stammbuch (Hausstandsregister) streichen lassen oder die Wiedereintragung ablehnen, einem Hausmitglied die Gründung eines neuen Hauses (Hausspaltung) erlauben, den Ahnenkult verwalten und darüber entscheiden, ob ein uneheliches Kind in das Haus aufzunehmen war. Im Zusammenhang mit diesem Recht des Hausherm stand dem ältesten Sohn (beim Fehlen der männlichen Abkömmlinge: der ältesten Tochter) das Recht und die Pflicht zu, das Haus zu erben, d. h. an die Stelle des verstorbenen oder zurückgetretenen Hausherm zu treten und das ganze Hausvermögen zu übernehmen". Wichtig ist also auch die Ungleichheit der Kinder und die Sonderstellung des ältesten Sohnes (bzw. der ältesten Tochter). Im Zusammenhang des Themas ist auch bedeutsam, daß mit dem Haus eine eigene Gemeinschaft gebildet wurde, daß nach dem Abbau der Ständegesellschaft nicht das freie Individuum übrig blieb, sondern mit dem Haus eine engere Einheit zur Verfügung stand, die dem einzelnen vorgeordnet war. 47 Rahn (Anm. 44), 69 f. mit dem Hinweis auf die typischen Schlagworte der Anhänger der Konzeption bzw. Ideologie des Familienstaates: Herrscher und Untertan - eine Familie, oder: In der Pflicht Herrscher und Untertan, im Gefühl Vater und Kind (ebd., 56). Insgesamt zur geistigen Restauration Rahn, ebd., 64 ff. Vom ..Familismus" der zu einem beherrschenden Prinzip in der damaligen japanischen Gesellschaft wurde, spricht Mathias-Pauer (Anm. 46), 207f. 48 Mathias-Pauer (Anm. 46), 207 f. unter dem Stichwort: traditionelle Werte in der Moderne. 49 (Anm. 30), 55 ff.

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Weiterhin ist von besonderer Bedeutung die charakteristische Art, wie diese Hausideologie in die Rechtsordnung eingebaut wurde. Natürlich wäre die Aufnahme der gesamten Hausideologie im Zivilgesetzbuch ein Bruch mit dessen vermögensrechtlichem Teil gewesen. Murakami schildert anschaulich die Problemeso . Auf der einen Seite konnte man den eigentlichen Kern der Ideologie, die mit dem Ahnenkult verbundene Autorität des Hausherm, nicht rechtlich begründen. Andererseits mußte ein Mindestmaß der Rechtsverhältnisse des Hauses in den familienund erbrechtlichen Teil des Zivilgesetzbuches eingeführt werden: "Aber den Kritikern schien es verwerflich, nicht nur das Kind oder die Ehefrau ein Recht gegenüber den Eltern oder gegenüber dem Ehemann behaupten zu lassen, sondern auch die Autorität der Eltern oder des Ehemannes überhaupt mit einem Rechtsbegriff zu erfassen. Um so tadelnswerter sei das Prinzip, daß ein Hausmitglied zur Durchsetzung des vom Gesetz gewährten familien- oder erbrechtlichen Anspruchs Klage erheben dürfe. Ein Beamter sagte damals: Als ich erfuhr, daß nach dem neuen ... Zivilgesetzbuch eine Ehefrau gegen ihren Mann, ein Kind gegen seine Eltern Klage erheben kann, war ich tief schockiert. Darauf fragte ich den Justizminister, ob dies wirklich der Fall sei. Er antwortete, daß es unvermeidlich sei, denn die westlichen Staaten würden der Abschaffung der Exterritorialität nicht zustimmen, wenn wir ein Zivilgesetzbuch westlichen Stils nicht aufnähmen. Unter dieser Voraussetzung blieb nur übrig, alles durch die Bildungspolitik zu erledigen"sl. Für das weitere ist nun sehr wichtig zu verstehen, was es heißt, daß alles "durch die Bildungspolitik zu erledigen" war. Verwiesen wird damit auf die Funktion des Erziehungswesens, als Gegengewicht zu der westlich orientierten Meiji-Verfassung des Jahres 1889, um die traditionellen Grundlagen der Moralität des japanischen Volkes zu sichern. Genau in diesem Sinne zielte das berühmte kaiserliche Erziehungsedikt von 1890 darauf, daß in der Schule die Tugenden (der kindlichen Ehrfurcht und der Untertanenpflicht) und die maßgebliche Sittlichkeit begründet und eingeübt werden sollten. Was nicht im Gesetz erscheinen konnte, was nicht rechtlich zu regeln war, wird durch die Erziehung und durch die Sitte befestigt und streng befestigtS2 . Das komplementäre Verhältnis von gesetzlicher Regelung und ethischer Orientierung erweist sehr eindrücklich, daß die japanische Kultur Alternativen zum Recht zur Verfügung hat, die das vorhandene Recht wirksam ergänzen, vielleicht auch seiner Anwendung in der Praxis Grenzen setzen. Ob dies auch heute trotz stark gewandelter Verhältnisse gilt, führt zu den interessantesten Forschungsfragen, die der Rechts- und Kulturvergleich zwischen Europa und Japan aufwirft und zu denen hier nur vorsichtig Stellung genommen werden soll.

(Anrn. 30), 56 f. Murakami (Anrn. 30), 57. 52 Wortlaut des Edikts bei Rahn (Anrn. 44), 67f; dort auch zur weiteren Bedeutung dieses Edikts bis 1945. 50

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4. Für die Nachkriegsentwicklung ist der Einschnitt, den das Jahr 1945 brachte, nachhaltig. Unter dem hier interessierenden Gesichtspunkt ist die Abschaffung des Staats-Shintoismus und die Beseitigung der Hausideologie von zentraler Bedeutung. Ausdrücklich wird das Individuum in der Rechtsordnung angesprochen, zentral in der Verfassung von 1947. Art. 13 lautet: "Alle Bürger müssen als Individuen respektiert werden. Ihr Recht auf das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glück muß in der Gesetzgebung und den anderen Regierungstätigkeiten maximal berücksichtigt werden, insoweit es das öffentliche Wohl nicht beeinträchtigt". Mit innerer Folgerichtigkeit taucht der Bezug zur Einze1persönlichkeit in dem der Ehe gewidmeten Artikel 24 auf. Nach Absatz 2 müssen Gesetze bezüglich der Wahl des Ehegatten, des Güterrechts, der Wohnsitzbestimmung usw. erlassen werden "auf der Basis der Würde der Einzelpersönlichkeit und der wesensmäßigen Gleichberechtigung von Mann und Frau". § 1 a jap. BGB in der Fassung von 1947 wiederholt diese Verfassungsnorm: "Dieses Gesetz ist im Sinne der Würde des Individuums und der wesentlichen Gleichberechtigung der Geschlechter auszulegen". Zugleich wurde der familien- und erbrechtliche Teil des Zivilgesetzbuches grundlegend verändert, das Hauswesen und damit die Vorschriften über die hausherrliche Gewalt abgeschafft, die vollständige Geschäftsfähigkeit der Frau, die Gleichberechtigung der Geschlechter und das Gleichheitsprinzip unter den Kindern anerkannt. Die Rechtsordnung vollzog den Bruch mit der Tradition vollständig trotz erheblichen Widerstands von konservativen Wissenschaftlern und Politikern. War bis zur Reform das Recht konservativer gewesen als die sozialen Gegebenheiten, so wurde es nun mit einem Schlag progressiver; Beobachter halten es deshalb nicht für verwunderlich, daß manche Reste des alten Familiensystems und -denkens auch heute noch in den Einstellungen der Menschen anzutreffen sind53 . Trotzdem ist unbestritten, daß die Neuerung sehr rasch in der jungen Generation und bei den Frauen Unterstützung fand 54 . Wie weit das gelebte Recht dem gesetzlichen Leitbild entspricht, ist dagegen schwierig einzuschätzen55. Die Lektüre von Gerichtsentscheidungen dürfte zur Beurteilung dieser Frage sicherlich nicht ausreichen. Wenn die japanische Kultur Alternativen zum gerichtlichen Verfahren, vielleicht auch Alternativen zum Recht zur Verfügung hat, dann muß der Blick auf die bedeutsame Rolle des Schlichtungsverfahrens im japanischen Familienrecht, aber auch generell in der Rechtsordnung fallen. In Familiensachen muß stets zuerst eine Schlichtung beantragt werden, in Zivilsachen ist sie nicht vorgeschrieben, wird aber stark praktiziert56 • Im vorliegenden Zusammenhang, in dem es um das VerLinhart, Stichwort "Familie", in: Hammitzsch (Anm. 3) Sp. 550. Murakami (Anm. 30), 105. 55 So betont etwa Müller-Freienfels (Anm. 46), 181, daß die Neuerungen mehr individualistischen Gedankengängen folgen, setzt aber zugleich hinzu, daß der Sieg des Neuen nicht das unbemerkte Durchsickern des Alten hinderte - wie auch sonst im japanischen Denken. Bei der Bemerkung von Murakami (Anm. 30), 105, daß man nicht ohne weiteres von der Feststellung des Individualismus im Familienleben sprechen konnte, ist nicht ganz deutlich, ob sich dies nur auf die Zeit der 50er Jahre oder auch auf die Gegenwart bezieht. 53

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hältnis zwischen geschriebenem und gelebtem Recht geht, ist von Bedeutung, nach welchen inhaltlichen Maßstäben sich die Schlichtung richtet. Einerseits ist die Schlichtung genaugenommen eine Art der gerichtlichen Konfliktlösung 57 ; sie wird von einer Schlichtungskommission, bestehend aus einem Richter und zwei Laien, vorgenommen. Andererseits soll das Verfahren flexibel, schnell und billig sein und zu einer Einigung, oft im Sinne des gegenseitigen Nachgebens, führen. Immerhin hatten Konservative in den 50er Jahren für ihr Bestreben, Teile des alten Hauswesens zu retten, Hoffnungen auf das neue Familiengericht gesetzt, das mit seinem Schlichtungsverfahren eine außerrechtliche, moralische Lösung der Konflikte in der Familie versuchen sollte58 . Ob sich diese Erwartungen später im erhofften konservativen Sinne realisiert haben, kann hier nicht beurteilt werden. Daß die flexiblen Schlichtungsverfahren grundsätzlich aber eine Möglichkeit bieten, außerrechtliche, moralische, damit auch traditionelle Vorstellungen in die Konfliktlösung einzubringen, erscheint plausibel und naheliegend. Im entscheidenden Detail muß dieses Problem als eine offene und vielleicht als die eigentlich interessante Forschungsfrage im Hinblick auf die eigengeartete Institution der Schlichtung in Japan gelten. Im größeren Zusammenhang der Einschätzung des japanischen Wegs der Modernisierung stellen sich eine Reihe von Fragen. Belegen die oben zitierten Vorschriften, die das Individuum und die Einzelpersönlichkeit ausdrücklich erwähnen, daß sich Japan, wenn zwar nicht in den Jahren nach 1868, so doch nach 1945 wie die westlichen Gesellschaften auf die Grundlage einer individuen-zentrierten Gesellschaft gestellt hat? Gewiß verbietet sich eine pauschale Antwort. Vor allem wäre es gerade bei einem die unterschiedlichen Kulturen übergreifenden Vergleich viel zu vordergründig, nur den Text von Rechtsvorschriften nebeneinander zu stellen. Zu Recht betont etwa Llomparr 9 , daß das lebende Recht in Japan nicht so europäisch (oder westlich) ist, wie der Wortlaut der japanischen Rechtsnormen und die gesamte Rechtsdogmatik oder Rechtsphilosophie der japanischen Rechtsgelehrten es sind. Ist schon die Frage nach der Eigenart der japanischen Rechtsauffassung lebhaft umstritten, so muß dies noch mehr für die weiterreichende Frage 56 Zahlen zur Bedeutung der Schlichtung und zur rückläufigen Tendenz der Schlichtungsquote bei Kiyoshi Igarashi, Einführung in das japanische Recht, 1990, 46. - Insgesamt zum Schlichtungsverfahren: Masasuke Ishibe, Das Schlichtungswesen aus rechtshistorischer und rechtsvergleichender Sicht, in: K. Kroeschell (Hrsg.), Recht und Verfahren, 1993, 215 Cf. und D. Leipold, Der Schlichtungsgedanke zwischen Realität und Utopie, ebd., 237 Cf. 57 So Igarashi (Anm. 56), 46; dort auch zu den Schwierigkeiten, für die Vielzahl der Schlichtungen Richter zu finden. Nicht ganz deutlich ist die Passage: ,,Eigentlich soll ein Richter die Schlichtung lenken. Leider haben die Familien- und Amtsgerichte zu wenige Richter angesichts der Vielzahl von Scheidungen. Deshalb werden die Schlichtungen meist von Laien erledigt". 58 Murakami (Anm. 30), 104f. 59 J. I1ompart, Japanisches und europäisches Rechtsdenken, in: M. Yasaki u.a. (Hrsg.), Japanisches und Europäisches Rechtsdenken - Versuch einer Synthese philosophischer Grundlagen, Rechtstheorie Bd. 16, 1985, 131, 137.

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gelten, wie sich die grundsätzlichen Vorstellungen über Staat und Gesellschaft nach 1945 im Zuge der Demokratisierung verändert haben. Für den europäischen Betrachter kommt erschwerend hinzu, daß die Auffassungen der japanischen Autoren beträchtlich differieren, daß längere Zeit eine Tendenz vorherrschte, die Geprägtheit durch die eigene traditionelle Kultur gering zu veranschlagen und stattdessen die Übereinstimmung mit dem rezipierten westlichen Recht zu betonen60 . Aufschlußreich ist die jüngere Beurteilung von Tsuyoshi Kinoshita 61 , der unter der Fragestellung, zu welcher Rechtsfamilie (Legal group) das japanische Recht gehört, zusammenfassend bemerkt: "Some scholars argue that modem Japanese Law is not closely connected with traditional Japanese Law. That is to say, there is a historical discontinuity between the .. , traditional Japanese Law and ... modem Japanese Law. But if you look at the 'living law' you can find embodied in it the traditional conception of the Japanese Law. This means Japanese Law has been 'westernized', but it was and is not 'Western Law,,,62. Diesen Gedanken weiterführend, wird man auch für die Grundfragen der Vorstellungen über Staat und Gesellschaft nicht von einer einlinigen Rezeption, sondern von einer wechselseitigen Durchdringung rezipierter und traditioneller Elemente als plausible Ausgangshypothese ausgehen können. Mehr noch als bei der Beurteilung des Rechts und des Rechtsdenkens ist dies aber eine offene, noch wenig behandelte Forschungsfrage. In der Literatur erfährt man vieles über die traditionelle Gesellschafts- und Staatsauffassung von 1945 oder vor 1868, dagegen weniger zum Vermischungs- und Überschichtungsprozeß nach 1945. Im folgenden wird deshalb keine pauschale Antwort versucht, sondern an einigen Problemfeldern die vergleichende Problematik diskutiert. III.

Im weiteren geht es um einen Vergleich und um eine Spiegelung der eigenen Kultur in der fremden. Im Kulturvergleich werden wir auf die tieferen Bedingungen, Voraussetzungen und Verwurzelungen des Rechts in der jeweiligen Kultur aufmerksam. In ihm wird man sog. Selbstverständlichkeiten in der eigenen Kultur gewahr, die man zwar kennt, die aber erst im Vergleich sich deutlich und konturiert herausstellen. Gerade der Kulturvergleich mit Ostasien macht deutlich, daß

60 Für Llompart (Anm. 59), 137 Anm. 6 hat sich die Ignorierung der östlichen Kultur in der japanischen juristischen und rechtsphilosophischen Fachliteratur in den letzten Jahrzehnten verschärft. Im einzelnen muß dies offen bleiben, vor allem auch angesichts der gegenteiligen Stellungnahme von Tsuyoshi Kinoshita, Japanese Law and Western Law, in: FS für Zentaro Kitagawa, 1992, 199 ff. 61 (Anm. 60), 219. 62 Dazu nochmals Llompart (Anm. 59), 137 f.: "Die Theorie des Strafrechts (Strafrechtsdogmatik), wie man sie in Büchern und Aufsätzen lesen kann, ist ganz und gar 'made in Germany' , die praktische Anwendung des Strafrechts ist dagegen 'made in Japan'. also im Gegensatz zu Europa typisch japanisch".

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der gewohnten Rechtsvergleichung als einem Vergleich von Rechtsinstituten und -figuren die grundsätzlichere Frage nach der Rolle des einzelnen in der Gesellschaft und in seinem Verhältnis zum Staat und nach der Rolle des Rechts vorausliegt. Der Umfang, in dem das Recht in einer Gesellschaft ein Medium der Konfliktsteuerung ist, ist keinesfalls gleich, sondern kann beträchtlich variieren. Für die Frage nach der Bedeutung der Rechtsstaatskonzeption ist es in ähnlicher Weise eine entscheidende Vorfrage, welche Rolle das Recht für das Verhältnis des einzelnen zum Staat spielt, ob sich nach dem Grundverständnis einer Kultur und ihres Verfassungsverständnisses diese Beziehung grundsätzlich in den Fragen des Rechts zu bewegen hat. Der Vergleich soll auch dazu dienen, einiges von der bisher holzschnittartigen Darstellung zu verfeinern. Präzisierungen werden natürlich an vielen Stellen auch für das, was zu den europäischen Verhältnissen gesagt worden ist, notwendig. In Teil I ist sehr "idealtypisch" geschildert worden, daß dem einzelnen keine explizite Funktion für das Ganze mehr zugesprochen wird, daß er autonom ist und einen Eigenwert hat. Dies ist natürlich nur eine Variante des westlichen Denkens. Es ist dies die radikal vernunftrechtliche Rechtsstaatsvorstellung. Natürlich gab es daneben transpersonale Vorstellungen, so manche Varianten der Organismusvorstellungen in Deutschland, so die Interpretation etwa von F. J. Staht 3 • Bedeutsam ist im 19. Jahrhundert auch das Wirksamwerden der Nationalstaatsidee im Sinne eines Einordnung fordernden Nationalismus. 1. Eine erste Beobachtung gilt der gesellschaftlichen Strukturbildung. Die japanische Gesellschaft hat nicht nur in der historischen Zeit der Ständeordnung und nicht nur in der Epoche bis 1945 die Kraft zur inneren Strukturbildung erwiesen. Das Denken in Hierarchien ist mit der Auflösung der Ständeordnung nicht zu Ende gegangen. Das Denken in vertikalen Kategorien, insbesondere die Vorstellungen von unterschiedlichen Rängen bedürfen nicht der rechtlichen Begründung oder Absicherung, sie sind als Kategorien des gesellschaftlichen Umgangs und Verständnisses breit verfügbar. Schulen, Universitäten, ja schon die Eingangsstufe ins Erziehungs- und Bildungssystem: die Kindergärten, werden in ihrem unterschiedlichen Rang bestimmt und wahrgenommen. In bezeichnender Weise bildet die Sprache Rangvorstellungen ab. Wenn auch gegenüber der Zeit vor 1945 graduelle Nivellierungen der sozial differenzierten Ausdrucksweise festzustellen sind, der Sprachgebrauch sich gewandelt hat, so bleibt es doch weithin üblich, in vielen Bereichen der Gesellschaft, so auch im universitären Bereich, Rangunterschiede nach der Dauer der Gruppenzugehörigkeit durch entsprechende Anredeformen zum Ausdruck zu bringen64 . Das dahinterstehende Grundphänomen ist, daß die japani63 Dazu H. Hofmann, Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des Rechtsstaats, Der Staat Bd. 34 (1995), I, 5 f.. 64 Rahn (Anm. 44) 17 mit Nachweisen; B. Lewin, Stichwort "Höflichkeitssprache", in: Hammitzsch (Anm. 3), Sp. 1745, mit Hinweisen auf Änderungen in der neuesten Zeit Sp.1747.

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sehe Gesellschaft aus sich heraus Rangvorstellungen hervorbringt. Die Gesellschaft lebt in Rangunterschieden und macht sie vor allem sichtbar. Auch in westlichen Gesellschaften gibt es natürlich soziale Schichtung und gibt es die Vorstellung von oben, mitten und unten. Diese Unterschiede werden aber in der Öffentlichkeit nicht sichtbar gemacht, sie werden dadurch nicht verstärkt. Für den gesamten ostasiatischen Kulturkreis gilt dagegen als charakteristisches Kennzeichen der Sozialstruktur deren Vertikalität, d. h. ein hierarchisches System der Über- und Unterordnung und die daraus folgende Notwendigkeit der Einordnung des einzelnen 65 . 2. Eng verwandt mit dem erwähnten Vertikalismus im Denken über gesellschaftliche Verhältnisse ist die Interpretation der japanischen Gesellschaft nach dem sog. Gruppenmodell. Nach dieser Interpretation bildet in Japan eher die Gruppe als das Individuum die primäre Handlungseinheit. Innerhalb einer solchen Gruppe (z. B. Unternehmen, Ministerium, Verband) besteht ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl dergestalt, daß statt eines Klassen- ein Gruppen-Bewußtsein dominiert. Die einzelnen Gruppen stehen "vertikal" nebeneinander ohne horizontale Verbindung. Diese Gruppenorientierung hat nach geläufigen Auffassungen auch für das moderne Wirtschaftsleben große Bedeutung und gilt als mit ausschlaggebend für die weltweiten Erfolge der japanischen Unternehmen. Diese sind viel mehr als eine Stätte der Arbeit, die Betriebe sind nicht eine von vielen Teilwelten des einzelnen, sondern eine übergreifende Einheit, die häufig eine lebenslange Bindung von beiden Seiten zustandebringt. Auch wenn dies heute, wie überall und wie zu allen Zeiten, Änderungen unterliegt, ist von einer starken Bindungskraft der japanischen Betriebe auch heute noch auszugehen, insbesondere im Unterschied zu westlichen Gesellschaften. Erklärt wird dieser Gruppencharakter der japanischen Gesellschaft durchweg mit geistes- und sozialgeschichtlich begründeten Eigenarten der japanischen Kultur, die auch in der Gegenwart noch für wirkkräftig gehalten werden. In seinem aus- und tiefgreifenden Versuch, die geistigen Rahmenbedingungen der Entstehung der japanischen Rechtsordnung zu umschreiben, hat Guntram Rahn als traditionelle Merkmale der japanischen Denkart u.a. die folgenden Elemente zusammengestellt 66 : Als geistes geschichtliche Faktoren nennt er zum einen die Abwertung des Ichs in einem Weltbild, das die Einheit des Menschen mit seiner Umwelt betont, zum anderen das Gebot der Harmonie in der Hierarchie als Erbe konfuzianischer Ethik. Die traditionell große Bedeutung der Familie hat zu einem Modellcharakter des Eltern-Kind-Verhältnisses geführt, so daß Zusammenschlüsse außerhalb der primären Gruppe· der Familie sich wiederum nach familiaren Ordnungsprinzipien richten 67 •

65 H. H. Buchholz, Art. "Ostasien", in: Staats1exikon der Görres-Gesellschaft, Bd. 7, 1993, 746; ähnlich auch W. Flüchter, Art. ,,Japan" IV, ebd., 770, sowie Rahn (Anm. 44), 19 f., 46f. 66 Rahn (Anm. 44), 23-58, 378-380.

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Das Reden von der Gruppengesellschaft ist so sehr zu einem Gemeinplatz der Literatur und zwar sowohl der japanischen wie der westlichen geworden, daß es nicht verwundert, wenn inzwischen auch energischer Widerspruch gegen diese These laut geworden ist. In einer vom Deutschen Institut für Japanstudien durchgeführten empirischen Untersuchung zu den Wertemustern in Bezug auf Familie und Arbeitswelt wird der Wertewandel im Nachkriegsjapan analysiert. Erklärtes Ziel der Studie ist es, "das ein besseres Japan-Verständnis am meisten behindernde Stereotyp von der gruppenorientierten Gesellschaft Japans als Gegensatz zur individualistisch geprägten Gesellschaft Europas einer kritischen Überprüfung zu unterziehen,,68. Es kann dabei nicht überraschen, daß als eines der Ergebnisse eine Pluralisierung der Einstellungen festgestellt wird69 . Darüber hinaus kommen die Autoren zu dem Ergebnis, daß in der japanischen Gesellschaft seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges insgesamt eine Höherbewertung von Individualismus und Egalität stattgefunden hat7o . Für die Individuen werde eine selbst bestimmte Lebensgestaltung, die die eigenen Interessen zum Zentrum hat, immer wichtiger. Dies heiße aber nicht, daß die Gruppen an sich keine Rollen mehr spielen. Konstatiert wird eine Bedeutungsverschiebung von den großen, unüberschaubaren sozialen Gefügen zu den kleineren und überschau baren Gruppen. Hier kann diese grundsätzliche Kontroverse nicht ausdiskutiert werden. Differenzierung und Wahrnehmung von ganz gewiß vorhandenem Wandel tut sicherlich noe 1. Bei all dem kann aber nicht übersehen werden, daß sich die Wandlungsprozesse, die als solche sowohl in Japan wie in den westlichen Gesellschaften stattfinden, von sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen aus entwickeln. So kann sich in der japanischen Gesellschaft recht viel verändern, auch in Richtung auf Höher67 Rahn (Anm. 44), 43, zur Tendenz, Führungs- und Folgeverhältnisse nicht nur als bloße vertragliche Über- und Unterordnung, sondern als umfassenderes persönliches Verhältnis zu verstehen (mit Verweis auf die nicht unübliche Praxis, daß Professoren ihren Schülern und Abteilungsleiter in den Unternehmen ihren Untergebenen Ehepartner vermitteln). 68 H. D. Oelschleger u.a., Individualität und Egalität im gegenwärtigen Japan (Monographien aus dem deutschen Institut für Japanstudien der Philipp-Franz-von-Siebold-Stiftung), 1994, 19. Eine Reihe von exemplarischen Zitaten zur Interpretation nach dem Gruppenmodell ebd., 35 ff. 69 Oelschleger u.a. (Anm. 68), 384. Zu Recht werden unter dem Titel "Der ewige Japaner" verkürzende Darstellungen der Mentalität "des Japaners" kritisiert, 33 ff. 70 Dazu und zum folgenden Oelschleger u.a. (Anm. 68), 382 f. 71 Dazu gehört auch die Binnenunterscheidung bei der behaupteten Gruppenorientierung zwischen Gruppen mit privatem Charakter und solchen mit öffentlichem Charakter. Interessant ist die These von Tadashi Suziki (Grundlagen einer nicht-westlichen Industriegesellschaft. Die Organisationsprinzipien der vertikalen und horizontalen Gruppen in Japan, in: H.J. Karnadt/G. Trommsdorf [Hrsg.], Deutsch-japanische Begegnungen in den Sozialwissenschaften, 1993, 125, 130), daß in Europa die Trennung zwischen Privat und Öffentlich eine Trennung von Individuum und Gruppe mit sich gebracht habe, in Japan habe der entsprechende Vorgang zu einer Trennung zwischen Gruppen mit privatem und solchem mit öffentlichem Charakter geführt. Weder in der privaten noch in der öffentlichen Gruppe habe sich aber eine Autonomie des Individuums wie in Europa herausgebildet.

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bewertung des Individuums, ohne daß dies auf eine substantielle Konvergenz mit den -' sich im übrigen weiter individualisierenden - westlichen Gesellschaften hinauslaufen muß. Jedenfalls erscheint es mir im Vergleich mit Ostasien ratsam und die fruchtbarere Hypothese zu sein, daß unterschiedliche Traditionen, zumal wenn sie so starke Abweichungen voneinander haben, eine Rolle spielen und konkrete Auswirkungen haben. 3. Fragt man nach der Stellung des einzelnen im Rechtsstaat unter kulturvergleichender Perspektive, dann ist es unerläßlich, die Vorfrage nach der Rolle des Rechts in den verschiedenen Kulturen und Gesellschaften zu thematisieren. In der westlichen Kultur ist das Recht eine Grundkategorie des sozialen Lebens, eine anerkannte eigenständige Ordnungsrnacht. In Europa kam es im Vernunftrecht der frühen Neuzeit zu der kopernikanischen Wende, durch die die Verklammerung von Recht und Moral aufgebrochen wurden. Als Folge davon hat sich ein ausgeprägtes Grundverständnis herausgebildet, nach dem die Beziehungen des einzelnen zum Staat, aber auch die Verhältnisse der einzelnen untereinander wesentlich vom Recht geordnet sind. Das Recht definiert den einzelnen als Rechtsperson und stabilisiert seine Stellung, indem es ihn als Inhaber von subjektiven Rechten begreift. Nach der westlichen Mentalität darf man sich auf die vom Recht umschriebenen Befugnisse, auf sein Recht, berufen und dieses durchsetzen, ohne dadurch gesellschaftlichen Sanktionen ausgesetzt zu werden. Je näher man - zu Recht - die starke Verrechtlichung als Kennzeichen der europäisch-nordamerikanischen Gesellschaften betont, desto mehr muß man - im Umkehrschluß - damit rechnen, daß sich andere Kulturen von diesen eben darin unterscheiden. Dies gilt im besonderen Maße für Japan und generell im ostasiatischen Kulturkreis. Von der hohen Bedeutung des Schlichtungswesens in Japan war schon die Rede, ebenso davon, daß diese "echte japanische Spezialität,,73 unterschiedlich interpretiert werden kann, nämlich einerseits als Alternative im Recht, wie auch als Alternative zum Recht, je nach dem, auf welche inhaltlichen Maßstäbe sich die Schlichtung stützt. Eine weitere japanische Besonderheit kann man als relativen Vorrang von Sozialnormen vor Rechtsnormen charakterisieren. Zwischenmenschliche Beziehungen werden in Japan entweder eher als gesellschaftliche denn als rechtliche verstanden oder es stehen auch dann, wenn Rechtsverhältnisse bestehen, die persönlichen Beziehungen im Vordergrund74 . Pointiert faßt der japanische Rechtssoziologe Rokumoto dieses Verständnis so zusammen: "Nach diesen Ordnungsvorstellungen ist am wichtigsten für die Gewährleistung der sozialen Ordnung nicht die den allgemeinen Bestimmungen - seien es Gesetze, gewohnheitsrechtliche Vorschriften H. Hofmann, (Anm. 63), 6 ff., 9 f. Igarashi (Anm. 56), 45. 74 K. Zweigert/ H. J. Puttfarken, Zur Vergleichbarkeit analoger Rechtsinstitute in verschiedenen Gesellschaftsordnungen, in: dies. (Hrsg.), Rechtsvergleichung, 1980, 406 f. Die Autoren weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, daß das Kernstück der regelmäßg kurz gefaßten japanischen Verträge eine Klausel sei, die den Parteien auferlege, bei Meinungsverschiedenheiten "in bester Absicht zu verhandeln". 72

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oder auf Vertrag beruhende autonome Rechtsvorschriften - beigegebene immanente Verbindlichkeit, sondern die faktische Verbindlichkeit der Gefühle und Dankespflichten zwischen bestimmten Menschen, die auf der Kumulation gegenseitiger Handlungen der beteiligten Parteien beruht. .. Die Rechtsnormen und die staatlichen Rechtseinrichtungen werden nicht genutzt, um zu erfahren, nach welchen Richtlinien die Beziehungen der Partei geregelt und Probleme gelöst werden, sondern sie sind etwas, auf das man erstmals als Mittel des letzten Entscheidungskampfes zurückgreift, wenn die menschlichen Beziehungen ihre Bindungskraft verloren haben,,75. In diesem Zitat kommt die zentrale Bedeutung der sozialethisehen Dankespflicht (giri) zum Ausdruck. Unter anderem ist sie dafür verantwortlich, daß in Japan häufig das, was einem zukommt, nicht mit Rechtsansprüchen durchgesetzt wird, daß der Berechtigte nicht etwas "verlangt", sondern auf das Funktionieren anderer, insbesonderer sozialer Mechanismen vertraut76 . Auch in diesem Zusammenhang gibt es sicherlich Wandlungen in der gegenwärtigen japanischen Gesellschaft und eine zunehmende Bereitschaft, vom Recht Gebrauch zu machen. Wie stark gleichwohl die traditionelle Auffassung geblieben ist, zeigt ein Nachbarprozeß-Fall aus dem Jahr 1983, der in der japanischen Öffentlichkeit viel Aufsehen erregt hat und mehrfach in der Literatur behandelt worden ist77 . Ein bei Nachbam spielendes Kind ertrank unglücklicherweise in einem nahen Teich. Die Eltern klagten in der ersten Instanz erfolgreich gegen den Nachbarn, wurden dann aber von einer so großen Zahl von Schmähungen und Vorwürfen überzogen, daß sie am Ende doch noch auf die Klage verzichteten und ihre Wohnung wechselten. Obwohl das Justizministerium das Recht auf Zugang zum Gericht öffentlich verteidigte, hatten im Ergebnis die traditionellen Vorstellungen vom Vorrang des Schlichtens im engeren Nachbarverhältnis die Oberhand behalten. Angesichts dieser Beobachtung zur Rolle des Rechts in Japan spricht vieles für die Annahme, daß dort dem Steuerungsinstrument Recht eine grundsätzlich andere Rolle als in den westlichen Gesellschaften zukommt. Der Verrechtlichungsgrad ist dort geringer. Vor allem gibt es auch beträchtliche außerrechtliche Ausübungsschranken gegenüber bestehenden Rechtsbefugnissen: die gesellschaftliche Moral bildet zunächst eine Barriere gegenüber der umstandslosen Berufung auf das eingeräumte Recht. Deshalb ist die soziale Wirksamkeit des Rechts anders und dimensional geringer als in westlichen Gesellschaften. Daß die japanische Gesellschaft über andere und wirksame Konfliktlösungsmechanismen verfügt, ist schon erwähnt worden. Im vorliegenden Zusammenhang geht es allein um die Rolle des Steuerungsmediums Recht und um die Konsequenzen, die diese Unterschiede in der Bedeutung des Rechts für das Konzept des Rechtsstaats haben. Zitiert bei Rahn (Anm. 44), 407. Grundsätzlich zur sozialethischen Dankespflicht Rahn (Anm. 44), 51f, 406f. Rahn betont aber zu Recht, daß auf die Durchsetzung individueller Interessen wegen des Harmoniegebots nicht etwa verzichtet wird, sondern daß andere, psychische und soziale Mechanismen greifen, ebd., 52. 77 Rahn (Anm. 44), 489; Igarashi (Anm. 56), 50ff. mit näherer Sachverhaltsschilderung. 75

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Relevant ist diese Fragestellung deshalb, weil es einerseits für Japan (im Unterschied etwa zu China) nicht ersichtlich ist, daß gegenüber den Konzepten des Rechtsstaats und der Menschenrechte abweichende Vorstellungen entwickelt werden, weil aber andererseits immerhin die Frage gestellt werden muß, ob im Prozeß der Einwurzelung dieser Vorstellungen in die eigene japanische Kultur nicht spezifische und eigenständige Verständnisse entstehen werden. Je berechtigter nämlich für das westliche Denken auf die Verwurzelung in den historischen Tiefenschichten der eigenen kulturellen Entwicklung verwiesen wird, desto mehr ist mit alternativen Bedeutungsvarianten zu rechnen, wenn eine andere Kultur von bedeutsamen abweichenden Traditionen geprägt ist. Einige Fragen sollen dazu abschließend fonnuliert werden: Wie verhält es sich mit der bedeutsamen Sicherung, die im westlichen Rechtsstaatsdenken die Konstituierung des Staats-Bürger-Verhältnisses durch das Recht hat, in einer Gesellschaft, in der dem Recht weniger Wirksamkeit zukommt? Auf welchen Widerhall trifft in einer solchen Gesellschaft die in ihrem Pathos im Westen wirksame Fonnulierung, daß der Staat sich in den Bahnen des Rechts bewegen soll? Was bedeutet es für die Wirkkraft der Idee der Grund- und Menschenrechte, wenn das Denken in Rechtsstellungen des einzelnen, insbesondere das Denken in subjektiven Rechten, traditionellerweise nicht stark ausgeprägt war? Welche Relevanz haben das Menschenbild und die unterschiedlichen Akzentuierungen im Mischungsverhältnis von Entfaltungswillen des einzelnen und seiner Einordnungsbereitschaft? Letztlich dürfte es sich als notwendig, aber auch als fruchtbar erweisen, alle Grundfragen des Verhältnisses des einzelnen zu Staat und Gesellschaft in der kulturvergleichenden Perspektive nochmals zu durchdenken. In der Spiegelung der einen Gesellschaft in der anderen wird man erst auf die eigentlichen konstitutiven Faktoren der eigenen wie der fremden Kulturen und ihrer Rechtsordnungen aufmerksam. Unterschiede, die sich bei solchen Vergleichen neben den selbstverständlich feststellbaren Gemeinsamkeiten ergeben, sollten dabei nicht in einem Denkschema begriffen werden, das Japan oder generell Ostasien auf einem einlinigen Weg der Annäherung an das westliche Gesellschaftsmodell sieht und deshalb Unterschiede als in Zukunft zu überwindende Distanzen betrachtet. Stattdessen ist prinzipiell mit der Möglichkeit, sogar mit der Wahrscheinlichkeit zu rechnen, daß sich die beiden Kulturkreise in den hier relevanten Problemen der Stellung des einzelnen in Staat und Gesellschaft und der Bedeutung des Rechts auf Dauer unterschiedlich und als eigengeprägt erweisen werden.

11. Suprastaatlichkeit

Offene Staatlichkeit und europäische Integration Von Bengt Beutler, Bremen I.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem "Maastricht"-Urteil l die Europäische Union als einen Staatenverbund qualifiziert und daraus konkrete verfassungsrechtliche Folgerungen für Struktur, Entwicklung und Zuständigkeiten der Union gezogen. Das Gericht hat damit aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts höchstrichterlich die Debatte um den Maastrichter Vertrag auf den verfassungsrechtlichen Begriff gebracht2, eine Debatte, die erst jetzt begonnen zu haben scheint und deren Beiträge sich nun kaleidoskopartig um das Urteil gruppieren 3 . Daß die Debatte angestoßen wurde, ist zweifellos verdienstvoll 4 • Ob der "Staa-tenverbund" eine tragfähige Lösung ist, mag bezweifelt werden. Der Anlaß der Diskussion ist jedenfalls paradox: Als neue Stufe der europäischen Integration gedacht, scheint der immerhin von den Regierungschefs aller Mitgliedsstaaten unterzeichnete Maastrichter Vertrag bei den innerstaatlichen Ratifizierungsdebatten eher zu einer Revitalisierung mitgliedstaatlicher Vorbehalte geführt zu haben, die zeitweilig den Bestand des bisher Erreichten in Frage zu stellen drohen. Die Reaktion auf die Begriffsbildung des Gerichts ist zwiespältig 5 . Die entscheidende Frage BVerfGE 89, 155 ff. Zum Begriff des Staatenverbundes s. vor allem den Berichterstatter des Gerichts, P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozess der europäischen Integration, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 7, 1992, Rn. SOff. und danach ders., in: P. Hommelhof. /P. Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, S. 11 ff.; s. aber auch R. Münch, Das Projekt Europa, 1993, S. 133 ff. 3 Z. B. Europäisches Forum: Die künftige Verfassungsordnung der Europäischen Union. Europäische Gespräche 2/94, Hrsg. Europäische Kommission, Bonn 1994. 4 Zu diesem Aspekt des Urteils s. R. Streinz, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: EuZW 1994, S. 329 ff. 5 Distanziert H. P. Ipsen, Zehn Glossen zum Maastricht-Urteil: EuR 1994, S. I ff. (7f.), zustimmend B. Kahl, Europäische Union: Bundesstaat - Staatenbund - Staatenverbund: Der Staat, 33. Band (1994), S. 243 ff., kritisch U. Everling, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Bedeutung für die Entwicklung der Europäischen Union: Integration 3/94, S. 165 ff., 167f., alle m.w.N. zum aktuellen Stand der Auseinandersetzung im Schrifttum. M. Schröder, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Staates im Prozeß der Europäischen Integration: DVBI. 1994, S. 316ff.; s.a. K. Lamers, Staatenverbund, und wie weiter? in: Die künftige Verfassungsordnung (FN 3), S. 77 ff. 1

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ist, ob mit der Kennzeichnung als Staatenverbund eine neue eigene Ebene der Vergemeinschaftung anerkannt und entfaltet ist - oder ob sie in dem Dualismus von Bundesstaat und Staatenbund zerrieben wird6 . Staatenbund und Bundesstaat verlangen beide ihren staatlichen Mitgliedern Offenheit ab - allerdings in ganz unterschiedlicher Weise: Im Staatenbund haben die Mitgliedstaaten das letzte Wort, im Bundesstaat nicht mehr7 • Alles reduziert sich dann auf das Letztentscheidungsrecht zum Austritt oder zur Auflösungs. Gibt es dazwischen eine dritte Möglichkeit? Dem besonderen Charakter der europäischen Integration entspräche es jedenfalls mehr, jenseits des ,,Entweder - Oder" von Bundesstaat und Staatenbund einen eigenen begrifflichen Bezugsrahmen zu entwickeln9 - und zwar in beiden Richtungen: gegenüber den Mitgliedstaaten und gegenüber der künftigen Form ihrer Integration. Nur diese durchgehende Öffnung entspräche auch der "Hoffnung Europa" 10. Offene Staatlichkeit gewönne in diesem Zusammenhang einen zusätzlichen Sinn. Sie würde die Möglichkeit und Vereinbarkeit eines solchen selbsttragenden Bezugsrahmens mit einem Begriff von Staatlichkeit bedeuten, der in seiner "Offenheit" in diesem Zusammenhang mitzudefinieren wäre. Die Berufung auf den Begriff der offenen Staatlichkeit allein reicht dafür nicht aus, weil seine bisherige Verwendung je nach Zusammenhang zu vielfältig 11 und daher ungenau ist. In welchem Sinn die Offenheit gemeint und real ist, ist daher entscheidend. Und sie müßte die Möglichkeit umfassen, die selbsttragenden Ele~ mente der europäischen Integration und Union jenseits eines traditionell staatsbezogenen Denkens begründen zu können. Eine solche Annahme könnte fast so erscheinen, als gelte es, von dem Begriff des Staates als archimedischem Punkt der politischen Entwicklung so Abschied zu nehmen, wie im kopernikanischen Weltbild zu Beginn der Neuzeit von der Vor-

6 So Kahl, (FN 5), S. 256ff.; im Ergebnis auch P. Kirchhof, Kompetenzaufteilung zwischen den Mitgliedstaaten der EU, in: Die künftige Verfassungsordnung (FN 3), S. 57 ff. (59). 7 Z. B. R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 1994, S. 377 ff. 8 Zippelius (FN 7), S. 68/69. Dazu BVerfG (FN 1), S. 190, und dazu C. O. Lenz, Der Vertrag von Maastricht nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts: NJW 1993, S. 3038 ff. 9 Dazu schon P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, in: FS Schelsky, S. 141 ff., ders., Verfassungsrechtliche Fragen im Prozess der europäischen Einigung: EuGRZ 1992, S. 429 ff., und Gemeineuropäisches Verfassungsrecht: EuGRZ 1991, S. 261 ff. 10 P. M. Lützeler, (Hrsg.), Hoffnung Europa, 1994; s.a. E. W Böckenförde, Nationen und Nationalstaaten: Die Ordnung Europas am.,5cheideweg, in: Hoffmann/Kramer (Hrsg.), Das verunsicherte Europa, 1992. 11 Zur Verwendung s. u. a. Kirchhof (FN 2), Rn. 3. Zur Verwendung im bundesstaatlichen Zusammenhang s. Schröder, Bundesstaatliche Erosionen im Prozess der europäischen Integration: JöR N.F. 35, S. 93ff., 94f.; s. a. schon Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat (FN 9) Anm. 2 m.w.N.

