Der Sitz der Sprache im Leben: Beiträge zu einer kulturanalytischen Linguistik 9783110288698, 9783110288438

'linguistic history as a history of mentalities', 'linguistic hermeneutics', and 'affective lex

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Der Sitz der Sprache im Leben: Beiträge zu einer kulturanalytischen Linguistik
 9783110288698, 9783110288438

Table of contents :
Forschungsfelder kulturanalytischer Linguistik: Entwürfe
Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte
Linguistische Anthropologie
Linguistische Hermeneutik
Diskurshermeneutik
Lexikalische Semantik und Lexikographie: Jenseits von Kognition
Kognition, Emotion, Intention
Brisante Wörter
Appellfunktion und Wörterbuch
Begriffe als wissenschaftliche Arbeitsinstrumente
Attitude, Einstellung, Haltung
Sprache, Kultur und Identität
Wortgeschichtliche Analysen zur Zeitgeschichte
Arbeit
Deutsch und Deutschland
Die Globalisierung
Krieg gegen den Terrorismus
Zur Pragmatik von Kommunikation
Slogans und Schlagwörter
Schmollen ist ein Kommunikationsversuch
Zum Schluss
Mit freundlichen Grüßen

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Fritz Hermanns Der Sitz der Sprache im Leben

Fritz Hermanns

Der Sitz der Sprache im Leben Beiträge zu einer kulturanalytischen Linguistik

Herausgegeben von Heidrun Kämper, Angelika Linke, Martin Wengeler

De Gruyter

Mit freundlicher Genehmigung der Erben nach Dr. Fritz Hermanns

ISBN 978-3-11-028843-8 e-ISBN 978-3-11-028869-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar . Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

» Man liest . Und liest . Und liest . [ … ] Man schreibt . Und schreibt . Und schreibt . « Fritz Hermanns’ Beiträge zur kulturanalytischen Linguistik

Mit dem vorliegenden Band wollen wir programmatische Aufsätze aus dem linguistischen Werk des 2007 verstorbenen Heidelberger Linguisten Fritz Hermanns in konzentrierter Weise zugänglich machen. Der Band wendet sich entsprechend der theoretischthematischen Ausrichtung der Beiträge vor allem an kulturwissenschaftlich interessierte Leser und Leserinnen aus der Linguistik wie aus ihren Nachbardisziplinen. Fritz Hermanns hat die kulturwissenschaftliche Linguistik in hohem Maß inspiriert und ihr Wege gewiesen. Seine Leistung besteht in einem unverwechselbaren Umgang mit seinem Gegenstand – der Sprache und dem Gebrauch, den wir von ihr machen. Sein Zugang zu diesem Gegenstand ist dadurch gekennzeichnet, dass er Sprache als Medium von Wissensformung wie von Sinnstiftung versteht und der Einbezug soziologischer, kultureller und historischer Bezüge deshalb einen unabdingbaren Teil seiner Analysen bildet. Gleichzeitig ist sein Vorgehen durch eine besondere Art der Reduktion gekennzeichnet, die den Blick auf das Wesentliche und im allerbesten Sinne Einfache zu richten erlaubt. Fritz Hermanns war ein anregender, die zentralen Fragen der kulturwissenschaftlichen Linguistik nicht nur stellender, sondern sie auch beantwortender Sprachgelehrter. Er hat nicht nur erkannt, dass eine Besinnung der Linguistik auf ihre Ursprünge in der Philologie und der Hermeneutik und auf ihre eigentliche Aufgabe – nämlich zum Verständnis von Sprache im Gebrauch zu verhelfen – nottut. Er hat diese Erkenntnis auch umgesetzt, in seinen empirischen Analysen ebenso wie in seinen methodischen Konzeptionen. Der im linguistischen Mainstream vorherrschenden Fokussierung auf die darstellend-repräsentative Funktion von Sprache hat er eine Auseinandersetzung mit der emotiven wie der appellativ-volitiven Funktion von Sprache an die Seite gestellt. Sein Interesse galt dem Sitz der Sprache im Leben. Wenn Fritz Hermanns Sprachanalyse betrieb, so tat er das zwar auch, um Sprache und ihre Systematik besser zu verstehen, aber noch wichtiger war ihm, aus linguistischer Perspektive zum Verständnis und zur Erklärung von politischen Diskursen, von kulturellen Entwicklungen, von gesellschaftlichen Fremd- und Selbstbildern und damit letztlich zum Verständnis von

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Vorwort

Geschichte beizutragen. Viele seiner linguistischen Beiträge sind deshalb gleichzeitig minutiöse Analysen zur Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts. Er hat auf diese Weise die kulturwissenschaftliche Linguistik in die Wissenschaftsgeschichte eingeschrieben und ihre interdisziplinären Verflechtungen sowohl aufgezeigt als auch in innovativer Weise produktiv gemacht, sei dies mit Blick auf sozialgeschichtliche, soziopsychologische, kulturgeschichtliche oder semiotische Bezüge. Fritz Hermanns war skeptisch gegenüber fachsprachlicher Überterminologisierung. Gleichzeitig hat er sich in seinen Arbeiten intensiv mit linguistischen Termini und wissenschaftlicher Begriffsbildung auseinandergesetzt und dabei aufgezeigt, dass und wie Wörter als »Abbreviaturen von Gedanken« nicht nur unser Alltagswissen prägen, sondern auch relevanter Faktor wissenschaftsgeschichtlicher Entwicklungen sind. Entsprechend wichtig war es ihm, seinen eigenen analytischen Zugriff auf Sprache und Sprechen in möglichst präziser Kategorienbildung zu kondensieren und auf klare und sprechende Begriffe zu bringen. Linguistische Hermeneutik (im Sinn einer » Sprachverstehenswissenschaft« ), linguistische Anthropologie (verstanden als die »Beschreibung sprachgeprägter Menschenbilder« ), linguistische Mentalitätsgeschichte (als die Analyse der in der Sprache gefassten »Gesamtheit von Dispositionen zu einer Art des Denkens, Fühlens, Wollens [ … ] einer Kollektivität« ) sind Hermanns’sche Kategorien, die der methodischen Präzisierung kulturwissenschaftlicher Linguistik gedient haben. Deontische Bedeutung , Fahnenwort , Totalitätsbezeichnung , Haltung sind Beschreibungstermini, mit denen ihre Befunde adäquat gesichert werden. Fritz Hermanns hat auf diese Weise geistesscharfe Sprachanalysen vorgelegt, die weit über die Linguistik hinaus wissenschaftliche Relevanz haben. Wir stellen in diesem Band diejenigen Beiträge Fritz Hermanns’ zusammen, von denen wir meinen, dass es die wissenschaftsgeschichtlich und programmatisch Wichtigen sind. Wir tun dies, weil wir meinen, dass sie insbesondere gegenwärtigen wie zukünftigen Studierenden, aber auch den Fachkolleginnen und -kollegen gesammelt verfügbar gemacht werden sollten. Denn wir sind überzeugt, dass, wer immer Sprache kulturwissenschaftlich erschließen möchte, in den Beiträgen Fritz Hermanns’ wichtige theoretische Anstösse und ein hilfreiches analytisches Instrumentarium findet. Das fünfte Todesjahr von Fritz Hermanns nehmen wir zum Anlass für diese Edition. Sie wurde in großer Zuverlässigkeit und Sorgfalt für den Druck eingerichtet von Andi Gredig. Julia Morgens hat die Einrichtung geprüft. Wir danken beiden sehr dafür. Heidrun Kämper, Angelika Linke, Martin Wengeler

Inhaltsverzeichnis

Forschungsfelder kulturanalytischer Linguistik : Entwürfe Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte – 5 Linguistische Anthropologie – 37 Linguistische Hermeneutik – 67 Diskurshermeneutik – 103

Lexikalische Semantik und Lexikographie : Jenseits von Kognition Kognition, Emotion, Intention – 129 Brisante Wörter – 163 Appellfunktion und Wörterbuch – 181

Begriffe als wissenschaftliche Arbeitsinstrumente Attitude , Einstellung , Haltung – 209 Sprache , Kultur und Identität – 235

Wortgeschichtliche Analysen zur Zeitgeschichte Arbeit – 277 Deutsch und Deutschland – 295 Die Globalisierung – 311 Krieg gegen den Terrorismus – 337

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Zur Pragmatik von Kommunikation Slogans und Schlagwörter – 363 Schmollen ist ein Kommunikationsversuch – 383

Zum Schluss Mit freundlichen Grüßen – 399

Inhaltsverzeichnis

Forschungsfelder kulturanalytischer Linguistik : Entwürfe

Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte Überlegungen zu Sinn und Form und Gegenstand historischer Semantik

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Eine Lücke im Programm der deutschen Sprachgeschichte Was ist Mentalität im Sinne der Mentalitätsgeschichte? Begriffsgeschichte als Mentalitätsgeschichte Linguistische Mentalitätsgeschichte als Diskursgeschichte Sprachgeschichte, Weltansichten, Wirklichkeiten Literatur

Welche Ziele sollte sich die Sprachgeschichte setzen? Welche Ziele insbesondere die lexikalische historische Semantik? Diese Fragen werden hier gestellt als Fragen nach den größeren Zusammenhängen der historischen und systematischen Erkenntnis, zu der Sprachgeschichte einen Beitrag leisten könnte.1 Einen solchen größeren Zusammenhang historischer Erkenntnis nennt der Titel dieses Beitrags programmatisch in der Formel Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte. Sie besagt, daß Sprachgeschichte auch geschrieben werden kann und sollte in der Perspektive der Mentalitätsgeschichte, wie sie mittlerweile in der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft als unbestritten wichtige Konstituente der Geschichte anerkannt ist. Wie sich zeigen wird, ist Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte nicht etwa etwas gänzlich Neues. Außerhalb wie innerhalb der Linguistik wird Sprachgeschichte schon als Mentalitätsgeschichte praktiziert, wenn auch unter diesem Titel noch nicht reflektiert. Forschungspraktisch und auch theoretisch führend ist hier die Geschichtswissen-

Dieser Beitrag ist erstmals 1995 erschienen in: Gardt, Andreas ; Mattheier, Klaus J. ; Reichmann, Oskar (Hgg.): Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien. Tübingen, 69 – 101. 1

»Wozu Sprachgeschichte?«  – diese Frage hat in Heidelberg im Rahmen des Kolloquiums zur »Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen« einer seiner Organisatoren, Oskar Reichmann, aufgeworfen. Mein Aufsatz ist als eine – wenn auch nur partielle – Antwort auf seine Frage zu verstehen. Ich danke ihm, Andreas Gardt und Klaus J. Mattheier für die Einladung zu diesem Beitrag.

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Fritz Hermanns

schaft. Deren Leitbegriffe und Modelle können denn auch dazu dienen, ein Konzept von Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte zu entwerfen und zu strukturieren. Meinen Zugang zur Mentalitätsgeschichte verdanke ich den folgenden Publikationen: Peter Burke, »Offene Geschichte. Die Schule der ›Annales‹« (1990) – ein Buch, das, wie der Untertitel sagt, die Mentalitätsgeschichte im Zusammenhang ihrer Entwicklung in der Schule der »Annales« darstellt und das sich, wie ich finde, zur Einführung am besten eignet; Ulrich Raulff (Hrsg.), »Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse« (1987) – ein Reader mit metahistorischen Aufsätzen zur Mentalitätsgeschichte, der u. a. einen Aufsatz Raulffs zur Frühgeschichte von Mentalität enthält, der selber ein Paradebeispiel linguistischer Mentalitätsgeschichte ist; Rolf Reichardt, »›Histoire des Mentalités‹. Eine neue Dimension der Sozialgeschichte am Beispiel des französischen Ancien Régime« (1978) – ein Forschungsbericht, der über den damaligen Stand französischer Mentalitätsgeschichte umfassend informiert; und Volker Sellin, »Mentalität und Mentalitätsgeschichte« (1985) – ein umfangreicher Aufsatz, der den Begriff Mentalität in seiner Problematik perspektiven- und gedankenreich entwickelt und besonders auf die linguistischen Aspekte der Mentalitätsgeschichte eingeht.

1 Eine Lücke im Programm der deutschen Sprachgeschichte Sprachgeschichte als Gesellschafts- und Sozialgeschichte – auf diese Formel ließe sich vielleicht das heute gültige Programm der deutschen Sprachgeschichte bringen, die als soziopragmatische beschrieben wird. Sie versteht sich selber als Bestandteil eines großen Unternehmens der gesellschafts- und sozialgeschichtlichen Erforschung der Vergangenheit, in dem sich linguistische Sprachgeschichte und geschichtswissenschaftliche Sozialgeschichte wechselseitig unterstützen. Denn Zusammenhänge der Sozialgeschichte machen sprachliche Veränderungen vielfach erst erklärlich. Umgekehrt hilft Sprachund Kommunikationsgeschichte, die sozialgeschichtlichen Zusammenhänge besser zu verstehen.2 Eine linguistische Mentalitätsgeschichte wäre Komponente dieser als Gesellschaftsund Sozialgeschichte aufgefaßten Sprachgeschichte; auch im Rahmen der Geschichtswissenschaft ist die Mentalitätsgeschichte nämlich gar nichts anderes als eine Kompo2

Das Programm einer soziopragmatischen Sprachgeschichte skizziert, unter Hinweis auf Cherubim (1984), v. Polenz (1991, 17 – 23). Sie ist, wie v. Polenz unterstreichend unterscheidet, nicht »bloße historische Linguistik«, sondern wirklich »Sprachgeschichte« sensu pleno, insofern es in ihr um »historische Zusammenhänge zwischen Sprache und Gesellschaft im Rahmen kommunikativer Praxis« geht (ib., 17). Die pragmatische Sprachgeschichte hat nach Cherubim (1984, 806) ihr Ziel insbesondere auch darin, »den Verlauf von Sprachentwicklungsprozessen auf die sie bedingenden, begleitenden oder die von ihnen hervorgebrachten historischen Prozesse zu beziehen«. Das Programm einer Sprachgeschichte als Sozialgeschichte i. S. einer »Sozialgeschichte sprachlicher Verkehrsformen« bzw. einer »sozialgeschichtlichen Fundierung von Sprachgeschichtsforschung« stammt von Gessinger (1980, 1982).

Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte

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nente der Sozialgeschichte. Daher steht auch eine als Mentalitätsgeschichte konzipierte Sprachgeschichte nicht im Gegensatz zu der als soziopragmatisch aufgefaßten Sprachgeschichte. Vielmehr wird mit dem Programm der Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte nur ein anderer Akzent gesetzt im Rahmen des Programms der soziopragmatischen Sprachgeschichte. Ein Akzent, der bisher fehlt.3 Oder schärfer formuliert: es wird damit auf eine Lücke hingewiesen, die das Selbstverständnis dieser Sprachgeschichte bislang aufweist. Welche Lücke? Nun, die soziopragmatische Sprachhistoriographie beachtet bislang gar nicht oder kaum gerade das, was die Geschichtswissenschaft an Sprache und an sprachlicher Veränderung und Differenz am meisten interessiert: daß sich in ihrem Sprachgebrauch, in ihrer Sprache zeigt, wie Menschen in verschiedenen historischen Epochen und verschiedenen sozialen Gruppen unterschiedlich denken, fühlen, wollen; und wie umgekehrt der Sprachgebrauch ihr Denken wie ihr Fühlen und ihr Wollen mitprägt; kurz: ihre Mentalität im Sinne der Mentalitätsgeschichte. Einzeltexte können individuelles Denken, Fühlen, Wollen zeigen; Sprachgebrauch zeigt kollektives Denken, Fühlen, Wollen einer Sprachgemeinschaft. Daher ist Beobachtung von Sprachgebrauch ein Königsweg der wissenschaftlichen Erkenntnis von Mentalitäten. Dies wissen mittlerweile die Historiker, zumindest im Prinzip, denn ihre Praxis läßt gelegentlich noch Wünsche offen. Dies scheinen aber Linguisten kaum zu wissen oder nicht gebührend ernstzunehmen, auf alle Fälle formulieren sie es bislang – ausgenommen aber Busse (1987) – im Programm der Sprachgeschichte nicht als leitenden Gedanken.4 Damit fehlt es ihnen bislang an Bewußtsein für den Wert und Sinn historischer Semantik für Geschichte. Und auch offenbar an dem Bewußtsein dafür, welche Chance sich der Linguistik dadurch neu eröffnen könnte, daß sie darauf abzielt und in ihren Publikationen darauf abhebt, daß die Sprachgeschichte deshalb mehr sein kann als nur Wort- und Formgeschichte. Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte ist ein Titel, der vielleicht geeignet wäre, sich der Linguistik einzuprägen als Bezeichnung dieser Chance.

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Allerdings, er fehlt nicht gänzlich: die Geschichte des Sprachbewußtseins als Geschichte des Wandels der Einstellungen und Meinungen bezüglich Sprache wird heute allgemein als Teil der Sprachgeschichte aufgefaßt (vgl. Mattheier 1995).

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Busse hat für die Linguistik das Programm einer historischen Semantik in der »Funktion einer umfassenden Bewußtseinsgeschichte historischer Zeiten« formuliert (Busse 1987, 11). Sollte man Bewußtseins- statt Mentalitätsgeschichte sagen? Ersterer Begriff kann dahingehend mißverstanden werden, daß es der Bewußtseinsgeschichte nur um das Bewußte gehe, während es in der Mentalitätsgeschichte gerade auch auf Unbewußtes ankommt. Außerdem ist heute (1993) der Begriff Mentalitätsgeschichte in der deutschen Historiographie so sicher etabliert, wie es Mitte der achtziger Jahre noch nicht der Fall war. Aber das bedeutet selbstverständlich nicht, daß man nicht weiterhin auch von einer linguistischen Bewußtseinsgeschichte reden sollte, wie dies beispielsweise, Busse folgend, Wengeler (1992) tut.

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Fritz Hermanns

2 Was ist Mentalität im Sinne der Mentalitätsgeschichte? Die Theoretiker der Mentalitätsgeschichte sind sich darüber einig, daß auch im geschichtswissenschaftlichen Sprachgebrauch die Mentalitätsgeschichte nichts anderes ist, als was ihr Name sagt: Geschichte der Mentalitäten. Nur hat das deutsche Wort Mentalität im Kontext der Mentalitätsgeschichte eine andere Bedeutung als in deutscher Bildungssprache sonst. Mentalitätsgeschichte ist Lehnübersetzung von histoire des mentalités, weshalb Mentalität im Sinne der Mentalitätsgeschichte die Bedeutung des französischen fachsprachlichen Begriffs mentalité hat, die sich von der des deutschen Wortes unterscheidet.5 Mentalität (im Sinne der Mentalitätsgeschichte) ist also mißverständlich. Das ist zu bedauern, aber hinzunehmen, denn Mentalitätsgeschichte ist geschichtswissenschaftlicherseits nun einmal eingeführt und etabliert, so daß man lernen muß, mit dieser Ambiguität zu leben.6 Was M e n t a l i t ä t im Sinne der Mentalitätsgeschichte n i c h t ist Im nicht-fachsprachlichen deutschen Sprachgebrauch bedeutet Mentalität in der Regel soviel wie: »Gemütsart, Denk-, Anschauungs- und Verhaltensweise eines Menschen, einer Menschengruppe oder eines Volkes« (WDG 1977, s. v.) oder: »Geistes- u. Gemütsart; besondere Art des Denkens und Fühlens« (DUW 1989, s. v.). Beispiele für den Wortgebrauch sind: »die M. der Norddeutschen, Italiener«, »diese Völker haben eine unterschiedliche, ganz andere M.« (WDG) und »die M. der Norddeutschen; sich in die M. ei-

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Sellin (1985, 558) weist darauf hin, daß ebenso im Englischen wie auch im Deutschen »eine Spannung zwischen Alltagsbedeutung und wissenschaftlicher Auffassung des Worts« (mentality, Mentalität) besteht. Dem gehe ich hier nach, weil diese Spannung für die Akzeptanz einer linguistischen Mentalitätsgeschichte sicherlich ein Hindernis ist. – Der Plural im französischen histoire des mentalités wird im Deutschen durch den kollektiven Singular in Mentalitätsgeschichte ganz problemlos, wie ich finde, wiedergegeben. Entgegen diesem eingeführten Sprachgebrauch bevorzugt Raulff (1989) Mentalitäten-Geschichte.

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Auch bietet sich ein anderes Wort für die gemeinte Sache gar nicht an. Geistesgeschichte eignet sich deshalb nicht, weil dieses Wort mit seinen unauslöschlich Hegelschen Konnotationen das Markenzeichen einer Art gesellschaftsferner Geisteswissenschaft gewesen ist, wie sie durch Mentalitätsgeschichte gerade abzulösen wäre. Ideengeschichte ist festgelegt als Lehnübersetzung von history of ideas, die mit Geistesgeschichte das gemeinsam hat, daß sie den Wandel der Ideen ohne Rücksicht auf gesellschaftliches Angebunden- und Bedingtsein der Ideen untersucht. Ideologiegeschichte wäre vielleicht kein schlechtes Wort für einen Hauptaspekt des hier Gemeinten, wenn es nicht aussichtslos erscheinen würde, Ideologie als einen wertneutralen Terminus (im Sinne von Karl Mannheim) durchzusetzen gegen den massiv pejorativen Sprachgebrauch des öffentlichen Lebens, wonach Ideologie gerade das ist, was fehlgeleitet immer nur die anderen denken oder sogar lügnerisch entgegen besserer Erkenntnis nur behaupten (dazu Dieckmann 1988, 1783; zur Geschichte des Begriffs der Ideologie vgl. Dierse 1982). Ideologiegeschichte hätte aber auch den Nachteil, daß es einzig abhebt auf das Kognitive, auf das »Denken« der »Ideen«, und nicht gleichfalls auf das »Fühlen«, auf das »Wollen« und das »Sollen«, das mit den Ideen und Gedanken stets einhergeht. Dieses »Fühlen«, »Wollen«, »Sollen« als historisch wandelbares aber ist, wie gleich noch darzulegen, mitgemeint als Gegenstand der Mentalitätsgeschichte.

Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte

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nes anderen hineinversetzen« (DUW).7 In den Bedeutungsparaphrasen aufschlußreich ist insbesondere das Wort Gemütsart, das Mentalität semantisch in die Nähe eines Wortes rückt wie Temperament. Wie dieses hat Mentalität ganz offensichtlich die Funktion, daß damit Menschen ganz bestimmte, wohlbekannte Eigenschaften zugeschrieben werden und sie damit typologisch eingeordnet werden; und zwar durch Zuordnung zu einem Stereotyp. Das zeigen die zitierten Beispiele (»Mentalität der Norddeutschen, Italiener«), mit denen offenbar ein bei den Wörterbuchbenutzern als vorhanden unterstelltes Wissen abgerufen werden soll hinsichtlich dessen, was das ist: ein Norddeutscher, ein Italiener mit der für ihn typischen Gemütsart. Weiter läßt sich bezüglich der Funktion des deutschen Wortes wohl vermuten (man erinnere sich hier an selbst Gehörtes, denn die Wörterbücher geben dies nicht her), daß durch einen Prädikator wie »norddeutsche Mentalität« eine »besondere Art des Denkens und Fühlens« (DUW) nicht einfach bloß beschrieben, sondern gewissermaßen auch erklärt wird. Ein bestimmter Mensch ist, wie er ist, verhält sich, wie er sich verhält, weil er eben ein »Norddeutscher« ist; »norddeutsche Mentalität« besagt: bekanntlich sind die Norddeutschen nun einmal so. Auf alle Fälle aber hat Mentalität im Deutschen oft, wenn auch nicht immer, die Funktion, bezüglich Geistes- und Gemüts- und Wesensart auf allgemein verbreitete Stereotypen zu verweisen, die wir alle kennen. Demgegenüber ist der fachsprachliche (soziologische, wie die Wörterbücher sagen) französische Begriff mentalité – und also auch Mentalität im Kontext der Mentalitätsgeschichte – in erster Linie ein Suchbegriff (so möchte ich es einmal nennen), der als solcher die Funktion hat, daß er an uns appelliert, die historisch oder soziologisch vorerst noch gänzlich unbekannten Mentalitäten zu erforschen und beschreiben. Daß dies richtig ist, beweist vor allem auch die mentalitätsgeschichtliche Literatur, in der sich die Autoren sozusagen darin überbieten, immer wieder neue und nicht selten auch haarsträubend andere als die eigenen Mentalitäten vorzuführen. Das Exotische und das Schockierende daran ist sicherlich ein Hauptreiz der Mentalitätsgeschichte. M e n t a l i t ä t im Sinne der Mentalitätsgeschichte Die Historiker tun sich erklärtermaßen schwer damit, die Bedeutung von Mentalität und von Mentalitätsgeschichte kurz und bündig, wie man wünschen würde, anzugeben. So zeigt sich Reichardt (1978, 131) schon zufrieden, daß man in der (besonders der französischen) Geschichtswissenschaft seit Beginn der 70er Jahre immerhin bemüht sei, »Mentalität als historische Kategorie wenigstens zu beschreiben «, was Sellin (1985, 559) glossiert mit: »wenn schon nicht zu definieren (so muß man wohl ergänzen)«. Und 7

Heute immer öfter anzutreffen, scheint es, ist im bildungssprachlichen Sprachgebrauch auch die Bedeutung, wonach Mentalität »Denk- und Verhaltensweise eines Menschen, einer Menschengruppe« (HWDG, s. v.) ist. Das steht der fachsprachlichen Bedeutung näher, ohne sich jedoch mit ihr zu decken.

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Sellin (ib., 560) kommt zu dem Fazit, daß die von ihm angeführten Begriffsbestimmungen anderer Historiker so widersprüchlich sind, »daß es kaum möglich erscheint, mit ihrer Hilfe eine klare Vorstellung vom Gegenstandsbereich einer Mentalitätsgeschichte zu gewinnen«. Warum definieren die französischen Historiker ihr Leitwort nicht, obwohl die deutschen dies so angelegentlich verlangen? Ich vermute: einfach deshalb, weil sie es genau in der Bedeutung nehmen, wie sie im Französischen als fachsprachliche (»soziologische«) Bedeutung schon seit langem eingeführt und in den Wörterbüchern ausgewiesen ist. Ein weiterer Definitionsbedarf besteht nicht. Das fachsprachliche französische mentalité bedeutet, wie die großen Wörterbücher lehren: »ensemble des habitudes d’esprit et des croyances qui informent et commandent la pensée d’une collectivité, et qui sont communes à chaque membre de cette collectivité« (Grand Robert 1986, s. v.), auf deutsch etwa: »Gesamtheit der Denkgewohnheiten und Überzeugungen, die das Denken einer sozialen Gruppe bestimmen und die allen Mitgliedern der Gruppe gemeinsam sind«; »ensemble des manières habituelles de penser et de croire et des dispositions psychiques et morales caractéristiques d’une collectivité et communes à chaqun de ses membres« (TLF 1985, s. v.), hier erscheinen als ein Element der mentalité zusätzlich die für eine Gruppe typischen »psychischen und moralischen Dispositionen«; »ensemble ensemble des habitudes de pensee et des dispositions d’esprit caractéristiques d’une communauté« (Grand Larousse 1975, s. v.). Was also ist fachsprachlich die mentalité ? Antwort: einerseits Gewohnheit, andererseits Disposition. Alle Wörterbücher sind sich darin einig, daß eine Mentalität in Gewohnheiten besteht, und zwar in Denkgewohnheiten; genauer: in jeweils der Gesamtheit solcher Gewohnheiten einer sozialen Gruppe (»ensemble des habitudes d’esprit … d’une collectivité«, »ensemble des manières habituelles de penser et de croire … d’une collectivité«, »ensemble des habitudes de pensée … d’une communauté«). Also mentalités sind Gesamtheiten von Denkgewohnheiten einer Gruppe; oder auch: von gewohnheitsmäßigen Gedanken einer Gruppe. Ob Mentalitäten außerdem auch Dispositionen sind, und was für welche, darin stimmen offenbar die Wörterbücher nicht in gleicher Weise überein. Das dritte (Grand Larousse) spricht von »dispositions d’esprit«, das zweite (TLF) von »dispositions psychiques et morales«, das erste (Grand Robert) nennt die Disposition expressis verbis gar nicht; wenn man jedoch genauer hinsieht, zeigt sich, daß auch dieses Wörterbuch zum Ausdruck bringt, daß die Mentalitäten etwas sind, was zu einer ganz bestimmten Art des Denkens disponiert, ja dazu zwingt (»qui qui informent et commandent la pensée«). «). Mentalitäten sind, so läßt sich daher wohl zunächst zusammenfassend sagen, Gesamtheiten von Gewohnheiten insbesondere des Denkens. Und sie sind als solche auch Dispositionen. Denn folgende einfache Überlegung zeigt, wieso Mentalitäten als Gewohnheiten

Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte

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zugleich auch als Dispositionen zu verstehen sind: Wer gewohnheitsmäßig etwas tut, der ist eo ipso auch dazu prädisponiert, es weiterhin zu tun. Beim Vergleich der Worterklärungen zu mentalité und Mentalität fällt auf, daß es bei dem französischen Begriff entschieden auf die Gruppe ankommt (auf die collectivité ), statt, wie im Deutschen, gleichermaßen auf das Individuum; das Individuum hat eine mentalité bloß insofern, als es teilhat an der kollektiven mentalité. Ferner haben offenbar mentalité und Mentalität verschiedene Pointen. Bei dem französischen Begriff liegt der Akzent nicht auf der Geistes- oder der Gemütsbeschaffenheit von Menschen, die aufgrund verschiedener Mentalität dann unterschiedliche Gedanken und Gefühle haben, sondern umgekehrt bei den Gedanken und Gefühlen, insofern sie prägend sind für die soziale Gruppe; insofern sie eine Geistes- oder auch Gemütsart (immer einer Gruppe) allererst erzeugen. Dazu paßt, daß in den Wörterbüchern nur bei mentalité (und nicht bei Mentalität) von dem Habituellen, dem Gewohnheitsmäßigen die Rede ist, das nach den Worterklärungen die mentalité konstituiert. Die Bedeutungselemente »Gruppe« und »habituell« machen das französische mentalité zu dem – verglichen mit dem deutschen Wort – ungleich moderneren, zum wissenschaftlich-soziologischen Begriff. Schließlich steht bei mentalité nicht so etwas wie Gemüt im Fokus des Interesses, sondern die Inhalte des Denkens ( pensée) und des Glaubens oder Meinens (croyances). Die Gedanken selbst, sofern sie habituell sind, konstituieren die mentalité und also auch die Mentalität im Sinne der Mentalitätsgeschichte, wenn auch nicht nur die Gedanken ganz allein. Kognitionen, Emotionen, Intentionen Wozu prädisponieren die Mentalitäten? Zwei der Wörterbücher (Grand Robert und Grand Larousse) heben mit ihrer Information zum fachsprachlichen Gebrauch von mentalité ganz auf die gedanklichen Dispositionen (»habitudes d’esprit«, »dispositions d’esprit«) «) ab; »psychische und moralische Dispositionen« (»dispositions psychologiques/psychiques ou morales«) nennen sie als Bedeutungselemente nur beim umgangssprachlichen Gebrauch von mentalité. Und nur eines der drei Wörterbücher (TLF) zählt zum fachsprachlichen Bedeutungsinhalt von mentalité auch die »psychischen und moralischen Dispositionen«. Was jedenfalls den Terminus histoire des mentalités betrifft, ist aber dieses Wörterbuch gewiß im Recht. Das beweisen wieder die Publikationen zur Mentalitätsgeschichte, die gerade an dem Psychischen und dem Moralischen besonders interessiert sind (s. u.). Deshalb sind Mentalitäten i. S. der Mentalitätsgeschichte in der Tat »kognitive, affektive und ethische Dispositionen«, wie das Raulff (1987, 10) zusammenfassend feststellt. Neben dem Gedachten und Geglaubten ist es das Gefühlte und (wenn man so sagen kann) auch das Gesollte, was Mentalitäten ausmacht. Es geht in der Mentalitätsgeschichte also nicht nur um den Logos, sondern ebenso auch um das Pathos und das

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Ethos der historischen Subjekte. Insofern das kollektiv Gesollte aber nicht zu unterscheiden ist vom kollektiv Gewollten, kann man gleichfalls sagen: Eine Mentalität ist die Gesamtheit von Dispositionen zu einer Art des Denkens, Fühlens, Wollens – die Gesamtheit der kognitiven, affektiven (emotiven) sowie volitiven Dispositionen – einer Kollektivität. Nicht von ungefähr stimmt diese Trias der in dem Begriff Mentalität gebündelten semantischen Momente (Denken, Fühlen, Wollen) überein mit einer ebensolchen Trias lexikalischer Bedeutungsdimensionen.8 Mit der Disposition zu einer Art des Denkens, Fühlens, Wollens ist nun immer eine weitere Disposition verbunden, nämlich die Disposition zu einem Handeln und Verhalten, wie es zum zuvor prädisponierten Denken, Fühlen, Wollen paßt. Dementsprechend kann in der Beschreibung von »Verhaltensdispositionen« geradezu der Sinn mentalitätsgeschichtlicher Erkenntnis für die Geschichtsschreibung insgesamt gesehen werden. Für die Historiker eröffnet jedenfalls die Mentalitätsgeschichte unersetzliche Erklärungsmöglichkeiten für historisches Verhalten, wie Sellin (1985, 571; 1987, 106) betont hat. Das Bestehen der Disposition zu einer Weise des Verhaltens ist zwar noch kein hinreichender Grund dafür, daß dies Verhalten wirklich an den Tag gelegt wird. Wohl aber kann eine Mentalität eine Voraussetzung bestimmter Weisen des Verhaltens sein, insofern sie als »Disposition« nichts anderes als die »latente Bereitschaft« (Sellin 1987, 106) dazu ist. Umgekehrt zeigt sich im nachhinein die Existenz einer Mentalität gerade im Verhalten, insofern es der Mentalität als einer Disposition dazu entspringt. Mutatis mutandis gilt dies gewiß auch für die linguistische Mentalitätsgeschichte. Mentalitäten sind Dispositionen auch zu sprachlichem Verhalten. Ihre Erkenntnis trägt also dazu bei, sprachliches Verhalten zu erklären, und linguistische Mentalitätsgeschichte trägt dazu bei, den Wandel sprachlichen Verhaltens zu erklären. Entsprechend läßt sich umgekehrt auch (und gerade) aus dem sprachlichen Verhalten auf Mentalitäten schließen, die ihm als Disposition zugrunde liegen. Im Prinzip trifft dies auf alle oder viele Elemente und Aspekte sprachlichen Verhaltens zu. Im folgenden wird es mir aber nur um den mentalitätsgeschichtlichen Aspekt der lexikalischen Semantik gehen.9

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Zu Denken, Fühlen, Wollen bzw. Kognition, Emotion und Intention als Dimensionen lexikalischer Semantik und zum hier allzu kurz nur angedeuteten semantischen Zusammenhang von Sollen einerseits und Wollen andererseits vgl. Hermanns 1995. Dort wird – im Anschluß an ältere linguistische Literatur – ausgeführt, daß jedes Sollen in der Tat als Ausfluß (irgend) eines Wollens zu verstehen ist; im Sonderfall des als moralisch oder ethisch ausgezeichneten Sollens ist dieses Wollen identisch mit dem Wollen Gottes oder dem vernunftgemäßen Wollen, was aber beides auch als absolut gesetztes kollektives Wollen (oft: wie ein Autor oder eine Kollektivität will, daß das kollektive Wollen sei) verstanden werden kann.

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Weitere Aspekte nennt Mattheier (1995).

Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte

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Weitere Aspekte von M e n t a l i t ä t im Sinne der Mentalitätsgeschichte Eine Mentalität im Sinne der Mentalitätsgeschichte ist, so hat es sich ergeben: 1) die Gesamtheit von 2) Gewohnheiten bzw. Dispositionen 3) des Denkens und 4) des Fühlens und 5) des Wollens oder Sollens in 6) sozialen Gruppen. Damit haben wir die Elemente der Bedeutung dieses Wortes beieinander. Dazu merke ich noch an: 1) Eine Mentalität ist zwar die Gesamtheit des Mentalen einer Gruppe, doch wird die Mentalitätsgeschichte immer nur bestimmte Teile und Aspekte der Gesamtheit untersuchen können. 2) Zur Mentalität gehört nur das, was usuell und in der Gruppe generell und daher in den Quellen seriell ist. Doch die Mentalitätsgeschichte interessiert sich dafür auch im Status des Entstehens und im Status des Vergehens, also noch bevor es und nachdem es nicht mehr usuell und generell und seriell ist. 3) Anders als im umgangs- oder bildungssprachlichen Begriff ist im geschichtswissenschaftlichen Begriff Mentalität das Kognitive ganz besonders wichtig ; deshalb begreift Mentalitätsgeschichte eine Art von Geistes- oder Ideologiegeschichte in sich ein, nur geht es ihr im Unterschied zur hergebrachten Geisteswissenschaft um allgemein verbreitete und deshalb selbstverständliche, wenn man so will: um trivial gewordene Gedanken einer Gruppe ; also gerade nicht um das Exzeptionelle, Geniale, Singuläre. Und es geht ihr nicht so sehr um die gedanklichen Gebäude ganzer Dogmen oder Ideologien, sondern um die einzelnen für wahr gehaltenen Gedanken (die croyances der Wörterbücher).10 4) Der Komplex aus Denken, Fühlen, Wollen läßt sich in Bezug auf je bestimmte Gegenstände oder Sachverhalte treffend auch als Einstellung , als Attitüde im Sinne der Sozialpsychologie bezeichnen; insofern ist die Mentalitätsgeschichte auch 10

Zum Verhältnis und Zusammenhang von Ideologie und Mentalität vgl. Vovelle (1982, 5 – 17), Sellin (1985, 581 ff.) und Raulff (1987, 10). In die deutschsprachige Soziologie hat, scheint es, Geiger (1932, 77 f. ; zit. bei Teilenbach 1974, 19 f., Sellin 1985, 581 und Raulff 1987, 10) den Begriff Mentalität eingeführt, und zwar als Gegen- und als Konkurrenzbegriff zum Ideologie-Begriff von Mannheim (1929). Demgemäß kommt es ihm auf eine polarisierende Gegenüberstellung der zwei Begriffe an: »Der übliche Ideologiebegriff ist noologischen Charakters. […] Die Mentalität dagegen ist geistig-seelische Disposition […]. […] Mentalität ist geistigseelische Haltung , Ideologie aber geistiger Gehalt. […] Mentalität ist ›früher‹, ist erster Ordnung – Ideologie ist ›später‹ oder zweiter Ordnung. Mentalität ist formlos-fließend  – Ideologie aber fest-geformt. Mentalität ist Lebensrichtung – Ideologie ist Überzeugungsinhalt «. – Ideologie, die nach Geiger »Doktrin oder Theorie« ist, ist als solche in der Tat rein »noologischen Charakters«, während, wie wir gesehen haben, zur Mentalität in der Tat wesentlich auch das Psychische und das Moralische dazugehört. Eben dies macht Mentalität zum – gegenüber Ideologie – weiteren, umfassenden Begriff. Denn gegen die Tendenz von Geiger sollte man betonen, daß Elemente noologischer Natur auch zur Mentalität, und nicht allein zur Ideologie, gehören: zwar nicht eine explizite und elaborierte Ideologie , wohl aber doch ein Grundvorrat von Ideologemen , wie man hier kontrastierend sagen könnte, oder Topoi ; jene sprachlich manifesten Überzeugungen und Glaubensinhalte, die das habituelle Denken und Reden einer Gruppe unablässig wiederholt. So erklärt sich die Affinität von Ideologien und Mentalitäten ebenso wie ihr historischer Zusammenhang, der wechselseitig ist. Einerseits entstehen Ideologien aus Mentalitäten, insbesondere dann, wenn eine »Krise« dazu Anlaß gibt, andererseits hinterlassen Ideologien in Mentalitäten ihre Spuren in Gestalt von Ideologemen. (Vgl. dazu Sellin 1985, 581 – 586.)

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und insbesondere Geschichte von sozialen Attitüden.11 5) Attitüden und Dispositionen lassen sich bezüglich ihres Sollens- oder Wollensanteils gut beschreiben durch Maximen : die historischen Subjekte handeln so, als ob sie ganz bestimmten expliziten Regeln und Geboten des Verhaltens folgen würden.12 6) Die sozialen Gruppen sind für eine linguistische Mentalitätsgeschichte Sprach- und Kommunikationsgemeinschaften , und zwar je nach Forschungsabsicht große, wie z. B. Sprachnationen, oder kleinere, wie etwa einzelne politische Parteien. Selbstverständlich ist es so, daß sich durch eine bloß lexikologische semantische Betrachtung nicht zureichend zeigen läßt, was Mentalität im Sinne der Mentalitätsgeschichte ist ; denn zum Begriff gehört die Anschauung dazu, d. h. man muß zumindest einige der prototypischen und klassischen Exempel der mentalitätsgeschichtlichen Literatur gelesen haben, um zu wissen, was Mentalitätsgeschichte ist. Wegen eigener noch lückenhafter Kenntnis berufe ich mich hier auf Burke (1990) als Kenner der Mentalitätsgeschichte. Burke (1990, 71) beginnt seine Skizze der französischen Mentalitätsgeschichte mit Philippe Ariès und dessen Buch zur »Geschichte der Kindheit« (1960), das »die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Mentalitätengeschichte lenkte« ; gleichfalls viel beachtet wurde später seine »Geschichte des Todes« (1977). Beide Bücher handeln von den Einstellungen zur Kindheit und zum Sterben, was der zweite Titel von Ariès auch ausdrückt (»L’homme devant la mort«). Doch geht der Begriff histoire des mentalités (collectives) nach Burke (ib., 116) zurück auf Georges Lefebvre (1932): »La grande peur de 1789« ; an diesem Titel läßt sich gut erkennen, daß auch Emotionen Thema der Mentalitätsgeschichte sind, wie sonst vielleicht am besten noch an einem Buch von Jean Delumeau (1978): »Angst im Abendland«. Programmatisch-plakativ, so ist dem noch hinzuzufügen, wird histoire des mentalités erstmals verwendet im Titel eines Handbuch-Beitrags von Duby (1961). Die »Gründerväter« der Schule der »Annales« haben aber je auf ihre Weise die Mentalitätsgeschichte vorbereitet (Burke 1970, 22 ff.). So Marc Bloch (1924) mit seinem Buch über »Die wundertätigen Könige« (»Les Les rois thaumaturges«), «), das von den in seinem Titel ausgesagten »kollektiven Vorstellungen« (représentations collectives) handelt, und mit 11

Als erster hat wohl Reichardt (1978, 133) darauf hingewiesen, daß der sozialpsychologische Begriff der Einstellung (engl./franz. attitude) ungefähr dasselbe meint, wie Mentalität bei den Historikern, »nur daß«, schreibt Reichardt, »bei den Einstellungen zu den konativen und affektiven Elementen noch eine kognitive Komponente hinzukommt« ; diese ist jedoch, wie ausgeführt, im Begriff Mentalität durchaus auch mitgemeint, und Reichardt sagt an anderer Stelle (ib., 131) selbst, das outillage mental (geistiges Handwerkszeug) einer Zeit gehöre zu deren Mentalität. Auch Sellin (1985, 587) geht offensichtlich davon aus: es sind »die Einstellungen, die eine Mentalität konstituieren«.

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Der Gedanke, Attitüden durch Maximen zu beschreiben, stammt von Sellin (1985, 569 f.). Der Gedanke, daß man daher umgekehrt aus (ihrerseits erschlossenen) Maximen (inbesondere Konversationsmaximen) auch auf Attitüden und damit auf Mentalitäten schließen kann, stammt von Mattheier (1995).

Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte

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seinem Buch über »Die Feudalgesellschaft« (1939/1940), das von »Formen des Fühlens und Denkens« wie von »Kollektivbewußtsein«, »Kollektivgedächtnis« und von »Kollektivvorstellungen« der behandelten Epoche redet. Lucien Febvre (1942) hat die Frage nach dem »Glauben« schon im Titel seines Buches über Rabelais – »Le Le problème de l’incroyance au XVIe siècle« – explizit gestellt und darin u. a. den schon erwähnten Terminus outillage mental (geistiges Handwerkszeug) verwendet, wozu nach Febvre insbesondere die Wörter zählen. Aus seinen Vorarbeiten ist ein großer »Essai Essai de psychologie historique« hervorgegangen (Mandrou 1961, vgl. Burke 1990, 35, 73) – man sieht hier, daß Historische Psychologie um 1960 noch ein Konkurrenzbegriff zu Mentalitätsgeschichte war. Als klassische und prototypische Werke der Mentalitätsgeschichte gelten weiter (Burke 1990, 74 ff.): Robert Mandrou (1968), »Magistrats et sorciers en France au XVIIe siècle. Une analyse de psychologie historique« ; Michel Vovelle (1973), »Piété baroque et déchristianisation. Les attitudes devant la mort en Provence au XVIIIe siècle«« (im Untertitel wird, wie bei Vovelle auch sonst, besonders deutlich, daß Mentalitätsgeschichte die Geschichte von Einstellungen ist); Emmanuel Le Roy Ladurie (1975), »Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor« und (1979), »Karneval in Romans. Eine Revolte und ihr blutiges Ende« ; Georges Duby (1978), »Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus« ; Jacques Le Goff (1981), »Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter«.13

3 Begriffsgeschichte als Mentalitätsgeschichte Gibt es einen Teilbereich der Sprachgeschichte, wo schon heute Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte gelten könnte ? Das ist tendenziell der Fall in der besonders von Historikern betriebenen »Begriffsgeschichte«. Sellin (1987, 117; vgl. auch Sellin 1985, 579) bezeichnet sie geradezu, und allgemeiner die historische Semantik, als »Methode zur Erforschung von Mentalitäten«, was er so erläutert: »Die Geschichte der Bedeutungen ist nur die Kehrseite der Geschichte der Einstellungen. Sie bringt die unwillkürlichen Sinngebungen zum Vorschein, in denen eine Sprachgemeinschaft – ein Volk oder auch nur eine soziale Gruppe – lebt«. Zumindest tut sie das (so könnte man relativieren) in dem Maß, wie sie es darauf anlegt, und das gilt auch für die »Begriffsgeschichte« der Historiker nicht immer. Aber ihrem Ansatz nach ist die historische »Begriffsgeschichte« in der Tat Mentalitätsgeschichte. Daher lohnt es sich in unserem Zusammenhang, den

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Etwas andere Listen von Klassikern der Mentalitätsgeschichte bieten Schulze (1985, 250/254 ff.) und Schüttler (1989, 120 f.). Sellin (1985, 597) nennt außer Febvre, Bloch, Ariès, Duby, Mandrou, Vovelle, Le Roy Ladurie als (deutschen) Klassiker der Mentalitätsgeschichte auch Max Weber. Raulff (1989, 8 f.) bezeichnet als avant la lettre mentalitätsgeschichtlich das Werk von Burkhardt, Lamprecht, Dilthey, Warburg und Elias.

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Ansatz und den Grundgedanken der »Begriffsgeschichte« der Historiker in Augenschein zu nehmen. Der »Begriff« als Faktor von geschichtlichen Zusammenhängen Die »Begriffsgeschichte« – das hat Busse (1987) als ihr Kritiker hervorgehoben – ist auch für die Linguistik schlechterdings das große Paradigma deutscher Sprachgeschichte im Bereich historischer Semantik heute, insbesondere in der Form, in der sie uns in den von Brunner, Conze und Koselleck (1972 – 1992) herausgegebenen »Geschichtlichen Grundbegriffen« vor Augen steht und wie sie darin praktiziert wird von Historikern, Juristen, Ökonomen, Philosophen, Theologen und bedauerlicherweise nicht von Germanisten. Vor allem diesen »Grundbegriffen« ist das Renommee zu danken, dessen die historische Semantik sich zur Zeit auch interdisziplinär erfreut und das zum guten Teil natürlich auf der evidenten Nützlichkeit beruht, die dieses Werk für viele Disziplinen hat. Nicht minder wichtig aber ist für ihre Wirkung auch der Grundgedanke, der das ganz Besondere der »Grundbegriffe« ausmacht. Wenn heute der historischen Semantik in der deutschen Historiographie nicht mehr nur ein hilfswissenschaftlicher, ein sekundärer Status zugeschrieben wird und wenn sie heute ein sozialgeschichtlicher Zentralbereich geworden ist, dann nur wegen dieses Grundgedankens, der etwas völlig Neues im Gebiet historischer Semantik war und der die eigentliche Relevanz der Sprachgeschichte – und der Sprache ! – für Geschichte allererst erkennbar machte. Dadurch ist für die Historiker die Sprache aufgewertet worden, implizit ist damit aber auch die Linguistik für sie aufgewertet worden. Weiter kann man sagen, daß, wenn die »Begriffsgeschichte« tendenziell schon heute eine Art Mentalitätsgeschichte ist, sie es kraft dieses Grundgedankens ist, den Koselleck (1972, 120) formuliert hat in dem seither oft zitierten Aphorismus: »Ein Begriff ist nicht nur Indikator der von ihm erfaßten Zusammenhänge, er ist auch deren Faktor«. In diesem Wortlaut steht der Aphorismus in Kosellecks Aufsatz »Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte«, einem Text, der das Programm der »Grundbegriffe« darlegt. Was es heißen soll, daß ein Begriff – und damit meint Koselleck gar nichts anderes als ein Wort besonderer historischer Bedeutung 14  – ein Faktor von historischen Zusammenhängen sein kann, zeigt Koselleck dort (ib., 109 ff.) am Beispiel etwa des Begriffs der Klasse (als des Konkurrenzbegriffs zu Stand ) und dessen Rolle in der Politik der preußischen Reformer, und am Beispiel vieler anderer Begriffe. 14

Koselleck verwendet Begriff als Hyponym zu Wort (vgl. Koselleck 1972, 119), jedoch nicht immer ; dazu schon v. Polenz (1973, 237): »Begriffe sind hier also durchaus eine spezielle klasse von Wörtern als einheiten der ausdrucksseite der sprache. […] Andererseits ist Begriff aber auch als einheit der inhaltsseite der sprache […] definiert«. Zur Vermeidung eines Übermaßes distanzierender Anführungszeichen verwende ich Begriff (und entsprechend auch Begriffsgeschichte) hier in der Regel einfach unmarkiert wie Koselleck, also zur Bezeichnung von Wörtern.

Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte

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Die Koselleckschen Begriffsbegriffe Theoretisch äußert er sich dazu nicht ausführlich. Dem zitierten Aphorismus folgt dort lediglich ein Satz, der ihn erläutert: »Mit jedem Begriff werden bestimmte Horizonte, aber auch Grenzen möglicher Erfahrung und denkbarer Theorie gesetzt« (ib., 120). Damit ist Koselleck in der Nähe Humboldts, nämlich jedenfalls bei Kant und dessen epochaler Einsicht, daß Erkenntnis, also auch Erfahrung, auf Begriffe angewiesen ist. Danach wären die Koselleckschen Begriffe als Faktoren der Geschichte zu betrachten, insofern  – doch auch nur insofern  – sie jegliche Erkenntnis der in der Geschichte handelnden Subjekte ebenso ermöglichen wie auch begrenzen: als Bedingungen der Möglichkeit, so könnte man das kantisch nennen, des Denkens der historischen Subjekte. Und schon damit wäre auch die Sprachgeschichte ganz entscheidend aufgewertet als ein Zweig historischer Erkenntnis, der, wie sonst kein anderer, Zugang gibt zu diesem Denken. Daß jedoch Koselleck nicht nur dies im Sinn hat, wenn er von Begriffen als Faktoren der Geschichte redet, zeigt in seinem Aufsatz deutlich eine Reihe von Begriffsbegriffen, die er en passant verwendet, ohne diese (sprechenden) Begriffe eigens zu erklären, u. a. die Begriffe: Kampfbegriff (ib., 111), Zukunftsbegriff (ib., 113), Zielbegriff (113, 124), Aktionsbegriff (113), Erwartungsbegriff (118, 124). Diese Wörter nennen mögliche Funktionen von Begriffen in politischen Zusammenhängen und besagen allesamt, daß die Begriffe nicht allein der reinen, theoretischen Erkenntnis dienen. Als ein Kampfbegriff ist offensichtlich ein Begriff ein Faktor der historischen Entwicklung, insofern er als ein Instrument, als Waffe in der Politik benutzt wird, weil die Qualität der Waffe und die Art des Umgangs mit der Waffe mitentscheiden über Sieg und Niederlage. Mit Kampfbegriff ist die pragmatische Funktion bezeichnet, die ein Wort in der politischen Auseinandersetzung hat. Mit diesem Terminus empfiehlt sich also die »Begriffsgeschichte« der besonderen Beachtung durch die soziopragmatisch interessierte Sprachgeschichte. Staatsbürger etwa ist ein Kampfbegriff der preußischen Reformer, da er nämlich eine »polemische Pointe« aufweist, die sich gegen die »altständische Gesellschaft« und die »ständische Rechtsungleichheit« richtet (ib., 111). Das deutet sich schon an in einem Satz aus einer Hardenbergschen Denkschrift (1807), den Koselleck (ib., 109) anführt: »Überhaupt gehört eine vernünftige Rangordnung, die nicht einen Stand vor dem anderen begünstigte, sondern den Staatsbürgern aller Stände ihre Stellen nach gewissen Klassen nebeneinander anwiese, zu den wahren und keineswegs zu den außerwesentlichen Bedürfnissen eines Staates.« Hier wird nach Kosellecks Interpretation die hergebrachte vertikale Standesordnung gegenüber einer künftigen horizontalen Klassengliederung (also Klasse ist hier noch, im Gegensatz zu später, eine die sozialen Gruppen gleichberechtigt neben- und nicht unterordnende Vokabel) als unvernüftig abqualifiziert, weil sie den einen vor dem anderen Stand »begünstigt«, also offensichtlich ungerecht ist. Das Gebot

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der Gleichheit fordert eine Neben- statt wie bisher eine Unter- oder Überordnung der Staatsbürger, wie nunmehr alle Einwohner (auch dies damals noch ein Kampf begriff ) des Landes heißen sollen ; dadurch werden beispielsweise Adlige zu Grundbesitzern. Staatsbürger ist als neues Wort ein Kampfbegriff , weil es bei jedesmaligem Gebrauch die angestrebte Gleichheit sozusagen einklagt, gegen alle jene, die sich ihre angestammten Privilegien nicht nehmen lassen wollen. Wörter als Vehikel von Gedanken Hier wird eine zweite Grundidee historischer Semantik deutlich, die Koselleck gleichfalls theoretisch-explizit nicht ausführt, aber immer wieder ausdrückt. Nämlich die, daß die Begriffe dergestalt als Kampfbegriffe und als Zielbegriffe usw. funktionieren, daß sie stellvertretend stehen und verwendet werden für Gedanken, die in ihnen sozusagen kondensiert sind. So ist im Hardenbergschen Sprachgebrauch ein Wort wie Klasse offensichtlich ein Memento, das bei jeder Wiederholung obstinat daran erinnert, daß es in der angestrebten neuen bürgerlichen Ordnung keine Ständeprivilegien mehr gibt. Das Wort erinnert jedesmal an den Gedanken, in dessen Zusammenhang und zu dessen prägnantem Ausdruck es geprägt ist. Das Wort ist also seine – des Gedankens – Chiffre oder Abbreviatur. Ohne den Gedanken ist das Wort gar nicht verständlich. Sein Gebrauch präsupponiert ihn, insofern es ohne den Gedanken sinnlos wäre. Jedoch es präsupponiert ihn nicht allein, es evoziert ihn auch. Bei jeder Wiederholung macht es ihn erneut lebendig, eben deshalb, weil ja der Gedanke, als präsupponierter, stets vergegenwärtigt werden muß, damit das Wort im Äußerungszusammenhang verstanden werden kann. Es gilt gleichermaßen für die Kampf- wie für die Zukunfts- und die Ziel- und die Aktionsbegriffe, daß durch sie der jeweils durch sie mitgegebene Gedanke sozusagen eingeübt und eingeschärft wird, sooft man sie verwendet oder auch nur hört und liest. Damit aber liegt es auf der Hand, daß und inwiefern »Begriffsgeschichte« eo ipso auch Mentalitätsgeschichte sein kann. Mentalitätsgeschichte ist  – so haben wir gesehen – als Geschichte von Mentalitäten wesentlich auch Geschichte von habituell gewordenen, gewohnheitsmäßigen Gedanken. Verstehen wir jetzt mit Koselleck den Begriff – das heißt, ich wiederhole es, das Wort – als Chiffre, als Vehikel des Gedankens, dann ist klar, daß die gewohnheitsmäßige Verwendung ganz bestimmter Wörter – wie z. B. Klasse – das habituelle Denken von gewohnt gewordenen Gedanken impliziert und stets auf neue induziert und (dies insbesondere für Historiker) auch indiziert. Das gilt so für einen eingeführten Sprachgebrauch und für bereits habituell gewordene Gedanken. Doch natürlich auch als die Geschichte eines Wandels (nicht nur der historischen Konstanz) gewohnheitsmäßiger Gedanken ist »Begriffsgeschichte« linguistische Mentalitätsgeschichte ; wo sie also einen neuen Sprachgebrauch beschreibt, der sich gerade anbahnt  – was besonders die Historiker der »Grundbegriffe« interessiert hat – oder einen alten Sprachgebrauch beschreibt, der auf hört. In einer solchen Phase

Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte

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der semantischen Entwicklung ist entweder eine Bezeichnungskonkurrenz (Konkurrenz verschiedener Bezeichnungen der »selben« Sache im Gebrauch verschiedener sozialer Gruppen) oder eine Bedeutungskonkurrenz (verschiedener semantischer Gebrauch desselben Wortes durch verschiedene soziale Gruppen) festzustellen, wie die beiden Möglichkeiten Klein (1989, 17 ff.) konzise unterschieden und benannt hat.15 Jede Wortverwendung trägt in einer solchen Phase dazu bei, den einen oder auch den anderen Sprachgebrauch zu stärken oder obsolet zu machen. Diese Konkurrenz der Wörter und der Wortbedeutungen ist aber von historischem Interesse gerade deshalb, weil der Unterschied im Sprachgebrauch mit einem Unterschied im Denkgebrauch einhergeht. Die Geschichte der Veränderung von Sprachgebräuchen ist mentalitätsgeschichtlich gar nichts anderes als die Geschichte von Gedanken, deren Selbstverständlichkeit sich anbahnt oder aufhört. Lexikalisiertes Sollen Also die »Begriffsgeschichte« kann insofern als Mentalitätsgeschichte angesehen werden, als sie ihrem eigenen Programm zufolge Wandlungen im Denken der historischen Subjekte darstellt. Gilt dies auch für Wandlungen im Fühlen und im Sollen (oder Wollen) der historischen Subjekte ? Gilt es außer für den Logos ebenso auch für das Pathos und das Ethos, daß es sich in den Koselleckschen Begriffen ausdrückt ? Was das Fühlen und das Pathos angeht: daran hat Koselleck offensichtlich kein Interesse, und schon die Bezeichnung eines Wortes als Begriff ist dazu angetan, den affektiven Anteil an der Wortbedeutung aus dem Sprachbewußtsein auszublenden. Aber immer wieder unterstreicht Koselleck, daß in den Begriffen auch ein Ethos, auch ein Sollen mitgesagt wird. So schreibt er (loc. cit., 111) über Staatsbürger, daß dieses Wort antizipatorisch hinweist »auf ein Verfassungsmodell, das nunmehr zu verwirklichen sei«. Und dies ist ein Typ der Formulierung, der sich bei Koselleck ähnlich öfter findet. So etwa, wo er davon spricht, daß die Zukunftsbegriffe dazu dienen, »erst künftig zu erringende« Positionen sprachlich vorzuformulieren (113) oder wenn er später davon redet, daß Demokratie als ein Erwartungsbegriff allmählich alle anderen Verfassungsformen »in die Illegalität drängt« (118) ; oder wenn er einmal sagt, im Laufe der historischen Entwicklung werde der in vielen Begriffen »enthaltene Anspruch auf Verwirklichung« immer größer (113). Es haben diese Formulierungen gemeinsam, daß darin eine dritte Grundidee Koselleckscher historischer Semantik ausgedrückt wird, die  – obwohl Koselleck sie als 15

Bevor Klein die beiden Termini geprägt hat, stand der Linguistik nur der Terminus der ideologischen Polysemie von Dieckmann (1969, 70 ff.) zur Verfügung. Dieser nützliche Begriff ist rein semantisch. Demgegenüber ist Bedeutungskonkurrenz ein semantisch-pragmatischer Begriff, der darauf abhebt, daß die ideologische Polysemie in der Regel nicht ein neutrales Nebeneinander, eine friedliche Koexistenz von Wörtern ist, daß vielmehr in der Regel um die Wörter in der Politik und Ideologie gestritten wird, daß es dort also einen »Streit um Worte« (Lübbe 1967) geben kann.

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selbstverständlich unterstellt und sie nur immer wieder einflicht in den Fortgang seines Textes – doch für die Semantik gleichfalls neu ist ; für die linguistische Semantik und gewiß auch die Semantik der Historiker, die ja Koselleck eben erst begründet. Nämlich die Erkenntnis, daß ein Wort, das scheinbar Gegenstände oder Sachverhalte einfach nur beschreibt bezüglich ihres Seins, zugleich auch dazu dienen kann, ein Sollen auszudrücken. Das ist bei Koselleck klar erkennbar im Gebrauch des deutschen Gerundivums (zu verwirklichen, zu erringende) wie in den Vokabeln Illegalität und Anspruch, von denen hier Koselleck sagt, ihre Bedeutung könne in Begriffen mitgegeben sein ; wobei er zu verstehen gibt, es sei geradezu der Sinn und die Funktion historischer Begriffe, insbesondere ein Sollen auszusagen. Damit hat Koselleck das Programm einer historischen Semantik aufgestellt, die nicht nur auf den deskriptiven, sondern auch den präskriptiven Anteil an der Wortbedeutung achtet ; oder auf die, wie man das Gemeinte gleichfalls nennen kann, deontische Bedeutung von Lexemen.16 Die deontischen Bedeutungskomponenten sind die lexikalische Entsprechung dessen, was sich mentalitätsgeschichtlich als das kollektive Sollen (also auch als kollektives Wollen) darstellt. Kraft der in den Wörtern mitgemeinten und mitausgesagten Sollenskomponenten der Bedeutung – eben der »deontischen Bedeutung« – sind die Wörter die Vehikel oder Abbreviaturen von Gedanken auch bezüglich dessen, was der Fall sein soll ; und nicht allein bezüglich dessen, was der Fall ist. Und es gilt auch für die Wörter mit deontischer Bedeutung, daß bei jeder Wiederholung eines solchen Wortes der Gedanke evoziert und eingeübt und eingeschärft wird, dessen Chiffre dieses Wort ist. Jede Wiederholung eines Wortes mit deontischer Bedeutung ist zugleich die Wiederholung des deontischen Gedankens, den es ausdrückt. Dergestalt, daß auch mit jeder Wiederholung eines solchen Wortes das in ihm chiffrierte, das in ihm auf den Begriff gebrachte Sollen sich erneuert und bekräftigt. Demzufolge ist der Nachweis des Bestehens eines kollektiven Sprachgebrauchs bei Wörtern mit deontischer Bedeutung gleichbedeutend mit dem Nachweis, daß auch der dem Wort entsprechende deontische Gedanke in der Sprachgemeinschaft, die das Wort habituell verwendet, in gewohnheitsmäßigem Gebrauch, d. h. habituell ist. Kollektiver Sprachgebrauch bezüglich eines Wortes mit spezifischer deontischer Bedeutung ist daher Beweis des Eingegangenseins des diesem Wort entsprechenden deontischen Gedankens in das kollektive Denken: in die Mentalität der Sprachgemeinschaft. Eine neue Variante der »Begriffsgeschichte« Man hat zu recht an der historischen Semantik der »Begriffsgeschichte«, wie sie in den »Grundbegriffen« praktiziert wird, manches kritisiert, d. h. auf manches hingewiesen, was man daran noch verbessern könnte ; auch bleibt, wie nicht anders zu erwarten, 16

Zum Begriff »deontische Bedeutung« vgl. Hermanns (1989, Kap. 1).

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die Ausführung in mancher Hinsicht hinter dem Entwurf zurück.17 Für das Wohl und Wehe der Begriffsgeschichte als Mentalitätsgeschichte ausschlaggebend ist dabei die Quellenauswahl, die – wie man gesagt hat – diese »Grundbegriffe« zu »ideengeschichtlichen Gipfelwanderungen« geführt hat, »welche die kanonisierten ›großen‹ Theoretiker von Aristoteles bis K. Marx bevorzugen, ohne deren gesellschaftliche Repräsentativität nachzuweisen und zur politischen Alltagssprache vorzudringen« (Reichardt 1985, 63).18 Das bedeutet, daß, soweit dies zutrifft, die »Begriffsgeschichte« die Mentalität im Sinne der Mentalitätsgeschichte nicht beschreibt, da diese ja gerade in gewohnheitsmäßigen Gedanken (und Gefühlen) von sozialen Gruppen – nicht von Einzelnen – besteht, so daß zu ihrem Nachweis zweierlei gehört, was eine herkömmlich ideengeschichtliche Begriffsgeschichte nicht leistet: a) der Nachweis der Gewohnheitsmäßigkeit und b) der Nachweis der sozialen Allgemeinheit der betreffenden Gedanken (und Gefühle) in der jeweiligen sozialen Gruppe. In der Germanistik bisher noch nicht recht beachtet worden, scheint es, ist demgegenüber eine neue Variante der »Begriffsgeschichte«, wie sie Reichardt (1982, 1985) konzipiert und auch ins Werk gesetzt hat ; eine Variante, die den Fehler der zu recht gerügten bloßen »Gipfelwanderungen« nicht macht. Seit 1985 erscheint (in bisher dreizehn von geplanten etwa fünfzig Heften) das von Reichardt und Schmitt (bislang) bzw. Lüsebrink (nunmehr) herausgegebene »Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 – 1820«, das zur Quellenbasis »serielle« Texte »kollektiven Charakters« hat. Das gilt insbesondere für Wörterbücher, Lexika, Zeitschriften, Zeitungen, Flugschriften, Almanache, Katechismen, Sitzungsprotokolle, die hier systematisch ausgewertet werden. So ist dieses »Handbuch« der Beweis dafür, daß sich Begriffsgeschichte in

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Mir selber ist bei der Lektüre einzelner Artikel aufgefallen: 1) Gerade der Kosellecksche Gedanke, daß die ausgewählten Grundbegriffe als »Faktoren« der Geschichte wichtig seien, kommt oft nicht genug zum Tragen. 2) Der Kosellecksche Begriff wird mißverstanden mit der Folge, daß in den Artikeln Wortgeschichte und Begriffsgeschichte durcheinandergehen. 3) Manchmal fehlt es an Herausarbeitung von Strukturen (großen Linien) der semantischen Entwicklung, was beim Leser dann den Eindruck hinterläßt: er sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. 4) Auf Bezeichnungskonkurrenzen (auf die Konkurrenzbegriffe zu behandelten Begriffen) wird nicht systematisch abgehoben. 5) Die Bezeichnungs- und Bedeutungskonkurrenzen werden im historischen Gefüge der gesellschaftlich-politischen Tendenzen manchmal nicht verortet. 6) Die – im Laufe der Geschichte einem Wandel unterliegende  – pragmatische Funktion der einzelnen Begriffe wird in manchen der Artikel nicht beachtet, so daß das in den Koselleckschen Begriffsbegriffen (s. o.) angelegte Potential historischer Erklärung ungenutzt bleibt ; insbesondere die deontischen Gedanken, die in den Begriffen mitgesagt sind, werden ungenügend explizit gemacht. Zur Kritik der »Grundbegriffe« möchte ich im übrigen pauschal auf einen von Koselleck (1978) selbst edierten Sammelband verweisen, auf die Rezension v. Polenz’ (1973) und das Buch von Busse (1987).

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Ähnlich spricht auch z. B. Schultz (1978, 50) von einer »philosophischen Gratwanderung« der »Grundbegriffe«. Schon v. Polenz (1973, 236 ) hat empfohlen, bei der Redaktion der »Grundbegriffe« auf »den Unterschied zwischen elite-publikationen und massenmedien« mehr zu achten und ihn explizit zu machen.

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der Tat von Geistesgeschichte alten Stiles unterscheiden und Geschichte ebenso von kollektiven Sprachgebräuchen wie von kollektiven Denkweisen sein kann.

4 Linguistische Mentalitätsgeschichte als Diskursgeschichte Wenn »Begriffsgeschichte« ansatzweise schon Mentalitätsgeschichte ist, dann fragt es sich, in welche Richtung sie entwickelt werden sollte, wenn das Ziel ist, daß sie vollends zur Mentalitätsgeschichte wird. Und es fragt sich, wie man eine solchermaßen fortentwickelte Begriffsgeschichte dann am besten nennt ; wobei zu wünschen ist, der Name möge ebenso das Ziel wie die Methode der gewollten Fortentwicklung der »Begriffsgeschichte« indizieren. Beide diese Wünschbarkeiten sind erfüllt mit dem Begriff Diskursgeschichte und mit dem Programm einer Begriffsgeschichte als Diskursgeschichte, wie es in der deutschen Linguistik erstmals Busse (1987, 221 ff.) formuliert hat, der sich damit Stierle (1978) sowie Günther (1979) anschließt, die sich ihrerseits auf Barthes und auf Foucault beziehen. Demnach wäre das Programm der Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte als Programm einer Begriffsgeschichte als Diskursgeschichte engzuführen und zu präzisieren. Der Diskurs als Textgeflecht Die Verwendung eines nachgerade ominösen Wortes – wie Diskurs es offenbar für manche Sprachteilhaber ist  – bedarf besonderer Begründung, wenn man dieses Wort zu einem Leitwort der historischen Semantik machen möchte. In der Tat ist zu befürchten, daß Diskurs als Fahnenwort für philosophisch und politisch linke Positionen mißverstanden wird, und insbesondere drängt sich auch bei linguistischem Gebrauch des Wortes die Erinnerung an Habermas und dessen Ideal der Herrschaftsfreiheit des Diskurses auf, was im Zusammenhang historischer Semantik ganz besonders unerwünscht ist, denn hier geht es oft gerade um die Herrschaft über die Diskurse wie auch um die mittels der Diskurse angestrebte und tatsächlich ausgeübte Herrschaft. Fachsprachlich-linguistisch ist das Wort zudem bereits besetzt durch die Diskurs-Analyse, der es (neben Konversation sowie Gespräch) als deutscher Terminus für englisch discourse dient. Bildungssprachlich ist das Wort Diskurs insofern störend polysem, als es ebenso die Rede einer einzelnen Person (dann hebt es gerade auf den monologischen Charakter des Diskurses ab) wie aber andererseits auch das Gespräch, die Diskussion, die Auseinandersetzung mehrerer Personen meinen kann. Und schließlich ist es neuerdings ein Modewort. Es spricht also einiges dagegen, dieses ominöse ebenso wie mehrfach polyseme Wort Diskurs nun auch noch im Zusammenhang der Sprachgeschichte zu benutzen.19 19

Zur Bedeutung von Diskurs im deutschen Sprachgebrauch der Gegenwart vgl. Harras (1989). Den Diskursbegriff Foucaults erörtert Busse (1987, 222 ff.). Zu dem von ihm entwickelten Spezialbegriff des »politischen Diskurses« vgl. Hopfer (1992, 112 ff.).

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Warum also, wird man fragen, trotzdem von Begriffsgeschichte als Diskursgeschichte reden ? Deshalb, weil wir einen Terminus benötigen, der auf den Kontext der Entstehung, des Gebrauchs sowie des Wandels der Begriffe abhebt – jenen Kontext, den wir als Begriffshistoriker rekonstruieren müssen, wenn wir die pragmatische Funktion und die semantische Bedeutung der Begriffe klären wollen. Sicherlich, ein Kontext ist bereits der Text, in dem ein jeweils interessierender Begriff verwendet wird. Doch dieser Text ist seinerseits in einen Kontext anderer Texte eingebettet, und zwar so, daß der Bezug auf diese anderen Texte für ihn selber mitkonstitutiv ist ; und für die Bedeutung der in ihm verwendeten Begriffe. Einzeltexte haben ihren vollen Sinn erst im Zusammenhang mit diesen anderen Einzeltexten, also im Zusammhang von Textensembles oder Textgeflechten, wie sie Hopfer (1992, 117) treffend nennt: die Einzeltexte sind nur als Fragmente oder Elemente solcher Textgeflechte angemessen zu verstehen. Und für die Bezeichnung solcher Textgeflechte bietet sich Diskurs als Name an. Und zwar, scheint es, nur das Wort Diskurs, es gibt kein gutes Synonym. Also bleibt uns (wie dies schon beim Terminus Mentalität der Fall war) gar nichts anderes übrig, als Diskurs zu sagen und den Terminus Diskursgeschichte zu verwenden, wenn wir unterstreichen und prägnant zum Ausdruck bringen wollen, daß die Sprachgeschichte die Zusammenhänge mitbedenken muß, in denen ihre Quellentexte stehen. Der Diskurs als Dialog zu einem Thema Die Diskurse stehen ihrerseits in je spezifischen historischen (kulturgeschichtlichen, sozialen, ökonomischen, politischen) Zusammenhängen, was das Wort Diskurs erwünschtermaßen gleichfalls aussagt, jedenfalls, soweit es an Foucault erinnert. So betont das Wort Diskursgeschichte  – was das Wort Begriffsgeschichte nicht tut  – daß historische Semantik als Bestandteil von Gesellschafts- und Sozialgeschichte zu verstehen und zu praktizieren sein soll. Insbesondere sind es aber doch die Textzusammenhänge, die die Einheit des Diskurses stiften. Diese wiederum sind a) thematische, b) intertextuelle. Die thematischen Zusammenhänge ihrer Quellentexte sind für die historische Semantik deshalb wichtig, weil durch den thematischen Zusammenhang der jeweils untersuchten Texte schon von selbst dafür gesorgt ist, daß auch wirklich in den Quellen die semantischen Zusammenhänge existieren, wie sie die Semantik dann rekonstruieren möchte. Denn die Wörter jeder Sprache ordnen sich semantisch so zu Gruppen, daß man sagen kann: sie ordnen sich nach Themen. Die historische Semantik kann nicht einfach nur semasiologisch, sondern muß auch onomasiologisch vorgehen. Doch im Gegensatz zur hergebrachten Onomasiologie mit ihrer ein für allemal gesetzten Weltaufteilung sind für die historische Semantik ihre Gegenstandsbereiche jeweils neu und

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anders zu bestimmen und zu ordnen. Diese Gegenstandsbereiche sind jedoch nichts anderes als thematische Bereiche.20 Was die Intertextualität der Texte des Diskurses angeht, so besteht sie wesentlich im quasi-dialogischen Charakter, den Diskurse haben, und insofern ist es gar nicht unwillkommen, wenn Diskurs im Rahmen der Diskursgeschichte an Diskurs im Rahmen der Gesprächs- bzw. Diskursanalyse denken läßt. Diskurs bedeutet auch im Kontext der historischen Semantik eine Art Gespräch ; zunächst ein Zeitgespräch. Also die Diskurse sind zunächst die Zeitgespräche. Für die Sprachgeschichte geht es darum, sich in diese Zeitgespräche sozusagen einzuhören. Quellentexte sind für sie Fragmente der in ihrer Ganzheit nicht mehr existenten Zeitgespräche. Außer durch das Thema sind die Texte des Diskurses daher auch noch dadurch intertextuell verbunden, daß der eine Text die Antwort auf den andern sein kann. Oder, wenn nicht Antwort, doch ein Echo – wenn auch manchmal nur ein fernes Echo ; dann ist der Bezug der Texte nur ein indirekter. Manchmal gibt es einen Prototext – so könnte man ihn nennen – des Diskurses, der ein Thema auf bringt und der manchmal auch die Leitvokabeln und die Leitgedanken eines sich entwickelnden Diskurses vorprägt oder neu zur Diskussion stellt. Oder Texte können auch auf eine Vielzahl anderer Texte eine Art von Antwort oder Echo sein, wie dies bei wissenschaftlichen Texten oft der Fall ist, wo der Antwortcharakter eines Textes explizit gemacht wird durch Anmerkungen und Literaturverweise. Ex- oder implizit, indirekt oder auch direkt beziehen sich die Texte des Diskurses quasi-dialogisch oder quasi-responsorisch aufeinander. Und vor allem dieses macht sie – als Gesamtheit – zum Diskurs.21 Der Diskurs als Korpus Filmtechnisch-metaphorisch ausgedrückt ist der Begriff Diskurs ein Zoom: geeignet, größte wie auch kleinste Mengen, Obermengen oder Untermengen, von thematischdialogisch-intertextuell verknüpften Texten zu bezeichnen. Beispielsweise ist es möglich, den »Diskurs der (über die) Nation im 19. Jahrhundert« allgemein zum Gegenstand zu machen oder aber einzuschränken, etwa auf den »literarischen Diskurs« zu diesem Thema oder den »politischen Diskurs« oder auf »in der Arbeiterbewegung« oder auf »in der Paulskirche« usw. Ein Beispiel für einen kleineren, gut überschaubaren Diskurs, das Teubert (1992) gibt, ist der »Historiker-Streit«, der aber im Zusammenhang des größeren Diskurses der »Vergangenheitsbewältigung« zu sehen ist. Wir sind frei, die Grenzen

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Daß die Begriffsgeschichte auch onomasiologisch sein muß, betont bereits Koselleck (1972, 121). Zur Relevanz des »Themas« für Diskurse vgl. Hopfer (1992, 116), zum Entwurf einer »als Problemgeschichte (bzw. als Themengeschichte)« konzipierten Sprachgeschichte Stötzel (1993, 116).

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Le Goff (1981, 23) spricht vom Echospiel der Texte des Diskurses. Hopfer (1992, 118) unterscheidet zwischen Initial- und Folgetexten.

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des Diskurses, den wir untersuchen wollen, je nach unserem Interesse und nach unseren Möglichkeiten weiter oder enger abzustecken, wenn auch von der Sache her die Willkür ihre Schranken findet. Was die geistes- und die wissenschaftsgeschichtlich wichtigen Diskurse angeht, ist es von der Sache her nicht selten falsch, die Grenzen der Betrachtung mit den Fächergrenzen gleichzusetzen ; die Diskurse sind oft f ächerübergreifend. Oft ist ein historischer Diskurs auch sprachenübergreifend, und Bedeutungswandel kann in diesem Falle innereinzelsprachlich angemessen nicht beschrieben werden.22 Für die Forschungspraxis sind zunächst  – so Teubert (1992)  – die Diskurse gar nichts anderes als Korpora von Einzeltexten. Der zu einem Thema wirklich abgelaufene historische Diskurs ist vorzustellen als ein (je nach Thema) schlechterdings immenses Korpus aller jener  – mündlichen und schriftlichen  – Einzeltexte, die das Thema irgendwie behandelt haben oder auch nur streiften. In der Regel sind die Texte dieses Korpus  – gottseidank, ist man versucht zu sagen  – bis auf kleine Reste nicht mehr existent und haben keine Spuren hinterlassen. Dieses als real gewesen vorgestellte oder phantasierte Korpus wirklich aller Texte des Diskurses ist im Rückblick nurmehr ein imaginäres Korpus. Demgegenüber ist der Restbestand aller jener Texte des Diskurses, die noch irgendwie und irgendwo erhalten sind, das virtuelle Korpus der Diskursgeschichte. Durch gezielte Sammlung, Sichtung und Gewichtung wird (nach Elimination des Unbrauchbaren und des weniger Ergiebigen) das virtuelle Korpus zum konkreten Korpus aller jener Texte des Diskurses, die der sprachhistorischen Untersuchung dann zugrundeliegen. Dessen Repräsentativität (ein problematischer, doch nötiger Begriff ) ist entscheidend für die Qualität der Resultate, sie bestimmt bekanntlich Möglichkeiten ebenso wie Grenzen jeder sprachgeschichtlichen Recherche ; in der Teubertschen Betrachtungsweise aber derart, daß die – nunmehr nicht mehr quasi nur mechanisch vorzunehmende – Konstitution des Korpus die versuchte Rekonstruktion eines historischen Diskurses ist. Deshalb ist eine diskursgeschichtliche Semantik schon im Stadium der Quellenauswahl hermeneutisch. Das von vornherein zum Zweck erstellte möglichst repräsentative Korpus kann man auch als ein Dossier bezeichnen, denn es soll ja dazu dienen, eine Argumentation zu stützen.23

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Statt von einem weiteren (umfassenden) Diskurs zu reden, ist es oft auch sinnvoll, mehrere gruppenspezifische Diskurse zu unterscheiden, zwischen denen dann ein die Spezialdiskurse umfassender Interdiskurs statthaben kann, dazu vgl. Wagner (1992, 85, mit Verweis auf Jürgen Link) und Hopfer (1992, 119).

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Die Begriffe virtuelles Korpus und konkretes Korpus sind von Teubert (1992), wie auch der Gedankengang in diesem Absatz. Er wird ausführlicher dargestellt von Busse & Teubert (1994). – Der Begriff Dossier im hier gemeinten Sinn ist in der französischen Mentalitätsgeschichte häufig, z. B. benutzt ihn so Le Goff (1981, 23); mich hat auf seine Nützlichkeit Janos Riesz (Bayreuth) hingewiesen. Gegenüber Korpus hat Dossier, wie schon gesagt, den Vorteil, daß Dossier auf Sinn und Zweck der Sammlung von primären (und auch sekundären) Texten abhebt, die zu machen man sich anschickt.

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Wird ein Korpus, wie es Teubert vorschlägt, als Diskurs betrachtet und im Hinblick darauf auch schon eingerichtet, so hat dies den großen Vorteil, daß die Texte darin nicht mehr bloß als Aggregate von Lexemen (oder auch grammatischen Strukturen) angesehen werden. Im Begriff des Korpus, wie er von der Deskriptiven Linguistik Bloomfields und der Bloomfieldianer übernommen wurde, ist von der Bedeutung wie Funktion von Texten wie von Wörtern innerhalb der Texte systematisch abstrahiert. Sind die Texte einmal im Computer, braucht man diese Texte daher gar nicht mehr zu lesen, so das Ideal der Korpuslinguistik. Als die Teile eines Korpus warten Texte sozusagen nur noch darauf, daß man sie verzettelt. Die Verzettelung der aus dem Text gewonnenen Belege ist die zweite Phase dessen, was man eine Textzerstörung nennen könnte. Dessen erste Phase aber ist bereits die Sinnlosmachung eines Textes dadurch, daß man ihn aus seinen intertextuellen und historischen Zusammenhängen isoliert. Der Begriff Diskurs als Leitwort der historischen Semantik könnte helfen, die Zusammenhänge wieder in den Blick zu rücken, denen Texte ihre Existenz und ihre Form und ihren Sinn verdanken. Damit könnte er auch einen Beitrag dazu leisten, die historische Semantik mit dem Selbstverständnis auszustatten, daß sie eine auf Verstehen angelegte, also hermeneutische und philologische Teildisziplin der Linguistik ist. Insgesamt bringt der Begriff Diskursgeschichte eine neue Ordnung in die Masse all der Texte, die als potentielle Quellen der historischen Semantik angesehen werden können. Diese Masse bildet – wie man hier saussurianisch unterscheiden könnte – nur den Stoff (matière) der Sprachgeschichte, der zu unterscheiden ist vom Gegenstand (objet) der Sprachgeschichte, den ein leitender Gesichtspunkt ( point de vue) schafft, unter dem die Sprachgeschichte jeweils ihren Stoff betrachtet, ihn so allererst in ihren Gegenstand verwandelnd: erst die Perspektive, so betont Saussure, macht aus dem Stoff den Gegenstand, und erst aufgrund der Perspektive haben – je verschieden nach der Perspektive – auch die Elemente und Aspekte des zuvor noch a- und polymorphen Stoffes der Geschichte ihre Relevanz und ihren Sinn.24 In der Perspektive der Diskursgeschichte werden Quellentexte dergestalt zum Gegenstand der Sprachgeschichte, daß sie wieder zu Gesprächsbeiträgen werden ; und zwar dadurch, daß man sie als Komponenten eines Zeitgespräches auffaßt. Wieder eingebettet in die – je rekonstruierten – diskursiven und historischen Zusammenhänge, deren Teil sie einmal waren, stellen sich die Quellentexte als die Elemente einer diskursiven Auseinandersetzung dar, in der sich Denken, Fühlen, Wollen – die Mentalitäten – der historischen Subjekte ebenso artikulierten wie konstituierten. Die Diskursgeschichte fragt nach den Zusammenhängen und nach den Funktionen, die die Texte darin hatten, 24

Die Saussuresche Unterscheidung zwischen Stoff und Gegenstand der Linguistik ist in Lommels deutscher Übersetzung weggefallen ; Stoff sowohl wie Gegenstand der Linguistik sind dort beide Gegenstand der Linguistik (dazu Hermanns 1992).

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und versucht, Beschaffenheit und Sprachgebrauch der Texte aus Funktionen dieser Texte in den intertextuellen und historischen Zusammenhängen zu erklären. Daraus nämlich werden diese Texte ebenso wie ihre Sprachgebräuche erst verständlich, das betont die Formel Sprachgeschichte als Diskursgeschichte. Beispiele diskursgeschichtlicher Mentalitätsgeschichte Ist die als Diskursgeschichte konzipierte linguistische Mentalitätsgeschichte bislang nur ein Wunschtraum des Verfassers dieses Beitrags oder hat sie irgendwo schon Existenz gewonnen ? Dies ist in der Tat der Fall, und zwar, wie eingangs schon gesagt, sowohl inner- wie auch außerhalb der Linguistik.25 Innerhalb der deutschen Linguistik diesbezüglich zukunftsweisend sind die Bücher von Dietz Bering. Ohne schon Begriffe wie Diskurs und Mentalität selbst zu gebrauchen, schreibt doch Bering in dem Buch »Die Intellektuellen« (1978) die »Geschichte eines Schimpfwortes« (so der Untertitel), also eine Wortgeschichte, die zugleich auch die Geschichte einer Einstellung oder Haltung – nämlich zu den deutschen Intellektuellen – und als solche ein Stück Mentalitätsgeschichte ist ; und zwar, indem er den Gebrauch des Wortes nacheinander im Diskurs der »nationalistisch-faschistischen« Rechten (Teil 4 des Buches), »bei den Marxisten« (Teil 5) und »den bürgerlich-demokratischen Humanisten« (Teil 6) untersucht. Auch Berings zweites Buch, »Der Name als Stigma« (1987), ist mentalitätsgeschichtlich, denn es handelt (so der Untertitel) vom »Antisemitismus im deutschen Alltag 1812 – 1933«, und diskursgeschichtlich, denn es stützt sich auf die aktenmäßig überlieferten Diskurse einerseits der Spitzen der Regierung und Verwaltung Preußens im genannten Zeitraum, die das Namensrecht und seine Handhabung bei jüdischen Staatsbürgern betreffen, andererseits die seriellen Quellen der Verwaltungs-

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Außerhalb der Linguistik gibt es manche Werke, die Exempel für Mentalitätsgeschichte als Diskursgeschichte sind. Meistens heben sie auf sprachliche, auf wortgeschichtliche Aspekte ihres Themas nicht besonders ab und sind daher nur implizit auch sprachgeschichtlich, wenn auch der Methode nach diskursgeschichtlich und dem Ziel und dem Ergebnis nach mentalitätsgeschichtlich. Das gilt beispielsweise für berühmte Werke wie »Über den Prozeß der Zivilisation« von Norbert Elias (1939) und die historischen Werke von Michel Foucault, etwa »Überwachen und Strafen« (1975), die im Gegensatz zu anderen seiner Schriften durchaus nicht anarchistisch stilisiert sind, sondern ganz methodisch ein Dossier von Quellen abarbeiten. Als besonders lesenswertes deutsches Beispiel für Mentalitätsgeschichte als Diskursgeschichte nenne ich das Buch von Ute Frevert (1991): »Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft«. Als diskurs- sowie mentalitäts- und begriffsgeschichtlich-philologisch gleichermaßen exemplarisch können gelten die bereits erwähnten und zu recht berühmten Bücher von Duby (1978) und von Le Goff (1981). Aus der amerikanischen »Intellectual history« sind mir bekannt und sind diskursgeschichtlich angelegt »Savagism and Civilisation« von Roy Harvey Pearce (1953), »Orientalismus« von Edward W. Said (1978; erbärmlich übersetzt). Diese kleine Auswahl – aus, ich wiederhole es, nur ganz begrenzter Kenntnis – der mentalitätsgeschichtlichen Literatur soll hier zeigen, welche Werke eine linguistische Mentalitätsgeschichte als Diskursgeschichte sich zum Vorbild nehmen könnte, dabei deutlicher als manche der genannten Werke auf die sprachlichen Aspekte der Mentalitätsgeschichte achtend.

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akten mit Namensänderungsanträgen, Stellungnahmen und behördlichen Bescheiden. Berings drittes Buch, »Kampf um Namen« (1991), hat zum Thema einen ganz spezifischen Diskurs, der sowohl journalistisch wie juristisch und gerichtlich abgelaufen ist und in dem »Bernhard Weiß gegen Joseph Goebbels« (so wiederum der Untertitel) sich zur Wehr gesetzt hat – eine Einzelfallstudie in Fortsetzung von Berings vorigem Buch, mit der die mentalitätsgeschichtliche und allgemeingeschichtliche Relevanz der Eigennamenfrage im Zusammenhang des Antisemitismus eindrucksvoll gezeigt wird. Ein hoffnungsvolles Zeichen für die Zukunft ebenso wie ein Beweis der projektmäßig-forschungspraktischen Durchführbarkeit diskursgeschichtlicher Mentalitätsgeschichte – mehr als Berings individuell geprägte Bücher – ist das anmerkungsweise schon erwähnte Buch von Martin Wengeler: »Die Sprache der Aufrüstung. Zur Geschichte der Rüstungsdiskussionen nach 1945« (1992). Es ist als Beitrag zu einer »Sprach- und Kommunikationsgeschichte als Bewußtseinsgeschichte« konzipiert und hat das Ziel, »mit sprachgeschichtlichen Mitteln […] ein vertieftes Verständnis der Zeitgeschichte zu ermöglichen« durch Beachtung von »Argumentationen, Sprachgebrauch und Bewußtseinslagen konkurrierender Gruppen« und deren »konkurrierenden Realitätsdeutungen« in den drei für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wichtigen, die Öffentlichkeit bewegenden »Debatten« über die westdeutsche Wiederbewaffnung, Atombewaffnung und Nachrüstung (Wengeler 1992, 9) – das ist ein diskurs- und mentalitätsgeschichtliches Programm, wenn Wengeler es auch nicht so nennt.26 Schließlich nenne ich als Beispiel und Exempel einer linguistisch ebenso diskurswie auch mentalitätsgeschichtlich relevanten Studie die in Benno Wagners (1992, 46 ff.) Buch »Im Dickicht der politischen Kultur« enthaltene Untersuchung zum kometenhaften Aufstieg und urplötzlichen Erlöschen des Begriffs Sympathisanten im historischen Zusammenhang des »Deutschen Herbstes«, die auch dafür der Beweis ist, daß es neben den mentalitätsgeschichtlich meist betrachteten Erscheinungen der »langen Dauer« (longue durée) durchaus politisch und historische wichtige Mentalitätserscheinungen von »kurzer Dauer« gibt. Sinn und Form und Gegenstand mentalitätsgeschichtlicher Semantik Fassen wir zusammen, was im Vorigen zu Sinn und Form und Gegenstand mentalitätsgeschichtlicher historischer Semantik (linguistischer Mentalitätsgeschichte) ausgeführt ist. Was den Gegenstand betrifft, so bleibt er prima vista gegenüber anderer historischer Semantik (insbesondere der »Begriffsgeschichte«) unverändert. Hier wie dort wird Wan-

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Wengelers Buch ist das bemerkenswerte erste größere Ergebnis eines Düsseldorfer Projekts zur Erforschung nachkriegsdeutscher (1945 bis heute) Sprachgeschichte (dazu Stötzel 1993), andererseits auch ein Beweis der Fruchtbarkeit der Reflexionen Busses zur »Historischen Semantik« (Busse 1987), auf die Wengeler zurückgreift.

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del und Konstanz von Sprachgebrauch – besonders Wortgebrauch – beschrieben ; und zwar nicht allein Bedeutungs-, sondern auch Bezeichnungswandel. Dabei konzentriert sich selbstverständlich die mentalitätsgeschichtliche Semantik auf mentalitätsgeschichtlich relevante Wörter. Und sie achtet dabei nicht nur auf die kognitive, sondern ebenso auch auf die emotive und die volitive (respektive präskriptive) Dimension der lexikalischen Bedeutung ; insgesamt auf lexikalisiertes Denken, Fühlen, Wollen (respektive Sollen). Was jedoch bezüglich ihres Gegenstandes die mentalitätsgeschichtliche Semantik gegenüber anderen Formen der Semantik deutlich unterscheidet, ist, daß sie nicht einfach (irgendwelche) Sprachgebräuche, sondern Sprachgebräuche-in-Diskursen untersucht, so daß man sagen kann: die eigentlichen Gegenstände dieser Spielart der historischen Semantik sind Diskurse, und sie selber ist bezüglich ihres Gegenstands Diskursgeschichte. Doch auch ihrer Form nach ist die linguistische Mentalitätsgeschichte – wie Mentalitätsgeschichte überhaupt – Diskursgeschichte. Das betrifft die Repräsentationsform ihrer Resultate wie die Art und Weise ihres Umgangs mit den Quellentexten. Diese sucht sie zu verstehen. Sie ist also hermeneutisch ebenso wie philologisch. Das bedeutet u. a., daß sie diese Texte nicht in Aggregate isolierter Minimalkontexte auf löst. Es bedeutet weiter, daß sie diese Texte und die Sprachgebräuche, die in ihnen manifest sind, in Beziehung setzt zu anderen Texten, die zu ihnen im Verhältnis einer dialogischen (bzw. quasi-dialogischen) und damit auch thematischen Beziehung stehen, und zu deren Sprachgebräuchen. Insbesondere darauf weist der Terminus Diskursgeschichte hin. Wie andere historische Semantik legt sie ihrer Untersuchung Korpora zugrunde ; doch ist für sie die Konstitution konkreter Korpora (bzw. von Dossiers) von Texten zugleich auch der Versuch einer Rekonstruktion gewesener Diskurse. Was den Sinn betrifft, so hat ihn die als Mentalitätsgeschichte konzipierte Sprachgeschichte darin, daß sie einen Beitrag zur Erforschung der Genese und Geschichte kollektiven Denkens, Fühlens, Wollens (respektive Sollens) leistet ; einen Beitrag also zur Erforschung eines größeren Zusammenhangs historischer Erkenntnis.

5 Sprachgeschichte, Weltansichten, Wirklichkeiten Einen größeren Zusammenhang der systematischen Erkenntnis, zu der Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte etwas beizusteuern hätte, nennt der Titel dieses letzten Abschnitts meines Beitrags. Eine linguistische Mentalitätsgeschichte liefert immer wieder den Beweis der Richtigkeit und Fruchtbarkeit des Humboldtschen bzw. Berger/ Luckmannschen Gedankens, daß mit der Verschiedenheit von Sprachgebräuchen auch Verschiedenheit der Weltansichten (Humboldt) und Verschiedenheit der Wirklichkeiten selbst einhergeht, wie die sprechenden historischen Subjekte sie im Mit-einanderSprechen konstruieren (Berger & Luckmann).

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Wie man weiß, ist das Vermächtnis Humboldts an die Linguistik dessen Grundgedanke – die Verschiedenheit der Sprachen sei nicht einfach die Verschiedenheit von »Schällen« und von »Zeichen«, sondern die »Verschiedenheit der Weltansichten selbst« (Humboldt 1820, 23). Dieser Grundgedanke ist seit langem eines der Miranda unserer Wissenschaft. Viel zitiert und offensichtlich ungebrochen faszinierend, ist indessen dieser Humboldtsche Gedanke forschungspraktisch für die Linguistik fast so gut wie folgenlos geblieben, so zumindest für die Germanistik und besonders für die deutsche Sprachgeschichte.27 Das gilt trotz bzw. gerade wegen Weisgerber, der mit seiner Humboldt-Interpretation in der postnationalsozialistischen Epoche deutscher Germanistik so erfolgreich war, daß Humboldt eine Zeitlang fast nur noch in Weisgerber präsent zu sein schien ; eben dies hat den Gedanken dann desavouiert. Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte wäre für die Linguistik eine Chance, das Vermächtnis Humboldts doch noch einzulösen. Dazu ist es nötig, daß die Linguistik sich von einem Irrtum freimacht, der sie an der Nutzbarmachung des Gedankens Humboldts hindert und der, neben manchen anderen Gründen, auch der eigentliche Grund dafür gewesen ist, daß Weisgerber auf den Forschungsfortgang letztlich keinen nennenswerten dauerhaften Einfluß haben konnte. Er besteht in der Identifikation von Sprache – als dem Inbegriff des Sprechens und des Sprachgebrauchs in einer Sprachgemeinschaft wie zugleich dem Inbegriff der Weltansichten einer Sprachgemeinschaft – mit Nationalsprache. Der Versuch, Verschiedenheiten in den Weltansichten nationaler Sprachen wie »des« Deutschen, »des« Französischen usw. aufzuweisen, mußte scheitern als Versuch am untauglichen Gegenstand.28

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In der Gräzistik etwa ist dies anders, wo Bruno Snell dem Humboldtschen Programm, ihm wohl (wie Weisgerber) vermittelt durch Cassirer, gefolgt ist in seinem Buch »Die Entdeckung des Geistes« (1955).

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Schon auf der Stufe des Gedankenexperiments mißlingt ja der Versuch, ein (sei es auch nur bezüglich eines Wirklichkeitsbereichs) bestimmtes Weltbild zu beschreiben, das der deutschen Sprache als das ihre eigentümlich sein könnte, mithin allen ihren Sprechern ; wie auch der Versuch mißlingt – und zwar bereits im Stadium der Spekulation – im Wege des Vergleichs zweierlei Weltansichten auszumachen, die man plausibel etwa als spezifisch »deutsch«, spezifisch »französisch« bezeichnen auch nur könnte. Erst recht mißlingt natürlich dann der Nachweis, daß es sich tatsächlich so verhält, wie man plausibel nicht einmal vermuten konnte. Vollends scheitert der Versuch, »die« Weltansicht »des« Deutschen schlechterdings zu finden, denn es läuft damit hinaus auf den Versuch, das Wesen der als homogen gedachten deutschen Sprache zu erkennen als »das Deutsche« an der deutschen Sprache, das es aber nun einmal nicht gibt. Der Versuch, so etwas wie »das« deutsche Weltbild zu ermitteln, beruht auf einer Homogenitätsannahme. Aber nationale Sprachen wie »das« Deutsche sind formal nicht homogen, wie dank der Soziologuistik heute alle Germanisten wissen und auch früher schon als Dialektologen hätten wissen können, sie sind jeweils ein System (oder auch Aggregat) von Subsystemen. Und schon gar nicht homogen sind sie bezüglich ihrer Weltansichten. Umgekehrt beruhen die Versuche, Weltbildunterschiede zwischen solchen Sprachen wie »dem« Deutschen einerseits und »dem« Französischen andererseits zu eruieren auch auf einer falschen Heterogenitätsannahme. Gerade etwa diese beiden Sprachen sind aufgrund der mehr als tausendjährigen gemeinsamen Geschichte in Europa weltbildmäßig derart ähnlich, daß fast alles, was sich in der einen Sprache sagen läßt, bequem und gut auch

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Wählt man aber andere Bezugseinheiten als Nationen auf der einen, nationale Sprachen auf der anderen Seite, dann erscheint die Richtigkeit des Humboldtschen Gedankens wie mit einem Schlage nicht bloß als plausibel, sie erscheint als evident. Es ist nämlich, darf man wohl behaupten, evident, daß – in Bezug auf jeweils relevante Themenkreise – erstens sich das Denken ebenso wie auch das Sprechen unterscheidet von .. B. Industriearbeitern und von wirtschaftlichen Führungskräften ; und von Liberalen und von Sozialisten ; und von Katholiken und von Protestanten ; und von Katholiken heute und von Katholiken noch vor fünfzig Jahren ; und daß zweitens jeweils die Besonderheit des Denkens einer Gruppe auch mit der Besonderheit des Sprechens dieser Gruppe parallel geht 29. Wählt man also Gruppensprachen (Sprachgebräuche in Diskursen von sozialen Gruppen) als die Gegenstände der Betrachtung, dann scheint Humboldt wieder relevant zu werden für die Linguistik, und es scheint die Möglichkeit gegeben, hier im einzelnen die Interdependenz von Sprache und von Denken zu erweisen. Nun ist aber die Erforschung und Beschreibung des im Sprechen (in Diskursen) manifesten Denkens von sozialen Gruppen gar nichts anderes als das Programm der linguistischen Mentalitätsgeschichte. Ins Historische gewendet, stimmt der Humboldtsche Gedanke also mit dem Grundgedanken der Mentalitätsgeschichte überein: daß es zu zeigen gelte, wie die Menschen früher anders dachten, insofern sie früher anders sprachen. Und Entsprechendes gilt auch zur Relevanz der linguistischen Mentalitätsgeschichte für den Berger/Luckmannschen Gedanken, Wirklichkeiten seien jeweils das Produkt sozialer Konstruktionen, und gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit geschehe insbesondere durch Sprache, im Gespräch (man könnte gleichfalls sagen: im Diskurs). Berger & Luckmann führen aus, daß »Sprache die Welt objektiviert, indem sie das panta rhei der Erfahrung in eine kohärente Ordnung transformiert. Durch die Errichtung dieser Ordnung realisiert Sprache eine Welt in doppeltem Sinne: sie begreift sie und erzeugt sie. Das Gespräch ist die Aktualisierung dieser verwirklichenden ›Wirkung‹ der Sprache […]. So ist also das fundamentale wirklichkeitswahrende Faktum der dauernde Gebrauch derselben Sprache […]« (Berger & Luckmann 1966, 164; Übersetzung leicht geändert). Und »dieselbe« Sprache, so erläutern Berger & Luckmann (ib., 164f.), ist keineswegs allein dieselbe nationale Sprache, sondern »von der internen Privatsprache der Primärgruppen über den Dialekt einer Landschaft oder den Jargon einer Gesellschaftsschicht« stiften alle Gruppensprachen ihre Wirklichkeiten. Mentalitätsgeschicht-

in der anderen Sprache auszudrücken ist. (Auf einem anderen Blatt steht das Problem der Übersetzung, insbesondere der literarischen Übersetzung als Problem der Textgestaltung, das als solches immer wieder neu zu lösen ist.) 29

So sollte man vorsichtig vielleicht sagen, um jeden Anschein der Behauptung einer unilateralen Determination des Denkens durch die Sprache zu vermeiden.

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lich könnte man auch sagen, daß das kollektive Denken Wirklichkeiten stiftet, wenn und insofern es sich in Gruppensprachen, in den gruppeneigenen Diskursen, äußert.30 Also darum geht es – oder kann es, wenn wir wollen, gehen – bei historischer Semantik: um die Interdependenz von »Sprache, Denken, Wirklichkeit«, wie das bei Whorf im Titel seines Buches (1956) heißt. Die historische Semantik als Mentalitätsgeschichte kann uns Zugang geben zu dem Denken von sozialen Gruppen der Vergangenheit und auch der Gegenwart, das sich von unserem eigenen Denken unterscheidet ; eo ipso gibt sie uns damit auch Zugang zu den Wirklichkeiten, die für diese Gruppen wirklich waren oder noch bis heute sind. Damit trägt sie dazu bei, bewußt zu machen, daß es nicht nur eine, nämlich unsere eigene, als selbstverständlich unterstellte, Wirklichkeit gibt, sondern viele Wirklichkeiten. Und sie kann uns also darin üben, andere Wirklichkeiten besser zu verstehen.

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Literatur

Ariès, Philippe (1960): L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime. Paris. [ Deutsch: Geschichte der Kindheit. München 1975 .] Ariès, Philippe (1977): L’homme devant la mort. Paris. [ Deutsch: Geschichte des Todes. München 1980 .] Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas (1966 ): The Social Construction of Reality. Garden City (N. Y.). [ Zit. nach der Übersetzung: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 5. Aufl. Frankfurt a. M. 1977.] Bering, Dietz (1978): Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes. Stuttgart. Bering, Dietz (1987): Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812 – 1933. Stuttgart. Bering, Dietz (1991): Kampf um Namen. Bernhard Weiß gegen Joseph Goebbels. Stuttgart. Besch, Werner ; Reichmann, Oskar ; Sonderegger, Stefan (Hgg.) (1984): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Erster Halbband. Berlin/ New York. Bloch, Marc (1924): Les rois thaumaturges. Strasbourg/Paris. Bloch, Marc (1939 / 1940): La société féodale. Paris. [ Deutsch: Die Feudalgesellschaft. Frankfurt a. M./ Wien/Berlin 1982.] Brunner, Otto ; Conze, Werner ; Koselleck, Reinhart (Hgg.) (1972 – 1992): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 7 Bände. Stuttgart. Burke, Peter (1990): The French Historical Revolution. The »Annales« School, 1929 – 89. Cambridge. [Zit. nach der Übersetzung: Offene Geschichte. Die Schule der »Annales«. Berlin 1991.] Busse, Dietrich (1987): Historische Semantik. Analyse eines Programms. Stuttgart (=  Sprache und Geschichte 13).

30 Zur Affinität der Mentalitätsgeschichte zur Wissenssoziologie von Berger & Luckmann vgl. Sellin (1985, 579): »Die Welt ist immer schon verstanden ; jede Gesellschaft, jede Sozialgruppe, jeder soziale Typus besitzt seine charakteristische Wirklichkeit. Dieser Besitz ist ein vortheoretisches Wissen, kraft dessen jedermann sich in der Gesellschaft verhält. Insofern läßt sich die Mentalitätsgeschichte auch als eine historische Wissenssoziologie verstehen«.

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Linguistische Anthropologie Skizze eines Gegenstandsbereiches linguistischer Mentalitatsgeschichte

Das Programm einer »Begriffsgeschichte als Diskursgeschichte« eröffnet u. a. die Möglichkeit, Veränderungen in der »Konstruktion der Wirklichkeit« historisch nachzuzeichnen, die im Wandel der Begriffe in Diskursen  – darum geht es ja in diesem Band  – sprachlich manifest sind. Zu der historisch jeweils konstruierten Wirklichkeit gehört nun insbesondere ein »Bild« (im Sinne Humboldts) auch des Menschen und der Menschen, das sich eine Gruppe der Gesellschaft oder das sich die Gesamtgesellschaft jeweils »macht«: ein sprachgeprägtes »Menschenbild«. Zwecks Eruierung solcher Menschenbilder kann man in bezug auf die Diskurse Fragen stellen wie z. B.: Wer gilt darin überhaupt als Mensch? Welche Menschenarten (Sorten) werden sprachlich unterschieden? Welche Eigenschaften und Verhaltensweisen werden (allen oder manchen) Menschen zugeschrieben? Welche Komponenten (Teile und Organe) haben Menschen? Welcherlei Gesellungs- und Gesellschaftsformen werden sprachlich unterschieden? Welche Tugenden und Laster haben Menschen? »Linguistische Anthropologie« soll hier ein Name sein für den Versuch, mit Hilfe solcher Fragen die Besonderheiten und Veränderungen sprachgeprägter Menschenbilder linguistisch darzustellen.

1 Linguistische Anthropologie Was ist »Anthropologie«? Ganz allgemein: die Lehre oder Wissenschaft vom Menschen.1 Wissenschaftlich eingeführt sind mehrere Spezialbedeutungen des Wortes. Danach sind die biologische, die philosophische, die theologische, die pädagogische, die ethnologische und die historische Anthropologie zu unterscheiden.

Dieser Beitrag ist erstmals 1994 erschienen in: Busse, Dietrich ; Hermanns, Fritz ; Teubert, Wolfgang (Hgg.): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Opladen, 29 – 59. 1

Ich verweise für das Folgende auf die Artikel »Anthropologie« in der »Brockhaus Enzyklopädie« (1986, 630 ff.) und im »Historischen Wörterbuch der Philosophie« (Marquard 1971).

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Biologische Anthropologie Biologisch ist Anthropologie im weiten Sinn des Wortes gar nichts anderes als die Biologie des Menschen. Insbesondere heißen aber biologisch folgende Spezialgebiete »Anthropologie«: a) die Lehre von der menschlichen Phylogenese (Gattungsgenese); b) die Lehre von der menschlichen Ontogenese (Individualgenese); c) die Lehre von der biologischen Variabilität des Menschen (bzgl. Körpergröße, Haut-, Haar-, Augenfarbe, Schädelform, Blutgruppen usw.) und vor allem von den »Menschenrassen« (»Rassenkunde«, »Rassenlehre«). Philosophische Anthropologie Anthropologie wird philosophisch heute allgemein verstanden als die Lehre von den Eigenschaften »des« – und das bedeutet: aller – Menschen, also von den Eigenschaften, die wir unabhängig von genetischen, historischen und kulturellen Unterschieden alle haben. Das war einmal anders. Beispielsweise findet man im zweiten Teil der Kantschen »Anthropologie« (Kant 1798) zwar auch ein Kapitel über den »Charakter der Gattung« Mensch, aber ihm vorangestellt sind die Kapitel über den »Charakter der Person«, den »Charakter des Geschlechts«, den »Charakter des Volks« und den »Charakter der Rasse«. Allerdings wird dabei wiederum allein der Frage nach dem Wesen  – ob des »weiblichen Geschlechtes«, ob der »Deutschen« – nachgegangen, aber immerhin umfaßt hier philosophische Anthropologie doch auch die Lehre von gewissen Unterschieden unter Menschen. Die Entstehung der modernen philosophischen Anthropologie als einer eigenen philosophischen Teildisziplin datiert man auf 1928 als Erscheinungsjahr von Schelers Buch »Die Stellung des Menschen im Kosmos« (Scheler 1928) und Plessners Buch »Die Stufen des Organischen und der Mensch« (Plessner 1928); man erkennt bereits an diesen Titeln, daß es in der philosophischen Anthropologie tatsächlich um das »Wesen«, um das Menschliche am Menschen, um die – wie man linguistisch sagen würde – Universalien des Menschlichen bei allen Menschen insgesamt geht. Für die philosophische Anthropologie besonders wichtig ist bis heute Arnold Gehlen, dessen Hauptwerk »Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt« (Gehlen 1940) den Menschen als ein »Mängelwesen« darstellt, das sich aber, aus der Not gewissermaßen eine Tugend machend, seine (je besondere) »Kultur« schafft, dergestalt, daß ihm das Haben von »Kultur« – im Unterschied zu allen anderen Lebewesen – »Natur« ist. Als philosophische Anthropologie (in einem weiten Sinn des Wortes) gilt Philosophie auch sonst, wenn sie und insofern sie der von Kant gestellten Frage nachgeht: »Was ist der Mensch?« Dies tut insbesondere – wenn sie sich auch selber nicht als »Anthropologie« bezeichnet – die »Existenzphilosophie« des 20. Jahrhunderts (Heidegger, Jaspers, Sartre). Auch hier geht es um das »Wesen« aller Menschen respektive ihres Menschseins.

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Ethnologische Anthropologie Auf die Vielgestaltigkeit des Menschlichen dagegen hebt entschieden jene Anthropologie ab, die ich hier als »ethnologische« bezeichne, die man aber ebenso als »ethnographische«, als »volks-« und »völkerkundliche« sowie als »soziologische« bezeichnen könnte, eingedenk des Diktums, daß die »Völkerkunde« eigentlich nichts anderes ist als Soziologie von kolonial beherrschten Völkern (vulgo »Stämmen«). »Anthropologie« in diesem Sinn ist in der deutschen Sprache eine Übernahme aus dem englischen und dem französischen Gebrauch der Wörter »anthropology« und »anthropologie« (das seinerseits die diesbezügliche Bedeutung aus dem englisch-amerikanischen »anthropology« bezogen hat),2 die sich wohl als bessere, weil unverfängliche Ersatzbezeichnungen für die euround amerikanozentrischen Bezeichnungen »ethnology« bzw. »ethnologie« empfohlen haben. Die Bedeutung von »ethnologie« war denn auch die gemeinte, als in der französischen Historiographie – nicht ohne Witz – der Terminus »anthropologie historique« gebildet wurde, womit eine Art von Völkerkunde zum Programm erhoben wurde, die sich erstmals der Erforschung nicht von fremden Völkerschaften widmen sollte, sondern der Erforschung eigener (französischer und europäischer) exotischer Vergangenheit in Sitten und Gebräuchen. Historische Anthropologie In der deutschen Übersetzung hat bedauerlicherweise die »historische Anthropologie« den Witz verloren, weil man bei dem deutschen Wort Anthropologie zunächst nicht an die ethnologische, sondern an die philosophische Anthropologie denkt, die als solche, da sie auf Erkenntnis dessen aus ist, was am Menschen unveränderlich ist, ahistorisch ist. Daher hat man in der Metahistoriographie den Terminus »historische Anthropologie« gelegentlich als paradox empfunden.3 Tatsächlich ist jedoch »historische Anthropologie« in Deutschland gar nicht anders als in Frankreich eine Art historische Ethnologie, d. h. sie untersucht die Lebensformen von Gesellschaften und von sozialen Gruppen der Vergangenheit. Sie ist, wie man formuliert hat, die »Geschichte der gewohnheitsmäßigen Verhaltensweisen«.4 Ihre Themen sind z. B.: die Geschichte der Ernährung; des Körpers

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So der »Dictionnaire historique de la langue française« (Rey 1992) s. v. »anthropologie«. Lepenies 1975, 325; 1977, 127. Zur deutschen Rezeption der historischen Anthropologie vgl. u. a. auch Nipperdey 1968, Nipperdey 1973, Süssmuth 1984. Beispiele deutscher historischer Anthropologie findet man u. a. in den Sammelbänden der Reihe »Historische Anthropologie«, etwa: Martin & Nitschke 1986, Martin & Zoepffel 1989. Burguière 1986, 54: »Une histoire des comportements et des habitudes – ce qu’on appelait au XVIIIe siècle une histoire des moeurs – c’est peut-être, dans son imprécision, l’expression qui convient le mieux pour désigner le champ couvert par l’anthropologie historique«. Ähnlich Burguière 1978, 74. Die folgende Aufzählung folgt Burguière 1978, 75 ff.

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(insbesondere der Krankheit); des Sexualverhaltens; der Familie. Zur historischen Anthropologie gehört auch die »Geschichte des privaten Lebens« bzw. »des Alltags«.5 Linguistische Anthropologie Demgegenüber soll nun »linguistische Anthropologie« hier etwas anderes bedeuten, nämlich: linguistisch-philologische historische Beschreibung sprachgeprägter Menschenbilder. Der Gedanke dabei ist, daß jede menschliche Kultur und Subkultur ihre je eigene Anthropologie hat, d. h. ein Bild des Menschen und der Menschen, eine (könnte man sie nennen) »Alltags-Anthropologie«. Eine solche Alltags-Anthropologie kann philologisch-linguistisch nachgezeichnet werden, insofern sie sprachlich manifest ist. Dabei kann man nach den Menschenbildern ganzer Sprachgemeinschaften und Sprachen (Sprachgebräuchen) wie der deutschen Sprachgemeinschaft und der deutschen Sprache suchen, aber (und vor allem) auch nach Menschenbildern von bestimmten Sprechergruppen und bestimmten Gruppensprachen (Soziolekten), die man kennenlernen möchte; immer eingeschränkt auf einen Zeitraum. Tut man dies, dann trägt man etwas bei zur »linguistischen Anthropologie«. »Linguistische Anthropologie« soll also nicht der Name einer neuen Disziplin sein. Sondern die »linguistische Anthropologie« gibt es immer nur, so meine ich, konkret, d. h. bezogen auf bestimmte, einzelne Diskurse ganz bestimmter einzelner Epochen oder Augenblicke.6 Das Etikett hat also nur den Sinn, auf eine Fragestellung und Thematik der historischen Semantik hinzuweisen, die im übrigen nicht einmal neu ist (Beispiele werden noch gegeben), sondern bloß noch – scheint es – keinen Namen hatte. Eine Fragestellung allerdings, mit der die Linguistik über das hinausgeht, was historische Semantik in der Regel tut und anstrebt. In der Regel fragt ja die historische Semantik nur nach Einzelwörtern. Mit der Frage nach den sprachgeprägten Menschenbildern geht sie über Einzelwortbetrachtungen hinaus und interessiert sich für semantische, thematische Zusammenhänge zwischen Wörtern, für den Wandel der Bedeutung ganzer Wortverbände, die zusammen jeweils einen Wirklichkeitsbereich beschreiben (damit knüpft sie an die Wortfeldtheorie an). Ferner fragt sie aber eo ipso auch danach, auf welche Weise diese Wortverbände jeweils einen Wirklichkeitsbereich, auf den sie sich beziehen, strukturieren und gestalten; hier: ein Menschenbild bzw. Teile oder auch Aspekte eines Menschenbildes. Damit stellt sie jeweils dar, wie die historische »gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« – wie

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Repräsentativ dafür: Ariès & Duby 1985 – 87. Was nicht ausschließt, daß man Überblicksdarstellungen versuchen kann, nach dem Muster einzelner Kapitel in dem Band von Dinzelbacher (1993). Doch im allgemeinen wird man sich für »die« Geschichte »der« Menschenbilder gar nicht interessieren, sondern immer nur für einzelne Kapitel und Aspekte der Gesamtgeschichte dieser Menschenbilder.

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der zu Recht berühmte Titel (Berger & Luckmann 1966) sagt – geartet war, in jeweils der Gesellschaft oder der sozialen Gruppe, deren Sprachgebrauch sie jeweils untersucht. Sprachgeprägte Menschenbilder sind, so habe ich gerade schon gesagt, aus Sprachen – und das heißt: aus Sprachgebräuchen – zu erschließen; insbesondere aus Wortgebräuchen. In der Praxis der historischen Semantik sind wir froh, wenn in den Quellen einmal explizit und metasprachlich über die Bedeutung eines Wortes, das wir untersuchen, etwas ausgesagt wird. Aber idealiter sind Sprach- und Wortgebräuche immer nur aus den Diskursen zu ermitteln, wo die Wörter oder Wendungen »gebraucht« (nicht metasprachlich-theoretisch nur besprochen) werden. Nur Diskurse bieten auch Gewähr dafür, daß Wortverwendungsweisen nicht bloß idiosynkratisch, sondern usuell sind. Und nur dann sind auch die Menschenbilder, die man aus den Wortverwendungsweisen abliest, nicht bloß individuelle, sondern solche von sozialen Gruppen. Daher sind die Quellen auch der linguistischen Anthropologie Diskurse, also (unter forschungspraktischen Aspekten) Korpora von Texten.7 Nur ein Grenzfall also ist es, daß auch Menschen- und Gesellschaftsbilder eines Menschen Gegenstand der linguistischen Anthropologie sein können, die in dessen Idiolekt erkennbar werden, oder auch nur in der Sprache eines Textes. Dieser Grenzfall ist methodisch wichtig, da die Untersuchung von Diskursen immer wieder neu mit der Lektüre und der Interpretation von Einzeltexten anfängt. Beispielsweise Kants »Anthropologie« des Jahres 1798 ist ein solcher Text, der als eine Art historische Momentaufnahme einen Eindruck geben kann von Menschenbildern, die um 1800 in Europa und in Deutschland gängig waren. Eine einzige Momentaufnahme dieser Art gibt aber doch nur Anhaltspunkte, wie man weitersuchen könnte, und besagt alleine noch nicht viel; auch dann nicht, wenn ein Text, wie Kants »Anthropologie«, bekanntermaßen viel gelesen wurde und daher auf seine Leser und auf andere Texte sehr wahrscheinlich großen Einfluß hatte. Was für Fragen stellt sich eine linguistische Anthropologie? Im Vorspann zu diesem Aufsatz ist eine Auswahl solcher Fragen formuliert.8 Ich lasse sie im folgenden Revue passieren und bemühe mich dabei darum, die Einzelfragen jeweils durch Exempel dessen, was man schon erforscht hat oder noch erforschen könnte, zu bebildern.

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Der Gedanke, daß Diskurse forschungspraktisch aufzufassen sind als Korpora von Texten, ist von Teubert (1992), s. dazu Näheres bei Busse & Teubert 1994 und Hermanns 1995 a (Kap. 4). Zum Konzept historischer Semantik als Diskursgeschichte s. insbesondere Busse 1987, 221 ff. Weitere sind selbstverständlich formulierbar, so die Frage nach den möglichen »Gefühlen« einer Sprachgemeinschaft (dazu Jäger & Plum 1988 und Plum 1994).

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2 Menschen, Untermenschen, Übermenschen Was ist überhaupt ein Mensch? Das scheint die allererste Frage jeder Anthropologie zu sein. Sie lautet linguistisch: Was gilt  – in der Sprache (Gruppensprache) einer jeweils ganz bestimmten Sprachgemeinschaft – als Mensch ? Oder einfach: Was bedeutet Mensch? Stellt man sie so, dann zeigt sich, daß sie allgemeinsprachwissenschaftlich nicht einmal die erste Frage einer linguistischen Anthropologie ist. Ihr vorgängig ist die Frage: Hat überhaupt die Sprachgemeinschaft, deren Sprachgebrauch man untersuchen will, ein Wort für Mensch? Hat man eins gefunden, muß man weiter fragen: Ist es auch gebräuchlich? Im Diskurs der deutschen Gegenwartsgesellschaft wird die Frage, was ein Mensch ist, durchaus diskutiert, allerdings wohl nur in Grenzbereichen. Man erörtert einerseits, wie lange (drei Minuten oder länger) jemand physiologisch nach Verlust gewisser physiologischer Funktionen (Atmungs-, Herz- und Hirnfunktionen) noch ein Mensch ist, also wann er (»klinisch«) tot ist 9 (d. h. wann man in der Intensivstation berechtigt ist, die Apparate abzuschalten). Auf der anderen Seite diskutiert man, wann ein Mensch ein Mensch zu sein beginnt (ob vielleicht schon bei der Zeugung oder erst bei der Geburt bzw. irgendwann dazwischen), wann er also schon ein Mensch ist. So ist ein Artikel zur Reform des § 218 treffend überschrieben: »Ist die menschliche Leibesfrucht ein Mensch?«.10 Denn um diese Frage geht es in der Tat bei der Reform des Paragraphen. Ist die Leibesfrucht ein Mensch, dann ist auch eine Schwangerschaftsbeendigung ein Mord, zumindest eine Tötung. Beiden Diskussionen ist gemeinsam, daß es dabei um juristisch operable Grenzen geht, die möglichst scharf gezogen werden müssen, obwohl auch Juristen wissen, daß das Werden eines Menschen wie auch sein Vergehen ein Prozeß ist, kein Ereignis. »Untermenschen« In seinem Buch »Die Eroberung Amerikas« berichtet Todorov (1982, 177 ff.) von dem Streit, den es im 16. Jahrhundert in Spanien darum gegeben hat, ob die Ureinwohner Amerikas im vollen Sinn des Wortes Menschen seien. »Obwohl diese Barbaren nicht gänzlich ohne Urteilskraft sind, unterscheiden sie sich doch sehr wenig von den Schwachsinnigen. […] Sie sind nicht einmal besser als Vieh und wilde Tiere […]«, schreibt ein Zeitgenosse (ibid., 181). Und ein anderer: »Ein je höheres Alter diese Men9

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So mein Taschenlexikon (Meyer 1981) zum Stichwort »Tod«. Wie man sich erinnert, wird die Frage in der Presse immer wieder aufgeworfen, wenn ein neuer Fall monströser Lebenshilfe durch die Apparatemedizin bekannt wird. Nobert Hoerster, Frankfurter Rundschau , 9. 8. 1993, S. 7. Unter linguistischen Aspekten behandelt die Debatte um den § 218 und das Mensch- bzw. Kindsein des »werdenden Lebens« Böke (1991); sie macht deutlich, daß es bei dem Streit darüber auch im Parlament nicht nur um »terminologische Fragen«, sondern um »Sichtweisen« geht.

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schen erreichen, desto böser werden sie. Wenn sie zehn oder zwölf Jahre alt sind, glaubt man noch, sie besäßen einige Höflichkeit und etwas Tugend, aber später entarten sie wahrhaft zu rohen Tieren. Ich kann versichern, daß Gott kein Volk je erschaffen hat, daß mehr mit scheußlichen Lastern behaftet ist als dieses, ohne irgendeine Beigabe von Güte und Gesittung. […] Die Indianer sind dümmer als Esel und wollen sich in keiner Weise bessern« (ib., 182 f.). Das sind nur zwei – so Todorov (ib., 182) – aus einer großen Anzahl von erhaltenen Belegen ähnlichen Charakters. Man beruft sich bei Verteidigung der These, daß es solche Menschen gebe, auf die »Politik« des Aristoteles, wo über Sklaven ausgesagt wird: »Jene, die so weit […] verschieden sind wie die Seele vom Körper und der Mensch vom Tier […], sind Sklaven von Natur« (ib., 184). Was für Aristoteles die Sklaven, sind im 16. Jahrhundert für viele Spanier – aber nicht Las Casas – die Indianer. Denn von beiden wird behauptet, daß sie wesensmäßig anders sind als Menschen. In der älteren und jüngeren Geschichte hat man immer wieder ganzen Menschengruppen (Völkern, Rassen) insgesamt das Menschsein abgesprochen. Das pflegt in der Weise zu geschehen, daß man feststellt, einer solchen Gruppe fehle es an einem (oder mehr als einem) wesentlichen Merkmal, das den Menschen »eigentlich« erst zum Menschen mache. Menschenähnlichkeit wird nicht bestritten, Menschsein wegargumentiert. Für die Zwecke der historischen Semantik hat Koselleck (1975) einige der »asymmetrischen« Begriffsdyaden diskutiert, die prinzipiell geeignet sind, den Wert des Menschseins einer Gruppe jeweils anderer (»fremder«) Menschen sei es nur herabzusetzen, sei es geradewegs zu leugnen: Hellenen/Barbaren; Christen/Heiden; Menschen/Unmenschen, Untermenschen. Und man kann die Liste leicht verlängern ( Juden/Heiden; Christen/ Juden; Weiße/Farbige bzw. Neger; Arier/Nicht-Arier). Auch der Gegensatz von Deutschen/Ausländern (früher: Fremden) kann dazu dienen, letzteren das volle Menschsein zu bestreiten. Tendenziell sind Angehörige von solchen Gruppen »Untermenschen« – ein zusammenfassender sarkastischer Begriff des 18. Jahrhunderts, der im 20. Jahrhundert zynisch wurde.11 Welches Merkmal – »Merkmal« übrigens in linguistischem wie außerlinguistischem Verständnis  – Untermenschen von den eigentlichen Menschen unterscheidet, ist historisch variabel und verhältnismäßig unbeachtlich. Denn das wirkliche Kriterium für Untermenschentum ist immer ethisch. Darf man nämlich mit den Angehörigen der anderen, stigmatisierten Gruppe machen, was man Menschen sonst grundsätzlich nicht zufügen darf, dann sind sie im vollen Sinn des Wortes keine Menschen mehr. Man darf sie dann vertreiben, vergewaltigen, verletzen, töten oder auch versklaven. Mensch hat ja in unserer, der abendländisch-christlichen Kultur deontische Bedeutungen, die alles dies verbieten. Daher hat man Feinde und Verbrecher oft als unmenschlich und entmenscht gezeichnet und bezeichnet und die Feinde oft auch als Verbrecher dargestellt, wodurch 11

Vgl. Paul 1992, s. v.

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sie dann der Qualität des Menschseins schon verlustig waren und die Tötungshemmung ihnen gegenüber wegfiel. Insofern die Feinde ihrerseits nur Feinde vor sich sahen, die dann umgekehrt für sie Verbrecher waren, konnten sie sich ihnen gegenüber ungehemmt tatsächlich so verhalten, wie es sonst nur ein Verbrecher tut; insofern waren sie dann in der Tat Verbrecher (insbesondere Mörder), wenn auch eben nicht in ihren eigenen Augen. Untermenschen wurden oft als Tiere (wenn es darum ging, sie zu vernichten, auch speziell als Ungeziefer) und als Teufel oder Hexen angesehen. In der deutschen Sprachgeschichte waren – in verschiedenen Epochen, für verschiedene soziale Gruppen – Untermenschen beispielsweise: Juden, Polen, Russen und Franzosen, Neger und Chinesen, Kommunisten sowie Frauen.12 »Übermenschen« Außer »Untermenschen« aller Art gibt es auch »Übermenschen«, insbesondere Heilige sowie Heroen; aber auch die Götter könnte man als Übermenschen deuten. Wie die Unter- unterscheiden sich die Übermenschen von normalen Menschen dadurch, daß es ihnen an dem einen oder anderen (hier aber negativen) Merkmal fehlt, das die normalen Menschen haben: Torheit, Schwäche, Sündigkeit, gelegentlich auch Sterblichkeit (in wörtlicher bzw. übertragener Bedeutung sind sie dann unsterblich), während andere (positive) Eigenschaften bei ihnen hypertroph sind: Weisheit, Stärke, Tugendhaftigkeit. Übermenschen haben die Funktion von Idealen, und als solche können sie konträren Zwecken dienen: der Ermutigung, Erbauung und Erhebung wie auch der Entmutigung, Einschüchterung, Erniedrigung (von jeweils allen denen, die nicht selber Übermenschen sind bzw. solche Übermenschen nicht auf ihrer Seite haben). Man empfindet angesichts von Übermenschen einen frommen Schauder. Unter anderem waren Wundertäter und Propheten Übermenschen, oft auch Könige und Kaiser.13 Wie man weiß, verfügt noch heute der Katholizismus über ein juristisches Verfahren, das die Heiligkeit von einzelnen Personen prüft und feststellt. ÜbermenschenStatus hatten in den Augen der Verehrer auch die Angehörigen gewisser Kollektive wie Germanen, Deutsche, Arier. Ob man heute noch an irgendwelche Übermenschen-Gruppen glaubt, entzieht sich meiner Kenntnis. Geister und Gespenster Außer Unter- sowie Übermenschen kann es in der sprachgeprägten Wirklichkeit sozialer Gruppen auch noch andere besondere Wesenheiten geben, die die Welt bevölkern: 12

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Als nationalsozialistischen Sprachgebrauch zitiert das Paulsche Wörterbuch (Paul 1992, s. v. Untermenschen): »jüdische, östliche, kommunistische Untermenschen«. Zur Stilisierung des deutschen Feindbildes der Franzosen seit dem frühen 19. Jahrhundert vgl. Jeismann 1992 (Kap.1). Daß Könige in Europa noch im 18. Jahrhundert Wunderheiler waren, hat Bloch (1924) in einem in der mentalitätsgeschichtlichen Literatur oft zitierten Buch gezeigt.