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stellung der Erde als Mittelpunkt des Weltalls. Dieses Bild hat aber nicht die Existenz der Erde geleugnet, sondern lediglich ihre Abhängigkeit von anderen Bezugsgrößen erkannt. Es ist eine Grundlage unseres heutigen "wissenschaftlichen" Weltbildes geworden 12. Die Bedeutung der Erde als Lebensraum für den Menschen ist dadurch nicht eingeschränkt, sondern in einem anderen Zusammenhang gesehen und dadurch erweitert worden. In der Rechtswissenschaft geht es aber wie in anderen Geisteswissenschaften - nicht um die Erkenntnis "naturwissenschaftlich" objektivierbarer Gegenständlichkeit, sondern um die Interpretation von Texten auch nach spezifischen Regeln einer dogmatischen Exegese 13. Auch das schließt aber nicht aus, sie überprüfen, bestätigen oder verwerfen zu können 14 • Jedenfalls in einer "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten". Wovor man sich hüten sollte, sind Immunisierungsstrategien. Eine solche Immunisierung könnte die Berufung auf offene Staatlichkeit dann bedeuten, wenn sie eurokratische oder nationale Staatsinteressen fraglos voraussetzte - und andere diskutieren ließe. In jedem Fall liegen auch juristische Texte bei Grundfragen wie denen nach ihren eigenen Grundlagen auf Grundbegriffen auf15 , deren Bedeutung und Zusammenhang soweit zu klären ist, daß sie die dogmatische Textauslegung nicht vorschnell verkürzen. Das ändert aber an der zentralen Bedeutung von Texten als Ausgangspunkt der juristischen Auslegung nichts. Im Mittelpunkt der Untersuchung, ob und in welcher Weise europäische Integration und Union ein selbsttragendes Begriffssystem gefunden haben, wird daher der Text des Unionsvertrages und des von ihm in Bezug genommenen Gemeinschaftsrechts stehen 16 . Zur Abklärung wird aber zuvor zu fragen sein, ob die europäische Integration nicht selbst die Alternative Bundesstaat oder Staatenbund hervorgebracht hat und deshalb an ihr zu messen ist. Und weiter, ob die begriffene Realität von Staatlichkeit nicht jede selbsttragende Begrifflichkeit außerhalb ihrer selbst ausschließt. Die These ist allerdings, daß der Begriff des modemen (Verfassungs-)Staates den Europas voraussetzt und schon von daher offen und daß diese Offenheit schon im gegenwärtigen Vertrags werk normativ strukturiert ist. Die Frage, ob Maastricht des Ende offener Staatlichkeit bedeutet, wäre daher zu verneinen.

12 H. G. Gadamer, Die Vielfalt Europas - Erbe und Zukunft, in: ders., Das Erbe Europas, 1990, S. 7 ff. 13 Gadamer; Wahrheit und Methode, 2. Auf!. 1965, insbes. S. 250ff. 14 K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 1992. 15 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1982. 16 Zur methodischen Bedeutung der Anknüpfung an den Textbefund s. nachdrücklich J. lsensee, Staat und Verfassung, in: Handbuch des Staatsrechts (FN 1), Band 1, S. 591 ff., Rn. 4ff., 17f.

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11. Als "unvollendeten Bundesstaat" hat Walter Hallstein 1960 die Europäische Gemeinschaft bezeichnet 17 , als "Abschied vom Superstaat" Hermann Lübbe 1994 seine Analyse der Europäischen Union 18. Dazwischen bliebe - mit einem Fragezeichen versehen - "Die Staatswerdung Europas,,19. Solche Titel erwecken den Eindruck, als sei die europäische Nachkriegsintegration mit dem Ziel und Anspruch einer bundesstaatlichen Vollendung angetreten und daran gescheitert. Bereits KüsteriO hat in seiner quellengeschichtlichen Untersuchung nachgewiesen, daß ein solcher Eindruck in seiner Allgemeinheit unzutreffend ist. Es hat vielmehr schon bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft eine Vielzahl von Vorstellungen über die Möglichkeit einer Integration gegeben, von denen die bundesstaatliche nur eine - wenn auch wichtige - Mindermeinung war21 . Die relance europeen von 1958 war ja gerade eine Reaktion auf das Scheitern einer direkt angegangenen - und insoweit möglicherweise an bundesstaatlichen Vorstellungen orientierten - politischen Einigung, von der die Montanunion ein erstes Teilstück und die Europäische Verteidigungs gemeinschaft der Kern sein sollte. Aus heutiger Sicht läßt sich jedenfalls konstatieren, daß es eine Vielzahl von Vorstellungen über die zukünftige Gestalt der Integration gegeben hat und daß es sie noch gibt22 . Die Offenheit des Integrationsprozesses ist bei dieser ,,Lage" nicht allein eine von unterschiedlichen konzeptionellen Optionen, sondern auch deren Resultat. Die entscheidende Frage ist aber auch hier, ob diese Offenheit einen selbsttragenden Charakter hat, der der eigenen notwendigen Dynamik einer europäischen Integration entspräche. Die Diskussionsergebnisse sind eher ernüchternd. Der vorschnelle Optimismus eines "spill-over-effects" aus der Anfangszeit der Integration ist verflogen, den "point of no return" haben funktionalistische 23 und systemtheoretische Erklärungsmodelle bislang nicht konkretisieren können. Und reproduzieren nicht beide Bezugsgrößen und die sie tragenden Theorien das "Entweder-Oder" von Bundesstaat oder Staatenbund unter anderen Begriffen? Zuletzt hat Wesseli 4 unter Aufarbeitung der bisherigen Integrationstheorien eine facettenreiche Fusionsthese entwickelt, in der die Eigendynamik des Integra17 W. Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, spätere Auflagen tragen allerdings den Titel "Die europäische Gemeinschaft". 18 H. Lübbe, Abschied vom Superstaat, 1994. 19 R. Wildemann (Hrsg.), Staatswerdung Europas?, 1992. 20 H. J. Küsters, Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1992. 21 Küsters (FN 20); s. auch H. Schneider, Europäische Integration: Die Leitbilder und die Politik, in: M. Kreile (Hrsg.), Die Integration Europas, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 23/1992, S. 3 ff. 22 Schneider, (FN 21). 23 Dazu zuletzt G. Zelletin, Der Funktionalismus - eine Strategie gesamteuropäischer Integration, in: M. Kreile, (FN 21), S. 62ff.

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tionsprozesses mit verarbeitet wurde. Sie mündet allerdings in die Vision eines "fusionierten Föderalstaates" und damit letztlich folgerichtig in die kontroverse Diskussion um Möglichkeiten und Wünschbarkeit einer solchen staatsbezogenen Lösung. In das gleiche Dilemma fallen - und damit knüpfen auch sie an die letztlich offenbar unentrinnbare Alternative von Staatenbund oder Bundesstaat an alle verfassungsgeschichtlichen Analogien, zuletzt zum Deutschen Reich von 1871 25 . Die bündische und demokratische Doppelstruktur weist zwar durchaus vergleichbare Elemente auf, aber die Analogie bricht unter der Alternative von Bundesstaat und Staatenbund sogleich zusammen. Ähnliche Einwände gelten gegen Analogien im internationalen Vergleich, insbesondere zu den Vereinigten Staaten von Amerika 26 . Allen diesen letztlich bundes staatlich orientierten Interpretationen hat Lübbe in seiner schon erwähnten Abhandlung über den "Abschied vom Superstaat" eine vehemente Absage als "verspätete Vision" erteilt27 . Auch diese Absage orientiert sich eindeutig an den Attributen tradierten staats bezogenen Denkens - dem Begriff der Souveränität, den die Union nicht hat und nicht haben soll, die daraus folgende - und bei der Union fehlende - Personalhoheit, weil es kein "europäisches" Volk und keine europäische Nation gibt (die es auch gar nicht geben kann). Was bleibt, ist die pragmatische "Evidenz von Lebensvorzügen,,28. Solche Argumente machen deutlich, daß bei einer am Paradigma Bundesstaat-Staatenbund orientierten Auslegung die Europäische Union nur den kürzeren ziehen kann - mit allen Folgen für die Integration. Woran liegt das?

III. Die erdrückende Kraft bundes staatlicher Visionen und Gegenreaktionen ist offenbar auf die Sogwirkung zurückzuführen, die in diesem Zusammenhang der Begriff des Staates hat. Es scheint, als sei er auf absehbare Zeit der einzig ernstzunehmende Akteur auf der welt- und europapolitischen Bühne. Diese Annahme hat auch eine auch wissenschafts- und verfassungs geschichtlich gut begründete Tradition. Daß der modeme Staat aus den Wirren der - zumeist religiös motivierten Bürgerkriege hervorgegangen sei und dazu das Gewaltmonopol benötigte, hat Thomas Hobbes in seinem "Leviathan" theoretisch begründet, den Begriff der Souveränität des "modernen" Staates Bodin 29 • Hobbes Gedankengänge sind über earl Schmitt bis in die Gegenwart in das Denken über den Staat als die aller rechtlichen 24 W Wesseis, Staat und (westeuropäische) Integration. Die Fusionsthese, in: M. Kreile (FN 21), S. 36ff. 25 R. Lepsius, Nationalstaat oder Nationalitätenstaat als Modell für die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, in: Staatswerdung Europas (FN 19), S. 19 ff. 26 Dazu Lübbe (FN 18), S. 130f. 27 Ders., ebd. 28 Ebd., S. 116f. 29 Dazu H. Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 1994, S. 66ff.

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VerfaBtheit vorausliegende konkrete Form politischen Zusammenlebens rezipiert worden 3o . Analytisch mag dies richtig sein. Eine voraussetzungslose und in diesem Sinn singuläre kategoriale Existenz des Staates kann es nicht bedeuten. Auch bei Schmitt setzt der Begriff des Staates den Begriff des Politischen 3l und damit eine reale und gedanklich erfaBte soziale Realität voraus, bei Hobbes war sie geschichtlich gegeben. Und immerhin verweist sein Raisonnement auf die offene Gesellschaft der Staatsinterpreten, insoweit sein Staatsbegriff ein wissenschaftlich begründeter und überhaupt das vernünftige Raisonnement seine Grundlage ist32 . Seine Zeitgenossen haben dies zum Teil genauer gesehen. Montesquieu hat mit dem Geist der Gesetze auch den der realen geographisch-sozialen "Lage" gemeint. Und in der Gegenwart wird der Begriff einer Staatlichkeit um ihrer selbst willen abgelehnt 33 . Das BVerfG bezieht sich auf H. Helle?4. Die Staatlichkeit hat sich allerdings zwischenzeitlich in der europäischen und nationalen Verfassungsgeschichte mit dem Begriff der Volkssouveränität verbunden. Die Legitimation des "modernen" Staatsbegriffs als Gravitationspunkt politischen Handeins und wissenschaftlicher Systematik liegt in seiner Verbindung mit dem Volk als dessen konkrete Ordnung35 . Damit aber verdoppeln sich die kategorialen Grundlagen. Staat und Volk müssen zusammengedacht werden. Und wie lassen sie sich gleichzeitig erklären? Im staatsrechtlichen Positivismus dadurch, daB das Volk das Staatsvolk ist36 . Weil dies tautologisch und historisch nicht in allen Staaten immer identisch gewesen ist, sind es andere Bezugsgrößen - die Sprache und vor allem die Nation oder das Nationalbewußtsein37 . All das sind aber keine Daten, sondern Ergebnisse von oft langwierigen und schwierigen, wenn auch bei den weltweiten Staatsbildungen der Gegenwart oft vergessenen Prozessen. Das erklärt das "Gefälle,,38 von Verfassungen und die abschreckende Lektion von Lernprozessen, die solche Voraussetzungen vergessen oder ihre Konsequenzen noch nicht eingeübt haben. Die Berufung auf einen ,,reinen" Staatsbegriff als Etikette für einen nicht wirklich demokratisch kontrollierten Machtgebrauch zur Eta30 Dazu E. W. Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk earl Schmitts in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 344 ff. 31 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Nachdruck, 3. Aufl., 1991. 32 Für diese Sichtweise und gegen Hobbes s. schon I. Kant, in: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichts für die Praxis. 1793, Hrsgg. v. Julius Ebbinghaus, 5. Auflage, 1992. 33 Dazu lsensee (FN 16), Rn. 2 ff. 34 BVerfG (FN 1), S. 186 und dazu lpsen (FN 5), S. 17. 35 Dazu E. W. Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes - Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, 1986. 36 Dazu R. Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, in: Handbuch des Staatsrechts (FN 2), Band 1, S. 663 ff. 37 Dazu H. Schulze (FN 29), S. 108 ff. 38 Zu diesem Begriff P. Häberle (FN 9), Anm. 18 m.w.N.

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blierung welcher Reiche auch immer wäre jedenfalls gemessen an dieser staatstheoretischen und -geschichtlichen Tradition mißbräuchlich. Das modeme Staatsbild jedenfalls ist das des demokratischen Staates - eines Staates, der durch rechtliche Normierungen die Willensbildung des Volkes ermöglicht und deshalb nur ein Verfassungsstaat sein kann 39 . Und das ist auch das Staatsbild des BVerfG. Nicht der Staat, sondern der demokratische Staat ist seine Argumentationsgrundlage 40 . Wenn eine lebendige Demokratie auch in der Union möglich wäre, wäre nach dieser Deduktion des BVerfG dagegen nichts einzuwenden. Der Einwand könnte nur sein, daß nur eine staatlich verfaßte Demokratie lebendig sein kann. Was aber zeichnet einen solchen Staat aus? Mit der Ausdifferenzierung seiner Grundlagen, die gleichzeitig zu ihm hinzugedacht werden müssen, öffnet sich sein Begriff - oder auch: es zeigt sich, daß er offener ist, als die Berufung auf sein Gewaltmonopol vermuten ließe. Das aber ist ein Vorgang mit weitreichenden Konsequenzen. Historisch und tatsächlich bedeutet dies, daß über den normativen Begriff der Demokratie hinaus der modeme Staat auf der Freisetzung einer Gesellschaft beruht, deren Voraussetzungen er selbst nicht mehr garantieren kann, aber gleichzeitig regulieren muß41 . Die Verfahren der Regulierung und ihre - demokratische wie rechts staatliche - Legitimation werden damit entscheidend. Entscheidend wird damit aber auch die Organisation und Wirklichkeit der Rechtsordnung als Regulierungsinstrument. Das aber hat europäische Tradition: der Begriff der "societas", die in ihrer flächendeckenden und potentiell unbegrenzten Ausbreitung des Rechts und seiner Kanonisierung, aber auch eines Garanten dieser Rechtsordnung bedarf. Diese geschichtliche Mission hat bisher der europäische Staat als Nationalstaat erfüllt. Auf den dadurch vermittelten Schutzraum kann auch heute niemand verzichten. Aber dieser Schutzraum hat sich in einem europäischen Umfeld entwickelt, entfaltet und verändert. Er ist in dieses Umfeld eingelassen. Und er ist heute darauf mehr denn je angewiesen. Realpolitisch und gedanklich.

IV. Der Begriff des modemen Staates setzt den Europas voraus. Zunächst zu den europäischen Staaten selbst und zur Realpolitik42 : nur im europäischen Rahmen haben sie eine Chance - auf offenen Marktzugang und auf verteidigungspolitische Unabhängigkeit. Das gilt auch noch nach dem Verschwinden des Ost-West-Konfliktes, wenn auch alte Evidenzen noch nicht durch neue ersetzt sind43 . 39 E. W. Bäckenfärde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Handbuch des Staatsrechts (FN 2), S. 887 ff. 40 BVerfG (FN I), S. 182 ff. 41 E. W. Bäckenfärde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 92 ff., 102. 42 Dazu Lübbe (FN 18), S. 143 ff.

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Das so entstandene Vakuum läßt sich auch nicht durch beliebige nationalstaatliche Neukombinationen und -definitionen ausfüllen. Immerhin gibt es vertragliche Vereinbarungen und den acquis communautaire. Doch wie lassen sich damit die Grenzen eines neuen weltpolitischen Vakuums ausfüllen? Durch Europa als eigenen Akteur? Welches Europa? Jedenfalls kann es nicht auf die Mitgliedstaaten der Union beschränkt bleiben 44 . Konkrete Grenzen wären dann eher kultur- und vor allem auch religionsgeschichtlich zu ziehen45, wenn nicht überhaupt durch ein bestimmtes Denken zu definieren46 . Das aber ist schon lange über die Grenzen des "alten" Kontinents in alle Welt exportiert und hat dort Wurzeln geschlagen und eigene Gestalt gewonnen. Zum Beispiel auch der Staatsbegriff. Was immer man aber darunter verstehen mag, jedenfalls ist er eine Hervorbringung der europäischen Geschichte 47 . Und deshalb ist er auch ein geschichtliches Produkt. In die Moderne ist er eingegangen als Staat einer Wirtschafts- und Bürgergesellschaft, deren Existenz er voraussetzt, aber nicht garantieren kann48 . Der moderne europäische Staat ist in diesem Sinn auch ein Gedanken- und nicht nur Realprodukt - und so erscheint es nicht zufällig, wenn Ernst-Wolfgang Bäckenfärde und Dieter Grimm ihre verfassungsrechtlichen und -politischen Überlegungen anläßlich der deutschen Vereinigung unter den Titel "Nachdenken über Deutschland" und zugleich in einen gesamteuropäischen Zusammenhang stellen - mit Rücksicht auf den sie im übrigen eine föderale Übergangslösung favorisieren 49 . Das Denken im Sinne einer Vergegenständlichung des Gedachten, das seine Analyse erst ermöglicht, ist als "Wissenschaft" europäisch geprägt - ebenso wie die Anwendung des einmal Gedachten durch "Nachdenken" auf neue konkrete Zusammenhänge5o . Das alles sollte nicht mit einer "europäischen Identität" verwechselt werden, die der Kern der europäischen Integration wäre oder ihn ersetzen müßte. Auch nicht mit einem falschen "Eurozentrismus": daß der Staat und das Denken über ihn überhaupt nur als europäisch begreifbar wären. Wohl aber, daß das Denken über den Staat in seiner modernen, die Gegenwart prägenden Form in Europa entstanden und in diesem Sinn zu seinen geschichtlichen und begriffsgeschichtlichen Grundlagen offen iSt. 51 43 Zu diesem Problem schon, G. Leibholz, Die Zukunft der nationalstaatlichen Souveränität im 20. Jahrhundert, in: H. H. Hoffmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, 1967, S. 377 ff. 44 So richtigerweise Kirchhof(FN 2), Rn 5, 6. 45 Lübbe (FN 18), S. 108ff., 111. 46 P. Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994. 47 H. Schulze, (FN 29). 48 E. W Böckenförde, Freiheit und Recht, Freiheit und Staat, in : ders., Recht, Staat, Freiheit (FN 30), S. 42 ff., 51. 49 E. W Böckenfördel D. Grimm, "Nachdenken über Deutschland", Der Spiegel 10/1990, S.72-77. 50 H. G. Gadamer, Die Zukunft der europäischen Geisteswissenschaften, in: ders., Das Erbe Europas (FN 12), S. 35 ff.

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Nur der Staat in diesem Sinn ist durch die Formen der Gewaltmonopolisierung über der zerrissenen europäischen Gesellschaft geworden. Nur dieser Staat hat unter dem Titel der Nation seine Gesellschaften geformt. Nur dieser Staat hat sie in die rechts staatliche Freiheit der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft entlassen. Und nur dieser Staat garantiert bislang den sozialen Ausgleich 52 gegen den Zerfall einer Gesellschaft, die ihre Freiheit will, aber ihren Zusammenhalt wollen muß. Die Freisetzung einer Gesellschaft, deren Voraussetzung selbst nicht mehr garantiert, deren Geltungsbedingungen aber normiert werden können, wendet den Blick aber auch wieder in die konstruktive jüngste Vergangenheit der Gegenwart Europas und seiner Zukunft. Denn war dies nicht eine Grundidee der ,,relance europeen" und eine Grundlage der europäischen Nachkriegsintegration, eine europäische Wirtschaftsgesellschaft freizusetzen, die - unwiderstehlich - nach ihrer eigenen, die nationalstaatliche Enge übergreifenden politischen Organisation drängt? Juristen neigen bei solchen Ausführungen eher zu Ungeduld. Die Auslegung normierender Texte sollte aber auch im Mittelpunkt dieser Überlegungen stehen. Wie weit schließen Unionsvertrag und die Normierung des Gemeinschaftsrechts an diese europäischen Bedingungen offener Staatlichkeit an - und: normieren sie bereits eine selbsttragende Grundlage ihrer künftigen Entwicklung?

v. Der Text des Unions-Vertrages 53 mag gemessen an den harten Polen von Bundesstaat und Staatenbund eher wie europäische Rhetorik erscheinen, von in diesem Fall weder visionäre Kraft noch konkrete Verbindlichkeit erwartet werden können. Von einem selbsttragenden Bezugsrahmen für die künftige Entwicklung ganz zu schweigen. Gemessen an der Entwicklung offener Staatlichkeit in Europa ergeben sich andere Anschlüsse54 . An erster Stelle an die Völker Europas. Ihre immer engere Union ist die Zielvorstellung und Legitimation der Europäischen Union. Auf diesem Weg versteht sie sich nur als Zwischenschritt55 . Signifikant ist bei dieser ersten und grundlegenden Bezugnahme auf die Völker Europas als Legitimationsgrundlage der Union die Nichterwähnung der Mitgliedstaaten, obwohl oder gerade weil sie im nächsten Absatz ausdrücklich bei der Gestaltung ihrer Beziehungen wie der Sloterdijk (FN 46) und Böckenjörde (FN 41); lsensee (FN 16), Rn. 40ff. E. W. Böckenjörde, Lorenz von Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat, in: ders., Recht, Staat und Freiheit (FN 30), S. 170 ff. 53 AB!. EG Nr. C 224 v. 31. 8. 1992, S. I ff. BGB!. II, 1993, S. 1947ff. 54 Zur Bedeutung von Anschlüssen für die Textinterpretation noch einmal lsensee (FN 16), Rn. 20 ff. 55 Art. A EUV. 51

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der Völker als Aufgabe der Union erwähnt werden. Redaktionsversehen oder bewußte Weichenstellung? Jedenfalls entspricht die Formulierung der Vorstellung offener Staatlichkeit. Was, oder besser: wer aber sind die Völker Europas? Begrifflich wohl zunächst einmal alle die, die über die skizzierte staatliche Entwicklung zu einem Volk in Europa geworden sind. Im Kontext der Europäischen Union aber beruhen diese Völker auf einer freien Gesellschaft. Demokratische Regierungssysteme und die Achtung von Grundrechten 56 sind verbindliche normative Vorgaben 57 für die Union und ihre Mitgliedstaaten. Entscheidend ist, ob dies ein Rahmen ist für mehr als eine bloße Addition europäischer Völker in diesem Sinn. Die Union ist aber keine bloße Addition. Über geschichtsbedingte europäische Zusammenhänge hat sie eine erste normative Gestalt in der Unionsbürgerschaft 58 gefunden. Und diese ist offen - und das ist auch ein Vorzug - für alle Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten - alte wie neue. Ihr Kern ist ein allgemeines, national staatliche Grenzen sprengendes Freizügigkeitsrecht, ihre politische Form das Wahlrecht in den Kommunen und zum europäischen Parlament. Die Verbindung von Lebenswelt und europäischer Weite (und auch noch Ferne). Diese Union aber ruht auf der durch die Grundfreiheiten und ihren Selbstvollzug freigesetzten europäischen Gesellschaft des Gemeinsamen Marktes und der Dynamik ihrer Selbstorgansisation. Auch diese aber hat einen rechtlichen Rahmen der Marktaufsicht und sozialen Korrekturen. Ihre politisch-institutionelle Verbindung zum Vertragsrahmen der Union ist über die Europäischen Gemeinschaften das Europäische Parlament durch die Direktwahlen einerseits und seine zunehmende Einbindung in den institutionellen Entscheidungsprozeß in der Union andererseits. Das ist mehr als die souveräne Gleichheit der Völker in der Charta der Vereinten Nationen. Vom Textvergleich her würde sich schon eher der Anklang an das deutsche Volk in seinen Stämmen in der Reichsverfassung von 1871 nahelegen 59 . Die Union der Völker Europas hat jedenfalls im Unionsvertrag eine eigene textverbindliche Regelungsebene gefunden, die der Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen sein muß. Ihr Zusammenhalt durch die Freisetzung einer Marktgesellschaft ist aber auch nach diesem Text eine Voraussetzung - ein Garant gegen erneute Abschottungen nach alten nationalen und neuen wirtschaftlichen Grenzen ist diese nicht. Genau die Vermeidung solcher Gefälle meint der Unionsvertrag, wenn er formuliert "Aufgabe der Union ist es, die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Völker kohärent und solidarisch zu gestalten,,60.

Art. A EUV. Dazu R. Bieber, Les Iimites materielles a la revision des Traites etablissant la Communaute europeenne, in: Revue du Marche Commun 1993, S. 143. 58 Art. 8 ff. EGV, dazu S. Hobe, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag von Maastricht: Der Staat 32 (1993), S. 245 ff. 59 Präambel der Weimarer Reichsverfassung, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, 3.Aufl., Bd. 4, S. 151 ff. 60 Art. A EUV. 56 57

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Eine solche kohärente und solidarische Gestaltung zwischen den europäischen Völkern und ihrer Organisations form über einer europäischen Wirtschafts- und Marktgesellschaft erfordert Augenmaß, aber keine Utopie. Entscheidend sind die institutionellen Mittel und die künftige Definition der "Völker Europas". In der gegenwärtigen Phase europäischer Selbstbesinnung sollte man mit dem zweiten beginnen. Es mag sein, daß für die entwickelten mittel- und nordeuropäischen Gesellschaften der Zugehörigkeitswunsch zur Union nach der Evidenz der Lebensvorzüge unterschiedlich ausfallt. Für die früheren osteuropäischen Gesellschaften tut er das nicht nur. Und für beide stellt sich die Frage der möglichen Verbindungen in einem längerfristigen Selbsterhaltungsinteresse. Wenn es richtig ist, daß die Freisetzung der Marktdynamik über nationale Grenzen die Grundlage einer europäischen Gesellschaft und ihrer Völker ist, dann muß man bei einer Ausweitung einer Integration über die ehemaligen Ostgrenzen hinaus nach deren Bedingungen fragen. Das bedeutet aber auch hier, daß die Bedingungen nur geschaffen und die Voraussetzungen nur normativ garantiert werden können. Entfalten müssen sie sich selbst. In diesem Sinn müssen die Ansätze marktorientierter Wirtschaftsgesellschaften gefördert und in die gleichzeitige solidarische und kohärente Gestaltung der Beziehungen ihrer Völker und Mitgliedsstaaten eingebaut werden. Es ist vielleicht hilfreich, daran zu erinnern, daß ein solches Programm der Hilfe zur Selbsthilfe nach 1945 Grundlage der bis in die Gegenwart reichenden westeuropäischen Integration war - allerdings erst nach unterschiedlichen konkurrierenden Ansätzen und mit mehr oder weniger sanftem Druck von außen. Das aber führt zu dem ersten Teil der Frage zurück, welche institutionellen Mittel für die solidarische und kohärente Gestaltung der Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und ihren Völkern über den Export hinaus überhaupt zur Verfügung stehen. Neben der immer engeren Union der Völker Europas greift der Unions-Vertrag diesen Fragenkomplex als zweiten Schwerpunkt auf und formuliert ihn ebenfalls als Anschluß und Ziel: einen einheitlichen institutionellen Rahmen unter Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstandes61 • Sie setzt damit die Europäischen Gemeinschaften voraus, die nach dem einleitenden Artikel ja auch ihre Grundlage sind62 • Das ist der Anschluß an den erreichten Rechts- und Realzustand - und das Ziel ist die Verbindung mit den buchstäblich weiter gezogenen und zu ziehenden Außenund Innengrenzen der noch zu gestaltenden Union. Diese Verschränkung bestehender Gemeinschaften mit zu gestaltender Union ist deren besonderes und singuläres Spezifikum63 . Seine Einordnung in das Schema Bundesstaat - Staatenbund greift auch deshalb zu kurz, weil schon dieses Schema die eigenartigen Ebenen dieser Verschränkungen selbst nicht begreift. Schon die Gemeinschaften können nur um den Preis ihrer Selbstauflösung darin aufgehen - um wieviel mehr gilt das dann für 61

Art. D EUV.

Art. A Abs. 3 EUV. S. T. Oppermann, Zur Eigenart der Europäischen Union, in: P. Hornmelhoff / P. Kirchhof, Der Staatenverband der Europäischen Union (FN 2), S. 87 ff. rn.w.N. 62 63

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die Charakterisierung der nun darüber gelagerten und daraus zu entwickelnden Union. Nimmt man demgegenüber die Verschränkungen beim Wort, so zeigt sich ein differenziertes, aber aus sich selbst heraus systematisches und zumindest systematisierbares Regelungsgeflecht. Über dem vorgelagerten Selbstvollzug der Grundfreiheiten besteht es im Kern aus einem institutionalisierten Willensbildungsprozeß zwischen nationaler und internationaler Souveränität und Identität. Sein Kennzeichen ist die zunehmende Einbindung des Ministerrats als Vertretungsorgan der Mitgliedstaaten durch Mehrheitsregeln und Beteiligungsbefugnisse des Parlaments. Nach den Rändern, sprich: vor allem der noch zu gestaltenden Union, fasern sich diese verdichteten Erscheinungsformen wieder mehr in unverbindliche Formen intergouvernementaler Zusammenarbeit auf. Dem entspricht auch die rechtliche Regelungsintensität. Sie ist im Kern der Gemeinschaften größer als zu den Rändern der Union. Sichtbar vor allem an der Rolle des Europäischen Gerichtshofs. In den Gemeinschaften kontrolliert er Auslegung und Einhaltung des Gemeinschaftsrechts gegenüber den Mitgliedstaaten und gegenüber ihren Bürgern in ihnen 64 . Im Rahmen der neuen Aufgabenfelder der Union kann er dies bislang nicht65 . Dem EuGH aber verdankt die Gemeinschaft in den Verwerfungen zwischen bundesstaatlichen und staatenbündischen Ansprüchen ihren rechtsimmanent entwickelten Geltungsgrund: das Konzept der "neuen rechtlichen Ordnung". Voraussetzungen und Folgen dieses Konzepts sind bekannt und anerkannt, in einzelnen Konsequenzen zum Teil noch umstritten. Das sollte das Konzept als solches nicht in Frage stellen: das einer quer zu staatlichen Monopolansprüchen für alle Gemeinschaftsbürger gleich geltenden Rechtsordnung - einer Verfassung 66 . Ohne sie wäre eine europäische Gesellschaft und wären nach dem vorher Gesagten auch europäische Staaten nicht länger vorstellbar. Dieses Konzept des Gerichtshofs ist Bestandteil des gemeinschaftlichen Besitzstandes. Durch den Abschluß des Unionsvertrags ist er nicht zur Disposition, aber auch nicht zur Neu-Interpretation gestellt. Wohl aber die Möglichkeit einer Ausweitung auf die neuen Felder der Union. Der Unions-Vertrag hat den ersten Zeitpunkt dafür selbst fixiert: 199667 . Dann wäre die Ausweitung von Gemeinschaftsverfahren in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof rechtsverbindlich zu beschließen. Sonst und vorher nicht. Das verbieten auch völkerrechtliche Interpretationen des gemeinschaftlichen Besitzstandes. Es sei denn, er sähe dies selbst schon jetzt ausdrücklich vor. 64 Zum EuGH s. zuletzt M. Dauses, Die Rolle des Europäischen Gerichtshofes als Verfassungsgericht der Europäischen Union, Integration 1994, S. 215 ff. m.w.N. 65 S. Art. N EUV. 66 Zuletzt EuGH Gutachten 1/91 - EWR - Slg 1991 I, S. 6079 ff. 67 Art. 0 EUV.

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Und die Mitgliedstaaten und damit - endlich - die Frage der Staatlichkeit? Sie sind der dritte Schwerpunkt, an den der Unions-Vertrag anschließt. Er garantiert ausdrücklich die nationale Identität der Mitgliedstaaten - mit dem allerdings wichtigen Hinweis, daß ihre Regierungssysteme auf demokratischer Grundlage beruhen müssen68 . Demokratie und nationale Identität sind ein typisch europäisches Erbe 69 . Es steht nicht zur Disposition der Union selbst, schließt aber eine selbstinitiierte Weiterentwicklung im Prozeß einer immer engeren Union der Völker Europas nicht aus. Die Eigenlogik der europäischen Integration würde - um der Erhaltung der nationalen Identität ihrer Völker und deren Organisationen willen - einen solchen Prozeß erfordern. Bei diesem Prozeß aber ist es - und das ist der zweite ausdrückliche Anschluß an die Mitgliedstaaten im Unions-Vertrag - Aufgabe der Union, die Beziehungen zwischen ihnen kohärent und solidarisch zu gestalten70 . Im übrigen aber sind die Mitgliedstaaten in den institutionellen Prozeß der Gemeinschaft eingebunden und mediatisiert - über die Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat bis zur vorgesehenen Vollstreckung bei Vertragverletzungsverfahren 71. Bei solch zunehmender Regelungsintensität werden Abgrenzungen zur Venneidung von Überregulierungen einerseits und Substanzverlusten andererseits wichtiger. Das zeigt die ausdrückliche Einfügung des Subsidiaritätsgrundsatzes 72 und die Debatte um seine Auslegung 73. Festzuhalten aber ist in diesem Zusammenhang, daß er ein Begriff des Gemeinschaftsrechts und von daher als eine Grundlage der künftigen Entwicklung der Union auszulegen ist. Diese Einbindung in unterschiedlicher Regelungsintensität läßt die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten nicht unberührt. Von den Hoheitsbefugnissen selbse 4 über die Gebietshoheit 75 bis zur Staatsangehörigkeit76 sieht sie sich zunehmend überlagert. Das drängt zu Kernfragen. Gibt es die Möglichkeit, sich dem dichter werdenden Regelungsgeflecht zu entziehen77 ? Systematik und Text der Verträge sprechen da-

Art. F Abs. 1 EUV. Dazu Schulze (FN 29) und differenzierend zur Demokratie D. Stemberger, Die neue Politik: JöR N.F. 33 (1984), S. 1 ff. 70 Art. A Abs. 3 EUV. 71 S. Art. 176 Abs. 3 EGV. 72 Art. B Abs. 3 EUV und 3b EGV. 73 Dazu zuletzt P. Häberle, Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre : AöR 119 (1994), S. 93 ff. m. w.N. in Anm. 1 ff. 74 So schon BVerfGE 22, S. 293 ff. 7S S. schon EuGH Rs 3,4 und 6/76 (Kramer) Sig. 1976, S. 1279, zu den Folgen der Wiedervereinigung Ipsen, Die Bundesrepublik Deutschland in den Europäischen Gemeinschaften, in: J. Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts (FN 2), S. 767ff., Rn. 92ff. 76 S. zuletzt EuGH Rs 186/87 (Cowan), Sig. 1989, S. 195, s.a. BVerfGE 83, 37 ff. (59) und den Überblick bei Grawert (FN 36), Rn. 53 ff. 68 69

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gegen. Sie sehen ein abgestuftes System von Schutz und Notstandsklauseln vor. Eine zeitliche Begrenzung der daraus eingegangenen Verpflichtungen kennen sie nicht. Wäre es dann berechtigt, einen Systemwechsel vorzunehmen und unter Berufung auf das Völkerrecht ein einseitiges Austrittsrecht zu postulieren? Dem besonderen Charakter des Gemeinschaftsrechts und seinem Besitzstand widerspräche dies. Durch den Unions-Vertrag und seine zum Teil eher staatenbündischen Merkmale, ist es auch nicht zu Völkerrecht umgewandelt worden. Auch die zulässige Überprüfung des Unionsvertrages an den Verfassungen der Mitgliedstaaten sollte dazu kein Anlaß sein. Vor allem auch nicht, auf die dann notwendig geschlossene Staatlichkeit als die Metaebene allen Rechts zu rekurrieren. Das wäre weder ein Rechts- noch ein Verfassungsargument und würde sich außerhalb der Tradition offener europäischer Staatlichkeit stellen. Auch den richtigen Hinweis auf die Abgrenzung von Vertragsauslegung und Vertragsergänzung sollte man in beiden Richtungen ernst nehmen. Die Vertragsergänzung durch den Unionsvertrag kann kein Anlaß sein, die konsolidierte und durch den Unionsvertrag als gemeinschaftlichen Besitzstand ausdrücklich anerkannte bisherige Auslegung der Gemeinschaftsverträge als offene Staatlichkeit über einer offenen Gesellschaft durch die potentielle Schließung eines gedachten Souveränitätspanzers völkerrechtlich neu zu interpretieren. Und umgekehrt? Würde der Verzicht auf solche Vorbehalte nicht die Schleusen öffnen, durch die die Fluten eines eurokratischen Wildwuchses ungehemmt hereinbrächen? Bei der Einhaltung bereits verbindlicher Regelungen sicher nicht - es sei denn, diese selbst würden als solcher Wildwuchs angesehen. Aber auch dagegen gibt es Abhilfe: Transparenz, Kontrollen, Hierarchisierung von Normen 78 . Nur: auch sie dürften nicht durch die Berufung auf eine übermächtige - diesmal eurokratische - Staatlichkeit überspielt werden.

VI.

Auch nach Maastricht ist Europa nicht am Ende. Und die europäischen Staaten sind es auch nicht. Alles ist noch offen - das Ziel, der Weg und die Teilnehmer. Nur eines ist klar: diese Offenheit bedarf eines verbindlichen Rahmens, um nicht

77 Dazu BVerfG (FN I), S. 190 und Lenz (FN 8), M. Herdegen, Maastricht and the German Constitutional Court: Con-titutional Restraints for an ,,Ever Closer Union": CMLRev 1994, S. 235 ff., (243), J. Kokott, Deutschland im Rahmen der Eurpäischen Union - zum Vertrag von Maastricht: AöR 119 (1994), S. 207 ff. (223 f.). 78 Zum Verfassungsentwurf des Institutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments s. M. Hilf., Eine Verfassung für die Europäische Union : Zum Entwurf des Institutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments, Integration 1994, S. 68 ff.

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in ein vorhobbes' sches Chaos europäischer Größenordnung zu zerfallen 79. Der Unions-Vertrag ist dieser Rahmen - einen anderen gibt es gegenwärtig nicht. Er knüpft an den bereits durch die Gemeinschaften implementierten Entwurf einer europäischen Wirtschafts gesellschaft ebenso an wie an nationale Identitäten, an eine immer engere Union der Völker Europas wie an die solidarische Gestaltung der Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten. Diesen rechtlich verbindlichen Rahmen und seine Elemente gilt es daher jetzt ,,kohärent und solidarisch" auszufüllen und weiterzuentwickeln. Das Mittel dazu ist die rechtlich verdichtete Fonnenvielfalt der Gemeinschaftsinstitutionen und ihrer rechtlichen Handlungsfonnen. Ihre Ausweitung auf die neuen Grenzen der Union ist vereinbart. In diesen neuen Institutionen und Handlungsfonnen durchdringen sich Staatlichkeit und Suprastaatlichkeit in beiden Richtungen zu einer neuen "offenen Staatlichkeit", die in Rechtskategorien eine "neue rechtliche Ordnung" ist. Je weiter sie in das Leben und die Wirklichkeit der "Völker Europas" eingreift, desto mehr ist deren demokratische Beteiligung erforderlich. Nach dem Unionsvertrag durch das europäische Parlament, nach den mitgliedstaatlichen Verfassungen das staatliche Parlament oder das Volk selbst. Der Unions vertrag nimmt dazu jetzt in Art. 138 a EGV "politische Parteien auf europäischer Ebene" in die Pflicht. Wenn das BVerfG auf ein einheitliches, d. h. europäisches Wahlrecht zum europäischen Parlament hinweist, greift es einen gemeinschaftsrechtlichen Auftrag an das Parlament im Rahmen der Union auf. Auch das ist Kooperation. Im gegenwärtigen Stand des Entscheidungsverfahrens läßt sich das Modell einer wachsenden Beteiligung des Parlaments bei zunehmenden Mehrheitsentscheidungen im Rat ausmachen. Das wäre die Grundlage einer noch zu systematisierenden demokratischen Phasenverlagerung, der auch bei der Debatte um Demokratie und ihre behaupteten Defizite in der Union Rechnung getragen werden sollte. so Was wenig hilfreich ist, sind Über- oder Unterforderungen bei gleichzeitiger Entdifferenzierung des erreichten Rechtszustandes durch staatsbezogene geschlossene Denkmodelle sl . Und insoweit auch nicht die Berufung auf einen "Staatenverbund". Sie trüge zumindest die Beweislast, den Geltungsbedingungen einer "neuen rechtlichen Ordnung" und deren ausdrücklichem oder implizierten Modell offener Staatlichkeit Rechnung zu tragen. Diese neue rechtliche Ordnung ist kein nationales Recht und auch kein national zu interpretierendes, sondern der aktuellste und so noch nie erreichte Stand europäischer Rechtsgemeinschaft und -kultur. Sie ist eine europäische Verfassung. Das ist und wäre die konkrete Ordnung EuroMünch (FN 2), S. 134. Dazu K. Hänsch, Institutionelle Konzepte des Europäischen Parlaments, in: Die künftige Verfassungsordnung der Europäischen Union (FN 4), S. 39ff.; s. a.l. Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie: Die Verwaltung, 1993, S. 449 ff. und D. Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation: AöR 119 (1994), S. 238 ff. 81 Dazu Ipsen, Die Bundesrepublik Deutschland in den Europäischen Gemeinschaften (FN 75), Rn 98. 79

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pas und seiner Staaten. Und das ist seine Lage 82 . Was in ihr nottut, ist eine europäische Verfassungslehre83 - und nicht eine europäische Staatslehre. Und eine offene Debatte darüber84 .

Zur "Lage" unter Hinweis auf H. Krüger s. noch einmal Ipsen (FN 81). Ansätze zu einer zeitgemäßen Verfassungstheorie der "gemischten Verfassung" bei Sternberger (FN 69). 84 Dazu T. Läufer, Zur künftigen Verfassung der Europäischen Union - Notwendigkeit einer offenen Debatte, Integration 1994, S. 204ff. m.w.N. Zur Methode s. bereits P. Häberle (FN 9), S. 171 ff. 82 83

Der Deutschen supranationaler Nationalstaat Von Rolf Grawert, Bochum

I. Die "nationale Bewegung" hat Reiche gesprengt und Staaten geformt'. Sie ist wirksam geblieben. Von Nationalbewußtsein ist nach wie vor die Rede. Sprachen, Kulturen und Wissenschaften werden wieder national aktiviert. "Ganz vergessener Völker Müdigkeiten,,2 schwinden im Schwung der Selbstbestimmung. Geht so das "Gespenst" des Nationalismus "um in Europa,,3? Jedenfalls gilt der Nationalstaat europaweit als erstrebens- und erhaltenswert, nachdem er durch zwei Weltkriege angeschlagen schien, besonders in der westdeutschen Bundesrepublik, wo die Gemeinschaftsoption zur Vergangenheitsbewältigung beitrug und die "offene Gesellschaft,,4 sich weltläufig auftat. Der Nationalstaat - in Mittel- und üsteuropa Programm politischer Gestaltung, in Westeuropa Gegenstand intellektueller Vergewisserung, so behauptet er sich in den Bruchzonen konträrer Entwicklungen: Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums und Jugoslawiens sind Völker und Ethnien auf der Suche nach nationalstaatlicher Einheit; auf der anderen Seite hat die Europäische Union Sorgen vor I Dazu, insbesondere mit Blick auf Deutschland, Ernst-Wolfgang Bäckenfärde, Verfassungsprobleme und Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts, in: ders. (Hrsg.), Modeme deutsche Verfassungsgeschichte (1815-1914), S. 13 ff., sowie ders., Die Einheit von nationaler und konstitutioneller politischer Bewegung im deutschen Frühliberalismus, a. a. 0., S.27ff. 2 Hugo von Hofmannsthal in dem Gedicht "Manche freilich ... ", u.a. in: Echtermeyer, Deutsche Gedichte, neugestaltet von Benno von Wiese, 1957, S. 608. 3 Zitat der Einleitung zum Manifest der Kommunistischen Partei, in: Karl Marx, Frühschriften, hrsg. Siegfried Landshut, 1968, S. 525. Marx wollte allerdings das "Gespenst des Kommunismus" zum Leben bringen; wer das "Gespenst des Nationalismus" beruft, will es bannen: Wolfgang Edelstein, Rede am 15. Juni 1994 zum 65. Geburtstag, Privatdruck 1994, S. 6; ähnlich Joseph Hanimann, Hauptsache anders. Französische Intellektuelle reden über Europa und meinen die Nation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) Nr. 121 v. 27. 5. 1994, S. 35: "Gespenst" eines "anderen Europa", nämlich eines national bestimmten; frühzeitig nationalbestimmt ironisiert Bernhard Willms, Die Deutsche Nation, 1982, S. 15, das "Gespenst" eines sog. "neuen Nationalismus", um für dessen Wiedererweckung zu werben. 4 Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, deutsch, 1957/Bd. 1,2: 7. Auf!. 1992, besonders Bd. 2, S. 326 ff.

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staatlicher Selbstaufgabe veranlaßt und zur Rückbesinnung auf die Vorzüge des etablierten Nationalstaates geführt. Die Frage nach dessen nationaler Substanz erhält infolge globaler Wanderbewegungen ihre innenpolitische Brisanz. Was man bereits in den USA beobachten konnte: Disharmonien der multikulturellen Gesellschaft, Integrationsschwächen des melting pot, Segregation ethnischer Gruppen 5 , dies kennzeichnet auch europäische Vorgänge. In Frankreich definiert man die "eigentlich französische" Nation, entgegen einer langen, republikanischen Tradition der Eingliederung Fremder, während außereuropäische Immigranten sich der Assimilation zunehmend verweigern 6 . In Deutschland beanspruchen Ausländerzustrom, Wiedervereinigung und Vergemeinschaftung zugleich die Bestimmung der "nationalen und staatlichen Einheit"?, die bisher Verfassungsprogramm war. Diese neue deutsche Frage hat den Nationalstaat wieder in das öffentliche Bewußtsein gehoben. Aus der Vereinigungsformel : "Ein Staat für die Nation"g ist die verbreitete Überzeugung vom Bestandswert des deutschen Nationalstaates auch im vereinigten Europa erwachsen9 . Sie geleitet die einst außerordentliche Europaräson Westdeutschlands in das europäische Normalmaß: de Gaulles "Europa der Vaterländer" heißt heute in britischer Leseart "Europa der Nationalstaaten"lO. Das ist Pragmatik und nüchterne Lagebeurteilung. Hagen Schulze, der jüngst die Entwicklungslinien von "Staat und Nation in der europäischen Geschichte" nachgezogen hat, stellt mit gewisser Überraschung fest, daß "das Prinzip des Nationalstaats unerschütterlich seine Rechte behauptet hat" 11. Der Vertrag über die Europäische Union, der Maastricht-Vertrag vom 7. Februar 1992 12, gibt dieser Auffassung insofern Recht, als er der Union "die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten" zu achten gebietet. Im Maastricht-Urteil des Bun5 Dazu u.a. Daniel Patrick Moynihan, Pandaemonium. Ethnicity in International Politics, 1993. 6 Vgl. Rogers Brubaker, Staats-Bürger, 1994, S. 184 ff.; Thankmar von Münchhausen, Das Proletariat von morgen. Das Ende der Assimilation? Einwanderer in Frankreich, in: FAZ Nr. 36 v. 12. 2. 1994. 7 Präambel des Grundgesetzes bis zur Änderung von 1990. 8 Johann Georg Reißmüller, in: FAZ Nr. 186 v. 14.8. 1989, S. I: kurz vor Oktober 1989! Die zündende Formel zitiert - bewußt? jedenfalls ungenau - Johann Kaspar Bluntschli , Allgemeine Staatslehre, 6. Aufl. 1886/1965, S. 107, allerdings ohne das dortige Problembewußtsein, daß die Formel auch zur Einverleibung auswärtiger Nationalangehöriger veranlaßt. 9 U.a. Reißmüller (FN 8); Hagen Schulze, In manchem überholt, aber nicht überwunden, in: FAZ Nr. 98 v. 27. 4. 1991; zurückhaltender, aber im Ergebnis ähnlich Hans Ulrich Wehler, Der Mythos des Nationalstaats, in: Die Zeit Nr. 41 v. 7. 10. 1994, S. 25; ferner Detlev Claussen, Entzauberte Welt, mißglückte Befreiung, in: Neue Rundschau 105/1994, S. 38, 48ff. 10 David Davis (Staatsminister im britischen Außen- und Commonwealth-Ministerium), Gemeinsame Sache mit der Realität machen, in: FAZ Nr. 14 v. 17. 1. 1995, S. 8. II Hagen Schulze (FN 9); näherhin ders., Staat und Nation, 1994, S. 335 ff. 12 ABI. EG Nr. C 224 v. 31. 8. 1992; das folgende Zitat aus Art. F Abs. 1.

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desverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993 13 finden Nation und Staat sich von Verfassungs wegen vereinigt: Die dort angesprochenen "Staatsvölker" werden in dem Maße, in dem es um ihren inneren Zusammenhalt geht, zu "Nationen". Im Urteil zum Grundlagenvertrag war noch eher beiläufig und distanziert von der "deutschen Nation" als verbreiteter Bezeichnung für das "deutsche Staatsvolk" die Rede l4 . Jetzt also ist "Nation" ein Rechtsbegriff. Seitens der Rechtswissenschaft haben namentlich die beiden am Maastricht-Urteil beteiligten Bundesverfassungsrichter Kirchhofund Klein den Rechtswert des Nationalstaats betont. Beider Überlegungen reflektieren, gründen aber auch in Gegebenheiten. Kirchhof verankert den Nationalstaat tief in der europäischen Geistesgeschichte, in der Menschennatur und in der Gegenwartslage l5 . Klein hält den Fortbestand der Nationalstaaten "als Traditions-, Identifikations- und Solidargemeinschaft, als haltende Kräfte politischer Stabilität gleichennaßen" für "unentbehrlich" 16. Als "Solidar-, als Verantwortungsgemeinschaft, als Basis auch der Demokratie"l? sowie als "Schutzgemeinschaft" war zuvor 18 schon die Nation selbst tituliert worden. Auf diese Weise zweckgerichtet, kommen die Nation und ihr Staat auf denselben Begriff: Gemeinschaft substantiell und institutionell. Da die Nationalstaatsidee dem Blick der deutschen Staatswissenschaft seit Ende des Dritten Reiches entrückt 19 und dem der Verfassungsdogmatik entschwunden war, erweckt die jüngst aufflammende Diskussion mehr Neugierde als bestimmte Vorstellungen. Die Bundesrepublik Deutschland ist als Verfassungs-, Rechts- und Sozialstaat ausgefonnt. Auch als Kulturstaat tritt sie auf2o . Was qualifiziert sie nun zum Nationalstaat? BVerfGE 89, S. 155 (182-186). BVerfGE 36, S. 1 (19,31). 15 Paul Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, in: Josef Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 2. Auf!. 1994, S. 63 (78 ff.). 16 Hans Hugo Klein, Europa - Verschiedenes gemeinsam erlebt, in: FAZ Nr. 241 v. 17. 10.1994, S. 12. 17 Christian Meier, Die Republik denken, in: FAZ Nr. 99 v. 29. 4. 1994. 18 Wolfgang Schäuble, Der Platz in der Mitte, in: FAZ Nr. 154 v. 6. 7. 1994; ders., Und der Zukunft zugewandt, 1994, S. 197 ff., 217 ff. 19 Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet der Vortrag von Ernst Rudolf Huber, Nationalstaat und supranationale Ordnung, in: ders., Nationalstaat und Verfassungsstaat, 1965, S. 273, der die heutigen, dreißig Jahre jüngeren Argumentationstopoi vorweggenommen hat. Die wegweisenden Vorträge von Joseph H. Kaiser und Peter Badura aus dieser Zeit vor der Staatsrechtslehrervereinigung zum Thema: Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, in: VVDStRL 23, 1966, S. 1 u. S. 34, kamen ohne Hervorhebung des "Nationalstaats" aus. 20 Bundesminister des Inneren/Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Staatszielbestimmungen - Gesetzgebungsaufträge. Bericht der Sachverständigenkommission, 1983, S. 127ff.: zumergebnislosen - Plan, dem GG eine sog. Kulturstaatsklausel einzuverleiben (dort Literaturhinweise). 13

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11. Die Antwort bereitet schon im Ansatz Kopfzerbrechen, weil "Staat" und "Nation" sich alternativ zu Leitbegriffen erklären lassen. Bildet die Nation den Staat oder bildet erst der Staat eine Nation? Möglicherweise bedingen sich die beiden Phänomene aber auch als Komponenten des Nationalstaates. Wer von sozialen Naturzuständen ausgeht und die Staatenwelt noch für offen hält, wird selbstverständlich zuerst die Nation als staatenbildende Kraft in den Blick nehmen. Der historisch Gebildete zitiert dazu Bluntschli: "Jede Nation Ein Staat. Jeder Staat Ein nationales Wesen,,21. Dies regt zum Nachdenken über den Geltungsbereich des Prinzips vom Selbstbestimmungsrecht der Völker22 und über deren Beziehungen zu Nationen an. Wer dagegen den etablierten Staaten den Vorrang läßt, wird Nationen als Staatsvölker durch Staatszugehörigkeitsgesetze definieren, für deren Normung die Staaten im Rahmen des allgemeinen Völkerrechts zuständig sind. Die sich selbst als Nationalstaaten definierenden Staaten sichern die Bestandserhaltung des europäischen Etablissements. Doch reicht ihre Definitionshoheit nicht über die qualifizierte Staatsnähe ihres personalen Substrates hinaus 23 , während sie andererseits durch die innerstaatliche Entstehung von Nationen in Mitleidenschaft gezogen werden können. Was den Staat schließlich "im Innersten zusammenhält", diese faustische Frage zwingt zum Aufenthalt hinter den Kulissen von Institutionen und Normen. Sie zielt auf das Eigentliche. Sie richtet sich auf Wesensmerkmale der Nation. Am Ende des 20. Jahrhunderts steht also der Nationalstaat wieder vor der Aufgabe der Selbstvergewisserung. Gewißheit über sein Selbst gewinnt der Nationalstaat, der die Nation erfaßt, im Begriff, im Wesen, im Zusammenhalt. Verlassen kann er sich vorerst auf die neuzeitliche Überzeugung, daß "Nation" ein aus Menschen bestehendes Gebilde ist, die nicht nur Menge, sondern eine qualitativ verbundene Gesamtheit bilden. Diese Vorstellung, daß Nationen soziale, lebendige Wirkeinheiten sind, hat in Organismusdoktrinen ihre modeme Heimat24 . Seit Rousseau fügen Menschen sich zu einem "geistigen Gesamtkörper" namens Volk, das ein Ich, ein Leben und einen Willen hat, um zu einer politischen Einheit zu werden25 . Sieyes läßt die selbstbewußte Nation an und für sich als politisch handelnden Körper auftreten 26 . In Deutschland Bluntschli (FN 8), S. 107. Vgl. Manfred Nowak, UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte und Fakultativprotokoll. CCPR-Kommentar, 1989, S. 5 ff. (zu Art. 1). 23 Zu den völkerrechtlich anerkannten Merkmalen der Staatsnähe von Staatsangehörigen vgl. Alexander N. Makarov, Allgemeine Lehren des Staatsangehörigkeitsrechts, 2. Aufl. 1962, S. 57 ff.; Knut Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, S. 300 f. 24 Zu den Doktrinen Emst-Wolfgang Böckenförde, Artikel: Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper, in: Otto Brunner I Wemer Conze I Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, 1978, S. 519, 561 ff. 25 J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, hrsg. Heinrich Weinstock (Rec1am), 1959, 1. Buch, 6. Kap. (S. 44 f.). 21

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erhält die Nation ihr "Dasein" nur als Veranstaltung von Intellektuellen, solange die einheits stiftende Staatlichkeit nicht zustande kommt: der Deutschen Kultumation 27 , ein unpolitisches Wesen, doch auch von eigener Individualität und Persönlichkeit28 . Im Begriff der Genossenschaft, den Otto von Gierke einst dem "Gemeingeist" der "Nation" als Körper anboe9 , sowie in dem Begriff der "Gemeinschaft", den Ferdinand Tönnies dem der seelenlosen Gesellschaft entgegensetzte 30 und der heute das Gestaltungskonzept des Kommunitarismus beeinflußt, wirkt die Faszination des Organischen fort. Wer Nation und Gemeinschaft ohne Staat denkt, denkt Lebenszusammenhänge von Menschen als eigenartige und eigenwillige Sozialgebilde. Aus welchem Grund? Wäre Nation eine Grundgegebenheit, könnte sie die empirische Forschung interessieren - wie Klima, Bodenschätze, Stammeskulturen 31 . Aber das Interesse an ihrer Eigenart reicht offenbar über reine Erkenntnisse hinaus. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts, als man die modeme Nation erfand, füllte sie eine Leerstelle aus: Legitimation von Herrschaft. Nachdem die Religion streitig, die Ratio schal und die Tradition der Dynastien zu alt geworden waren, gewann der Begriff des Nation seinen einheits wahrenden, einheitsstiftenden und herrschaftsbegründenden Sinn. Nicht nur das Wort, auch den Begriff gab es schon vorher. Aber von dessen verschiedenen Inhalten führte die eine Variante, dergemäß "Nation" eine Gruppe Mitbestimmungsberechtigter bezeichnete 32 , in die Modeme: von Adelsständen über den Dritten Stand Sieyes' bis zum demokratischen Volk. Im Zuge dieser Entfaltung erfuhr die Nation eine qualitative Anreicherung und Verdichtung: von der Standschaft zur Staatsbürgerschaft und Einbettung in eine soziokulturelle Gemeinschaft. Deren Ich wird zum Wir. Jede Bestimmung dieses Gebildes grenzt aus und ein. Die Definition der modernen Nation steht daher universalistischen Menschheitskonzepten entgegen. Sie unterläuft die Idee von der Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen als Menschen33 - und wird gerade dadurch attraktiv, weil sie ein konkretes Kollektiv 26 Emmanuel Sieyes, Abhandlung über die Privilegien. Was ist der dritte Stand?, hrsg. Rolf Hellmuth Foerster, 1968, S. 60 (Was ist der dritte Stand? 1. Kap.). 27 "Dasein": zit. Johann Gottlieb Fichte. Reden an die deutsche Nation, 9. u. 12. Rede: dort wird die "Kulturnation" entwickelt, die Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 1907/1969, hrsg. Hans Herzfeld, S. 10, der - französischen - "Staatsnation" gegenüberstellt; ferner Bluntschli (FN 8), S. 95, 107, 112: Nation als "Kulturwesen". Umfassende Darstellung bei Eugen Lemberg, Nationalismus I, 11,1964. 28 Meinecke, (FN 27), S. 10, 15 u.ö.

Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 1. Bd., 1868/1954, S. 841. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887/1963. 31 Z.B. Paul Parin / Fritz Morgenthaler / Goldy Parin-Matthey, Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst, 2. Auf!. 1991, S. 37 ff. 32 V gl. Hagen Schulze, Staat (FN 11), S. 117 ff. 33 Dazu Wolfgang Schieder, Artikel: Brüderlichkeit, in: Geschichtliche Grundbegriffe (FN 24), Bd. 1,1972, S. 552, 565ff. 29

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schafft. In der unübersehbaren Menge von Menschen, Gruppen und Beziehungen bildet Nation eine gemeinsame Einsamkeit. Dazu hat sich jetzt wieder der Bezugsbegriff "nationale Identität" eingestellt, Ausdruck des Zeitgeistes. Nach Identität wird vielerorts gefragt 34, wo man die Wesenheit des Menschen, des Unternehmens, des Staates, der Religionsgemeinschaften zu bestimmen sucht. Mit sich selbst eins, heißt, durch Besonderheiten qualifiziert sein. Eine Nation wird durch Ausgrenzung der Andersartigen, des Fremden sie selbst. Jede Öffnung, jede Grenzüberschreitung stellt das Qualifikationsvorhaben in Frage. Die offene Nation, die ihre Offenheit nicht nur als Toleranz, Koexistenz und Kooperation mit anderen versteht, gibt ihre Selbstbestimmung und Besonderung auf. Sie riskiert ihren Begriff und mit diesem die Substanz des Nationalstaates. Aber die Nation wird nicht ihrer Offenheit wegen zitiert, sondern und insofern sie einen festen Halt 35 bietet, einen Halt in vertrauten Zusammenhängen. Der Umstand, daß heute wieder oder verstärkt auf die Nation zurückgegriffen wird, deutet darauf hin, daß Theorien über funktionalistische Ausdifferenzierungen der Gesellschaft nicht mehr befriedigen. Sie mögen verschiedene Lebensbeziehungen des Individuums erklären, konstituieren aber keine Gesamtheit. Als Defizit ist dies schon Tocqueville bei seiner Beobachtung der Demokratie aufgefallen: Jeder sondere sich von der großen Gesellschaft ab. Dagegen helfe ein vernünftiger Patriotismus 36 . Die deutsche Nation bietet aber mehr: ein Kollektiv. Durch Nation läßt sich Zusammengehörigkeit erfahren, überdies verinnerlichen; vielleicht sogar, wie manche meinen, Geborgenheit, gibt es doch historische und ethnopsychologische Beobachtungen, die indizieren, daß Menschengruppen gerade in Zeiten existentieller Gefahr oder Bewährung zur Nation zusammenrücken 37 . Nimmt man dies als Lehre, läßt sich über heutige Gefahrvermutungen mutmaßen. Aber man braucht die gesellschaftlichen Befindlichkeiten nicht auf die Spitze von Sein oder Nichtsein zu treiben, um den Bedarf an Nation zu bemerken. Der Empfindsame spürt vielerorts das neue Leiden an Abstraktionen, Institutionen, Organisationen. Er sieht die Demokratie auf dem Rückzug in Verfahren, in denen Partikularinteressen sich wieder streiten und jede sich irgendwo definierende Minderheit ihr Selbstbestimmungsrecht reklamiert 38 . Er bilanziert Verluste an Lebens34 Vgl. den Sammelband Hans Filbinger/Heinz Karst (Hrsg.), Identität und Zukunft der Deutschen. FS Hornung, 1992. Zur Konjunktur des Begriffs Rudolf Walter, Was ist "nationale Identität"?, in: Die Zeit Nr. 33 v. 12.8. 1994, S. 28. 35 Klein (FN 16), allerdings kritisch zum überkommenen Nationalstaat. 36 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, übersetzt von Hans Zbinden, hrsg. Jacob P. Mayer (dtv), 1976, S. 585 (2. Buch 11. Teil 2. Kap.) mit S. 270f. (1. Buch 11. Teil 6. Kap.). 37 Parin u.a. (FN 31); die "Schicksalsgemeinschaft" durchwebt den Sammelband Heimo Schwi1k/Ulrich Schacht (Hrsg.), Die selbstbewußte Nation, 1994. Die These von der einheitsstiftenden Bedeutung nationaler Konflikte für das englische Nationalbewußtsein vertritt nachdrücklich Linda Colley, Britons-Forging the Nation 1707-1837, London 1993; ferner Carl Schmitt, Verfassungslehre, 3. Aufl. 1957, S. 231.

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nähe, die durch Verrechtlichung von Volk und Staat sowie durch Technokratisierung der Gemeinschaft entstanden sind. Er vergißt zwar nicht den neuzeitlichen Gewinn an Institutionen, die den Zusammenhalt von Menschen trotz Ausweitung des Siedlungszusammenhangs und Lockerung fester Lebensverhältnisse dauerhaft sichern. Aber er verlangt nach einem sinnlichen Mehrwert. Da genügt der Hinweis nicht, daß die Demokratie eigentlich ohne Vorgegebenheiten aus der Abstimmung heraus funktioniert 39 und dennoch bisher noch keine Generation voraussetzungslos gelebt hat. Es geht um Fundamentales. Das Wohin der Demokratie im Woher verankern, heißt, die Zukunft begrenzt, also berechenbar halten. Ist dies das Anliegen: Braucht die Demokratie dafür die Tiefendimension des Volkes? Nation um der Demokratie und um des demokratischen Staates willen? Dazu muß man wissen, ob die Nation Realität oder Fiktion ist. III. Begriff und Struktur der Nation sind schwankende Gestalten. Sie nahen, fast zum Greifen, und zergehen zu Schemen. Verweist der Begriff auf Naturalien oder auf Vorbefindlichkeiten, die in unvordenklichen, Generationen übergreifenden Entwicklungen gründen, oder reflektiert er ein kollektives Gedächtnis? Betrifft er Sein oder Bewußtsein? Offenbar dies und das. Denn die verschiedenen Erklärungen, die trotz Reprisen heute wieder vorgebracht werden, folgen verschiedenen, jeweils zeitbedingt attraktiven Wissenschaften von der Natur, des Geistes, der Volkspsyche, enden aber regelmäßig bei einem Konglomerat von Elementen. So wird Aufklärung zum Problem. Seit Herder geben "Nationalcharakter", "Nationalgeist" und "Nationaldenkart" die metaphysische Einheit einer Bevölkerung vor40 , geprägt durch Klima, Sprache, Lebensart und Geschichte - die Faktoren changieren seither, ohne den wesentlichen Aspekt der Unvorgreiflichkeit aufgegeben zu haben. Die diversen Rückanknüpfungen, auf die Dogmen und Ideologien sich stützen, beziehen sich insoweit auf möglichst naturhafte, jedenfalls erfahrbare Umstände, deren genetische Bedeutung in mancher Hinsicht plausibel erscheint, im einzelnen aber nicht genau bestimmbar ist und den Zustand der europäischen Staatsnation nur bereichsweise berührt. Das Zusammenwirken der Faktoren erfolgt im Irgendwie. Wird dieser oder jener Faktor vereinzelt, dann treten Widersprüche auf. Wer dennoch nach der Natur der Nation forscht und sich den Naturwissenschaften anvertraut, wird durch die 38 Beispielhaft die political correctness-Bewegung in den USA; in Deutschland fordern Roma und Sinti ihr Selbstbestimmungsrecht. 39 Emst-Wolfgang Böckenförde, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes - Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 90, 111. 40 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784), in : Herders Werke, hrsg. von der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, 4. Bd., 1964, S. 244ff. (Buch 911 ff.).

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neueste Erkenntnis, daß DNS-Analysen "die Europäer" als homogene Gruppe gemeinsamen Ursprungs erscheinen lassen 41 , von seinem Erkenntnisgegenstand Nation abgebracht werden. Schon vor über hundert Jahren hat Emest Renan aus ähnlichen Gründen von sogenannten objektiven Merkmalen absehen zu müssen gemeint42 . Er wird bis heute gern zitiert. Wenn ungeachtet dessen nach wie vor Grundgegebenheiten bemüht werden, zeugt das nicht von vertiefter Erkenntnis, sondern von der urwüchsigen, aber nachhaltigen Überzeugung, daß die Eigenart der Nation jedenfalls bedarfsgerecht ist. Kommt es also auf Bewußtsein und Rekultivierung an? Kann die Nation vielleicht durch vorausschauende Erinnerung erkannt werden? Seit Beginn des 19. Jahrhunderts weiß man um die kollektive Prägekraft der Geschichte. Kein Wunder, daß sie am Ende des 20. Jahrhunderts als "Wegweiser zur Identität" angeboten wird43 . Also: warum statt der Ethnologen nicht die Historiker? Nun läßt Geschichte sich als Schicksal erleben, so daß aus Erlebnissen die Schicksalsgemeinschaft erwächst. Aber diese Gemeinschaft bleibt einmalig - "die" Kriegsgeneration. Deren Schicksal hat retrospektiven Erklärungs- jedoch keinen prospektiven Abgrenzungswert. Wahrscheinlich trennt die deutsche Wiedervereinigung die Nationalgefühle von Alt und Jung; doch was besagt das? Es ist nur konsequent, statt auf Erfahrung auf Deutung zu setzen. Bei Wegweisungen ist Geschichte die Vergangenheit, die in der Gegenwart zur Sinnstiftung taugt. Friedrich Barbarossa zum Beispiel: Bekanntlich hat die Reichgründung intensive historische Rückversicherungen angeregt. Andere Völker, andere Sänger, andere Sagen, aber ähnliche Methoden: Rückverwurzelung der Gegenwart, Nachstellen von Kontinuität, Vernachlässigung historischer Abweichungen und Brüche. Die Wegweisungsthese führt mithin zu der Einsicht, daß Nationalgeschichte als Konstrukt zur Herstellung von Nationalbewußtsein dienen kann und so zweckgerichtet verwendet wird44 . So fällt auch ein eigenartiges Licht auf den expandierenden Markt deutscher Nationalgeschichten45 und auf die heute häufig inszenierten Nationalkulturen 46 ; eigenartig, weil final statt kausal veranlaßt. 41 Vgl. Irmgard Pult I Antti Sajantila I Jaana Simanainen I Oleg Georgieo I Walter Schaffner I Svante Pääbo, Mitochondrial DNA Sequences from Switzerland Reveal, Striking Homogeneity of European Populations, in: Biological Chemistry Hoppe-Seyler vol. 375, 1994, S.837ff. 42 Vortrag am 11. 3. 1982, jüngst unter dem Titel "Das Plebiszit der VergeBlichen" verkürzt in deutscher Sprache wiedergegeben in: FAZ Nr. 73 v. 27. 3. 1993; ebenso Maurice Hauriou, Precis de Droit Constitutionnel, 1923, S. 25 ff., anders, zur gleichen Zeit, Bluntschli (FN 8), S. 89ff., und neuerdings Kurt H. Biedenkopf, Einheit und Erneuerung, 1994, S. 324ff. Auf die von Bluntschli referierten "objektiven" Daten beruft sich insbesondere Kirchhof (FN 15), S. 79, ohne dessen zentrale, der merkwürdigen Seelenlehre des Philosophen Friedrich Rohmer verpflichtete Thesen von der "volle(n) Geistes- und Charakterkraft" sowie "männlichen Seeleneigenschaft" einer staatsfähigen, weil "geistig überlegene(n) Nationalität" (a. a. 0., S. 111 f.) zu würdigen. 43 Michael Stürmer, zit. nach Walter (FN 34). 44 Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation, deutsch 1988.

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Im Hinblick auf derartige Aktivitäten ist es allerdings prekär, sich auf vorhandenes Nationalbewußtsein verlassen zu wollen. Leicht liefert man Politik und Recht der Ethnopsychologie aus oder Meinungsforschern, die ihrerseits zuvor ergründen müßten, mit welchem Probanden sie es eigentlich zu tun haben. Wer andererseits heute das "vertrocknete" deutsche Nationalbewußtsein aufzufrischen fordert47 , muß den Frischzellentherapeuten und dessen Kurmittel benennen. Denn insoweit es auf Aufklärung, Sinnstiftung und Erziehung ankommen soll, ist das Programm maßgebend. Abgrenzung wird dann zu einer Angelegenheit des politischen Willens, nicht des Wissens. Vermeintliche Grundsicherungen in existentiellen Vorgegebenheiten verlieren umso mehr an Evidenz, je mehr die Erziehung zur Nation gesteuert wird. Vielleicht war die Sache noch einfach, als man sich auf die selbstverständlichen Integrationskräfte von Schule, Armee und Fabrik stützen konnte. Aber die Medienmächte lassen etwaigen nationalen Bewußtseinsstrukturen wenig Raum. Selbst so begrenzte Anstrengungen um die Reinheit der Sprache, die Frankreich französisch und Argentinien spanisch erhalten sollen, sind, so konservativ sie sich geben, Ausdruck der Flüchtigkeit des nationalen Bestandes und einer aktiven Gestaltungspolitik. In dieser Richtung trifft man die Nation allerdings nicht als lebendiges Sozialgebilde, sondern als Glaubensgegenstand einer religion civile. Über deren Zweckmäßigkeit wird philosophiert, seitdem die Gefahren des neuzeitlichen Individualismus für den säkularen Staat entdeckt worden sind. Tocqueville48 war einer der ersten Wamer vor demokratischen Beliebigkeiten. Seither ist man auf der Suche nach dem Gemeingeist, dem Grundkonsens, dem identitätsstiftenden Logos. Das mag durchaus nützlich und entlastend sein, darf aber nicht mit der Nation verwechselt werden, die als kollektives Substrat der Nationalstaaten gelten könnte. Die sich durch eine programmatische Nationalisierung des Staatsoder Gemeinschaftsbewußtseins selbst erhaltende Demokratie hat es mit der Nation als Geschöpf, nicht als Wesen zu tun. Klugerweise hielt Renan Nation denn auch für ein geistiges "Prinzip", komponiert aus vorhandener Erinnerung und aus kollektivem Einvernehmen über ein Zusammenleben: Aufgrund des gemeinsam Erlittenen galt ihm die Nation als "Solidargemeinschaft", während er für die Zukunft auf das Selbstbestimmungsrecht vertraute49 . So sollte das Dasein einer Nation als tägliches Plebiszit von Metaphysik Eine Ausnahme: Hans Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 1992. Beispielhaft: Mihran Dabaq, Gedächtnis und Identität, in: Armenien. Wiederentdekkung einer alten Kulturlandschaft, hrsg. Museum Bochum, 1995, S. 19 ff. - Für die Struktur des Deutschen historischen Nationalbewußtseins aufschlußreich ist die Instrumentalisierung "der Staufer" für die staatspolitische Stabilisierung Baden-Württembergs: vgl. Ministerpräsident Hans Filbinger, Vom Sinn dieser Ausstellung, in: Die Zeit der Staufer, hrsg. Württembergisches Landesmuseum Stuttgart. Katalog Bd. 1,1977, S. V ff. 47 Johann Georg Reißmüller, in: FAZ Nr. 19 v. 23. I. 1995, S. 1; vgl. ergänzend FN 8; auch insoweit war schon Bluntschli (FN 8), S. 92, 105 aktueller. 48 Tocqueville (FN 36), S. 781 ff. (2. Buch IV. Teil). 49 Vgl. den Vortrag v. 11. 3. 1882, Nachdruck: FAZ Nr. 73 v. 27. 3. 1993; ähnlich - und gleichzeitig - Bluntschli (FN 8), S. 107 f. 45

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befreit und entmystifiziert werden. Man kann hinter diesem Plebiszit den aufklärerischen Gesellschaftsvertrag vennuten - eine Theorie. Man kann annehmen, damals, nach dem deutsch-französischen Krieg, sei der Siedlungszusammenhang der Grenz- mit der Kernlandbevölkerung als Konstante der Zusammengehörigkeit erläutert worden - ein spekulatives, jedenfalls ein historisches Konzept. Man kann Renans Idee aber auch in demokratische Verfahren und in politische Praxis überführen. Ein derart nüchternes Vorgehen riskiert allerdings die heimelige Wänne, die laut Renan "Seele" und "Gefühl" des Nationalen vermitteln. Es fügt sich jedoch in die institutionellen Gegebenheiten der Demokratie und trägt der heutigen Umdeutung der "Solidargemeinschaft" in einen Gemeinschaftszweck Rechnung. Denn die nonnative Verwendung 50 des einst deskriptiven Begriffs setzt wie die Programmierung einer Religion den Autor civile voraus - in der Demokratie: das Volk. Tritt das Volk nicht wesenhaft, sondern entscheidend, mindestens als Ermächtigungs-, Legitimations- und Zurechnungseinheit auf, dann ist es eine Organisation definierter Menschen, dann agiert es in Distanz zum Wesens- und Qualitätsbegriff der Nation. Ob die Wirkeinheit Volk einen festen Angelpunkt in der Nation findet oder finden sollte, läßt sich nach den bisherigen Überlegungen allerdings bezweifeln. Sind Naturwüchsigkeit und Wesen der Nation nicht überzeugend zu begründen und rational so nachvollziehen, daß Völker vorstaatlich, also ungeachtet ihrer staatlichen Verbindung, definiert werden können, führen die dunklen Wege in die Tiefen nationaler Existenz nur zu Ungewißheiten 51 , dann ist Skepsis angebracht; dann gibt es jedenfalls keinen Halt, der Rechtsfolgen tragen könnte. Schon vorzeiten ließen Juristen unaufklärbare Religionswahrheiten vorsichtshalber dahingestellt52 . Was als Grund nicht sicher ist, so lautet die Lehre, darauf sollte man nicht bauen. Diese Klugheitslehre hat das Prinzip der Nicht-Identifikation angeregt, das Distanz auch zu nationalen Gruppen und zu nationalen Homogenitätsanforderungen empfiehlt53 . Ohnehin kollidierte Nation als Programm mit dem Programm Europa, weil der supranationalen Öffnung nicht durch Herstellung der Nation, das heißt: durch Absonderung entsprochen werden könnte. Aber das ist ein Problem verfassungsgemäßer Politik. Das Strukturproblem ist, ob Volk und Nation ganzheitlich ineins gesetzt werden können, so daß der demokratische Staat Nationalstaat sein oder werden kann. Wer Vgl. zu FN 17. So eigentlich auch Klein (FN 16). 52 Dazu Roman Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts, 1962; Emst-Wolfgang Bäckenfärde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie., FS Forsthoff, 1967, S. 75, 82ff. Heute avanciert dagegen die christliche Religion wieder - an der Seite des neuen Nationalbewußtseins - zum Ferment der Gesellschaf: Ludger Kühnhardt, Jeder für sich und alle gegen alle Zustand und Zukunft des Gemeinsinns, 1994. 53 Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 178 ff.; ferner Boris Groys, Abschied vom Homogenen, in: FAZ Nr. 27 v. 2. 2. 1993; Richard C. Sinopoli, The Foundations of American Citizenship, 1992, S. 29, 163 ff. 50 51

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dem Volk eine Kollektivgestalt zuerkennt54 , wer dazu die "Einheit der Nation" aufgrund deren "nationaler Homogenität" zum staats bildenden Subjekt mit Gestalt eines Individuums erldärt55 , der übergeht die einzelnen Menschen und deren Zusammenwirken. Wenn Nation nicht durch eine bestimmte Konsistenz, sondern durch eine nicht radizierbare, zudem ungewisse Qualität ausgezeichnet wird, dann bleibt unklar und unerklärbar, wie, durch wen und unter wessen Verantwortung eine "nationale Demokratie,,56 zustandegekommen ist und funktioniert. Ganzheitliche, qualitätsvolle Theorien über die Demokratie verschleiern die Zurechnung zum Personenverband. Sie unterbrechen die Begründungs- und Verantwortungszusammenhänge zwischen Mensch, Volk und Staat durch die Wertungsebene der Nation. Welche Staats- und Regierungsform aus der Eigenart, aus der Substanz bzw. aus dem Wesen einer Nation hervorgeht, ist ja keineswegs gewiß. Es muß nicht die demokratische Republik sein57 . So gesehen, kann die Nation nicht für die grundgesetzliche Demokratie in Anspruch genommen werden, werde das Volk nun als Verfassunggeber oder als Organ des Staates tätig.