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menschenartig, wenn auch keine Menschen. Beispielsweise Geister und Gespenster, Teufel und Dämonen. Auch mit ihnen muß man also linguistisch rechnen. Und die Linguistik? Aus Erfahrung weiß ich, daß man in der Linguistik manchmal skeptisch reagiert, wenn man mit Überlegungen wie mit den eben angestellten konfrontiert wird. Man ruft dann etwa aus: Das hat aber doch mit Linguistik nichts zu tun! Wir sind als Linguisten nicht daran gewöhnt, die Frage, ob die Indianer Menschen seien, aber auch die Frage, ob die Leibesfrucht ein Kind ist, als dem Gegenstandsbereich der Linguistik zugehörig zu betrachten. Dabei geht es aber doch bei beiden Fragen auch (allerdings nicht nur) um Wörter und um Wortbedeutungen, um lexikalische Semantik. Linguistisch handelt es sich bei der ersten Frage klassen- oder mengentheoretisch darum, ob die Extension des Wortes Indianer in der Extension des Wortes Mensch enthalten ist; begriffssemantisch darum, ob dies Wort ein Hyponym des Wortes Mensch ist; merkmaltheoretisch darum, ob das Merkmal Mensch (»+human«) in der Merkmalmenge von Indianer enthalten ist; relationalsemantisch darum, ob »x ist Indianer« impliziert »x ist ein Mensch« oder gerade impliziert »x ist kein Mensch«; prototypsemantisch darum, ob ein Indianer im Zentralbereich von Mensch liegt oder marginal bzw. »peripher« bzw. »extra-peripher« ist. Man kann sie linguistisch wenden, wie man will, die Frage nach dem Menschsein eines Indianers (respektive einer Leibesfrucht) bleibt linguistisch. Und speziell auch für die Sprachgeschichte ist die Frage wichtig. Wenn sich der Sprachgebrauch in einer Gruppe so verändert hat, daß Neger (oder Schwarze) früher keine Menschen waren, es dann aber sind, dann hat entweder die Semantik der Vokabel Neger oder die Semantik der Vokabel Mensch oder die Semantik beider Wörter sich verändert.

3 Menschenarten, Menschensorten Unerschöpflich ist das Thema »sprachliche Subklassifikation von Menschen«. Dabei geht es nicht darum, was theoretisch mit den Mitteln einer je bestimmten Sprache sprachlich unterschieden werden könnte (wenn es jemand darauf anlegt), sondern darum, was man praktisch wirklich unterscheidet; also darum, welche Unterscheidungen von Menschenklassen jeweils lexikalisiert und außerdem auch üblich sind in Sprachgebräuchen einer Sprachgemeinschaft. Was für Menschenklassen (-sorten, -gruppen) werden in der deutschen Sprache unterschieden? Allgemein gebräuchlich ist bzw. war die Unterscheidung nach: Geschlech-

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tern; Altersgruppen; Ständen, Klassen und Berufen; Religionen, Konfessionen; Nationalitäten; Rassen.14 Männliches und weibliches Geschlecht Die Geschlechtergruppen (männlich, weiblich) sind für sich allein genommen wohl von keinem großen linguistischen Interesse. Es ist anzunehmen (aber bleibt durchaus zu prüfen), daß es Wörter für die beiden menschlichen Geschlechter überall und immer gab. Eine interessante Frage ist nur, welche Eigenschaften den Geschlechtern jeweils zugeschrieben wurden oder werden (s. folgendes Kapitel). Von Interesse ist vielleicht auch, daß die gängigsten Vokabeln zur Geschlechterunterscheidung immer eine andere soziale Unterscheidung mitbedeuten. So z. B. unterscheiden wir die Jungen (oder Buben; hochdeutsch früher: Knaben) von den Mädchen und die Männer von den Frauen, aber eo ipso auch die Jungen von den Männern und die Mädchen von den Frauen. Hier geht also eine Unterscheidung männlicher und weiblicher Personen zusammen mit der Unterscheidung zwischen dem Erwachsensein und Nichterwachsensein, es findet eine Mehrfachklassifikation statt. Ähnlich wichtig wie der Status des Erwachsenseins war früher für den Sprachgebrauch der deutschen Standardsprache der soziale Status. So war  – zu Beginn des 19. Jahrhunderts – Herr »in weiterer Bedeutung […] ein Ehrenwort oder Titel, welchen alle männlichen Personen von einigem Stande […] zu bekommen pflegen« (Adelung 1808, s. v.), andere männliche Personen also nicht. Eine ähnliche Bedeutung hatte Dame (Adelung 1808, s. v.). Daß man alltagspraktisch nach gesellschaftlichem Status Herren von den Männern, Damen von den Frauen unterschieden hat, ist sozial- und mentalitätsgeschichtlich leicht zu deuten: in der »ständischen Gesellschaft« war der Unterschied des Standes eben ganz besonders wichtig. Bei den weiblichen Personen wurde außerdem darauf geachtet, ob sie oder ob sie nicht im Ehestande waren. Eine Frau war »eine verheirathete Person weiblichen Geschlechtes« (Adelung 1808, s. v.); ausdrücklich nennt Adelung (ibid.) die andere Bedeutung, wonach »eine jede Person weiblichen Geschlechtes, auch wenn sie noch unverheirathet ist«, eine Frau war, »veraltet«. Dafür hatte man die Wörter Frauensperson, Frauenbild und Frauenzimmer (ib.). Bei den nicht verehelichten Frauen wurde weiter unterschieden erstens nach gesellschaftlichem Rang: Fräulein war »ein Ehrenname unverheiratheter adeliger Frauenzimmer« (Adelung 1808, s. v.), was uns noch aus Goethes »Faust« bekannt ist; andere solche Frauenzimmer hießen Jung frau oder Jung fer, und so 14

Dies sind längst nicht alle möglichen Kategorien. Immer wieder einmal gibt es plötzlich neue Menschensorten, die in dies Kategorienraster nicht recht passen, so im Jahre 1977 die Sympathisanten, deren kurze Karriere Wagner (1989) eindrucksvoll beschrieben hat. Einen guten Eindruck von der Vielfalt sprachgeprägter Menschenbilder verschafft der Artikel von Braun (1990) über »Personenbezeichnungen« in der deutschen Sprache heute.

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wurden sie auch angeredet, außerdem als Mademoiselle bzw. Mamsel (ib., s. v. Jung frau). Zweitens war bei Frauen wichtig, ob sie Jung frau waren: »in der engsten und gewöhnlichsten Bedeutung, eine Person weiblichen Geschlechtes, welche noch von keiner Person männlichen Geschlechtes fleischlich erkannt worden, ohne Rücksicht auf das Alter oder den Stand« (ib.). Wie wir wissen, war die Unterscheidung nach dem Ehestatus noch erheblich länger als die Standesunterscheidung gültig; während Jung fern schon seit langem alle Fräulein waren, durften bis vor kurzem noch die Fräulein mit den Frauen nicht verwechselt werden.15 Altersgruppen Heute werden, wenn ich richtig sehe, in der deutschen Alltagssprache Menschen altersgruppenmäßig eingeteilt in Babys, Kinder, Jugendliche (damit konkurrierend: Teenager und Teenies), Erwachsene (mit den Untergruppen Twens und Senioren), d. h. es werden vier (wenn man die Babys zu den Kindern zählt, sogar nur drei) Hauptaltersklassen unterschieden. Früher galten (außerdem auch) andere Altersklassen. Eine davon – hier bezogen nur auf Männer – finden wir in Shakespeares »Wie es euch gefällt« in dem berühmten Passus »All the world’s a stage« (2. Akt, 7. Szene): Sein Leben lang spielt einer manche Rollen Durch sieben Akte hin. Zuerst das Kind, Das in der Wärtrin Armen greint und sprudelt; Der weinerliche Bube, der mit Bündel Und glattem Morgenantlitz wie die Schnecke Ungern zur Schule kriecht; dann der Verliebte, Der wie ein Ofen seufzt, mit Jammerlied Auf seiner Liebsten Braun; dann der Soldat Voll toller Flüch’ und wie ein Pardel bärtig, Auf Ehre eifersüchtig, schnell zu Händeln, Bis in die Mündung der Kanone suchend Die Seifenblase Ruhm. Und dann der Richter, Im runden Bauche, mit Kapaun gestopft, Mit strengem Blick und regelrechtem Bart, Voll abgedroschner Beispiel’, weiser Sprüche, Spielt seine Rolle so. Das sechste Alter Macht den besockten hagern Pantalon, 15

Erst die feministische Kritik bewirkt ja das Verschwinden der Vokabel Fräulein aus dem allgemeinen Sprachgebrauch, wo sie »seit Anf. d. siebziger Jahre des 20. Jhs. durch Frau verdrängt« ist (Paul 1992, s. v. Fräulein); dagegen sei Fräulein nur »bis Anf. 19. Jh. dem Adel vorbehalten« (ibid.).

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Brill’ auf der Nase, Beutel an der Seite; Die jugendliche Hose, wohl geschont, ’ne Welt zu weit für die verschrumpften Lenden; Die tiefe Männerstimme, umgewandelt Zum kindischen Diskante, pfeift und quäkt In seinem Ton. Der letzte Akt, mit dem Die seltsam wechselnde Geschichte schließt, Ist zweite Kindheit, gänzliches Vergessen, Ohn’ Augen, ohne Zahn, Geschmack und alles.16 Hier erkennt man wieder, wie die Klassifikation nach dem Kriterium des Alters überlagert oder angereichert wird durch eine Klassifikation nach typischen sozialen Rollen. Ferner werden jeder Altersklasse typische Verhaltensweisen und sowie körperliche und Charaktereigenschaften zugeschrieben, so daß mit der Klassifikation zugleich auch eine Serie von Stereotypen vorliegt (s. nächsten Abschnitt). So beliebt die SiebenerEinteilung auch gewesen sein mag, war sie aber alltagspraktisch doch wohl nicht gebräuchlich.17 Ein Indiz dafür ist, daß im Text von Shakespeare nur für zwei der sieben Altersrollen Alterswörter (im englischen Original: infant, (school)boy ) existieren, so daß ausgewichen wird auf andere Bezeichnungen (lover, soldier, justice). Nach Adelung werden in der deutschen Sprache bei den männlichen Personen (bei den Frauen ist die Sache komplizierter, weil hier die entscheidenden Kriterien der Klassifikation der Ehestatus und die Virginalität sind) auch um 1800 schon drei Altersrollen unterschieden: Knabe, Jüngling, Mann. Denn ein Knabe ist nach Adelung (1808, s. v.) »in engerer und gewöhnlicherer Bedeutung, ein Kind männlichen Geschlechtes, eine junge Mannsperson, so lange sie noch nicht das Jünglingsalter erreicht hat, d. i. von der Empfängniß [!] an bis zum 14ten oder 15ten Jahre«; ein Jüngling (ibid., s. v.) ist »eine junge Person männlichen Geschlechtes von dem Ende des Knabenalters an bis zu dem männlichen Alter«; und ein Mann ist (ibid., s. v.) »in engerer Bedeutung, eine Person männlichen Geschlechtes nach zurück gelegtem Jünglingsalter, da sie ihren völligen Wachsthum, ihre völlige und beste Stärke erlangt hat«, wobei gilt »Dreyßig Jahr ein Mann, d. i. im dreyßigsten Jahre ist ein menschliches Individuum männlichen Geschlechtes ein völliger Mann, ob man gleich das männliche Alter schon von dem zwanzigsten Jahre an zu rechnen, und eine männliche Person zwischen dem 20sten und 30sten Jahre wenigstens aus Achtung gleichfalls schon einen Mann, oder doch einen

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»Sans teeth, sans eyes, sans taste, sans – everything«, so heißt im Original der letzte Vers (The Arden Edition of the Works of William Shakespeare, As You Like It, ed. A. Latham, London/New York 1991; der deutsche Text nach William Shakespeare, Wie es euch gefällt, übersetzt von A. W. Schlegel, Stuttgart 1964). Sie konkurrierte außerdem mit Einteilungen in drei, vier, zehn und zwölf Lebensphasen (Bastl 1993, 222).

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jungen Mann zu nennen pflegt«. Wie nennt man also junge Leute männlichen Geschlechtes, wenn sie noch nicht dreißig Jahre alt sind, richtig? Hier hat offenbar das sprachgeprägte Weltbild eine Lücke. Für die Gegenwartskultur charakteristisch dürfte sein, daß es die Jugendlichen (Teenager) beiderlei Geschlechts gibt, während Jünglinge und Jung frauen nicht mehr existieren; ferner, daß es nunmehr einen Namen (wenn auch keinen schönen) für die letzte Lebensperiode gibt: es hat sich eine etwa viereinhalb Jahrzehnte lange, sprachlich nicht mehr segmentierte Lebensphase ausgebildet, in der die Menschen heute sprachlich – als Erwachsene – solange gleich sind, bis sie dann abrupt zu Senioren werden.18 Sozial- und mentalitatsgeschichtlich wäre das vielleicht zu deuten als Reflex einer »Arbeitsgesellschaft«, in der es darauf ankommt, ob jemand (noch nicht – schon / noch – nicht mehr) im »Erwerbsalter« (Arbeitsalter) ist: Kinder arbeiten nicht, Jugendliche (ob als Schüler oder Auszubildende) noch nicht richtig, Senioren (Rentner) nicht mehr.19 Stände, Klassen und Berufe Ähnliches gilt sicher für die Deutung des Befundes, daß in unserer Gesellschaft sich das Denken in beruflichen Kategorien gegenüber einem noch im vorigen Jahrhundert dominanten Standes- oder Klassendenken durchgesetzt hat, während früher die »Berufe« Angehörigen der bürgerlichen Schichten und der Unterschichten vorbehalten waren. Auch das Pfarrer-Sein ist heute keine Angelegenheit des »Standes« mehr, es ist Beruf geworden. Auch die Angehörigen des Adels definieren sich nicht mehr nur durch die Zugehörigkeit zu ihrem Stand, sondern ebenso durch den Beruf, den sie jetzt haben. So ist der Adel, scheint es, heute weit davon entfernt, sich selber insgesamt als KriegerKlasse zu verstehen, was er aber einmal war: der Stand der bellatores, wie der Stand der Geistlichen der Stand der oratores war, wodurch sich beide Stände vorteilhaft vom »Dritten Stand«, dem der laboratores, unterschieden.20 Denn vermöge einer wichtigen semantischen Verschiebung, die sich bei den Wörtern arbeiten und Arbeit irgendwann im Lauf des 19. Jahrhunderts abgespielt hat, sind in unserer Gesellschaft heute alle, die 18

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Greise (was mich überrascht hat) hat es offenbar als Altersgruppe nie gegeben, denn ein Greis war jedenfalls um 1800 nur, wer graue Haare hatte: »eine Person männlichen Geschlechtes, deren Haupthaar vor hohem Alter greis geworden« (Adelung 1808, s. v., mit dem Zusatz: »Von dem weiblichen Geschlechte ist es nicht üblich, auch nicht mit der weiblichen Endung -inn«). Heute ist ein Greis ein »alter u. alt wirkender (körperlich hinfälliger) Mann« (Duden Universalwörterbuch 1983, s. v.), also heute kommt zum Alter als das wesentliche Unterscheidungsmerkmal die erkennbare Gebrechlichkeit hinzu, wiewohl ein Greis auch »rüstig« sein kann (ibid.). Dazu Hermanns 1993. Zur Entstehung des Konzepts der drei »Stände« Duby (1978). Dessen Buch ist ein Exempel philologischer Rekonstruktion der Genese einer anthropologischen Kategorie. Zum Versuch der Ablösung des Denkens (und Sprechens !) in der Kategorie des »Standes« zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch ein Denken in der Kategorie der »Klasse« Koselleck 1972.

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erwachsen sind und Arbeit haben, Arbeitende, also auch die Angehörigen der ehemals durch ihre Nicht-Arbeit definierten Stände Geistlichkeit und Adel. Auch der QuasiStandesunterschied von Arbeitern und Angestellten und Beamten hat an Relevanz erheblich eingebüßt; worauf es heute ankommt, ist nur der Beruf, den jemand hat – je nach dem Rang, den dieser auf der Werteskala der Berufe einnimmt – und das Geld, was er bzw. sie darin verdient. So entspricht es wieder den Prinzipien unserer »Arbeitsgesellschaft«. Religionen, Nationalitäten, Rassen Für das Fremd- und Selbstverständnis jedes Menschen spielen sicherlich noch viele anderen Kriterien und Klassifikationen eine Rolle. So war einmal die psychologische (jedoch mit physiologischer Erklärung ausgestattete) Klassifizierung nach den Temperamenten (sanguinisch, melancholisch, cholerisch, phlegmatisch) sehr beliebt; sie hat z. B. Kant (1798, 227 ff.) behandelt. In der deutschen Gegenwartsgesellschaft weit verbreitet ist die astrologische (der Funktion nach aber gleichfalls psychologische) Klassifikation nach Tierkreiszeichen (Löwe, Stier, Widder usw.). Dergleichen wird im Alltag manchmal handlungsleitend. Unzweifelhaft historisch wichtig sind dagegen Klassifikationen nach der Zugehörigkeit zu Religionen, Konfessionen, Nationalitäten, Rassen. So verschieden diese Klassifikationen sind – ihnen ist gemeinsam, daß sie Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen und Verbänden und Parteien stiften (können). Variabel ist historisch nicht allein die Art der Klassifikationen, sondern auch die relative Wichtigkeit der Klassifikationen. Beispielsweise hat sich in Europa  – seit dem 19. Jahrhundert  – eine epochale Umgewichtung abgespielt, die Selbstbezeichnungen und Selbstverständnisse betrifft, wie sie aus solchen Klassifikationen hergeleitet werden. Die nationale Gruppenzugehörigkeit sowie das nationale Selbstverstandnis wurden offenbar im Lauf des 19. Jahrhunderts immer wichtiger für immer größere Bevölkerungsanteile. Dementsprechend – muß man jedenfalls vermuten – hat die Wichtigkeit der religiösen und konfessionellen wie der regionalen und lokalen Gruppenzugehörigkeit allmählich abgenommen. Auch als Deutscher, der man aber auch schon früher war, blieb man noch Katholik bzw. Protestant und Hesse oder Württemberger. Aber wenn man nunmehr mit Emphase Deutscher war, dann hatte sich die relative Wichtigkeit der früheren Bestimmungen vermindert. Damit wurden Eigenschaftszuschreibungen und Loyalitäten in erhöhtem Maße relevant, die sich mit deutsch verbanden.21

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»Transformationen des Wir-Gefühls« heißt, treffend formuliert, der Titel eines Bandes (Blomert et al. 1993), der erstmals (wenn ich richtig sehe) auf historische Gewichtsverschiebungen der Relevanz (den »Stellenwert«) nationaler Identitätszuschreibungen abhebt. Aus der umfangreichen Literatur zum Thema »Nationalität und Identität« nenne ich nur noch den Band von Giesen (1991) und das Buch von Dann (1993).

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4 Eigenschaften und Verhaltensweisen Auch die nächste Frage – welche Eigenschaften, insbesondere Charaktereigenschaften, und Verhaltensweisen in der Sprache einer Sprachgemeinschaft unterschieden werden – ist bereits für sich genommen von Interesse für das Thema »sprachgeprägte Menschenbilder«. Ich verbinde sie in diesem Abschnitt aber gleich mit einer zweiten, nämlich mit der Frage danach, welche Eigenschaften und Verhaltensweisen man für typisch hält für je bestimmte Menschenklassen. Darin zeigt sich dann die Relevanz der Klassifikationen. Die Bedeutung nämlich einer Klassifikation von Menschen in bestimmte Klassen ist erst aus den Eigenschaften ablesbar, die jeder dieser Klassen sonst noch zugeschrieben werden  – außer ihren  – wie ich sie hier einmal nenne  – Mindesteigenschaften, die sie definieren (wie z. B. Lebensalter und Geschlecht bei Mann und Frau und Kind ). Durch Ermittlung dieser anderen Eigenschaften kommt man erst zu der Gesamtbedeutung (inklusive stereo- und prototypischen Bedeutung) ebenso der Wörter (Mann, Frau, Kind ) wie der festen Wortverbindungen (wie deutscher Mann und deutsche Frau). Oft sind diese anderen Eigenschaften »wesentliche« (Wierzbicka 1985, 59 ff.) Eigenschaften, oft sogar die Wesenseigenschaften, die den Elementen einer Klasse zugeschrieben werden. Deshalb muß auch eine linguistische Anthropologie sich nicht darauf beschränken, bloß die Art der Klassifikation zu registrieren, wie sie in den Wörtern eines Wortfelds vorliegt. Vielmehr kann sie sich auch dafür interessieren, was die Wörter, außer daß sie Klassifikationen schaffen, semantisch außerdem noch leisten. Was sind »Frauen«? Was sie darstellungsemantisch außerdem noch leisten, ist – so kann man es zusammenfassend sagen – daß sie, wenn sie referierend oder prädizierend darauf angewendet werden, Gegenstände, Sachverhalte und Personen geradezu beschreiben. Denn sie sprechen diesen Gegenständen, Sachverhalten und Personen im Normalfall (»per default«) all jene (also nicht allein die Mindesteigenschaften) Eigenschaften zu, die Elemente ihrer stereo- bzw. prototypischen (im folgenden kurz: typsemantischen) Bedeutung sind (von denen allerdings in einem je speziellen Kontext nur die einen oder anderen relevant sind). Manchmal ist es – deshalb kann man von »Beschreibung« auch durch Einzelwörter reden – eine große Zahl von Eigenschaften, die ein Wort, wenn es gebraucht wird, aussagt.22 22

Für die Zwecke der historischen Semantik ist deshalb die strukturale Minimalsemantik (wie ich sie polemisch nenne) unzureichend. Diese hat es darauf abgesehen, mit einem Minimum von »Semen« (Klassifikationsmerkmalen) die Bedeutung von Lexemen nur so weit (nicht weiter!) zu beschreiben, daß sich die Lexeme voneinander unterscheiden lassen. Dabei ist das einzig leitende Prinzip das Ideal der möglichst ökonomischen Beschreibung (eigentlich nur Identifizierung). Leider hat die Vorherrschaft der Minimalsemantik in der Linguistik (lange hatte sie sogar ein Monopol) dazu geführt, daß man bis heute oft der Meinung ist, Bedeutung »sei«, was sie als solche definiert. Was sie beispielsweise aus der Frau macht, ist »+human, +adult,

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Dafür ist vielleicht ein gutes Beispiel die Vokabel Frau, die allerdings bezüglich ihrer typsemantischen Bedeutungen im Sprachgebrauch verschiedenster sozialer Gruppen in Vergangenheit und Gegenwart bislang noch wenig untersucht ist.23 Einen ersten Eindruck davon, was bei der Verwendung dieses Wortes mitgemeint sein kann bzw. konnte, gibt in expliziter Form die Kantische »Anthropologie«. In ihrem zweiten Teil (Kant 1798, 250 – 260) wird u. a. der »Charakter des Geschlechts« behandelt, wobei Kant dann aber nur die »weibliche Eigentümlichkeit« darstellt: sie sei »mehr als die des männlichen Geschlechts ein Studium für den Philosophen«. Kant erblickt die Eigenart von Mann und Frau (bzw. Weib, denn Kant gebraucht die beiden Wörter synonym) zunächst vergleichend darin, daß sich beide wechselseitig, aber auf verschiedenen Gebieten überlegen sind, und zwar »der Mann dem Weibe durch sein körperliches Vermögen und seinen Mut«. Hingegen ist die Frau dem Manne überlegen »durch ihre Naturgabe, sich der Neigung des Mannes zu ihr zu bemeistern«. Ein kurzer Passus aus der »Anthropologie« (ibid., 251, Hervorhebungen von Kant) soll zeigen, in welcher Weise es dann weitergeht, und auch, wie ausgefeilt Kants Theorie des weiblichen Charakters ist: Die Weiblichkeiten heißen Schwächen. Man spaßt darüber; Toren treiben damit ihren Spott, Vernünftige aber sehen sehr gut, daß sie gerade die Hebezeuge sind, die Männlichkeit zu lenken und sie zu jener ihrer Absicht zu gebrauchen. Der Mann ist leicht zu erforschen, die Frau verrät ihr Geheimnis nicht, obgleich anderer ihres (wegen ihrer Redseligkeit) schlecht bei ihr verwahrt ist. Er liebt den Hausfrieden und unterwirft sich gern ihrem Regiment, um sich nur in seinen Geschäften nicht behindert zu sehen; sie scheut den Hauskrieg nicht, den sie mit der Zunge führt und zu welchem Behuf die Natur ihr Redseligkeit und affektvolle Beredtheit gab, die den Mann entwaffnet. Er fußt sich auf das Recht des Stärkeren, im Hause zu befehlen, weil er es gegen äußere Feinde schützen soll; sie auf das Recht des Schwächeren: vom männlichen Teile gegen Männer

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−masc«, was sie aus der Kuh macht, ist »+bovin, +adult, −masc« (man lacht dann darüber, daß, vermeintlich rational betrachtet, dies der einzige Unterschied zwischen Frau und Kuh sei). Aber jedes Kind weiß (zwar dieses nicht, wohl aber) mehr darüber, was z. B. eine Kuh ist, d. h. was das Wort Kuh bedeutet, nämlich u. a., daß eine Kuh Milch gibt, daß sie »muh« macht (»Muh-Kuh«) usw. Was mit solchen Wörtern insgesamt gemeint ist (»habitat«, »size«, »appearance« usw.), hat als erste Wierzbicka (1985) dargestellt. Welche Studien gibt es überhaupt zu diesem Thema? In der Linguistik habe ich dazu nichts finden können, außer aber den Beitrag von Böke (1994), in dem es um einen wichtigen Aspekt des deutschen Frauen-Bildes – und das heißt zugleich: die typsemantische Bedeutung der Vokabel Frau – geht. Dem Überblicksartikel von Schoenthal (1989) über »Personenbezeichnungen im Deutschen als Gegenstand feministischer Sprachkritik« ist zu entnehmen, daß sich diese Sprachkritik bis 1989 offenbar vor allem mit der Frage auseinandersetzte, ob überhaupt die deutsche Sprache Frauen zeigt, nicht aber mit der Frage, wie sie Frauen zeigt. Zur historischen Imagologie von Frau außerhalb der Linguistik wurde ich hingewiesen auf das Buch von Bovenschen (1979) und den Sammelband von Becher & Rüsen (1988). Literatur zum Thema »Bild des Mannes« gibt es, scheint es, überhaupt nicht.

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geschützt zu werden, und macht durch Tränen der Erbitterung den Mann wehrlos, indem sie ihm seine Ungroßmütigkeit vorrückt. Wir haben hier in – für unsere Begriffe – karikaturaler Zugespitztheit einen Ausschnitt aus dem Menschenbild bzgl. Frauen, das gewiß um 1800 nicht nur Kants gewesen ist. Es besteht in typischen Verhaltenseigenschaften, die »der« Frau (man beachte den generischen Artikel, der besonders gut geeignet ist, das »Wesen« anzuzeigen) zugeschrieben werden, als da sind: List (im Verfolgen ihrer Zwecke), Redseligkeit, Zanksucht, ausgepragte Affektivität (im Gegensatz zur Rationalität des Mannes), insbesondere in Form von Tränen; außerdem die deontische Eigenschaft der Frau, daß der Mann mit »Großmut« über sie zu herrschen hat. Dieses Frauenbild setzt sich, so würde man polemisch sagen, zusammen aus einer Serie von Klischees, die wir in der Tat z.T. noch heute kennen. Wird an sie geglaubt, wie dies bei Kant der Fall ist, dann gehören aber die Klischees zum »Wissen« dessen, der sie glaubhaft findet; solcherlei Klischees sind also Wissenselemente. Damit sind sie aber auch Bedeutungselemente, und zwar typsemantische Bedeutungselemente. Solche typsemantischen Bedeutungselemente muß man kennen, wenn man einen Ausruf wie z. B. »Typisch X !« verstehen will, in unserem Falle: »Typisch Frau!« Je nach Kontext geht er auf die eine oder andere (negative) Eigenschaft von Frauen, wie sie Frauen (meint man, wenn man sich so ausdrückt) zwar nicht immer, aber meistens haben.24 Engländer, Franzosen, Deutsche Nichts anderes als die Zusammenfassung von vermutlich gängigen Klischees – und eo ipso auch die prototypsemantische Beschreibung der Bedeutung der entsprechenden Bezeichnungen – ist ebenfalls, was Kant (1798, 260 – 273) in seiner »Anthropologie« bezüglich des »Charakters des Volks« (d. h. der Völker) ausführt. Er behandelt – beginnend mit den »zwei zivilisiertesten Völker auf Erden«25 – nacheinander das französische, englische, spanische, italienische und deutsche Volk; en passant erwähnt er noch das russische, polnische, türkische (diese können aber »füglich übergangen werden«), sowie das griechische (Sinnesart: »Lebhaftigkeit und Leichtsinn«, »flatterhaft und kriechend«) und das armenische (»vernünftig und emsig«) Volk, das ihm besonders imponiert. An anderer Stelle seines Buches handelt Kant in einer langen Anmerkung (ibid., 119 ff.) auch noch von den »unter uns lebenden Palästinern«, d. h. Juden, die er als eine »Nation von Betrügern« charakterisiert, worauf er dann der Frage nachgeht, wie man sich dies erklären könne.

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Außer mit dem »typisch«-Test kann man typsemantische Bedeutungselemente mit dem »aber«-Test plausibel machen, vgl. Harras 1991, 35. »Es versteht sich, daß bei dieser Klassifikation vom deutschen Volk abgesehen werde«, setzt Kant (ibid., 261) aber anmerkungsweise noch hinzu: er wolle Eigenlob vermeiden.

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Andere Völker werden gar nicht erst genannt. Das haben wir als Linguisten nicht zu tadeln, sondern als ein interessantes Faktum festzuhalten. Jede Wirklichkeit hat ihre »Relevanzstruktur« (Berger  & Luckmann 1966, 47 u. ö.), das gilt auch für die Wirklichkeit der Völker, von denen eben manche nicht als wichtig gelten, weshalb sie dann auch keinen kennenswerten Volkscharakter haben. Kants Auswahl unter den Nationen zeigt uns, was in seinem Denken prototypisch Volk ist, und was für ihn die »marginalen Exemplare«, wie die Typsemantik sagt, von Volk sind. Die Franzosen (ibid., 263 f.) haben mehr als andere einen »Konversationsgeschmack«, sind »höf lich« (wenn auch 1798 nicht mehr »höfisch«) und als Volk im ganzen »liebenswürdig«. Ihre negativen Eigenschaften sind eine »nicht genugsam durch überlegte Grundsätze gezügelte Lebhaftigkeit« sowie »bei hellsehender Vernunft ein Leichtsinn«, der darin besteht, »gewisse Formen, bloß weil sie alt … worden, wenn man sich gleich dabei wohl befunden hat, nicht lange bestehen zu lassen«, dazu passend »ein ansteckender Freiheitsgeist, der auch wohl die Vernunft selbst in sein Spiel zieht und in Beziehung des Volks auf den Staat einen alles erschütternden Enthusiasm bewirkt, der noch über das Äußerste hinausgeht«; das ist ein dezenter Hinweis auf die Jahre 1789/1792. Im übrigen ist Frankreich auch «das Modenland«. Engländer (ib., 261 u. 265 f.) unterscheiden sich von anderen Europäern durch »stolze Grobheit« und durch »trotziges Betragen aus vermeinter Selbständigkeit«; sie haben einen »steife(n) Sinn, auf einem freiwillig angenommen Prinzip zu beharren und von einer gewissen Regel (gleich gut welcher) nicht abzuweichen«; sie tun »auf alle Liebenswürdigkeit … Verzicht und (machen) bloß auf Achtung Anspruch«, wobei »jeder bloß nach seinem eigenen Kopfe leben will«; sie haben einen ausgeprägten »Handelsgeist« und sind »sehr ungesellig«. England ist »das Land der Launen« (ib., 263). Die Deutschen (ib., 269 – 272) zeichnen sich aus durch »Ehrlichkeit und Häuslichkeit«, sie fügen sich »unter allen zivilisierten Völkern am leichtesten und dauerhaftesten der Regierung…« und sind »am meisten von Neuerungssucht und Widersetzlichkeit gegen die eingeführte Ordnung entfernt«, es ist nicht ihre Art, »weder über die schon eingeführte (Ordnung) zu vernünfteln, noch sich selbst eine auszudenken«. »Fleiß, Reinlichkeit und Sparsamkeit« sind weiter ihre guten Eigenschaften. »Der Deutsche« hat »das Temperament der kalten Überlegung und der Ausdaurung in Verfolgung seines Zwecks, imgleichen des Aushaltens der damit verbundenen Beschwerlichkeiten«, das Talent eines »richtigen Verstandes und (einer) tief nachdenkenden Vernunft«, wenn auch nicht soviel »Witz« und »Künstlergeschmack« wie wohl Franzosen, Engländer und Italiener. Er hat »Fleiß« sowie »Bescheidenheit« im Umgang. Er lernt »mehr als jedes andere Volk fremde Sprachen«. Er hat »keinen Nationalstolz«; »hängt auch nicht an seiner Heimat«; ist »gastfreier gegen Fremde, als irgendeine andere Nation«; »diszipliniert seine Kinder zur Sittsamkeit mit Strenge«, und noch einmal: »wie er dann auch seinem Hange zur Ordnung und Regel gemäß sich eher despotisieren, als sich auf Neuerungen

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(zumal eigenmächtige Reformen in der Regierung) einlassen wird«. An dieser Stelle resümiert der Autor: »Das ist seine gute Seite.« Seine schlechte liegt vor allem darin, daß »der« Deutsche darauf Wert legt, sich »nach Stufen des Vorzugs und einer Rangordnung peinlich klassifizieren zu lassen und in diesem Schema des Ranges, in Erfindung der Titel (vom Edlen und Hochedlen, Wohl- und Hochwohl-, auch Hochgeboren) unerschöpflich und so aus bloßer Pedanterei knechtisch zu sein«. So ist denn Deutschland (»samt Dänemark und Schweden, als germanischen Völkern«) auch »das Titelland« (ib., 263). Viele der von Kant gesammelten Klischees sind bis ins 20. Jahrhundert weit verbreitet, manche sind es sicherlich noch heute. Andere haben eine kurze Lebensdauer. So ist das, was Kant vom »Freiheitsgeist« in Frankreich sagt, als gängiges Klischee gewiß nicht älter als 1789, worauf Kant ja anspielt. Andererseits hat sich in Deutschland das sympathische Klischee nach Kant nicht lange allgemein gehalten, die Franzosen seien ganz besonders »liebenswürdig«; seit den »Freiheitskriegen« 1813/1814 (als die Deutschen ihrerseits zum ersten Male exemplarisch »freiheitsliebend« werden) gibt es eine deutsche Propaganda gegen die Franzosen, die an ihnen überhaupt kein gutes Haar läßt.26 Die Klischees sind – sieht man hier – historisch also alles andere als stabil. Ferner sind sie auch sozial – in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Parteien – oft verschieden, außerdem sogar von einem Individuum zum anderen. So hat Goethe Kants Darstellung der Nationen als »sehr seicht« bezeichnet,27 eine, wie wir heute sicher alle meinen würden, treffende Kennzeichnung; denkt man aber daran, daß für viele deutsche Zeitgenossen Kant als größter deutscher Philosoph gegolten hat, so wird man daran zweifeln können, daß um 1800 viele deutsche Zeitgenossen Goethes Meinung teilten.

5 Prototypen, Stereotypen, Topoi Wendet man die typsemantische Betrachtungsweise statt auf Farben oder Vögel auf Personengruppen wie Geschlechter oder Völker an, dann bekommt man als das Resultat der Untersuchung einen »Typ«, der einem soziologischen »Stereotyp« zum Verwechseln ähnlich sieht. Sind Stereotypen in der soziologischen »Vorurteilsforschung« dasselbe oder sind sie etwas anderes als die »Stereo-« bzw. »Prototypen« in der linguistischen Semantik? Diese Frage kann ich hier nicht diskutieren, aber möchte sie doch aufgeworfen haben.28 Was Kant über Frauen und Franzosen sagt, ist ohne Zweifel Stoff der 26 27 28

Hierzu wieder Jeismann 1993 (Kap. 1). Hier zitiert nach dem Anhang der von mir benutzten Kant-Ausgabe (Kant 1798, 337). Goethe war auch degoutiert von dem, was Kant zum Thema Frauen ausführt (ib.). Zur Prototyp- und Frame-Semantik verweise ich auf Lakoff 1987, Schaffner 1990, Harras 1991, Kleiber 1993 und – besonders – Konerding 1993. – Putnam (1975, 68) knüpft übrigens mit seinem Begriff des »Stereotyps« explizit an den (amerikanischen) umgangs- oder bildungssprachlichen Sprachgebrauch an, wonach ein »Ste-

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»Imagologie«, der »Image-Forschung«, der »Vorurteilsforschung«. Zugleich ist es aber offensichlich eine Quelle ersten Ranges der historischen Semantik, wenn sich diese für die typsemantische Bedeutung der Vokabeln Frau oder Franzose interessiert. Und de facto macht man, scheint es, fast genau dasselbe, wenn man (soziologisch) Stereotypen oder (linguistisch) typsemantische Bedeutungen beschreibt. Wenn ein Unterschied von soziologischer und linguistischer Imagologie besteht, dann wohl vor allem darin, daß man in der Linguistik systematisch auf die »Wörter« abhebt, also Stereotypen immer an den »Wörtern« – nicht den »Sachen« – festmacht. »Sachen« (Gegenstände, Sachverhalte und Personen) respektive Schemata, Modelle oder Bilder von den »Sachen« werden hier wie dort beschrieben, aber in der Linguistik unter dem Aspekt der sprachlichen Verfaßtheit dieser »Sachen«. Wie sind Stereo- bzw. Prototypen linguistisch-philologisch zu ermitteln? Daß sie explizit beschrieben werden, wie in Kants »Anthropologie«, ist selten. In der Regel wird im Sprachgebrauch das stereotype Wissen als gemeinsames und selbstverständlich akzeptiertes immer wieder nur vorausgesetzt, d. h. gerade nicht verbalisiert. Es geht daher in die Rede (und die Texte) ein als ein präsupponiertes Wissen, das als solches immer implizit ist, also nur erschlossen werden kann. Und nur manchmal haben Sprecher einer Sprache (Gruppensprache) Anlaß, Teile dieses ihres impliziten Wissens explizit zu machen. Das sind die Momente, wo die Schemata des Denkens greif bar werden. Sie erscheinen dann in Form von »Topoi«. Topoi  – früher nannte man sie (noch nicht abschätzig) »Gemeinplätze« (»loci communes«) – sind die allgemein bekannten, sozusagen allgemein gebräuchlichen Gedanken. Sie sind daher auch »gewohnheitsmäßige Gedanken«, wie ich sie hier nennen möchte, also eingeübte, automatisierte und routinemäßige Gedanken, die man, weil sie eingeschliffen sind, im Denken (und im Sprechen) immer wieder wiederholt.29 Insgesamt ergeben die auf einen Gegenstand bezogenen Topoi den Stereotyp des Gegenstandes; aber eo ipso auch die typsemantische Bedeutung der Vokabel, die den Gegen-

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reotyp« ein »Vorurteil« ist, nämlich eine »konventional [konventionell ] verwurzelte, häufig übelmeinende [böswillige] und möglicherweise völlig aus der Luft gegriffene Meinung darüber, wie ein X aussehe, was es tue oder was es sei«; ihm gehe es bei dem Begriff, schreibt Putnam, zwar nicht um Böswilligkeit, wohl aber »um konventionale und möglicherweise unzutreffende Meinungen« (ibid.). Dies ist eine von zwei eingeführten Bedeutungen des Wortes Topos. Der Terminus ist deshalb polysem, weil Topoi in der Tradition der Rhetorik nur als »Argumente« interessierten, so daß topos (locus) geradezu mit argumentum synonym war (Lausberg 1960, 203: »man sagt also locus a persona ebenso wie argumentum a persona«) und weil Argument (auch heute) doppeldeutig ist: das Wort kann einen einzelnen Gedanken als Prämisse eines Schlusses (»daß p«), aber auch als Basis einer Argumentations- bzw. Schlußfigur (»daß, wenn p, dann q«) bezeichnen. Topoi i. S. von Argumentationsfiguren untersucht z. B. Kindt (1992) in einem lesenswerten Aufsatz. Was jedoch die inhaltlichen Topoi angeht, scheint es keine Topos-Forschung (mehr) zu geben. Durch das berühmte Buch von Curtius (1948) ist der Terminus in die Bildungssprache eingegangen, aber dabei ist es offenbar geblieben.

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stand (als diesen Gegenstand) beschreibt. Beispielsweise sind im 19.  Jahrhundert und auch noch im 20. Jahrhundert in bezug auf Frauen Topoi: »Frauen sind schwach« (vgl. »Schwachheit, dein Name ist Weib«); »Frauen sind geschwätzig« (vgl. »Ein Mann, ein Wort; eine Frau, ein Wörterbuch«); »Frauen sind wie Kinder« usw. Insgesamt ergeben diese Topoi den (genauer: einen unter vielen) Stereotyp von Frau und damit auch die typsemantische Bedeutung der Vokabel Frau (in der Sprache einer jeweils ganz bestimmten Sprachgemeinschaft). Oft erscheinen Topoi nur in Form von Attributen, die in Texten und Diskursen quasi leitmotivisch immer wieder einem Gegenstand bzw. einer Klasse zugeschrieben werden. Dieses Phänomen hat Bering (1978, 16) in seinem Buch »Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes« – wenn auch ohne den Begriff des Topos zu benutzen – mit dem Terminus »Kennwort« beschrieben. Kennwörter zu den Wörtern intellektuell und Intellektueller sind z. B. im Diskurs der Nationalsozialisten (ibid., 94 ff.) die Vokabeln blutleer, jüdisch, zersetzend, wurzellos, großstädtisch. Ohne ihn in Satzform explizit zu formulieren, evoziert doch jeder einzelne Gebrauch von einem solchen Wort den Topos, daß die Intellektuellen sei es blutleer, sei es jüdisch usw. seien; so wird topisches (stereotypes) Wissen aktiviert und immer wieder aktualisiert.

6 Teile, Komponenten und Organe Zu jedem Menschenbild gehört auch eine Art von Konstruktionsmodell des Menschen, das zumindest zeigt, aus welchen Teilen oder Komponenten oder auch Organen sich ein Mensch zusammensetzt (die Teile sind Organe, wenn sie funktional betrachtet werden). Welche dieser Teile für das Weltbild einer Sprachgemeinschaft wichtig sind, erkennt man wieder daran, welche Wörter sie in ihrem Sprachgebrauch dafür verwendet. Solche Teile sind z. B. Körper, Geist und Seele. Körper, Geist und Seele In Europa wird der Mensch seit langem als dual gedacht, d. h. als sich zusammensetzend aus dem Körper und der Seele. Oder am dem Körper und dem Geist. Geist (animus) und Seele (anima) – sind sie identisch? Oder hat man beides? Oder ist der Geist ein Teil der Seele ? Diese Fragen, die ein Kind sich stellen könnte, zeigen, daß gesellschaftliches Wissen über menschliche Organe (Komponenten) durchaus wirr und widerspüchlich sein kann, ohne daß dadurch die Geltung dieses Wissens angefochten würde. Je nach Kontext, scheint es, reden wir von Seele oder Geist, benutzen also unterschiedliche Modelle menschlicher Komposition aus Teilen. Das ist ein Effekt der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«  – linguistisch: »Diachronie in der Synchronie«  – in unserem Denken; wir benutzen Reste früherer Bewußtseinsstufen weiter. Den modernen Restbestand

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christlichen Wissens über Leib und Seele faßt ein Lexikonartikel30 wie folgt zusammen: »Der Geist (Seele) ist gut und unsterbl., das Fleisch (der Leib) ist schlecht (Sexualität) und dem Tod verfallen.« Den Gegensatz von Geist und Körper gibt es in Europa seit den Griechen, aber noch nicht bei Homer. Das hat Bruno Snell in seinem Buch »Die Entdeckung des Geistes« dargestellt, und zwar in dessen erstem Aufsatz (Snell 1946, 17 – 42): »Die Auffassung des Menschen bei Homer«; dieser Aufsatz ist ein Musterbeispiel linguistisch-philologischer Anthropologie. Danach gab es für Homer noch keinen Körper (das, was später »Körper« heißt, nämlich griechisch soma, bedeutet bei Homer noch »Leichnam«), sondern dort, wo wir von Körper sprechen, spricht Homer von Gliedern (melea und gyia), er sieht also eine Vielheit, wo wir eine Einheit sehen. Und genauso gibt es für Homer auch keinen Geist und keine Seele. Was dem Geist entspricht, ist bei ihm sozusagen aufgeteilt in drei Organe, nämlich psyche (Atem, Leben), noos (was »Vorstellungen« erzeugt), und thymos (was »Regungen« verursacht). Erst für Heraklit besteht der Mensch aus Leib und Seele.31 Was das Menschenbild neuzeitlicher Philosophie betrifft, hat Gilbert Ryle (1949) die Aporie des Denkens in den dualistischen Begriffen Körper/Geist (bzw. Seele ) unvergeßlich auf den Punkt gebracht in seinem Bild von dem »Gespenst in der Maschine« (»ghost in the machine«): ein körperloser Traktorfahrer steuert (aber ohne Muskelkräfte, die das Steuerrad bewegen könnten) irgendwie den Mechanismus Körper. Das bedeutet selbstverständlich keineswegs, daß damit allgemein der Glaube an die Existenz von Geist und Seele als besondere Substanzen ein für allemal schon überwunden wäre. Psychologisch redet man seit Freud von Ich, Es, Über-Ich als psychischen Instanzen. Daran sieht man, daß auch Teile eines Menschen (hier: die Psyche) ihrerseits benennenswerte Teile haben konnen. Grosso modo scheint das Ich den Geist, das Es den Körper und das Über-Ich das christliche Gewissen fortzusetzen. Beim Übergang von christlicher zu psychoanalytischer Anthropologie verliert aber das Gewissen seine wesentliche Eigenschaft der absoluten, objektiven Unterscheidungsfähigkeit von »gut« und »böse«; das Über-Ich kann nurmehr subjektiv zur Geltung bringen, was es an Geboten jeweils internalisiert hat. Für die Wissenschaft, die selber nicht an »gut« und »böse« glaubt, kann es kein christliches Gewissen geben, daher mußte daraus etwas anderes, Wertneutrales werden. Teubert (1991) hat gezeigt, wie parallel dazu sich Schuld und Reue psychologisch in die Schuldgefühle transformierten, die als solche eine Therapie erfordern, statt (wie Schuld und Reue) eine Buße mit gelobter und versuchter Besserung des Sünders; man erkennt hier wieder einmal, wie sich mit den Wörtern auch deontische Bedeutungen verändern. Einem analogen Wandel unterlag das Institut der Beichte (psychoanalytisch: Sitzung). 30 Meyer 1981, s. v. Mensch. 31 Wie es historisch weitergeht, skizzieren Böhme et al. (1993); man erkennt an ihrem Überblicksartikel auch, wie unterschiedlich gut die einzelnen historischen Epochen diesbezüglich schon erforscht sind.

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Immer wieder macht sich offensichtlich  – außerhalb und innerhalb der Wissenschaften – das Bedürfnis geltend, menschliche Funktionen oder Fähigkeiten zu hypostasieren zu Organen (oder Komponenten von Organen). 32 Beispielgebend sind hier das Gehirn als das Organ des Denkens und das Herz als das Organ des Fühlens. So glauben heute manche Linguisten, da es eine Fähigkeit des Sprechens gebe, müsse ein Organ bzw. Teilorgan (ein »Modul«) existieren, dessen Existenz gerade diese Fähigkeit erkläre; ein Teilorgan (Grammatik) hier des Gesamtorganes Geist, der aber nun mit dem Gehirn ineins gesetzt wird. Wieder zeigt sich, daß man, um ein Menschenbild – in diesem Falle: eins der Linguistik – zu erkennen, nach seinen Komponenten fragen muß, an deren Existenz geglaubt wird.33 Meronyme Hat die Frage nach den »Teilen« eines Menschen gleichfalls – wie die Frage nach den Menschen-»Sorten« – einen linguistischen Aspekt? Wörter für die »Teile« eines »Ganzen« kann man linguistisch »Meronyme« (Meronym nach griechisch meros »Teil« und onyma »Name«) nennen. Diesen nützlichen Begriff, der in der deutschen Linguistik wohl nicht allgemein bekannt ist, finde ich im »Lexikon der Germanistischen Linguistik«34, wo er aber insgesamt nur einmal, und auch da nur nebenbei, gebraucht wird. Wie man sieht, ist dieser Terminus nach dem Modell von Synonym, Antonym, Hyponym, Hyperonym gebildet. Er bezeichnet Wörter, die ein Wortfeld bilden, insofern sie die Bezeichnungen von Teilen eines Ganzen sind, ähnlich wie die Hyponyme Wörter eines Wortfelds sind, insofern sie Bezeichnungen von Unterarten einer Art sind. Ganz genauso, wie zur Kenntnis der Bedeutung eines Wortes (wie z. B. Eule oder Spatz) dazugehören kann, daß man auch weiß, von welchem anderen Wort das Wort ein Hyponym ist (Eule, Spatz – Vogel ), so kann zum Bedeutungswissen auch dazu gehören, daß man weiß, von welchem anderen Wort ein Wort (z. B. Flügel oder Feder) ein Meronym ist (Flügel, Feder – Vogel ) bzw. sein kann. Wer nicht weiß, daß ein Spatz ein Vogel ist, der weiß nicht, was ein Spatz ist. Und genauso weiß nicht, was ein Flügel ist, wer nicht weiß, daß es die Vögel (außerdem auch Bienen, Fliegen, andere Insekten und gewisse Säugetiere, aber das ist schon Expertenwissen) sind, die Flügel haben. Wie auch umgekehrt das Wissen, daß ein Vogel u. a. einen Schnabel, einen Schwanz und Flügel

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Auch wenn nicht hypostasiert, sind selbstverständlich die Funktionen und die Fähigkeiten von anthropologischem Interesse. Ein vorzügliches Exempel linguistischer historischer Anthropologie ist daher das bekannte Buch von Trier (1931) »Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes«, das den Wortschatz des Wortfeldes des »Verstandes«  – nach Diskursen (»geistliche Texte«, »weltliche Texte», »Ritterepen«) unterscheidend und auch darin beispielgebend – darstellt. 33 Zum Modul-Modell der Fähigkeit des Sprechens und zum Sprach- und Menschenbild der Generativistik siehe Jäger (1994). Zum verwandten Menschenbild der »Artificial Intelligence« siehe Weizenbaum (1976). 34 Althaus et al. 1980, 247.

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hat, zum Wissen davon, was ein Vogel ist, dazu gehört, d. h. es gehört zum Stereotyp von Vogel und damit zur Gesamtbedeutung der Vokabel Vogel. Und wie zum Wissen davon, was ein Mensch ist, auch gehört, daß er Arme, Beine, Rumpf, Hals, Kopf hat und – wie wir gesehen haben – Leib und Seele oder Geist und Körper. Also als die Frage nach den »Meronymen« ist die Frage nach den »Teilen« (auch des Menschen) linguistisch.

7 Menschliche Gesellungs- und Gesellschaftsformen Wer jemand ist, bestimmt sich, wie wir wissen, nicht allein nach absoluten Eigenschaften wie z. B. Alter und Geschlecht. Genauso wichtig sind dafür auch relative Eigenschaften wie z. B. Vater- oder Mutter-Sein (von jemand), Bürger-Sein (einer Stadt), Staatsangehöriger-Sein (eines ganz bestimmten Staates), Präsident-Sein (einer Organisation), Untertan-Sein (eines ganz bestimmten Herrschers). In den diesbezüglichen Vokabeln (Vater, Mutter, Bürger usw.) ist jeweils eine menschliche Institution vorausgesetzt (präsupponiert) und mitgedacht, ohne deren Existenz es sinnlos wäre, die betreffende Vokabel zu verwenden. Wenn jemand König eines Landes ist, dann folgt daraus, daß dieses Land die Staatsform einer Monarchie hat. Im Begriff des Vaters ist im Regelfall auch heute mitgemeint, daß er zugleich auch Ehemann von einer Ehefrau in einer Ehe ist und also eine eigene Familie »hat«. Fehlt alles dies, dann ist er strenggenommen nicht der Vater, sondern bloß Erzeuger eines Kindes, jedenfalls kein typsemantisch »echter« Vater. Diese Überlegung soll hier zeigen, daß zu einer linguistischen Anthropologie die Untersuchung der Bezeichnungen für menschliche Gesellungs- und Gesellschaftsformen mit dazu gehören kann. Auch deshalb, weil die Gegenstände dieser Anthropologie, die sprachgeprägten Menschenbilder, oft nichts anderes sind als »Rollenbilder«, also Bilder von sozialen Rollen, die als solche nur im Hinblick auf soziale Gruppen und Institutionen definiert sind. Außerdem gehört zu jeder menschlichen Identität ein WirGefühl (in Wahrheit jeweils viele Wir-Gefühle) oder Wir-Bewußtsein, und gewöhnlich gibt es für die Art der Gruppe, auf die sich das Wir-Gefühl bezieht, auch Wörter. Diese Wörter für gesellschaftliche Gruppen nennen also Möglichkeiten von sozialer Selbst-, doch auch Fremdidentifikation. Die gesellschaftlichen Gruppen und Gebilde, denen jemand angehören kann und die ihn dann bezüglich einer Rolle definieren können, sind historisch wiederum Legion. Sie reichen heute von der Kleinfamilie und Familie über Kindergartengruppe, Klasse (in der Schule), Schule usw. bis zur Firma oder auch Behörde, der man angehört, bis hin zum Seniorenheim. Sie reichen von der Nachbarschaft, dem Dorf, dem Viertel über Stadt und Kreis und Land bis hin zum Staat und Staatenbund. Sie reichen vom Verein bis zur Partei und Kirche. Welche davon jeweils relevant sind – für die Angehörigen bestimmter Schichten oder Gruppen – ist historisch-philologisch festzustellen.

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8 Tugenden und Laster Auch auf »Tugenden« und »Laster« oder »Schwächen« soll zum Schluß nur ganz pauschal noch hingewiesen werden. Tugenden und Schwächen sind nichts anderes als Eigenschaften, wie sie oben schon besprochen wurden, beispielsweise Ehrlichkeit und Reinlichkeit als deutsche Eigenschaften in der »Anthropologie« von Kant. Aber wegen ihrer großen Wichtigkeit verdienen sie besondere Beachtung. Es ist klar, daß sie – wie alle Werte – soziologisch einer weiten Streuung und historisch einem starken Wandel unterliegen. Nicht nur ist das »ritterliche Tugendsystem«, das Ehrismann (1919) entdeckt hat, längst verschwunden. Auch die »sieben Todsünden« (Hoffart, Geiz, Wollust, Neid, Völlerei, Zorn, Trägheit) scheinen selbst bei Katholiken nicht mehr allgemein bekannt zu sein; in meinem Taschenlexikon sind sie noch nicht einmal verzeichnet. Um die »vier Kardinaltugenden« (Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Tapferkeit) steht es vermutlich auch nicht besser. Was ist aus den »bürgerlichen Tugenden« Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit geworden? Jedenfalls als Trias sind auch sie nicht mehr geläufig.35 Gerne wüßte man, aus welchen Elementen ein moderner Tugendkatalog für beispielsweise wirtschaftliche Führungskräfte sich zusammensetzen würde; ich vermute einmal, u. a. Durchsetzungsvermögen, Führungsstärke, Leistungswille wären dafür Kandidaten. Aber über solche Prädikate brauchte man im Grunde nicht zu spekulieren, denn es gibt ja Texte, denen Auskunft über Tugenden und Laster je spezifischer sozialer Gruppen zu entnehmen wäre.

9 Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte Das Interesse der historischen Semantik, wie sie in den letzten zwei Jahrzehnten insbesondere von Historikern betrieben wurde, ging vor allem auf die »Grundbegriffe« der Geschichte. Programmatisch sagt das schon der Titel  – »Geschichtliche Grundbegriffe« – ihres Standardwerkes (Brunner, Conze und Koselleck 1972 – 1992). Für die Auswahl solcher »Grundbegriffe« ausschlaggebend war besonders der Kosellecksche Gedanke (Koselleck 1972, 120), manche Wörter seien nicht bloß »Indikator« der geschichtlichen Zusammenhänge, sondern ebenso auch deren »Faktor«. Das trifft insbesondere auf Fahnenwörter zu – auf Wörter, die für wichtige politische Programme und Parteien stehen, große Wörter wie z. B. Freiheit oder Sozialismus. Für die Zwecke der historischen Semantik und besonders einer »linguistischen Mentalitätsgeschichte« sind jedoch auch andere und eher unscheinbare Wörter wichtig. Was ist »linguistische Mentalitätsgeschichte«? Das habe ich in einem Aufsatz (Hermanns 1995 a) ausgeführt, der zeigen soll, daß Sprachgeschichte (auch) Mentalitätsgeschichte sein kann. Er entwickelt folgenden Gedankengang: Mentalitätsgeschichte ist 35

Zu den »bürgerlichen Tugenden« vgl. Münch 1984.

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Geschichte von Mentalitäten, und Mentalitäten sind – im fachsprachlichen Sprachgebrauch von Soziologen und Historikern  – Dispositionen (oder auch Gewohnheiten, behavioristisch: habits) des Denkens, Fühlens, Wollens in sozialen Gruppen. Nun sind aber Denken, Fühlen, Wollen (oder: Kognitionen, Emotionen, Intentionen) eben das, was sich in Sprache, insbesondere in Wörtern, ausdrückt; man kann Kognition und Emotion und Intention geradezu die »Dimensionen der Semantik« nennen (Hermanns 1995 b). Unterschiede wie Veränderungen in der Art des Denkens, Fühlens, Wollens sind (u. a.) in Unterschieden und Veränderungen sprachlicher Verhaltensweisen (Sprachgebräuche) zu erkennen. Und aus diesem Grund kann Sprachgeschichte, wenn sie darauf abzielt, selber schon Mentalitätsgeschichte sein. Insbesondere sind Wörter für die linguistische Mentalitätsgeschichte wichtig. Wörter, kann man metaphorisch sagen, sind »Vehikel von Gedanken«. Denn man kann sie nur verstehen, wenn man die Gedanken kennt und denkt, auf denen sie beruhen. Das gilt offensichtlich für die großen Wörter wie das eben schon genannte Freiheit. Um es jeweils zu verstehen, muß man den Gedanken kennen, der jeweils damit gemeint ist: den Gedanken, daß man und wovon man frei sein sollte. Aber auch für unscheinbare Wörter, Alltagswörter, gilt es, daß sie die Vehikel von Gedanken (oder deren »Chiffren« oder »Abbreviaturen«) sind oder doch sein können. Beispielsweise war in einem Wort wie Dame (s. o.) immer mitgedacht (präsupponiert), daß es bei Frauen zwei Kategorien gibt, die Damen und die übrigen, »gewöhnlichen« bzw. »ordinären« Frauen, wie man früher gerne sagte. Dieser damals nicht nur für die Damen wichtige Gedanke war geradezu die raison d’être für die Existenz des Wortes Dame. Dame diente also nicht allein dazu, bestimmten einzelnen Personen einen Damen-Status zuzuschreiben oder abzusprechen, sondem eo ipso auch dazu, ganz generell die Standesunterschiede zwischen Menschen immer wieder in Erinnerung zu rufen. Nachweis und Interpretation des Phänomens, daß – bis ins 20. Jahrhundert – Damen von den anderen Frauen unterschieden wurden, ist bereits ein Stückchen linguistische Mentalitätsgeschichte. Vollends wäre dann der Nachweis, welche Topoi als gewohnheitsmäßige Gedanken insgesamt was für ein Bild (Stereotyp) von einer Dame modellierten, linguistische Mentalitätsgeschichte. Mentalitäten sind gewissermaßen unerschöpf lich. Konkret kann die Mentalitätsgeschichte immer nur bestimmte einzelne Aspekte von Mentalitäten (in historisch ganz bestimmten Zeiten und von soziologisch ganz bestimmten Gruppen der Gesellschaft) fassen. Angesichts der Unerschöpflichkeit mentalitätsgeschichtlicher Thematik konzentriert man sich auf das, wofür man sich gerade interessiert. Doch gibt es auch den Wunsch, das weite Feld in irgendeiner Weise in Sektoren einzuteilen und es damit etwas Übersichtlicher zu machen. Einen solchen Sektor habe ich in diesem Beitrag mit dem Namen »Anthropologie« bezeichnet. Wie man jeweils – zu bestimmten Zeiten, in bestimmten Gruppen – über Menschen dachte, welche Selbst- und Fremdverständnisse man hatte, also welche Menschen-

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bilder man gehabt hat – diese Fragen stellt man sich in der Mentalitätsgeschichte ohnehin besonders häufig, allerdings bezogen immer auf Spezialprobleme wie die Frage nach den Nationalstereotypen bei bestimmten Gruppen zu bestimmten Zeiten oder auch die Frage, was im »ancien régime« ein Kind war. Meines Wissens fehlt bislang ein Name, der – als plakatives Etikett – vor Augen rückt, was das Gemeinsame an den Versuchen ist, auf solche Einzelfragen Antworten zu geben. Derlei Etiketten können manchmal helfen, die vereinzelten Versuche aufzuwerten, nämlich dadurch, daß sie sagen, welchem Ziel sie alle dienen. Hier dem Ziel, herauszufinden, was die Menschenbilder einzelner historischer Epochen waren. Insofern die Linguistik dazu etwas beizutragen hätte, ist von »linguistischer« Mentalitätsgeschichte und von »linguistischer« Anthropologie zu sprechen.

Literatur Hinweis: Nach dem bzw. den Verfassernamen ist hier i. d. R. die Jahreszahl der Publikation des Originals (und nicht der Übersetzung oder späterer Auflagen) angegeben.

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Linguistische Hermeneutik Überlegungen zur überfälligen Einrichtung eines in der Linguistik bislang fehlenden Teilfaches

Die BeiträgerInnen dieses Bandes sind gebeten worden, mit Vorschlägen an der Profilierung einer wünschenswerten zukünftigen Linguistik teilzunehmen; gemeint ist vor allem die germanistische Linguistik, die Sprachgermanistik. Diese ist derzeit in mancher Hinsicht reformwürdig, das ergibt sich aus der Konstatation ihrer Defizite, wie sie der Beitrag von Ortner & Sitta (2003) aufzählt. Insgesamt versäumt es danach die Sprachgermanistik nicht nur, sich der sie umgebenden und tragenden Gesellschaft als eine für deren Fragen und Probleme einschlägige Wissenschaft zu präsentieren, sondern auch – und das ist das Entscheidende – sich selbst, so gut sie kann, dazu zu machen. Insbesondere sträubt sie sich oft geradezu dagegen, für andere Wissenschaften und für die Gesellschaft nützlich sein zu sollen, d. h. »angewandt« zu werden (Antos 2003). Zu den so benannten Defiziten soll hier hinzugefügt werden, dass die Linguistik, wie sie heute ist und sich selbst darstellt, einen ihrer großen Trümpfe, eine ihrer stärksten Karten, noch so gut wie gar nicht ausspielt. Nämlich, dass sie – und zwar essenziell – Verstehenswissenschaft ist: Hermeneutik. Der Sinn dieses Beitrags ist es, darauf hinzuweisen, dass dies in der Tat der Fall ist, sowie dafür zu plädieren, dass Sprachgermanistinnen und -germanisten sich verstärkt bemühen sollten, bei der Selbstdarstellung ihres Faches darauf hinzuwirken, dass die Linguistik nicht mehr kontrafaktisch wahrgenommen werden kann als eine Linguistik, die zu Fragen und Problem des Verstehens nichts zu sagen hat, d. h. als Linguistik ohne Hermeneutik und daher als Linguistik ohne Belang für die Hermeneutik. Der Sinn dieses Beitrags ist es außerdem auch, zur Einrichtung eines sprachwissenschaftlichen Teilfachs, das linguistische Hermeneutik oder auch Sprachhermeneutik heißen könnte, einige Anregungen zu geben.1 Dieser Beitrag ist erstmals 2003 erschienen in: Linke, Angelika ; Ortner, Hanspeter ; Portmann-Tselikas, Paul R. (Hgg.): Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis. Tübingen (= Reihe Germanistische Linguistik 245), 125 – 163. 1

Dazu habe ich selbst Anregungen, Hinweise und Ratschläge bekommen von den HerausgeberInnen dieses Bandes und von Wemer Holly, wofür ich mich hier bedanken möchte.

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1 Keine Linguistik ohne Hermeneutik Manchmal denke ich, die Linguistik müsste, um den eigenen Endzweck nicht zu vergessen, an die Eingangspforten aller ihrer Seminarien und Institute schreiben: Hier wird untersucht, wie Sprache funktioniert. Im Einzelnen wie auch im Allgemeinen. Denn das ist es doch wohl, was SprachwissenschaftlerInnen mehr als alles andere wissen wollen. In der Frage danach ist die andere mögliche Grundsatzfrage der Sprachwissenschaft – was Sprache ist – enthalten. Sprache besteht darin, dass und wie sie funktioniert, das Funktionieren ist ihr Wesen. Wie Sprache funktioniert – auf diese Frage haben wir dank Wittgenstein die Antwort: immer wieder anders. Nämlich in verschiedensten Sprachspielen, die man einzeln untersuchen und beschreiben muss, wenn man erklären will, wie Sprache funktioniert. Es kann hier keine Ein-für-allemal-Erklärung geben. Die Sprachspiele unterscheiden sich durch ihre Regeln (Sprachspiel-Regeln, Sprach-Spielregeln) und ihre Funktionen (usuelle Zwecke, erwartbare Ergebnisse) und ihre Kontexte, denn man spielt sie in höchst verschiedenen »Funktionskreisen« (Ortner 1992, 281 ff.) sprachlichen und nichtsprachlichen Handelns und Geschehens. Aber trotz der Vielfalt und der Vielzahl der Funktionen und Funktionsweisen von Sprache lässt sich darüber, wie Sprache funktioniert, doch auch einiges Generelles sagen. So z. B., dass bei jedem sprachlichen Kommunizieren einerseits Zeichen gegeben werden, andererseits auf Zeichen reagiert wird; darum ist die Linguistik im System der Wissenschaften ein Teilfach der Semiotik. Oder dass sprachliche Zeichen etwas sozial Gelerntes sind; weshalb die Linguistik eine Kulturwissenschaft ist. Zu dem Allgemeinsten, was man über Sprache sagen kann, gehört nun aber auch, worauf es bei der Frage nach der Relevanz der Hermeneutik für die Linguistik und der Frage nach der Relevanz der Linguistik für die Hermeneutik ankommt: Sprache funktioniert – immer und nur – durch Zu-verstehen-Geben und Verstehen. Sprachliches Verhalten kann unübersehbar viele Zwecke und Funktionen haben, aber ein Zweck (Zwischenzweck) ist dabei immer: Es zielt auf Verstanden-Werden. Auf der Adressatenseite sind die überhaupt möglichen Reaktionen auf ein sprachliches Verhalten ebenfalls unübersehbar viele, aber sie sind allesamt vermittelt durch Verstehen. Deshalb wird man ohne Übertreibung sagen können: Das Verstehen ist das A und O von Sprache. Und aus diesem Grunde wiederum kann die gesamte Linguistik – nicht nur, aber doch auch – als Verstehenslehre angesehen werden. Auch lässt sich von ihr behaupten, dass sie – wie auch andere Kultur- und Gesellschaftswissenschaften – auf praktischer Hermeneutik, auf Verstehen, gründet. Ob in der Phonologie (in der es um die ›distinktiven‹, d. h. die bedeutungsunterscheidenden, Merkmale von Sprachlauten geht), ob in der Lexikologie und der Grammatik (wo es auf das richtige Verständnis von Bedeutungen von Wörtern und Strukturen ankommt), ob in der Pragmatik (wo der Sinn sprachlicher Handlungsformen dargestellt wird) – überall ist linguistische Erkenntnis

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ohne eigenes Sprachverstehen von SprachwissenschaftlerInnen gar nicht möglich, die insoweit niemals gänzlich »unbeteiligte Beobachter« sein können (Scherner 1984, 60). Mindestens aus folgenden zwei Gründen braucht die Linguistik also eine eigene Hermeneutik: Erstens, weil der Gegenstand der Linguistik – sprachliches Interagieren – über das Zusammenspiel von Zu-verstehen-Geben und Verstehen funktioniert, d. h. dadurch konstituiert ist ; die Sprachwissenschaft benötigt eine Hermeneutik schon um ihres Gegenstandes willen. Zweitens, weil die Linguistik selber immer hermeneutisch verfährt und verfahren muss, so dass sie eine Hermeneutik auch als Komponente ihrer Metatheorie braucht. Eine solche eigene Hermeneutik hat die Linguistik einerseits schon, ja sie kann sogar als ganze, wie gesagt, als Hermeneutik (als Sprachhermeneutik) angesehen werden. Außerdem ist in ihr in den letzten zwanzig Jahren das Verstehen mehr und mehr auch explizit zum Thema gemacht worden.2 Es fehlt ihr jedoch andererseits weitgehend eine eigene Hermeneutik, die sich selbst so nennen würde.3 Daher kommt es, dass sie fälschlich oft als eine hermeneutiklose, hermeneutikferne Disziplin gesehen wird : weil sie die eigene Hermeneutik mehr verleugnet, als sie vorzuzeigen. Das Obige resümierend, möchte ich behaupten : Eine Linguistik ohne Hermeneutik ist ein Unding. Und es gibt deshalb auch keine Linguistik ohne Hermeneutik. Dass die Linguistik naturwissenschaftlich-szientifisch zu sein hätte oder sogar schon sei, ist nur 2

In der Bibliografie von Biere (1991) sind die wichtigsten Publikationen bis etwa zum Jahre 1990 angegeben. Insbesondere von Polenz’ Deutsche Satzsemantik (1985) ist ein Beispiel ausgeführter sprachwissenschaftlicher Hermeneutik, was der Untertitel anzeigt : »Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens«. Hörmanns Buch über das Meinen und Verstehen (Hörmann 1976 ), auf das u. a. von Polenz wiederholt Bezug nimmt, kann inzwischen als Grundlagenwerk auch der Sprachgermanistik angesehen werden, so bekannt ist es in ihr geworden. Von den späteren Publikationen, die das Wort Verstehen oder das Wort Interpretation im Titel führen oder sonst ausführlich vom Verstehen handeln, sind als vielleicht repräsentativ zu nennen: Strohner (1990), Heinemann & Viehweger (1991), Busse (1992a), Knobloch (1994), Feilke (1994), Keller (1995), Falkner (1997), Müller (2001).

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Nur von einigen SprachwissenschaftlerInnen ist der Begriff Hermeneutik in Bezug auf Linguistik bisher überhaupt verwendet worden. Jäger hat in mehreren Arbeiten ( Jäger 1975; 1976; 1977) eine »hermeneutische Begründung der Sprachtheorie« ( Jäger 1977, 25) gefordert : »im Bereich geschichtlich-sozialer Gegenstände« sei keine Erkenntnis möglich, »die nicht auf der Basis kommunikativer bzw. hermeneutischer Erfahrung« gründe. Keller (1977) hat den Begriff Hermeneutik des Handelns geprägt. Ich selbst habe, mich darauf beziehend, den Begriff linguistische Hermeneutik bereits früher vorgeschlagen (Hermanns 1987b). Wichter (1994, 223 ff.) nennt eine »linguistische Hermeneutik« ein »Desiderat« der Linguistik und gibt einen Überblick über dazu bereits vorhandene Ansätze. Glinz (1977, 92) spricht von der »hermeneutischen Situation« als konstitutiv für alle Sozialwissenschaften, also auch die Linguistik. Biere (1989) referiert in seinem Buch Verständlich-Machen als relevant für die Linguistik auch »hermeneutische Traditionen«. Holly (1992) setzt in einem Aufsatz über die »Holistische Dialoganalyse« den Begriff Methode in Anführungsstriche, nennt ein »hermeneutisches Vorgehen« dabei »unumgänglich« und postuliert deshalb auch : »›Methode‹: hermeneutisch« (ebd.: 16). Fritz in seinem Buch Historische Semantik bringt die »methodischen Fragen« dieser Disziplin auf die Begriffe »Heuristik und Hermeneutik« (Fritz 1998, 23). Und so gibt es sicherlich noch manche anderen linguistischen Publikationen, die den Begriff Hermeneutik programmatisch oder nebenbei  – als selbstverständlich oder notwendig – verwenden, aber viele dürften es wohl nicht sein.

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ein Selbstmissverständnis mancher ihrer Schulen. Denn sie verfährt dauernd praktischhermeneutisch, d. h. sich auf eigenes Sprachverstehen von SprachwissenschaftlerInnen stützend und berufend, und es geht ihr immer um die Frage, wie Sprachliches zu verstehen ist, wie es zu sprachlichem Verstehen kommt, und welche einzelnen Faktoren dabei eine Rolle spielen. Und der eingeführte Name für Verstehenstheorie und -lehre sowie Praxis der Vermittlung von Verstehen ist nun einmal Hermeneutik.

2 Linguistische Hermeneutik Die Wahrnehmung und die Selbstwahrnehmung der Sprachwissenschaft als Linguistik ohne Hermeneutik ließe sich am besten, jedenfalls am einfachsten und schnellsten, dadurch ändern, dass die Linguistik sich ein neues Teilfach zulegt, das linguistische Hermeneutik heißen könnte (analog zu linguistische Pragmatik ), oder auch Sprachhermeneutik. Denn wenn man versuchen wollte, die gesamte Linguistik sozusagen umzukrempeln, so dass sie sich insgesamt als Hermeneutik darstellt, wäre das gewiss ein wissenschaftsstrategisch hoffnungsloses Unterfangen. Realistischer ist der Versuch, ein neues Teilfach einzurichten – wozu ich hier einen Vorschlag machen möchte. Dabei kann die Forderung, die Linguistik solle eine ›eigene‹ Hermeneutik  – als eigenes Teilfach  – haben, nicht bedeuten, dass sie eine gänzlich neue oder gänzlich andere (im Vergleich zu der von anderen Fächern) Hermeneutik haben sollte. Ganz im Gegenteil, es ist ja immer anzustreben, dass die akademischen Fachdisziplinen, die gemeinsame Erkenntnisziele haben, im Dialog miteinander zu gemeinsamen Einsichten, Theorien und Begriff lichkeiten kommen. Als Anfängerin auf diesem Gebiet wird die Linguistik aus der Hermeneutik anderer Fächer vieles übernehmen müssen. ›Eigen‹ kann zunächst nur heißen, dass die Linguistik einen fachinternen Subdiskurs verstärkt ausbildet, der Verstehen sowie Interpretation zum Thema hat, und dass sie hermeneutisches Grundwissen regelmäßig auch in ihrem Unterricht vermittelt. Dass die Hermeneutik in der Linguistik darüber hinaus, wenn sie nur erst einmal in Gang kommt, bald ein ›eigenes‹ Profil und einen ›eigenen‹ Charakter haben wird, ergibt sich ganz von selbst aus ihren speziellen Wissensinteressen und aus dem speziellen Wissen, das sie in die Hermeneutik einbringt. Im Vorgriff auf einen Zustand, in dem eine eigene Hermeneutik als Teilfach der Linguistik hinreichend herangereift ist, um sich selbst definitiv zu strukturieren, möchte ich hier den Gesamtbereich einer linguistischen Hermeneutik, um ihn übersichtlicher zu machen, provisorisch schon einmal aufteilen in die folgenden vier Teilbereiche, für die ich die angegebenen Bezeichnungen vorschlage. Theoretische Hermeneutik würde wohl der Teilbereich der Hermeneutik heißen können, der Aussagen dazu macht, was Hermeneutik ist (bzw. was die wichtigsten Bedeutungen von Hermeneutik sind) und welche Teilbereiche sie hat ; was Verstehen ist (bzw.

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heißen kann), wie es zu Stande kommt und worin es besteht ; sowie, was Interpretation ist (bzw. was mit diesem Wort gemeint ist und gemeint sein sollte) und worauf es dabei ankommt. Empirische Hermeneutik kann vielleicht ein Name sein für die Gesamtheit aller – linguistischer und anderer – Darstellungen von empirisch (inklusive philologisch) erschließbarem Sprach- und Textverstehen , ferner der Beschreibungen bzw. Analysen von empirisch zugänglichen Interpretationen, hier i. S. von Erklärungen von Texten oder Äußerungen. (Wie man auf den ersten Blick sieht, ist die zweite Art von Empirie viel leichter zu bekommen als die erste.) – Metonymisch könnte auch die zugehörige Methodenlehre empirische Hermeneutik heißen. Die traditionelle Hermeneutik ist vorwiegend didaktische Hermeneutik, sie besteht vor allem aus Ratschlägen, sowohl zum Verstehen als auch zum Auslegen. Sie ist daher, wenn man so will, eine angewandte Hermeneutik. Schließlich kann praktische Hermeneutik genannt werden das Verstehen und Interpretieren selber (wie es beides von der theoretischen und empirischen Hermeneutik dargestellt, von der didaktischen gelehrt wird).

3 Grundbegriffe, Grundgedanken Der theoretischen Hermeneutik muss es zuerst einmal um die Klärung ihrer Grundbegriffe und -gedanken gehen. Deshalb werden hier erörtert die Begriffe Hermeneutik, Verstehen, Interpretieren, jeweils mit einigen der Gedanken, die dazu gehören. Zusätzliche für die Hermeneutik unentbehrliche Begriffe – wie z. B. Wort, Satz, Text, Textsorte, Sprechakt, Handlung, Sprachspiel, Zeichen usw. – kann die Hermeneutik zunächst aus den jeweils zuständigen anderen linguistischen Teildisziplinen oder anderen Fächern übernehmen, um sie später, falls sich herausstellen sollte, dass dies nötig ist, durch Modifikation zu ihren eigenen Zwecken passender zu machen. 3.1 Dreimal drei Bedeutungen von H e r m e n e u t i k Hermeneutik ist – in der wohl gängigsten Bedeutung der Bezeichnung – die »Kunst des Verstehens«. Diese Wortbedeutung ist von Schleiermacher (posthum 1838, 75) geprägt worden. Er unterstreicht: »Nur Kunst des Verstehens, nicht auch der Darlegung des Verständnisses«. Statt Kunst kann man auch Technik sagen, wie schon Schleiermacher selber (Birus 1982 a, 34). Auch Methode käme noch in Frage. All dies ist nicht ganz unproblematisch, denn Verstehen ist kein Handeln, sondern allenfalls das Ziel und (im Gelingensfalle) das Ergebnis eines Handelns, das genau genommen zu beschreiben wäre als Versuch oder Bemühen (so Turk 1982, 145), etwas zu verstehen (s. dazu das nächste Unterkapitel). Deutet man jedoch die Paraphrase Kunst/Technik/Methode des Verstehens als Abkürzung von Kunst/Technik/Methode des (kunstgerechten und mehr oder minder sys-

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tematischen) Bemühens, ein Verstehen zu erlangen, dann wird man sie gelten lassen können. – Erstens also: Hermeneutik kann Verstehenskunst bedeuten.4 In der zweiten wichtigen – der älteren – Bedeutung der Bezeichnung ist die Hermeneutik eine Kunst entweder sowohl des Verstehens als auch des Auslegens oder (da Auslegen das Verstehen begriff lich voraussetzt) einfach die »Kunst des Auslegens«.5 Statt Kunst kann man auch hier wieder Technik sagen, statt Auslegen sowohl Interpretation als auch Interpretieren, außerdem Erklären (all dies war bereits vor Schleiermacher üblich), wobei man jedoch beachten sollte, dass sowohl Auslegung als auch Interpretation/Interpretieren oft im Sinne von Verstehen gebraucht werden ; nur Erklären ist immer eindeutig das Verständlich-Machen und nie das Verstehen. Hier soll aber auch Auslegen und Interpretieren immer nur verwendet werden wie Erklären. – Zweitens also: Hermeneutik kann auch als Auslegungskunst verstanden werden. Eine dritte, gleichfalls ältere, Bedeutung der Bezeichnung Hermeneutik ist durch Gadamers Buch Wahrheit und Methode neuerdings wieder bekannt geworden : Hermeneutik als Kunst nicht nur des Verstehens und Auslegens, sondern auch »Anwendens« (also insgesamt als ars intelligendi, explicandi, applicandi ; Gadamer 1960, 188, 312 ff.). Dieser Begriff war zuvor wohl nur noch von Juristen gebraucht worden. Für sie war es immer selbstverständlich, dass gesetzliche Bestimmungen nicht nur verstanden und gedeutet, sondern dann vor allem auch – auf ›Fälle‹ – ›angewendet‹ werden, wobei sich gelegentlich Verstehen und Auslegung der Gesetzestexte ändern, manchmal drastisch. (Ein Beispiel dafür gibt Busse 1991.) Auch in der Theologie sieht Gadamer die Auffassung von Hermeneutik noch lebendig, wonach es (vor allem in der Predigt) auf Anwendung – auf das Hier-und-Heute, kann man vielleicht sagen – ankommt, wobei der Text, seinem »Anspruch« entsprechend, »in jedem Augenblick, d. h. in jeder konkreten Situation, neu und anders verstanden werden muß« (Gadamer 1960, 314), je nachdem, was auch der Augenblick (und nicht der Text alleine) nach Ansicht des Predigenden von den PredigtAdressaten jeweils fordert. Es geschieht – so deute ich das, den Gedanken mir soweit zu eigen machend – in der Anwendung des Textes sowohl eine Aktualisierung als auch eine 4

Hermeneutik kann nicht nur als Kunst, sie kann sogar als ›Kunstwerk‹ angesehen werden, aber nur in dem Sinn, dass »mit [ihren] Regeln nicht auch die Anwendung gegeben ist«, d. h. dass sie »nicht mechanisiert werden kann«; und ausdrücklich nicht in dem Sinn, »als ob die Ausführung in einem Kunstwerk endigte« (Schleiermacher 1838, 81). Das wird hier zitiert für die LinguistInnen, die sich vielleicht ungern an gewisse kunstwerkartige Textinterpretationen ihrer Studienzeit erinnern. – Wenn man heute bereits manchmal betont, alle Lingutstik habe eine »hermeneutische« Grundlage, dann besonders in der Absicht, darauf hinzuweisen, dass ihre Methode »nicht mechanisiert werden kann«, weil sie von einem (ganzheitlichen) Verstehen ausgeht.

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Der Herausgeber von Schleiermachers Hermeneutik zitiert aus älterer Literatur (Schleiermacher 1838, 99): »Est autem interpretatio [= Hermeneutik] … facultas docendi, […] – Interpretatio … duabus rebus continetur, sententiarum (idearum) … intellectu, earumque … explicatione.« Es benötige daher ein guter Hermeneut (»interpres«) beide Fähigkeiten (oder Künste), sowohl diejenige des intelligendi als auch die des explicandi.

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Relevanzherstellung für die (vom Text selber ursprünglich vielleicht gar nicht gemeinten, also neuen) Adressaten eines Textes. – Aber wie dem auch sei: Hermeneutik kann auch als Anwendungskunst verstanden werden. Im Folgenden soll jedoch Anwendung bei Auslegung/Interpretation/Erklärung als ein möglicher Bestandteil immer mitgemeint sein. Viertens, fünftens sowie sechstens ist – in einer zweiten Gruppe der Bedeutungen dieser Bezeichnung – Hermeneutik auch die Lehre oder Theorie oder sogar, wenn man so will, die Wissenschaft von Kunst bzw. Technik sei es des Verstehens (Bedeutung 4), sei es des Erklärens (Bedeutung 5), sei es des Anwendens (Bedeutung 6). Schleiermacher wechselt immer wieder metonymisch zwischen den Begriffsbestimmungen von Hermeneutik einerseits als Kunst und andererseits als Kunstlehre (Birus 1982 a, 53). Diese Ambiguität entspricht der Ambiguität von ars und technê (ebd.). Die Bedeutung, wonach Hermeneutik eine Lehre (und nicht: eine Kunst) ist, ist vielleicht besonders durch das Buch von Szondi gebräuchlich geworden, in dem definiert wird, die (literarische) Hermeneutik sei »die Lehre von der Auslegung, interpretatio, literarischer Werke« (Szondi 1975, 9). Die traditionell gemeinte Lehre ist, als die Kunstlehre, die sie sein soll, didaktische Hermeneutik. Sie besteht daher, wie schon gesagt, hauptsächlich aus Maximen, Regeln und Kanones (Kanon hier im Sinne von ›Norm‹ oder ›Vorschrift‹), z. T. aber mit verstehenstheoretischer Begründung. Implizit ist sie daher teilweise auch theoretische Hermeneutik, also Theorie entweder des Verstehens oder des Interpretierens. Ebenfalls aus einem metonymischen Gebrauch von Technik oder Kunst ergibt sich eine dritte Gruppe von Bedeutungen von Hermeneutik. Es kann damit nämlich auch gemeint sein die Ausübung der Kunst oder Technik Hermeneutik, d. h. aber : das Verstehen, das Erklären oder das Anwenden selber (Bedeutungen 7, 8, 9). Diese Hermeneutik – also das tatsächliche Verstehen und Erklären und Anwenden – könnte man, wie schon gesagt, praktische Hermeneutik nennen. Ingesamt erweist sich das, was demnach als ›die‹ Hermeneutik angesehen werden müsste, als Konglomerat heterogenster Entitäten, nämlich von Ereignissen (Verstehensereignissen), Tätigkeiten (Erklären und Lehren), Fähigkeiten (Künsten des Verstehens und Erklärens), Handlungsanweisungen (Regeln) und Wissensbeständen (Theorien, Theoriefragmenten), sofern sie nur etwas mit Verstehen zu tun haben. Dieser Bezug macht die einzelnen Bedeutungen des Wortes Hermeneutik metonymisch (zueinander). Trotz dieser Bedeutungsvielfalt wird man aber weiterhin getrost auch von ›der‹ Hermeneutik sprechen können. In der Regel zeigt der Kontext, welche der Bedeutungen gemeint ist.6 6

Das Spiel der Metonymien ist mit den hier aufgezählten Bedeutungen noch längst nicht zu Ende. Auch ein Buch, das etwa hermeneutische Kunstregeln enthält, kann man (eine) Hermeneutik nennen, ebenso einen Diskurs über die Hermeneutik, usw. – Metaphorisch ist dagegen der Gebrauch von Hermeneutik z. T. in der neueren Philosophie (Heidegger), wo der Begriff Hermeneutik definiert wird durch Bedeutungsparaphrasen wie z. B. »Phänomenologie des Daseins« und »Analytik der Existenzialität der Existenz« (Scholz 2001, 136).

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Prototypisch geht es beim Verstehen und Auslegen in der Hermeneutik um Verstehen und Auslegen von schriftlichen Texten und Textstellen, dann auch um Verstehen und Auslegen gesprochener Rede (inklusive Wechselrede) sowie Redeteile. (Diese Reihenfolge wäre zwar verstehenstheoretisch umzudrehen, denn onto- wie auch phylogenetisch ist das Sprechverstehen früher als das Textverstehen, aber vorerst ist nun einmal die lexikologisch prototypische Rangfolge die genannte.) Per Verallgemeinerung ergibt sich: In der Hermeneutik geht es um Verstehen und Interpretieren sämtlicher Arten von Zeichen (und Zeichensequenzen und -ensembles). Wenn man erst einmal in die Materie einsteigt, stellt sich aber heraus, dass auch diese weitere Begriffsbestimmung noch nicht weit genug ist, da auch andere Verstehensgegenstände (Stichwort Weltverstehen) aus dem Gegenstandsbereich der Hermeneutik prinzipiell nicht ausgeschlossen werden können – auch dann, wenn man ihn eingrenzen möchte auf nur Sprachverstehen. Was uns aber wiederum nicht daran hindert, festzusetzen: Gegenstandsbereich linguistischer Hermeneutik ist primär das Sprachverstehen und -auslegen. 3.2 Das Verstehen als Erkennen Während man bei der Bezeichung Hermeneutik nicht darum herumkommt, eine Vielzahl von Bedeutungen als gleichberechtigt anzusetzen, lässt sich bei dem Wort Verstehen eine der Bedeutungen als Grund- und erste Hauptbedeutung unter allen übrigen Bedeutungen auszeichnen. Danach gilt: Verstehen ist Erkennen. Daraus lässt sich eine zweite Hauptbedeutung – Verstehen als Erkannt-Haben/Kennen – als Metonymie ableiten. Alle anderen Bedeutungen des Wortes unterscheiden sich wohl nur bezüglich der Art des jeweils erkannten (verstandenen) Gegenstandes des jeweiligen Verstehens ; hier muss also keine Spezialbedeutung angenommen werden. In den meisten Fällen des Vorkommens gilt die erste Hauptbedeutung, die man aber, gemäß der Semantik von Erkennen, noch ausbuchstabieren muss: Verstehen ist Erkennen von etwas1 als etwas2. Die semantische Valenz der Verbergänzung ist also zweistellig, sowohl bei Verstehen als auch bei Erkennen. Meistens wird zwar das Lexem erkennen mit nur einem einzigen Objekt verwendet: »Ich erkannte meinen Freund« (bei Dunkelheit oder in einer Menschenmenge), »Sie erkannte das Motiv für sein Verhalten« (das zunächst als rätselhaft erschienen war), »Das Abzeichen war ganz deutlich zu erkennen«. Was hier aber immer mitgedacht wird, ist ein Zweites : »Ich erkannte eine (nicht sofort erkennbare) Person als meinen Freund«, »Sie erkannte etwas (im Beispielsatz nicht Genanntes) als Motiv für sein Verhalten«, »Irgendetwas (Wahrnehmbares) war als ein Abzeichen (von etwas hier nicht Genanntem) zu erkennen«. Hier ist das Erkennen einfach ein Wiedererkennen, und zwar unabhängig davon, ob man etwas Individuelles (»Ich erkenne ihn«, z. B. an der Stimme) oder etwas Generelles (»Sie war als Engländerin erkennbar«, an ihrer Aussprache) erkennt, weil in beiderlei Erkennen Eigenschaften (als ›Merkmale‹) wiedererkannt werden. Würde

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man die Eigenschaften (die Merkmale) nicht schon vorher kennen, könnte man das Zu-Erkennende auch nicht erkennen.7 Anders steht es beim Erkennen eines Etwas1 als eines Etwas2, wo uns sowohl das Etwas1 als auch das Etwas2 zuvor nicht (oder anders) bekannt waren, wo wir also ein ›mentales Modell‹ (ein Etwas2) des zuvor unbekannten Etwas1 erst konstruieren müssen ; in der Konstruktion dieses Modells besteht dann das Erkennen. Konstruktion von Wirklichkeit ist aber, recht betrachtet, ebenfalls bereits das einfache Erkennen (das Wiedererkennen), wenn auch ohne neues kognitives Modell, denn auch hier wird Wirklichkeit ›zurechtgelegt‹ (und oft genug zurechtgestutzt) durch Projektion von Vorstellungen (Schemata, Stereotypen usw.), also mentalen Modellen auf den Gegenstand einer Wahrnehmung.8 Andererseits beruht jedes Neu-Erkennen immer auch auf Elementen des Wiedererkennens (von Merkmalen oder anderen Eigenschaften). Schon aus diesem Grunde ist das Wissen (oder Kennen) der Verstehenden und dessen jeweilige Aktivierung für jedes Verstehen in der Tat so wichtig, wie wohl mittlerweile alle Theoretiker des Sprachverstehens meinen. (Darauf wird daher im Folgenden nicht mehr ausführlich eingegangen.) Was beim Sprachverstehen erkannt werden muss, ist immer mindestens zweierlei: einerseits Zeichengestalten wie vor allem Laute, Silben, Wörter und Intonationen (›akustisches Verstehen‹) oder deren schriftliche Äquivalente, andererseits Bedeutungen. Von der Vielfalt alles dessen, was sonst noch dazugehören kann, soll ein späterer Abschnitt dieses Beitrags (Kap. 4) einen Eindruck geben. Der Begriff Erkennen wird in der Literatur zur Hermeneutik oft und, wie es scheint, seit jeher als partielles Synonym oder als Oberbegriff zu Verstehen gebraucht.9 Offenbar

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Auf den für das menschliche Erkennen und Verhalten absolut grundlegenden Funktionswert des Wiedererkennens haben Kamlah  & Lorenzen (1967, 45) hingewiesen: »Dass wir uns in der Welt überhaupt zurechtfinden, beruht darauf, dass wir fort und fort Gegenstände wiedererkennen, die uns zwar oft nicht als ›diese‹ Einzeldinge (als ›Individuen‹, wie man auch sagt), wohl aber als Beispiele, als ›Exemplare‹ von etwas ›Allgemeinem‹ bereits bekannt sind.« (Was im Übrigen nicht nur für Menschen, sondern auch für viele Tiere gelten dürfte.)

8

Eine »konstruktive Leistung« (Hörmann 1976, 506) ist aus diesem Grunde nicht nur das Verstehen, sondern überhaupt jedes Erkennen. – Als die Konstruktion mentaler Repräsentationen wird das Sprachverstehen u. a. von Heinemann & Viehweger (1991, 117 f.) – nach van Dijk & Kintsch (1983) – erklärt.

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Einige Bedeutungsparaphrasen, die das Deutsche Wörterbuch (1956, 1667 ff.) anbietet: »den sinn einer sache, die handlungsweise eines menschen erkennen …«, »worte …  auch nach ihrem bedeutungsinhalt richtig … erkennen«, »den zusammenhang eines gedankeninhalts, einer rede, schrift, die zusammensetzung und das wesen eines werks erkennen …«, »einen durchschauen, seine meinung erkennen; die handlungs weise eines menschen erkennen und begreif lich finden«. Zur letzten Bedeutungsparaphrase wäre anzumerken, dass es auch im Deutschen (eine m. W. von den deutschen Wörterbüchern nicht vermerkte) weitere Spezialbedeutung gibt, wonach gilt : »Tout comprendre, c’est tout pardonner«. Darin dürfte der Grund dafür liegen, dass man manchmal hört: »Das will ich nicht verstehen«. (Weil das als verzeihen missverstanden werden könnte.) – Zur Bedeutung von Verstehen gibt es in der Linguistik m. W. keine Einzelstudien. Keller (1976; 1977) unterscheidet drei bzw. vier Bedeutungen des Wortes.

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ist das so gut wie unvermeidlich. Den Gedanken, dass Verstehen immer ein Erkennen ist, hat bereits Dilthey notiert (»Verstehen fällt unter den Allgemeinbegriff des Erkennens …«; Dilthey 1957, 332), aber nicht selbst publiziert, so dass er in der Dilthey-Rezeption nicht aufgegriffen wurde. Dass Verstehen und Erkennen jedenfalls begriffs- und wortgeschichtlich eng verwandt sind, zeigt uns die Philosophiegeschichte. Die neuzeitliche Erkenntnistheorie beginnt (1690) mit dem berühmten Buch von Locke: »An An Essay Concerning Human Understanding«. Leibniz schreibt als Antwort seine »Nouveaux essais sur l’entendement humain«« (posthum 1765). Auch hier ist gemeint die menschliche Erkenntnis. Im Lateinischen sind Äquivalente (und Vorbilder) von entendement und understanding die Bezeichnungen intelligentia und intellectus (intellegere bedeutet ebenso ›verstehen‹ wie ›erkennen‹). Und Kant definiert Verstand als das Vermögen der »Erkenntnis durch Begriffe« (Deutsches Wörterbuch 1956, 1525, mit Verweis auf die Akademie-Ausgabe von Kants Werken, Band 3, S. 75). Was natürlich alles nicht beweist, dass das Verstehen (in der Grundbedeutung dieses Wortes) wirklich ein Erkennen ist, doch vielleicht dazu beiträgt, den Gedanken, dass es dies ist, einleuchtend zu machen. Ebenso wie von Erkennen reden wir auch von Verstehen oft nur dann, wenn das Erkennen irgendwie erschwert ist. Dadurch kommen ebenso Erkennen wie Verstehen in die semantische Nähe von Entdecken (von etwas Verborgenem) und Finden (von etwas Gesuchtem). Über etwas, das wir ›deutlich‹ sehen konnten – aber etwas ›deutlich‹ sehen, heißt ja, es erkennen –, sagen wir nicht: »Ich erkannte da etwas als Auto«, sondern nur: »Ich sah ein Auto«. So erklärt es sich vielleicht, dass der Begriff Verstehen mit Vorliebe angewendet wird auf Entitäten, die man nicht ›sieht‹ (wie Motive oder Zwecke). Auch bei problemlosem Sprech- und Textverstehen sagen wir oft nur, dass wir ›gehört‹ oder ›gelesen‹ haben, wobei das Verstehen mitgemeint ist. Prototypisch ist Verstehen wohl vor allem ein Erkennen von Zusammenhängen und deshalb speziell auch von Ursachen und von Gründen, von Funktionen, von Motiven und Absichten. Diese Wörter sind ja allesamt Bezeichnungen für Relationen. Ambig ist bezüglich der Bedeutungen ›Motivation‹, ›Funktion‹ und ›Absicht‹ das Wort Sinn, das oft als Objekt von verstehen vorkommt ; auch dies ist ein Relationswort (›etwas1 ist der Sinn von etwas2‹). Wenn wir sagen, dass wir eine Theorie verstehen, meinen wir nicht allein das Verstehen ihrer einzelnen Aussagen, sondern insbesondere auch das Erkennen deren (logischen) Zusammenhanges sowie der Funktion der Theorie bei der Erklärung ihres Gegenstandsbereiches. Man sagt beispielsweise auch von einem Mechanismus, dass man ihn verstehe. Gemeint ist dann das Erkennen sowohl seiner Funktion als auch seines Funktionierens; d. h. des Zusammenwirkens seiner Teile und der in ihm ablaufenden Teilvorgänge, deren Wirkung die Funktion ist. Beim Verstehen einer Handlung geht es darum, zu erkennen, wie sie motiviert ist, was ihr Zweck (ihre Funktion) und ihr Kalkül ist, usw.

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Prototypisch ist Verstehen ferner richtiges Verstehen, allerdings ist auch das Missverstehen ein Verstehen. Das ist anders bei Erkennen, dieses Wort bedeutet immer ›richtiges Erkennen‹. Für das Fehlerkennen (ein Wort, das ich hier vorschlage) gibt es wohl im Deutschen – trotz Bedarf ; ein Fehlerkennen kommt ja oft vor – in der Bildungssprache keine gängige Bezeichnung.10 Mit der Richtigkeits- bzw. Wahrheitsunterstellung haben wir wohl bei Erkennen – und im prototypischen Gebrauch auch bei Verstehen – ganz genau dasselbe Problem, das wir schon bei Wissen haben – ein Wort, das von Soziologen, aber neuerdings auch Linguisten, alltagssprachwidrig gebraucht wird auch für Meinen, Glauben oder Überzeugt-Sein. Dieser so kontraintuitive Sprachgebrauch macht immer wieder eine Worterklärung nötig. Anders als Erkennen kann Verstehen  – damit sind wir bei der zweiten Hauptbedeutung dieses Wortes – auch das Resultat von dem bezeichnen, was das Wort primär bedeutet. Das Verstehen als Ereignis bewirkt das Verstehen als Verstanden-Haben (einen Zustand), das Verstehen1 hat das Verstehen2 zur Folge. »Ich verstehe jetzt« kann heißen ›jetzt gerade‹ oder ›ab jetzt‹ (oder auch ›schon immer‹). Man versteht gewissermaßen ein für alle Male, das Verstehen ist gewissermaßen etwas Dauerhaftes. Beispielsweise haben die Syntagmen »Ich verstehe dich«, »einen Menschen verstehen« eine zweifache Bedeutung: hier-und-jetzt den Sinn eines Verhaltens (als so-und-so motiviert) erkennen oder: wissen, wie ein Mensch ›tickt‹, d. h. seine typischen Motivationen, Zielsetzungen und Verhaltensweisen kennen.11 Beim Erkennen heißt das Resultat dagegen Kennen oder Wissen (oder auch Erkenntnis, was gleichfalls ambig ist), mit dem Wort Erkennen meint man immer und nur ein einmaliges Ereignis. Aus dieser grundsätzlichen Ambigheit von Verstehen folgen u. a. die Unterschiede der Bedeutungen von zwei Verwendungsweisen von Verstehen, die besonders in der Hermeneutik manchmal eine Rolle spielen: das ›Verstehen eines Wortes‹, das ›Verstehen einer Sprache‹. Ein Wort zu verstehen kann entweder heißen: hier-und-jetzt (vielleicht zum ersten Mal) erkennen, was es hier-und-jetzt bedeutet; oder: die Bedeutung kennen. Bei Verstehen einer Sprache ist es anders. Das kann nur bedeuten: Kennen einer Sprache, denn ein Hier-und-jetzt-Verstehen einer Sprache ist, da Sprache ein Totalitätsbegriff ist (Hermanns 1999), kategorial unmöglich.12 Wenn 10

In der Alltagssprache sagen wir »Ich habe y mit x verwechselt« oder – wertneutral – »für x genommen« oder »als x angesehen« (wie im Mediziner-Spottgedicht : »Und was er nicht erklären kann / Das sieht er gern als Rheuma an«). Wertneutral wird unterschiedliches Erkennen und Verstehen bildungssprachlich oft beschrieben durch Wendungen wie z. B. »etwas als … auffassen« oder auch »als … denken«, oft auch »als … verstehen«.

11

Die Verstehenstheoretiker, die »das« Verstehen  – analog zum Wissen  – als Disposition erklären, wie Wittgenstein und Ryle (Biere 1989, 15 ff.), meinen mit Verstehen offensichtlich das Verstanden-Haben (Wissen, Kennen), denn eine Disposition ist kein Ereignis.

12

Das ›Verstehen einer Sprache‹ ist wohl in der Regel nur ein durchschnittliches oder sogar unterdurchschnittliches Kennen dieser Sprache, d. h. der Phonemik und Graphemik, der geläufigsten Vokabeln und grammatischen Strukturen usw. Eine »natürliche Sprache« kennt ja total niemand. Weshalb jede natürliche Sprache immer wieder für noch eine Überraschung gut ist.

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ich ein Wort im Gebrauch hier-und-jetzt immer wieder problemlos verstehe – d. h. die Bedeutung routiniert erkenne – kann man sagen, dass ich das Wort ›überhaupt‹ verstehe. Das meint ungefähr dasselbe wie, dass ich seine Bedeutung kenne. Deshalb könnte es so scheinen, als ob ich die Wortbedeutung fortan nicht mehr zu erkennen brauchte (weil ich sie ja kenne). Doch tatsächlich geschieht das Erkennen immer wieder, nur läuft es jetzt automatisiert (habitualisiert) ab. Ähnlich, wie wir auch bei anderer Gegenstands- und Sachverhaltswahrnehmung routiniert (habitualisiert) erkennen, wenn wir Gegenstand bzw. Sachverhalt als Typ (oder als Individuum) schon kennen. Im Falle des Wortverstehens muss auch die bereits gekannte Wortbedeutung immer wieder neu als auch hier-und-jetzt passend erkannt werden. Gleichermaßen für das Wort Verstehen und das Wort Erkennen gilt hingegen wieder, dass sie beide keine Handlungen bezeichnen, sondern ein Ereignis. Ein Verstehen ist kein Handeln. Man sagt beispielsweise zwar: »Versteh doch endlich ! : »Erkenne das doch endlich ! «, aber man sagt ebenso ja auch zu einem Motor oder PC : »Lauf doch endlich ! « Eigentlich weiß man in allen solchen Fällen ganz genau, dass das Auffordern keinen Sinn hat.13 Das Verstehen (und Erkennen) lässt sich nicht erzwingen. Es stellt sich – so scheint es uns – von selbst ein, sozusagen ohne unser Zutun. Manchmal lässt es auf sich warten, wie bei jenen Morgenstern’schen Witzen, »die erst viele Stunden später wirken«. Erst nach einer Weile »fällt der Groschen«. Manchmal stellt es sich auch nie ein. Allerdings kann man versuchen, man kann sich bemühen , zu verstehen. Wie man das methodisch tut, das eben soll die (didaktische) Hermeneutik lehren. Zum Schluss dieses Abschnitts eine Antwort auf die Frage : Welcherlei Vorteile hat es, das Verstehen als Erkennen zu erklären ? Nun, es ist auf alle Fälle ein Erkenntnisfortschritt, wenn man – vorausgesetzt, dass es zutrifft – sagen kann: Verstehen ist Erkennen. Das bringt Übersichtlichkeit in unser Denken und in unser Sprechen. – Zweitens, es verschwindet dadurch aller Anschein eines irgendwie Mysteriösen, der dem Wort Verstehen leider oft anhaftet. Auch in Linguistenkreisen wird die Hermeneutik wohl besonders deshalb oft mit Skepsis und geradezu mit Argwohn angesehen, weil man meint, sie sei etwas Irrationales. In ihr werde rationale (prototypisch: wissenschaftliche) Erkenntnis herabgesetzt als nur ›oberflächlich‹ im Vergleich zu echtem, in die ›Tiefe‹ gehendem und nur durch ›Fühlen‹ gerechtfertigtem Verstehen. Dieses Vorurteil gegen die Hermeneutik beruht auf der Konstruktion des darin unterstellten Gegensatzes von Verstehen und Erkennen (oder von Verstehen und Erklären, s. u., Kap. 3.7). Erkennt oder erklärt man Verstehen als eine Form des Erkennens, dann verschwindet der Schein dieses

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Die Feststellung, dass man ein Verstehen nicht befehlen (und verbieten) kann, benutzt schon Keller (1976, 4 ; 1977, 8), um seinen Gedanken einleuchtend zu machen : »Verstehen … ist keine Handlung«. Rarras (1980, 108) zitiert Wittgenstein, der sich auf einem seiner »Zettel« notiert hatte: »Darum kann man einem nicht befehlen: versteh das ! «.

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Gegensatzes.14 – Drittens erlaubt die Erklärung ein gezieltes Suchen, ein gezieltes Fragen: Was muss alles einzeln erkannt werden, damit ein Gesamtverstehen (beispielsweise eines Textes) eintritt ? Für bestimmte Arten von Verstehensgegenständen wird man das angeben können. Bei misslungenem Verstehen hat man dann auch für den Einzelfall eine Suchfrage: Was ist von all dem, das hätte erkannt werden müssen, nicht oder fehlerkannt worden ? So kommt man zu Missverstehensanalysen. Wenn man diese sammelt und auswertet, kann man daraus eine Missverstehenshermeneutik machen: eine Systematik typischer Verstehensfehler in typischen Kommunikationskonstellationen, wie schon Selting (1987) sowie Falkner (1997). – Viertens erlaubt das Verständnis des Verstehens als Erkennen eine Hoffnung. Nämlich die, dass manche vermeintlich speziellen Eigenschaften menschlichen Verstehens sich als generelle Eigenschaften menschlichen Erkennens herausstellen. Womit man dann eine Teilerklärung von Verstehen hätte.15 Mit der Subsumtion von Verstehen unter Erkennen haben wir noch keine Definition von Verstehen. Aber eine differentia specifica, mit der wir das Verstehen gegen anderes Erkennen eindeutig (trennscharf ) abgrenzen könnten, scheint sich auch nicht anzubieten. Es wird daher wohl bei einer Worterklärung durch Angabe prototypischer Verstehensgegenstände bleiben müssen: Ein Erkennen nennen wir vor allem dann Verstehen, wenn Zusammenhänge, Gründe und Ursachen, Zwecke und Funktionen, Bedeutungen und Sinn erkannt werden. 3.3 Verstehen und Meinen Eines der insgesamt zwei Miranda der traditionellen Hermeneutik ist ein Diktum Schleiermachers, wonach es das Ziel der Hermeneutik sei, die Rede eines Autors besser

14

Verstehen und Rationalität heißt programmatisch das Buch von Scholz (2001), das ich als Einführung in die Hermeneutik allen hermeneutisch, sprechakttheoretisch und sprachphilosophisch interessierten KollegInnen sehr empfehle.

15

Was sind wohl die generellen, allgemeinen Eigenschaften menschlichen Erkennens (und daher Verstehens) ? Ja, wenn man das wüsste ! Kandidaten dafür sind vermutlich u. a. : Das Erkennen entspringt einem grundsätzlichen Streben nach »Sinnkonstanz« (Hörmann 1976, 195 f.); es ist immer kreativ-konstruktivistisch (nie nur rezeptiv-reproduzierend); es ist an ihm stets beteiligt ein Schema-Erkennen (d. h. ein Schema-WiederErkennen); es ist grundsätzlich holistisch (Einzelheiten werden stets als Teile von Ganzheiten wahrgenommen); daher ist es wohl unmöglich ohne gleichzeitige Horizontwahrnehmung (Hintergrund-, KontextWahrnehmung); es ist  – jedenfalls typischerweise  – erfahrungsgeleitet und beruht z. T. auf vorgängigem Wissen; es verläuft oft quasi-automatisch (in Routinen); es ist immer perspektivisch; es ist immer motiviert, d. h. interessengeleitet; es ist, da es menschliches Erkennen ist, typischerweise teilgeprägt durch (eine jeweilige) Sprache; es ist (u. a. deshalb) auch kulturabhängig (es beruht z. T. auf kulturellem Lernen); es erfolgt nicht selten anhand unzulänglicher Indizien, dann im Wege einer ›Divination‹, einer ›Abduktion‹ bzw. eines ›Ratens‹, weshalb es oft nicht ›gewiss‹ ist. – Wie man sieht, sind manche der vermeintlichen Besonderheiten des Verstehens wohl tatsächlich generelle Eigenschaften jeglichen Erkennens.

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zu verstehen als der Autor selber.16 Das hört sich so an, als könne Hermeneutik Unmögliches möglich machen, was von Schleiermacher aber ganz und gar nicht so gedacht ist. Zwar schreibt Schleiermacher (1838, 94) wirklich, es sei die Aufgabe, »die Rede zuerst ebensogut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber«, erklärt dies Ziel aber völlig nüchtern, ohne jeden Tiefsinn, der auch sowieso nicht seine Art ist, daraus, »daß wir keine unmittelbare Kenntnis dessen haben, was in ihm [dem Autor] ist« (d. h.: »in ihm war«), so dass wir versuchen müssen, uns »vieles zum Bewußtsein zu bringen …, was ihm unbewußt bleiben kann« (»konnte«). Das Besser-Verstehen ist also eine Art von Ersatz, und kein Triumph über den Autor. Was es ist, das zwar dem Autor, aber nicht auch seinen Interpreten unbewusst bleiben kann (konnte), sagt uns Schleiermacher nicht, doch kann man es sich denken: beispielsweise, dass und inwiefern der Autor ein »Kind seiner Zeit« war ; sein Sprach- und Weltwissen (beides ist ein Wissen, das wir ›haben‹, aber nicht zusätzlich auch noch kennen können, denn wir haben ja kein Metawissen unseres eigenen Wissens ; das ist ein Problem z. B. für Examenskandidaten: vor der Prüfung wissen sie nicht, was sie wissen), machmal seine eigene Motivation zu seiner Rede, machmal auch die Funktion seiner Rede (oft sagt man ja etwas, ohne dass man wüsste, wozu) usw.  – Schleiermacher fügt dem Satz, dass einem Autor an der eigenen Rede manches unbewusst bleibt, noch hinzu (und das ist eine, wie ich finde, wirklich höchst scharfsinnige Bemerkung): »außer sofern er selbst reflektierend sein eigener Leser wird. Auf der objektiven Seite hat [dann aber] auch er keine anderen Data als wir«. Man beachte die Modernität der Ausdrucksweise Schleiermachers. Manchmal werden wir wohl den Text eines Autors in gewisser Hinsicht in der Tat besser verstehen können als er selber. Festzuhalten ist jedoch genauso, dass es oft natürlich umgekehrt ist (in der selben oder anderer Hinsicht), beispielsweise, wenn der Autor seine eigenen Motive und Absichten bei der Abfassung des Textes genau kannte (sich ihrer bewusst war), während wir sie allenfalls erraten können. Weiter führt uns aber die Feststellung, dass wir ihn auf alle Fälle oft anders verstehen und verstehen wollen als er sich selbst, und zwar nicht im Sinne eines ›besseren‹ Verstehens, sondern wegen anderer Verstehensziele (Erkenntnisinteressen). Es gibt kein schlechthiniges Verstehen, sondern jedes einzelne Verstehen und Bemühen um Verstehen hat einen bestimmten Skopus, in den manche potenziellen Gegenstände des Verstehens (des Erkennens) fallen, andere nicht fallen. Deshalb können wir nicht nur von »Graden« (Knobloch 1994, 182) des Verstehens sprechen, sondern außerdem auch von Domänen des Verstehens oder von Vestehensgegenstandsbereichen. Beispielsweise interessieren manchmal die Motive eines

16

Leibfried (1980, 51 f.) zitiert Kant, auf den das Diktum Schleiermachers zurückgehen dürfte: es sei gar nicht ungewöhnlich, »sowohl im gemeinen Gespräche, als in Schriften« den »Verfasser … besser zu verstehen, als er sich selbst verstand«.

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Handelns oder Redens, manchmal aber auch nicht; manchmal historische oder biografische Zusammenhänge, in anderen Fällen gar nicht; usw. Im Alltag des Sprachverstehens kann es vielleicht ab und zu der Fall sein, dass man adäquat verstanden hat, wenn genau das verstanden wurde, was, ›gemeint‹ war, d. h. das erkannt hat, was ein Sprecher hat zum Ausdruck bringen wollen« (Duden 2001, 1066, s. v. meinen, 1.b). Doch verstehenstheoretisch ist dies nur ein Grenzfall. Denn im Prinzip ist der Skopus alles jeweils Verstehbaren immer größer, als der Skopus des Gemeinten je sein könnte.17 Adressanten können nie verhindern, dass die Adressaten mehr verstehen, als gewollt war, beispielsweise die den Adressanten selbst vielleicht gar nicht bewussten psychischen Motive des jeweiligen Sprachhandelns. Erst recht gilt für kommunikationsexterne Beobachter (u. a. WissenschaftlerInnen) eines Kommunikationsverlaufes, dass sie mehr und anderes verstehen wollen und verstehen als die KommunikationsteilnehmerInnen: beispielsweise, ob das Kommunikationsgeschehen typisch (normal, regelhaft) war für die jeweilige Kommunikationsgemeinschaft; oder wie man es historisch (etwa als zeittypisch) einzuordnen habe. Einen Text so zu verstehen, wie schon die VerfasserInnen selber, wird zwar immer auch ein Ziel sein auch von kommunikationsexternen Beobachtern, aber in der Regel werden sie daneben auch noch andere Verstehensziele haben. Weshalb festzuhalten wäre, dass Verstehen in Teilnehmerperspektive und Verstehen in externer Beobachterperspektive zweierlei ist. Aber auch für das alltägliche Verstehen in Teilnehmerperspektive gilt, dass Meinen und Verstehen oft nicht kongruent sind, und zwar auch im Fall gelingenden Verstehens. Meinen und Verstehen sind grundsätzlich asymmetrisch. Das in einem Sprechakt von dem Adressanten – als dem Adressaten schon bewusst (nicht bloß: von ihm gewusst)  – Vorausgesetzte (alle Präsuppositionen im weiteren Sinne)18 ist nicht etwas, das er eigens ›meinen‹ oder auch ›mitmeinen‹, also irgendwie ›zum Ausdruck bringen wollen‹ müsste damit es in das Gesamtverstehen seines Adressaten eingeht. Andererseits ist der Skopus des jeweils Verstandenen oft sehr viel kleiner als der Skopus des Gemeinten, da wir stets nur »selektiv« wahrnehmen (hören oder lesen), je nach unseren jeweiligen Interessen, die uns jeweils anderes als für uns »relevant« erscheinen lassen (Heinemann  & Viehweger 1991, 262 f.). Ein Verstehen ist jeweils abhängig nicht allein vom ›Wissen‹ des Verstehenden, d. h., altmodisch ausgedrückt, von seinen Vorstellungen, sondern ebenso sehr auch von seiner Haltung – zu Text oder Äußerung, zum dann Dargestellten, zum Sender / zur Senderin usw. – d. h. seinen Einstellungen.

17

Das gilt auch dann, wenn man (anders als die derzeitigen deutschen Wörterbücher) meinen definiert als ›Zu verstehen geben wollen‹ (statt als nur ›zum Ausdruck bringen wollen‹). – Auf die Inkongruenz von Meinen und Verstehen wird ausdrücklich von von Polenz (1985, 303) hingewiesen.

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Als »pragmatische« im Gegensatz zu »semantischen« Präsuppositionen nach Linke & Nussbaumer (2000).

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Je nach anderer Einstellung (einschließlich Verstehensinteresse) versteht man auch anders.19 Auch dies wird für jegliches Erkennen gelten, nicht nur für das Sprachverstehen. 3.4 Die zwei ›Zirkel des Verstehens‹ Das zweite Mirandum der traditionellen Hermeneutik ist der sogenannte ›Zirkel des Verstehens‹; ein Mirandum deshalb; weil der Ausdruck Zirkel des Verstehens uns unweigerlich an das erinnert, was bei einer Argumentation auf keinen Fall geschehen darf: ein zirkelhaftes Schließen. Hier soll aber dieser Zirkel etwas Positives sein statt etwas Fehlerhaftes. Das ist paradox, und die Paradoxie des Ausdrucks Zirkel des Verstehens ist denn auch von manchen Theoretikern der Hermeneutik weidlich ausgeschlachtet worden, so mit der Empfehlung, dass es beim Verstehen gerade nicht darauf ankomme, diesen Zirkel zu vermeiden, sondern möglichst ›tief‹ in ihn hineinzukommen. Was geeignet ist, zum staunenden Bewundern dieses so geheimnisvollen Ratschlags anzuregen. Da sich LinguistInnen in ehrfurchtsvollem Staunen nicht so gern ergehen, sollten sie auf die Bezeichnung Zirkel des Verstehens ganz verzichten. Schon Top-down-plus-bottom-upVerstehen ist insoweit besser – wenn auch nicht zureichend – weil ganz ohne Suggestion von Esoterik. Schleiermacher (1838, 95) spricht, erkennbar kritisch, explizit von dem »scheinbaren Kreise« des Verstehens, der darin bestehe, »daß jedes Besondere nur aus dem Allgemeinen, dessen Teil es ist, verstanden werden kann und umgekehrt«. Damit meint er (ebd.): »Der Sprachschatz und die Geschichte des Zeitalters eines Verfassers verhalten sich wie das Ganze, aus welchem seine Schriften als das Einzelne müssen verstanden werden, und jenes wieder aus ihm«. Einerseits sind wir nach Schleiermacher (ebd.) »umso besser gerüstet … zum Auslegen, je vollkommener wir jenes [Allgemeine] innehaben«, andererseits gilt aber auch, »daß kein Auszulegendes auf einmal verstanden werden kann, sondern jedes Lesen setzt uns erst, indem es jene Vorkenntnisse bereichert, zum besseren Verstehen instand«. Das ist Schleiermachers erster nur scheinbarer Zirkel des Verstehens. Auch zu seinem zweiten Zirkel des Verstehens sagt er (ebd. : 97) explizit : »Dies scheint ein Zirkel, allein …«, denn in Wirklichkeit ist auch dies keiner. Er besteht nämlich nur darin, dass gilt : »Auch innerhalb einer einzelnen Schrift kann das Einzelne [z. B. die Bedeutung eines ganz bestimmten Wortes oder Satzes] nur aus dem Ganzen verstanden werden, und es muß daher eine kursorische Lesung, um einen Überblick über das Ganze zu erhalten, der genaueren Auslegung vorangehen«. So kommt es zu einem »vorläufigen Verstehen«. Dazu »reicht diejenige Kenntnis des Einzelnen hin, welche aus einer allge-

19

Die grundsätzliche Verschiedenheit von »professionell-analytischem« und »direktem« Interesse beim Verstehen eines Textes hat Glinz (1977, 98) betont, und zwar auf Grundlage einer »Systematik« von Verstehensinteressen und Verstehensintentionen von »Absichten/Haltungen gegenüber Texten« (ebd. : 87 ff.), die man in einer linguistischen Hermeneutik unbedingt aufgreifen und weiterentwickeln sollte.

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meinen Kenntnis der Sprache hervorgeht«. Man versteht erst einmal provisorisch, um das provisorische Verstehen später, wo es sich als falsch erwiesen hat, zu korrigieren. Das ist ein methodisch absolut vernünftiges Vorgehen, das mit Zirkelhaftigkeit auch nicht das Mindeste zu tun hat. Es sind, wie aus Schleiermachers Hinweisen hervorgeht, eigentlich zwei ganz verschiedene Probleme, die durch die Bezeichnung Zirkel des Verstehens begriff lich in einen Topf geworfen werden. In dem einen wie dem anderen Falle geht es um das Vorliegen von Interdependenzen, aber nicht der selben Interdependenzen. Interdependent sind erstens generelles und spezielles, singuläres Wissen und Erkennen. Es gibt wohl kein generelles Wissen und Erkennen ohne singuläres, aber auch kein singuläres ohne generelles. Dieser Satz trifft auf Erkennen allgemein zu, also auch dann, wenn wir es Verstehen nennen. Ich verstehe – jetzt ; in dieser Äußerung, die ich gerade höre – ein Wort (token), weil ich es (als type) schon kenne. Aber dieses allgemeine Kennen beruht umgekehrt nur darauf, dass ich dieses Wort vorher schon einmal, meistens sehr viel öfter, gehört und verstanden habe, und zwar ebenfalls in singulären Einzeläußerungen. Analog erkennen wir z. B. etwas, das wir sehen, als ein Haus oder ein Auto usw. aufgrund dessen, dass wir bereits wissen, was ›ein‹ Haus etc. ist, aber umgekehrt wissen wir dies nur daher, dass wir es anhand von einzelnen Beispielen ( jeweils ganz bestimmten singulären Häusern usw.) gelernt haben. Das zeigt: Generelles Wissen und Erkennen – in Form von Vorstellungen, Ideen und Begriffen oder Schemata, Stereotypen, mentalen Modellen usw. (zur Synonymie dieser Begriffe siehe Hermanns 2002 a), aber auch von generellen Sätzen, Theoremen, Ideologemen, Topoi usw.  – und spezielles (singuläres) Wissen und Erkennen schaffen und erhalten sich in unserem Denken wechselseitig. Das ist alles, was es dabei mit dem ›Zirkel des Verstehens‹ auf sich haben dürfte. Schleiermachers zweiter Zirkel des Verstehens beruht auf der Interdependenz von Teil und Ganzem. Interdependent sind nämlich in jedem Erkennen und Verstehen das Erkennen und Verstehen einerseits des Ganzen, andererseits seiner ›Teile‹. Diese ›Teile‹ sind z. T. tatsächlich Teile oder sonst › Aspekte‹, ›Qualitäten‹ o. ä., insgesamt: Merkmale. Wir erkennen (und verstehen) nicht nur sprachliche Einheiten, sondern alles, was wir überhaupt erkennen, anhand von ›Merkmalen‹ (linguistisch: features): erkennbaren Eigenschaften. (Dabei ist auch die Gestalt bzw. die Kontur des Zu-Erkennenden ein Merkmal und nicht etwas völlig anderes.) Demnach kann Erkennen (und Verstehen) eines ›Ganzen‹ immer nur geschehen, wenn dabei auch ›Teile‹ dieses Ganzen erkannt werden. So dass ein Gesamterkennen in der Tat abhängig ist von einem (oder vielem) Teilerkennen. Und das Umgekehrte kann auch gelten. Manches Teilerkennen ist nicht möglich ohne ein Gesamterkennen. Ohne dieses würde man die Teile (Eigenschaften) nicht als ›Teile‹ von etwas erkennen können, und erst recht nicht u. a. ihre Funktionen im Zusammenhang des ›Ganzen‹. Das trifft – weil Verstehen ein Erkennen ist – auch zu auf das Verstehen, beispielsweise das Verstehen eines Textes. Man muss an ihm vieles

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Einzelne verstehen  – gar nicht selten Tausende von Sätzen und natürlich noch mehr Wörter – um ihn dann als ganzen verstanden zu haben. Andererseits kann man jedoch auch viele Einzelheiten eines Textes nicht verstehen ohne ein Verstehen des Zusammenhanges manchmal eines Satzes, manchmal auch des ganzen Textes. Also besteht eine Interdependenz von Teil- und Ganzerkennen auch hier. Etwas anderes aber hat es mit dem ›Zirkel des Verstehens‹ auch in diesem Fall nicht auf sich. 3.5 Verstehensdynamik Es ist anzunehmen, dass wir immer dann, wenn wir verstehen, zugleich reagieren. Auch das gilt wohl für jedes Erkennen. Dabei ist schon das Erkennen selbst ein Reagieren, das jedoch weitere Reaktionen auslöst, die hier Begleitreaktionen oder Folgereaktionen heißen sollen. Dass Verstehen (wie jedes Erkennen) solche Begleitreaktionen immer hat bzw. haben kann, das muss verstehenstheoretisch festgehalten werden, aber daraus braucht man nicht den Schluss zu ziehen, dass man den Begriff Verstehen deshalb neu bestimmen müsse (Verstehen als ein Erkennen plus ein Reagieren). Besser scheint es, das Verstehen und das Darauf-Reagieren begriff lich-terminologisch separat zu halten. Manchmal wird man ja das eine von dem anderen unterscheiden wollen. Das Erkennen ist wohl selbst schon als ein Reagieren anzusehen; als ein Reagieren – prototypisch: auf Wahrnehmung – das darin besteht, dass wir zuvor erworbene Ideen, Schemata, Stereotype usw. »aktivieren« (Heinemann  & Viehweger 1991, 117) und auf das, was wir wahrnehmen, projizieren. Nur so können wir ja ›etwas als etwas‹ erkennen. Dieses Reagieren geschieht in der Regel spontan (nur gelegentlich gibt es Verzögerungen, nämlich dann, wenn das Erkennen zum Problem wird), denn wir sind darauf, wie Wittgenstein brutal sagt, »abgerichtet«, d. h. wir haben uns darauf im Wege einer Autopoiesis, die aber kulturell geprägt ist, selber abgerichtet. Niemand kann in unserer Kultur ein Auto sehen, ohne es sofort als Auto zu erkennen, niemand eine übliche Begrüßungsfloskel in der eigenen Sprache hören, ohne sie sofort als solche zu verstehen. Man kann das Erkennen und Verstehen von etwas als etwas, wenn es erst einmal gelernt ist, bei sich selbst nicht mehr verhindern, seine Automatik dann nie mehr abschalten, außer vielleicht in gewissen Rauschzuständen. Deshalb ist vieles Erkennen und Verstehen als (konditionierter) Reflex anzusehen. Aber auch die Folgereaktionen auf Erkennen und Verstehen sind z. T. reflexhaft. Das trifft u. a. zu auf körperliches Reagieren insbesondere bei kleinen Kindern, die z. B., wenn man »Heiß ! « ruft, in ihrer Bewegung innehalten wie ein gut dressierter Hund, zu dem man »Sitz ! « sagt. Oder bei Rekruten, die auf ein Kommando ebenso reflexhaft reagieren. Hierin zeigt sich, dass auch die menschliche Sprache ihre Wurzeln hat in der Tierhaftigkeit des Menschen. Zu den z. T. reflexhaften Folgereaktionen beim Erkennen und Verstehen gehört weiter, dass es regelmäßig mit der Aktivierung von Einstellungen

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einhergeht.20 Diese Einstellungen sind als zugleich kognitive, emotive, volitive Bereitschaften (zu weiteren Reaktionen) zu beschreiben. Kognitiv besteht die Aktivierung der Einstellung u. a. in der Bildung einer Wahrnehmungserwartung oder Erkennenserwartung des Typs: »Es liegt a vor, also wird auch b nicht weit sein« (falls a und b kognitiv in einer Idee, einem Schema, Stereotyp usw. zusammengehören). Emotiv besteht sie in der Aktivierung bestimmter Affekte (wie Angst, Hass, Zuneigung usw.) in Bezug auf das Erkannte, volitiv in der Formierung eines Wünschens (gleichfalls in Bezug auf das Erkannte). Auf der Aktivierung emotiver sowie volitiver Einstellungen dürfte es beruhen, dass wir beispielsweise die Lektüre eines Romans ein Erlebnis nennen können. (Ohne Emotionen gibt es kein Erlebnis.) Viele Texte und Sprechakte würden ihren Zweck verfehlen, würden wir nicht beim Verstehen auch mit Emotionen und mit Volitionen auf sie reagieren. (Dazu etwas mehr im folgenden Unterkapitel.) Von den Folgereaktionen auf Erkennen und Verstehen ist verstehenstheoretisch das Aufbauen von Erkennens- und Verstehenserwartungen von besonderer Bedeutung. Diese sind kognitionspsychologisch zu erklären als Effekte einer Aktualisierung oder Projektion (auf partiell schon Erkanntes) von Stereotypen, frames, scripts, mentalen Modellen usw. Denn wenn ein Stereotyp – aufgrund eines Erkennens einiger seiner Merkmale – psychisch-mental aktiviert ist, besteht immer die Erwartung, dass zusätzliches Erkennen a) dieses Stereotyp in seinen Hauptmerkmalen entweder bestätigt oder, wenn man noch unsicher ist, als falsch erweist ; b) die Leerstellen (Variablen) in ihm ausfüllt ; c) seine default-Werte entweder bestätigt oder ersetzt (aber das ist nur ein Spezialfall der Ausfüllung von Leerstellen). Diese Aktualisierung von Stereotypen kann als teilidentisch mit der Aktualisierung oder Bildung der Präsuppositionen (im weiteren Sinne) angesehen werden, die wir für unser Verstehen und Erkennen brauchen und die unser weiteres Verstehen und Erkennen leiten. (Eine andere Quelle unserer jeweiligen Präsuppositionen – neben den Stereotypen, mentalen Modellen usw. – ist das im konkreten Einzelfall jeweils bereits Bekannte, weil speziell bereits Gewusste oder hier-und-jetzt gerade schon Erkannte oder Verstandene.) Der Begriff der Verstehenserwartung (Erkennenserwartung ) ist vor allem nötig zur Beschreibung und Erklärung der Dynamik des Verstehens , d. h. des Verlaufs von Verstehensprozessen. In der Hermeneutik werden, diese vielleicht bisher nicht genug beachtet.21 Für sie und ihre Interessen ist, so scheint es, vielmehr typisch einerseits das punktuelle Verstehensereignis (das punktuelle Erkennen und das punktuelle Erkennenserlebnis :

20

Allerdings: Einstellungstheoretisch wäre das Erkennen sogar als Teil einer Aktivierung der Einstellung anzusehen, siehe Hermanns (2002 b).

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Eine der Ausnahmen ist ein höchst bemerkenswerter Aufsatz von Wulff (1993), der zum Thema Verstehensdynamik eine Theorie der Spannungserzeugung entwickelt, mit den zugehörigen Begriffen wie z. B. lnformationsführung, Vorverweisung, Antizipation und Suchverhalten (des gespannten Lesers, der selbst wie ein

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» Ach so ! Ja, jetzt habe ich verstanden«), andererseits ein resümierendes Verstehen insbesondere eines Sprachwerks. Dies vollzieht sich erst rückblickend (und rücklesend), nach erfolgtem Leseprozess, der als solcher aber oft nicht auf ein Fazit aus war, sondern eher einer Reise zu vergleichen als der Ankuft nach der Reise, bei der man sich dann vielleicht ausrechnet, worin ihr Gewinn lag. Insbesondere für vieles Sprachverstehen (so von Dramen, von Romanen und von anderen Erzählungen, jedoch z. T. auch von Beschreibungen und von Argumentationen) gilt nämlich das Diktum, dass der Weg das Ziel ist. Was man bei der Lesereise durch ein Buch, durch einen Text, jeweils bereits verstanden hat (erkannt hat) und was noch nicht, aber – möglichst bald ! – verstehen möchte (mitgeteilt bekommen möchte), macht, zusammen mit den emotiven und den volitiven Reaktionen auf das jeweils schon Verstandene, punktuell den Sinn nur eines Leseabschnitts, eines Augenblicks der Lesereise aus, doch der Gesamtsinn ist oft  – jedenfalls hauptsächlich – die Abfolge dieser Lese- und Verstehensaugenblicke. Wobei jedes folgende Verstehen durch das schon vorangegangene präfiguriert ist. Dies gilt auch dann, wenn Verstehenserwartungen enttäuscht werden, denn die Funktion vieler Erzählstrategien ist ja, dass man im Verstehensverlauf überrascht wird, was nicht möglich wäre, hätte man nicht – kunstvoll irreführenden Andeutungen des Textes folgend – falsche (wie sich jetzt herausstellt) Leseerwartungen (Verstehenserwartungen) gebildet. Aber es gilt ebenso, wenn diesbezügliche Erwartungen befriedigt werden (und man denkt: »So musste es ja kommen ! «). Dann hat sich eine Gestalt geschlossen, was ohne den vorherigen Auf bau der Gestalterwartung nicht möglich gewesen wäre. Auch beim Sprachverstehen gibt es also Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, und die »vergangene Zukunft« (Koselleck 1979) im Verlauf eines Verstehens ist in dessen Theorie genauso zu beachten wie in der Theorie der Geschichte die Zukunftserwartung der historischen Subjekte. 3.6 Das empathische Verstehen Wenn hier betont wurde und wird, dass jedes Verstehen ein Erkennen ist, dann soll damit die Existenz und die Bedeutung eines scheinbar völlig anderen Verstehens nicht geleugnet werden: desjenigen des empathischen Verstehens. Dies Verstehen beruht, wie der Name sagt, auf einer grundlegenden Fähigkeit des Menschen (und wohl mancher Tiere), eben der zur Empathie, d. h. zum ›Sich-Einfühlen‹ oder ›Sich-Hineinversetzen‹ in die Lage eines Anderen und in diesen selber. Hierbei kommt es aber auf das Wort ›beruht‹ an. Das empathische Verstehen ist mit der Empathie selber nicht identisch. Definieren muss man es als ein ›durch Empathie ermöglichtes Verstehen‹, und in dieser

Detektiv nach Zeichen sucht, die es ihm möglich machen sollen, leere Stellen seines informationellen Raumes auszufüllen). – Der Begriff Verstehensprozess wird in anderer Bedeutung in der kognitionspsychologischen Sprachverstehenstheorie verwendet, so von Strohner (1990).

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Formulierung lässt sich der Begriff Verstehen wieder problemlos ersetzen durch den allgemeineren Begriff Erkennen. Das empathische Hineinversetzen geschieht wohl so, dass wir uns in einen Anderen sowohl ›hineindenken‹, d. h. seine Welt aus seinem Blickwinkel betrachten, als auch ›hineinfühlen‹, d. h. ähnliche Gefühle, Wünsche, Befürchtungen etc. entwickeln wie er selber.22 Wir vollziehen dabei also eine Art Gedanken- und Gefühlsexperiment mit temporärem Perspektivenwechsel sowie einer temporären phantasierten Rollenübernahme, die Gefühle, Wünsche usw. einschließt. Empathie ermöglicht nicht nur ein (empathisches) Verstehen, sondern setzt auch ein Verstehen voraus: Kognitive Grundlage der Empathie ist erstens das Erkennen der Situation (der Lage), zweitens das Erkennen und Verstehen des Verhaltens eines Anderen, speziell des Ausdrucksverhaltens, einschließlich des sprachlichen Ausdrucksverhaltens. Beides zusammen macht ein Einstellungsverstehen (ein Verstehen der jeweils gerade aktuellen Einstellung des Anderen) möglich, das dann wiederum die Aktualisierung oder Bildung einer eigenen Einstellung (des Verstehenden) induziert, die derjenigen des Anderen ähnelt. Diese Aktualisierung oder Bildung einer eigenen (der des Anderen ähnlichen) Einstellung ist dann die Empathie. Da die Einstellungen nicht nur kognitive, sondern auch (teilweise starke) emotive sowie volitive Komponenten haben, lässt sich Empathie auch als ein (ansatzweises) Miterleben oder (so schon Dilthey und Max Weber) Nacherleben der Wahrnehmungen, Affekte und Tendenzen eines Anderen beschreiben. Man kann daher das darauf beruhende Verstehen auch ein mit- oder ein nacherlebendes Verstehen nennen. Als ein solches verschafft es uns eine Art von Innenansicht eines Menschen (in einem bestimmten Augenblick, einer bestimmten Lage). Man erkennt bei ihm, wie es ›in‹ einem Anderen ›aussieht‹. Mit- bzw. nacherlebend können wir die eigene Gefühlserfahrung ins Spiel bringen. Auf der Basis dieser eigenen Gefühlserfahrung können wir die Einstellungen anderer Personen als irgendwie ›nachvollziehbar‹ beurteilen oder aber als – für uns – ›nicht nachvollziehbar‹ und in diesem Sinne ›unverständlich‹.

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Wie Nachschlagewerke lehren, ist Empathie die Lehnübersetzung von Einfühlung, zuerst englisch (als empathy), dann französisch (als empathie), dann rückimportiert ins Deutsche ; der Begriff Einfühlung ist 1903 von Theodor Lipps erfunden worden (Dictionnaire historique de la langue française 1992, s. v.). Später sei er dann z. B. von Freud und von Mead verwendet worden (Ewert 1972, 397). Dass Mead den Begriff verwendet, ist zwar unzutreffend (jedenfalls in seinem Hauptwerk kommt er nicht vor), aber der Gedanke, den der Begriff Empathie bezeichnet, ist tatsächlich für sein Bild des Menschen als eines sozialen Wesens konstitutiv: »It is the ability of the person to put himself in other people’s places that gives him his cues as to what he is to do under a specific situation. It is this that gives … [him] … his character as a member of the community« (Mead 1934, 270). In der neueren Psychologie wird Empathie definiert als »one one person’s vicariously experiencing the feelings, perceptions, and thoughts of another« (Stotland 2001, 496 ) oder als »an emotional reaction to the comprehension of another’s emotional state or condition that is the same or very similar to the other’s state or condition […] Thus, empathy involves … the affective experience of the other person’s actual or inferred emotional state« (Eisenberg 2000, 179).

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Es ist anzunehmen, dass die Art und Weise eines Sprachverhaltens sich oft oder immer 23 danach richtet, dass es ins Kalkül des Sprechens oder Schreibens eingeht, wie man sich die Sprecher- oder HörerInnen-Reaktionen darauf antizipatorisch vorstellt, auf der Basis einer entweder realen oder (so beim Schreiben) nur hypothetischen Empathie mit ihnen. Auch das Sprachverstehen wird in hohem Grad darauf beruhen, dass man das Gehörte und Gelesene empathisch mit-sagt oder mit-denkt, wobei man antizipiert, was der Sprecher oder Autor wohl gleich sagen wird, auf der Grundlage eines Sich-in-ihn-Hineinversetzens. (Nur so ist wohl auch die unglaubliche Schnelligkeit des Sprachverstehens zu erklären: dass man oft verstanden hat, obwohl der Andere noch kaum angefangen hat, etwas zu sagen.) Und erst recht ist das erlebnishafte Sprachverstehen (und das Sprachverhalten, das auf dieses abzielt) ohne den Begriff der Empathie kaum zu erklären. Viele Texte rechnen sozusagen damit, dass wir uns als LeserInnen in ihre Protagonisten mittels Empathie hineinversetzen, was bedeutet, dass wir  – ansatzweise jedenfalls  – ähnliche Reaktionen haben wie diese Personen. Und auch bei vielen Sprechakten wird von uns erwartet, dass wir uns hineinversetzen, entweder in die Sprechenden selber oder in Personen, von denen sie uns erzählen. Geschieht dies nicht, dann war der Sprechakt nicht erfolgreich, weil sein Sinn war, dass man miterleben sollte. Der Sprechakt oder Text war dann ›langweilig‹ statt z. B. ›spannend‹, weil man dabei die Erwartungen, die Hoffnungen und die Befürchtungen nicht hatte, wie sie nur bei Empathie bzw. bei Identifikation (ein anderer Empathie-Begriff ) gebildet werden, wie auch alle anderen Emotionen, die das Lesen oder Hören zum Erlebnis machen. Nur wenn Empathie stattfindet, können solche Texte und Sprechakte außer solchen Erlebnissen auch Erfahrungen (Gefühlserfahrungen) vermitteln. 3.7 Interpretation und doppeltes Verstehen Vom Verstehen völlig, nämlich kategorial, verschieden, sind, wie die Begriffe hier verwendet werden sollen, Interpretationen, Auslegungen, Deutungen und Erklärungen von Äußerungen oder Texten.24 Interpretationen sind selbst Sprechhandlungen oder (geschriebene) Texte (und Teiltexte), also Akte oder Artefakte, die auf Wahrnehmbarkeit angelegt sind. Das Verstehen ist dagegen ein bloß kognitiver, d. h. psychischer, d. h. rein ›innerlicher‹ Vorgang, daher etwas nicht Beobachtbares. Interpretationen haben einen 23

Ob ›oft‹ oder ›immer‹ hängt davon ab, ob man Empathie – z. B. mit Mead (1934) oder, in der Linguistik, Ortner (1992, 286) und seinem Begriff der Perspektivenübernahme – als den Modus jeglicher Sozialwahrnehmung ansieht oder den Begriff nur dann verwendet, wenn eine besonders stark gefühlsgeprägte Einfühlung stattfindet.

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Es ist in der Linguistik nicht unüblich, das Verstehen metonymisch als Interpretieren zu bezeichnen, und dagegen ist auch gar nichts einzuwenden, wenn nur klar ist, was jeweils gemeint ist. Gegen metonymischen Gebrauch von Wörtern kämpfen Götter selbst vergebens. Das zeigt sich z. B. auch am Gebrauch von Begriff und Zeichen, außerhalb wie innerhalb der Linguistik.

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Adressaten; das Verstehen kann, als etwas Innerliches, keinen haben. Außerdem kann das Verstehen, da weder Artefakt noch Handeln, keine Zwecke haben (allerdings kann es, in hohem Maße sogar, funktional sein für nachfolgendes Verhalten und Erkennen), Interpretationen sind dagegen zweckhaft. Ihr Zweck ist es in der Regel, ein Verstehen (das des Interpreten) zu vermitteln (um es, gegebenen Falles, zugleich anzuwenden), oft auch, es als richtig zu erweisen, manchmal aber auch nur, es zur Diskussion zu stellen. Prototypisch geht es dabei um ein Textverstehen oder um ein Sprechakt- oder ein Gesprächsverstehen, aber man kann auch z. B. nicht-sprachliche Handlungen interpretieren. Dies geschieht im Alltag immer wieder, wenn wir sagen, warum oder wozu eine ganz bestimmte Handlung getan wurde. Voll von Handlungsinterpretationen ist die Geschichtsschreibung. (Handlungstheoretisch und textsortenlinguistisch könnte es aufschlussreich sein, solche Interpretationen zu analysieren.)25 Ebenso wie das Verstehen ein Erkennen, ist das Deuten, das Auslegen, das Interpretieren ein Erklären. Denn erklären heißt gerade: »so erläutern, dass der andere die Zusammenhänge versteht« (Duden 2001, s. v.). Das Verstehen ist also die Funktion des Erklärens, das Erklären dient dazu, Verstehen zu bewirken. Deshalb muss man die Opposition von einerseits Verstehen, andererseits Erklären – wie sie Dilthey zugeschrieben wird – als schiefen Gegensatz bezeichnen (geisteswissenschaftliches Verstehen vs. naturwissenschaftliches Erklären). Die beiden Begriffe können überhaupt kein Gegensatzpaar bilden, weil es sich bei ihnen gar nicht um Kohyponyme handelt. Auch in allen Naturwissenschaften geht es selbstverständlich darum, etwas zu verstehen (u. a. Kausalzusammenhänge), und die Kulturwissenschaften können umgekehrt natürlich nicht darauf verzichten, die von ihnen dargestellten Phänomene zu erklären, d. h. verständlich zu machen. Interpretationen sind für die linguistische Hermeneutik dreifach von Interesse: einerseits als sprachliche (metasprachliche) Manifestationen von Verstehen, andererseits als (verständnisstiftende) Sprechakte oder Texte, die als solche auch ganz unabhängig von den Zielen der linguistischen Hermeneutik Gegenstand der Linguistik werden könnten, drittens, insofern sie das Verstehensthema auf bisher noch nicht erwähnte Weise ins Spiel bringen, nämlich als Problem des doppelten Verstehens (Hermanns 1987 a), das sich beim Interpretieren immer wieder einstellt (s. u.).

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Geradezu spektakulär sind manchmal Handlungsinterpretationen, wie sie kollektiv in Strafprozessen veranstaltet werden. Hier wird der Versuch gemacht, zu klären, wie es zu der Tat kam und wie sie ausgeführt wurde (das muss sein, weil beides strafmaßrelevant ist), und zu diesem Zweck wird eine oft aufwendige »Entfaltung« (Seibert 2001) der Umstände, der Motive und der Vorgeschichte der Tat vorgenommen, mit Beteiligung zahlreicher Zeugen (nicht allein Tatzeugen) und Experten (u. a. Psychiatern). Aber die Entfaltung (ex-plicatio, wenn man wortspielerisch sein möchte) ist wohl überhaupt ein potenzieller Modus jeglichen Interpretierens.

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Welche Arten oder Typen von Interpretationen gibt es ? Man kann unterscheiden zwischen Interpretationen, die lokal sind, d. h. die sich nur auf ganz bestimmte ›Stellen‹ oder auch Aspekte eines Textes oder einer Sprechhandlung beziehen, und globalen Interpretationen, die den ganzen Text, den ganzen Sprechakt oder das ganze Gespräch interpretieren. Die lokalen Interpretationen könnte man auch punktuelle nennen; Biere (1989, 245) spricht von einer »Stellenhermeneutik«. Sinn der punktuellen Interpretationen ist es meistens, dass sie ein partielles Nicht- bzw. Missverstehen sozusagen reparieren sollen. Oft bestehen sie in Wort- und Satzerläuterungen oder Sachinformationen, vorzugweise in Form von Fußnoten kommentierter Textausgaben. Die Palette der globalen Interpretationen reicht von der bloßen Angabe einer Sprechakt-, Dialog- oder TextSorte (dadurch ist ja oft schon sehr viel Interpretation gegeben) bis zu ganzen Werken und sogar zu ganzen wissenschaftlichen Diskursen über manche Texte. Eine andere nützliche Unterscheidung zwischen Interpretationen ist die zwischen dogmatischen und zetetischen Textinterpretationen (Geldsetzer 1974, 76 f.). Dogmatische dienen, wie der Name sagt, der argumentativen Stützung eines Dogmas (damit man behaupten kann: »Es steht geschrieben«), zetetische ›suchen‹ nach dem Sinn des Textes, wie er von dem Autor oder der Autorin dieses Textes selber intendiert war. Außerdem kann man bewertende von nicht-bewertenden Textinterpretationen unterscheiden. In den Literaturwissenschaften war es lange üblich, einen Text nicht einfach zu erklären, sondern zugleich darzutun, dass es sich bei ihm tatsächlich um ein echtes ›Kunstwerk‹ handle, oder auch nicht. Jedenfalls ist das in meiner Studienzeit der Fall gewesen. Interpretationen sind nur sinnvoll auf der Basis einer Partnerhypothese (Biere 1989, 265) oder Adressatenhypothese. Man erläutert einen Text nur dann, wenn man vermutet, dass die Adressaten der Erläuterung ein Interesse am Text haben oder haben sollten und ihn – jedenfalls teilweise – nicht verstehen oder falsch verstehen. Sinnvolles Interpretieren setzt daher das eben schon erwähnte doppelte Verstehen voraus, nämlich einerseits das Verstehen des Textes oder Sprechakts, der interpretiert wird, andererseits das Verstehen des Verstehens dieses Textes oder Sprechakts durch die Adressaten, wie es ohne die Verstehenshilfe durch den Interpreten war bzw. wäre. Das Verstehen dieses anderen Verstehens ist das Problem, an dem viele Interpretationen scheitern.

4 Sprachverstehen, Weltverstehen Zu den Themen der linguistischen Hermeneutik werden, außer den bereits genannten, sicherlich noch viele andere gehören müssen. So die Frage, welche »Interpretationsprinzipien« (Scholz 2001) ein Verstehen und Interpretieren leiten sollten (die traditionelle didaktische Frage), aber auch die Frage, welche Interpretationsprinzipien das Verstehen und Interpretieren in welcherlei Kommunikationskonstellationen wirklich leiten (eine Frage für die empirische Hermeneutik). Es gibt nicht nur wohlmeinende Interpreten,

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die sich einem »principle of charity« (ebd., passim) verpflichtet wissen, sondern auch die »böswilligen Leser« (Hermanns 1989) und die böswilligen HörerInnen, die es beim Verstehen und Interpretieren resolut darauf anlegen, das Gemeinte zu verfehlen und das Nicht-Gemeinte als Gemeintes hinzustellen. Das ist ein Verstehensprinzip, scheint es manchmal, ganzer Berufsstände (Politiker und Juristen), aber auch in Alltagsbeziehungen kommt es ja vor, dass wir halbabsichtlich oder auch absichtlich missverstanden werden. Eng damit verwandt ist u. a. die Frage danach, welche ›Präsumtionen‹ (Vorannahmen) beim Verstehen gemacht werden sollten (ebd.), und, die Frage danach, welche – wann, in welchen Kommunikationskonstellationen – wirklich gemacht werden. Dabei sind die Präsuppositionen, weil sie nur die semantische Dimension der »Darstellung« (Bühler) betreffen, nur eine Teilmenge aller Präsumtionen, denn zu diesen kann z. B. auch gehören, dass die SprecherInnen entweder aufrichtig sind oder versuchen, ihre HörerInnen zu belügen. Von den Fragen, die sich jeder Hermeneutik außerdem noch stellen, soll hier nur noch eine aufgeworfen werden. Eine theoretische und empirische Sprachhermeneutik hätte, scheint mir, insbesondere der Frage nachzugehen, welcherlei Verstehensgegenstände für ein jeweiliges Sprachverstehen (einen jeweiligen Typ von Sprachverstehen) relevant sind; welche man jeweils erkennen muss, um angemessen zu verstehen – angemessen den jeweiligen Verstehensinteressen und Erkenntniszielen. Dabei wird ein Grundgedanke der Sprachhermeneutik wohl sein können: Sprachverstehen ist ein komplexes Erkennen, das als solches immer aus Erkennenskomponenten besteht. Was im Einzelnen erkannt wird, muss im Sprachverstehen aber zugleich auch noch als zusammenpassend erkannt werden. (Auch das ist wohl ein Erfordernis jeden Erkennens, nicht nur des Verstehens.) Wie bei einem Puzzle müssen deshalb beim Verstehen alle Teile ineinander gefügt werden (oder auch: »verrechnet«, so Ortner & Sitta 2003), damit man am Ende eine Art von Bild hat. Es ergibt sich daraus, dass die einzelnen Verstehensleistungen bzw. -komponenten interdependent sind. Das meint man wohl, wenn man von der ›Ganzheitlichkeit‹ des Verstehens redet. Was als Resultat von allen einzelnen Verstehensleistungen herauskommt, kann man ein Gesamtverstehen nennen. Man wird sagen können, dass überhaupt alles, was es gibt und geben könnte, Gegenstand des Sprachversteheng sein kann, alles Wahrnehmbare und Denkbare – in dem Sinne, dass man es gegebenfalls erkennen oder kennen muss, um etwas (scheinbar nur) Sprachliches zu verstehen. Ein Problem jeder Sprachhermeneutik wird es deshalb sein, die Vielfalt der Verstehensgegenstände irgendwie zu ordnen, d. h. die Verstehensgegenstände zu sortieren. Eine Vollständigkeit der Aufzählung möglicher Verstehensgegenstände wird man nicht erreichen können, aber man sollte versuchen, den Gesamtbereich der möglichen Verstehensgegenstände durch ein sinnvolles Klassifizieren etwas übersichtlicher zu machen.

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Ein eigener Versuch der Klassifikation soll hier nicht vorgetragen werden.26 Denn um einen Eindruck von der Vielfalt und der Vielzahl möglicher Verstehensgegenstände – und damit auch von der »riesigen Komplexität« (Strohner 1990, 65) des Sprachverstehens – zu vermitteln, genügt wohl die folgende Zusammenstellung von »Begriffen partiellen Verstehens« (Hermanns 1987 b), die dem Teilbereich des sprachpragmatischen Verstehens zugehören. Dieser umfasst schon für sich alleine eine Überfülle von verschiedensten Erkennensgegenständen, bei denen es aber (hoffe ich) sofort einleuchtet, dass sie für das Sprachverstehen relevant sind. Als Sortierungsschema bietet sich hier das Modell von Rescher (1967) an, wonach eine vollständige Beschreibung einer Handlung immer die Beschreibung oder die Angabe folgender Aspekte einer Handlung umfassen muss: a) der handelnden Personen, b) der Zwecke und Motive, c) der Situation, d) der Art und Weise, e) des Typs der Handlung. Was für das Beschreiben einer Handlung gilt, das gilt jedoch genauso auch für das Verstehen einer Handlung. Personverstehen. Dieses besteht bei Sprechakten im Erkennen der sprechhandelnden und sprechhandlungsbeteiligten Personen, aber unter mancherlei verschiedenen Aspekten: als Erkennen kommunikativer (Sprecher, Hörer, Zeuge) und sozialer (Vorgesetzter, Lehrer, Pfarrer, Richter usw.) Rollen, von Persönlichkeitsmerkmalen (wie Charakter, Weltbild, Gewohnheiten), von Befindlichkeiten (Stimmungen und Lebenslagen), von Beziehungen zwischen Personen (momentanen oder dauerhaften), von historischen Mentalitäten – je nach dem, worauf es jeweils ankommt. Sinnverstehen. Schließt man sich Max Weber (1921, 12 f.) an, dann muss man in der Handlungstheorie als das Definiens von Handlung den Begriff Sinn (statt Zweck ) wählen. Um ein Sich-Verhalten als sinnvolles Sich-Verhalten (also als ein Handeln) zu verstehen, muss nach Weber erkannt werden: a) der Zweck, auf das es abzielt (bei sprachlichem Handeln u. a. die illokutionären und die perlokutionären Zwecke), b) die Werte, die es leiten (wie z. B. Ehrlichkeit, Bescheidenheit und Klarheit oder deren Gegenteile), c) die Emotionen oder die Affekte, die es hervorbringen, oder d) die Traditionen, denen es folgt. Alle diese müssen – je nach den Verstehensintentionen z. T. oder sämtlich – auch beim Sprachverstehen erkannt werden. Situationsverstehen. Mit einem einzigen Situationsbegriff wird die Sprachhermeneutik nicht auskommen können. Für das Sprachverstehen ist – je nach Verstehensinteresse – das Erkennen mehrerer der folgenden Situationen wichtig : der Sprech- bzw. Kommunikationssituation (vielleicht zu definieren als die sinnlich wahrnehmbare Umgebung des Kommunikationsgeschehens), des Bühler’schen Zeig felds (in dem klar ist, wo jetzt

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Klassifikationen (nach Verstehensgegenständen) unterschiedlicher Verstehenskomponenten findet man bei Rarras (1980), Selting (1987), Falkner (1997) und Scholz (2001); eine Liste von verstehensrelevanten Wissenskomponenten – die sich z. T. als Erkennenskomponenten re-interpretieren lassen – u. a. bei Heinemann & Viehweger (1991, 93 ff.) und bei Busse (1992 a, 148 ff.).

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hier und dort ist, wer jetzt ich und du ist usw.; Bühler 1934, 79 ff.), der Kommunikationsbzw. der Interaktionssituation (als Ort der Kommunikation in einem sie umfassenden Interaktionsgeschehen; nach Hymes 1972, 56 ), der Hintergrund-Situation bzw. Vorgeschichte (nicht präsent, doch oft handlungsbestimmend), der historischen Situation (als der Gesamtheit zeitspezifischer oder zeittypischer Gegebenheiten). Form- und Funktionalitätsverstehen. Formverstehen könnte das Erkennen der Modalität (Rescher), d. h. der Art und Weise eines Handelns, inklusive des Gebrauchs von materiellen Mitteln (Instrumenten), genannt werden. Die materiellen Mittel sind im Falle des sprachlichen Handelns u. a. Megaphone und Lautsprecher, Bleistift und Papier und die technischen Kommunikationssysteme, die wir Medien nennen (dazu Habscheid 2000). Alle anderen ›Mittel‹ des sprachlichen Handelns sind nichts anderes als Formen sprachlieben Teilhandelns oder Handelns.27 – Das Erkennen der Funktion von Handlungsfarmen kann man Funktionalitätsverstehen nennen. Handlungstypverstehen. Beim Beschreiben (und Verstehen) einzelner Handlungen kann es prinzipiell auf alles das ankommen, was in irgendeiner Weise für die jeweilige Handlung relevant ist. Beim Bezeichnen einer solchen Handlung mittels eines Handlungsprädikators wird dagegen nur auf diejenigen ihrer Merkmale geachtet, die den Handlungstyp (nach Rescher 1967 : den Akt-Typ) ausmachen, den der Prädikator benennt, d. h. ihre diesbezüglich typischen Merkmale (typische Akteure, Handlungszwecke, Situationen, Handlungsformen, Handlungsresultate). Deshalb abstrahiert man beim Erkennen und Benennen einer Einzelhandlung als Exemplar einer Handlungsgattung (als Realisierung eines Akttyps) – wie ja überhaupt bei jedem Prädizieren – von zahlreichen Eigenschaften, obwohl sie im Einzelfall vielleicht gerade ganz besonders interessant sind. Andererseits können aber die Beschreibungen sprachlicher Handlungstypen als pauschale Interpretationen aller kommunikativen Akte angesehen werden, die zum jeweiligen Typ gehören. Analog gilt dies auch für Textsorten als Texttypen (s. u., Kap. 7). Wie man schon an diesem Beispiel – des pragmatischen Verstehens – sieht, ist ›reines‹ Sprachverstehen wohl undenkbar. Zum Gesamtbereich des Sprachverstehens gehört untrennbar das Weltverstehen, ohne Weltverstehen ist kein Sprachverstehen möglich. Fragt sich nur noch, welche Weltausschnitte, welche Text- und Diskurswelten, für ein jeweiliges Sprachverstehen relevant sind.

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Austin (1962, 14 , 26 ff.) nennt konventionelle Formen kommunikativen Handelns Prozeduren – ein Begriff, der gut zum Ausdruck bringt, dass diese Formen funktional sind.

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5 Empirische Hermeneutik Mit dem Begriff empirische Hermeneutik könnten, wie schon oben (Kap. 2) vorgeschlagen, insgesamt bezeichnet werden: a) alle auf Beobachtung gestützten Darstellungen von Verstehens vorgängen und -resultaten, b) alle Analysen und Beschreibungen von Interpretationen. Da Verstehen etwas Innerliches ist, kann es grundsätzlich niemals beobachtet werden, sondern nur erschlossen. Deshalb sind die Darstellungen sprachlichen Verstehens immer selbst auch Interpretationen (von beobachtbaren Reaktionen auf Sprechakte und auf Texte). Andererseits sind die Interpretationen, die den zweiten Gegenstandsbereich der empirischen Hermeneutik bilden, als Sprechakte oder Texte der Beobachtung direkt zugänglich, müssen aber ihrerseits verstanden werden, so dass Analysen und Beschreibungen von Interpretationen ebenfalls als Interpretationen (Metainterpretationen oder Interpretationen zweiten Grades) anzusehen sind. Im einen wie im anderen Falle ist deshalb die empirische Hermeneutik immer auch praktische Hermeneutik. In der Linguistik ist, soweit ich sehe, eine empirische Hermeneutik des Verstehens – ansatzweise jedenfalls – entwickelt in vier unterschiedlichen Bereichen. Einer davon ist die Lexikologie bzw. lexikalische Semantik. So berichtet Wichter (1994) über Untersuchungen zur Onoma- und Semasiologie von Laienwortschätzen (verglichen mit dem Sprach-Welt-Wissen von Experten) in diversen Sachbereichen (u. a. Kraftfahrzeugtechnik, Pferdesport, Buchhandel, Verlagswesen). Hier wird  – wie einst schon in der Wörter-und-Sachen-Forschung – mit empirisch-soziologischen Methoden (Interviews und Fragebögen) Wortverstehen erforscht. Wortverständnisse hat empirisch (ebenfalls mit Fragebögen) auch Mangasser-Wahl (2000) erhoben. – Zweitens hat die Linguistik sich beteiligt an der (von PsychologInnen dominierten) Verständlichkeitsforschung. In ihr wird Verstehen z. T. experimentell getestet.28 – Drittens gibt es eine empirische Hermeneutik des Verstehens innerhalb der Gesprächslinguistik. U. a. (hierzu resümierend Bublitz 2001) wird dort festgestellt, wie SprecherInnen sich selbst korrigieren, wenn sie – sich selbst hörend und auf HörerInnen-Reaktionen achtend – selbst erkennen oder zu erkennen meinen, dass sie falsch, miss- oder unverständlich sprechen, oder darauf hin zusätzliche Verstehenshilfen geben, u. a. durch Paraphrasen (oft durch das heißt, also usw. eingeleitet). Daraus kann sowohl auf Selbstverstehen wie auf Fremdverstehen (das Verstehen des Verstehens einer Adressatin, eines Adressaten) rückgeschlossen werden. 28

Einen Überblick über die psychologische und linguistische Verständlichkeitsforschung gibt Biere (1989). – Das Verstehen (und damit auch die Verständlichkeit) von Gebrauchsanweisungen haben Liebert & Schmitt (1998) auf sehr einfache Weise – aber man musste erst einmal darauf kommen – überzeugend per Experiment getestet: Es sollten Versuchspersonen einfach Schritt für Schritt tun, was eine Gebrauchsanweisung ihnen sagte, und dabei ihr eigenes Verstehen- und Verhalten durch ein ›lautes Denken‹ kommentieren. Aus beidem zusammen – per Video festgehalten – ließ sich dann erschließen, was sie wie verstanden oder missverstanden hatten.

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Ebenso beachtet werden dort auch HörerInnenreaktionen (u. a. Rückfragen, Paraphrasen, Korrekturvorschläge und nicht-sprachliche Signale), die auf Nicht-Verstehen oder auf Unsicherheiten des Verstehens seitens dieser HörerInnen schließen lassen.29 – Viertens hat die Linguistik sich gelegentlich bereits beteiligt an einer Rezeptionsforschung, wenn auch, scheint es, in Bezug nur auf das Medium Fernsehen. Beispielhaft ist hier das Buch Der sprechende Zuschauer (Holly et al. 2001). – Das so weite Feld der Rezeptionsgeschichte – als Geschichte des Verstehens und der aktualisierenden Anwendung auf das jeweils zeitgenössisch Interessante – ganz bestimmter Texte bleibt dagegen bislang wohl den LiteraturwissenschaftlerInnen überlassen, obwohl Rezeptionsgeschichte nicht nur in Bezug auf Texte ›literarischer‹ Textsorten sprachgeschichtlich und mentalitätsgeschichtlich von Belang sein könnte. Ein gezieltes Provozieren von sprachlichen Manifestationen eines Textverstehens scheint es in der Linguistik kaum zu geben, weder in der Form von Befragungen oder Fragebögen noch in der von Anregungen wie z. B. der zum Schreiben von »Rezeptionsprotokollen« (Bredella 1984) oder zur Führung von Gruppendiskussionen über Texte oder Textpassagen, in denen sich »Lese-Unterschiede« (Krusche 1981) – insbesondere bei Angehörigen verschiedener Kulturen – zeigen können. Und auch eine empirische Hermeneutik des Interpretierens gibt es in der Linguistik bislang wohl kaum.30 Insbesondere ist die Textsorte Interpretation der Literaturwissenschaften oder die theologische Exegese bisher noch nicht Gegenstand sprachwissenschaftlichen Interesses. Dabei wäre aus der Untersuchung von Textinterpretationen gewiss mancherlei zu lernen für praktische, didaktische und theoretische Hermeneutik.

6 Didaktische Hermeneutik Als Didaktiker des Sprach- und Textverstehens und -auslegens treten Linguistinnen und Linguisten, wenn ich richtig sehe, publizistisch bisher noch sehr wenig in Erscheinung. Viele linguistische Publikationen lassen sich als implizit verstehens didaktisch auffassen, so vor allem Gesprächsanalysen und Textsortenbeschreibungen, die vorführen, worauf man beim Gesprächs- und beim Textverstehen achten sollte. Als »Anregung« zur Verbesserung des Textverstehens, nämlich »zu sprachkritischem Zwischen-den-Zeilen-Lesen« (und nicht nur als »Ansatz zu einer … Inhaltsgrammatik«) ist die Deutsche Satzsemantik 29

Auf Gesprächsbeobachtung beruhen die Verstehens- und (hauptsächlich) Missverstehensanalysen in den bekannten Büchern von Tannen (1986, 1990). Darin geht es insbesondere um interkulturelles Nicht- und Missverstehen, wie stets in den Analysen, die das Interessante an der Linguistik interkultureller Kommunikation ausmachen (exemplarisch : Kotthoff 1989, Günthner 1993). – Auf ein Korpus eigener Gesprächsmitschnitte stützen sich die Missverstehensanalysen von Selting (1987), auf ein Korpus hauptsächlich literarischer Dialoge (David Lodge) diejenigen von Falkner (1997).

30 Eine Ausnahme sind Busses Studien zur Rechtslinguistik (Busse 1992 b).

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von von Polenz (1985, 342) gemeint. Rundheraus didaktisch, übrigens auch in seinem Darstellungsduktus, ist in der deutschsprachigen Sprachwissenschaft wohl nur das Werk von Glinz (1977/1978) Textanalyse und Verstehenstheorie I und II. Es enthält zahlreiche konkrete Ratschläge an die LeserInnen, die darauf abzielen, deren Textverstehen zu entwickeln und es methodisch zu kontrollieren, u. a. durch Selbstbefragung nach dem eigenen Lese-Interesse und Vorwissen, der daraus sich ergebenden Lektüre-Erwartung und durch Selbstbeobachtung beim Lesen mit Notizen, die den eigenen »Verstehensgang« festhalten. Explizite Empfehlungen zur Verstehensoptimierung formulieren auch Holly (1984) und Püschel (1995). – Eine Didaktik des Text interpretierens scheint dagegen in der Linguistik ganz zu fehlen.31

7 Praktische linguistische Hermeneutik Als VerstehenskünstlerInnen, als praktische Hermeneuten, müssen sich SprachwissenschaftlerInnen immerfort bewähren, nicht nur als Privatpersonen sondern auch in Ausübung ihres Berufes. Wie bereits gesagt (Kap. 1), beruht die Linguistik prinzipiell auf einem Sprachverstehen von SprachwissenschaftlerInnen. Zwar nicht jede einzelne sprachwissenschaftliche Feststellung – hier kann man an Apparatelinguistik, insbesondere in der Phonetik, an die linguistische Statistik und an große Teile der Computerlinguistik denken – aber doch die Linguistik insgesamt setzt dieses Sprachverstehen voraus. Aber auch als Interpreten, als AutorInnen von Interpretationen, sind SprachwissenschaftlerInnen mehr und öfter professionell tätig, als man das von Vornherein vermuten würde, und zwar nicht nur als Dolmetscher-, Übersetzer- und SprachlehrerInnen. Als Interpretationen sozusagen unscheinbar sind Erklärungen von Lexemen und grammatischen Strukturen, wie sie in der Lexikologie, der Lexikografie und der Grammatik durch Bedeutungsparaphrasen und Funktionszuschreibungen gegeben werden. Deshalb kann leicht übersehen werden, dass es sich hier überhaupt um Interpretationen handelt, nämlich um partielle Interpretationen der Belege (in der Regel: Sätze), auf die man sich dabei einerseits beruft und die durch die Bedeutungszuschreibungen andererseits erläutert, d. h. interpretiert, werden. Dank der so erfreulichen Entwicklung der Text- und der Gesprächslinguistik in den letzten Jahren verfügt die Sprachwissenschaft jetzt über eine Reihe von Beschreibungen von Sprechakt-, Text- und Gesprächssorten 31

Ebenso von Polenz (1985, 328 ff.) wie Glinz (1973, 147 ff.) geben zwar Beispiele für ›Textanalysen‹, die sich allenfalls als Interpretationen lesen lassen, aber eigentlich doch keine sind, sondern nur Vorarbeiten dazu. Denn Zweck dieser Analysen ist es offensichtlich sehr viel mehr, an einem Beispiel darzutun, was alles bei Textanalysen systematisch in Betracht gezogen werden könnte, als hauptsächlich auf den Sinn des jeweiligen Textes sowie die Modalitäten des je textspezifischen Zum-Ausdruck-Bringens dieses Sinnes abzuheben und dabei die Interessenlagen und das Vorverständnis mutmaßlicher LeserInnen dieses Textes sowie seiner Analyse in Betracht zu ziehen.

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oder -typen. Diese können als pauschale Interpretationen oder als Passepartout-Interpretationen angesehen werden. Denn bei Interpretationen von speziellen einzelnen Sprechakten, Texten und Gesprächen muss, wenn brauchbare Beschreibungen des Typus, dem sie angehören, schon vorliegen, nur noch zweierlei geleistet werden: erstens muss dieser Typ genannt werden, zweitens müssen seine Variablen spezifiziert werden. Oft ist die Kennzeichnung eines Textes, Sprechakts oder Gesprächs durch die Typbezeichnung bereits eine für den Interpretationszweck ausreichende Interpretation. Je nachdem ist damit außer der Funktion auch eine Form beschrieben, weiterhin vielleicht die Situierung in einem gesamten Kommunikationsgeschehen, ferner etwa die soziale Rolle des Verfassers und des Adressaten usw. (Entsprechend gilt für das Verstehen: Ist ein Sprechakt-, Kommunikationsakt- oder Texttyp schon bekannt, dann braucht man beim Verstehen einer ganz bestimmten kommunikativen Einzelhandlung oder eines Einzeltextes oft nur noch zusätzlich zu erkennen: erstens, dass die jeweilige Handlung unter diesen Typ fällt, zweitens, wie die Variablen dieses Typs konkretisiert sind und zusammenhängen.) Und auch hier gilt wieder, dass die Sorten- oder Typ-Darstellungen sich einerseits auf Interpretationen (oder mindestens auf das Verstehen) einzelner konkreter Texte, Äußerungen und Gespräche stützen und dann diese andererseits erklären. Eben deshalb kann man sie (pauschale) Interpretationen nennen. Mittlerweile gibt es in der Linguistik auch zahlreiche Einzelinterpretationen einzelner sprachlicher Texte, Reden, Diskussionen sowie anderer individueller oder kollektiver kommunikativer Akte, insbesondere in der Gesprächslinguistik und im Themenbereich ›Sprache in der Politik‹. Sie sind für die Linguistik wichtig, denn in ihnen kann sie unter Beweis stellen, dass ihre Begriffe und Gedanken dazu taugen, die soziale und sprachliche Welt, in der wir leben, besser verstehbar zu machen. »Anschauung ohne Begriff ist blind« – das können solche Interpretationen zur Erfahrung werden lassen, indem sie Aha-Erlebnisse vermitteln, wie sie ohne die in ihnen gebrauchten Begriffe nicht eintreten würden. Umgekehrt verschaffen solche Interpretationen den Begriffen die Anschauung, ohne die sie ›leer‹ sind. Trotzdem ist wohl festzustellen, dass die Linguistik insgesamt die Interpretation einzelner Texte oder Kommunikationsereignisse noch nicht als eine ihrer genuinen Aufgaben betrachtet. Manche KollegInnen haben, scheint es, gegenüber solchen Interpretationen einen grundsätzlichen Argwohn. Dieser rührt vermutlich daher, dass sich Einzelinterpretationen nicht ›beweisen‹ lassen, nach Kriterien, wie sie in anderen Wissenschaftsbereichen gelten. In der Tat lässt sich die Gültigkeit von Einzelinterpretationen weder deduktiv begründen noch durch wiederholbare Experimente oder auch nur Auszählungen. Solche Interpretationen können nur plausibel sein, und Plausibilität ist daher wohl der Wahrheitsmaßstab aller Einzelinterpretationen. Einen höheren Wahrheitsanspruch kann man für sie nicht geltend machen, und man sollte das wohl eigentlich auch gar nicht wollen.

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Wenn man sich für solche Interpretationen – für die Praxis des Interpretierens auch von Einzeltexten, einzelnen Sprechakten usw. – in der Linguistik einsetzt, muss man konsequenterweise umgekehrt versuchen, den Begriff der Plausibilität als Wahrheitsbegriff stark zu machen. Dazu können vielleicht die folgenden drei Hinweise einen Beitrag leisten. 1) Plausibilität ist etwas Intersubjektives, also etwas, das zumindest einem wahrheitstheoretischen Kriterium entspricht. 2) Plausibilität beruht (außer in trivialen Fällen) immer auf der Schlüssigkeit von Argumentationen. Dies ist aber in der Linguistik insgesamt doch wohl nicht anders. Denn dass linguistische Grundfragen je durch ein experimentum crucis oder eine logisch strenge Deduktion entschieden worden wären, wird man kaum behaupten können. Plausibilität ist daher vielleicht sowieso das Höchste, was wir in der Linguistik als den Wahrheitsstandard unserer Wissenschaft je werden reklamieren können, ausgenommen, wenn wir über Einzelphänomene (›Daten‹) Falsifizierbares sagen. (Dies gilt selbstverständlich auch für viele andere, wenn nicht alle Wissenschaften. Letztlich kommt es darauf an, dass ihre Aussagen ›einleuchten‹.) 3) Es kann unsere Wissenschaft nur glaubwürdiger machen, wenn wir, dieses anerkennend, keinen absoluteren Wahrheitsanspruch erheben, als denjenigen, dass wir als LinguistInnen Aussagen machen, die, so hoffen wir, plausibel sind, aufgrund plausibler, einleuchtender, nachprüf- und nachvollziehbarer Argumentationen, die sich ihrerseits auf nachprüf bare Beobachtung stützen. Nur Mut ! Das kantische Sapere aude ! sollte auch die Einzeldeutung von einzelnen Kommunikationsereignissen und Texten – mit den Mitteln, die wir in der Linguistik dafür haben  – einbegreifen. Darauf sind wir nicht nur lebensweltlich  – wo wir über Plausibilitäten kaum je hinauskommen – sondern auch als argumentationsgeübte LinguistInnen von vornherein gut vorbereitet. Außerdem verfügen wir über einschlägiges Fachwissen, das es uns ermöglicht, manchmal (allerdings durchaus nicht immer oder automatisch) das Wesentliche etwa eines Textes besser zu erkennen als die Interpreten anderer akademischer Fächer. Wissen, das uns jeweils fehlt, lässt sich aus anderen Fächern beschaffen. So machen es ja auch die InterpretInnen und Interpreten anderer Disziplinen, u. a. Literarhistoriker, die sich bei HistorikerInnen informieren. Es gibt also wohl nichts, was LinguistInnen hindern könnte, InterpretInnen zu werden, auch da, wo sie es noch nicht sind. Was ihnen dazu z. T. bisher noch fehlt, ist nur das Wollen.

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32

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Diskurshermeneutik 1

Zur Einführung ein Gedicht. Es ist von Morgenstern und lautet: Der Meilenstein Tief im dunklen Walde steht er Und auf ihm mit schwarzer Farbe, dass des Wandrers Geist nicht darbe: Dreiundzwanzig Kilometer. Seltsam ist und schier zum Lachen, dass es diesen Text nicht gibt, wenn es keinem Blick beliebt, ihn durch sich zum Text zu machen. Und noch weiter vorgestellt: Was wohl ist er – ungesehen ? Ein uns völlig fremd Geschehen. Erst das Auge schafft die Welt.2 Das ist wohl kaum zu bestreiten und seit Berkeley und Kant m. W. unbestritten. Nur ist es nicht bloß das Auge, nicht der Blick alleine, was den Text »schafft«. Man muss ihn schon lesen und verstehen, um ihn »sich zum Text zu machen«. Wie uns das Gedicht Dieser Beitrag ist erstmals 2007 erschienen in: Warnke, Ingo (Hg.): Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände. Berlin/New York, 187 – 210. 1

Der Stil eines Vortrags ist in dieser seiner Druckversion weitgehend beibehalten. – Ich bedanke mich bei Dieter Herberg , Klaus J. Mattheier und Wolfgang Teubert für Hinweise und Ratschläge.

2

Christian Morgenstern, Werke und Briefe (Stuttgarter Ausgabe in 9 Bänden), Band 3. Stuttgart 1990 , 185.

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von Morgenstern zeigt, wird das manchmal übersehen. Sogar in der Linguistik, obwohl sie eine Verstehenswissenschaft ist.

1 Hermeneutik Um Verstehen und Verständlichmachen geht es in der Hermeneutik. Bei uns unvertrauten Diskurswelten und Diskursen sind wir Linguistinnen und Linguisten, wenn wir sie verstehen wollen, Fremden ähnlich, die sich in den Sitten und Gebräuchen – und der Sprache – einer anderen Kultur nicht auskennen. Erst allmählich kommen sie dahinter, was die Leute machen, wenn sie sich so oder so verhalten, oder was sie meinen, wenn sie dieses oder jenes sagen. Welcherlei Gedanken sie damit zum Ausdruck bringen, welches Wünschen, welches Wollen, welche Emotionen. Ebenso wie Kulturfremde – die wir dann ja auch sind – werden auch wir zuerst vieles missverstehen. Erst allmählich werden wir uns, aus erkannten Fehlern lernend, in den fremden Diskurs hineinfinden. Zuerst können wir immer nur raten; oder, wissenschaftlicher ausgedrückt, Hypothesen bilden. Die wir dann, bei folgenden Versuchen des Verstehens ähnlicher Verhaltensweisen und Sprechweisen, testen. Bewährt sich die Hypothese, dann wird sie von uns vorläufig eingestuft als »vielleicht richtig«. Aber es bedarf noch mancher weiterer Bewährungsproben, bis wir halbwegs sicher sind: »wahrscheinlich meistens richtig«. Wir verstehen also zuerst immer nur vorläufig. Vorsichtigerweise. Vernünftigerweise. Denn wir wissen aus Erfahrung, dass wir immer wieder missverstehen. Das ist auch nicht weiter schlimm, wenn wir dazu bereit sind, das vorläufige Verstehen nachträglich zu ändern. Den Begriff vorläufiges Verstehen hat schon Schleiermacher (1838 , 97) gebraucht. Man liest eine Schrift, die man noch nicht kennt, erst einmal kursorisch. Daraus resultiert ein provisorisches Verstehen, das man später korrigieren wird, wenn nötig. So ein wichtiger Gedanke seiner Hermeneutik. Dementsprechend nennen wir besonders dieses suchende und tastende, probierende und revisionsbereite, sich selbst nämlich immer wieder gerne korrigieren lassen wollende Bemühen um Verständnis – ob von Handlungen und Handlungsfolgen, ob von Zeichen oder Zeichenfolgen, ob von Texten oder von Diskursen – hermeneutisch. Wir verwenden das Wort hermeneutisch oder das Wort Hermeneutik dann emphatisch. Was wir eben immer dann tun, wenn wir auf die Notwendigkeit dieses tastenden Bemühens um Verstehen nachdrücklich hinweisen wollen. Beide Wörter, so verwendet, charakterisieren das Bemühen um Verständnis als nichtsystematisch und nicht-systematisierbar. Das also versteht man oft – vielleicht hauptsächlich – unter Hermeneutik oder hermeneutisch. Es gibt aber außerdem noch viele andere Bedeutungen des Wortes Hermeneutik (dazu und zum Folgenden ausführlich Hermanns 2003). Aus all diesen Bedeutungen habe ich vier Möglichkeiten der Spezifizierung dessen hergeleitet, was wir pauschal »die« linguistische Hermeneutik nennen können:

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Viererlei linguistische Hermeneutik 1. Theoretische Hermeneutik Gibt Antworten auf die Fragen: – Was ist (was heißt) Hermeneutik ? – Was ist und wie funktioniert Verstehen ? – Worin besteht das Interpretieren ? 2. Empirische Hermeneutik Beschreibt – (immer nur erschließbares) Verstehen; und – (beobachtbare) Interpretationen 3. Methodologische (oder: didaktische) Hermeneutik Gibt Empfehlungen zur Optimierung des – Verstehens; und – Interpretierens 4. Praktische Hermeneutik Besteht im – Verstehen selber; oder im – Interpretieren selber Prototypisch geht es in der Hermeneutik um Verstehen und Auslegen von schriftlichen Texten und Textstellen, dann auch um Verstehen und Auslegen gesprochener Rede (inklusive Wechselrede) oder Redeteile. In der Diskurshermeneutik geht es analog um das Verstehen und Auslegen von Diskursen oder von Ausschnitten aus Diskursen. (Der Begriff Diskurs kann hier von mir nicht ausführlich erläutert werden, ich verweise auf die anderen Aufsätze dieses Bandes, die Literatur dazu angeben. Wichtig ist die Unterscheidung : Unter Diskurs wird hier nicht verstanden das Alltagsgespräch (das ist die in der Linguistik ältere Bedeutung ), sondern das gesellschaftliche »Zeitgespräch« (so meine Deutung Hermanns 1995), das »Gesellschaftsgespräch« ( Wichter 1999 , 274) zu einem bestimmten Thema, wie bereits vorausgesetzt in dem Begriff der Diskurslinguistik. Forschungspraktisch ist dies für uns ein Dossier von Texten, das wir in der deutschsprachigen Linguistik heute allgemein – nach Busse & Teubert (1994) – Korpus nennen. Das ist ein Textkorpus, das wir der Einfachheit halber als denjenigen Diskurs behandeln, den wir eigentlich zu untersuchen hätten, der uns aber, je nach Quellenlage, manchmal nur mit vielen Lücken vorliegt oder aber umgekehrt in einem solchen Umfang, dass er

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uns als LeserInnen überfordert. Es ist also ein Notbehelf, wenn wir Korpus und Diskurs gleichsetzen. Dessen sollten wir eingedenk bleiben.3) Die traditionelle, herkömmliche Hermeneutik ist hauptsächlich methodologische, didaktische Hermeneutik. Sie besteht nämlich vor allem in Ratschlägen, die besagen, was man tun soll, um sein Textverstehen zu verbessern. Beispielsweise: Man soll auf den Kontext achten. Sowie auf die Systematik sämtlicher Gedanken eines Textes. Und auf die Textabsicht.4 Manchmal gibt die Hermeneutik auch Ratschläge zum Erklären, zum Interpretieren von Textstellen oder Texten. Beispiel: Die Erklärung muss sich nach den Adressaten der Erklärung richten.5 Je nach deren Vorkenntnissen muss man anders oder anderes, muss man mehr oder weniger erklären. Wie ersichtlich, unterscheide ich grundsätzlich zwischen dem Verstehen selbst und dem Erklären eines eigenen Verständnisses für andere. Das Erklären ist der Versuch, etwas verständlich zu machen, als so-und-so zu verstehen. (Es geschieht oft in der Absicht, Andere zum eigenen Verstehen zu bekehren, aber das muss nicht so sein. Denn man kann dabei auch nur die bescheidene Absicht haben, eine Interpretation zur Diskussion zu stellen.) Das Erklären von Textstellen, Texten und Diskursen nenne ich interpretieren. Wissend, dass das Wort interpretieren sehr oft auch verwendet wird im Sinne von verstehen. Diesen Sprachgebrauch will ich auch niemandem ausreden. Aber darauf insistieren, dass Verstehen und Erklären – als Versuch, ein eigenes Verstehen zu vermitteln – zweierlei sind. In der herkömmlichen, der klassischen Hermeneutik unterscheidet man demgemäß zwischen einer ars intelligendi – der Kunst des Verstehens – und einer ars explicandi – der Kunst des Erklärens.6 Diese Unterscheidung muss man deshalb machen, weil sie kategorial ist. Das Verstehen ist etwas rein Kognitives, also Innerliches, das sich einzig und allein in unserm Denken abspielt, in der black box unseres Geistes. In sie können wir nicht hineinsehen, auch in unseren eigenen Geist nicht. Deshalb können wir Verstehen immer nur erschließen, und zwar immer nur aus den auf das Verstehen folgenden beobachtbaren Reaktionen und Aktionen dessen, der etwas so-oder-so verstanden hat, d. h. aus seinen Äußerungen oder anderen Handlungen. Erklärungen sind dagegen selber schon Sprechakte oder andere kommunikative Akte oder Texte. Also etwas Wahrnehmbares, das wir direkt beobachten können.

3

Im Englischen, darauf sei noch hingewiesen, verwendet man discourse oft in nochmals anderer Bedeutung : ›language in use‹ (Chilton 2004 , 138).

4

Letzteres sind zwei speziell juristisch-hermeneutische Prinzipien für ein angemessenes Interpretieren von Gesetzestexten (dazu Busse 1993 , 24 – 32).

5

Nach Chladenius gilt sogar, dass »wenn man es genau suchen wollte, bald jeder eine besondere Auslegung … von einem Buche braucht« (Biere 1989 , 7).

6

So der Herausgeber Schleiermachers (Schleiermacher 1838 , 99).

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Im Folgenden werde ich auf hermeneutisch-theoretische Grundfragen  – Was ist Hermeneutik ? Worin besteht das Verstehen ? Worin das Interpretieren als Erklären ? – nicht eingehen. (Ich verweise diesbezüglich auf den schon zitierten Aufsatz von mir.) Sondern nur versuchen, einige der speziell für das Thema Diskurshermeneutik – und damit auch für das Thema Diskurslinguistik – relevanten Fragen aufzuwerfen sowie einige der möglichen Antworten darauf anzugeben. Beides im Bereich der empirischen und der methodologischen Hermeneutik. Nach dieser Einleitung (Kap. 1) möchte ich zuerst, als Beispiel, eine Studie präsentieren, die vor Augen führt, was Diskurshermeneutik konkret sein kann (Kap. 2). Darauf folgt ein Abschnitt zur Methodik in der Diskurshermeneutik (Kap. 3). Von der Vielfalt in der gegenwärtig bereits praktizierten Diskurslinguistik sowie Diskurshermeneutik soll der anschließende Vortragsabschnitt ein Bild geben (Kap. 4). Und zum Schluss will ich noch etwas zum Zusammenhang von Hermeneutik und Rhetorik sagen (Kap. 5).

2 Ein einfaches Beispiel Das Beispiel ist mein Paradebeispiel einer mit geringstem Aufwand durchgeführten diskurslinguistischen und diskurshermeneutischen mentalitätsgeschichtlichen wortsemantischen Untersuchung. Die Ergebnisse sind publiziert in einem Aufsatz mit dem Titel »Geschlecht – männlich/weiblich. Zur Geschichte der Begriffe (1730 – 1990)« (Frevert 1995); Ute Frevert, die Verfasserin, ist hauptsächlich bekannt als die Autotin des Buchs Ehrenmänner über das Duell im 19. Jahrhundert (Frevert 1991). Sie ist also keine Linguistin, verfährt aber so, als ob sie eine wäre. Besser könnten wir als LinguistInnen es linguistisch auch nicht machen. Das Schönste in ihrem Aufsatz sind ihre Zitate. Einige Kostproben: So ist im Allgemeinen das männliche [Geschlecht] im Verhältnisse zu dem weiblichen das Stärkere, jenes sich unterwerfende … . Das weibliche, im Verhältniß zu dem männlichen, ist das zartere, jenem sich unterwerfende … .« (1824 ; zitiert nach Frevert 1995 , 21) Der Geist des Mannes ist mehr schaffend, aus sich heraus in das Weite hinwirkend, zu Anstrengungen, zur Verarbeitung abstracter Gegenstände, zu weitaussehenden Planen geneigter. (1824 ; ebd.) Unter den Leidenschaften gehören die raschen, ausbrechenden dem Manne, die langsamen, heimlich in sich selbst gekehrten dem Weibe an. Aus dem Manne stürmt die laute Begierde; in dem Weibe siedelt sich die stille Sehnsucht an. (1824 ; ebd.)

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Das Weib ist auf einen kleinen Kreis beschränkt … Der Mann muß erwerben, das Weib sucht zu erhalten; der Mann mit Gewalt, das Weib mit Güte – oder List. Jener gehört dem geräuschvollen, öffentlichen Leben, dieses dem stillen, häuslichen Kreise. (1824 ; ebd.) Alle die körperlichen und geistigen Eigentümlichkeiten, durch die sich das Weib vom Manne unterscheidet, stehen im innigsten Zusammenhange mit der Bestimmung desselben, Mutter zu werden. (1898 ; ebd., 38) Die Rolle, welche der Frau […] von der Natur angewiesen ist, macht eine völlige Gleichstellung der Geschlechter für alle Zeiten unmöglich. (1898 ; ebd.) Demgemäß ist das Weib mehr für das geschlechtliche Verhältnis, und für das damit in nächster Beziehung stehende Familienleben bestimmt, wozu es wegen der sein ganzes Wesen beseelenden Liebe auch vorzüglich sich eignet … . (1848 ; ebd., 41) Entfernt sich aber das weibliche Geschlecht von seiner eigentlichen Bestimmung, so hat es durch Schwächlichkeit und Kränklichkeit dafür zu büßen. (1848 ; ebd.) In dem Aufsatz geht es also um die Eigenschaften, die Männern und Frauen zugeschrieben werden. Diese Eigenschaften werden hier behandelt als Erkenntnisgegenstände der Begriffsgeschichte. Bedeutungsgeschichte könnte man auch sagen, oder auch historische Semantik. Die Begriffsgeschichte hat nach Frevert (ebd., 15) – wie schon nach Koselleck – die »Deutungssysteme« zu beschreiben, die das Denken in historischen gesellschaftlichen Gruppen geprägt haben. Insofern ist sie nicht nur Begriffsgeschichte, sondern auch Mentalitätsgeschichte. Sie beschreibt Stereotype oder frames bzw. kognitive Schemata bzw. mentale Modelle, wie man die Stereotype auch nennt.7 Hier die mentalen Modelle  – insbesondere des Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts – von Mann und Frau. Scheinbar geht es dabei nur um die Vorstellungen davon, wie die Geschlechter von Natur aus seien, also um die Ontik. Doch in Wahrheit geht es ebenso um die Deontik, d. h. darum, wie sich Frauen Männern gegenüber zu verhalten haben, wie sie sich verhalten sollen. Zum Beispiel: sich ihnen unterwerfen. Es geht also auch um Einstellungen. Von den Frauen wird hier immer (implizit) verlangt, dass sie sich so verhalten, wie sie eigentlich ja sowieso sind. Das ist eine Denkfigur, die wir auch heute noch plausibel finden. 7

Zur weitgehenden Synonymie dieser Begriffe Hermanns (2002).

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Von den Ergebnissen Ute Freverts will ich hier nur eines nennen: Aussagen, wie die zitierten, sind charakteristisch für das 19. Jahrhundert. Vorher sowie nachher sind ähnliche kaum zu finden, jedenfalls in Freverts Quellen. Das im 19. Jahrhundert neue Ideologem war: Von Natur aus sind die Frauen schwächer als die Männer, dümmer als die Männer, weniger befähigt zu Geschäften, deshalb Männern gern gehorsam usw. Während noch im späten 18. Jahrhundert über Frauen gesagt werden konnte, sie seien eben so fähig , wie die Mannspersonen zu denken und zu handeln. … Man lasse sie wie Männer arbeiten, und sie werden Stärke genug finden, die Herrschaft der Welt mit ihnen zu theilen. (1788 ; ebd., 44 f.) Frevert gibt sich Mühe, diesen Befund – dass das 19. Jahrhundert hierin singulär ist – zu erklären, aber ganz gelingt es ihr nicht, scheint mir. Neben ihren Resultaten ist das Interessanteste an Freverts Aufsatz wie sie vorgegangen ist. Genial einfach. Sie hat nämlich einfach in den großen Lexika der Zeit – in den diversen Auf lagen des Brockhaus und des Meyer und noch ein paar anderen Lexika – nachgeschlagen, was sie zu Stichwortern wie Geschlecht, Mann , Frau und Weib zu sagen haben. Sie hat sich vermutlich die einschlägigen Artikel fotokopiert. Schon war ein Dossier beisammen, mit dem sie arbeiten konnte – ein Dossier von Texten die als Diskussionsbeiträge den Diskurs abbilden, der (speziell im 19. Jahrhundert) in großen Nachschlagewerken zur Thematik männlich – weiblich geführt wurde. Ihr Textkorpus. Dass es repräsentativ für bildungsbürgerliches Denken jedenfalls im 19. Jahrhundert ist (vgl. ebd., 17), das ist so gut wie garantiert durch die Autorität, die Konversationslexika im 19. Jahrhundert hatten. Was sie schrieben, galt als gesichertes Wissen. Als sie dieses Material hatte, musste Frevert es nur noch sortieren die Texte vergleichen (also Unterschiede und Gemeinsamkeiten konstatieren), sie zitieren, resümieren und erläutern, Auffälliges kommentieren, alles historisch einordnen (in sozial-, mentalitäts- und politikgeschichtliche Zusammenhänge) und das Ganze narrativ und argumentativ in eine überzeugende Form bringen. Kurz: interpretieren.8

3 Diskurshermeneutik und Methodik Werner Holly setzt in einem Aufsatz zur Methodik der Textanalyse den Begriff Methode in Anführungsstriche. Er schreibt dazu: »Wenn von Methodik die Rede ist, scheint Vorsicht angebracht« (Holly 1992, 16). Man solle bei Textanalysen und bei Diskursanalysen

8

Was natürlich vielerlei Erfahrungen und Kenntnisse voraussetzt. Nur für Frevert war dies alles dann vielleicht »nur noch« Routine.

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vielleicht besser gar nicht von einer Methode sprechen. Vielleicht eher schon von einer Kunst, wie in der Tradition der Hermeneutik (ebd., 17).9 Der Begriff Methode ist tatsächlich missverständlich, weil zweideutig. In der engeren Bedeutung dieses Wortes ist eine Methode ein auf einem Regelsystem auf bauendes Verfahren zur Erlangung von [wissenschaftlichen] Erkenntnissen … (Duden 2001, s. v.; die eckigen Klammern im Original)10 Dass dieses Verfahren auf einem Regelsystem »auf baut«, soll wohl heißen, dass man dabei nach bestimmten Regeln vorgeht, um so wissenschaftliche Erkenntnis zu erlangen. Wie mir scheint, ist eine prototypische Methode sogar ein Verfahren, das unfehlbar wissenschaftliche, unwiderlegliche Erkenntnisse hervorbringt. Wenn man alles richtig macht, dann produziert es solche Erkenntnisse quasi automatisch. Fehler können zwar auftreten, werden aber durch mehrfache Wiederholung des Verfahrens und durch andere Kontrollen doch letztendlich ausgeschlossen. Messverfahren und Experimente der Physik und der Chemie sind hier die prototypischen Beispiele.11 Die Methode garantiert dabei die Gültigkeit der Ergebnisse. Das ist, scheint mir, eines der kognitiven Modelle, die wir von Wissenschaft haben. Wissenschaftlich ist danach nur absolut gesicherte Erkenntnis, erlangt durch Methoden, die genau vorschreiben, was man Schritt füt Schritt zu tun hat, um sie zu erhalten. Wenn man sie befolgt, dann kommt man auch zum richtigen Ergebnis. Sie sind sozusagen idiotensicher. Nur ist diese Art einer Erlangung sicherer Erkenntnis beim Textund Diskursverstehen prinzipiell unmöglich. Hier gibt es also keine Methode in dieser Bedeutung von Methode. In der anderen, generelleren Bedeutung dieses Wortes ist eine Methode einfach eine »Art und Weise eines Vorgehens« (ebd.).12 Und in diesem schlichten Sinne – aber nur in diesen Sinne – lässt sich ohne weiteres auch bei der Diskurshermeneutik von Methoden sprechen. (Alternativ: von Techniken .) Diese sind zwar je nach den jeweiligen Erkenntniszielen (s. u., Kap. 4) im Einzelnen unterschiedlich. Doch sie haben gemeinsame Elemente, nämlich einige gemeinsame Methodenschritte . Das ermöglicht es, trotz der Me9

Das erläutert Holly dadurch, dass er sagt, das Textverstehen sei holistisch (Titel des Aufsatzes). Was besagt: Man muss dabei im Prinzip auf alles achten, was dafür nur irgend relevant sein könnte.

10

Ähnlich das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache ; danach ist eine Methode »ein System von Regeln, das dazu geeignet ist, planmäßig wissenschaftliche Erkenntnisse zu erlangen oder darzustellen …« (Klappenbach & Steinitz 1974, s. v.).

11

Dass es in der Praxis auch der Naturwissenschaften mit dem Messen manchmal doch nicht so leicht ist, zeigt Knorr Cetina (2002).

12

Vielleicht besser: »[ein] planmäßiges Verfahren« (so Klappenbach & Steinitz 1974, s. v.).

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thodenvielfalt doch von der Methode der Diskurshermeneutik zu sprechen. Will man das tun, dann ist die Methode diskurshermeneutischen Vorgehens eben die Gesamtheit aller dieser den Spezialmethoden gemeinsamen Arbeitsschritte oder -gänge. Dabei handelt es sich um ganz einfache Schritte, die wir alle, denke ich mir, immer wieder praktizieren, ohne dass wir darüber groß nachzudenken hätten. So vor allem: – Man definiert sich ein Thema. (Eigentlich muss man es sich einfallen lassen, dann es formulieren und es so lange umformulieren, bis es schließlich »definiert« ist.) – Man macht sich in einschlägiger Literatur kundig. (Was fast immer Interdisziplinarität bedeutet, da für wirklich interessante Themen sich fast immer auch schon Nachbarwissenschaften interessieren.) – Man entscheidet sich für einen Diskurs, den man untersuchen möchte. Es kommt darauf an, ihn möglichst genau einzugrenzen. (Und möglichst eng einzugrenzen. Denn: »A A man can only do so much«, «, das sollte man von Anfang an bedenken.) Jeder Diskurs definiert sich, wie die vorgehabte Untersuchung selber, durch ein Thema, aber dieses Thema ist ein anderes als dasjenige der Untersuchung. – Man beschafft sich eine Auswahl derjenigen Texte, die dem Diskurs zugehören und ihn mitkonstituieren. Und zwar eine für den Diskurs möglichst repräsentative Auswahl. Diese ist  – als das Textkorpus, mit dem man arbeitet (s. o., Kap. 1)  – die konkrete empirische Basis, auf die sich sämtliche Aussagen, die man machen wird, berufen können. – Man formuliert Thesen, die man prüfen möchte, oder Fragen, die man beantwortet haben möchte. Solche Fragen nenne ich Suchfragen . (Man bekommt sie dadurch, dass man sich fragt: Welche Fragen soll mir mein künftiges Korpus, soll mir dieser Diskurs beantworten ? Oder äquivalent: Was will ich beweisen ?) Diese Fragen wiederholt man sich bei aller nachfolgenden Arbeit immer wieder. Das bewirkt ein Suchverhalten (ein »Explorationsverhalten‹‹), das der Arbeit Sinn und Ziel gibt. Sie wird dann von einer ganz spezifischen Neugierde angetrieben. Die Suchfragen geben also unserer Arbeit nicht nur eine Richtung , sondern motivieren uns auch. – Man liest. Und liest. Und liest. Mit verschiedenen Lesemethoden. Vieles überfliegt man nur, nach einschlägigen Textpassagen suchend. Diese werden intensiv gelesen, d. h. wiederholt (mehrmals) und extra langsam, wobei man vielleicht auf jedes einzelne Wort achtet. – Man bemüht sich einerseits um ein Gesamtverstehen jedes Einzeltextes, andererseits um ein Detailverstehen möglichst aller seiner Einzelheiten. Und um ein Gesamtverstehen des Diskurses. (Dabei bringt man sein Wissen zum Tragen, das mobilisiert wird u. a. mit der Frage: Was fällt mir hierzu ein ? Es ergibt sich oft, dass das vorhandene Wissen zum Verstehen nicht genügt. Dann muss gezielt nach weiteren Informationen gesucht werden.)

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Man macht sich Notizen. Das ist die Methode des »schreibenden Lesens« (Hermanns 1988). Denn das, was man sich nicht sofort aufschreibt, das vergisst man. (Was man aufschreibt, das sind insbesondere auch eigene Reaktionen. Zur Verbesserung der Selbstbeobachtung, die solche Reaktionen registrieren soll, empfehle ich zwei Fragen: 1. Was fällt mir auf ? 2. Was fällt mir ein ? Wenn man sich das notiert, dann hat man später einen Fundus von Beobachtungen und Ideen für den Aufsatz oder das Buch, den bzw. das man schreiben möchte. Eine weitere inventio erübrigt sich weitgegehend.) Man schreibt. Und schreibt. Und schreibt. In verschiedenen Schreibgängen: sich Notizen machend (s. o.); konzipierend, d. h. Inhalt und Auf bau der Arbeit, die man schreiben will, skizzierend ; dann ausformulierend ; sodann korrigierend, denn man macht beim Schreiben immer wieder Fehler, die man erst, wenn überhaupt, nachträglich erkennt (sprachliche, gedankliche, sachliche); schließlich redigierend. Alles das geht aber ineinander über. Man schreibt auch paraphrasierend (dazu Holly 1985). Früher, als es noch keine Kopiermaschinen gab, schrieb man auch exzerpierend. Das war doppelt sinnvoll, denn man hatte damit nicht nur mögliche Zitate für die vorgehabte Arbeit aufgeschrieben, sondern sie sich auch eingeprägt  – ein Effekt der Wiederholung und der Langsamkeit des Lesens beim Abschreiben.

Soweit die Methodenschritte – mehr sind mir bisher nicht eingefallen –, die im Zuge diskurshermeneutischen Vorgehens alle wohl fast immer getan werden müssen. Und zwar mehrmals. Denn im Laufe des Nachdenkens und des Schreibens über den Diskurs verändern sich die Fragen, die man an ihn stellt, es ändert sich oft das vorläufige erste Verstehen, und es ändert sich auch oft das Korpus, mit dem man arbeitet. Man muss noch nachrecherchieren oder nichtssagende Texte aus dem Korpus, das man hat, eliminieren. Auch der ganze untersuchte Diskurs kann sich ändern, man kann ihn einengen oder ihn erweitern wollen. Und damit natürlich auch das Thema eines diskurshermeneutischen Arbeitsvorhabens. Eine solche Flexibilität ist wohl charakteristisch für diskurshermeneutische Arbeit. Wie ersichtlich, sind es samt und sonders völlig unspektakuläre Arbeitsschritte, die zusammen mit vielleicht noch anderen Schritten die Methode (oder Technik ) diskurshermeneutischer Arbeit ausmachen. Man geniert sich zuerst fast – so einfach und uns selbstverständlich ist es –, dieses alles aufzuzählen, und erst recht, es insgesamt als die Methode diskurshermeneutischen Arbeitens zu bezeichnen. Das muss aber sein, denn mag es noch so einfach sein, so ist es doch nun einmal die Methode – in der allgemeineren Bedeutung dieses Wortes – diskurshermeneutischen Vorgehens. Es versteht sich, dass man die von mir gegebene Beschreibung dieser unserer Methode noch verbessern könnte. Man kann sie vor allem einerseits konziser, andererseits ausführlicher fassen, je nach den jeweiligen Darstellungszwecken. Und vielleicht fehlt auch noch etwas Wesent-

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liches, das hinzuzufügen wäre. Aber für dies alles hätten wir mit der gegebenen Beschreibung unserer Methode schon einmal eine Grundlage. Diese so beschriebene Methode brauchen wir uns selber – als erfahrenen DiskurslinguistInnen  – für die Praxis unseres Interpretierens eigentlich noch nicht einmal bewusst zu machen; wir verfahren einfach nach ihr. Und erst recht nicht müssen wir sie uns ausformulieren. Das wird erst dann nötig, wenn wir sie Studierenden vermitteln wollen.13 Doch auch uns und unserem Fach kann es nicht schaden, wenn wir unsere Methodik nicht schamhaft verschweigen, sondern sie darstellen und sie damit diskutierbar machen. Auch bezüglich unserer Methode – nicht nur unserer Resultate – ist ein Selbstbewusstsein angebracht, zu dem gehört, dass wir sie offenlegen und sie der Kritik aussetzen. Und es gehört dazu, scheint mir, die eindeutige Aussage: Ja, die Linguistik und speziell die Text- und Diskurslinguistik verfährt hermeneutisch. Anders geht es nämlich gar nicht. Zu den oben aufgezählten kommen dann noch sämtliche Methodenschritte des Bemühens um Verstehen, wie wir sie aus der Textlinguistik und Pragmatik (künftig wird man vielleicht sagen können: der Texthermeneutik) kennen. Wir stellen uns systematisch Fragen wie : Wer spricht in diesem Text zu wem ? In welcher Absicht ? Und in welcher Lage (Situation) ? Und in welcher Art und Weise ? (Wer zu wem wie wann wo wozu?) Sowie : Was für eine Sicht der Dinge kommt in diesem Text zum Ausdruck ? Welche Kognitionen ? Welche Emotionen ? Welches Wollen ? Oder : Was sind die Präsuppositionen, die der Text macht ? (Dreierlei kommen in Frage: kognitive, emotive, volitive/ deontische.14) Und natürlich: Was bedeutet dieses Wort in diesem Kontext ? (Vielleicht hat es, so verwendet, eine etwas andere Bedeutung als die mir bisher bekannte.) Und

13

Die Literatur zur »Technik des wissenschaftlichen Arbeitens«  – so ein erfolgreicher Titel (Rückriem et al. 1997)  – enthält viele wichtige und richtige Ratschläge  – ich empfehle speziell Esselborn-Krumbiegel (2002) –, aber ist naturgemäß zu unspezifisch, als dass sie eine didaktische Vermittlung unserer Methodik leisten könnte. (Zu spezifisch literaturwissenschaftlich ist dagegen vielleicht die Ratgeberliteratur für Studierende der Literaturwissenschaften, die ich aber noch nicht kenne.) Sowieso muss die didaktische Vermittlung ihrer eigenen Interpretationsmethoden eine Hauptaufgabe der Sprachgermanistik bleiben – oder werden, wo sie es noch ist –, und zwar nicht nur theoretisch, sondern anhand immer wieder anderer Beispiele auch handwerklich-praktisch. Theorie kann helfen, aber für den Unterrichtserfolg entscheidend ist die Praxis.

14

Zum Begriff der Präsupposition empfehle ich Linke & Nussbaumer (2000). Dort sind allerdings nur kognitive Präsuppositionen berücksichtigt, weil die Fachliteratur die beiden anderen noch nicht kennt. Bei den volitiven/deontischen dürfte es sofort einleuchten, dass es sie gibt, denn in Argumentationen werden dauernd nicht nur Seins-, sondern auch Sollenspräsuppositionen (enthymemisch) gemacht. (Beispiel: Der Satz »Nimm den Schirm mit ! Denn es regnet.« setzt den deontischen Satz der Lebensklugheit voraus: Wenn es regnet, sollte man den Regenschirm mitnehmen.) Der Begriff der emotiven Präsupposition bedeutet (soll bedeuten), dass ein Text eine bestimmte affektive Reaktion (auf ein Wort, einen Satz, auf etwas vom Text Dargestelltes) als normal voraussetzt. Sollte diese affektive Reaktion bei seinen LeserInnen oder HörerInnen nicht eintreten – noch nicht einmal ansatzweise –, wäre der Text affektiv – und deshalb kommunikativ – an dieser Stelle nicht nur nicht erfolgreich, sondern affektiv gar nicht verstanden.

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noch viele andere Fragen. Denn der Katalog der – je nach Einzelfall – sinnvollen Fragen der Textanalyse ist damit noch lange nicht zu Ende.15 Vielleicht sollte man versuchen, sie zu systematisieren. Aber dazu bräuchten wir ein Systematisierungsprinzip oder Systematisierungsschema, das wir noch nicht haben. Die Probleme angemessenen Verstehens von Diskursen sind grundsätzlich keine anderen als diejenigen des Einzeltextverstehens. Denn auch Einzeltexte können sinnvoll ( jedenfalls umfassend) nur verstanden werden als Beiträge zu Diskursen  – also Teile von Diskursen –, und umgekehrt setzt Diskursverstehen Textverstehen voraus. Speziell relevant für das Diskursverstehen sind jedoch die Fragen: Worauf ist der Text, den ich gerade lese, eine Reaktion ? Oft ist er eine Antwort. Falls ja, worauf ? Pflichtet er bei, affirmiert er ? Wenn ja, dann was ? Was behauptet oder unterstellt er ? Und die umgekehrte, in der Affirmation implizite Frage : Was negiert er ? Oft, wenn auch nicht immer, sind Diskurse kontrovers, dann sind die Diskursbeteiligten Disputanten, die pro oder contra etwas (und vielleicht jemanden) eine Position vertreten. In der Interpretation muss das dann herausgearbeitet werden. Doch auch, wo dies nicht der Fall ist, wird man in der Diskurshermeneutik auf den Frage-und-Antwort-Charakter, auf die Aktion-ReaktionStrukturen von Diskursen achten, weil besonders sie die Intertextualität ausmachen, die konstitutiv ist für Diskurse.

4 Diskurslinguistik Was die Hermeneutik uns als Linguistinnen und Linguisten u. a. lehren kann, das ist die Einsicht: Es gibt kein schlechthinniges Verstehen. Wie auch kein schlechthinniges Erkennen. Schon unsere Wahrnehmung ist immer eine selektive. Je nachdem, worauf wir mental programmiert sind, und auch je nach unseren je gerade aktuellen Interessen achten wir entweder auf das eine oder auf das andre, mal auf dieses, mal auf jenes. Und der Rest entgeht uns. So auch beim Verstehen. Das ist aber eine Not, aus der wir eine Tugend machen können. Indem wir uns jeweils bewusst machen, was wir jetzt gerade suchen, was wir jetzt gerade finden und erkennen wollen, je nach unseren wechselnden Erkenntnisinteressen. Deshalb kann die Diskurslinguistik nicht gänzlich aus einem Guss sein. Weder in Bezug auf die Erkenntnisziele, die man in ihr verfolgt. Noch auch in Bezug auf die Methoden, die abhängig sind von den Erkenntniszielen. (Was gemeinsame Methodenschritte – wie die eben dargestellten – natürlich nicht ausschließt.)

15

Einen Eindruck von der Vielzahl und der Vielfalt solcher Fragen verschafft ein Kapitel meines Beitrags Hermanns (2003 , 151 – 154). Einerseits umfassend, andererseits übersichtlich ist ein »Textbeschreibungsmodell« (Heinemann & Heinemann 2002 , 202 – 205), in dem viele der hauptsächlichen Textelemente und -aspekte aufgeführt sind, die in Interpretationen berücksichtigt werden sollten.

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Ich habe versucht, in einer Liste zusammenzustellen, was man alles Diskurslinguistik nennen könnte.16 Denn so heißt ja der Leitbegriff dieser Tagung, der zugleich ein Suchbegriff ist. Im Verlauf der Diskussion nach diesem Vortrag ist die Liste noch nicht ergänzt worden, aber das bedeutet selbstverständlich nicht, dass sie nicht doch verlängert werden müsste. So sieht sie für mich zur Zeit aus: Diskurslinguistik – einige Spielarten – Korpuslinguistik (im engeren Sinne) – Einzeldiskursinterpretationen – Diskursstrukturanalyse – Diskursbasierte Lexikologie und Lexikographie – Linguistische Begriffsgeschichte – Begriffsgeschichtliche Zeitgeschichte – Kritische Diskursanalyse – Diskurslinguistische Rechtstheorie und Rechtsgeschichte – Linguistische Mentalitätsgeschichte – Linguistische Gesellschafts- und Kulturgeschichte Wie man schon an diesen Namen sieht, sind es tatsächlich recht verschiedene Erkenntnisinteressen, die sich in der Vielfalt diskurslinguistischer Projekte und Arbeiten geltend machen können. Dem entsprechend werden sich auch die Methoden unterscheiden. Ein Hauptunterschied besteht schon einmal darin, dass man jeweils auf anderes achtet. Hier noch einige Anmerkungen zu jeder der Spielarten. 1. Korpuslinguistik (»im engeren Sinne«, denn in einem anderen Sinne ist ja jede Diskurslinguistik – folgt man Busse & Teubert (1994) – Korpuslinguistik). Was ist unter Korpuslinguistik (im engeren Sinne) zu verstehen ? Heute wohl hauptsächlich edv-gestützte Sprachstatistik, die vor allem in der Absicht praktiziert wird, syntaktologische und lexikologische Behauptungen zu prüfen, d. h. sie zu bestätigen oder sie zu widerlegen, oder auch, sie zu relativieren. (Durch Feststellung einschränkender Parameter.) Was statistisch untersucht wird, ist jeweils ein Korpus (nach ihm heißt die Korpuslinguistik ). Dies ist eine Sammlung »natürlicher« Texte (Biber et al. 1998 , 4). Falls das untersuchte Korpus ein Diskurs ist – und das lässt sich ja vorab einrichten, obwohl die typische Korpuslinguistik diesbezüglich desinteressiert ist –, ist die Korpuslinguistik eine Unterart der Diskurslinguistik. Als Statistik braucht 16

Der Begriff ist m.W. erstmalig von Böke et al. (2000) verwendet worden. – Einen Überblick zu Schulen und Richtungen »linguistischer Diskursanalyse« geben Bluhm et al. (2000). Wengeler (2003, Kapitel 1) referiert wichtige Arbeiten sowohl inner- als auch außerlinguistischer Diskursgeschichte. Dass die Diskurslinguistik mit ihrem Interesse an Zusammenhängen zwischen Sprach-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte in der Linguistik nicht allein steht, geht hervor aus Linke (2003).

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sie keine Hermeneutik. Es wird zwar betont, dass Korpuslinguistik nicht allein darin bestehe, statistische Resultate zu erheben, vielmehr sei auch immer eine Interpretation der Resultate nötig und daher ein wesentliches Ziel der Korpuslinguistik (ebd., 5). Dabei richtet sich die Absicht dieser Interpretationen aber in der Regel17 bisher nicht auf die Beschreibung und Erklärung der Diskurse oder Texte, die das jeweilige Korpus bilden, selber (das ist durch das vorherrschende Desinteresse daran ausgeschlossen) noch auch etwa auf begriffs-, mentalitäts- oder kulturgeschichtliche Schlussfolgerungen, sondern nur auf sprachliche Strukturen. Obwohl Texte und Diskurse selber nicht interpretierend, ist die Korpuslinguistik heute eine Basis für fast alle Diskurslinguistik. Sie stellt deren übrigen Spielarten die edv-Instrumente nicht allein der Sprachstatistik, sondern auch der Belegdokumentation und Belegübersichtlichmachung (»concordancing«, Kennedy 1998 , 8) zur Verfügung. 2. Einzeldiskursinterpretationen. Die moderne (strukturale und poststrukturalistische) Linguistik interessiert sich insgesamt normalerweise nicht für die parole als solche, d. h. nicht für Einzeltexte, Einzeläußerungen oder einzelne Gespräche. Ihr Interesse gilt dem Generellen, nicht dem Individuellen, Einmaligen. Erst die Masse möglichst vieler einzelner paroles – d. h. ein Korpus – ist ihr untersuchenswürdig, nur in einer solchen Masse nämlich lassen sich die sprachlichen Strukturen, auf deren Beschreibung die moderne Linguistik aus ist, als allgemeingültige erweisen: phonologische, grammatische und lexikalische Strukturen, neuerdings auch Text- und Dialogstrukturen. Individuelles wurde von der typisch strukturalen Linguistik allenfalls als »Ausnahme« beachtet. Deshalb wird es wohl noch eine Weile dauern, bis sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die Interpretation einzelner Texte, Äußerungen, Dialoge und Diskurse zu den Aufgaben der Linguistik gehört. Sie kann darin unter Beweis stellen, dass ihre Begriffe und Einsichten dazu taugen, Texte und Diskurse besser verstehbar zu machen. Das ist allerdings nur ein – wenn auch erwünschter – Nebeneffekt. Die Hauptsache dabei muss sein, dass sie so zum besseren Verständnis wichtiger und interessanter Texte und Diskurse wirklich etwas Wesentliches beiträgt und damit gesamtgesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Bedarf befriedigt. Der Bedarf an besseren, an einleuchtenden Interpretationen – ob von Texten, Äußerungen, Dialogen oder von Diskursen  – ist allgegenwärtig und unendlich. Wo sie ihn bedient, da ist die Linguistik auch für NichtsprachwissenschaftlerInnen evidentermaßen sinnvoll, nämlich nützlich. Hier kann sich ihr Angebot nach der Nachfrage richten. Tut es das, dann hört die Linguistik auf, in ihrem eigenen Saft zu schmoren. – Gibt es in der deutschsprachigen Linguistik Einzeldiskursinterpretationen ? In der Düsseldorfer Schule (Stötzel, Wengeler, Jung, Liedtke, Böke und Niehr) zahlreich. (Darauf komme ich noch kurz zu sprechen, s. u., Punkt 17

Ausnahmen sind Aufsätze von Wolfgang Teubert (u. a. Teubert 1998).

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6.) Aber auch sonst gibt es in der deutschsprachigen Linguistik solche Interpretationen, wenn auch manchmal noch nicht unter diesem Namen.18 3. Bei dem Stichwort Diskursstrukturanalyse habe ich zuerst an Josef Klein gedacht, und zwar an einen Aufsatz (Klein 2002), wo er darlegt, dass sich in politischen Diskursen die Grundelemente jeden Handelns – nicht nur des politischen – abbilden, in der Argumentation und in der Lexik. Denn es geht in ihnen hauptsächlich um (meistens zukünftiges) Handeln, das geplant wird mittels einer Situationsanalyse, der Besinnung auf die eigenen Prinzipien und Werte, der aus diesen beiden sich ergebenden Situationsbewertung , einer Zielbestimmung für diejenigen Aktionen, die vorgehabt werden sollen, einer Festlegung der Art und Weise des Vorgehens und der dafür einzusetzenden Ressourcen (und um deren Kosten ), um die Abschätzung voraussichtlicher Nebenfolgen (sie sind oft gravierender als die erstrebten Folgen) und last not least die Bestimmung der für die Durchführung der beabsichtigten Handlung vorzusehenden Akteure. Das (in meiner eigenen Formulierung – die Begriff lichkeit von Klein ist z. T. etwas anders – und mit einigen Zusätzen) sind die Strukturelemente jeder Handlungsplanung und deshalb auch hochwahrscheinliche und hochfrequente Elemente politischer Argumentationen. Es empfiehlt sich also, auch bei Einzeldiskursanalysen (d. h. Einzeldiskursinterpretationen) systematisch insbesondere auf sie zu achten. – Völlig anders ist die Art von Diskursstrukturanalyse, wie sie von Frank Liedtke (in diesem Band)* erstmals, wenn ich richtig sehe, vorgeführt und so inauguriert wird. Sie ist eine Diskursverlaufs-Strukturanalyse. (Illustriert an einem Beispiel, deshalb ist sie zugleich eine Einzeldiskursanalyse, aber das gilt ebenso für den zitierten Aufsatz von Klein.) 4. Ihre eigene, besondere Methodik hat die Lexikographie, als ursprüngliche Form von aller Lexikologie.19 Beide müssen diskurslinguistisch fundiert werden jedenfalls dann, wenn Bezeichnungen oder Bedeutungen diskursspezifische Funktionen haben. Der jeweilige Diskurs ist dann nämlich der kommunikative Ort, an dem allein sie sinnvoll waren oder noch sind. Um den Sinn, den diese Bezeichnungen oder Bedeutungen hatten oder haben, angeben zu können, muss man deshalb auch diesen Diskurs benennen und eventuell beschreiben. Dann muss man auch die historische Konstellation rekonstruieren, in der dieser Diskurs stattfand oder noch stattfindet. (Wobei die Konstellation auch umgekehrt durch den Diskurs geprägt wird.) Insbesondere sind dann die politischen und die ideologischen Zusammenhänge nachzuzeichnen, in de*

Anmerkung der HerausgeberInnen: Der Autor bezieht sich hier auf den mündlichen Vortrag von Frank Liedtke, der in der schriftlichen Version nicht in dem Tagungsband enthalten ist.

18

Exemplarisch sind zwei Bücher von Dietz Bering (Bering 1978, Bering 1987).

19

Lexikologie verstanden hier nicht als die Theorie des Wortes, sondern als empirische Beschreibung der Bedeutungen von Wörtern. – Das »Handwerk der Lexikographie« wird dargestellt von Schaeder (1987 , 129 – 144).

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nen die jeweiligen Wortverwendungsweisen ihre Funktion hatten oder haben. Nur so sind parteiische Bedeutungs- und Bezeichnungskonkurrenzen (Klein 1989) zu erklären, wie wir sie in kontrovers verlaufenden Diskursen regelmäßig finden. Und auch solche damit eng verwandten sprachlich-pragmatischen Phänomene wie z. B. Kampf begriffe, Zielbegriffe, Bewegungsbegriffe usw. (Koselleck 1972), brisante Wörter, Fahnenwörter, Stigmawörter usw. (Hermanns, zuletzt 1994) und kontroverse Begriffe (Stötzel & Wengeler 1994), Interpretationsvokabeln, Legitimations-, Vorwurfs-, Integrationsvokabeln usw. (Böke 1996) sind nur diskurslinguistisch angemessen darzustellen. 5. Linguistische Begriffsgeschichte. Linguistisch-philologische Begriffsgeschichte ist keine Erfindung von SprachwissenschaftlerInnen, sondern wird sogar bis heute vorwiegend betrieben in den universitären Disziplinen Philosophie und Geschichte. Für die deutschsprachige Linguistik das monumentale Vorbild sind die Geschichtlichen Grundbegriffe (Brunner et al. 1972 – 1997) inklusive deren Programmatik (Kosellek 1972). Was in diesen sowie anderen begriffsgeschichtlichen Werken praktiziert wird, heißt nicht Linguistik, aber ist es (wie bei Frevert schon gesehen), ob nun philologisch gute oder nicht so gute. In der Linguistik ist zuerst von Dietrich Busse (1987) der Gedanke zum Programm erhoben worden, dass Begriffsgeschichte als Diskursgeschichte angelegt und ausgeführt werden muss. Nur so kann sie ihrem Telos – die »Deutungssysteme« zu beschreiben, die das Denken, Fühlen, Wollen, Handeln von gesellschaftlichen Gruppen lenken, zu beschreiben (s. o., Kap. 2) – gerecht werden. (Damit war zugleich der neue Begriff von Diskurs in die deutschsprachige Sprachwissenschaft so überzeugend eingeführt, dass wir ihn aus ihr heute gar nicht mehr wegdenken können.) 6. Linguistisch-politologische Zeitgeschichte. Während die Kasellecksche Begriffsgeschichte hauptsächlich an den begriffsgeschichtlichen Veränderungen großer Wirkung sowie langer Dauer, insbesondere an »Epochenschwellen«, interessiert war – das gilt allerdings nur für die Programmatik –, ist die in der deutschen Linguistik zu Recht meistbeachtete Begriffsgeschichte Zeitgeschichte. Gemeint ist diejenige der Düsseldorfer Schule mit den Arbeiten von Stötzel, Wengeler, Jung , Liedtke, Böke und Niehr.20 Diese sind als Einzeldiskursanalysen (s. o., Punkt 2) zu verstehen, aber mit betontem Interesse an politischer Semantik, wo das Augenmerk sich auf kontroverse Begriffe (s. o., Punkt 4) richtet, in der letzten Zeit auch auf Metaphern und auf Argumentationen. 20

U. a. Wengeler (1992), Niehr (1993), Jung (1994), Stötzel & Wengeler (1995), Böke et al. (1996 ), Niehr & Böke (2000); innovativ argumentationshistorisch Wengeler (2003), innovativ international vergleichend (Deutschland, Österreich, Schweiz) Niehr (2004). Neu in der Darstellungsform ist Stötzel & Eitz (2002) als ein »zeitgeschichtliches Wörterbuch«. Jeder Wörterbuchartikel referiert ein Stück deutscher politischer Diskursgeschichte (1945 – 2000) im Zusammenhang der jeweiligen historischen Voraussetzungen und Wirkungen.

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7. Linguistische Mentalitätsgeschichte. Für die linguistische Mentalitätsgeschichte sind Diskurse nicht die eigentlichen Gegenstände des Interesses, sondern die aus den jeweils betrachteten Diskursen zu erschließenden, in ihnen sich ausdrückenden Mentalitäten als Gewohnheiten des kollektiven Denkens, Fühlens, Wollens oder Sollens (Hermanns 1995). Linguistisch sind sie nur diskurshistorisch zu ermitteln, denn nur in Diskursen können sich die Usualitäten von Sprech-, Denk-, Fühl-, Wollensweisen sprachlich zeigen, nämlich in der Serialität der sie zum Ausdruck bringenden sprachlichen Phänomene. Das Hauptbeispiel ausgeführter linguistischer Mentalitätsgeschichte ist ein Buch von Angelika Linke (s. u., Punkt 10). 8. Kritische Diskursanalyse. Ohne Zweifel wichtig für die Diskurslinguistik insgesamt ist die kritische Diskursanalyse (in der ich mich aber nicht auskenne). Von den anderen diskurslinguistischen Spielarten unterscheidet sie sich u. a. z. T. a) durch Internationalität (sie wird nicht nur im deutschen Sprachraum praktiziert); b) ihren Diskursbegriff: das Wort Diskurs wird in ihr z. T. verwendet wie das englische Wort discourse, sodass etwa auch Alltagsgespräche, Privatdiskussionen oder auch (von InterviewerInnen provozierte) Einzeläußerungen von Privatpersonen in die Untersuchung einbezogen werden können, aber auch als ein Begriff für kollektive »Wissensformen« (Wodak 2002 , 8); c) durch ihren Gegenwarts- bzw. Zeitgeschichtsbezug ; d) ihr vorwiegendes Interesse an Mentalitäten (u. a. an gegenwärtigem Rassismus und Nationalismus) – so ist sie zwar nicht Mentalitätsgeschichte, aber Mentalitätsforschung ; e) sie ist (daher ihr Name) »kritisch«. Dieser Begriff wird in einem Überblicksartikel von Ruth Wodak (dem ich alle dies entnehme) u. a. erläutert als Selbstkritik implizierend (Reflexion auf die gesellschaftliche Rolle der Forschenden), andererseits als Gesellschaftskritik implizierend (»explizit politisch Stellung nehmend«) und daher politisch und sozial engagiert (ebd., 8 f.).21 9. Diskurslinguistische Rechtstheorie und Rechtsgeschichte. Bislang gibt es m.W. erst zwei Linguisten, die juristische Diskurse analysiert haben, nämlich Dietrich Busse (u. a. Busse 1992, Busse 1993) und Ekkehard Felder (öffentliche außerjuristische Reaktionen auf den binnenjuristischen Diskurs einbeziehend) (Felder 2003). Hauptsächlicher Gegenstand der Analyse sind Urteile von Gerichten (von Amtsgericht bis Verfassungsgericht) – also Texte – zu jeweils bestimmten Fällen und Fallgruppen – also Themen –, wobei spätere Urteile sich auf die früheren Urteile z. T. explizit beziehen (sodass diese Texte ihre eigene Intertextualität anzeigen).22 In den Untersuchungen 21

Wodak informiert auch über hauptsächliche Schulen und nächste Agenda der kritischen Diskursanalyse.

22

Ich empfehle zur ersten Orientierung (kurz, prägnant und leserInnenfreundlich) Busse (1991).

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wird Rechtsgeschichte diskurslinguistisch konkret nachgezeichnet. Das macht darüber hinaus jedoch auch Feststellungen möglich, die rechtstheoretisch von Belang sind. 10. Linguistische Gesellschafts- und Kulturgeschichte. Zum Schluss – etwas ausführlicher – ein weiteres Beispiel praktizierter Diskurslinguistik, zugleich als ein Beispiel für die Möglichkeiten linguistischer Gesellschafts- und Kulturgeschichte.23 Das Buch Sprachkultur und Bürgertum von Angelika Linke (1996 ) untersucht in dem Kapitel über »Komplimente« Höf lichkeitsbezeugungen, speziell beim Grüßen, die im Ancien Régime noch hauptsächlich körperlich vollzogen wurden, u. a. – wenn von Männern – in der Form des Hut-Abnehmens und des Sich-Verbeugens, aber genau durchgeregelt hinsichtlich Fußstellung, Kopf-, Hand-, Arm- und Körperhaltung und -bewegung, je nach Rang und Stand des Gegenübers aufwendiger oder weniger aufwendig. Schon im 18. Jahrhundert werden diese Formen kritisiert, im 19. Jahrhundert aufgegeben. Ersetzt werden sie weitgehend durch sprachliche Rituale. Von den körperlichen Formen bleiben zwar das Hut-Abnehmen und das Sich-Verneigen übrig, aber stark vereinfacht. Der Befund ist also der: Ein ausgefeiltes körperliches Kommunikationsverhalten wird ersetzt durch ein partiell funktionsäquivalentes hauptsächlich verbales. Deshalb ist der Befund kommunikationshistorisch, also auch kulturhistorisch, aber nicht diskursgeschichtlich (es sei denn im Sinne der Geschichte des Alltagsdiskurses). Die Methode, die zu ihm geführt hat, war jedoch diskurshistorisch (in unserem Sinne). Der Diskurs, den Linke dazu untersucht hat, ist derjenige der Anstandsbücher jener Zeit – der Benimm-Bücher, wie wir vielleicht sagen würden –, den sie aber nicht nur unter kommunikationsgeschichtlichen Aspekten, sondern auch semantisch untersucht hat. In ihm zeigt sich etwa, was zu einer ganz bestimmten Zeit als (vorbildliches) Kompliment galt. Durch die Einbeziehung 23

Die Beiträge des zum Thema diskurslinguistische Kulturgeschichte einschlägigen ( geht man nach dem Titel) Bandes Sprachgeschichte als Kulturgeschichte (Gardt et al. 1999) gehen auf Diskurse nicht ein, manche setzen aber eine diskurslinguistische Betrachtung ihrer Quellen voraus.  – Linguistische »Sozialgeschichte« oder »Gesellschaftsgeschichte« ist nach seiner Absicht und Durchführung das Werk Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart (Polenz 1991 – 1999) von Peter von Polenz. Viele der dort (insbesondere im dritten Band) z. T. ausführlich referierten Arbeiten sind diskurslinguistisch. – Ein (potenziell) weites Feld ist die linguistische Technikgeschichte (vielleicht kann man sie so nennen) als ein Teilgebiet der linguistischen Kulturgeschichte. Karlheinz Jakob, deren (wenn ich richtig sehe) Initiator ( Jakob 1991), verfährt (wenn auch ohne den Begriff Diskurs schon zu verwenden) durchaus diskurslinguistisch, wenn er (neben anderen Quellen) systematisch Serien von einerseits Lehrwerken, andererseits Nachschlagewerken (Lexika und Wörterbücher) darauf hin befragt, wie sich in ihnen das technische Wissen (in Bezug auf ausgewählte technische Geräte) ihrer Zeit für Laien und Experten sprachlich darstellt (ebd., 117). Daraus schließt er aber nicht nur auf die »mentalen Modelle«, die man (speziell von Maschinen und von deren Funktionieren) jeweils hatte – insoweit ist sein Buch auch mentalitätsgeschichtlich –, sondern informiert uns auch technikhistorisch. So ist sein Buch eine Art »Synthese« von »Technik-, Begriffs- und Textgeschichte« (ebd., 107) und eine Diskursgeschichte, die uns abermals beweist, wie interessant die diskurslinguistische Kulturgeschichte sein kann.

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eines weiteren Diskurses, also einer zusätzlichen seriellen Quelle, nämlich desjenigen der gleichzeitigen deutschsprachigen Wörterbücher, konnte Linke den Befund der Interpretation der Anstandsbücher bestätigen. Sie bewies z. B., dass man unter einem Kompliment im 18. Jahrhundert wirklich etwas völlig anderes verstand als später und als heute. Linke schrieb also auch Wortgeschichte (Bedeutungsgeschichte), die in ihrem Ablauf aber andererseits erst verständlich wurde durch Beschreibung eines Kommunikationsverhaltens, das sich zeitgleich gleichfalls veränderte. Linke musste, um sie beide zu verstehen, zwischen diesen zwei Diskursen eine Verbindung herstellen. – Vom Resultat her gesehen, scheint das Buch von Linke hermeneutisch einfach. Sie erklärt uns sämtliche Zitate, alle heute ungebräuchlichen Bedeutungen von Wörtern, alle für uns befremdlichen Phänomene, die sie darstellt. Doch im Prozess der Erarbeitung ihres Buches war das sicherlich ganz anders. Man traut seinen Augen ja zuerst nicht, wenn man beispielsweise liest, dass Komplimente auch mit »schicklichen Geberden« gemacht werden können (ebd., 105). Oder wenn ein Buch des 18. Jahrhunderts fragt, »ob man in Conversation reden solle« (ebd., 133). Erst allmählich wird sie sich in diese uns so fremde Welt und Sprache – erst des Adels im 18., dann des Bürgertums im 19. Jahrhundert – hineingedacht haben. Bis die Hypothese da war: Es gab einen revolutionären Umbruch in der Art des Kommunikationsverhaltens. Und aus dieser kommunikationshistorischen Feststellung ergaben sich weitere Suchfragen. Gab es eine ideologische Begleitung dieses radikalen Wandels ? Ja, die gab es. Natur war ihr Schlagwort. Die aristokratischen Verhaltensformen wurden denunziert als »affektirt« und nicht »natürlich« (ebd., 77 ff.). Zeigt sich in der vorherrschenden Sprachlichkeit des bürgerlichen Grußverhaltens eine allgemeine Tendenz steigender Wertschätzung von sprachlicher Etikette ? In der Tat, so ist es (ebd.: passim). Solche Fragen konnten aber nicht allein aus Anstandsbüchern beantwortet werden, weitere Diskurse mussten beigezogen werden. Daraus ergaben sich wieder neue Fragen und Antworten, bis sich die Autorin irgendwann gesagt hat: So, jetzt reicht es erstmal, hierbei muss ich es belassen. Klar sein dürfte, dass in allen aufgezählten Spielarten der Diskurslinguistik – ausgenommen nur der ersten – ein Erhebliches an Interpretation geleistet werden muss. Bei Einzeldiskursanalysen ist die Interpretation sogar der Hauptzweck, bei den anderen Spielarten eine Voraussetzung des Gelingens des Vorhabens. Hierbei schärfen linguistische Begriffe und Einsichten den Blick, und Sprachwissen ist für alles Textverstehen sowieso eine Bedingung. Zu betonen ist jedoch auch: Die Sprachwissenschaft allein reicht nicht zum Interpretieren von Diskursen. Man muss sich dafür schon auch sachkundig machen. Dreierlei Weltwissen muss man dazu haben oder sich verschaffen: erstens Wissen über den Weltausschnitt, in dem sich ein Diskurs abgespielt hat ; zweitens Wissen über den Weltausschnitt, über den darin verhandelt wurde, und zwar als heutiges (möglichst

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wissenschaftlich begründetes, für uns objektives) Wissen; drittens Wissen über Wissen, nämlich dasjenige der DiskursteilnehmerInnen, also Metawissen über deren Wissen (Denken, Meinen) über diejenigen Weltausschnitte, die in dem jeweiligen Diskurs verhandelt wurden; und auch über deren Wollen sowie Fühlen, d. h. mentalitätsgeschichtliches Wissen. Die Beschaffung alles dieses Wissens ist manchmal recht zeitaufwändig , aber meistens möglich. Wo nicht, sollte man auch nicht interpretieren wollen, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Ohne solches Wissen ist man dazu nicht geeignet.

5 Hermeneutik und Rhetorik In der linguistischen praktischen Hermeneutik geht es fast nie nur um unser jeweils eigenes Verstehen, sondern meistens mehr noch um das darauf folgende Interpretieren.24 D. h. darum, unser eigenes Verstehen anderen Leuten zu vermitteln. Meist in Form von Texten – u. a. Wörterbuchartikeln, Büchern, Aufsätzen, Vorträgen. Also in Form von Sprechakten oder kleineren und größeren Sprachwerken. Auch mit Gesten kann man mancherlei verständlich machen oder mit Zeichnungen. Aber wir – als Linguistinnen und Linguisten – praktizieren unsere ars explicandi in der Regel sprachlich, also redend oder schreibend. Dieses unser Reden oder Schreiben ist nun aber – ob wir wollen oder nicht, ob wir das wissen oder nicht – Rhetorik.25 Nämlich praktizierte Kunst des Redens oder Schreibens. Sie ist Teil unserer beruf lichen Praxis. Also könnte man auch sagen: unserer Methodik. Auch im Fall der Diskurslinguistik und der Diskurshermeneutik. Wenn der Endzweck unseres diskurshermeneutischen Bemühens eine Interpretation ist, dann muss sie, wenn sie erfolgreich sein soll, den Grundregeln des sinnvollen Sprechens oder Schreibens folgen. Es ergibt sich daraus eine ganze Menge an methodischen Empfehlungen, die gänzlich anders sind als die Empfehlungen zur Optimierung unseres je eigenen Verstehens. Denn hier geht es um die Optimierung des Verstehens unserer Adressaten. Insbesondere gelten hier für unsere Arbeit die Grice’schen Maximen. Nehmen wir die erste. Man soll nicht zu wenig sagen, aber auch nicht zu viel. Aber was und wie ausführlich wir jeweils erklären müssen, das ist eben ganz und gar abhängig von den Adressaten, an die wir uns wenden – den mutmaßlichen, von uns erhofften Leserinnen oder Lesern unserer Interpretationen (s. o., Kap. 1). Schreiben wir speziell für drei, vier Spezialisten, deren Wissens- und Verstehensstand wir ziemlich genau kennen ? Oder für

24

»Darauf folgend« ist es allerdings nur in schematisierender Betrachtung , denn wir wissen alle – denke ich mir – aus Erfahrung , dass sich unser eigenes Verstehen oft verändert, wenn wir es anderen erklären. In der expliziten Formulierung wird es schärfer, oft auch reicher.

25

Oder Dialektik. Unter diesen beiden Titeln hat schon Schleiermacher das Interpretieren (die ars explicandi) abgehandelt (Biere 2005).

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weitere Kreise, vielleicht auch von Nichtfachleuten ? Diese Frage müssen wir uns immer stellen: Für wen wird von uns geschrieben ? Sie stellt sich auch dann, wenn wir von Grice gesagt bekommen, dass unsere Äußerungen »relevant« sein sollen. Das Wort relevant bezieht sich einerseits auf den Diskurs, in den wir uns mit unserem Diskussionsbeitrag einreihen wollen. Andererseits auf die Adressaten. Die sind letztlich die Instanz, die ganz allein entscheidet, ob das, was wir sagen, für sie relevant ist . Ich kann hier das Thema Hermeneutik und Rhetorik nur anreißen. Der Begriff Methode in seiner Bedeutung »sicheres Verfahren zur Gewinnung von Erkenntnis« trägt bei zur Erzeugung der Erwartung : Wenn ich alles richtig mache, wird am Ende schon etwas Berichtenswertes dabei herauskommen. Das ist aber ganz falsch. Nein, man muss vom Ende her anfangen. Zuerst überlegen, wie ein interessantes Buch oder Aufsatz aussehen könnte, den man selber gerne lesen würde. Was dessen mögliche Hauptgedanken wären. Und sich seine Hypothesen und Suchfragen schon von vornherein von diesem Ende her so formulieren, dass man bei der Arbeit dauernd auf der Suche bleibt nach interessanten Ergebnissen. Dann wird diese Arbeit auch aufregend sein für einen selber. Man sucht dauernd etwas, und man freut sich immer wieder, wenn man etwas findet. Was die LeserInnen unserer Arbeiten angeht: Auch sie wollen auf Ergebnisse gespannt sein und sich über für sie überraschende, erhellende Einsichten und Formulierungen freuen können. Dazu verhilft ihnen die Rhetorik unserer Darstellung. Traditionell ist die Linguistik ebenso rhetorikfeindlich wie der Hermeneutik abhold. Aber auch das könnte sich ja ändern.

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Lexikalische Semantik und Lexikographie : Jenseits von Kognition

Kognition, Emotion, Intention Dimensionen lexikalischer Semantik

Vorbemerkung 1 Ich bin zu dieser Tagung eingeladen worden und zu diesem Referat, damit ich ein Kontrastprogramm bestreite. Diese Tagung sucht ja sonst das Wesen lexikalischer Semantik im Bereich des Kognitiven. Das sagt jedenfalls ihr Titel, demzufolge die Ordnung der Wörter wesentlich in einem irgendwie gearteten Zusammenhang von kognitiven und lexikalischen Strukturen aufzufinden ist. In einem Vortrag aber sollte auch das Andere der lexikalischen Semantik abgehandelt werden, also neben Kognition auch Emotion und Intention; mit anderen Worten: neben Denken und Erkennen auch das Fühlen und das Wollen, wie es sich in Sprache und in Lexik ausdrückt. Ich bezeichne Kognition und Emotion und Intention als Dimensionen lexikalischer Semantik. Damit möchte ich betonen, daß es in der lexikalischen Semantik nicht allein auf Kognitionen, sondern ebenso auf Emotionen und auf Intentionen ankommt weil sie wie ich gern plausibel machen möchte, in der Lexik ebenso versprachlicht sind wie Kognitionen. Und zwar nicht nur sozusagen nebenbei, wie das der Terminus Konnotation besagt.2 Manchmal werde ich die Dimensionen lexikalischer Semantik kürzer auch die Zeichendimensionen nennen.3 Dieser Beitrag ist erstmals 1995 erschienen in: Harras, Gisela (Hg.): Die Ordnung der Wörter. Kognitive und lexikalische Strukturen. Jahrbuch 1993 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/New York, 138 – 178. 1

An der Form des Vortrags habe ich in dieser redigierten Fassung meines Beitrags nur Retuschen angebracht und sie im wesentlichen beibehalten. Zur Vermeidung von Irritationen weise ich hier noch auf Folgendes hin: Kursivschreibung benutze ich oft auch da, wo ich ein Wort verwende (also nicht nur da, wo ich zitiere), nämlich dann, wenn ich die Aufmerksamkeit bei der Lektüre auf das Wort (statt nur auf die gemeinte Sache) lenken möchte, außerdem benutze ich sie zur Betonung.

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Konnotation ist ein Begriff, den ich im folgenden vermeide. Erstens und vor allem wegen der ihm inhärenten Abwertung der Wichtigkeit der emotiven (und der präskriptiven) Komponenten der Bedeutung von Lexemen ; Dieckmann (1979, 112) gibt zu recht als Hauptbedeutungsmerkmal von Konnotation in zeitgenössischer Verwendung an : »nicht oder nur am Rande zum Gegenstandsbereich der lexikalischen Semantik gehörig« (aus demselben Grunde werde ich auch den Begriff Gefühlswert (Erdmann 1900) nicht verwenden). Zweitens wegen seiner Mißverständlichkeit ; Dieckmann (1979, 100) nennt den Diskussionsstand »schlicht chaotisch«. Zwar hat Rössler (1979) den Versuch gemacht, Konnotation durch Klärung des Begriffs zu retten, aber das Ergebnis des Versuchs fällt, scheint mir, so aus, daß man nun den Terminus erst recht nicht mehr verwenden möchte. Einen Überblick über die jüngere Diskussion gibt Ludwig (1991, 5 ff.).

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Wenn ich Kognition und Emotion und Intention die Zeichendimensionen nenne, knüpfe ich an Bühler (s. u.) an, der in Bezug auf seine Trias von Darstellung , Ausdruck und Appell selber von den Dimensionen – und zwar Sinndimensionen – des sprachlichen Zeichens gesprochen hat (vgl. Ammann 1988, 55). Mit Verweis auf Büh-

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Meine Trias von Begtiffen wird Sie wohl ein wenig irritieren, weil es ungewöhnlich ist, daß man, in einem Atemzuge sozusagen, Kognition und Emotion und Intention zusammenfaßt. Ich werde das erklären. Vorerst möchte ich Sie darum bitten, diese Trias einfach einmal hinzunehmen. Und sich einzulassen auf den folgenden Gedankengang, bei dem es also um die Relevanz von Emotionen und von Intentionen für die lexikalische Semantik gehen soll. Um die, wie ich sagen möchte, lexikalisierten Emotionen und die lexikalisierten Intentionen. Denn daß Kognitionen lexikalisiert sein können, das ist linguistischer Konsensus, und ich brauche das nicht eigens auszuführen. Ich beginne damit, daß ich erstens etwas sage zum Zusammenhang von Kognition und Emotion und Intention in Äußerungen, also vorab etwas sage zum Zusammenhang der Zeichendimensionen lediglich in der parole, und nicht schon in der langue. Zweitens rede ich vom emotiven Anteil in der lexikalischen Bedeutung eines Wortes, also von den lexikalisierten Emotionen. Überleitend führe ich dann drittens etwas aus zur Frage des Zusammenhangs von Intention und Präskription, d. h. zur Frage des semantischen Zusammenhangs von Wollen einerseits und Sollen andererseits, die nämlich evidentermaßen so zusammenhängen, daß ein ausgesagtes Sollen übereinstimmt mit dem Wollen dessen, der es aussagt; so daß ausgesagte Präskriptionen in direkter Weise Intentionen (eines Sprechers in Bezug auf Tun und Lassen seines Adressaten) zeigen. Viertens geht es mir dann um den präskriptiven Anteil in der lexikalischen Bedeutung eines Wortes, also um die lexikalisierten Präskriptionen, die jedoch nach dem zuvor Gesagten gar nichts anderes sind als lexikalisierte Intentionen. Fünftens und abschließend deute ich im Wege eines Ausblicks an, worauf sich der Zusammenhang von Kognitionen, Emotionen, Intentionen gründen könnte.

1 Kognition und Emotion und Intention in Äußerungen Zum Zusammenhang von Kognition und Emotion und Intention in Äußerungen: um ihn darzulegen, möchte ich das Bühlersche Szenario verbaler Kommunikation benutzen, also Bühlers Organon-Modell der Sprachverwendung (Bühler 1934, 28). Ich rufe dazu Bühlers Schema in Erinnerung, wobei ich aber einige Akzente anders setze, als das Bühler selbst tut. Bühlers Schema hat, Sie wissen es, auf seiner linken Seite eine Position für einen Sprecher, Bühler nennt ihn Sender ; auf der rechten Seite eine Position für einen Hörer, Bühler sagt Empfänger ; oben oder hinten hat es eine Position für das, worüber in der Kommunikation gesprochen wird, die Gegenstände oder Sachverhalte.

ler redet auch Max Black (1973, 153 ff.) von drei Dimensionen der Sprache , die er als die präsentative , expressive und dynamische bezeichnet. – Diese Zeichendimensionen sind nicht zu verwechseln mit den (im Anschluß an Morris 1938) manchmal (so von Vigener 1978) so genannten semiotischen Dimensionen (nämlich Syntax , Semantik und Pragmatik ).

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In der Mitte schließlich ist ein Kreis mit einem Dreieck, dessen Seiten den genannten Positionen zugekehrt sind. Gegenstände und Sachverhalte

Darstellung

Appell

Ausdruck

Z

Sender

Empfänger

Dieser Kreis mit Dreieck steht nun für die Zeigehandlung, wie ich sie hier nennen möchte, Bühler nennt sie Zeichen. Der Kreis symbolisiert das je konkrete Schallereignis (token), aber wie es wahrgenommen wird als einem Typ von Zeigehandlung zugehörig, dafür steht das Dreieck. Kreis und Dreieck überschneiden sich, und das versinnbildlicht, daß bei der Perzeption der Zeigehandlung einerseits das Wahrgenomme in seiner Vielfalt auf das für den Typ der Zeigehandlung Relevante reduziert wird (Bühler spricht von dem Prinzip der abstraktiven Relevanz ), andererseits jedoch nach Maßgabe des Typs der Zeigehandlung umgekehrt auch komplettiert wird (Bühler spricht von einer apperzeptiven Ergänzung ). Eine Äußerung ist, so betrachtet, die vokale und verbale Zeigehandlung, die ein Sprecher ausführt und ein Hörer wahrnimmt (aber auch der Sprecher selber wahrnimmt), wie er sie im Wege der Gestaltbereinigung (d. h. der Reduktion auf die Gestalt) und der Gestaltergänzung (Ergänzung zur Gestalt) einem Typ der Zeigehandlung zugeordnet hat, d. h. erkannt hat.4 Ich lasse jetzt den Sprecher eine solche Zeigehandlung machen. Um ein allgemein bekanntes Beispiel vorzuführen, lasse ich den Sprecher rufen: Hilfe ! Hilfe ! 4

Die Begriffe der Gestaltbereinigung und der Gestaltergänzung bilde ich, obwohl hier (1934, 28) Bühler offensichtlich den Begriff Gestalt bewußt vermeidet – sehr wahrscheinlich deshalb, weil er sich gegen die »Berliner Gestaltpsychologie« mit ihren »prinzipienmonistischen Neigungen« (Bühler 1934, 56) abgrenzen will. Heute haben wir ein solches Abgrenzungsbedürfnis nicht mehr, und die Linguistik kann von der Zurkenntnisnahme der gestaltpsychologischen Einsichten nur gewinnen, wie besonders Lakoff  & Johnson (1980) zeigen ; man vgl. dazu Liebert (1992, 12 ff.), der auch einen Überblick über die »Gestaltgesetze« gibt und auf die neuere gestaltpsychologische Literatur verweist.

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Bühlers Paradox: ein Zeichen ist drei Zeichen Inwiefern ist dieser Hilferuf ein Zeichen ? Das ist in der Tat die Frage Bühlers. Nun, ein Zeichen ist ein Zeichen, insofern es etwas – das Gezeigte – zeigt, das wußte man schon immer. Und zwar etwas anderes zeigt als nur sich selber. Insofern man daraus schließen kann auf das Gezeigte (wenn auch nicht im Wege eines deduktiven Schlusses, wie ich vorsichtshalber hier betone), so sagen es Prieto (1975, 18) ebenso wie Keller (1992, 327). Was bei Bühler nun epochemachend neu ist gegenüber einer Tradition der Semiotik seit der griechischen Antike ist, Sie wissen es, daß Bühler sagt: Die Äußerung ist nicht nur ein fach Zeichen, sondern drei fach. Denn sie zeigt als Zeigehandlung uno actu dreierlei Verschiedenes. Gegenstände oder Sachverhalte stellt sie dar, wie Bühler sagt. Selbstverständlich nicht die Gegenstände oder Sachverhalte selber, wie sie etwa »objektiv« bzw. »wirklich« wären, sondern so, wie sie der Sprecher denkt bzw. wahrnimmt, also wie sie sind in dessen Kognition. Und auch diese Kognition zeigt sie natürlich nur, soweit der Sprecher sie versprachlicht. Hier in unserem Beispiel ist das Dargestellte etwa: Hier ist jemand in Gefahr. Ich brauche dringend Beistand. Es ist also nicht so, daß der Hilferuf darstellungsfunktional als solcher leer ist; vielmehr sagt er das Bestehen eines Sachverhaltes (nämlich einer Notlage) mit aus, wenn er ihn auch nicht (im Sinne einer Assertion) behauptet.5 Darin, daß es Gegenstände oder Sachverhalte darstellt, besteht die Darstellungsfunktion bzw. die Symbolfunktion, wie Bühler sagt, des Zeichens. Vermöge derer ganz allein es schon ein Zeichen wäre. In Bezug auf ihren Aktor ist die Zeigehandlung Ausdruck oder auch Symptom, insofern hat sie eine Ausdrucks- oder auch Symptomfunktion, so nennt es Bühler. Was sie bezüglich ihres Aktors zeigt, das kann so manches sein, doch insbesondere zeigt sie auch die Emotion des Aktors.6 In unserem Beispiel ist die Emotion die Angst, die zu dem Hilferuf dazugehört. Denn wenn er keine Angst zum Ausdruck bringt, dann ist der Hilferuf als Hilferuf mißlungen. Und vermöge dessen, daß die Zeigehandlung Ausdruck ist von etwas, ist sie abermals ein Zeichen.

5

Wenn man hier den Test von Keller (1977, 9 ff.) und Lang (1983, 333 ff.) verwendet, sieht man, daß bei Nichtbestehen dieses Sachverhaltes man dem Sprecher nicht den Vorwurf einer Lüge , sondern einer Täuschung machen würde ; das bestätigt, daß der Modus des mit-ausgesagten Sachverhalts im Fall des Hilferufes nicht der Modus der Behauptung ist. Gleichwohl handelt es sich aber dann um eine Täuschung in Bezug auf Gegenstände /Sachverhalte , also in der Zeichendimension der Darstellung im Sinne Bühlers. Hier von einer Präsupposition zu sprechen, ist zu wenig, denn im Hilferuf wird nicht bereits ( gewissermaßen als bekannt) vorausgesetzt, daß eine Notlage besteht ; deren Bestehen wird ja erst durch den Hilferuf selbst kundgetan.

6

Bühler (1934, 28) sagt vom Zeichen als Symptom bzw. Ausdruck nur, es sei ein solches Zeichen »kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt«. Zu Innerlichkeit merkt er an anderer Stelle (1933, 110) an, daß dazu »nicht nur aktuelle Erlebnisse, sondern der Inbegriff all der Momente gehören, aus denen Klages den Charakter logisch auf baut«. Demgegenüber wird im folgenden als Ausdruck nur der Ausdruck einer Emotion (eines Gefühls ) verstanden.

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In Bezug auf ihren Adressaten schließlich zeigt die Zeigehandlung, was der Sprecher möchte, daß der Hörer tun soll. Bühler spricht von der Appellfunktion bzw. der Signalfunktion des Zeichens, die in unserem Beispiel sozusagen explizit ist. Hilfe ! Hilfe ! heißt: Wer immer du auch bist, der diese Botschaft hört – laß bitte alles stehen und liegen, was du jetzt gerade tust, und bringe augenblicklich Hilfe ! Oder wenn du selber keine Hilfe bringen kannst, dann hole Hilfe ! Also eine Äußerung läßt nicht nur eine Kognition erkennen und bringt ferner nicht mir eine Emotion zum Ausdruck, sondern zeigt dem Hörer auch die Intention des Sprechers in Bezug darauf, wie er, der Hörer, auf die Äußerung als Zeigehandlung reagieren soll. Vermöge dessen, daß die Zeigehandlung auch die intendierte Reaktion des Hörers auf die Zeigehandlung anzeigt, ist sie demnach noch auf eine dritte Weise Zeichen. Dreifach also sind nach Bühler die Funktionen der verbalen Zeigehandlung, wie er sie an seinem Organon-Modell entwickelt. Drei verschiedene Funktionen hat sie für den Sprecher, der sie wie ein multifunktionales Werkzeug (organon) benutzt, das drei verschiedene Funktionen hat, die aber hier bei jeder einzelnen Verwendung simultan zum Zuge kommen, wenn er uno actu etwas darstellt, ausdrückt und signalisiert. Dementsprechend hat sie gleichfalls drei verschiedene Funktionen für den Hörer. Er erkennt anhand der Zeigehandlung simultan ein Dargestelltes (Kognition des Sprechers) und ein Ausgedrücktes (Emotion des Sprechers) und auch ein Gewolltes (Intention des Sprechers). Und nur, wenn er alles dies erkennt, hat er verstanden, was der Sprecher meinte. Verstehen schließt die Emotionen und die Intentionen mit ein Das Verstehen eines Zeichens, also einer Zeigehandlung , ist in seinem Kern nichts anderes als das Erkennen dieser Zeigehandlung. Im Gelingensfalle: so, wie sie gemeint ist. Dazu nun gehört bei einer Zeigehandlung immer zweierlei Erkennen. Beiderlei Erkennen einer Zeigehandlung nennen wir Verstehen.7 Erstens das Erkennen der gemeinten, der gewollten Zeigehandlung selber, der Gestalt der Zeigehandlung oder, wie man linguistisch gerne sagt, der Form des Zeichens, die man dann containermetaphorisch unterscheidet von dem sogenannten Inhalt. Erstens also geht es beim Verstehen darum, das Bezeichnende als solches zu erkennen, das signifiant. Wenn dies nicht gelingt, dann sagen wir vielleicht: Ich habe das akustisch nicht verstanden. Zweitens und vor allem geht es beim Verstehen auch um das Erkennen des gemeinten signifié ; wie schon gesagt, im Wege eines Schlusses. Vom signifiant wird auf das signifié geschlossen. Dabei schließt man also aus der Form des Zeichens, aus der Art und Weise des vokalen Zeigehandelns, auf das, was der Aktor damit zeigen wollte. Wenn dies nicht gelingt, dann sagen wir: Ich habe nicht verstanden, was du meinst. 7

Zu »Verstehen als Erkennen« vgl. Hermanns (1987); dort ist der Versuch gemacht zu zeigen, welcherlei Erkennen – außer dem von signifiant und signifié – sonst noch als Verstehen gelten kann.

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Signifié , das wird gewöhnlich (aber nicht gerade glücklich) übersetzt mit das Bezeichnete. Ich übersetze einmal: das Gezeigte.8 Das Gezeigte ist nichts anderes als das Gemeinte, also die Bedeutung einer Zeigehandlung ( Bedeutung hier im Sinne des Bedeuteten der Zeigehandlung). Das Gezeigte ist nichts anderes als die Gesamtbedeutung einer Zeigehandlung , sollte man vielleicht verdeutlichend genauer sagen. Denn nicht selten wird ja in der Linguistik (so von Austin (1962) und von Bierwisch (1980)) die Bedeutung von Bedeutung (oder meaning ) reserviert für das, was ich den deskriptiven (oder kognitiven) Anteil der Gesamtbedeutung nenne, den man so vom expressiven und vom präskriptiven Anteil der Gesamtbedeutung der verbalen Zeigehandlung unterscheidet ; letzterer heißt dann die illokutionäre Rolle oder auch der kommunikative Sinn der Äußerung , der Zeigehandlung. Bühlers einprägsames Schema führt vor Augen, daß in der Gesamtbedeutung der verbalen Zeigehandlung mehr gezeigt ist als bloß die Bedeutung sensu stricto und daß also das Verstandenhaben einer Äußerung und eines Satzes mehr ist als bloß »wissen, was der Fall ist, wenn er wahr ist«.9 Drei grammatische Personen, also auch drei Sprachfunktionen ? Seine hohe Plausibilität verdankt das Bühlersche Modell vor allem seiner Übersichtlichkeit, es macht die Dinge einfach; allzu einfach, wie ich meine. Ganz heterogene Fragen und Gedanken bringt es in ein scheinbar homogenes Schema. Bühlers Dreierschema nämlich faßt, doch ohne daß dies diskutiert und explizit gemacht wird, höchst Verschiedenes in eins zusammen: a) eine Theorie der für die Kommunikation entscheidenden Faktoren, d. h. ein Kommunikationsmodell ; b) eine Theorie der Zeichensorten ; c) eine Theorie der Zeichenrelationen ; und d) eine Theorie der Sprachfunktionen. Diese ganz verschiedenen Theorien bringt das Bühlersche Modell zur Deckung. Das gelingt nicht ohne ein gewisses Maß begriff licher und theoretischer Gewaltsamkeit. Letztlich gibt es hier genau drei – nicht weniger, nicht mehr – Sprachfunktionen, weil es drei grammatische Personen gibt. Bühlers Kommunikationsmodell reproduziert die Trias der grammatischen Personen (ich, du, er/sie/es), denen nämlich seine Positionen (die des Senders, des Empfängers und der Gegenstände/Sachverhalte, neben der des Zeichens selber) Punkt für Punkt entsprechen. Diese Positionen sind zugleich die streng getrennten Referenzbereiche für die Zeichensorten des Symbols, Symptoms, Signals. Diese wiederum sind aber auch noch dadurch unterschieden, daß sie ihre Zeichenhaftigkeit verschiedenen Zeichenrelationen (Art der Relation von Zeichen und Bezeichnetem) ver-

8

Nicht gerade glücklich ist die Übersetzung von signifié durch Bezeichnetes deshalb, weil das Wortpaar Bezeichnendes/Bezeichnetes einem Nomenklatur-Verständnis von Bedeutung Vorschub leistet, das die Lommelsche Übersetzung des Cours von de Saussure auch sonst immer wieder nahelegt (vgl. Hermanns 1992).

9

So ja die berühmte Formulierung im »Tractatus« : »Einen Satz verstehen, heißt, Wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist« (Wittgenstein 1921, 4 024).

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danken. Und es haben diese Zeichensorten auch noch ihre jeweils eigenen, besonderen Funktionen.10 So entsteht ein Bild der in der jeweils einen Zeigehandlung kopräsenten drei Funktionen (respektive Zeichensorten), wonach diese drei Funktionen strikt getrennt sind. Bühler hebt die Eigenständigkeit der Zeichendimensionen und der Zeichensorten so hervor, daß man den Eindruck hat, es hätten eigentlich die Dimensionen miteinander nichts zu tun: als wäre es geradezu ein Wunder, daß die Zeichensorten des Symbols, Symptoms, Signals in der verbalen Zeigehandlung in concreto eins sind. So fremd sind sie einander. Die Gesamtbedeutung ist bei Bühler bloß das Resultat der Addition der einzelnen Bedeutungen in jeder der drei Zeichendimensionen. Zwar drei Zeichen, aber trotzdem eine Einheit Dabei wissen wir doch aus Erfahrung und aus Reflexion: die einzelnen Bedeutungen sind nicht unabhängig voneinander. Denn in aller Regel ist es so, daß eine ausgedrückte Emotion mit einer dargestellten Kognition und einer offenbarten Intention zusammenpaßt, so daß man von dem einen auf das andere sogar schließen kann. Im Verstehen der Gesamtbedeutung einer Äußerung sind daher auch die Komponenten des Gesamtverstehens nicht bloß additiv vereinigt. So paßt auch in unserem Beispiel eines Hilferufs die damit dargestellte Notsituation zur darin ausgedrückten Angst, und dieses beides paßt dazu, daß dieser Hilferuf als ein Appell signalisiert, der Hörer möge Hilfe leisten oder holen. Darstellung, Ausdruck und Appell sind sozusagen solidarisch. Ob eine Äußerung perlokutionär erfolgreich ist, hängt wesentlich auch von der ausgedrückten Emotion und von der dargestellten Kognition des Sprechers ab, die in der Äußerung als Zeigehandlung konsubstantial sind mit der offenbarten Intention. Dergestalt, daß diese drei ein Ganzes, eine Einheit bilden, das als Ganzes und als Einheit wahrgenommen werden soll und wird. Wohlgemerkt, ich spreche hier, in diesem ganzen ersten Abschnitt meines Vortrags, von der Äußerung, von der parole. Gibt es, frage ich nun: weiter, etwas Ähnliches auch im Bereich der langue und im Bereich der Lexik ? Gibt es Wörter, die zugleich – in Personalunion gewissermaßen – der Darstellung im Sinne Bühlers dienen und dem Ausdruck einer Emotion ? Oder auch zugleich der Darstellung und dem Appell ? Also frage ich jetzt weiter nach den lexikalisierten Emotionen und dann nach den lexikalisierten Intentionen.

10

Die hier nur skizzierte Interpretation sowie Kritik des Bühler-Schemas weiter auszuführen ist hier nicht der Ort ; zur Kritik verweise ich auf Kubczak (1984), Ammann (1988), Busse (1975), Ortner (1992), v. Polenz (1974).