IV. Was von dem Nationalstaat an Leistungen zur Sicherung der Menschen, der Völker und des europäischen Gleichgewichts erwartet wird, kann demnach nicht auf die Nation radiziert, sondern nur dem demokratischen Staat als verfaßter, institutionalisierter Wirkeinheit 58 überantwortet werden. Recht verstanden, gelten die Plädoyers für den Nationalstaat denn auch weniger den Nationen als vielmehr den Staaten als solchen, wohlgemerkt: den etablierten Staaten Europas, namentlich dem wiedervereinigten Deutschland. Damit wendet das Blatt sich zum nationschaffenden Nationalstaat, zum Staat, der sich als Nationalstaat definiert und in seiner Umwelt behaupten soll. Welche besondere Art von Staatlichkeit stempelt die Bundesrepublik Deutschland zum Nationalstaat? Die Frage zwingt zunächst zum Blick zurück, dorthin, wo deutsche Staatlichkeit sich im 19. Jahrhundert als Nationalstaatlichkeit westeuropäischer Provenienz gebildet und etabliert hat. Aus deutscher, europaweit nicht durchweg verallgemeinerungsfähiger Sicht ist seither Leitmaßstab der Nationalstaatlichkeit die Einheit. Friedrich Meinecke gab dazu den Begriff "geschlossener Nationalstaat", bezeichnender Weise im Hinblick auf einen "großen Krieg,,59, so den Zusammenhang von Hermann Heller, Staatslehre, 3. Aufl. 1963, S. 161. Carl Schmitt (FN 37), S. 231. 56 Carl Schmitt (FN 37), S. 231. 57 Zur Kritik Kenneth Dyson, The state Tradition in Western Europe, 1980, S. 130. 58 Hermann Heller (FN 54), S. 228 ff. 59 Friedrich Meinecke, Die Revolution, in: Handbuch des Deutschen Rechts, hrsg. Gerhard Anschütz I Richard Thorna, I. Bd. 1930, S. 95, 96. Dazu oben zu FN 37. 54 55

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Krisengefühl und Existenzvergewisserung vorwegnehmend, den Dichter besungen und Theoretiker reflektiert haben. Einheit und Geschlossenheit sind dabei korrespondierende Strukturprinzipien des Staates für den Staatenverkehr, aber auch für die Organisation der Institution als Verband. Sie strukturieren die Elemente des Staates und dessen Rechtsstellung : Einheit des Staatsvolkes durch Staatsangehörigkeit, Einheit des Rechtssystems, insbesondere Verfassungseinheit, Einheit der Staatsorganisation sowie der Zuständigkeitsordnung, Abgrenzung und Impermeabilität60 ; die Reihe kulminiert im Begriff der Souveränität. Das Bundesverfassungsgericht betont diesen Begriff - bemerkenswerterweise neben der sonst gleichbedeutend gebrauchten, rechtlichen Unabhängigkeit - zugleich mit seiner Identifizierung von Volk und Nation61 . Souveränität gilt also wie die Nation als normatives essentiale des Staates 62 . Nach außen grenzt die Souveränität staatliche Macht- und Rechtssphären voneinander ab. Nach innen bezeichnet sie die Hoheitsgewalt des Staates über die Gesellschaft, deren Mitglieder allerdings als Volk Träger der Staatsgewalt sind. Dem souveränen Staat kommt eine einheitliche Staatspersönlichkeit zu - eine deutsche Idee 63 : "So steht denn der einheitliche Staatsgedanke am Schlusse einer großen historischen Entwicklung 64 ". Dieser Gedanke faßt Politik und Recht systematisch zusammen. Seit der Neuzeit arrondieren Territorialherrschaften sich durch Vereinheitlichung ihres politischen Systems sowie ihres Rechts zu Staaten. Aber erst der seine Staatsnation definierende Nationalstaat, der nach dem Zerfall des Ständewesens und der Staatsbürgergesellschaft über dem Staatsvolk eingerichtet wird, vervollkommnet die Politik- und Rechtseinheit - mit der Folge nationalstaatlicher Rechtsabsonderungen in Europa65 , Verstaatlichung und Autonomisierung gehen einher mit der Segmentierung der europäischen Gesellschaft. Zugleich treten Bevölkerungen und Standesangehörige auseinander, um Staatsvölker zu formieren. Der Einheit des Staates entspricht die rechtliche Einheit des Volkes. Herbert Krüger hat diesen Zug des modemen Staates zu dessen Systembegriff stilisiert66 und damit das Ziel zum Wesensmerkmal erklärt. Im modemen Staat besteht das Volk aus der Summe der Staatsangehörigen67 • Wer Staatsangehöriger ist, wird von Rechts wegen entschieden. Da die Frage nach der Staatsangehö-

Vgl. dazu u.a. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Auf!. 1960, S. 394 ff. Vgl. zu FN 13, 14. 62 BVerfGE 89, S. ISS, 186 f., 189. 63 Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970, S. 487 ff., 499 ff. 64 Georg Jellinek (FN 60), S. 326. 65 So zutreffend H.-J. Becker, Artikel: Rechtseinheit, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hrsg. Adalbert Erler I Ekkehard Kaufmann, IV. Bd., 1990, Sp. 282, 283. 66 Krüger (FN 53), S. 83 ff. 67 Rolf Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, S. 663, 668. 60 61

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rigkeit letztlich "eine Frage auf Leben und Tod" ist68 , ist das Angehörigkeitsverhältnis an und für sich einzig und konkurrenzlos. Mehrfachangehörigkeiten sind demnach nicht systemgerecht ; sie bedürfen jedenfalls der Kollisionslösung. Staatsangehörigkeitsgesetze formieren also Lebens- und Schicksalsgemeinschaften. Sie weisen zudem in den Wirkzusammenhang der Demokratie ein. Das der Staatlichkeit entsprechende politische System setzt die Staatsangehörigkeit der wahlberechtigten Staatsbürger voraus 69 . Deshalb kann in der Demokratie die Staatsgewalt auf das Volk als Gesamtheit der Staatsangehörigen bezogen werden, die nunmehr jene Legitimation leistet, um derentwillen einst die Nation entstand. Diese Gesamtheit definiert Innen- von Außenbeziehungen. Erst durch Zuordnung und Zusammenfassung von Menschen ist das Volk anderen Völkern gegenüber abgrenzbar. Als staatlich geeinte Wirkeinheit ist es jedoch kein substantielle Entelechie, sondern findet seinen stets werdenden Zusammenhalt. Insoweit ist das demokratische Volk trotz Staatseinheit offen. Heißt Nationalstaat dagegen nationale Qualifizierung der Angehörigkeit und Konzentration des Wirkens auf nationale Angelegenheiten? In der Tat bietet das Staatsangehörigkeitsrecht einen grundlegenden Anlaß für nationalstaatliche Ambitionen auf Herstellung einer möglichst homogenen Staatsnation. Welcher Eigenart die Homogenität sein soll, ist dabei eine Frage staatspolitischer Entscheidung. Da die Nation nicht schon gewiß ist, werden üblicherweise Merkmale gegriffen: Sprache, Lebensart, Rasse, Bekenntnis - das positive Recht greift dies und das und manches auch im wertenden Abwägungszusammenhang, je nachdem, welche vermutete Nation angestrebt wird 7o . Soll der Staat nationalstaatlich geschlossen werden, dann gilt es, den Zugang zum Staatsvolk zu verengen und unerwünschte Bevölkerungsteile auszugliedern, wenn nicht gar auszusiedeln. Zum Erhalt des Bestandes brauchen die geburtsbedingten Erwerbsvorgänge nur gemäß dem Abstammungsprinzip begrenzt und die Voraussetzungen für eventuelle Einbürgerungen auf einen hohen Stand etablierter Verhältnisse festgeschrieben zu werden. Soll der Staat Einwanderern geöffnet werden, dann sind die Voraussetzungen der Einbürgerung zu vermindern und die Nachkommen durch ihren inländischen Geburtsort in das Angehörigkeitsverhältnis zu integrieren. Dazu läßt sich in Vergangenheit und Zukunft reiches Anschauungsmaterial finden. Es belegt erneut, daß die Gestaltung des Staatsvolkes dessen angebliche Gestalt überholt hat. Das personale Profil der grundgesetzlichen Demokratie richtet sich vornehmlich nach den Regeln über die deutsche Staatsangehörigkeit71 , die dem Abstammungsprinzip des ius sanguinis folgt. Heute wird darin häufig ein Ausdruck genetischer Rückwärtsorientierung gesehen und empfohlen, daß Deutschland sich durch Ein-

68 Ernst von Salomon, Der Fragebogen, 1951/1974, S. 49; grundsätzlich Rolf Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, 1973, S. 222 ff. 69 BVerfGE 83, S. 37,53. 70 Vgl. dazu oben III. 71

Zur Deutscheneigenschaft Art. 116 I GG.

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führung des Territorialprinzips aus nationalen Befangenheiten lösen soll.72 Besitzt die Bundesrepublik also das Profil eines angehörigkeitsrechtlich etablierten Nationalstaates? Als das Abstammungsprinzip einst eingeführt wurde, stand nicht die nationale Homogenität, sondern der Staatsverband der einheimischen Bevölkerung auf der Tagesordnung; globale Wanderbewegungen waren noch kein Problem. Aber im Laufe der politischen Entwicklung des Nationalstaates erwies jenes Prinzip sich als Gefäß für Rasseideologie. Aber vor Ideologisierung ist auch das ius territorii nicht gefeit: Blut und Boden - das ius territorii als Ausdruck der Grundhörigkeit von Menschen, als Beuteprinzip, das wie jenes Abstammungsprinzip die geburtsbedingte Einstiftung nationaler Homogenität sowie die Option für die Kultur des Geburtsstandes fingiert 73. Aber derartige Ausdeutungen bezwecken, was sie voraussetzen, nämlich eine bestimmt geartete Nation. Das positive Recht ist längst differenzierter, seitdem auch nur ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit vermittelt74 . Hinter ihm steht nicht die Vorstellung einer konsistenten Eigenart des Volkes, sondern das Folgenkalkül für das Schicksal der Nachkommenschaft sowie für die Gestaltung des politischen Systems. In der Demokratie braucht es dabei keine Vorgegebenheiten zu geben. Die Ergänzung des Abstammungsprinzips durch das Territorialprinzip sowie, hinsichtlich Einbürgerungen, durch das Wohnsitzprinzip hängt nicht von der Umqualifizierung oder Selbstaufgabe der Nation ab, sondern von der Abwägung der Umstände und Folgen: Siedlungszusammenhänge, Kommunikationsbedingungen, soziale Spannungen in der Gesellschaft und dergleichen sind ebenso zu erwägen wie Loyalitäts- und Staatenkonflikte infolge von Mehrstaatigkeit und wie andererseits der Umstand, daß das Privatleben und die öffentliche Kommunikation weithin von Staatsangehörigkeiten gelöst sind75 • Infolgedessen ist mit nationalgestimmter Staatsangehörigkeit nicht viel Staat zu machen, während ethnische und sozio-kulturelle Konflikte innerhalb der grundrechtlich freigesetzten Gesellschaft von Staats wegen auch ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit neutralisiert werden müssen. Wenn nationale Homogenität nicht bestimmt werden kann, gibt jedenfalls der homogene Nationalstaat demnach kein Ordnungsmodell für das deutsche Volk ab. Wenn denn schon nicht die Zusammensetzung des Staatsvolkes, ist es dann vielleicht dessen Solidargemeinschaft, die die Rückversicherung des Nationalstaates bei der Nation braucht? Da Renans Solidarnation immer schon vergangen ist und Fiktionen von Nation dem Staat weder Aufgaben noch Befugnisse vermitteln können, läßt die Solidargemeinschaft sich nur aus den institutionellen Zwecken des Staates begreifen. Dabei ist allerdings nicht zu übersehen, daß "solidarisch" und "Gemeinschaft" sich als Begriffe wechselseitig reflektieren. Aber eine über die 72 V gl. dazu die gründlichen Studien von Rogers Brubaker (FN 6), besonders S. 216 ff., 237 ff. 73 Dazu Grawert (FN 68), S. 156ff.; Brubaker (FN 6), S. 124f. 74 Vgl. § 4 Abs. I RuStAG i.d.F. des Gesetzes v. 30. 6. 1993 (BGBI. IS. 1062), veranlaßt durch BVerfGE 37, S. 217. 75 Dazu grundSätzlich Grawert (FN 68), S. 242 ff.

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Reflexion hinausgehende Bedeutung könnte auf den Staat weisen, um diesen zum Garanten des Zusammenhaltes seines Staatsvolkes zu erklären. Das verlangt anderes als die Umsetzung des Sozialstaatsprinzips. Die Aufgabe richtet sich grundlegend auf die Sicherung von Recht und Frieden - dem Staat aufgegeben, lange bevor er sich auf seine Nationalstaatlichkeit konzentrieren konnte; sie richtet sich darüberhinaus auf den schon zitierten Gemeinschaftsgeist. Der Staat könnte die Geisteshaltungen seiner Angehörigen dem Zufall überlassen. Er könnte sich auf die Einflüsse nichtstaatlicher Instanzen, insbesondere der Kirchen, verlassen. Alles das ist geschehen. Aber es kann den Nationalstaat nicht befriedigen, solange das Ergebnis nicht nationale Gesinnung, Patriotismus76, Staatstreue, wenigstens: demokratischer Grundkonsens heißt. So könnte man sich die Solidargemeinschaft vorstellen: als gemeinschaftsorientierte Gesamtheit der Staatsangehörigen; so könnte man hoffen, daß die medienbeherrschte Demokratie nicht in jene Beliebigkeit verfällt, die Kennzeichen ihrer Voraussetzungslosigkeit ist. Darf der Staat sich eine solche geistige Führung in die innere Integration von Hoheits wegen anmaßen? Er darf es dank und in den Grenzen der Verfassung, durch die das Volk sich verfaßt hat; er wirkt bereits in Schule und Kaserne 77 , während ihm die Fabrik versperrt ist. Dem deutschen Staat gibt das Grundgesetz die inter- und supranationale Ausrichtung als Option vor78 , so daß die Richtungbestimmung der politischen Entscheidung überantwortet bleibt. Aber sollte der Staat die Solidargemeinschaft zur Nationalstaatlichkeit, das heißt: zu Souveränitätshorizonten und nationalen Identitäten, bewegen? Er sollte es, wenn dort die Zukunft der Gesellschaftsentwicklung, der Rechtsordnung und Friedenssicherung liegt.

v. Die andere Zukunft liegt in der europäischen Integration. Im Hinblick auf sie haben die Mitgliedstaaten ihre Verfassungsräume geöffnet. Da die Öffnung noch nicht endgültig definiert ist, enthält der neue Begriff der offenen Staatlichkeit eine doppelte Wahrheit. Wer sich von diesem Begriff inspirieren läßt, den trägt er aus den Grenzen der Souveränität und Impermeabilität zur integrierten Staatlichkeit. Deren Konturen sind noch ungewiß, aber vorprogrammiert, wenn der klassische Nationalstaat die Gegenwelt darstellt, aus der es Abschied zu nehmen gilt. Doch der Abschied fällt schwer, weil und solange die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nur unter Wahrung ihrer Nationalstaatlichkeit von Öffnung reden und die Stabilität der Nationalstaaten als Bedingung der Offenheit zu Europa gesetzt wird79 • Dazu schon Tocqueville (FN 36), S. 270ff. (I. Buch 11. Teil 6. Kap.). Vgl. z. B. Art. 7, 11 NW Verfassung. 78 Dazu u.a. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1977, S. 381 ff. 79 Dazu oben zu FN 10. 76 77

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Die europarechtliche Zukunfts sperre gegen Europa scheint in Artikel F Absatz I des Maastricht-Vertrages verankert zu sein. Die Norm könnte sogar zu der Annahme verleiten, sie sichere den homogenen Nationalstaat. Aber sie betrifft ersichtlich nur das institutionelle Substrat der Union, nämlich die "nationale Identität" der "Mitgliedstaaten, deren Regierungssysteme auf demokratischen Grundsätzen beruhen". Hier wird mit staatlichen Besonderheiten gerechnet, nicht solchen ethnischer oder ethnopsychologischer Art. Dadurch heben die Staaten sich von ihren "Völkern" ab, die in der Präambel des Vertrages aufgrund "Geschichte", "Kultur" und "Traditionen" über die Staatsangehörigkeit hinaus qualifiziert werden. Ob das eine mit dem anderen zusammenhängt, bleibt vertraglich offen. Weder werden "Völker" zu Nationen erklärt - wie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - noch Staaten zu Nationalstaaten, - wie in den jene Rechtsprechung begleitenden Kommentaren -; vielmehr verwendet der Vertrag statt Wesens-Funktionsbezeichnungen: "Mitgliedstaaten". Deren "nationale Identität" reflektiert grundlegende Verfassungsstrukturen, hauptsächlich traditionelle und typische Ausprägungen demokratischer Staatlichkeit wie: Wahlsystem, Verhältnis von Parlament und Regierung, Verteilung der staatlichen Funktionen, Rechtsstaatsordnung; in Deutschland auch: Bundesstaatlichkeit, kommunale Selbstverwaltung, Verfassungsgerichtsbarkeit; durch Menschenrechte konstituiert im Eigenen auch das Universelle die "nationale Identität"; doch grundlegend bleibt diese der verfassungsgebenden Gewalt überantwortet, kraft der das Volk Strukturveränderungen bewirken und so Konservierung der Öffnung betreiben kann. Von Vertrags wegen gilt es, die Identität als Kernbereich besonderer Staatlichkeit zu achten, nicht herzustellen. Insofern ist nicht die Fortentwicklung, wohl aber der Rückzug in den geschlossenen Nationalstaat verbaut. Tatsächlich befinden die Staaten Europas sich allerdings schon in einer weithin offenen Lage: Deutschlands Mittesituation wird dadurch besonders geprägt; dafür gibt es nicht nur nachkriegsgeschichtliche, sondern vor allem geopolitische und ökonomische Gründe. Der Staat, der Wirtschaftsfreiheit gewährt, schränkt seine Möglichkeiten zur Steuerung der eigenen Volkswirtschaft zugunsten einer Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen ein. Öffnung der Grenzen, Relativierung der Rechtseinheit, Vergemeinschaftung von Politiken und dergleichen riskieren das klassische Modell Nationalstaat, müßte man da nicht mit dem souveränen Rückrufvorbehalt rechnen, den das Vertragssystem der Europäisierung impliziert, indem es die gemeinschaftskonstituierende Gewalt der Mitgliedstaaten anerkennt. Wer deswegen auf nationalstaatliche Gegebenheiten zurückschließt und bei den etablierten Nationalstaaten Europas nicht nur vorübergehenden Halt sucht, sondern dauerhaft Halt haben möchte, könnte jedoch von der Dialektik seines Ansatzes eingeholt werden: Wer sich auf nationale Grundgegebenheiten verläßt, muß mit supranationalen rechnen. Daher könnte die Dispositionsgewalt der Staaten dort ihre Grenze finden, wo supranationale Verflechtungen faktisch oder politisch unumkehrbar sind - wie vielleicht im Wirtschafts-, Wissenschafts- und Technikbereich 80 80

Besonders hinsichtlich technischer Nonnungen.

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- und wo ein Europabewußtsein das Nationalbewußtsein überlagert, jedenfalls so, daß der Rückzug in die Abgeschlossenheit des Nationalstaates nicht mehr durchsetzbar ist. Ob und inwiefern das eine oder andere der Fall sein wird, ist eine Frage der Spekulation und der politischen Entwicklung. Das Bundesverfassungsgericht hat dieser Entwicklung im wesentlichen drei Haltesignale entgegengesetzt: Es hat die deutsche Staatsgewalt einschließlich ihrer kommunalen Organisation dem deutschen Volk als Summe der Deutschen vorbehaltenSI; es hat die Souveränität Deutschlands im Letztentscheidungsrecht der Unionsstaaten über die Kündigung der Gemeinschaftsverträge verankert S2 ; es hat schließlich - und vielleicht als Krönung - sein eigenes Entscheidungsmonopol hinsichtlich Grundrechtsverletzungen "in Deutschland" auch mit Wirkung für supranationale Rechtsakte S3 autonom begründet; zur Absicherung dieser nationalstaatlichen Bastionen dient der Vermerk, daß es ein europäisches Volk selbstverständlich nicht gebe s4 . Man muß das registrieren, auch wenn abzusehen ist, daß einige dieser Bastionen demnächst zu schleifen sind: Der Deutschenvorbehalt muß mit dem gemeinschaftsrechtlich verbrieften Kommunalwahlrecht für Ausländer in Einklang gebracht werden, so daß die Öffnung des deutschen Souveräns ansteht; andererseits tritt das europäische Volk in dem Maße in Erscheinung, in dem die allseits geforderteS5 Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaft sowie der Union unmittelbar wird, also ohne Vermittlung der Völker der Mitgliedstaaten stattfindet, wie dies bei den europäischen Parlamentswahlen bereits der Fall ist; je nach Fortgang der Demokratisierung wird die Diskussion über Sein oder Nichtsein eines Europavolkes eine Diskussion um Wörter sein, die die Supranationalität der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten nicht aufhebt. Ungeachtet dessen ist zu überlegen, ob und wie eine "immerwährende"s6 Vergemeinschaftung wesentlicher Staatsbereiche den Typus Staat verändert oder gar in Frage stellt. Während der Jahrhunderte, in denen sich der Staat als Organisation von Herrschaft entwickelte, gelang es erst allmählich, zu der Rechts- und Friedenseinheit zu kommen, die den Typus bestimmen sollte. "Staat" ist eine organisatorische Leistung der Abstraktion von mehr oder minder starker Herrschaftsverdichtung, ständig arrondiert nur um Kernbereiche öffentliche Aufgaben, Befugnisse und Legitimität, in Kontinentaleuropa dabei in ständiger Auseinandersetzung mit anderen Herrschaftsträgern, sozialen Mächten und insbesondere der Kirche, der er Vgl. oben FN 69. Dagegen jetzt Art. 28 I 3 GG. BVerfGE 89, S. 155, 190. 83 BVerfGE 89, S. 155, 156 (157), 174ff.; dazu zu Recht kritisch Hans-Detiei Horn, "Grundrechtsschutz in Deutschland" - Die Hoheitsgewalt der europäischen Gemeinschaften und die Grundrechte des Grundgesetzes nach dem Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, DVBI. 1995, S. 89ff. 84 Vgl. die Nachweise zu FN 13, 14. 85 Dazu kritisch mit Rücksicht auf den Bestand der "Nationalstaaten" Peter Badura (FN 19), S. 34,74. 86 Art. I IPO. 81

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Rolf Grawert

dadurch seine Säkularisation 87 auswich. Die Entwicklung der europäischen Staaten läßt erkennen, daß "der" Staat zwar zur Vereinheitlichung der politischen Kräfte, Interessen und Legitimitätsvorstellung in einer vom Wechsel der Personen unabhängigen Einrichtung tendierte, aber auch mit internen wie externen Abhängigkeiten und Funktionsbeeinträchtigungen vereinbart werden konnte. Als kontinentaleuropäische Variante politischer Einheitsbildung 88 entstand "Staat" zur Bewältigung spezifischer innen- und außenpolitischer Gefahrenlagen. So erhielt er seine eigenartige, der europäischen Neuzeit verpflichtete Gestalt und seine allgemeinen Zwecke. Je mehr historisch bedingte Gefahrenlagen entfallen oder auf andre Weise bewältigt werden können und je mehr jener Zwecke sich erledigen oder dem Staat entwachsen, desto mehr läßt die Notwendigkeit nach, die Zweckschöpfung "Staat" auf einen entwicklungsgeschichtlich perfektionierten Idealtypus zu fixieren. Schon läßt sich ja sehen, daß die vorhandenen Staaten, so wie sie an und für sich eingerichtet sind, das Ganze einer Gesellschaft nicht mehr beherrschen, sofern sie nicht ein überwältigendes Gewaltmonopol realisieren können und durchsetzen wollen. Schon bewegen sie sich zwischen Privatisierung und Vergemeinschaftung ihrer Aufgaben. In dieser Situation geht es um die Definition von Kembereichen. Solange dem Staat die für seine Gesellschaft wesentlichen, regional radizierbaren Aufgaben und Hoheitsfunktionen undefiniert und eigenständig zustehen, ist weder die Real- noch die Rechtsexistenz des Staates zu besorgen; andererseits ist das Monopol der Hoheitsgewalt im Staatsgebiet keine unaufgebbare Voraussetzung von Staatlichkeit, wie die Völkerrechtsgeschichte indiziert, die nicht durch Typenreinheit, sondern durch Übergänge zwischen Staatlichkeit und Nichtstaatlichkeit beeindruckt. Auf dem für die Gemeinschaft wichtigen Bereich der Wirtschaft kann der einzelne Staat ohnehin nicht mehr als die Position eines regional wirksamen Widerlagers gegenüber globalen Verkehrsvorgängen spielen. Hier zeigt sich die ihm in Zukunft gemäße Rolle: regionales Verdichtungszentrum im Gefüge überstaatlicher Machtkonstellationen zu sein. Auf seine Einzigkeit, Ausschließlichkeit und Monopolstellung kann dieser Staat sich nicht berufen. Er kann die Rechtsbeziehungen seiner Angehörigen nicht auf sich konzentrieren. Dafür gewinnt er Mitwirkungsbefugnisse im Verflechtungsbereich, so daß auch die Volkssouveränität die Grenzen des Supranationalen übersteigt. Allerdings bleibt festzuhalten, daß die mitgliedstaatlichen Völker jeweils nur ihre eigene Staatsgewalt legitimieren, werde diese nun in den Grenzen des Staates oder darüber hinaus supranational mitwirkend tätig. Aus nationalstaatlicher Perspektive gehört dazu die These, daß jede im Staat ausgeübte Hoheitsgewalt staatlich vermittelt und damit durch das Staatsvolk legitimiert zu sein hat. Diese These entspricht der herrschenden Anschauung. Sie erledigt jeden Monismus des Völkerrechts wie Souveränitätsbehauptungen der Gliedstaaten eines Bundesstaates. Aber sie ist weder naturgegeben noch histori87

88

Emst-WolJgang Bäckenfärde (FN 52), S. 75, 91 ff. Dyson (FN 57), S. 33 ff.

Der Deutschen supranationaler Nationalstaat

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sches Gesetz, muß man auch zur Kenntnis nehmen, daß sie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu seiner "in Deutschland" - Rechtsprechungshoheit89 eine energische Bestätigung gefunden hat. Die alternative, die offene, gemeinschaftsfreundliche These lautete hingegen, daß nicht jede im, sondern nur die vom Staat ausgeübte Staatsgewalt der Legitimation durch und der Rückbeziehung auf das Staatsvolk bedarf. Sie eröffnete die Möglichkeit, über eine sekuläre ZweiSchwerter-Lehre nachzudenken. Vorerst aber gibt es keinen Anlaß, den Staat für überflüssig zu halten. Aber wenn die hier skizzierten Vorgänge das Rechtsbewußtsein durch festere Konturen geprägt haben werden, dann stellen sich auch die der offenen Staatlichkeit entsprechenden Strukturen und Begriffe ein. Schon jetzt scheint es so, als gerate der Nationalstaat in die Erinnerung.

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Vgl. FN 83.

Notwendiger Wandel der Dogmatik des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts in einem zusammenwachsenden Europa? Überlegungen zum Verständnis der Europäischen Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft Von Albert Janssen, Hannover

I. Die öffentlichrechtliche Dogmatik in Deutschland ist in Verlegenheit geraten. Sie vermag ihren Gegenstand, das deutsche Staats- und Verwaltungsrecht, wegen seiner zunehmenden Überlagerung, Umformung und Ergänzung durch das europäische Recht nicht mehr eindeutig zu identifizieren - die europäische Rechtsnormenvereinheitlichung ist zur Ursache nationaler Rechtsunsicherheit geworden 1. Die gerade durch die fortschreitende europäische Integration immer deutlicher hervortretende "überstaatliche Bedingtheit" unseres Staates 2 konnte für seine Rechtsordnung deshalb nicht ohne Folgen bleiben, weil die Europäische Gemeinschaft (EG) nach wie vor als Rechtsgemeinschaft in dem Sinne verstanden wird, "daß sie die Ziele der europäischen Integration - welche es auch immer sind - mit den Mitteln des Rechts zu realisieren unternimmt,,3. Diese Zwecksetzung vermag nun aus sich heraus nicht der allgemeinen Gefahr vorzubeugen, daß die europäische Rechtseinheit als ein Wert an sich erachtet und damit im Ergebnis der Rechtsvereinheitlichungsprozeß abweichend von seinen Rechtsgrundlagen in den europäischen Verträgen schrittweise endfunktionalisiert wird4 . Doch selbst wenn man da1 Dazu anschaulich Jochen Taupitz, Europäische Privatrechtsvereinheitlichung heute und morgen, 1992, S. 42 ff. 2 So der Titel des den "Grundpositionen" Wemer v. Simsons gewidmeten Beihefts 1/1993 der Zeitschrift "Europarecht" . 3 So Eclwn Klein, Der Einfluß des europäischen Gemeinschaftsrechts auf das Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten: Der Staat 33 (1994), S. 39ff. (39). 4 Zum spezifischen Charakter der Rechtsvereinheitlichung durch die EG: Eclwrt Klein, Vereinheitlichung des Verwaltungsrechts im europäischen Integrationsprozeß, in: Christian Starck (Hrsg.), Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, 1992, S. 117 (122 f.); Taupitz (FN I), S. 35 ff.

10 Festschrift Böckenförde

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von heute noch nicht sprechen kann, ist namentlich nach dem Aufgabenzuwachs der EG durch den Vertrag von Maastricht5 eine solche Zunahme an das deutsche Staats- und Verwaltungsrecht verändernden europarechtlichen Vorschriften zu erwarten, daß die anfangs getroffene Feststellung einer schwierigen Identifizierung des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts in jedem Fall in Zukunft ihre Gültigkeit behalten wird. Die Dogmatik des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts hat verschieden auf diese Entwicklung reagiert. In der staatsrechtlichen Dogmatik der jüngsten Zeit lassen sich besonders zwei Tendenzen ausmachen. Auf der einen Seite hat man im Blick auf den Maastrichter Vertrag aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts und des traditionellen Völkerrechts namentlich auf Artikel 79 Abs. 3 GG gestützte Zweifel an dem genannten Vertrag angemeldet 6 und angesichts des durch diesen Vertrag eingeleiteten Souveränitätsverlusts der Bundesrepublik Deutschland die Frage nach der Letztverantwortung für ihre Staatsbürger gestellt7 . Andererseits ist die verfassungsrechtliche ,,zukunftsperspektive" in der gegenseitigen Zuordnung von deutschem Staats- und Europarecht gesehen und dem Begriff der (möglichen) Kollision beider Rechtsbereiche der der praktischen Konkordanz entgegengesetzt worden 8 ; dabei hat man zugleich die Notwendigkeit eines dogmatischen Umdenkens angemahnt 9 • Die unbestrittene Verfassungsabhängigkeit des deutschen Verwaltungsrechts scheint dafür zu sprechen, daß die verwaltungsrechtliche Dogmatik vor ähnlichen Alternativen steht wie die staatsrechtliche. Diese Feststellung wird aber schon durch die Tatsache relativiert, daß die Verwaltungsrechte der europäischen Einzelstaaten "durch ihre Indienststellung für das Gemeinschaftsrecht der ausschließlichen Dominanz des jeweiligen Verfassungsrechts" weitgehend entzogen werden lO • Daneben ist der besonders für das Verwaltungsrecht typische Anpassungsdruck nicht zu übersehen, der darin gründet, daß sich hier "die die ideelle Grundlage der 5 S. nur die kurze Übersicht bei Hans-Heinrich Rupp, Maastricht - eine neue Verfassung?: ZRP 1993, S. 211 (212). 6 Besonders deutlich Rupp (FN 5), S. 211 ff.; Fritz Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz - eine verfassungsrechtliche Wende?: DVBI. 1993, S. 629 ff., bes. S. 632 f. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 89, S. 155 ff.) hält den Vertrag von Maastricht zwar für verfassungsgemäß, argumentiert aber auch aus einer entsprechenden ..defensiven Haltung" heraus. Das bestätigen etwa folgende Besprechungen des genannten Urteils: Juliane Kokott, Deutschland im Rahmen der Europäischen Union - zum Vertrag von Maastricht: AöR 119 (1994) S. 209 ff.; Bruno Kahl, Europäische Union: Bundesstaat - Staatenbund - Staatenverbund? Zum Urteil des BVerfG vom 12. Oktober 1993: Der Staat 33 (1994), S. 241 ff. 7 So etwa Karl Doehring, Staat und Verfassung in einem zusammenwachsenden Europa: ZRP 1993, S. 98 ff. 8 So Jürgen Schwarze, Das Staatsrecht in Europa: JZ 1993, S. 585 (591 ff.); Gunnar Folke Schuppert, Zur Staatswerdung Europas: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1994, S. 36 (57 ff.) u.a. 9 Schwarze, ebd., S. 593 f.; Schuppert, ebd., S. 59 f. 10 E. Klein (FN 4), S. 146, genauer dazu S. 141 f., 144.

Notwendiger Wandel der Dogmatik des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts ? 147

Gemeinschaft bildende gleiche Ansicht der Mitgliedstaaten vom Verhältnis der hoheitlichen Gewalt zum Bürger niederschlägt" und die grenzüberschreitenden Verwaltungsrechtsprobleme wie etwa das eines wirksamen Umweltschutzes ständig zunehmen 11. Die u.a. hieraus resultierenden Überlagerungen und Umformungen des deutschen Verwaltungsrechts durch das europäische Recht sind mehrfach beschrieben l2 , kaum aber weitergehende dogmatische Folgerungen aus diesem Umstand gezogen worden. Im Verwaltungsrecht fordere, so hat man jüngst lapidar festgestellt, "die segmentartige (erg.: europäische) Rechtsvereinheitlichung weniger das nationale Rechts-,System' als die Lem- und Kompromißfähigkeit nationalen Verwaltungsrechts heraus,,13. Und die "Grenzformel" für die Einwirkung europäischen Rechts auf das deutsche Verwaltungsrecht lautet hier: "gegenseitige Rücksichtnahmepflicht", was im Denkansatz dem schon für das Staatsrecht erwähnten Topos der praktischen Konkordanz nahekommt l4 . Das Ergebnis dieses kurzen Überblicks muß demnach lauten, daß die Dogmatik des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts zwar die Einwirkungen des europäischen Rechts auf die nationale Rechtsordnung analysiert und ihr Verhältnis zueinander näher zu bestimmen versucht hat; sie hat aber nicht aus ihrem Selbstverständnis heraus das für die europäische Rechtsgemeinschaft maßgebende Modell der legislativen Rechtsvereinheitlichung l5 in Frage gestellt und damit auch nicht das so geprägte Bild der EG selbst. Bedenkt man nun aber, daß die europäische Integration in den Bahnen des Rechts "ohne eine gemeinsame Grundansicht von Recht a limene mißlingen" muß l6 , so erstaunt dieser Optimismus zumindest. II Klein, ebd., S. 126. Eindrücklicher Beleg für die gleiche Ansicht der Mitgliedstaaten zum Verhältnis von Staat und Bürger im Verwaltungsrecht ist das 1988 erschienene zweibändige Werk "Europäisches Verwaltungsrecht" von Jürgen Schwarze. 12 S. etwa E. Klein (FN 3), S. 39 ff. und ders., (FN 4), S. 117 ff. Daneben Eberhard Schmidt-Aßmann, Zur Europäisierung des allgemeinen Verwaltungsrechts, in: Festschrift für Lerche, 1993, S. 513 ff. und ders., Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht: DVBI. 1993, S. 924 ff. sowie Friedrich Schach, Die Europäisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts: JZ 1995, S. 10911. 13 So Volkmar Götz, Auf dem Weg zur Rechtseinheit in Europa?: JZ 1994, S. 265 (268). In der Tendenz ähnlich: Schmidt-Aßmann, Zur Funktion des Allgemeinen Verwaltungsrechts: Die Verwaltung 27 (1994), S. 137 (141 f.), allerdings mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit eines "systematischen Struktur- und Funktionsvergleichs" und einer "Abstimmung der Steuerungsinstrumente und Rechtsinstitute auch in horizontaler Hinsicht". Entschiedene Betonung der damit gestellten dogmatischen Aufgabe aber bei Schach (FN 12), bes. S. 111 f., 114, 115f., 116ff. 14 So Schmidt-Aßmann, Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht (FN 12), S. 931 f. und Schach (FN 12), bes. S. 118 ff., jedoch mit deutlicher Betonung der Notwendigkeit einer Kompetenzneuordnung für die EG als Voraussetzung für ein sinnvolles "Kooperationsverhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Verwaltungsrecht". 15 Dazu Taupitz (FN 1), S. 39 ff.; ders., Privatrechtsvereinheitlichung durch die EG: Sachrechts- oder Kollisionsrechtsvereinheitlichung?: JZ 1993, S. 533 (534 ff.). 16 E. Klein (FN 4), S. 122.

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11. Das erwähnte Modell der europäischen Rechtsvereinheitlichung ist allerdings jüngst besonders nachdrücklich von Jochen Taupitz in Zweifel gezogen worden. Seine Ausführungen orientieren sich zwar an der Privatrechtsvereinheitlichung durch die EG, sie haben aber darüber hinaus grundsätzliche Bedeutung. Diese liegt darin, daß Taupitz gewichtige Argumente gegen die Dominanz der legislatorischen Rechtsvereinheitlichung in der EG ins Feld führt, an die Möglichkeit einer "gewachsenen" Rechtsvereinheitlichung erinnert und schließlich als grundsätzliche Alternative zur legislatorischen Sachrechtsvereinheitlichung in der EG für das Privatrecht den weiteren Ausbau des Kollisionsrechts in Anlehnung an das Internationale Privatrecht (IPR) vorschlägt: Bedenken gegen die legislatorische Rechtsvereinheitlichung auf europäischer Ebene folgen für ihn u.a. 17 aus ihrer gerade für die Wirtschaft kaum tragbaren Schwerfälligkeit und ihrer mangelnden Rücksichtnahme auf den tatsächlichen Regelungsbedarf. Daneben ist bei der legislatorischen Rechtsvereinheitlichung häufig die Frage nach dem geringsten politischen Widerstand und eben nicht die nach der Bedarfsgerechtigkeit leitend. Die so geprägten europäischen Rechtsnormen führen darum vielfach nur zu einem "Torsoeinheitsrecht" und - was für das Gerechtigkeitsempfinden fast noch schlimmer ist - "keineswegs stets zu einer Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse und einer realen Gleichbehandlung der zugrundeliegenden sozialen Probleme." Schließlich unterbindet legislatorische Rechtsvereinheitlichung auf europäischer Ebene in ihrem Bereich den Wettbewerb der nationalen Rechtsordnungen um die beste Lösung bzw. - und das gilt besonders im Privatrecht - die Regelbildung durch die Vertragspraxis der an internationalen Regelungen Beteiligten. Diese Kritik, die zusammengefaßt gegenüber dem "distributiven Zufall" der legislatorischen europäischen Rechtsvereinheitlichung die Notwendigkeit der Regelhaftigkeit, Systemgerechtigkeit und Realitätsnähe jeder Rechtsordnung betont, muß zwangsläufig den Blick zunächst auf die "gewachsene" Rechtsvereinheitlichung lenken, worunter Taupitz im Anschluß an Dölle u.a. primär die wegen ihrer inneren Überzeugungskraft übernommenen Regelungen eines anderen Staates versteht. Es handelt sich also um eine gegenüber der gezielten legislatorischen Rechtsvereinheitlichung freiwillige "voluntative Rezeption", die übrigens auch durch die ständige Rechtsprechung eines anderen Landes ausgelöst werden kann l8 . Praktisch wichtiger als dieses alternative Regelungsmodell ist die aufgrund der vorgetragenen Kritik an der legislatorischen Rechtsvereinheitlichung von Taupitz betonte Alternative einer Kollisionsrechtsvereinheitlichung. Der vorgeschlagene "Paradigmenwechsel" in den rechtlichen Harmonisierungsbemühungen der EG be-

I7

18

Vgl. zum folgenden: Taupitz (FN I), S. 41 f., 69 f. und ders. (FN 15), S. 534. Taupitz (FN I), S. 27 ff.