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2 Lexikalisierte Emotionen Was für Wörter dienen überhaupt dem Ausdruck von Gefühlen ? Ohne Zögern wird man vielleicht sagen: die Gefühlswörter , wie man sie genannt hat. Das sind Wörter wie z. B. Liebe, Haß und Eifersucht und Angst und Wut und Trauer, nebst den Verben und den Adjektiven, die dazugehören.11 Quasi-psychologische Vokabeln Solche Wörter möchte ich für meine Zwecke hier als quasi-psychologische bezeichnen. Denn sie dienen zur Benennung von Gefühlen und Gemütszuständen insbesondere in deskriptiver Absicht. In der Regel sind sie selber aber gar nicht emotiv und expressiv. Peter ist auf Dieter eifersüchtig , dieser Satz bezeichnet eine Emotion, doch bringt er selber keine Emotion zum Ausdruck. Hier wird durch Gebrauch des Wortes eifersüchtig eine Emotion benannt und zugeschrieben, aber das geschieht, auf gänzlich kühle Art und Weise, sozusagen diagnostisch. Peter ist verliebt, das unterscheidet sich, was seine Expressivität betrifft, wohl kaum von Peter ist erkältet. Es ist gleichfalls eine Diagnose. Darum also nenne ich dergleichen Wörter quasi-psychologisch. Allerdings, die Wörter dieses Typus können auch verwendet werden, um Gefühle auszudrücken. Wenn man beispielsweise mit Emphase sagt: Ich hasse das ! oder auch: Das macht mich wütend ! oder auch: Ich habe Angst ! , dann ist das nicht allein die Deskription von einer Emotion, es ist zugleich auch deren Ausdruck. Kürzlich habe ich eine alte Dame sagen hören, von dem Tag , an dem ihr Mann beerdigt wurde: Vor dem Tag hab’ ich mich so gefürchtet. Das war alles andere als emotionslos. Trotzdem hat ein solcher Satz noch etwas Distanziertes. Denn er ist der Form nach eine Selbstbeschreibung und nicht eigentlich der Ausdruck des Gefühls. Alle diese Sätze wie Ich habe Angst, Ich freue mich, Ich liebe dich sind Sätze in der Ersten Singularis mit dem Personalpronomen ich, und dieses Wörtchen ich bedeutet, daß im Bühlerschen Modell die Positionen für den Sprecher und die Gegenstände/Sachverhalte gleich besetzt sind ; daß der Sprecher selber Gegenstand der eigenen Rede ist, so wie beim du der Hörer. Das bedeutet aber eben, daß die Sätze wie Ich liebe dich der Form nach deskriptiv sind und sich darin gar nicht unterscheiden von den Sätzen in der dritten Singularis wie z. B. Sie liebt ihn. Ich finde auch, der Satz Ich liebe dich drückt das Gefühl der Liebe in der Regel gar nicht aus, er hat stattdessen etwas Förmliches und 11

Als Gefühlswörter bezeichnen solche Wörter Jäger & Plum (1988; 1989), die demgemäß Gefühl »synonym zum Lexem Emotion als Hyperonym für Wörter wie Liebe , Furcht , Angst , Freude etc.« gebrauchen (1988, 37). Ähnlich sind für Alston (1967, 479) emotion-terms die Wörter fear , anger , indignation , remorse , embarrassment , grief , distress , joy , craving , disgust ; und für Kövecses (1990) sind emotion concepts Wörter wie anger , fear , pride , respect und ( romantic ) love . Wenn sich auch ihre Definitionen von Gefühl erheblich unterscheiden, sind die Wissenschaftler im Gebrauch des Wortes trotzdem ziemlich einig. Ein spezielles (und komplexes) der Gefühlswörter des Deutschen hat bezüglich seiner historischen Semantik Teubert (1991) untersucht.

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Feierliches, wie es dem Ernst der Lage angemessen ist, wenn jemand einen solchen folgenschweren Ausspruch tut. Jedenfalls, ich resümiere, scheint mir, daß die Wörter des Gefühlswortschatzes allenfalls nur sekundär dem Ausdruck von Gefühlen dienen – Ausdruck nach wie vor im Sinne Bühlers – und in erster Linie deren distanzierter, deskriptiver, quasi-psychologischer Benennung.12 Empfindungswörter Gibt es Wörter, wo das anders ist und die primär dem Ausdruck von Gefühlen und Affekten dienen ? Solche Wörter sind bestimmt die Schimpf- und Kosenamen. Darauf, komme ich noch kurz zu sprechen. Ferner gibt es die Partikeln wie das international berühmte deutsche Wörtchen ach und auch z. B. pfui und au. In der exzellenten, wie ich finde, Neubearbeitung des Paulschen Wörterbuchs heißen sie Empfindungswörter. Burkhardt, der sie dort beschreibt, hat beispielsweise pfui charakterisiert als: »1. Ausdruck von Ekel u. Widerwillen« (mit dem Beispiel  – Abraham a Saneta Clara über einen Leichnam  – »Pfuy ! er stinkt schon«). »2. (emotionaler) Ausdruck von Ablehnung , Abscheu und Verachtung«. Dazu heißt es weiter: »nicht selten mit dem Vorwurf sittlich-moralischen Fehlverhaltens«, und es folgt das schöne Beispiel aus dem Struwwelpeter:

12

Sprechakttheoretisch unterscheidet in der deutschen Linguistik erstmals Keller (1977) zwischen dem, was man mit einem Sprechakt »sagt«, und dem, was man damit »zum Ausdruck bringt«, und insbesondere zwischen »Nennen von Haltungen« und »Zum-Ausdruck-Bringen von Haltungen« (Keller 1977, 13). Daß eine Einstellung , »mit der« ein Sprecher etwas sagt und die er (»präreflexiv«) ausdrückt etwas anderes ist als eine Einstellung »über die« er etwas sagt, betont auch Lang (1983 , 329), der sich (ebd., 3o7) der »Hilfskonzepte« SAY vs. EXPRESS bedient, um den »propositionalen Inhalt« eines Satzes von der in ihm ausgedrückten »Einstellung« zu eben diesem lnhalt scharf zu unterscheiden. Fiehler (1990, 96 ff.) stellt mit ähnlicher Pointe die »Erlebensthematisierung« bzw. die »Emotionsthematisierung« dem »Erlebensausdruck« bzw. dem »Emotionsausdruck« gegenüber und charakterisiert (ebd., 17) den Emotionswortschatz als »Menge der Wörter, die denotativ Erlebensformen und Emotionen bezeichnen«, »im Gegensatz zur emotionalen Konnotation«. Fiehler ist mit seinem Buch zu »Kommunikation und Emotion« der Pionier der deutschen Linguistik zur Thematik Emotion und Sprache. Dabei geht es ihm jedoch vor allem um die »Rolle von Emotionen in der Interaktion« (ebd., 2), was bedeutet, daß er Emotionswortschatz und expressive Lexik (»lexikalisierte Emotionen«) systematisch nicht behandelt. Als »Äußerungsformen, die … starke emotionale Beteiligung signalisieren«, zählt er (ebd., 127) aber auf : »Affektlaute« (z. B. Au ! ), »Interjektionen« (Ohhh ! ), »Bewertungen (mit Ausdruck)« (Herrlich ! ), »Manifestationen der Überraschung und des Unglaubens« (Waas ? ), »Beschimpfungen« ( Du Trottel ! ), »Koseformen« (ohne Beispiel ), »Flüche« ( Herr Gott noch mal ! ), »Drohungen« ( Na warte ! ), »Empörungen« ( Jetzt reicht’s ! ). – Gegenüber der von Keller, Lang und Fiehler als grundlegend angesetzten Unterscheidung zwischen Ausdruck und Beschreibung des eigenen Gefühls des Sprechers meldet Alston (1967, 490) Skepsis an : »No one has succeeded in giving an analysis of expressing feelings (as a linguistic activity) which would sharply differentiate it from asserting that one has a feeling«. «. Daß die Unterscheidung in der angelsächsischen Literatur schon eine längere Geschichte hat, ist am Erscheinungsdatum (1967) von Alstons Lexikonartikel zu erkennen.

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Sieh einmal, hier steht er, pfui, der Struwwelpeter ! An den Händen beiden ließ er sich nicht schneiden seine Nägel fast ein Jahr ; kämmen ließ er nicht sein Haar. Pfui, ruft da ein jeder : Garstger Struwwelpeter ! 13 Darauf folgt ein zweiter Hinweis zum Gebrauch des Wortes: »nicht selten mit der Aufforderung, sich zu schämen«, was die etwas Älteren von uns noch aus der Sprache der Erziehung kennen: Pfui, schäm’ dich, stell dich in die Ecke ! hieß es früher. Aufschlußreich auch für die Synchronie ist schließlich noch die diachrone Auskunft: »wohl urspr. lautl. Nachbildung des Geräusches beim Ausspeien«. Ich zitiere den Artikel deshalb so ausführlich, weil er so verfaßt ist, daß man denken könnte, der Verfasser hätte meinen Vortrag schon gekannt und hätte mir mit dem Artikel Unterstützung geben wollen. In den anderen Artikeln dieses Wörterbuches nämlich findet man in spitzen Klammern die Bedeutungen der Lemmawörter angegeben. Das ist hier nicht der Fall. Sondern es heißt hier an der Stelle, wo sonst die Bedeutungsparaphrase anzutreffen ist, und ohne spitze Klammern: Ausdruck von Ekel oder Abscheu. Das besagt: Das Wörtchen pfui bezeichnet nicht den Ekel, wie es die Vokabel Ekel tut, als psychologische Vokabel. Sondern pfui ist, wie es hier ja wörtlich heißt, der Ausdruck eines Ekels oder Abscheus, also sozusagen selbst der ausgedrückte Ekel oder Abscheu, der in der verbalen Zeigegeste sich gewissermaßen ausagiert. Wie er das auch durch reales Spucken tun kann. Deshalb ist bei diesem wie bei anderen solchen Wörtern auch die nonverbale Geste, die damit einhergeht, nichts dem Wort nur Äußerliches, das dem Wort zum besseren 13

Lexikographisch ist dies Beispiel als ein Glücksfall anzusehen, weil es einen Text zitiert, der nicht nur ein Beleg für einen Wortgebrauch ist, sondern in der Sozialisation von Generationen deutscher Kinder sicherlich der Text gewesen ist, an dem sie den Gebrauch des Wortes pfui , wie auch des Wortes garstig , exemplarisch lernten, dies im Zuge einer Reinlichkeitserziehung , die sie eo ipso auch den Abscheu und den Ekel vor dem Schmutzigen und Ungepflegtenlehrte (lange Haare, Bärte, Fingernägel usw.). Man erkennt daher an diesem Beispiel außerdem: Auch pfui hat eine kognitive Komponente. Denn es zeigt ja, daß zur Einübung des richtigen Gebrauchs von pfui dazugehört, das Kind zu lehren, in bezug auf welche Gegenstände/Sachverhalte (und Personen) pfui zu sagen angebracht ist. Auch Empfindungswörter können also kognitive Komponenten haben. Ferner zeigt, wie eben angedeutet, dieses Beispiel eine Querverbindung zwischen einem Satzwort, dem Empfindungswörtchen pfui , und garstig , einem affektiven Adjektiv, an. Garstig ist, so lernt das Kind, wozu man pfui sagt ; wie auch vice versa . Solche Querverbindungen, die zwischen scheinbar ganz entlegenen semantisch-lexikalischen (tatsächlich aber nur grammatisch so verschiedenen) Bereichen existieren, sind allein in Texten zu erkennen ; dies ein Hinweis darauf, daß die forschungspraktisch relevante Wortsemantik philologisch sein muß.

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Verständnis des Gemeinten redundanterweise noch hinzugefügt wird. Sondern eher umgekehrt: Das Wort wird zur Verdeutlichung der körperlichen Geste ausgesprochen. Im Fall des pfui spannt sich dabei der ganze Körper an und zieht sich das Gesicht zusammen; der Blick wird starr, die Lippen werden schmal, der Mund wird klein, der Kopf macht einen kleinen Ruck nach hinten, um dann wieder vorzuschnellen. Die fest gepreßten Lippen öffnen sich zu einem Spalt. Und bloß, was da hervorgestoßen wird aus diesen festgepreßten Lippen, ist nicht wirklich Speichel, sondern dessen Surrogat: das Wörtchen pfui, das scharf und häßlich zischend ausgesprochen wird. Das also nur ein Teil der Abscheugeste ist.14 Entsprechend gilt auch für die anderen Empfindungswörter, daß im typischen Gebrauch sie immer Teil sind einer körperlichen Geste, daß sie also non-verbal und parasprachlich eingebunden sind in eine ganzheitliche Zeigehandlung.15 Beispielsweise, um ein angenehmeres Empfindungswort noch anzuführen, das bereits erwähnte ach, bei dem man vorher Luft holt, denn man atmet dann das Wort, wenn man es ausspricht, sozusagen aus mit einem tiefen Seufzer: ach ! Das Wort ist hier gewissermaßen selbst der Seufzer. Dabei entspannt man sich nach allen Regeln der Entspannungskunst, die Züge werden weich, die Muskeln locker. Also man kann nur jedem raten, öfter einmal ach ! zu sagen. Affektive Adjektive Gibt es außer den genannten auch noch andere Wörtertypen, die speziell dem Ausdruck von Gefühlen dienen ? Eine Gruppe solcher Wörter interessiert mich insbesondere. Ich erlaube mir, aus einem sicherlich nicht allgemein bekannten Aufsatz (Hermanns 1986 ) zu zitieren, weil ich möchte, daß Sie nacherleben können, wie ich auf die Gruppe dieser Wörter aufmerksam geworden bin. Ich habe dort berichtet, wie ich zum Bewunderer und Freund des damals neuen Duden Universalwörterbuchs (im folgenden kurz: DUW) geworden bin. Nämlich dadurch, daß ich dort die Wörter niedlich, lieb und goldig nachgeschlagen habe. Da stand unter niedlich folgende Bedeutungsparaphrase: »durch seine hübsche Kleinheit, Zierlichkeit, durch zierliche, anmutige Bewegungen o. ä.« – und jetzt kommt 14

Wierzbicka (1991, 313) deutet die Wahrnehmung des deutschen pfui (wie auch des englischen phew und des skandinavischen f y ) als die einer lautmalerischen Nachahmung »(of ) an attempt to breathe out of one’s nose a repulsive smell«; demgegenüber würden aber polnisch tfu und russisch t’fu als »imitations imitations of an act of spitting« wahrgenommen.

15

Ewald Lang weist (mdl.) darauf hin, daß die Empfindungswörter oft – und zwar in vielen Sprachen phonologisch-phonotaktisch aus der Reihe tanzen. Beispiele dafür gibt Stankiewicz (1964, 253), Literatur dazu nennt Mithun (1982, 49). Nach Ehlich (1986, 211 f.) ist ihre besondere phonemische Kombinatorik ein formales Merkmal von Interjektionen überhaupt, und also nicht allein von emotiven ; Ehlich (ebd., 36 ff.) deutet außerdem die Intonationsstruktur von manchen der von ihm behandelten Interjektionen als »Ton« (i. S. der »Töne«, die in den »Tonsprachen« distinktiv sind) im Deutschen : ein extremes Aus-der-Reihe-Tanzen.

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das Entscheidende – »Gefallen erregend, Entzücken hervorrufend« ; hinzugefügt waren noch die Synonyme lieb, goldig, reizend. Und zum Lemma goldig konnte ich dort lesen: »(ugs.) in seiner äußeren Erscheinung in einer Weise reizend, daß man es« – und jetzt kommt wieder das Entscheidende – »mit Rührung u. Zärtlichkeit feststellt«. Das ist, wie ich finde, schön gesagt, vor allem aber ist es treffend. Niedlich, lieb und goldig sind, wenn ich es richtig sehe, regionale Varianten einer und derselben sprachlichen Gebärde. Hier in Mannheim sagt man goldig (beispielsweise, wie mir mein Gewährsmann Uwe Zipf berichtet: Des is e goldisch Knuddel ! , und in Hamburg sagt man niedlich oder süß (z. B. in dem Ausruf : Nein, wie ist sie süß ! , in Wien dagegen sagt man lieb und herzig. Meistens sagt man es von Babys oder kleinen Kindern. Was man damit deskriptiv von Babys oder kleinen Kindern sagt, ist allerdings nicht viel. Etwas Relevantes sagt man damit aber über sich aus. Das ist goldig !  – das bedeutet in der Tat, wie es das Wörterbuch uns sagt: Ich bin entzückt, ich bin gerührt, mein Herz ist voller Zärtlichkeit, bei diesem Anblick. Und offensichtlich drücken diese Wörter solche Emotionen aus , und sie benennen sie nicht diagnostisch. Auf alle Fälle, wenn sie so gesprochen werden, wie es ihnen angemessen ist, in Tonfall, Timbre, Rhythmus, Mimik, Gestik integriert in eine ganzheitliche emotive Zeigehandlung , die als Ganze auf den Hörer und Betrachter wirken soll und wirkt. Das ist bei allen solchen Wörtern ganz genauso wie bei den Empfindungswörtern, die wir gerade hatten. Um den Preis terminologischer Verwirrung kann man sagen, daß es sich hier gleichfalls um Empfindungswörter handelt. Was ist das Besondere an der semantischen Struktur von solchen Wörtern ? Nun, sie passen nicht ins Bühler-Schema. Nicht problemlos. Scheinbar über gar nichts anderes als Gegenstände/Sachverhalte redend, gebe ich bei der Verwendung solcher Wörter gleichermaßen etwas über mich, den Sprecher, zu verstehen. Denn der Sprecher scheint sich auf den Gegenstand zu konzentrieren, wenn er ausruft: Das ist aber niedlich ! Und der Form nach ist der Satz auch in der Tat desselben Typs wie etwa Das ist rot und Das ist rund, wo wirklich über die Beschaffenheit von Gegenständen etwas ausgesagt wird. Wenn ich aber sage: Das ist niedlich ! – rede ich als Sprecher ebenso auch von mir selber. So daß dieser Satz im Bühler-Schema quer steht, nämlich gleichermaßen auf die Gegenstände/Sachverhalte und den Sprecher sich beziehend. Wollte man das prädikatenlogisch formulieren, müßte man wohl sagen: goldig , lieb und niedlich sind entgegen erstem Anschein nicht einstellige, sondern zweistellige Prädikatoren oder Prädikate, und man müßte also dafür schreiben nicht P(x), sondern Q (x, y) , wobei P die Variable für ein affektives Adjektiv wie niedlich wäre, Q die Variable für ein Emotionswort, x für das Subjekt des Satzes, y ein Name für den Sprecher.16 16

Oder für den Sprecher und den Hörer und vielleicht sogar für jeden (normal empfindenden) Menschen. Festzustehen scheint mir, daß ein Adressant mit einem Adjektiv wie niedlich ebenso den eigenen Affekt zum

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Zweistellige Prädikate, d. h. Relationen. Das Verwendungsschema solcher Adjektive wäre demnach, daß man, wenn man etwa sagt: x ist P, damit sagt: x ist so geartet, daß ich, wenn ich es betrachte oder daran denke, die-und-die Gefühle habe. Oder, um es anders auszudrücken: x bewirkt, daß ich die-und-die Gefühle habe. Das heißt, daß die Formel P(x) in solchen Fällen explizit zu machen wäre durch die Formel CAUS (x , Q ( y ) ) , wobei Q(y) bedeuten würde, daß y die Emotion Q »hat«. Danach wären solche Adjektive also zu beschreiben als kausative affektive Adjektive . Kausative Adjektive In der Tat besteht hier eine Ähnlichkeit mit kausativen Verben.17 Wir erkennen diese Ähnlichkeit am besten, wenn wir an die deverbalen Adjektive denken  – oder an die Partizipien – mit derselben logischen Struktur wie niedlich. Beispielsweise reizend (wenn es auch semantisch mit dem Verbum reizen heute nicht mehr viel zu tun hat). Dieses ganz besonders in dem Ausruf Das ist aber reizend ! heute oft als affektiert empfundene, weil bildungs- oder auch kleinbürgerliche Synonym von niedlich und von goldig ist semantisch-logisch gleichfalls so zu deuten, daß man damit aussagt, daß etwas bewirkt, daß man beglückt ist. Das Kausative daran ist hier sozusagen angedeutet in der Endung -end. Deutlicher noch ist der Zusammenhang bei echten Partizipien und bei Adjektiven, die man, wenn man will, als Partizipien verstehen kann, z. B. bei entzückend ; denn Ausdruck bringt wie auch an seine Adressaten appelliert, diesen Affekt zu teilen; ferner aber daß er , wenn das nicht gelingt und wenn die ausgedrückte affektive Eigenschaft bestritten wird (z.B. mit dem Ausruf Das ist doch nicht niedlich ! ), er dann stets die Ruckzugsposition hat, daß er sagen kann : Ich finde das aber niedlich. Doch bietet dieser Rückzug keinen absoluten Schutz vor jeglicher Kritik (man kann z. B. insistieren : Wie kannst du das denn niedlich finden ? ! Das ist doch … ! ). Auch die ausgedruckte Emotion f ällt nicht ins Reich der absoluten subjektiven Freiheit. 17

Während der Begriff des kausativen oder faktitiven Verbs seit langem eingeführt ist, scheint es den Begriff des kausativen Adjektivs noch nicht zu geben. Der Gedanke allerdings, daß es so etwas gibt, ist, wenn man danach sucht, zu finden im dritten Band der Deutschen Wortbildung , wo eine Formel mit dem Index kaus erscheint (Kühnhold et al. 1978, 277) und wo auf einer halben Seite einige der deutschen kausativen Adjektive – in attributiver Verwendung – als kausativ erläutert werden, u. a. (ich zitiere jeweils das Verwendungsbeispiel und in Klammern die Bedeutungsparaphrase): schwindlige Lust (»erregt Schwindel«), abortiver Eingriff (»bewirkt einen Abortus«), ekelhafter Geruch (»erregt Ekel«), abscheulicher Gegenstand (»erregt Abscheu«), ruinöser Wettbewerb (»bewirkt einen Ruin«), furchtbarer Zorn (»erregt Furcht«), interessanter Fall (»ruft Interesse hervor«), profitables Geschäft (»bringt Profit«). Einige der hier genannten kausativen Adjektive sind sogar affektive kausative Adjektive ( ekelhaft , abscheulich , furchtbar , interessant , vielleicht auch schwindlig ). Andere Arten kausativer Adjektive sind hier nicht zu finden, weil in diesem Werk zur deutschen Wortbildung natürlich nur die motivierten Adjektive abgehandelt werden. Beispielsweise giftig wäre kausativ zu deuten als : was vergiftet, d. h. was bewirkt daß man krank wird oder stirbt. – Analog zu kausatives Adjektiv ist der Begriff des kausativen Substantivs zu bilden. Gift z. B. ist durch seine Wirkung definiert (im DUW s. v. durch die Bedeutungsparaphrase : »… Stoff, der … eine schädliche zerstörende tödliche Wirkung hat«), also als etwas, was bewirkt , daß diese Wirkung eintritt: Zu kausativen affektiven Substantiven s. u.

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entzückend ist, was mich entzückt. Oder auch bei ermüdend. Das ermüdende Gespräch ist eines, das bewirkt, daß ich von einem wachen Zustand in den der Ermüdung übergehe. Eine nervtötende Fernsehsendung ist eine solche, die bewirkt, daß mir der letzte Nerv getötet wird. Eine atemraubende Aktion ist so beschaffen, daß sie bewirkt, daß mir der Atem stillsteht, usw. Aufregend ist in unserem Zusammenhang ein gutes Beispiel, weil es uns zu einer unbezweifelbaren Emotion zurückführt. Etwas ist aufregend dann und in dem Maß, wie es bewirkt, daß ich in den Zustand einer Aufgeregtheit übergehe. Ganz genauso sind semantisch-morphologisch rührend und empörend und erheiternd zu analysieren. In allen diesen Fällen, also bei den Partizipien – oder partizipialen Adjektiven, wie man sie vielleicht vorsichtig nennen sollte – ist das Kausative oder Faktitive der Bedeutung sozusagen explizit im kausativen Verbstamm und der Endung. Das sind die – wenn man so will – trivialen Fälle. Nichts hindert uns jedoch, die Analyse, die in diesem expliziten Fall sich aufdrängt, auch auf solche Adjektive anzuwenden, wo das Kausative nicht durch eigene Morpheme angezeigt wird, wie bei niedlich oder goldig oder herzig. Eine Zwischenstellung zwischen Ex- und Implizitheit nehmen solche Adjektive ein, bei denen ihre Etymologie noch durchscheint (synchronisch ausgedrückt: die semi-motiviert bzw. semi-transparent sind), wie erfreulich und entsetzlich und abscheulich (oder auch z. B. ekelhaft und eklig ), wo die Endung -lich (bzw. -haft und -ig ) dieselbe Rolle spielt wie -end beim Partizip und partizipialen Adjektiv; denn etwas ist für mich erfreulich, wenn es bewirkt, daß ich darob erfreut bin.18 Manche solcher Adjektive sind auch in der Weise systematisch polysem, daß sie gleichermaßen einen emotiven Zustand meinen können – wie z. B. traurig in den Sätzen 18

Weitere Exempel solcher kausativen Adjektive: amüsant (was amüsiert), langweilig (was macht, daß man sich langweilt), tröstlich (was tröstet), sympathisch (was Sympathie hervorruft). Das sind motivierte oder semimotivierte Fälle: Doch genauso wäre etwa auch zu deuten komisch (was belustigt). Für Das ist aber komisch ! gab es einmal auch im Deutschen die Paraphrase : Das macht mich lachen (man erinnert sich an Faust, der sagt : »Der Casus macht mich lachen«); im Französischen ( Cela me fait rire ) und Englischen ( It makes me laugh ) gibt es sie noch heute. Ferner etwa: frech und unverschämt (hier nur zu betrachten unter dem Aspekt des Ausdrucks von Empörung: frech ist worüber man sich empört und ärgert ; ist dies nicht der Fall, dann war es auch nicht frech ); gemütlich (Ausdruck eines Wohlbehagens, das durch das Gemütliche erzeugt wird); blöd (i. S. von worüber man sich ärgert und wie man das Wort verwendet, wenn man sich über etwas ärgert ; das DUW (s. v.) gibt das Beispiel »Zu blöd, daß ich das vergesen habe« und nennt in der Tat als Synonym von »ugs.« blöd auch ärgerlich ; (dazu auch die folgende Anmerkung ). – Komplementär und spiegelbildlich zu den affektiven kausativen Adjektiven à la niedlich und abscheulich sind die vielen (oft partizipialen) Adjektive, die den emotiven Zustand explizit benennen, der durch das bewirkt wird, was die affekitiven kausativen Wörter als die Quelle des Affekts beschreiben, beispielsweise erstaunt (komplementär zu erstaunlich ), verblüfft (zu verblüffend ), enttäuscht (zu enttäuschend ), aufgeregt (zu aufregend ), überrascht (zu überraschend ), belustigt (zu belustigend ). Diese Adjektive entnehme ich der Aufzahlung von Rolf (1993), der hier Gordon (1987, 112) zitiert und für das Deutsche adaptiert. Gordon ist es aufgefallen, daß Gefühlszustände oft mit Passiv-Partizipien oder davon abgeleiteten Adjektiven beschrieben werden : »Such adjectives describe [a] state or condition in terms of the particular type of operation or change of state that induces it« (ebd., 113).

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Ich bin traurig , Er ist traurig – wie auch einen Gegenstand, der diesen emotiven Zustand kausativ bewirkt – so traurig in dem Satz Das ist eine traurige Geschichte, was bedeutet: eine Geschichte, die bewirkt, daß ich traurig werde. Ebenso ist es mit freundlich, wenn es so gebraucht wird, daß es das kennzeichnet, was bewirkt, daß ich dann freundlich bin, d. h. das, was mich freundlich stimmt, z. B. Farben oder Räume. Ähnlich wie von ergativen Verben (Er zerbricht das Glas = Er bewirkt, daß das Glas zerbricht ) könnte man vielleicht von ergativen Adjektiven ( Das ist traurig = Das bewirkt, daß ich traurig bin bzw. werde ) sprechen.19 Affektive Substantive Mutatis mutandis gilt dies auch für Substantive und vielleicht für manche Verben. Wie wir sagen können Das ist scheußlich, was besagt: Das mutet mich in einer Weise an, daß ich mich schütteln muß vor Widerwillen; das bewirkt, daß ich mich scheußlich fühle (denn auch scheußlich ist ein systematisch polysemes Wort bezüglich Ob- und Subjektivität) – ganz genauso können wir von einem Menschen etwa sagen: Das ist ein Scheusal ! Und ein Scheusal ist nicht bloß (wie Adelung s. v. in dem neuen Paulschen Wörterbuch zitiert wird) eine »im höchsten Grade boshafte und lasterhafte Person«, sondern vor allem auch ein (wie der neue Paul es selber formuliert) »Abscheu erregendes Wesen«, was besagt, daß es ein Wesen ist, das so beschaffen ist, daß es bewirkt, daß man bezüglich seiner voller Abscheu ist. Affektiv den Gegenpol dazu bezeichnen Wörter wie, z. B. Schatz, auf Menschen angewendet. Ich erinnere mich daran, wie der Theologe Adolf Roll, in einem Spiegel -Interview gefragt, ob er nicht in dem Wiener Erzbischof und Kardinal Franz König einen ganz besonders strengen Oberhirten habe, antwortete: »Ach, der Kardinal König , der ist eigentlich ein Schatz«. Das hieß nicht bloß Der meint es doch im Grunde gut mit mir , sondern auch Ich hege Zärtlichkeit für ihn. Ein Schatz ist nämlich jemand, der bewirkt , daß man bezüglich seiner Liebe oder Zärtlichkeit empfindet. Generell wird man von Schimpf- und Kosenamen sagen können, daß sie immer neben einer Deskriptionsbedeutung (die hier aber manchmal gar nicht ins Gewicht fällt) auch noch eine Emotionsbedeutung haben; und auf die kommt es bei diesen Wörtern an. Alle diese Wörter wären, wenn man prädikatenlogisch deuten möchte, wie die kausativen affektiven Adjektive zu beschreiben nach dem Schema x bewirkt, daß ich bezüglich x im affektiven Zustand z bin. Und der Witz bei dem Gebrauch von Schimpf- und Kosenamen wäre, daß du, wenn ich sie in Bezug auf dich verwende, dich damit in einem affektiven Spiegel anblickst, der dir zeigt, wie du mich affizierst: ob du jemand bist, der

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Neben traurig , freundlich vgl. etwa auch noch lustig (eine lustige Geschichte ist eine solche, die mich belustigt , d. h. lustig macht), ärgerlich (eine ärgerliche Angelegenheit ist eine solche, die mich ärgert , d. h. ärgerlich macht). Ähnlich ist ein warmer Mantel nicht ein Mantel, der selbst warm ist (wie ein warmer Ofen), sondern einer, der gut warm hält , also sozusagen warm macht.

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Zärtlichkeit und Liebe einflößt oder nur Verachtung oder Haß. Daraus wäre dann die manchmal starke Wirkung dieser Schimpf- und Kosenamen, zu erklären. Denn der affektive Spiegel mutet eine affektive Selbstwahrnehmung an, wonach man hassens- oder liebenswert ist und sich also selber hassen muß bzw. lieben kann – worauf man sehr sensibel reagiert. Affektive Verben Also auch für Substative gilt es, daß sie, ähnlich wie gewisse Adjektive, kausativ sein können in dem hier beschriebenen speziellen Sinn. Gilt es auch für Verben ? Selbstverständlich gibt es hier die auch als solche wohlbekannten kausativen Verben, die in Wendungen verwendet werden wie Das freut mich , Das tut mir leid , Das ärgert mich . Auch ihre logische Struktur ist analytisch auszubuchstabieren mittels einer Paraphrase wie: x bewirkt, daß y die Emotion z bekommt. Hier wird aber diese Emotion direkt bezeichnet und wird außerdem auch die Person thematisch, die die Emotion hat. Weil hier alles explizit ist, handelt es sich hier um den Trivialfall kausativer affektiver Verben. Ob es aber Verben gibt, bei denen dieses kausative affektive Schema implizit ist, weiß ich nicht, mir ist bis jetzt kein gutes Beispiel eingefallen. Danach suchen könnte man am ehesten bei evaluativen Verben, wo man daran denken könnte, daß sie – jedenfalls in manchen Sprachgebräuchen – nicht allein die quasi rationale, quasi objektive Wertung, sondern auch die emotive, subjektive Reaktion auf einen Gegenstand bzw. Sachverhalt zum Ausdruck bringen, so daß also beispielsweise die Entrüstung oder die Ergriffenheit und die Bewunderung aus einer Wortwahl sprechen könnten, auch bei Verben. Etwa könnte man vermuten, daß, wenn man von einem Menschen sagt: Er säuft (im Sinne von Er ist ein Trinker ), damit nicht bloß eine negative Wertung ausgesprochen ist ( Er trinkt zu viel ), sondern in der Regel auch Verachtung ausgedrückt wird. Dafür wäre dann die Paraphrase: X verhält sich so, daß er dadurch bewirkt, daß ich in affektiven Zustand z bin. Der Affekt als Attitüde Wenn man es genau nimmt, muß die Paraphrase aber länger sein und lauten: X verhält sich so, daß er dadurch bewirkt, daß ich bezüglich seines Tuns im affektiven Zustand z bin. Das gilt analog für alle bisher angestellten Analysen kausativer affektiver Adjektive, Substantive, Verben. Immer wird mit ihnen nicht allein die Quelle, sondern eo ipso auch der Gegenstand der Affektivität bezeichnet. Nicht allein ihr Ursprung, sondern auch ihr Ziel; und diese beiden sind identisch. Wenn ich beispielsweise sage Das ist aber niedlich !  – dann bekunde ich damit nicht einfach irgendein Gefühl der Zärtlichkeit und des Gerührtseins, das mich sozusagen aus dem Unbekannten anweht, sondern ein gerichtetes Gefühl. Und es ist daher auch nicht einfach so, daß ich mit diesem Satz nur zu verstehen gebe, daß ein Etwas oder Mensch bewirkt, daß ich – schlechthin gewissermaßen – zärtlich und gerührt bin. Sondern selbstverständlich sage ich mit diesem Satz zugleich auch

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mit aus, daß ich in Bezug auf das, was das Gefühl bewirkt, so oder so ( hier : liebevoll ) gestimmt bin ; und nicht in Bezug auf irgend etwas anderes. Das Gefühl, mit anderen Worten, ist nichts anderes als eine affektive Attitüde. Deshalb könnte man – vielleicht präziser – auch von attitudinalen Adjektiven, Substativen, Verben sprechen, statt – was sicherlich bequemer ist – von affektiven. Allerdings ist der Begriff der affektiven Attitüde (englisch und französisch attitude ), der affektiven Haltung oder Einstellung , die man zu etwas hat, sprachwissenschaftlich noch nicht etabliert.20 Expressive vs. nur affektbeschreibende Vokabeln Soll man solche strukturellen Analysen wie die oben angestellten wirklich machen ? Nun, es kann gewiß nichts schaden – wenn man nur darüber nicht vergißt, daß solche Adjektive, Substantive, und vielleicht auch Verben wie die angeführten nicht allein der Deskription von Emotionen und Gemütszuständen dienen, nicht allein der Übermittlung des Gedankens, der gewissermaßen theoretischen Erkenntnis, daß ich die Gefühle habe, die ich damit quasi diagnostisch wieder nur beschreiben, nur benennen würde. Sondern eben auch dem emotiven Ausdruck, oft sogar vor allem oder nur dem emotiven Ausdruck. Ausdruck in den Bahnen einer Konvention, es sind ja jeweils ganz bestimmte Wörter, die dem Ausdruck ganz bestimmter Emotionen dienen; deshalb eben kann man hier von lexikalisierten Emotionen sprechen. Nichtsdestoweniger jedoch unmittelbarer, echter und spontaner Ausdruck. Jedenfalls bei einigen der angeführten Wörter ; nicht bei allen. Diesen Unterschied will ich abschließend noch an einem neuen, aber wohlbekannten Beispiel deutlich machen, an dem deutschen Wörtchen arm, das wir so gern als Ausdrucksadjektiv verwenden. So z. B. wenn wir sagen: Ach du Arme ! oder auch: Der arme Kerl ! Das arme Schwein ! Der arme Teufel !  – ganz genauso übrigens wie man im Englischen das Wörtchen poor 20

Ausnahme: Üblich ist es, von der propositional attitude , d. h. der bezüglich eines Sachverhalts bzw. einer Proposition ausgedrückten Einstellung (auch Sprechereinstellung ) zu reden. Dies kann nach Lang (1983), Motsch & Pasch (1987, 36 ff.) u. a. auch eine affektive Einstellung sein, die sich in Satzadverbien wie hoffentlich und leider ausdruckt, also nicht bloß eine kognitive (die mit Wörtern wie wahrscheinlich oder möglich ausgedrückt wird). Daß auch andere Wörter als die Satzadverbien, insbesondere Substantive Einstellungen zum Ausdruck bringen können, hat schon Keller (1977, 23 ff.; er sagt Haltungen , das ist die andere Standardübersetzung für englisch attitude ) behauptet und erwiesen. Aber sein ansonsten oft zitierter Aufsatz ist in diesem Punkt nicht recht beachtet worden. – Der Begriff der affektiven oder emotiven Wörter ( affektiven oder emotiven Adjektive , Substantive , Verben und Adverbien ), den ich hier im Text verwendet habe, um hervorzuheben, worauf es bei diesen Wörtern ankommt, ist gebildet in Anlehnung an die englischen Begriffe des affective und emotive meaning. Zu emotive meaning ist bei Alston (1967, 486 ff.) Näheres zu finden. Der Begriff affective meaning wird von Leech (1974, 16 ff.) verwendet; allerdings erkennt Leech eine genuine Affektivbedeutung nur in (vorsichthalber sagt er aber »chiefly«) »interjections« (ebd., 18). Stevenson (1974, 139) erklärt die emotive Bedeutung eines Wortes als dessen Potential »bestimmte Gefühle, Emotionen oder Einstellungen des Sprechers direkt ( quasi-interjektional ) auszudrücken [und] zugleich … [bei Adressaten] hervorzurufen «. Das ist, wie ich finde, eine treffende Beschreibung.

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( Poor chap ! Poor soul ! ) und im Französischen das Wörtchen pauvre ( Le pauvre ! Mon pauvre ! ) gebraucht. Arm ist das Wort par excellence der deutschen Sprache, das ein Mitleid ausdrückt, also nicht bloß aussagt. Diesen Unterschied beachten unsere Wörterbücher bisher noch zu wenig oder gar nicht. Denn es ist zwar gut und analytisch richtig ; wenn für arm in unseren Wörterbüchern solche Synonyme angegeben werden wie unglücklich, bedauernswert, beklagenswert (DUW, s. v.). Bloß der himmelweite Unterschied von arm und diesen seinen Synonymen wird dabei nicht kenntlich.21 In der Ausdrucksdimension ist arm gerade nicht äquivalent mit unglücklich, bedauernswert, beklagenswert. Wenn ich sage: Ach, der arme Kerl !  – das ist das ausgedrückte Mitleid. Dagegen wenn ich sage: Er ist bedauernswert, dann habe ich ein in der Regel kühles Urteil abgegeben. Der Unterschied ist u. a. der, daß wir mit arm das Mitleid auszudrücken pflegen; nicht aber (oder sehr viel seltener und sicherlich auch distanzierter) mit den hier genannten Synonymen. Der Unterschied ist also, daß wir manche Wörter vorzugsweise expressiv verwenden, andere aber selten oder nie. Sie sind dazu dann auch nicht tauglich. Das gilt ebenso auch für Adverbien. Wir pflegen ein Bedauern mit dem Wörtchen leider oder auch durch leider Gottes auszudrücken ; und nicht durch bedauerlicherweise. In bedauerlicherweise liegt genau schon deshalb etwas Distanziertes, weil, wenn man dieses Wort wählt (wählt ist ausnahmsweise hier der angemessene Begriff ), man damit leider abwählt und vermeidet, also dem direkten, üblichen und daher auch unmißverständlichen Ausdruck des Bedauerns ausweicht.22 Wie bereits gesagt, sind alle solche expressiven Wörter, wenn sie ausgesprochen werden, nicht auf ihre phonologische und silbische Struktur zu reduzieren, es gehört zu ihnen eine je spezifische Gestalt des nonverbalen und des parasprachlichen Verhaltens als für sie charakteristisch wesentlich dazu. Insbesondere macht auch hier die typische Intonation als angemessene melodische Gebärde die Gestalt bei solchen Wörtern mit aus.23 Leider sieht man ihre lautgestaltliche Expressivität den Wörtern in den Wörterbüchern nicht mehr an. Aber wo im Textzusammenhang das Parasprachliche und Non21

Dagegen steht (s. v. pauvre ) im Petit Rort speziell zu Le pauvre , Mon pauvre , Ma pauvre die Erklärung : »exprime la commisération «:. Hier wird also eigens auf den Ausdruck einer Emotion und auf die ausgedrückte Emotion, das Mitleid , abgehoben. Damit macht das Wörterbuch die Querverbindung sichtbar, die hier zwei anscheinend ganz verschiedene Vokabeln in der Tat verbindet: Mitleid ist, wenn jemand arm sagt.

22

Als besonders glückliche Bedeutungsparaphrase für ein Adverb führe ich aus dem gerade (1993) erschienenen Wörterbuch von Götz et al. (1993) an, was dort s. v. endlich steht: »1 nur adv; verwendet, um (nach e-r langen Wartezeit) Erleichterung auszudrücken : Gott sei Dank, wir sind e. da ! ; Na e. ! «. Der Verlag verwendet diesen Eintrag ganz zu recht in seiner Werbung (man vergleiche hier die anderen deutschen Wörterbücher).

23

Im Parasprachlichen und Nonverbalen gibt es hier die allergrößten regionalen und gewiß auch soziolektalen Unterschiede. Eine Kollegin sagt mir, daß im Berlinischen das Wörtchen süß als Einwortsatz mit folgender Intonation gesprochen wird: hoch angesetzt, dann langsam und genüßlich bis in eine ziemlich tiefe Lage

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verbale – wie im Schriftbild – wegfällt, kann damit gerechnet werden, daß der Adressat, dem diese Wörter wirklich, aus lebendigem Gebrauch, bekannt sind, es im Wege der Gestaltergänzung trotzdem mithört oder mitsieht. Ohne beides kann man solche Wörter angemessen nicht verstehen. Ihr Verstehen schließt den Mitvollzug der für sie typischen Gesamtgebärde und das (sei es auch nur ansatzweise) Miterleben des in der Gebärde zu symbolischer Verkörperung gelangenden Gefühls mit ein.

3 Intention und Präskription Ehe ich zu meiner zweiten Frage komme, zu der Frage nach den lexikalisierten Intentionen, muß ich nun in einem Zwischenabschnitt vorbereitend etwas sagen zum Zusammenhang von Wollen einerseits und Sollen andererseits bzw. Intention und Präskription. Und erst danach werde ich dann fragen, welche Wörter dazu dienen, daß mit ihnen einem Hörer kundgetan wird, was ein Sprecher von ihm will, und ob es solche Wörter gibt und wie sie, wenn sie existieren, funktionieren. Solche Wörter glaube ich entdeckt zu haben in Gestalt der Wörter, die – wie ich es nenne – eine präskriptive oder auch deontische Bedeutung haben. Diese Wörter, die ein Sollen mitbesagen, zeigen nämlich eo ipso auch das Wollen dessen an, der sie gebraucht. Sie können dies vermöge des grundsätzlichen Zusammenhangs, der zwischen Wollen einerseits und Sollen andererseits besteht. Du willst, also soll ich Ich selber bin auf den Zusammenhang von Wollen und Sollen so gekommen daß mir ein Vers von Goethe eingefallen ist : »Und aller Wille / Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten, / Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille«. Wir werde aber sehen, daß der Zusammenhang auch umgekehrt besteht.24 schleifend ; dazu gehören die (auf das gedehnte – üüü ) gespitzten Lippen, ein wie zum Kuß leicht vorgeschobenes Kinn und halbgeschlossene Augen. Alles dies ist in dem mir selbst bekannten Hamburgischen gänzlich anders. 24

Meinen Titel Kognition , Emotion , Intention verdanke ich bezüglich seines dritten Wortes Gisela Harras, der es ganz natürlich schien, daß dieses dritte Wort zu Kognition und Emotion dazugehört ; ich bedanke mich bei ihr auch für die Einladung zu diesem Vortrag. – Inzwischen weiß ich, daß der im folgenden beschriebene Zusammenhang von wollen einerseits und sollen andererseits der germanistischen Modalverbforschung alles andere als unbekannt ist. Cathrine Fabricius-Hansen danke ich für den Hinweis auf Gunnar Bech, der (1949, 11) formuliert, sollen bezeichne »einen nicht dem Subjekt innewohnenden Willen … oder die Forderung (den ›Willen‹) eines Prinzips …«. Paul Valentin erwähnt in einem Heidelberger Vortrag , daß der ImperativSatz (die Form der Äußerung des Willens in Bezug auf einen anderen par excellence ) in indirekter Rede stets per Paraphrase mit dem Verbum sollen abgebildet wird, und zitiert das Grimmsche Wörterbuch, wo es (s. v. sollen , Sp. 1468) heißt: »Die grundbedeutung … ist die einer verpflichtung oder eines zwanges , der auf einem fremden willen beruht«, und Brinkmann (1962, 368), der formuliert : »Das Verbum sollen setzt eine Richtung voraus, die der von wollen entgegengesetzt ist. Das grammatische Subjekt handelt nicht aus eigener Rich-

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Wir finden ihn in unserer Alltagssprache regelmäßig. Soll ich dir noch einen Kaffee machen ? heißt soviel wie : Willst du, daß ich dir noch einen Kaffee mache ? Oder Sollen wir noch was bestellen ? heißt : Willst du, daß wir noch was bestellen ? Solche Fragen mit der Wendung Soll ich … ? scheinen etwas höf licher zu sein als Fragen mit der Wendung Willst du, daß ich … ? In der Frage Soll ich … ? ist entgegenkommend gleich mitausgesagt, daß, wenn du es nur möchtest, ich es tun will, nach dem Motto sozusagen : Dein Wunsch ist mir Befehl. In der Frage Willst du … ? wird auf deinen Willen abgehoben, in der Frage Soll ich … ? wird auf meine Dienstbereitschaft abgehoben. Damit ist der Adressat der kleinen Peinlichkeit enthoben, selbst Ich will zu sagen, was sich ja nach alten Anstandsregeln nicht gehört, man sagte allenfalls: Ich möchte. Außerdem ist Soll ich … ? kürzer und bequemer als die Hypotaxe Willst du, daß ich … ? 25 Das sind aber nur Nuancen. Festzuhalten ist vor allem, daß die beiden Ausdrucksweisen, die mit Soll ich … ? und mit Willst du, daß ich … ? sprechakttheoretisch äquifunktional sind und insoweit synonym sind. Wissen das die deutschen Wörterbücher ? Noch nicht alle. Manche kennen nur den Spezialfall der Bedeutung, wo das Verbum sollen einen »Wunsch des Sprechers « ausdrückt (DUW, s. v.) mit dem Beispiel : »Du sollst dich hier wie zu Hause fühlen«. Den allgemeinen Fall beschreibt jedoch das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (Klappenbach & Steinitz 1976 ), wenn es (s. v. sollen ) gleich an erster Stelle sagt : »drückt aus, daß der Wille von jmdm., der nicht grammatisches Subj. ist, auf die Realisation des Inhaltes des Inf. gerichtet ist«. Das trifft in der Tat den Nagel auf den Kopf. »N soll etwas tun« wird dort erklärt durch »jemand will, fordert, daß N etwas tut«. Beispiele, die dazu gegeben werden, sind u. a. : »( Sag ihr, ) sie soll sofort zu mir kommen« ; »Soll ich gehen ?« ; »Ich soll dreimal täglich eine Tablette nehmen«. Hier haben wir in wünschenswerter Deutlichkeit herausgestellt : Des einen Sollen ist des anderen Wollen. Und daß der eine soll, beruht nicht nur darauf und ist nicht nur das Resultat davon, nein, es besteht darin, daß jemand anderer will. Und was der eine tung , sondern empfängt seine Vollzugsrichtung von einer fremden Instanz «. Diese Formulierung hat in der Modalverbtheorie Erfolg gehabt. In Verben in Feldern (darauf weist mich Joachim Ballweg hin) ist angegeben, sollen bedeute eine »Obligation« in einem Kontext, der durch »den Standpunkt irgendeiner Instanz, oft durch den des Sprechers, determiniert« sei (Schumacher 1986, 635). Ebenso sagt Weinrich (1993, 305 f.), sollen bezeichne »das Interesse, das eine andere Instanz vom Subjekt der Handlung verlangt«. – Öhlschläger (1989, 171 f.) listet frühere Publikationen auf, in denen sollen (tendenziell zumindest) als »Konverse von wollen « so interpretiert wird, daß die beiden Sätze Karl soll heute Klavier spielen und Jemand will, daß Karl heute Klavier spielt als äquivalent aufzufassen sind. – Goethes Verse (aus »Urworte. Orphisch«) werden hier zitiert nach: Goethes Werke. (Hamburger Ausgabe.) Band I. 12. Aufl. München 1981, 360. 25

Martin Durrell macht (mdl.) darauf aufmerksam, daß für das Englische das hier bezüglich Höf lichkeit Gesagte in der Übersetzung nicht gilt. Wo man im Deutschen Soll ich … ? fragt, kann man im Englischen problemlos fragen Do you want me to … ? Da sieht man, daß , was höf lich ist, besonders doch vom Usus abhängt.

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soll, das ist der Inhalt dessen, was der andere will. Also man könnte, Goethe variierend, sagen: Alles Sollen / Ist nur ein Sollen, weil da jemand wollte. Wessen Wollen stiftet hier das Sollen ? Daher wird mansich bei jedem ausgesagten Sollen fragen : Wessen Wollen stiftet hier das Sollen ? 26 Manchmal ist es Gott, der etwas will, was wir dann sollen einfach deshalb, weil es Gott will. Denn so heißt es ja im Alten Testament, und so beginnen ja die Zehn Gebote:27 »Ich bin der Herr, dein Gott … . Du sollst …«, die also mit dem Verbum sollen Gottes Wollen kundtun ; dieses Wollen Gottes ist das kollektive Wollen, das sich die Gesellschaft in den autosuggestiven Akten des Gebetes und des Gottesdienstes sozusagen immer wieder einschärft. Manchmal ist es auch das Wollen der moralischen, der praktischen Vernunft, von dem ein Sollen ausgeht. So das absolute pflichtgemäße Sollen, das bei Kant aus dem vernunftgemäßen Wollen abgeleitet wird. »Handle nur«, heißt es in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten , »nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde«.28 Manchmal ist es auch der Staat, der etwas will, was man dann soll, wie beispielsweise in den Versen aus dem Vormärz, die das von einer Obrigkeit erlassene Versammlungsverbot verspotten: »Wo dreie beieinander stehen / Da soll man auseinander gehen«.29 Aber oft ist es auch einfach nur das Wollen irgendeines Sprechers, das ein Sollen eines Hörers in die Welt setzt. Putz’ dir jetzt bitte noch die Zähne ! – Ich mag aber heute nicht. Hör’ mal , ich habe dir gesagt , du sollst dir bitte jetzt die Zähne putzen ! So oder ähnlich heißt es hierzulande jeden Abend tausendfach. Ich halte also fest : Das Wollen eines Sprechers wird dem Hörer oft so angezeigt, daß ausgesagt wird, was der Hörer soll. Und umgekehrt kann dann der Hörer aus dem ausgesagten Sollen auf das Wollen dieses Sprechers schließen. Eine Sollensäußerung ist eo ipso eine Willensäußerung . Noch einmal etwas anders formuliert : Die ausgesagte Präskription bezüglich dessen, was der Hörer tun soll, ist nichts anderes als die ausgedrückte Intention bezüglich dessen, was der Sprecher will, daß es der Hörer tun soll. Damit komme ich zu meinen Wörtern mit deontischer Bedeutung ; also solchen Wörtern, die semantisch nicht nur deskriptiv sind, sondern ebenso auch präskriptiv sind; und 26

Die Verwandlung einer Wollens-Äußerung in eine Sollens-Äußerung bringt immer eine Agens-Tilgung mit sich, und die Rückverwandlung in die Form der Wollens-Äußerung kann daher als Bestandteil einer linguistisch instruierten Kunst des »Zwischen-den-Zeilen-Lesens« i. S. von v. Polenz (1985) angesehen werden.

27

2. Mose 20. Zitiert nach: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1985, 80.

28

Zitiert nach: Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hamburg 1957 (= Philosophische Bibliothek 41), 42.  – Daß ein Gesetz , als Manifest und Dokument des kollektiven Sollens, immer seinen Ursprung hat in einem Wollen , wissen die Juristen, die bei der Gesetzesinterpretation nach dem »Willen des Gesetzgebers« fragen.

29

Bislang habe ich die Quelle dieser mir erinnerlichen Verse noch nicht aufgefunden. Stammen sie von Heine ?

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die daher nicht allein ein Sein bedeuten, sondern auch ein Sollen ; und die deshalb auch geeignet sind, ein Wollen anzuzeigen.

4 Lexikalisierte Intentionen Gibt es solche Wörter ? Nun, auch hier sind, wie schon bei den kausativen affektiven Verben, triviale Fälle von den nicht so trivialen unterscheidbar. Und die trivialen Fälle sind auch hier die expliziten. Beispielsweise ist die Pflicht (unabhängig davon, ob sie moralischer, juristischer oder dienstlicher Natur ist) Inbegriff von allem, was man tun soll ; im konkreten Fall auch etwas ganz Bestimmtes, was man tun soll , so z. B. in dem Satz Das ist jetzt deine Pflicht , denn er bedeutet ja konkret nichts anderes als: Das sollst du tun. Diese insbesondere Kantische (bzw., wie man fälschlich auch zu meinen pflegt, besonders preußische) Vokabel Pflicht bezeichnet zwar das je gemeinte Sollen als ein objektiv gesolltes; aber in der kommunikativen Alltagspraxis wird ein jeder Sprecher doch nur das als eines Hörers Pflicht bezeichnen, was auch subjektiv der Sprecher will , daß es der Hörer tue. Ähnlich ist es auch mit Wörtern wie geboten und verboten oder falsch und richtig und natürlich mit den Grundvokabeln unserer Sollenssprache, mit dem Wörtchen gut und mit dem Wörtchen schlecht wenn sie sich auf ein Tun beziehen. Gut ist dann ja, was man (bzw. wie man etwas) tun soll, und schlecht ist, was man (bzw. wie man etwas) nicht tun soll. Alle solche Wörter können evidentermaßen dem Appell an einen Adressaten dienen. Außer solchen trivialen Fällen gibt es, wie gesagt, die nicht so trivialen, also Wörter, die ein Sollen mitbesagen, aber ohne daß dies ohne weiteres bewußt ist. Wörter mit deontischer Bedeutung Unkraut ist ein solches Wort, mit dem ein Sollen ausgesagt wird ; es ist mein Standardbeispiel Mit dem schlichten Satz Das ist ein Unkraut sagt man aus: Das darf man, ja das soll man ausreißen oder sonst irgendwie vernichten. Das ist, wie ich meine, integrierender Bestandteil der Gesamtbedeutung dieses Wortes. Unkraut hat auch eine Deskriptionsbedeutung. Denn Unkraut heißen »Pflanzen, die zwischen angebauten Pflanzen wild wachsen [u. deren Entwicklung behindern]« (DUW, s. v.), also anderen Pflanzen schaden. Aber mitgesagt in Unkraut ist auf alle Fälle auch: Das muß hier weg. Oder: Das gehört hier ausgerissen und vernichtet. Und in dieser präskriptiven Komponente der Bedeutung , im deontischen Bedeutungsanteil, liegt, so meine ich, die Pointe dieses Wortes. Ähnlich ist es auch bei Ungeziefer , was nicht einfach nur rein deskriptiv ein Wort für »[schmarotzende] tierische Schädlinge« ist, z. B. »Flöhe, Läuse, Wanzen, Milben, Motten, auch Ratten und Mäuse« (DUW, s. v.) – also, füge ich hinzu, für solche kleinen Tiere, die typischerweise massenweise da sind und vor denen es dann nur so wimmelt , wie wir sagen; und vor denen man, so füge ich des weiteren hinzu, sich als ein normal

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sozialisierter Zeitgenosse ekelt (dieses ist der emotive-expressive Anteil der Bedeutung). Sondern Ungeziefer , das bedeutet außerdem auch präskriptiv, genau wie Unkraut , etwas, was man zu vertilgen, zu vernichten hat. Und darin liegt auch das Perfide, wenn man Menschen metaphorisch Ungeziefer nennt, wie das ja in der jüngeren Geschichte immer wieder vorgekommen ist. Denn das bedeutet nicht-metaphorisch u. a.: Das sind keine Menschen, sondern Tiere, das sind Schädlinge, vor denen man sich ekelt , und vor allem heißt es: Diese Menschen soll man deshalb töten und vernichten. Die deontische Bedeutung bleibt erhalten im uneigentlichen, metaphorischen Gebrauch des Wortes. Das ist sicherlich ein drastisches Exempel, und ich füge noch ein anderes drastisches hinzu. Carl Améry erzählt, wie er in Wien im Jahre 1935 im Kaffeehaus in der Zeitung den Text der Nürnberger Gesetze las. Und er sagt, da wurde ihm auf einmal klar: Erstens, ich bin ein Jude , was er vorher seinem Selbstverständnis nach nicht war. Und zweitens, so schreibt er wörtlich: » Jude sein, das hieß für mich von diesem Anfang an, ein Toter auf Urlaub sein, ein zu Ermordender …«.30 In der Tat war das für die Partei von Hitler vor wie nach den Nürnberger Gesetzen die deontische Bedeutung des Wortes Jude . Präskriptionsbedeutung , Gerundivbedeutung In der lexikalischen Semantik ist der Terminus deontisch noch nicht üblich, und es fragt sich, ob man eine andere Bezeichnung wählen sollte. Statt von der deontischen Bedeutung kann man auch von einer präskriptiven oder Präskriptionsbedeutung oder Präskriptivbedeutung reden. Allgemeinverständlich könnte man auch sagen: Sollensbedeutung . Müller (1993, 21) nennt den Spezialfall der deontischen Bedeutung , der im folgenden erläutert wird, gerundive Bedeutung . Dafür werde ich hier Gerundivbedeutung sagen. 31 30 Jean Améry, Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein. In: Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Neuausgabe Stuttgart 1977, 135. »Ich glaube nicht«, schreibt Améry, »daß ich unstatthafterweise Auschwitz und die Endlösung schon ins Jahr 1935 rückprojiziere, wenn ich heute diese Überlegungen anstelle« ; zum Beweis dafür zitiert er »Juda verrecke ! « und ein Spruchband aus dem Jahre 1935 : »Keiner soll hungern, keiner soll frieren, aber die Juden sollen krepieren …« (ebd., 134 f.). 31

Den Begriff deontische Bedeutung habe ich zuerst in einem lexikographischen Diskussionszusammenhang verwendet (Hermanns 1986) und ihn später auf politisch relevante Lexik appliziert (Hermanns 1989). Dabei habe ich mich an dem Sprachgebrauch der Logik orientiert, die von der klassischen Aussagenlogik eine Sollenslogik unterscheidet, nämlich die deontische Logik (kurz Deontik ). Innerhalb der Linguistik ist es in der Lehre vom Modalverb üblich, daß man vom deontischen Gebrauch (im Gegensatz zum epistemischen Gebrauch) von sollen , dürfen usw. redet ; diese Unterscheidung könnte man zu einer Unterscheidung von deontischer und epistemischer Bedeutung auch bei anderen Wörtern generalisieren, wo sie aber dann Bedeutungskomponenten (statt Bedeutungsvarianten) meinen würde. Auf das Wort (den Terminus ) deontisch kommt es aber dabei überhaupt nicht an. Deshalb sage ich – anstelle von deontisch – oft auch präskriptiv und knüpfe damit an die wohlbekannte Unterscheidung zwischen einer deskriptiven vs. präskriptiven Grammatik an. Diese Unterscheidung ist vermutlich auch schon Hare (1952) bekannt gewesen, der (ebd., 1 ff.) den Begriff prescriptive language – in implizitem Gegensatz zu descriptive language – einführt, allerdings nicht in Bezug auf Lexik. In der mittlerweile langen Diskussion der Sprachfunktionen, die, durch Jakobson (1960) vermittelt, an Bühler (1934) anschließt, wählt Hymes (1962, 59) den Terminus directive ( function ), was im Englischen

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Wir erinnern uns aus unserer Schulzeit an das Gerundivum. Das ist jenes im Lateinischen vorhandene verbale Adjektiv, das – attributiv oder prädikativ verwendet – mit prägnanter Kürze aussagt: das ist etwas, was ge-x-t werden soll , wenn x der Verbstamm ist. Denn a) Passiv und b) Sollen sind die zwei Bedeutungskomponenten, die das Gerundivum definieren. Als Prädikativum ist das Gerundiv bequem zu übersetzen. Puer est laudandus heißt auf deutsch: Der Knabe ist zu loben (was in diesem Satz nicht heißt Man kann ihn, wenn man möchte, loben , sondern: soll ihn loben ). Schrecklich unbeholfen klingt im Deutschen nur die Schulbuchübersetzung für das Gerundiv als Attribut. Aus einem puer valde laudandus wird dabei ein sehr zu lobender Knabe . Im Französischen, im Italienischen, im Englischen läßt sich das oft viel eleganter sagen. Un livre à lire z. B. ist genauso wie un libro da leggere und a book to be read dasjenige, was auf deutsch ein zu lesendes Buch ist, d. h. eines, das gelesen werden soll . Also die deontische Bedeutungskomponente sollen ist im Gerundivum eingebaut in die Bedeutung. Was im Gerundiv grammatikalisiert ist, eben die deontische Bedeutung, kann jedoch auch lexikalisiert sein, was bei vielen Wörtern in der Tat der Fall ist. Beispielsweise in den gerundiven Adjektiven , wie ich sie hier deshalb nennen möchte. Gerundive Adjektive Eine Durchsicht unseres Standardwerks zur Wortbildung des deutschen Adjektivs (Kühnhold et al. 1978) ergibt für meine Zwecke zweierlei Befunde: a) es haben manche Gruppen der dort aufgeführten Adjektive eine Gerundivbedeutung ; b) die Autoren haben dafür keinen Terminus, verwenden aber (ebd., 474) die Bedeutungscharaktersierung , daß in solchen Adjektiven »etwas (in der Basis ausgedrückt) als erwünscht, günstig

vortreff lich ist, ins Deutsche aber (als direktive Funktion bzw. Bedeutung ) kaum zu übernehmen ; deutsch könnte man entsprechend allenfalls von einer orientierenden bzw. Orientierungsfunktion reden. Hymes nennt außerdem auch konativ , pragmatisch , rhetorisch , persuasiv als mögliche Termini für das Gemeinte ; das eine oder andere dieser Wörter trifft man auch in deutscher linguistischer Literatur zuweilen an, wenn auch nur auf Äußerungen angewendet, aber davon scheint für meine Zwecke keines gut geeignet ( beispielsweise ist rhetorisch viel zu allgemein und konativ nur noch für Latinisten transparent). Müllers (1993, 21) Terminus der gerundivischen Bedeutung ist enger als deontische Bedeutung und trifft deshalb das im folgenden speziell Gemeinte (s. u.) besser. Wenn wir ihn benutzen, bleibt der Terminus deontische Bedeutung frei für eine allgemeinere Verwendung. Damit hätten wir dann in deontisch einen Terminus für solche Fälle, wo mit einem Wort ein Sollen – oder auch ein Dürfen und Nicht-Dürfen – ausgesagt wird, aber ohne die Bedeutungskomponente Passiv. Beispielsweise ist es wie ich meine, ein Bestandteil der Bedeutung solcher Wörter wie fleißig , ehrlich , sparsam , freundlich , mutig , klug , daß man so sein bzw. sich verhalten soll, wie diese Wörter sagen ; und nicht faul , verlogen , verschwenderisch , unfreundlich , feige , dumm sein oder sich verhalten darf . Das pflegt in der Semantik (wenn es überhaupt gesagt wird) so gesagt zu werden, daß man hier von einer positiven Wertung redet. Aber dieses sozusagen abgeklärte Wort sagt, wie ich finde, völlig unzureichend, daß die Eigenschaften, die die angeführten Adjektive nennen, in der deutschen und der europäischen Kultur gefordert werden bei Gelegenheit auch eingeklagt bzw. vorgeworfen . Und nicht – in interesseloser Objektivität gewissermaßen – bloß gemessen und gewichtet und für gut bzw. schlecht befunden, ohne Handlungskonsequenzen.

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oder nötig erscheint« und sprechen diesbezüglich (per Kapitelüberschrift) von einem »Ausdruck der Empfehlung«. Unter diesem Titel werden dort (ebd., 474 – 478) behandelt: – Adjektive auf -wert , z. B. lesenswert (mit dem Beispiel »lesenwertes Buch« und der Bedeutungsparaphrase »Buch, das gelesen werden sollte«); nachahmenswert ; sehenswert ; fluchenswert ; hassenswert ; erwähnenswert (was »zu erwähnen ist/erwähnt werden sollte/erwähnt zu werden verdient«); lobenswert (mit dem Beispiel »lobenswerter Fleiß« und der Erläuterung »Fleiß, der zu loben ist/gelobt, werden sollte«);32 – Adjektive auf -würdig , z. B. vertrauenswürdig (»vertrauenswürdige Person« : »Person, der man Vertrauen schenken sollte/kann«); bewundernswürdig ; förderungswürdig. Allgemein wird dazu angemerkt : »Die modale Leistung reicht vom ›können‹ ( glaubwürdige Darstellung , abbauwürdige Kohle ) über die zentrale Bedeutung ›sollen‹ ( erhaltungswürdige Gebäude , vertrauenswürdige Person ) bis zu ›müssen‹ ( fluchwürdige Tat, verabscheuungswürdige Bluttat )«; – Adjektive auf -bedürftig , z. B. revisisonsbedürftig (»revisisonsbedürftiges Programm« : »P. , das (dringend) revidiert werden sollte«); geheimhaltungsbedürftig ; renovierungsbedürftig ; reparaturbedürftig ; korrekturbedürftig ; – Adjektive auf -reif , z. B. schrottreif (»schrottreife Gewehre« : »die (bald) verschrottet werden sollten«); abbruchreif (»abbruchreifes Haus«: »Haus, das bald abgebrochen werden sollte«). Fazit: Gerundive Adjektive gibt es zahlreich, und mithilfe produktiver Adjektivsuffixe und -affixoide wie -wert , -würdig , -bedürftig , -reif ist ihre Zahl beliebig zu vergrößern. Außerdem gibt es auch manche offenbar als solche noch bis heute nicht erkannten gerundiven Adjektive. Beispielsweise achtbar , das nach Kühnhold et al. (1978, 391) angewendet werden kann auf Eltern. Sind achtbare Eltern solche Eltern, die man achten kann, wenn man das möchte, wie hier durch die Reihenbildung (denkba , deutbar , faßbar , hörbar usw.) und durch eine Formel – mit poss (für möglich ) als Bedeutungsindikator  – ausgesagt wird ? Nein, offensichtlich sind es Eltern, die geachtet werden sollen . Überhaupt hat -bar nicht selten eine gerundivische Bedeutung. So ist zahlbar selbstverständlich nicht, was man bezahlen kann, sondern, wenn in einer Rechnung steht, zahlbar bis zum 1. 5. 1993 , dann bedeutet das, daß man bis dahin zahlen soll . So ist straf bar eine Handlung , die bestraft werden soll (nicht kann ). Ein Zufallsfund belehrt mich, daß (in fachsprachlichem Spezialgebrauch) sogar verwertbar gerundivisch sein kann : »Im Vergleich zu 1991 haben sich die thermisch verwertbaren Siedlungsabfälle, das 32

Historisch ist hier zu vermuten, daß die Bildungen auf -wert (wie die auf -würdig usw., s. u.) ihre deutsche Existenz, soweit sie eine Gerundivbedeutung haben, auch einem Übersetzungsnotstand zu verdanken haben: der Verlegenheit, das Gerundiv aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzen zu müssen. So ist lobenswert ein Wort, das das lateinische laudandus (s. o.) (und das gleichbedeutende laudabilis ) vollkommen angemessen übersetzt ; vermutlich ist es auch zu diesem Zweck geschaffen worden.

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heißt alles, was noch verbrannt werden muß , 1992 um 9 000 Tonnen vermindert« ( Heidelberger Amtsanzeiger 25. 2. 1993). Demnach wäre neben poss alternativ auch noch necess bzw. obligat als Indikator in die Formel der semantischen Struktur von -bar-Adjektiven einzusetzen. Ähnlich steht es auch mit Adjektiven auf die Endung -lich . Löblich etwa ist ein Synonym von lobenswert , und es bedeutet gleichfalls was gelobt werden soll . Sträf lich ist, was (eigentlich) bestraft gehört . Vertraulich ist eine Information, die mit Diskretion behandelt werden soll . Gefährlich ist, was in Gefahr bringt und wovor man sich daher in acht nehmen soll (wovor sich gehütet werden soll). An diesem letzten Beispiel scheiden sich, wie ich aus Diskussionserfahrung weiß, die Geister. Anhänger einer Minimalsemantik wollen nach wie vor nur (nebst dem genus ) eine ( genau eine) differentia specifica (den distinguisher ) als konstitutiv für die Bedeutung eines Wortes gelten lassen. Sie bestreiten nicht, daß eine Äußerung wie Das ist gefährlich sprechakttheoretisch eine Warnung sein kann und als solche dann pragmatisch mit Davor muß man sich vorsehen ! und mit Vorsicht ! äquifunktional ist ; nur erklären sie dies durch Implikatur. Prototypsemantiker dagegen sind daran gewöhnt, Bedeutung als den Inbegriff von allem zu verstehen, was bei der Verwendung eines Wortes in der Regel ( per default) mitgedacht und mitgemeint wird, und sie nehmen also keinen Anstoß daran, daß Bedeutungsparaphrasen eine Wortbedeutung so bestimmen, daß sie logisch (nach der klassischen Vorschrift für Definitionen) überdefiniert ist. Akzeptiert man dies als Möglichkeit, dann wird man auch bereit sein, etwa schuldig (in der einen der Bedeutungen des Wortes) so zu deuten, daß es nicht allein bedeutet »(an etwas) die Schuld tragend, in bezug auf jemanden, etwas Schuld auf sich geladen habend« (DUW, s. v.), sondern außerdem auch mitbedeutet: und deshalb zu bestrafen. Denn wir wissen ja: Strafe muß sein , wenn jemand schuldig ist. Daß jemand schuldig ist, rechtfertigt nicht allein, nein, es verlangt danach, daß er bestraft wird. Und dies ist in der »Vorstellung«, wie man früher sagte, mitenthalten, die man von jemand hat, der schuldig ist; heute würde man computermetaphorisch sagen können, daß schuldig und zu bestrafen eng »vernetzt« sind. Beides läuft jedoch darauf hinaus, daß die deontische Bedeutung zu bestrafend zur Gesamtbedeutung dieses Wortes ( schuldig ) beiträgt. Gerundive Substantive Gerundive Substantive sind die oben schon genannten Unkraut sowie Ungeziefer , aber das sind Wörter, wo die Gerundivbedeutung implizit ist. Für die Skeptiker bezüglich eines in Lexemen ausgesagten Sollens überzeugender sind sicherlich auch hier (beim Substantiv) die expliziten Fälle solcher Wörter, die die Lehnmorpheme -andum oder -and enthalten und die leicht zu finden sind anhand des Wörterbuchs von Muthmann (1988, 551, 169 – 171). Unzweifelhaft ist wohl ein Explikandum etwas, was zu explizieren ist, d. h. expliziert werden soll , ein Definiendum das, was definiert werden soll ; und ähnlich ein

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Analysand , Habilitand , Konfirmand , Examinand jemand der respektive analysiert, habilitiert, konfirmiert, examiniert werden soll . Ganz genauso wie ein Auszubildender – sogar auch dann noch, wenn er sich auf den Azubi reduziert hat – jemand ist, der ausgebildet werden soll .33 Wie schon bei den Adjektiven ist es aber auch bei Substantiven schon von vornherein wahrscheinlich, daß es die Bedeutungskomponente sollen (oder werden sollen ) nicht allein bei Wörtern gibt, die diesbezüglich motiviert sind, sondern auch bei anderen Wörtern wo die Gerundivbedeutung also implizit ist. Ähnlich, wie in manchen Blumennamen explizit gesagt ist, daß es sich beim Denotat um eine Blume handelt (so bei Sonnenblume, Dotterblume, Kornblume ), nicht jedoch in anderen Blumennamen (so bei Rose, Tulpe, Akelei ), bei denen es jedoch nichtsdestoweniger genauso wesentlich für die Bedeutung ist, daß diese Pflanzen Blumen sind, statt irgendwelche anderen Pflanzen. Und wir finden solche Substantive – mit deontischer, mit gerundivischer Bedeutung – in der Tat sogar in unseren Wörterbüchern als deontisch ausgewiesen. Hier in bunter Reihenfolge einige Exempel. – So ist eine Einbahnstraße eine »Straße, die nur in einer Richtung befahren werden darf « (DUW, s. v.); nicht etwa : wird bzw. kann . So erklärt es sich, daß man beim Autofahren eine Äußerung wie Das ist eine Einbahnstraße nicht als die gewissermaßen wertneutrale Darstellung (im Sinne Bühlers) eines Sachverhalts versteht, sondern als Warnung oder (negative) Auf forderung : Fahr da nicht aus Versehen rein ! Das Sollen (oder negativ: Nicht-Dürfen ) ist in der Bedeutung schon des Wortes mitenthalten. – Eine Miete ist der »Preis, den man für das Mieten von etw. … zahlen muß« (DUW, s. v.). Also das Sollen steckt auch hier in der Bedeutung dieses Wortes mit darin, denn eine Miete, die man gar nicht zahlen müßte, wäre keine, sondern ein Geschenk an den Vermieter. – Ähnlich ist die Steuer ein »bestimmter Teil des Lohns, Einkommens oder Vermögens, der an den Staat abgeführt werden muß « (DUW, s. v.); und sind Schulden ein »Geldbetrag , den jemand einem anderen schuldig ist« (DUW, s. v.), und hier bedeutet schuldig , daß jemand »zu geben verpflichtet « (DUW, s. v.) ist. Die Rechnung ist eine »schriftliche Aufstellung … mit der Angabe des Preises, der … zu zahlen ist « (DUW, s. v.). Offensichtlich ist die Gerundivbedeutung häufig anzutreffen, wo es um das Geld geht. – Ein Ziel ist a) ein Punkt oder Ort, »bis zu dem man kommen will …« oder b) »etw., was beim Schießen, Werfen o. ä. … getroffen werden soll « oder c) »etwas, … was man … als angestrebtes Ergebnis seines Handelns, Tuns zu erreichen sucht « (DUW, s. v.): man sieht hier, wie in den Bedeutungsparaphrasen will und soll (mutatis mutandis) dieselben Dienste tun. In einer sprechakttheoretischen Studie wird defi33

Dieses Beispiel gibt (mdl.) Herbert Ernst Wiegand.

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niert: »Ziele sind … Weltzustände, die … herbeigeführt werden sollen « (Matsch & Pasch 1987, 23). – Eine Arbeit ist – in einer der Bedeutungen des vielfach polysemen Wortes – wie die alten (aber nicht die neuen) deutschen Wörterbücher wissen, nicht nur »dasjenige, was durch Arbeit hervor gebracht worden [ist]«, sondern ebenso auch »dasjenige, was durch die Arbeit hervor gebracht werden soll « (Adelung (1808, s. v.); ähnlich definieren Arbeit Campe (1807) und noch Sanders (1860): »der Gegenstand, das Werk der arbeitenden Thätigkeit, und zwar sowohl das geschaffte als das zu schaffende«. Also unsere alten Wörterbücher waren noch sensibel für den Unterschied, ob eine Arbeit schon getan ist oder noch zu tun ist. Aber Arbeit ist auch heute noch (u. a.) das, was getan werden soll . Denn nur so ist es erklärlich, daß, wenn man zu jemand sagt Das ist deine Arbeit , dieser Satz soviel bedeuten kann wie Das sollst du machen oder Mach das ! Diese kleine Liste gerundiver Substantive soll hier nur plausibel machen, daß es so etwas tatsächlich gibt wie die deontische Bedeutung , hier im Spezialfall einer Gerundivbedeutung . Und daß sie, nicht immer, aber oft, durchaus auch in den Wörterbüchern ausgewiesen wird. Auf die wirklich, wie ich finde, interessanten Fälle einzugehen, ist hier nicht der Ort: die großen Wörter insbesondere der sozialen und politischen Bewußtseinsbildung wie Nation bzw. Deutschland ( beides hierzulande lange das, was noch geschaffen werden sollte), Demokratie (im 19. Jahrhundert eine Staatsform, die man je nach Standpunkt und nach Gruppensprache schaffen oder auch verhindern sollte ), Sozialismus (als Gesellschaftsform, die in der DDR aufgebaut werden sollte , bis man dann befunden hat, sie sei schon existierend ). Oder Wörter der moralischen Bewußtseinsbildung wie das eben schon genannte Arbeit und das Verbum arbeiten . »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« – dieser Satz ist, wie ich meine, prägend nicht nur für das europäische und deutsche Denken, sondern auch für die Semantik – wenn auch nicht die Minimalsemantik – dieses Wortes.34 Zur Infragestellung des Begriffs ›Proposition‹ in linguistischem Gebrauch Wenn ich richtig sehe, hat die Linguistik bisher Wörter mit deontischer Bedeutung als Faktoren des Zustandekommens des illokutionären Sinnes eines Satzes kaum beachtet, und sie hat sich bei der Suche nach Illokutionsindikatoren auf Grammatisches (im alten Sinn von: was in der Grammatik abgehandelt wird, und nicht im Wörterbuch) beschränkt, zumindest konzentriert. So vor allem auf den Modus, Modalverben, Wort-

34 Zu den das deontische Bewußtsein prägenden Vokabeln gehört seit etwa 1970 auch Umwelt (Hermanns 1991). Zu Nation und Deutschland vgl. Busse (1993, 14): »Der Begriff der Nation bezeichnete daher in Deutschland im 19. Jahrhundert immer noch etwas Zukünftiges, etwas, auf das sich die Hoffnungen richteten und das erst herzustellen sei – es war ein Sollensbegriff kein Seinsbegriff.«

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stellung, Intonation, Akzent. Aus der (i. e. S.) Lexik gelten nur die Satzadverbien und -adverbiale als für den illokutionären Sinn des Satzes wichtig . Substantive, Adjektive, Verben mit deontischer Bedeutung werden als konstitutive Elemente der Erzeugung illokutionären Sinnes bisher außer acht gelassen. Dabei zeigen gerade solche Wörter oft den illokutionären Sinn an, den ein Satz hat. Das so oft zitierte Beispiel für den indirekten Sprechakt – Es zieht !  – ist in seinem illokutionären Sinn – Mach bitte schnell die Tür oder das Fenster zu ! – doch wohl nur zu verstehen, wenn man weiß, was jedes Glied der deutschen Kommunikationsgemeinschaft weiß: daß es nicht ziehen darf und daß ein Zug , wenn er entsteht, behoben werden soll , besonders wenn es kalt ist ; hingegen ist ein leichter Lufthauch in der Wohnung etwas Angenehmes und Erwünschtes, wenn es heiß ist.35 Wenn in einem Satz von einem lesenswerten Buch die Rede ist, dann weiß genauso jeder Sprecher unserer Sprache, daß er damit aufgefordert ist (ihm angeraten wird), das Buch zu lesen. Und wenn etwas Unkraut ist, dann weiß man gleichfalls, was damit geschehen soll bzw. sollte. Dazu noch als letztes Beispiel eine Lesefrucht aus einem Buch von Horváth ( Jugend ohne Gott ), wo der Autor einen Bauern über eine Diebesbande obdachloser Kinder sagen läßt : »Denen trau ich alles zu. Es ist Unkraut und gehört vertilgt ! «36 Wie ich diesen zweiten Satz verstehe, meint er : Es ist Unkraut und gehört aus diesem Grund vertilgt . Denn Unkraut ist nun einmal, ganz bestimmt für einen Bauern, so geartet, daß man es vertilgen soll, wo man es antrifft, und das bleibt, wie schon gesagt, erhalten auch bei metaphorischer Verwendung dieses Wortes. Also alle diese Sätze haben den Appellcharakter, den sie haben, weil die Wörter, die darin gebraucht sind, ihrem Hörer sagen, was er soll . Was er, wie man allerdings genauer unterscheiden müßte, erstens wollen soll und zweitens, wenn dies möglich ist, auch tun soll.37 Damit aber eo ipso gleichfalls sagen, was der Sprecher will , daß es der Hörer wollen oder tun soll.

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Allerdings kann man hier auch erklären : Es zieht ! ist als Phraseologismus lexikalisiert und bedeutet daher schon von vornherein Mach bitte schleunigst zu, was (Fenster oder Tür) du gerade aufgemacht hast . Auch so hätte Es zieht ! eine deontische Bedeutung.

36 Ödön von Horváth, Gesammelte Werke. Band 6. Frankfurt am Main 1972, 309. 37

Mit dieser Unterscheidung folge ich dem schon zitierten Aufsatz von Matsch & Pasch (1987), die das faszinierende Verwirrspiel mit den Grice’schen Intentionen paradoxerweise dadurch einer Klärung näher bringen, daß sie eine zusätzliche Intention des Sprechers postulieren : »Wenn ein Sprecher will daß ein Hörer etwas tut, so muß er auch wollen, daß der Hörer das tun will« (ebd., 26 ). Also gibt es nach Matsch & Pasch drei mit einer Äußerung verknüpfte Intentionen, die ein Sprecher S bezüglich eines Hörers H hat : S will, daß H erkennt, d. h. versteht , was er tun soll ; S will, daß H akzeptiert , was er tun soll, d. h. H soll dies auch selber wollen ; S will, daß H tut , was er tun soll ( wenn er etwas tun soll ). – Und wenn H dies nun nicht kann und wenn S das auch vielleicht von vornherein schon wußte ? Dann muß es eben dabei bleiben, daß H sich lediglich den Wunsch von S zu eigen macht. Oft beschränkt sich die Funktion von Äußerungen darauf, bestimmte volitive (wie auch kognitive oder affektive) Haltungen ( attitudes ) herbeizuführen oder auch nur zu bestärken oder abzuschwächen.

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Daß man in der Linguistik dafür bislang blind ist, liegt, wie ich vermute, wesentlich auch daran, daß die Linguistik aus der Logik – unbesehen sozusagen – den Begriff Proposition entlehnt hat, der semantisch eindimensional ist. Denn eine Proposition kann weder emotiv sein noch deontisch, sondern bloß wahr oder falsch. So ist sie nämlich definiert: es wird, wenn wir den Terminus Proposition auf einen Satz anwenden, systematisch abstrahiert von allem, was zu dessen Wahrheitsfähigkeit nichts beiträgt. In der Prädikatenlogik wird auf diese Weise etwa aus dem Satz Das ist gefährlich ein deontisches und affektives Neutrum, das als solches keine Angst zum Ausdruck bringen kann und das auch nicht besagt, daß hier mit einer Sache oder einem Sachverhalt vorsichtig umgegangen werden soll . Dieser Satz ist daher für die Logik auch nur die Behauptung der Proposition, daß das gefährlich ist , und insbesondere ist er keine Warnung , was er aber doch normalerweise ist, wie oben schon gesagt : pragmatisch ist er ja geradezu äquivalent mit Vorsicht ! Nicht, daß dies die Logiker – gewissermaßen als Privatpersonen – gar nicht wüßten. Aber für die Prädikatenlogik und Aussagenlogik, die sich bloß für Folgerungsbeziehungen von Sätzen interessiert, für die es nur auf Wahrheitswerte ankommt, ist dies in der Tat nicht relevant. Und so reduziert sich in der logischen Betrachtung die Bedeutung eines Satzes wie Das ist gefährlich darauf, daß hier das Bestehen eines Sachverhalts behauptet wird. Und die Bedeutung eines Wortes wie gefährlich reduziert sich darauf, daß es eine kognitive Eigenschaft bedeutet, also etwas darstellt. Nicht jedoch auch etwas ausdrückt und signalisiert , im Sinne Bühlers. Der Begriff Proposition macht alles unsichtbar, was in der Satz- und Wortbedeutung Ausdruck und Appell ist, und das soll er auch, denn dazu hat man ihn gebildet.38 Für die Linguistik ist daher der Terminus Proposition ein zweifelhaftes Erbe aus der Logik. Soll man also in der Linguistik auf den Terminus verzichten ? Oder soll man ihn in neuer Weise derart definieren, daß er emotive und deontische Bedeutungskomponenten nicht mehr ausschließt ? Diese beiden Möglichkeiten gibt es.

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Selbst noch in der logischen Deontik (deontischen Logik) bleibt der Kern jedes (Sollens-) Satzes als Proposition frei von jeglicher Sollens-Bedeutung ; das Deontische kommt erst (und nur) durch die deontischen Operatoren (analog zu den Modal-Operatoren) in den Satz hinein, wenn sie auf die Propositionen angewendet werden. Ähnlich ist es auch bei Austin, wo ja der locutionary act das ist, was noch bleibt, wenn man von der illokutiven Bedeutung ( illocutionary force ) einer Äußerung (eines Satzes) abstrahiert,. was so gedacht ist, daß die jeweilige illocutionary force zur Bedeutung (meaning ) einer Lokution hinzugefügt wird ; und nicht etwa schon darin steckt. Ähnlich ist es auch in der Spechhandlungstheorie der Berliner Schule (vgl. etwa Matsch & Pasch 1987).

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5 Wirklichkeit als kognitiv und emotiv und präskriptiv geprägte Wie ich hoffe dargetan zu haben, gibt es wirklich Wörter, die im Sinn von Bühlers Drei-Funktionen-Schema multifunktional sind: Wörter, die, in Personalunion, die Rollenträger sind von deskriptiven und auch expressiven Elementen der Bedeutung ; oder Träger sind von deskriptiven und auch präskriptiven Elementen der Bedeutung ; oder Träger sind von deskriptiven und auch expressiven und auch präskriptiven Elementen der Bedeutung. Gibt es Gründe für die Existenz von solchen sozusagen Doppel- oder Dreifachwörtern ? Ungeziefer war ein solches Wort, das deskriptiv und emotiv und präskriptiv ist. Das ist ökonomisch. Solche Wörter schlagen ja, wenn man so will, zwei Fliegen oder drei mit einer Klappe. Ich vermute aber, daß es auch noch einen anderen – den eigentlichen, wie ich meine – Grund der Existenz von solchen Wörtern gibt. Dieser Grund ist, wie ich meine, ontologisch. In der Bühlersehen Ontologie sind dargestellte Wirklichkeit und ausgedrückte Emotion und mitgeteilte Intention vollkommen separiert, sie haben darin miteinander nichts zu tun. Darstellung ist für Bühler immer emotionslos und appellfrei. Das bedeutet aber auch: die Wirklichkeit – der Gegenstände und der Sachverhalte – ist für Bühler eine emotiv, und präskriptiv neutrale. Eine Wirklichkeit, in der kein Unkraut , nichts Erfreuliches und nichts Entsetzliches und keine Einbahnstraßen existieren. Bühlers Wirklichkeit ist offensichtlich eine szientifisch-wissenschaftliche. Ihre Gegenstände/ Sachverhalte haben keine affektiven, keine präskriptiven Eigenschaften, sondern nur die kognitiven, die mit dem Begriff Proposition gemeint sind. Wir leben aber alle nicht in einer Welt, die, wie der junge Wittgenstein (1921, 1) gesagt hat, nichts weiter ist als »alles, was der Fall ist«. Denn wir stehen Gegenständen oder Sachverhalten, von Personen ganz zu schweigen, wenn wir sie betrachten und erleben, nicht neutral, gewissermaßen wissenschaftlich, gegenüber. Wie auch sie nicht uns. Die Gegenstände, Sachverhalte und Personen muten uns auf ganz bestimmte Weisen an und fordern uns zu ganz bestimmten Weisen des Verhaltens auf . Manche Menschen sind sympathisch, manche Sachverhalte dieser Welt sind unannehmbar . Dazu möchte ich aus Überzeugung sagen: Sie sind wirklich unannehmbar (was bedeutet: man darf sie nicht akzeptieren) oder auch sympathisch (was bedeutet, daß wir für sie Sympathie empfinden). Das gehört zur Wirklichkeit dazu, in der wir leben, wenn auch nicht zur Wirklichkeit der Wissenschaften. Denn als kognitiv und emotiv und präskriptiv geprägte Wirklichkeit erleben wir die Welt, und daher zeigt sich uns die Welt auch so in unserer Sprache, die jedoch auch umgekehrt das ihre dazu beiträgt, wie die Welt geprägt ist, kognitiv und emotiv und präskriptiv.

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Brisante Wörter Zur lexikographischen Behandlung parteisprachlicher Wörter und Wendungen in Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache 1

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Symptomfunktionale Brisanz Fahnenwörter Ideologische Polysemie Varia Theoretisches Defizit Lexikographische Desiderata Anmerkungen Literatur

1 Symptomfunktionale Brisanz Wenn von der Brisanz parteisprachlicher Wörter und Wendungen die Rede ist, dann liegt es nahe, dabei zuerst an deren symbolfunktionale und appellfunktionale Bedeutung zu denken. Wörter können brisant sein, insofern das, was sie denotativ oder appellativ zum Ausdruck bringen, brisant ist. So beruhte die – durch eine politische Entwicklung, die eine Demotivierung hat eintreten lassen, inzwischen gemilderte – Brisanz der Namen der beiden deutschen Staaten Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik auf den in diesen Namen per Implikation enthaltenen Aussagen, es sei die Bundesrepublik Deutschland der einzig legitime Nachfolger des Deutschen Reiches (»Alleinvertretungsanspruch« bzw. »-anmaßung«), es sei die Deutsche Demokratische Republik der einzig demokratische Dieser Beitrag ist erstmals 1982 erschienen in: Wiegand, Herbert Ernst (Hg.): Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie, Bd. 2. Hildesheim/New York (= Germanistische Linguistik 80, 3 – 6 ), 87 – 108. 1

Veränderte Fassung eines Referats auf der Jahrestagung 1979 der Gesellschaft für Angewandte Linguistik in Mainz. Für Rat und Kritik danke ich den Mitgliedern des Linguistischen Kolloquiums der Heidelberger Germanisten, besonders Werner Wolski, sowie Walter Lenschen (Lausanne) und – für zahlreiche Hinweise – Walther Dieckmann (Berlin).

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deutsche Staat; die Brisanz der Namen entsprang mithin der ihnen eingeschriebenen Konzeptualisierung (Symbolfunktionalität) sowie den daraus sich ergebenden, einander widersprechenden Loyalitätsforderungen (Appellfunktionalität), die also beide Staaten schon in ihren Namen – aber natürlich nicht nur durch ihre Namen – zum Ausdruck brachten. In anderen Fällen ist die symbolfunktionale Bedeutung für sich genommen unverfänglich; die Brisanz von Wörtern wie 40-Stunden-Woche, Mitbestimmung oder Fristenlösung beruhte (oder beruht) allein darauf, daß mit ihnen jeweils eine politische Forderung formuliert ist, also auf ihrem Losungscharakter (Appellfunktion). Jedoch können Wörter und Wendungen brisant auch sein kraft ihrer symptomfunktionalen Bedeutung, insofern nämlich ein Sprecher durch ihren Gebrauch sich als Angehörigen einer bestimmten Partei, zu deren Sprache Wort oder Wendung gehört, z u e r k e n n e n g i b t. So läßt die Verwendung des Wortes »DDR« mit Anführungsstrichen bzw. der Wendung sog. DDR zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine eher nicht-sozialliberale Parteilichkeit des Sprechenden bzw. Schreibenden vermuten, während man aus der Verwendung der Abkürzung BRD eine (bewußte oder nicht-bewußte) Parteinahme für die staatsrechtlichen Positionen der DDR gemeint hat, ablesen zu können. 1.1 In der Tat lassen parteisprachliche Wörter und Wendungen Rückschlüsse auf ihre Benutzer zu, allerdings mit allen Einschränkungen, die für das symptomfunktionale Rückschließen auf einen Sprecher auch sonst gelten.2 Der Unterschied ist nur, daß Wort oder Wendung hier nicht die dialektale, diachronische, diastratische oder sonst eine denkbare Gruppenzugehörigkeit des Sprechers erkennen lassen, sondern eben speziell die Zugehörigkeit zu einer Partei (worin das spezifisch Brisante dieser Wörter und Wendungen begründet ist). Natürlich gibt es keine Wörter oder Wendungen, durch deren Gebrauch man sich quasi automatisch und stets zum Parteigänger irgendeiner Richtung erklären würde. Die Möglichkeit des Rückschlusses ist i. a. auf »normale Verwendung unter normalen Umständen« eingeschränkt.3 Mit dieser Formulierung sollen insbesondere die Fälle der ironischen Verwendung, der Verwendung im Zitat, in kritischer oder wissenschaftlicher Absicht usf. ausgeschlossen werden, die man in einem weiten Sinn als Fälle »uneigentlichen« Sprachgebrauchs bezeichnen könnte. Auch unter dieser Voraussetzung hat ferner der Rückschluß vom Wort auf den Sprecher natürlich nie den Charakter eines formal-logischen Schlusses, d. h. nicht den Charakter der Unausweichlichkeit. Das par2 3

Zur Symptomfunktionalität sprachlicher Zeichen vgl. zusammenfassend Kubczak 1979 (zur Frage der Rückschließbarkeit von Sprache auf Sprecher 84 ff. mit Verweis auf Polenz 1974). Einen Vorschlag zur Präzisierung des Begriffs der »normalen Verwendung« eines sprachlichen Zeichens – der für die Lexikographie offenbar unentbehrlich ist – durch Rekurs auf den Begriff des »usuellen Textes« macht Wiegand (1981, 322).

Brisante Wörter

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teisprachliche Wort legt vielmehr eine Identifizierung seines Benutzers als Parteigänger einer Partei n u r n a h e. Das genügt allerdings, um ein Wort brisant zu machen. Denn offenbar sind in bestimmten Situationen zumindest manche Sprecher sehr leicht bereit, aus der Verwendung bestimmter Wörter (DDR/SBZ, Gruppe/Bande, BRD/Bundesrepublik) sehr weitreichende Schlüsse zu ziehen. 1.2 Voraussetzung symptomfunktionaler Rückschließbarkeit ist ganz allgemein, daß Wort oder Wendung, wovon geschlossen wird, nicht einfach nur zur Sprache einer jeweiligen Gruppe gehört, sondern darüber hinaus für sie charakteristisch ist. Wörter oder Wendungen müssen für ihre Gruppe spezifisch sein entweder in einem absoluten Sinn, daß sie nach Form und Inhalt nur der Gruppensprache angehören, oder als Bedeutungsspezifika, oder in einer spezifischen Bedeutungsdominanz, oder als Wertungsspezifika, oder als Häufigkeitsspezifika.4 Nur bei einer Abweichung der Gruppensprache von der Gemeinsprache oder anderen Gruppensprache besteht ja die Möglichkeit, daß man einen Sprecher als Angehörigen seiner Gruppe – in unserem Fall als Parteigänger seiner Partei – erkennt. 1.3 Das Wort Partei ist hier und im folgenden in einem weiten Sinn gemeint, so daß nicht nur politische Parteien, sondern auch andere Gruppierungen darunter fallen, die eigene politische, religiöse, weltanschauliche oder ähnliche Lehren vertreten oder Ziele verfolgen, die im Widerspruch zu denen anderer derartiger Gruppierungen stehen. Interessant für die Sprachwissenschaft sind solche Gruppierungen in dem Maß, wie sie eine eigene Gruppensprache ausbilden. Interessant für die Lexikographie auch der Gemeinsprache werden solche Gruppierungen, wenn es ihnen gelingt, ihre Sprache, die zunächst eine Sondersprache ist, auch außerhalb ihrer Mitgliedschaft bekannt zu machen, so daß die Lexik der Gruppe zumindest teilweise zum – passiven – Sprachbesitz der Allgemeinheit der Sprecher der Gemeinsprache wird. Dann ist nämlich der Zustand erreicht, von dem hier die Rede ist: daß man einen Sprecher an den Wörtern und Wendungen, die er gebraucht, als Angehörigen einer bestimmten Partei erkennen kann. 1.4 Als brisant sind die parteisprachlichen Wörter und Wendungen insofern zu bezeichnen, als man bei ihrer Benutzung etwas riskiert. Denn in der Benutzung eines parteigebundenen Wortes zeigt man gewissermaßen Flagge. Zwar nur implizit  – deswegen aber nicht weniger deutlich – erklärt man dabei mit der Zugehörigkeit zu einer Partei zugleich die Besonderheit der eigenen Meinung, des eigenen Standpunktes, der eigenen Ziele in ihrem Abweichen von Meinungen, Standpunkten, Zielen usw. anderer Parteien und möglicherweise einer Allgemeinheit. Ein Herausstellen der eigenen Parteigebun4

Diese Liste verschiedener Typen der Spezifizität in Anlehnung an Hellmann 1980, 523.

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denheit aber wirkt sehr oft – wenn auch nicht immer – provokativ. Und wer provoziert, muß damit rechnen, daß er angegriffen wird. Eine solche Provokation ist manchmal beabsichtigt. Es gibt einen aggressiven Gebrauch brisanter Wörter, die dann dem Zuhörer gewissermaßen hingeschleudert werden wie ein Fehdehandschuh. Es gibt auch die Situation, daß ein Sprecher solche Wörter verwendet, obwohl es ihm lieber wäre, eine Provokation zu vermeiden. Er handelt dann wie unter einem Bekenntniszwang. Er muß, weil es ihm seine Gruppenmoral vorschreibt, Flagge zeigen, obwohl er es im Moment lieber nicht auf eine Auseinandersetzung ankommen lassen würde. Es gibt aber natürlich auch die – oft genutzte – Möglichkeit, brisante Wörter bewußt zu meiden, um eine Provokation zu vermeiden. Besonders in der »guten Gesellschaft« und in der Wissenschaft gibt es die Tradition, daß man brisante Wörter nicht verwendet, weil man die Politik und ihren Streit aus diesen Bereichen fernhalten will. Andererseits ist es auch klar, daß parteisprachlich-brisante Wörter und Wendungen nicht nur bewußt verwendet werden. Es gibt den Fall, daß jemand ein Wort gegen seinen Willen, d. h. versehentlich gebraucht; es »rutscht ihm heraus«, und er »verrät sich« dann vielleicht mit diesem Wort. Oder es kann sein, daß jemand ein Wort aus einer Parteisprache verwendet, ohne zu wissen, daß es sich um ein parteispezifisches Wort handelt. Er gebraucht das Wort dann naiv. Dies ist besonders der Fall des Ausländers, der eine fremde Sprache lernt. Als brisante Wörter kann man deshalb die parteisprachlichen Ausdrücke besonders auch im Gedanken an den ausländischen Lerner einer Sprache wie des Deutschen bezeichnen. Gerade für einen Ausländer besteht das Risiko, daß er solche Wörter verwendet, ohne etwas von ihrer Parteigebundenheit zu wissen, so daß er, wenn er sich allein nach der denotativen Bedeutung eines Wortes richtet, die sein Lexikon ihm nennt, besonders leicht ins Fettnäpfchen tritt. Es kann also geschehen, daß sich ein Ausländer in Deutschland, besonders wenn er noch nicht oder noch nicht lange im deutschsprachigen Raum gewesen ist, unfreiwillig durch seine Sprache als Links- oder Rechtsradikalen oder auch als gläubigen Katholiken darstellt, was zu teils komischen, teils bitteren Mißverständnissen Anlaß geben kann, besonders dann, wenn die Sprachbeherrschung des Ausländers im übrigen gut ist. Hier stellt sich konkret die Frage, welche Hilfen ein ausländischer Lerner der deutschen Sprache in dieser Hinsicht von den deutschen Wörterbüchern erhält. Es ist schon vorab zu vermuten, daß er mit dieser Hilfe nicht immer wird zufrieden sein können. Denn schließlich – und nicht zuletzt – sind parteisprachliche Wörter und Wendungen brisant auch für die Verfasser und Redakteure von Wörterbüchern, wie im folgenden an einigen (wenigen) Beispielen gezeigt werden soll.

Brisante Wörter

2

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Fahnenwörter

2.1 Eine erste große Gruppe parteisprachlicher Wörter und Wendungen bilden die »Fahnenwörter«, wie man sie im Anschluß an einen älteren Sprachgebrauch nennen kann.5 Die Bezeichnung bringt zum Ausdruck, daß es sich hier um die Wörter einer Parteisprache handelt, deren Funktion es gerade ist, als parteisprachliche Wörter aufzufallen. Sie sind dazu da, daß an ihnen Freund und Feind den Parteistandpunkt, für den sie stehen, erkennen sollen. Wörter wie z. B. soziale Marktwirtschaft, Mitbestimmung, Bürger in Uniform, antiautoritäre Erziehung, Lebensqualität – um nur einige Schlagworte aus der Geschichte der Bundesrepublik zu nennen – stehen jeweils für ein politisches oder gesellschaftliches Programm. Solche Wörter können in der Tat, wenn man sie ostentativ verwendet, wie eine Fahne wirken, die man hoch hält und ins Feld führt – oder auch wie ein rotes Tuch. Die Brisanz ist also bei diesen Wörtern einer Parteisprache keine gewissermaßen unerwünschte Begleiterscheinung, sondern sie werden gerade geprägt und verwendet, damit sich daran die Geister scheiden. Diese wesentliche Eigenschaft der programmatischen Wörter sollte deshalb auch – so könnte man erwarten – in den Wörterbüchern zum Ausdruck gebracht werden. Dies ist aber, wie Stichproben zeigen, bei den größeren Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache im allgemeinen nicht der Fall. So wird das Schlagwort soziale Marktwirtschaft im WAHRIG (s. v. Marktwirtschaft) ohne weiteren Zusatz erklärt durch: Marktwirtschaft, die im Interesse der sozialen Gerechtigkeit gewissen Beschränkungen unterliegt. Der DUDEN ist etwas ausführlicher, indem er seiner Erklärung (bei der der Staat zur Minderung sozialer Härten u. zur Sicherung des freien Wettbewerbs eingreift, s. v. Marktwirtschaft) eine quasi-etymologische Erläuterung beifügt: (1947 gepr. von dem dt. Nationalökonomen u. Soziologen A. Müller-Armack, 1901 – 1978). Das WDG (Klappenbach  & Steinitz) schließlich stellt seiner Bedeutungserklärung (teilweise staatlich gelenkte und mit gewissen sozialen Leistungen verbundene, aber auf die Erhaltung des Kap. zielende M., s. v. Marktwirtschaft) den Hinweis voran: Neupräg. BRD. Alle drei Wörterbücher verfehlen damit ihre Aufgabe, zu deren Lösung zumindest ein Hinweis gehören würde auf die einzigartige, für das Selbstverständnis der Bundesrepublik vor allem der fünfziger Jahre grundlegende Bedeutung – im Sinne seiner Wichtigkeit – dieses Schlagworts, das zunächst den Gegensatz zwischen CDU und SPD bezeichnete, auch später aber, nachdem es zu einer Formel für den Konsensus der großen Parteien in der Bundesrepublik geworden war, seinen parteilich-programmatischen Charakter, nun in Abgrenzung nur noch gegen den Sozialismus-Kommunismus besonders der DDR, natürlich behielt. Ja nicht einmal, daß es sich überhaupt um ein Schlag5

Das Wort – ohne terminologischen Anspruch – schon bei Ladendorf 1906, 2 und passim.

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oder Fahnenwort handelt, wird aus den Wörterbüchern deutlich. Der Duden geht mit seiner Anmerkung am Wesentlichen zielstrebig vorbei, um stattdessen eine antiquarische Information mit den Lebensdaten von Müller-Armack zu bringen, wobei das Wichtigste in diesem Zusammenhang, daß Müller-Armack Berater und Staatssekretär des Wirtschaftsministers Ludwig Erhard war – der als »Vater des deutschen Wirtschaftswunders« die soziale Marktwirtschaft propagierte und repräsentierte – ausgespart bleibt. Auch die Kennzeichnung Neupräg. BRD ist durchaus nichtssagend. Denn das, was man wissen muß, wenn die Wendung soziale Marktwirtschaft in ihrer wirklich epochalen Bedeutung für die Bundesrepublik – und damit in ihrer ›Bedeutung‹ auch in einem sprachwissenschaftlichen Sinn! – verständlich sein soll, ist nicht, daß sie in der Bundesrepublik n e u geprägt worden ist – das ist vielmehr nur ein historischer Zufall, sie hätte auch älter sein können – sondern ist eben die Rolle, die sie hier gespielt hat.6 2.2 Ein negatives Pendant der Fahnenwörter bilden die »Stigmawörter« (so könnte man sie vielleicht nennen), die gleichfalls, wie die Fahnenwörter, einen Parteistandpunkt in plakativer Weise kenntlich machen, nur mit dem Unterschied, daß hier die gegnerische Partei, ihre Mitglieder, Ziele, Werte usw. negativ – statt die der eigenen Partei positiv – bezeichnet werden.7 Es ist einleuchtend, daß eine Partei ein Bedürfnis nach solchen negativenBezeichnungen hat, besonders dann, wenn keine neutralen Bezeichnungen zur Verfügung stehen, so daß man sonst auf die positiven Selbstbezeichnungen des Gegners angewiesen wäre. Aus der Existenz und Verbreitung der Stigmawörter ergibt sich für die Lexikographie die Aufgabe, sie als solche kenntlich zu machen. So wird das Wort Kapitalismus in der großen Mehrzahl der Fälle mit negativer Wertung gebraucht. Es ist ein kommunistisches und sozialistisches Kampfwort8 – d. h. eine 6 7

8

Zu Begriff und Konzept der Sozialen Marktwirtschaft vgl. die Beiträge in Greiffenhagen (1980, 447 ff., mit weiterführenden Literaturhinweisen). Der Neologismus Stigmawort wird hier faute de mieux eingeführt, da die üblichen Bezeichnungen Schimpfwort und Schmähwort das Gemeinte verfehlen. Denn bei den Stigmawörtern handelt es sich gerade nicht um offenkundig herabsetzende, schmähende, schimpfende Wörter. Vielmehr wird mit ihrem Gebrauch typischerweise der Anspruch verbunden, sie stellten ihren Gegenstand »objektiv« dar, wie er (bedauerlicherweise) nun einmal sei. Anders gesagt: Die dem Stigmawort innewohnende Abwertung erscheint nicht, wie beim Schimpfwort, als etwas, was vor allem der Einstellung des Wortbenutzers zuzuschreiben ist, die er mit diesem Wort zum Ausdruck bringen will (Ausdrucksfunktion) – und was deshalb auch durch eine »pragmatische Information« (im Sinne von Wiegand 1981), z. B. »abwertend«, lexikographisch zu indizieren wäre. Vielmehr gehört beim Stigmawort das Negative zum Begriffsinhalt (Darstellungsfunktion), so daß der Sprachbenutzer in der Verwendung des Stigmawortes (scheinbar) selber nicht wertet, sondern nur konstatiert. Vgl. z. B. das »Kleine Wörterbuch des DDR-Wortschatzes« (Kinne & Strube-Edelmann 1980) s. v.: »Die Verwendung der beiden Wörter Kapitalismus und kapitalistisch ist in der Regel mit eindeutig negativen Bedeutungskomponenten verbunden.« Dieser Satz bezieht sich allerdings nur auf den Sprachgebrauch der DDR. Bezüglich der Bundesrepublik sind Kinne & Strube-Edelmann der Ansicht, die Verwendung von Kapitalismus sei hier »weniger eindeutig« (?), denn es fänden sich hier u. a. »die weitgehend [?] neutrale sowie die positiv wertende Verwendung von Kapitalismus bzw. kapitalistisch« (ibid.). Diese sicherlich richtige Aussage

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Selbstbezeichnung des Kapitalismus als Kapitalismus (durch einen seiner Verfechter) ist zwar möglich und kommt wohl auch vor, wird aber wohl in der Regel zugunsten anderer Bezeichnungen vermieden. Die parteisprachliche Gebundenheit des Wortes kommt aber nur im WDG mit wünschenswerter Deutlichkeit heraus, wo es heißt: (lat.) Gesellschaftsformation, die auf dem Privateigentum an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln und der Ausbeutung von Lohnarbeitern beruht (Beispiele sind u. a.: der frühe, späte, staatsmonopolistische K.; die Ausbeutung der Arbeiter im K.). Denn wenn der Kapitalismus auf der Ausbeutung von Lohnarbeitern beruht, dann ist er selber ausbeuterisch, und das Wort Kapitalismus impliziert eine negative Wertung. So entspricht es auch den Grundsätzen der späteren Bände des Wörterbuches (»Es wird vom 4. Band an den gesamten Wortschatz konsequent auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Weltanschauung darstellen«, Vorwort zum 4. Bd.). »Man weiß hier, woran man ist« (so ein ausländischer Student über diesen Vorzug des WDG). Dagegen harmonisieren sowohl der WAHRIG als auch der DUDEN, indem sie die aggressive Komponente des Wortes – die zumindest als (dominierende) Variante zu berücksichtigen wäre!  – in ihrer Bedeutungserklärung einfach weglassen: volkswirtschaftl. System, dem das Gewinnstreben des einzelnen u. das freie Unternehmertum zugrunde liegt u. in dem die Arbeiter in der Regel nicht Besitzer der Produktionsmittel sind … (WAHRIG) – ein mixtum compositum von marxistischen und liberalen Ideologemen; Wirtschaftssystem, das auf dem freien Unternehmertum basiert u. dessen treibende Kraft das Gewinnstreben einzelner ist, während die Arbeiter keinen Besitzanteil an den Produktionsmitteln haben (DUDEN) – desgleichen. Der DUDEN macht zwar seinen eigenen ideologischen Standpunkt dann gleich im ersten Beispiel klar (Der K. macht soziale Fehler, der Sozialismus macht kapitale Fehler (Hörzu 11, 1976, 18)) aber daran ist wohl dem Wörterbuchbenutzer eigentlich weniger gelegen als an einem Klarmachen der parteilichen Gebundenheit der Wörter, über deren Gebrauch er sich informieren will. Man hat den Eindruck, daß WAHRIG und DUDEN es vermeiden wollen, sich durch einfache Wiedergabe etwa der Paraphrase des WDG mit dem kommunistischen Standpunkt zu identifizieren. Dabei wäre Abhilfe durch ein objektivierendes marx. oder DDR gar nicht scnwer. 2.3 Auch bei den Fahnenwörtern der – ferneren oder näheren – Vergangenheit wäre ihr Kampfwortcharakter kenntlich zu machen. Das gilt speziell für die Wörter des Nationalsozialismus, die wir der deutschen Sprache der Gegenwart zurechnen müssen, gerade weil und insofern sie Fahnenwörter oder überhaupt zentrale Wörter des Nationalsozisteht nicht im Widerspruch zu der im Text gemachten Behauptung, daß das Wort (auch in der Bundesrepublik) vorwiegend als Kampfwort gebraucht und verstanden wird und daher als solches lexikographisch zu kennzeichnen sei.

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alismus gewesen sind. Auch hier zeigt ein Blick in die Wörterbücher, daß die lexikographische Praxis der Relevanz und Rolle der brisanten Wörter – und damit auch ihrer Bedeutung (im Sinne ihrer Verwendungsbedingungen) – nicht gerecht wird. Dies gilt z. B. in eklatanter Weise für die Bezeichnung der Führer, die in der nationalsozialistischen Ideologie einen zentralen Platz hat (»Führerprinzip«) und die auch zu den international bekanntesten deutschen Wörtern gehört.9 Der WAHRIG nennt (s. v. Führer) zuerst einige unverfängliche Bedeutungen ( jmd., der jmdn. od. andere od. eine Sache führt, Anführer, Leiter …, (fig.) maßgebender Mensch; Reisehandbuch …), bevor er zur Sache kommt, d. h. zum Wort in seiner ominösen Bedeutung: der F.. Dahinter steht dann in Klammern die Bedeutungserklärung: Selbstbezeichnung [!!] Hitlers. Es folgt als weiteres Anwendungsbeispiel – denn der F. erscheint erst als (erstes) Anwendungsbeispiel  – gewissermaßen zur Erläuterung: der F. einer (geistigen, politischen) Bewegung, sodann: sich für eine Bergbesteigung einen Führer nehmen. Das Wort in seiner brisanten Bedeutung ist hier ziemlich perfekt – man möchte vermuten: sorgfältig – verpackt und versteckt in harmlosem Material. – Ganz ähnlich ist es im DUDEN. Nach einer Bedeutungserklärung (leitende Person einer Organisation, Bewegung o. ä., s. v.) folgen dort zunächst Anwendungsbeispiele wie: ein erfahrener, entschlossener, mutiger F.; der (geistige) F. einer Bewegung, Partei; und, besonders grotesk: In den Vereinigten Staaten gilt der Theologe Reinhold Niebuhr als F. der ›realistischen Schule‹ (Fraenkel, Staat 155). Dann erst, nach dem sicherlich unbedenklichen Theologen Reinhold Niebuhr, kommt Adolf Hitler an die Reihe, und zwar im Rahmen des Anwendungsbeispiels (Zitats): an F.s (ns; Hitlers) Geburtstag (Kant, Impressum 86). Es muß danach scheinen, als ob die Bedeutung ›Hitler‹ überhaupt nur deshalb erwähnt wird, weil sich im Corpus der Duden-Redaktion zufällig der Beleg an F.s Geburtstag gefunden hat, der außerdem glücklicherweise aus dem Roman von Kant stammt, der als bekannter DDR-Autor ein unverdächtiger Zeuge ist. – Nur im WDG kann jedenfalls von einem Verstecken des Wortes in seiner brisanten Bedeutung keine Rede sein. Dort findet man nämlich nach einer allgemeinen Bedeutungsangabe ( jmd., der  … an der Spitze (einer Organisation) steht, Leiter) und einer Reihe von positiven Anwendungsbeispielen (ein bewährter, militärischer, politischer F.; die F. der Nation, einer Partei usw.) das sehr auffällige Kürzel n a z . vor der Wendung der F. mit nachfolgender Bedeutungserklärung (Bezeichnung für Hitler) und Beispiel (F. und Gefolgschaft).10 – Alle drei Wörterbücher – auch das WDG – verfehlen es aber, das Wort in seiner Eigenschaft als zentrales Fahnenwort des Nationalsozialismus kenntlich zu machen, wobei das WAHRIGsche Wörterbuch es nicht einmal der Sprache des Nationalsozialismus zuordnet (so daß es den Anschein hat, als hätte nur Hitler selbst sich als 9 10

Zu Führer vgl. Berning 1964, s. v. In der gleichfalls eingesehenen 4. Aufl. (1977) ist das Beispiel F. einer Nation gestrichen und die Bedeutungserklärung zu der F. erweitert auf der Glorifizierung dienende Bezeichnung für Hitler.

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Führer bezeichnet). Auch fehlt es an Beispielen, aus denen der ideologische Stellenwert des Ausdrucks hätte deutlich werden können, obwohl solche Beispiele (Führer befiehl, wir folgen; Ein Volk, ein Reich, ein Führer ) doch auch den Wörterbuchmachern sicherlich im Ohr geklungen haben.11 Ähnlich schamhaft verfährt man mit dem »deutschen Gruß«, Heil Hitler! Der WAHRIG führt ihn überhaupt nicht an, was wohl nicht auf einen besonders engen Synchroniebegriff zurückzuführen ist, denn stattdessen bringt er das Beispiel Heil dir, Cäsar!, außerdem (als »Grußformel der Schiläufer«) Schi Heil! sowie, mehr oder weniger beziehungsreich, Heil den Siegern! Vielleicht hat dem Redakteur hier ein anderer wohlbekannter Ausdruck vorgeschwebt, der aber (Sieg Heil! ) nicht erscheint. Im DUDEN findet man Heil Hitler in ein Zitat eingebettet, als ob gerade dieser Ausdruck besonders dokumentationsbedürftig wäre ((ns.: ›H. Hitler‹, sagte Greck (Böll, Adam 54) ), in ein nichtsagendes Zitat zudem; aber die Zitate aus nachgewiesenen Quellen sind ohnehin ein schwacher Punkt des DUDEN. Als versöhnlicher Abschluß folgt dann noch: Gut H.! (alter Turnergruß). Im WDG schließlich ist es nur die Zusammenstellung der Belege für Heil »in Gruß- und Wunschformeln«, die etwas seltsam anmutet: Petri H., Schi H.; H. uns, ihm; Und rufet Heil dem Retter von uns allen (Schiller Tell V 1); naz. H. Hitler; Heil sei dem Tag, an welchem du bei uns erschienen (Lortzing Zar u. Zimmermann III 1).12

3 Ideologische Polysemie Lexikographisch besonders interessant ist auch eine zweite Gruppe parteisprachlicher Wörter und Wendungen, nämlich die Gruppe der ideologisch polysemen Wörter,13 die – in verschiedener Bedeutung – gleichzeitig den Sprachen verschiedener ideologischer Parteien angehören. Auch diese Wörter lassen, wenn sie erkennbar in einer ihrer spezifischen Bedeutungen benutzt werden, einen Rückschluß auf die Partei des Sprechers zu. Sie besitzen jedoch noch eine zusätzliche Brisanz, insofern es bei ihnen mit 11

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Besonders auch von den Beispielen wäre zu fordern, daß sie das parteiliche Moment in den Wörtern pointiert herausstellen, wenn dies auch dem Wörterbuchmacher in dem einen oder andern Fall peinlich sein mag. Denn ein Wörterbuch ist wie Jakob Grimm es treffend formuliert, »nicht da um wörter zu verschweigen, sondern um sie vorzubringen« (Grimm 1854, XXXIII; zit. bei Wiegand 1981, 150). Dies gilt für die »anstöszigen wörter« aller Art, auch die politisch-anstöszigen. Auch kann sich nur bei gehöriger Dokumentation die Erwartung (Weinrich 1978, 27) vielleicht erfüllen, daß »gewisse Wörter … aus dem ›Wörterbuch des Unmenschen‹ […] nicht durch eine explizite Norm aus dem Verkehr gezogen zu werden (brauchen), sondern […] sich durch die Evidenz der vom Mißbrauch zeugenden historischen Belege für den weiteren Sprachgebrauch (verbieten)«. Demgegenüber ist die Art, wie bis heute besonders die westdeutschen Wörterbücher mit dem Vokabular des Nationalsozialismus umgehen – indem sie es verstecken und verdrängen – nur als Manifestation eines »hilflosen Antifaschismus« (W. F. Haug ) zu verstehen. Zu Heil Hitler vgl. Berning 1964, s. v., wo auch, allerdings in anderer Kontextualisierung, des alten Turnergrußes durchaus Erwähnung getan wird. – In der 3. Aufl. (1977) des WDG ist das Beispiel H. Hitler gestrichen. Zum Begriff der ideologischen Polysemie vgl. Dieckmann 1969, 70 ff.

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großer Wahrscheinlichkeit immer wieder zu einem »Streit um Worte« (Lübbe) kommen wird, d. h. zu einer Auseinandersetzung um ihre »wahre« Bedeutung, die der jeweiligen Gegenpartei abgesprochen wird. Dies gilt jedenfalls immer dann, wenn solche Wörter in den verschiedenen Ideologien, in denen sie fungieren, eine zentrale Stellung haben. Denn vermöge ihrer zentralen Stellung tendieren die Wörter dann dazu, als Fahnenwörter benutzt zu werden – wobei es dann zu der durchaus verwirrenden Situation kommt, daß Freund und Feind dieselben Fahnen verwenden, was wiederum dazu führt, daß man sich gegenseitig vorwirft, »unter falscher Flagge« zu segeln. Dies gilt z. B. für Wörter wie Demokratie, sozial und Freiheit, die für jede der Parteien, die sie für sich reklamieren, einen positiven (aber eben verschiedenen) Sinn haben. Ein anderer häufiger Fall ideologischer Polysemie ist der, daß das Fahnenwort der einen Partei von der Gegenpartei als negatives Wort – in ideologisch anderer Füllung – verwendet wird, so etwa die Wörter Sozialismus und Kommunismus in der Ost-West- (bzw. West-Ost-)Auseinandersetzung. Umgekehrt kann aber auch ein ursprünglich negativ gemeintes Kampfwort zur Bezeichnung eines Gegners von diesem Gegner aufgegriffen, positiv umgewertet und dann als Fahnenwort zur Bezeichnung der eigenen Sache oder Gruppe verwendet werden, wie dies z. B. während der Dreyfus-Affäre mit dem ursprünglich als Schimpfwort gemeinten Ausdruck les intellectuels in Frankreich (nicht aber dann in Deutschland) geschehen ist.14 Wie sich die Wörterbücher mit den ideologischen Polysemien schwertun zeigt sich am Beispiel der Behandlung von Demokratie .15 Im WAHRIG werden hier alle ideologischen Gegensätze wegharmonisiert, indem bloß gesagt wird: Volksherrschaft, Staatsform, bei der ein Staat nach dem Willen des Volkes regiert wird, worunter sich dann jeder vorstellen kann, was er will. Der DUDEN hingegen wird konkret, ergreift Partei und stellt das Wort in einem eindeutig westlichen Verständnis dar – ohne dies allerdings explizit zu machen: politisches Prinzip, nach dem das Volk durch freie Wahlen [!] an der Machtausübung im Staat teilhat: ›zu den Prinzipien der D. gehört die freie Meinungsäußerung‹ …. Das WDG bleibt zunächst einmal sehr allgemein (Prinzip, nach dem jeder einzelne einer Gemeinschaft durch seine Mitbestimmung an der Gestaltung des Ganzen mitwirken kann), gibt aber zum Schluß, unter dem Kürzel dial. Mat., eine spezifische Definition: (in einer Verfassung festgelegte Staatsform) …, in der die Macht auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens vom Volke ausgeht, deren Charakter jedoch durch die jeweils herrschende Klasse bestimmt wird: ›die bürgerliche D.‹ (Staatsform, in der die Bourgeoisie auf Grund ihres Privatbesitzes an den Produktionsmitteln die Herrschaft ausübt); ›die sozialistische D.‹ (Staatsform, in der die Arbeiterklasse im Bündnis mit den werktätigen Bauern auf Grund 14 15

Berning 1918, zusammenfassend 323 ff. Als Paradebeispiel eines ideologisch polysemen Wortes wird Demokratie schon von Dieckmann 1964, 32 f. herangezogen, wobei auch die »Formaldefinition« des Wortes (»Demokratie ist eine staatliche Ordnung, in der das Volk herrscht«) schon gewürdigt wird, als wäre der WAHRIG gemeint: »Diese Bestimmung ist jedoch ohne jede Substanz und sinnlos, wenn man das Definieren nicht als Selbstzweck betreiben will« (ibid. 32).

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der Diktatur des Proletariats die Herrschaft ausübt). Sowohl »bürgerliche« als auch »sozialistische« Demokratie sind hier – wie ja auch deutlich gemacht wird – vom Standpunkt einer kommunistischen Partei (und Parteisprachlichkeit) her definiert, so daß das WDG hier genaus einseitig bleibt  – nur natürlich mit umgekehrtem Vorzeichen  – wie der DUDEN. Es macht zwar klar, daß man im Rahmen des »dial. Mat.« unter Demokratie zweierlei verstehen kann, aber daß es außer dem Sprachgebrauch des dialektischen Materialismus auch einen anderen, nämlich eben den »bürgerlichen« gibt und worin er besteht, d. h. die Existenz und Beschaffenheit der ideologischen Polysemie, wird gerade nicht verdeutlicht.

4 Varia Zusammenfassend läßt sich  – soweit es Stichproben zeigen  – auch von den übrigen parteisprachlichen Wörtern und Wendungen – die also weder Fahnenwörter noch ideologisch polysem sind – sagen, daß sie in den Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache oft nicht hinreichend kenntlich gemacht sind. Das gilt sowohl für die in toto parteispezifischen Wörter als auch für Wörter mit spezifischer Wertung als auch für solche mit spezifischer Häufigkeit (vgl. oben 1.2). Auffällig ist auch hier die unzulängliche Behandlung des nationalsozialistischen Wortschatzes. So paraphrasiert der WAHRIG das Wort artfremd ohne weiteren Zusatz durch der Art nicht entsprechend, wesensfremd, das WDG gibt ohne Erläuterung einfach nur ein Beispiel (Sie fühlte, daß sie sich an den art- und stammfremden Menschen verloren hatte (Zahn, Frau Sixta 116)), und erst der DUDEN weist (allerdings nur in einem Beispiel) auf den Ns-Sprachgebrauch hin ((Biol.): der Art fremd: -es Eiweiß; (ns.:) -es Blut). S. v. entarten kennt der WAHRIG als Beispiele nur eine entartete Mutter sowie entartete Sitten; allein das WDG verbucht die nun wirklich zur Sprache der Gegenwart gehörige Wendung entartete Kunst mit Zuordnung ((naz.): nicht von nationalsozialistischen Ideen bestimmte Kunst), in seinem Gefolge auch der DUDEN (ns. Bez. für das gesamte moderne Kunstschaffen, das nicht der ns. Kunstauffassung entsprach).16 Das Wort Lohnabhängige(r) wird im WAHRIG ohne weiteren Hinweis erklärt durch = Arbeiter(in); (i. w. S.) jmd., der vom Arbeitgeber abhängig ist. Der DUDEN schreibt: (marx.): durch seinen Lohn vom Arbeitgeber abhängig, macht also die parteisprachliche Zugehörigkeit des Wortes deutlich, wozu dann allerdings seine Definition mit dem parteisprachlichen Wort Arbeitgeber – das aus einem antimarxistischen Sprachgebrauch stammt – in Widerspruch steht. Das WDG hat das Wort gar nicht, was vielleicht erklärt, warum der DUDEN hier marx. schreibt, statt wie sonst DDR. Als neutral behandelt der WAHRIG auch das Wort werktätig ( für Lohn od. Gehalt arbeitend, in einem arbeitsver16

Zu artfremd, entartet und entartete Kunst vgl. Berning 1964, s. vv.

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hältnis stehend; ›die w. e. Bevölkerung‹), während im WDG die parteisprachliche Zugehörigkeit des Wortes zwar nicht gekennzeichnet wird (sie versteht sich ja für die späteren Bände des Werkes von selbst), aber inhaltlich sehr deutlich zum Ausdruck kommt: jmd., der seinen Lebensunterhalt selbst durch gesellschaftlich notwendige Arbeit erwirbt, meist in einem Arbeitsrechtsverhältnis steht und nicht auf Kosten fremder Arbeitskraft lebt: ›Arbeiter, Angestellte, Angehörige der Intelligenz, Genossenschaftsbauern sind W.‹, … ›die DDR ist ein Staat der W.n‹; … s. v. Werktätige, der u. die.17

5 Theoretisches Defizit Für die oft lückenhafte, im einzelnen unzulängliche und von erkennbaren Distanzierungswünschen geprägte lexikographische Behandlung parteisprachlicher Wörter und Wendungen in den Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache läßt sich als Ur s a c h e ein mehrfaches theoretisches Defizit vermuten. 5.1 So hat es insbesondere beim WAHRIG den Anschein, als könne für das Verdrängen und Verbergen (in der Fülle unverfänglicher Beispiele) nationalsozialistischer Wörter und Wendungen ein verkürzter und damit falscher Begriff von Synchronie mitursächlich sein. Die NS-Sprache gehöre gar nicht – so kann man in der Tat gelegentlich hören – zur deutschen Gegenwartssprache und sei folglich in den Wörterbüchern des heutigen Deutsch zu vernachlässigen. Dieser Auffassung liegt aber ein doppeltes Mißverständnis zugrunde. Denn erstens ist der Wortschatz der NS-Zeit einer großen Zahl der Deutschsprachigen noch sehr wohl vertraut und gehört also zur »conscience des sujets parlants«, die nach Saussure die Synchronie definiert. Man kann hier aus dem veränderten beobachtbaren Sprach g e b r a u c h durchaus nicht auf eine seit 1945 auf einmal veränderte Sprach k o m p e t e n z schließen, es sei denn in dem Sinn, daß die NS-typische Lexik seither einem Tabu unterliegt. Aufgabe der Lexikographie kann es jedoch kaum sein, sich einem solchen Tabu zu unterwerfen; vielmehr wären die tabuisierten Wörter gerade als solche kenntlich zu machen. Und zweitens verschwinden die Wörter auch nach dem Tod einer Generation nicht einfach mit den Parteien, die sie verwendet haben. Der Nationalsozialismus als ein Kapitel deutscher Geschichte wird – mit Teilen seiner Sprache – ein Stück der »gegenwärtigen Vergangenheit« Europas und besonders der deutschsprachigen Länder bleiben. Aus der Forderung nach einem Auseinanderhalten von Syn- und Diachronie läßt sich ein Gebot der Geschichtslosigkeit in der Darstellung einer Sprache nicht ableiten, speziell nicht für jenen Teil der Lexik, der essentiell historisch ist in dem Sinn, daß er ohne explizite Bezugnahme auf Historisches in seiner Bedeutung nicht verständlich zu machen ist. 17

Zu werktätig vgl. Reich 1968, 224 f.

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Synchronie schließt historisches Bewußtsein und also auch sprachhistorisches Bewußtsein nicht aus. Es ist gerade eine der Aufgaben einer synchronischen Lexikographie, zur Pflege des historischen Bewußtseins beizutragen.18 5.2 Das Verfehlen der pragmatisch-politischen Funktion parteisprachlicher Wörter und Wendungen, insbesondere der Fahnenwörter, Schlagworte und der ideologisch polysemen Wörter, hat seinen Grund gewiß auch in einer unzulänglich geschärften Aufmerksamkeit der Lexikographen für die Geschichtsmächtigkeit der Wörter und des mit ihnen jeweils gegebenen Begriffs, der, nach Koselleck, »nicht nur Indikator der von ihm erfaßten Zusammenhänge (ist), er ist auch deren Faktor«19. Hier sollte die beginnende Rezeption, seitens der Sprachwissenschaft, von Leitgedanken und Ergebnissen des Lexikons der »Geschichtlichen Grundbegriffe«20 Konsequenzen für die lexikographische Praxis haben. Auch die in der Öffentlichkeit, bislang ohne Beteiligung der Sprachwissenschaft, geführte Diskussion über »Herrschaft und Sprache«, die substantiell auf Lübbes Aufsatz über den »Streit um Worte« zurückgeht,21 verstärkt vielleicht ein Bedürfnis nach pragmatisch-historischen Informationen über die Wörter, so daß auch von dieser Diskussion ein Impuls zu einer Verbesserung der Wörterbücher bezüglich des parteisprachlichen Wortschatzes zu erhoffen sein könnte. 5.3 Als drittes Defizit ist das der sprachwissenschaftlichen Varietätenlehre zu nennen, in deren Begriffsrepertoire zur Bezeichnung von Gruppensprachen (Dialekt, Soziolekt, Technolekt, Jugendsprache usw.) ein Terminus zur Bezeichnung der Sprache von Parteien

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Es stellt sich dabei die Frage nach der unterschiedlichen historischen »Eindringtiefe« (Weinrich 1978, 26) der lexikographischen Darstellung entsprechend der unterschiedlichen »historischen Sensibilität« (ibid.) der behandelten Wörter  – und nicht etwa die Frage nach dem Bewußtseinsstand eines als typisch gesetzten Sprechers der deutschen Sprache in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Denn auch in bezug auf das Historische muß selbstverständlich, wie für andere Sachbereiche auch, die Regel gelten, daß das Wörterbuch eine Vielzahl von Informationen enthält, über die der durchschnittliche Sprecher nicht verfügt, weshalb er ja gerade das Wörterbuch konsultiert. Auch für ein »synchronisches« Wörterbuch kann also die Funktion nicht sein, die sprachliche Kompetenz (zu der das historische Bewußtsein gehört) eines durchschnittlichen Sprechers einfach nur abzubilden; es muß einen Überschuß von Information enthalten. – Zur Frage der »Reichweite des historischen Rückgriffs« in den einzelnen Wörterbuchartikeln s. auch die »Bad Homburger Thesen« mit dem Kommentar von Henne & Weinrich (1976, 63) zu These 8. Koselleck 1972; 1979, 120. Brunner et al. 1972 – 1992. Lübbe 1967; wobei wiederum der Grundgedanke Lübbes – daß der Streit um Worte im politischen Bereich unvermeidlich sei – möglicherweise auf Gallie 1962 (»Essentially Contested Concepts«, zit. bei Dieckmann 1969, 72) zurückgeht. – Zur Diskussion über Sprache und Herrschaft vgl. zusammenfassend und kritisch Behrens et al. 1979, demnächst, mit weiteren einschlägigen Arbeiten auch in Heringer 1982.