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inhaltet damit im Kern die Forderung, daß man in Zukunft nicht primär auf die anzustrebende Gleichheit der Rechtsordnungen in den europäischen Mitgliedstaaten abstellt, sondern darauf, daß nach Möglichkeit derselbe Fall zu derselben Zeit gleich entschieden wird 19 . Das setzt auf europäischer Ebene primär den Umbau des internationalen (Privat-)rechts zu einem "interlokalen Kollisionsrecht" voraus, während die Sachrechtsvereinheitlichung zunächst als "Basisvereinheitlichung" besonders von der europäischen Rechtswissenschaft vorangetrieben werden sollte2o • Taupitz kann für seinen Vorschlag auf neuere, namentlich von der EG-Kommission vorgetragene Grundkonzepte der EG selbst zur europäischen Rechtsvereinheitlichung verweisen, die seiner Ansicht nach obendrein eine "geistige Verwandtschaft" mit dem geltenden IPR besitzen 21 . Diese geistige Verwandtschaft liegt für ihn in dem Gedanken der Gleichwertigkeit der (nationalen) Rechtsordnungen, dem Subsidiaritätsprinzip mit dem daraus folgenden Postulat der "autonomen und dezentralen Ausbildung der Sachrechtsordnungen" sowie schließlich der Forderung nach "Abschied von der Detailharmonisierung" und Betonung der Basisvereinheitlichung, die sich im IPR in Ansätzen in "Ausnahmeklauseln wie den ordre public" wiederfindet. Als besonderen Beitrag des IPR zum neuen Paradigma einer europäischen Rechtsvereinheitlichung betont Taupitz schließlich, daß der Gedanke der Gleichbehandlung dort in einem Sinne verstanden wird, der eine Synthese von Föderalismus und Einheitsidee zuläßt. Zusammengefaßt bringt er sein Leitbild einer europäischen Rechtsvereinheitlichung auf die "plakative" Aussage:

Soviel Vereinheitlichung wie nötig und so wenig wie möglich. Und: Soviel Kollisionsrechtsvereinheitlichung wie möglich und nur soviel Sachrechtsvereinheitlichung wie nötig 22 • III.

1. Schon diese kurze Schilderung des von Taupitz - unter Anknüpfung an in der EG selbst vorhandene Ansätze - entworfenen "Modells" für eine europäische Rechtsvereinheitlichung macht deutlich, daß ihm eine ganz bestimmte Vorstellung von den Aufgaben des (Privat-)rechts, der europäischen Rechtswissenschaft sowie ihrer "überstaatlichen" Tradition zugrundeliegt. Darauf ist nunmehr deshalb noch genauer einzugehen, weil ein solches Modell für die öffentlichrechtliche Dogmatik nur dann diskutierbar ist, wenn diese Dogmatik die dafür verbindlichen rechts19 So Taupitz (FN 15), S. 538; daneben ders. (FN 1), S. 60 ff. und Christian v. Bar, Internationales Privatrecht, Bd. I, 1987, S. 165. 20 Taupitz (FN I), S. 62 ff.; ders. (FN 15), S. 538 f. Im Ansatz ebenso bereits v. Bar (FN 19), S. 163 ff. 21 Taupitz (FN I), S. 60 ff.; ders. (FN 15), S. 536 f. Das Folgende ist der Versuch einer Zusammenfassung der dort geäußerten Gedanken von Taupitz. 22 Taupitz (FN 15), S. 539; ähnlich ders. (FN I), S. 66.

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historischen und rechtstheoretischen Grundlagen zu teilen vermag. Diese Aussage kann folgende Überlegung verdeutlichen: Die Methode des IPR zur Lösung der Konflikte, die aus der Kollision mehrerer Rechtsordnungen entstehen, basiert nach wie vor auf dem Satz Savignys, "daß bei jedem Rechtsverhältniß dasjenige Rechtsgebiet aufgesucht wird, welchem dieses Rechtsverhältniß seiner eigenthümlichen Natur nach angehört oder unterworfen ist'.23. Nicht "der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm,,24 ist es also, der die entsprechenden Überlegungen bestimmt, sondern die Frage, worin das konkrete Rechtsverhältnis seinen "Sitz" hat. Bedenkt man, daß die öffentlichrechtliche Dogmatik in Deutschland verstärkt auf das Rechtsverhältnis als Grundkategorie zurückgreift und Savignys Verständnis des Rechtsverhältnisses auch zum Ausgangspunkt entsprechender Überlegungen gewählt wird25 , so dürfte die aufgeworfene Frage nach der Kompatibilität der rechtshistorischen und rechtstheoretischen Grundlagen des von Taupitz favorisierten Modells einer europäischen Rechtsvereinheitlichung mit denen der neueren öffentlichrechtlichen Dogmatik ihre Berechtigung besitzen. Entscheidend für die genannten Grundlagen ist zunächst, daß Taupitz etwa die Ausarbeitung eines vom Europäischen Parlament angeregten europäischen Gesetzbuchs für das Privatrecht primär als eine Aufgabe der europäischen Rechtswissenschaft unter Hinweis auf ihre gemeinsame Tradition im "ius commune" ansieht26 . Hier wie ebenfalls bei seiner Forderung nach gewachsener Rechtsvereinheitlichung setzt er auf eine das nationalstaatliche Denken überwindende europäische Rechtswissenschaft, die auch die Juristenausbildung beeinflussen muß. Es geht ihm um die Heranbildung einer "geistigen Bewußtseinseinheit", die allein Grundlage für eine spätere reale Rechtseinheit sein kann 27 . Alles das sind Forderungen, die bekanntlich von Jhering bis heute gerade von der Zivilrechtsdogmatik besonders angesichts der europäischen Bestrebungen nach Rechtseinheit immer wieder erhoben werden28 . Interessant in diesem Zusammen23 Friedrich earl v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. VIII, 1849, S. 28, 108. Dazu genauer v. Bar (FN 19), S. 402 f., 404 f. 24 So der Titel des 1965 erschienenen Buches von Klaus Vogel, das für das Verwaltungsrecht die Gegenposition markiert. Zur Auseinandersetzung mit Vogel aus der Sicht des IPR vgl. nur Egon Lorenz, Zur Struktur des internationalen Privatrechts, 1977, S. 21 ff., 42 ff., 48 ff., 70 ff. 25 Ausdrücklich so bei RolfGröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, 1992, S. 67 ff. Zur aktuellen Diskussion über das Verwaltungsrechtsverhältnis ebd., S. 142 ff. und daneben Hartmut Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 270 ff., 278 ff. sowie ders., Verwaltungsrechtslehre im Umbruch: Die Verwaltung 25 (1992), S. 301 (315 ff.). 26 Taupitz (FN 1), S. 46. 27 Ebd., S. 68.

28 Zu Jherings entsprechender Forderung s. etwa Karsten Schmidt, Jherings Geist in der heutigen Rechtsfortbildung, in: Okko Behrends (Hrsg.), Privatrecht heute und Jherings evolutionäres Rechtsdenken, 1993, S. 77 (103 f.).

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hang sind dabei die verschiedenen Versuche, in Übereinstimmung mit der Intention von Taupitz an das römisch-kanonische ius commune als Grundlage einer europäischen Rechtseinheit zu erinnern 29 und auch die Rechtsvergleichung als Beitrag zur Wiedergewinnung einer europäischen Rechtseinheit zu verstehen 3o . Die "zur Landesjurisprudenz degradierte Rechtwissenschaft" muß danach zunächst "die Aufgabe ihrer Europäisierung" in diesem Sinne begreifen 3 ). Neben diesem Verständnis der Rechtswissenschaft und ihrer Aufgaben ist die Rechtsauffassung von Taupitz in unserem Zusammenhang interessant32 . Er versteht die Rechtssätze unter Zitierung der einschlägigen Arbeiten von Philipp Heck als "eingefrorene Interessenbewertungen"; Rechtsgleichheit setzt - wie er folgert zunächst einmalInteressengleichheit voraus. Denn es geht letztlich um die "Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse durch Recht." Augenscheinlich enthält demnach nach Taupitz das Gesetz Konfliktsentscheidungen und stellt wie das Recht überhaupt gegenüber dem konkreten Fall (dem Lebenssachverhalt), auch was seine Entstehung betrifft, etwas Sekundäres dar. Der dem Grundgedanken des IPR verpflichtete Kernsatz des neuen Paradigmas einer europäischen Rechtsvereinheitlichung, daß diese vor allem garantieren müsse, daß man nach Möglichkeit denselben Fall zu derselben Zeit gleich entscheidet, findet hierin also seine rechtstheoretische Begründung. 2. Diese Ausführungen besitzen in unserem Zusammenhang deshalb so große Bedeutung, weil inzwischen von anderer zivilistischer Seite - genau auf diesen Prämissen aufbauend - ein Neubau der öffentlichrechtlichen Dogmatik angeregt worden ist, wobei der Zivilrechtsdogmatik ausdrücklich "für die weitere Durchdringung des öffentlichen Rechts ... eine gewisse orientierende Funktion" zuerkannt wird33 . Beispielhaft dafür sind besonders die Arbeiten von Jan Schapp: Für ihn ist der praktische Fall der Ausgangspunkt, auf den die gesetzgeberische Entscheidung (und später auch die richterliche) aufbaue 4 • Das Verständnis des Gesetzes als Fallentscheidung, und zwar als Entscheidung über gegenwärtige und zukünftige Fälle, erinnert wiederum wie bei Taupitz stark an die Lehren der von 29 V gl. aus neuerer Zeit besonders folgende Aufsätze von Reinhard Zimmermann: Das römisch-holländische Recht und seine Bedeutung für Europa: JZ 1990, S. 825 ff.; Das römisch-kanonische ius commune als Grundlage europäischer Rechtseinheit: JZ 1992, S. 8 ff.; Der europäische Charakter des englischen Rechts: ZEuP 1993, S. 4 ff. Daneben u.a. Helmut Coing, Europäisierung der Rechtswissenschaft: NJW 1990, S. 937 (939). 30 Hein Kötz, Was erwartet die Rechtsvergleichung von der Rechtsgeschichte: JZ 1992, S. 20 ff.; Uwe Blaurock, Europäisches Privatrecht: JZ 1994, S. 270 (276); Abbo Junker, Rechtsvergleichung als Grundlagenfach: JZ 1994, S. 921 (924 ff.). 31 So wörtlich R. Zimmermann, ius commune (FN 29), S. 8. In der Forderung durchweg ebenso die übrigen in FN 29 und 30 Genannten. 32 Zum folgenden Taupitz (FN I), S. 8 (Hervorhebung dort!). 33 So Jan Schapp, Über die Freiheit im Recht: AcP 192 (1992), S. 355 (386). 34 Jan Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, 1983, S. 12, genauer dazu S. 15 ff.

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Heck begründeten Interessenjurisprudenz. Dennoch liegt der entscheidende und für das von Taupitz favorisierte Modell einer europäischen Rechtsvereinheitlichung nicht unbedeutende Unterschied darin, daß der Gesetzgeber nach Schapp nicht entsprechend dem üblichen und auch von Heck bejahten Subsumtionsmodell eine allgemeine Interessenlage und der Richter den konkreten Fall entscheidet, sondern Gesetzgeber und Richter beziehen sich seiner Ansicht nach durch ihre Entscheidung auf denselben Einzelfall mit dem einen Unterschied, daß er für den Gesetzgeber ein zukünftiger und für den Richter ein vergangener ist 35 . Der Gesetzgeber schafft im übrigen nach Schapp nicht die Fälle, die er entscheidet, sondern findet sie vor36 , was wiederum dem Ablauf des von Taupitz entworfenen Regelungsmodells entspricht.

Das Gesetz ist nun nach Schapp auch im öffentlichen Recht als Entscheidung von konkreten Fällen zu verstehen 37 • Seine Besonderheit besteht gegenüber dem privatrechtlichen Gesetz allein darin, daß der Staat seinen Willen durch das Gesetz bildet und diese Willensbildung zugleich als rechtliche Entscheidung des Konflikts (Falles) zwischen Bürger und Staat über die Zulässigkeit des entsprechenden staatlichen Handeins aufzufassen ist. Hinzu tritt natürlich beim öffentlichen Gesetz, da es das staatliche Handeln selbst bestimmt, seine Durchführung im Einzelfall durch die staatliche Verwaltung 38 . Das öffentlichrechtliche Gesetz als Konfliktsentscheidung begründet nun auch gegenseitige Ansprüche im Verhältnis Staat - Bürger39 . Es bestehen öffentlichrechtliche Rechtsverhältnisse zwischen ihnen 4o . So können auch die Rechte des Staates in der Eingriffsverwaltung "als materielle Ansprüche und damit als subjektive Rechte" des Staates verstanden werden 41 . Auf dieser Grundlage hat Schapp dann die verschiedenen Arten von öffentlichrechtlichen Ansprüchen im einzelnen untersucht42 und sein Schüler Wolfgang Schur später noch genauer Inhalt und Bedeutung der rechtlichen Grundbegriffe: Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis für das öffentliche Recht unter Zugrundelegung der entsprechenden zivilrechtlichen Lehren entwickelt43 . Entscheidende Bedeutung für die mit dem Zivilrecht vergleichbare Fragestellung in der Dogmatik des öffentlichen Rechts besitzt nun die Tatsache, daß Schapp Ebd., S. 12 ff. Ebd., S. 46. 37 Ebd., S. 38. 38 Ebd., S. 42 f. 39 fan Schapp, Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, 1977, S. 152 ff. 40 Genauer zu ihnen: Schapp (FN 33), S. 384 ff. 41 Schapp (FN 39), S. 155. 42 Schapp (FN 39), S. 173 ff.; daneben ders., Zum Verhältnis von Recht und Staat: JZ 1993, S. 974 (977 f.). Ergänzend dazu Wolfgang Schur, Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im öffentlichen Recht entwickelt aus dem Zivilrecht, 1993, S. 202 ff. 43 Vgl. die in FN 42 zitierte Schrift von Schur. 35

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sein Verständnis des subjektiven öffentlichen Rechts auf die "methodische Trennung von Staatsfunktion und Recht" gründet44 • Er kritisiert darum auch folgerichtig "das Zusammenfließen von Souveränität und Recht" im Staatsbegrift5 . Der Staat setzt das Recht und sorgt für seine Durchsetzung. Zu beachten ist aber, daß er zwar entsprechend dem geschilderten Charakter des öffentlichrechtlichen Gesetzes mit der staatlichen Aufgabenwahrnehmung durch Gesetzgebung zugleich die Konflikte zwischen Staat und Bürger entscheidet; dennoch darf "das funktionelle Moment der öffentlichen Interessenverfolgung und das Moment der rechtlichen Entscheidung über diese Interessenverfolgung" nicht mit der herrschenden Lehre "unter dem Gesichtspunkt des gesetzmäßigen Zwanges oder noch technischer formuliert dem Gesetzmäßigkeitsprinzip" zusammengefaßt werden 46 . Die Notwendigkeit, hier zu unterscheiden, folgt aus dem Verständnis des Gesetzes als Konfliktsentscheidung, das sich "auf Staat und Bürger als Gleichgeordnete" bezieht. Das die herrschende Meinung bestimmende "Prinzip des gesetzmäßigen Zwanges" macht aus dem "Dreiecksverhältnis voneinander gegenüberstehenden privaten und öffentlichen Interessen und Entscheidung des Rechts über ihre Abgrenzung" eine "auf dem Gedanken der staatlichen Gewalt aufgebaute zweiseitige Beziehung." Die "Substanz" dieser Beziehung liegt trotz ihrer gesetzlichen Erscheinungsform dann nach h.L." in der Gewalt selbst,,47. 3. Durch die demgegenüber von Schapp vollzogene "Abschichtung der Funktion des Rechts" von der staatlichen Gewalt48 wird nun auch die Annahme möglich, daß ohne gravierende Einbuße an staatlicher Souveränität - um in der Terminologie des IPR zu reden - die Frage, ob ein öffentlichrechtlicher Fall (Sachverhalt) "Auslandsberührung" besitzt oder nicht, und die weitere, ob er gegebenenfalls nach deutschem oder ausländischem Recht zu lösen ist, einer europäischen (Kollisions-)regelung unterstellt werden kann. Denn die Kompetenz der europäischen Einzelstaaten zur (Sach-)rechtssetzung bleibt unberührt und die zur Durchsetzung ihres Rechts auch insoweit, als sie ausschließlich innerstaatliche Rechtswirkungen zeitigt bzw. solche, die nur deutsche Staatsangehörige betreffen. Es ist Schapp (FN 39), S. 160, genauer S. 152 f. Ebd., S. 161. 46 Ebd., S. 152. 47 Ebd., S. 152 f. Sehr plastisch zum dem gegenüber real bestehenden Dreiecksverhältnis führt Schapp (FN 34), S. 42 aus: Die gesetzgeberische Entscheidung nimmt "für sich in Anspruch, aus der Position eines unparteiischen Dritten zu erfolgen, also eine rechtliche Entscheidung zu sein. Es entscheidet hier ebensowenig der Staat wie der Bürger über je eigene Interessen, es entscheidet vielmehr der Gesetzgeber über den Interessenkonflikt beider." Daraus folgt nach Schapp (FN 42), S. 980 etwa für das Steuergesetz: "Heute beruht das Steuergesetz nicht mehr auf der Zustimmung der Steuerpflichtigen zu ihrer eigenen Belastung, sondern auf einer Entscheidung des gesamten Volkes darüber, wie Lasten und Vorteile zwischen den einzelnen Gruppen des Volkes angemessen zu verteilen sind. Mit dieser Entscheidung verfügen nicht Eigentümer über ihr Eigentum, es entscheidet vielmehr ein Schiedsrichter über Rechte und Pflichten von Gruppen in ihrem Verhältnis zueinander." 48 Schapp (FN 39), S. 153. 44 45

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die Stärke des von Taupitz favorisierten Modells einer europäischen (Privat-) rechtsvereinheitlichung, daß es das Auseinandertreten von staatlicher Souveränität und verbindlicher Rechtssetzung auf das unverzichtbare Minimum reduziert. Und es ist die Stärke der von Schapp getroffenen Unterscheidung zwischen staatlicher Aufgabenwahrnehmung und rechtlicher Konfliktsentscheidung, daß sie zwingende rechtliche Argumente für die Notwendigkeit ins Feld führen kann, staatliche Souveränität aus Rechtsgründen zu beschränken. Sie liegen darin, daß nur auf diese Weise alle um des Friedens willen regelungsbedürftigen Konflikte, die als Folge staatlichen Handeins oder Unterlassens entstehen, nach rechtlichen Kriterien entschieden werden können49 . Daß stillschweigende Voraussetzung dieser Sicht der Dinge zumindest eine gemeinsame Grundüberzeugung der europäischen Einze1staaten über die Verbindlichkeit des Gleichheitssatzes (bzw. eines entsprechend völkerrechtlich fundierten Gebots) und damit verbunden die Zugehörigkeit zu einer in diesem Sinne unmittelbar verbindlichen Rechtsgemeinschaft ist, wird uns am Schluß unter V noch genauer beschäftigen.

IV. Es ist damit offensichtlich: Der Wandel der Dogmatik des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts müßte, wenn man dem bisher Gesagten folgt, darin liegen, daß sie sich weniger als eine Dogmatik der Staatswillensbildung versteht, sondern die Aufarbeitung der öffentlichrechtlichen Rechtsverhältnisse in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellt. Zugleich müßte sie aber mit ihrem damit verbundenen Einrücken in die gemeineuropäische Tradition des ius commune ihre spezifische Eigenart als öffentrechtliche Dogmatik wahren. Genau diese Prämissen erfüllt nun meines Erachtens - dabei mit den geschilderten Grundlagen des Rechtdenkens von Schapp übereinstimmend - das rechtswissenschaftliche Werk von Wilhelm Henke: 1. In einer seiner letzten dogmatischen Arbeiten hat Henke den "Wandel der Dogmatik des öffentlichen Rechts,,50 deshalb gefordert, weil der Staat rechtlich gesehen heute etwas anderes sei als ein System der politischen Willensbildung51 . Diese namentlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert geprägte Sichtweise der öffent1ichrechtlichen Dogmatik hat ihren Grund nach Henke im wesentlichen darin, daß die "politisch-philosophische Staatslehre" und nicht der eigene (spezifische) Zugang der Jurisprudenz zur Rechts- und Staatswirklichkeit für sie bestimmend wurde. Deshalb besteht nunmehr die Aufgabe darin, das öffentliche Recht von eben dieser Staatslehre zu lösen, "das Staats- und Verwaltungsrecht wieder zum Recht im überkommenen Sinn 49 Zur Unterscheidung zwischen Konflikten von einzelnen, deren Lösung primär Aufgabe des Privatrechts ist, und den Gruppenkonflikten, mit denen es vor allem das öffentliche Recht zu tun hat, vgl. Schapp (FN 42), S. 975 ff. 50 So der Titel seines programmatischen Aufsatzes: JZ 1992, S. 541 ff. 51 Henke (FN 50), S. 541 f.

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und den Umgang mit ihm wieder zum Bestandteil der überkommenen Jurisprudenz zu machen", die "im Privatrecht noch gewahrt, jedenfalls noch erkennbar ist,,52. Wie aber verfährt die "überkommene Jurisprudenz"? Sie verfährt nicht anders so die Antwort Henkes - wie sie seit fast 2 000 Jahren als eigenständige "Wissenschaft" unter immer neuer Vergegenwärtigung ihrer römischrechtlichen Grundlagen praktiziert wird53 . Sie ist darum mehr ein "Handwerk, eine Kunst und eine Tugend,,54. Das alles ist sie auch deshalb, weil der namentlich die heutigen Sozialwissenschaften beherrschende, weitgehend an den Naturwissenschaften orientierte Wissenschaftsbegriff für sie nicht verbindlich sein kann 55 . Die Sozialwissenschaften reduzieren gemäß ihrem Selbstverständnis als "exakte" Wissenschaften zwangsläufig ihre Fragestellung. Sie fragen allein danach, was sie "gewiß wissen" können, nicht aber danach, "was ist und was es bedeutet, daß etwas ist." Ihre Fragestellung ist also eine erkenntnistheoretische und keine ontologische56 . Die weitere Reduktion einer "exakt" verfahrenden Sozialwissenschaft betrifft die des Gegenstandes ihrer Fragestellung. Sie beginnt ihre Überlegungen "mit Definitionen, d. h. sie legt die Gegenstände fest, ehe sie sie untersucht." Damit bleibt die "Sache", soweit sie durch den definierten Begriff nicht abgedeckt wird, außer Betracht. Hinzu kommt, daß die Gegenstände, um von der empirischen Forschung erfaßt werden zu können, "auf ihre reine Faktizität" reduziert und "alle etwaigen affektiven Beziehungen des Forschers zu seinem Objekt ausgeschlossen" werden müssen 57 . Da Rechtsfragen (und vor allem die hinter ihnen stehende Frage nach der Gerechtigkeit) existentielle Fragen sind, die wohl nur noch mit der religiösen Frage nach der freimachenden Wahrheit vergleichbar sind58 , können auf sie keine adäquaten Antworten gefunden werden, wenn die Jurisprudenz unter Inkaufnahme der geschilderten Reduktionen den Anspruch, eine entsprechend exakte Wissenschaft zu sein, erhebt. Der "Schrei nach Gerechtigkeit" kommt nun einmal, wie Henke sagt, nicht "von Daten, Fakten und Funktionen, sondern aus der Welt, in der sich die Rechtswissenschaft von allem Anfang an vorfindet, von dem ganzen,

Ebd., S. 542. Vgl. zusammenfassend dazu folgende Arbeiten von Henke: Alte Jurisprudenz und neue Wissenschaft: JZ 1987, S. 685 ff.; Sozialtechnologie und Rechtswissenschaft: Der Staat 8 (1969), S. 1(11 ff.) und Recht und Staat, 1988, S. 620 ff., 648 ff. u.a. 54 Henke, Recht und Staat, S. 649. 55 Vgl. dazu besonders Henke, Sozialtechnologie (FN 53), S. 1 ff.; ders., Kritik des kritischen Rationalismus, 1974; ders., Jurisprudenz und Soziologie: JZ 1974, S. 729 (730 ff.). 56 Henke, Sozialtechnologie (FN 53), S. 9 f. 57 Ebd., S. 10. 58 Henke, Recht: Zeitschrift für Theologie und Kirche 86 (1989), S. 533 (542 f.). Zum Charakter der existentiellen Frage allgemein vgl. ders., Recht und Staat, S. 91 ff. und zur Gerechtigkeit als existentieller Frage ebd., S. 173 ff. 52

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wirklichen, lebendigen Menschen"s9. Sie muß darum ihren Überlegungen diese elementare Wirklichkeit unverkürzt zugrundelegen und in dem Bewußtsein verfahren, daß ihre Wahrnehmung immer schon durch ein Verhältnis zu ihrer "Sache" geprägt ist6o . Genau das ist auch der Grund, der nach Henke die Forderung begründet, zum Ausgangspunkt aller Jurisprudenz den (streitigen) Fall als Teil der Lebenswelt zu nehmen. Das Gesetz hat nur den "rechts technischen Vorrang der hierarchischen Überordnung, aber der Fall behält den Vorrang im Sinne des gerechten Rechts." Denn das Recht "ist nicht in erster Linie Gesetz und Gesetzanwendung, sondern Berechtigung einer Person gegenüber einer anderen." Die Funktion des Gesetzes liegt so gesehen darin, daß es die Rechte begründet und bestimmt, aber das geschieht nicht "um eines übergeordneten Prinzips, der Gesellschaft, der Rechtsidee oder eines Menscheits- oder Staatsziels, sondern um der Beziehungen zwischen den Menschen und ihrer Lebensverhältnisse willen,,61. Die älteste Erscheinungsweise des Rechts ist darum auch nicht das Gesetz, sondern das Gericht62 . All das Gesagte gilt nach Henke wohlgemerkt auch für das öffentliche Recht. Was sich andeutungsweise schon bei Schapp zeigte, läßt sich jetzt kaum noch bezweifeln: Die Grundlagen des Rechtsdenkens, die die Forderung nach einem Wandel der öffentlichrechtlichen Dogmatik stützen, stimmen mit denen überein, die für das von Taupitz vertretene Regelungsmodell einer europäischen Rechtsvereinheitlichung leitend sind. 2. Mit anderen Worten, aber in der Sache ebenfalls mit Schapp übereinstimmend, wird von Henke auch die Abschichtung der Funktion des Rechts von der staatlichen Gewalt gefordert63 . Er betont jedoch zugleich, daß mit dieser AbschichSozialtechnologie (FN 53), S. 12. Vgl. dazu genauer Henke, Sozialtechnologie (FN 53), S. 14 ff.; ders., Recht und Staat, bes. S. 53 ff., 118 ff., 125 ff.; ders., Die Lehre vorn Staat: Der Staat 12 (1973), S. 219 (222 ff., 228). Es gibt also für Henke insoweit keine Grundunterscheidung i.S. Kants von "Ding an sich" und "Erscheinung" (vgl. nur Recht und Staat, S. 113 f.). Im übrigen zeigt dieser von der Sache her gebotene unmittelbare und eigenständige Durchgriff auf die Wirklichkeit bei Henke verblüffende Parallelen zu dem entsprechenden dogmatischen "Verfahren" des (protestantischen) Theologen Gerhard Ebeling, vgl. nur Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 1(1979), S. 346 ff. und ders., Luthers Wirklichkeitsverständnis: Zeitschrift für Theologie und Kirche 90 (1993), S. 409 ff. Henke kannte das Werk Ebelings und stand mit ihm in ständigem persönlichen Kontakt, vgl. auch ders., Recht und Staat, S. 96 Anm. 13; Recht (FN 58), S. 534 f. und Kritischer Rationalismus (FN 55), S. 25 Anm. 51. 61 Henke, Recht und Staat, S. 622, 623; vgl. daneben ders., Hermeneutik in der Jurisprudenz, in: Hans Friedrich Geißer u.a. (Hrsg.), Wahrheit der Schrift - Wahrheit der Auslegung, 1992, S. 159 (176, ähnl. 179), wo er das Gesetz als "eine sekundäre Gestalt von Recht" bezeichnet. 62 Henke, Recht (FN 58), S. 539 f. 63 Zum dahinterstehenden allgemeinen Problem, der Unterscheidung von Recht und Politik, vgl. Henke, Wider die Politisierung der Justiz: DRiZ 1974, S. 173 (174 f.) und ders., Staatsrecht, Politik und verfassungsgebende Gewalt: Der Staat 19 (1980), S. 181 (198 ff.). 59

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tung das Recht "nicht zu Gunsten reiner Logik gegen Politik, Geschichte, Wirtschaft isoliert" werde, sondern das Recht habe nur "im Verhältnis zu den entsprechenden Wissenschaften einen eigenen und besonderen Zugang zu diesen Lebensbereichen,,64. Wie Henke diesen sieht, wurde dargestellt. Es kann seiner Ansicht nach nur dann zu einem "Auseinanderfallen von Staat und Recht" kommen, wenn es keine "spezifisch juristische Staatslehre" gibt65 . Sie hätte von einem Begriff des Staates auszugehen, der "als Rechtsbegriff das Verhältnis zwischen politischer Macht und (übriger) Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit" als einem Urphänomen zu erfassen sucht. Die Aufgabe des Staates ist demnach, "ein gerechtes Verhältnis von Mächtigen und Abhängigen, von Staatsgewalt und Bürger" zu gewährleisten66 . Dies ist nicht nur eine Aufgabe des heutigen Staates, sondern sie bestand auch für die griechische Polis, die römische Republik, das mittelalterliche Imperium und Reich. So kann die "Staatsgeschichte" unter Einbeziehung der antiken und mittelalterlichen Geschichte als ein mehr oder minder geglückter Versuch zur Lösung der Aufgabe, Herrschaft und Gerechtigkeit zu vereinen, gelesen werden 67 . Dabei erweist sich, daß die "gelungene Lösung ... am besten in dem Begriff der Amtsgewalt faßbar" ist. Denn "die Wahrnehmung eines Amtes ist verrechtlichte Machtausübung, und zwar in dem spezifischen Sinn des öffentlichen Rechts als eines Amtsrechts,,68. Darum handeln nach Henke auch alle Träger staatlicher Gewalt - der Abgeordnete, der Richter, das Regierungsmitglied und der öffentliche Bedienstete - in Ausübung eines öffentlichen Amtes 69 . Sie üben rechtlich gebundene Herrschaft in Ämtern aus, und die Staatsform, die diese Herrschaft trägt und realisiert, ist die Republik7o . 3. Damit ist auch der Unterschied zu den privatrechtlichen Rechtsverhältnissen markiert: Im "Bereich der Ämter" gilt öffentliches Recht. Die Personen des Staates handeln "nach Rechtsregeln im Amt (und als Vertreter einer juristischen Person öffentlichen Rechts)'m. Aber das schließt die Annahme nicht aus, daß im öffentlichen Henke, Recht und Staat, S. 594, vgl. auch S. 597. Henke, Die Lehre vom Staat (FN 60), S. 235 (Hervorhebung dort!). 66 Ebd., S. 236 und ders., Recht und Staat, S. 299. 67 Recht und Staat, S. 296 ff. 68 Die Lehre vom Staat (FN 60), S. 236. 69 Das hat Henke besonders für den Status des Abgeordneten herausgearbeitet, vgl. etwa seine Kommentierung des Artikel 21 GG, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Neubearbeitung 1991), RN 78 ff. und daneben ders., Das demokratische Amt der Parlamentsmitglieder: DVBI. 1973, S. 553 (558 ff.). 70 Dazu zusammenfassend Henkes Artikel "Die Republik", in: losef Isensee/Paul Kirchhoff (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, S. 863 ff. 71 So Henke, Wandel der Dogmatik des öffentlichen Rechts (FN 50), S. 543; ähnlich Kommentierung Artikel 21 GG (FN 69), RN 65. 64 65

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Recht die "Grundfigur des ganzen Systems ... wie im Privatrecht" das Rechtsverhältnis sein muß 72 . Denn "wo immer Staat und Bürger einander gegenübertreten, handeln Personen: Mitglieder des Parlaments und Regierung, Beamte oder Richter einerseits, Bürger andererseits. In diesen wie in allen Beziehungen zwischen Personen geht es im Konfliktfall um Recht und Unrecht. Darum ist das Verhältnis jeweils allgemein oder einzeln rechtlich bestimmt als ein Rechtsverhältnis,m. Wiederum in völliger Übereinstimmung mit Schapp folgert Henke dann weiter, daß Inhalt dieser Rechtsverhältnisse "subjektive Rechte und ihnen entsprechende Pflichten oder Verbindlichkeiten" sind. Als subjektives Recht versteht er dementsprechend "die Position eines Rechtssubjekts, kraft deren es etwas verlangen oder ungestört tun kann." Folglich ist ein subjektives Recht - und damit schließt sich der Kreis - "zum privaten Belieben oder zu verantwortlicher Wahrnehmung im Interesse des Gemeinwohls gegeben ... , als reine Berechtigung oder mit Pflichten verbunden, als Individualrecht oder als Mitgliedschaftsrecht oder als Amtsbefugnis und zur Durchsetzung mit gerichtlicher Klage oder mit eigenen Zwangsmaßnahmen, also für Ämter ebenso und unbeschadet ihrer Überordnung wie für Private,,74. Im vorliegenden Zusammenhang kann und muß darauf verzichtet werden, die dogmatischen Einzelheiten, die daraus für die Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht und für die verschiedenen öffentlichrechtlichen Rechtsverhältnisse folgen, genauer darzulegen. Henke hat einen Großteil dieser Arbeit selbst geleistet75, und Autoren wie etwa Ralf Gröschner und Hartmut Bauer sind ihm darin - auf den gleichen dogmatischen Prämissen aufbauend - gefolgt76 • Auch aus Henkes konsequenter Trennung von materiellem und formellem Recht im Staats- und Verwaltungsrecht ergeben sich von ihm näher dargelegte, weitreichende dogmatische Folgerungen, die ebenfalls in der Lehre vertieft worden sind77 . Woran hier noch einmal zu erinnern ist, ist der Ausgangspunkt seiner Bemühungen: im Staats- und Ebd., S. 542. Ebd., S. 542 f. 74 Ebd., S. 543. 75 Zum subjektiven öffentlichen Recht vgl. etwa folgende Arbeiten von Henke: Das subjektive Recht im System des öffentlichen Rechts: DÖV 1980, S. 621 ff.; Juristische Systematik der Grundrechte: DÖV 1984, S. I ff. Zum Recht der öffentlichen Verträge vgl. von Henke z. B.: Allgemeine Fragen des öffentlichen Vertragsrechts: JZ 1984, S. 441 ff.; Praktische Fragen des öffentlichen Vertragsrechts - Kooperationsverträge -: DÖV 1985, S. 41 ff.; Das Recht der Wirtschaftssubventionen als öffentliches Vertragsrecht, 1979. 76 Cröschner (FN 25), S. 119 ff. (2. Teil); Bauer, Die Bundestreue (FN 25), S. 260 ff., 313 ff. (5. Kapitel); ders., Verwaltungsrechtslehre (FN 25), S. 315 ff.; ders., Informelles Verwaltungshandeln im öffentlichen Wirtschaftsrecht: Verwaltungsarchiv 78 (1987), S. 241 (259 ff.); ders., Subjektive öffentliche Rechte des Staates: DVBI. 1986, S. 208 ff.; ders., Altes und Neues zur Schutznormtheorie: AöR 113 (1988), S. 582 ff. 77 Zu Henkes Folgerungen vgl. Wandel der Dogmatik (FN 50), S. 543 f.; Subjektives Recht im System (FN 75), S. 625 ff.; Zu entsprechenden Folgerungen bei anderen Autoren vgl. nur Joachim Martens, Die Praxis des Verwaltungsverfahrens, 1985, bes. S. 9 ff., 41 ff. 72

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Verwaltungsrecht den Wandel von einer Dogmatik der Staatswillenbildung zu einer Dogmatik öffentlichrechtlicher Rechtsverhältnisse einzuleiten. Er kann zur Begründung des geforderten Wandels - wie deutlich geworden ist - nicht nur immanente dogmatische Gesichtspunkte, sondern auch solche nennen, die aus dem Selbstverständnis der Rechtswissenschaft als Jurisprudenz folgen. Ohne Verlust des Wirklichkeitsbezugs gelingt Henke damit zunächst eine Abschichtung des rechtlichen vom politischen Bereich, die er in Arbeiten über die verfassunggebende Gewalt und zum Parteienrecht im einzelnen durchgeführt hat78 • Zugleich aber findet er mit einer solchen Dogmatik "Anschluß an die große europäische Rechtstradition,,79. Was schließlich sein Staatsverständnis betrifft, so verwundert es nicht, wenn Henke - ausgehend von der genannten Aufgabe des Staates, das gerechte Verhältnis zwischen Mächtigen und Abhängigen zu gewährleisten - für die zukünftige Entwicklung zu der Vermutung kommt, "daß der Staat als Amtsgewalt den Verlust der Souveränität im hergebrachten Sinn überdauert"go.

v. Es gibt also eine Dogmatik des öffentlichen Rechts in Deutschland die - ähnlich wie es im Privatrecht und daraus folgend im IPR geschieht - das (materielle) Rechtsverhältnis zur Grundlage ihrer Betrachtung macht. Die in der ThemensteIlung aufgeworfene Frage, ob ein Wandel der Dogmatik des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts notwendig sei, muß nach dem Gesagten bejaht werden, wenn man es für erforderlich hält, Überlegungen zur europäischen Rechtsvereinheitlichung, wie sie von Taupitz für das Privatrecht geäußert worden sind, auch für das öffentliche Recht näherzutreten. Daß man nun dieses alternative Regelungsmodell für das öffentliche Recht nicht mehr ohne weiteres mit dem Hinweis beiseite schieben kann, es sei auf das Zivilrecht und seine Dogmatik zugeschnitten, die ganz anderen historischen und systematischen Leitbildern folge, dürfte deutlich geworden sein. Um mehr ging es - wie ausdrücklich zu betonen ist - hier nicht! Es mag ja sein, daß es andere gewichtige Gründe gibt, die an dem Versuch zweifeln lassen, in Anlehnung an die Überlegungen von Taupitz für das Staats- und Verwaltungsrecht nach Lösungen einer europäischen Rechtsvereinheitlichung zu suchen, die über die triste Alternative: umfassende legislatorische Sachrechtsver78 Zum Problem der verfassungsgebenden Gewalt vgl.: Die verfassungsgebende Gewalt des deutschen Volkes, 1957; Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes in Lehre und Wirklichkeit: Der Staat 7 (1968), S. 165 ff.; Staatsrecht, Politik (FN 63), S. 181 ff.; Das Ende der Revolution und die verfassungsgebende Gewalt des Volkes: Der Staat 31 (1992), S. 265 ff. Zum Parteienrecht vgl. besonders: Das Recht der politischen Parteien, 2. Aufl. 1972; Kommentierung des Artikel 21 GG (FN 69). 79 Wandel der Dogmatik (FN 50), S. 548. 80 Die Lehre vom Staat (FN 60), S. 227 Anm. 14. Zu seinem Verständnis der staatlichen Souveränität vgl. daneben Recht und Staat, S. 286 mit Anm. 31 und S. 579.

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einheitlichung der EG oder ausschließliche Betonung der nationalen Rechtseinheit hinausführen 81 . Bevor solche Zweifel jedoch jede Bereitschaft zu entsprechendem Weiterdenken im Keim ersticken, sollte man zumindest berücksichtigen - worauf abschließend noch kurz hingewiesen werden soll -, daß das vorgeschlagene Verfahren der Rechtsvereinheitlichung ja auch ein ganz bestimmtes Verständnis der EG als Rechtsgemeinschaft impliziert: Dieses muß nach dem Ausgeführten - kurz gesagt - die Vorstellung von der Universalität dieser Rechtsgemeinschaft mit der ihrer gleichzeitigen Partikularität verbinden. Beides läßt sich aber völkerrechtlich kaum auf einen Nenner bringen. Denn das völkerrechtliche Denken orientiert sich zu Recht nach wie vor grundsätzlich an den souveränen Staaten, und in der Völkerrechtsgemeinschaft werden die aus dieser Gemeinschaft folgenden Pflichten "durch die Staatengewohnheit und das davon abgeleitete Recht" geprägt; es entstammt also letztlich "einem Verhalten aus dem Kreis der Verpflichteten selbst,,82. Anders muß man nun argumentieren, wenn der Wandel von einem internationalen zu einem interlokalen europäischen Kollisionsrecht unter Aufrechterhaltung der Vorstellung von selbständigen nationalen Rechtsordnungen gefordert wird. Dann können die der EG angehörenden Staaten ihre Rechtsgewalt nicht mehr ausschließlich "auf eine in ihnen selbst liegende Eigenschaft,,83 zurückführen, sondern sie müssen bei ihrer Rechtssetzung wie bei jeder Ausübung staatlicher Gewalt von ihrer Zugehörigkeit zu einem Rechtskreis ausgehen, der "in keiner Weise als Produkt eines konkreten Staates erscheint,,84. Dieser Rechtskreis ist die EG als Rechtsgemeinschaft. Und aus der Zugehörigkeit zu ihr folgt unmittelbar das verbindliche Gebot für jeden Mitgliedsstaat, seine Rechtsordnung unter den Vorbehalt des europäischen Kollisionsrechts zu stellen. Das ist der allgemeine Rechtsgedanke, der hinter den vertragsrechtlichen Grundlagen der EG wie auch dem Artikel 23 (und Artikel 28 Abs. I Satz 3, 45, 50, 52 Abs. 3a, 88) GG steht und dem die genannten Regelungen zwangsläufig 81 Zusammenfassende Kritik zu der Überlegung, ein dem IPR entsprechendes Kollisionsrecht für das öffentliche Recht zu fordern, bei v. Bar (FN 19), S. 217 ff. Entscheidender (und hier in Frage gestellter) Ausgangspunkt seiner Kritik ist der Satz (S. 221): "Das öffentliche Recht ,ist' die Staatsgewalt - oder wird doch als solche gedacht - und entbehrt deshalb der Fungibilität", ähnlich S. 128, 142. Ansätze für die hier gemachten Ausführungen entsprechende Überlegungen aber in der Schrift: Franlifurter Institut für wirtschaftspolitische Forschung e. V. (Hrsg.), Einheit und Vielfalt in Europa, 1992, S. 35, 37 f., 40 f., 77 f. (Zusammenfassung). Schon früher hat u.a Martin Bullinger (Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968, S. 104 ff.) allgemein ein am IPR orientiertes Kollisionsrecht für das öffentliche Recht gefordert. 82 So richtig Dietrich Pirson (Universalität und Partikularität der Kirche, 1965, S. 294, vgl. auch S. 285) in Abgrenzung zum Recht der Universalkirche. 83 So wiederum Pirson (ebd., S. 285) für das Recht der Universalkirche. Die Möglichkeit für diese Argumentation sieht er "in der Unanwendbarkeit des Souveränitätsbegriffs im Bereich des kirchlichen Rechts." 84 So Pirson (ebd., S. 284) wiederum für den von der Universalkirche geprägten Rechtskreis, dem die Partikularkirchen zugehören.

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nur partiell Ausdruck verleihen können. Sollte die Frage nach der inneren Rechtfertigung für die Annahme eines solchen "europäischen Rechtskreises" gestellt werden, so müßte man wohl auf die verbindende Klammer der gemeinsamen europäischen Rechts- und Verfassungskultur verweisen, die in ihrer Bedeutung über das allgemeine Bewußtsein der Staaten, einer Völkerrechts gemeinschaft anzugehören, oder - wie auch im IPR argumentiert wird - ihrer Verpflichtung auf den Gleichheitssatz 85 weit hinausgeht 86 . So gesehen macht es keinen Sinn, die EG als eine (besondere) Entwicklungsstufe des Völkerrechts zu verstehen 87 • Es scheint mir kein Zufall, daß die vorgetragene Deutung der europäischen Rechtsgemeinschaft sich eng an Pirsons vor 30 Jahren erschienene kirchenrechtliche Untersuchung über die Rechtsproblematik zwischenkirchlicher Beziehungen, die bekanntlich den Titel "Universalität und Partikularität der Kirchen" trägt, anlehnt. Denn es ist - um noch einmal mit Henke zu reden - die je verschiedene existentielle Frage, die beiden, Kirchen und Staat, gestellt ist und auf die sie beide ständig neue Antworten finden müssen. Sollten dann nicht auch unter rechtlichem Aspekt - partiell - gleiche Antworten gegeben werden können?

Vgl. dazu E. Lorenz (FN 24), S. 63 ff. Ergänzend (und daraus folgend) wäre in Parallele zu den Überlegungen von Pirson zur Zugehörigkeit der Partikularkirche zur Rechtsgemeinschaft der Universalkirche darauf abzustellen, daß die Mitgliedstaaten der EG "durch die Zugehörigkeit zum Bereich der gleichen Verantwortlichkeit miteinander verbunden sind" (Universalität und Partikularität der Kirche, S. 277 - Hervorhebung von mir! -; ganz entsprechend S. 283, 286, 290, 297). 87 So aber Werner Meng, Das Recht der Internationalen Organisationen - eine Entwicklungsstufe des Völkerrechts, 1979 und im Anschluß daran Rudolj Streinz, Europarecht, 1992, S. 31 ff. Vielleicht sollte man deshalb besser über die Fortentwicklung des alten Vorschlags von Hans Peter Ipsen nachdenken, der ja die EG als "Zweckverband" versteht und dabei durchaus kommunalrechtliche Parallelen im Blick hat, vgl. nur ders., Europäische Verfassung - Nationale Verfassung: EuR 22 (1987), S. 195 (202 ff.). Ist es denn so fernliegend, auch das immer wieder zu Recht kritisierte demokratische Defizit der EG in Analogie zum kommunalen Zweckverband zu verbessern? Das könnte einerseits eine größere Kompetenz des Europäischen Parlaments bedeuten, andererseits aber eine Wahl seiner Mitglieder durch die Parlamente der Mitgliedstaaten und die mögliche Abhängigkeit der Europaabgeordneten von Weisungen der entsendenden Parlamente beinhalten - vgl. als teilweise Parallele z. B. § 13 Abs. 4 und 5 des Baden-Württembergischen Gesetzes über kommunale Zusammenarbeit i.d.F. vorn 16. 9. 1974 (GBI. S. 408), zuletzt geändert durch Art. 7 G vorn 12. 12. 1991 (GBI. S. 860). Es gibt m.E. auch nach wie vor keinen Rechtsbegriff, der treffender die limitierte und doch offene AufgabensteIlung der EG erfaßt, als der des (kommunalen) Zweckverbandes. 85

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Europäische Integration Gefährdungen und Chancen für die kommunale Selbstverwaltung Von Herbert Mandelartz, Saarbrücken I.

Die kommunale Selbstverwaltung ist ständigen Gefährdungen und immer wieder neuen Herausforderungen ausgesetzt. Hierauf ist schon vor Jahren hingewiesen worden l . Die damaligen Feststellungen haben auch heute noch Gültigkeit 2 . Mehr noch: Die Gefährdungen kommunaler Selbstverwaltung erhalten mit dem Zusammenwachsen Europas und der damit einhergehenden Rechtsvereinheitlichung eine neue Dimension. Ein kurzer Blick auf die Gesetzgebung der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union (EU) zeigt, daß sich das Gemeinschaftsrecht immer stärker auf alle Bereiche kommunaler Aufgabenerledigung auswirkt. Als markante Beispiele sei nur auf die Einführung des Kommunalwahlrechts für EU-Ausländer, den Ausbau des Beihilfekontrollsystems, die Öffnung des öffentlichen Vergabewesens, den gemeinschaftsrechtlichen Einfluß auf die kommunale Bauleitplanung, das Bauordnungsrecht und das Umweltrecht sowie auf die Auswirkungen auf die Elektrizitätswirtschaft und die Tätigkeit der kommunalen Versicherungs wirtschaft sowie der kommunalen Sparkassen verwiesen 3 . 1 Vgl. v. Mutius, Sind weitere rechtliche Maßnahmen zu empfehlen, um den notwendigen Handlungs- und Entfaltungsspielraum der kommunalen Selbstverwaltung zu gewährleisten?, Gutachten E für den 53. Juristentag, 1980, 57ff., 74ff.; Blümel, Gemeinden und Kreise vor den öffentlichen Aufgaben der Gegenwart, in: VVDStRL 36, 1978, 171 ff. (l86ff., 192ff., 199,206 ff.); zur Finanznot der Kommunen vgl. das Koreferat von Grawert, 277 ff. (295 ff.). 2 Vgl. Leidinger, Entwicklungstendenzen und Anforderungen an die kommunale Selbstverwaltung, in: Blümel/Hill, (Hrsg.), Die Zukunft der kommunalen Selbstverwaltung, Vorträge und Diskussionsbeiträge der 48. staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1990 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, 1991,59 ff. (60); Püttner, Gefährdungen der kommumalen Selbstverwaltung: DÖV 1994, 552ff. (554 ff.); Hennecke, Kommunale Eigenverantwortung bei zunehmender Normdichte: ZG 1994, 212 ff. (217 ff.); ders., Möglichkeiten zur Stärkung der kommunalen Selbstverantwortung: DÖV 1994,705 ff., 706. 3 Vgl. hierzu Mombaur/v. Lennep, Die deutsche kommunale Selbstverwaltung und das Europarecht: DÖV 1988, 988 ff. (991 ff.); v. Ameln, Auswirkungen des Europäischen Binnenmarktes auf Kommunalpolitik und Kommunalrecht der EG-Mitgliedstaaten: DVBI. 1992, 477ff. (480ff.); Blanke, Die kommunale Selbstverwaltung im Zuge fortschreitender Integration: DVBI. 1993, 819ff., 820 m. w. Nachw. in Fn. 13 bis 19; Rengeling, Rechtsetzung der

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11. Daß mit dem Zusammenwachsen Europas zu einer EU eine stärkere Rechtsvereinheitlichung einhergeht, ist eine Seite; daß diese sich im Rahmen des geltenden Rechts vollziehen muß, die andere. Die Frage, ob die Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG) der Rechtsvereinheitlichung Grenzen zieht, stellt sich zum einen mit Blick auf die Kompentenzübertragungsnorm (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG n. E), zum zweiten unter dem Aspekt geschriebenen oder ungeschriebenen EU-Rechts und schließlich bei der Ausübung des EURechts. 1. Ermächtigungsgrundlage zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU ist nunmehr Art. 23 Abs. 1 GG n. E 4 . Grund für die Einführung dieser Vorschrift waren Bestrebungen der Länder, ihre Befugnisse im Rahmen der europäischen Einigung grund gesetzlich zu verankern 5 sowie Zweifel, ob Art. 24 Abs. 1 GG noch eine ausreichende Rechtsgrundlage zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU darstellt 6 • Die Vorschrift enthält einerseits als Staatsziel die Mitwirkung bei der Entwicklung der EU (Integrationsöffnungsklausel), stellt aber andererseits hierfür inhaltliche und verfahrensmäßige Kriterien auf. Neben der Struktursicherungsklausel (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG n. E), die bestimmte Anforderungen an den Übertragungsadressaten stellt, werden in Satz 3, der sich auf die Übertragungsgegenstände bezieht, mit der Bindung an Art. 79 Abs. 3 GG die äußersten Grenzen dessen bestimmt, was an Hoheitsrechten übertragen werden kann 7 • Art. 23 Abs. I GG n. E ist nicht nur alleinige Ermächtigungsgrundlage zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU, sondern gleichzeitig auch alleiniger Maßstab für die verfassungsrechtliche Beurteilung einer solchen Übertragung. Die Europäischen Gemeinschaft und Kommunen: ZG 1994, 277ff.; Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG): NVwZ 1994,417 ff. (418) sowie die Beiträge in Hoppe/ Schink (Hrsg.) Kommunale Selbstverwaltung und europäische Integration, 1990. 4 Eingefügt durch Gesetz vom 21. 12. 1992, BGBI. I S. 2086; zur Entstehungsgeschichte: Fischer, Die Europäische Union im Grundgesetz: der neue Art. 23: ZParl. 1993, 32 ff. (34 ff.); zum Inhalt des Abs. 1: Breuer, (Fn. 3),421 ff. 5 Vgl. Entschließung des Bundesrates vom 24. 08. 1990, BR-Dr. 550/90; Classen, Maastricht und die Verfassung: Kritische Bemerkungen zum neuen "Europa-Artike1" 23 GG: ZRP 1993,57 ff. 6 Vgl. Schoh, Grundgesetz und Europäische Einigung: NJW 1992, 2593ff. (2594); RandelzhoJer, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz - Kommentar, Art. 24 Abs. 1 Rdnr. 200; Sommemumn, Staatsziel "Europäische Union": DÖV 1994, 596 ff. (507); Breuer, (Fn. 3), 420; nach Everling, Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen Europa - Artikel des Grundgesetzes: DVBI. 1993, 1936ff. (943) war die Einfügung einer neuen Grundlage für die Union in Art. 23 GG nicht erforderlich. 7 Wenn Sommermann, (Fn. 6), 600 die Bezugnahme auf Art. 79 Abs. 3 Satz 3 GG lediglich als deklaratorischen Hinweis bezeichnet, beruht dies darauf, daß er offensichtlich in Art. 23 Abs. 1 GG n. F. die vom Bundesverfassungsgericht zu Art. 24 GG entwickelten Interpretationsschranken hineininterpretiert.

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Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Integrationsschranken des Art. 24 Abs. I GG8 hat daher zukünftig nur noch insoweit Bedeutung, als diese Aussagen mit Art. 23 Abs. I GG n. F. vereinbar sind9 . Sollte das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zu Art. 24 Abs. I GG unter dem identitätsprägenden Grundgefüge mehr verstehen, als die Struktursicherungsklausel umfaßt und Satz 3 zuläßt lO , kann diese Rechtsprechung nicht einfach auf die Auslegung von Art. 23 Abs. I GG n. F. übertragen werden. Unabhängig davon dürften indes weder die föderative Verpflichtung noch der Grundsatz der Subsidiarität der Übertragung von Hoheitsrechten in bezug auf die kommunale Selbstverwaltung Grenzen setzen. Ob sich die Verpflichtung auf föderative Grundsätze auf die Gliederung der Union bezieht 1I, diese also föderativ aufzubauen ist, oder bedeutet, daß die bundesstaatlichen Strukturen der Mitgliedstaaten nicht in Frage gestellt werden dürfen 12, oder beides 13, ist nicht ganz eindeutig; braucht indes im vorliegenden Zusammenhang nicht geklärt zu werden. Denn im föderalistischen Staatsaufbau der Bundesrepublik Deutschland stellen die Gemeinden keine eigenständige dritte Ebene dar, sondern sind in die Länder inkorporiert l4 . Es ist nicht ersichtlich, wieso unter föderativen Grundsätzen in Art. 23 Abs. I Satz I GG n. F. etwas anderes verstanden werden soll und die Kommunen - bezogen auf den föderativen Aufbau der EU nunmehr eine eigenständige Ebene bilden sollen l5 . Nach Scholz 16 hat die gemeinsame Verfassungskommission aus der Verpflichtung zur föderativen Struktur zwar abgeleitet, daß in der EU auch die Ebene der kommunalen Selbstverwaltung im Vgl. BVerfG E 37, 271 (279); 58,1 (40); 73, 339 (375 f.). Dies wird offensichtlich von Rengeling, Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung im Zeichen der europäischen Integration: DVBI. 1990, 893 ff. (898); ders., (Fn. 3), 285; und Martini! Müller, Der Schutz der kommunalen Selbstverwaltung in der europäischen Integration durch nationales Verfassungsrecht und gemeinschaftsrechtliche allgemeine Rechtsgrundsätze: BayVBI. 1993, 161 ff. (162) verkannt, die über Art. 79 Abs. 3 GG hinausgehend die kommunale Selbstverwaltung als identitätsprägendes Strukturelement der Verfassung ansehen, das auch bei einer Übertragung von Hoheitsrechten gewahrt bleiben muß. 10 So wohl Martini! Müller, (Fn. 9); Everling, (Fn. 6), 943, a.A. Sommermann, (Fn. 6), 603, der in Art. 23 Abs. I GG n. F. gegenüber der früheren Rechtslage eine Einschränkung der Integrationsgewalt sieht; nach Breuer, (Fn. 3), 423 ist die sachliche Reichweite von Art. 23 Abs. 1 GG n. F. und Art. 24 Abs. 1 GG identisch. 11 So Everling, (Fn. 6), 945; RandelzhoJer, (Fn. 6), Rdnr. 202. 12 Vgl. BR-Drs. 501/92, S. 13; Sommermann, (Fn. 6), 600. 13 So Fischer, (Fn. 4), 38; Schoh, (Fn. 6), 2599 14 Vgl. etwa Rothers, in: v. Münch (Hrsg.) Grundgesetz - Kommentar, Bd. 2, 2. Auf!. 1983, Art. 28 Rdnr. 7; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Auf!., 1984,407 m. w. Nachw.; Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 28 Rdnr. 29; Heberlein, Der Schutz der kommunalen Selbstverwaltung in der europäischen Integration. Eine Replik: BayVBI. 1993,676 ff. (679). 15 Im Ergebnis auch Fischer, (Fn. 4), 38/39. 16 Vgl. Schoh, (Fn. 6), 2599. 8

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Sinne einer unveränderten (institutionellen) Bestandsgarantie erhalten bleibe. Indes geben die Kommissionsunterlagen dies nicht her. Vielmehr wird die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung danach vom Subsidiaritätsprinzip mit umfaßt 17. Aber auch die Verpflichtung auf den Grundsatz der Subsidiarität wird einer Kompetenzübertragung in bezug auf die kommunale Selbstverwaltung wohl keine wirksamen Grenzen setzen. Nach dem Subsidiaritätsprinzip kommt - vereinfacht gesagt - der unteren Ebene gegenüber der nächst höheren Ebene der Vorrang im Handeln zu, soweit sie dazu in der Lage ist l8 . Ob dieses Prinzip Verfassungsrang hat und aus ihm konkrete verfassungsrechtliche Folgerungen gezogen werden können, ist umstritten 19. Vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Streits und des Umstandes, daß es die Länder waren, die der Normierung dieses Prinzips zur Wahrung ihrer föderalen Interessen größte Bedeutung beigemessen haben 20 , erscheint es nicht besonders überzeugend, wenn die gemeinsame Verfassungskommission und die Gesetzesbegründung davon ausgehen 21 , daß der Grundsatz der Subsidiarität die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung mit umfaßt, zumal die von den Ländern vorgeschlagene Definition die Kommunen nicht erwähnt22 . Der Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung kann auch nicht unter dem Aspekt der praktischen Konkordanz in die nach Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG n. F. zu beachtenden Struktursicherungen Eingang finden. Das Prinzip praktischer Konkordanz ist Ausdruck der Einheit der Verfassung, wonach ein Verfassungsrechtssatz nicht isoliert ausgelegt werden darf. Praktische Konkordanz ist ein Instrument, um Spannungen zwischen Verfassungsrechtssätzen aufzulösen 23 . Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG n. F. hat indes mit der Struktursicherungsklausel diesen Ausgleich bereits in sich aufgenommen. Die Struktursicherungsklausel ist das Ergebnis der Harmonisierung zwischen einer unbegrenzten Hoheitsübertragung und den Grundstrukturen der Verfassung. Sie ist deshalb das verfassungsrechtlich normierte Ergebnis praktischer Konkordanz. Für weitere Begrenzungen im Rahmen einer praktischen Konkordanz bleibt daher kein Raum mehr24 . 17 Vgl. etwa die Arbeitsunterlage Nr. 64 zur Sitzung der Verfassungskommission am 26. Juni 1992; nicht eindeutig die Gesetzesbegründung; so auch Martini/Müller, (Fn. 9), 164. 18 Vgl. hierzu etwa Herzog, Subsidiarität und Staatsverfassung: Der Staat 2 (1963), 399ff. (401); lsensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968,28; Korte, Die Aufgabenverteilung zwischen Gemeinde und Staat unter besonderer Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips: Verwaltungsarchiv 1970, 3ff. (1U.). 19 Vgl. Herzog, (Fn. 18),411 ff.; Rothers, (Fn. 14), Rdnr. 6; a. A. lsensee, (Fn. 18),220 ff.; Korte, (Fn. 18), 13 ff., 21. 20 Vgl. Faber, Die Zukunft kommunaler Selbstverwaltung und der Gedanke der Subsidiarität in den Europäischen Gemeinschaften: DVBl. 1991, 1126ff. (1133 f.). 21 Vgl. oben Rdnr. 17. 22 Vgl. BR-Drs. 550/90. 23 Vgl. Hesse Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl., 1993, Rdnr. 72.

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Nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG n. F. gilt für die Begründung der EU sowie Veränderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbarer Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, Art. 79 Abs. 2 und 3 GG. Diese Vorschrift bietet jedoch ebenfalls keinen wirksamen Schutz der kommunalen Selbstverwaltung. Art. 28 Abs. 2 Satz I GG ist ausdrücklich in Art. 79 Abs. 3 GG nicht erwähnt. Die kommunale Selbstverwaltung unterfällt auch nicht mittelbar der sog. Ewigkeitsgarantie 25 . Zum einen ist Art. 79 Abs. 3 GG als Ausnahmevorschrift eng auszulegen 26 . Zum zweiten ist der Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung kein substantielles Element des in Art. 20 GG normierten demokratischen Prinzips27. Art. 23 Abs. I Satz 3 GG n. F. schützt die kommunale Selbstverwaltung auch nicht mit Blick auf das föderative Revisionsverbot. Danach werden den Ländern zwar gewisse Gesetzgebungskompetenzen garantiert. Dies bedeutet indes nicht, daß der derzeitige Bestand an Kompetenzen unantastbar ist, solange die Länder nur als Zentrum demokratisch legitimer politischer Entscheidung erhalten bleiben28 . Dies wäre aber auch dann noch der Fall, wenn die Länder die Kommunalgesetzgebungszuständigkeiten verlören, weil ihnen dann immer noch wichtige Kompetenzen verblieben 29 . 2. Das primäre EU-Recht schützt die kommunale Selbstverwaltung weder ausdrücklich noch in Form eines ungeschriebenen Rechtsgrundsatzes. Eine Garantie der kommunalen Selbstverwaltung findet sich im EU-Vertrag ausdrücklich nicht 3o . Der Bundesregierung ist es bei den Verhandlungen über den 24 AA Martini/Müller, (Fn. 9), 162f., die indes nicht von Art. 23 GG n. F. als Kompetenz-übertragungsnorrn ausgehen, sondern von Art. 24 Abs. I GG und lediglich später (164) feststellen, Art. 23 Abs. 1 GG n. F. gehe Art. 24 Abs. 1 GG als Spezialregelung vor, wobei indes auf die Ausführungen zu dieser Vorschrift verwiesen werden könne. 25 Vgl. Stern, BK, (Zweitbearbeitung Art. 28/1964), Art. 28 Rdnr. 66; ders., (Fn. 14), 626f.; Rengeling, (Fn. 9), 897 f.; Faber, (Fn. 20),1131 f.; Martini/Müller, (Fn. 9),161. 26 Vgl. Stern, (Fn. 14), 168, 172; Bryde, in: v. Münch (Hrsg.) Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl., 1983, Art. 79, Rdnr. 28; Evers, BK (Zweitbearbeitung Art. 79 Abs. 3/1982) Art. 79 Abs. 3 Rdnr. 152. 27 Vgl. Stern, (Fn. 14), 626f.; Martini/Müller, (Fn. 9), 161; Schnapp, in: v. Münch (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 3. Aufl., 1985, Art. 20 Rdnr. 11; Faber, (Fn. 20), 1131 f. 28 Vgl. Stern, (Fn. 14), 169 f.; Bryde, (Fn. 26), Art. 79 Rdnr. 29; Evers, (Fn. 26), Rdnr. 213f. 29 Vgl. Stern, (Fn. 14), 169f.; siehe aber Martini/Müller, (Fn. 9), 162 m. w. Nachw. in Fn. 11; zum Ergebnis, daß das Recht der kommunalen Selbstverwaltung weder direkt noch indirekt unter Art. 79 Abs. 3 GG fällt, siehe auch BVerfG - 2 BvR 2203/93 - (Gemeinde Goldenstedt); vgl. hierzu v. Hoerner, Von Rastede nach Goldenstedt: Bundesverfassungsgericht macht Art. 28 Abs. 2 "europafest": SKZ 1994, 79ff.; die dort gezogenen Schlußfolgerungen lassen sich aus der Entscheidung indes nicht herleiten. 30 Vgl. Faber, (Fn. 20), 1127.

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Maastricht-Vertrag nicht gelungen, diesen Wunsch der Länder31 durchzusetzen. Die Gewährleistung kommunaler Selbstverwaltung kann auch nicht aus anderen Elementen des EU- Vertrages abgeleitet bzw. als allgemeiner Rechtsgrundsatz angesehen werden. Vereinzelt wird zwar die Auffassung vertreten, der Kern der kommunalen Selbstverwaltung, so wie er durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet sei, sei ungeschriebener Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung, weil die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung im demokratischen Gedanken wurzele und der Grundsatz der Demokratie einen allgemein anerkannten Grundsatz des Gemeinschaftsrechts darstelle 32 . Dem kann indes lediglich hinsichtlich des zweiten Teils der Aussage gefolgt werden 33 . Die kommunale Selbstverwaltung - auch wenn sie als eine Art flankierende Sicherung des Grundsatzes der Demokratie angesehen werden kann - stellt jedoch kein essentielles Element der Demokratie dar34 . Aus dem in Art. 3 b Abs. 2 des EU-Vertrages normierten Subsidiaritätsprinzip35 dürfte ebenfalls kein effektiver Schutz der kommunalen Selbstverwaltung 36 hergeleitet werden können. Auch wenn der Auffassung, es handele sich lediglich um eine "Leerformel,,37 oder "politische Beschwichtigungsklausel,,38 nicht gefolgt wird, bestehen zunächst Zweifel, ob EU-rechtlich und bundesverfassungsrechtlich unter Subsidiarität dasselbe verstanden wird. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die EU hierunter in erster Linie ein Effektivitäts- und Optimierungsgebot sieht und 31 Vgl. etwa Beschluß der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vorn 22.05. 1992; Beschluß des Bundesrates vorn 18. 12. 1992 - BR-Drs. 810/92. 32 Vgl. Zuleeg, Selbstverwaltung und europäisches Gemeinschaftsrecht, in: v. Münch (Hrsg.), Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft. Festgabe zum 70. Geburtstag von Georg Christoph von Unruh, 1983,91 ff. (93); Rengeling, (Fn. 3), a. a. 0., 287. 33 Vgl. EuGH, Sig. 1980,3333 (3360); 1980,3393 (3424); Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften, in: Fiedler/Ress (Hrsg.), Verfassungsrecht und Völkerrecht. Gedächtnisschrift für WilhelmKarl Geck, 1989, 625 ff. (642 m. w. Nachw. in Fn. 48). 34 Blanke, (Fn. 3), 824; Heberlein, Kommunale Europapolitik: BayVBI. 1992, 417ff., (423); ders., (Fn. 14), 677; Martini! Müller, (Fn. 9), 165, Knapp, Kommunale Selbstverwaltung in Deutschland: Am deutschen Wesen soll Europa genesen?: SKZ 1992, 100ff. (104); Rengeling, (Fn. 9), 899. 35 Vgl. hierzu: Konow, Zum Subsidiaritätsprinzip des Vertrages von Maastricht: DÖV 1993, 405 ff.; Henrichs, Der Vertrag über die Europäische Union und seine Auswirkungen auf die Verfassungen der Mitgliedstaaten: DÖV 1994, 368 ff. (375 f.). 36 Vgl. Blanke, (Fn. 3), 828; ders., Das Subsidiaritätsprinzip als Schranke des Europäischen Gemeinschaftsrechts: ZG 1991, 133ff. (l42ff.); Knapp, (Fn. 34), 105; Heberlein, (Fn. 34), 423, 425; ders., (Fn. 14), 667; Konow, (Fn. 43), 411; auch Classen, der den EUVertrag unter föderativen Aspekten auch mit Blick auf das Subsidiaritätsprinzip positiv bewertet, hat dabei vornehmlich die Länder im Blick, (Fn. 5), 58. 37 Vgl. Bohr/Albert, Die Europäische Union - das Ende der Kulturpolitik der Deutschen Bundesländer?: ZRP 1993,61 ff. (65). 38 Rupp, Maastricht - Eine neue Verfassung: ZRP 1993, 211 ff. (212).

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nicht einen prinzipiellen Vorrang der niederen vor der höheren Ebene 39 . Letztlich werden die Praxis des Rates als des eigentlichen Gesetzgebungsorgans der Gemeinschaft sowie die Rechtsprechung des EuGH zeigen müssen40, ob das Subsidiaritätsprinzip sich als Begrenzung der Kompetenzausübung der EU auswirkt. Die Wirksamkeit des Subsidiaritätsprinzips dürfte dabei auch dadurch beeinflußt werden, daß Aktionen der EU häufig mit finanziellen Zuschüssen flankiert werden. Es steht zu befürchten, daß die Mitgliedstaaten (und auch die Bundesländer) auf die Geltendmachung des Subsidiaritätsprinzips verzichten, um solche Zuschüsse zu erhalten. Im Ergebnis gilt dies für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 3 b Abs. 3 EU-Vertrag) entsprechend. Der Europäische Rat in Edinburgh hat das Verhältnismäßigkeitsprinzip als einen eigenständigen Rechtsgrundsatz bezeichnet41 , der im Verhältnis der EU zu den Mitgliedstaaten gilt. Aus seiner Sicht geht es dabei jedoch lediglich um die Intensität des Handeins bzw. um Art und Umfang der Maßnahmen, nicht jedoch um die Frage, ob eine Maßnahme überhaupt ergriffen werden so1l42. Hinzu kommt, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ebenso der Entfaltung durch den EuGH bedarf wie das Subsidiaritätsprinzip. Bezüglich der Wirksamkeit des Schutzes der kommunalen Selbstverwaltung sind deshalb auch insoweit Zweifel angebracht. Ferner kann der Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung nicht als allgemeiner Rechtsgrundsatz für den Bereich der EU anerkannt werden43 . Einerseits besteht in den Mitgliedstaaten kein einheitliches Verständnis von kommunaler Selbstverwaltung; vielmehr bleibt die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in einigen Mitgliedstaaten weit hinter der Garantie des Art. 28 Abs. 2 Satz I GG zurück44 • Andererseits kann wegen der "Blindheit" der EU- Rechtsordnung für die Organisationsstrukturen der Mitgliedstaaten noch nicht davon gesprochen werden, daß der Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung in der EU-Rechtsordnung Vgl. Faber, (Fn. 20),1135; Heber/ein, (Fn. 14),677; siehe auch Classen, (Fn. 5), 58. So auch Häberle, Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre: AöR 1994, 169 ff., 195; Konow, (Fn. 35),411; daß die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips vom EuGH zu überwachen ist, hat das BVerfG ausdrücklich anerkannt, vgl. DVBI. 1993, 1266. 41 Schlußfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Edinburgh am 11./12. 12. 1992, in: Bulletin (hrsg. v. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung) Nr. 140, S. 1277 ff. (1280); vgl. auch BVerfG, DVBI. 1993, 1254 ff. (1261, 1266); nach Blanke, (Fn. 3), 827 handelt es sich lediglich um einen Unterfall des Subsidiaritätsprinzips; unklar Konow, (Fn. 35),407. 42 Vgl. Bulletin, (Fn. 41),1282; Blanke, (Fn. 3), 827; Schmidhuber, Das Subsidiaritätsprinzip im Vertrag von Maastricht: DVBI. 1993,417 ff. (419). 43 Zur Feststellung allgemeiner Rechtsgrundsätze vgl. Oppermann, Europarecht, 1991, Rdnr. 404 ff.; Martini! Müller, (Fn. 9), 165. 44 Vgl. etwa Galette, Europäische Aspekte der kommunalen Selbstverwaltung, in: v. Münch (Hrsg.) (Fn. 32), lO77ff. (l084ff.); Faber, (Fn. 20), 1129; Blanke, (Fn. 3), 825; Heberlein, (Fn. 14), 677 ff. 39

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allgemein anerkannt ist. Für die Anerkennung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes wäre jedoch eine wesentliche Lücke im Unionsvertrag erforderlich, welche die Anwendung des Gemeinschaftsrechts ohne den Rückgriff auf einen allgemeinen Rechtsgrundsatz erheblich stören würde. Hinzu kommt, daß der EuGH sich beim "Finden" eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes nicht an die Stelle des Gemeinschaftsgesetzgebers setzen da~5. Dies täte er jedoch, nachdem der Gemeinschaftsgesetzgeber dem Petitum der Bundesregierung, den Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung im EU-Vertrag zu normieren, nicht nachgekommen ist. In diesem Zusammenhang hilft auch der Hinweis auf die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung nicht weiter, weil sie nicht Bestandteil des Gemeinschaftsrechts und nicht von allen Mitgliedstaaten unterzeichnet ist46 . 3. Die Frage, ob das nationale Recht der EU bei der Ausübung des Gemeinschaftsrechts noch Grenzen setzen kann, ist aus europäischer Perspektive eindeutig geklärt. Der EuGH vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, das Gemeinschaftsrecht gehe dem Recht der Mitgliedstaaten, auch dem Verfassungsrecht, vor47 • Aus verfassungsrechtlicher Sicht handelt es sich bei der Rechtsausübung grundsätzlich um die andere Seite der Rechtsübertragung. Allerdings ist die EU auf Entwicklung und weitere Integration angelegt48 • Im Rahmen dieses Prozesses könnte eine Situation eintreten, daß einzelne Akte der Union nicht mehr durch das Zustimmungsgesetz gedeckt wären. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wären diese Rechtsakte im deutschen Hoheitsgebiet nicht verbindlich49 . Dies hat indes für die kommunale Selbstverwaltung keine Auswirkungen. Da Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG im Rahmen des Art. 23 Abs. 1 GG n. F. keine Grenzen setzt, somit letztlich im Zusammenhang mit der Übertragung auch aufgehoben werden könnte, kann auch bei der Ausübung von EU- Recht nichts anderes gelten.

III. Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten : Bei den Verhandlungen über den EU-Vertrag ist es nicht gelungen, den Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung im Vertrag zu verankern. Der Versuch, das, was politisch seinerzeit nicht durchsetzbar war, durch juristische Auslegung zu erreichen, scheint wenig erfolgversprechend. Statt dessen sollte die Bundesrepublik Deutschland weiter auf eine Normierung des Grundsatzes der kommunalen Selbstverwaltung im EU-Vertrag Vgl. Oppermann, (Fn. 43), Rdnr. 405. Vgl. Blanke, (Fn. 31), 826; Heberlein, (Fn. 14),678. 47 Vgl. EuGH Slg. 1964, 1251 (1269f.); Neßler, Europäisches Gemeinschaftsrecht vor deutschen Gerichten: DVBI. 1993, 1240ff.; Martini/Müller, (Fn. 9),163 rn. w. Nachw. 48 Vgl. Everling, (Fn. 6), 940; Sommermann, (Fn. 6), 598. 49 Vgl. BVerfG, DVBI. 1993, 1254ff. (1260). 45

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selbst hinwirken 50 . Außerdem sollten die Kommunen, die ihnen eingeräumten Möglichkeiten in dem gemäß Art. 198 a des EU-Vertrages gebildeten Ausschuß der Regionen nutzenSl sowie ihre Interessen in die Arbeit der einzelnen europäischen Institutionen einbringen s2 . Schließlich sollten sie das Zusammenwachsen Europas als Chance begreifen, die bisher praktizierte grenzüberschreitende Zusammenarbeit auszubauen und darauf drängen, daß hierfür ein flexibles Instrumentarium bereitgestellt wird.

IV. Unabhängig vom Zusammenwachsen Europas hat es bereits in der Vergangenheit kommunale Auslandsaktivitäten gegeben 53 . Ausgangspunkt waren zunächst kommunale Partnerschaften 54 . Damit waren grds. keine Rechtsprobleme verbunden. Denn dabei kam es entweder lediglich zu Absichtserklärungen oder rein privatrechtlichen Verpflichtungen, nicht aber zu einer grenzüberschreitenden hoheitlichen Aufgabenerledigung 55 . Parallel dazu entwickelten sich Formen der Zusammenarbeit im grenznachbarschaftlichen Raum unterschiedlichster Art56 . Trotz der langen Tradition grenznachbarschaftlicher Zusammenarbeit herrscht offensichtlich Unsicherheit hinsichtlich der rechtlichen Grundlagen dieser Form interkommunaler KooperationS? Dies dürfte mit ein Grund sein, warum die Akteu50 So auch Erichsen, Kommunalverfassungsrecht, in: BlümellHill, (Fn. 2), 89ff. (111); Knemeyer, Die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung: DÖV 1988, 897 ff. (1001); Hofmann, Verankerung der Grundvoraussetzung kommunaler und regionaler Selbstverwaltung in einer europäischen Verfassung, in: Knemeyer (Hrsg.), Die europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, 1989, 211 ff.; Rengeling, (Fn. 3), 293, ders., (Fn. 9), 899ff. 51 Vgl. Heberlein, Aktuelle Rechtsprobleme "Kommunaler Außenpolitik": Die Verwaltung 1993,211 ff. (255ff.); Hoffschulte, Länderegoismus gegen 16000 Kommunen: ZKF 1992, 146 ff. (148). 52 Etwa über das Europabüro der kommunalen Selbstverwaltung oder den gemeinsamen Europakoordinierungsausschuß. 53 Siehe schon v. Mutius, (Fn. 1), 156; zu dem breiten Spektrum solcher Aktivitäten Heberlein, Kommunale Außenpolitik als Rechtsproblem, 1989,8 ff., 25 ff., 46 ff. 54 Siehe hierzu Blumenwitz, Kommunale Außenpolitik, in: v. Münch (Hrsg.) (Fn. 36), 747 ff. 55 Siehe aber Blumenwitz, (Fn. 54), 559; hierzu auch Heberlein, (Fn. 53), 195ff.; ders., (Fn. 50), 222 f.; zu den Grenzen solcher Partnerschaften dort 218 ff. 56 Vgl. Schlögel, Grenzüberschreitende internationale Zusammenarbeit, 1982, 154ff.; Oehm, Rechtsprobleme staatsgrenzenüberschreitender interkommunaler Zusammenarbeit, 1982, 10 ff.; Rauser, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf ausländische Staaten, 1991, 151 ff.; Heberlein, Kommunale Außenpolitik, (Fn. 53), 31 ff.; speziell zu Kooperationen im Saar-Lor-Lux-Raum: Autexier, Gemeinsame lothringisch- saarländische administrative Einrichtungen und Verfahrens weisen 1993, 17 ff. 57 Vgl. Jordans, Grenzüberschreitende Rechtsprobleme zwischen den niederländischen, belgisehen und deutschen Gemeinden im Aachener Grenzraum und ihre Lösungen, Diss. Köln 1974, 113; Raus,er, (Fn. 56),154.