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bislang fehlt.22 Der Begriff der Ideologiesprache 23 stände zwar zur Verfügung, doch ist die Varietätenlehre an ihm vorbeigegangen;24 dies liegt vielleicht daran, daß er nicht auf die sozialen Gruppen verweist, die Träger der Ideologien sind. Der Begriff der Parteisprache, der in diesem Aufsatz verwendet wird, kann ähnliche Dienste tun, hat aber den Nachteil, daß das Wort Partei darin einen vielleicht zu weiten, ungewohnten Sinn hat. Dem linguistischen Bedürfnis nach Einfachheit, Symmetrie und Fremdwörtlichkeit würde es sicherlich am besten genügen, wenn ein Terminus auf -lekt gefunden werden könnte, der Parteisprachlichkeit zum Ausdruck brächte.25

6 Lexikographische Desiderata Es stellt sich die Frage, wie die parteisprachlichen Wörter und Wendungen lexikographisch besser zu behandeln wären als bislang. 6.1 Was die Fahnenwörter betrifft, so wäre ein Hinweis auf den Fahnenwortcharakter bzw. Schmähwortcharakter eines Wortes mit Angabe der Gruppe (Partei), zu deren Sprache das Wort gehört, schon eine Hilfe. Vereinzelt sind derartige Hinweise bereits zu finden. So steht im WAHRIG s. v. Freiheit bei der Formel Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit die Erklärung: Schlagwort der franz. Revolution – ein Beispiel, das zeigt, wie man es machen könnte. Eine solche Kennzeichnung wäre zwar kein ausreichendes Äquivalent für eine »erzählende« Darstellung der Bedeutungsaspekte und -akzente (in ihrem historischen Zusammenhang) von ideologischen Leitwörtern, wie sie gefordert worden ist.26 22

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Vgl. die bilanzierenden Arbeiten von Kubczak (1979) und Nabrings (1981). Kubczak referiert Baldinger (1968), wo als Kategorie der symptomfunktionalen Differenzierung neben Geographie, Sozialschicht, Beruf, Konfession, Alter und Geschlecht ausnahmsweise auch die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei genannt ist, ohne daß jedoch schon ein spezieller Terminus (wie Parteisprache) eingeführt wird, wie er zur innerwissenschaftlichen Bewußtseinbildung in diesem Punkt wünschenswert wäre. Vgl. Dieckmann 1969, 50. Vgl. aber Ammon 1973, 97 ff. – Diesen Hinweis verdanke ich W. Dieckmann. Allerdings fehlt es nicht nur an einem Terminus. Auch weitere Spezialuntersuchungen zur Sprache einzelner Parteien und Parteiungen wären nötig (zum Forschungsstand vgl. Dieckmann 1969, bes. den Anhang zur zweiten Auflage 1975), und zwar nicht nur zu lexikographischen Zwecken. Besonders eine engagiert-seinwollende Sprachwissenschaft müßte sich für die Sprache von Parteien interessieren, insofern es einen unbezweifelbaren – aber im Einzelfall aufzuweisenden – Zusammenhang zwischen Sprache und Bestrebungen und Überzeugungen solcher sozialer Gruppen gibt. Aus diesem Grund sind die Parteisprachen auch sprachtheoretisch interessant: Es läßt sich in bezug auf sie die zentrale, wiewohl immer wieder beiseite geschobene Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Weltbild in paradigmatisch einfacher Weise formulieren und sinnvoll, mit Aussicht auf Erfolg, behandeln. In dieser Perspektive behandelt das Thema des parteispezifischen Sprachgebrauchs Stötzel 1980 in seinem Aufsatz über »Konkurrierenden Sprachgebrauch in der deutschen Presse«. Zur Forderung nach einer »erzählenden« Darstellung vgl. Wiegand (1977, 100): »Wörter wie Freiheit, Gerechtigkeit, Faschismus, Terrorist, Kapitalismus, Bürger, Revolution, Sympathisant, Radikalenerlaß kann man in

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Sie wäre aber nützlich, weil sie immerhin signalisieren würde, daß ein so gekennzeichnetes Wort nicht harmlos ist wie Tisch oder Stuhl, sondern als ideologisches Wort ein Streitwort ist oder war, so daß bei seiner Benutzung eine gewisse Vorsicht am Platze ist. Sie würde außerdem eine – wenn auch minimale – historische oder zeitgeschichtliche Einordnung des Wortes leisten. Auch hätte sie den Vorzug, lexikographisch relativ unaufwendig zu sein. Sie könnte auch in kürzeren Wörterbüchern Anwendung finden. 6.2 Ein konsequentes Handhaben parteisprachlicher Kennzeichnungen würde auch genügen, um i d e o l o g i s c h e Po l y s e m i e n erkennbar zu machen, die also lexikographisch keinerlei besonderen Apparat erfordern. Es sind hier nur, wie auch sonst bei einer Polysemie, die verschiedenen Bedeutungen nacheinander zu nennen und jeweils symptomfunktional zu indizieren. Aus der Tatsache einer p a r t e i sprachlichen Zugehörigkeit der Bedeutungen – statt nur allgemein einer gruppensprachlichen Zugehörigkeit – würde dann von selber klar, daß es sich bei den verschiedenen Bedeutungsangaben nicht einfach um koexistierende, sondern um konkurrierende Bedeutungen handeln muß oder zumindest handeln kann. Der Wörterbuchbenutzer wäre also gewarnt. Eine konsequente Befolgung dieses Prinzips würde allerdings ein Umdenken der Wörterbuchmacher erfordern, insofern sie dazu neigen, sich bei dem »Streit um Worte« entweder auf die eine oder die andere Seite zu schlagen (so das WDG und der DUDEN) oder sich so aus der Affäre zu ziehen, daß von den kontroversen Bedeutungen eines Wortes lieber erst gar keine genannt wird (so der WAHRIG s. v. Demokratie, s. o., 3). Diese »Strategie des gemeinsamen Nenners« (so könnte man sie vielleicht bezeichnen) ist wohl die schlechteste. Ihr ist sogar eine konsequent parteiische (parteiliche) Abfassung der Wörterbuchartikel vorzuziehen, eben weil der Wörterbuchbenutzer dann ideologiesprachlich »weiß, woran er ist« (s. o.). Die beste Möglichkeit für den Wörterbuchmacher, sich aus dem Streit um Worte herauszuhalten, ist aber zweifellos die wissenschaftlich-dokumentierende: alle Bedeutungen werden genannt, aber jede mit einem Etikett, das ihre ideologische Zugehörigkeit angibt. 6.3 Zur Kennzeichnung parteisprachlicher Wörter und Wendungen allgemein ist wiederum von der Feststellung auszugehen, daß sie in den Wörterbüchern nicht konsequent genug erfolgt. Kennzeichnungen wie DDR und BRD (bzw. Neupräg. DDR, Neupräg. BRD, was oben [2.1] schon kritisiert worden ist) werden allerdings, einem offensichtlichen Bedürfnis zufolge, häufig verwendet und leisten einen gewissen Ersatz. Sie stehen

ihrer Bedeutung nicht erläutern, indem man sie einfach lexikalisch paraphrasiert und die Paraphrasen mit Kommentarsymbolen versieht. Sollen solche Wörter nicht vordergründig einseitig, nichtsagend und/oder implizit ideologisch erläutert werden, muß anders verfahren werden, z. B. textdokumentativ und historisch erläuternd.«

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in der Tradition der älteren regionalsprachlichen Kennzeichnungen wie oberdt., norddt., schweiz., österr., was ihre Einführung erleichtert haben mag. Zweifellos ist die Verwendung solcher geographisch-politischer Kennzeichnungen für den Wörterbuchbenutzer eine große Hilfe, obwohl sie irreführend sein können, insofern etwa ein als DDR-typisch gebuchtes Wort einerseits vielleicht nur typisch ist für die »Sprache der Öffentlichkeit« der DDR, andererseits zur Sprache des Kommunismus auch schon vor der Gründung und außerhalb der DDR gehört hat bzw. gehört. Hier wäre also eine Bezugnahme auf die Parteizugehörigkeit (wie komm. oder soz.) vielleicht (aber wirklich nur vielleicht) besser als die Bezugnahme auf einen Staat. Die stigmatisierende Kennzeichnung naz. ist – ebenfalls aus dringendem Bedürfnis heraus – vom WDG eingeführt und dann von den späteren Wörterbüchern adaptiert worden. WAHRIG neutralisiert in der schon erwähnten etwas unglücklichen Weise, indem er stattdessen die Kennzeichnung 1933 – 45 verwendet  – als ob es eine nationalsozialistische Sprache erst seit 1933 gegeben hätte und seit 1945 nicht mehr gibt. Der DUDEN schreibt, was wohl eine gute Lösung ist, ns. Hier haben wir also eine eindeutige Kennzeichnung der parteisprachlichen Zugehörigkeit von Wörtern und Wendungen. Andere solche Kennzeichnungen gibt es offenbar nicht, oder sie werden nur ad hoc und unsystematisch durchgeführt (ein Beispiel war die Abkürzung marx. im DUDEN s. v. lohnabhängig). Es wäre also eine Aufgabe der lexikographischen Theorie und Praxis, ein Repertoire von Kennzeichnungen (wie marx., kathol., Vormärz etc.) zu entwickeln, das allerdings offen sein müßte in dem Sinn, daß es im Einzelfall zu wählende zusätzliche Kennzeichnungen und Verfeinerungen nicht verbietet.27 Ein solches Repertoire würde sich an die Seite der drei bereits gebräuchlichen Repertoires (symptom-)funktionaler Kennzeichnungen in Wörterbüchern stellen, nämlich der regional-dialektalen (norddt., österr., bair. usw.), der technolektalen (Math., Bot. usw.) und der stilistisch-soziolektalen ( poet., gehob., vulg. usw.). Es hätte den Vorteil, eine ökonomische, weil systematisch durchdachte und erprobte sowie knappe Charakterisierung parteisprachlicher Wörter und Wendungen zu ermöglichen. Es hätte den weiteren möglichen Vorteil, den Blick der Wörterbuchmacher und Wörterbuchbenutzer für die Existenz und die Wichtigkeit partei- bzw. ideologiesprachlicher Ausdrücke und ihrer Bedeutungen zu schärfen. 27

Hier stellt sich die Frage nach dem wünschenswerten, noch praktikablen Feinheitsgrad des Repertoires der Kennzeichnungen, dessen angestrebte Trennschärfe einerseits abhängen wird vom angestrebten Grad h i s t o r i s c h e r Erschließung des Wortschatzes, andererseits von der Bereitschaft zur Kennzeichnung a k t u e l l e r Besonderheiten im Sprachgebrauch der Parteiungen. Sicherlich ist es nicht damit getan, daß der Lexikograph »das Lexikon mit NS-Wörtern anreichert und außerdem schön DDR bzw. marx. und BRD unterscheidet und doch das viel weiter reichende Problem parteisprachlicher Differenzierung in der Bundesrepublik verfehlt, indem er etwa sich auf den ›Konsensus der Demokraten‹ verläßt und den offiziösen Wortschatz ablichtet« (W. Dieckmann brieflich). Gerade zur Beschreibung des nicht-offiziösen Sprachgebrauchs wäre aber – wie schon erwähnt – noch wissenschaftliche Vorarbeit nötig, auf die dann die praktische Lexikographie zurückgreifen könnte.

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Stötzel, Georg (1980): Konkurrierender Sprachgebrauch in der deutschen Presse. In: Wirkendes Wort 30, 39 – 53. Wahrig, Gerhard (1968): Deutsches Wörterbuch. Gütersloh. WDG = Klappenbach, Ruth ; Steinitz, Wolfgang (Hgg.): Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Berlin 1964 – 1977. Weinrich, Harald (1978): Plädoyer für ein interdisziplinäres Wörterbuch der deutschen Sprache. In: Henne, Helmut ; Mentrup, Wolfgang ; Möhn, Dieter ; Weinrich, Harald (Hgg.): Interdisziplinäres deutsches Wörterbuch in der Diskussion. Düsseldorf, 11 – 30. Wiegand, Herbert Ernst (1977): Nachdenken über Wörterbücher: Aktuelle Probleme. In: Drosdowski, Günther; Henne, Helmut; Wiegand, Herbert Ernst: Nachdenken über Wörterbücher. Mannheim/Wien/Zürich, 51 – 102. Wiegand, Herbert Ernst (1981): Pragmatische Informationen in neuhochdeutschen Wörterbüchern. Ein Beitrag zur praktischen Lexikologie. In: Wiegand, Herbert Ernst (Hg.): Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie. Hildesheim/New York (= Germanistische Linguistik 3 – 4/1979), 139 – 271.

Appellfunktion und Wörterbuch Ein lexikographischer Versuch

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Bitte an den Leser Das Wort als Appell Wörter ohne Appell Instrumentalwörter Relevanzwörter Deontische Wörter Rechtswörter Attitudinalwörter Parteiische Wörter Zentrale Wertbegriffe Lexikographisches Fazit Ausblick Literaturverzeichnis

1 Bitte an den Leser Dieser Beitrag ist als Versuch gemeint und soll vom Leser bitte als solcher verstanden werden ; und zwar in mehrfacher Hinsicht. Er ist es erstens und vor allem in seinem Grundgedanken. Probeweise beziehe ich den Bühlerschen Begriff der Appellfunktion auf das Problem der lexikographischen Bedeutungsbeschreibung und sehe zu, was dabei herauskommt. Er ist es sodann in dem theoretischen Hintergrund, den dieser Grundgedanke bereits voraussetzt. Ich nehme versuchsweise an, daß es sinnvoll ist, von der Appellfunktion nicht nur von Texten oder auch Sätzen zu sprechen, sondern auch von der Appellfunktion von Wörtern. Ferner sind tentativ die Resultate für die Lexikographie, zu denen ich durch Reflexion auf den appellativen Aspekt von Wörtern gelange. Und Dieser Beitrag ist erstmals 1986 erschienen in: Wiegand, Herbert Ernst (Hg.): Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie, Bd. 6/1. Hildesheim/Zürich/New York (= Germanistische Linguistik 84 – 86), 151 – 182.

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schließlich – das ergibt sich aus alledem – ist dieser Beitrag ein Versuch gewiß auch in dem Sinn, daß er die Kooperationsbereitschaft des Lesers mehr als üblich auf die Probe stellt. Vieles, was eigentlich ausgeführt sein müßte, wird hier nur angedeutet. Dies gilt insbesondere für alle grundsätzlichen Überlegungen, sei es lexikologischer, sei es allgemein-linguistischer Art, für die hier, in einem Band mit »Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie«, nicht der Ort ist. Es gilt außerdem für einen Begriff, auf den ich erst im Lauf des Nachdenkens über die Appellfunktion der Wörter und ihre lexikographische Behandlung gestoßen bin und den ich für wichtig und fruchtbar halte: den Begriff der deontischen Bedeutung. Ich weise an dieser Stelle eigens darauf hin, weil er im Text weiter unten nicht recht zur Geltung kommt. Viele Wörter der deutschen (und gewiß jeder anderen) Sprache haben eine, wie ich es nenne, deontische Bedeutungskomponente. Ein »Verbrecher« etwa ist nicht einfach jemand, der eine Tat mit bestimmten Tatbestandsmerkmalen »begangen« hat, sondern es ist auch und sogar vor allem jemand, der dafür hart bestraft werden muß. Es ist diese im Wort enthaltene Handlungsanweisung (hier : was mit einem Verbrecher zu geschehen hat) und nicht wie man auch denken könnte, eine irgendwie geartete ( hier: negative) Bewertung , die ich als deontische Bedeutung oder Bedeutungskomponente bezeichne. Ursprünglich habe ich mit dem Begriff der Appellfunktion des Wortes gerade diesen (potentiellen) Aspekt der Wortbedeutung gemeint : daß im Wort nicht nur ein deskriptives, sondern auch ein präskriptives Bedeutungsmoment gegeben sein kann. Jetzt, nachdem ich den Begriff der deontischen Bedeutung gefunden habe, scheint es mir besser, Appellfunktion und deontische Bedeutung begriff lich zu trennen, und zwar derart, daß der Begriff der Appellfunktion des Wortes bei der konkreten Einzelbeschreibung einer Wortbedeutung überhaupt außen vor bleibt, wie es ja auch beim Begriff der Darstellungsfunktion zu sein pflegt. Die Appellfunktion eines Wortes kann, so stellt sich mir die Sache jetzt dar, in der deontischen Bedeutung eines Wortes ihren Ursprung haben, sie kann sich aber auch aus anderen Bedeutungsmomenten ergeben. Die Entdeckung oder Prägung des Begriffs der deontischen Bedeutung scheint mir ein gutes Beispiel zu sein für das, was eine Anwendung des Begriffs der Appellfunktion des Wortes auf das Problem der lexikographischen Bedeutungsbeschreibung im günstigen Fall erbringen kann ; sie hat eine h e u r i s t i s c h e Funktion. Im Einzelfall kann sie uns für gewisse Mängel, aber auch Stärken einzelner Wörterbuchdefinitionen sensibilisieren, sie schärft unseren kritischen Blick. Aus der wiederholten Anwendung des Begriffs auf Einzelprobleme resultiert dann ein erhöhtes Bewußtsein für die Wichtigkeit gewisser Grundkategorien der Bedeutungsbeschreibung , nämlich eben jener, die der Appellativität eines Wortes typischerweise zugrunde liegen. So ist denn auch dieser

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Beitrag insgesamt als heuristisch gemeint.1 Er läßt eine Reihe von Wörterbucheinträgen Revue passieren und stellt dabei jeweils die Frage, wie das appellfunktional Relevante in der Bedeutung darin zum Ausdruck kommt. Im folgenden verfahre ich so, daß ich zunächst in einem kurzen einleitenden, nichtlexikographischen Teil (Kap. 2) dieses Beitrags den Begriff der Appellfunktion des Wortes plausibel zu machen versuche. Im Hauptteil des Beitrags (Kap. 3 – 10) wende ich dann den Begriff bei der Betrachtung zahlreicher Wörterbuchdefinitionen (die sämtlich dem Wahrig DW und dem Duden DUW entnommen sind) an. Ich habe diese Definitionen schon vorab nach Kategorien geordnet, die auch als Titel der einzelnen Abschnitte fungieren, doch möge bitte der Leser hier keine systematische Behandlung der durch jede Kategorie bezeichneten Problematik erwarten ; es geht mir nur um den Aufweis, nicht um die Lösung der Problematik. In meinem vorletzten Abschnitt (Kap. 11) versuche ich ein »Lexikographisches Fazit«, in meinem letzten (Kap. 12) gebe ich einen »Ausblick«.

2 Das Wort als Appell Es ist nicht üblich, von der Appellfunktion von Wörtern zu sprechen, doch scheint es mir sinnvoll. Bei der »sozialen Konstruktion der Wirklichkeit« (Berger & Luckmann 1966 ) mit (nicht: durch) Sprache wird – so kann man sich überlegen – den begegnenden Phänomenen nicht bloß eine kognitive, sondern ebenso auch eine aktionale Struktur aufgeprägt, insofern die »Sachen« – und mit ihnen die sie bezeichnenden »Wörter« – von vornherein sowohl in einem »theoretischen« als auch »praktischen« Zusammenhang stehen. Die Sachen, die wir im Lauf unserer Sozialisation kennenlernen, indem sie sich uns mit den Wörtern verbinden, bieten sich uns ja typischerweise nicht dar als bloße Objekte der Erkenntnis, sondern sie erscheinen und werden zu dem, was sie dann für uns sind, in einem Handlungszusammenhang , in dem wir von ihnen lernen, wie man mit ihnen umgehen muß, nicht darf, oder kann. So appellieren sie dann an uns, uns zu ihnen so zu verhalten, wie es richtig ist. Als Gegenstände einer Praxis werden aber daher die Sachen auch von den Wörtern repräsentiert, die daher auch ihrerseits an uns appellieren, die Sachen so oder so zu behandeln, so oder so mit ihnen umzugehen. Wie die Sache selbst – die ja auch erst durch »dieses« Wort, mit dem ich sie bezeichne, zu »dieser« Sache wird – hat mithin auch das Wort ein – der von ihm bezeichneten, durch es mitkonstituierten Sache korrespondierendes – appellatives Potential, eine Appellativität.

1

Metalexikographisch gehört der Beitrag daher in die »deskriptive Phase« des Auf baus einer lexikographischen Theorie, in der »allmählich die Fragestellungen, deren systematische Beantwortung eine Theorie erfordert, sowie die Kategorien und Termini, die als Kandidaten für eine Theorie infrage kommen«, gewonnen werden (Wiegand 1983, 54).

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Ungeziefer , Schädlinge und Unkraut sind zu vertilgen, auszumerzen und auszurotten. Das braucht uns niemand zu sagen ; ein solcher Satz ist nichts anderes als ein analytischer Satz und macht nur explizit, was in den Wörtern Ungeziefer , Schädling , Unkraut schon enthalten ist. Mit der Bezeichnung , die wir dem Tier oder der Pflanze hier geben ( Das ist Ungeziefer ), ist dann ein Freibrief zu dessen Vernichtung , ja ein Todesurteil schon ausgesprochen. Wird aus dem »Unkraut« jedoch eine »Blume«, so darf man sie allenfalls »pflücken«, alles andere wäre gefühllos ; dem Bezeichnungswechsel entspricht nicht nur ein Sichtwechsel, sondern mit ihm wird uns zugleich ein anderes Verhalten zum Bezeichneten nahegelegt. Der vormalige »Schädling«, nunmehr als Exemplar einer »vom Aussterben bedrohten Art« bezeichnet und gesehen, ist zu schonen, zu schützen und zu hegen. So rufen uns die Gegenstände, indem wir sie benennen, zu, was wir mit ihnen machen sollen oder was wir mit ihnen nicht machen dürfen. Das »Unkraut« appelliert also geradezu an uns : Reißt mich aus ! Der »Verbrecher« ruft : Nehmt euch vor mir in acht ! Faßt mich ! Bestraft mich ! , denn dies ist es ja, was mit einem Verbrecher zu geschehen hat. Der »Stuhl« sagt : Auf mich kannst du dich setzen ! Ein »Buch« fordert uns, manchmal in penetranter Weise, auf, es zu lesen. Das »Geschirrtuch« sagt : Ich bin kein Handtuch ! Trockne dir deine Hände woanders ab ! Und sonst findet sich jemand, der es an seiner Stelle tut: Das ist ein Geschirrtuch und kein Handtuch ! Einen klareren Appell kann es nicht geben. »Brot« , so war es jedenfalls bis vor kurzem allgemein, darf man nicht wegwerfen, man muß es essen, höchstens darf es noch an Tiere verfüttert werden. Das gehört zu Wort und Begriff des Brotes – in einer Welt, in der gebetet wird: Unser täglich Brot gib uns heute !  – zumindest ebenso wesentlich dazu wie seine materielle Beschaffenheit. Wissen das unsere Wörterbücher ? Ich zitiere, um an einem Beispiel schon einmal das Defizit aufzuzeigen, um das es in diesem Beitrag geht, aus dem Wahrig (DW, s. v. Brot): »Gebäck aus Mehl, Wasser, etwas Salz u. einem Auf lockerungsmittel ; (fig.) Nahrung , Unterhalt«. »Heiß« ist kein Wort, das einfach nur einen bestimmten physikalischen Zustand in einem gewissen Temperaturbereich oder auch dessen subjektive Wahrnehmung bezeichnet ( Wahrig , DW s. v. : »sehr warm« [ plus übertragene Bedeutung ]; ibid. s. v. warm: »eine angenehme Temperatur zwischen kalt und heiß aufweisend« [ plus weitere Bedeutungen ]). Sondern indem ich zu jemand sage : Das ist h e i ß ! , oder einfach : Heiß ! , warne ich ihn in der Regel ; der Satz ist geradezu ein pragmatisches Synonym von Vorsicht ! . Heiß ! , wenn man es zu einem Kind sagt, bedeutet es soviel wie Finger weg ! , und funktioniert auch so ; das Kind erschrickt und zieht die Hand zurück. Wenn jemand fahruntüchtig genannt wird, dann liegt darin nicht nur die Feststellung , daß er nicht mit hinreichender Sicherheit ein Kraftfahrzeug führen k a n n (Wahrig DW s. v.: »nicht mehr fahrtüchtig «), sondern ebensosehr auch der Imperativ, daß

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er das nicht s o l l , mit der Konsequenz ( Appell an andere Adressaten), daß man ihn womöglich vom Fahren abzuhalten habe. Wenn wir jemanden als Lügner bezeichnen ( Das ist ein Lügner ), dann treffen wir damit i. a. nicht einfach nur eine Feststellung über eine Person, sondern fordern zugleich und eo ipso unseren Adressaten auf, dieser Person nicht mehr ohne weiteres zu glauben, sich vor ihr insofern in acht zu nehmen u. ä. mehr. Die Sprechakttheorie hat gewiß recht, wenn sie in einer solchen Äußerung etwa eine »Warnung« sieht, doch wird die Äußerung mit diesem oder einem anderen Sprechaktbegriff nur höchst allgemein charakterisiert. Als »Warnung« wäre sie wiederum nur ein Synonym von Vorsicht ! . Der konkrete Satz Das ist ein Lügner ! stellt aber, wenn er als Warnung verwendet wird, eine spezifische Warnung dar, in der erstens die Art und Quelle der Gefahr genannt ist, vor der gewarnt wird, und mit der zugleich zu einem bestimmten Verhalten aufgefordert wird: die Aussagen des Betreffenden nicht für bare Münze zu nehmen, sie also mit einem mentalen Fragezeichen zu versehen, oder auch – je nach der Gruppennorm, die für Lügner gilt – den Umgang mit ihm zu meiden , usw. Die Betrachtung solcher Beispiele lehrt, wie ich hoffe, daß in der Tat Wörter neben ihrer Darstellungsfunktion, vermöge derer sie uns zeigen, welche Eigenschaften ein Gegenstand hat, auch eine Appellfunktion aufweisen können, indem sie uns nämlich sagen, wie unser Verhalten in Bezug auf diesen Gegenstand zu sein hat ; oder, um es genauer und pointierter auszudrücken: Du sagst mir mit einem Wort über einen Gegenstand, den du damit bezeichnest, nicht nur, was e r i s t , sondern auch, was, in Bezug auf diesen Gegenstand, i c h s o l l . Es ergibt sich aus den Beispielen auch, inwiefern es gerechtfertigt erscheint, von der Appellfunktion eines Wo r t e s  – und nicht nur von der eines Satzes oder Textes – zu sprechen: insofern nämlich der jeweils spezifische Appell, der in einer einfachen sogenannten »Aussage« oder »Behauptung« vom Typus »P(x)« (»x ist P«) gegeben sein kann, a u s s c h l i e ß l i c h vom jeweils verwendeten Prädikator ( Unkraut , Blume , heiß usw.) abhängt ; denn wenn es allein ein bestimmtes Wort ist, dem ein Satz seine Appellativität verdankt, dann muß die Möglichkeit dieser Appellativität in diesem Wort schon enthalten sein, dann muß die Appellativität der Gesamtbedeutung des Wortes entspringen, kurz: dann muß das Wort eine Appellfunktion – mindestens potentiell – haben. Potentiell : gewiß wird nämlich die Appellativität eines Wortes, wenn es eine hat, nicht in jedem Gebrauch aktualisiert, gewiß kommt es auf Ko- und Kontext an, ob ein Wort die ihm innewohnende Appellativität entfaltet. Doch ist festzuhalten, daß Kound Kontext zwar passend sein müssen, damit die potentielle Appellativität eines Wortes aktuell werden kann, daß aber diese nicht etwa aus dem Ko- und Kontext ableitbar ist, sondern wirklich dem Wort selbst, in seiner Spezifizität, entstammt ; dies zeigt etwa das Beispiel Das ist Unkraut ! vs. Das ist eine Blume ! , wo, dieselbe Äußerungssituation vorausgesetzt, mit den beiden verschiedenen Sätzen zwei ganz verschiedene Verhaltens-

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weisen (z. B. ausreißen vs. pflücken oder verschonen) nahegelegt werden. Passend ist insbesondere die Situation der direkten Prädikation des Typus Dies ist (ein) P ! (»P(x)«), die ich hier mit einem Ausrufezeichen notiere, um ihre ( potentielle) Appellativität zu markieren – schon und gerade in dieser Urform des Aussagens kann sich die Appellhaftigkeit eines Wortes manifestieren.2

3 Wörter ohne Appell Es ist allerdings damit zu rechnen, daß es Wörter gibt bei denen der appellfunktionale Bedeutungsanteil einfach Null ist und von denen man daher nach Belieben entweder behaupten kann, daß sie eine eigene Appellfunktion gar nicht haben oder daß sie den Grenzfall – eben Null – der lexischen Appellativität aktualisieren. Gibt es solche Wörter, die von einer Sache überhaupt nur sagen, wie sie zu betrachten ist, nicht aber, wie sie zu behandeln ist oder behandelt werden kann ? Die also gewissermaßen nur theoretisch und überhaupt nicht praktisch sind ? Solche Wörter finden sich gewiß in dem Bereich menschlichen Sprechens, der nach seinem Selbstverständnis und seiner Zwecksetzung überhaupt nur theoretisch sein will, in der Sprache der Wissenschaft. Wissenschaftliche Termini dürfen, der Intention ihrer Prägung zufolge, in der Tat keine Appellfunktion haben, wenn sie nichts anderes sind als eben wissenschaftliche Termini. Diese Einschränkung ist allerdings notwendig u. a. als Hinweis auf die Existenz praktischer Wissenschaften wie etwa der Medizin. Deren Termini eignet z. T. ein ausgeprägter appellativer Aspekt, so allen Krankheitsbezeichnungen ( Beispiele aus dem Duden DUW: »Infekt … Infektionskrankheit … ; Scharlach … mit sehr hohem Fieber, Kopf- u. Halsschmerzen u. rotem Hautausschlag einhergehende ansteckende [ hier wird dem Wörterbuchbenutzer sogar eine Warnung gegeben ! ] Infektionskrankheit « ; »Gelbsucht … die Funktion von Galle u. Leber beeinflussende Krankheit, bei der sich Haut u. Schleimhäute gelb verfärben« ; »Malaria … bes. in den Tropen auftretende, durch schmarotzende Einzeller hervorgerufene, durch Stechmücken übertragende Infektionskrankheit mit periodisch auftretendem, hohem Fieber «), wo im Begriff der Krankheit schon der Gedanke enthalten ist, daß sie bekämpft, behandelt, geheilt werden muß, und wo sich für Ärzte darüber hinaus mit den Begriffen der einzelne Krankheiten sogleich bestimmte Therapiemöglichkeiten – d. h. aber (Be-)Handlungs-Möglichkeiten – verbinden. Rein-wissenschaftliche Termini hingegen – die für die gemeinsprachliche Lexikographie interessant sind, 2

Von dieser – in logischer Sicht – einfachsten Form der Prädikation aus wäre auch eine Definition der Appellfunktion eines Wortes zu gewinnen, und zwar, wie ich hier nur andeute, in Form einer Genau-dann-wennDefinition. »Ein Wort P hat die Appellfunktion Ap g. d. w. ein Satz des Typs P(x) Appellfunktion Ap' hat«, so etwa müßte diese Definition lauten, in der der Index P anzeigen soll, daß ( banalerweise ) die Appellfunktion des Wortes »P« eine Funktion dieses Wortes ist, und in der weiterhin der Index P' besagen soll, daß die Appellfunktion des Satzes »P(x)« eine Funktion der Appellfunktion des Wortes P ist.

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insofern es eine Wahrscheinlichkeit gibt, daß sie auch dem Nicht-Fachmann begegnen – haben, als theoretisch geprägte Termini, im allgemeinen die Appellfunktion Null. Es sei denn – dieses Caveat ist hier noch anzufügen – daß sie, wenn in der Umgangssprache gebraucht, einen ganz besonderen Appell, nämlich den zu einer ganz und gar wissenschaftlichen, gewissermaßen keimfreien Betrachtungsweise in sich tragen, wie es besonders bei Synonymen zu Tabuwörtern der Fall ist. Ein drastisches Beispiel ist das Wort Penis , das, wenn es im Alltag vorkommt, den Appell in sich hat, daß man sich dabei nichts denken soll. Es rückt, schon als (so auch empfundenes) Fremd- und Fachwort, die gemeinte Sache in eine anatomische (um nicht zu sagen klinische) Beleuchtung und hält, das scheint mir seine Funktion in der Alltagsrede zu sein, jeden Gedanken fern, was man etwa damit machen könnte. Insofern schießt sicherlich ein Wörterbuch wie der Duden DUW über das Ziel hinaus und verfehlt den eigentlichen Sinn des Wortes in der Alltagsrede, wenn er in breiter Anschaulichkeit den »Penis« (s. v.) definiert als »Teil der äußeren Geschlechtsorgane des Mannes u. verschiedener männlicher Tiere, der mit Schwellkörpern versehen ist, die ein Steifwerden u. Aufrichten zum Zweck des Geschlechtsverkehrs möglich machen ; Glied«. Die Appellfunktion Null hat auch eine Gruppe von Wörtern, die ich einmal als quasi-wissenschaftliche bezeichnen möchte. Ich denke dabei an die zahlreichen Wörter, etwa die gemeinsprachlichen Tier- und Pflanzennamen, mit deren Begriff sich für den durchschnittlichen Sprecher und Wörterbuchbenutzer kein Handlungszusammenhang verbindet. Für die meisten Tierarten trifft es ja zu, daß man ihren Exemplaren höchstens im Zoo begegnet, wo es dann für uns ihre einzige Funktion ist, daß man sie ansehen kann, so daß sie also auch dort, obzwar leibhaftig vorhanden, für uns eine im Wortsinn durchaus theoretische Existenz haben. Entsprechendes gilt für die allermeisten, auch einheimischen, Pflanzen, soweit sie nicht Kulturpflanzen sind. Ihre (für uns in unserer Alltagswelt) praktische Belanglosigkeit drückt sich in Buchtiteln aus wie »Was blüht denn da ? « 3. Er besagt (ich interpretiere): Interessieren tun uns diese Pflanzen allenfalls, insofern sie blühen. Dann nämlich sind sie »Blumen« und als solche (Schmuckfunktion) funktionalisiert. Im übrigen (dazu dienen ja Bücher wie das genannte), kann man sie bestimmen, womit unserem Ordnungstrieb Genüge getan ist ; es folgt daraus weiter nichts.

3

Dietmar Aichele: Was blüht denn da ? In Farbe. Ein Führer zum Bestimmen von Wildwachsenden Blütenpflanzen Mitteleuropas. 35. Aufl. Stuttgart 1973. – Zur Frage der sprachlexikographischen Behandlung von Tier- und Pflanzennamen vgl. unten, Kap. 5 sowie – allgemein – Spies 1982.

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4 Instrumentalwörter Eine erste, besonders unkomplizierte Klasse von Wörtern mit potentieller Appellativität fasse ich unter dem Begriff der »Instrumentalwörter« zusammen. Damit ist, wie der Name es sagt, die Klasse aller jener Wörter gemeint, die irgendein – im weitesten Sinn – Instrument, also ein Gerät, eine Maschine, ein Werkzeug , ein Möbel, ein Fahrzeug usw. (heideggersch: »Zeug«) benennen, lauter Dinge also, die dazu gemacht sind, bei bestimmten Handlungen zu einem bestimmten Zweck in einer bestimmten Weise benutzt zu werden, so z. B. unser oben schon bemühtes »Geschirrtuch« (Wahrig DW s. v. : » = Küchentuch « ; s. v. Küchentuch : »Tuch zum Abtrocknen des Geschirrs«), so der »Hammer« (ibid. s. v.: » Schlagwerkzeug mit ungefähr pyramidenförmigem, quer zum Stiel (Helm) stehenden Kopf ; Eisenhammer …«), so der »Stuhl« (ibid. s. v.: »Sitzmöbel mit Rückenlehne …«), so ein »Wagen« (ibid. s. v.: »zwei-, auch dreispuriges Fahrzeug mit Rädern …«); so ein »Messer« (ibid. s. v.: »Schneidwerkzeug mit Griff u. feststehender od. einklappbarer Klinge …«); so ein »Hut« (ibis. s. v.: »Kopf bedeckung mit Krempe für Männer u. Frauen …«); so eine »Nähmaschine« (ibid. s. v.: »elektrisch od. durch Fußantrieb [ der Handantrieb ist hier vergessen ] betriebene Maschine zum Nähen«); usw. Wie man sieht, wird bei den betreffenden Wörtern die Funktionsangabe (wenn auch nicht immer zuverlässig )4 in die Bedeutungsbeschreibung mit aufgenommen ; auf verschiedene Weise, aber i. a. hinreichend deutlich (»Schlagwerkzeug«, »Schneidwerkzeug« ; »Fahrzeug« ; »Kopf bedeckung« ; »zum Nähen« ; »zum Abtrocknen des Geschirrs«). Die Appellfunktion beim Gebrauch solcher Instrumentalwörter ist nun generell offenbar die, daß durch sie an den durch sie mitbezeichneten Zweck erinnert wird, den die durch sie bezeichneten Gegenstände haben oder haben sollen. Eisenhämmer, Wagen, besonders Autos, und Nähmaschinen usw. werden in bestimmten Handlungszusammenhängen ja etwa auch zusammenfassend als Schrott bezeichnet, wodurch sie dann (Wahrig ibid s. v. : »Alteisen, Eisenabfälle … ; es fehlt hier m. E. der Hinweis auf den Rohstoffcharakter) eine neue Funktionszuweisung erhalten. Bezeichnet man sie aber mit einem Instrumentalwort, so ist damit impliziert, daß sie zumindest eigentlich zu dem-und-dem, in ihrer Bedeutungsbeschreibung angegebenen Zweck benutzt werden sollten.

5 Relevanzwörter Eine der vorigen verwandte Gruppe von Wörtern bezeichne ich als »Relevanzwörter«, womit ich zum Ausdruck bringen will, daß zu ihrer Bedeutung ein Inhaltsmoment gehört, durch das die Relevanz der mit ihnen bezeichneten Gegenstände für mensch4

Müller 1984, 409 f. : »Nicht selten findet man in Bedeutungswörterbüchern bei technischen o. ä. Gegenständen und Geräten ausführliche naturwissenschaftliche Beschreibungen, aber keine Hinweise auf Zweck und Funktion …« .

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liches Tun und Lassen bestimmt wird. Das Wort Apfel z. B. ( Wahrig DW s. v. : »Frucht des Apfelbaumes«, s. v. »Apfelbaum«: rötlich-weiß blühendes Kernobstgewächs der Familie der Rosaceae mit fleischigen, rundl. Früchten: Malus« [ ich enthalte mich eines Kommentars ] ; Duden DUW s. v. : »rundliche, fest-fleischige, aromatisch schmeckende [ das kommt auf den Apfel an ! aber diese Charakterisierung geht in die richtige Richtung ] Frucht mit Kerngehäuse ; Frucht des Apfelbaums«) bezeichnet nicht einfach irgendeine »Frucht« ( Wahrig DW s. v. : »das nach der Befruchtung aus dem Fruchtknoten der bedecktsamigen Pflanzen gebildete Organ, das die (od. den) Samen bis zur Reife umschließt u. dann ihrer Verbreitung dient  …« ; Duden DUW s. v. [ sehr viel besser ]: »aus dem Fruchtknoten entstehender Teil der Pflanze, der den Samen bis zur Reife umschließt (u. der bei bestimmten Bäumen, bei Pflanzen von Feld u. Garten eßbar ist) [ da kommt die Relevanzangabe ]«), sondern ein »Obst« (Wahrig s. v. : »als Nahrung dienende Früchte« ; Duden DUW s. v. : » eßbare süße, meist saftige Früchte bestimmter Bäume u. Sträucher«) ; mit anderen Worten : daß Äpfel eßbar sind, ja daß sie geradezu »zum Essen« sind, wie ein Messer »zum Schneiden«, das gehört zur Bedeutung des Wortes »Apfel« als konstituierender Bestandteil dazu, und insofern ist ein Apfel etwas grundsätzlich anderes als etwa ein »Kienapfel« ( Wahrig s. v. : » =  Kiefernzapfen « ; s. v. Kiefernzapfen : »zapfenförmiger Fruchtstand der Kiefer«). Beim Apfel, wie wir ihn im Alltag kennen, kommt ja sogar noch hinzu, daß er durch Züchtung und Anbau, als ein landwirtschaftliches »Produkt«, schon seine Existenz seinem Nutzen, einer Finalität verdankt, und also im doppelten Sinn »zum Essen« ist. Die Relevanz, etwa für unseren Speisezettel, ist aber auch bei Gegenständen für die Bedeutung der sie bezeichnenden Wörter konstitutiv, die zuerst einfach nur da sind und die wir dann, ohne daß es ihnen selbst wesentlich wäre (aber für uns ist es wesentlich), nutzen. So z. B. der »Pfifferling« (Wahrig DW s. v.: »sehr würziger Speisepilz [ bravo ! ] mit gelbem Hut u. dicken Lamellen: Cantharellus cibarius [ bravo ! ] …« – wie man sieht, schlägt die Relevanz manchmal sogar bis in die wissenschaftliche Terminologie durch – dagegen Duden DUW s. v. in der Bedeutungsangabe ohne Hinweis auf die Eßbarkeit), der ein »in Wäldern vorkommender« (Duden DUW loc. cit.) Pilz ist, was aber doch die meisten von uns viel weniger interessiert, als daß er ein auf dem Wochenmarkt und im Gemüsegeschäft vorkommender Pilz ist, weil man ihn eben gerne ißt. Ob der Nutzen, den man sich von einer Sache verspricht, nun die raison d’être dieser Sache ist wie bei unseren Werkzeugen oder z. B. beim Apfel (als Ergebnis von Züchtung und Anbau); oder ob er – wie bei einem objet trouvé , das im Unterschied zum gestalteten Kunstwerk eine artistische Fundsache ist – erst gewissermaßen nachträglich in ihr entdeckt wurde ; in jedem Fall scheint er doch konstitutiv zu sein dafür, wie wir eine Sache betrachten, und damit auch für die Bedeutung des Wortes, mit dem wir sie benennen. Der »Pfifferling« ist, wie der Wahrig mit recht sagt, ein »Speisepilz«, auch wenn das botanisch ganz gleichgültig ist. Die Warnung giftig , die (im Wahrig DW, aber nicht im Duden DUW ) in der Bedeutungsbeschreibung von Fingerhut

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(i. S. der Pflanze) erscheint, ist durchaus am Platze (beim »Knollenblätterpilz« steht sie auch im Duden). Der Hinweis Arzneipflanze beim Lemma Kamille ( Wahrig DW, nicht im Duden DUW ) ist durchaus angebracht.5 Kohle ist in der Tat, was es in naturwissenschaftlicher Betrachtung gar nicht gibt, ein Brennstoff ( Wahrig DW und Duden DUW ), und wäre sie es nicht, so würden wir die Bezeichnung dafür – wie die Namen der meisten anderen Mineralien – wohl nicht einmal kennen. Die Dinge werden von uns nun einmal unter dem Aspekt gesehen, unter dem sie für uns relevant sind. Was sie für uns bedeuten – wenn sie uns etwas bedeuten – das geht daher als wesentliche Komponente in die Bedeutung der Wörter ein, so daß dann umgekehrt auch (man verzeihe dieses Wortspiel, aber es zeigt doch einen wichtigen Zusammenhang auf ) die Bedeutung der Wörter auf die Bedeutung der Dinge verweist.

6 Deontische Wörter Was ist (eine) »Pflicht« ? Nach Duden DUW (s. v.): eine »Aufgabe, deren Erfüllung sich jmd. einer inneren Notwendigkeit zufolge nicht entziehen kann od. die jmdm. obliegt, für ihn verbindlich ist « ; nach Wahrig DW (s. v.): eine »sittl. od. dienstl. Aufgabe, Obliegenheit, etwas, das man tun muß«. Problematische Einträge ! Hier werden sie aber vor allem angeführt als Belege dafür, daß Begriffe des Sollens in den Bedeutungserläuterungen der Wörterbücher in der Tat erscheinen, jedenfalls dann, wenn die betreffenden Wörter keine andere Wahl mehr lassen: bei Wörtern, die eindeutig und ausschließlich zur Sphäre des Sollens gehören. Am direktesten ist hier der Wahrig in seinem dritten Bedeutungsangebot: etwas, das man tun muß . Man fragt sich zwar, warum hier das ambige muß gewählt ist statt soll (allerdings, dies ist auch, wenn auch in anderer Weise, ambig ) mit einem Zusatz wie aus moralischen oder rechtlichen [ Wahrig kennt nur dienstliche ] Gründen . Aber immerhin, das Sollen/Müssen, das im Begriff der Pflicht liegt, wird in wünschenswerter Weise deutlich, wie es etwa herauskommt, wenn wir sagen: Das mußt du tun. Das ist doch deine Pflicht ! (was ich interpretiere als : Das zu tun, ist, darüber sind wir uns wohl einig (doch), deine Pflicht. Also mußt du es tun ! ). Seltsam windet sich dagegen der Duden um den Kern der Sache herum, wenn er hier eine »innere Notwendigkeit« ins Spiel bringt und zu behaupten scheint, daß man sich einer Pflicht, die man als solche akzeptiert, »nicht entziehen kann«. (Man kann sehr wohl ! Nur man soll es nicht ! ) Durch 5

In Bezug auf ein zweisprachiges (chinesisch-deutsches) Wörterbuch, das eine beträchtliche kulturgeographische Distanz zu überbrücken hat, gibt Spies 1982, 233, den Hinweis : »Der Durchschnittsbenutzer  … wird als Orientierungshilfe doch kurze Angaben enzyklopädischen Charakters für ihm unbekannte Pflanzen und Tiere erwarten, für deren wirtschaftliche oder kulturgeschichtliche Bedeutung ihm der Kontext u. U. keine genügende Einordnung bietet. Ein wohlüberlegter Stichwortkatalog gibt die Möglichkeit, wichtige Informationen in relativ ökonomischer Form zu präsentieren (›Arzneipflanze‹, ›Speisefisch‹, ›Gemüsepflanze‹, ›Schadinsekt‹).« Das gilt gewiß auch für die einsprachige Lexikographie.

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die »innere Notwendigkeit« wird die Bedeutungserklärung aus dem Moralischen (oder Rechtlichen) ins Psychologische hinüberbugsiert, was vielleicht – so kann man ideologiekritisch vermuten – einer Tendenz entspricht: man hätte das Moralische am liebsten abgeschafft oder (wie es hier geschieht: jemand kann sich nicht »entziehen«, das ist eine Art persönliches Mißgeschick) zur Privatsache erklärt. Immerhin (immerhin auch hier), mit seinem zweiten und dritten Bedeutungsangebot (»Aufgabe, die jmdm. obliegt« ; »die für ihn verbindlich ist«) macht auch der Duden das Pflichthafte an der Pflicht klar. Wörter wie Pflicht , Aufgabe , Obliegenheit (Gebotswörter) oder auch Sünde (Verbotswort) ; Wörter wie sollen , müssen , dürfen , (nicht) brauchen , können 6; wie gut , schlecht und böse ; wie Tugend und Laster , um nur einige wenige zu nennen, bilden eine lexische Klasse, die trotz ihrer evidenten Wichtigkeit in der lexikographischen Diskussion m. W. noch keine spezielle Würdigung erfahren hat ; ich bezeichne sie einmal als die Klasse der d e o n t i s c h e n Wörter. Mit ihnen wird ein Appell, ein Gebot nicht einfach nur gegeben, sondern geradezu benannt, sie dienen dazu, Appelle, Gebote und Verbote e x p l i z i t zu machen, in ihnen werden Appelle und Gebote in der Weise t h e m a t i s c h , daß in ihnen das Deontische die Bedeutung g a n z ausmacht, ohne daß daneben noch eine deskriptive Bedeutungskomponente gegeben wäre. Es handelt sich dabei um spezielle Wörter aus dem Bereich der Moral, des Rechts, der Religion, aber auch um Allerweltswörter wie etwa gut und schön . Auch sprechaktspezifizierende Wörter, deren Pointe in der Bezeichnung eines Appells oder Gebots liegt, wären hier vielleicht zu subsumieren, Wörter wie befehlen , verbieten , erlauben , empfehlen , raten usw. Welche Subklassen sind hier sinnvollerweise zu unterscheiden ? Welche systematischen zusammenhänge gibt es in unserer Sprache zwischen den Systemen, die durch solche Subklassen gebildet werden ? Wie ist die lexikographische Beschreibung der Elemente solcher Teilsysteme anzugehen, geht man etwa – wohin die Wörterbücher tendieren – von Wörtern großer Abstraktheit wie Aufgabe oder Obliegenheit aus und erklärt mit ihrer Hilfe die kleinen Wörter wie müssen und sollen oder verfährt man besser umgekehrt und legt der Beschreibung die Modalverben wie müssen und sollen und ferner die Evaluationsadjektive wie gut und schlecht zugrunde ? Oder entscheidet man sich von vornherein, in der Beschreibung systematisch-zirkulär vorzugehen ? Das eine Beispiel Pflicht zeigt schon, wie alles mit allem zusammenzuhängen scheint, weshalb auch der ganze Bereich in seinem Zusammenhang durchdacht werden müßte mit dem Ziel allerdings, überschaubare, relativ kleine Teilbereiche des deontischen Wortschatzes auszugrenzen, die einer lexikologischlexikographischen Bearbeitung zugänglich sind. 6

Zu den Modalwörtern verweise ich der Einfachheit halber auf den Forschungsbericht Öhlschläger 1984. Eine Darstellung des semantischen Verhältnisses dieser Wörter zu den anderen hier zusammenfassend als »deontisch« bezeichneten Wörtern wird nach Ausweis des Berichts – mit einer partiellen Ausnahme – nicht angestrebt und ist mir auch sonst nicht bekannt. Was die lexikographische Praxis betrifft, so wäre jedoch eine einheitliche Betrachtung und Behandlung , zunächst lexikologisch, sodann lexikographisch, wünschbar.

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7 Rechtswörter Unter dem Aspekt der Appellfunktion interessant sind vor allem solche Wörter, in deren Gesamtbedeutung sowohl ein deskriptiver als auch ein präskriptiver Bedeutungsanteil vorliegt, die von einander deutlich geschieden sind. Wir haben bisher Fälle betrachtet, wo es einen präskriptiven, appellativen Aspekt entweder gar nicht gibt (»Wörter ohne Appell«) oder wo er einer anderen Bedeutungskomponente entspringt (»Instrumentalwörter«, »Relevanzwörter«) oder wo er ohne Beimischung von Deskriptivität gewissermaßen abstrakt auftritt (»deontische Wörter«). In diesem und in den folgenden Abschnitten geht es um Wörter, bei deren Bedeutungsbeschreibung die Kennzeichnung des präskriptiven Bedeutungsanteils der Kennzeichnung des deskriptiven Bedeutungsanteils etwas Wesentliches hinzufügt, ohne das die Gesamtbedeutung nicht vollständig und insofern falsch beschrieben wäre. Wörter solcher Art konstituieren Sachen, die sowohl der Welt des Seins wie der des Sollens angehören, sie widersetzen sich also der reinlichen Scheidung der Gegenstände in solche der theoretischen und solche der praktischen Vernunft. Gerade deshalb, so meine ich, verdienen sie unser Interesse. Ich wähle, um das Gemeinte deutlich zu machen und um auf die diesbezüglichen Defizite hinzuweisen, zunächst einige Wörter aus der Sphäre des Rechts ,7 die aber durchaus auch zur Gemeinsprache gehören. Dies trifft z. B. auf das oben schon herangezogene fahruntüchtig zu, das von den Wörterbüchern erklärt wird durch: »nicht mehr fahrtüchtig« ( Wahrig DW s. v.); »Fahruntüchtigkeit (1) aufweisend, sie betreffend [ ? ], davon zeugend [ ? ]« (Duden DUW s. v. , womit man also verwiesen ist auf »fahrtüchtig« (»fähig , ein Kraftfahrzeug ordnungsgemäß zu führen«, Wahrig ) bzw. »Fahruntüchtigkeit (1)« (»geistige, körperliche, bes. die durch Alkohol, Drogen o. ä. bewirkte Unfähigkeit, ein Kraftfahrzeug im Verkehr sicher zu führen«, Duden). Diese Erklärungen sind gewiß nicht ganz falsch (wenn auch, im Fall Duden, etwas ungeschickt ; hier wird wieder der Apfel mit dem Apfelbaum erklärt); der Wahrig deutet sogar den Rechtscharakter des Wortes (ordnungsgemäß ) an, aber sie sind auch nicht ganz richtig , und es fehlt in ihnen das, wie mir scheint, Wichtigste. Denn die Fähigkeit oder Unfähigkeit, ein Kraftfahrzeug im Verkehr (wo sonst ? ) sicher oder auch ordnungsgemäß zu führen, ist, wie 7

Zur Problematik »Sprache und Recht« verweise ich summarisch auf Stickel 1984 und die dort genannte Literatur. Stickel nennt als eine der Schwierigkeiten im Verhältnis von juristischer Fach- und von Gemeinsprache die, daß »ein Laie für bestimmte Objekte, Eigenschaften oder Sachverhalte die gleichen Ausdrücke [ wie die Juristen ] verwendet«, wobei aber »dem nichtfachlichen Ausdruck die definitionssemantische Begrenzung durch die ›rechtserheblichen‹ Merkmale fehlt« (loc. cit. , 47). Grundsätzliches zum Verhältnis von Fach- und Gemeinsprache findet man bei Ickler 1981, auf den auch Stickel verweist ; dort ist dargetan, inwiefern fachund gemeinsprachliche Semantik prinzipiell unterschiedlich sind, so daß sie – so müssen wir folgern – lexikographisch auch ganz unterschiedlich zu behandeln sind. – Ein Beispiel für fehlerhafte Berufung auf eine juristische Normierung ( Jugendlicher ) bei der Bedeutungserklärung im gemeinsprachlichen Wörterbuch gibt Müller 1984 ( 408 f. ).

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wir alle wissen, etwas durchaus Relatives ; es gibt sehr unsichere Fahrer, die aber doch nicht »fahruntüchtig« sind. Das Wort aber sagt etwas Absolutes aus, denn fahruntüchtig ist, wer ein Fahrzeug nicht führen d a r f ; und zwar unabhängig davon, ob er, weil er vielleicht Alkohol ganz gut verträgt, de facto vielleicht noch hinreichend sicher fahren k a n n . So wären also die Prioritäten auch in einem Wörterbucheintrag zu setzen ( fahruntüchtig wäre dann »jmdm. , der ein Fahrzeug nicht führen darf, weil (anzunehmen ist, daß ) er wegen Alkoholgenuß etc. zum sicheren Fahren nicht fähig ist«); auf alle Fälle wäre aber der Sollensanteil in der Bedeutung zu nennen. Auch der »Verbrecher« wurde schon angeführt, ich nehme jetzt stattdessen das Wort Verbrechen , nach Wahrig DW s. v. eine »schwere Rechtsverletzung , Straftat, die mit Zuchthaus (od. mehr als fünf Jahren Gefängnis) bestraft wird«, nach Duden DUW s. v. einfach eine »schwere Straftat«. Im Vorübergehen sei bemerkt, daß die kürzere Erklärung die bessere ist, weil sie a) sowohl dem gemeinsprachlichen wie dem juristischen Sprachgebrauch gerecht wird (die Alternative wäre, daß man zwei Bedeutungen aufführt) und b) nicht falsch ist, denn die Institution des »Zuchthauses« gibt es im Recht der BRD nicht mehr, und »Verbrechen« ist nach unserem Recht, worauf eine Strafandrohung von mindestens einem Jahr (nicht fünf ) steht ; dies wirft übrigens die nicht unwichtige Frage auf, wie solche Rechts- (und verwandte) Termini in einem »deutschen« Wörterbuch überhaupt zu behandeln sind : ob konsequent nach Maßgabe der Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland oder ob mit jedesmaliger Kennzeichnung (BRD, DDR , Österreich, Schweiz) des Geltungsgebiets. In unserem Zusammenhang interessiert jedoch etwas anderes, nämlich daß ein Verbrechen eine »Straftat« ist, also etwas, das, wie schon der Name sagt, zu bestrafen ist (wie Wahrig und Duden übereinstimmend erklären) »straf bare Handlung«. Und was ist »straf bar« ? Was »gesetzlich mit Strafe bedroht« ( Wahrig DW) bzw. was »gegen das Gesetz verstoßend u. unter Strafe gestellt« (Duden DUW) ist. So ziehen also Wahrig und Duden im Endeffekt, was das »Verbrechen« betrifft, etwa gleich, indem sie beide die beiden deontischen Bedeutungsmerkmale liefern, daß ein Verbrechen 1. eine Handlung ist, die man nicht tun d a r f (»Rechtsverletzung« bzw. »gegen das Gesetz verstoßend«), und 2. eine Handlung ist, die (deshalb) von den dafür vorgesehenen Instanzen bestraft werden s o l l (»mit Strafe bedroht«, »unter Strafe gestellt«). Dies wird nicht so simpel formuliert, wie in meiner Paraphrase (wie simpel sollte man es – für welchen Wörterbuchbenutzer – formulieren ? ), aber es kommt doch wohl (wenn auch im Duden nicht an Ort und Stelle) zum Ausdruck. Was dagegen interessanterweise in beiden Wörterbüchern diesmal gar nicht zum Ausdruck kommt, das ist  – und insofern haben wir hier ein Gegenbeispiel zum vorigen – das Tatbestandsmäßige am Verbrechen, das deskriptive Bedeutungsmoment des Wortes, als ob es zum Begriff des Verbrechens gar nicht dazugehören würde, w a s man nicht tun darf, weil man sonst ein Verbrecher ist, also Betrug , Diebstahl, Einbruch, Totschlag , Mord usw. Nun muß man zugeben, daß es vielleicht schwer oder unmöglich ist, das tatbestands-

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mäßig Gemeinsame der verschiedenen Arten von Verbrechen auf einen Nenner zu bringen, und ein Jurist müßte sagen, ob das in der Rechtswissenschaft überhaupt versucht wird oder wurde – etwa dadurch, daß man sagt, daß durch ein Verbrechen jemandem schwerer Schaden (an Besitz, Leib, Leben) zugefügt wird ; jedenfalls bliebe eine solche Formulierung sehr abstrakt. Aber nichts hindert ja die Wörterbuchmacher daran, in der Art einer Definition durch Aufzählung zu verfahren und also durch Nennen zumindest einiger wichtiger Unterbegriffe die darstellungsfunktionale Bedeutungskomponente des Wortes (wenn auch nur teilweise, das macht nichts) anzuzeigen und ihre Bedeutungserklärung dadurch zugleich konkreter und verständlicher und vor allem auch dem normalen Sprachbewußtsein (des Nicht-Juristen) adäquater zu machen ; denn für dieses, so möchte ich vermuten, ist »Verbrechen« in erster Linie ein Oberbegriff für »Mord«, »Totschlag« usw., und nicht so sehr ( allerdings auch ! ) eine »Straftat«, und es ist nur für Spezialisten eine Straftat, die mit mindestens einem Jahr Freiheitsentzug geahndet wird. Warum das nicht geschieht ? Ich vermute, daß hier der alte Definitionsgrundsatz nachwirkt »definitio fit per genus proximum et differentiam specificam«, so daß die Wörterbuchmacher in per Begriffshierarchie typischerweise immer nur von unten nach oben gucken und bei der Erklärung ihr Heil sozusagen in immer größerer Abstraktheit suchen – eine Praxis, die zu reformieren wäre. Mein drittes und letzten Beispiel aus dem gemeinsamen Bereich der Rechts- und Alltagssprache soll das Wort Miete sein. »Miete«, so sagt der Wahrig , ist eine »entgeltl. (vorübergehende) Überlassung des Gebrauchs einer Sache oder einer Dienstleistung ; Entgelt hierfür«; wozu zunächst zu bemerken ist, daß hier die weniger geläufige Bedeutung des Wortes vorangestellt wird, um dann die geläufigere daraus herzuleiten. Zudem wird man verwiesen, denn gesetzt, man wüßte nicht, was »Miete« ist, so wüßte man wahrscheinlich erst recht nicht, was »entgeltl.« ist ; dieses Wort ist nämlich (Wahrig DW s. v.) »selten« ( ja, warum wird es dann in einer Bedeutungserklärung verwendet ? ). Es bedeutet »gegen Entgelt« (ibid.); und »Entgelt« bedeutet »Lohn, Belohnung [ ? ; vgl. Wahrig s. v. : »Gabe, Geschenk zum Dank« ] ; Bezahlung ; Vergütung , Entschädigung , Ersatz (für Leistungen, Mühen)«. Dagegen nun der Duden (DUW s. v.): Miete ist der »( bes. von Wohnungen o. ä.) Preis, den man für das Mieten von etw., für das vorübergehende Benutzen, den Gebrauch bestimmter Einrichtungen, Gegenstände zahlen muß«. Zahlen muß oder eben zahlt ? Nun, offensichtlich hat der Duden recht, da man eine Miete auf Grund eines Mietvertrages zahlt, in dem man sich zur Zahlung der Miete verpflichtet hat – eine Miete, die man nicht zahlen müßte, wäre gar keine Miete. Wir haben also hier ein Beispiel dafür, wie ein Wörterbuch (im Gegensatz zu einem anderen) die für eine Gesamtbedeutung konstitutive deontische Bedeutung auf klare und einfache Weise angibt.

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8 Attitudinalwörter Zum Beleg der Existenz von Mischtypen – Wörter mit de- und präskriptivem Bedeutungsanteil – sind Rechtswörter besonders geeignet, weil man hier durch Verweis auf Gesetz und Rechtswissenschaft relativ leicht eine Antwort auf die Frage finden kann, ob eine und welche deontische Bedeutung bei einem Wort anzusetzen ist. Schwieriger ist es mit Alltagswörtern, hinter denen keine stützenden theoretischen Konstruktionen stehen. Einzelne Fälle sind m. E. eindeutig (Unkraut , Ungeziefer ), doch wie die Sache grundsätzlich anzugehen wäre, weiß ich nicht. Statt Aporien im einzelnen aufzuzeigen, führe ich im folgenden die Entdeckung der Lösung des Darstellungsproblems für eine weitere wichtige Klasse von Wörtern – ich nenne sie einmal »Attitudinalwörter« – vor, die sich einem Zufallsfund verdankt. Denn zufallig lese ich nach, was Wahrig DW und Duden DUW über goldig und niedlich zu sagen haben, und stelle mit Verblüffung fest, daß im Duden ein generalisierbarer Lösungsansatz für die Beschreibung derartiger lexikologisch und lexikographisch schwieriger Wörter vorliegt. »Niedlich« und »goldig« – ich schlage die Wörterbücher auf Grund meines Sprachgefühls und meiner linguistischen Biographie in der Erwartung auf, die beiden Wörter als synonyme und bloß regionale varianten ausgewiesen zu finden : in Norddeutschland (Hamburg ) sagt man mehr niedlich (oder süß ), in süddeutschland (Heidelberg ) sagt man goldig . Dies bestätigen mir die Wörterbücher nicht oder nur z. T. Auf das Norddeutsche an niedlich verweist in beiden Wörterbüchern nur die Etymologie. Wahrig DW erklärt niedlich durch: »hübsch u. klein, hübsch, ansprechend« , goldig durch: »wie Gold glänzend ; (fig.) reizend, lieb«. ( Darauf reagiere ich als kritischer und professioneller Wörterbuchbenutzer nicht mit der Folgerung , die Wörter seien also nicht synonym, sondern ich werte den Unterschied der Eintragung als Konsequenz und Beweis der Beliebigkeit derartiger Einträge.) Ich frage mich, ob damit das Wesentliche getroffen ist ; hübsch , klein , auch reizend (bildungssprachlich für niedlich , goldig ) – gewiß ; aber die Bedeutungsbeschreibung scheint doch den Kern der Sache nicht zu treffen (ansprechend liegt völlig daneben ! ). Zu goldig liefert Wahrig die Verwendungsbeispiele »ein -es Kind, Baby«, zu niedlich (u. a.): »ein -es Kind, Mädchen« – Kind und Baby, scheint mir, gehen in die richtige Richtung , Mädchen (wegen Ambivalenz) weniger. Eine ähnliche Frustration erwartend (und halb erhoffend) greife ich nun zum Duden DUW und finde dort zuerst unter niedlich : »durch seine hübsche Kleinheit, Zierlichkeit, durch zierliche, anmutige Bewegungen o. ä. Gefallen erregend, Entzücken hervorrufend ; lieb [ sehr gut ! nämlich eine weitere regionale Variante, mir aus Österreich ( Wien ) bekannt ], goldig [ na also ! ], reizend [ s. o. ]«. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich von einem deutschen Wörterbucheintrag begeistert, schon von der Sprache ( » hübsche Kleinheit«), die so sehr aus dem Rahmen des wörterbuchüblichen Amtsdeutsch8 herausfällt und selber 8

Zum »Wörterbuchdeutsch« allgemein vgl. Müller 1984.

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anmutig ist. Nicht minder aber durch das Inhaltliche, denn hier wird nun wirklich die R e a k t i o n des Betrachters (Sprechers , Hörers) auf den als »niedlich« qualifizierten Gegenstand als E r k l ä r u n g s p r i n z i p herangezogen, die Spezifizität des Adjektivs also nicht mehr allein in Eigenschaften gesucht, die dem Gegenstand als Gegenstand anhaften, sondern ebenso in den Wirkungen, die er auslöst. »Beauty is in the eye of the beholder«, das wissen wir alle, aber man konnte diese Einsicht bisher nicht gerade als lexikographischen Beschreibungsgrundsatz bezeichnen ; hier nun wird der »Gefühlswert« (Erdmann) eines Wortes als konstitutiv für dessen Bedeutung gesehen und seine Darstellung – auf einfachste Weise – in die Bedeutungsbeschreibung integriert, so daß sich zeigt, wie sich im Wort objektive ( gegenstandsspezifische) und subjektive ( betrachterspezifische) Bedeutungsmomente verbinden. – Geschieht dies auch bei goldig ? Wir lesen: »1. (ugs.) a) in seiner äußeren Erscheinung in einer Weise reizend, daß man es mit Rührung u. Zärtlichkeit feststellt : ›ein -es kleines Mädchen‹ ! b) (landsch.) in menschlicher Hinsicht rührend nett : ›daß du uns beim Umzug helfen willst, finde ich g. 2. (selten) golden leuchtend : ›der -e Schimmer der Abendsonne‹«. Gegenüber Wahrig DW ist hier also (richtigerweise) die »Grundbedeutung« ans Ende gerückt und als »selten« markiert, es wird uns gleich die Bedeutung gegeben, die wirklich wichtig ist, und das Wort wird in dieser Bedeutung (richtigerweise) pragmatisch als »ugs.« markiert ; ferner werden zwei Unterbedeutungen unterschieden (auch dies eritspricht meinem Sprachgefühl), von denen die zweite (richtigerweise) durch nett erklärt wird, seinerseits ein hochinteressantes Wort, dem ich aber jetzt nicht mehr nachgehen will  – bleibt also die Bedeutungserklärung 1 a). Sie wirkt prima vista etwas unbeholfen, ich verstehe die Wendung »in einer Weise … daß« nicht sofort. Dann aber das, worauf es ankommt : was »goldig« ist, darauf reagiert man mit »Rührung und Zärtlichkeit«. Genau so – sagt mir mein Sprachgefühll – ist es ! Im Vergleich zur Angabe des Gefühlswerts bei niedlich (»Gefallen, Entzücken erregend«) konstatiere ich hier noch eine Steigerung , nämlich im Sinne der Präzision. Was niedlich und goldig ist, das gefällt und entzückt uns zwar in der Tat, aber doch in der besonderen Weise, daß wir entwaffnet sind, daß unsere Aggressivität von uns abfällt, daß wir schützen, helfen, streicheln und liebkosen wollen – wie es durch Rührung und Zärtlichkeit ausgedrückt wird. Was können uns – so fragt man sich rückblickend – diese Einträge an Verallgemeinerbarem lehren ? Mir scheint, zweierlei. Erstens, sie tun dar, daß es möglich ist, den »Gefühlswert« eines Wortes – und darunter versteht man im allgemeinen fälschlicherweise etwas Vages und Subjektives (im Sinne der zufälligen, persönlichen Gefühle eines einzelnen) – in scharfer, knapper, deutlicher Formulierung in die Bedeutungsbeschreibung eines Wortes aufzunehmen. Sie beweisen ferner – durch ihr Beispiel – daß dies in gewissen, vielleicht zahlreichen, Fällen notwendig ist ; wir werden also darauf hingewiesen, daß nicht etwa nur die thematisch-psychologischen Wörter wie etwa zornig , zärtlich , ängstlich , freudig Gefühle zum Bedeutungsinhalt haben, sondern auch solche, die gar

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nicht von dem fühlenden Subjekt (im Sinne des fühlenden, wahrnehmenden und handelnden Subjekts) ausgesagt werden, sondern vom Objekt ; daß hier ein systematischer Zusammenhang zwischen der Klasse der explizit (thematisch) psychologischen Wörter und der Klasse (den Klassen) solcher nur implizit psychologischen Wörter besteht, dem man nachgehen sollte ; so daß hier sogar die Möglichkeit nachgewiesen ist, das lexikographische und lexikologische Ärgernis »Konnotation« (vgl. unten, Kap. 12) in einem wichtigen Punkt aus dem Weg (wenn schon nicht aus der Welt) zu schaffen. Es fehlt uns vorderhand noch an einem Begriff, um solche Wörter zu benennen, die ein Objekt nach Maßgabe dessen charakterisieren, was es in einem Subjekt an Gefühlen erweckt.9 Ich bezeichne sie eben deshalb als Attitudinalwörter, womit ausgedrückt sein soll, daß sie über die (emotionale) Einstellung etwas mitteilen, die man zu einem Gegenstand hat oder haben soll. – Damit sind wir beim zweiten Punkt, der eben das Verhältnis von Sein und Sollen betrifft und damit unsere Betrachtung wieder in die Appellproblematik zurückführt. Man denkt nämlich beim Stichwort »Gefühlswert« eher an die Bühlersche Ausdrucks- als an die Appellfunktion ; und in der Tat, wenn man in Heidelberg hört: Das ist aber goldig ! , dann ist das zunächst einmal Ausdruck im Bühlerschen Sinn. Nur, das schließt nicht aus, daß es zugleich auch Darstellung und, was hier interessiert, Appell ist. Zustimmung heischend wendet sich ja der Sprecher mit seinem Ausruf (oft hört man auch : Ist das nicht goldig ? ) an andere und möchte, darum drückt er es ja aus, mit seinem Gefühl nicht allein bleiben: er appelliert an sie, es zu teilen.

9 Parteiische Wörter Die Klasse der ideologie- und parteisprachlichen Wörter erwähne ich hier nur en passant und sozusagen der Ordnung halber, damit eine in meinem Zusammenhang (wiederum) wichtige Wortgruppe nicht vergessen wird, die im übrigen in letzter Zeit lexikographische Beachtung erfahren hat.10 Insbesondere die Fahnen- und Stigmawör9

Müller 1984 handelt kurz von solchen Wörtern, »deren Gebrauch Emotionalität ausdrückt« und die lexikographisch oft durch eine Angabe wie »emotional« oder »abwertend« gekennzeichnet werden. »Angemessener«, so m. E. Müller mit Recht, »kann aber oftmals die Einbeziehung des Sprecherstandpunkts oder -urteils in die BE sein« (loc. cit., 424 ). Müller gibt Beispiele dafür, wie er sich das vorstellt.

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Neben Hermanns 1982 vgl. besonders Strauß 1982, der bereits die Feststellung trifft, daß bei politisch-ideologischen Wörtern »ihre Wertungs- bzw. Symptom- und Appellfunktion … im gleichen Maße als lexikalisiert und ins Sprachsystem integriert zu gelten hat wie ihre Darstellungsfunktion« (loc. cit. , 47), ferner Strauß & Zifonun 1984 ( passim ), wo u. a. die nützlichen Begriffe »Politolekt« und »Natiolekt« (vielleicht weniger glücklich, da die Frage der Nationhaftigkeit von BRD und DDR, auf deren Sprachen sich dieser Begriff vor allem beziehen soll, gerade umstritten ist) eingeführt werden (loc. cit. , 447), sowie Strauß 1984. Außerhalb des lexikographischen Bereichs sind diese Wörter natürlich schon länger Gegenstand der linguistischen Diskussion über die man sich jetzt am bequemsten bei Heringer 1982 1 (Beiträge und Literaturverzeichnis) informiert. Durch die Jahrestagung 1984 des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim ist diese bis dahin

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ter dienen – wie evident sein dürfte – nicht bloß der symbolfunktionalen Darstellung sei es etwa eines Ideals, sei es einer Realität und nicht bloß der symptomfunktionalen Kenntlichmachung ihrer Verwender, sondern sie haben außerdem eine ausgeprägte, ja vielleicht primäre Appellfunktion. Von Wörtern wie Demokratie und Sozialismus lernt der normale Sprecher vermutlich früher und nachhaltiger, daß man dafür bzw. dagegen sein muß, als was die Wörter inhaltlich besagen mögen. Beim Wort Proletarier ist dies vielleicht besonders handgreif lich, da dieses Wort besonders oft in der Parole Proletarier aller Länder, vereinigt Euch ! begegnet ; ein Proletarier ist also vor allem einmal einer, der sich (mit seinesgleichen) vereinigen muß. Sehr viel weniger eindrucksvoll sind dann die inhaltlichen Füllungen im Sinne der Symbolfunktion, die man etwa aus Wörterbüchern erfährt, wie: »(im alten Rom) Angehöriger der Klasse des niedrigstens Vermögensstandes ; (seit Marx und Engels) Lohnarbeiter ohne Besitz an Produktionsmitteln« (Wahrig DW s. v., ohne das Zitat, das im Duden DUW gleich nach der Bedeutungserklärung erscheint mit dem (nützlichen) Zusatz : »Schlußsatz des ›Kommunistischen Manifests‹ von Karl Marx [ und Friedrich Engels ? ]; Wahlspruch der kommunistischen Parteien«). Das Beispiel kann zugleich auch zeigen, daß der Appell, der sich mit solchen Wörtern verbindet, spezifischer ist oder sein kann, als daß man ihm mit dem Begriff einer evaluativen Bedeutungskomponente ( Fahnenwort = gut, Stigmawort = schlecht) schon gerecht werden könnte.

10 Zentrale Wertbegriffe Mein letztes Beispiel – Arbeit – steht für einen Bereich von Wörtern, die für unser Selbstverständnis in unserer Welt des Seins und des Sollens eine zentrale Funktion haben – ein weiteres Beispiel wäre etwa Liebe – die aber in ihren verschiedenen Bedeutungen nicht einfach verschiedenen ideologischen Gruppen oder Parteien zugeordnet werden können ; die zwar offenkundig ideologischer Natur sind, an deren Ideologie aber unsere gesamte Gesellschaft teilzuhaben scheint, wenn auch gewiß nicht ohne Unterschiede ; ich bezeichne sie einmal als z e n t r a l e We r t b e g r i f f e . Solche Wörter haben evidenterweise eine ethische, deontische Dimension, ja es macht geradezu ihr Wesen aus – deshalb sind sie so wichtig – d a ß es sich bei ihnen um moralische Wörter handelt, doch sind sie nicht im oben erläuterten Sinn als deontische Wörter zu klassifizieren, weil sie außer dem präskriptiven auch ein deskriptives Inhaltsmoment haben. Speziell das Wort Arbeit habe ich gewählt, weil dazu (für das Frühneuhochdeutsche) eine lexikographische unter dem Rubrum »Sprachkritik« geführte Diskussion unter den allgemeineren Begriff der »Sprachkultur« gestellt worden ; dazu programmatisch Wimmer 1984.  – Wichtig für mein Thema scheint mir noch der Hinweis auf Ickler 1981, wo ( 68 ) u. a. der Satz zu lesen ist : »Schlagworte sind die nichtdiskursive Form der Normen, das gleichsam ›lexikalische‹ Äquivalent von Maximen, deren höchst praktische, weil schnell über Komplexes orientierende Abbreviatur.«

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Studie vorliegt ( Anderson et al. 1983), in der das ethische Bedeutungsmoment des Wortes deutlich herausgearbeitet ist, so daß ich mich hier kürzer fassen kann. Es geht mir vor allem um den Aufweis des Defizits, daß eben die deontische Bedeutungskomponente in den Wörterbüchern ignoriert wird und daß in ihnen auch jeder Hinweis darauf fehlt, daß Arbeit ein Ideologiewort, ein für unsere Gesellschaft zentraler Wertbegriff ist. Zum Beleg zuerst die Bedeutungserläuterung aus dem Wahrig DW, so weit sie hier von Belang ist : »körperl. od. geistige Betätigung , Tätigkeit, Beschäftigung (Garten-, Haus-, Forschungs-); Beruf, berufl. Tätigkeit, Stellung (Berufs-); Mühe, Anstrengung ; …«, sowie einige der Wahrigschen Beispiele : » – macht das Leben süß [ ohne Hinweis auf das Ironische und ohne Hinweis auf den Sprichwortcharakter dieses Diktums ]; eine Menge –; das kostet ein schönes Stück – [ ohne Erklärung ]; seine – abgeben ; … aufgeben ; die – einstellen ; er hat die – nicht erfunden (umg. ; scherzh.) ›er arbeitet nicht gern‹ ; … ; eine anstrengende, einträgliche, geistige, harte, körperliche, leichte, schriftliche, schwere, wissenschaftliche –; meine beruf liche –; … ; gute, ordentliche, saubere, sorgfältige, schlechte, schludrige – leisten ; ihm ist keine – zuviel ; das ist, macht unnötige – ; … , er hat – als Tischler gefunden ; an die – gehen ; … ; auf – gehen (umg.) ›beruf lich tätig sein‹ (von Arbeitern); … , der – gern aus dem Wege gehen (umg.; scherzh.) ›nicht gern arbeiten‹; … ; ich habe ein Wörterbuch in – ; … ; mit – überhäuft, überlastet sein ; nach getaner – ist gut ruhn (Sprichw.); nach des Tages – ; ich bin augenblicklich ohne – ; von seiner Hände – leben ›sich seinen Lebensunterhalt durch Arbeit selbst verdienen‹ ; ich kann vor – nicht mehr aus den Augen sehen ›ich habe zuviel Arbeit‹ ; auf dem Weg zur – sein«. Es folgt, bei diesem Wort von potentieller Relevanz, ein etymologischer Anhang mit Angabe von ahd. (nicht: mhd., frnhd.) Wortformen, der erschlossenen germ. Form mit Bedeutungsangabe »Mühsal, Not« und des idg. Bezugsmorphems mit der Bedeutungsangabe »verwaist«. Im Duden DUW sind, wie immer bei größeren Artikeln, die Bedeutungsbeschreibungen sortiert, die Beispiele den einzelnen Unterbedeutungen zugeordnet : »1. a) Tätigkeit mit einzelnen Verrichtungen, Ausführung eines Auftrags : eine leichte, zeitraubende, interessante A. ; … ; diese A. geht mir leicht von der Hand ; die A. läuft uns nicht davon (scherz.; ›wir brauchen uns damit nicht zu beeilen‹); eine A. übernehmen, ausführen, verrichten, erledigen ; …; b) (o. Pl.) das Arbeiten, Schaffen, Tätigsein ; das Beschäftigtsein mit jmdm., etwas: körperliche, geistige A.; gute A. leisten ; viel A. haben (›viel arbeiten müssen‹); seine A. tun ; an die A. gehen ; …; R der/die hat die A. nicht erfunden (›er/ sie arbeitet nur ungern‹); Spr nach getaner A. ist gut ruh(e)n ; …; c) (o. Pl.) Mühe, Anstrengung ; Beschwerlichkeit, Plage: du hast dir (damit, dadurch) unnötige A. gemacht ; keine Mühe und A. scheuen ; das macht viel A .; d ) (o. Pl.) Berufsausübung , Erwerbstätigkeit: eine A. suchen, finden ; seine A. verlieren ; A. haben (›eine Stelle, eine Anstellung haben‹); … , einer geregelten A. nachgehen (›berufstätig sein‹); ohne A. sein (›arbeitslos sein‹);  … ; Spr jede A. ist ihres Lohnes wert ; ( bei jmdm.) in A. sein, stehen  … ; von

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seiner Hände A. leben … ; 2. (o. Pl.) (Sport) körperliche Vorbereitung auf bestimmte Leistungen ; Training ; …« . – Eine etymologische Angabe ist der Bedeutungserklärung 1 a) vorangestellt, sie nennt die mhd./ahd. Wortform »ar(e/a)beit« mit der Bedeutung »eigentl. [ ? ] große Anstrengung , Mühsal, Plage«. Ich muß im Rahmen dieses Beitrags auf eine detaillierte Würdigung des Zitierten verzichten und beschränke mich auf einige wenige kritische Anmerkungen, die für mein Thema wesentlich sind. Erstens: Es geht aus den Bedeutungserklärungen der beiden Wörterbücher nicht hervor, daß Arbeit immer z i e l g e r i c h t e t ist, daß sie immer einen Zw e c k hat, daß also Arbeit ein H a n d e l n ist, das als solches im Gegensatz etwa zu Spiel und Sport auch einen Ernstcharakter hat, der durch Kennzeichnungen wie Betätigung , Tätigkeit , Beschäftigung , Beschäftigtsein eher verunsichtbart wird. Zweitens: Die deutschen Wörterbucheinträge machen nicht deutlich, daß Arbeit – dies ist eine Spezifikation des Vorigen – typischerweise auf die Schaffung eines Pr o d u k t s gerichtet ist (wozu auch vollbrachte Dienstleistungen gezählt werden können), in die ökonomische Sphäre der Pr o d u k t i o n gehört und nach ihrem gesellschaftlichen oder auch privaten Nu t z e n auch g e w e r t e t zu werden pflegt. Drittens: Es geht aus den Erklärungen nicht genügend hervor, daß Arbeit typischerweise – dies ist ein zweiter oder jenachdem auch der erste Zweck der Arbeit – um eines G e w i n n e s willen gemacht wird, der wiederum typischerweise (oft) den (Rechts-) Charakter einer B e z a h l u n g oder E n t l o h n u n g hat. Viertens: Es wird nicht ersichtlich, daß Menschen deshalb in unserer Gesellschaft typischerweise arbeiten m ü s s e n , um ihren Lebensunterhalt zu verdienen , wie das moralischökonomisch ambivalente Wort es sagt. Fünftens: Es wird kaum deutlich, daß deshalb Arbeit typischerweise und oft, teilweise oder ganz, f r e m d b e s t i m m t und auch – um dieses für das moderne Selbstverständnis nicht wegzudenkende Wort drücken sich die Wörterbücher auch in den Beispielen herum – e n t f r e m d e t ist. Sechstens: Es wird nicht hinreichend klar, daß Arbeit sehr oft und typischerweise m ü h e v o l l und deshalb etwas ist, was man ganz natürlicherweise n i c h t g e r n tut ; in diesem Punkt ist es besonders ärgerlich, wie hier der Wahrig mit dem Leser ein augenzwinkerndes Einverständnis herzustellen sucht (»Arbeit macht das Leben süß« als überhaupt erstes Beispiel), wozu zu sagen ist, daß das Wörterbuch mit dem Benutzer nicht zu schäkern, sondern ihn zu informieren hat. Siebtens: Es geht aus den Erläuterungen nicht hervor, daß man in unserer Gesellschaft heute tyischerweise – im Gegensatz etwa zu den Normen einer Adelsgesellschaft vergangener Zeit – arbeiten nicht nur de facto für seinen Lebensunterhalt m u ß , sondern ebenso auch, selbst wenn dies für den Lebensunterhalt gar nicht nötig wäre, arbeiten s o l l , ja daß dies für Menschen zwischen ungefähr fünfzehn und fünfundsechzig Jahren zu den normativen Selbstverständlichkeiten des Lebens gehört. Alle diese Punkte sind für unseren Begriff von Arbeit, wie ich meine, (mit-)konstitutiv, und sie sind alle d e o n t i s c h relevant, insofern sie sämtlich mit dem Wozu des Handelns zu tun haben, das wir Arbeit nennen ; eine stärkere systematische Beachtung

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deontischer und finaler Bedeutungselemente  – wofür dieser Beitrag argumentiert  – könnte also dazu führen, daß auch die Bedeutungsbeschreibung von Wörtern wie Arbeit verbessert wird. Sie alle bezeichnen auch Momente am t y p i s c h e n Bild von Arbeit, das wir haben, und müßten in eine Beschreibung des »Stereotyps« von Arbeit eingehen ; man kann sich daher vielleicht von einer Durchsetzung der Typensemantik einen Fortschritt in der Beschreibung solcher Wörter erhoffen.11 Und sie alle sind natürlich dem Wort h i s t o r i s c h zugewachsen ; man kann deshalb vielleicht auf das wieder erwachende Interesse am Historischen zählen, wenn man wünscht, daß Wertbegriffe unserer Gesellschaft künftig weniger lieblos in unseren Wörterbüchern mit minimaler begriff licher Anstrengung bloß erledigt werden. Bislang stand noch – so ist zu vermuten – ein falsches Verständnis von Synchronie (das weder von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen noch auch von der historischen Dimension des synchronischen Bewußtseins etwas wußte), verbunden mit einer allgemeinen Geschichtsfeindlichkeit, dem im Weg. Ein historischer (Sprachstadien-)Wörterbuchartikel zeigt denn auch – am Beispiel des frnhd. Wortes arbeit – wie man es besser machen könnte, selbst wenn man auf die Fülle der darin gegebenen Belege verzichten muß. Arbeit wird dort (Anderson et al. 1983) in der hier interessierenden modernen Bedeutung erklärt als »›anstrengende Tätigkeit insbes. zum Erwerb des Lebensunterhaltes, beruf liche, in der Regel körperliche Arbeit auf allen Gebieten (z. B. im Weinberg , beim Feldbau, im Bergbau, in städtischen Gewerben)‹ mit offenem Übergang zu ›Erwerbstätigkeit zur Erzielung von Gewinn‹ darunter auch zu ›Handel‹, vereinzelt … ›mühevolles geistiges Schaffen, psychische Anstrengung zur Erreichung eines Zieles‹ … ; offen zu 1 [ d. h. zu »arbeit« in der Bedeutung »Widrigkeiten, Schwierigkeiten, Qual, Leid, Not …« ] … ; ferner offen zu 7 [ »Ergebnis, Produkt der Arbeit als beruf licher Tätigkeit« ] und 8 [ »Kunstfertigkeit, Geschicklichkeit« ]; … Die Bedeutung gilt teils im neutralen Sinne (dann bes. für ›beruf liche Arbeit‹ vor allem der unteren Schichten), teils mit positiver ethischer Wertung als Gegensatz vorwiegend zu Müßiggang und Lasterhaftigkeit. – Gesamtfrnhd., mit der Nuance ›beruf liche Arbeit‹ zunehmend häufig im späteren Frnhd.« – Man erkennt hier eine Reihe der Bedeutungselemente, die oben reklamiert wurden (Anstrengung , Lebensunterhalt, Gewinn, positive ethische Wertung ), andere sind durch Verweis auf Nachbarbedeutungen gegeben (Ergebnis, Produkt, und die Reihe Widrigkeiten usw.), weitere sind frnhd. noch nicht zu erwarten ( Fremdbestimmtheit, Entfremdung ). Wichtig scheint mir vor allem der nachdrückliche Hinweis auf den ethischen Charakter des Wortes, der noch durch die Angabe bedeutungsverwandter Wörter (u. a. »fleiß«, »tugend«, »zucht«) und Antonyme (u. a. »laster«, »(wol)-lust«, »müßiggang«) gestützt wird, was sich hier als ebenso ökonomisches wie überzeugendes semantisches Darstellungsmittel erweist.

11

Vgl. Ickler 1981 ; Schwarze 1982.

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11 Lexikographisches Fazit Am Ende dieser – in, ich wiederhole es, heuristischer Absicht unter dem Aspekt der potentiellen Appellativität lexikalischer Einheiten durchgeführten – Revue einer Reihe von Wörterbucheinträgen stellt sich die Frage, was für die praktische Lexikographie aus alledem folgt. Zweierlei, wie mir scheint. Erstens nämlich drängen sich beim Nachdenken über die möglichen Quellen der Appellfunktion eines Wortes und bei der Betrachtung der Beispiele einige Begriffe auf, die z. T. jedenfalls neu und die zugleich für die Systematisierung der lexikographischen Arbeit und für die lexikographische Kritik nützlich sein könnten. Solche Begriffe sind die in diesem Beitrag nicht sowohl definierten, als vielmehr zur Klassifikation lexischer Einheiten schon vorausgesetzen Begriffe wie »Instrumentalwort«, »Relevanzwort«, »Deontisches Wort«, »Attitudinalwort«, »Zentraler Wertbegriff« ; sie könnten brauchbar sein, insofern sie jeweils ganze Klassen von Wörtern zusammenfassen und damit der Reflexion über die sich in ihnen jeweils gemeinsam stellenden Probleme der lexikographischen Behandlung zugänglich machen. Besonders nenne ich noch einmal den Begriff der »deontischen Bedeutung« bzw. der »deontischen Bedeutungskomponente«, von dem ich glaube, daß er geeignet ist, uns die Augen für die praktische (im Sinne eben des Deontischen) Verfaßtheit gewisser, großer Teile unseres Wortschatzes zu öffnen. Zweitens ergeben sich aus der durchgeführten Revue für die praktische Lexikographie einige Forderungen und Wünsche, die man mit Bezug auf sie formulieren kann. Ich tue das – in Auswahl und in Kürze – indem ich die in diesem Beitrag anhand einiger Beispiele gemusterten Wortklassen noch einmal auf liste. 1. Wörter ohne Appellfunktion, insbesondere rein-wissenschaftliche und quasi-wissenschaftliche. Fo r d e r u n g : nur die, daß jedesmal geprüft werden sollte, ob ein Wort tatsächlich unter diese Kategorie fällt. Dies ist auch bei »wissenschaftlichen« Wörtern durchaus nicht immer der Fall ( Beispiel: Krankheit , Penis ). 2. Instrumental- und Relevanzwörter. Fo r d e r u n g : Der appellfunktional erhebliche Bedeutungsanteil ist bei diesen Wörtern die Funktions- bzw. Relevanzangabe. Es wäre nur darauf zu achten, daß solche Angaben in den Bedeutungsbeschreibungen auch wirklich pünktlich erfolgen. Bisher ist dies nicht immer der Fall (Beispiele: Apfel , Fingerhut ).  – Wünschbar wären hier Spezialuntersuchungen zur lexikographischen Behandlung einzelner lexischer Teilklassen (z. B. Werkzeuge, Maschinen, Nahrungsmittel), die also von einem onomasiologischen Prinzip aus die semasiologisch abgefaßten Wörterbücher auf Kohärenz und Konsequenz prüfen und die sich dabei zum Ziel machen könnten, nach einer möglichst geeigneten k a n o n i s c h e n Fo r m für Funktions- und Relevanzangaben in Bedeutungserklärungen zu suchen – nach einer Form also, die in den Bedeutungserklärungen onomasiologisch benachbarter Wörter j e d e s m a l gebraucht werden könnte, was dann die Abfassung sowohl wie Lektüre der betreffenden Wörterbuchartikel gewiß erleichtern würde. Derartige onomasiologische Kontrollen der semasiologischen Wörterbücher –

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Quersummenproben gewissermaßen, die zeigen können, ob die semasiologische Rechnung aufgeht – scheinen mir übrigens für alle lexischen Bereiche angebracht und, wenn der Bereich klein genug gewählt wird, (im Rahmen etwa von Examensarbeiten aller Art) auch gut durchführbar zu sein. Deontische Wörter. Fo r d e r u n g : Diese Wörter zunächst in ihrer Gesamtheit und in ihrem Zusammenhang zum Gegenstand lexikologisch-lexikographischer Überlegungen und Untersuchungen zu machen, was von Linguisten mit philosophischsprachanalytischer und -historischer Vorbildung geleistet werden könnte. Insbesondere die Resultate der zeitgenössischen Deontik, der Handlungs- und weiter der Rechtstheorie wären in solche Überlegungen einzubeziehen. Es scheint mir wichtig , daß g r u n d s ä t z l i c h e Überlegungen angestellt werden, ehe man sich an Einzelwörtern oder Wortfeldern versucht ; und es stehen – eben in der Philosophie – begriff lich-theoretische Mittel bereit, mit denen man die Probleme in einer besseren Erfolg versprechenden Weise angehen kann. Rechts- und rechtsrelevante Wörter. Fo r d e r u n g : Den gesamten kodifizierten Wortschatz, nach Teilbereichen auf deontische Bedeutungen hin zu durchmustern ; ferner (dies hat sich oben als Desiderat bereits ergeben) in systematischer Weise eine vielfach offenbar nötige Trennung der allgemeinsprachlichen von der speziell juristischen Bedeutung der Rechtswörter vorzunehmen (Beispiel: Verbrechen ). Attitudinalwörter. Fo r d e r u n g : Die Klasse solcher deskriptiv-expressiven Wörter wäre zunächst einmal zu ermitteln ; oder bescheidender : es wären einzelne Teilklassen solcher Wörter zu finden, ihre Elemente zu beschreiben. Kandidaten für derartige Klassen sehe ich u. a. in den in den Wörterbüchern als »ab-« bzw. »aufwertend« gekennzeichneten überhaupt den stilistisch, etwa auch durch »vulg.« markierten Wörtern, über deren Gefühlswert – so möchte man wünschen – sich etwas Genaueres aussagen läßt, als es durch diese sehr globalen Etikettierungen geschieht. Ideologie- und parteisprachliche Wörter. Fo r d e r u n g : Sie sollten vor allem einmal als solche kenntlich gemacht werden, was partiell durch Angabe ihres Symptomwerts geschehen kann. Zu achten ist bei ihnen aber nicht nur auf die symptomfunktionale, sondern auch auf die appellfunktionale Bedeutung , gegebenenfalls auf ihre deontische Bedeutung. Zentrale Wertbegriffe. Fo r d e r u n g : Von dieser mit der vorhergehenden sich überschneidenden Klasse ist zu recht gesagt worden, daß sie totaliter aliter (Wiegand 1977, 100) als bisher üblich zu behandeln wäre. Qualiter ? Eine Teilantwort könnte beinhalten, daß solche Begriffe : a) als zentrale Wertbegriffe zu markieren sind ; b) in ihrer Behandlung auch quantitativ (Umfang der Artikel ) deutlich ihrer Bedeutung gemäß, hervorgehoben werden ; c) in ihrer historischen Dimension zur Darstellung kommen ; d ) auf ihre ethischen (deontischen) Bedeutungsmomente hin untersucht und erläutert werden ; e) durch geeignete Beispiele, die durchaus auch der Vergan-

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genheit, der Religion, der Literatur entnommen sein sollen, in ihrer Wichtigkeit für unser Denken und Handeln und in ihrem speziellen Sinn zu veranschaulichen sind.

12 Ausblick Ich hoffe, mit diesem Beitrag gezeigt zu haben, daß der Begriff der Appellfunktion des Wortes lexikographische Relevanz insofern hat, als er zu Fragestellungen führt, die uns beim Nachdenken über Verbesserungsmöglichkeiten für die Bedeutungsbeschreibung von Wörtern in einzelnen Bereichen weiterhelfen können, wobei speziell der Begriff der deontischen Bedeutung für gewisse wichtige Klassen von Wörtern das Instrument zu einer systematischen Überprüfung der Bedeutungserklärungen in unseren Wörterbüchern sein könnte. Es scheint mir außerdem, daß sich aus dem Dargelegten auch für einige andere Teilgebiete der Sprachwissenschaft – außer der Lexikographie – Konsequenzen ergeben, denen nachzugehen wäre. So für die Lexikologie, in der die Ausarbeitung der Begriffe der Appellfunktion und der deontischen Bedeutung des Wortes u. a. für die »Entrümpelung« jener »Rumpelkammer« (Dieckmann 1979) etwas leisten könnte, als die sich uns die Lehre von den Konnotationen darstellt ; 12 so für die Lehre vom sprachlichen Handeln,13 für die der Gedanke nützlich sein dürfte, daß in einer »Aussage« jeweils schon eine »Aufforderung« mitgegeben sein kann, die in ihrer Spezifität banalerweise von den jeweils verwendeten Wörtern abhängt. Für mich ist die sprachphilosophische Perspektive besonders interessant, die sich mit den Begriffen der Appellfunktion und der deontischen Bedeutung des Wortes eröffnet. Wir sind – trotz Sprechakttheorie – in unserer sprachphilosophischen Tradition 12

Bei diesem Hinweis auf den klärenden, aber bisher noch zu wenig beachteten Aufsatz von Dieckmann der von einer Interpretation von Erdmann 1925 ausgeht , denke ich vor allem an den Erdmann’schen Begriff des »Gefühlswertes« der Wörter, der am meisten Schwierigkeiten zu machen scheint. Das darin Gemeinte scheint mir z. T. das oben (Kap. 8) unter dem Stichwort »Attitudinalwörter« skizzierte Phänomen zu betreffen, daß manche Wörter (wie goldig und niedlich ), die scheinbar nur über einen Gegenstand (»objektiv«) etwas sagen, in Wahrheit und vor allem zum Ausdruck eines (»subjektiven«) Gefühls einer Einstellung diesem Gegenstand gegenüber verwendet werden. Außerdem ist bei der Frage nach dem »Gefühlswert« an die in der lexikologischen Diskussion bisher nicht vorhandene (und daher vielleicht nur »gefühlte« nicht erkannte) deontische Bedeutung(skomponente) der Wörter zu denken, die gleichfalls eine Einstellung (»Gefühl«) einem Gegenstand gegenüber ausdrückt und fordert, nämlich die Einstellung , was mit diesem zu geschehen hat.

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Ich beschränke mich auf die Nennung eines einzigen Titels der sprechakttheoretischen Literatur, nämlich Hindelang 1983 , der allerdings mit seinem Begriff des »deontischen Hinweises« (76 ff.) einen besonders geeigneten Anknüpfungspunkt zwischen der Sprechakttheorie und dem hier Vorgetragenen bietet. Der deontische Hinweis ( Sie müssen Ihr Auto dort drüben abstellen , Die Arbeit ist bis morgen abzugeben ) ist für ihn eine der Äußerungsformen von »Weisungen«. Wird akzeptiert, daß ein »deontischer Hinweis« schon in einem Wort, nämlich als dessen deontische Bedeutungskomponente, enthalten sein kann, so erhöht sich damit offenbar unser Erklärungspotential für »indirekte« Sprechakte beträchtlich.

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noch immer daran gewöhnt, Sprache vor allem als etwas zu sehen, das und die Welt »zeigt«, indem es sie (mit-)konstituiert, das also, in Bezug auf die Welt, unserer Erkenntnis und nicht unserem Handeln zugeordnet ist ; die Pragmatik, die sich zu entwickeln begonnen hat, steht dann gewissermaßen auf einem anderen Blatt, sie hat mit dem Thema »sprachliche Weltsicht« und »sprachliche Konstitution von Wirklichkeit« nichts zu tun. Ich meine nun, daß uns die Reflexion auf die deontische Bedeutung der Wörter die Möglichkeit gibt, beides zusammenzusehen. Die Realität hat ja neben ihrem Erkenntnischarakter – daß sie sich unserer Erkenntnis als so oder so beschaffen darstellt – durchaus auch einen Aufforderungscharakter, so daß sie, indem wir sie erkennen, uns zugleich auffordert, einlädt oder verbietet, uns zu ihr und in ihr so oder so zu verhalten. Unser Über-Ich – um es einmal so auszudrücken – steckt nicht eingesperrt und von der von uns wahrgenommenen Wirklichkeit geschieden nur in unserem Kopf, sondern blickt uns aus der Wirklichkeit selbst entgegen und ruft uns aus ihr heraus  – denn diese Wirklichkeit ist sprachlich verfaßt – zu, was wir sollen. Wir projizieren nicht nur unsere theoretischen, sondern auch unsere praktischen Kategorien in die Welt hinein, die dadurch erst zu unserer Welt wird, mit der Folge, daß die Wirklichkeit selbst theoretisch und ethisch zugleich ist. Insofern nun Sprache diese unsere Wirklichkeit zugleich widerspiegelt und prägt, hätte dem auch eine Theorie der Sprache und hätte dem die Sprachphilosophie Rechnung zu tragen. Gewiß, das ist ein weites Feld.

13 Literaturverzeichnis Anderson, Robert R. ; Goebel, Ulrich ; Reichmann, Oskar (1984): Frühneuhochdeutsch arbeit und einige zugehörige Wortbildungen. In: Ebenbauer, Alfred (Hg.): Philologische Untersuchungen gewidmet Elfriede Stutz zum 65. Geburtstag. Wien (= Philologica Germanica 7), 1 – 29. Berger, Peter ; Luckmann, Thomas (1966 ): The Social Construction of Reality. New York. [Deutsch: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt a. M. 1970.] Dieckmann, Walther (1979): K. O. Erdmann und die Gebrauchsweisen des Ausdrucks »Konnotationen« in der linguistischen Literatur. In: Dieckmann, Walther: Politische Sprache. Politische Kommunikation. Vorträge, Aufsätze, Entwürfe. Heidelberg 1981, 78 – 136. DUW = Duden. Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim/Wien/Zurich 1983. DW = Wahrig , Gerhard: Deutsches Wörterbuch. Gütersloh 1968. [Zit. nach der Neuausgabe 1980.] Erdmann, Karl Otto (1925): Die Bedeutung des Wortes. Aufsätze aus dem Grenzgebiet der Sprachpsychologie und Logik. 4. Aufl. Leipzig. [Neudruck Darmstadt 1966.] Heringer, Hans Jürgen (Hg.) (1982): Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufsätze zur politischen Sprachkritik. Tübingen. Hermanns, Fritz (1982): Brisante Wörter. Zur lexikographischen Behandlung parteisprachlicher Wörter und Wendungen in Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache. In: Wiegand, Herbert Ernst (Hg.): Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie. Bd. II. Hildesheim/New York (= Germanistische Linguistik 3 – 6/80), 87 – 108. [ in diesem Band ] Hindelang, Götz (1983): Einführung in die Sprechakttheorie. Tübingen (= Germanistische Arbeitshefte 27).

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Ickler, Theodor (1981): Fachsprache und öffentliches Leben. In: Radtke, Ingulf (Hg.): Die Sprache des Rechts und der Verwaltung. Stuttgart (= Der öffentliche Sprachgebrauch. Bd. 2), 58 – 69. Müller, Wolfgang (1984): Zur Praxis der Bedeutungserklärung ( BE ) in (einsprachigen) deutschen Wörterbüchern und die semantische Umkehrprobe. In: Wiegand, Herbert Ernst (Hg.): Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie. Bd. V. Hildesheim/New York (= Germanistische Linguistik 3 – 6/84), 359 – 461. Öhlschläger, Günther (1984): Modalität im Deutschen. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 12, 229 – 246. Schwarze, Christoph (1982): Stereotyp und lexikalische Bedeutung. In: Studium Linguistik 13, 1 – 16. Spies, Gottfried (1982): Tier- und Pflanzennamen in der allgemeinsprachlichen Lexikographie. In: Agricola, Erhard ; Schildt, Jürgen ; Viehweger, Dieter (Hgg.): Wortschatzforschung heute. Aktuelle Probleme der Lexikologie und Lexikographie. Leipzig , 221 – 235. Stickel, Gerhard (1984): Zur Kultur der Rechtssprache. In: Mitteilungen des Instituts für deusche Sprache 10, 29 – 60. Strauß, Gerhard (1982): Aspekte des Sprachausschnitts ›Politik‹ im einsprachigen Wörterbuch. Politisch-ideologische Ismen – lexikographisch betrachtet. In: Mentrup, Wolfgang (Hg.): Konzepte zur Lexikographie. Studien zur Bedeutungserklärung in einsprachigen Wörterbüchern. Tübingen, 34 – 64. Strauß, Gerhard (1984): Politische Sprachkultivierung im Wörterbuch. In: Mitteilungen des Instituts für deusche Sprache 10, 91 – 121. Strauß, Gerhard ; Zifonun, Gisela (1984 ): Versuch über ›schwere Wörter‹. Zur Frage ihrer systembezogenen Bestimmbarkeit. In: Wiegand, Herbert Ernst (Hg.): Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie. Bd. IV. Hildesheim/New York (= Germanistische Linguistik 1 – 3/83), 381 – 452. Wiegand, Herbert Ernst (1977): Nachdenken über Wörterbücher: Aktuelle Probleme. In: Drosdowski, Günther; Henne, Helmut; Wiegand, Herbert Ernst: Nachdenken über Wörterbücher. Mannheim/Wien/Zürich, 51 – 102. Wiegand, Herbert Ernst (1983): Überlegungen zu einer Theorie der lexikographischen Sprachbeschreibung. In: Germanistische Linguistik 5 – 6/82 (= Hyldgaard-Jensen, Karl ; Zettersten, Arne (Hgg.): Symposium zur Lexikographie. Symposium on Lexicography), 35 – 72. Wimmer, Rainer (1984): Sprachkultivierung durch Sprachkritik: Ein Plädoyer für reflektierten Sprachgebrauch. In: Mitteilungen des Instituts für deusche Sprache 10, 7 – 28.

Begriffe als wissenschaftliche Arbeitsinstrumente

Attitude , Einstellung , Haltung Empfehlung eines psychologischen Begriffs zu linguistischer Verwendung

Dieser Vortrag 1 hat zum Thema einen Begriff mit drei Namen: ›attitude‹, ›Einstellung‹, ›Haltung‹. (Letzterer ist heute zwar in der Psychologie veraltet, aber wird sonst noch verwendet.) Der Zweck dieses Vortrags ist vor allem, diesen Begriff, zu erläutern und als brauchbar zu empfehlen für die sprachhistorische Mentalitätsgeschichte wie auch – allgemeiner – für die lexikalische Semantik.

1 »Ein Mann muss eure Herzen leiten« Medias in res ! Mit einem Beispiel. In der Zauberflöte Mozarts sagt Sarastro (I 18)2 zu Pamina, ihre Mutter sei »ein stolzes Weib«. Und das ist für ihn offensichtlich ein Charakterfehler. Denn, so sagt er weiter zu Pamina (und zu uns): »Ein Mann muss eure Herzen leiten, / denn ohne ihn pflegt jedes Weib / aus seinem Wirkungskreis zu schreiten.« Dies als erstes Beispiel einer Äußerung einer Einstellung. Sie umfasst die drei Momente oder Komponenten, die Einstellungen ausmachen: eine kognitive, eine volitive, eine emotive Komponente.

Dieser Beitrag ist erstmals 2002 erschienen in: Cherubim, Dieter ; Jakob, Karlheinz ; Linke, Angelika (Hgg.): Neue deutsche Sprachgeschichte. Mentalitäts-, kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge. Berlin/New  York, 65 – 89. 1

Der Stil eines Vortrags ist in diesem Aufsatz beibehalten. Hinzugefügt habe ich in Petit gesetzte Kommentare und Literaturverweise. Diese sollen insbesondere sozialpsychologisch Interessierten Leserinnen zusätzliche Informationen geben. Andere Leserinnen können sie bei der Lektüre getrost überspringen. – Ich bedanke mich bei Angelika Linke und Renate Pasch für ihre große Hilfe durch Hinweise und Auskünfte.

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Text nach Mozart 2000. Ich zitiere mit Angabe von Aufzug und Auftritt. – Als Einführung in die Interpretationsgeschichte der Mozartschen Zauberflöte ist das Buch von Csampai & Holland 1982 zu empfehlen. Dort ist weitere Literatur dazu verzeichnet. – Die Hervorhebungen sind von mir und nicht vom Autor des Librettos, Emanuel Schikaneder, allerdings zum Teil von Mozart (Fermate auf ihn und Wir [ kungskreis ]).

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Kognitiv belehrt die Äußerung Sarastros über die Natur von Frauen: Frauen unterscheiden sich von Männern u. a. dadurch, dass sie ihren Wirkungskreis verlassen, wenn sie daran nicht durch einen Mann gehindert werden. Im Fall einer Fürstin dürfte dieser Wirkungskreis das Haus bzw. der Palast sein, dem sie vorsteht. Für das kleine Bürgertum dagegen auch im Jahre 1791, dem. Entstehungsjahr von Mozarts Zauberflöte , wohl bereits der Kreis von »Kinder, Küche, Kirche« (Küche inklusive des gesamten, damals mühevollen Haushalts).3 Aber wie dem auch sei – jedenfalls haben wir in Sarastros Satz ein Stück von etwas, was man nennen könnte: Eine Theorie des Weibes. Kantisch ausgedrückt: Von einer Anthropologie des Weibes. Übrigens ist dieses Theoriestück, dieses Theorem Sarastros über die Natur von Frauen, eines, das wir alle auch noch heute richtig finden.4 Denn auch wir sind ja der Meinung : Jede Frau wird dazu neigen, einen als zu eng erlebten Wirkungskreis zu weiten, wenn man sie nicht daran hindert. Nur dass wir zudem der Meinung sind, dass Frauen sich in diesem Punkt von Männern gar nicht unterscheiden. Auch bezüglich dessen, was der Wirkungskreis des Weibes sein soll, sind wir anderer Meinung als Sarastro. Damit sind wir aber schon beim zweiten der Aspekte von Einstellungen: dem volitiven. Was Sarastro ausdrückt, ist nicht nur ein Wissen, sondern auch ein Wollen in Bezug auf Frauen. Dieses Wollen ist in diesem Fall kein individuelles Wollen der Person Sarastro, auch kein zufällig gerade aktuelles Wollen, sondern es erscheint als Ausfluss eines allgemeinen Sollens. Frauen sollen sich von Männern immer leiten lassen, Frauen sollen sich der Leitung eines Mannes immer unterwerfen ; das ist ein Teil der Deontik in der Einstellung Sarastros. Woraus folgt, dass Männer ihrerseits den Willen haben müssen, eine Frau zu leiten. Also eine doppelte Deontik ist die volitive Komponente in der Einstellung Sarastros: Frauen sollen sich von Männern leiten lassen, Männer sollen Frauen leiten. Insbesondere haben sie darauf zu achten, dass die Frauen in den Grenzen ihres Wirkungskreises bleiben. Zeigt die Äußerung Sarastros auch die dritte Komponente von Einstellungen: die emotive ? Wenn ja: Welche Emotion ist in Sarastros Äußerung erkennbar ? Nun, wenn man allein den Text betrachtet, kann man eine solche emotive Komponente nicht ausmachen. Keine Emotion, das würde zu Sarastro passen. Er ist ja ein weiser Priesterkönig , dessen Weisheit im Verlauf der Oper mehrmals ausdrücklich gerühmt wird. Und zu einem Weisen passen keine Emotionen, denn ein Weiser ist zu stoischer Ataraxie verpflichtet. Wenn man aber darauf achtet, wie Sarastro singt , dann spürt man doch 3

Was lehrt uns das ? Vielleicht dieses: Eine einzelne Einstellungsäußerung ist nie vollständig , man muss, um sie zu verstehen, immer etwas konjizieren, das darin präsupponiert ist.

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Das ist hier wie in ähnlichen Fällen zu betonen. Allzu leicht kann nämlich bei Einstellungsäußerungen, die uns nicht gefallen, der Eindruck entstehen, dass sie völlig falsch sind, obwohl sie fast immer einen Wahrheitskern enthalten, d. h. partiell wahr sind. Wenn es anders wäre, würden sie vermutlich auch nicht geglaubt werden.

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etwas Emotionales, und zwar an der Stelle, wo er das Wort ›Wirkungskreis‹ singt. Dabei schreitet er nämlich um einen Halbton abwärts aus dem Kreis erlaubter Noten seiner Tonart. Das wirkt unheimlich. Bedrohlich. Vielleicht kann man daher sagen, dass Angst seine Emotion ist. Angst vor Frauen, die männlicher Führung nicht gehorchen. Soviel – als Einleitung – zur Illustration des Leitgedankens dieses Vortrags, nämlich dass mit einem Wort – wie hier mit dem Wort ›Weib‹ – verbunden sein kann sowohl Kognitives als auch Volitives als auch Emotives, das ein Wort insgesamt ausdrückt. Manchmal nur das eine oder nur das andere manchmal alles dieses. So dass sich auch sagen lässt, dass Wörter Einstellungen , attitudes ausdrücken. Ausdrücken und ( bei ZuhörerInnen/LeserInnen) evozieren. – Im folgenden, ziemlich ausführlichen Vortragsabschnitt (Teil zwei dieses Beitrags) referiere ich, was ich (als ein Nicht-Psychologe ; dies zur Warnung und Aufforderung zur Skepsis) bisher zur Thematik attitude/Einstellung habe lesen können: hauptsächlich einschlägige Kapitel von Einführungswerken der Sozialpsychologie – denn dort ist der Begriff der ›attitude‹ zu Hause – und HandbuchArtikel.5 Die sind meistens eine trockene Lektüre doch zum Thema attitude/Einstellung gibt es einen Handbuch-Aufsatz, auf den das durchaus nicht zutrifft. Dieser Text – von Gordon Allport 1935 – ist verdientermaßen und glücklicherweise zu dem Klassiker der attitude-Literatur geworden ; auch aus diesem zusätzlichen Grunde werde ich mich oft darauf berufen. Auf den Vortragsteil, der den Begriff der ›Einstellung‹ erläutert, folgen zwei weitere (Teil drei und vier), die ihn für den linguistischen Gebrauch empfehlen sollen. Zum Schluss (Teil fünf ) kehre ich zurück zu Mozarts Zauberflöte.

2 Attitude, Einstellung , Haltung Zuerst will ich durch Aufzählung einiger der Wirkungen, die Einstellungen zugeschrieben werden, einen Eindruck von der Wichtigkeit des Einstellungsbegriffes geben. 2.1 Wirkungen, Beispiele Einstellungen steuern unser Wahlverhalten und Konsumverhalten. Sie bestimmen,6 ob wir etwas hässlich finden oder schön, gut oder schlecht. Sie lassen uns mit Freundlichkeit auf manche Menschen reagieren, mit Unfreundlichkeit auf andere. Die Einstellungen bestimmen das Verhältnis und Verhalten der Geschlechter zueinander (wie bei Mozart schon gesehen). Sie bestimmen unsere Partnerwahl und unsere sexuellen Präfe5

In ihren Anfangsabschnitten, wo der Begriff der ›Einstellung‹ eingeführt wird, sind sie durchweg ohne Weiteres verständlich auch für Nicht-Fachleute (wie mich). Schwieriger sind sie erst bei der Diskussion der psychologischen Verfahren der Erhebungen von Einstellungen und von deren statistischen Analysen, auf die es jedoch in unserem Zusammenhang nicht ankommt.

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›Steuern‹ und ›bestimmen‹ nicht im Sinne von determinieren , sondern nur in dem Sinn, dass sie einen wesentlichen Einfluss darauf haben.

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renzen. Sie bestimmen unseren Umgang mit Kindern. ( Weit verbreitet war einmal die Meinung: »Wer sein Kind liebt, schlägt es.« Heute sind die meisten von uns überzeugt, dass Kinder nicht geschlagen werden dürfen.) Sie bestimmen das Verhalten gegenüber Menschen jeweils eigener und anderer sozialer Gruppen, gegenüber den Anhängern anderer Parteien, gegenüber Angehörigen von Minderheiten. Psychologisch sind auf sie zurückzuführen Revolutionen, Kriege und Pogrome ; doch auch Friedensschlüsse und die Einhaltung von Friedensschlüssen. Es beruhen auf ihnen psychologisch Kriminalität und Terrorismus, aber auch das Wunder der Tatsache eines friedlichen Zusammenlebens von Millionen Menschen selbst auf engstem Raum, in unseren Großstädten, usw. Einstellungen haben Einfluss auf jede Wahrnehmung , jedes Urteil, jede Erinnerung , jedes Lernen, Denken, Handeln, so dass man vielleicht sogar behaupten kann, dass sie es sind, die der Welt Sinn verleihen ( Allport 1935, 806 ). Etwas sehr Bedenkenswertes fügt dem Allport (1935, 839) noch hinzu: Ohne die Annahme, dass wir Einstellungen haben, die uns prägen, wären unerklärlich sowohl die Verhaltenskonsistenz bei Menschen als auch die Stabilität von ganzen Gesellschaften. Dass wir uns verlassen können, in gewissen Grenzen, auf uns selber wie auch auf bestimmte andere Menschen und sogar auf Menschen, die wir nicht persönlich kennen – und auf das gewohnte Funktionieren der Gesamtgesellschaft, der wir angehören – , das beruht auf Einstellungen von Personen. Eine höchst zerbrechliche Grundlage, kann man meinen, die sich aber immer wieder doch als sehr robust erweist, zum Teil sogar in Krisenzeiten. Einstellungen sind nach Allport (ebd., 813) ein »konservativer Faktor in jeder Gesellschaft ; sie bewahren die privilegierten Klassen vor den neidischen Erhebungen der Armen, und sie motivieren diese Armen, trotz gemachter bitterer Erfahrung so zu denken und zu wählen, dass sie damit ihren eigenen Interessen schaden.« – Die Gesamtheit aller permanenten Einstellungen eines Menschen ist nichts anderes als sein Charakter . ( Ebd. – Dieser Satz steht so zwar nicht bei Allport, lässt sich aber aus dem Textzusammenhang – beifälliges Zitieren von Willam James – erschließen.) Der Sozialcharakter ( social mind ) von Angehörigen sozialer Gruppen ist nichts anderes als eine Übereinstimmung von Einstellungen der Gruppenmitglieder (ebd., 827).

Man wird sich nun fragen: Welches menschliche Verhalten lässt sich psychologisch nicht aus einer Einstellung erklären ? Antwort: fast gar keines. Gewiss haben wir, wie andere Lebewesen auch, Instinkte und Reflexe, aber die Instinkte sind bei Menschen integriert in Einstellungen, die entscheidend dafür sind, in welcher Weise die Instinkte wirksam werden oder frustriert werden. Der Begriff ›Einstellung‹ ist daher für Allport (wenn auch nicht für alle Psychologen) der überhaupt wichtigste Erklärungsbegriff für das menschliche Verhalten unter sozialpsychologischen Aspekten. Menschen denken nämlich in der Regel so und fühlen in der Regel so und wollen in der Regel so und handeln daher in

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der Regel so, wie es ihren gelernten Einstellungen entspricht – so will ich das hier schon einmal vorab erläutern. Es sind zwar nach Allport (1935, 818 f.) nicht sämtliche Einstellungen zugleich auch Handlungsmotive, aber auf die Art des menschlichen Verhaltens haben sie gleichwohl stets einen Einfluss und sind daher zu jeglicher Erklärung menschlichen Verhaltens nötig. Allport (ebd., 798) kann schon 1935 sagen, der Begriff der ›attitude‹ attitude‹‹ sei »probprobably the most distinctive and indispensable concept in contemporary American social psychology« und sagt weiter, der Begriff sei »so widely adopted«, dass man ihn geradezu als »the keystone in the edifice of American social psychology« ansehen müsse. Dass dies auch noch heute zutrifft, meinen Eagly & Chaiken (1993, 1).

Beispiele für Einstellungen sind nach Allport (1935, 802) u. a. Geldgier , Ruhmsucht , Hass auf Fremde , Respekt vor den Wissenschaften , aber auch (ebd., 808 ff.) Toleranz sowie Zynismus , alle Interessen und alle Stereotype (heute meist verstanden nur als kognitive Einstellungsanteile). Frömmigkeit und Wahrheitsliebe , Pazifismus , Nationalismus , Misog ynie, Misanthropie , Fetischismus und Sadismus wie Rassismus und Antirassismus , Altruismus und Narzissmus usw. können demnach ebenfalls als – generelle – attitudes verstanden werden. Doch es gibt auch Einstellungen, die sich auf – spezielle – einzelne Personen, Gegenstände oder Sachverhalte richten: eine ganz bestimmte Art von Liebe nur zu diesem ganz bestimmten Menschen, die Ablehnung zwar nicht jeden Krieges, aber dieses Krieges. 2.2 Vorschlag einer einprägsamen Definition von ›attitude/Einstellung ‹ Was ist nun eine Einstellung ? Wie nicht anders zu erwarten, gibt es in der psychologischen Literatur keineswegs die Definition, die allgemein anerkannt wäre (vgl. den – in Petit gesetzten – »Nachtrag« am Ende von Kap. 2.6 ). Aber immerhin wird man vielleicht behaupten können, dass die meisten nach wie vor orientiert sind an der klassischen Definition von ›attitude‹ von Allport (1935, 810), die ich hier – in der Art freier Verse – mit hinzugefügtem Zeilenbruch zitiere, um sie etwas übersichtlicher zu machen: An attitude is a mental and neural state of readiness, organized through experience, exerting a directive or dynamic influence upon the individual’s response to all objects and situations with which it is related.

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Auf deutsch – aber bereits gekürzt – etwa : Eine Einstellung ist ein Zustand der Bereitschaft, der geprägt ist durch Erfahrung und der einen Einfluss hat auf die Reaktion eines Menschen auf sämtliche Gegenstände und Situationen, auf die er sich bezieht. Wenn wir das noch weiter kondensieren, kommen wir zum Kern der Sache. Hier ein Vorschlag für die Formulierung einer abgespeckten Fassung der Definition von Allport: »Eine Einstellung ist eine gelernte Bereitschaft zu einer bestimmten Reaktion auf etwas.« Alles andere in der Definition Allports ist zwar auch interessant und wichtig , aber zur Definition des Einstellungsbegriffes überflüssig. Definitionen sind ja keine Theorien.7 Zur Erläuterung des Weg gelassenen : 1)  Jegliche ›Bereitschaft‹ ist ein Zustand, daher braucht man das definitorisch nicht besonders zu betonen. 2) Dass es sich um einen ebenso mentalen wie auch neuronalen Zustand handelt, entspricht unserer heute allgemein geteilten (daher nicht betonenswerten) Überzeugung , dass sämtliche geistigen bzw. psychischen Vorgänge und Zustände eine physische Entsprechung haben, ja darauf sogar beruhen ( bloß dass man noch nicht weiß, welche). Allerdings ist bei Einstellungen physisch nicht allein mit neuronalen Vorgängen zu rechnen, sondern auch mit hormonalen sowie muskulären und  – wer weiß  – noch anderen. 3)  »Organized through experience«« scheint zu bedeuten erstens, dass attitudes (speziell in ihrem Verhältnis zueinander, c f. ebd., 836 : »organized and coherent«) strukturiert sind, zweitens, dass sie, da ja aus Erfahrung stammend, uns nicht angeboren sind, also gelernt sind. Sie sind nicht etwa genetisch vererbt. 4)  Dass eine Bereitschaft einen ›Einfluss‹ hat auf eine Reaktion, zu der sie die Bereitschaft ist, das dürfte sich von selbst verstehen. Allport drückt sich wohl deshalb so sehr umständlich und vorsichtig aus, weil er betonen möchte, dass ein tatsächlich erfolgendes Verhalten in der Art seiner Ausführung nicht allein von der Art der Bereitschaft dazu abhängt, sondern auch von anderen (u. a. äußeren) Umständen. Ganz zu schweigen davon, dass sich sowieso durchaus nicht jede Verhaltensbereitschaft in Verhalten umsetzt: Viele unserer Handlungen, die wir durch ein Uns-darauf-Einstellen schon angebahnt haben, werden vor ihrer Ausfiihrung von uns selber sozusagen wieder abgeblasen. 5) Für die Theorie von Allport ist es wichtig , dass der Einfluss, den eine Einstellung auf ein Handeln ausübt, entweder zugleich auch das Motiv dafür ist (dann ist er »dynamic«) oder es nur (mit-)gestaltet (dann ist er »directive«; c f. ebd., 817 – 819). Für die Definition von ›Einstellung‹ ist dies aber unerheblich. 6 ) »All objects and situations« heißt hier offenbar soviel wie »alles« ; daher : »etwas«. 7) »With which it [ die Reaktion ] is related« heißt doch wohl nichts anderes als : »das, worauf sie die Reaktion ist«.

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Noch einfacher formulieren Deprez & Persoons 1987, 125 : »Attitude means readiness to behavior.« Das ist zwar als Definition nicht vollständig (was es auch nicht sein soll ), aber sagt das Wesentliche.

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Statt ›Bereitschaft‹ sagen andere Autoren ›disposition‹ und ›predisposition‹ oder auch ›tendency‹.8 Allport (1935, 805) selbst beschreibt diese Bereitschaft auch als ›preparation‹ auf die Reaktion, die ihr entspringt, d. h. als diese Reaktion bereits anbahnend und beginnend, denn er sagt, sie sei »incipient« in Bezug auf diese. Also kann eine Einstellung auch verstanden werden als eine bestimmte Weise eines Sich-Einstellens. Wodurch sie aus einem Zustand ein Prozess wird, der Prozess eines Sich-bereit-Machens für die Reaktion auf etwas. Aber ob sie ein Prozess ist oder Zustand, das ist sowieso nur eine Frage der Betrachtungsweise. Jeder Zustand kann als ein Prozess verstanden werden, und Prozesse werden oft als Zustände verstanden. So, wenn wir das schlechte Wetter als Zustand erleben, während es in Wirklichkeit der Vorgang ist, dass es oft oder dauernd regnet. Als gelernte Weisen eines Sich-Einstellens sind die Einstellungen zwar oft kulturell gelernte, aber oft auch individuell gelernte. Daher können Einstellungen selber individuell (in dem Sinn, dass sie nur einem Menschen eignen) oder kulturtypisch (ebd. , 798) sein. Dann sind sie gemeinsame Einstellungen fast aller oder vieler Mitglieder einer der sozialen Gruppen eines Menschen (d. h. einer derjenigen Gruppen, denen er angehört oder einmal angehört hat). Sozialpsychologen interessieren sich zwar hauptsächlich für diese gruppenkulturtypisch-gemeinsamen Einstellungen, sollten aber nicht vergessen, dass wir Menschen außer ihnen immer auch noch viele einzigartige, weil individuelle, Einstellungen haben (ebd., 836 ). Obwohl von ihm als nicht allein psychisch, sondern zugleich auch als physisch real angesehen, sind für Allport (ebd., 836, 839) Einstellungen paradoxerweise trotzdem nichts Beobachtbares: Sie seien »never never directly observed«« und daher – obzwar als durchaus reale und wesentliche Ingredienzien der menschlichen Natur (»real real and substantial ingredients in human nature«) anzusehen – stets nur zu erschließen. Woraus man vielleicht schlussfolgern sollte, dass ›Einstellung‹ – trotz der gegenteilig scheinenden Behauptung Allports – doch nur ein rein psychologischer (d. h. kein psychologisch-neurologischer) Begriff ist. Dass Einstellungen stets nur erschlossen werden können (und in diesem Sinne ein Konstrukt sind ), ist in der Sozialpsychologie noch immer allgemeine Überzeugung (c f. z. B. Eagly & Chaiken 1993, 1 f.).

Heute wird das, worauf eine Reaktion, wenn sie erfolgt, antwortet, als das ›attitude object‹ bezeichnet, als ›Einstellungsgegenstand‹ oder ›-objekt‹. Dieses Einstellungsobjekt kann jede Entität sein, sagen uns die Sozialpsychologen. Das heißt : Alles überhaupt Denkbare kommt als Einstellungsobjekt in Frage ; Eagly & Chaiken (1993, 4 f.) schreiben: Some attitude objects are abstract (e. g. , liberalism, secular humanism), and others are concrete (e. g., a chair, a shoe). Particular entities (e. g., my green pen) can function as attitude objects, as can classes of entities (e. g., ballpoint pens). 8

C f. u. a. Allport 1935, 804 f., Eagly & Chaiken 1993, 1 f. , Deprez & Persoons 1987, 125.

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Fritz Hermanns

[ … ] In general, anything that is discriminated or that becomes in some sense an object of thought can serve as an attitude object. Zum Begriff der ›Reaktion‹ (response) ist noch zu sagen, dass ihn Allport (1935, 799) mit dem Wort ›Aktivität‹ erläutert, und zwar als »mental and physical activity«. Auch die Reaktion, auf die eine Einstellung vorbereitet – nicht nur die Einstellung selbst – ist also psychophysisch, nicht nur physisch oder psychisch. 2.3 Schwierigkeiten eines Linguisten mit der Theorie der Einstellungen Soweit das Wichtigste von dem, was ich von der Theorie der Einstellungen verstanden habe. Als Nicht-Psychologe habe ich daran jedoch auch manches nicht verstanden. Dreierlei will ich hier nennen. ( 1 ) Weder Allport noch die meisten anderen Psychologen deuten auch nur an, dass Einstellungen selber Reaktionen sind.9 Dies muss jedoch der Fall sein, sonst ergibt die ganze Theorie der Einstellungen überhaupt gar keinen Sinn. So verstehe ich auch das folgende Schema (vereinfacht 10 nach Eagly & Chaiken 1993, 3):

stimuli

attitude

response

observable

inferred

observable

Es zeigt ( jedenfalls ist dies die Lesart dieses Schemas, die sich aufdrängt ; welche andere vielleicht gemeint ist, wird von seinen Autorinnen nicht erläutert), dass die Einstellung tatsächlich eine Reaktion ist. Eine unbeobachtbare Zwischenreaktion, die eine folgende beobachtbare vorbereitet. ( 2 ) Weder Allport noch auch andere Psychologen – soweit ich sie kenne – treffen eine Unterscheidung , die man, wenn man Linguist ist, treffen muss: die Unterscheidung zwischen einer jeweils aktuellen, einmalig , d. h. unwiederholbar hier und jetzt gerade

9

Eine  – allerdings bemerkenswerte  – in der Einstellungsliteratur gelegentlich zitierte Ausnahme ist Doob, der ›attitude‹ definiert (Doob 1947, 136 ) als »implicit, drive producing response «, einerseits »evoked (a) by a variety of stimulus patterns« und »(b) as a result of previous learning« (oder, fügt er hinzu, Generalisierungen und Diskriminierungen), andererseits »cue- and drive-producing«, also als »response« und »stimulus«, stimulus«, «, »Reaktion« und »Reiz« (für die nachfolgende ›Reaktion‹). – Nur scheinbare Ausnahmen sind die Psychologen, die ›Einstellung‹ heute gar nicht mehr als die Tendenz zu einer Reaktion bestimmen, sondern als diese Reaktion selber (s. meinen »Nachtrag« am Schluss dieses Abschnitts).