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re bei der Offenbarung solcher Kontakte Zurückhaltung üben 58 . Das Zusammenwachsen Europas sollte Anlaß sein, diese Zurückhaltung aufzugeben und die Schaffung entsprechender Rechtsgrundlagen einzufordern. Denn faktisch wird sich die grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit mit dem Zusammenwachsen Europas verstärken. Weil die Probleme an den Grenzen nicht haltmachen, wirkten die Staatsgrenzen früher häufig problemverschärfend; verlieren sie indes ihre frühere Bedeutung, eröffnet sich die Möglichkeit, grenzüberschreitende kommunale Problemlagen tatsächlich und rechtlich zu bewältigen.

v. 1. Bevor die Frage beantwortet werden kann, ob bestehende Rechtsgrundlagen kommunale grenzüberschreitende Zusammenarbeit ermöglichen, gilt es zu fragen, worin diese Zusammenarbeit besteht. Zusammengefaßt geht es einmal um den gegenseitigen Austausch von Informationen, die Diskussion von gemeinsamen Problemen sowie die Abstimmung von Entscheidungsprozessen, zum anderen um gemeinsames Handeln zur Erledigung bestimmter Aufgaben 59 . Dies erfolgt z. T. auf der Ebene des Privatrechts; z. T. wird die Aufgabe einem ausländischen Hoheitsträger zur Erledigung übertragen 60, wobei die beteiligten Partner die Aufgabe gemeinsam erledigen können oder einer es für die anderen tun kann. Der bloße Informationsaustausch und die Abstimmung von Entscheidungsprozessen sind rechtlich unproblematisch und bedürfen keiner gesonderten Ermächtigungsgrundlage. Im wesentlichen unproblematisch ist auch die Zusammenarbeit, soweit sie sich auf der Ebene privatrechtlicher Rechtsbeziehungen vollzieht. Da völkerrechtlich anerkannt ist, daß zumindest im wirtschaftlichen Bereich - und hierum wird es überwiegend gehen - die Staaten den zwischenstaatlichen Verkehr dem Völkerrecht entziehen können und Art. 32 GG nur solche Beziehungen zum Ausland erfaßt, welche die Partner in Ausübung hoheitlicher Rechte aufnehmen, bestehen gegen eine die Bundesgrenzen überschreitende interkommunale Zusammenarbeit in privatrechtlichen Rechtsformen weder völkerrechtlich noch bundesverfassungsrechtlich Bedenken61 . Deutsche Kommunen haben somit die Kompetenz, mit Kommunen ausländischer Staaten privatrechtliche Verträge abzuschließen. Die gemeinsame Erledigung hoheitlicher Aufgaben erfordert indes eine Zusammenarbeit in öffentlich-rechtlicher Form und schließt ein Ausweichen auf privatVgl. Rauser, (Fn. 56), 154; Oehm, (Fn. 56), 122. V gl. Oehm, (Fn. 56), 8 f. 60 Vgl. Rauser, (Fn. 56), 155. 61 Vgl. Oehm, (Fn. 56), 77ff.; Jordans, (Fn. 57), 100f.; Schlägel, a. a. 0., (Fn. 56), 86ff.; Beyerlin, Grenzüberschreitende innerstaatliche Zusammenarbeit in Europa: ZaöRV 1980, 573 ff. (589). 58 59

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rechtliche Formen aus 62 . Hierzu bedürfen die Kommunen einer ausdrücklichen Ermächtigungsgrundlage 63. 2. Allgemeine Rechtsgrundlagen für grenzüberschreitende Zusammenarbeit gibt es nicht. Nach Art. 10 Abs. 3 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung vom 15. 10. 1985 (BGBl. 11 1987, 65 ff.) sind die kommunalen Gebietskörperschaften zwar berechtigt, im Rahmen der vorgegebenen Bedingungen mit den kommunalen Gebietskörperschaften anderer Staaten zusammenzuarbeiten; dieses Recht steht jedoch unter dem Vorbehalt des jeweiligen Staatsrechts. Das Europäische Rahmenabkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften vom 21. 05. 1980 (BGBl. 11 1981,965 ff.) enthält als völkerrechtlich verbindlichen Teil das eigentliche Rahmenabkommen sowie im Anhang eine Zusammenstellung von zwischenstaatlichen und lokalen Vereinbarungsmodellen. Die im verbindlichen Teil geregelte Förderung der grenzüberschreitenden kommunalen Zusammenarbeit steht dabei nach Art. 1 und Art. 3 Abs. 4 ebenfalls unter dem Vorbehalt innerstaatlichen Rechts. Beide Abkommen können daher nicht als Ermächtigungsgrundlage für grenzüberschreitende kommunale Zusammenarbeit in diesem Sinne angesehen werden 64 . Nach Art. 24 Abs. 1 a GG können die Länder, soweit sie für die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zuständig sind, mit Zustimmung der Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen übertragen. Die Vorschrift soll u. a. die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eine verbesserte regionale grenzüberschreitende Zusammenarbeit durch rechtlich wirksame Formen schaffen65 . Eine unmittelbare Ermächtigungsgrundlage für eine grenzüberschreitende kommunale Zusammenarbeit stellt die Vorschrift allerdings nicht dar. Denn sie richtet sich an die Länder. Auf die Frage, ob "grenznachbarschaftliche" in gleicher Weise wie "zwischenstaatliche" in Art. 24 Abs. 1 GG auszulegen ist66 , braucht und kann daher hier nicht eingegangen werden. Indes erscheint es wenig überzeugend, dies bei unterschiedlicher Wortwahl in zwei aufeinanderfolgenden Vorschriften anzunehmen, zumal mit grenznachbarschaftlich die Vielzahl und Vielfältigkeit grenzüberschreitender Kooperationen erfaßt werden sollte. Art. 24 Abs. 1 a GG dürfte somit eher ein weiteres Vgl. Rauser, (Fn. 56), 155. Vgl. Schlägel, (Fn. 56), 125; Beyerlin, Rechtsprobleme der lokalen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, 1988, 206 ff. 64 Vgl. Beyerlin, (Fn. 61), 590. 65 Autexier, (Fn. 56), 84; Rixecker, Grenzüberschreitender Föderalismus - eine Vision der Deutschen Verfassungsreform zu Art. 24 Abs. I des Grundgesetzes, in: Bohr (Hrsg.) Föderalismus, München 1992, 201 ff., 205; Grate/eis, Die Novellierung des Art. 24 GG: DVBI. 1994, 785 ff. (789). 66 So Grate/eis, (Fn. 65), 787; wohl auch Randelzha/er, (Fn. 6), Rdnr. 197; a.A. Bauer/ Hartwig, Verträge der Länder Bundesrepublik Deutschland mit ausländischen Staaten über Fragen der kommunalen Zusammenarbeit: NWVBI. 1994, 41 ff. (48); Autexier, (Fn. 56), 88ff. 62

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Element der Entscheidung des Grundgesetzes für eine offene Staatlichkeit darstellen67 • Landesgesetzliche Regelungen bieten ebenfalls keine entsprechende Rechtsgrundlage. Nach Art. 60 Abs. 2 der Saarländischen Verfassung (SVerf.) unterstützt das Saarland grenzüberschreitende Beziehungen zwischen benachbarten Gebietskörperschaften und nach § 5 Abs. 2 Satz 2 des Kommunalselbstverwaltungsgesetzes (KSVG) arbeiten saarländische kommunale Gebietskörperschaften mit benachbarten kommunalen Gebietskörperschaften anderer europäischer Regionen grenzüberschreitend zusammen (soweit ersichtlich handelt es sich dabei um die bisher einzigen landesgesetzlichen Regelungen betreffend grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Kommunen). Während es sich bei Art. 60 Abs. 2 SVerf. um eine Staatszielbestimmung handelt, die sich die regionale grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die Unterstützung entsprechender grenzüberschreitender Beziehungen als Anliegen zu eigen macht, reicht § 5 Abs. 2 Satz 2 KSVG diese verfassungsrechtliche Zielvorgabe für kommunales Handeln gewissermaßen weiter68 . Als Ermächtigungsgrundlage für die kommunale grenzüberschreitende hoheitliche Zusammenarbeit scheiden beide Vorschriften indes aus. Gleiches gilt schließlich für die Landesgesetze über die interkommunale Zusammenarbeit69 . Da eine solche Zusammenarbeit - entsprechend dem Grundsatz der territorialen Begrenzung der Staatsgewalt auf das Landesgebiet - schon zwischen Bundesländern ohne Staatsvertrag nicht möglich iseo, muß dies erst recht für die Zusammenarbeit mit ausländischen Kommunen gelten. 3. Da keine allgemeinen Rechtsgrundlagen für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Kommunen existieren, müssen spezielle geschaffen werden. Entsprechend den Vorbildern für länderüberschreitende kommunale Zusammenarbeit innerhalb der Bundesrepublik Deutschland7l bietet sich hierfür ein Staatsvertrag an72. Dieser Vertrag muß den Kommunen der beteiligten Vertragsparteien, ggf. wenn es sich um ein kleines Bundesland handelt (etwa: Saarland) oder um einen kleineren ausländischen Staat (etwa: Luxemburg) - den Vertragsparteien selbst, Vgl. Autexier, (Fn. 56), 92 ff. Vgl. Autexier, (Fn. 56), 91. 69 V gl. etwa das saarl. Gesetz über die kommunale Gemeinschaftsarbeit vom 26. Februar 1975 (Amtsbl. S. 490, geändert durch Gesetz vom 18. Januar 1989, Amtsbl. S. 321). 70 Vgl. Grawert, Rechtsfragen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von Gemeinden: DVBI. 1971, 484ff. (485). 71 Vgl. etwa den Staatsvertrag zwischen dem Saarland und dem Land Rheinland-Pfalz über Zweckverbände, öffentlich-rechtliche Vereinbarungen, kommunale Arbeitsgemeinschaften sowie Wasser- und Bodenverbände vom 07. 11. 1972 (Amtsbl. 162). 72 Vgl. etwa das zwischen dem Land Niedersachsen, dem Land Nordrhein-Westfalen, der Bundesrepublik Deutschland und den Niederlanden geschlossene ,,Abkommen über grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften und anderen öffentlichen Stellen", Niedersächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1992, 69ff.; hierzu Bauer/Hartwig, (Fn. 66), 41 ff. 67

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ein geeignetes Instrumentarium zur Verfügung stellen, um die in den Grenzregionen auftretenden grenzüberschreitenden Sachfragen rechtlich sauber lösen zu können. Dabei gilt es in inhaltlicher Sicht unter anderem folgende Fragen zu klären73 : Was ist Gegenstand des Staatsvertrages? Welches Recht soll gelten? Nach welchem Recht richtet sich die Aufsicht? Kann die zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit geschaffene Einrichtung Maßnahmen gegenüber Personen des jeweils anderen Staates ergreifen oder wird ausdrücklich ausgeschlossen, daß sie Dritten Verpflichtungen auferlegen kann? Verfahrensrechtlich problematisch ist die Abschlußkompetenz. Diese richtet sich nach Art. 32 GG. In diesem Zusammenhang stellt sich zunächst die Frage, ob es sich bei dem Vertragsgegenstand um eine Materie handelt, für welche die Länder die Gesetzgebungszuständigkeit besitzen. Umstritten ist dann, ob die für diesen Fall gegebene Abschlußkompetenz der Länder eine ausschließliche ist oder ob der Bund sich daneben in dem seI ben Bereich betätigen darf. Da der Vertrag lediglich allein die Einzelheiten einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von Gemeinden und Gemeindeverbänden regeln sollte, betrifft er die Frage der Verwaltungsorganisation auf kommunaler Ebene. Wenn dabei klargestellt wird, daß es nur um Form und Verfahren einer solchen Zusammenarbeit geht, wird die Abschlußkompetenz der Länder nicht dadurch in Frage gestellt, daß die Gemeinden auch Bundesrecht auszuführen haben. Denn der Inhalt der den Gemeinden und Gemeindeverbänden obliegenden Aufgaben wird dadurch nicht betroffen 74 . Da die Regelung der Verwaltungsorganisation der Länder ebenfalls in deren Gesetzgebungszuständigkeit fällt, sind die Länder auch insoweit ermächtigt, mit anderen Staaten hierüber einen völkerrechtlichen Vertrag abzuschließen 75. Ob neben den Ländern auch der Bund eine Abschlußkompetenz hat, ist umstritten. Während die sog. ,,zentralisten" mit Blick darauf, daß im Bundesstaat die auswärtige Gewalt beim Zentralstaat monopolisiert ist, ein Vertragsabschlußrecht des Bundes auch insoweit bejahen 76, bestreiten dies die sog. "Föderalisten" mit der Begründung, daß Art. 30 GG die grundsätzliche Zuständigkeit der Länder für die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben festschreibe, wovon Art. 32 Abs. 1 GG lediglich eine Ausnahme darstelle. Art. 32 Abs. 3 GG verweise als Ausnahme von der Ausnahme wieder auf die Zuständigkeit der Länder zurück77 . Eine Vertragsabschlußkompetenz des Bundes bestünde V gl. hierzu Bauer / Hartwig, (Fn. 66), 43 f. Vgl. Bauer/ Hartwig, (Fn. 66), 46f. 75 Vgl. Rojahn, in: v. Münch, (Fn. 14), Art. 32 Rdnr. 29 76 Siehe hierzu Fastenrath, Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt, 1982,116; sowie zur Ablehnung der föderalistischen Auffassung Rauser, (Fn. 56), 341 ff. 77 Vgl. Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, (Fn. 6), Art. 32 Rdnr. 29ff.; politisch entschieden wurde die Frage in dem sog. Lindauer Abkommen, abgedruckt bei Maunz ebda. Rdnr.45. 73

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Herbert Mandelartz

somit nur dann nicht, wenn der Auffassung der sog. Föderalisten gefolgt würde. Im Interesse der Kommunen und um zu einer schnellen Lösung wichtiger Probleme im Grenzraum beizutragen, sollten die Länder wegen dieser Frage keine zeitlichen Verzögerungen aufkommen lassen und dem Bund - falls er darauf besteht - die (Mit)Abschlußkompetenz zugestehen 78 . Sollte der Bund indes zukünftig zum Abschluß solcher "gemischten Verträge" nicht mehr bereit sein und die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder bestreiten79 , wäre es Sache der Länder, diese Frage bundesverfassungsrechtlich klären zu lassen. Mit einem entsprechenden Staatsvertrag wäre die Rechtsgrundlage für eine grenzüberschreitende kommunale Zusammenarbeit geschaffen; zugleich würden die Handlungsmöglichkeiten für die Kommunen erweitert. Weil damit auch sichergestellt wäre, daß die gleichen Handlungsmöglichkeiten für die Kommunen des Vertragspartners gelten würden, erweist sich der Staatsvertrag - zumal die Zahl der Anrainerstaaten der Bundesrepublik Deutschland nicht allzu groß ist - als wirkungsvoller für die Entwicklung kommunaler Handlungsmöglichkeiten, als etwa eine einseitige Ermächtigung der Kommunen eines Staates, der auf der anderen Seite der Grenze nichts Entsprechendes gegenübersteht. So verlockend etwa das französische sog. Loi Joxe/Marchand, das den französischen kommunalen Körperschaften weitreichende Kompetenzen bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit einräumt, zunächst erscheint80 ; in der Praxis ist es in bezug auf die Bundesrepublik Deutschland wirkungslos, weil den deutschen Kommunen entsprechende Kompetenzen nicht eingeräumt sind. Die Kommunen sollten daher im Interesse der Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung auf den Abschluß entsprechender Staatsverträge drängen. Da die Kommunen in den Grenzregionen ein großes Interesse haben, daß grenzüberschreitende Probleme auch grenzüberschreitend gelöst werden können und mit dem Zusammenwachsen Europas die Grenzen ihre trennende, damit problemverschärfende Funktion verlieren, dürften die Zeichen hierfür nicht schlecht stehen, wenn Bund und Länder an einer Lösung dieser Probleme wirklich interessiert sind.

78 Nicht zulässig wäre dies indes, wenn der Auffassung der sogenannten Föderalisten gefolgt würde, weil danach eine ausschließliche Abschlußkompetenz der Länder gegeben wäre. 79 Nach einem Schreiben des Chefs des Bundeskanzleramtes an die Ministerpräsidenten der Bundesländer Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Saarland scheint die Bundesregierung nunmehr diese Linie zu verfolgen. 80 Vgl. Journal Officiel de la Republique Fran"aise vom 08.02. 1992,2083 ff.; hierzu Autexier, (Fn. 56), 57ff.; Rixecker, (Fn. 65), 217f.

Der europäische Vermittlungsausschuß Von Wilhelm Opfermann, Bonn

I. Der im November 1993 in Kraft getretene Maastrichter Vertrag enthält in Artikel189 b EGV1 eine grundsätzliche Neuerung des europäischen Rechtsetzungsverfahrens: Künftig gibt es in bestimmten Fällen ein Vermittlungsverfahren zwischen Rat und Europäischem Parlament (EP). Damit ist nunmehr mit dem "europäischen Vermittlungsausschuß" (im folgenden auch als EU-VA abgekürzt) eine Institution geschaffen worden, die dem seit 1949 bei über 500 Gesetzen aktiv gewordenen deutschen Vermittlungsausschuß nach Artikel 77 Abs. 2 des Grundgesetzes entspricht. Der EU-VA hat im Frühjahr 1994 seine Tätigkeit aufgenommen 2 . Die allein im Jahr 1994 durchgeführten etwa zehn Verfahren lassen die Prognose als nicht ungerechtfertigt erscheinen, daß in den kommenden Jahren viele wichtige Rechtsetzungsverfahren auf der EU-Ebene maßgeblich von dieser neuen Verfassungsinstitution geprägt sein werden. Gegenstand der folgenden Untersuchung soll es sein, einige Elemente des neuen Verfahrens näher zu beleuchten. Hierbei soll bereits eingangs auf einen Grundaspekt des EU-VA hingewiesen werden. Er betrifft folgendes: Der deutsche VA nach Artikel 77 Abs. 2 GG besitzt Generalzuständigkeit: Der Bundesrat kann zu jedem Gesetz den Vermittlungsausschuß anrufen 3 ; analoges gilt für Bundestag und Bundesregierung (bei Ablehnungsposition des Bundesrates) zu jedem Zustimmungsgesetz. Demgegenüber ist die Zuständigkeit des EU-VA eine bewußt beschränkte und damit partielle: Der Ausschuß kann nur in denjenigen Bereichen angerufen werden, zu denen es im EG-Vertrag ausdrücklich vorgesehen ist. Die Kernfälle sind Regelungen im Bereich des Binnenmarktes und der Arbeitnehmer-Freizügigkeit. Hinzu kommen z. B. bestimmte Rechtsakte im Umweltbereich oder bei ForsChungsprogrammen4 • 1 Der Text des Art. 189 b EGV ist in Teil X wiedergegeben; zu der technischen Abwicklung der Tatigkeit des EU-VA (Ko-Vorsitz u.a.) s. z. B. Bundesrat-Drs. 918/93, S. 15/16. 2 Zur Bilanz nach einem Jahr Tatigkeit des EU-VA s. unten Teil IX. 3 Der Bundesrat kann z. B. auch den VA zu Haushaltsgesetzen oder zu Ratifizierungsgesetzen im Sinn von Art. 59 GG anrufen; für beides gibt es Beispielsfälle.

12 Festschrift Böckenförde

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Wilhelm Opfennann

Diese bloß partielle Zuständigkeit des EU-VA hat ihren Hintergrund in schwierigen politischen Divergenzen über die Frage der Ausweitung der Rechte des EP. Einige Mitgliedstaaten standen einer gleichberechtigten Mitentscheidungs-Befugnis des EP (sog. "Kodezision") äußerst reserviert gegenüber. Andere - wie z. B. die Bundesrepublik Deutschland - haben deutlich erklärt, daß sie auf lange Sicht eine befriedigende Lösung nur darin sehen könnten, daß das Kodezisionsverfahren des Art. 189 b EGVauf Dauer allgemein für die Rechtsetzung auf EU-Ebene maßgebend ist. Hieran knüpft die Schlußregelung in Art. 189 b Abs. 8 EGVan. Sie bestimmt als Kompromißformei, daß der Anwendungsbereich des Vermittlungsverfahrens in der Folgekonferenz zu Maastricht, die ab 1996 stattfinden soll, erweitert werden ,,kann". Anders als die Grundgesetzentscheidung in Artikel 77 Abs. 2 GG im Jahr 1949 ist damit die Regelung in Artikel 189 b EGV in ihrer praktischen Wirkung also derzeit bewußt als Zwischenstand konzipiert.

11. An sich sind die zwei Sphären der europäischen Rechtsetzung und der nationalen (deutschen) Gesetzgebung verfahrensmäßig eigenständig geregelt. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, daß insoweit künftig von dem ersten auf den zweiten Bereich gewisse Ausstrahlungswirkungen ausgehen. Der Hintergrund hierfür ist der folgende:

1. Das deutsche Grundgesetz enthält in Artikel 77 Abs. 2 GG nur äußerst knappe Regelungen über die konkrete Durchführung von Vermittlungsverfahren. Zwingend sind nur wenige Elemente geregelt: Die Anrufungsberechtigung von Bundesrat, Bundestag und Bundesregierung; die Weisungsfreiheit der Bundesrats-Mitglieder und die erneute Befassung des Bundestages bei Änderungsvorschlägen des VA. Das übrige ist einer Geschäftsordnung, die vom Bundestag beschlossen wird 4 Das Mitentscheidungs- = Vennittlungsverfahren ist (ganz oder teilweise) für die folgenden Bereiche vorgeschrieben: a) Art. 49 (Freizügigkeit der Arbeitnehmer) b) Art. 54 (Niederlassungsfreiheit) c) Art. 56 (Koordinierung der Niederlassungsvorschriften) d) Art. 66 (Dienstleistungsrecht) e) Art. 100 a (Angleichung von Rechtsvorschriften im Binnenmarkt) f) Art. 100 b (Gleichwertigkeit einzelstaatlicher Vorschriften) g) Art. 126 (Fördennaßnahmen im Bildungsbereich) h) Art. 128 (Fördennaßnahmen im Kulturbereich) i) Art. 129 (Fördennaßnahmen im Gesundheitsbereich) k) Art. 129 a (Aktionen zum Gesundheits- u. Verbraucherschutz) I) Art. 129 d (Leitlinien bei transeuropäischen Netzen) m) Art. 130 i (Rahmenprogramme für die Forschung) n) Art. 130 s (Umweltprogramme)

Der europäische Vermittlungsausschuß

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und der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bzw. der reinen Staatspraxis überlassen. Dies führt z. B. dazu, daß nicht einmal der Grundsatz der paritätischen Besetzung beider Seiten im Grundgesetz verankert ist, obwohl er schon für das Vorbild des deutschen VA, das amerikanische Verfassungsystem, selbstverständlich w~. 2. Weil das Grundgesetz in der Ausgestaltung des Vermittlungsverfahrens so wenig Festlegungen enthält, hat sich in der Verfassungsrechtskommentierung eine eigenartige Situation, ja schon eine Art Schieflage ergeben: Während bei dem EU-VA die rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung naturgemäß erst beginnt, sind beim deutschen VA an sich die Kommentierungen als solche sowohl im Bereich der Grundgesetzkommentare wie auch im Bereich der Einzelmonographien durchaus zahlreich 6 .vielfach wird aber nicht zwischen den zwei Fragen unterschieden: a) Wie ist die Staatspraxis seit 1949 bei Vermittlungsverfahren? b) Welche Alternativen zur Staatspraxis ließe das Grundgesetz zu? Der Schwerpunkt liegt vielfach im Fragekomplex a). Dies hat wiederum den plausiblen Grund, daß eben von 1949 an bis heute die Staatspraxis weitgehend einheitlich gestaltet wurde. Die Frage des verfassungsrechtlichen Spielraumes sollte aber nicht ganz unbeachtet bleiben. Der Umstand, daß mit dem EU-VA nunmehr eine neue parallele VermittlungsInstitution geschaffen wurde, könnte hier u.U. gewisse Ausstrahlungswirkungen haben. Er zeigt nämlich zahlreiche Alternativen zum deutschen Vermittlungssystem auf.

III. Als hochspezialisiertes Verfahrensrecht ist das Recht des europäischen Vermittlungsverfahrens vielfach nicht leicht zugänglich. Es soll deshalb in einer Art Grundübersicht zunächst dargestellt werden, von welchen Elementen das System des EU-VA insgesamt geprägt ist. Um die Darstellung anschaulich umzusetzen, wurde der besonders informative Weg gewählt, Kernelemente des deutschen und des EU-VA einander synoptisch gegenüber zu stellen. 5 Zur Zusammensetzung des EU-VA im Vergleich zum deutschen VA s. näher unten Teil VII wie auch die Erfahrungsbilanz des EP in Teil IX. 6 Die wichtigste Monographie zum deutschen VA ist nach wie vor Hasselsweiler, Der Vermittlungsausschuß, 1981, mit Nachweisen über die frühere Literatur. Einen Erfahrungsbericht speziell zur 7. Legislaturperiode liefert Opjermann, Einigung durch Vermittlung: ZRP 1976, S. 206-210. Jüngere Veröffentlichungen zum deutschen Vermittlungsausschuß sind beispielsweise: Bismarck, Grenzen des Vermittlungsausschusses: DÖV 1983, S. 269 ff.; Dietlein, Der Dispositionsrahmen des Vermittlungsausschusses: NJW 1983, S. 80ff.; Ossenbühl, Verfahren der Gesetzgebung, in: Handbuch des Statsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3,1988, S. 351 ff.; Posser, Der Vermittlungsausschuß, in: Vierzig Jahre Bundesrat, 1989, S.203ff.

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Wilhelm Opfennann Gegenüberstellung der Hauptstrukturen des deutschen Vermittlungsausschusses nach Artikel 77 Abs. 2 GG und des EU-Vermittlungsausschusses nach Artikel 189 b EUV Deutscher VA

Europ. VA ("Kodezision")

(I) Entstehung

Novum im deutschen Verfassungsrecht. Gleiche Grundregeln seit 1949. Am USSystem orientiert (teilweise).

(2) Innere Struktur des VA Ständiger Ausschuß, bestehend zweimal 16 Mitgliedern.

aus

(I) Entstehung

Zwischenstand der schrittweisen Erweiterung der EP-Kompetenzen. Bei Vertragskonferenz 1996 ist Erweiterung angestrebt.

(2) Innere Struktur des VA Mittelweg zwischen reiner ad hoc-Lösung (so USA) und ständigem Ausschuß: Drei ständige Mitglieder des EP aus Vize-Präsidenten, Rest ad hoc-Mitglieder. Vom Rat jeweils Vertreter eines Mitgliedstaates.

(3) Aktivität Tätigkeit in Wellenfonn je nachdem, ob Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat divergent. Bis Ende 1994 Beratung von über 500 Gesetzen.

(3) Aktivität VA-Tätigkeit seit lnkrafttreten des Maastrichter Vertrages im November 1993. Bis Ende 1994 etwa zehn Verfahren.

(4) Zuständigkeit Generalzuständigkeit: Zu jedem Gesetz kann der VA angerufen werden, auch zu Sonderfällen wie Haushalts-, Ratifikationsgesetzen oder Verfassungsänderungen.

(4) Zuständigkeit Zuständigkeit auf insgesamt 13 Bereiche beschränkt, insbesondere Binnenmarktfragen; ferner Arbeitnehmer-Freizügigkeit, Forschungsprogramme und anderes.

(5) VA als zwingende Durchgangsstation ? Ja. Änderungen des Gesetzbeschlusses des Bundestages können nur erfolgen, wenn sich die Mehrheit des Vennittlungsausschusses für sie in einem Vermittlungsverfahren ausspricht.

(5) VA als zwingende Durchgangsstation ? Nein. Der EU-Vertrag enthält auch die Möglichkeit des Änderungsdurchgriffs: Stimmt der Rat allen Änderungen des EP zu, bedarf es eines Vennittlungsverfahrens nicht.

(6) Mehrheitssystem im VA Prinzip der "unitären" Mehrheit: Es wird nicht nach Bänken abgestimmt. Damit oft kein echter "Einigungsvorschlag".

(6) Mehrheitssystem im VA Duales Mehrheitssystem: Jede Delegation (des EP, des Rates) muß einem Einigungsvorschlag zustimmen, der Rat mit qualifizierter Mehrheit.

Der europäische Vennittlungsausschuß

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(7) Zwingende oder fakultative Anrufung? Bei Einspruchsgesetzen muß der Bundesrat den VA anrufen, bevor er Einspruch einlegt. Bei Zustimmungsgesetzen kann er sofort die Zustimmung verweigern.

(7) Zwingende oder fakultative Anrufung?

(8) Anrufungsberechtigte (a) Bundesrat generell (b) Bundestag und Bundesregierung bei Zustimmungsgesetzen.

(8) Anrufungsberechtigte (a) Beim Informations-VA (EP will ablehnen) der Rat nach Ermessen (b) Schlägt EP Änderungen vor, die Rat nicht alle übernimmt, zwingende Einberufung (c) Kommission kann mittelbar ebenfalls VA erzwingen.

(9) Mitwirkungsrecht der Bundesregierung BReg hat eigenes Anrufungsrecht bei Zustimmungsgesetzen. Ansonsten zwar Teilnahmerecht im VA, aber kein förmliches Mitwirkungsrecht.

(9) Mitwirkungsrecht der Kommission Generelles Teilnahmerecht der Kommission mit Verpflichtung, auf Einigung hinzuwirken. Gravierendes mittelbares Mitwirkungsrecht: Es hängt von Kommission ab, ob es zu einem VA-Verfahren kommt. Spricht sich Kommission gegen eine EP-Änderung aus und billigt Rat diese Änderung nicht einstimmig, muß VA einberufen werden.

(10) Sperregeln gegen VA als "Überparlament" (a) In der Praxis zwei Hauptregeln: (aa) Prinzip des "Ne ultra petita" (hiervon wieder Ausnahme wegen Sachzusammenhang). (bb) Schutz des Initiativrechts und parlamentarisches Vorberatungsgebot. (b) Hingegen Zulassung offener Anrufung ohne Vorgaben an den VA (zum Teil in Verfassung selbst angelegt).

(10) Sperregeln gegen VA als "Überparlament" (a) Zwingendes Gebot konkreter Anrufung ("Konstruktive Anrufung"). EP kann zunächst nicht ablehnen, sondern nur Ablehnungsabsicht äußern. (b) Prinzipien des "Ne ultra petita" und des "parlamentarischen Vorberatungsgebotes" müssen noch herausgearbeitet werden.

(a) Verlangt das EP Änderungen und stimmt der Rat nicht allen Änderungen zu, muß der VA angerufen werden. (b) Äußert das EP die Absicht der Totalablehnung, kann der Rat nach politischem Ermessen den VA einberufen.

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(11) Arten der VA- Vorschläge

(11) Arten der VA-Vorschläge

(12) Verbund der VA-Vorschläge? Fakultativer Verbund nach der Geschäftsordnung. Wenn der VA dies beschließt, bindet es den Bundestag. In der Praxis fast immer angewandt. 6 •

(12) Verbund der VA- Vorschläge? Verbund ist zwingend vorgeschrieben.

(13) Zusatzänderungen über VA hinaus?

(13) Zusatzänderungen über VA hinaus?

(14) Mehrfachanrufungen zu einem Gesetz? (a) Bei Einspruchsgesetzen nur maximal ein Verfahren. (b) Bei Zustimmungsgesetzen: Maximal drei Vermittlungsverfahren.

(14) Mehrfachanrufungen zu einem EURechtsakt? (a) Verlangt EP Änderungen: Nur ein Vennittlungsverfahren (stimmt Rat allen Änderungen zu, dann ohne Vennittlungsverfahren). (b) Will EP zunächst ganz ablehnen: Maximal zwei Vennittlungsverfahren (das erste nur infonnativ).

(15) Symmetrie von Bundestag und Bundesrat in der Folgebehandlung ? Nein: (a) Bundestag stimmt laut Geschäftsordnung VA nur über Änderungen

(15) Symmetrie in der Folgebehandlung bei EP und Rat? Ja: Wenn beide Delegationen (EP und Rat) sich im Weg der dualen Mehrheit

Grundfalle: (a) VA schlägt teilweise Änderung des Gesetzes vor. (b) VA schlägt Aufhebung des Gesetzes vor. (c) VA schlägt unveränderte Beibehaltung des Gesetzes vor (sogenannte "Bestätigung"). (d) VA kommt wegen Patt bei der Abstimmung zu keinem Vorschlag.

Zusatzänderungen darf der Bundestag nicht vornehmen, dies wirkt dann auch für den Bundesrat.

Grundfälle sind: (a) Beim bloßen "Info-VA", wenn EP Ablehnungsabsicht geäußert hat, kein Änderungsvorschlag des VA zulässig. (b) Im übrigen muß ein gemeinsamer Entwurf des VA mit dualer Mehrheit (siehe oben 6) angenommen werden. Kategorien werden nicht unterschieden. (c) Aufhebungsvorschlag ist nicht erwähnt und offenbar unzulässig. (d) "Bestätigung" ist nur für den Fall der Nichteinigung im VA seitens des Rates vorgesehen, kann aber anderers als im deutschen System auch Änderungen enthalten.

Inhaltliche Zusatzänderungen ausgeschlossen.

6. Durch Beschluß des Dt. Bundestages vom 26. 4. 1995, dem der Bundesrat zugestimmt hat, ist nunmehr der Verbund bei Verfassungsänderungen eingeschränkt; vgl. BR-Drs. 229/95 und unten FN 14.

Der europäische Vermittlungsausschuß

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ab, Bundesrat aber über das Gesetz insgesamt. (b) Das Grundgesetz ließe aber wohl auch die symmetrische Lösung zu. (c) Fuktional am besten wäre evtl. Symmetrie bei Zustimmungsgesetzen und Asymmetrie bei Einspruchsgesetzen.

(oben 6) auf eine gemeinsame Fassung geeinigt haben, müssen beide Organe dem gesamten Neutext zustimmen. (Rat in der Regel mit qualifizierter Mehrheit)

(16) Regelung der Nichteinigung (a) Wegen der bloß "unitären" Mehrheit" (oben 6) ist der echte Fall der Nichteinigung nicht direkt geregelt. (b) Bei Einspruchsgesetzen ist VA je nach Mehrheitsverhältnissen oft nur formaler Durchlauf. (c) Der geschäftsordnungsmäßige Fall des fehlenden Einigungsvorschlages ist primär auf Patt-Situation im VA, nicht auf Einigung/Nichteinigung bezogen.

(16) Regelung der Nichteinigung Es existiert explizite Regelung der Nichteinigung auf der Basis der dualen Mehrheit im VA (oben 6): (a) Können sich beide Delegatione (EP und Rat) im VA nicht auf einen gemeinsamen Entwurf einigen, gilt der Rechtsakt zunächst als abgelehnt. (b) Wenn der Rat aber nun den gemeinsamen Standpunkt vor dem Vermittlungsverfahren, ggf. mit vom EP verlangten Änderungen, bestätig und das EP die Bestätigung nicht ablehnt, kommt der Rechtsakt doch noch zustande.

Ein zentraler Unterschied besteht ferner darin, daß dem Vermittlungsverfahren des Artikels 189 b EGVauch Divergenzen zwischen Rat und EP bei sogenannten Programmen 7 und Aktionen unterliegen, während das deutsche System sich auf Gesetze im formellen Sinn beschränkt. Die Rechtsakte des deutschen Bundesrechts und der EU sind aber ohnehin nur bedingt vergleichbar8 •

IV. "Entscheidungskompetenzen sind dem Vermiulungsausschuß nicht eingeräumt. Der Bundestag ist rechtlich nicht gehindert, einem Einigungsvorschlag die Zustimmung zu versagen 9 ... Mit dieser Ausführung in der einzigen grundsätzlichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Fragen des Artikel 77 Abs. 2 GG stellt das Gericht scheinbar unbestrittene Elementarelemente des deutschen Ge7 Fördermaßnahmen und Programme im Bereich der Artikel 126, 128, 129, 129a, 129d, 130 und 130 s unterliegen nach den im EGV näher festgelegten Bedingungen dem Vermittlungsverfahren; vgl. oben FN 4. 8 WeIchen Rechtsakt des deutschen Bundesrechts kann man z. B. mit dem Hauptrechtsakt der EU, den Richtlinien, vergleichen? Rahmengesetze nach Art. 75 GG ? 9 So BVerfGE 72, 175 ff. (188) (zum 2. Haushaltsstrukturgesetz)

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setzgebungsverfahrens klar. Doch ist die Feststellung so nicht zutreffend. Der deutsche Vermittlungsausschuß hat keineswegs nur eine vorbereitende Funktion, wie sie den Fachausschüssen von Bundestag und Bundesrat zukommt. Vielmehr muß man die Abgrenzung zwischen bloßen Vorbereitungs- und weitergehenden Entscheidungsfunktionen nach dem funktionalen Kriterium vornehmen: Inwieweit kann das Plenum eines Gesetzgebungsorgans eine (Mehrheits-)Entscheidung eines Ausschusses durch andere inhaltliche Entscheidungen ersetzen? Kann die Kammer voll abweichen, so besitzt ein Vermittlungsausschuß nur Vorbereitungsfunktion. Ist hingegen eine Kammer/ein Gesetzgebungsorgan oder beide teilweise gebunden, so besitzt der jeweilige Vermittlungsausschuß eben auch teilweise originäre Entscheidungsgewalt. Kann ein Gesetzgebungsorgan überhaupt nicht mehr anders handeln, als von einem Vermittlungsausschuß vorgeschlagen, so geht die Entscheidungskompetenz voll auf den Vermittlungsausschuß über; die Kammer hat nur noch notarielle Bestätigungsfunktion. In diesem Sinne muß man deshalb bei Vermittlungsausschüssen scharf trennen zwischen - positiver Entscheidungsfunktion und - negativer Entscheidungsfunktion. Der deutsche Vermittlungsausschuß hat eine zwar nicht positive, aber doch eine ganz starke negative Entscheidungs-Mitkompetenz. Seine Beschlüsse haben Sperrwirkung. Die bei den Gesetzgebungsorgane (Bundestag und Bundesrat) können zwar verhindern, daß ein inhaltlicher Vorschlag des VA später Gesetz wird. Sie können aber nach dem im Grundgesetz festgelegten System eben ihrerseits nicht nach einem Gesetzesbeschluß des Bundestages spätere Änderungen am Gesetz vornehmen, die nicht in einem Vermittlungs verfahren eine Mehrheit des Ausschusses gefunden haben. (V gl. dazu auch weiter unten VIII.) Beim europäischen Vermittlungsverfahren gilt eine Parallele: Eine positive Entscheidungskompetenz kommt auch dem europäischen Vermittlungsausschuß nicht zu. Vielmehr verlangt Artikel 189 b Abs. 5 EGV, daß bei Einigung über den Inhalt eines Rechtsaktes im Vermittlungsausschuß (dem sogenannten "gemeinsamen Entwurf') beide Gesetzgebungsorgane (EP und Rat) diesen zu billigen haben, wobei im EP die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen und im Rat die qualifizierte Mehrheit erforderlich ist (Nach offenbar unstrittiger Rechtsauffassung bedarf es im Rat allerdings dann der Einstimmigkeit, wenn aus anderen Artikeln des Vertrages diese herzuleiten ist). Nimmt eines der beiden Gesetzgebungsorgane den Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses nicht an, so gilt er als nicht angenommen. Nur teilweise parallel zum deutschen System ist die Regelung in Artikel 189 b Abs. 6 des EG-Vertrages: Wenn im europäischen Vermittlungsausschuß kein gemeinsamer Einigungsvorschlag zustande kommt, kann gleichwohl der Rat mit qualifizierter Mehrheit den früheren gemeinsamen Standpunkt oder aber den gemeinsamen Standpunkt mit den vom EP vorgeschlagenen Abänderungen nunmehr bestätigen. Wenn das EP hierauf nicht binnen sechs Wochen nach der Bestätigung

Der europäische Vennittlungsausschuß

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dies ablehnt IO, gilt der Rechtsakt als endgültig erlassen. Analog dem deutschen Vermittlungsverfahren ist also die Entscheidungs-Mitkompetenz des europäischen Vermittlungsausschusses schon dadurch eine nur eingeschränkte 11. Noch viel stärker reduziert sich auf der europäischen Ebene der Filter des Vermittlungsausschusses dadurch, daß dort das dem deutschen Recht völlig unbekannte Institut des "Änderungsdurchgriffs" gilt. Diesem interessanten Aspekt wollen wir uns im folgenden Abschnitt zuwenden.

V. I. Unter dem Begriff ,,Änderungsdurchgriff' soll folgendes Systemelement des Gesetzgebungsverfahrens einer Verfassung verstanden werden: Grundsätzlich sieht zwar die Verfassung zur Behebung von Meinungsverschiedenheiten zwischen zwei Kammern ein Vermittlungsverfahren vor. Es bleibt aber erlaubt, fakultativ auf eine Beratung im Vermittlungsausschuß zu verzichten, wenn die Kammer A Änderungen verlangt hat und die Kammer B erklärt, daß sie sämtliche Änderungen akzeptiert. Funktional gesehen bedeutet ein solcher Änderungsdurchgriff zweierlei: Erstens erlaubt er beiden Häusern, aus ökonomischen Gründen das Verfahren abzukürzen. Wenn man ohnehin (wenn auch vielleicht nur schweren Herzens) letztendlich bereit ist, alle Änderungsforderungen der anderen Kammer zu akzeptieren, erlaubt der Änderungsdurchgriff, auf ein Zwischenverfahren zu verzichten. Zweitens grenzt ein solches Institut damit auch die Macht des jeweiligen Vermittlungsausschusses ein, weil bei der Entscheidung, ob man die Änderungswünsche der zweiten Kammer sämtlich übernehmen will, alle Mitglieder der ersten Kammer voll gleichberechtigt abstimmen. 2. Das europäische Kodezisionsverfahren hat das Institut des Änderungsdurchgriffs explizit eingeführt. Artikel 189 b EGV bestimmt in Absatz 3: Billigt der Rat mit qualifizierter Mehrheit binnen drei Monaten nach Eingang der Abänderungen des EP alle diese Abänderungen, so ändert er seinen gemeinsamen Standpunkt entsprechend und erläßt den betreffenden Rechtsakt; über Abänderungen, zu denen die Kommission eine ablehnende Stellungnahme abgegeben hat, beschließt der Rat jedoch einstimmig. Erläßt der Rat den betreffenden Rechtsakt nicht, so beruft der Präsident des Rates im Einvernehmen mit dem Präsidenten des EP unverzüglich den VA ein. 10 So das Vennittlungsverfahren zur Richtlinie über den offenen Netzzugang beim Sprachtelefondienst: Man konnte sich im EU-VA nicht einigen, der Rat bestätigte hierauf seinen Standpunkt, das EP lehnte die Richtlinie in dieser Konzeption hierauf in der Sitzung am 19. 7. 1994 ab. 11 Auch für das deutsche Vermittlungsverfahren gilt ja, daß dann, wenn man sich im VA nicht einigen kann, gleichwohl Bundestag und Bundesrat ein Gesetz ohne Änderung billigen können bzw. bei Einspruchsgesetzen ein Einspruch des Bundesrates vom Bundestag überstimmt werden kann.

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Der Rat hat also anders als im deutschen System einen strategischen Spielraum. Er kann entscheiden, ob er sämtlichen Änderungsbegehren des EP von vornherein folgen will oder ob er über Anrufung des Vermittlungs ausschusses den Weg beschreiten will, daß nur ein Teil der Änderungsbegehren des EP im Ergebnis angenommen werden. Darüber hinaus enthält diese Regelung des EG-Vertrages eine sehr interessante mittelbare Gestaltungsbefugnis der Kommission hinsichtlich der Einleitung eines Vermittlungsverfahrens. Wenn etwa die Kommission weiß, daß ein bestimmtes Änderungsbegehren des EP jedenfalls auf den Widerspruch eines Mitgliedstaates stößt, kann es durch eine eigene ablehnende Stellungnahme zu diesem Punkt dazu zwingen, daß statt des Änderungsdurchgriffs der Vermittlungsausschuß einberufen werden muß. Wenn man will, kann man hier eine gewisse Parallele dazu ziehen, daß nach Artikel 77 Abs. 2 des Grundgesetzes bei Zustimmungsgesetzen auch die Bundesregierung den Vermittlungsausschuß anrufen kann, obwohl sie hinsichtlich der Festlegung des Divergenzumfanges zwischen Bundestag und Bundesrat eigentlich ausgeschlossen ist. Die Unterschiede der Rolle der Kommission und der Bundesregierung in den beiden Vermittlungsverfahren dürfen aber nicht übersehen werden. 3. Man kann die verfassungsrechtliche Frage stellen, ob etwa das deutsche Verfassungssystem im Gegensatz zu der bisher ständig geübten Staatspraxis vielleicht auch einen Änderungsdurchgriff analog dem europäischen System zuläßt oder jedenfalls eine solche Einführung des Instituts de lege ferenda zu empfehlen ist. a) Beginnen wir mit der ersten Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Einführung eines solchen Instituts. Die Einführung in das deutsche Gesetzgebungssystem würde folgendes bedeuten: Wenn der Bundesrat beispielsweise zu einem Gesetz die Einberufung des Vermittlungsausschusses verlangen würde, um diesen in drei Punkten zu ändern, würde die Zulassung des Instituts des Änderungsdurchgriffs bewirken, daß die Bundestagsmehrheit dann aus der Erwägung, das Gesetz möglichst rasch zu verabschieden, alle Punkte akzeptieren könnte. Dies würde förmlich vom Bundestag beschlossen. Der Bundespräsident fertigt dann das Gesetz aus. Wäre dies verfassungsrechtlich zulässig? Nach Auffassung des Verf. muß man die Frage verneinen. Zwar sind die Regelungen in Artikel 77 Abs. 2 GG äußerst knapp gehalten. Man wird aber die funktionale Auslegung (wenn der Bundestag eben alle Änderungen annimmt, bleibt kein funktionaler Spielraum für den Vermittlungsausschuß) nicht soweit vornehmen können, daß man hier das Tatigwerden des VA als gegenstandslos behandeln darf. Das ganze System der Absätze zwei bis vier des Artikels 77 und auch des Artikels 78 GG bauen auf der Einschaltung des Vermittlungsausschusses bei dessen Anrufung auf. Auch die Ermächtigung in Artikel 77 Abs. 2 Satz 2 GG, daß eine Geschäftsordnung unter anderem "das Verfahren" des VA regeln soll, wird man nicht soweit auslegen können, daß in der Geschäftsordnung die Zulassung eines Änderungsdurchgriffs vorgesehen werden könnte. b) Eine andere Frage ist, ob man de lege ferenda befürworten sollte, die Lösung des EG-Vertrages in Artikel 189 b Abs. 3 auch einmal für das Grundgesetz vorzu-

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sehen. In der Tat hält der Verf. die Regelung auf der europäischen Ebene nicht nur aus zeitlicher, sondern auch aus funktionaler Sicht für moderner. Ein Änderungsdurchgriff wäre auch für das deutsche Gesetzgebungsverfahren als Option für den Bundestag sinnvoll. Hier mag auch die sehr positive Erfahrung bei Änderungsverlangen des Bundesrates nach Artikel 80 Abs. 2 GG bei Verordnungen der Bundesregierung mit in die Erwägung einbezogen werden. Die große Mehrzahl (über 90 %) der dem Bundesrat vorgelegten Verordnungen werden, wenn der Bundesrat Änderungen verlangt, von der Bundesregierung so dann akzeptiert. In der Tat wäre wohl auch davon auszugehen, daß bei einer direkten Annahme-Option des Bundestages gegenüber vom Bundesrat verlangten inhaltlichen Änderungen (insbesondere mehr technischer Natur) Vermittlungsverfahren nicht erforderlich wären. Auf der anderen Seite eröffnet das obligatorische Vermittlungsverfahren den Weg, die Argumente des für und wider der jeweiligen gesetzlichen Regelung nochmals eingehend zu diskutieren. Ein direkter Änderungsbedarf wird also insoweit nicht gesehen.

VI. Im folgenden wenden wir uns der Frage "Duale oder unitäre Vermittlungsausschuß-Mehrheiten" zu. Dieser Aspekt mag im ersten Anschein zunächst als weniger bedeutend erscheinen. Nach Auffassung des Verf. stellt er aber einen der wichtigsten jedes Vermittlungs-Systems dar. 1. Das deutsche und das europäische Vermittlungsverfahren gehen zunächst beide von dem selben Grundsatz der paritätischen Besetzung aus. Im übrigen aber gibt es einen zentralen Unterschied hinsichtlich des Verfahrens, wie in beiden Vermittlungsausschüssen ein Einigungsvorschlag gegenüber den beiden Gesetzgebungsorganen zustande kommen kann. a) Nach dem deutschen Vermittlungssystem kommt es für die Frage, welchen Vorschlag der VA vorlegt, auf die einfache Mehrheit der Stimmen an, wobei Enthaltungen nicht gezählt werden. Liegen also zwei Kompromißvorschläge vor, von denen dem ersten mit 14: 12 Stimmen bei sechs Enthaltungen zugestimmt, dem zweiten mit 12: 14 Stimmen bei sechs Enthaltungen nicht zugestimmt wird, so wird der erste dem Bundestag als "Einigungsvorschlag" vorgelegt. b) Ganz anders ist das System beim europäischen VA mit dem Postulat der "dualen" Mehrheit. Nach der Regelung in Artikel 189 b Abs. 4 EGV müssen einem Einigungsvorschlag ("gemeinsamer Entwurf' genannt), zustimmen: Die Delegation des Rates mit qualifizierter Mehrheit, das heißt entsprechend der Gewichtung der Stimmen im Rat und zusätzlich die Mehrheit der EP-Delegation. Der Unterschied der beiden Mehrheitsprinzipien hat ganz gravierende Konsequenzen. Das duale Mehrheitsprinzip der europäischen Ebene führt dazu, daß

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schon im Vennittlungsverfahren eine Situation hergestellt wird, die ein Spiegelbild der Folgeentscheidungen in den beiden Häusern darstellt. Dies sichert zwar nicht zwingend die Annahme in beiden Kammern, erhöht aber die Wahrscheinlichkeit hierzu sehr. Beim deutschen Vermittlungsausschuß ist hingegen nur über eine spezielle Regelung der Beschlußfähigkeit ein Mindestmaß an Symmetrie verlangt, die aber mehr formaler Natur ist. Nicht unerwähnt sollte bleiben, daß das Prinzip der dualen Mehrheit auch beim Vorbild des deutschen Vennittlungsausschusses, nämlich den Konferenzkomitees des amerikanischen Kongresses gilt 12. Wenn in diesen Gremien darüber abgestimmt wird, ob den beiden Häusern (Senat und Repräsentantenhaus) ein Komprorniß vorgelegt wird, stimmen die beiden Bänke des Senats und des Abgeordnetenhauses jeweils für sich ab. 2. Während das Prinzip der dualen Mehrheit des europäischen VA im EG-Vertrag ausdrücklich festgelegt ist, läßt das Grundgesetz die Frage, ob nach der unitären oder der dualen Mehrheit vorgegangen werden soll offen. Artikel 77 Abs. 2 Satz 2 GG überläßt es ja ausdrücklich der Geschäftsordnung des VA (die vom Bundestag mit Zustimmung des Bundesrats zu beschließen ist), das nähere Verfahren auszugestalten. § 8 der Geschäftsordnung des deutschen VA legt fest, daß der Ausschuß seine Beschlüsse "mit der Mehrheit der Stimmen seiner anwesenden Mitglieder" faßt. Man kann daher die Frage stellen, ob es bei Offenheit der verfassungsrechtlichen Ausgangsbestimmungen nicht diskutabel wäre, wenn auch das deutsche Vermittlungsverfahren nach dem Prinzip der dualen Mehrheit gestaltet würde. Man war sich bei der Schaffung der Geschäftsordnung des deutschen Vennittlungsausschusses nach 1949 durchaus der Bedeutung dieser Frage bewußt 13 . Nach Auffassung des Verf. liegt eine differenzierende Antwort nahe: a) Jedenfalls bei Zustimmungs gesetzen, bei denen also Bundestag und Bundesrat eine gleichberechtigte Stellung inne haben, hat das Prinzip der unitären Mehrheit meines Erachtens Schwächen. Es hat wenig Sinn, wenn gegenüber der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt wird, daß der nach vertraulicher Sitzung vorgelegte Text als "Einigungsvorschlag" fungieren soll, während im Grunde eine streitige Abstimmung stattgefunden hat. Auch funktional gesehen bringt es wenig, wenn die Abstimmung im VA völlig offen läßt, wie die Akzeptanz in Bundestag und Bundesrat sein wird. b) Bei Einspruchsgesetzen ist die Position des Bundesrates nach dem im Grundgesetz angelegten System eine überwindbare. Hier spricht durchaus vieles für das jetzige Mehrheitsprinzip. Auf der anderen Seite muß man sehen, daß der optische Vgl. Hasselsweiler (FN 6), S. 25. Vgl. Wessel, Der Vennittlungsausschuß nach Art. 77 des Grundgesetzes: AöR 77 (1951/ 52), S. 283 ff. 12

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Eindruck eines ,,Einigungsvorschlages" dann, wenn sich im Verrnittlungsausschuß die Bewertungen der Vertreter der politischen Lager unversöhnlich gegenüberstehen, irreführend ist. c) Im Ergebnis wird man festhalten müssen, daß der Aspekt der Mehrheitsgestaltung wohl den stärksten Unterschied zwischen dem europäischen und dem deutschen Verrnittlungssystem beinhaltet.

VII. Wir kommen nunmehr zur Frage der Zusammensetzung des europäischen Vermittlungsausschusses. Dieser Aspekt zerfällt in zwei Teile, nämlich in die Frage 1. Soll der jeweilige Verrnittlungsausschuß als ständiger oder als ad hoc-Ausschuß eingerichtet werden? 2. Wie sollen die beiden Gesetzgebungsorgane jeweils im Verrnittlungsausschuß vertreten sein? Beide Aspekte sind allerdings miteinander verbunden. Für den deutschen Verrnittlungsausschuß gilt, daß die Zusammensetzung insgesamt nach Artikel 77 Abs. 2 Satz 2 GG der Geschäftsordnung des Ausschusses überlassen wird. Erstaunlicherweise ist nicht einmal das sich sozusagen aus der Natur der Sache ergebende Prinzip der paritätischen Besetzung im Grundgesetz selbst geregelt. Die Geschäftsordnung des deutschen VA hat aber von Anbeginn an festgelegt, daß die Länder und der Bundestag jeweils die gleiche Anzahl von Vertretern entsenden dürfen. Jedes ordentliche Mitglied hat einen persönlichen Vertreter, der nur anwesend sein darf, wenn das Hauptmitglied verhindert ist. Die Vertretung durch den Bundestag geschieht nach den proportionalen Gewichten der Fraktionen. Von Anbeginn an hat der deutsche Verrnittlungsausschuß auch das Prinzip verfolgt, als ständiger Ausschuß zu tagen. Die technische Regel zur Gewährleistung diese Grundsatzes ist die Geschäftsordnungsbestimmung, daß in einer Legislaturperiode nur viermal ein freiwilliger Wechsel je Mitglied stattfinden darf. Mit der Einrichtung eines ständigen Verrnittlungsausschusses hat sich das deutsche System ganz bewußt und entschieden von dem Vorbild, nämlich dem USASystem abgesetzt, wo bekanntlich ad hoc-Ausschüsse einen Ausgleich zwischen Senat und Repräsentantenhaus zu Gesetzesvorlagen herbeiführen sollen. Der europäische Verrnittlungsausschuß sieht hier einen Mittelweg zwischen den beiden Extremen vor. Anders als nach dem deutschen Verfassungsrecht ist auf der europäischen Ebene der Paritätsgrundsatz ausdrücklich im Vertrag festgeschrieben (Artikel 189 b Abs. 4 Satz 1 EGV). Das übrige ist Geschäftsordnungsrecht und Staatspraxis überlassen. Das EP hat durch ergänzende Bestimmungen seiner Geschäfts-

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ordnung festgelegt, daß es drei ständige Mitglieder des EP in den Vermittlungsausschuß entsendet, die aus Präsidenten oder Vizepräsidenten gebildet werden. Im übrigen sind je nach dem Inhalt der Vorlage hochrangige ad hoc-Mitglieder zu entsenden. Was den Rat angeht, so läßt der EG-Vertrag zu, daß neben den Mitgliedern des Rates auch deren Vertreter in den Vermittlungsausschuß entsandt werden dürfen. Dem Vernehmen nach besteht zwar ein starker Wunsch des EP, daß auch seitens des Rates die Mitgliedstaaten jeweils auf politischer Ebene vertreten sein sollen. Jedoch soll sich dieser Wunsch jedenfalls im Jahr 1994 bei den bisher durchgeführten Vermittlungs verfahren aus praktischen Gründen nicht durchgesetzt haben. Offenbar ist bei den Sitzungen des europäischen VA nur das präsidierende Land politisch, das heißt durch Minister oder Staatssekretär vertreten, während die sonstigen Mitgliedstaaten überwiegend aus den in Brüssel tätigen ständigen Vertretungen beschickt werden (V gl. dazu unten die Bilanz des EP in Teil IX.). Eine interessante Frage ist ferner, ob es auf der europäischen Ebene eine Analogie zu der Vorschrift des Artikel 77 Abs. 2 Satz 3 GG gibt, wonach die in den Vermittlungsausschuß entsandten Mitglieder des Bundesrates "nicht an Weisungen" ihrer Kabinette gebunden sind. Nach den dem Verf. zugegangenen Informationen wird teilweise, was die deutsche Vertretung im europäischen Vermittlungsausschuß angeht, das Problem als nicht so sehr praktisch relevant und eher abstrakt akademisch eingestuft. Eine Weisungsfreiheit der Vertreter der Mitgliedstaaten als solche für die Beratungen im europäischen Vermittlungsausschuß wird grundsätzlich zunächst nicht gesehen. Die Vertreter der Mitgliedstaaten seien verpflichtet, nach Möglichkeit den Standpunkt ihres Landes umzusetzen. Auf der anderen Seite sei allen klar, daß bei völliger Unbeweglichkeit beider Seiten ein Einigungsvorschlag gegenüber dem Rat und dem EP nicht zustande kommen kann (Das EP sieht den Aspekt offenbar anders; vgl. unten Teil IX.).

VIII. Bemerkenswert ist ferner ein Vergleich des europäischen und des deutschen Vermittlungssystems zur Behandlung von Einigungsvorschlägen im jeweiligen Folgeverfahren. 1. Wenn der deutsche Vermittlungsausschuß zu einem Gesetz einen Einigungsvorschlag vorlegt, hat der Bundestag hierüber erneut Beschluß zu fassen. Änderungsanträge zu dem Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses sind nicht zulässig. Diese Sperrwirkung findet sich explizit zwar nicht im Grundgesetz selbst, sondern nur in der gemeinsamen Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses, sie gilt aber seit 1949 und muß auch als notwendiges Kernstück des gesamten Vermittlungssystems bewertet werden: Wäre es zulässig, seitens der Fraktionen im Bundestag Abänderungsanträge zum Einigungsvorschlag zu stellen, würde das ganze Vermittlungsverfahren entwertet.

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Beim europäischen Vermittlungsausschuß ist die Regelung etwas komplizierter gefaßt. Zunächst gilt, daß nach dem Prinzip der dualen Mehrheit (siehe dazu oben VI. ) die beiden Delegationen (von Rat und von EP) sich auf einen gemeinsamen Text des Rechtsaktes einigen müssen. Nur hierüber ist dann im Rat und im EP abzustimmen. Insofern gilt also hier nach dem EG-Vertrag das Verbot von Änderungsanträgen ebenfalls. Ist es allerdings im Vermittlungsausschuß zu keinem gemeinsamen Einigungsvorschlag gekommen, so kann dort der Rat nach Ablauf der dem Vermittlungsausschuß gesetzten Frist den früheren Standpunkt - gegebenenfalls mit vom EP vorgeschlagenen Abänderungen - bestätigen und das EP dies dann auch annehmen. In diesem Fall ist der betreffende Rechtsakt doch noch zustande gekommen. 2. Eine weitere Frage betrifft den sogenannten Verbund der Einigungsvorschläge. Auch hinsichtlich dieses Aspektes ist die Situation im Verhältnis vom deutschen und europäischen Vermittlungsausschuß parallel geregelt: Was für den europäischen Vermittlungsausschuß ausdrücklich im EG-Vertrag vorgeschrieben ist, findet sich für den deutschen Vermittlungsausschuß durch § 10 der Geschäftsordnung fakultativ vorgeschrieben. Artikel 189 b EG-Vertrag behandelt den aus dem Vermittlungsausschuß zurückkommenden von beiden Delegationen gebilligten Text ohnehin als Einheit. Nur über ihn als Gesamtes können EP und Rat befinden, nicht über Teile des Einigungsvorschlages. Demgegenüber stellt es § 10 der Geschäftsordnung des deutschen Vermittlungsausschusses ausdrücklich in das Ermessen des Vermittlungsausschusses, zu bestimmen, daß über die Punkte des Einigungsvorschlages im Bundestag gemeinsam abzustimmen ist. In der Praxis wird fast immer vom Vermittlungsausschuß bestimmt, daß über mehrere Änderungen des Gesetzesbeschlusses einheitlich abzustimmen ist 14 . 3. Eine Sonderfrage betrifft den Aspekt des "Verbots der Debatte". Eigenartigerweise enthält § 10 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses für die Behandlung der Einigungsvorschläge im Bundestag auch das Verbot einer Debatte. Absatz 2 lautet: "Der Bundestag stimmt nur über den Einigungsvorschlag ab. Zu dem Vorschlag können vor der Abstimmung Erklärungen abgegeben werden. Ein anderer Antrag zur Sache ist nicht zulässig." Die Geschäftsordnung des Bundesrates kennt demgegenüber eine solche eingrenzende Regelung nicht. Sie ist auch dem EG-Vertrag für die Beratung von Einigungsvorschlägen des europäischen Vermittlungsausschusses im EP fremd. Manche Ergebnisse des Vermittlungsverfahrens sind im EP auch sehr eingehend erörtert worden 15 . Es ist eigenartig, daß das Debattenverbot zwar für den Bundestag gilt, sich aber weder wie er14 Zur scharfen Kritik an dem besonderen Verfahren der Koppelung von Einigungselementen bei der Verfassungsreform s. Voscherau in der 674. Sitzung des Bundesrates am 23. 9. 1994, Steno Protokoll S. 505/506 (die Bildung derartiger Pakete dürfe nicht wiederholt werden). Als Folge ist die Geschäftsordnung geändert worden, vgl. FN 6a. 15 Vgl. Z. B. die ausführliche Debatte des Vermittlungsverfahrens zur Telefonrichtlinie in der EP-Sitzung am 19.7. 1994, abgedruckt im Amtsblatt der EG, Anhang, Nr. 4-449, S. 911.

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wähnt beim Bundesrat noch auf europäischer Ebene findet. Auch vom Selbstverständnis eines Gesetzgebungsorgans aus gesehen ist diese Regelung befremdlich. Der Verf. hält sie sogar für möglicherweise verfassungswidrig: Gerade dann, wenn wesentliche Inhalte eines Gesetzes durch ein Sonderorgan (Vermittlungsausschuß) gestaltet worden sind, einzelne Abgeordnete also in der Regel wenig Einfluß auf den Verfahrensgang haben konnten, muß doch die Möglichkeit bestehen, zumindest in einer Debatte auf Probleme hinzuweisen, die nach Auffassung des Abgeordneten nach wie vor bestehen. Das Hauptargument hinsichtlich der Verfassungswidrigkeit ist aber daraus herzuleiten, daß die funktionalen Erwägungen, die die Gefahr des Auseinanderbrechens eines Einigungsvorschlages vermeiden sollen, hinsichtlich des Debattenverbotes nicht greifen. Die Ermächtigung in Artikel 77 Abs. 2 Satz 2 GG ist überschritten, wenn eine Vorschrift der Geschäftsordnung nicht nur den inhaltlichen Schutz eines Einigungsvorschlages des Vermittlungsausschusses bewirkt, sondern es Abgeordneten untersagt, zu dem Ergebnis in öffentlicher Sitzung Stellung zu nehmen. 4. Wir kommen zu dem Aspekt der symmetrischen oder asymmetrische Behandlung der Einigungsvorschläge. a) Für den europäischen Vermittlungsausschuß ist die Verfassungsrechtslage eindeutig: Das EP und der Rat haben völlig gleichwertig den Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses anzunehmen. Hierbei ist im EP die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen und im Rat die qualifizierte Mehrheit erforderlich. Billigt der europäische Vermittlungsausschuß keinen gemeinsamen Entwurf, ist wie erwähnt die Verfahrenslage nach Artikel 189 b Abs. 6 EGV zwar etwas modifiziert ausgestaltet, aber ebenfalls auf dem Prinzip der Symmetrie. b) Ganz anders ist die Lage im deutschen Vermittlungsverfahren: Während der Bundestag nur über die Änderungen seines ursprünglichen Gesetzesbeschlusses abzustimmen hat, diese also annehmen oder verwerfen kann, stimmt der Bundesrat dann über das Gesetz insgesamt ab. Dies Verfahren ist von 1949 bis heute unverändert eingehalten worden. Es hat zur Konsequenz, daß der Bundestag in einer strategisch viel besseren Situation dasteht als der Bundesrat. Lehnt der Bundestag nämlich ein Vermittlungsausschußergebnis ab, kann er die Verantwortung für das Scheitern des Gesetzes immer noch dem Bundesrat zuweisen. c) Eine interessante verfassungsrechtliche Frage ist, ob dies seit 1949 angewendete Verfahren außer in der Geschäftsordnung auch ausdrücklich im Grundgesetz selbst verankert ist. Ich möchte die Frage, die in der Literatur wenig diskutiert wird, eher verneinen. Artikel 77 Abs. 2 Satz 5 GG bestimmt nur, daß, wenn der Vermittlungsausschuß eine Änderung des Gesetzesbeschlusses vorschlägt, "der Bundestag erneut Beschluß zu fassen" hat. Er legt aber nicht zwingend fest, wie denn dieser Beschluß verfahrensmäßig zu gestalten ist. Deshalb wäre verfassungs-

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rechtlich wohl auch der Weg zugelassen, daß die Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses in § 10 ein anderes System wählen würde, nämlich dahingehend, daß der Bundestag über das Gesetz in der vom Vermittlungsausschuß vorgeschlagenen Fassung insgesamt zu befinden hat und hierauf der Bundesrat. Im Grunde enthält das gegenwärtige System eine sonderbare Schieflage: Wenn beispielsweise der Bundesrat zehn Änderungen des Gesetzes verlangt, im Vermiulungsausschuß aber nur vier Änderungen angenommen worden sind, liegt doch in der beschränkten Annahme in der Regel der Komprornißvorschlag. Es wäre daher eventuell folgerichtig, wenn der Bundestag über das Gesetz in seiner Gesamtheit, wie es der Vermittlungsausschußmehrheit vorgeschwebt hat, zu befinden hat und nicht nur über die Änderungspunkte als solche.

IX. Nach Ablauf von knapp einem Jahr Tätigkeit des EU-VA hat das EP, dessen Gewichtsverstärkung ja das Hauptziel der neuen Regelung des Artikels 189 b EGV ist, im Frühjahr 1995 unter Federführung der Vizepräsidenten des EP Fontaine, Avgerinos und Verde i Alegra eine umfangreiche Bilanz der bisherigen Erfahrungen gezogen 16 . Sie setzte eine erste Bilanz vom Juni 1994 fort 17 . Die dort enthaltenen Zahlenangaben sollen hier nicht näher repetiert werden, da ja ohnehin Zahlenangaben sich fortlaufend korrigieren. Zu erwähnen ist, daß über den dortigen Bericht hinaus nun erstmals der Fall eingetreten ist, daß das EP einen von beiden Delegationen, also auch von der Delegation des EP, angenommenen Komprornißvorschlag abgelehnt hat, das Rechtsetzungsverfahren also gescheitert ist: Am 1. März 1995 lehnte das EP den Kompromißvorschlag zur sog. BiopatentRichtlinie mehrheitlich ab. Im folgenden sollen aus der Bilanz des EP vom Februar 1955 vor allem die Kernelemente der strukturellen Aussagen hervorgehoben werden. Wenn auch in diesem Bericht zutreffend die Einschränkung gemacht wurde, daß eine Bilanz, die sich nur auf Erfahrungen von weniger als einem Jahr praktischer Tätigkeit des EUVA stützen könne, notwendig eine vorläufige und fragmentarische sei, sind die Schlußfolgerungen doch recht aufschlußreich. 1. Im EP-Bericht wird zunächst hervorgehoben 18 , der EU-VA sei ein Schlüsselelement für die Durchführung des neuen Mitentscheidungsverfahrens. Bei seinen Beratungen seien unausweichlich nicht nur die zu jedem Thema sich ergebenden sachlichen Bewertungsdivergenzen, sondern auch die sachbereichsübergreifenden institutionellen und haushaltspolitischen Meinungsunterschiede aufeinander ge-

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Vgl. Dokumente des EP in PE 211.521 und 211.522. Bericht des Sekretariats des EU-VA vom 23. 6. 1994, DOC -DEI DV/253629. Vgl. Dokument PE 211.521.

13 Festschrift Böckenförde

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troffen. Die Mitglieder der Delegation des EP hätten sich bei den Beratungen im EU-VA nicht nur darum bemüht, ein für das EP günstiges Kräfteverhältnis zu schaffen, sondern gerade auch die Wahrung des Geistes des Vertrages über die Europäische Union zum Ziel gehabt. Soweit es unterschiedliche Auffassungen innerhalb der EP-Delegation gegeben habe, seien die 30 Mitglieder der Delegation gehalten, gemeinsam ihre Meinungsunterschiede auszuräumen, um zu gemeinsamen Entwürfen zu gelangen. Es gehe darum zu beweisen, "daß die Mitentscheidung funktioniert", daß dieses Verfahren der Forderung nach mehr Transparenz und mehr Demokratie entspreche und allgemein eingeführt werden könne. 2. In vieler Hinsicht sei - so weiter die EP-Bilanz - die bisherige Tätigkeit des EU-VA als positiv zu bewerten. Seit Inkrafttreten des Vertrages über die EU seien bis Februar 1995 124 Vorschläge für Rechtsvorschriften dem EP nach dem Verfahren der Mitentscheidung übennittelt worden. Von 33 gemeinsamen Standpunkten, die dem EP vorlagen, seien in diesem Zeitraum 15 an den EU-VA überwiesen worden. In elf Fällen konnte ein gemeinsamer Entwurf gebilligt werden. In einem Fall, nämlich bei der Vorlage über einheitliche Regelungen in der EU zum Sprachtelefondienst, sei der EU-VA nicht zu einem Kompromiß, d. h. einem gemeinsamen Entwurf gelangt. Der Rat habe zwar daraufhin seinen gemeinsamen Standpunkt nochmals bestätigt, das EP diesen aber dann abgelehnt, so daß die Vorlage gescheitert ist. Der EP-Bericht betont, daß in den bis Februar 1995 elf erfolgreichen Vennittlungen praktisch alle Änderungen des EP, die dort mit qualifizierter Mehrheit angenommen worden waren, dann auch wortgetreu oder sinngemäß übernommen worden seien. 3. Kritisch weist der EP-Bericht allerdings darauf hin, daß trotz des sorgfältig gewahrten Grundsatzes des Ko-Vorsitzes bei den Beratungen des EU-VA sich in manchen Fällen Konfrontationen der beiden Delegationen des EP und des Rates nicht hätten vermeiden lassen. Dies sei insbesondere in letzter Zeit zu registrieren. Als Beispielsfälle werden die Beratungen zu den EU-Vorlagen über Verpackungen, biotechnische Entwicklungen, zum Programm Sokrates und Programm Jugend für Europa genannt. Andererseits sei festzustellen, daß der "beiderseitige Erfolgswille" im Verlauf der Sitzungen durchaus stärker geworden sei. 4. Hinsichtlich des besonderen Weges, der bei der Zusammensetzung der EPDelegation gewählt worden ist und der sich sowohl vom deutschen wie vom amerikanischen System unterscheidet (vgl. oben Teil VII.), kommt die EP-Bilanz zu einer grundsätzlich positiven Bewertung: Die Zusammensetzung der EP-Delegation aus ständigen Mitgliedern und den Ausschußvorsitzenden, Berichterstattern und sonstigen mit den anstehenden Fragen am meisten befaßten Mitgliedern sei ausgewogen. Die Delegation verfüge auch über die erforderliche Autonomie, da sie ein offenes Verhandlungsmandat habe. 5. Kritisch bewertet die Bilanz des EP, daß die Delegation des Rates nicht nur zersplittert sei, was naturgemäß der Fall sein müsse. Die Mitgliedstaaten seien lei-

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der darüber hinaus praktisch nie auf Ministerebene vertreten (mit Ausnahme des amtierenden Ratspräsidenten). Daher verfügten die ständigen Vertreter (meist Stellvertreter) über keinerlei Handlungsspielraum bei den EU-VA-Beratungen. 6. Als reformbedürftig wird in der EP-Bilanz ferner geltend gemacht: Das Verfahren des Artikels 189 b EGV sei "ziemlich schwerfällig und vielschichtig". Schon jetzt, d. h. bei nur begrenzter Geltung des Artikels 189 b EGV (vgl. dazu oben Teil I) seien die Sitzungen sehr häufig (ein oder zwei pro Woche), wobei die Sachzwänge eines strukturierten Zeitplanes ignoriert würden. Bei einer allgemeinen Einführung des Mitentscheidungsverfahrens wäre die Zahl der Rechtsakte, die den EU-VA passieren müßten, noch sehr viel größer. Daher sei zumindest erforderlich, für eine bessere Progammplanung zu sorgen und die Texte zu "Paketen" zusammenzufassen. Die Delegation des Rates sollte auf politischer Ebene vertreten sein. Dies würde ein einheitliches Auftreten des Rates erleichtern und den Handlungsspielraum seiner Delegationsmitglieder vergrößern. 7. Hinsichtlich der Verfahren wird kritisiert, das Ungleichgewicht zwischen den beiden erforderlichen Mehrheiten (qualifizierte Mehrheit für die Ablehnung eines gemeinsamen Standpunktes, einfache Mehrheit für die Annahme eines gemeinsamen Entwurfs) sei widersinnig, da es den Handlungsspielraum des EP schwäche. Man könnte an eine Harmonisierung der Abstimmungsregeln denken.

x. Auszug aus dem EG-Vertrag Die Grundregel über das europäische Vermittlungsverfahren, Artikel 189 b EGV, lautet: (1) Wird in diesem Vertrag hinsichtlich der Annahme eines Rechtsakts auf diesen Artikel Bezug genommen, so gilt das nachstehende Verfahren. (2) Die Kommission unterbreitet dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Vorschlag. Der Rat legt mit qualifizierter Mehrheit und nach Stellungnahme des Europäischen Parlaments einen gemeinsamen Standpunkt fest. Dieser gemeinsame Standpunkt wird dem Europäischen Parlament zugeleitet. Der Rat unterrichtet das Europäische Parlament in allen Einzelheiten über die Gründe, aus denen er seinen gemeinsamen Standpunkt festgelegt hat. Die Kommission unterrichtet das Europäische Parlament in allen Einzelheiten über ihren Standpunkt. Hat das Europäische Parlament binnen drei Monaten nach der Übermittlung a) den gemeinsamen Standpunkt gebilligt, so erläßt der Rat den betreffenden Rechtsakt endgültig entsprechend diesem gemeinsamen Standpunkt; \3*

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b) nicht Stellung genommen, so erläßt der Rat den betreffenden Rechtsakt entsprechend seinem gemeinsamen Standpunkt; c) mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder die Absicht geäußert, den gemeinsamen Standpunkt abzulehnen, so unterrichtet es den Rat unverzüglich hiervon. Der Rat kann den in Absatz 4 genannten VermiUlungsausschuß einberufen, um seinen Standpunkt ausführlicher darzulegen. Daraufhin bestätigt das Europäische Parlament mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder die Ablehnung des gemeinsamen Standpunkts, womit der vorgeschlagene Rechtsakt als nicht angenommen gilt, oder es schlägt nach Buchstabe d Abänderungen vor; d) mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder Abänderungen an dem gemeinsamen Standpunkt vorgeschlagen, so wird die abgeänderte Fassung dem Rat und der Kommission zugeleitet; die Kommission gibt eine Stellungnahme zu diesen Abänderungen ab. (3) Billigt der Rat mit qualifizierter Mehrheit binnen drei Monaten nach Eingang der Abänderungen des Europäischen Parlaments alle diese Abänderungen, so ändert er seinen gemeinsamen Standpunkt entsprechend und erläßt den betreffenden Rechtsakt; über Abänderungen, zu denen die Kommission eine ablehnende Stellungnahme abgegeben hat, beschließt der Rat jedoch einstimmig. Erläßt der Rat den betreffenden Rechtsakt nicht, so beruft der Präsident des Rates im Einvernehmen mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments unverzüglich den Vermiulungsausschuß ein. (4) Der VermiUlungsausschuß, der aus den Mitgliedern des Rates oder deren Vertretern und ebenso vielen Vertretern des Europäischen Parlaments besteht, hat die Aufgabe, mit der qualifizierten Mehrheit der Mitglieder des Rates oder deren Vertretern und der Mehrheit der Vertreter des Europäischen Parlaments eine Einigung über einen gemeinsamen Entwurf zu erzielen. Die Kommission nimmt an den Arbeiten des Vermiulungsausschusses teil und ergreift alle erforderlichen Initiativen, um auf eine Annäherung der Standpunkte des Europäischen Parlaments und des Rates hinzuwirken. (5) Billigt der VermiUlungsausschuß binnen sechs Wochen nach seiner Einberufung einen gemeinsamen Entwurf, so verfügen das Europäische Parlament und der Rat ab dieser Billigung über eine Frist von sechs Wochen, um den betreffenden Rechtsakt entsprechend dem gemeinsamen Entwurf zu erlassen, wobei im Europäischen Parlament die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen und im Rat die qualifizierte Mehrheit erforderlich ist. Nimmt eines der beiden Organe den vorgeschlagenen Rechtsakt nicht an, so gilt er als nicht angenommen. (6) Billigt der Vermittlungsausschuß keinen gemeinsamen Entwurf, so gilt der vorgeschlagene Rechtsakt als nicht angenommen, sofern nicht der Rat binnen sechs Wochen nach Ablauf der dem Vermiulungsausschuß gesetzten Frist mit qualifizierter Mehrheit den gemeinsamen Standpunkt, den er vor Eröffnung des Vermittlungsverfahrens gebilligt hatte, gegebenenfalls mit vom Europäischen Parla-

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ment vorgeschlagenen Abänderungen bestätigt. In diesem Fall ist der betreffende Rechtsakt endgültig erlassen, sofern nicht das Europäische Parlament die Vorlage binnen sechs Wochen nach dem Zeitpunkt der Bestätigung durch den Rat mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder ablehnt; der vorgeschlagene Rechtsakt gilt dann als nicht angenommen. (?) Die in diesem Artikel genannten Fristen von drei Monaten bzw. sechs Wochen können im gegenseitigen Einvernehmen zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat um höchstens einen Monat bzw. zwei Wochen verlängert werden. Die in Absatz 2 genannte Dreimonatsfrist verlängert sich im Fall der Anwendbarkeit des Absatzes 2 Buchstabe c automatisch um zwei Monate.

(8) Der Anwendungsbereich des in diesem Artikel beschriebenen Verfahrens kann nach dem Verfahren des Artikels N Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union auf der Grundlage eines dem Rat von der Kommission spätestens 1996 zu unterbreitenden Berichts erweitert werden.

Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit Fragen zum neuen Art. 24 Abs. 1a GG Von Klaus Rennert, Karlsruhe

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit seinen Entscheidungen zum Kommunalwahlrecht für Ausländer) und zum Vertrag von Maastricht2 aus unterschiedlicher Perspektive zu den auswärtigen Implikationen des grundgesetzlichen Demokratiebegriffs Stellung genommen. Beidesmal hat Ernst-Wolfgang Bökkenförde mitgewirkt. Der Anteil des einzelnen Richters am Spruch eines Kollegiums läßt sich nicht bemessen; aus den Kenntnissen und Erkenntnissen eines jeden entsteht ein neues Ganzes. Der gehörige Respekt vor dem Kollegium dürfte es aber erlauben, eine Beziehung herzustellen zu Böckenfördes wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Souveränitäts- und Demokratiebegriff, die er zuletzt im "Handbuch des Staatsrechts" von Isensee und Kirchhofniedergelegt hat. 3 Es ist die Eigenart theoretischer Erkenntnis, von der Praxis immer neu herausgefordert zu werden. Einer derartigen neuen Herausforderung gelten die nachstehenden Zeilen, die Ansätze der genannten höchstrichterlichen Entscheidungen an der gegebenen Stelle aufgreifen und dabei zugleich Böckenfördes Demokratieverständnis verpflichtet sind. I.

Staatsgrenzen überschreitende Zusammenarbeit lokaler und regionaler öffentlicher Verwaltungen4 besitzt mittlerweile einige Tradition, nicht nur an den BinnenBVeIfGE 83, 37 ff. BVeIfGE 89, 155 ff. 3 E.-W Böckenförde, Artikel "Demokratie als VeIfassungsprinzip", in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I (1987), 887 ff.; vgl. auch ders., Art. "Demokratische Willensbildung und Repräsentation", ebenda, Bd. 11 (1987), 29 ff. 4 Aus der Literatur vor allem Malchus, Partnerschaft an europäischen Grenzen (1975); Bothe, Rechtsprobleme grenzüberschreitender Planung, AöR 102 (1977), 68ff.; Oehm, Rechtsprobleme Staatsgrenzen überschreitender Zusammenarbeit (1982); Mattar, Die Staats- und Landesgrenzen überschreitende kommunale Zusammenarbeit (1983); Ernst Georg Mayer, Auslandsbeziehungen deutscher Gemeinden (1986); Beyerlin, Rechtsprobleme der lokalen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit (1988); Heberlein, Kommunale Außenpolitik als I

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grenzen der Europäischen Gemeinschaft - für deutsche Verwaltungsträger vor allem mit Partnern im BENELUX-Raum und Frankreich -, sondern auch zu den traditionell westlich geprägten Nicht-EG-Mitgliedern - Schweiz, bis 1994 Österreich -. Kooperiert wird neuerdings zunehmend auch mit Ländern des ehemaligen Ostblocks. 5 Gefordert und gefördert wird di«s durch Initiativen des Europarats, vor allem auf der Grundlage des Madrider Rahmenübereinkommens vom 23. 10. 1981,6 und der Europäischen Union.? Mit Schwerpunkt im kommunalen Bereich haben sich vielfältige Kooperationsfonnen herausgebildet, die sich - bei aller Schwierigkeit der Zuordnung im einzelnen - nach unverbindlichen und verbindlichen gruppieren lassen. 8 Unter die unverbindlichen lassen sich sowohl lockere konsultative wie festere institutionalisierte ("ARGE") Absprachefonnen fassen; die Partner werden in ihrer Willensbildung hier rechtlich nicht detenniniert. Bei den verbindlichen Kooperationsfonnen unterscheidet man zweckmäßig zwischen Vereinbarungen, die lediglich auf den Austausch von Verwaltungsleistungen zielen und daher Verbindlichkeit (nur) für die Partner beanspruchen, und solchen, die die Bildung eines neuen Verwaltungsträgers betreffen und dessen Akten Verbindlichkeit auch für Dritte - insb. Bürger beilegen wollen. Gerade diese verselbständigten Träger werden vielfach dem öffentlichen Recht unterstellt sein (Zweckverbände); doch ist nicht ausgeschlossen, daß auch ein privatrechtlich organisierter Träger mit Hoheitsrechten beliehen werden sol1. 9 Rechtsproblem (1989); Rauser, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf ausländische Staaten (1991). 5 Eine Zusammenstellung von Staatsverträgen und Verwaltungsabkommen der deutschen Länder mit auswärtigen Staaten bieten Rojahn in: von Münch (Hrsg.), GG-Kommentar, 2. Band, 2. Auf!. 1983, Art. 32 (Anhang); Beyerlin (Fn. 4), 61 ff. 6 Europäisches Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften vom 23. 10. 1981 (BGBI 1981 11 965); dazu Beyerlin, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Europa, ZaöRV 40 (1980), 573ff.; ders. (Fn. 4), 112 ff., Text 474 ff. - Einschlägig auch Art. 10 Abs. 3 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung vom 15. 10. 1985 (BGBI 198711 65); dazu Knemeyer, Die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, DÖV 1988, 997 ff. 7 Eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit verlangt die Vergabe von Subventionsmitteln der EG nach dem INTERREG-Programm. Hierzu Autexier, Gemeinsame LothringischSaarländische administrative Einrichtungen und Verfahrensweisen, Rechtsgutachten für das Ministerium des Saarlandes vom 15.04. 1993, zit. nach dem Manuskript, S. 130ff. (jetzt veröff. als Nr. 6 der Schriftenreihe "Etudes et documents du Centre d'Etudes juridiques francaises" der Universität des Saarlandes); vgl. auch lustizministerium des Saarlandes, Vermerk o.D. (August 1991) für den Arbeitsausschuß I der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates - zit. als "Saar\. Vermerk" -, Nds. über die 4. Sitzung des Arbeitsausschusses am 26. 09. 1991, S. 133 ff., 160 ff. Nicht hierher gehört dagegen der neue Ausschuß der Regionen der EG nach Art. 4 Abs. 2, Art. 198a-198c EG V i.d.F. des Vertrages über die Europäische Union - Maastricht-Vertrag - vom 07. 02. 1992 (BGBI 199211 1251