10

Das betrifft nur die Begriffe ›stimuli‹ – statt »stimuli that denote attitude objects« – und ›responses‹ – statt »evaluative responses«.

Attitude , Einstellung , Haltung

217

wirksamen Einstellung einerseits und andererseits der Einstellung als Typ, als Art oder als Klasse solcher aktuellen Einstellungen. D. h. sie treffen nicht die Unterscheidung zwischen – wie man in der Linguistik sagen würde – ›type‹ und ›token‹. Das, worauf sie, wenn sie Einstellungen untersuchen, offenbar abzielen, ist der Typ und die Art der Einstellung , die charakteristisch ist für einen Menschen, die ein Mensch, wie man zu sagen pflegt, »hat«. Also nicht diejenige nur einmalige Einstellung , die er etwa nur jetzt einmal einnimmt. Wobei PsychologInnen wohl in der Regel beides für dasselbe halten. Dieses würde jedenfalls erklären, warum sie eine Einstellung selber nicht als Reaktion beschreiben. Doch die Art (der Typ) einer Einstellung ist nur – wie man wieder in der Linguistik sagen würde – eine virtuelle und noch keine aktuelle, akut wirksame Einstellung. Ausgelassen in der Theorie der Einstellungen bleibt daher an dieser Stelle der Gedanke, dass man eine virtuelle Einstellung immer erst noch aktualisieren muss, damit sie wirksam sein kann. Wie auch der Gedanke, dass es durchaus aktuelle Bereitschaften zu Arten des Reagierens geben kann, die keinem Typ der gelernten Einstellungen entsprechen. Und damit auch der Gedanke, dass man aus nur einer einzigen akuten Einstellung (die ihrerseits stets nur erschlossen werden kann) nicht schließen kann auf eine nachhaltig gelernte. ( 3 ) Damit hängt zusammen, dass die Sozialpsychologen nie – soweit ich sehe – attitudes beschreiben als das, was sie offensichtlich auch sind, nämlich habits , d. h. Gewohnheiten11 (wenn auch nicht im Sinne jedenfalls des früheren Behaviorismus, denn sie können ja nicht beobachtet werden). Gewohnheiten psychischen und neuronalen Reagierens, das ein nachfolgendes Reagieren vorbereitet  – eingeübt, gelernt, wie alle anderen habits. Wenn das zutrifft, kann man Einstellungen auch erklären als entweder aktuelle Zwischenreaktionen (tokens) oder als habituelle Zwischenreaktionen (types), die (wenn sie aktualisiert sind) nachfolgende (beobachtbare) Reaktionen vorbereiten. Wenn habituelle Einstellungen nicht nur individuell sind, sondern auch charakteristisch für diejenige soziale Gruppe (oder Kultur), wo sie angetroffen werden, könnte man sie, einen Sprachgebrauch von Hermann Paul aufnehmend, usuelle Einstellungen nennen. Psychologen sprechen oft von der Einstellung eines Menschen in Bezug auf ein bestimmtes Einstellungsobjekt. Die Meinung ist dabei: Der eine Mensch hat diese und der andere jene ganz bestimmte einzige Einstellung in Bezug auf dieses Objekt. Diese eine Einstellung ermitteln PsychologInnen und SoziologInnen mit Fragebögen (so ja auch die Meinungsforschungsinstitute). Es ist aber davon auszugehen, dass wir in Bezug auf viele Gegenstände mehr als eine mögliche Einstellung haben, dass wir also über ein Einstellungs -Repertoire verfügen. Und dass sich die Einstellungen innerhalb des Repertoires auch widersprechen können. Auch darauf hat Allport (1935, 824, 832) hingewiesen: Oft sei es sogar der Fall, dass Menschen zwei vollkommen separate Mengen 11

Die Ausnahme war nach Allport (1935, 802, 807) Dewey.

218

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( sets ) von widersprüchlichen Einstellungen besitzen, eine für ihr Privatleben und die andere für die Öffentlichkeit, die sie aber beide subjektiv ehrlich vertreten, je nachdem, in welcher Rolle sie sich äußern. Sind die Einstellungen nicht so klar geschieden, dann ist es die Frage, welche dieser Einstellungen dominant ist, welche anderen vielleicht latent sind und wann welche aktuell wird. Das wird sicherlich – so würden jedenfalls wir Linguisten gleich vermuten – vom Kontext abhängen, also vom Zusammenhang , in dem das Objekt der Einstellung jeweils auftritt. So dass, recht betrachtet, eine (aktuelle) Einstellung nicht einfach eine Zwischenreaktion auf das Objekt dieser Einstellung wäre, sondern eine Zwischenreaktion auf das Objekt-in-einem-Kontext .12 2.4 Die Drei-Komponenten-Lehre der Beschaffenheit von Einstellungen Ungefähr seit 1960 13 gibt es die Auffassung , dass sich jede Einstellung zusammensetzt aus drei Einstellungskomponenten. Statt von Komponenten könnte man auch von Aspekten sprechen, scheint mir, was man jedoch nicht tut. Dieser Lehre wird bis heute nicht von allen Sozialpsychologen zugestimmt, jedoch von vielen. Kaum ein Lehrbuch und kaum ein Handbuch-Artikel, die sie heute nicht erörtern würden. Einstellungen setzen sich danach zusammen aus den Komponenten, die ich hier schon genannt habe: einer kognitiven , einer emotiven und aus einer dritten, die ich volitive Komponente nenne. In der englisch-sprachigen Literatur nennt man sie oft ›conative‹ conative‹‹ (von ›conari‹, dem lateinischen Deponens, das bedeutet ›sich anschicken‹ und ›versuchen‹) oder ›behavioral‹. Eine attitude als die Bereitschaft oder die Tendenz zu einer Reaktion auf einen Gegenstand besteht demnach in einer ganz bestimmten Art und Weise, diesen Gegenstand zu sehen und zu denken, und in einer ganz bestimmten Art des emotiven Sich-dazu-Einstellens und in einer Vorbereitung einer ganz bestimmten Art des physischen Verhaltens. Denn dies ist es, was mit ›conative‹ / ›behavioral‹ gemeint ist : das Anbahnen eines körperlichen Reagierens. Es ist – scheint mir – in der Tat plausibel, dass die so beschriebenen Komponenten wirklich einen Einfluss auf die Art der Reaktion auf einen Gegenstand ausüben können. Je nachdem, wie wir den Gegenstand wahrnehmen, je nachdem, was unsere Emotion dabei ist, ob z. B. Liebe oder Hass, und je nachdem, wie wir uns körperlich auf ihn einstellen, ob z. B. so, dass wir uns vorbereiten, uns dem Gegenstand zu nähern oder von ihm zu entfernen – je nachdem wird unsere nachfolgende Reaktion anders ausfallen.

12

Dass Bekundungen von Einstellungen immer auch vom Kontext der Bekundung (Äußerungssituation) abhängen, wird – am Beispiel von Spracheinsteilungen – betont von Tophinke & Ziegler 2002. Ich bedanke mich hier bei Doris Tophinke und Evelyn Ziegler für die Möglichkeit einer Vorab-Lektüre ihres Textes.

13

C f. Eagly & Chaiken 1993, 10, die verweisen auf Katz & Stotland 1959 und Rosenberg & Hovland 1960.

Attitude , Einstellung , Haltung

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2.5 Attitüde als Einstellungsausdruck Das Bestehen dieser Dreiheit lässt sich gut dadurch begreif lich machen, dass man daran denkt, was ›attitude‹ im Englischen bedeutet hat, bevor das Wort terminologisiert war. Zweierlei, sagt Allport (1935, 798 f.). Erstens einen Zustand des Bereitseins und des Vorbereitetseins zu einer Handlung. Dies ist eine heute obsolet gewordene Bedeutung , die jedoch in der terminologischen Bedeutung fortlebt. Zweitens aber auch die körperliche Haltung eines Menschen, seine posture , seine Pose , seine Attitüde , wie man früher im Jargon der Malerei gesagt hat. Denken wir an das Bild der Vertreibung aus dem Paradiese von Adam und Eva. Deren Wahrnehmung des Engels, der sie aus dem Paradies vertreibt, ist sicherlich identisch mit der Wahrnehmung des Bildbetrachters, also unserer. Dieser Engel ist Adam und Eva körperlich eindeutig überlegen, er ist größer, er ist stärker, außerdem ist er bewaffnet und scheint zum Schlag auszuholen. (Auch das ist schon eine Attitüde.) Deshalb ducken sie sich, und sie heben schützend ihre Hände an den Kopf. Sie haben offensichtlich Angst vor diesem Engel. Angst spricht auch aus ihrer Mimik. Und sie schicken sich deshalb zur Flucht vor ihm an. Ihre Füße stehen zwar noch auf dem Boden, aber es ist klar: Im nächsten Augenblick beginnen sie zu rennen. Nur weg ! – ist der sie beherrschende Gedanke. Kognition und Emotion und Konation, dies alles passt zusammen, und die Emotion und Konation sind abzulesen an der körperlichen Haltung , inclusive Mimik. Nur die Kognition nicht, die jedoch vom Maler suppletiert wird. An Merkmalen des Verhaltens wie der Körperhaltung und Art der Bewegung , Gestik, Mimik und – nicht zu vergessen – Stimme eines Menschen und der Lage, in der sich der Mensch befindet, können wir ja auch im Alltag seine ihn in einem Augenblick beherrschende Einstellung oft erkennen. Und zwar oft sogar spontan, was heißt, dass wir darüber gar nicht erst nachdenken müssen. Hinzu kommt natürlich beim Erkennen der Einstellung eines Menschen oft (d. h. wenn er spricht) das Verstehen des von ihm Gesagten, insbesondere von dessen Ausdrucks- und Appellfunktionen. Unsere Fähigkeit zur Empathie beruht wohl entweder auf dieser unserer Fähigkeit zur Einstellungswahrnehmung oder ist sogar partiell mit ihr identisch. Jedenfalls ist daher Empathie – als unsere von uns allen dauernd praktizierte Weise des Erkennens von Einstellungen von Menschen – wesentlich auch das Verstehen des Ausdrucksverhaltens dieser Menschen, d. h. ihrer Haltungen und Attitüden . 2.6 Kognition, Volition, Emotion Was die kognitive Komponente der Einstellung angeht, so besteht sie aus ›beliefs‹, aus Überzeugungen hinsichtlich eines Einstellungsobjektes ; manche PsychologInnen bezeichnen diese auch als ›Kognitionen‹, ›Wissen‹, ›Meinungen‹, ›Informationen‹ (Eagly & Chaiken 1993, 11), ›Schemata‹ oder ›Stereotype‹. Den Begriff ›Stereotyp‹ verwendet u. a. McGuire (1969, 155): »The cognitive component of attitudes [ … ] is the ‘sterotype’ the

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person has of the attitude object.« .« Dieser Begriff hat den Vorteil, dass damit die ganze Theorie der Stereotype in die Theorie der Einstellungen integriert wird. Aber das gilt – mutatis mutandis – auch für die Begriffe ›Schema‹ und ›frame‹ (ein Begriff, den man hier ebenfalls verwenden könnte) und für die daran geknüpften Theorien. Diese und noch andere Begriffe sind weitgehend ähnlich und bezeichnen alle – wie schon die Begriffe ›Idee‹ und ›Vorstellung‹ – die »mentalen Repräsentationen«, die wir von den Gegenständen unserer Wahrnehmungen und unseres Denkens haben.14 Jedes Stereotyp ( bzw. Schema usw.) ist wie ein Bild das wir auf die Gegenstände unserer Wahrnehmung projizieren, oder wie eine Beschreibung , die uns sagt, mit welchen Eigenschaften wir bei einem Gegenstand der Wahrnehmung zu rechnen haben. Wissenssoziologisch ist daher ein Stereotyp ein ›Wissen‹. Definiert man nun – nach Allport – eine Einstellung als die Bereitschaft zu einer bestimmten Reaktion auf etwas – das Einstellungsobjekt – dann wird ohne Weiteres einleuchten, dass zu jeder einzelnen Einstellung ein bestimmtes Wissen über das Einstellungsobjekt gehört. Ohne jedes solche Wissen könnten wir ein Einstellungsobjekt ja nicht einmal erkennen und erst recht nicht darauf reagieren. Ferner wird einleuchten, dass zur Aktualisiertheit jeder einzelnen Einstellung auch die Bereitstellung (das Bereitgestelltsein) dieses Wissens gehört, also eines der personspezifischen oder gruppentypischen Stereotype (Schemata, frames usw.) vom Einstellungsobjekt. Das Stereotyp wird aus dem Repertoire der Einstellungen, das wir haben, bei der Aktualisierung der Einstellung als Teil der Einstellung sozusagen abgerufen und ist dann für das durch die Einstellung angebahnte Reagieren handlungsleitend. Was die so genannte ›behaviorale‹ oder ›konative‹ Komponente der Einstellung anbetrifft, so muss ich sagen, dass ich beide diese Adjektive für misnomer halte. Sie bezeichnen beide gar nicht das, was meistens wirklich festgestellt wird, wenn Einstellungen erhoben werden, ob durch Fragebogen oder freie Interviews. »Ausländer raus ! « – wenn man dem zustimmt, zeigt das noch in keiner Weise an, was man selbst tun will, damit Ausländer das Land verlassen. Sondern die Bedeutung dieses Satzes ist es nur, ein Wollen auszudrücken. Es soll hierzulande keine Ausländer mehr geben. Dieser Satz dient also nur dem Ausdruck des vom Sprechenden gewollten Soll-Zustandes (oder Soll-Geschehens) und drückt hinsichtlich des von ihm vorgehabten oder sogar bereits angebahnten eigenen Verhaltens nichts aus. ›Konation‹ bezeichnet jedoch ebenso wie ›Intention‹ nur den Spezialfall, dass ein Wollen sich bezieht auf ein je eigenes Verhalten. Deshalb ist es sinnvoll, dass man ihn verallgemeinert zum Begriff der Volition, des Wollens.

14

Zur weitgehenden Bedeutungsgleichheit dieser prima vista so verschiedenen Begriffe vgl. Hermanns 2002.

Attitude , Einstellung , Haltung Der Begriff der konativen (oder behavioralen) Komponente der Einstellung macht sogar, so scheint mir, wenn man an ihm festhält, ohne ihn zu ändern, die Drei-Komponenten-Lehre der Einstellung überhaupt unsinnig. Denn man definiert die Konation als »action tendency« und als »impulsion to do something« (so Katz & Stotland 1959, 429) oder als »gross behavioral tendencies« (McGuire 1969, 156 ) in Bezug auf Einstellungsobjekte. Aber als »Tendenz zu einer Aktion«, nämlich einer Reaktion, war ja zuvor (von Allport und von anderen) die Einstellung selbst – als Ganze – bestimmt worden. So dass, wenn man den Begriff der konativen Komponente der Einstellung nicht verändert (oder aufgibt), die Einstellung als Tendenz zu einer Reaktion dadurch erklärt wird, dass man sagt, dass sie als eine ihrer Komponenten die Tendenz zu einer Reaktion enthalte – was absurd ist. (Von Katz & Stotland 1959 wird denn auch von ›attitude‹ eine Definition gegeben, die von der von Allport abweicht (s. Nachtrag ). Das macht zwar die Sache etwas weniger absurd, bringt aber die Absurdität nicht zum Verschwinden.) Nur zwei nicht als simplizistisch zu bezeichnende Versionen der Drei-Komponenten-Lehre habe ich bisher gefunden. Freedman et al. (1974, 247) beschreiben eine ›attitude‹ attitude‹‹ als »aa collection of thoughts, beliefs, and knowledge (cognitive component)« und von »positive and negative evaluations or feelings (affective component)« in Bezug auf Einstellungsobjekte, was zusammen eine Verhaltenstendenz ergebe (»This knowledge and feeling cluster tends to produce a certain behavior«); konsequenterweise sprechen sie zwar (ebd., 245) von der kognitiven und der affektiven Komponente der Einstellung , aber drittens nur von einer »action tendency« und nicht von einer aktionalen (oder konativen) Komponente der Einstellung. Triandis (1971, 3) zitiert zwar kritiklos das Drei-Komponenten-Schema der Einstellung nach Rosenberg  & Hovland (1960, 3 ; in verdeutschter Variante bei Stahlberg  & Frey 1990, 145), macht selbst aber (Triandis 1971, 2) für den Begriff der ›Einstellung‹ einen völlig anderen originellen Definitionsvorschlag : »An An attitude is an idea charged with emotion which predisposes a class of actions to a particular class of social situations«. (Die Einschränkung auf social situations braucht hier nicht zu interessieren.) Danach steht eine ›Idee‹, d. h. ein Stereotyp, im Zentrum der Einstellung. In der Regel wird jedoch von sozialpsychologischen Einführungswerken das Drei-Komponenten-Schema der Einstellung nach Rosenberg  & Hovland (1960, 3) einfach übernommen, obwohl (oder weil ) es noch einfacher ist als die Drei-Komponenten-Lehre von Katz  & Stotland. Danach ist die behaviorale Komponente der Einstellung nur zuständig für das nichtverbale Handeln (»overt actions«) (und verbale Auskünfte darüber) und die kognitive nur für Perzeptionen (»perceptual responses«) (und verbale Äußerungen über »beliefs«) und die affektive nur für Reaktionen des sympathetischen Nervensystems (und verbale Auskünfte über Affekte). Dass z. B. Kognitionen auf die Emotionen und die Konationen Einfluss haben könnten, wird durch die Aussagen dieses Schemas nicht nur nicht verdeutlicht, sondern ausgeschlossen. Hoch erstaunlich kann man deshalb den durchschlagenden Erfolg der sozialpsychologischen Drei-Komponenten-Lehre finden. Von McGuire (1969, 155) wird, vermutlich zu Recht, angenommen, dass sie durch die alte Begriffstrias ›Denken-FühlenHandeln‹ plausibilisiert war. Allerdings stellt diese ein ganz anderes Modell dar als das der Einstellung , nämlich ein Modell menschlichen Handelns. Danach steht am Anfang jedes Handelns ein Erkennen ( ›Denken‹ ), darauf folgt ein erst nur innerliches Reagieren auf das nun Erkannte ( ›Fühlen‹ ) und dies (oder beides) führt zu einem eigentlichen, körperlichen Reagieren ( ›Handeln‹ ). Aber da ist das, was ›Fühlen‹ heißt, gerade das, was wir nach Allport die ›Einstellung‹ nennen. – Gewiss wäre es ein hoff-

221

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nungsloses Unterfangen, wollte man als Linguist versuchen, Sozialpsychologen sozusagen zu bekehren – weg von ihrer Begriffstrias ›Kognition-Emotion-Konation‹ und hin zur Begriffstrias ›Kognition-Emotion-Volition‹, obwohl auch diese Trias in den Traditionen der Philosophie und Psychologie gründet (s. u., Kap. 4 ). In der Linguistik selber steht es aber um die Chancen für die Akzeptanz der Begriffstrias ›Denken-Fühlen-Wollen‹ etwas besser (s. u., ebd.).

Die unglücklich, wie ich daher meine, als ›behavioral‹ bzw. ›konativ‹ bezeichnete Einstellungskomponente nenne ich also die volitive Komponente der Einstellung.15 Auch bezüglich dieser Komponente dürfte ohne weiteres einleuchten, dass man sie braucht, um bereit zu sein zu einer Reaktion auf etwas. Ohne Wollen kann es keine Reaktionsbereitschaft geben. Auch hier muss man sich die Sache wohl so denken, dass, wenn eine der Einstellungen aus dem Repertoire der Einstellungen eines Menschen aktualisiert wird, dann zugleich auch ein bestimmtes Wollen aktualisiert und so bereitgestellt wird als das handlungsbestimmende Wollen für ein nachfolgendes Reagieren. Übrigens entspricht der Ausdruck des gewollten Soll - Zustandes oder Soll-Geschehens immer – so ist anzunehmen – ziemlich passgenau dem Ausdruck des geglaubten IstZustandes, der in dem zitierten Fall beschrieben werden könnte durch Aussagen wie: dass die Ausländer den Deutschen ihre Arbeitsplätze nehmen ; dass sie vom Geld deutscher Steuerzahler leben usw. Dieses Bild des Ist-Zustandes ist das Stereotyp von den Ausländern.

Zwischen Kognition und Volition gewissermaßen in der Mitte liegt die Emotion, die emotive (oder affektive) Komponente der Einstellung. Viele unserer gängigen Bezeichnungen für Einstellungen machen diese emotive Komponente sogar explizit, die Einstellung heißt nach der emotiven Komponente der Einstellung , so bei ›Fremdenhass‹ und ›Fremdenfurcht‹, bei ›Wahrheits‹- und ›Vaterlandsliebe‹ usw.16 Falls das nicht trügt, können wir die emotive vielleicht für die wichtigste, für die zentrale der drei Komponenten der Einstellung halten. Auch die Emotion ist, wie vermutlich ebenfalls einleuchtet, handlungsleitend und gehört daher zum Vorbereitetsein auf eine Reaktion auf etwas. Die Annahme einer emotiven Komponente der Einstellung macht bedauerlicherweise begriff liche Schwierigkeiten. Der Grund dafür ist, dass Emotionen selber als Einstellungen verstanden werden können, wenn sie sich – was auf die meisten, wenn auch nicht auf alle Emotionen zutrifft – auf ein Emotionsobjekt beziehen. Daher werden umgekehrt Einstellungen von manchen Sozialpsychologen definiert als Emotionen. Bereits Thurstone (1931, hier zitiert nach Bierhoff 1984, 196 ) hat definiert: »Einstel15

Ähnlich spricht schon Lenzen 1996, 1176 ; s. u., Kap. 4 über »voluntative Einstellungen« (nicht jedoch: Einstellungskomponenten).

16

Brehm et al. 1999, 174 schreiben : »Like , dislike , love , hate , admire , and detest are the kind of words that people use to describe their attitudes«.

Attitude , Einstellung , Haltung

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lung ist der Affekt für oder gegen ein psychologisches Objekt«. Berkowitz (1986, 168) sagt, eine Einstellung sei »the the positive or negative feeling evoked by an object or issue«. Auch für Emotionen kann konstitutiv sein, dass sie mit bestimmten Kognitionen sowie Volitionen einhergehen. Angst z. B. setzt (nicht immer, aber prototypisch) die Wahrnehmung von Gefahr voraus und ist kaum denkbar ohne eine Fluchtbereitschaft oder, wenn sie in Wut umschlägt, Aggressionsbereitschaft. Danach wäre der Begriff der Emotion im Dreier-Schema der Struktur der Einstellung entbehrlich. Oder umgekehrt: Man könnte Einstellungen als habituelle emotive Reaktionen (inklusive kognitiver sowie volitiver Reaktionsanteile) auf Objekte der Einstellung definieren. Damit würde man sich allerdings vom laienhaften Emotionsbegriff, in dem die Kognition nicht mitgedacht ist, weit entfernen. Deshalb ist es wohl vorerst am besten, wenn wir bei Darstellung und Erläuterung von Einstellungen bei der Dreiheit der Einstellungskomponenten bleiben.

Fazit: Eine Einstellung ist immer durch Beschreibung jeder ihrer Komponenten darzustellen. ›Xenophobie‹ beispielsweise wäre vielleicht zu beschreiben als die Kognition, dass uns Ausländer hierzulande schaden, und als Volition dass es sie hierzulande nicht mehr geben solle, aber auch als Emotion: der Angst, des Hasses, der Verachtung oder auch des Neides. Hier kommt mehreres in Frage oder auch zusammen.17 Die Einstellung ist – so resümiere ich – eine gelernte Zwischenreaktion auf etwas, die weitere Reaktionen vorbereitet und einleitet. Sie besteht aus ebenfalls gelernten Kognitionen, Emotionen sowie Volitionen in Bezug auf das, worauf sie die gelernte Zwischenreaktion ist. Nachtrag. Zum Schluss dieses Abschnitts noch ein notwendiger Hinweis: Der Begriff der ›attitude‹/›Einstellung‹ wird von heutigen SozialpsychologInnen in der Regel sehr viel enger gefasst als von Allport. So von Eagly  & Chaiken (1993, 1) : »Attitude is a psychological tendency that is expressed by evaluating a particular entity with some degree of favor or disfavor.« Hier wird, wie man sieht, schon gar nicht mehr versucht, zu sagen, was eine Einstellung ist , sondern nur, wie sie sich (das ist eine weitere Einschränkung ) in für Psychologen relevanter Weise (nämlich nur durch »Bewertungen«) ausdrückt . Hierin gehen u. a. Baum et al. (1985, 54) noch einen Schritt weiter, wenn sie definieren, eine attitude sei »a stable and enduring disposition to evaluate an object or entity [ … ] in a particular way«. Für sie sind also attitudes/Einstellungen überhaupt nur Bereitschaften zu Evaluationen . So heißt es auch bereits bei Katz & Stotland (1959, 428): »An attitude can be defined as an individual’s tendency or predisposition to evaluate [ an ] object or the symbol of that object in a certain way.« Und noch weiter gehen diesen Weg zahlreiche Sozialpsychologen, wenn sie  – konsequenterweise, muss man sagen  – Einstellungen gleich von vornherein mit Evaluationen identifizieren: »Most social psychologists define an attitude as evaluations of people, objects, and ideas« (Aronson et al. 1999, 238). Hierzu einige Belege: »Attitudes are evaluative reactions to persons, objects, and events«« (Schneider 1988 179) ; »An An attitude is an evaluative reaction – a judgement regarding one’s liking o r disliking – of a person, event, or other

17

Sehr zu wünschen wäre, dass man wüsste, welche Emotion es jeweils ist bzw. es hauptsächlich ist, bei unterschiedlichen sozialen Gruppen, die jeweils die gruppentypische Xenophobie prägt. Aber so weit sind wir meines Wissens noch nicht.

224

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aspect of the environment« ( Weber 1992, 117) ; »An attitude is a positive, negative, or mixed evaluation of an object« (Brehm et al. 1999, 174) ; »Die Einstellung einer Person zu einem Objekt ist ihre (subjektive) Bewertung des Objekts« (Herkner 1983, 209). Vergleicht man das mit der klassischen Definition von Allport, so ist festzustellen, dass sich drei der Merkmale des Begriffs der ›Einstellung‹ verändert haben: ( a ) die Einstellung ist hier nicht mehr die Bereitschaft (oder die Tendenz) zu einer Reaktion, sie ist jetzt diese Reaktion selbst, ( b ) diese Reaktion ( jetzt also: die Einstellung selber) muss eine Bewertung sein ; andere Reaktionen (bei Allport kam jede Reaktion in Frage) werden nicht mehr berücksichtigt, ( c ) die Einstellung muss nicht mehr gelernt sein, sondern jede, auch einmalige Bewertung gilt schon als Einstellung. Was darauf hinausläuft, dass ›Einstellung‹ sozialpsychologisch heute einen völlig anderen Gegenstand (bzw. eine völlig andere Art von Entität) bezeichnet als bei Allport (und in unserer Alltagssprache). Diesen neuen Typus der Definition von Einstellungen könnte man vielleicht forschungspragmatisch nennen. Er bezeichnet nämlich in der Tat das, was in psychologischen Erhebungen von sogenannten ›Einstellungen‹ in der Regel, scheint es, wirklich fest- und dargestellt wird : eben nur Bewertungen von Einstellungsobjekten. Hier ist offenbar die – wie es scheint, fast ausnahmslos geübte – Praxis definitionsleitend, wonach Einstellungen mittels Fragebögen oder Fragen erforscht werden, die nur evaluative und von vornherein in Zahlen ausgedrückte oder ausdrückbare Antworten erlauben. Dieses wiederum entspricht – so kann man weiterhin vermuten – dem in der Sozialpsychologie von heute dominanten Forschungparadigma, in dem speziell die Anwendung von statistischen Verfahren Wissenschaftlichkeit beweist und ausmacht. Daher brauchen Psychologen Zahlen. Nur mit Zahlen lässt sich ja statistisch rechnen. Daraus würde sich, sofern es zutrifft,18 weiterhin erklären : Andere als in Zahlen ausgedrückte oder ausdrückbare Reaktionen ( ›Bewertungen‹ ) interessieren Soztalpsychologen beim Thema Einstellung kaum noch (wieder: falls dies zutrifft). Aber wie dem auch sei – jedenfalls ist es sehr zu begrüßen, wenn in einer Wissenschaft Begriffsbestimmungen verwendet werden, die zur jeweiligen Forschungspraxis passen. Und wenn viele Sozialpsychologen meinen und per Definition sogar selber sagen, dass sie eigentlich Bewertungen erforschen, wenn es traditionell heißt, dass sie Einstellungen erforschen, wird das wohl auch so sein : Wünschbar wäre dann vielleicht nur, dass sie in der damit bewiesenen Konsequenz noch weiter gehen und auf den Begriff ›Einstellung‹ – der ja dann nichts anderes bedeutet als ›Bewertung‹ – ganz verzichten.

18

Hiermit – wie auch mit den anderen Einschränkungsformeln dieses Nachtrags – möchte ich betonen, dass ich als Nicht-Psychologe über die von mir vermuteten Zusammenhänge keine kompetente Auskunft geben kann. Ich spekuliere also und versuche so – so gut ich eben kann – mir auf den von mir philologisch festgestellten Begriffswandel bei ›Einstellung‹ einen Reim zu machen. In der psychologischen Literatur habe ich nämlich dazu nichts gefunden. Dort fehlt sogar ( jedenfalls, muss ich hier wieder sagen, in der Literatur, die ich schon gelesen habe) jeder Hinweis darauf, dass ein Begriffswandel bei ›Einstellung‹ stattgefunden hat, obwohl er philologisch, wie meine Zitate zeigen, nachweisbar ist. In dieser Literatur scheint vielmehr eine begriffsrealistische Einstellung zum Begriff ›Einstellung‹ vorzuherrschen : Eine Einstellung ist eine Einstellung , egal, wie sie nun definiert wird, aber heute definieren wir sie besser als z. B. Allport.

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3 Mentalitäts- als Einstellungsgeschichte Mit nur einem einzigen Gedanken will ich meinen dritten Vortragsteil bestreiten, nämlich dem Gedanken, dass es für die linguistische Mentalitätsgeschichte wohl von Vorteil wäre, wenn sie sich den Einstellungsbegriff zu Eigen machen würde. Erstens, weil sie damit Anschluss (wenn auch keinen ganz genauen) hätte an die Sprache, an den Diskurs, an das Denken der Sozialpsychologie. Das kann die Plausibilität und die Verständlichkeit der eigenen Feststellungen erhöhen. Zweitens, weil dieser Begriff die Definition des Begriffs ›Mentalität‹ vereinfacht. Ohne den Begriff ›Einstellung‹ muss sie etwa lauten: Eine Mentalität im Sinne der Mentalitätsgeschichte ist die Gesamtheit von Gewohnheiten bzw. Dispositionen des Denkens und des Fühlens und des Wollens oder Sollens in einer sozialen Gruppe. Bei Zuhilfenahme des Begriffs ›Einstellung‹ lässt sich dieser Satz verkürzen zu der Formulierung: Eine Mentalität ist die Gesamtheit aller usuellen Einstellungen in einer sozialen Gruppe. Allerdings ist dabei zu beachten, dass hier der Begriff ›Einstellung‹ in fachsprachlichpsychologischer Bedeutung erscheint. Denn in seiner alltagssprachlichen Bedeutung meint das Wort ›Einstellung‹, scheint mir, zwar – wie der fachsprachliche Begriff – die Emotion und Volition, die ein Mensch hat bezüglich eines Einstellungsobjektes, nicht jedoch auch seine Kognition, d. h. seine Meinungen, Denkweisen, Vorstellungen, Stereotype usw. in Bezug auf dieses Objekt, die in der fachsprachlichen Bedeutung des Begriffs ›Einstellung‹ mitgemeint ist. – Die o. a. längere Version der Definition habe ich in einem früheren Artikel ausführlich begründet (Hermanns 1995 a). Etwas kürzer hätte ich schon damals alternativ sagen sollen: »Eine Mentalität ist die Gesamtheit aller usuellen Kognitionen, Emotionen, Volitionen und Obligationen in einer sozialen Gruppe.« – Heute denke ich auch, dass man, je nach mutmaßlichen LeserInnen, neben oder statt Definitionen getrost andere, besser verständliche Bedeutungsparaphrasen geben sollte. Für ›Mentalität‹ kommt u. a. auch in Frage: »gruppengemeinsames (daher kulturelles) usuelles Wissen, Meinen, Denken, Fühlen, Wollen, Sollen, Werten«.

Drittens ist für die Mentalitätsgeschichte der Begriff ›Einstellung‹ auch aus dem Grund zu empfehlen, dass er es ermöglicht, ihr Ziel angemessener als bisher anzugeben. Sensu stricto wäre ja eine Mentalitätsgeschichte die Geschichte der Gesamtheit der Einstellungen einer sozialen Gruppe. Was man aber wirklich leisten kann, ist immer nur : Darstellung der Geschichte einiger Einstellungen, die jeweils interessieren. Viertens: Das Schlagwort ›Mentalitätsgeschichte‹ scheint bereits an Abnutzungserscheinungen zu leiden. Wie auch aller anderen oft gebrauchten Fahnenwörter wird man seiner sicherlich – vielleicht schon eines nicht mehr fernen Tages – überdrüssig werden. Und schon heute könnte man das Wort ›Mentalitätsgeschichte‹ als zu pretenziös empfinden.

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Gott sei Dank lässt es sich ohne weiteres ersetzen durch die schlichtere Bezeichnung ›Einstellungsgeschichte‹.19

4 Unterwegs zu einer reicheren Semantik Welchen Nutzen kann nun der Begriff ›Einstellung‹ für die Linguistik überhaupt – d. h. auch außerhalb der linguistischen Mentalitätsgeschichte – haben ? Er liegt, scheint mir, insbesondere darin, dass er die Begriffe ›Denken‹, ›Fühlen‹, ›Wollen‹ (oder ›Kognition‹, ›Emotion‹, ›Volition‹) gewissermaßen bündelt. Er bezeichnet das als eine Einheit, was man ohne ihn als das Ergebnis einer bloß ad hoc gebildeten Aufzählung betrachten könnte: eben die Triade der Einstellungskomponenten ›Denken, Fühlen, Wollen‹. So verschafft er auch dem Ansatz dieser Begriffstrias eine argumentative Stütze. Insgesamt ist er mit seinen drei Begleitbegriffen dazu angetan, das allzu weite Feld des PsychischGeistigen in seiner Vielfalt etwas übersichtlicher zu machen, auf das wir ja in der Linguistik, ob wir wollen oder nicht, oft Bezug nehmen müssen, weil, was sich in Sprache ausdrückt, psychisch-geistiger Natur ist, ob Ideen und Begriffe, Wahrnehmungen und Gedanken, ob Affekte, ob Absichten oder Wünsche. Alles dieses können wir mit Hilfe des Begriffs ›Einstellung‹ sowie seiner drei Begleitbegriffe in einem Begriff zusammenfassen und – was wohl noch wichtiger ist – ordnen. Systematisch unter diesem Namen in die Linguistik eingeführt ist der Begriff ›Einstellung‹ bisher, wenn ich richtig sehe, erst in zwei Gebieten. Eins davon ist die Spracheinstellungsforschung in der Soziolinguistik, über die ich hier nichts sage, weil ich mich da nicht auskenne.20 Und das zweite ist die Satzsemantik, speziell der Berliner Schule ( Bierwisch, Doherty, Lang , Matsch, Pasch u. a.). Dort ist der Begriff ›Einstellung‹ einer der Zentralbegriffe in der Theorie der Satzbedeutung , allerdings in Einschränkung auf diejenigen Einstellungsobjekte, die bei Satzsemantikern ›Propositionen‹ heißen (unabhängig davon, ob sie als Gedanken [ Frege ] oder Sachverhalte [ Wittgenstein ] verstanden werden). Deshalb nennt man auch die Arten von Einstellungen, die hier ausschließlich behandelt werden, propositionale Einstellungen . Sätze haben, so lehrt diese Satzsemantik, geradezu den Zweck, dass sie Einstellungen zum Ausdruck bringen ( Doherty 1987, 1: »All sentences serve to express attitudes«). Alle Sätze haben insbesondere den »kommunikativen Sinn« (Bierwisch 1979), dass sie ein (mehrfaches) Wollen zu verstehen geben und ein (ebenfalls mehrfaches) Wollen induzieren sollen (Matsch & Pasch 1987). Die propositionale Einstellung ist, wenn über die grammatische Gestalt des Satzes ausgedrückt, der Modus eines Satzes und als dieser ein Aspekt der Satzbe19

Oder (denn auch hier ist zu beachten, dass ›Einstellung‹ in der Alltagssprache eine andere Bedeutung hat als in der psychologischen Fachsprache) durch den Ausdruck ›Denk- und Einstellungsgeschichte‹ (oder eine ähnliche Bezeichnung ).

20

Literatur dazu ist zu finden in dem Band von Deminger u. a. 2000. – Ich bedanke mich hier bei Joachim Scharloth für ein Separatum daraus (Scharloth 2000), das zeigt, dass die Spracheinstellungsforschung auch von allgemein-mentalitätsgeschichtlichem Interesse sein kann.

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deutung jedes Satzes (Pasch 1990, 97); hier ist also der Begriff ›Einstellung‹ fruchtbar gemacht sogar für die Syntax. Eine propositionale Einstellung , wie sie u. a. durch Satzadverbien angezeigt wird, kann auch affektiv sein (Lang 1983).

Ordnung stiftet hierbei die Begriffstriade ›Denken, Fühlen, Wollen‹, über die ich jetzt noch etwas sagen möchte. Mir selbst ist sie oft von Nutzen. Immer, wenn ich Texte oder Sätze oder Wörter zu analysieren habe, frage ich mich: Welche Einstellung kommt hier zum Ausdruck ? Welches Denken ? Welches Fühlen ? Welches Wollen ? Und das hilft mir immer wieder, Text, Satz und Wort besser zu verstehen.21 Aber nicht nur mir alleine. In der Linguistik und der Philosophie findet man die Trias manchmal in Zusammenhängen gebraucht, wo man sie nun wirklich nicht erwartet hätte. Beispielsweise unterscheidet Wierzbicka (1991, 291) zwischen emotiven (»II feel something «), volitiven (die zum Ausdruck bringen : »I want something «), kognitiven (»I think something «, »I know something «) Interjektionen. Emotive Interjektionen sind pfui , ach , oh ; volitive sind z. B. psst und hallo (Schweigen/Aufmerksamkeit heischend) eine kognitive Interjektion ist aha (als Ausdruck des Verstehens). – In der Sprechakttheorie verwendet (fast) dieselbe Trias Austin, wenn er in »How to Do Things with Words« (1962, 40) über »1. Feelings«, »2. Thoughts«, »3. Intentions« handelt als entscheidende Merkmale von vielen Sprechakten, die zwar über deren Geltung nicht entscheiden, aber doch über ihr ›glückliches‹ Gelingen. – Lenzen (1996, 1175 f.) redet von drei Arten propositionaler Einstellungen: kognitiven, emotiven und voluntativen. Er verweist dabei auf ein Buch von Ineichen, in dem ebenfalls dreierlei Einstellungen unterschieden werden: »Einstellungen des Fühlens«, »Einstellungen des Wollens« und »Einstellungen des Denkens« ( Ineichen 1987, 32). Von Ineichen (ebd., 105, 32) wiederum wird auf Kant (1790) und Brentano (1874) rückverwiesen. Bei Brentano (ebd., 10 ff.) bekommt man dann endlich eine klare und mit Nachweisen belegte Auskunft über Herkunft und Erfolg der Begriffstrias. Sie stammt aus dem 18. Jahrhundert, wo sie sich bei den Autoren Mendelssohn und Tetens findet, und verdankt ihre Bekanntheit Kant der in seiner »Kritik der Urteilskraft« behauptet : »Denn alle Seelenvermögen, oder Fähigkeiten, können auf die drei zurück geführt werden, welche sich nicht ferner aus einem gemeinschaftlichen Grunde ableiten lassen : das Erkenntnisvermögen , das Gefühl der Lust und Unlust , und das Begehrungsvermögen « (Kant 1790, 13). Brentano (1874, 11) sagt von dieser Klassifikation, sie sei »noch heute ziemlich allgemein herrschend«. Ein nachträglicher Beleg dafür ist u. a. die Schrift »Vom Fühlen Wollen und Denken« von Lipps (1902). Zuvor wurde die Begriffstriade in der deutschsprachigen Seelenkunde u. a. von Lotze und Herbart und seiner Schule, in der englischen von Hamilton und Bain und deren Schulen übernommen und verbreitet (Brentano 1874, 13 ff.).

Wissenschaftsgeschichtlich wohl den folgenreichsten Gebrauch der Begriffstriade haben Wir im Organon-Modell von Bühler (1934). Denn so deutet – treffend, wie ich finde – Kainz in seinem Buch »Psychologie der Sprache« (1941, 177) Bühlers Modell : Es entspre21

Zur Applikation der Begriffstrias (damals noch mit ›Intention‹ statt ›Volition‹) auf lexikalische Semantik, vgl. Hermanns 1995 b.

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che »die Kundgabe dem Fühlen , der Appell ( Auslösung ) dem Wollen , der informierende Bericht [ Darstellung ] dem Erkennen und Denken «. Es sei dies eine »geradezu in die Augen springende Zuordnung « der Bühlerschen Funktionen »zu den Hauptbereichen des seelischen Lebens«. Demnach sagt uns auch schon Bühlers Modell, dass wir, wenn wir sprechen, dreierlei zum Ausdruck bringen – d. h. ›zeigen‹ ; Bühlers Modell ist ja eines des sprachlichen ›Zeichens‹ – nämlich Denken, Fühlen, Wollen. Die fast allgemeine Akzeptanz von Bühlers Organon-Modell kann einiges dazu beitragen, in der Linguistik ebenfalls das Dreier-Schema der Einstellungskomponenten gebräuchlich werden zu lassen. Auch ganz ohne Zutun des Begriffs ›Einstellung‹ ist die Linguistik heute bereits »unterwegs zu einer reicheren Semantik« (im Vergleich zur hergebrachten), und zwar im Bereich der Text- sowohl als auch der Satz- als auch der Wortsemantik.22 Aber vielleicht könnte sie auf diesem Wege der Begriff ›Einstellung‹ mit den zugehörigen Begriffen für die drei Einstellungskomponenten noch um ein Stück weiter voranbringen. Das gilt speziell für die lexikalische Semantik. Dank des Stereotyp- und Prototyp- und frameBegriffes ist es ihr jetzt theoretisch möglich, einen Teil des Reichtums der Bedeutungen von Wörtern darzustellen. Ihren kognitiven Reichtum. Was noch fehlt, ist die Darstellung ihres emotiven sowie volitiven Reichtums, also die Beachtung der Bedeutungsdimensionen Volition und Emotion. Gerade diese beiden fehlenden Bedeutungsdimensionen sind nun aber mitgedacht in dem Begriff ›Einstellung‹. Weshalb man sich vom Gebräuchlichwerden des Begriffs ›Einstellung‹ in der Linguistik den Vorteil erhoffen könnte, dass den Volitions- und Emotionsanteilen der Bedeutung in der lexikalischen Semantik künftig mehr Aufmerksamkeit zuteil wird als derzeit gewöhnlich. Wenn wir, unserer gesamten (ausgenommen nur die jüngste) Tradition der diesbezüglichen Begriffsbestimmung folgend, sagen würden, die Bedeutung eines Wortes (oder Satzes oder Textes) sei das, was es zu verstehen gibt, wenn es gebraucht wird – d. h. was es zeigt , als Zeichen – könnten wir vielleicht sogar behaupten : Die Bedeutung eines Wortes ist nichts anderes als die Einstellung , die es ausdrückt. Kognition und Emotion und Volition zusammen. Aber damit eine solche Neubestimmung des Begriffs ›Bedeutung‹ Erfolg haben könnte, müsste der Begriff ›Einstellung‹ in der Linguistik zuerst einmal einbürgert sein. Wenn dies einmal der Fall sein sollte, wird man weitersehen.

22

In Bezug auf lexikalische Semantik gebraucht Busse 2002 den Begriff ›reiche Semantik‹, um die neuere Semantik von der strukturalistischen abzuheben, die ja in der Tat, weil sie minimalistisch war, als arm beschrieben werden kann. Die neuere Semantik sollte sich den Begriff der ›reichen Semantik‹ vielleicht als ein Fahnenwort zu Eigen machen.

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5 »Nichts Edlers sei als Weib und Mann« Und zum Schluss, wie angekündigt, noch einmal zurück zu Mozarts Zauberflöte und zu der Sentenz: »Ein Mann muss eure Herzen leiten, / denn ohne ihn pflegt jedes Weib / aus seinem Wirkungskreis zu schreiten.« Sie hat in der Zauberflöte ein besonderes Gewicht. Es singt sie ja Sarastro selbst, der weise Priesterkönig . Dessen Einstellung zu Weibern ist nicht irgendeine, sondern ist die angemessene, die richtige. Er steht mit ihr auch nicht allein. Die Königin der Nacht, Paminas Mutter, erzählt ( II 8) selbst, was ihr Gemahl, der König , ihr vor seinem Tode feierlich (»Weib, meine letzte Stunde ist da«) als Vermächtnis aufgetragen hat : »Forsche nicht nach Wesen, die dem weiblichen Geist unbegreif lich sind. Deine Pflicht ist, dich und deine Tochter der Führung weiser Männer zu überlassen.« Einmal ist keinmal, zweimal ist immer, lautet eine alte Philologenregel. Sie gilt auch für die Heuristik von Einstellungen. Sind in einem Text schon zwei Belege für dieselbe Einstellung gefunden, dann wird man wahrscheinlich auch noch andere finden. In der Zauberflöte ist ein weiterer Beleg die Rahmenhandlung dieser Oper. Sie besteht ja darin, dass die Königin der Nacht sich weigert, sich der Führung weiser Männer einsichtsvoll zu überlassen. Weshalb dann Sarastro ihre Tochter kidnappt. Als sie sich aus Unvernunft auch damit nicht abfindet, sondern weiter nach der Herrschaft trachtet und sogar Sarastro nach dem Leben, muss die Pflichtvergessene nachdrücklichst bestraft werden. So dass sie die Götter, Isis und Osiris, im Finale unter Blitz und Donner in die ewige Nacht stürzen. Ähnlich wird es jedem Weib ergehen, dies ist offensichtlich die Moral von der Geschichte, das der Führung weiser Männer nicht folgt. Überhaupt ist Mozarts Zauberflöte über weite Strecken eine Oper der Belehrung über die Geschlechterrollen, über den Charakter der Geschlechter. Der Männerbund der Priester, der im Reich Sarastros herrscht, ist offenbar vornehmlich eine maskuline Schutzgemeinschaft gegen weibliche Anschläge. Das sagen jedenfalls zwei Priester selbst ( II 3 ): »Bewahret euch vor Weibertücken,  / dies ist des Bundes erste Pflicht ! « Schwatzhaftigkeit ist typisch weiblich und daher bei Männern weibisch. Einer der Priester meint : »Ein Weib tut wenig , plaudert viel« ( I 15). Dagegen weiß ein Mann zu schweigen. Das folgt auch aus dem, was die drei Knaben zu Tamino sagen (ebd.): »Höre unsre Lehre an: / [ … ] / Sei standhaft, duldsam und verschwiegen . / Bedenke dies ; kurz, sei ein Mann , / dann, Jüngling , wirst du männlich siegen.« Was denn auch Tamino sofort überzeugend findet, denn er nimmt sich vor : »Die Weisheitslehre dieser Knaben / sei ewig mir ins Herz gegraben.« So belehrt, besiegt Tamino mancherlei Gefahren. Zum Schluss Feuergluten sowie Wasserfluten, dabei steht Pamina ihm bei, unerschrocken. Deshalb wird Pamina schließlich sogar in den Männerbund der Priester aufgenommen und, obwohl ein Weib, teilhaftig der Geheimnisse der Weisheitslehren dieses Bundes. Was uns die Geharnischten erklären ( II 28): »Ein Weib, das Nacht und Tod nicht scheut, / ist würdig und wird

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eingeweiht.« Sie wird sozusagen ernannt zum Mann ehrenhalber. Aber sie, ein Weib, das Nacht und Tod nicht scheut, ist eben die Ausnahme. Geradezu ein Paradox. Dagegen ist der Todesmut bei echten Männern das Normale. Hier ist Papageno die Ausnahme. Deshalb ist er komisch. So, das war ein kleines Beispiel, eine Skizze, einer philologischen Ermittlung von Einstellungen. Ganz einfach durch Zusammentragen von einschlägigen Zitaten. Die sich hier, in meinem Beispiel, auf die Wörter ›Weib‹ und ›Mann‹ beziehen. Anhand der gegebenen Zitate ist die Einstellung zu Weibern – und damit auch die hauptsächlichen Besonderheiten der Semantik von Weib – in der Zauberflöte etwa wie folgt zu beschreiben: Kognitiv: Ein Weib ist furchtsam, schwatzhaft, tückisch. Und es pflegt aus seinem Wirkungskreis zu schreiten, wenn es nicht von einem Mann geleitet wird. Deshalb, und weil es tückisch ist, ist es gefährlich. Emotiv: Für ein Weib empfindet man Verachtung , weil es furchtsam ist und schwatzhaft. Weil es aber auch gefährlich ist, kann der Gedanke an ein Weib auch Furcht und sogar Hass erwecken. – Es ist also wieder nicht nur eine Emotion, die sich an dieses Wort knüpft und die dieses Wort ausdrückt, sondern es sind mehrere mögliche Emotionen. Je nach Kontext kommt die eine oder kommt die andere zum Zuge. Volitiv: Man nehme sich als Mann in Acht vor Weibern. Jedes Weib soll sich der Führung eines Mannes unterwerfen ; und ein Mann soll ein Weib führen. Stolz ist, wenn er sich bei einem Weib zeigt, zu bekämpfen und zu brechen. Soweit, scheint es, ist sie eine klare Sache, die Einstellung gegenüber Weibern in der Zauberflöte . Denn das Resultat der philologischen mentalitätsgeschichtlichen Momentaufnahme, die ich hier vorgeführt habe – dieses Resultat passt gut zu Frauenbildern, wie wir sie aus anderen Texten,23 aber auch aus eigener Erfahrung kennen. Die Klischees der Zauberflöte sind ja noch nicht ausgestorben. Das macht dieses Resultat plausibel. Eine klare Sache, aber keine runde Sache. Schon ein solcher Schnappschuss wie der vorgeführte gibt uns nämlich Rätsel auf, von denen ich zum Schluss noch zwei benennen möchte. Eins zu dem ich keine Lösung weiß, und eins, zu dem ich eine Lösung weiß, dank Allport. Mein erstes Rätsel ist ein historisches. Mozarts Zauberflöte wird uraufgeführt in Wien im Jahre 1791. Das ist nur elf Jahre nach dem Tod der Königin Maria-Theresia, die vierzig ( ! ) Jahre lang geherrscht hat, höchst erfolgreich und allseits geliebt von ihren Untertanen wie auch von der Nachwelt, so liest man ja immer. Die zwar dem Rat kluger Männer folgte, aber nicht der Führung dieser Männer. Denn sie war die Königin, sie führte. Könnte sie die eigentlich gemeinte Königin der Nacht

23

U. a. passt es zu den Darlegungen über Geschlechtscharaktere, die Kants »Anthropologie« zu einer Quelle für Geschlechtsklischees im späten 18. Jahrhundert machen, dazu Hermanns 1994.

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sein ? 24 Jedenfalls ist es erstaunlich, dass der Text der Zauberflöte als gewissermaßen naturwidrig denunziert, was doch in Wien nicht weniger als vierzig Jahre lang normal gewesen ist : dass eine Frau geherrscht hat. Mein zweites Rätsel ist dagegen ein textimmanentes. Die von mir beschriebene Einstellung gegenüber Weibern ist im Text der Zauberflöte nicht die einzige eindringlich dargestellte. Es gibt hier für einen Mann noch eine andere erlaubte, ja erwünschte Einstellung zu einem Weib. Das ist diejenige der Liebe. Als geliebt ist das Weib weder furchtsam noch geschwätzig noch auch tückisch, sondern es ist reiner Inbegriff des Glücks, das »ewig« währen wird, so heißt es in der Arie von Tamino ( I 4). Und das noch erhöht wird durch die Kinder , die ein Paar hat : »Welche Freude wird das sein, / wenn die Götter uns bedenken, / unserer Liebe Kinder schenken« ( II 29). Erst einen Knaben, dann ein Mädchen. Beide sind »der Eltern Segen«. Darum ist das Lob der Liebe hier zugleich ein Lob der Ehe. Liebe lässt die Menschen in der Ehe gottgleich werden. Denn es gilt von ihr (I 14): Ihr hoher Zweck zeigt deutlich an, nichts Edlers sei als Weib und Mann. Mann und Weib und Weib und Mann reichen an die Gottheit an. Nicht der Mann alleine, sondern Weib und Mann und Mann und Weib zusammen. Hier wird sogar in der Formulierung auf das Gleichberechtigtsein von Mann und Weib geachtet. Darin ist das Weib, wie es zuvor dargestellt wurde, nicht mehr wiederzuerkennen. Hier obwaltet eine völlig andere Einstellung . Doch das Rätsel dieses Widerspruchs ist leicht zu lösen. Menschen haben eben mancherlei Einstellungen, auch zu einer und derselben Art von Einstellungsobjekten. Manchmal auch konträre, die sich widersprechen. So sagt es ja bereits Allport.

24

Wie ich jetzt weiß, ist dies bereits in der Zauberflöten - Deutung des (von Maria-Theresia verbotenen) Freimaurertums vermutet worden, in der allerdings die Zauberflöte insgesamt als Schlüsselroman interpretiert wurde : Tamino sei Joseph II., usw. Dazu Nettl 1956, hier zitiert nach Csampai & Holland 1982, 186 ff.

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6

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Sprache , Kultur und Identität Reflexionen über drei Totalitätsbegriffe

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Wird man, wenn man eine andere Sprache spricht, ein anderer Mensch ? Schafft Sprache kulturelle Identität ? Der Begriff Totalitätsbezeichnung Totalitätsbezeichnung = Kollektivbezeichnung ? Eine Frage der Betrachtungsweise Exkurs : Sammelbezeichnung , Substanzbezeichnung und Abstraktum Wissenschaft und Linguistik als Totalitätsbegriffe Andere linguistische Totalitätsbezeichnungen Sprache als Totalitätsbezeichnung Kultur als Totalitätsbezeichnung Identität als Totalitätsbezeichnung Linguistik als Kulturwissenschaft Literatur

In den ersten zwei Abschnitten dieses Beitrags gebe ich das wieder, was ich in dem Heidelberger Kolloquium Sprachgeschichte als Kulturgeschichte vorgetragen habe, das in diesem Band dokumentiert wird. In den folgenden Abschnitten führe ich dann aus, wie man die Wörter (die Begriffe)1 Sprache , Kultur und Identität und andere, semantisch

Dieser Beitrag ist erstmals 1999 erschienen in: Gardt, Andreas ; Haß-Zumkehr, Ulrike ; Roelcke, Thorsten (Hgg.): Sprachgeschichte als Kulturgeschichte. Berlin/New York, 351 – 391. 1

Ich verzichte – jedenfalls in diesem Aufsatz – ganz bewußt darauf, Wort und Begriff , wie in der Linguistik üblich, konsequent zu unterscheiden, und benutze Begriff bildungssprachlich, nämlich zur Bezeichnung auch von Wörtern , um auf deren Bedeutungen abzuheben. Das macht manche Formulierungen einfacher. Ich vertraue darauf, daß man wird erkennen können, was jeweils gemeint ist. Das gilt auch für meinen Gebrauch von Kursivsetzungen , die in diesem Beitrag mehrere Funktionen haben.

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ähnliche Begriffe sinnvoll – wie ich hoffe – charakterisieren kann als Totalitätsbezeichnungen ( Totalitätsbegriffe ). Und zwar so, daß die sich dann ergebenden Bedeutungsparaphrasen auf die alltags- respektive bildungssprachlichen Bedeutungen der Wörter Sprache , Kultur , Identität passen. Daß sich auch zahlreiche andere Wörter angemessen als Totalitätsbezeichnungen verstehen lassen, ist ein weiteres Ergebnis der in diesem Aufsatz angestellten Reflexionen. Daher meine ich, mit dem Begriff Totalitätsbezeichnung eine nützliche lexikologische Kategorie entdeckt bzw. erfunden zu haben. Allerdings kann man dem Aufsatz auch entnehmen, daß in dieser Entdeckung oder Erfindung , wie so oft, die Lexikographie der Lexikologie voraus war.

1 Wird man , wenn man eine andere Sprache spricht , ein anderer Mensch ? Zuerst drei kleine Geschichten. Hier die erste. Ein bekannter Romanist und Germanist, den einige von Ihnen auch persönlich kennen, ist in seinem Habitus als Mensch der runden, flüssigen Bewegung zu beschreiben. Seine Sekretärin, ihrem Chef in Sympathie und Hochachtung verbunden, hat mir aber über ihn einmal erzählt : »Immer wenn ein Anruf kommt aus Spanien, freue ich mich schon. Dann macht er sich ganz gerade [ Geste ], hält den Hörer senkrecht ans Ohr [ Geste ], seine andere Hand bewegt er dabei senkrecht auf- und abwärts [ Geste ]. Dabei spricht er sehr energisch: ‘ Sí, señor ’, sagt er zum Beispiel [ stark betonte letzte Silbe ]. Kerzengerade aufgerichtet.« Also wenn er spanisch sprach, benahm er sich ganz anders als sonst, was dann seine Sekretärin immer wieder amüsiert hat. Wird man, wenn man eine andere Sprache spricht, ein anderer Mensch ? Oder: Ist man, wenn man eine andere Sprache gut spricht, in dem Augenblick, wo man sie gerade spricht, ein anderer oder eine andere ? Mir scheint: oft schon. Jedenfalls ein bißchen. Man spielt eine etwas andere soziale Rolle. Eine oft zwar ähnliche soziale Rolle, aber nach den etwas anderen Regeln, wie sie in der anderen Sprachkultur gelten. Hier die zweite meiner drei Geschichten. Wenn man eine ganz bestimmte Art von Englisch lernt, dann auch das britische berühmte understatement , wie ich an mir selbst erfahren habe. Auf die Frage »Na, wie war ’s denn ?«, faßte man ein negatives Urteil, jedenfalls in manchen Zirkeln mancher deutscher Universitäten, zu Beginn der siebziger Jahre geradezu routinemäßig in die Worte : »Absolute Scheiße«. In England dagegen lernte ich stattdessen bald zu sagen, und zwar ganz genauso spontan und genauso echt und ehrlich: »Well – I didn’t particularly like it.« Also war ich da doch wohl ein etwas anderer Mensch geworden. Genauer gesagt: Es hatte sich mein Rollen- und Verhaltensrepertoire erweitert. Meine dritte, fast unglaubliche Geschichte ist mir viele Jahre später passiert. Das war in der französischen Schweiz nach einem Vortrag , den ich dort gehalten hatte. Auf deutsch. Es war gut gelaufen, alle waren glücklich. In der Pause kam dann ein Kolle-

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ge zu mir, stellte sich mir vor und sagte mir, er sei aus England. Und dann guckte er mich forschend an, mit schräg geneigtem Kopf, und fragte : »Kann es sein, daß Sie mal irgendwann in Oxford waren ?« Hatte er gemerkt, so sagte er, an meinem deutschen Vortragsstil, was ich auch heute noch erstaunlich finde. Irgendwie muß ich in England eine etwas andere Identität bekommen haben. Irgendwie war ich ein bißchen englisch eingefärbt geworden, sogar, wenn deutsch redend. Allerdings nicht  – das ist für das Thema Identität wichtig – irgendwie englisch im allgemeinen (was sich etwa an einem englischen Akzent hätte zeigen können), sondern spezifischer akademisch-englisch und vielleicht sogar speziell oxfordisch (was sich vielleicht an meinem Vortragsstil gezeigt hat, vielleicht aber auch an irgendwelchen anderen Merkmalen meiner Person und meines Verhaltens).

2 Schafft Sprache kulturelle Identität ? »Schafft Sprache kulturelle Identität ?« – auf diese Titelfrage unseres Gesprächs soll ich hier eine Antwort geben. Einen ganzen Abend habe ich gegrübelt über diese Frage. Jegliche Identität, so habe ich dann protestierend aufgeschrieben, ist doch eine kulturelle. Nämlich eine kulturell konstituierte. Andere Identitäten gibt es gar nicht. Wir beschreiben nämliche unsere Identitäten mit Begriffen, die als solche immer kulturell geprägt sind. Selbst die scheinbar natürlichen Eigenschaften eines Menschen – wie z. B., daß er ein Mann oder eine Frau ist – sind in Wahrheit kulturell verfaßte. Denn, was Mann bzw. Frau bedeutet, ist kulturspezifisch. Kulturelle Identität ist, wie runder Kreis und weißer Schimmel , tautologisch, sagte ich mir. Bis ich dann verstanden habe, was gemeint war, nämlich die Identität von Menschen nicht als kulturell konstituierte , sondern die Identität von Menschen, insofern sie besteht in der Zugehörigkeit zu einer ( jeweils ganz bestimmten) Kultur. Wie z. B. der des Christentums und der des Islams. Oder auch der bürgerlichen Kultur. Oder auch der deutschen großbürgerlichen Kultur zu Ende des 19.  Jahrhunderts. Aber auch der Unternehmenskultur einer Firma wie z. B. Siemens. Oder auch der Kultur einer Paarbeziehung , wie sie sich im Lauf der Zeit entwickelt. Der Kultur einer Familie oder eines Dorfes. Einer Region. Eines Landes. Einer Nation. Einer sozialen Klasse oder Kaste. Und so weiter. Wie aus solchen Beispielen ersichtlich, ist die kulturelle Identität – als die Zugehörigkeit zu einer ganz bestimmten Kultur – immer auch die Zugehörigkeit zu einer ganz bestimmten sozialen Gruppe. Das kann eine Primärgruppe sein wie die Familie oder die Skatrunde jeden Mittwoch in der Kneipe an der Ecke, hier in dieser Straße. Oder eine andere Art von sozialer Gruppe. Jedenfalls scheint mir zu gelten: Ohne angebbare soziale Gruppe, als die Trägerin der Kultur, kann es eine Kultur gar nicht geben. Kulturelle Identität, als die Zugehörigkeit zu einer Kultur und als die Teilhabe an einer Kultur aufgefaßt, entpuppt sich so – wenn ich so sagen darf – als Zugehörigkeit zu

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einem sozialen Verband, einer sozialen Gruppe. Wobei Zugehörigkeit natürlich enger oder weiter sein kann. Sie bestimmt sich nicht durch Grenzen, sondern nach Distanz zu einem Zentrum, und diese Distanz ist variabel nach den jeweils gerade relevanten Dimensionen, in denen sie wahrgenommen wird, von unterschiedlichen Betrachtern und in unterschiedlichen Situationen. Williams (1976, 10) macht die Beobachtung , daß die zwei Begriffe Kultur und Gesellschaft ( culture und society ) oft fast gleich verwendet werden. Wenn wir etwa sagen, daß man etwas so-und-so zu machen pflegt »in unserer Kultur« – z. B. sonntags in die Kirche gehen, zum Geburtstag etwas schenken, auf das Neue Jahr anstoßen – können wir tatsächlich geradesogut sagen, daß man dies zu machen pflegt »in unserer Gesellschaft«. Alltagssprachlich reden wir nicht von der »Kultur unserer Familie« oder auch der »Kultur unserer Sozialschicht«. Und wer würde schon gern von sich sagen, daß er oder sie der »kleinbürgerlichen Kultur«, wie die meisten von uns, angehöre, wenn auch mit gewissen bildungsbürgerlichen Zügen. Aber soziologisch scheint die Sache klar zu sein, wie sie z. B. für das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts auch in dessen Selbstverständnis klar gewesen zu sein scheint: daß kulturelle Zugehörigkeit und damit kulturelle Identität zugleich soziale Zugehörigkeit und Identität ist.2 Wobei das Wort Kultur , anders als das Wort Gesellschaft , nicht direkt auf eine Gruppe von Personen abhebt, sondern auf deren Denk- und Verhaltensweisen, auf deren Mentalität und deren Praxis. Aber eben immer auf Mentalität und Praxis ganz bestimmter, benennbarer sozialer Gruppen. So erklärt es sich, daß Kultur und Gesellschaft metonymisch austauschbar sein können. »Kulturelle Identität« – wird sie von Sprache geschaffen ? Sind Teilhabe und Teilnahme an einer sozialen Kultur, d. h. an Verhaltens- und Denkweisen in sozialen Gruppen ursächlich zurückzuführen auf die Sprache, die gesprochen wird in diesen Gruppen ? Nun, ein Teil kann nie das Ganze schaffen, von dem es ein Teil ist. Eher scheint das Umgekehrte richtig. Eher schon verdankt sich ja der Teil dem Ganzen als das Ganze dem Teil. Und die Sprache ist ein Teil des Ganzen einer Kultur. Einer Lebensform, wie Wittgenstein (1953, § 23) gesagt hat. Und der Teil ist eher aus dem Ganzen zu verstehen als das Ganze aus den Teilen. Und schon gar nicht aus nur einem einzigen der Teile. Überspitzt, weil von der Dialektik abstrahierend, die hier besteht, kann man sagen: Nicht die Sprache, d. h. meine Sprache, schafft meine soziale, kulturelle Identität, sondern meine soziale, kulturelle Identität schafft, d. h. bestimmt, meine Sprache. Nur um den Preis des Verlustes meiner sozialen Identität, meiner Zugehörigkeit zu meiner sozialen Gruppe kann ich meine Sprache ändern – es sei denn in Kleinigkeiten oder aber in der Richtung größerer sozialer Angepaßtheit. So erklärt sich language loyalty , wie 2

Unter linguistischen und semiotischen Aspekten wird das deutschsprachige Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts in sehr eindrucksvoller Weise verlebendigt und in für sein Selbstverständnis wesentlichen Eigenschaften analysiert in dem Buch »Sprachkultur und Bürgertum« von Linke (1996 ).

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man das Phänomen genannt hat. Sie entspringt ja der Erfahrung , daß mit Ausgrenzung , mit Statusverlust, mit Spott der bestraft wird, der sich anders verhält als die Anderen in seiner Gruppe. Und die Angst vor solchen Sanktionen sitzt oft so tief, daß man sprachliches Verhalten kontraproduktiv auch dann nicht ändert, wenn es eigentlich von Vorteil wäre, weil man sich in seiner faktischen sozialen Zugehörigkeit verändert hat und nun in einer neuen sozialen Gruppe lebt, die andere Verhaltensweisen – u. a. auch sprachliche Verhaltensweisen – fordert. Man läßt eine Identität nicht so einfach fahren, die man einmal hat und mit der man ganz gut zurecht kommt. Man verliert sonst seinen Stallgeruch , an dem die Anderen uns erkennen als der eigenen Gruppe zugehörig. Man verliert sonst die soziale Heimat. Jedenfalls ist das wohl eine Angst, die uns in vielen Fällen daran hindert, uns in unseren Verhaltensweisen denen anderer Kulturen anzupassen, selbst da, wo dies sinnvoll wäre und wo wir es könnten, obwohl es nicht leicht ist. Also Sprache als Teil. Aber doch als ein konstitutiver Teil der Kultur. Als ein kokonstitutiver, mit-konstitutiver Teil der Kultur. Und so ist die Sprache, die ich spreche, mit - konstitutiv für meine Identität, wie sie wahrgenommen wird von mir und anderen. Daher kann es in der Tat sein, daß ich, wenn ich eine andere Sprache spreche, dann ein anderer Mensch bin. Im Extremfall sogar ein sehr anderer. Sozusagen gar nicht wiederzuerkennen. Nämlich wenn und insoweit ich in der anderen Sprache und in deren Kultur eine andere soziale Rolle spiele und also auch eine andere kulturelle Identität habe als in der, aus der ich komme. Und deshalb wird man wohl sagen können, daß die Sprache , d. h. eine ganz bestimmte Sprache, die ich jeweils spreche – und das wiederum heißt hier konkret: die Art und Weise meines Sprechens (sowie Schreibens ) – meine kulturelle Identität zwar nicht schafft, daß sie aber doch beteiligt ist an deren Schaffung.

3 Der Begriff Totalitätsbezeichnung Soweit also mein mündlicher Beitrag zur Beantwortung der Frage, ob die oder eine Sprache kulturelle Identität stiftet. Diesen Beitrag möchte ich im Folgenden dadurch erweitern, daß ich einen Vorschlag zur Bestimmung der Begriffe Sprache , Kultur und Identität sowie – auf dem Wege dahin – auch noch anderer, semantisch ähnlicher Begriffe ( Wörter ) mache, die ich nämlich alle charakterisieren möchte als Totalitätsbezeichnungen bzw. als Totalitätsbegriffe . Einen alten Terminus benutzend (und erweiternd) könnte man sie auch als Kollektiva ( Kollektivbezeichnungen ) bezeichnen, was ich aber mißverständlich finde. Näheres dazu gleich. Auf den Begriff der Totalitätsbezeichnung bin ich zufällig gekommen, als ich mich mit dem Begriff Mentalität beschäftigt habe. In den einschlägigen französischen Wörterbüchern fand ich mentalité erläutert als Bezeichnung für das oder ein » ensemble des habitudes d’esprit et des croyances [ etc. ]«, » ensemble des manières habituelles de penser [ etc. ]«, » ensemble des habitudes de pensée [ etc. ]«« (Hermanns 1995 a, 74). Also als Be-

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zeichnung einer Gesamtheit von Entitäten (hier: Gewohnheiten des Denkens, Fühlens, Wollens in sozialen Gruppen). Denn das Wort ensemble wird erläutert als Bezeichnung für »la totalité des éléments constituant un tout« (Robert 1967, s. v.), d. h. »die Totalität der Elemente, die ein Ganzes bilden«; daher kann man die Bezeichnungen von Gesamtheiten wohl ganz gut Totalitätsbezeichnungen , Totalitätsbegriffe (oder Totalitätswörter ) nennen. Wichtig ist dabei, daß diese Wörter nicht – zumindest nicht direkt – das Ganze (als solches) bezeichnen, das gebildet wird aus seinen ( jeweiligen) Elementen, sondern die Gesamtheit dieser Elemente selber, sozusagen ihre Summe, ihre Menge . Das französische ensemble ist denn auch (in einer Spezialbedeutung ) der mathematische Terminus, der in der Mengenlehre denselben Begriff bezeichnet wie im Deutschen der Terminus Menge ; der Petit Robert (a. a. O.) weist darauf hin, daß es sich hier historisch in der Tat um eine Lehnbedeutung (nach deutsch Menge ) handelt.3 Daran möchte ich dadurch anknüpfen, daß ich als Totalitätsbezeichnung oder als Totalitätsbegriff (oder auch als Totalitätswort , Totalitätssubstantiv bzw. -nomen ) jedes Wort bezeichne, das eine Gesamtheit irgendwelcher gleichartiger Entitäten (Elemente) benennt, und zwar unabhängig davon, ob diese Gesamtheit vielleicht außerdem – aus zusätzlichen Gründen – eine »Einheit« darstellt, außer einer sozusagen rechnerischen. Eine Vorentscheidung hinsichtlich des ontologischen Charakters der Gesamtheit soll also mit der Beschreibung eines Wortes (oder einer anderen Bezeichung ) als Totalitätsbezeichnung gerade nicht vorausgesetzt und impliziert bzw. suggeriert sein. Jeder neue Totalitätsbegriff konstituiert – wie gar nicht anders möglich – einen neuen Gegenstand des Redens und des Denkens, eben die »Gesamtheit« der von ihm zusammenfassend bezeichneten Entitäten. Aber als Totalitätsbegriff (es kann ihm weiteres Bedeutungspotential zuwachsen, wie wir sehen werden) bezeichnet er diese Gesamtheit so, daß sie gewissermaßen jederzeit wegkürzbar bleibt wie in der Mengenlehre, wo man ja jede Aussage über eine Menge jederzeit ohne Informationsverlust umformen kann in eine Aussage über die Elemente dieser Menge. Es ist oft sprach- und denkökonomisch, über Mengen – statt umständlich über alle ihre Elemente oder die Gesamtheit ihrer Elemente – Aussagen zu machen ; deshalb (und nur deshalb) spricht man überhaupt von Mengen . Und aus diesem Vorteil läßt sich ohne weiteres wohl auch erklären, daß auch in den natürlichen Sprachen Totailtätsbezeichnungen geprägt und verwendet werden. Einmal darauf aufmerksam geworden, habe ich dann den Begriff ensemble noch in vielen anderen Bedeutungsparaphrasen entdeckt.4 Außerdem auch manche Syn- und

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Alternativ könnte man daher  – statt von Totalitätsbezeichnungen usw.  – auch von Mengenbezeichnungen , Mengenbegriffen , Mengenwörtern reden.

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Bei Anwendung der Methode Reichmann (Reichmann 1994) könnte man relativ leicht alle Wörter finden, die von einem Wörterbuch, das in edv-Form vorliegt, als Totalitätsbegriffe ausgewiesen werden. Soweit bin ich aber mit meinen Computer-Fertigkeiten noch nicht.

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Hyponyme, die natürlich ebenfalls Totalitätsbezeichnungen als solche charakterisieren können. Synonyme in anderen Sprachen – interlinguale Synonyme 5 – habe ich in den Bedeutungsparaphrasen anderssprachiger Totalitätsbezeichungen gefunden, und zwar in französischen, italienischen und englischen Wörterbüchern – andere habe ich bisher nicht konsultieren können. Der Totalitätsbegriff par excellence ist wohl die Welt , wie Wittgenstein (1921, § 1) dies Wort in seinem Tractatus bestimmt hat, nämlich, wie bekannt, als Bezeichnung für » alles , was der Fall ist«, d. h. »die Gesamtheit der Tatsachen«. Wenn er dem hinzufügt »nicht der Dinge«, weist er damit hin auf von ihm, wie es seine Art ist, nicht genannte frühere Definitionsversuche von Welt , wonach die Welt offenbar als die Gesamtheit aller Gegenstände bestimmt wurde.6 Heute würden wir die Welt vielleicht als die Gesamtheit aller Entitäten , unter Einschluß ebenso der Sachverhalte wie der Gegenstände (ohne die wir uns ja keine Sachverhalte denken können), fassen. Ganz im Wittgensteinschen Sinne definiert der Petit Robert (Robert 1967, s. v.) das Wort monde (u. a.) als Bezeichnung für » l’ensemble de tout ce qui existe«. (Das Duden Universalwörterbuch [1989, s. v.] bestimmt Welt  – in einer Spezialbedeutung – immerhin als » Gesamtheit der Menschen«.) Synonyme von Welt (in der hier interessierenden Bedeutung ) wie vor allem Wirklichkeit und Schöpfung sind natürlich ebenfalls Totalitätsbegriffe. Unspezifische Totalitätsbegriffe sind im Deutschen etwa Menge , Klasse , Gruppe : unspezifisch hinsichtlich der Elemente, die durch diese Wörter zu einer Entität logisch (oder mengentheoretisch) höheren Ranges zusammengefaßt werden. Spezifische Totalitätsbegriffe sind z. B. – wenn auch z. T. nur in einer oder einigen der Bedeutungen dieser polysemen Wörter – Volk , Nation , Bevölkerung , Stamm , Rasse , Ethnie und Gesellschaft , aber auch z. B. Mitgliedschaft und Mitgliederversammlung : spezifisch, weil hier die Elemente Menschen (oder Tiere oder Pflanzen) sind ; also nicht irgendwelche Entitäten. Spezifische Totalitätsbezeichnungen sind etwa auch Repertoire (Gesamtheit von Vortragsstücken oder Rollen eines Künstlers) und Werk (Gesamheit der Einzelwerke eines Künstlers oder Autors). Orts- und Ländernamen werden gleichfalls als Totalitätsbegriffe gebraucht (vgl. Hermanns 1995 b apropos Deutschland ), etwa in »Ganz Heidelberg war damals auf den

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Den Terminus interlinguales Synonym erfinde ich (m. W.) hier, um damit eine Lücke in der linguistischen Terminologie zu stopfen. Synonym dient in der Regel als Bezeichnung nur für intralinguale Synonyme, es spricht aber, scheint mir, nichts dagegen, den Terminus Synonyme – durchaus in der üblichen Bedeutung von ›bedeutungsähnliche Lexeme‹ – auch auf Paare (oder Tripel usw.) von Lexemen verschiedener Sprachen anzuwenden. Übersetzungsäquivalent hört sich, wie ich finde, allzu sehr nach Notbehelf an. Heteronyme ist nicht ganz glücklich, weil der Terminus vermuten lassen könnte, es würde durch zwei heteronyme Lexeme Unterschiedliches bezeichnet.

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Der definite Artikel die in die Welt weist – weil er keine Spezifikation verlangt – die Welt als Eigennamen aus, wie ähnlich auch in der Mond und die Sonne und die Umwelt (Hermanns 1991).

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Beinen« i. S. von »die Gesamtheit aller HeidelbergerInnen …«. Bei den vielfach polysemen Wörtern Architektur , Literatur , Malerei , Kunst , Musik usw. dürfte ebenfalls einleuchten, daß sie als Totalitätsbezeichnungen verwendet werden können, so daß etwa »die Musik des 18. Jahrhunderts« u. a. heißen kann soviel wie »die Gesamtheit der musikalischen Stile«, »die Gesamtheit der musikalischen Formen«, »die Gesamtheit der musikalischen Werke (Musikwerke, Musikstücke)«, »die Gesamtheit der musikalischen Aufführungen (Darbietungen, Vorträge, Konzerte)« des Jahrhunderts, letzteres z. B. in dem Satz: »Die Musik des 18. Jahrhunderts ist verklungen, und wir werden sie, so wie sie wirklich war, nie hören«. Auf die Totalität aller Werke (eines Komponisten) geht z. B. der Satz »Die Musik von Monteverdi ist nur unvollständig überliefert«. Mit Kunst kann gemeint sein die Gesamtheit der (aller) Kunstwerke, usw. Gibt es im Deutschen grammatische Verfahren, um Totalitätsbezeichnungen zu bilden ? Dazu kann ich derzeit noch kaum etwas sagen. Es gibt einige Wortbildungsmuster, die für Totalitätsbezeichnungen produktiv sind ; die Duden-Grammatik (Wellmann 1995, 492 f.) nennt die folgenden Suffixe und Suffixoide als Wortbildungsmittel zur Bildung von »Kollektiva« : -schaft , -tum , -leute , -volk , Ge (+ -e ) , -werk , -zeug , -gut , -material und -wesen . Manche der damit gebildeten Lexeme sind jedoch ambig bezüglich der Bedeutungskomponenten Menge (dann haben wir Totalitätsbezeichnungen) oder aber Masse (Substanzbezeichnungen, s. u., Abschnitt 6 ). Auch der Plural mit dem bestimmten Artikel kann als Mittel zur Herstellung von Totalitätsbezeichnungen betrachtet werden, obwohl er, wie Weinrich (1993, 337) sicherlich zu Recht sagt, in der Regel nicht dazu dient, die von einem Nomen bezeichneten Elemente »zu einer Menge zu bündeln, sondern sie in ihrer Verschiedenheit gereiht ins Auge zu fassen«. Es gibt aber auch eine zusammenfassende Funktion des Plurals, so in einem Satz wie »Die Franzosen sind zahlreich«, der auf die Gesamtheit der Franzosen geht statt wie der Satz »Sie sprechen anders als die Deutschen« auf die Elemente der Gesamtheit.7 Schließlich scheint bei vielen oder allen Wörtern mancher semantischen Typen (von »Abstrakta«) auch der Singular mit bestimmtem Artikel in der Weise systematisch polysem zu sein, daß er Totalitätsbezeichnungen schafft, wie in das Werk (im o. a. Sinne), der Tanz (als die Gesamtheit der Tänze) und die Sitte (Gesamtheit von Sitten).

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Den Satz über die Franzosen habe ich bei Coseriu (1988, 90) gefunden, der an anderer Stelle (ibid., 193) zwei Bedeutungen von alle unterscheidet: alle im Sinne von omnes (»jedes Individuum getrennt genommen bzw. [ … ] alle, aber alle individuell betrachtet«) und von cuncti (»alle zusammen«). In Bezug auf diese Unterscheidung ist der Plural offensichtlich ambig.

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4 Totalitätsbezeichnung  = Kollektivbezeichnung ? Warum soll man solche Wörter (in der hier einschlägigen Bedeutung ) nicht, wie vielleicht naheliegend, einfach Kollektiva , Kollektivbezeichnungen oder Kollektivwörter nennen ? Kollektivum finde ich nicht glücklich, weil der Terminus nicht anzeigt, daß er metasprachlich ist, und also nicht zeigt, daß er nicht auf ein Kollektiv selbst geht, sondern auf ein Wort, das ein solches bezeichnet. Gegen Kollektivum wie auch gegen Kollektivbezeichnung sowie Kollektivwort statt Totalitätsbezeichnung spricht ansonsten, daß man diese Termini in der Linguistik so definiert und verwendet, daß sie eine andere Pointe haben als Totalitätsbezeichnung . Lewandowski (1979, s. v.) erklärt Kollektivum mit der Paraphrase: »Sammelname, der als singularisches Substantiv eine Vielheit von konkreten Objekten als Einheit zusammenfaßt, z. B. Wald , Herde , Gebirge , Belegschaft «. Bußmann (1983, s. v.) erklärt: »Mittels bestimmter Ableitungsmittel […] gebildete Ausdrücke zur Bezeichnung einer Vielheit als Einheit, vgl. Berg vs. Gebirge , Bürger vs. Bürgerschaft bzw. Bürgertum . Unter [rein] semantischem Aspekt zählen auch Vieh , Ungeziefer , [und, ein kleiner Scherz der Verfasserin, auch] Regierung zu den Kollektiva.« Im Metzler-Lexikon Sprache (Schaeder 1993) wird erläutert : »Semant[isch] definierte Subklasse der Wortart Substantiv. K [ ollektiva ] bezeichnen eine Vielheit als Einheit ; sie stellen häufig Ableitungen dar [ … ], z. B. Gebirge (vs. Berg ), Lehrerschaft (vs. Lehrer), Menschheit (vs. Mensch), Geäst (vs. Ast), Regelwerk (vs. Regel); aber auch Lexeme [ anderen Typs ] wie Herde, Flotte, Obst, Publikum, Ungeziefer, Vieh.« Demnach wird von einer Kollektivbezeichnung per Definition gefordert, daß sie eine »Vielheit als Einheit« bezeichne. Was damit gemeint ist, dürfte aber nicht so ohne weiteres klar sein. Erstens: Vielleicht alle, sicherlich jedoch fast alle Entitäten haben Teile ( Komponenten) und können insofern als »Vielheiten« angesehen werden ; wie man weiß, gilt dies sogar für die Atome , die (daher ja die Bezeichnung) früher einmal als unteilbar galten. Deshalb wäre wohl in die Begriffsbestimmung der Kollektivbezeichnungen die Bedingung einzufügen, daß es sich um eine Vielheit gleichartiger Elemente handelt, die sie als »Einheit« bezeichnen. Diese Bedingung erfüllen alle prototypischen Kollektivwörter wie z. B. Wald (als Vielheit/Einheit von/aus Bäumen), Gebirge (von Bergen), Herde (Tieren).  – Zweitens : »Einheit« kann (u. a.) zweierlei bedeuten, nämlich einerseits soviel wie Zähleinheit i. S. alles dessen, »was als eins gezählt wird« (engl. unit ), andererseits – im Sinne der bekannten Charakterisierung von Gestalt , die mehr sei »als die Summe ihrer Teile« – soviel wie »ein gestalthaftes und/oder organisches oder systemisches Ganzes«. Einheit wird dann emphatisch verwendet zur Betonung einer ganzheitlichen, holistischen Sicht der Vielheit all der Elemente, die in eine »Einheit« integriert sind, statt nur additiv dazu gezählt zu werden. Daß dies Letztere gemeint ist, zeigen die Beispiele zu den o. a. Begriffserläuterungen. Irgendeine Vielzahl (Menge) gleicher Tiere ist noch lange keine Herde , da die Tiere vergesellschaftet zusammenleben und in diesem Sinne eine Einheit bilden müs-

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sen, damit sie als eine (echte) Herde gelten können. Ähnlich ist ein Wald nicht einfach eine Ansammlung von Bäumen (dieses würde eher schon auf einen Forst zutreffen, ist jedoch auch hier falsch), sondern ein »Ökosystem«, wie Biologen sagen würden, in dem allerdings die Bäume eine prominente Rolle spielen ; kein Wald ohne Bäume, aber auch nicht ohne Symbiose, die – zumindest heute – im Begriff des Waldes mitgedacht ist, jedenfalls bei ökologisch nicht vollkommen unbedarften Zeitgenossen. Aber auch schon früher hatte sich ein Wald erlebnishaft wie auch gestalthaft unterschieden von der Gesamtheit der Bäume, wie man sie z. B. in Parks, malerisch zu Gruppen angeordnet oder als markante Einzelexemplare, findet. Ähnlich ist auch eine Flotte keine beliebige Menge irgendwelcher Schiffe, die vielleicht zufällig irgendwo in einer Bucht vor Anker liegen, sondern sie ist (in der Hauptbedeutung dieses Wortes) ein Verband von Schiffen, in der Regel unter einem gemeinsamen Oberbefehl stehend. Und erst recht ist etwa die Familie – in der Hauptbedeutung dieses Wortes – etwas völlig anderes als nur die Gesamtheit (Menge) der Familienmitglieder. Allerdings kann dieses Wort – in anderer Bedeutung – auch die sozusagen nur numerische Gesamtheit aller ( lebenden und toten, nahen und entfernten) Verwandten bezeichnen, die zwar auch als »Einheit« gedacht werden kann, doch nicht muß. Fazit: Offenbar ist die nach Ausweis der zitierten Wörterbücher übliche Bestimmung des Begriffs der Kollektivbezeichnung eine holistische, ganzheitliche: Der Begriff kann demnach nur auf Wörter angewendet werden, die Vielheiten als »Einheiten« sensu pleno charakterisieren, so daß man sie besser Ganzheitsbezeichnungen nennen würde. Wenn dies zutrifft, besteht aber in der Terminologie der lexikalischen Semantik eine Lücke. Darum kann nämlich Kollektivbezeichnung nicht anstelle von Totalitätsbezeichnung gebraucht werden. Deshalb meine ich, daß die Einführung des Terminus Totalitätsbegriff ( Totalitätsbezeichnung ) oder eines synonymen Terminus zwecks Komplettierung des terminologischen Repertoires der lexikalischen Semantik eigentlich erwünscht sein müßte.8 Denn bei diesem Terminus ist die Pointe ja gerade, daß er keine »Einheit« ganzheitlicher Art voraussetzt. Er ist sozusagen ohne ontologisches commitment . Er kennzeichnet ein Wort lediglich als die Bezeichnung einer Vielheit, also einer »Einheit« nur im Sinne von »Zähleinheit«. Daß es Wörter gibt, die gerade dieses – und nur dieses – leisten, zeigen die Beispiele, die ich schon gegeben habe. Weitere Beispiele werden folgen.

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Die terminologische Alternative wäre, daß man bei der Definition von Kollektivbezeichnung ( Kollektivwort ) auf die Einschränkung verzichtet, daß mit einer Kollektivbezeichnung eine Vielheit »als Einheit« bezeichnet werde. Ferner auf die Einschränkung (bei Lewandowski), daß damit »konkrete Objekte« gemeint sein müssen. Für den alten Begriff Kollektivbezeichnung müßte man dann einen neuen Terminus erfinden oder aber künftig Kollektivbezeichnung jeweils mit dem Zusatz »i. w. S.« oder »i. e. S.« versehen.

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5 Eine Frage der Betrachtungsweise Ob es sich bei einem Wort um eine Ganzheits- oder (nur) eine Totalitätsbezeichnung handelt – das ist eine Frage der Sichtweise , die mit dem Gebrauch dieses Wortes einhergeht. Diesbezüglich ist mit Unterschieden in den Sprachgebräuchen unterschiedlicher sozialer Gruppen innerhalb von Sprachgemeinschaften zu rechnen, aber auch mit individuellen Unterschieden zwischen verschiedenen Sprechern und sogar mit Variation in der Wortverwendung auch von einzelnen Personen, die bei der Verwendung eines Wortes den Akzent einmal so, einmal anders setzen können, je nach Redezweck und Kontext. So ist eine Herde sensu pleno eine Gruppe vergesellschaftet lebender Tiere mit z. B. einer Leitkuh, einer Hierarchie (Hackordnung) u. ä., doch für manche Sprecher mag es sich bei einer Herde bloß um eine Vielzahl gleicher Tiere handeln, die zufallig gerade eine Gruppe bilden. Da ein solcher Unterschied in den Betrachtungsweisen sich auf die Kommunikation (von Nicht-Fachleuten) wohl nur selten störend auswirkt, dürfte er wohl auch nur selten wahrgenommen werden. Damit besteht aber auch die Möglichkeit nicht, daß der eine Sprachgebrauch durch Abgleich mit dem anderen sozusagen korrigiert wird. Mit dem Lexem Herde kann man sich auf einen und denselben Gegenstand beziehen, unabhängig davon, ob man ihn nun (mehr) als Einheit oder (mehr) als Vielheit wahrnimmt.9 Es ist linguistisch wichtig , daß der Unterschied in der Verwendung derartiger Wörter – ob als Ganzheits- oder als Totalitätsbezeichnung – in der Kommunikation oft unbemerkt bleibt, weil es auf den Unterschied oft gar nicht ankommt. Er ist also unauffällig. Ganz und gar nicht unauffällig ist hingegen dieser Unterschied bei jeder (metasprachlichen) Beschreibung eines Wortes – eben entweder als Ganzheits- oder nur Totalitätsbezeichnung. In den interessanten Fällen kann der Unterschied sogar als ideologischer gedeutet werden: Ideologie anzeigend, weil in Ideologie begründet. So z. B. bei Volk . Das WDG, das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (Klappenbach  & Steinitz 1977, s. v.) – zur Erinnerung : das große Wörterbuch der DDR – definiert Volk an erster Stelle als » Bevölkerung eines Landes, Gesamtheit der Bürger eines Staates«, also eindeutig als ein Totalitätswort. Bei Bevölkerung denkt man an Brecht, der ja einmal gesagt hat: »Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung … sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Wörtern ihre faule Mystik«.10 Bevölkerung ist, im Unterschied zu Volk , eindeutig (scheint mir) ein Totalitätsbegriff, kein Ganzheitsbegriff. Und erst an zweiter Stelle definiert das WDG Volk auch als Ganzheitsbegriff, jedoch nur in Bezug 9

Außerdem besteht ja stets die Möglichkeit von okkasionellen metaphorischen und metonymischen Begriffserweiterungen. So kann etwa Herde auch von einer Person, die das Wort meist sensu pleno gebraucht, durchaus manchmal auch als die Bezeichnung einer bloßen Vielheit von Tieren verwendet werden. Solche Okkasionellismen sind – solange sie dies bleiben – für die lexikalische Bedeutung einer Kollektivbezeichnung unerheblich.

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Bertolt Brecht, Gesammelte Werke. Band 18. Frankfurt a. M. 1967, 231.

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auf archaische, sozusagen obsolete Formen der Gesellschaft, nämlich mit der Paraphrase: »aus einer Vereinigung von Stämmen hervorgegangene ethnische Gemeinschaft mit vorkapitalistischer Produktionsweise, Völkerschaft«. Drittens aber wieder als Totalitätsbezeichnung , nämlich als Bezeichnung der » Gesamtheit der den werktätigen Teil der Gesellschaft umfassenden Klassen und sozialen Schichten«. Nach dem DUW, dem Duden Universalwörterbuch (1989, s. v.) – zur Erinnerung : ein vorzügliches Wörterbuch der BRD – dagegen ist ein Volk vor allem eine »durch gemeinsame [ Sprache ] Kultur und Geschichte verbundene große Gemeinschaft von Menschen« (die eckigen Klammern sind hier ausnahmsweise Teil des Zitats). Hier wird also – durch das Wort Gemeinschaft und das Wort verbunden – massiv auf die Einheit der Mitglieder eines Volkes hingewiesen, die sie erst zum Volk macht. Als Totalitätsbezeichnung erklärt dieses Wörterbuch dann Volk erst danach als »die Masse der Angehörigen einer Gesellschaft, der Bevölkerung eines Landes, eines Staates«, was (bei allen Unterschieden) der dritten Bedeutungsangabe des WDG entspricht (weitere Bedeutungsparaphrasen für noch andere Bedeutungen des polysemen Wortes folgen). Der Petit Robert (Robert 1967) erläutert peuple in der ersten von ihm angebotenen Bedeutungsparaphrase als » ensemble d’hommes vivant en société, habitant un territoire défini et ayant en commun un certain nombre de coutumes d’institutions«, also ganz eindeutig als Totalitätsbezeichnung , wobei alle nachfolgenden Spezifikationen dazu dienen, die Ähnlichkeit (Gleichheit) aller Elemente der so definierten Vielheit (von Personen) näher zu bestimmen ; nicht dazu, die Einheit (Ganzheit) der sozialen Entität selbst zu betonen, die sie in ihrer Gesamtheit bilden. Collins Cobuild Dictionary (1995) erklärt people (das ein interlinguales Synonym nicht nur von Volk ist, sondern auch von Leute ) in der hier einschlägigen Bedeutung mit dem Satz: » A people is all the men, women, and children of a particular country or race«, also ebenfalls in aller nur wünschbaren Klarheit als Totalitätsbezeichnung. Daß es sich bei solchen Unterschieden der Beschreibung in der Tat um ideologische Reflexe handeln kann, scheint (mir zumindest) auf der Hand zu liegen. Dies ist offensichtlich der Fall bei den Unterschieden zwischen den zitierten deutschen Wörterbüchern, die sich hier als repräsentativ erweisen für die repräsentativen Ideologien der (damals noch) beiden deutschen Staaten, deren Sprachgebrauch sie zu beschreiben hatten.11 Kann man auch den Unterschied von bundesdeutscher einerseits und andererseits französisch-englischer Erklärung von Volk , peuple , people als ideologisch deuten ? Jedenfalls entsprechen, indem sie die Synonyme von Volk – anders als das DUW – als Totalitätsbezeichnungen darstellen, das französische und das englische Wörterbuch dem Stereotyp unterschiedlicher Denkweisen, wie sie viele Deutsche ( Heterostereotyp ), besonders aber auch Franzosen und Engländer selber ( Autostereotyp ) für typisch französisch oder 11

Hier liegt also ideologische Polysemie vor i. S. von Dieckmann (1969, 70 ff.).

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typisch englisch halten : dem Stereotyp von französischer Rationalität, englischem common-sense , die alle beide jeder Art von »Mystik« abhold sind, wie sie dem deutschen Denken auto- wie heterostereotypisch eignet. Aufgrund einer Durchsicht einer Reihe anderer Bedeutungsparaphrasen (anderer Wörter) in den hier zitierten Wörterbüchern bin ich vorläufig der Meinung , daß an einer solchen Generalisierung etwas dran sein könnte. Dann wären die Unterschiede zwischen den Bedeutungsparaphrasen einerseits des DUW und andererseits der Wörterbücher des Französischen und Englischen Reflexe zwar nicht unterschiedlicher Ideologien, aber doch verschiedener Betrachtungs- und Denkweisen, also unterschiedlicher Mentalitäten. Ideologien und Mentalitäten von wem ? Vielleicht nur der WörterbuchverfasserInnen, vielleicht aber in der Tat der meisten oder sogar aller SprecherInnen einer Sprache, deren Ideologien und Mentalitäten in den jeweiligen Wörterbüchern dann getreulich abgespiegelt wären. Würde Letzteres zutreffen, dann müßten wir konstatieren, daß, wer deutsch spricht (und in diesem Sinne deutsch denkt), sich tatsächlich unter Volk etwas sehr Anderes vorstellt, als, wer französisch spricht (und denkt), unter peuple , und, wer englisch, unter people . Nämlich die einen eine Gemeinschaft (was im übrigen ein ideologisch höchst brisantes Wort ist), die anderen dagegen nur eine Gesamtheit , eine Vielzahl einzelner Personen, die zwar gemeinsame Eigenschaften haben können, aber nicht als »Einheit« angesehen werden. Aus diversen Gründen finde ich das nicht plausibel. Eine dritte Möglichkeit der Intetpretation der Wörterbuchbefunde wäre, daß man annimmt, daß in jeder der drei Sprachen beide Möglichkeiten des Verstehens (von Volk und ähnlichen Wörtern) existieren (und auch belegt werden könnten), daß jedoch die Angehörigen der einen Sprachgemeinschaft, wenn gezwungen (wie die WörterbuchverfasserInnen), sich für eine von den beiden Möglichkeiten zu entscheiden, andere Tendenzen haben, für die eine oder andere der Möglichkeiten sozusagen ein Bekenntnis abzulegen, als die Angehörigen der anderen Sprachgemeinschaft – ihrer jeweiligen intellektuellen Tradition entsprechend. Dies wird analog auch noch für andere Totalitätsbezeichnungen bzw. Ganzheitsbezeichnungen gelten – wie z. B. der Staat , das Recht , die Geschichte , die Politik , die Religion , die Industrie , die Wirtschaft usw. Denn auch die von diesen Wörtern bezeichneten Entitäten können als Vielheiten, aber auch als Ganzheiten verstanden werden, wenn auch wir als Intellektuelle dazu neigen, sie als Vielheiten zu sehen und so Hypostasierungen – von Nicht-Entitäten – zu vermeiden.

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6 Exkurs: Sammelbezeichnung , Substanzbezeichnung und Abstraktum Als ein Synonym von Kollektivum wird oft Sammelbezeichnung verwendet, manchmal auch noch Sammelname .12 In der Duden-Grammatik (Gelhaus 1995, 194) lautet die Erläuterung zu Sammelbezeichnungen ( Kollektiva ): »Die Sammelbezeichnungen sind singularische Substantive, mit denen einen Mehrzahl von Lebewesen oder Dingen benannt wird [ … ]: Herde ›Schar von bestimmten Säugetieren gleicher Art (Kühe, Schafe u. ä.), die in Gruppen zusammenleben‹ ; (entsprechend :) Familie, Flotte, Gebirge, Getreide, Laub, Mannschaft, Obst, Publikum, Schulklasse, Vieh, Volk, Wald.« Das ist mißverständlich, und zwar in zweifacher Hinsicht. Erstens ist es irreführend, Wörter wie Getreide , Laub , Obst mit Wörtern wie Familie , Flotte und Gebirge in eine Reihe zu stellen. Denn bei Wörtern wie Getreide handelt es sich um Substanzbezeichnungen , wie sie jetzt in der IDS-Grammatik heißen.13 Zwar besteht Getreide in der Tat in einer »Mehrzahl von Lebewesen oder Dingen«, nämlich einer Mehrzahl von Getreidekörnern. Aber der Witz bei dem Wort Getreide ist gerade, daß es nicht auf diese Körner und auf ihre Viehlzahl abhebt, sondern auf die Substanz oder Masse oder den »Stoff«, den sie bilden. Man sagt »viel Getreide« und »wenig Getreide« wie »viel Wasser« oder »wenig Wasser«, und Getreide wird gewogen oder auch (so war es früher) mit einem Hohlmaß gemessen (z. B. mit einem »Scheffel«); man zählt nicht die Körner. Sowohl syntaktisch als auch semantisch ist Getreide wie Mehl und wie Wasser , also nicht wie Flotte und Familie . Eisenberg (1989, 182) urteilt: » Sammelname ist keine grammatische Kategorie«. Dem ist nur hinzuzufügen: eine semantische auch nicht. Eine Masse (Substanz) ist etwas grundsätzlich Anderes als eine Menge . Darum sollte man auf die begriff liche Zusammenfassung von Substanzbezeichnung und Totalitätsbezeichnung (oder Kollektivbezeichnung ) ganz verzichten. Sammelbezeichnung wäre dann frei für andere Verwendung. Zweitens nämlich ist das Wort Sammelbezeichnung hier auch noch insofern mißverständlich, als es jedenfalls in einigen Fachsprachen (einigen Fachmetasprachen) einen Sprachgebrauch zu geben scheint, wonach damit betont wird, daß es sich bei einer so beschriebenen Bezeichnung nicht um einen Terminus des jeweiligen Faches handelt. So z. B. finde ich in meinem Meyers Großen Taschenlexikon (1981) s. v. Öle : »Sammelbez. für bei Raumtemperatur flüssige, wasserunlösl., viskose organ. Verbindungen, z. B. die 12

So nicht nur von Lewandowski (s. o.). Sammel name, Gattungs name und Stoff name scheinen mir insofern nicht gut, als man in der deutschen Linguistik Substantive heute sonst nicht mehr Namen nennt. Namen sind im Deutschen heute nur noch Eigennamen . Am einfachsten wäre es vielleicht, Stoff namen, Gattungs namen usw. durch Stoff nomen, Gattungs nomen usw. zu ersetzen.

13

Zifonun et al. 1997, 741. Der Terminus Substanzbezeichnung alterniert hier mit Stoffname , Substanzausdruck , Substanznomen (ibid., 32, 1955). Stoff bezeichnung gebraucht die Duden-Grammatik (Gellhaus 1995, 194), Stoffname , Stoffsubstantiv , Kontinuativum sowie mass term werden von Eisenberg (1989, 176 f. u. ö.) erwähnt und verwendet.

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fetten Öle [ … ], die Mineralöle und die chem. sehr uneinheitl. ätherischen Öle.« Hier wird mit Sammelbezeichnung offensichtlich darauf hingewiesen, daß es keinen chemischen Begriff gibt, dem dies Wort (der Umgangssprache und der Sprache der Technik) entsprechen könnte. Wenn dies zutrifft, dann besagt Sammelbezeichnung , daß – in der Sicht einer Wissenschaft wie der Chemie – ein Wort ein Pseudo-Terminus ist, unter den Heterogenes subsumiert wird und der also nur ein Sammelsurium bezeichnet. Sammelbezeichnungen in diesem Sinn sind auch Wörter wie Getreide , Obst , Vieh (und z. B. Unkraut oder Ungeziefer ), insofern sie keine (biologischen) Termini sind. So läßt sich Getreide zwar sinnvoll erklären etwa mit der Paraphrase: »Pflanzen, die angebaut werden, um aus ihren in Ähren enthaltenen Körnern Mehl, Schrot o. ä. zu gewinnen (z. B. Hafer, Roggen, Weizen)« (Duden Universalwörterbuch 1989, s. v.), Obst mit »eßbare süße, meist saftige Früchte bestimmter Bäume und Sträucher« (ibid., s. v.). Aus der Sicht der Produzenten und der Konsumenten sind Getreide und Obst normale, sinnvolle und nützliche Hyperonyme für einerseits Hafer, Roggen, Weizen usw., andererseits Äpfel, Birnen, Pflaumen usw., wie die Wörterbuchdefinitionen zeigen. In der Perspektive der Botanik handelt es sich aber bei Getreide nicht um eine biologisch bestimmbare Art von Gräsern (oder deren Samen), bei Obst nicht um Früchte einer biologisch bestimmbaren Art von Pflanzen. Botanisch gesehen sind darum Getreide und Obst in der Tat nur Sammelbezeichnungen. ( Womit es jedoch natürlich nichts zu tun hat, daß die beiden Wörter, da sie polysem sind, außerdem noch als Substanzbezeichnungen fungieren. Das zeigt sich an Wörtern wie z. B. Hafer , Roggen , Weizen : gleichfalls Substanzbezeichnungen, aber – auch im Sinne der Botanik – keine Sammelbezeichnungen in der hier erläuterten Bedeutung dieses Wortes.) Semantisch sind deshalb Herde , Familie , Flotte usw. (Kollektivbezeichnungen) auch in dieser Hinsicht völlig anders zu analysieren als Getreide , Obst , Vieh usw. (Sammelbezeichnungen in der Sicht der Biologie). Vielleicht ist der Begriff der Sammelbezeichnung (im zuletzt beschriebenen Sinne) auch für die Fachmetasprache der Sprachwissenschaft von Nutzen. Auch für sie besteht ja vielleicht das Bedürfnis, einen Terminus zu haben, der bestimmte Wörter als Bezeichnungen von Sammelsuria kennzeichnet. Eine Sammelbezeichnung (in diesem Sinne) wäre beispielsweise das Wort Sammelbezeichnung (in dem zuerst beschriebenen Sinne) selber. Ein weiterer Pseudo-Terminus der Linguistik  – und also eine Sammelbezeichnung  – ist Konnotation , wie oft verwendet: ganz heterogene Phänomene werden mit dem Wort Konnotation in einen Topf geworfen, so das Fazit einer Studie von Dieckmann (1979). Eine linguistische Sammelbezeichnung liegt, so scheint mir, auch vor in dem Wort Abstraktum . Die Duden-Grammatik (Gelhaus 1995, 192) erläutert es relativ ausführlich: Abstrakta [ …] nennt man die Substantive, mit denen etwas Nichtgegenständliches bezeichnet wird, etwas Gedachtes ( Begriffe, man spricht auch von Begriffs-

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wörtern) : Menschliche Vorstellungen: Geist , Seele . Handlungen: Schlag , Wurf , Schnitt , Boykott . Vorgänge: Leben , Sterben , Schwimmen , Schlaf , Reise . Zustände: Friede , Ruhe , Angst , Liebe , Alter . Eigenschaften: Würde , Verstand , Ehrlichkeit , Krankheit , Dummheit , Länge . Verhältnisse oder Beziehungen: Ehe , Freundschaft , Nähe , Unterschied . Wissenschaften, Künste: Biologie , Mathematik , Musik , Malerei . Maß- und Zeitbegriffe: Meter , Watt , Gramm ; Jahr , Stunde , Mai . Angesichts dieser Aufzählung dürfte sich der Eindruck eines Sammelsuriums von selbst einstellen. Damit muß ich mich vorerst zufrieden geben, denn ich kann in diesem Beitrag nicht darlegen, inwiefern er nicht trügt. Und daß der Begriff (das Wort) Abstraktum – wie auch immer man ihn versteht – in Bezug auf manche der hier angeführten Wörter offensichtlich sogar falsch ist. Ein bestimmter Schlag z. B. ist genauso »konkret« wie z. B. ein bestimmter Apfel . »Konkret« sind ja nicht nur körperliche Gegenstände. Umgekehrt ist aber auch »der Apfel« – als Bezeichnung einer Art von Früchten – ganz genauso »abstrakt« wie z. B. »der Schlag« – als Bezeichnung einer Art von Bewegungen ; Ágel (1996, 63) variierend, könnte man hier sagen : »Den Apfel« kann man nicht essen. Eine Hoffnung , die ich an den Terminus Totalitätsbezeichnung knüpfe, ist, daß er dazu beitragen könnte, die Bedeutungsvielfalt mancher sogenannter Abstrakta zu klären.

7 Wissenschaft und Linguistik als Totalitätsbegriffe In der Fachsprache der Linguistik gibt es zahlreiche Totalitätsbegriffe. Einer davon ist schon der Begriff Linguistik selber. Linguistik wird nämlich erklärt als »die Wissenschaft von der Sprache« (so z. B. von Linke et al. 1991, 1 ), also, wie nicht anders zu erwarten, als eine Wissenschaft. Woraus folgt, daß, wenn Wissenschaft ein Totalitätsbegriff ist, dann auch Linguistik . Daß es sich bei dem Ausdruck die Wissenschaft um einen Namen für die »Gesamtheit der ( aller ) Wissenschaften« handelt, dürfte allen WissenschaftlerInnen klar sein ; nur Nicht-WissenschaftlerInnen denken sich vielleicht »die« Wissenschaft als ein System, als Einheit. Nicht so evident ist aber vielleicht, daß auch eine Wissenschaft eine Totalitätsbezeichung darstellt. Darum folgender Versuch der Plausibilisierung. Wissenschaft scheint in der deutschsprachigen Lexikographie und Enzyklopädiegraphie durchweg erklärt zu werden als »Erkenntnistätigkeit« (Klappenbach & Steinitz 1977, s. v.), »forschende Tätigkeit« (Duden Universalwörterbuch 1989, s. v.) oder kurz als »Forschung«. So erläutert Lewandowski (1979, s. v.) Linguistik als »sprachwissenschaftliche Forschung«. Forschung wiederum ist aber hier wohl zweifelsfrei eine Totalitätsbezeichnung , und zwar als Bezeichnung der Gesamtheit von Forschungsaktivitäten in Bezug auf einen Objektbereich, in diesem Fall denjenigen der Sprache. Eine einzelne

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Recherche oder Untersuchung kann hier nicht gemeint sein.14 Forschung besteht also wohl in den (d. h. in allen) Forschungstätigkeiten. Und auch Tätigkeit (sowie Erkenntnistätigkeit ) in o. a. Zitaten geht ja offensichtlich nicht auf jeweils eine Handlung ; also wohl auf die Gesamtheit aller Tätigkeiten, die – jeweils einschlägige – Erkenntnis schaffen. Im Petit Robert (Robert 1967) finde ich science (im Sinne von, wie es ausdrücklich heißt, une science sowie les sciences ) ganz anders erklärt als man im deutschen Sprachraum Wissenschaft zu erklären sich angewöhnt hat. Dies, obwohl es sich bei Wissenschaft und science doch wohl um interlinguale Synonyme (sensu stricto) handeln dürfte. Une science ist laut Petit Robert (Robert 1967, s. v.) ein » corps de connaissances« (mit bestimmten spezifizierenden Eigenschaften, die ich hier nicht mitzitiere), so in der Wissenschaftssprache ; oder auch, so in der Umgangssprache, ein »ensemble de connaissances« (die ebenfalls näher bestimmt werden). Also ist eine Wissenschaft in beiden Definitionen als Gesamtheit erklärt.15 Und zwar als Gesamtheit von Wissensbeständen oder -elementen oder auch von Erkenntnissen, so läßt sich der französische Plural connaissances vielleicht ganz gut wiedergeben. Wenn man dessen eingedenk ist, daß es sich bei Wissen (in dem hier gemeinten Sinne) gleichfalls um eine Totalitätsbezeichnung handelt ( Wissen als Gesamtheit des Gewußten), dann kann man den Sinn der französischen Definitionen vielleicht resümieren mit der Formulierung : »(Eine) Wissenschaft ist (ein bestimmtes) Wissen « .16 Linguistik wäre demnach die »Gesamtheit alles dessen, was die Linguistinnen und Linguisten über Sprache (oder: Sprachen) wissen«. Angesichts der Zweifelhaftigkeit und der Umstrittenheit von vielen linguistischen Aussagen wäre es vielleicht nicht falsch, diese Begriffsbestimmung zu erweitern um den Zusatz: »oder auch zu wissen meinen«. Wie dem auch sei, ob als Hyponym von Forschung oder ob von Wissen , jedenfalls ist demnach Linguistik als der Name einer »Wissenschaft« – der Wissenschaft von Sprache oder Sprachen – ein Totalitätsbegriff, eine Totalitätsbezeichnung. Dieses wäre nur dann anders, wenn die Linguistik eine Wissenschaft in dem Sinn wäre, daß man sie als eine Theorie bzw. als ein System (von Erkenntnissen oder von wahren Sätzen) charakterisieren könnte. Da sie aber weit davon entfernt ist, a) ein System und erst recht b) ein System zu sein, ist die real existierende Linguistik heute wohl tatsächlich angemessen als Gesamtheit – statt als »System« – zu beschreiben, wobei ich hier offen lassen möch14

Forschung ist laut WDG (1967, s. v.) auch eine »gründliche, systematische, wissenschaftliche Untersuchung«.

15

Mein französisch-deutsches Wörterbuch (Grappin 1994, s. v.) übersetzt corps wie ensemble (u. a.) mit dem Wort Gesamtheit .

16

Collins Cobuild English Dictionary (1995, s. v.) erklärt zwar a science (u. a.) als »the study of some aspect of human behavior« – hier entspricht study dem deutschen Forschung – aber science , wenn artikellos verwendet, als »the study of the nature and behavior of natural things and the knowledge that we obtain about them« – also zugleich als Forschung und Wissen (wenn auch eingeschränkt auf science als Naturwissenschaft).

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te, ob nun von »Forschungen« oder »Erkenntnissen« oder auch nur von »Meinungen« (die natürlich wohlbegründet und richtig sein können) in Bezug auf Sprache und auf Sprachen.17 Oder auch von alledem zusammen. Denn es ist zumindest nicht ganz offensichtlich und von vornherein auch gar nicht sehr wahrscheinlich, daß man in der Linguistik die Bezeichnung Linguistik als wohldefinierten Terminus verwendet. Wenn diese Bedingung aber nicht erfüllt sein sollte, dann wäre es auch nicht ausgeschlossen, daß im Sprachgebrauch der Linguistik Linguistik bloß eine Sammelbezeichnung für sehr Unterschiedliches sein könnte.

8 Andere linguistische Totalitätsbegriffe Andere linguistische Termini kann ich hier nicht argumentativ als Totalitätsbezeichungen darstellen. Ich möchte aber einige von ihnen – die wichtigsten – nennen. Eine erste Gruppe bilden die Bezeichungen (Begriffe) für die linguistischen Subdisziplinen, als da sind Phonologie , Phonetik , Morphologie , Syntax , Grammatik , Lexikologie , Semantik , Wortsemantik , Satzsemantik , Textsemantik , Onomasiologie , Semasiologie , Sprachgeschichte , Psycholinguistik , Soziolinguistik , Dialektologie , Fachsprachenforschung , Sprachtheorie , Hermeneutik und Pragmatik usw. Als Bezeichnungen für die verschiedenen Teilwissenschaften der Sprachwissenschaft bezeichnen diese Termini Teilmengen der Gesamtheit Linguistik ; Gesamtheiten (Mengen), wie gesagt, von Erkenntnissen oder auch Forschungsaktivitäten. Wie an der Bezeichnung Sprachtheorie (aber auch Grammatiktheorie , Sprechhandlungstheorie , Kasustheorie ) abzulesen, wird auch Theorie als Totalitätsbezeichnung verwendet. Während eine Theorie im wissenschaftstheoretischen Sinne des Begriffes ein System von Hypothesen (oder: Sätzen) sein muß, verwenden wir in der Linguistik Theorie auch zur Bezeichnung der Gesamtheit der konkurrierenden Theorien in bestimmten Wissenschaftsbereichen. So bedeutet beispielsweise, da sich in der Linguistik bisher keine einzelne der zahlreichen Grammatiktheorien durchgesetzt hat, die Grammatiktheorie , wenn ohne anders einführenden Kontext gebraucht, sogar immer »die Gesamtheit der Grammatiktheorien«. Eine zweite Gruppe von Totalitätsbezeichnungen der Linguistik bilden Termini, mit denen Gesamtheiten sprachlicher Einheiten oder anderer sprachlicher Entitäten be17

Alternativ wäre Linguistik als ein institutionalisierter Diskurs über Sprache sowie Sprachen zu bestimmen, wobei institutionalisiert mit soziologischen Kategorien zu erklären wäre. Da jedoch auch Diskurs (in der hier gemeinten Bedeutung des Wortes) ein Totalitätsbegriff ist, bliebe es auch dann dabei, daß Linguistik als Totalitätsbezeichnung zu verstehen wäre. Übrigens wird Linguistik metonymisch – wiederum als Totalitätsbegriff – auch verwendet, um die Gesamtheit aller SprachwissenschaftlerInnen zu bezeichnen, so z. B. wenn man sagt: »Darüber ist sich die Linguistik nicht einig«.

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nannt werden, wie vor allem Phoneminventar ; Lexik und Wortschatz (als Bezeichnung der Gesamtheit aller Wörter oder auch Lexeme einer Einzelsprache, aber auch der Sprache eines Sprechers oder einer Sprechergruppe); Wortfeld , Paradigma (als Bezeichnungen von Gesamtheiten von äquivalenten sprachlichen Einheiten). Ähnlich sind unter Morphologie , Syntax , Grammatik nicht nur linguistische Teildisziplinen zu verstehen, sondern außerdem auch Gesamtheiten von sprachlichen Regelmäßigkeiten oder »Regeln«, wie man, solche Regeln als real hypostasierend, gern sagt. Meistens allerdings denkt man sich Morphologie , Syntax und Grammatik einer Sprache als Systeme ; dann sind diese Bezeichnungen holistische. Eine dritte Gruppe bilden Bezeichnungen wie z. B. Sprachverhalten (als Bezeichnung einer Gesamtheit von sprachlichen Verhaltensokkurrenzen, aber auch Verhaltensweisen), Sprachhandeln (Bezeichnung für eine Gesamtheit einzelner Sprechakte, aber auch von Sprechakttypen), Interaktion , Kommunikation ( beides wohl nicht mehr erläuterungsbedürftig ), Performanz (als die Bezeichnung der Gesamtheit aller Einzelperformanzen, d. h. Äußerungen, d. h. Äußerungshandlungen), sowie parole . Manche dieser Bezeichnungen können aber auch je individuelle Einzelereignisse meinen. Jedenfalls für alle, die sie nicht als ein System verstehen, ist auch Kompetenz eine Totalitätsbezeichnung , nämlich als Bezeichnung der Gesamtheit all der vielen Einzelfähigkeiten und Kenntnisse, die zusammen die »Beherrschung« oder »Kenntnis« einer Sprache bilden. Unter anderem setzt sich diese Kompetenz zusammen aus der Kompetenz in der Verwendung eines Lexems a1 und der Kompetenz in der Verwendung eines Lexems a2 und der Kompetenz in der Verwendung eines Lexems a3 usw. (bis an , wobei n für durchschnittliche SprecherInnen einer Sprache eine fünfstellige Zahl sein dürfte ).18 Alle diese Einzelkompetenzen müssen einzeln, sozusagen Stück für Stück, erworben werden, jedes Lexem, jede Regelmäßigkeit (bzw. »Regel«) einer Sprache kann nur einzeln gelernt werden, wenn auch Ähnlichkeiten unter ihnen das Erlernen vereinfachen. Woraus erhellt, daß es sich auch bei den Begriffen Spracherwerb und Lernen , wie sie in der Linguistik meistens gebraucht werden, um Totalitätsbegriffe handelt. Jeder Spracherwerb besteht in (überaus zahlreichen) je einzelnen Lernvorgängen. Darum sind Erwerb und Lernen Totalitätsbezeichnungen auch schon dann, wenn diese Wörter so verwendet werden, daß sie sich auf nur eine Person beziehen. Spricht man etwa von » dem Spracherwerb des Kindes«, dann bezieht man sich auf die Gesamtheit aller Spracherwerbe aller Kinder. Spricht man einfach nur von » dem Spracherwerb«, dann auf alle Spracherwerbe aller Menschen aller Zeiten aller Länder. Dies ist lediglich ein Effekt des generischen Artikels. Daß jedoch auch mit » ein Spracherwerb« eine Gesamtheit (ein18

Nach der Studie von Augst et al. (1977, 13) verfügte ein bestimmtes Kind (es handelt sich um eine Einzeluntersuchung ) von noch nicht sechs Jahren bereits über ca. 5 000 (aktiv) bzw. 27 000 ( passiv) Wörter, seine Eltern beide über mehr als 90 000 ( passiv) Wörter.

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zelner Erwerbsvorgänge) gemeint ist (d. h. : sinnvollerweise wohl gemeint sein müßte), dürfte in der Linguistik nicht durchweg bekannt sein. Auch der Begriff Wissen mit seinen Unterbegriffen wie Sprachwissen (oft ja synonym gebraucht mit sprachliche Kompetenz ) und Weltwissen , episodisches und enzyklopädisches Wissen sowie Alltagswissen ist ein wichtiger Totalitätsbegriff der Linguistik. Jedes Wissen ist ja – darauf habe ich schon hingewiesen – die Gesamtheit des jeweils Gewußten, d. h. eine Gesamtheit von Wissenselementen. Weitere Totalitätsbegriffe, die man in der Linguistik oft verwendet, sind z. B. Sprachgemeinschaft (sowie alle anderen Bezeichnungen für soziale Gruppen wie Schicht , Klasse , Bürgertum etc. sowie soziale Gruppe selber), Sprachgeschichte (als Bezeichnung der Gesamtheit aller sprachlichen Veränderungen sei es einer Einzelsprache, sei es aller Sprachen), Korpus (als Bezeichnung einer Gesamtheit von einzelnen Belegen, Texten, Äußerungen, Sätzen, Zetteln, Karteikarten, Daten), Diskurs (als Bezeichnung einer Gesamtheit von Äußerungen oder Texten mit bestimmten Eigenschaften).19 Ich war überrascht, auch Kontext (einer Äußerung bzw. eines Textes) als Totalitätsbezeichnung definiert zu finden, nämlich als Bezeichnung der »Gesamtheit aller sprachlich und nichtsprachlich (z. B. gestisch, mimisch) erzeugter Inhalte [ … ], die Kriterien für einen (kontext)angemessenen Sinnerzeugungsprozeß liefern« (Ágel 1995, 15), d. h. der Gesamtheit sämtlicher verstehensrelevanter Informationen die von einer Äußerung (einem Text) selber »erzeugt« werden (in einer Spezialbedeutung von erzeugen ). Vilmos Ágel hat mich darauf hingewiesen, daß auch Valenz als Totalitätsbezeichnung definiert wird: Die Valenz eines Lexems ist »the total of its governing slots with their correlates« bzw. »die Menge seiner grammatischen Leerstellen« (Lehmann 1991, 16 ; 1992, 452). Busse und Hundsnurscher definieren – treffend und erhellend, wie ich finde – »die« Bedeutung eines sprachlichen Zeichens bzw. eines Wortes als »die Gesamtheit der Verwendungsmöglichkeiten eines Zeichens« (Busse 1993, 272) und als »die Gesamtheit seiner Gebrauchsweisen in Äußerungsformen« (Hundsnurscher 1993, 246 ). Nur im Grenzfall monosemer Zeichen wäre demnach »die« Bedeutung eines Wortes identisch mit nur einer Bedeutung. Aber auch eine Einzelbedeutung wird bzw. wurde in der Linguistik oft als Gesamtheit verstanden: als Gesamtheit (Menge) von Bedeutungskomponenten (features). – Und so lassen sich wahrscheinlich in der Linguistik auch noch manche anderen Totalitätsbezeichnungen auf finden. Weitere Totalitätsbegriffe scheinen ihrer Prägung noch zu harren. So wird der »Gegenstandsbereich« der Gesprächsanalyse vorerst nur beschrieben (und noch nicht mit einem Wort benannt) als »die Gesamtheit authentischer Gespräche und Interaktionen« (Brünner & Fiehler 1998, 14).

19

So erklärt von Busse  & Teubert (1994) sowie Hermanns (1995 a, 86 – 91).

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9 Sprache als Totalitätsbezeichnung Zu Sprache erklären linguistische Nachschlagewerke, Sprache sei »eine typisch menschliche und zugleich gesellschaftliche Erscheinung , das primäre System von Zeichen, Werkzeug des Denkens und Handelns, das wichtigste Kommunikationsmittel« (Lewandowski 1980, s. v.), sie sei »auf mentalen Prozessen basierendes, gesellschaftlich bedingtes, historischer Entwicklung unterworfenes Mittel zum Ausdruck bzw. Austausch von Gedanken, Vorstellungen, Erkenntnissen und Informationen, sowie zur Fixierung und Tradierung von Erfahrung und Wissen« (Bußmann 1983, s. v.), sie sei »wichtigstes und artspezifisches Kommunikationsmittel der Menschen, das dem Austausch von Informationen ›dient‹ sowie epistemische [ … ], kognitive und affektive Funktionen erfüllt« (Glück 1993). Alle diese Erklärungen sind holistisch, insofern sie »Sprache« (ohne die bzw. eine ) als ein System und ein Werkzeug (Lewandowski), als ein Mittel (Lewandowski, Bußmann, Glück) erklären. Sie erwähnen dabei nicht, daß dieses »eine« Mittel jeweils die Gesamtheit ist von vielen Mitteln, insofern vergleichbar nicht mit einem Werkzeug , sondern einem – allerdings gigantisch großen – Werkzeugkasten .20 Die Auffassung , wonach eine Sprache ganzheitlich als » ein System« betrachtet werden müsse, ist in der Sprachwissenschaft des 20.  Jahrhunderts wohl die dominante. Doch es gibt in ihr auch Traditionen, wonach Sprachen als Gesamtheiten verstanden werden. Sie beginnen schon im 18. Jahrhundert (oder früher). Ich zitiere, was ich davon bislang habe finden können. 1. Adelung (1780, s. v.) erklärt Sprache (u. a.) »als ein Concretum [ ! ], folglich mit dem Plural« und zwar »in engerer und gewöhnlicherer Bedeutung« mit der Paraphrase : »der ganze Inbegriff von Wörtern und Redensarten, vermittelst deren die Glieder eines Volkes einander ihre Gedanken mittheilen [ … ]«. ( Inbegriff bezeichnet, wie von Adelung (1775, s. v.) erläutert, » alle in einem Raume beysammen befindliche Dinge als ein Ganzes betrachtet«.) 2. Humboldt (1835, 418) bestimmt Sprache , wie bekannt, zunächst als »die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen«. Dieses sei zwar, streng genommen, nur »die Definition des jedesmaligen Sprechens « ; doch »im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als die Sprache ansehen«. Denn  – so Humboldt weiter – nur das Sprechen existiere wirklich »in dem zerstreuten Chaos von Wörtern und Regeln, welches wir wohl eine Sprache zu nennen pflegen« (ibid.). Demnach ist für Humboldt die Sprache die Totalität aller Äußerungen, eine Sprache

20

Wittgenstein (1953, § 11) benutzt diesen Vergleich, um damit die Vielfalt der Funktionen der Sprachzeichen (Wörter) plausibel zu machen. Ich verwende ihn hier nur, um auf die Vielzahl der Werkzeuge hinzuweisen, in der sich die sprachlichen und nicht-sprachlichen Werkzeugkästen ganz erheblich unterscheiden.

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ist dagegen eine Gesamtheit von Wörtern und von Regeln, und zwar eine – wie er drastisch sagt – chaotische Gesamtheit. 3. Hermann Paul  – kein Freund von Definitionen  – erklärt sozusagen im Vorübergehen zwar nicht Sprache allgemein, immerhin aber »die Sprache des einzelnen« als »also die Gesamtheit der Sprachmittel über die er verfügt«, außerdem als »die Gesamtheit der in der Seele an einander geschlossenen auf die Sprechtätigkeit bezüglichen Vorstellungsgruppen mit ihren mannigfach verschlungenen Beziehungen« (Paul 1880, 37, 39). Da er ausführt, daß wir »Dialekte, Sprachen, Sprachfamilien« – für Paul sind das theoretische Konstrukte – dadurch bilden, daß wir »die Sprachen einer bestimmten Anzahl von Individuen zu einer Gruppe zusammenfassen« (ibid., 37), kann man daraus vielleicht schließen, daß für Paul auch diese Sprachen als Gesamtheiten sprachlicher Mittel (oder auch »Vorstellungsgruppen«) angesehen werden können. Daß es der Sprachwissenschaft um Gesamtheiten geht, betont Paul noch an anderer Stelle : »Das wahre Objekt für den Sprachforscher sind [ … ] sämtliche Äußerungen der Sprechtätigkeit an sämtlichen Individuen in ihrer Wechselwirkung auf einander« (ibid., 24). Wenn man annimmt, daß »das wahre Objekt« der Sprachforschung das ist, was wir oft die Sprache nennen, dann folgt daraus eine andere Definition von Sprache als die vorherige. Sie ist dann das, was Saussure langage genannt hat (s. Punkt 7). 4. Wegener (1885, 1) sagt, Sprache sei »nur ein Collectivname , also eine Abstraction, für gewisse Muskelbewegungen des Menschen, welche mit einem bestimmten Sinne bei vielen Personen einer gesellschaftlichen Gruppe verknüpft sind«. »Alles dieses« bilde »einen Teil der gesammten psychischen und physischen Lebensäußerungen des Menschen«. Danach wäre also Sprache ein Totalitätsbegriff für eine bestimmte Teilmenge psychophysischer Funktionen, nämlich von Sprechbewegungen, die mit Denkvorgängen einhergehen. 5. Gabelentz (1891, 3) erklärt Sprache als Synonym 1) von Rede , 2) von sprachliche Varietät, wie wir es vielleicht heute nennen würden, und 3) von Sprachvermögen . Rede ist »die Sprache als Erscheinung«, d. h. »als jeweiliges Ausdrucksmittel für den jeweiligen Gedanken«. Sodann aber »gilt die Sprache als eine einheitliche Gesammtheit solcher Ausdruckmittel für jeden beliebigen Gedanken. In diesem Sinne reden wir von der Sprache eines Volkes, einer Berufsklasse, eines Schriftstellers usw. Sprache in diesem Sinne ist nicht sowohl [ in heutigem Deutsch: nicht nur ] die Gesammtheit aller Reden des Volkes, der Classe oder des Einzelnen, als vielmehr [d. h.: sondern vor allem auch ] die Gesammtheit derjenigen Fähigkeiten und Neigungen, welche die Form, derjenigen sachlichen Vorstellungen, welche den Stoff der Rede bestimmen«. Eine Sprache ist für Gabelentz demnach a) eine Gesamtheit von Äußerungen (sozusagen ein imaginäres Korpus), b) eine Gesamtheit von Fähigkeiten (Kompetenz)

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und von Neigungen (Dispositionen), die sich auf die Form (der Äußerung ) beziehen, aber auch c) eine Gesamtheit von Begriffen und Ideen (»Vorstellungen«). Nach dem Deutschen Wörterbuch (Grimm & Grimm 1905, s. v. Sprache , 2729) bezeichnet Sprache (u. a.) »die gesamtheit der ausdrucksmöglichkeiten (wörter, wortformen, wortfügungen), die dem sprecher zur verfügung stehen«, jedoch nicht nur ihm gehören, sondern immer »einem kreise von menschen, die eben dadurch eine sprachliche gemeinschaft bilden. sprache ist also der schatz [ eine weitere Totalitätsbezeichnung ] von ausdrucksweisen, der innerhalb eines solchen kreises allgemein gebraucht und verstanden wird«. Saussure (1916, 112) erklärt – als ob schon er, und nicht erst Bloomfield, Behaviorist gewesen wäre – die Sprache ( la langue ) mit dem Satz : »Elle est l’ensemble des habitudes linguistiques qui permettent à un sujet de comprendre et de se faire comprendre«, d. h. als Gesamheit von sprachlichen Gewohnheiten. Er versäumt jedoch nicht, darauf aufmerksam zu machen, daß diese Definition nicht ausreicht (ibid., 112 f.): die Sprache ist auch a) sozial (»il faut une masse parlante pour qu’il y ait une langue«) und b) historisch (»en dehors de la durée, la réalité linguistique n’est pas complète«). – Ferner erklärt Saussure (1916, 20) Sprache aber auch in anderem Sinne als Gesamtheit, nämlich als langage , d. h. als etwas, was den Stoff, den Gegenstandsbereich, den Phänomenbereich der Linguistik ausmacht: »La matière de la linguistique est constituée [ … ] par toutes les manifestations du langage humain«. Daher wird von ihm (ibid., 112) langage auch als das »Totalphänomen« beschrieben, aus dem er dann la langue und la parole ausgrenzt: »[ le ] phénomène total que représente le langage «. Totalphänomen ist dabei zu erklären als »Totalität der Phänomene«, da ja die Totalität als solche nicht wahrnehmbar und also kein Phänomen ist. Saussure hat (ibid., 31) selbst darauf hingewiesen, daß im Deutschen das Wort Sprache nicht nur dem Wort langue , sondern auch dem Wort langage entspreche. Bloomfield (1926, 26) definiert in seinen »Postulaten« eine Sprache gleichfalls als Gesamtheit: »The totality of utterances that can be made in a speech-community is the language of that speech-community«. Diese Definition hat Bloomfield allerdings in seinem Hauptwerk Language (1933) nicht wiederholt ; dort erscheint der Begriff language noch nicht einmal im Register. Gardiner (1932, 88) erklärt : »Language is a collective term, and embraces in its compass all those items of knowledge which enable a speaker to make effective use of word-signs«. Bloch (1948, 7) definiert Sprache zwar in Anlehnung an Bloomfield, aber eigenständig : »The totality of the conventional auditory signs by which the members of a speech-community interact is the language of the community«. (Wieder anders definiert er (ibid.) Idiolekt : »The totality of the possible utterances of one speaker at one time in using a language to interact with one other speaker is an idiolect «.)

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11. Chomsky (1957, 13) definiert in seinem Erstlingswerk, Syntactic Structures , eine Sprache als Menge von Sätzen. »From now on«, so schreibt er, »I will consider a language to be a set (finite or infinite) of sentences.« Darin folgt er, offensichtlich ohne dies zu wissen, Wittgenstein, der, ebenfalls in seinem Erstlingswerk ( Wittgenstein 1921, § 4 001), den Begriff der Sprache ( Wittgenstein sagt allerdings die Sprache ) definiert hat mit dem Satz : »Die Gesamtheit der Sätze ist die Sprache«. Wer hat nun recht ? Wenn man eine Definition von Sprache geben will, dann muß man sich entscheiden. Sind »Sprachen« Systeme ? Oder sind sie nur Totalitäten, Gesamtheiten ? Das sind, wie ich meine, falsche Fragen. Mir scheint, daß wir aus den Konfusionen, die sich in der Linguistik mit dem Wort Sprache verbinden, nur so herauskommen, daß wir den Versuch aufgeben, Sprache überhaupt als die Bezeichnung einer Entität zu definieren. Das Ergebnis ist nur schlechte Metaphysik: eine Art von Wesensschau, die also darauf abzielt, das »Wesen« des »Gegenstandes« Sprache zu erkennen, ohne daß man zuvor geklärt hätte, welchen Gegenstand man überhaupt meint. Offensichtlich sind es doch verschiedene Entitäten, die mit o. a. Definitionen bestimmt werden, wobei ich dahingestellt sein lassen möchte, ob in den Begriffsbestimmungen der linguistischen Nachschlagewerke überhaupt an eine ganz bestimmte Entität gedacht ist. Also was tun, wenn wir eine Antwort geben sollen auf die Frage, was die Sprache eigentlich »ist« ? Erstens, wir verweigern uns ausdrücklich dem Ansinnen, eine Antwort auf die so gestellte Frage auch nur zu versuchen. Falsche Fragen – das sind Fragen mit falschen Präsuppositionen – muß man zurückweisen ; hier ist die Präsupposition falsch, es gebe nur einen Gegenstand, der Sprache heiße. Zweitens formulieren wir die Frage um, so daß sie lautet : Was sind die Bedeutungen von Sprache , eine Sprache und die Sprache ? Wir besinnen uns also darauf und akzeptieren, daß auch das Wort Sprache , wie so viele andere, polysem ist. Drittens, wir versuchen, die verschiedenen Bedeutungen von Sprache (und von eine Sprache und die Sprache ) zu beschreiben, damit wir sie auseinanderhalten können. Nur so, scheint mir, hat die Linguistik eine Chance, ihre Hypostasierungen aufzuheben und ihre Verdinglichungen rückgängig zu machen, die sich in sie sozusagen eingeschlichen haben im Lauf ihrer jüngeren Geschichte. Die Hypostasierung und Verdinglichung speziell des Gegenstandes Sprache . Auch erscheint es mir als völlig hoffnungsloses Unterfangen, eine der Bedeutungen von Sprache , sozusagen als die wahre oder auch nur als die beste, durchsetzen zu wollen. Das muß daran scheitern, daß in unserer Fach- wie in der Alltags- und der Bildungssprache eine Vielzahl von Bedeutungen von Sprache eingespielt ist. Eingespielte Bedeutungen, d. h. Sprachgebräuche, können wir gar nicht abschaffen, so sehr sie uns auch mißfallen mögen. Sie sind resistent gegen Versuche ihrer Liquidierung , weil sie immer eine Funktion haben. Ohne solche Funktionen würden sie ja gar nicht existieren. Sie sind also alle sinnvoll. Es muß nur ermittelt und dargestellt werden, worin sie bestehen.

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Einen Eindruck davon, was bei einer philologisch sorgfältigen Analyse der Bedeutungen des Wortes Sprache herauskommen könnte , gibt die nachfolgende Liste, bei deren Zusammenstellung ich – nebst anderen Quellen – o. a. Definitionen benutzt habe, die ich aber hier nicht diskutiere. Sogenannte »übertragene« bzw. »weitere« Bedeutungen von Sprache sind darin nicht aufgenommen. 1. Sprache heißt oft Sprechen . So, wenn Lewandowski (s. o.) über Sprache sagt, sie sei »eine typisch menschliche und zugleich gesellschaftliche Erscheinung«. Ohne Informationseinbuße kann man diesen Satz präziser fassen mit der Paraphrase : »Sprechen ist eine typisch menschliche und zugleich gesellschaftliche Erscheinung«. Nur das Sprechen – nicht etwa das System einer »Sprache« – ist eine »Erscheinung«, d. h. ein beobachtbares Phänomen bzw. eine Gesamtheit von Phänomenen. 2. Wichtig ist der Unterschied von die Sprache und eine Sprache (oder Sprachen ). »Niemand von uns spricht die Sprache oder hat ein Buch in der Sprache gelesen« (Ágel 1996, 63). ( Die ) Sprache kann u. a. bedeuten »Fähigkeit, zu sprechen«, so, wenn wir von einem Menschen sagen, daß er »die Sprache« verloren habe. 3. ( Die ) Sprache kann aber – wie das Sprechen – auch bedeuten »die Gesamtheit aller Äußerungen«. Die Sprache in diesem Sinne ist identisch mit Saussures le langage . 4. Die Sprache – französisch la langue – kann außerdem bedeuten »jede Sprache« im Sinne von »jede Einzelsprache«. Darin manifestiert sich weiter nichts als die generische Funktion des bestimmten Artikels in der deutschen wie der französischen Sprache. Mehr hat es daher auch mit Saussures Begriff la langue nicht auf sich. So ist der Satz » La langue est un système qui ne connaît que son ordre propre« (Saussure 1916, 43) insoweit nicht anders zu interpretieren als z. B. der Satz » Der Hund ist ein Haustier«.21 5. Die Sprache wird auch verwendet, um »das« syntaktische System zu bezeichnen, das, so wird dann gemeint, über- und voreinzelsprachlich real in den menschlichen Genomen und Gehirnen existiere. 6. ( Eine ) Sprache kann bedeuten »Einzelsprache« ( langue ). Eine solche kann verstanden werden als Gesamtheit der sprachlichen Elemente und Strukturen, die von einer Sprachgemeinschaft gebraucht werden. Der Begriff der Sprachgemeinschaft gehört danach zum Definiens von ( eine ) Sprache . 7. Oft versteht man unter ( einer ) Sprache nur die Sprache eines Volkes , wie bei Adelung ersichtlich. Volk und Sprache definieren sich dabei oft gegenseitig. Sprache ist dann synonym mit nationale Sprache oder nationale Standardsprache . Vielleicht ist – im

21

Das bewiesen auch – wenn es denn nötig wäre – andere Sätze Saussures, wie z. B. : » Une langue constitue un système« (ibid., 100) ; hier ist es der unbestimmte Artikel ; der generisch gebraucht wird. Keineswegs ist für Saussure la langue ein neuer, zusätzlicher Gegenstand der Linguistik, der entweder über oder hinter allen Einzelsprachen, diese prägend, stehen würde.

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Sprachgebrauch der deutschen Alltagssprache – dies sogar die prototypische Bedeutung der Bezeichnung ( eine ) Sprache , obwohl Sprachen sehr oft plurinational sind. ( Eine ) Sprache kann sich aber, wie von Gabelentz hervorgehoben, auch auf Sprachen von anderen Sprachgemeinschaften beziehen, ja sogar auf Idiolekte. ( Eine ) Sprache wird gelegentlich auch heute noch verwendet als zusammenfassende Bezeichnung einer Mehrzahl verschiedener Einzelsprachen ( langues ). So betrachtet man »die« deutsche Sprache manchmal als bestehend aus der deutschen Standardsprache und sämtlichen »deutsch« genannten Dialekten (Hermanns 1995 b, 379). In diesem Sinn ist Sprache vielleicht gar kein (sprachwissenschaftlicher) Begriff, sondern (nur) eine Sammelbezeichnung. Es gibt nämlich keine Sprachgemeinschaft für die so bestimmte »Sprache«. (Eine) Sprache kann bedeuten »eine Art des Sprechens oder Schreibens«. Sprache kann daher ein Synonym von Stil sein. Doch auch Sprachen wie die französische, englische und deutsche sind als Arten oder Weisen des Sprechens aufzufassen. Darauf hat Coseriu (z. B. 1988, 62 f.) mehrfach hingewiesen. Eine Wendung wie z. B. »Latein sprechen« kann adverbial verstanden werden als »lateinisch sprechen«, die Bezeichnung »Englisch« als »englische Art« des Sprechens, die Bezeichnung »die italienische Sprache« als »Sprechen nach Art der Italiener«, die Bezeichnung »französische Sprache« als »Sprechen à la française «, was bedeutet »à la manière française«; demnach ist die »französische Sprache« – als die französische Art des Sprechens – im Prinzip nicht anders zu verstehen als die »französische Küche« – als die französische Art des Kochens. Dabei ist nur zu betonen, daß in beiden Fällen – dem des Sprechens ebenso wie dem des Kochens – die Art ein Totalitätsbegriff ist, der die jeweilige Gesamtheit üblicher Verhaltens- und Verfahrensweisen benennt. ( Eine ) Sprache kann, insofern diese Weisen des Sprechens und Schreibens funktional sind, auch als eine Technik interpretiert werden. Und auch hier ist darauf hinzuweisen, das die Technik dann verstanden wird als die Gesamtheit der Techniken , die sie insgesamt ausmachen. Insofern die jeweilige Technik von den SprecherInnen einer Sprache »gekonnt« werden muß, um »angewandt« werden zu können, läßt sich ( eine ) Sprache auch als ein Können verstehen, das man früher τ έ χ ν η , ars und Kunst genannt hat, allerdings mit Einschränkung auf die Grammatik (Coseriu 1988, 210 ff.). Dieses Können wird bekanntlich oft als (eine) Kompetenz bezeichnet. Wie schon gesagt, besteht diese Kompetenz aus all den vielen Einzelfähigkeiten, die »das« Können, das sie ist, konstituieren. Da ein Können oft als Wissen aufgefaßt wird  – insbesondere im Englischen, wo man zwar zwischen knowing that und knowing how to unterscheidet, aber beides als knowledge bezeichnet  – kann man ( eine ) Sprache auch als (ein) Wissen verstehen.

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Dieses eine Wissen ist dann wiederum, wie gleichfalls schon gesagt, nichts Anderes als die Gesamtheit des jeweils Gewußten. 14. ( Eine ) Sprache kann verstanden werden als eine Gesamtheit usueller sprachlicher Verhaltensweisen (englisch: habits ) in einer sozialen Gruppe. Dieses ist im wesentlichen die Begriffsbestimmung Saussures.22 Inwiefern ist also (eine) Sprache als eine »Gesamtheit« zu betrachten ? Insbesondere als Gesamtheit von sprachlichen Elementen, speziell Wörtern und Strukturen (Punkt 6 ); Gesamtheit von Weisen (Punkt 10) oder Techniken (Punkt 11) des Sprechens oder Schreibens ; als ein Können (Punkt 12); als ein Wissen (Punkt 13); und als Gesamtheit von sprachlichen Verhaltensweisen. Wenn man das Wort Sprache in der letzten der hier aufgelisteten Bedeutungen versteht, dann ist es ohne weiteres ersichtlich, inwiefern man eine Sprache als Teil einer Kultur ansehen kann. Eine Sprache ist dann nämlich gar nichts Anderes als eine der Teilmengen der Verhaltensweisen, die man in ihrer Gesamtheit oft Kultur nennt. Oder auch – je nachdem, wie man Kultur definiert – als eine der Teilmengen der Verhaltensweisen, die zwar eine Kultur insgesamt noch nicht ausmachen, aber immerhin einen wichtigen Teil all dessen bilden, was eine Kultur ist. Auch als Können und als Wissen kann man jedoch (eine) Sprache problemlos als Teil einer Kultur verstehen.

10 Kultur als Totalitätsbezeichnung 23 Sprache als ein Teil von Kultur : dies Verständnis des Zusammenhangs von Sprache und Kultur ist in der Linguistik keineswegs neu, sondern allenfalls ein bißchen in Vergessenheit geraten. Karuth (1967, 183 f.) zitiert dazu folgende einschlägige Aussagen: »Language Language is a part of culture«« (Voegelin  & Harris 1945). – »It It is clear that language is a part of culture: it is one of the many capabilities ‘acquired by man as a member of society ’« (Hoijer 1945; das Zitat im Zitat ist von Tylor, s. u.). – Es sei falsch, von »Sprache und Kultur‹‹ (»language and culture«) zu reden. »We ought 22

Dessen »habitudes linguistiques« sind allerdings habituelle (und nicht: usuelle) sprachliche Verhaltensweisen. Aber da er (eine) Sprache grundsätzlich als »fait social« betrachtet, ist es, denke ich, in seinem Sinne, habituell durch usuell zu ersetzen. Dies in Anlehnung an Hermann Pauls Begriff des Usus (Paul 1880, 32 u. ö.). Usuell ist das, was sozial habituell ist.

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Wie schon bisher, wird hier der Begriff Kultur ausschließlich in den soziologischen und ethnologischen Bedeutungen des Wortes Kultur gebraucht und erörtert. Zwar kann Kultur auch in anderer Verwendung ein Totalitätsbegriff sein. So in Freuds Definition, wonach »das Wort Kultur die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen bezeichnet, in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt [ … ]« (Freud 1930, 448); hier wird von einzelnen Kulturen gerade abstrahiert. Oder auch, wenn Kultur als die jeweilige Gesamtheit »großer« Werke einer »Kulturnation« aufgefaßt wird. Darum geht es hier nicht.

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to speak of ‘language in culture’ or of ‘language and the rest of culture’«. Denn »language is part of culture« (Hockett 1950).24 ( Eine ) Sprache ist am leichtesten als Teil von ( einer ) Kultur zu verstehen, wenn Kultur als Totalität von Verhaltensweisen (in einer sozialen Gruppe) definiert wird. Dies geschieht z. B. in einer Definition von Hansen (1995, 15), die der Autor allerdings als »vorläufig« bezeichnet : »[ Kultur ] umfaßt die Gesamtheit der Gewohnheiten eines Kollektivs.«25 Kultur als »Gesamtheit von Verhaltensweisen« definieren jedoch ohne Wenn und Aber andere AutorInnen, die Karuth (1967, 193 f.) gleichfalls zitiert: » Culture means the whole complex of traditional behavior which has been developed by the human race [ … ]. A culture [ … ] can mean the forms of traditional behavior which are characteristic of a given society, or of a group of societies, or of a certain period of time« (Mead 1937). – » Culture is the sociological term for learned behavior, behavior which [ … ] must be learned anew from grown people by each new generation« (Benedict 1947). – » Culture is the learned behavior that issues from social interaction« (Merrill 1957).26 Die Gesamtheit von Verhaltensweisen, die Kultur genannt wird, wird nicht selten auch bezeichnet als der way of life (im Deutschen kann man ihn vielleicht, wie Wittgenstein, Lebensform nennen) einer Gesellschaft. So in dieser – wie ich finde, hervorragenden – 24

Diese und die folgenden Zitate habe ich gekürzt, ansonsten aber unverändert übernommen, ohne sie selbst nachzuprüfen. Daher habe ich die zugehörigen Literaturangaben in mein Literaturverzeichnis nicht aufgenommen – auch, um dieses nicht zu lang werden zu lassen.

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Ich bedanke mich bei Hans-Joachim Solms für seinen Hinweis auf diese Definition. – Hansen (1995, 31) ersetzt den Begriff Gewohnheit dann durch den Begriff Standardisierung (»Statt von Gewohnheiten [ … ] soll im folgenden von Standardisierungen die Rede sein. Dieser Begriff enthält bereits das kollektive oder gesellschaftliche Moment«) und schreibt : »Mit seiner Hilfe würde eine erste, ganz allgemeine Definition von Kultur lauten: Neben den materiellen wie geistigen Leistungen eines Kollektivs umfaßt Kultur die Standardisierungen, die in ihm gelten«, nämlich solche der Kommunikation , des Denkens , des Empfindens sowie des Verhaltens . Eine zweite, endgültige Definition gibt Hansen nicht, bekräftigt aber seine erste (ibid., 114): »Gewohnheiten oder Standardisierungen [ … ] bilden das Herzstück der Kultur. Standardisierungen [ … ] sind das konstitutive Element der Kollektivität«.

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Eine neue, einflußreiche (oft zitierte) Definition von Kultur ist die von Geertz. Sie überbietet sozusagen die behavioristischen Definitionen durch Rekurs auf das, was dem Verhalten als zugrundeliegend angenommen wird : » culture is best seen not as complexes of concrete behavior patterns – customs, usages, traditions, habit clusters – [ … ] but as a set [ deutsch mathematisch: Menge ] of control mechanisms – plans, recipes, rules, instructions (what computer engineers call ‘programs’ ) – for the governing of behavior « (Geertz 1973, 44 ). Allerdings versteht Geertz (1973, 89) Kultur auch als pattern und System (d. h. als Ganzheit ), nämlich als »hishistorically transmitted pattern of meanings embodied in symbols, a system of inherited conceptions expressed in symbolic forms by means of which men communicate, perpetuate, and develop their knowledge about and attitudes toward life«.

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Begriffsbestimmung (zitiert von Karuth 1967, 195), in der die Begriffe Kultur und Gesellschaft ( culture und society ) als interdependent erläutert werden: A culture is the way of life of a people, while a society is the organized aggregrate of individuals who follow a given way of life. In still simpler terms a society is composed of people ; the way they behave is their culture (Herskovits 1948). Diese Definition bestätigt die von mir (in Abschnitt 2) behauptete notwendige Beziehung des Begriffs Kultur auf den der sozialen Gruppe . Wie auch eine Definition aus der Encyclopedia Britannica (1959, s. v. civilisation ; zitiert von Karuth 1967, 180): A culture is the way of life of a human group ; it includes all learned and standardized forms of behavior which one uses, and which others in one’s group expect and recognize. Viele der von Karuth (1967) beigebrachten Definitionen sind einem zu Recht berühmten Buch entnommen: » Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions « von A. L. Kroeber und Clyde Kluckhohn (1952). Darin sind nach meiner Zählung 141 soziound ethnologische Definitionen des Begriffes Kultur ( culture ) nicht nur einfach aufgelistet, sondern auch erläutert und vor allem sortiert nach dem Gesichtspunkt, unter dem Kultur jeweils bestimmt wird. Insbesondere als etwas Historisches ; Normiertes (Geregeltes oder Wertbezogenes); Psychologisches (Gelerntes oder Habituelles); Strukturiertes (Systemhaftes); Produziertes (Gesamtheit von Artefakten, Ideen, Symbolen). Nach Lektüre dieser z. T. sehr verschiedenen Definitionen bleibt mir als der vorherrschende Eindruck nicht so sehr, daß sie sich widersprechen – was natürlich, wenn man sie als schulmäßige Definitionen liest, der Fall ist – sondern, daß sie sich ergänzen. Angesichts der Komplexität des Gemeinten heben die AutorInnen der Definitionen mal den einen, mal den anderen Aspekt des Ganzen hervor, das sie als Kultur bezeichnen. Dieses »Ganze« ist jedoch – und darin scheinen die meisten Definitionen übereinzustimmen – eine Summe, eine Vielzahl von unübersehbar vielen Einzelheiten oder Einzelentitäten, die also erst in ihrer Totalität eine Kultur ausmachen ; auszunehmen sind hier nur diejenigen Definitionen, die eine Kultur als ein System bestimmen. Ich zitiere einige der Bezeichnungen, die in diesen Definitionen gebraucht werden, aus dem Anfang der Auf listung (Kroeber & Kluckhohn 1952, 81 ff.): that complex whole (which includes knowledge etc.); all (social activities etc.); the sum of all (activities etc.); the sum (of the activities etc.); (culture) embraces all (the manifestations of social habits etc.); the totality (of material and nonmaterial traits etc.); the sum total (of ideas etc.); the accumulated treasury (of hu-

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man creation etc.); the mass (of learned … reactions etc.); the total body (of belief etc.); the (socially inherited) assemblage (of practices etc.); (this) social heritage ; the whole (of social tradition); everything (that can be communicated from one generation to another etc.). Definitionen von Kultur – so würden wir es jedenfalls erwarten – sollen eine Antwort geben auf die Frage : Was ist eine Kultur ? Viele der von Kroeber & Kluckhohn versammelten Definitionen geben aber eher eine ( partielle ) Antwort auf die Frage : Was gehört zu einer Kultur ? Sie sind demnach nur »so etwas wie« Definitionen oder »eine Art von« Definitionen – »Definitionen« in Anführungsstrichen. Die Antworten, die sie geben, sind etc.-Definitionen , wie ich sie hier nennen möchte. Definitionstypologisch sind sie Definitionen per Aufzählung. Aber die durch sie gegebenen Aufzählungen sind unvollständig und als unvollständig oft auch gekennzeichnet. So in der noch immer bekanntesten und als klassisch geltenden Definition von Tyler (1871, 1), auf die sich anscheinend alle späteren ethnologischen und soziologischen Definitionsversuche direkt oder indirekt beziehen: Culture or civilization , taken in its wide ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society. Man beachte das Wort includes , das auch diese Begriffserläuterung zur etc.-Definition macht, aber auch die Worte complex whole und any other , die culture als Totalitätsbezeichnung ausweisen. Da erworbene, gewohnheitsmäßige Verhaltensweisen ( habits ) hier als Teil von Kultur bestimmt werden, ist demnach auch jede Sprache dieser klassischen Definition nach – als eine Gesamtheit von gewohnheitsmäßigen Verhaltensweisen – als Teil (Teil eines Teils) jeder Kultur zu betrachten.27 Aber auch als knowledge ( Wissen oder Können ) wäre Sprache dieser Definition zufolge Teil von Kultur .

27

Allerdings läßt sich die Tylersche Definition auch anders lesen, nämlich so, daß man auch »knowledge, belief, art, morals, custom« als Gesamtheiten von capabilities und habits deutet. Danach wäre eine Kultur einfach die Gesamtheit aller »capabilities capabilities and habits acquired by man as a member of society«, «, unter Einschluß u. a. von knowledge , belief usw. Aus einer etc.-Definition wäre so eine schulmäßige Definition geworden. Kroeber & Kluckhohn (1952, 86 ) bezeichnen Tylors Definition als »curiously ambiguous as between products of activities and activities as such«. Denn knowledge , belief usw. können eben nur – und müssen nicht – als capabilities und habits angesehen werden.

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11 Identität als Totalitätsbezeichnung Über den Begriff der Identität ( genauer: über einige Identitätsbegriffe) habe ich mich informiert durch die Lektüre von Handbuchartikeln (ich empfehle: Dubiel 1976, Krappmann 1987), von Aufsätzen des monumentalen Buches Identität aus der Reihe Poetik und Hermeneutik (Marquard   & Stierle 1979), eines die Vielfalt gebräuchlicher Identitätsbegriffe vorführenden vorzüglichen Essays (Assmann 1994), von klassischen Werken der Identitätsphilosophie, -psychologie bzw. -soziologie28 und von Wörterbuchartikeln, die sich allerdings in ihrer Mehrzahl als für die Thematik dieses Beitrags wenig aufschlußreich erwiesen haben. Eine Ausnahme ist Collins Cobuild Dictionary (1995, s. v.), das Identität ( identity ) in seiner ersten Bedeutungserläuterung unüberbietbar klar und einfach und zudem zutreffend definiert mit dem Satz: »Your identity is who you are«. Denn in der Tat ist ja die Frage nach der Identität eines Menschen in den allermeisten Fällen äquivalent mit der Frage, wer (bzw.: was für einer oder eine) dieser Mensch ist. So sieht es auch Lübbe (1979, 278): »Identität ist das, was als – zutreffende – Antwort auf die Frage erteilt wird, wer wir sind.« Was wiederum mit dieser Frage gemeint sein kann (wenn auch nicht muß), sagt Collins Cobuild Dictionary in der darauf folgenden Bedeutungsparaphrase: »The identity of a person or place is the characteristics they have that distinguish them from others«. Damit ist Identität als eine Totalitätsbezeichnung beschrieben ; » the characteristics« sind ja doch wohl alle seine charakteristischen Eigenschaften. Solche Eigenschaften machen (in ihrer Gesamtheit) jemanden bzw. etwas – eben darum heißen sie charakteristisch  – unterscheidbar von anderen Menschen oder anderen Entitäten (»that distinguish them from others« ist hier also nicht einschränkend, sondern erläuternd verwendet). Eo ipso machen sie ihn auch erkennbar . Die Gesamtheit seiner charakteristischen Eigenschaften, die ihn unterscheidbar und erkennbar machen, ist tatsächlich oft das, was gemeint ist, wenn man über »die Identität« z. B. eines ganz bestimmten Menschen redet. Eigentlich ist es erstaunlich, daß wir überhaupt so reden können. Denn der Grundund Hauptbedeutung dieses Wortes nach ist die Identität nichts anderes als das IdentischSein von zwei (anscheinend) verschiedenen Entitäten: eine Identität ist der Sachverhalt, daß etwas oder jemand identisch mit etwas oder jemand prima vista Anderem ist. Denn identisch ist ein zweistelliger Prädikator. Es macht keinen Sinn, wenn man von etwas sagt, es sei identisch. Identisch womit, wird man dann sofort gefragt werden. »Mit sich selber« ist auf diese Frage keine akzeptable Antwort. » A = A « ist tautologisch. Nur » A = B « kann informativ sein. Daß der Morgenstern der Morgenstern ist, ist ja selbstverständlich. Nur daß er identisch mit dem Abendstern ist, ist von möglichem Interesse. So präsupponiert 28

Von Mead (1934), Erikson (1958; 1959) und Goffman (1963), über die ich aber nicht berichte, was den Rahmen dieses Beitrags nämlich total sprengen würde.

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das Wort identisch – und das Wort Identität in seiner Grundbedeutung – daß zwei Entitäten vorzuliegen scheinen , die als zwei natürlich als verschieden gedacht werden müssen, was dann durch die Aussage, daß sie identisch seien, sozusagen korrigiert wird. Die Behauptung von Identität (in diesem Sinne) hat aus diesem Grunde immer den Charakter einer Negation der fälschlich – so behauptet sie – vorausgesetzten Unterschiedlichkeit von Entitäten, die zwar scheinbar zwei sind, doch »in Wirklichkeit« nur eine .29 Wie erkennt man aber die Identität von (scheinbar) verschiedenen Entitäten ? Diese Frage wird uns zurückführen zu der anderen Bedeutung von Identität , wonach es durchaus sinnvoll ist, von »der Identität« nur einer Entität zu sprechen. Antwort: Offensichtlich müssen sie in allen ihren Eigenschaften völlig gleich sein. Das ist eine notwendige, aber auch hinreichende Bedingung. Dann und nur dann, wenn zwei Entitäten alle ihre Eigenschaften miteinander teilen, sind sie eine und dieselbe Entität, d. h. identisch. Die Identität von je zwei Entitäten besteht also in der absoluten Gleichheit (Nicht-Unterscheidbarkeit) der Gesamtheit ihrer Eigenschaften. Und dies schlägt die Brücke zu derjenigen Bedeutung von Identität , in der wir von der Identität eines Menschen sprechen. Denkt man an die schon als eine einzige erkannte Entität, dann kann man statt von Identität als der »Gleichheit der Gesamtheit aller Eigenschaften« (zweier Gegenstände) von Identität als der »Gesamtheit aller Eigenschaften« (eines Gegenstandes) reden. Damit ist man allerdings in einem anderen, neuen Sprachspiel. Man gebraucht das Wort Identität nunmehr in der Art von Bedeutung , die z. B. auch gemeint ist, wenn man nach »kultureller Identität« gefragt wird. Zweierlei Begriffe von Identität in diesem Sinne möchte ich hier unterscheiden und daher auch zwei Definitionsvorschläge machen. Erster Definitionsvorschlag : »Die Identität von jemand oder etwas ist die Totalität seiner Eigenschaften.« Auf die Frage, wer man ist, kann man beliebig viel antworten. Erst die Nennung der Gesamtheit aller ihrer Eigenschaften würde eine Entität erschöpfend charakterisieren. Aber individuum est ineffabile . Daraus folgt, daß wir bei konkreten Gegenständen, Sachverhalten und Personen die Identität in diesem Sinne niemals auch nur entfernt vollständig beschreiben können. Was jedoch nicht ausschließt, daß wir wissen, daß sie immer viel mehr Eigenschaften haben als die, die wir jeweils kennen oder jeweils gerade wichtig finden. Die Gesamheit aller Eigenschaften einer Entität möchte ich ihre Totalidentität nennen.30 29

Nur in einem mir bekannten Wörterbuch wird diese Präsuppositionseigenschaft von identisch – die natürlich zu den Gebrauchsbedingungen dieses Wortes gehört  – klar herausgestellt: im Petit Robert (Robert 1967). Dort heißt es s. v. identique : »Qui est unique, quoique perçu, conçu ou nommé de manières differentes.«

30 Diese Totalidentität einer Entität ist diese Entität selbst, denn auch diese ist nur die Gesamheit aller ihrer Eigenschaften. So ist jede Eigenschaft, die Teil ist der Identität einer Person, ganz einfach eine Eigenschaft der Person selber. Insofern erübrigt es sich wohl oft, von Identität zu sprechen, was jedoch gleichwohl sehr gern getan wird. Marquard (1979, 351) bemerkt – allerdings nur in Bezug auf den Identitätsbegriff der Soziologen – daß Identität zu einer »Ersatzformel für Individuum und Person « werde. Dazu paßt auch, daß,

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Zweiter Definitionsvorschlag : »Die Identität von jemand oder etwas ist die Totalität seiner jeweils relevanten Eigenschaften.« Das ist eine – wenn man sie so nennen kann – Definition mit einer freien Variablen. Jenachdem, was dafür kontext- und diskursabhängig eingesetzt wird, liefert sie uns eine Vielzahl einzelner Definitionen, die Spezialidentitäten definieren, also eine Vielzahl von Identitätsbegriffen, wie wir sie in den Human- und Kulturwissenschaften auch tatsächlich gebraucht finden. Meistens interessiert an einer Entität nur eine kleine Auswahl all der Eigenschaften, die sie insgesamt hat. Da die Interessen und die Relevanzen mit den Situationen, mit den Handlungs- und Diskurszusammenhängen wechseln, haben viele Entitäten viele Spezialidentitäten. Alle lebensweltbezogenen Identitätsbegriffe, scheint mir, sind Begriffe, die (stillschweigend, sozusagen) Identität identifizieren mit der jeweils – im Zusammenhang des jeweiligen Sprechens und sozialen Handeins – relevanten Spezialidentität . Dies gilt insbesondere von den sozial- bzw. kulturwissenschaftlichen Identitätsbegriffen. Sie bezeichnen stets eine Gesamheit derjenigen Eigenschaften eines Menschen, meistens in Bezug auf eine soziale Gruppe, die entweder für den Menschen selber oder für die Angehörigen der sozialen Gruppe oder ausnahmsweise auch nur für die Wissenschaft selbst von Belang sind. Dabei werden u. a. unterschieden oder könnten unterschieden werden die folgenden Arten von Identitäten und Identitätsbegriffen: 31 – Eigenidentität (die sich jemand selber zuschreibt, die er seinem Selbstverständnis nach hat) von Fremdidentität (die ihm andere zuschreiben); – Individualidentität (bei der es auf die Unverwechselbarkeit einer Person ankommt) von Typidentität , die eine Rollen- oder eine Gruppenidentität sein kann (und bei der es also nur auf Eigenschaften ankommt, die eine soziale Rolle definieren oder eine Gruppenzugehörigkeit konstituieren). »Meine Identität« kann also sein, was mich von den Anderen unterscheidet, aber auch das, was ich mit ihnen gemeinsam habe ; – prototypische Identität (man hat sämtliche Eigenschaften, durch die eine Rolle definiert ist, in sehr hohem Grad) von marginaler Identität (man hat einige von ihnen in geringem Grade oder gar nicht); – Zugehörigkeitsidentität (man ist als Mitglied akzeptiert in einer sozialen Gruppe) von Außenseiteridentität (man gehört nur lose dazu oder gar nicht) und von outcastIdentität (man ist aus der Gruppe ausgestoßen); worauf auch Marquard (1979, 349) im Vorübergehen hinweist, die Identität einer Person im Sinne Meads im Deutschen das ist, was bei Mead (1934 ) selbst self heißt (sein Buch Mind, Self and Society heißt in der deutschen Übersetzung Geist, Identität und Gesellschaft ). Dieses self ist etwas, was man oft bequem als Ich bezeichnen könnte, wenn nicht Mead gerade zwischen self , I und me unterscheiden würde. Daher sind Aussagen über »die Identität« im Meadschen Sinne oft Aussagen über »das Ich «, wie wir dieses aus der deutschen Philosophie (Fichte) und Psychologie (Freud) kennen. 31

Ich vermeide hier die Terminologie der Identitätswissenschaften. In der einschlägigen Literatur werden z. T. hochspezifische Identitätsbegriffe z. T. definiert, z. T. auch einfach nur verwendet.

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Augenblicksidentität (nur relevant für einmalige Interaktionen) von Langzeitidentität (mit der man länger leben muß, manchmal für immer); bewußte Identität (die also einer Person, die sie hat, bewußt ist) von nicht-bewußter Identität (man kennt sich selbst immer nur teilweise, und man weiß erst recht nicht immer, welches Bild sich Andere von einem machen); positiv bewertete Identität von negativ bewerteter Identität ; Wunschidentität (bestehend in der Gesamtheit der Eigenschaften, die man gerne hätte) von Angstidentität (wie man keinesfalls sein möchte); Soll- oder Sollensidentität (bestehend in den Eigenschaften, die man haben soll ; wenn sie als solche Eigenidentität ist, läßt sie sich auch als Über-Ich-Identität bezeichnen) von Ist- oder Realidentität (bestehend in den Eigenschaften, die man in der Tat hat ).

Alles dieses sind Identitäten ( Partialidentitäten ), mit denen wir leben müssen, obwohl sie sich widersprechen können. Immer dann, wenn das der Fall ist, kann das Selbstverständnis eines Menschen problematisch werden. Wenn das Problem nicht verschwindet, bringt es die Betroffenen in eine Krise, die man, Eriksons (1958, 14 u. ö.) Begriff erweiternd, Identitätskrise nennen kann ; wir alle kennen solche Krisen unserer Identität aus eigener Erfahrung. 32 Was für Eigenschaften sind es, die Partialidentitäten definieren ? Es kommen hier alle Eigenschaften, die ein Mensch nur haben kann, in Frage. Darunter auch Wissen, Können und gewohnheitsmäßige Verhaltensweisen, insbesondere sprachliches Wissen und sprachliches Können sowie sprachliche gewohnheitsmäßige Verhaltensweisen.

12 Linguistik als Kulturwissenschaft Oskar Reichmann hat in einem Aufsatztitel explizit gemacht, was man ein Motto seiner lexikologischen Arbeit nennen könnte: »Sprachgeschichte als Kulturgeschichte« (Reichmann 1985). Und so trägt auch dieses Buch zu seinen Ehren diesen Titel. Wenn man ihn, wie es ja seinem Sinn entspricht, verallgemeinert, so ergibt sich daraus als ein Motto für die ganze Linguistik : »Sprach- als Kulturwissenschaft«. Als solche kann sie

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Es ist festzustellen, daß sich manche Theoretiker den Kopf zerbrechen mit dem Versuch einer Antwort auf die Frage, worin wohl die »Einheit« der Identität bzw. der Person bestehen möge. Diese »Einheit« ist, vermute ich, eine Chimäre. Was real sein kann, sind ganz bestimmte Widerspruche von Partialidentitäten, die als schmerzlich und z. T. als unerträglich erlebt werden. Wenn sie sich auf lösen, mag man das als die Erlangung einer »Einheit« der Person (Identität) empfinden und beschreiben. Aber dann bezeichnet dieses Wort nur etwas (logisch) Negatives: daß ein ganz bestimmter Widerspruch nun nicht mehr da ist. Eine absolute »Einheit der Person« uns auch nur vorzustellen, ist uns, scheint mir, gar nicht möglich. Wir sind unsere Eigenschaften ; d. h. Gesamtheiten von heterogenen Eigenschaften, die sich nicht zu einer »Einheit«, einer homogenen »Ganzheit« der Person zusammenfügen lassen. Damit müssen wir uns offenbar abfinden.

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sich und sollte sie sich wohl verstehen. Und zwar eben deshalb, weil die Sprache immer Teil einer Kultur ist, Teil ist einer Lebensform, um Wittgenstein noch einmal zu zitieren. Dieses Teil-Sein habe ich in diesem Beitrag nur aufs Alleroberflächlichste bestimmt als das Verhältnis einer Teil- zur einer Obermenge. Denn es ging mir hier vor allem um den Begriff des Totalitätsbegriffes , dessen Nützlichkeit für die semantische Beschreibung mancher Wörter ich aufzeigen wollte ; darunter so wichtiger wie Sprache , Kultur und Identität . Das Ergebnis in Bezug auf diese drei Begriffe  – das ich hier zusammenfasse – war, daß eine Sprache zu verstehen ist (verstanden werden kann) als eine Menge ( Totalität) sprachlicher Verhaltensweisen oder Fertigkeiten oder Wissenselemente, die historisch überliefert werden und – in einer Sprachgemeinschaft – soziale Geltung haben, und daß eine Kultur ebenfalls verstanden werden kann als eine solche Menge (oder Obermenge einer solchen Menge), gleichfalls in Bezug auf eine soziale Gruppe, jedoch ohne die Einschränkung auf sprachliche Elemente. So daß eine Sprache in der Tat stets Teil einer Kultur ist, nämlich der Kultur der jeweiligen Sprachgemeinschaft. Da auch Identität zu verstehen ist als eine Totalität, nämlich als Gesamtheit jeweils relevanter Eigenschaften einer Person, und da sprachliches Verhalten, Können oder Wissen einer Person zu den Eigenschaften zählen können , die für ihre ( jeweilige) Identität relevant sind, folgt, daß ihre kulturelle Identität mitkonstituiert sein kann durch ihre Sprache. Was dann allerdings noch lange nicht bedeuten muß, daß eine Person in der Sprachbzw. der Kulturgemeinschaft, der sie damit zugehört, als Mitglied akzeptiert wird. Komplikationen dieses einfachen Gedankenganges kann ich hier nicht diskutieren. Eine solche würde in dem Hinweis liegen, daß wir alle mehr als eine »Sprache« sprechen und damit auch mehr als eine sprachlich-kulturelle Identität haben, wobei aber die Identität, auf die es gerade ankommt, auch dadurch bestimmt sein kann, ob wir und wie wir polyglott sind oder als polyglott gelten. Eine zweite Komplikation des Gedankenganges würde daraus folgen, daß es sich bei Sprache und Kultur (und auch Identität ) um Zoom-Begriffe handelt, wie ich sie vorläufig , in Ermanglung einer besseren Bezeichnung , nenne. Damit ist gemeint, daß man den Skopus des Begriffs beliebig weit bzw. eng einstellen kann. So kann man sinnvoll, wie z. B. Leisi (1993), von der Sprache eines Paares reden, aber auch von der einer Familie, eines Ortes, einer Region, eines Landes oder einer übernationalen Sprachgemeinschaft ; daher war der Streit darüber, ob die Deutschen in der DDR und BRD nun eine oder zwei verschiedene Sprachen sprachen, nicht besonders sinnvoll. Daß der Begriff der Kultur in seinem Skopus ganz genauso variabel ist wie der Begriff der Sprache , habe ich im zweiten Abschnitt dieses Beitrags schon mit Beispielen erläutert. Drittens können sich die Sprach- wie die Kulturbegriffe, die man jeweils gebraucht, darin unterscheiden, welche Elemente und Aspekte von Kultur bzw. Sprache man in die Betrachtung einbezieht bzw. daraus ausschließt. So kann man genauso von »der Kultur« wie »der Sprache« des Katholizismus reden, wobei dann von großen Teilen und von wichtigen Aspekten der Kulturen und der Sprachen aller

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Katholiken abstrahiert wird. Viertens überschneiden sich die Skopi der Begriffe Sprache und Kultur oft. Daher kann man sinnvoll sowohl davon reden, daß in einer Kultur zwei (oder noch mehr) Sprachen gesprochen werden, wie auch davon, daß man in zwei ganz verschiedenen Kulturen doch nur eine Sprache spreche. Der Zusammenhang von Sprache und Kultur , von »language language and the rest of culture«, «, war, wie gesagt, nicht das Thema dieses Beitrags. Aber ich will doch nicht schließen, ohne zu betonen, daß auch ich nicht meine, daß er sich beschränken würde auf die Relation des Teils zum Ganzen. Nicht nur, weil der Teil der Kultur, den wir Sprache nennen, mit den anderen Teilen so verzahnt ist, daß wir ihn in seinen vielfachen Funktionen nicht verstehen können, ohne diese anderen Teile zu verstehen zu versuchen, so gut wir es eben können. Sondern insbesondere auch deshalb, weil das Ganze nicht nur der Kultur, in der wir jeweils leben, sondern sogar auch der ganzen Wirklichkeit, in der wir jeweils leben, ein soziales, kulturelles und auch sprachliches Konstrukt ist, wie uns u. a. Humboldt, Saussure sowie Berger & Luckmann (1966 ) lehren.

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Wortgeschichtliche Analysen zur Zeitgeschichte

Arbeit Zur historischen Semantik eines kulturellen Schlüsselwortes 1

Arbeit ist für die Lexikologie, besonders die historische Lexikologie, des Deutschen ein wichtiges, doch auch ein schwieriges Sujet. »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.« Aber noch im 19. Jahrhundert war die Ethik dieses Paulus-Satzes keineswegs bereits von allgemeiner Geltung , vielmehr diente Arbeit als ein sprachliches Symbol der Unterscheidung zwischen, wie das 19. Jahrhundert sagte, den gesellschaftlichen »Klassen«. Erst im späten 19. und 20. Jahrhundert ist das Wort sozialer Distinktion, das Arbeit einmal war, zu einem Wort sozialer Integration geworden. Dies geschah im Wege einer Weitung der Bedeutung dieses Wortes, die es mit sich brachte, daß die Tätigkeit der Oberklassen der Gesellschaft nunmehr auch als Arbeit gelten konnte, was sie vorher nicht war. So ist Arbeit heute – als der Kernbegriff der solchermaßen generalisierten Arbeitsethik – eins der kulturellen Schlüsselwörter ebenso der deutschen wie (mit seinen interlingualen Synonymen) insgesamt der europäischen Gesellschaft.

1 Vorbemerkung Warum gerade Arbeit als das Thema eines Vortrags, der hier auch der Selbstdarstellung eines Faches dienen soll, das hier in Bayreuth heißt: Deutsch als Fremdsprache, in Klammern: Interkulturelle Germanistik ?2 Wenn auch einer Selbstdarstellung nur bezüglich einer seiner Komponenten, nämlich einer Linguistik dieses Faches, die vielleicht dem besseren Verständnis zwischen den Kulturen dienen könnte. Und die gleichfalls etwas beizutragen haben könnte zum Gespräch der Disziplinen in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, insofern es ihnen allen um das bessere Verständnis von KultuDieser Beitrag ist erstmals 1993 erschienen in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 19, 43 – 62. 1 2

Redigierte Fassung meines Habilitationsvortrags vor der Sprach- und literaturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth am 25. 2. 1993. Die Form des Vortrags wurde beibehalten. Zur Bayreuther Konzeption des Studienfaches Interkulturelle Germanistik vgl. Wierlacher 1989. Dort ist weitere Literatur zum Thema »Interkulturelle Germanistik« angegeben.

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ren geht. Denn auch das ist eine Hoffnung , die man hegt, wenn man zu diesem Fach gehört: es möge etwas beizutragen haben nicht allein zum interkulturellen, sondern auch zum interfachlichen Gespräch. Und mein Vortrag sollte also zeigen, welcher Art Gesprächsbeiträge von der Linguistik dieses Faches etwa zu erwarten wären, jedenfalls, soweit ich dafür stehe. Warum also dazu gerade Arbeit als mein Thema ? Nun, weil, wie der Untertitel dieses Vortrags sagt und wie ich also meine, Arbeit eins der Schlüsselwörter unserer Gesellschaft und Kultur ist. Solche Schlüsselwörter können, daraufhin betrachtet, Aufschluß geben über wichtige semantische Besonderheiten einer fremden oder auch der eigenen Sprache ; darum sind sie für Deutsch als Fremdsprache von besonderem Interesse. Eo ipso aber geben sie auch Aufschluß über eine fremde oder eigene Gesellschaft und Kultur ; und deshalb sind sie für die interkulturelle Germanistik wichtig. Arbeit also ist ein solches Schlüsselwort der deutschen und wohl auch – mit seinen interlingualen Synonymen – insgesamt der europäischen und westlichen Kultur. Was das heißen soll und daß dem in der Tat so ist, das möchte ich im nächsten Abschnitt dieses Vortrags sagen und plausibel machen – ohne daß ich Schlüsselwort dabei zum Terminus erheben möchte.3 Danach führe ich in einem Dreischritt etwas aus zum Forschungsstand bezüglich der historischen Semantik dieses Wortes ; zu den Forschungsdefiziten diesbezüglich ; schließlich möchte ich zwei Forschungshypothesen zur historischen Semantik dieses Wortes formulieren und begründen. Also Forschungslage, Forschungsdefizite, schließlich Forschungshypothesen – davon sollen die zentralen drei Kapitel dieses Vortrags handeln. Ausblicksweise möchte ich zum Schluß zur interkulturellen Relevanz des Themas »Arbeit« etwas sagen.

2 Arbeit als ein kulturelles Schlüsselwort Ich betrachte Arbeit als ein Schlüsselwort der deutschen Gegenwartskultur, weil Arbeit eins der Wörter ist, von denen gilt, so ist zumindest zu vermuten, daß sie im Selbstverständnis und im Fremdverständnis aller Zeitgenossen deutscher Sprache – oder doch so gut wie aller – eine ganz zentrale Rolle spielen. Denn wir definieren uns und andere durch Arbeit. Durch die Art und Menge unserer Arbeit. Was die Wichtigkeit der Quantität der Arbeit angeht, ein Zitat aus einer Pressemeldung (dpa) vom Sommer vorigen Jahres. Helmut Kohl ist angegriffen worden, weil er seinen Urlaub nicht in Sachsen oder Mecklenburg verbracht hat, sondern, wie gewohnt, in Österreich, am Wolfgangsee. Er verteidigt nun sein Recht auf freie Wahl des Ur3

Was mir vorschwebt, wenn ich dieses Wort verwende, ist, daß Schlüsselwörter »Aufschluß« geben können über Denken, Fühlen, Wollen, also über die Mentalitäten je spezifischer Kulturen je spezifischer Epochen (dazu Näheres bei Hermanns 1995 a); jeweils eingeschränkt – und das ist wichtig , weil man sonst ins Uferlose kommt – auf ganz bestimmte »Themen« (die Wierlacher 1993 »Kulturthemen« nennt) oder auch »Probleme« (Stötzel 1993).

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laubsortes und auf Urlaub. »Und wer Tag für Tag«, sagt unser Bundeskanzler, »einen 15-, 16-Stunden-Arbeitstag hinter sich bringt, und in der Frage bin ich von wenigen in Deutschland zu übertreffen, was den Einsatz betrifft, der hat das Recht, auch einen Urlaub zu machen«. Ähnliche Äußerungen sind mir auch von Helmut Schmidt erinnerlich, dem vorigen Bundeskanzler, der sich gleichfalls eines solchen Arbeitstages rühmen konnte. 15 oder 16 Stunden Arbeit täglich, das setzt einen Maßstab. Und es zeigt, wie jemand sich allein schon durch die Quantität der Arbeit positiv von anderen unterscheiden kann, in unserer Gesellschaft. Umso mehr jedoch durch deren Qualität. Denn was für eine Arbeit jemand tut, gehört, als sein Beruf, ganz wesentlich zu seinen Eigenschaften als Person. Damit ist es auch ein wesentlicher Faktor ebenso der Achtung , die ihm andere entgegenbringen, wie besonders auch der Selbstachtung. Was sind Sie von Beruf ? Wohl dem, der auf diese Frage sagen kann: Ich bin Arzt. Oder: Ich bin Anwalt. Oder: Freier Unternehmer. Denn wer sagen muß: Briefträger ; oder: Hilfsarbeiter, hat es mit sich selber schwerer, und mit anderen. Er ist in den Augen mancher Zeitgenossen ein »Versager«, dies ein ganz besonders böses, ein perfides Wort der deutschen Sprache. Auch natürlich, weil seine Art von Arbeit schlecht bezahlt wird, und das Einkommen, das jemand hat, das ist ein anderer gesellschaftlicher Maßstab der Vorzüglichkeit, das wissen wir, und darauf gehe ich nicht weiter ein. Für die Selbstachtung ganz entscheidend wichtig ist auch, ob man Arbeit hat oder arbeitslos ist. Wir stehen, wie ich hier schon sagen möchte, unter dem Gebot, daß wir arbeiten sollen. Wer das daher nicht tut, weil er arbeitslos ist, befindet sich in einer Krise der Identität, die so zu beschreiben ist, daß sich darin Sein und Sollen der Person in Widerspruch befinden – mit dem Resultat eines nach kurzer Zeit schon chronisch werdenden schlechten Gewissens, das auch dadurch nicht beschwichtigt werden kann, daß man sich sagt, daß man als Arbeitsloser vielleicht gar nicht selber ganz alleine schuld ist an der eigenen Arbeitslosigkeit. Man fühlt sich trotzdem schuldig , wenn man arbeitslos ist, denn man arbeitet dann ja nicht. Jedenfalls nicht »richtig«. Und das soll man doch. Entsprechend wird man dann von anderen und sich selber halb bemitleidet und halb verachtet. Wir teilen grosso modo unsere Lebenszeit nach dem Gesichtspunkt ein, ob wir noch nicht im so genannten Arbeitsleben stehen – als Kinder oder Jugendliche oder als Studenten – oder ob wir schon und noch im Arbeitsleben sind – oder ob nicht mehr : dann sind wir Senioren oder Rentner. Das bedeutet heute nicht mehr: wer von seinen »Renten« lebt, wie einmal der Rentier, was früher einmal eine Art Berufsbezeichnung war für Menschen auch schon in der Blüte ihrer Jahre ; heute aber ist ein Rentner: wer nicht mehr arbeitet. Dabei kommt es auch nicht darauf an, ob jemand nicht mehr »kann« oder bloß nicht mehr »darf«. Das Wesentliche ist: Er zählt nun nicht mehr mit. Denn, wie die Umgangssprache es so plastisch sagt: er ist dann »weg vom Fenster«. Das gilt

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zumindest für die angesehenen Berufe, wo Arbeit gleichbedeutend ist mit Macht und Einflußmöglichkeiten. Und nicht nur das ganze Leben, sondern auch das Jahr, die Woche und den Tagesablauf unterteilen wir mit dem Begriff der Arbeit. Denn das Jahr besteht aus Arbeit und aus Urlaub ; und die Woche aus den Arbeitstagen und dem Wochenende ; und der Tag aus Arbeitszeit und Freizeit, früher hieß es Feierabend. Allgegenwärtig also, scheint es, ist in unserer Kultur die Arbeit, da sie gegenwärtig ist auch noch in ihrer Negation, in Kindheit, Pensionierung , Urlaub, Wochenende, Freizeit.4 In »Einsamer nie« hat einmal Gottfried Benn die Gegenwelt, die ihn umgab, beschrieben als die Welt, »wo alles sich durch Glück beweist« – und von sich gesagt, demgegenüber diene er, »dienst du dem Gegenglück, dem Geist«.5 Sehr viel mehr als durch das Glück bzw. durch den Geist beweisen wir uns heute in der deutschen Gegenwartsgesellschaft, scheint mir, durch die Arbeit, dienen wir der Arbeit.

3 Forschungsresultate in Bezug auf Arbeit Fragen wir jetzt also nach dem Forschungsstand bezüglich der historischen Semantik unseres deutschen kulturellen Schlüsselwortes Arbeit. Wo und wie ist dieser Forschungsstand zu greifen ? Hierauf ist die Antwort für die Germanistik und die Linguistik gleichermaßen eine wenig schmeichelhafte. Denn sie lautet: Führend ist zur Zeit die Forschung der Historiker, die hier vorangegangen sind. Wir hinken nach. Das Paradigma historischer Semantik heute ist auch für die Germanistik die »Begriffsgeschichte«, wie sie praktiziert wird von Historikern, Politologen, Philosophen und Juristen, und von Ökonomen und von Theologen, aber eben kaum von Germanisten. Die »Begriffsgeschichte«, wie sie uns vor Augen steht als Monument vor allem in den bislang sieben großen eindrucksvollen Bänden mit dem Titel Geschichtliche Grundbegriffe und dem Untertitel: »Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland«.6 Hier nun haben wir den Glücksfall, daß sich darin ein Artikel auch zu Arbeit von rund 60 Seiten findet, der sogar von einem der Herausgeber, von Werner Conze (1972), abgefaßt ist ; ferner, ebenfalls von Conze (1972), ein Artikel zu Arbeiter von fast 30 Seiten, außerdem Artikel etwa zu Beruf (Conze 1972) und Proletariat (Conze 1984). Der Artikel Arbeit ist schon zwanzig Jahre alt, repräsentiert jedoch auch heute noch den

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Von der »Allgegenwart von Arbeit im modernen Leben« spricht auch Conze 1972, 215. Gottfried Benn: Gesammelte Werke in vier Bänden. Dritter Band. Wiesbaden 1960, 140. Brunner et al. 1972 – 1992  – Als »das gegenwärtige Paradigma der historischen Semantik« bezeichnet die »Begriffsgeschichte« Busse 1987, 43.

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Forschungsstand, es gibt dazu nichts Neueres und Besseres von ähnlichem Kaliber. Für die Zwecke dieses Vortrags fasse ich das dort Berichtete, wie folgt, zusammen.7 Erstens. Weder in der griechischen noch römischen Antike gibt es den Begriff der Arbeit. Sondern in der griechischen Antike gibt es, scharf geschieden, nur Begriffe für bestimmte Arbeitsarten oder -typen, einerseits für schwere körperliche Anstrengung und Mühsal, insbesondere Sklavenarbeit, nämlich griechisch ponos sowie kopos ; andererseits für Tätigkeiten freier Bürger, griechisch poiesis und praxis. Vorherrschend ist hier die Mißachtung körperlicher Tätigkeit, weil sie dem freien Bürger nicht geziemt, so vor allem in der Klassik, bei Autoren, die im Mittelalter und der Neuzeit weiterwirken, Aristoteles und Platon.8 Ähnlich später auch bei Cicero, von dem die freien Künste (artes liberales) drastisch unterschieden werden von den Künsten, »qui sordidi sint«, den schmutzigen, den Künsten nur des Körpers, nicht des Geistes. Auch lateinisch labor hat mit Arbeit im modernen Sinne kaum etwas zu tun, denn es bedeutet Anstrengung und Not und Schmerz und Leid und Ähnliches ganz allgemein. Cicero hat offensichtlich sogar Schwierigkeiten, labor gegen dolor abzugrenzen, also, wie man heute übersetzen würde, »Arbeit« (aber damals meint es eben noch nicht »Arbeit«) gegen »Schmerz«. Er sagt: »Interest aliquid inter laborem et dolorem. Sunt finitima omnino, sed tamen differt aliquid.« Also er betont: entgegen allem Anschein gibt es einen Unterschied, obwohl doch labor und dolor äußerst ähnlich sind. Labor ist im Gegensatz zu dolor Unlust, die entsteht, wenn man sich Mühe gibt und anstrengt: selbsterzeugter Schmerz gewissermaßen.9 Weil labor nicht auf die Bedeutung »körperliche Arbeit«, »Sklavenarbeit« festgelegt ist, kann labor etwas Positives sein, im Unterschied zu ponos und zu kopos, insbesondere wenn es kriegerische Not und Mühe ist. Zweitens. Im Einklang mit der Tradition des Judentums erfolgt im Christentum zum einen eine radikale Neubewertung körperlicher Tätigkeit, die nämlich ethisch aufgewertet wird, gerade insofern sie »Sklavenarbeit« ist und dann lateinisch labor heißt, wobei zugleich das früher hoch geschätzte otium zur otiositas herabgewertet wird, die

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Alles Folgende, Zitate inbegriffen, nach Conze 1972 (Art. »Arbeit«). An wort- bzw. begriffsgeschichtlichen Monographien zu Arbeit sind mir außerdem bislang bekannt geworden: Bienert 1954, Schwarz 1937, Vontobel 1946, Wiedemann 1979, Wunsch 1957. An Aufsätzen und Handbuch-Artikeln zu Arbeit gibt es u. a.: Anderson et al. 1984, Bienert 1957, Chenu & Krüger 1971, Geist 1931, Graach 1964, Heimarm 1987, Krupp 1964. Für die Wortgeschichte gleichfalls wichtig sind die Wörterbuchartikel der historischen Wörterbücher zunächst einmal des Deutschen (s. Literaturverzeichnis); Wörterbücher anderer Sprachen wären selbstverständlich gleichfalls einzusehen. Ex- oder implizit zur Wortgeschichte informieren ferner Werke über den literarischen Diskurs zu Arbeit, etwa: Büchler-Hauschild 1987, Buschinger 1986, Grimm & Hermand 1979, Segeberg 1991. Anders ist es im Kynismus und im frühen Stoizismus, der sogar die Wörter euponia und philoponia prägte (Conze 1972, 156); aber beide waren für das Mittelalter und die Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert unzugänglich. Ciceros Unterscheidung (Tusc. 2, 35) im Wortlaut: »Labor est functio quaedam vel animi vel corporis gravioris operis et muneris, dolor autem motus asper alienus a sensibus«.

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Muße wird zum Müßiggang , zum Laster. Zum anderen wird die Bedeutung von lateinisch labor weiter. Paulus tut nach seinem Selbstverständnis das, was griechisch »Sklavenarbeit« (kopos) ist, nicht nur als der Handwerker, der er ist, sondern ebenso auch als Apostel. Arbeit (kopos, labor) wird zur allgemeinen Pflicht für alle, »ohne Unterschied des Standes« (Conze). »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen«, lautet der berühmte Satz von Paulus (2. Thess. 3, 10), der dies aussagt. Labor wird auf diese Weise polysem, denn es bedeutet nunmehr »Mühe« usw. wie zuvor, zusätzlich aber jetzt auch »(mühevolle) Arbeit« – die ein Christ zu tun hat. Labor – wie dann später Arbeit – kann von nun an die deontische Bedeutung haben, daß es zum Begriff dazu gehört, daß man sie tun muß.10 Drittens. Dies besagt nun aber nicht, daß in der europäischen Geschichte ein für allemale die Geringerschätzung körperlicher Arbeit überwunden wäre. Sondern diese setzt sich immer wieder durch, und zwar auch innerhalb der Kirche. Thomas von Aquin bestreitet explizit die Geltung einer allgemeinen Pflicht zu körperlicher Arbeit (labor manum) und stellt unzweideutig fest: »Vita contemplativa […] melior est quam vita activa«. Viertens. Unter denen, die im Gegensatz dazu im 16. Jahrhundert die Gottwohlgefälligkeit gerade auch der körperlichen Arbeit unterstreichen, ist besonders wichtig Martin Luther, u. a. auch durch seine Lehre vom »Beruf«. Durch Predigt, Schule, Buchdruck werden in der Folge die Ermahnungen zur Arbeit breitenwirksam propagiert, und zwar in den katholischen nicht weniger als in den protestantischen Gebieten. Fünftens. Zur Beförderung der Tugend werden seit dem frühen 17. Jahrhundert in Europa Zucht- und Arbeitshäuser eingerichtet. Damit wird gewissermaßen ernst gemacht mit dem von mir noch nicht erwähnten christlichen Verständnis, wonach Arbeit auch als Strafe zu verstehen sein kann ; Arbeit ist ja in die Welt gekommen durch Vertreibung aus dem Paradies und das Verdikt: »Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen.« »Durch Arbeit ich ernehre mich, durch Arbeit man bestrafet mich«, »Labore nutrior, labore plector«, lauten demgemäß die Hausinschriften solcher Arbeitshäuser. Sechstens. Locke und Hume und Adam Smith im 18. Jahrhundert werten körperliche Arbeit (labour) in ganz neuer Weise dadurch auf, daß sie in ihr nun die eigentliche Quelle allen Wohlergehens, allen Reichtums sehen. Arbeit, so erkennen sie, ist nicht bloß tugendhaft, sie ist vor allem nützlich. Arbeit dient dem allgemeinen Besten. Wußte man das vorher nicht ? Man hatte es zumindest in der Regel nicht erwähnenswert gefunden.11 Nicht das Land und nicht das Klima, sondern Arbeit, als productive labour, 10 11

Zum Terminus »deontische Bedeutung« vgl. Hermanns 1995 b. Conze zitiert (162) jedoch u. a. Berthold von Regensburg (»Mitte 13. Jahrhundert«) und Meister Eckehart, die beide arbeit »nütze« nennen ; aber Eckehart hebt auch hervor, sie sei nicht »edel«. Im englisch-schottischen Diskurs bahnt sich die Neubewertung körperlicher Arbeit schon bei Francis Bacon an, der schreibt, daß die Natur »per labores varios […] ad panem homini praebendum, id est, ad usus vitae humanae subigitur«,

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schafft den Wohlstand der Nationen, heißt es nunmehr. Arbeit wird nun als ein Mittel nicht mehr zur Erlangung nur des Glücks im Jenseits, sondern auch des Glücks im Diesseits angesehen. Dazu paßt es, daß die Arbeit nun im 18., dem fortschrittsoptimistischen Jahrhundert auch nicht mehr allein als Mühsal aufgefaßt wird. »Und denkt nicht«, so Campe 1798, hier als Pädagoge für die Kinder schreibend, »daß das Arbeiten etwas Beschwerliches sei«. Arbeit mache vielmehr »viel Vergnügen«, meint er, wenn man erst daran gewöhnt sei, und dann möge man »gar nicht mehr ohne Arbeit leben«. Und ein anderer Autor dichtet 1782, ganz genau dasselbe Vorurteil bekämpfend, »Daß die Arbeit keine Sklaverei, / Daß sie das Glück des Menschen sei!«. Also Arbeit macht die Menschen nun in neuem Sinne glücklich, schon auf Erden. Siebentens und letztens. Daß im Gegenteil die Arbeit auch unglücklich machen kann, erkennt das 19. Jahrhundert überdeutlich wieder, so schon Hegel, so der Sozialismus und die Arbeiterbewegung , die seit Mitte des Jahrhunderts immer mehr an Stärke zunimmt, dergestalt, daß alles, was im 19. Jahrhundert später theoretisch und politisch über Arbeit ausgesagt wird, ex- oder implizit im Zeichen der »sozialen Frage« steht, wie sie dann heißt, bzw. auch des »Pauperismus« und des »Klassenkampfes« oder was der Namen dafür mehr sind. Das führt u. a. dazu, daß man (schon 1848) geradezu von einer »Heiligkeit« der Arbeit redet und man in der Arbeit geradezu den Inbegriff des Menschseins sehen kann (so Marx), bzw. auch den Inbegriff des Deutschseins (»deutsche Arbeit«). Worauf hebt das Resümee von Conze ab ? So frage ich im Rückblick. Auf den Wandel insbesondere der Wertung , die sich mit der Arbeit, der Idee der Arbeit, im Verlauf von zwei Jahrtausenden verbindet. Und verhältnismäßig wenig darauf hebt es ab, was die Vokabel Arbeit deskriptiv bedeutet, was in den verschiedenen Jahrhunderten überhaupt als Arbeit gilt, und was in den verschiedenen Jahrhunderten noch nicht als Arbeit gilt.12 Damit bin ich also bei der Frage nach den Forschungsdefiziten in Bezug auf Arbeit.

4 Forschungsdefizite in Bezug auf Arbeit Was läßt die »Begriffsgeschichte« a la Brunner, Conze und Koselleck noch zu wünschen übrig in Bezug auf die historische Semantik unseres Schlüsselwortes Arbeit ? Es ist manches, was man an den Grundbegriffen kritisiert hat oder kritisieren sollte.13 Eine Mißlichkeit der Grundbegriffe habe ich in meinem Überblick nicht wiederholen wollen, nämlich daß man bei Lektüre der Artikel oft die Übersicht verliert und sich

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also »non per disputationes certe, aut per odiosas ceremonias magicas« (Conze 1972, 167), also nicht durch Philosophie und nicht durch Religion. Das liegt offensichtlich nicht an einem Desinteresse Conzes, der vielmehr, wo es möglich ist (so 170f., 173f., 188f., 195, 198) auch zum wechselnden Bedeutungsumfang von Arbeit etwas aussagt (s. u., Abschnitt 5), sondern spiegelt in der Tat den Forschungsstand, der hier Genaueres nicht hergibt. Zur Kritik im allgemeinen s. Busse 1987, Koselleck 1978, v. Polenz 1973, Hermanns 1995 a.

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verliert in einer Überfülle der Belege. Das gilt auch für den Artikel Arbeit, der auf zweiundsechzig Seiten ganz genau zweihundertachtzig Anmerkungen präsentiert. Es fehlt demgegenüber an Herausarbeitung großer Linien der semantischen Entwicklung. Nach beendeter Lektüre des Artikels hat man das Gefühl: Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Mißlich ist auch der Begriffsbegriff der Grundbegriffe. Denn in diesem Werk sind die »Begriffe« in der Regel gar nichts anderes als Wörter. Solche Wörter, die für die historische politische Entwicklung wichtig waren, werden dadurch ausgezeichnet, daß sie hier »Begriffe« heißen. Demnach wäre die »Begriffsgeschichte« in den Grundbegriffen einfach Wortgeschichte ausgewählter Wörter. Aber manchmal haben die Autoren das vergessen und vermischen Wortgeschichte und Begriffsgeschichte. Und: Sie achten bei den Wörtern nur auf das Begriffliche daran, nur auf den Logos ; viel zu wenig auf das Pathos und das Ethos, das sich darin ausdrückt.14 Das gravierendste der Defizite der historischen Semantik in den Grundbegriffen ist jedoch, daß sie dem eigenen Anspruch oftmals nicht genügen, den Koselleck formuliert hat in dem seither viel zitierten Aphorismus: Wörter seien nicht allein Indikatoren der historischen Entwicklung ; nein, sie seien auch Faktoren der historischen Entwicklung.15 Das ist die Entdeckung von Koselleck: daß ein Wort historisch wichtig sein kann, weil es selber zur historischen Entwicklung etwas beiträgt. Als ihr Faktor. Deshalb, weil ein Wort bewußtseinsprägend sein kann, insofern es Weltansichten und Erwartungen und Normen bündig ausdrückt.16 Das ist also das Programm der Grundbegriffe. Darzulegen, wie die Wörter, die darin behandelt werden, zu Faktoren der geschichtlichen Entwicklung wurden ; inwiefern sie dann Faktoren der geschichtlichen Entwicklung waren ; wie sie als Faktoren der geschichtlichen Entwicklung wirkten. Und das große Defizit der Grundbegriffe ist es, daß gerade dieses nicht nur nicht geleistet, sondern oft nicht einmal angestrebt wird in der Mehrzahl der Artikel. So auch nicht in dem Artikel Arbeit, der uns also keine Auskunft gibt darüber, ob und wie das Wort ein Faktor der historischen Entwicklung war und wurde. Und mit diesem Manko hängt nun eng das andere zusammen, das ich gleich als erstes Defizit bezeichnet habe. Man erfährt nicht, was im 18. und 19. und 20. Jahrhundert der Bedeutungsumfang oder -inhalt war des Wortes Arbeit. Also auch nicht, welchem Wandel dieses Wort in dieser Zeit semantisch unterlag. Und erst recht nicht, was dafür die Gründe waren. Und das gilt, so füge ich hier ein, nicht nur für den Artikel Arbeit in

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Logos, Pathos, Ethos respektive Denken, Fühlen, Sollen (oder: Wollen) respektive Kognition, Emotion, Intention sind als – gleichberechtigte – Bedeutungsdimensionen dargestellt in Hermanns 1995 b. So Koselleck 1972, 120. Das ist näher ausgeführt in Hermanns 1995 a, Kap. 3.

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den Grundbegriffen, sondern das ist in der Tat der Forschungsstand bezüglich der historischen Semantik dieses Wortes heute – soweit ich das überblicke. Niemand also sagt uns, was im 18. und 19. und 20. Jahrhundert jeweils Arbeit war, was noch nicht Arbeit war und was schon Arbeit war und wie sich das verändert hat im Laufe der Geschichte. Niemand sagt uns auch, wie das vielleicht damit zusammenhängt, daß die Vokabel Arbeit in der Tat ein Faktor der geschichtlichen Entwicklung wurde. Damit komme ich zum nächsten Abschnitt meines Vortrags, wo ich meine Forschungshypothesen diesbezüglich formulieren und plausibel machen möchte.

5 Forschungshypothesen in Bezug auf Arbeit Ich vermute, Arbeit ist bereits im 19. Jahrhundert (und vermutlich auch schon früher) Selbstbeschreibungswort und Selbstverständniswort für Menschen aller Schichten und sozialen Gruppen generell gewesen. Allerdings, und das ist vorerst eine weitere Vermutung , haben sich die Angehörigen der deutschen und der europäischen Kultur im 19. Jahrhundert in Bezug auf Arbeit noch ganz anders definiert als heute. Nämlich durch den Unterschied, daß Angehörige gewisser Schichten Arbeit taten, Angehörige der anderen Schichten aber gerade nicht. Wogegen Arbeit heute für uns allgemein geworden ist. Dies ist also meine erste Hypothese: Arbeit war ein Schlüsselwort des Selbstverständnisses der Deutschen schon im (frühen) 19. Jahrhundert, aber damals war es noch ein Wort sozialer Unterscheidung. Und es hat sich erst im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts durchgesetzt als Wort von allgemeiner Geltung für das Selbstverständnis in dem neuen Sinn, daß Arbeit etwas ist, was jeder Mensch zu tun hat. Daraus folgt bezüglich der Pragmatik dieses Wortes: Arbeit hat im Lauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sich semantisch so verändert, daß sich dabei die politische Funktion und die gesellschaftliche Rolle dieses Wortes in ihr Gegenteil verkehrt hat und aus einem Wort sozialer Distinktion zuguterletzt ein Wort gesellschaftlicher Integration geworden ist.17 Dergestalt, daß sich die deutsche und vermutlich allgemein die europäische Gesellschaft und Kultur von heute u. a. dadurch unterscheidet von vorangegangenen (und anderen zeitgenössischen) Kulturen, daß sie in Bezug auf Arbeit nunmehr sozusagen klassenlos ist ; weil es in ihr keine Klasse gibt, die nicht auch ihre Arbeit täte, nach dem eigenen Selbstverständnis wie auch in den Augen aller andern.

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Mit dem Wort »soziale Distinktion« verweise ich auf Bourdieu 1979, der uns eindringlich vor Augen führt, wie vielfältig und massiv sich das Bedürfnis nach dem Ausdruck von gesellschaftlichen Unterschieden geltend macht, auch heute.

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Wenn sie, wie ich meine, richtig ist, dann fordert diese erste Hypothese eine zweite, die erklären soll, wie es zu einem solchen Wandel kommen konnte. Meine zweite Hypothese lautet: Arbeit war als Fahnenwort der Arbeiterbewegung so erfolgreich und so überzeugend, daß sich insbesondere das deutsche Bürgertum dazu bequemen mußte, jedenfalls dazu bequemt hat, den vormals durch Arbeit ausgedrückten Standesunterschied und Klassengegensatz semantisch einzuebnen. Nämlich dadurch, daß das Bürgertum der Arbeiterbewegung mehr und mehr entgegenhielt: Was wollt ihr eigentlich mit eurem Arbeits-Ethos und mit Eurem Arbeits-Pathos ? Arbeit leisten wir doch schließlich auch. Ja, recht betrachtet, sind es doch im Grunde wir, die wir die bessere, weil wichtigere Arbeit tun. Anders formuliert, besagt die zweite Hypothese: Der Bedeutungswandel, der dazu geführt hat, daß bei uns die Arbeit heute klassenlos, weil klassenübergreifend, ist, hat nicht allein das Resultat gehabt, er hat auch die Funktion gehabt, daß durch Erweiterung des Umfangs des Begriffes Arbeit – so, daß damit nunmehr auch die Tätigkeit des Bürgertums bezeichnet werden konnte – dieses Bürgertum der Arbeiterbewegung deren Fahnenwort kaputtgemacht hat. Diese Arbeiterbewegung sollte nicht mehr sagen können, daß sie ganz allein das Recht auf ihrer Seite hatte, das sich aus dem Paulus-Satz ergibt und weiter daraus, daß man mittlerweile wußte: Arbeit, und nicht Eigentum, das ist die eigentliche Quelle allen Reichtums.18 Läßt es sich beweisen, daß – sagen wir einmal – um 1800 der Bedeutungsumfang der Vokabel Arbeit noch ein engerer gewesen ist als heute ? Conze spricht nur vage vom »Zögern der Sprache, einen allgemeinen Arbeitsbegriff anzunehmen«, auch noch »für die Zeit seit dem 18. Jahrhundert«.19 Aber die Belege, die er anführt, bieten ein ganz uneinheitliches Bild. Zwar nicht selten werden arbeiten und Arbeit deutlich abgegrenzt verwendet gegen andere Tätigkeiten. So wird regelmäßig , scheint es, arbeiten von handeln unterschieden, handeln hier im Sinn von »Handel treiben«. Beispielsweise fordert schon im Jahre 1777 eine Handwerksordnung , »daß das Arbeiten und Handeln einem und demselben Handwerks-Bruder nicht gestattet, mithin dem Arbeitenden das Handeln und dem Handelnden das Arbeiten untersagt sein« sollte.20 Mehr vielleicht als nur ein Hinweis liegt auch darin, daß sich seit dem späten 18. Jahrhundert die Bezeichnung arbeitende Klassen (nach englisch labouring classes, working

18

19 20

Genauer hätte man sich den Bedeutungswandel so zu denken, wie ihn die Sprachwandeltheorie von Keller 1990 modellieren würde: Immer öfter haben einzeln Angehörige der Oberschichten es als opportun empfunden, in je einzelnen Gesprächsbeiträgen Arbeit in der neuen, weiteren Bedeutung zu verwenden, also, wie man in der Linguistik sagt, in Akten der parole ; im Ergebnis wurde daraus die Veränderung der langue. Nämlich so, daß der zunehmend häufige Gebrauch des Wortes in der neuen, weiteren Bedeutung schließlich Usus wurde. Conze 1972, 165. Conze 1972, 174.

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classes) durchsetzt, später auch im Singular: die arbeitende Klasse. Und zwar ebenso als Selbstbezeichnung wie als Fremdbezeichnung seitens insbesondere des Bürgertums und Mittelstandes und des Adels. Dieser also allseits akzeptierte Name scheint bereits in aller wünschenswerten Deutlichkeit zu sagen: Das sind diejenigen, die arbeiten ; die andern tun es demnach nicht. Und gemeint ist hier das Proletariat, so nannte man die Klasse gleichfalls, wie auch handarbeitende Klasse. Also arbeitende Klasse, das war synonym mit handarbeitende Klasse.21 Daraus scheint zu folgen, daß auch Arbeit synonym mit »Handarbeit«, mit »körperliche Arbeit« war. Leider ist das aber linguistisch alles andere als schlüssig. Das beweist uns der Gebrauch von Arbeiter, den wir noch heute haben. Denn es sind ja heute keineswegs allein die Arbeiter und Arbeiterinnen, die arbeiten, obwohl man das aus dieser Wortform schließen wollen könnte. Arbeiter sind allerdings par excellence im 19. Jahrhundert die Angehörigen der arbeitenden Klasse, wo das Wort, das früher einen weiteren Bedeutungsumfang hatte, nun die Lehnbedeutung annimmt von französisch ouvrier, das seinerseits Fabrikarbeiter bedeutet.22 Das heißt, der Arbeiter ist nunmehr insbesondere der Fabrikarbeiter. Und als Arbeiter verstehen sich nun mehr und mehr auch solche Leute, die sich früher nur als einerseits Gesellen und Gehilfen, andererseits als Schlosser oder Schmiede angesehen hätten. Das ist die Voraussetzung dafür und auch die Folge davon, daß Arbeiter zum Fahnenwort der arbeitenden Klasse wurde als ein Wort, das deren Solidarität zum Ausdruck brachte. Also ist die Existenz des Wortes Arbeiter im 19. Jahrhundert in der heute noch geläufigen Bedeutung zwar ein Indiz dafür, daß es den Unterschied gegeben haben muß zwischen denen, die im 19. Jahrhundert Arbeit leisteten, und den anderen, aber ist für sich allein noch kein Beweis dafür. Auch die Wörterbücher kurz nach 1800 geben den gesuchten Unterschied nicht ganz so deutlich her, wie man es wünschen würde ; auf den ersten Blick zumindest nicht. Nach dem Wörterbuch von Adelung in revidierter Fassung 1808 ist Arbeit nämlich jegliche »angestrengte Anwendung der Leibes- und Seelenkräfte«; also auch der Seelenkräfte. Allerdings, »in eigentlicher Bedeutung«, wie es heißt, ist Arbeit doch allein »die angestrengte Anwendung der Leibes kräfte «, und zwar, heißt es dort weiter: »vornehmlich, um zeitliches Vermögen damit zu erwerben«. Und das Wörterbuch fügt dankenswerterweise noch hinzu: »Besonders haben sich dieses Wort die Handwerker eigen gemacht, den ganzen Umfang der zu ihrem Handwerk gehörigen Beschäftigungen damit auszudrucken«. Erst »in weiterer Bedeutung«, wie es hier ausdrücklich heißt, ist Arbeit auch »die pflichtmäßige Anwendung der Seelenkräfte«. Auffällig sind in diesem Wörterbuchartikel die Beschreibungswörter eigentlich, vornehmlich und besonders, die uns zeigen: Dieses Wörterbuch zielt schon auf das ab, was wir heute »prototypische Bedeutung« nennen. 21 22

Cf. Conze 1972, 219 ff. Conze 1972, 221.

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In der prototypischen Bedeutung dieses Wortes ist die Arbeit also: anstrengende körperliche Arbeit als Erwerbsarbeit von Handwerkern, die später auch Fabrikarbeiter heißen. Vielleicht noch deutlicher heißt es im selben Wörterbuch zum Lemma arbeiten: »In eigentlicher Bedeutung , die Kräfte seines Körpers zur Erwerbung zeitlichen Vermögens anstrengen«, und: »in weiterer Bedeutung , die Kräfte seiner Seele zur Erreichung eines gewissen Endzweckes anstrengen«. Also Arbeit ist um 1800 polysem, und zwar in semantisch ganz normaler Weise, nämlich so, daß eine engere von einer weiteren Bedeutung unterschieden werden kann. Deshalb wird auch um 1800 jeder von sich sagen können und auch sagen, daß er jetzt z. B. gerade eine Arbeit tue oder arbeite. In diesem Sinne hat z. B. Goethe, wie das Goethe-Wörterbuch belegt, sein ganzes Leben lang sein Schreiben und sein Dichten auch als Arbeit angesehen und bezeichnet. Leider sind die Dinge also nicht so einfach, daß man für das frühe 19. Jahrhundert sagen könnte, ohne Spezifikation: Die einen arbeiteten, und die anderen nicht. Sondern arbeiten konnten eben alle, in des Wortes weiterer Bedeutung. Nicht hingegen in des Wortes engerer Bedeutung , die bei diesem Wort zugleich die »eigentliche« ist, die prototypische Bedeutung. Wurde arbeiten verwendet zur Bezeichnung einer Tätigkeit, die auf »Erwerbung zeitlichen Vermögens« zielte, dann war Arbeit nur, d. h. ausschließlich, körperliche Arbeit. In dem Adelungschen Wörterbuch zumindest ist ja von Erwerb allein bei der Bedeutungsvariante »körperliche Arbeit« die Rede. Und vermöge dieser engen, »eigentlichen« Grund- und Hauptbedeutung dieses Wortes hat man schon im 19. Jahrhundert sagen können, daß die einen arbeiteten, die anderen nicht. Wie man noch im 20. Jahrhundert sagen konnte oder kann: Meine Frau arbeitet nicht. Oder heute auch: Mein Mann arbeitet nicht, der kümmert sich jetzt um den Haushalt und die Kinder. Damals war der Unterschied jedoch noch zusätzlich, daß Arbeit nicht bloß eingeengt war auf Erwerbsarbeit. Sondern eben außerdem auch noch auf körperliche Arbeit. »Die einen arbeiten, die anderen nicht« – hat man dies im 19. Jahrhundert wirklich einmal so gesagt ? Es gibt auf alle Fälle einen Satz in einem sehr berühmten Text, wo über die dort so genannte »bürgerliche Gesellschaft« folgendes gesagt wird: »Die in ihr arbeiten, erwerben nicht, und die in ihr erwerben, arbeiten nicht«. Dieser Satz ist aus dem Jahre 1848 und steht im Kommunistischen Manifest von Marx und Engels,23 und er klingt, als hätten Marx und Engels bei der Formulierung dieses Satzes nachgeschlagen in dem Wörterbuch von Adelung – so gezielt sind darin Arbeit und Erwerb in Kontraposition gebracht, in einem schulbuchmäßigen Chiasmus: »Die in ihr arbeiten, erwerben nicht, und die in ihr erwerben, arbeiten nicht«. Wenn der Satz so einfach hingeschrieben werden konnte, ohne Zusatz und Begründung ; war er, scheint es, für die Zeitgenossen 23

Karl Marx & Friedrich Engels: Werke. Bd. 4. Berlin 1972, 477.

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ohne weiteres plausibel. Arbeiten, das machten offenbar tatsächlich nur die arbeitenden Klassen, und die »Bourgeois«, die arbeiteten nicht. Diese waren mit der Aristokratie die »leisure classes«, wie dann später Veblen24 sagte, und sie waren die »oisifs«, die Müßigen, wie schon Saint-Sirnon sie nannte, im Gegensatz zu den »industriels«, den Arbeitenden.25 Das ist für uns heute doppelt schwer verständlich, denn an anderen Stellen ihres Textes rühmen Marx und Engels gerade die Dynamik der Bourgeoisie, von der in diesem Satz behauptet wird, sie arbeite nicht. »Das Bedürfnis«, heißt es beispielsweise, »nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen«.26 Das hört sich ganz und gar nicht an nach Müßiggang , sondern offensichtlich sind die Bourgeois doch höchst aktive Menschen, auch in Marx’ und Engels’ Augen. Aber offensichtlich ändert das mitnichten etwas an der Evidenz der Richtigkeit des Satzes: Arbeiten tun sie nicht. »Die in ihr arbeiten, erwerben nicht, und die in ihr erwerben, arbeiten nicht« – man erlebt in diesem Aphorismus heute noch die ganze Wucht des Wortes Arbeit und versteht an dieser Stelle, scheint mir, daß ein gut gewähltes Leitwort in der Tat ein Faktor der geschichtlichen Entwicklung sein kann. Dieser kurze Satz entlarvt gewissermaßen die in ihm gemeinte bourgeoise, bürgerliche Welt als eine zutiefst ungerechte, falsche, skandalöse, paradoxe, wo die Dinge auf den Kopf gestellt sind. Arbeit, wie sie hier gemeint ist, hat definitionsgemäß gerade dem »Erwerb« zu dienen, was sie aber hier gerade nicht tut ; und das ist bereits ein sozusagen logischer Skandal. Ferner ist es, wenn es so ist, wie ja Adam Smith gesagt hat, daß der Wohlstand in der Welt allein von Arbeit herrührt, ungerecht und paradox, daß die, die allen diesen Wohlstand schaffen, selber nichts davon erwerben. Aber auch nach christlichem Verständnis ist es ein moralischer Skandal, daß die, die gar nicht arbeiten, allein erwerben, denn man weiß doch: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Wir erleben, meine ich, in diesem Aphorismus Pathos ebenso wie Ethos, die in einem Wort zum Ausdruck kommen können. Hier das Pathos einer flammenden Empörung und das Ethos, daß die Arbeit ihres Lohnes wert ist, daß es also zutiefst ungerecht ist, wenn, wer arbeitet, nicht auch erwirbt. Pathos ebenso wie Ethos dieses Aphorismus laufen heute ganz und gar ins Leere. Denn es gibt diejenigen nicht mehr, von denen man behaupten könnte, daß sie nur erwerben und nicht arbeiten. Das hat eine unscheinbare, winzige Veränderung bewirkt, die sich in der Bedeutung unseres Wortes Arbeit abgespielt hat. Arbeit als Erwerbsarbeit ist heute nicht mehr nur die »körperliche« Arbeit. Dies Bedeutungselement ist wegge24 25 26

Thorstein Veblen: The Theory of the Leisure Classes (1899). [ Deutsch: Theorie der feinen Leute. Köln/Berlin 1958.] Zu Saint-Simons Entgegensetzung von, wie Conze das erläutert, »produktiv Arbeitenden« und »adligen Parasiten« vgl. Conze 1972, 197. Karl Marx & Friedrich Engels: Werke. Bd. 4. Berlin 1972, 465.

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fallen: »körperliche«. Wir, die Bourgeois von heute, können daher von uns allen sagen, daß wir arbeiten, wenn wir erwerben. Gibt es auch Belege, die uns zeigen, wie sich dieser kleine, aber wesentliche Wandel der Bedeutung angebahnt und abgespielt hat ? Dafür kenne ich bislang nur einen einzigen Beleg. Er ist ein Jahr jünger als der Satz von Marx und Engels, also aus dem Jahre 1849, und zwar aus der deutschen Nationalversammlung , wo ihn Friedrich Bassermann gesagt hat, Abgeordneter aus Mannheim, der im Paulskirchenparlament der liberalen Rechten angehörte. Er bezieht sich nicht allein auf Arbeit, sondern auch auf Arbeiter, also gleich auf zwei der linken Fahnenwörter. Bassermann fragt die Versammlung: »Derjenige, welcher in der Studier- und Schreibstube arbeitet, der die Schätze anderer Länder in statistischen Notizen sammelt, der auf dem Katheder durch Bildung unserer Jugend, oder im Rate der Fürsten für seines Vaterlandes Wohl sorgt, so ist, sage ich, wohl auch dieser kein Arbeiter ? Denn, was Sie Arbeit nennen« – der Redner redet jetzt direkt die Linke an –, »ist ja nur immer das gehässige Gegenüberstellen von der rohen Handarbeit der Tagelöhner und Handwerksgehilfen gegen alle edlere geistige Arbeit des Kaufmanns, Fabrikherrn, der Professoren und Staatsbeamten, der sogenannten Bourgeoisie, wie Sie diese Klasse nennen».27 Das ist offensichtlich ein noch ganz und gar rhetorischer Versuch, die weitere Bedeutung unseres Wortes Arbeit als die eigentliche durchzusetzen oder doch zumindest anzubahnen, und man sieht darin noch deutlich die Verachtung , die ein »Bürger« für die »rohe Handarbeit« empfindet und auch für die »Tagelöhner« und »Gehilfen«, die sie tun ; die Verachtung , die das Bürgertum als Ganzes vorerst daran hindert, sich tatsächlich auch als eine arbeitende Klasse zu verstehen. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, eine alte Philologenregel lautet: Einmal ist keinmal ; was besagen soll, daß ein Beleg nicht reicht, um philologisch etwas zu beweisen. Diese Regel heißt dann aber weiter: Zweimal ist immer. Und ich hoffe also zuversichtlich, daß sich weitere Belege finden lassen, nicht nur dafür, daß sich die Bedeutung so verändert hat, wie angegeben, sondern außerdem auch dafür, wie sie sich verändert hat, in Abwehr nämlich eines permanenten Vorwurfs, den die Linke an die Rechte richten konnte: das Bürgertum arbeite nicht.

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Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. Siebenter Band. Leipzig 1849, 5250. Ich verdanke meine Kenntnis des Zitates Grünert 1974, 121.

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6 Kulturelle Unterschiede Abschließend noch ein Hinweis auf die Relevanz des Themas Arbeit für die interkulturelle Germanistik. Dabei referiere ich, was ich von einem mir befreundeten chinesischen Kollegen28 weiß. Er sagt mir folgendes zu Arbeit im Chinesischen. Während es bei uns in Deutschland und Europa zu den kulturellen Selbstverständlichkeiten gehört, daß jedes Mitglied der Gesellschaft Arbeit leistet, ist dies in der chinesischen Gesellschaft und Kultur bis heute anders. So gibt es im Chinesischen bis heute kein zusammenfassendes Wort für Arbeit, sondern lediglich ein Wort für »körperliche Arbeit« – laodong – und eine Mehrzahl völlig anderer Wörter. Chinesische Studenten, Professoren, Journalisten, Künstler sagen daher von sich nicht, daß sie arbeiten, sondern benutzen immer je spezielle Wörter zur Beschreibung ihrer Tätigkeiten, wie: studieren, forschen, lehren, schreiben usw. Für die Tätigkeit von Funktionären, Direktoren, Offizieren usw., also Kadern, gibt es ein besonderes Wort: gongzuo. Diese Tätigkeit wird gut bezahlt und hoch geachtet. Körperliche Arbeit, laodong , dagegen wird zwar theoretisch – im Marxismus-Leninismus – sehr geschätzt, doch ist sie praktisch wenig angesehen. Dies beruht auf alten Traditionen, die bis heute weiterwirken, insbesondere des Konfuzianismus, der von Anfang an von körperlicher Arbeit abrät. Ferner haben die Kampagnen Maos in den letzten Lebensjahren wie auch der Kulturrevolution – die Kampagnen zur Belebung proletarischer Gesinnung durch die eingeführte Pflicht zu körperlicher Arbeit – laodong – das Gegenteil von dem bewirkt, was sie bewirken sollten. Laodong ist nunmehr insbesondere für die Intellektuellen eine Strafe. Wie bei uns im 19. Jahrhundert wird den Intellektuellen und den Kadern häufig vorgeworfen: Die arbeiten – laodong – nicht! Dies natürlich von den »Arbeitern«, die körperliche Arbeit leisten. In der Gegensätzlichkeit der Einstellungen zu Arbeit zeigen sich die Gegensätzlichkeiten von gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Tendenzen, die in China gegenwärtig wirksam sind. Was ergibt sich daraus für die interkulturelle Germanistik ? Dies zumindest, wenn wir, wie in Bayreuth, deutsche Dinge auch chinesischen Studierenden erklären wollen: daß in diesem Punkt die Dinge unterschiedlich sind, in China und in Deutschland, wie gewiß in vielen anderen Punkten. Aber wenn wir ihnen dies erklären wollen, müssen wir es erst erfahren. Und erfahren können wir es nur von ihnen selbst. Nur im Gespräch mit ihnen. Und das ist das Schöne an der interkulturellen Germanistik. Daß die Arbeit, die sie tun muß, wesentlich auch im Gespräch besteht, mit den Studierenden und den Kolleginnen und den Kollegen aus den anderen Kulturen.

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Miaogen Zhao M. A. (Heidelberg), dem ich dafür herzlich danke. Ich bedanke mich an dieser Stelle auch bei dem Begründer des Programms der interkulturellen Germanistik, Alois Wierlacher (Bayreuth), der mich zur Beschäftigung mit meinem Thema Arbeit angeregt, und bei der Bayreuther Sprach- und literaturwissenschaftlichen Fakultät, die diesen Vortrag freundlich aufgenommen hat.

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Deutsch und Deutschland Zur Semantik deutscher nationaler Selbstbezeichnungswörter heute

Seit dem 3. 10. 1990 haben die Bedeutungen von deutsch und Deutschland sich geändert, und es scheint, daß beide Namen jetzt semantisch saturiert sind. Vorher klafften diesbezüglich Wunsch und Wirklichkeit in beiden deutschen offiziellen Sprachgebräuchen auseinander. Für die Bundesrepublik war diese (als »Rechtsnachfolgerin« des »Deutschen Reiches«) selbst das eigentliche Deutschland , aber nicht in dessen eigentlichen Grenzen. Für die DDR (in ihrer letzten Phase vor der »Wende«) war ihr Deutschsein eine Sache der Vergangenheit, die aber doch nicht ganz vergehen wollte. Diese Mißlichkeiten also gibt es heute nicht mehr, dafür gibt es nunmehr andere, die sich an die Wörter deutsch und Deutschland knüpfen. Insbesondere fragt man hierzulande mit Besorgnis immer wieder nach der »Rolle«, die das neue Deutschland in der »Welt« zu spielen habe, und nach der »Identität« der Deutschen, was man offensichtlich beides gern auf eine knappe Formel bringen würde. Insofern sind die Bedeutungen von deutsch und Deutschland auch noch heute offen und umstritten, und es wäre linguistisch lohnend, das im einzelnen zu eruieren. Was hier folgt, ist aber nur die Skizze eines Panoramas der Verwendungsweisen dieser beiden Wörter. Diese Skizze konzentriert sich auf die öffentlichen und die offiziellen Sprachgebräuche. Dabei geht es um Herausarbeitung insbesondere der Bedeutungsvielfalt – also der Polysemie – der beiden Wörter deutsch und Deutschland, um die Ambiguitäten also, die den beiden Wörtern innewohnen, denn die Ambiguitäten sind es ja, die uns als Wissenschaftler interessieren.

1 Deutschland – jetzt ein Land mit festen Grenzen Heute hat der Name Deutschland die besondere Ambiguität verloren, die er noch bis 1990 hatte, eine komplizierte Ambiguität, betreffend ebenso die Unterschiede in den Sprachgebräuchen einerseits der DDR und andererseits der Bundesrepublik wie jeweils mehrere Bedeutungen des Namens Deutschland innerhalb der beiden deutschen Staaten. Dieser Beitrag ist erstmals 1995 erschienen in: Jäger, Ludwig (Hg.): Disziplinäre Identität und kulturelle Leistung. Vorträge des deutschen Germanistentages 1994. Weinheim, 374 – 389.

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Eine andere Ambiguität besteht jedoch noch heute, wie bei allen Staats- und Ländernamen, eine »systematische Polysemie«, vermöge derer Deutschland – erstens ein bestimmtes Territorium bezeichnet: Deutschland als ein geographischer Begriff; – zweitens einen Staat, der dieses Territorium als Staatsgebiet »besitzt«, vergleichbar dem Besitzer oder Eigentümer eines Grundstücks. In diesem Sinn ist Deutschland dann der Name der Institution und der juristischen Person, wenn man so will: der Firma Deutschland; – drittens aber auch die Deutschen als die Bürger Deutschlands, sozusagen die Belegschaft dieser Firma, doch zugleich auch deren Eigentümer. Dieser dritte Sprachgebrauch ist beispielsweise der des Deutschlandliedes in den Versen »Deutschland, Deutschland über alles,  / Über alles in der Welt,  / Wenn es stets zu Schutz und Trutze / Brüderlich zusammenhält«. Was nämlich brüderlich zusammenhalten soll, ist offensichtlich nicht das deutsche Territorium und nicht der deutsche Staat, das sind die Deutschen; – viertens schließlich pars pro toto auch diverse Stellvertreter Deutschlands, die in seinem Namen sprechen oder handeln, angefangen mit dem Bundespräsidenten, der z. B. Polen um Verzeihung bittet für das ihm im Namen Deutschlands angetane Unrecht – damit hat auch Deutschland dies getan – und aufgehört vielleicht mit unserer nationalen Fußballmannschaft, wenn wir über diese lesen: »Sieg für Deutschland«. Damit haben dann wir alle stellvertretend einen Sieg errungen. Das ist eine metonymische Begriffsverwandtschaft, wie wir sie ganz ähnlich auch bei Wörtern wie z. B. Schule oder eben Firma haben. Wie gesagt, die hieraus resultierende Polysemie des Namens Deutschland bleibt von den Ereignissen des Jahres 1990 unberührt, und was verschwunden ist, sind andere Polysemien dieses Namens. Was den offiziellen Sprachgebrauch der DDR betrifft, so war hier Deutschland eine Sache der Vergangenheit geworden. Deutschland sollte es – auch in den Köpfen – nicht mehr geben. Linguistisch ausgedrückt, war hier der Name Deutschland bloß ein Historismus.1 Dies galt aber nicht für andere Sprachgebräuche in der DDR, so daß schon innerhalb der DDR der Name Deutschland polysem war.

1

Dies war eine Konsequenz der »Abgrenzungspolitik« der DDR seit etwa 1970 (dazu Hellmann 1992a, 91 ff.). In den Wörterbüchern der DDR wirkt sie sich beispielsweise so aus, daß im Jahre 1964 dort zu Deutschland nur gesagt wird »Ländername« (WDG, s. v.), 1984 (HWDG, s. v.) aber: »Ländername für das Territorium der deutschen Nation, bes. des ehemaligen deutschen Staates, bis zur Herausbildung der DDR und BRD« mit den Beispielen (im Präteritum) »er lebte in Deutschland«, »sie waren Vertreter eines anderen Deutschland« und »das Wilhelminische Deutschland«, was das Antiquierte dieses Namens in der Sicht der DDR besonders gut herausbringt.

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Was die offiziellen Sprachgebräuche in der Bundesrepublik betrifft, so konnte Deutschland, auf die Gegenwart bezogen, vor dem 3. 10. 1990 insbesondere dreierlei bedeuten. Erstens: Deutschland in den Grenzen, die das Deutsche Reich am Stichtag 31. Dezember 1937 hatte. Zweitens: Bundesrepublik und DDR zusammen. Drittens: Bundesrepublik alleine. Meistens meinte man im Westen nur die Bundesrepublik alleine, wenn man Deutschland sagte, das gilt auch für die nichtoffiziellen Sprachgebräuche.2 Eine andere Ambiguität im Namen Deutschland hing damit zusammen. Deutschland war nach deutschem Selbstverständnis in der Bundesrepublik zwar einerseits ein Name für den Staat, der wirklich existierte, andererseits jedoch der Name auch für jenes eigentliche Deutschland, das man laut Verfassungsauftrag künftig eines Tages wieder auferstehen lassen sollte. Also eine Ambiguität von Sein und Sollen war charakteristisch für den Namen Deutschland in der Bundesrepublik. Der Name Deutschland war, so könnte man das nach Koselleck (1972, 113) nennen, auch ein Zielbegriff der deutschen Politik, wie – bis zum Jahre 1871 – schon im 19. Jahrhundert. War also Deutschland für die offizielle DDR zuletzt bloß eine Sache der Vergangenheit gewesen, so für die offizielle BRD ein Name auch für deutsche Gegenwart und – als Programm – für deutsche Zukunft. Alle diese Ambiguitäten also gibt es heute nicht mehr. Seit dem »Zwei-plus-VierVertrag«, dem »Einigungsvertrag«, dem »Partnerschaftsvertrag« mit der Sowjetunionm und dem deutsch-polnischen »Grenzvertrag«, in denen sämtlich explizit die deutschen Grenzen mit dem allergrößten Nachdruck völkerrechtsverbindlich festgeschrieben wurden, ist es klar, was Deutschland geographisch ist: das Land, das jene Außengrenzen hat, die vorher Bundesrepublik und DDR zu ihren außerdeutschen Nachbarstaaten hatten. So wird im »Zwei-plus-Vier-Vertrag« das zu vereinigende Deutschland schon in der Präambel als ein »Staat mit endgültigen Grenzen« charakterisiert; und ferner wird dort u. a. festgelegt, daß seine Außengrenzen die der Bundesrepublik und die der DDR sein werden und daß diese Grenzen »endgültig« sein werden; daß »das vereinigte Deutschland […] keinerlei Gebietsansprüche gegen andere Staaten« hat und »auch nicht in Zukunft erheben« wird; daß »die Verfassung des vereinten Deutschland keinerlei Bestimmungen enthalten wird, die mit diesen Prinzipien unvereinbar sind«.3 Unvereinbar damit war im Grundgesetz vor allem die Präambel, die denn auch, und zwar per Einigungsvertrag, geändert wurde. Dort hieß es ja früher: »Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden«. Stattdessen heißt es nun: »Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern« usw. »haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet.«4 Also hier wird, militärisch ausgedrückt, Vollzug ge2 3 4

So schon Berschin (1979, 87 ff.), ferner Glück & Sauer (1990, 7 ff.) und Hellmann (1992 a, s. 110 ff.). Zitiert nach »Die Verträge zur Einheit Deutschlands« (o. J., 30). Ebd., 44; das folgende Zitat ebd., 45.

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meldet. Was zuvor Verfassungsauftrag war, ist jetzt Verfassungswirklichkeit geworden. Und daher gibt es auch die Ambiguität von Sein und Sollen in dem Namen Deutschland nicht mehr. Deutschland ist jetzt, was es ist, und nicht mehr außerdem auch, was es sein soll. Deutschland ist kein Zielbegriff mehr, Deutschland ist ein Status-quo-Begriff geworden, was die deutschen Grenzen angeht. »Damit gilt«, so schließt jetzt, dies noch einmal unterstreichend, die Präambel, »dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk«. Das wiederholt der letzte Paragraph (§ 146) des neu gefaßten Grundgesetzes: »Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, […]«. – Und damit scheint zugleich auch festzustehen, was dieses »gesamte deutsche Volk« ist.

2 Deutsche, Statusdeutsche, virtuelle Deutsche Offensichtlich sind es ja »die Deutschen« in den alten und den neuen Bundesländern. Wer aber zählt zu diesen Deutschen? 5 Nach wie vor gilt hier die Regelung des Grundgesetzes (§ 116), wonach es zwei Sorten Deutsche gibt, »im Sinne dieses Grundgesetzes«; beide sind aber rechtlich gleichgestellt. Es gibt a) Deutsche mit deutscher Staatsangehörigkeit, und b) Deutsche ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Das ist, wie es scheint, eine Besonderheit des deutschen Staatsrechts seit dem Jahre 1949: daß man nämlich rechtlich Deutscher oder Deutsche sein kann, ohne die deutsche Staatsangehörigkeit zu haben, während beispielsweise man Franzose rechtlich genau dann ist, wenn man die französische Staatsangehörigkeit hat, und sonst nicht. »Statusdeutsche« (oder »StatusDeutsche«) nennen die Juristen diese Deutschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit.6 Nach den »Übergangs- und Schlußbestimmungen« des Grundgesetzes (§ 116) sind dies alle »Flüchtlinge« und »Vertriebene«, die »deutscher Volkszugehörigkeit« sind  – nebst deren »Ehegatten« und »Abkömmlingen«  – die in Deutschland »Aufnahme gefunden« haben. Also diese Eigenschaften muß man haben, damit man als Deutscher oder Deutsche anerkannt wird: vertrieben sein, deutscher Volkszugehörigkeit sein, Aufnahme gefunden haben. Dann hat man auch Anspruch auf »Einbürgerung«, wie das juristisch heißt, d. h. man kann verlangen, zum Deutschen mit deutscher Staatsbürgerschaft erklärt zu werden. Als »vertrieben« gelten nach Vertriebenengesetz automatisch alle sogenannten »Aussiedler« aus Ländern wie der ehemaligen Sowjetunion, Polen, Rumänien usw.7 5 6

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Diese Frage diskutiert in lesenswerter Weise Teubert (1992). So z. B. der von mir benutzte Kommentar zum Grundgesetz (Münch, 1983, 1111 ff.). »Deutsche« mit deutscher Staatsbürgerschaft i. S. der Bestimmungen des Grundgesetzes waren übrigens schon immer die »Bewohner der DDR« (ebd., 1114). Sie hatten also, vielfach ohne es zu wissen, faktisch zwei Staatsbürgerschaften, wenn auch jeder unserer beiden deutschen Staaten jeweils bloß die eine anerkannte. Das »Bundesvertriebenengesetz« (§ 1 Abs. 2) definiert: »Vertriebener ist auch, wer als […] deutscher Volkszugehöriger […] im Wege der Aufnahme die zur Zeit unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostge-

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Deutsche Volkszugehörigkeit ist der entscheidende Begriff, den zwar das Grundgesetz gebraucht, jedoch nicht definiert. Er schafft  – zusätzlich zu den Deutschen und den Statusdeutschen – eine dritte Art von Deutschen, die man »virtuelle Deutsche« nennen könnte. Denn im Sinne unseres Grundgesetzes sind sie keine Deutschen (auch nicht Statusdeutsche), können aber jederzeit, im Handumdrehen sozusagen, Deutsche werden, wenn sie es nur wollen und wenn sie in Deutschland »Aufnahme« gefunden haben, was seit 1990 durch Gesetz geregelt und erschwert ist.8 Insgesamt wird so im Grundgesetz das »deutsche Volk« nicht definiert als »Staatsvolk«, als Gesamtheit aller Bürger eines Staates, sondern umgekehrt wird tendenziell das »Staatsvolk«, die Gesamtheit aller Bürger dieses Staates, definiert als die Gesamtheit aller Angehörigen des »deutschen Volkes« – Volkes also hier im ethnischen, im völkischen Verständnis dieses Wortes. 9 Doch noch eine weitere Kategorie von »virtuellen Deutschen« gibt es. Das sind alle Immigranten, insbesondere die sogenannten »Gastarbeiter«, sowie ihre Kinder und – inzwischen – Enkelkinder, die z. T. seit vielen Jahren als »Mitbürger« in Deutschland leben – als »Mitbürger«, aber eben meistens nicht als Deutsche. Laut »Ausländergesetz« des Jahres 1990  – also auch dies ist etwas Neues  – haben sie ein Recht auf deutsche Staatsbürgerschaft, das aber an Bedingungen geknüpft ist. Die wichtigsten sind: Sie müssen seit nicht weniger als fünfzehn Jahren in der Bundesrepublik sein (nur bei jungen Leuten unter 23 gibt sich das Gesetz zufrieden mit acht Jahren); und sie müssen ihre frühere Staatsangehörigkeit aufgeben.10 Diese letzte Regel  – also das Verbot der doppelten Staatsbürgerschaft – erzeugt Loyalitätskonflikte, die der Grund sind dafür, daß verhältnismäßig wenig junge Leute, die hier aufgewachsen sind und zweifellos in vieler Hinsicht »Deutsche« sind, nach anderen als juristischen Kriterien, doch nicht »Deutsche« werden. Diese virtuellen Deutschen sind als Deutsche ohne deutsche Rechte hier in Deutschland sozusagen nur geduldet. Also schon juristisch sind die Wörter Deutscher, Deutsche polysem, erst recht aber in der deutschen Alltagssprache. Sie bezeichnen einerseits die Angehörigen des deutschen Staates, dazu zählen aber auch die »deutschen« Dänen und die »deutschen« Sorben und die eingebürgert »deutschen« Türken, Tschechen, Polen usw., die nach ethnisch-völkischem Verständnis keine Deutschen sind, und andererseits bezeichnen sie die beiden Arten virtueller Deutscher, die staatsrechtlich Angehörige anderer Staaten sind, weil sie

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biete, Panzig, Estland, Lettland, Litauen, die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Albanien oder China verlassen hat oder verläßt […] (Aussiedler) […]« (zitiert nach Weidelener & Hemberger 1991, 158 f.). Wer aussiedeln will, muß nunmehr die Erteilung eines »Aufnahmebescheides« beantragen und abwarten, so das »Aussiedleraufnahmegesetz« (abgedruckt in Hailbronner & Renner 1991, 563 ff.). Von dem »völkischen Konzept der deutschen Staatsangehörigkeit« sprechen Hailbronner & Renner (1991, s. v.). Das »Ausländergesetz« ist abgedruckt in Hailbronner & Renner (1991, 357 ff.).

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die deutsche Staatsangehörigkeit nicht haben, aber doch als Deutsche sei es gelten, sei es gelten könnten – und zwar deshalb, weil sie, obwohl ohne »deutsche Abkunft«, hier bei uns zu Hause sind, bzw. gerade umgekehrt, weil sie zwar eine »deutsche Abkunft« haben, doch in Deutschland nicht zu Hause sind (was man sie deutlich spüren läßt, wenn sie – als Aussiedler – nach Deutschland kommen). Und in manchen Sprachgebräuchen sind sogar auch noch die Österreicher, die Deutschschweizer, die Elsässer und die Luxemburger Deutsche.

3 Deutsch – was sonst noch alles deutsch ist Das Wort deutsch hat sich semantisch – so ist anzunehmen – mit dem Jahre 1990 überall verändert, wo das Wort Bezug auf Deutschland  – auf das Territorium, den Staat und seine Agenturen und Akteure  – und auf Deutsche ausdrückt. Hier ist gleichfalls eine Ambiguitätsentlastung eingetreten. Beispielsweise ist in einer Fußballreportage jetzt die »deutsche Mannschaft« zweifelsfrei und kontextunabhängig die (oder eine aus) der Bundesrepublik; dagegen früher hätte es auch die (bzw. eine aus) der DDR sein können. Deutsch war allerdings, genau wie Deutschland (s. o.), mehr und mehr zum Selbstbezeichnungswort für bundesdeutsche Gegenstände, Sachverhalte und Personen, und zwar ebenso »im öffentlichen wie nichtöffentlichen Sprachgebrauch« der Bundesrepublik geworden.11 Dabei ist es auch, wenn man so will, geblieben, da ja jetzt die DDR der Bundesrepublik per Beitritt einverleibt ist; nur die Ambiguität ist weggefallen. Analog zu Deutschland haben Wortverbindungen mit deutsch jetzt vielfach eine andere Bedeutung, manche sind auch obsolet geworden, so z. B. deutsch-deutsch und gesamtdeutsch. Eine andere Bedeutung hat z. B. heute der bereits zitierte Phraseologismus deutsche Einheit. Früher Wunsch- und Zielbegriff mit der deontischen Bedeutungskomponente, daß man diese Einheit wollen und erstreben sollte, ist er jetzt ein Status-quo-Begriff geworden. Denn die deutsche Einheit ist im wesentlichen etwas, was wir nunmehr haben, allerdings, so heißt es oft, »vollenden« müssen. Ein gewisser Sollensanteil ist dem Ausdruck deutsche Einheit also doch geblieben. Sonst hat deutsch noch unverändert das beträchtliche Bedeutungsspektrum, das dies Wort auch schon vor 1990 hatte. Was bedeutet deutsch? Die deutschen Wörterbücher sind mit dieser Frage offensichtlich überfordert, denn sie bieten uns Erläuterungen der Bedeutung an wie diese: »die Deutschen, Deutschland betreffend«.12 Deutsch ist offensichtlich alles Mögliche, 11 12

Hellmann (1992 b, 282). So das DUW (s. v.) mit Gebrauchsbeispielen wie »das deutsche Volk«, »die deutsche Sprache«. Setzte man hier ein, dann würde man bekommen: »das die Deutschen betreffende Volk«, »das Deutschland betreffende Volk«, usw. So ist es offensichtlich nicht gemeint, man sieht hier aber die Verlegenheit, in die das Wort die Wörterbuchverfasser bringt. – Wie sich deutsch historisch mit Bedeutungen allmählich aufgeladen hat, zei-

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was nur mit irgend etwas sonstwie Deutschem irgendwie zu tun hat. Vorbildlich darin, wie er analytisch gliedert, ist noch immer der Artikel »deutsch« im Wörterbuch von Adelung (1774). Er unterscheidet 1) eine »eigentliche« Bedeutung, 2) eine »engere« Bedeutung, 3) die »figürlichen«, d. h. die metaphorischen und metonymischen, Bedeutungen des Wortes (AVWH, s. v.). »Eigentlich« ist deutsch für Adelung: »was den Deutschen eigen oder gemäß ist, aus dem Lande der Deutschen«. Hier nennt Adelung an Beispielen: »Die deutsche Tracht«, »Die deutsche Sprache«, »Deutsche Weine, welche in Deutschland gezeuget werden«, ferner u. a. »Die deutsche Freyheit« und »Die deutsche Treue« und die »deutsche Redlichkeit« – »welcher sich«, wie Adelung nostalgisch anmerkt, »die Deutschen ehedem beflissen«. Heute haben wir noch immer »deutsche Weine«, außerdem jedoch die »Deutsche Markenbutter« usw., eine »deutsche Industrie« und »deutsche Wirtschaft«, eine »deutsche Politik« und tausend andere, Adelung noch unbekannte deutsche Dinge. Umgekehrt ist heute »deutsche Tracht« ein Historismus, »deutsche Treue« ist ein Archaismus, »deutsche Redlichkeit« wohl gar nicht mehr verständlich. Deutsch in »engerer Bedeutung« ist für Adelung »die deutsche Sprache«, und zwar, wie er unterscheidet, »a) die gesammte deutsche Sprache, ohne Rücksicht auf ihre Mundarten« und »b) in noch engerer Bedeutung, die hochdeutsche Mundart«. Diese Unterscheidung gilt noch immer, wenn man auch Bedenken haben sollte, die globale Kollektivbezeichnung »die gesamte deutsche Sprache« zu verwenden. Aber deutsch, bezogen auf die Sprache, meint auch heute nicht allein die deutsche Standardsprache, sondern außerdem noch eine Vielzahl unterschiedlichster Varietäten, insbesondere Dialekte, die man deutsche nennt auch dann, wenn sie in Österreich, in der Schweiz, in Liechtenstein und Luxemburg gesprochen werden. Diese Ambiguität trägt dazu bei, die Meinung fortzupflanzen, daß auch die Bewohner dieser Länder Deutsche seien, was ja manche Deutsche und auch manche Österreicher, wie bereits bemerkt, tatsächlich glauben. Sie war auch historisch wichtig, denn sie war ein Wirkungsfaktor bei der Bildung eines deutschen Nationalbewußtseins vor und nach den Freiheitskriegen 1813/1814. »Uns knüpft der Sprache heilig Band«, so glaubte nicht nur Körner.13 Doch die deutschen Dialekte waren damals – wie noch heute – vielfach wechselseitig unverständlich, und die deutsche Standardsprache wurde nur von wenigen geschrieben, erst recht nicht gesprochen. Man machte sich also eine Äquivokation zunutze, wenn man damals suggerierte: Wir sprechen alle deutsch, also sprechen wir dieselbe Sprache.14 Erst seitdem es eine Schulpflicht und vor allem seit es Radio und Fernsehen gibt, ist ja die deutsche Stan-

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gen Reiffenstein (1985) und Haubrichs (1993): am Anfang konnte nur die Sprache deutsch sein, erst viel später gab es diutischiu lant und diutischiu liute usw. Zitiert (ebd., 328) und kommentiert (passim) von Barbour (1993). Diese Äquivokation hat Ahlzweig (1994) als ein Leitmotiv des deutschen nationalen Denkens insbesondere seit dem frühen 19. Jahrhundert nachgewiesen.

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dardsprache im zentralen deutschen Sprachraum allgemein zugänglich, vorher waren es nur einzelne Register, wie das Deutsch der Kirchen. Uns knüpft das Band der deutschen Mediensprache, kann man heute vielleicht sagen. Was die Vielzahl deutscher sprachlicher Varietäten angeht, so ist eine davon seit dem Jahre 1990 aus Gebrauch gekommen, die »Sprache der Öffentlichkeit« der DDR samt DDR-Institutionensprachen, die, zusammen mit der Sprache des Marxismus, auch auf Umgangs- und auf Bildungssprache in der DDR bekanntermaßen großen Einfluß hatten. Dafür mußte man im deutschen Osten neue Wörter wie z. B. Subsidiaritätsprinzip und Mehrwertsteuer lernen. Hat man früher beim Vergleich der Sprachgebräuche in der BRD und DDR zu recht betont, der Unterschied betreffe nicht »die« deutsche Sprache, sondern eigentlich nur eine Reihe von Vokabeln,15 so erkannte man nach 1990, daß der Wegfall DDR-spezifischer Institutionen und der darauf abgestimmten Redeweisen auch den unterschiedlich stark empfundenen zeitweiligen Verlust des Sich-zu-Hause-Fühlens in der eigenen Wirklichkeit und eigenen Sprache mit sich bringen konnte. In »figürlicher« (übertragener) Bedeutung heißt deutsch, Adelung zufolge: a) »deutlich«, b) »offenherzig«, c) »redlich, rechtschaffen, unverstellt«. Hier kann Adelung als Patriot sich wieder nicht enthalten, anzumerken: »Da die Obersachsen von dieser guten Eigenschaft ihrer Vorfahren durch die Nachahmung der französischen Sitten, gar sehr abgewichen sind, so fängt […] diese Bedeutung bey ihnen an zu veralten«. Wie dem auch gewesen sein mag – die Vokabel deutsch, so sehen wir bei Adelung, bezieht sich in figürlicher Bedeutung insbesondere auf den deutschen Nationalcharakter.

4 Deutscher Nationalcharakter Gibt es einen »deutschen Nationalcharakter«? Jedenfalls wird immer noch an seine Existenz geglaubt, und insoweit daran geglaubt wird, sind die nationalen deutschen Eigenschaften etwas, was man unter deutsch versteht und was infolgedessen einen Sektor der Bedeutung dieses Wortes ausmacht. Daher ist es linguistisch richtig, wenn auch Wörterbücher solche Eigenschaften nennen, insbesondere dann, wenn die Bezeichnungen für diese Eigenschaften mit dem Adjektiv deutsch gängige Kollokationen bilden wie z. B. deutsche Tüchtigkeit und deutsche Ordnung.16 Beim letzten Germanistentag hat Haubrichs ( 1993) darauf hingewiesen, daß die Wendung typisch deutsch im Deutschen heute oft gebraucht wird, und zwar in Bezug auf Eigenschaften wie: pedantisch, unfle15 16

So besonders Schlosser (1981). Insofern hat also auch die Linguistik etwas zu dem Thema »Nationalcharakter« beizutragen. Bislang ist es die Domäne der Literaturgeschichte (die Vergangenheit betreffend) und der Meinungsforschung (in Bezug auf zeitgenössische Stereotypen). Das bekannte Buch »Das Deutschenbild« (Koch-Hillebrecht 1977) berichtet über die Ergebnisse von beiden Disziplinen. Eine lesenswerte Sammlung klassischer und aktueller Texte über deutsche Eigenschaften bieten Nünning & Nünning (1994).

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xibel, ernst – oft sagt man auch: humorlos – oder theoretisch. Und man könnte beinahe meinen: Typisch deutsch ist, immer wieder einmal typisch deutsch zu sagen. Auch sehr deutsch wird gern verwendet, um das »typisch Deutsche« zu bezeichnen. Dieses »typisch Deutsche« ist die Negativversion des deutschen Nationalcharakters heute. Wie bei Adelung gesehen, sind es aber oft nur gute Eigenschaften, die als typisch deutsche gelten oder galten. So hat 1860 Wilhelm Grimm im »Deutschen Wörterbuch« (GDW, s.v. deutsch) bekundet: »Deutsch bezeichnet das edle und treffliche, und diese bedeutung wurzelt in der unauslöschbaren liebe der deutschen zu ihrem vaterland und in dem gefühl von dem geist der es beseelt. ein deutscher mann ist ein tüchtiger, redlicher, tapferer. deutsche treue soll nie gebrochen werden. ein deutsches gemüt ist ein tiefes, wahrhaftes.« Man sieht, wie hier ansatzweise eine ganze Ethik am Begriff des Deutschseins festgemacht wird, so wie früher am Begriff des Christseins. Hier ist redlich, wer ein »deutscher Mann« ist (von den deutschen Frauen ist noch nicht die Rede), wie man früher redlich war, weil man ein »guter Christ« war. Zwischen Sein und Sollen, zwischen Wirklichkeit und Wunsch wird – anders als von Adelung – von Wilhelm Grimm nicht unterschieden. Im 19. Jahrhundert ist es wohl allein das Wörterbuch von Sanders (1876), das (SWDS, s. v. deutsch) auch negative deutsche Eigenschaften aufführt, u. a.: »Grobheit«, »Trägheit«, »Ungeschick, im praktischen Leben sich geltend zu machen«, »Spießbürgerlichkeit, die sich Alles gefallen lässt« – hier ist offenbar der deutsche Untertanengeist gemeint  – »Pedanterie« und »Zopfthum«. Sanders fügt hinzu: »Verkörpert sind diese Eigenschaften in der Figur des sogen. deutschen Michels«. Seit dem vorigen Jahrhundert sind an Deutschen auch noch andere negative Eigenschaften aufgefallen. »Sind wir Deutschen heute anders?«, fragt in seinem Buch »Das Deutsche Wagnis« (ebd., 19) Klaus Dohnanyi.17 Und: »Was sagen die Nazijahre über uns Deutsche? Waren diese Verbrechen die nahezu vorhersehbare Mißgeburt unserer Charakteranlagen […]?«, nämlich »[…] jener so oft zitierten, Mischung aus Arroganz und Unterwürfigkeit, aus Machtbewußtsein und Schwärmerei, aus Sentimentalität und Brutalität? War Auschwitz deutsch, weil es nur deutsch sein konnte? Tragen wir den Keim solcher Verbrechen noch immer in uns? […] Kein nachdenklicher Deutscher«, so Dohnanyi (ebd., 20), »der sich diese Frage nicht immer wieder stellt«.18 Die genannten 17 18

Klaus von Dohnanyi, Das Deutsche Wagnis. München 1990. Dohnanyi kommt, nachdem er seine Frage diskutiert hat, (ebd., 23) zu dem Ergebnis: »Auschwitz ist deutsche Geschichte, deutsche Schuld und bleibt deutsche Verantwortung. Aber Auschwitz ist nicht deutscher Charakter.« Es wird wohl so sein, daß diese Frage oft gestellt wird. Noch viel öfter aber bleibt sie wohl unausgesprochen, man verdrängt sie, als ob diese Frage selber schon ein Vorwurf wäre. Vor dem Hintergrund der nicht gestellten, doch latent präsenten Frage und des Vorwurfs dieser Frage wird, so könnte man vermuten, dann von manchen jungen Leuten trotzig autosuggestiv behauptet: »Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein.«

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Eigenschaften, insbesondere Servilität und Autoritarismus, Sentimentalität und Brutalität, gelten innerhalb wie außerhalb von Deutschland wohl tatsächlich auch noch heute oft als »typisch deutsche«. Durchschnittsdeutsche Bundesbürger fanden sich und ihresgleichen 1989 – so sagt eine Emnid-Untersuchung 19 – ausgezeichnet durch die Eigenschaften: fleißig, ehrgeizig, intelligent, gründlich, sauber, sparsam und genau. Alles andere war statistisch unbeachtlich. Also viele Deutsche schrieben sich die bürgerlichen Tugenden zu: Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit und Sauberkeit, und das hat eine lange Tradition; außerdem aber, was anscheinend neu ist: Ehrgeiz und Intelligenz. Letztere Zuschreibung scheint sich selbst zu widerlegen als Beweis von deutscher Dummheit. Also fragt man sich: Wie konnten die Befragten daraufkommen? Die Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Meinungsforschungsinstitute, als agents provocateurs gewissermaßen, eben jene kollektive Dummheit selbst erst produzieren, die sie dann als wissenschaftlich festgestellte Durchschnittsmeinung präsentieren. Dessenungeachtet scheinen sich Politiker der Resultate unserer Meinungsforschungsinstitute gerne zu bedienen. Insbesondere sind ihre Resultate nützlich, wenn man Wählern schmeicheln möchte. Unübertroffen ist darin der deutsche Bundeskanzler, der den Deutschen unermüdlich ein für sie erfreuliches Porträt malt.20 Beispielsweise attestiert er ihnen »zähen Fleiß«, »Begabung«, »Wissen«, »konstruktiven Auf bauwillen«. Über den Erfolg der ersten sieben Jahre seiner eigenen Regierungsperiode redend, sagt er: »Dieser Erfolg ist uns nicht in den Schoß gefallen. Er ist entscheidend das Ergebnis von Fleiß, Arbeit und Wagemut der Unternehmer und Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und Gewerkschaften in unserem Lande.« Diese ehrfurchtsvoll genannten deutschen Eigenschaften werden also hier den Wählern und den Wählerinnen zur gefälligen Identifikation mit ihnen angeboten, und die Wahlerfolge scheinen zu besagen: So gefallen sich die Deutschen. Ob tatsächlich deutscher Wagemut und deutsches Wissen  – ebenso wie früher deutsche Ordnung, deutscher Fleiß und deutsche Tüchtigkeit – zu lexikalisierten, redensartlichen Syntagmen werden, bleibt noch abzuwarten. Philologisch wären jedenfalls die deutschen Wahlkampfreden eine gute Quelle für die Eruierung deutscher nationaler Eigenschaften, wie man sie am liebsten hätte.

19 20

Wer die Frage gar nicht stellt, kann auch nicht lernen, die Ambivalenz, die sich seit Holocaust und Zweitem Weltkrieg mit dem Namen deutsch verbindet, zu ertragen. Emnid Informationen Nr. 11/12 1989, 41. Jahrgang, 9. Folgende Zitate nach: Helmut Kohl, Reden. Zu Fragen der sozialen Marktwirtschaft. Bonn. 2. Aufl. 1990, 15 und 194.

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5 Volk, Vaterland, Nation und Nationalbewußtsein Selbstverständlich sind nicht nur die Wörter deutsch und Deutschland für das deutsche Selbstverständnis heute wichtig. Dessen Problematik zeigt sich u. a. auch an Wörtern wie Volk, Vaterland, Nation und Nationalbewußtsein. Nach wie vor sind dies »brisante Wörter« (Hermanns 1982, Strauß et al. 1989) und »belastete Begriffe«, nämlich deshalb, weil sie Fahnenwörter der Nationalisten und Nationalsozialisten waren, und vor allem, weil sie sprachliche Vehikel nationalsozialistischer Gedanken waren. Daher werden sie von manchen deutschen Sprachteilnehmern immer noch gemieden. Man befürchtet, daß die Neubelebung dieser Wörter einem neuen nationalen Chauvinismus Vorschub leisten könnte. Andererseits sind (deutsches) Volk, (deutsche) Nation und (deutsches) Vaterland erwünschte Synonyme für die Namen Deutschland und die Deutschen (oder auch: wir Deutschen) insbesondere in Feierstunden- und in Wahlkampfreden. Vor dem Jahre 1990 konnte man in BRD wie DDR die eigenen Staatsangehörigen mit diesen Wörtern nicht bezeichnen, weil sie ihrer Extension nach auch den jeweils anderen Teil des deutschen Volkes (der Nation, des Vaterlandes) mitumfaßten. Dieses Hindernis für den Gebrauch der Wörter ist jetzt weggefallen. So hat Volk jetzt wieder Konjunktur. Beliebt war früher als Zitat der Satz von Brecht: »Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung […] sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Wörtern ihre faule Mystik.«21 Heute ist demgegenüber festzustellen, daß sich unsere beiden großen Volksparteien im Gebrauch der Worte deutsches Volk und Vaterland rhetorisch gegenseitig überbieten, wobei sich jedoch die einzelnen Politiker erheblich unterscheiden. Vaterland, so hat Sternherger (1959, 11) damals registrierenswert gefunden, war nach langer Pause 1959 erstmals wieder öffentlich im Bundestag verwendet worden, als Theodor Heuss per Staatsakt aus dem Bundespräsidentenamt entlassen wurde und der Präsident des Bundestages, Gerstenmaier, über ihn die Formel sagte: »Er hat sich um das Vaterland verdient gemacht«. Zuvor war dieses feierliche Wort – ein Wörterbuch beschreibt es als »gehoben, oft emotional« (DUW, s. v.)  – bei offiziellem Anlaß nicht gesprochen, sondern nur gesungen worden, nämlich in den beiden deutschen Hymnen. Feierlich-altfränkisch klingt das Wort, das eine Art Ergriffenheit zum Ausdruck bringt, gewiß noch immer, aber vielen unserer Politiker geht es, wie gesagt, jetzt wieder flüssig von den Lippen. Ob das Wort wohl der Kritik des Feminismus standhält, wenn sie eines Tages einsetzt? Das ist eine andere Frage. Deutschland galt und gilt als »schwierige Nation«.22 Desungeachtet ist Nation im öffentlichen Sprachgebrauch – wie Vaterland – verstärkt gebräuchlich, seit die deutsche Politik nicht länger mühsam zwischen »beiden deutschen Staaten« unterscheiden muß 21 22

Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Band 18. Frankfurt a. M. 1967, 231. Dazu Busse (1993) sowie Busse (1995).

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und für »das ganze Deutschland« sprechen kann. Laut Wörterbuch ist die Nation eine »(1) große, (2) meist geschlossen siedelnde (3) Gemeinschaft von Menschen mit gleicher (4) Abstammung, (5) Geschichte, (6) Sprache, (7) Kultur, die (8) ein politisches Staatswesen bilden« (DUW s. v., dort aber ohne Zahlen). Was diese Definition sehr gut herausbringt, ist, wie man sich die Nation als Ideal und Idealtyp gerne vorstellt. Jedes ihrer einzelnen Bestimmungsstücke ist jedoch in hohem Maße problematisch.23 Spöttisch hat man definiert: »Eine Nation […]ist eine Gruppe von Menschen, die geeint sind durch einen gemeinsamen Irrtum hinsichtlich ihrer Abstammung und eine gemeinsame Abneigung gegen ihre Nachbarn«.24 Zur Idee von Vaterland und von Nation gehört historisch in der Tat nicht nur die Liebe, die man für die eigene Nation empfindet, sondern auch der Haß auf andere Nationen oder sonstige soziale Gruppen.25 Derzeit hat jedoch die deutsche Politik kein nationales Feindbild. Zur Idee von Vaterland und von Nation gehört historisch außerdem auch immer eine nationale Ethik (Ethik hier in wertneutralem Sinne), wie wir sie in Teilen schon bei Adelung und Grimm gesehen haben. Diese Ethik gipfelt darin, daß sie die Bereitschaft fordert, für Nation und Vaterland zu kämpfen und zu sterben.26 Daß im letzten deutschen Krieg auch viele Deutsche für Nation und Vaterland das Leben lassen mußten, ist im deutschen Kollektivgedächtnis auch nach fünfzig Jahren wohl noch nicht vergessen. Auch aus diesem Grund sind Volk, Nation und Vaterland bis heute noch brisante Wörter. Eine neue deutsche nationale Ethik ist zur Zeit nur ansatzweise auszumachen.27 Was sind Nationalgefühl und Nationalbewußtsein? Für die deutschen Wörterbücher sind die beiden Wörter Synonyme, und sie definieren Nationalbewußtsein als: »Gefühl 23 24 25 26 27

Man vgl. Busse (1995) sowie Hermanns (1994) und vor allem die dort angegebene Literatur. Frankfurter Rundschau, 11. 1. 92, 2, »Aufgespießt«, ohne Quellenangabe. In Bezug auf Deutschland hat das Jeismann mit dem Buch »Das Vaterland der Feinde« (1992) nachgewiesen, das vom deutschen (und französischen) Nationalismus 1792 bis 1918 handelt. »Zum Vaterland gehört der Tod«, schreibt Jeismann (1992, 95). Als Vordenker einer solchen nationalen Ethik ist vor kurzem Wolfgang Schäuble aufgetreten, der in seinem Buch – mit dem Titel »Und der Zukunft zugewandt« (Berlin 1994) für »etwas mehr nationale Auf bruchstimmung« (ebd., 63) eintritt, wenn auch ohne »nationalen Überschwang« (ebd.) und »große nationale Euphorie« (ebd., 64), d. h. für eine maßvolle, verhaltene, gedämpfte nationale Auf bruchstimmung. Denn der Staat, so Schäuble (ebd., 47) braucht »emotionale Bindekräfte«, weil »die Identifizierungs- und Akzeptanzgrundlage für den Staat […] die Nation« ist (ebd.), und zwar die Nation gedacht als die »Gemeinschaft« (ebd., 53), für die man »Dienst leisten muß […]«. Dienst ist das für Schäubles nationale Ethik zentrale Wort. Welche Dienste sind nach Schäuble der Nation zu leisten? Schäuble zählt sie auf in einer Klimax: »Dienst am Mitmenschen, Dienst an der Verteidigung des Rechtsstaates, Dienst in der Landesverteidigung […]« – hier hat das Wort Verteidigung den Sinn gewechselt, es ist nicht mehr metaphorisch – »[…] und zur Sicherung des Friedens weltweit« (ebd.). Also sozusagen von der Krankenpflege bis zum extraterritorialen Nato-Einsatz reicht die Stufenleiter der hier angeführten Varianten nationalen Dienens, ihre höchste Stufe ist jedoch – wie ja historisch gar nicht anders zu erwarten – wieder die Bereitschaft, für Nation und Vaterland zu kämpfen und (was damit impliziert wird) zu sterben.

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der Zugehörigkeit zu einer Nation« (DUW), »Bewußtsein, zu einer Nation zu gehören, bewußtes nationales Zusammengehörigkeitsgefühl« (WDW). Hinsichtlich der neuen Bundesländer wird gelegentlich bestritten, daß es dort, nach den Enttäuschungen der letzten Jahre, überhaupt bei einer Mehrheit noch ein deutsches Nationalgefühl, ein deutsches Selbstverständnis gebe.28 Andererseits las man im »Spiegel« (1994, Nr. 33, 111) über das Ergebnis einer Emnid-Untersuchung: »Die Mehrheit der Bevölkerung« in den neuen Bundesländern »fühlt sich als Deutsche und nicht mehr – wie bei Umfragen vor zwei Jahren – als Ostdeutsche.« Eine logisch etwas seltsame Alternative. Nicht viel besser war auch die gestellte Frage: »Fühlen Sie sich überwiegend als a) Deutscher/Deutsche, oder b) als Ostdeutscher/Ostdeutsche?« Woher sollten das, so fragt man sich, die Leute wissen? Niemand führt ja Buch darüber, wann, wie intensiv, wie lange und wie oft er sich als etwas fühlt. Je nachdem, was gerade relevant ist, fühlt man sich als etwas, je nach Rede- und Erlebniskontext wird man stärker ein Bewußtsein für die eine oder andere der eigenen Identitäten haben. Unserer Identitäten sind ja viele. Manchmal fühlt man sich als Deutscher oder Deutsche, aber das ist keineswegs ein Dauerzustand. Auf die dumme Frage nach dem sozusagen permanenten Nationalbewußtsein gaben also die Befragten eine dumme Antwort. Daraus ist nichts anderes zu schließen, als daß sich im Augenblick des Fragens die Befragten mehr bewogen fanden, ihr Deutsch- oder Ostdeutsch-Sein hervorzukehren, wobei aber zweifellos auch ihnen klar war, daß sie beiderlei Identitäten hatten. Der Begriff des Nationalbewußtseins könnte allerdings noch eine andere Bedeutung haben, als die Wörterbücher meinen, denn er läßt an den Begriff des Selbstbewußtseins denken. In der Tat wird man nicht sagen wollen, daß bei jemand »Nationalbewußtsein« vorliegt, der von dem Gefühl durchdrungen ist, daß er zu einer minderwertigen Nation gehört. Demnach müßte man das Nationalbewußtsein als ein »nationales Selbstbewußtsein« und als »Nationalstolz« definieren. Nur dann würde auch verständlich, daß die Forderung nach neuem Nationalbewußtsein nach wie vor brisant ist. Worauf gründet sich ein deutsches nationales Selbstbewußtsein heute? Wenn der Augenschein nicht trügt, am meisten wohl auf den Erfolg der deutschen Fußballmannschaft, wenn er nicht, wie 1994, ausbleibt. Glück (1992, 150) hat festgestellt, die Bundesrepublik sei bis zum Jahre 1990 ein verhältnismäßig »fahnenarmes Land« gewesen, was sich aber mit dem Sieg der bundesdeutschen Fußballmannschaft in Italien sozusagen über Nacht geändert habe, plötzlich sah man überall die deutschen Farben: ein Indiz für Nationalbewußtsein. Dem war in der DDR der Ruf »Wir sind ein Volk« 28

»Gibt es überhaupt noch eine deutsche Identität?«, fragt Lötzsch (1994) und antwortet: »In immer stärkerem Maße dominiert die Opposition ›Ossi‹ – ›Wessi‹ das Identitätsbewußtsein der Deutschen. Ein Großteil der diskriminierten Ostdeutschen fühlt sich als Deutsche zweiter Klasse, betrachtet sich in erster Linie als ›Ossi‹, nennt sich auch ganz unbefangen so und sieht in der Art und Weise, wie Ostdeutschland verwaltet und von der Treuhand ›großzügig‹ entindustrialisiert wird, Fremdbestimmung und Kolonialisierung« (ebd., 282).

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vorausgegangen, und noch vieles Andere, insbesondere die Maueröffnung, was ein deutsches nationales Hochgefühl bewirkt hat, das bis nach den Wahlen im Oktober 1990 anhielt, aber dann vorübergehend einer Art von nationalem Katzenjammer weichen mußte. Derzeit gibt es über deutsches nationales Selbstbewußtsein nichts Erwähnenswertes zu vermelden.

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Zitierte Wörterbücher AVWH = Adelung, Johann Christoph: Versuch eines vollständigen grammatischkritischen Wörterbuches ; Der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Erster Theil. Leipzig 1774. DUW = Duden Deutsches Universalwörterbuch. 2. Aufl. Mannheim etc. 1989. GDW = Grimm, Jacob ; Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Zweiter Band. Leipzig 1860. HWDG = Kempcke, Günter et al.: Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. In zwei Bänden. A – K . Berlin 1984. WDG = Klappenbach, Ruth ; Steinitz, Wolfgang (Hgg.): Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. 1. Band. Berlin 1964. SWDS = Sanders, Daniel: Wörterbuch der Deutschen Sprache. Mit Belegen von Luther bis auf die Gegenwart. Erster Band. Leipzig 1876. WDW = Wahrig, Gerhard: Deutsches Wörterbuch. Neuausgabe. O. O. 1980.

Die Globalisierung Versuch der Darstellung des Bedeutungsspektrums der Bezeichnung

Vorbemerkung 1. »Die« Globalisierung : ein Erwartungsbegriff 2. »Eine Welt«, »der blaue Planet«: Begriffsvorgeschichte 3. Die Bezeichnung die Globalisierung : ihre Kernbedeutung 4. Elemente der Globalisierung : zur Pauschalbedeutung der Bezeichnung 5. Die Globalisierung im Diskurs der Neoliberalen 6. Die Globalisierung im Diskurs ihrer Verleugner, Kritiker und Gegner 7. Die Begriffsrückseite der Bezeichnung die Globalisierung

Vorbemerkung Dieser Beitrag ist – wie es sein Untertitel sagt – als Versuch zu verstehen: als Versuch, sich trotz des Fehlens hinreichender Vorarbeiten einen Reim zu machen auf die widersprüchlichen Anmutungen der Bezeichnung die Globalisierung . Zweierlei betrachte ich als Manko dieses Beitrags. Erstens sind meine Belege eher Zufallsfunde 1 als Ergebnisse von systematischen Recherchen in den umfangreichen Korpora von Texten, insbesondere Zeitungstexten, wie sie uns als LinguistInnen jetzt zur Verfügung stehen, aber meine zeitlich sehr beschränkten Lesekräfte überfordert haben ; insofern genügt mein Beitrag nicht dem Maßstab, der besonders durch die vorbildlichen Düsseldorfer Arbeiten2 gesetzt ist. Zweitens muss ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich nicht Dieser Beitrag ist erstmals 2003 erschienen in: Wengeler, Martin (Hg.): Deutsche Sprachgeschichte nach 1945. Diskurs- und kulturgeschichtliche Perspektiven. Beiträge zu einer Tagung anlässlich der Emeritierung Georg Stötzels. Hildesheim/New York (= Germanistische Linguistik 169 – 170), 409 – 438. 1

Ich bedanke mich für ihre Hilfe bei der Sammlung der im Folgenden zitierten Texte und Belege und für nützliche Ratschläge bei Jochen A. Bär, Lutz Kuntzsch, Wolf-Andreas Liebert, Michael Schiffmann, Georg Stötzel, Wolfgang Teubert, Martin Wengeler und Rainer Wimmer.

2

Unter anderem Wengeler 1992, Jung 1994, Stötzel & Wengeler 1995, Böke et al. 1996, Niehr & Böke 2000.

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als ökonomischer Experte schreibe, weshalb man das von mir Dargelegte bitte ganz besonders kritisch lesen sollte. Einiges ökonomisches Wissen habe ich mir zwar aneignen können – ohne solches versteht man das Lexem die Globalisierung nur höchst oberflächlich – aber trotzdem schreibe ich doch nur als ein interessierter Laie.3 – Und noch etwas. Das Kolloquium zu Ehren Georg Stötzels, für das dieser Beitrag – damals noch als Vortrag – konzipiert war, fand statt im September 2001, es begann acht Tage nach dem 11. 9. (»nine eleven«), also nach dem Anschlag auf das New York World Trade Center mit dreitausend Toten. Der hat in der Tat »die Welt verändert«. Es begann nach ihm der »Krieg gegen den Terrorismus« der USA, ja gegen »das Böse« (»evil«). Seitdem ist auch die Globalisierung nicht mehr wiederzuerkennen. Ich betrachte daher diesen Beitrag jetzt als eine Art von Nachruf. Das Wort hat zwar die Brisanz, die es zuvor gehabt hat, noch nicht ganz verloren, aber »die« Globalisierung ist inzwischen durch »den« Terrorismus auch für manche ihrer Befürworter fragwürdig geworden. Heute erscheint uns »der« Terrorismus immer mehr als die Kehrseite »der« Globalisierung , obwohl man ihn offenbar als solche noch nicht ernst genug nimmt. Heute (März 2002) ist daher die aktuelle Interpretationsvokabel unserer Epoche nicht mehr die Globalisierung , sondern, mit zunehmender Tendenz, der Terrorismus . Oder auch der Krieg gegen den Terrorismus , der den Kalten Krieg (vgl. dazu Wengeler 2003) fast schon perfekt ersetzt hat.

1 »Die« Globalisierung : ein Erwartungsbegriff Was ist die Globalisierung ? Das ist die Leitfrage dieses Beitrags, die ich hier als synonym verstanden wissen möchte mit den Fragen: Was versteht man unter die Globalisierung ? Was sind die Bedeutungen von die Globalisierung ? Denn so muss es heißen: die Globalisierung . Der Artikel die gehört konstitutiv zu der Bezeichnung. Deutsche Wörterbücher, die ich eingesehen habe, machen zur Morphologie des Wortes alle die Angaben: Genitiv Globalisierung , Plural Globalisierungen . Aber das ist ein bedauerlicher Fehler, nämlich die Verwechselung von morphologischem System und sprachwirklichem Usus. Richtig müsste hier vermerkt sein : »ohne Plural« oder »nur mit bestimmtem Artikel«. Es wird in der Regel weder von Globalisierungen gesprochen noch auch von einer Globalisierung. Das zeigt: Die Globalisierung ist ein Eigenname wie der Mond , die Sonne und die Erde .4 Damit will ich sagen, dass der Ausdruck einen und nur einen Gegenstand bezeichnet. Eben wie die Erde , aber ebenso auch die Geschichte , die Auf klärung und der 3

Sehr geholfen hat mir das Buch von Martin und Schumann (Martin & Schumann 1996 ). Als unbezweifelbar kompetente Kritik und Darlegung dessen, worin die Globalisierung – in der Kernbedeutung der Bezeichnung – heute besteht, ist das Buch von Stiglitz (2002) zu empfehlen, des Wirtschafts-Nobelpreisträgers 2001, dessen Sicht der Dinge ich weitgehend folge.

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Oder, müsste man vielleicht korrekterweise sagen, eine definite description . – Wie bei anderen Eigennamen (»die Jupiter-Monde«, »ein russischer Byron« usw.) ist bei die Globalisierung die generische Verwendung

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Fortschritt , von dem man einmal geglaubt hat, dass er durch nichts aufzuhalten wäre – ebenso, wie heute oft geglaubt wird, dass man die Globalisierung nicht auf halten könne, bis zu jenem Zeitpunkt – so wird man das weiterdenken müssen – wo die Welt total globalisiert ist. Weil wir im Zeitalter der Globalisierung lebten. Dies ist ebenfalls ein Ideologem in vielen Texten zur Globalisierung. ( In nur drei Jahrgängen der Frankfurter Rundschau (1997 – 1999) ist diese Kollokation 121 mal zu finden. 5 ) Ähnlich meinte man im späten 18. Jahrhundert, dass man im Zeitalter der Auf klärung lebe, ähnlich ist im späten 19. und noch im 20. Jahrhundert von Marxisten geglaubt worden, dass man im Zeitalter des siegreichen Sozialismus lebe. Offenbar ist die Globalisierung , wie die Aufklärung und der Sozialismus , sowohl ein Begriff der Gegenwartsbeschreibung und -auslegung als auch ein Erwartungsbegriff. So wird, denken viele, sich die Welt entwickeln: hin zu immer größerer Globalisierung , weg von Parzelliertheit und von Regionalisiertheit und vor allem auch Protektionismus. Wobei sich jedoch die Einstellungen dazu diametral unterscheiden, und damit auch die deontischen Bedeutungen des Ausdrucks die Globalisierung . Für die Einen ist diese Globalisierung zu erstreben, für die Anderen zu verhindern oder radikal zu ändern, so dass die Globalisierung ebenso ein Fahnenwort wie auch ein Stigmawort ist. Ein kontroverser Begriff, kann man nach Stötzel & Wengeler (1995) auch sagen. Und zwar einer, der für unser Selbstverständnis, für das Selbstverständnis unserer Gesellschaft heute, im historischen Moment des Jahres Zweitausendundzwei, von ganz erheblichem Gewicht zu sein scheint. Er ist, obwohl noch jung , schon in ein Buch mit dem Titel »100 Wörter des [ vergangenen ] Jahrhunderts« (100 Wörter 1999)6 aufgenommen worden. Revitalisiert worden ist der Begriff europaweit durch die Ereignisse beim Gipfeltreffen der G 8 in Genua ( Juli 2001). Weniger wohl durch Gewaltaktionen von Globalisierungsgegnern als durch die der Polizei, die durch brutales Schlagen diesen Gegnern unfreiwillig die erstrebte Medienaufmerksamkeit verschafft hat. Dadurch ist der Ausdruck die Globalisierung , wenn ich mich nicht irre in der deutschen Öffentlichkeit überhaupt erstmals brisant geworden. Auch das ist ja eine Düsseldorfer Einsicht, dass Brisanzen Konjunkturen haben (Stötzel 2001, 148 f. ; 2002, 9). Zuvor war der Ausdruck, wenn ich richtig sehe, öffentlich fast nur als Fahnenwort verwendet worden, seitens der Globalisierungsfreunde. (Allerdings gab es gelegentlich Kritik an der Globalisierung auch schon vorher auch in Deutschland, insbesondere durch Martin & Schumann 1996 ). Außerdem wurde der Ausdruck reflektiert möglich und kommt ab und zu vor (beispielsweise wird gelegentlich von »den Globalisierungen« gesprochen), aber diese metaphorische Verwendung ist so selten, dass wir sie nicht weiter zu beachten brauchen. 5

So belehrt eine COSMAS-Recherche in der Datenbank des Instituts für Deutsche Sprache, Mannheim (corpora. ids-mannheim.de). Die benutzerfreundliche Gestaltung der Rechercheprozeduren ist Cyril Belica zu danken.

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Kommentiert von Georg Stötzel 1999.

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und kommentiert und angestaunt von Intellektuellen, die versuchten abzuklären, was sie davon halten sollten. Was bedeutet die Globalisierung ? Ist der Begriff treffend ? Und wenn ja, inwiefern ? Dies vor allem waren deren Fragen. Jetzt dagegen ist die Frage eher, welche Haltung man zu der Globalisierung einzunehmen habe. Plötzlich tritt die ontische Bedeutung – Was ist die Globalisierung ? – zurück hinter die deontische Bedeutung und die Frage: Ist sie etwas Gutes oder Schlechtes ? Diese Frage ist für uns als Intellektuelle nachgeordnet, da wir zuerst wissen wollen, was mit diesem Ausdruck überhaupt gemeint ist. Dann erst bilden wir uns vielleicht eine Meinung dazu, ob wir sie begrüßen oder sie bekämpfen sollen. Keineswegs nachrangig ist die Frage allerdings für uns als Linguistinnen und Linguisten. Denn die Antwort darauf ist entscheidend dafür, wie man die Bezeichnung die Globalisierung gebraucht. Als Appell für oder gegen. Soviel zur Einleitung. Rekapitulierend möchte ich das Folgende festhalten. Erstens, die Globalisierung ist ein Eigenname. Zweitens, dieser Eigenname fungiert als Erwartungsbegriff, der ein gegenwärtiges historisches Geschehen deutet als Teil einer zielgerichteten Entwicklung , wie schon die Begriffe die Auf klärung und der Sozialismus . Er ermöglicht daher denen, die ihn sich zu eigen machen, ein teilweise neues Selbst- und Weltverständnis: Heute leben wir in der Epoche der Globalisierung. Er stiftet also Sinn, er gibt eine Orientierung. Drittens, öffentlich ist die Bezeichnung die Globalisierung vielleicht erst durch Genua brisant geworden.

2 » Eine Welt « , » der blaue Planet « : Begriffsvorgeschichte Darrendorf (1998, 41) meint: »Wenn einmal die Geschichte des Begriffs der Globalisierung geschrieben wird, könnte man sie mit dem 20. Juli 1969 beginnen lassen.« Nicht, weil da als erster Mensch der Astronaut Neil Armstrong seine Füße auf den Mond gesetzt hat, sondern weil dabei zugleich zum ersten Male Fernsehbilder von der Erde weltweit zu betrachten waren, die wir, die wir auf ihr leben, direkt immer nur partiell und daher nur als eine ausgedehnte Fläche sehen können, obwohl wir natürlich wissen, dass sie eine Kugel sein muss, weil wir es so gelernt haben. 1969 konnten viele Menschen erstmals selber sehen , nicht bloß wissen, dass sie das ist. Und zum ersten Male sahen sie so auch die ganze Erde. Optisch eigentlich ja immer nur die Hälfte, aber per Gestaltergänzung doch die ganze. Das war zwar noch nicht der Anfang der Begriffsgeschichte der Bezeichnung die Globalisierung , aber doch ein wichtiger Moment in deren Vorgeschichte. Etwas später gab es auch Farbfotos von der Erde. Diese zeigten, dass die Erde blau gefärbt ist, offenbar im Unterschied zu anderen Planeten. Diese Blauheit kommt wohl von der Atmosphäre. Jedenfalls, der Name der blaue Planet ist wie der Ausdruck Eine Erde ( One Earth ) zum Begriff und Fahnenwort der etwa 1970 einsetzenden ökologischen Bewegung , zuerst in den USA, geworden. 1970 wurde dort der erste Earth Day abgehalten. Das Bild des

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blauen Planeten wurde zur Ikone der beginnenden Umweltbewegung. (Alles dieses nach Sachs 1993/94, 168.) Bereits 1962 war der Begriff Global Village ( geprägt von McLuhan 1962) in Gebrauch gekommen. 1972 erschien dann das Buch The Limits to Growth – Die Grenzen des Wachstums – der berühmt gewordene Bericht des Club of Rome von Dennis Meadows – zugleich in den Sprachen Englisch, Deutsch, Französisch, Holländisch, Italienisch, Portugiesisch, Spanisch, Dänisch, Norwegisch und Schwedisch und Japanisch, mit einem public-relations-Aufwand, der das Seine dazu tat, das Buch (Meadows et al. 1972) zu einer Sensation zu machen. Dieser Bericht »zur Lage der Menschheit«  – so der Untertitel – bewies rechnerisch, dass unsere Welt tatsächlich eine Welt ist, in der nämlich die Zunahmen der Bevölkerung der Welt, der Industrieproduktion, der Ausbeutung der Rohstoffreserven, der Umweltzerstörung und die (vergleichsweise kleine) mögliche Zunahme der Weltnahrungsmittelproduktion global interdependent sind und dem Wachstum absolute Grenzen setzen. » Eine Welt« hieß fortan: Es hängt alles dies zusammen, und zwar weltweit. Bücher wie The Limits to Growth haben wohl entscheidend dazu beigetragen, dass man anfing , sich die Erde sozusagen global vorzustellen. Nicht mehr nur als Kugel, sondern als Gesamtsystem, in dem ein Teil vom anderen abhängt. Seit wann gibt es die Globalisierung ? – fragt man manchmal. Ganz genau weiß das Wolf Schneider: »Die Globalisierung begann im Jahre 1522 damit, dass die Victoria des Magallanes die erste Umrundung der Erde beendete« (Schneider 1996 ). Aber dem war welthistorisch einiges vorausgegangen, das für diese Weltumrundung die Voraussetzungen schaffte. Vor zweieinhalbtausend Jahren wurde von Pythagoras die Kugelform der Erde postuliert, und Erathosthenes hat vor zweitausend Jahren den Versuch gemacht, sie durch Messungen nachzuweisen. 1492 wurde von Kolumbus, der an diese Kugelform geglaubt hat, bei dem Versuch, Indien paradoxerweise westwärts segelnd zu erreichen, Amerika entdeckt. Im selben Jahre, 1492, wurde aber auch der erste uns bekannte Globus, der von Martin Behaim, hergestellt, in Nürnberg (Sachs, 1993/94, 169). Auch das gehört offensichtlich mit zur Vorgeschichte der Bezeichnung die Globalisierung . Ein Lexikon der »1 000 Schlüsselwörter zum Verständnis der Welt von heute« meint dagegen: »Im weitesten Sinne setzte eine« (also immerhin nicht die ) »Globalisierung bereits vor hundert Jahren ein.« Denn, so lautet die Begründung , »mit der Entwicklung moderner Verkehrs- und Transportmittel Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Welt ein bisschen kleiner« (Cramer et al. 1997, 186 ). Sehr viel näher an der prototypischen Bedeutung der Bezeichnung die Globalisierung waren bereits Marx und Engels, als sie 1848 u. a. schrieben: »Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat [ … ] den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. [ … ] An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.« Und: »Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnten Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdku-

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gel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.« So heißt es im Manifest der Kommunistischen Partei (Marx & Engels 1848, 23). Treffender lässt sich wohl auch die heutige Globalisierung kaum darstellen, wenn auch in der Schilderung von Marx und Engels einige neuere Elemente fehlen, so vor allem das Zusammenwachsen der Geldmärkte. Ihre Darstellung macht zugleich deutlich, dass zumindest manche der Tatsachen, die wir die Globalisierung nennen, keineswegs vollkommen neu sind (Friedrichs 1997, 4), u. a. der weltweite Handel, die weltweite Arbeitsteilung bei der Produktion von Handelsgütern (mit Ausnutzung von auch früher schon z. T. enormen Unterschieden der Lohnkosten), der weltweite Abbau von Rohstoffen, auch die weltweite Umweltzerstörung. Insoweit ist offensichtlich die Globalisierung als Fortsetzung (mit anderen Mitteln) des Kolonialismus anzusehen, in Bezug auf manche der an ihr beteiligten Regionen auch als die Fortsetzung der bedenkenlos zerstörerischen kolonialkapitalistischen Ausbeutung von Rohstoffreserven und von Menschen.

3 Die Bezeichnung die Globalisierung : ihre Kernbedeutung Das Lexem Globalisierung ist im Deutschen schon im Jahre 1959 nachzuweisen, aber noch nicht in der hier interessierenden Bedeutung , 1996 ist es erstmals in einem gemeinsprachlichen Wörterbuch verzeichnet (Schnerrer 1998). Im Duden-Universalwörterbuch (1996/2001) wird als die Bedeutung von Globalisierung angegeben: »das Globalisieren, das Globalisiertwerden«, als Bedeutung von globalisieren : »auf die ganze Erde ausdehnen«. Demnach wäre die Globalisierung »das Ausdehnen oder das Ausgedehntwerden auf die ganze Erde«, ohne jegliche Spezifizierung. Das sieht zunächst aus wie Etymologie an Stelle von Semantik, denn diese Bedeutungsparaphrase verfehlt die Zentralbedeutung der Bezeichnung. Es ist aber festzustellen, dass man die Globalisierung oft tatsächlich so verwendet findet wie das Wörterbuch behauptet, nämlich per Verallgemeinerung der Kernbedeutung (Erweiterung ihres Begriffsumfanges). Die sich so ergebende Bedeutung nenne ich Pauschalbedeutung . Offenbar ist die Globalisierung eine an das Deutsche adaptierende Entlehnung der Bezeichnung the globalisation , deren heute übliche Bedeutung ihren Anfang nimmt (so Teubert 2002, 157) mit einem Aufsatz in der Harvard Business Review im Jahre 1983 mit dem Titel The globalization of markets (Levitt 1983). Hier ist die Bedeutung der Bezeichnung allerdings noch eingeschränkt durch die bloß betriebswirtschaftliche Perspektive des Aufsatzes. Dessen Vorspann lautet: »Companies must learn to operate as if the world were one large market – ignoring regional and national differences« (Liebert 2003). Bloß betriebswirtschaftlich war auch die Bedeutung »Anpassung lokaler Produkte an die Erfordernisse des Weltmarkts« (Teubert 2002, 157), die man ähnlich auch noch heute in Wirtschaftslexika findet: »die strategische Ausrichtung grenzüberschreitend tätiger Unternehmen [ … ]« (Rittershofer 2000, 422). Die Geschichte der Bedeutung der

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Bezeichnung verlief also, scheint es, in drei Schritten : 1) betriebswirtschaftliche (mikroökonomische) Spezialbedeutung (oder -bedeutungen), 2) heutige (makroökonomische und politische) Hauptbedeutung (Kernbedeutung), 3) Pauschalbedeutung. Teubert (2002, 156) stellt fest, dass in dem Korpus der Zeitung die tageszeitung der Jahrgänge 1988 – 1999, das er untersucht hat, das Lexem Globalisierung in der Zeit von 1988 bis einschließlich 1995, also in acht Jahren, insgesamt 161 mal verwendet wurde, 1996 aber doppelt so oft wie in den acht Vorjahren zusammen ; 1999 hat sich das Vorkommen noch einmal verdoppelt. Das wird wohl in etwa repräsentativ sein auch für andere Zeitungen. Dazu passt auch der jährliche Zuwachs des Erscheinens von deutschen Monographien mit dem »Titelstichwort« Globalisierung : bis 1994 höchstens 7 pro Jahr, 1999 aber 171 Publikationen (Liebert 2003). 1996 wird, weil die Bezeichnung die Globalisierung noch recht neu ist, die Bedeutung in der tageszeitung noch erläutert, u. a. mit folgenden Bedeutungsparaphrasen (Teubert 2002, 159 f.): – »maximale Öffnung [aller Märkte] für Kapital, Güter und Dienstleistungen« ; – »die vollständige Liberalisierung aller Märkte der Welt« ; – »die Ausweitung des Handels, die Liberalisierung der Finanzmärkte, der Sieg der Freihandelsideologie, die unkontrollierte Macht der multinationalen Unternehmen, die Internationalisierung des Arbeitsmarktes und die Umstrukturierung der Volkswirtschaften« (hier ist die Kritik – nicht am Begriff, sondern an dem, was er benennt – nicht zu übersehen). Einige weitere Worterläuterungen lauten: – »die Entstehung weltumfassender Märkte, die Internationalisierung des Handels, der Kapitalmärkte, der Produkt- und Dienstleistungsmärkte« (Sprachdienst 1999) ; 7 – »Prozess, durch den Märkte und Produktion in verschiedenen Ländern immer stärker voneinander abhängig werden« (Cramer et al. 1997, 186 ). Die zuletzt zitierte Paraphrase ist insofern von besonderem Interesse, als es sich dabei nach Auskunft (leider ohne Nachweis) des zitierten Buches um eine Definition der OECD handelt.8 Ulrich Beck beschreibt die gängige Bedeutung der Bezeichnung mit der Formulierung »Zuwachs an Interdependenzen und Verflechtungen zwischen nationalen Wirtschafts- und Gesellschaftsblöcken«; kritisch fügt er hinzu, die Globalisierung sei zugleich »ein neues Machtspiel zwischen territorial gebundenen und territorial entbunde7

Beigefügt ist der Erläuterung im Sprachdienst eine offensichtlich nicht ganz ernst gemeinte Vision des Endzustandes, auf den die Globalisierung zuläuft : »In einer globalisierten Wirtschaft kann jeder überall Kapital aufnehmen, sucht sich den günstigsten Standort für seine Produktion, verfügt per Internet schnell über alle notwendigen Informationen zur Produktvermarktung in der ganzen Welt«. Es ist nicht wahrscheinlich, dass ein solcher Zustand jemals eintritt, aber es ist in der Tat bemerkenswert, dass die Bezeichnung die Globalisierung Anlass gibt für solche Phantasien.

8

Wortgleich – leider gleichfalls ohne Nachweis – als Definition der OECD ebenfalls zitiert in Die Zeit 5. 4. 1996, in einem Artikel von Nikolaus Piper.

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nen Akteuren, also eine selektive ›Enträumlichung‹ sozialen und politischen Handelns« (Beck 1999, 125). Eine ähnliche Erklärung (Friedrichs 1997, 3), die jedoch auf die Aktionen abhebt, die den feststellbaren »Interdependenzen und Verflechtungen« zu Grunde liegen, lautet: »weltweite Vernetzung ökonomischer Aktivitäten«. Helmut Schmidt entwickelt folgende umfassende Idee von den, wie er wohl sehr zu Recht meint, »durchaus neuartigen Tatsachen [ … ], welche sich hinter dem Schlagwort der Globalisierung verbergen und die im Beginn des 21. Jahrhunderts die Welt entscheidend umprägen werden«, nämlich: die Explosion der Weltbevölkerung , dazu die schnelle Schrumpfung des pro Kopf verfügbaren Raumes ; der Rückgang des europäischen Anteils von zu Beginn unseres 20. Jahrhunderts einem Viertel auf heute nicht einmal mehr ein Achtel ; die Verdoppelung der an der Weltwirtschaft beteiligten Personen innerhalb von weniger als zwei Jahrzehnten, die unerhörte Beschleunigung des wissenschaftlichen und vor allen Dingen des technischen Fortschritts ; die unerhörte Beschleunigung der Ausbreitung des technischen Fortschritts – besonders auf dem Felde der Telekommunikation  – über den allergrößten Teil des Erdballs ; das vorher niemals erreichte Höchstmaß an internationaler Handelsfreiheit, Niederlassungsfreiheit und Investitionsfreiheit ; das nie zuvor erreichte Höchstmaß an Freiheit des Geldverkehrs und des Kapitalverkehrs ; der alle nationalstaatliehen Grenzen überschreitende Spekulationismus – ich habe ihn ›Raubtierkapitalismus‹ genannt – der Aufstieg Chinas sowie anderer asiatischer Staaten ; die neue Konstellation der Weltmächte im kommenden Jahrhundert ; der zu erwartende Aufstieg Osteuropas ; die Tendenz zur Angleichung des Lebensstandards zugunsten der neuen Teilnehmer der Weltwirtschaft und zu Lasten der alten Teilnehmer, darunter auch wir selbst – oder anders gesagt : die Auswanderung von Produktionen und damit von Arbeitsplätzen aus Westeuropa in Richtung auf die neu und modern sich industrialisierenden Länder mit niedrigen Löhnen und niedrigen Kosten. (Schmidt 1998, 99 f.) Hier ist, wie ersichtlich, die Bezeichnung die Globalisierung wirklich eine Epochenbezeichnung , die zusammenfassend alles das meint, was die neue Ökonomie und Weltlage – voraussichtlich die des 21. Jahrhunderts – ausmacht. Was noch fehlt, denkt man an das Szenario von Meadows (s. o.), ist nur die global wachsende Umweltproblematik wie auch der global voraussehbare Kampf um Nahrungsmittel und Rohstoffreserven, insbesondere Wasser, Erdöl und -gas, der vielleicht z. T. ein bloßer Konkurrenzkampf sein wird, nach bisheriger Menschheitserfahrung aber sehr wahrscheinlich auch Krieg.

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Alles dies als die Globalisierung zu verstehen, ist zwar nicht untypisch für die Gebrauchsweisen der Bezeichnung in speziellen gesellschaftlich-politischen Gruppen und bei manchen AutorInnen, die Bedingungen und Komponenten und auch Folgen der Globalisierung begrifflich zusammenfassen.9 Es gehört jedoch nicht zur konsensuellen Kernbedeutung – wie ich sie hier nennen möchte – der Bezeichnung. Diese lässt sich vielmehr wohl in etwa so beschreiben, wie es Stiglitz (2002, 24) vorschlägt. Die Globalisierung ist danach die heute feststellbare engere Verflechtung von Ländern und Völkern der Welt, die durch die enorme Senkung der Transport- und Kommunikationskosten herbeigeführt wurde, und die Beseitigung künstlicher Schranken für den ungehinderten grenzüberschreitenden Strom von Gütern, Dienstleistungen, Kapital, Wissen und (in geringerem Grad) Menschen. Die Akzente etwas anders setzend, könnte man sie wohl auch definieren als »weltweite Interdependenz der Märkte, insbesondere der Geld- und Waren-, aber auch der Arbeitsmärkte, insbesondere ermöglicht durch niedrige Transportkosten und weltweiten Abbau nationalstaatlicher Handelshindernisse (wie vor allem staatliche Devisenbewirtschaftung und -kontrolle ; Einfuhrzölle, Importkontingente ; aber auch Ausfuhrverbote oder -steuern), also durch Deregulierung (›Liberalisierung‹) wie auch durch Privatisierung , d. h. durch die weltweite Umsetzung neoliberaler Forderungen in Politik und Recht«. Darauf werde ich z. T. noch zurückkommen. – Nicht beachtet10 wird im Diskurs der Globalisierung in der Regel, ob es sich bei der Bezeichnung die Globalisierung handelt: a) um die Bezeichnung eines Zustands , der in diesem welthistorischen Moment, in diesem Augenblick, bereits erreicht ist ; oder b) um die Bezeichnung eines Vorgangs , der schon seit geraumer Zeit und heute noch stattfindet ; oder c) um die Bezeichnung einer Tendenz , d. h. der Wahrscheinlichkeit, dass dieser Vorgang sich auch künftig fortsetzt. Wozu vielleicht in Erinnerung zu rufen wäre, dass eine Wahrscheinlichkeit immer nur eine Möglichkeit ist. Bei Globalisierungsfreunden ist jedoch vorherrschend das 9

Dass die Komponenten und die Folgen der Globalisierung begriff lich nur selten unterschieden werden, wird von Friedrichs (1997, 3) gerügt. Allerdings ist die begriff liche Nicht-Unterscheidung nahe liegend und berechtigt, wenn ein Sprachteilhaber die Bezeichnung die Globalisierung nicht als Begriff (sensu stricto), sondern als den Eigennamen eines Zeitalters verwendet, der auf dessen auffälligste Eigenschaften hinweist. Die Erinnerung an diese wäre dann als Sinn (im Sinne Freges) dieses Eigennamens aufzufassen. Wenn man sie als Eigennamen versteht, dann erklärt sich ohne Weiteres die Vielfalt der Bedeutungselemente, die in den Bedeutungsparaphrasen der Bezeichnung genannt werden. Individuum est ineffabile. Daraus ergibt sich, dass man immer wieder neue Eigenschaften und Merkmale der Globalisierung schon entdeckt hat und auch künftig wird entdecken können.

10

Eine Ausnahme ist Friedrichs (1997, 3). Beck (1997, 27) nennt den bereits erreichten Zustand Globalität .

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Wunschdenken: Bisher ist es so gewesen ; also wird es auch so weitergehen, die Tendenz ist unauf haltsam. Damit wird aus der Beschreibung eine Prophezeiung. Dieser schließen sich auch viele der Globalisierungsgegner an, wenn auch mit dem Proviso: Die Globalisierung ist zwar unauf haltbar, sie muss aber wegen ihrer negativen Konsequenzen und Aspekte radikal verändert werden (s. u., Kap. 6 ).

4 Elemente der Globalisierung : zur Pauschalbedeutung der Bezeichnung Die Bezeichnung die Globalisierung lässt an einen (gleichförmigen) Vorgang oder Zustand denken und daher nur allzu leicht vergessen, dass es schlechterdings unüberschaubar viele einzelne Vorgänge und Zustände sind, die insgesamt, in ihrer Masse, das ausmachen, was wir die Globalisierung nennen. Die Globalisierung ist also eine zusammenfassende Bezeichnung , wie z. B. auch die Welt (als die Bezeichnung »alles (dessen), was der Fall ist«, »die Gesamtheit der Tatsachen«) oder auch die deutsche Sprache (als Gesamtheit aller in der deutschen Sprachgemeinschaft gebräuchlichen Wörter und grammatischen Strukturen): ein Totalitätsbegriff, eine Totalitätsbezeichnung (Hermanns 1999). Auch Erklärungswörter wie Verflechtung und Vernetzung in den o. a. Bedeutungsparaphrasen sind darin Totalitätsbezeichnungen, denn die »Verflechtung aller Märkte« usw. besteht konkret in (unüberschaubar vielen) Einzelbeziehungen von zahlreichen regionalen und sektoriellen Märkten. Diese Märkte wiederum – so kann man diese Art der begriff lichen Analyse noch ein bisschen weiter treiben – sind jeweils ein Marktgeschehen, denn auch ein Markt ist nur die zusammenfassende Bezeichnung für jeweils sämtliche Kauf- und Tauschgeschäfte, die sich, wie man sagt, »in« ihm abspielen, ihn jedoch in Wahrheit erst konstituieren. Recht besehen besteht also die Globalisierung in den insgesamt unüberschaubar vielen geschäftlichen Transaktionen, die aus Einzelmärkten einen Markt, den Weltmarkt , machen, d. h. die Globalisierung ist der Weltmarkt (oder, als fortschreitender Prozess betrachtet, dessen Wachsen). Was wird in dem Markt, der die Globalisierung ist, gehandelt ? Diese Frage kann ich kompetent nicht beantworten, muss sie aber trotzdem stellen und sogar, so gut mir möglich, beantworten, das verlangt mein Thema. Als den Versuch einer Antwort präsentiere ich hier eine Liste, die ich recht und schlecht zusammengestellt habe aufgrund von Erwähnungen und Nennungen in Texten zur Globalisierung. Manches darin wird nur selten genannt, manches nie (das habe ich geglaubt hinzufügen zu müssen), manches immer. In der Liste ebenfalls enthalten sind – außer den Handelsgütern, deren Handel die Globalisierung sensu stricto ausmacht – auch noch einige ganz andere Entitäten, die jedoch im Diskurs der Globalisierung gleichfalls z. T. sehr oft genannt, z. T. aber auch

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verschwiegen werden. Mit der nachfolgenden Liste11 verlasse ich also die Kernbedeutung der Bezeichnung die Globalisierung und skizziere die Pauschalbedeutung. So entsteht vielleicht ein Eindruck davon, was man unter die Globalisierung außer der »Verflechtung aller Märkte« noch verstehen kann: die weltweite Verbreitung von allem und jedem. Zu den einzelnen Stichworten gebe ich anschließend einige Erläuterungen, die hier allerdings sehr knapp sein müssen. Was globalisiert wird, was weltweit bewegt wird oder sich weltweit ausbreitet – Geld (und Geldäquivalente) – Waren – Eigentum (einschließlich Eigentum an Grund und Boden, Produktions- und Dienstleistungsbetrieben und -konzernen, insbesondere in Form von Aktien) – Dienstleistungen (inklusive u. a. Handel, Banken und Versicherungen, Management, Verwaltung , Forschung , Unterricht, Justiz und Polizei, Gesundheitswesen, Transport von Personen und von Waren, Unterhaltung ) – Produktionen – Marketing und Werbung – Gewinne / Verluste – Firmen (insbesondere Konzerne) – Organisationen – Militärpräsenz und -potential (z. T. in Form von Allianzen) – politische Macht (von Staaten und von anderen Organisationen, in Form militärischer und ökonomischer, besonders finanzieller Handlungsmöglichkeiten) – Information (inklusive Bilder) – Wissen (inklusive Desinformation und Irrtum) – Recht (auch in Form staatlicher und privater Verträge) – Kultur – einschließlich Mentalitäten, Ideologien, Religionen, Sprachen – Menschenrechte, Demokratie, Wohlstand – Armut, Kriminalität und Terrorismus – Krankheit (aber auch Gesundheit), Drogen und Umweltprobleme – Menschen. Wie gesagt, sind Geld, Waren und Dienstleistungen die fast stets genannten Handelsgüter, deren Märkte, insofern weltweit verflochten, den Weltmarkt ausmachen, den wir die Globalisierung nennen. Dass auch Geld ein solches Gut ist, überrascht sogar den wirtschaftlichen Laien nicht mehr, denn er weiß, dass Währungen gehandelt werden. 11

Zwei Versuche, die Globalisierungsphänomene zu sortieren – worauf ich verzichte –, zitiert Beck (1997, 70 f., 97 f.).

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Eigentlich ist Geld ja ein Wertmaßstab, aber dieser unterliegt selbst einer heute täglich, ja minütlich wechselnden Bewertung , deshalb wird auch Geld gehandelt. Geld bewegt sich weltweit in Gestalt von Buchungen auf Konten, aber durchaus auch als Bargeld, das Kuriere u. a. in Pilotenkoffern, mit Handschellen an das Handgelenk gekettet, transportieren, wie ich selbst einmal gesehen habe (Flug Istanbul – Zürich). Geld, das um die Erde wandert, dient hauptsächlich nicht mehr zur Bezahlung von entweder Waren oder Dienstleistungen oder von Investitionen, sondern hauptsächlich zum Kauf von anderem Geld und Geldäquivalenten. Es werden täglich über eineinhalb Billionen (englisch: trillion) Dollar weltweit bewegt. Eine Billion sind tausend Milliarden, also eine Million Millionen. Das entspricht in etwa dem, was jährlich Deutschland erwirtschaftet (Martin & Schumann 1996, 74). Davon sind 95 Prozent spekulatives Geld, so wird berichtet, das zu einem Großteil – 80 Prozent – schon nach einer Woche wieder rückbewegt ist.12 Weltweit gehandelte Waren sind Rohstoffe wie z. B. Erdöl, Erze und Metalle, Holz, Baumwolle, Kautschuk ; Nahrungsmittel (hauptsächlich Getreide, aber auch Fleisch usw.); Halbfertig- und Vorprodukte (wie Garne und Stoffe, aber auch Maschinenteile) und Fertigprodukte wie z. B. Kleidung , Schuhe, Spiel- und Sportzeug ; Arzneimittel ; Kommunikations- und Unterhaltungselektronik ; Autos, Schiffe und Flugzeuge ; aber auch Maschinen (inklusive ganze Fertigungsanlagen) und, nicht zu vergessen, Waffen – was ich hier aufzähle (und natürlich ist diese Aufzählung alles andere als vollständig ), um zu illustrieren, was bei der Globalisierung alles materiell bewegt wird, und zwar in z. T. gigantischen Stückzahlen und Volumen. Waren können sich jedoch auch immateriell weltweit ausbreiten, nämlich in Gestalt von Warentypen (Marken). So gibt es »dieselben« Zigaretten und Getränke weltweit, obwohl man sie in Fabriken an verschiedensten Standorten herstellt. Relativ nur wenig wird in der Globalisierungsliteratur, die ich eingesehen habe, darauf abgehoben, dass auch Eigentum weltweit gehandelt wird und daher bereits heute auch weltweit gestreut bzw. konzentriert ist. Das ist ganz und gar nicht selbstverständlich, denn das Eigentum war früher strengen nationalstaatlichen Einschränkungen unterworfen und es konnten von Ausländern etwa Grund und Boden, aber ebenso auch Firmen in zahlreichen Ländern nicht erworben werden ; z. T. gelten solche Regelungen wohl bis heute. (Eine Zwischenform sind die joint ventures , die ausländisches Teileigentum sind.) Viele ihrem Namen nach noch scheinbar völlig nationale Firmen und Konzerne sind in Wahrheit heute bereits internationale, so bei uns die Firmen Bayer

12

Noam Chomsky (vgl. www.chomsky.info/articles/19980515.htm, 11. 4. 2012 ) schreibt darüber (ohne Angabe von Quellen): »In 1970, 90 % of transactions were related to the real economy (trade and long-term investment), the rest speculative. By 1995 it was estimated that 95 % is speculative, most of it very short term (80 % with a return time of a week or less).«

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und Hoechst, bei denen ausländische Anleger eine Aktienmehrheit haben, auch die Deutsche Bank ist schon fast nur noch eine so genannte deutsche, denn schon 43 Prozent ihrer Aktien sind im Eigentum nicht-deutseher Firmen und Personen (Martin & Schumann 1996, 180). Umgekehrt verteilt sich auch das Eigentum von Unternehmen global. 1999 gab es ca. 60 000 multinationale Unternehmen (»Multis«), d. h. solche, die in anderen Staaten als dem Staat des Sitzes der Firmenzentrale Tochterunternehmen hatten (Rittershofer 2000, 658). Das Dritte, was  – nach Geld und Waren  – im Globalisierungsdiskurs immer als Globalisierungsgegenstand genannt wird, sind die Dienstleistungen . Weil ich mir darunter zuerst kaum etwas vorstellen konnte, habe ich in meiner Liste einzelne Dienstleistungssparten angegeben. Das soll u. a. plausibel machen, wieso im Dienstleistungssektor 1998 in Deutschland schon 45 Prozent aller Arbeitsplätze waren, in den USA sogar schon 73 Prozent (Rittershofer 2000, 283). Manche Dienstleistungsbereiche sind besonders ortsgebunden – genannt wird hier immer die Verkäuferin im Supermarkt und der Friseur, auch das lokale Handwerk. Andere sind dagegen schon in hohem Maße internationalisiert, so der Bereich der Banken und Versicherungen. Nicht nur Waren wandern um den Globus, sondern auch die Produktion von Waren wird im Zuge einer zur Zeit zunehmend globalen Arbeitsteilung dorthin verlegt, wo die Produktion – trotz Transportkosten – am wenigsten kostet, dies vor allem wegen niedrigster Lohnkosten (Hungerlöhne) und Lohnnebenkosten (keinerlei Sozialversicherungen), fehlender Sicherheitsvorschriften und fehlender Umweltstandards. Firmen wie auch Konsumenten in den Produktionsempfängerländern profitieren davon, und sogar die ausgebeuteten ArbeiterInnen, die sonst gar keinen Lohn hätten. Die Kehrseite dieser Arbeitsteilung besteht nicht nur darin, dass dort, wo es Produktionen gab, die ausgelagert wurden, die früheren Arbeitsplätze fehlen, sondern auch in Risikozuwächsen, die das derzeit Vorstellbare, jedenfalls das derzeit mit Vorliebe Vorgestellte, überschreiten, trotz zahlreicher historischer Menetekel. Dafür nur ein Beispiel. Indien, das im frühen 19. Jahrhundert einen Exportüberschuss an Nahrungsmitteln gehabt hatte, wurde im Zuge der damaligen weltwirtschaftlich vorteilhaften Arbeitsteilung umgestellt auf Anbau von Baumwolle (sowie Jute, Indigo und Tee, aber auch Mohn zur Opiumherstellung ), was mehr Gewinn brachte, für den auf dem Weltmarkt billigere Nahrungsmittel gekauft werden konnten, offenbar zum Nutzen aller Beteiligten. Dieses aber mit der Folge, dass im Lauf des 19. Jahrhunderts internationale Krisen Hungersnöte mit sich brachten, wie es sie zuvor in dem fruchtbaren Indien nicht gegeben hatte, als Preis für die ökonomisch vorteilhafte wirtschaftliche Spezialisierung ( Arbeitsteilung ) und Globalisierung (Cohen 1997, 64). Es spricht also Einiges dafür, die Landwirtschaft Europas durch geeignete Maßnahmen (den verpönten Protektionismus) nach wie vor zu schützen. Dass auch Marketing und Werbung weltweit funktionieren, ist das wohl Auffälligste an der Globalisierung. Beide manifestieren sich besonders in omnipräsenten

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Markennamen sowie Logos (dazu Klein 2000), prototypisch sind hier Coca Cola und McDonald’s . – Dass Gewinne und Verluste weltweit bewegt werden, ist zwar eigentlich nur eine Sache der Buchhaltung , aber hat für die Steuereinnahmen vieler Staaten desaströse Konsequenzen. Beispielsweise hat die Firma BMW (in welchem Jahr, wird nicht gesagt) »in der belgischen Filiale angeblich ein Drittel des gesamten Konzerngewinns« erwirtschaftet, »ohne dass dort ein einziges Auto produziert worden wäre« (Martin & Schumann 1996, 274f.). Offensichtlich war das steuerlich von Vorteil. – Dass auch Firmen und Konzerne weltweit nicht nur tätig , sondern daher auch präsent sind, wird – vermutlich, weil sich ohnehin von selbst verstehend – im Globalisierungsdiskurs nicht eigens hervorgehoben, sollte aber trotzdem gesagt werden. – Weltweit funktionierende Organisationen sind gleichfalls Faktoren und Agenten der Globalisierung , so diejenigen der UNO, aber auch die Weltbank, der Weltwährungsfonds und die Welthandelsorganisation als die wichtigsten der globalisierenden Instanzen. Nicht ganz zu vergessen sind daneben auch die nichtstaatlichen Organisationen (NGO s : non-government organizations) wie amnesty international und Greenpeace . Militärpräsenz und -potentiale kommen im Globalisierungsdiskurs, jedenfalls soweit ich sehe, überhaupt nicht vor ; von weltweiter Kriegführung ganz zu schweigen. Dabei ist weltweite Militärpräsenz ein Phänomen, wie es bemerkenswerter nicht sein könnte. Drei der US-Flotten sind in ständiger Präsenz im Einsatzbereich Naher Osten. Dass dies auch mit ökonomischer Globalisierung zu tun haben dürfte (Stichwort Rohöl ) lässt sich eigentlich kaum übersehen. – Diese Militärpräsenz macht im Verein mit ökonomischen Lock- und Drohpotentialen (Zuckerbrot und Peitsche) auch die internationale politische Macht aus. Aber auch die internationale politische Macht – speziell der USA – und ihr Zusammenspiel mit anderen Globalisierungselementen wird, soweit ich sehe, im Globalisierungsdiskurs kaum beachtet. Vielleicht ist sie ein zu heißes Eisen. Andere Globalisierungsgegenstände kann ich nur noch kommentarlos nennen: Information , Wissen ; Recht , Verträge ; Kultur (hier im ethnologischen Verständnis dieses Wortes, wobei darauf hinzuweisen ist, dass immer nur bestimmte Elemente von Kulturen von den jeweils anderen Kulturen übernommen werden), einschließlich Mentalitäten , Ideologien , Religionen sowie Sprachen (zu den Ideologien und Mentalitäten sind zu zählen auch die Fundamentalismen und Rassismen – dazu Loch & Heitmeyer 2001 –, die z. T. durch die Globalisierung direkt ausgebreitet werden, z. T. eine Reaktion auf sie darstellen); Menschenrechte , Demokratie , Wohlstand (man erhofft sich, dass zusammen mit der ökonomischen Globalisierung auch sie weltweit an Terrain gewinnen, aber es ist eher festzustellen, dass die wirkliche Teilhabe daran weltweit abnimmt, da z. T. in Folge der Globalisierung zunehmend mehr Menschen rechtlos, machtlos und besitzlos, arbeitslos und bildungslos sind, d. h. ausgeschlossen aus der Solidargemeinschaft ihres jeweiligen Volkes und damit auch ausgeschlossen aus der Demokratie – als »Herrschaft des Volkes« – ihres jeweiligen Staates: Müller 2001, 73 ff.); es wird, dazu passend, kons-

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tatiert, dass sich vor allem Armut , Kriminalität und Terrorismus und Krankheiten ( Aids , aber auch andere), Drogen und Umweltprobleme (reichtums- und armutsbedingte: Beck 1997, 76 ) mit der ökonomischen Globalisierung ebenfalls weltweit ausbreiten. Die weltweite Wanderung von Menschen , ob als Wirtschaftsreisenden, ob als Touristen, ob als Arbeitskräften, ob als politisch Verfolgten oder Kriegsflüchtlingen, wird im Diskurs der Globalisierung trotz z. T. gewaltiger Migrantenzahlen bisher kaum beachtet (eine der Ausnahmen ist Pries 1998), dies wohl deshalb, weil der ökonomische Neoliberalismus als Fürsprecher der Globalisierung zwar die unbeschränkte Freiheit des Verkehrs von Waren, Geld und Dienstleistungen fordert, nicht jedoch die Öffnung aller Grenzen für alle Personen.

5 Die Globalisierung im Diskurs der Neoliberalen »There is no alternative«, soll Margaret Thatcher so oft gesagt haben, dass man daraus einen Spitznamen für sie gemacht hat : T, I, N, A , also Tina .13 Früher nannte man so etwas Sachzwang . Es gibt keine andere Möglichkeit, das widerspricht der sprichwörtlichen Weisheit, dass es immer mindestens zwei Möglichkeiten gebe. Nicht jedoch, so wird gemeint, im Falle der Globalisierung. Sie sei unauf haltsam. Das ist, als ein Hauptgedanke der Globalisierungsbefürworter, ein stereotypes Element in deren Denken und in deren Reden und daher auch eine Komponente der Bedeutung der Bezeichnung die Globalisierung , übrigens auch im Diskurs der meisten Skeptiker des Segens der Globalisierung. Man fühlt sich dabei an Honecker erinnert, mit dem von ihm aufgesagten Vers : »Den Sozialismus in seinem Lauf / Hält weder Ochs noch Esel auf.« Dazu einige Belege. In dem Themenheft Globalisierung der Heftreihe Informationen zur politischen Bildung , also einem sehr auf Ausgewogenheit bedachten, quasi offiziösen Organ deutschen politischen main-stream-Denkens, heißt es schon einführend, es sei die Globalisierung »ohnehin nicht mehr rückgängig zu machen« (Informationen 1999, 2). Eine Seite weiter wird behauptet, die »Gefühle« – also nicht das Denken, sondern etwas nur Emotionales – in Bezug auf die Globalisierung seien zwar verschieden, aber : »Nur in einer Hinsicht herrscht offenbar Einigkeit : Globalisierung ist nicht etwas, das wieder aufgehalten [ … ] werden kann« (ebd., 3). Olaf Henkel sagt in einem Interview : »Globalisierung ist eine Tatsache. Es nützt ja auch nichts, sich über das Wetter zu beschweren.« 14 (Ein nicht so ganz glücklicher Vergleich, denn daraus, dass es heute regnet, folgt ja nicht, dass es auch morgen regnet.) Klaus Schwab, Präsident des World Economic Forum in Genf, sagt, die Globalisierung sei »ein Prozess, der unvermeidbar ist« ( Süddeutsche Zeitung 1. 9. 2001). Kerstin Müller (von den Grünen) ist derselben Mei13

Daniel Singer: Whose Millenium ? Theirs or Ours ? (vgl. www.danielsinger.org/millennium.html, 11. 4. 2012 ).

14

Die Zeit 15/1998 (vgl. www.zeit.de/1998/15/Wie_waer's_mit_Selbstbestimmung_ , 11. 4. 2012).

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nung : »Die weitere Liberalisierung ist nicht aufzuhalten« ( die tageszeitung 25. 8. 2001). So auch schon Helmut Schmidt (1998, 135) : »Die Globalisierung ist nicht aufzuhalten«. Und der deutsche Bundespräsident, Johannes Rau, meint: »Niemand kann das stoppen« ( Frankfurter Allgemeine Zeitung 6. 9. 2001). Zu Recht, scheint mir, nennt Bourdieu in seiner Tietmeyer-Kritik im Jahre 1996 diese Art von Denken »Fatalismus«.15 Dieser findet also nunmehr auch in der Bezeichnung die Globalisierung seinen Ausdruck. Dabei dürfte doch einleuchten, dass schon ein nicht ganz geringes Steigen der Ölpreise zu einer merklichen Deglobalisierung im Bereich des Warenverkehrs führen würde, weil dann Transportkosten nicht mehr eine Größe wären, die – wie heute – bei der Kostenkalkulation z. T. nur wenig ins Gewicht fällt. Ganz zu schweigen davon, dass auch internationale Auseinandersetzungen, im Extremfall Kriege, den globalen freien Geld- und Warenverkehr unterbrechen können, wie schon oft geschehen. Und dass Regierungen jederzeit Re-Regulierungsmaßnahmen ergreifen können, wodurch die Globalisierung reduziert wird, und dies auch tatsächlich immer wieder tun (die USA und die EU nicht ausgenommen), nämlich durch Einrichtung von Schutzzöllen ( gern als Strafzölle begründet) oder Kontingentierungen (oft in Form erzwungener »freiwilliger Exportbeschränkung« seitens derjenigen Staaten, die einführen wollen) und durch Subventionen von Inlandsprodukten oder Produktionen. Das Studium der Geschichte kann uns zwar vielleicht über die Zukunft nicht belehren, aber eine Lehre kann man doch wohl daraus ziehen: dass die Zukunft nicht voraussehbar ist. Allerdings stützt sich die scheinbar unbegreif liche Zukunftsgewissheit der Globalisierungsbefürworter auch auf Kenntnis von Tatsachen. Weit entfernt, sich sozusagen naturwüchsig von selbst zu vollziehen, wird nämlich der Fortschritt der Globalisierung von mächtigen Agenturen und Akteuren bewusst und gezielt betrieben. Das sind einerseits die transnational tätigen Konzerne (Multis), andererseits die drei Institutionen, deren Ziel die internationale Liberalisierung des Geld-, Waren- und Dienstleistungshandels ist: WTO (World Trade Organization, deutsch: Welthandelsorganisation), WMF (World Monetary Fund, deutsch: Weltwährungsfonds) und Weltbank (Stiglitz 2002, 24 ff.).16 Das Globalisierungsinstrument der WTO ist insbesondere die Regel, dass in den Genuss niedriger Zölle bei Exporten in die anderen Mitgliedsstaaten nur ein Staat kommt, der selbst seine Grenzen für Importe aus diesen anderen Mitgliedsstaaten durch Zollsenkung oder Zollabschaffung öffnet (Rittershofer 2000, 378 ff. s. v. GATT , 636 f. s. v. Meistbegünstigung ). Das heißt praktisch: Ein Staat, der sich dem verweigert, ist nicht 15

Zitiert nach: Der Spiegel 50/1996, 174.

16

So auch Beck (1997, 204 ): Die »ökonomische Globalisierung ist kein Mechanismus, kein Selbstläufer, sondern durch und durch ein politisches Projekt , und zwar transnationaler Akteure, Institutionen und DiskursKoalitionen [ … ], die eine neoliberale Wirtschaftspolitik betreiben«.

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exportfähig. (Sonderregeln gelten jedoch für Entwicklungs- und für Schwellenländer.) Die Globalisierungsinstrumente des WMF, dem die Weltbank sich bei ihren eigenen Kreditvergaben sehr oft anschließt, sind vor allem die : »Strukturanpassungsprogramme« (Structural Adjustment Programs : SAP s) mit den drei Hauptforderungen (Stiglitz 2002, 70 u. ö.): a) Austeritätsmaßnahmen , d. h. u. a. Abbau der staatlichen Aufwendungen für Gesundheits- und Schulwesen, der staatlichen Subventionen für z. B. Grundnahrungsmittel und Medikamente, insgesamt sämtlicher Staatsausgaben (mit der Konsequenz der Arbeitslosigkeit von vormals beim Staat Angestellten); b) Marktöffnung , d. h. Reduktion der Einfuhrzölle (u. a. für Überschussgetreide aus den USA und aus Europa, das zu Dumpingpreisen exportiert wird, mit teilweise ruinösen Folgen für die einheimischen Nahrungsmittelproduktionen) und Abschaffung aller Kapitalverkehrskontrollen (die zuvor z. T. erfolgreich Kapitalfluchten verhindert hatten); c) Privatisierung , d. h. Verkauf (oft an ausländische Eigentümer) von staatlichen Banken (die zuvor bei der Kreditvergabe gezielt einen volkswirtschaftlich segensvollen Einfluss auf die ökonomische Entwicklung nehmen konnten) sowie anderer staatlicher Unternehmen, u. a. von Energie-, Verkehrs- und Kommunikationsbetrieben (die zuvor – im Sinne des Gemeinwohls – einer flächendeckenden, preisgünstigen Versorgung aller Staatsbürger zu dienen hatten, wie bei uns Post und Bahn, aber auch die kommunalen Energieversorger) sowie der Verkauf staatlichen Grundbesitzes (dies zum Nachteil insbesondere der Bauern oder Landarbeiter, die den Besitz zuvor bewirtschaftet hatten), so vor allem in manchen der vormals sozialistischen Staaten. Dazu kann als vierter Forderungskomplex noch hinzukommen: d) Adaptation der Finanzpolitik eines Staates an die Konditionen des WMF , d. h. (oft) Währungsabwertung (mit der Folge einer Vervielfachung der Fremdwährungsschulden und -zinslasten und sofortiger Erhöhung aller Importpreise, darunter auch überlebensnotwendiger Einfuhrgüter), Steuerreform (neoliberaler Ideologie entsprechend zu Gunsten von Firmen und privaten Großverdienern, inklusive Abschaffung von Luxussteuern) und erzwungene Einführung von Gebühren u. a. bei Schulen (mit der Konsequenz z. T. zunehmender Analphabetisierung ) und bei Krankenhäusern (all dies auch nach Mies 2001, 73 f.). Immer dann, wenn ein Staat wirtschaftlich in eine Krise gerät, sind die Weltbank und der WMF bereit, mit Krediten zu helfen. Aber nur zu den WMF-Konditionen. Deshalb sind die großen wirtschaftlichen Krisen die Schrittmacher der Globalisierung.17 Hinter WMF und Weltbank stehen, deren Politik bestimmend, die Finanz-, Wirtschafts- und Handelsminister und Zentralbankpräsidenten der G 7 (Stiglitz 2002, 36 ), d. h. die wichtigsten Industrienationen Nordamerikas und Westeuropas sowie Japan, neuerdings gehört dazu auch Russland (G 8). Die derzeit hierbei von 17

Dafür sind Beispiele das Eingreifen des WMF bei der Ostasienkrise (ab 1997) mit deren Auswirkungen auf Russland und Lateinamerika (Stiglitz 2002, 109 ff.), wo der WMF gleichfalls massiv tätig wurde, im Fall Russlands mit dem Resultat der Herausbildung eines »Mafia-Kapitalismus« (ebd., 158 u. ö.).

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den G-7-/G-8-Staaten praktizierte Politik ist formuliert im »Washington Consensus« (in zehn Punkten ; zitiert, ohne Angabe der Quelle, von Mies 2001, 82). Dieser ist die Umsetzung der Ideologie 18 des Neoliberalismus, d. h. der zuerst von Thatcher und von Reagan zum politischen Prinzip gemachten Lehre, dass allein der Markt das ökonomische Geschehen – wenn auch oft erst längerfristig – optimal bestimme und dass deshalb der Staat nicht in es eingreifen dürfe.19 Vorerst ist daher die real existierende Globalisierung , wie von Weltbank sowie WMF betrieben, eine neoliberale. Was den WMF betrifft, so ist er dabei – gegen seinen ursprünglichen Auftrag – »auch Sachwalter der Interessen der Finanzwelt« (Stiglitz 2002, 238). Ein zweites Bedeutungselement von die Globalisierung ist bei Befürwortern der Globalisierung die Erwartung , dass sie letztlich der Menschheit zum Heil gereichen werde, wenn nicht gleich, dann später (»längerfristig«). Sie beruht auf einer sogenannten Trickle-down-Theorie, wonach Gewinn- und Wachstumszuwächse zuerst zwar den Reichen einer jeweiligen Volkswirtschaft zugute kommen, dann jedoch unauf haltsam »durchsickern«, bis sie »eines Tages« auch die Ärmsten besser stellen (Stiglitz 2002, 99). Eine andere Metaphorik besagt: Wenn die Flut steigt, heben sich mit ihr nicht nur die Luxusjachten, sondern auch die kleinen Fischerboote (Mies 2001, 65), wobei unbeachtet bleibt, dass starke Fluten kleine Boote auch zerschellen lassen können (Stiglitz 2002, 100). Der in diesen zwei Metaphern ausgedrückte Optimismus gilt nicht nur bestimmten Ländern, sondern allen oder vielen: »Die Globalisierung verbessert für viele Entwicklungsländer die Chance, wirtschaftlich zu den Industrieländern aufzuschließen« (zitiert von Martin & Schumacher 1996, 192). Aus den beiden ontischen Bedeutungskomponenten der Bezeichnung die Globalisierung im Diskurs der Befürworter der Globalisierung – Unauf haltsamkeit und ( längerfristig ) Nutzen – ergibt sich dann folgerichtig die deontische Bedeutung: Man muss sie nicht nur hinnehmen, nein, man muss sie sogar wollen. »Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit.« Wer frei sein will, der setzt ihr also keinen Widerstand entgegen, zumal sie ja letztlich segensreich ist, wenn nicht gleich, dann längerfristig. Aus der Akzeptanz dieser Prämissen könnte sich vielleicht tatsächlich eine Art von Unauf haltsamkeit der (vorerst) weiter wachsenden Globalisierung wie von selbst ergeben, nämlich in der Wei18

So Stiglitz (2002, 27 u. ö.). Diese »Ideologie der Weltmarktherrschaft [ d. h., dass der Weltmarkt allein herrschen müsse ], die Ideologie des Neoliberalismus« nennt Beck (1997, 26 ) Globalismus .

19

Dies entgegen einem makroökonomischen Erkenntnisfortschritt, wie er u. a. durch Stiglitz erzielt werden konnte: dass das Modell eines freien Marktes, wie von Adam Smith entworfen, zwar tatsächlich ökonomisch optimal sei, aber immer nur mehr oder minder unvollkommen der tatsächlichen Ökonomie entspreche (u. a. wegen des stets in dem einen oder anderen Wirtschaftsbereich eingeschränkten Wettbewerbes: Stiglitz 2002, 94 f.), weshalb der Staat auf den Markt Einfluss zu nehmen habe (ebd., besonders 250 ff.). Stiglitz (ebd., 70 f.) hält die Grundsätze des Washington Consensus im Prinzip für nützlich, »sofern sie sachgerecht umgesetzt« und nicht »als Selbstzweck« angesehen und »blind« und »um jeden Preis und unter allen Umständen« verwirklicht werden, wie der WMF das oft durchgesetzt habe.

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se einer self-fulfilling prophecy : Wenn alle daran glauben und sich alle danach richten, kommt es auch so. Hätten einmal alle an den Sozialismus geglaubt, wäre auch der Sozialismus ( jedenfalls vorerst) weltweit siegreich gewesen. Es ist daher mit dem fortschreitenden Siegeszug der wachsenden Globalisierung bis auf Weiteres durchaus zu rechnen. Aber auch noch eine andere deontische Bedeutung hat – in Deutschland – die Bezeichnung die Globalisierung . Diese besagt: Alle Arbeitnehmer müssen ihren Gürtel enger schnallen. Denn sie konkurrieren nunmehr auf dem Weltmarkt, der jetzt auch der Arbeitsmarkt ist, mit den Schlechtestbezahlten der Welt um Arbeitsplätze. Wenn sie sich mit Einkommenseinbußen nicht zufrieden geben, wird VW mit seiner Produktion vielleicht nach Indien auswandern müssen, Daimler Chrysler nach Brasilien. Deshalb müssen gleichfalls die Lohnnebenkosten (Sozialversicherungsbeiträge) gesenkt werden. Dieses war auch die deontische Bedeutung der politisch höchst erfolgreichen Beschreibung Deutschlands durch den Begriff Standort Deutschland mit dem ebenfalls deontischen Bedeutungselement »Wir sind zu teuer« (Martin & Schumacher 1996, 213). Das sei – so wurde weiterhin ausgeführt – an den horrenden deutschen Arbeitslosenzahlen zu erkennen, die also auf die Globalisierung zurückgehen sollten.20 Speziell Olaf Henkel hat dies argumentativ vertreten: »Arbeitsplätze sind der größte Exportschlager der Deutschen« (zit. nach ebd., 218). Es ergibt sich daraus eine zusätzliche, von den Neoliberalen vielleicht nicht gewollte Komponente der Bedeutung der Bezeichnung die Globalisierung : Die Globalisierung ist für Deutschland und Europa etwas Schlechtes.

20

Das ist, scheint es, durchaus unzutreffend. Cohen (1998) führt in seinem Buch Fehldiagnose Globalisierung aus, dass die Globalisierung heute zeitgleich mit der dritten industriellen Revolution stattfindet (durch die sie auch weitgehend vorangetrieben wurde und wird ), d. h. mit der Computerisierung und der dadurch möglich gewordenen Automatisierung vieler Fertigungs- und Verwaltungsvorgänge mit dem Resultat des Überflüssigwerdens vieler Arbeitskräfte (bei nicht mehr expandierbaren Märkten). Es sind demnach insbesondere die Produktivitätsfortschritte, durch die Arbeitslosigkeit bewirkt wird. Hinzu kam in Deutschland eine Politik unbedingter Privatisierung , insbesondere in Ostdeutschland durch die Treuhand – unbedingt in dem Sinn, dass sie ohne Rücksicht darauf vorgenommen wurde, ob alternative Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft zur Verfügung standen oder jedenfalls erkennbar bereits im Entstehen waren. Dieses ist (nach Stiglitz 2002, 75) die Voraussetzung für eine volkswirtschaftlich sinnvolle Privatisierung: »Die Privatisierung muss Teil eines umfassenderen Programms sein, das gleichzeitig mit der unvermeidlichen Arbeitsplatzvernichtung durch die Privatisierung die Schaffung neuer Arbeitsplätze vorsieht«. Die – im Vergleich mit den USA – so hohen Arbeitslosenquoten Westeuropas sind banalerweise außerdem darauf zurückzuführen, dass verhältnismäßig hohe Sozialleistungen es den Arbeitslosen möglich machen, Niedrigstlohnjobs auszuschlagen (Krugman 1999, 21), weshalb es in Westeuropa bislang nicht das Phänomen der »working poor« gibt. Der Hinweis auf »die Globalisierung« – oder auf den »internationalen Wettbewerb« – erspart es den Politikern, die wirklichen Ursachen für die Arbeitslosigkeit zu nennen (ebd., 35 ff.) und für Abhilfe zu sorgen.

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6 Die Globalisierung im Diskurs ihrer Verleugner, Kritiker und Gegner Die Globalisierungsleugner halten die Bezeichnung die Globalisierung einfach für falsch. Von einer Globalisierung des Welthandels könne keine Rede sein, es sei der Außenhandel der industriellen Länder, insbesondere der USA, der Europäischen Union und Japans nach wie vor hauptsächlich wechselseitig , mit einer Beteiligung von dritten Staaten von nur circa 20 Prozent und mit Ausschluss großer Teile der Welt.21 Internationalisierung sei die richtige Bezeichnung , jedenfalls sei sie genauer, da man  – je nach Marktsegmenten unterschiedlich – international vor allem Regionalisierungen feststellen könne (Dahrendorf 1998, 44). Die Globalisierungsgegner lassen die Bezeichnung die Globalisierung gelten, aber statten sie mit anderen Bedeutungskomponenten aus als die Globalisierungsfreunde. Erstens meinen manche der Globalisierungsgegner, die Globalisierung sei nichts Schicksalhaftes, das sich sozusagen automatisch durchsetzt: »Dieser ökonomische Fatalismus hat die Funktion, Widerstand dagegen zwecklos erscheinen zu lassen. Verschwiegen wird, dass Globalisierung ein politisch gewollter und initiierter Prozess ist«. Dieser Prozess sei aber sehr wohl aufzuhalten und umkehrbar. 65 Prozent der deutschen Bevölkerung sei laut Spiegel-Umfrage 2001 für den friedlichen Protest der Globalisierungskritiker (was wohl zeigt, dass die Bezeichnung die Globalisierung in der deutschen Öffentlichkeit in der Tat vorwiegend negativ besetzt ist). Attac , die Vereinigung , von der diese Informationen stammen, stellt sich gegen eine weitere Liberalisierung des Welthandels, insbesondere in den Bereichen Agrar, Textil sowie Dienstleistungen und vor allem gegen die bereits erfolgte Liberalisierung der weltweiten Finanzmärkte: Attac »fordert, weltweit eine Devisenumsatzsteuer (›Tobin-Steuer‹) einzuführen«. (Danach hat die Attac ihren Namen – Association pour la Taxation des Transactions financières à l’Aide des Citoyens , »Assoziation für die Besteuerung von Finanztransaktionen [ … ]« – dessen Akronym jedoch Angriff bedeutet.) »Des weiteren fordert Attac die Wiedereinführung von Kapitalverkehrskontrollen und eine Stabilisierung der Wechselkurse zwischen Dollar, Euro und Yen.«22 Zweitens gehört also zur Bedeutung der Bezeichnung die Globalisierung bei Globalisierungsgegnern die deontische Bedeutungskomponente, dass die Liberalisierung des Welthandels begrenzt und rückgängig gemacht werden solle. Drittens nämlich gehört zu dieser Bedeutung gleichfalls, dass die »neoliberale Politik der Globalisierung« hinausläuft auf »die Vorherrschaft der Finanzmärkte, die Zerstörung unserer Kulturen, die Monopolisierung des Wissens, der Massenmedien und der

21

So Hirst & Thompson (1998, 98), allerdings mit Zahlen für das Jahr 1989. Im Jahr 2000 machten in Deutschland Importe aus Industrieländern 72,9 Prozent, Exporte in Industrieländer 77 Prozent des Außenhandels aus, die Zahlen für Entwicklungsländer waren 15,2 bzw. 12,5 Prozent (BMWI 2001, 67 f.).

22

Alles dies nach: Attac, Genua-Informationsdienst 17. Juli 2001. Ein etwas anderer Katalog von Attac-Forderungen ist abgedruckt bei Mies (2001, 176 f.).

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Kommunikation, die Beeinträchtigung der Natur durch die multinationalen Konzerne und anti-demokratische Politik«, ferner u. a. auf Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne und Militarismus.23 So ergibt sich die deontische Bedeutung der Bezeichnung die Globalisierung auch hier aus der ontischen Bedeutung. Außer den Globalisierungsgegnern gibt es auch Globalisierungskritiker, die nicht das Ende der Globalisierung fordern, sondern eine andere Politik ihrer Realisierung , mit dem Ziel einer »Globalisierung mit menschlichem Gesicht« (Stiglitz 2002, 283). Denn es habe die Globalisierung bisher außer vielen negativen auch sehr segensreiche Wirkungen gezeitigt, so vor allem große ökonomische Fortschritte in Ostasien (ebd., 246 ). Die deontische Bedeutung der Bezeichnung ist hier also: Die Globalisierung muss zum Besseren verändert werden. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass man die Bezeichnung die Globalisierung auch versteht als Euphemismus für »Weltherrschaft der westlichen Industrienationen« und für »US-Imperialismus«. Dass dies – insbesondere in Drittwelt-Ländern, sehr viel weniger in Deutschland, etwas mehr vielleicht in Frankreich – so ist, dürfte ohne Weiteres einleuchten, und ich kann mich auch erinnern, dass ich solche Interpretationen der Bezeichnung schon gelesen oder gehört habe. Aber leider fehlen mir dafür Belege.24

7 Die Begriffsrückseite der Bezeichnung die Globalisierung Ein Symbol der ökonomischen Globalisierung ist am 11. 9. 2001 zerstört worden, das New Yorker »World Trade Center«, also das Welthandelszentrum, jahrelang das größte Bauwerk der Welt. Und damit auch, wie wir jetzt erkennen können, ein Symbol menschlicher Hybris. So etwas kann nicht passieren, das ist offenbar der katastrophenpolizeilich und versicherungskalkulatorisch ausschlaggebende Gedanke beim Bau von Hochhäusern wie von Kernkraftwerken, auch in Deutschland. Das kann nicht passieren, oder auch: Das wird schon nicht passieren, denkt man wohl auch oft bei weltwirtschaftlichen Expansionsmaßnahmen. Aber andererseits gibt es dabei ganz sicher auch ein hohes Risikobewusstsein. »Ökonomische Zusammenbrüche sind ein wesensinhärentes Merkmal des Kapitalismus«, lese ich in einem Aufsatz, der des Weiteren u. a. berichtet, wie der Aktienwert für Tulpenzwiebeln in den Niederlanden kurz nach 1600 eine Höhe erreicht hatte, dass der Wert einer einzigen Zwiebel so groß wurde wie der eines Amsterdamer Hauses, bis er dann am nächsten Tag ins 23

Porto Alegre Aufruf (unterzeichnet u. a. von Attac), vgl. www.attac-netzwerk.de/archiv/porto_alegre_call_ de.pdf, 12. 4. 2012.

24

Mit nur zwei Ausnahmen. Galbraith habe gesagt: »Wir Amerikaner haben dies Konzept erfunden, um unsere Politik der wirtschaftlichen Durchdringung anderer Länder zu verschleiern« ( die tageszeitung 2. 2. 2002, 4 ). Teubert (2002, 160) zitiert aus der taz vom 4. 9. 1996 : »Globalisierung bedeutet auch Europäisierung des Globus, Kolonialismus, ökonomischer und ökologischer Imperialismus«.

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Bodenlose sackte.25 Bei uns allgemein bekannt, als Teil historischen Grundwissens, sind der große Krach der deutschen Gründerjahre und der Schwarze Freitag 1929, als der Anfang der Weltwirtschaftskrise, die in Deutschland im Zusammenspiel mit anderen Faktoren u. a. Hitler an die Macht gebracht hat. Mit weltwirtschaftlichen Krisen muss man auch in Zukunft rechnen. Nicht nur die Symbole der Weltwirtschaft sind zerstörbar, sondern auch die Weltwirtschaft selbst ist in hohem Grade störanfällig. Man wird wohl annehmen können, dass die Mächtigen der internationalen Wirtschaft das noch sehr viel besser wissen als wir. Öffentlich wird im Diskurs der Befürworter der Globalisierung in der Regel nur auf deren segensreichen Folgen hingewiesen, aber es ist davon auszugehen, dass diejenigen, die ökonomisch zu entscheiden haben, sehr wohl wissen, dass sie auch riskant ist. Nicht nur wegen möglicher Weltwirtschaftskrisen, sondern auch bei jeder einzelnen Investitionsentscheidung , die zur wachsenden Globalisierung etwas beiträgt, wenn auch noch so wenig. Dieses Wissen, dieses Risikobewusstsein ist eine höchst effektive Bremse der Globalisierung. Es verhindert im Verein mit zusätzlichen ökonomischen und anderen Tatsachen bisher die Annäherung an die Vollendung der nur scheinbar ohne Hindernis fortschreitenden Globalisierung. Die globalisierungshemmenden Tatsachen sind, in vielen Ländern der Welt, u. a. politische Unwägbarkeiten, Rechtsunsicherheit, Inkompetenz von Arbeitskräften und Ineffizienz von staatlicher Verwaltung , Korruption und Nepotismus, nationale sowie internationale Kriminalität und erst recht Kriege, Bürgerkriege, Terrorismus wie schon die Gefahr von diesen. Kriege, Bürgerkriege und auch Terrorismus fördern zwar den internationalen Waffenhandel, aber hemmen alle übrige Globalisierung. Viele Teile der Welt, viele Länder bleiben denn auch von der wachsenden Globalisierung bislang fast ganz ausgenommen. Weite Teile Asiens, inklusive Chinas und Sibiriens, Indiens, Hinterindiens, Afrikas und Südamerikas sind am Welthandel und an den weltweiten Produktionsprozessen kaum beteiligt. Es sei denn am Waffen- und am Drogenhandel, die vielleicht am weitesten globalisiert sind, denn für sie gibt es anscheinend kaum noch Grenzen. Insgesamt ist die Globalisierung aber offensichtlich durchaus noch nicht weltweit wirksam. Was hat das zu tun mit der Bedeutung der Bezeichnung die Globalisierung ? Antwort: Es belehrt uns über einen, wie ich meine, wichtigen Aspekt dieser Bedeutung. Wörter haben generell die Eigenschaft, bestimmte Eigentümlichkeiten und Merkmale des durch sie Bezeichneten hervorzuheben, andere dagegen unbeachtet sein zu lassen.26 Wörter haben, wie der Mond, Rückseiten, und sie zeigen oft nur einen Teil der Wahrheit, und zwar auch dann, wenn es für uns wichtig wäre, auch den anderen Teil 25

»Economic collapses are an intrinsic part of capitalism« (Thurow 1998, 22).

26

Also manche dieser Merkmale zu »fokussieren«, andere »auszublenden« (Burkhardt 1996, 94). Unsere »Ideen«, »Vorstellungen«, »Schemata«, »Stereotype« (Hermanns 2002) von den Dingen und Tatsachen sind nicht

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zu kennen. Augenfällig ist das bei den insbesondere in der Düsseldorfer Germanistik systematisch aufgespürten konkurrierenden Begriffen (Stötzel & Wengeler 1995, 3). Beispielsweise Klassenkampf / Sozialpartnerschaft , Nachrüstung / Aufrüstung , freie Marktwirtschaft / Kapitalismus  – jede dieser sechs Vokabeln zeigt tatsächlich, scheint mir, etwas Wahres. Wenn es anders wäre, wenn die Wörter ganz falsch wären, hätten sie wohl kaum jemals Karriere machen können. Wie ein Spot beleuchten sie gewisse Eigenschaften und Aspekte dessen, was durch sie benannt wird. Anderes dagegen lassen sie im Dunkeln. Das gilt auch für die Bezeichnung die Globalisierung. Sie verbirgt uns – nicht nur dadurch, dass sie uns nicht eigens darauf hinweist, sondern auch durch ihre scheinbar offensichtliche Bedeutung –, dass der Prozess der Globalisierung bisher weit davon entfernt ist, wirklich weltweit stattzufinden. Sie macht außerdem nicht deutlich, dass diese Globalisierung da, wo sie geschieht, oft nur partiell ist. (Manche Länder nehmen an ihr nur als Rohstoff lieferanten teil, andere nur durch Zur-Verfügung-Stellen arbeitsintensiver manueller Arbeitsleistung , nämlich die Billiglohnländer, insbesondere ( Klein 2000, 202 ff. ) in »Freihandelszonen« – EPZ s, »Export Processing Zones«.) Wie schon gesagt, verbirgt die Bezeichnung auch die Risiken, die mit Fortschritten der Globalisierung einhergehen, ebenso für jede einzelne der Firmen und Konzerne, die sie vorantreiben, wie auch insgesamt für die Weltwirtschaft. (Würden auch nur einige der wichtigsten Ölhähne der Welt durch Krieg oder Terrorismus zugesperrt, so wäre wegen der dann sprunghaft steigenden Ölpreise sowie u. a. der daraus folgenden Verteuerung der Nahrungsmittelproduktion in Nordamerika und Westeuropa eine Folge für Millionen Menschen voraussichtlich eine Katastrophe.) Auch verbirgt sie den staatlichen und  – im Falle der EU – den überstaatlichen Protektionismus, den die Industrienationen ganzen Wirtschaftszweigen angedeihen lassen. Sie verbirgt auch, dass es sich bei der Weltwirtschaft durchaus nicht nur um ein Spiel von freien Konkurrenten handelt, sondern oft auch um Oligopole, die natürlich ihren Vorteil dabei haben, wenn sie nicht versuchen, sich zu Tode zu konkurrenzieren, und daher den Kuchen der erzielbaren Profite lieber partnerschaftlich unter sich aufteilen. Ferner, dass die wirtschaftliche Internationalisierung nicht nur wirtschaftliches Wohlergehen, sondern ebenso auch wirtschaftliches Elend erzeugt. Bei den innerstaatlichen Tarif konflikten zwischen den Gewerkschaften und Industrieverbänden wird durch sie verborgen, dass es dabei oft nicht um den internationalen Wettbewerb geht, sondern nach wie vor hauptsächlich um Verteilungskämpfe, also um die Frage, welchen Anteil am Gewinn der Unternehmen in Gestalt von Lohnerhöhungen die Arbeitnehmer haben sollen (Martin & Schumann 1996, 212). Vieles davon würde sich natürlich ändern, wenn im Diskurs der Globalisierung die Globalisierungskritiker die Meinungsführerschaft gewinnen würden. Aber umgekehrt deren mentale Reproduktionen , sondern deren von sehr vielen Eigenschaften und Merkmalen abstrahierenden und deshalb simplifizierenden mentalen Modelle .

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verschweigt – nicht immer, aber oft – auch deren Diskurs und Gebrauch dieser Bezeichnung vieles, so vor allem die Tatsache, dass das Elend in der Welt natürlich auch noch viele andere Ursachen hat als allein die Globalisierung , außer den bereits erwähnten die exorbitanten Militärausgaben vieler Staaten und das Bevölkerungswachstum, das in manchen Regionen der Welt so enorm ist, dass kein noch so großes Wirtschaftswachstum je damit Schritt halten könnte, um nur noch zwei weitere zu nennen. Alles dieses also und wohl auch noch manches Andere verunsichtbart die Bezeichnung die Globalisierung . Mir scheint, dass auch das zu der Beschreibung der Bedeutung der Bezeichnung gehört.

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Krieg gegen den Terrorismus Über die Bedeutungen des Wortes Terrorismus im Diskurs der Medien und Experten

Einleitung Noch vor kurzem waren wir in der Epoche der Globalisierung, jedenfalls nach Meinung vieler Meinungsführer unserer Gesellschaft. Heute aber  – seit dem 11. 9. 2001  – sind wir zugleich schon in einem gänzlich anderen Zeitalter, dem des Terrorismus.1 Als Epochenbezeichnungen sagen beide Wörter – Terrorismus und Globalisierung – uns, in was für einer Welt wir heute leben (Diagnose) und weiterhin leben werden, jedenfalls auf absehbare Zeit (Prognose). Das macht sie sinnstiftend. Daher mein Interesse an den beiden Wörtern: als Interesse an der Funktion und Semantik von zentralen Wörtern der Sinnstiftung unserer Gegenwartsgesellschaft.  – Nach einer Einleitung (Kap. 1) bietet dieser Beitrag zunächst Beobachtungen zur Semantik der Bezeichnung Terrorismus (Kap. 2), sodann zur Pragmatik »terroristischer als kommunikativer Akte« (Kap. 3); hier wird (jeder) Terrorismus selbst als eine Art Diskurs gedeutet. Von einem bestimmten (demjenigen der derzeitigen US-Regierung) Diskurs über einen ganz bestimmten Terrorismus (den des 11. 9. 2001) handelt der darauf folgende Abschnitt (Kap. 4), allerdings vorwiegend wieder wortsemantisch. Den Schluss (Kap. 5) machen Anmerkungen zur Semantik von Krieg und Sieg. Aus Platzgründen muss all dies sehr skizzenhaft ausfallen.

Dieser Beitrag ist erstmals 2005 erschienen in: Fraas, Claudia ; Klemm, Michael (Hgg.): Mediendiskurse. Frankfurt a. M. etc., 142 – 168. 1

Oder doch in einem »age of terrorism«, denn im Englischen ist dieses Kennwort unserer Epoche ungleich gebräuchlicher als im Deutschen. Eine Google-Suche (www.google.de, 9. 12. 2003) ergab 49 Treffer für das Zeitalter des Terrorismus, aber »ungefähr 16 600« für den Begriff age of terrorism. Zum Vergleich und zur Relativierung: Das Zeitalter der Globalisierung bringt es (zeitgleich) auf ca. 16 500, das age of globalization auf rund 26 000 Treffer. – Zur Bezeichnung die Globalisierung s. Hermanns (2003).

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1 »Terrorismus« – durchaus keine »sinnlose« Gewaltanwendung Eins der vielen Bücher (Carr 2002) zum Thema Terrorismus hat den Titel: »Terrorismus – die sinnlose Gewalt«. Weit gefehlt, kann man dazu nur sagen. Terrorismus ist keineswegs sinnlos. Terrorakte sind zwar nicht Sprechakte, aber sie sind kommunikative Akte, die etwas besagen und bewirken sollen. Sie sind also – in der Sicht ihrer Akteure – immer sinnvoll, unabhängig davon, ob das Ziel erreicht wird, auf das sie abzwecken. Und manchmal sind sie sogar erfolgreich. Dafür ist das beste Beispiel die Geschichte der Staatsbildung Israels in Palästina.2 Unter Führung von Menachem Begin, der dann viele Jahre später israelischer Premierminister wurde, nahm die Irgun, eine Organisation jüdischer Terroristen, 1944 ihre terroristischen Aktionen gegen die Mandatsverwaltung Großbritanniens in Palästina wieder auf, mit Serien von Anschlägen auf Behörden, Polizei und Militär. Das Ziel – so Begin später – war, auf diese Weise die Autorität der britischen Mandatsverwaltung zu zerstören. Die spektakulärste und größte Aktion der Irgun war ein Sprengstoffanschlag auf ein Hotel in Jerusalem, auf das King-David-Hotel (1946). Es gab 91 Tote. Palästina war seitdem ein Dauerthema der Weltpresse. Dafür sorgten weitere Gewaltaktionen der Irgun, darunter die »Hinrichtung« von zwei britischen Soldaten 1947, als »Vergeltung« gerechtfertigt. Der millionenfache Abdruck eines Fotos davon auf den Titelseiten britischer Zeitungen war ein Schock für die britische öffentliche Meinung. Dieses Foto zeigte die an Stricken Aufgehängten – ein paar Zentimeter über dem Fußboden schwebend – mit Kapuzen über ihren Köpfen und mit blutverschmierten Hemden. Es bewies die Ohnmacht der Mandatsverwaltung. Das seit 1945 sowieso kriegsmüde Großbritannien beendete 1948 seine Herrschaft über Palästina, der Staat Israel wurde gegründet. Seine Existenz verdankt er der historisch dafür günstigen Konstellation und also vielerlei verschiedenen Faktoren. Aber unter den entscheidenden Faktoren war auch der jüdische Terrorismus. Erfolgreicher Terrorismus. Also erst recht auch sinnvoller Terrorismus.

2 Zur Bedeutung der Bezeichnung Terrorismus Das französische Äquivalent des Wortes Terrorismus, das Wort terrorisme, gibt es seit dem Jahre 1794.3 Mit le terrorisme war damals gemeint die Zeit und Politik der revolutionären »Schreckensherrschaft« in den Jahren 1793/1794. Im Französischen wird diese Phase der Revolution als la Terreur – mit einem großen T – bezeichnet. Sie war wirklich schrecklich, etwa 17 000 Menschen wurden binnen eines Jahres hingerichtet, die meisten mit 2

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Das Folgende nach dem vorzüglichen Buch von Hoffman (2002, 61 ff.) – mit dem treffenderen Originaltitel Inside Terrorism (etwa: »Terrorismus von innen gesehen«). Wesentlich zur Unabhängigkeit der jeweiligen Staaten beigetragen haben u. a. auch die Terrorismen in Kenia, Zypern und Algerien (ebd., 30). Robert historique (1992, 2108). Das deutsche Wort Terrorismus ist nicht erst für 1796 erstmals nachzuweisen (Paul 2002, 1001; Fremdwörterbuch 1981, 184), sondern schon für 1795 (Walther 1990, 354 f.).

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Guillotinen. Das Wort terrorisme diente dazu, diese Terreur anzuprangern. Dazu war das Wort terreur selbst damals noch nicht zu gebrauchen, denn die terreur war für die Politiker, die sie betrieben hatten, etwas Positives. Sinn der Sache war gar nicht so sehr die Liquidierung von so vielen Menschen, die als Revolutionsfeinde angesehen wurden, obwohl man natürlich auch das wollte. Vielmehr war die hauptsächliche Absicht, allen anderen Franzosen Angst und Schrecken einzuflößen. Und zwar zwecks Beförderung der Tugend. Robespierre gab die Begründung: »Ohne Terror ist die Tugend machtlos«.4 Deshalb wurde Wert darauf gelegt, die Hinrichtungen öffentlich, auf großen Plätzen, vornehmen zu lassen und sie aufwendig zu inszenieren, in der Art des Mediums Theater, auf Podesten und mit Zuschauertribünen. Nach vollzogener Guillotinierung zeigte man den abgetrennten Kopf des Toten, an den Haaren hochgehalten, wie eine Trophäe, dem Volk, damit es sich umso mehr entsetze. Deutsche Wörterbücher erläutern die heutige Bedeutung der Vokabel Terror mit der Paraphrase: »systematische Verbreitung von Angst und Schrecken durch Gewaltaktionen, besonders zur Erreichung politischer Ziele«.5 Es fehlt darin die Angabe, dass man das Wort nur als Stigmawort verwendet. Denn was hier dezent Gewaltaktionen heißt, das sind Gewaltverbrechen. Wird die systematische Verbreitung von Angst als geboten oder gerechtfertigt angesehen – und also als nicht verwerflich – dann wird man sie heute nicht mehr Terror nennen. Dafür nur ein Beispiel. Im letzten Irak-Krieg stand der Angriff der USA unter der Devise, dass er »shock and awe« erzeugen sollte (vgl. Purdum 2003, 102, 124). Das lässt sich vielleicht ins Deutsche übersetzen mit »abgründiges Entsetzen«. War das Terror oder sogar Terrorismus? Nein. Wir nennen eben eine solche systematische, berechnete Erzeugung von Angst und Entsetzen durch Gewaltaktionen nur dann Terror, wenn wir sie beschreiben wollen als etwas Verbrecherisches. Die deontische Bedeutung des Oberbegriffs Verbrechen vererbt sich auf die Bezeichnung Terror, denn auch Terror ist etwas, das nicht geschehen darf, das unbedingt verhindert und beendet werden muss, soweit in unseren Kräften, und das bestraft werden soll, wenn sich die Täter habhaft machen lassen. Aber die deontischen Bedeutungen des Wortes Terror, nämlich, dass er unerlaubt ist und dass man die Pflicht hat, gegen ihn zu kämpfen und ihn zu bestrafen, hat auch die Bezeichnung Terrorismus, die gleichfalls ein Stigmawort ist.6 Deshalb nennen Terroristen sich selbst heute so gut wie nie 4 5

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Hier zitiert nach Reichardt (1988, 86). – Zur Geschichte der die Terreur vor- und nachbereitenden Diskurse Heuvel (1985), Walther (1990), Musolff (1996). Vereinfacht nach Duden (2003, s. v.), ähnlich bereits das WDG (1976, s. v.), allerdings mit der Einschränkung, dass Terror nur vorliegt, wenn er darauf abzielt, »Machtansprüche einer reaktionären Klasse … durchzusetzen«. – Es gibt auch noch Nebenbedeutungen dieses Wortes, auf die ich hier aber nicht eingehe. Vgl. Strauß et al. (1989, 367): »meist negativ wertend«. Engl. terrorism wird ebenfalls nur »used showing disapproval« (Collins Cobuild 1995, s. v.), so auch Hoffman (2002, 38).

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Terroristen, sondern Revolutionäre, Freiheitskämpfer, Gotteskrieger usw. (Schon in diesen Eigenbezeichnungen wird der Sinn des jeweiligen Terrorismus angedeutet.) Ihren Terrorismus nennen sie Krieg, Kampf, revolutionäre Aktion oder ähnlich, kaum je Terror oder Terrorismus.7 Überhaupt ist Terrorismus – in der Hauptbedeutung dieses Wortes – eine Art des Terrors, nur mit zusätzlichen Eigenschaften, d. h. Terrorismus ist ein Hyponym von Terror. Auch ein Terrorismus – jeder Terrorismus – besteht immer in der »systematischen Verbreitung von Angst und von Schrecken durch Gewaltverbrechen zwecks Erreichung politischer Ziele«. Stellt man die Gewaltverbrechen in das Zentrum der Begriffsbestimmung – und das ist wohl besser, weil es für die Wortverwendung unerheblich ist, ob die im Terrorismus beabsichtigte Angstverbreitung gelingt – dann ergibt sich als Bedeutung: »(Jeder) Terrorismus ist eine Gesamtheit von Gewaltverbrechen, begangen von Gruppen oder Organisationen mit dem Zweck der Verbreitung von Angst und Schrecken, dieses wiederum als Mittel der Durchsetzung politischer Ziele.»8 Wegen dieser Zweckbestimmung ist ein Terrorismus immer etwas Rationales. Konkret besteht jeder Terrorismus in einzelnen Terrorakten, aber erst bei einer Mehrzahl terroristischer Aktionen sprechen wir von Terrorismus. Die Gewaltaktionen krimineller Organisationen wie der Mafia, Cosa Nostra usw. sowie einzelner Personen wie Kauf hauserpresser oder Amokläufer können ebenfalls darauf abzielen, Angst und Schrecken zu verbreiten, sind jedoch kein Terrorismus, weil sie keine politischen Ziele haben. Aber auch Gesamtheiten politischer Gewaltverbrechen einer Einzelperson würde man kaum Terrorismus nennen, weshalb hier das Begriffsmerkmal »begangen von Gruppen oder

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Es sei denn zitierend oder auch ironisch (Musolff 1996, 13). – Eine der Ausnahmen ist Bin Laden: »Unser Terrorismus gegen sie, die unser Land bewaffnet besetzt haben, ist unsere Pflicht« (zitiert nach Gholamasad 2002, 20). Im Duden (2003, s. v.) – wieder nach dem Vorbild des WDG (1976, s. v.) – findet sich die Bedeutungsbeschreibung, Terrorismus sei eine »Einstellung und Verhaltensweise, die darauf abzielt, [politische] Ziele durch Terror … durchzusetzen«. Diese – eher marginalen – Bedeutungen lassen sich jedoch einfacher als (zur o. a. Grundbedeutung) metonymische Nebenbedeutungen erklären. Eine andere, recht häufige, Bedeutung  – Terrorismus als »Gesamtheit der Personen, die Terrorakte verüben« (Duden 2003, ebd.) – ist ebenfalls metonymisch bzgl. der Grundbedeutung. – Unter den Begriff des Terrors subsumieren den Begriff des Terrorismus Collins Cobuild (1995, s. v. terrorism) – »Terrorism is the use of violence, especially murder, kidnapping, and bombing, in order to achieve political aims …« – und der Petit Robert (1976, s. v. terrorisme): »Ensemble des actes de violence (attentats individuels ou collectifs, déstructions) qu’une organisation politique exécute pour … créer un climat d’insécurité«. Wie man sieht, habe ich den Begriff Gesamtheit aus dem Petit Robert übernommen.  – Zur Begriffsgeschichte der Bezeichnung Terrorismus ist grundlegend Walther (1990), zu deutschen Diskursen über Terrorismus sind einschlägig Strauß et al. (1989, s. v.), Musolff (1995, 1996), Stötzel & Eitz (2002, s. v.).

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Organisationen« hinzugefügt wurde. (In der Sprache unseres Strafgesetzbuchs heißen diese Gruppen oder Organisationen terroristische Vereinigungen.) Jeder Einzelterrorismus ist von jedem anderen eindeutig unterschieden bereits durch die ganz bestimmte Gruppe oder Organisation, von der er ausgeübt wird. – Die hier angegebene Bedeutung ist, soweit ich sehe, die gemeinsprachliche, die deshalb auch im Diskurs der Medien Presse, Radio, Fernsehen beim Gebrauch des Wortes Terrorismus meist gemeint ist. Man wird sie deshalb die Hauptbedeutung dieses Wortes nennen können. In der Literatur anzutreffen ist daneben eine allgemeinere Bedeutung der Bezeichnung, insbesondere im deutschen Strafrecht, wo im Strafgesetzbuch9 das Wort Terrorismus zwar nicht vorkommt, aber terroristische Vereinigungen erklärt werden als »Vereinigungen …, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind«, schwere Straftaten zu begehen, die dann einzeln aufgelistet werden (so Mord, Totschlag, Völkermord u. a.). Straftatbestand sind hier nur die »Gründung« einer terroristischen Vereinigung und die »Beteiligung« an einer solchen, denn die Taten selber stehen im Strafgesetzbuch sowieso schon unter Strafe. Auf die (terroristischen) Absichten dieser Taten kommt es dabei nicht an. Es ergibt sich hieraus per Implikation die allgemeinere Bedeutung der Bezeichnung Terrorismus, in der politische Zwecke keine Rolle spielen. Das gilt ähnlich auch für alltagssprachliche Verwendungen von Terrorismus, wo man Serien von Gewaltverbrechen Terrorismus nennen kann, wenn sie nur in Bevölkerungen oder Teilen davon Angst auslösen, ohne dass dabei an politische Ziele gedacht würde. Da dann nach den Zielen und Motiven für die terroristischen Aktionen nicht gefragt wird, ist ein derart verstandener Terrorismus in der Tat – dem oben Ausgeführten zum Trotz – nur noch ein »sinnloser« Terrorismus. Diese allgemeinere Bedeutung kann man die Pauschalbedeutung der Bezeichnung Terrorismus nennen. Die deontische Bedeutung ist hier überwiegend wohl die, dass man die jeweiligen Urheber und Akteure finden und unschädlich machen müsse – in der Meinung, dass, wenn sie gefasst sind, der von ihnen verursachte Terrorismus aufhört. Eine engere (präzisere) Bedeutung hat dagegen das Wort Terrorismus im Diskurs der Terrorismus-Spezialisten und Terrorismus-Experten.10 Es gehören danach zum typischen Terrorismus – zum Stereotyp bzw. Prototyp des Terrorismus – folgende zusätzlichen Merkmale:

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Hier zitiert nach Neumann et al. (1995, zu den §§ 129 a, b StGB). Wie Historiker, Politologen, Soziologen, Psychologen und Kriminalisten (Martin 2003, 7). – An zusammenfassenden Publikationen (Einführungen) zur Thematik Terrorismus habe ich gelesen Laqueur (1987, 1998), Waldmann (1998), Hoffman (2002), Martin (2003). Einem Exposé zu einem laufenden Forschungsvorhaben von Martin Steinseifer – bei dem ich mich hier dafür bedanken möchte – verdanke ich eine Fülle von Informationen und Einsichten. – Die nachfolgend aufgezählten Begriffsmerkmale hauptsächlich nach Hoffman (2002, 52 – 57) sowie Martin (2003, 32, 67, 71). – Zur Unterscheidung von Experten- und Laiensemantik ist grundlegend Wichter (1994).

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1. Terroristische Vereinigungen sind relativ kleine, nicht-staatliche oder sub-staatliche Organisationen; also nie staatliche Organisationen.11 Wegen ihrer relativen Kleinheit handeln terroristische Vereinigungen immer in der Position der Schwäche. Im Kampf gegen einen Goliath sind sie der David. 2. Terroristen handeln ihrem Selbstverständnis nach für eine größere Wir-Gruppe, der sie sich zurechnen (insbesondere ein Volk / eine Nation, Religion, Klasse, Rasse). Jeder Einzelterrorismus bezieht sich also auf eine eigene Großgruppe. 3. Diese eigene Großgruppe wird von Terroristen wahrgenommen als von einer anderen sozialen Gruppe (als Fremdgruppe) massiv ungerecht behandelt (unterdrückt, erniedrigt, gedemütigt, fremdbeherrscht, entmündigt, ausgebeutet) oder bedroht. Jeder Terrorismus wird mithin von den daran Beteiligten als eine Reaktion auf ein vermeintliches oder reales Unrecht angesehen. (Zum Verständnis jedes Einzelterrorismus gehört daher immer auch die Frage nach dem spezifischen – vermeintlichen oder auch realen – Unrecht, auf das mit ihm reagiert wird.) Ethisch werden terroristische Gewaltaktionen von den Terroristen selber als gerechte Rache oder Strafe für dieses Unrecht betrachtet. Die Fremdgruppe »verdient« diese Strafe. Darum ist ihr eigener Terrorismus in der Sicht von Terroristen immer etwas Moralisches. 4. Die Fremdgruppe (oder auch deren Repräsentanten) wird als Feind der eigenen Großgruppe angesehen. Jeder Einzelterrorismus definiert sich u. a. auch durch seine spezifischen Feinde und ein Feindbild. (Affektiv gehört zu diesem Feindbild, dass der Feind gehasst wird, als Verursacher des Unrechts, das der eigenen Großgruppe angetan wird.) 5. Es folgt daraus für die Terroristen die Pflicht, gegen diesen Feind zu kämpfen. Sich selbst sehen sie in diesem Kampf als eine Avantgarde, mit der sich die Massen ihrer eigenen Großgruppe solidarisieren sollen. In der Sicht der Terroristen ist ihr jeweiliger Terrorismus ethisch und moralisch nicht nur gerechtfertigt, sondern – eben als Pflicht – auch geboten. In der Eigensicht sind Terroristen auch aus diesem Grunde Moralisten. 6. Sie sind außerdem Idealisten, da sie nicht für sich selbst, sondern für die eigene Großgruppe und für deren »gute Sache« kämpfen. Jeder Terrorismus definiert sich über Ideale. In der Sicht der Terroristen sind die eigenen Gewaltaktionen altruistisch (Hoffman 2002, 55). Was es ihnen gleichmals möglich macht, sich selber als moralische Elite zu verstehen. 11

So auch Strauß et al. (1989, 370). Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass polemisch-metaphorisch bedeutungserweiternd in nicht-fachsprachlichen Texten staatliche Maßnahmen, Verhältnisse und Akteure trotzdem mit den Wörtern Terrorismus, terroristisch oder Terroristen stigmatisiert werden können (ebd.). In der Regel aber heißt im Deutschen (anders als im Englischen) dieser »staatliche Terrorismus« einfach Terror (wie der NS-Terror und der sowjetische Terror unter Stalin). – Zum staatlich geduldeten bzw. geförderten Terrorismus s. Gießmann (2002).

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7. Zum Gesamtbild jedes Terrorismus gehören noch andere Personengruppen und Institutionen als die schon genannten (Martin 2003, 34 f.). Für den potenziellen Erfolg jedes Terrorismus wichtig sind seine Sympathisanten und Sponsoren, aber auch die z. T. internationale Öffentlichkeit, als Großgruppe von zunächst bloßen Zuschauern, die jedoch mit ihrer Meinung politisches Handeln auch von mächtigen, vor allem staatlichen Akteuren beeinflussen können. 8. Im Zentrum des öffentlichen Interesses stehen wohl bei jedem Terrorismus mehr noch als die Terroristen deren Opfer, d. h. die Personen, die durch ihn ihr Hab und Gut verlieren, als Geiseln genommen werden, aber auch verletzt, verstümmelt und ermordet. Was den Opfern angetan wird, ist dasjenige, was Furcht und Schrecken auslöst. Opfer und Feind sind oft nicht identisch (Schmid & Graaf 1982, 15 f.). 9. An die Öffentlichkeit gelangt Terrorismus immer nur, wenn Medien (Massenmedien) über ihn berichten. Nur mit ihrer Hilfe kann er – wenn denn überhaupt – seine politischen Zwecke erreichen. (Dazu etwas mehr im folgenden Kapitel.) Mit all diesen Elementen12 haben wir so etwas wie den frame oder die Szene oder das Szenario beisammen, das wir zum Verständnis terroristischer Aktionen brauchen. Wie gesagt, ist mit sämtlichen diesen Elementen nur zu rechnen in der Vorstellung von Terrorismus bei Terrorismus-Experten. Bei den Nicht-Experten – im Diskurs der Öffentlichkeit – werden manche dieser Begriffselemente zwar bekannt sein, aber andere in der Regel fehlen, so der terroristische Idealismus, denn er passt nicht zur unproblematischen Stigmatisierung terroristischer Aktionen. Die Gesamtvorstellung, die sich TerrorismusExperten vom Terrorismus erarbeitet haben, soll hier die Spezialbedeutung oder Expertenbedeutung der Bezeichnung Terrorismus heißen. (Damit sind – idealtypisch – insgesamt drei Hauptbedeutungen des Wortes Terrorismus unterschieden.) Offen bleibt nach alledem noch, was die oft verwendete Bezeichnung der Terrorismus bedeutet (mit dem bestimmten Artikel). Nach den Regeln der deutschen Grammatik kann gemeint sein: ein jeweils bestimmter, aus dem Kontext erkennbarer Einzelterrorismus; jeder Terrorismus (generisch gebrauchter bestimmter Artikel wie z. B. in Der Tiger ist ein Raubtier); die Gesamtheit aller Terrorismen (wie z. B. bei das Eigentum, z. B. einer Person, als der Summe aller ihrer Einzeleigentume ); aber auch »Prinzip, Kraft, Wesen, aus dem alle terroristischen Aktionen hervorgehen«. In dieser vierten Bedeutung wird der Terrorismus als ein Gegenstand gedacht (hypostasiert), obwohl es diesen einen, singulären Gegenstand der Terrorismus nicht gibt. 12

Hinzu kommen weitere Merkmale, wie z. B.: Terroristische Vereinigungen sind stets Geheimorganisationen; Terroristen sind als solche nicht erkennbar, denn sie tragen keine Uniformen (das ist für die kriegsrechtliche Unterscheidung zwischen Terroristen und Soldaten wichtig); Zielobjekte sind beim Terrorismus, in der Regel jedenfalls, Zivilpersonen und zivile Einrichtungen (»weiche Ziele«). Darin besteht ein Hauptunterschied von Terroristen und Guerillakämpfern (Hoffman 2002, 52).

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Zum Schluss dieses Abschnitts einige der Hyponyme der Bezeichnung Terrorismus, die von Vielfalt und Verschiedenheit der vielen Terrorismen einen Eindruck geben, die wir unter dem Begriff Terrorismus zusammenfassen.13 Man spricht u. a. von selektivem Terrorismus; gemeint sind vor allem Terrorismen, die es auf bestimmte relativ kleinere Gruppen von Personen abgesehen haben, wie der Baader-Meinhof-Terrorismus, der sich seine Ziele in westdeutschen Führungskadern wählte. Ethnischer bzw. nationaler Terrorismus hat den Zweck nationaler Befreiung oder Selbständigkeit. Religiöser Terrorismus dient der Durchsetzung religiöser Forderungen. Es gibt einen linken (sozialrevolutionären) sowie rechten (nationalistischen, fremdenfeindlichen bzw. rassistischen) Terrorismus. Vigilanten Terrorismus nennt man einen Dauerterrorismus zur Einschüchterung bestimmter sozialer Gruppen, wie die der Afro-Amerikaner durch den Ku-Klux-Klan in den Südstaaten der USA. Mit staatlichem Terrorismus ist nicht Terror gemeint, der von staatlichen Institutionen selber ausgeübt wird, wie der stalinistische und NS-Terror – denn das ist per Definition ausgeschlossen –, sondern Terrorismus, der von staatlichen Institutionen unterstützt oder organisiert wird. Die Bezeichnung internationaler Terrorismus kann Verschiedenes bedeuten (Waldmann 1998, 18 f.): a) Zusammenarbeit nationaler Terrorismen, b) terroristische Aktionen außerhalb des eigenen Landes einer Terroristengruppe, c) Staatsterrorismus außerhalb des Staatsgebietes des dafür verantwortlichen Staates. Megaterrorismus schließlich heißt der (historisch noch neue) Terrorismus, der das Ziel hat, möglichst viele Menschen und zugleich besonders wichtige Objekte zu vernichten, wie am 11. 9. 2001 bei der Zerstörung des New Yorker World Trade Center, des »Welthandelszentrums« (damit eines der Symbole für den »westlichen« Kapitalismus) mit 3 000 Toten und einem geschätzten materiellen Schaden von ca. 30 Milliarden Dollar.14

3 Terroristische als kommunikative Akte Seit dem 19. Jahrhundert werden terroristische Gewaltverbrechen von den Terroristen selber als »Propaganda der Tat« betrachtet und bezeichnet, also als Aktionen, deren Sinn darin liegt, eine Botschaft zu kommunizieren.15 Aber schon als Akte – und nicht erst speziell als kommunikative Akte – können terroristische Aktionen sinnvoll sein. Was dabei ihren (subjektiven) Sinn ausmacht, das ist, dass sie als Handlungen entweder a) zweckrational, b) wertrational, c) affektuell (affektiv) oder d) traditional sind, oder meh13 14 15

Nach Laqueur 1987, 257 – 263; Waldmann 1998, 75 f.; Martin 2003, 33 f. Senator Joseph L. Bruno & Senator Ronald B. Stafford: Financial Impact of the World Trade Center Attack. January 2002, 51. Zu »Propaganda der Tat« vgl. u. a. Laqueur (1987, 65 ff.). Auf den kommunikativen Zweck von terroristischen Aktionen hat als Analytiker des Terrorismus zuerst Jenkins (1975; hier zitiert nach Hoffman 2002, 173) hingewiesen (»Terrorismus ist Theater«).

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reres davon zusammen.16 Die Zweckrationalität besteht bei ihnen immer bereits darin, dass sie kommunikativ etwas bewirken und besagen sollen (s. u.), aber außerdem auch immer darin, dass sie dem Feind schaden sollen. Dieser zweite Zweck kann gegenüber kommunikativen Zwecken sogar derart überwiegen, dass der Begriff Terrorismus (der in seiner Hauptbedeutung auf die angestrebte politische Wirkung abhebt) eigentlich nicht mehr passt. Bei speziellen Terrorismen kann Zweckrationalität noch andere Zwecke einbegreifen, beispielsweise können Selbstmordattentate – die nötigen Überzeugungen vorausgesetzt  – den Eingang in ein Paradies bewirken sollen, usw. Auch wertrational sind terroristische Aktionen immer, denn sie sind idealistisch – altruistisch und moralisch (s. o.). Affektiv sind sie z. B. als ein Ausagieren von Hass und Empörung sowie als Erleben von Macht- und Triumphgefühlen. Traditional schließlich sind sie, wenn sie interpretiert werden als Fortführung früherer Heiliger Kriege, Klassen- und Befreiungskämpfe usw. Auch das dürfte typisch sein für Terrorismen. Darüber hinaus sind terroristische Aktionen, wie gesagt, als kommunikative Akte sinnvoll. Es ist in der Linguistik bisher, scheint es, noch nicht üblich, kommunikative Akte, die nicht Sprechhandlungen sind, mit sprechakttheoretischen Kategorien zu analysieren.17 Wenn man das jedoch tut, dann ergibt sich, dass sie – wie Sprechakte – zweierlei Funktionen haben können: illokutionäre sowie perlokutionäre. Beide machen terroristische Aktionen als zweckrationale sinnvoll, aber nur die illokutionären Zwecke machen sie zu kommunikativen Akten. Kommunikativ besteht der Sinn von terroristischen Aktionen also im Zum-Ausdruck-Bringen von Illokutionen. Diese sind verschieden, je nach den verschiedenen Adressaten, wie sie terroristische Aktionen immer haben, was bedeutet, dass sie immer polyfunktional und mehrfachadressiert sind. Eine Adressatengruppe besteht aus den potenziellen und realen Freunden und Sympathisanten der aktiven Terroristen, eine andere ist die ihrer Feinde, und sie können auch an Dritte (die »Zuschauer«) adressiert sein. Terroristische Aktionen sollen einerseits etwas aussagen, ja sogar beweisen. Sie sind also (auch) deklarative kommunikative Akte. Was durch sie jeweils bewiesen werden soll, das hängt vom Einzelfall ab, von den aktuell gegebenen historischen Kontexten, in denen die jeweiligen Terrorismen stehen und auf die mit terroristischen Aktionen sozusagen referiert wird. Aber einige Aussagen werden wohl mit allen Terrorakten gemacht. Generell besagen sie wohl sämtlich: »Es gibt uns« bzw. »Es gibt uns noch«, »Wir sind (nach wie vor) gefährlich«, »Gegen uns ist der Feind wehrlos« und: »Wir sind zum

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So die vier Sinndimensionen nach Max Weber (1921, 2 ff.). Hier gibt es also noch keine Vorarbeiten in der Linguistik, aber in der Terrorismus-Literatur – z. T. belegt durch Zitate – viele Einzelanalysen, die dem Terrorismus die im Folgenden genannten Funktionen unterstellen, insbesondere bei Gerrits (1992) sowie Martin (2003, passim).

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Äußersten entschlossen«. Das wir dieser Sätze ist die jeweilige terroristische Vereinigung, die mittels ihrer terroristischen Aktionen kollektiv spricht. Andererseits sind wohl die folgenden Appelle illokutiv regelmäßig ausgedrückt in einem terroristischen Gewaltakt. Erstens, adressiert an die Politiker und überhaupt das Führungspersonal der jeweiligen Feindesgruppe: »Erfüllt unsere Forderungen!« Jede terroristische Aktion ist eine Drohung, ein Erpressungsversuch: »Wenn ihr unseren Forderungen jetzt nicht nachgebt, wird noch Schlimmeres geschehen«. Zweitens drücken terroristische Aktionen, adressiert an die verschiedenen Wir-Gruppen, denen die Akteure eines Terroraktes angehören, weitere Appelle aus. So, an die anderen Angehörigen der Terrorgruppe selbst gerichtet, den Appell: »Folgt diesem Vorbild!«, bei gelungenen Aktionen. Und, gerichtet an die Angehörigen der größeren Wir-Gruppe, stets wohl die Appelle »Schließt euch uns an!«, »Unterstützt uns!«. (Erfolgreiche terroristische Aktionen sind hervorragende Rekrutierungsmittel.) Alle diese – so verschiedenen – Appelle machen terroristische Aktionen zu (auch) direktiven kommunikativen Akten. Perlokutionär ist definitionsgemäß der Zweck jedes Terroraktes, beim Feind Furcht und Schrecken auszulösen und ihn so zu demoralisieren. Zweitens, den Feind mittels dieser Angsterzeugung zum Nachgeben zu bewegen, zum Erfüllen der jeweils gestellten Forderungen. Ein weiterer perlokutionärer Zweck kann aber auch darin bestehen, einen Feind zu provozieren zu Handlungen, die ihn als den, der er wirklich sei, entlarven sollen, d. h. als Feind nicht allein der jeweiligen Terroristengruppe, sondern als Feind insgesamt der eigenen Großgruppe.18 Ihn also zu einer Überreaktion zu provozieren. Das kann zu Spiralen gegenseitiger Gewaltaufschaukelungen führen, wie zur Zeit in Israel und Palästina. Perlokutionär soll das Gelingen eines Terroraktes außerdem wohl immer bei den eigenen Sympathisanten Zuversicht verbreiten, Hoffnung auf den Sieg der eigenen guten Sache, durch Demonstration der eigenen Schlagkraft und Stärke sowie der Verwundbarkeit des Gegners. Jede terroristische Aktion soll ferner der Sympathiewerbung in der eigenen Großgruppe dienen. Sieht man eine einzelne Terroraktion als einen kommunikativen Akt an, dann ist es nur folgerichtig, wenn man die Gesamtheit aller terroristischen Aktionen einer terroristischen Vereinigung – mit anderen Worten: jeden Terrorismus – als einen Diskurs betrachtet; Diskurs hier verstanden als Gesamtheit aller Einzeläußerungen – énoncés nach Foucault –, die in einer Kommunikationsgemeinschaft zu einem bestimmten Thema gemacht werden und die intertextuell zusammenhängen. Diese Definition lässt sich ohne weiteres auf jeden Terrorismus übertragen. Als Diskurs betrachtet, ist ein Terrorismus eine Serie von kommunikativen Akten, die bestätigen, was vorher schon zum Ausdruck gebracht wurde, es bekräftigen, es überbieten oder sonst modifizieren.

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So der Hauptgedanke des Buchs Terrorismus. Provokation der Macht (Waldmann 1998).

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Dieser Diskurs in Form terroristischer Aktionen ist – wie jeder andere Diskurs – in andere Diskurse eingebettet, die z.T. gleichfalls in Serien von nichtsprachlichen Handlungen bestehen, wie politische und polizeiliche und militärische Gegenmaßnahmen; soweit diese eine Signalwirkung haben sollen, sind sie gleichfalls als Diskurse (oder Teildiskurse) anzusehen. Aber der Diskurs des Terrorismus wird in aller Regel auch begleitet 19 von (oft umfangreichen) sprachlichen Diskursen, insbesondere auch öffentlichen, die ihn deuten, kommentieren, ihn bewerten oder ihm antworten. Sie bestehen einerseits aus Äußerungen, die von Terroristen gemacht werden, in Form von »Bekennerschreiben«, Pressemitteilungen, Manifesten, Plakaten, Flugblättern und Interviews, die sie geben; diese Äußerungen haben den Sinn, explizit zu machen, was in terroristischen Aktionen als Aussage oder Appell implizit ist (Eigeninterpretationen).20 Sie bestehen andererseits aus Äußerungen oder Texten anderer Personen, die das Geschehene gleichfalls deuten (als Fremdinterpretationen), darauf reagieren oder zusätzlich darüber informieren, so z. B. Kommentare, Analysen, politische Absichtserklärungen, Reportagen, Interviews mit Überlebenden terroristischer Attentate usw. Es gehören dazu auch Spezialdiskurse wie vor allem politische, politologische, theologische, religions- oder kulturwissenschaftliche, moralische, juristische und polizeiliche und militärische Diskurse, die sich aber z. T. gleichfalls an die Öffentlichkeit wenden.21 Terrorismus lebt von Öffentlichkeit, er geschieht um dieser Öffentlichkeit willen. Er ist deshalb zum Gelingen seiner Kommunikationsversuche auf die großen Medien – Presse, Radio, Fernsehen – angewiesen.22 Nur wenn der Diskurs des Terrorismus Mediendiskurs wird, hat er eine Erfolgs-Chance. Und die Medien kollaborieren immer wieder, indem sie  – groß aufgemacht  – berichten über terroristische Aktionen. Dies, weil sie nach ihren eigenen Gesetzen gar nicht anders können, denn »bad news« sind für sie »good news«. Es liegt mithin im gemeinsamen Interesse einerseits der Terroristen, andererseits der Medien, dass die Medien terroristischen Gewaltaktionen kommunikativ Erfolg verschaffen. Was die Medien zwar nicht wollen, aber in Kauf nehmen, um der Einschaltquoten und der Druckauflagen willen. In der Kollusion von Medien und Terrorismus entsteht so gesellschaftliches Wissen (Vorstellungen) über einen jeweiligen Terrorismus und seine Zusammenhänge, allerdings verschieden nach den Adressatengruppen und den Rezipientengruppen einerseits der Medien, andererseits der terroristi-

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Und z. T. auch vorbereitet – dies beim Binnendiskurs terroristischer Vereinigungen. Einige (wenige) solcher Eigeninterpretationen sind zu finden in dem Buch The Terrorism Reader (Laqueur & Alexander 1987). Einen Einblick in einige der Spezialdiskurse geben u. a. Bundeskriminalamt 2002; Bendel & Hildebrandt 2002; Frank & Hirschmann 2002. Dazu Schmid & Graaf 1982; Paletz & Schmid 1992; Nacos 1994; Weimann & Winn 1994; Laqueur 1987, 155 – 163; Waldmann 1998, 56 – 61; Hoffman 2002, 172 – 208; Martin 2003, 279 – 299.

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schen Vereinigungen. So entstehen aber darüber hinaus auch Einstellungen, gleichfalls je verschieden nach den Rezipientengruppen. Die Allianz (Waldmann 1998, 61) oder Symbiose (Laqueur 1987, 155) von Medien und Terrorismen kann sogar noch weiter gehen als bloß so weit, dass die Terroristen Terrorakte zur Behandlung in den Medien liefern und die Medien dieses Angebot annehmen. Es gibt manchmal regelrechte Geschäftsbeziehungen zwischen ihnen. In der Beirut-Krise 1985 (Geiselnahme und -haft nach Flugzeugentführung; nach Freilassung aller anderen waren alle Geiseln US-Bürger) sollen US-Fernsehgesellschaften an die Terroristen für die Exklusivität ihrer Berichterstattung (Interviews mit Geiseln sowie Terroristen) viele tausend Dollar bezahlt haben (ebd., 159 f.). Wenn so etwas geschieht, werden Medien zu Sponsoren terroristischer Vereinigungen. Als Vollstrecker terroristischer Absichten – dem Diskurs des jeweiligen Terrorismus ein größtmögliches Publikum zu verschaffen – sind sie aber sowieso deren Komplizen. Ohne den Diskurs des Terrorismus könnte es auch keinen Mediendiskurs darüber geben, in dem der Diskurs des Terrorismus permanent zitiert wird. Umgekehrt ist, wie schon gesagt, jeder Terrorismus auf die Medien – als Verbreiter seines eigenen Diskurses – angewiesen. Zweierlei macht, scheint es, terroristische Aktionen optimal geeignet, die Aufmerksamkeit der Medien in besonders hohem Grade zu erlangen: Erstens, sie sind Sensationen; zweitens, sie erregen Anteilnahme (mit den Opfern). Sensationell sind sie schon als »unerhörte« Ereignisse, zumal aber, weil sie uns – als MedienrezipientInnen – schockieren, und zwar einerseits als Katastrophen, wie z. B. auch große Verkehrsunfälle oder Naturkatastrophen, andererseits als außerdem moralische Monstrositäten (Mord an unschuldigen Opfern). Der Schock löst sodann Faszination aus, d. h. nachhaltiges Interesse mit Fragen wie »Wie war das nur möglich?« und »Wie wird das weitergehen?«. Insbesondere Bilder (Fotos) und bewegte Bilder (Filme) sind geeignet als Auslöser von Schock und Entsetzen. Ihre Einprägsamkeit kann so groß sein, dass sie zu Ikonen (Holly 2003: »Klischees«) terroristischer Aktionen werden. Kollektiv erinnert werden hierzulande u. a. die Fotos von palästinensischen Kapuzenmännern bei der Geiselnahme israelischer Teilnehmer an den Münchner Olympischen Spielen (1972) und ein Foto des in Geiselhaft genommenen Industriellen Martin Schleyer (1977), zuletzt die bewegten Bilder der Einschläge von zwei Boeing-Passagierflugzeugen in die beiden Türme des New Yorker World Trade Center am 11. September 2001 und von deren Einsturz. Fotos sowie Filme sind sowohl (scheinbar; auch Fotos sowie Filme lassen sich bekanntlich fälschen) direkte Beweise des in ihnen Dargestellten (da sie uns zu einer Art von Augenzeugen machen) als auch Emotionserreger (was ich selber sehe, betrifft mich unmittelbarer als das, von dem ich nur höre). Daher sind sie absolut zentrale Elemente der sie transportierenden Mediendiskurse (in Druckmedien und Fernsehen). Anteilnahme (»human interest«: Hoffman 2002, 183; Martin 2003, 279, 286) gilt, wie schon gesagt, den Opfern terroristischer Anschläge, auch den Opfern in weiterem

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Sinne (Angehörigen, FreundInnen). Interviews mit Betroffenen werden so gestaltet, dass man sich in deren Not und Leid einfühlen kann, wie sonst hauptsächlich bei fiktiven Helden von Romanen oder Filmen. Nach ihrer Wirkungsästhetik fallen daher die damit befassten Mediendiskurse in die Rubrik Unterhaltung (Martin 2003, 291: entertainment). Das gilt aber ebenso für Medienberichte über die Terroraktionen selber (ebd.). Deren Unterhaltungswert (Hoffman 2002, 195) ist umso höher, je sensationeller und spektakulärer sie ausfallen. Da auch sie in ihrer Qualität als Sensationen, wenn sie sich in ähnlicher Art wiederholen, der Abnutzung (ihrer Interessantheit) unterliegen, muss es zu inflationären Entwicklungen kommen. Terroristen haben das Bestreben, mit auch quantitativ immer schlimmeren Entsetzlichkeiten aufzuwarten. Die bis heute größte und spektakulärste terroristische Aktion war, wie bekannt, der Angriff auf das World Trade Center in New York am 11. 9. 2001, aber seitdem rechnet man mit noch verheerenderen terroristischen Aktionen.

4 »Krieg gegen den Terrorismus« Durch die Flugzeugattentate auf das World Trade Center und die Reaktionen der US-Regierung und der US-Medien darauf bekam die Bezeichnung Terrorismus (terrorism) eine zusätzliche, neue, in den US-Medien fortan dominierende Bedeutung, was sie – nicht nur in den USA – zu einem Schlüsselwort der internationalen Politik der Folgejahre machte. Terrorismus (terrorism) wurde in den USA – erst jetzt – zum Inbegriff des Schrecklichen und Bösen schlechthin und zugleich zum Namen (Eigennamen) des Feindes der USA, wie früher, bis zum Jahre 1990, der Name der Kommunismus (communism). Dies vor allem dadurch, dass der US-Präsident dem Terrorismus regelrecht den Krieg erklärte. Inbegriff des Schrecklichen und Bösen konnte in den USA der Terrorismus mit dem 11. 9. werden, weil die Flugzeugattentate dieses Datums in den USA (und weltweit) sofort zum konkreten Prototyp des Terrorismus wurden. Durch die Attentate – in dem Medium Fernsehen seitdem immer wieder, anfangs auch in Endlosschleifen, abgebildet – wurde der Begriff des Terrorismus neu mit Anschauung versehen. Bilder, insbesondere Filme, davon und der Begriff Terrorismus stützen und interpretieren sich seit diesen Attentaten gegenseitig. Terrorismus ist seitdem, was man in diesen Bildern sehen und den ihnen folgenden Berichten (Interviews mit Angehörigen der Opfer usw.) hören und so nacherleben konnte. Dadurch ist der Begriff Terrorismus emotiv  – besonders in den USA – nochmals verstärkt mit Angst und Schrecken aufgeladen worden, volitivdeontisch aufgeladen mit dem doppelten Appell, dass eine Wiederholung unbedingt verhindert werden und dass man die Verursacher jeden Terrorismus mit sämtlichen verfügbaren Mitteln rücksichtslos verfolgen und bestrafen müsse. Das härteste Mittel  – Krieg – nicht ausgeschlossen.

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Schon am Abend des 11. September reagierte der US-Präsident Bush mit einer Antwort auf die Flugzeugattentate gegen das New Yorker World Trade Center und das Pentagon, die das weitere Vorgehen der USA, wie sich dann herausgestellt hat, in eine militärische Richtung lenkte. Ihrem Sinn und ihrer feierlichen Form nach war sie in der Tat eine Art offizieller Kriegserklärung gegen den Feind Terrorismus, vorgetragen als beschwörende und nationale Solidarität einfordernde Feststellung. Sie lautete: »And we stand together to win the war against terrorism«23 In den US-Medien wurde der Begriff war against terrorism sofort, scheint es, aufgegriffen. Dadurch wurde er zum Slogan. Die Frequenz noch seiner heutigen Verwendung ist erstaunlich. Eine Google-Suche (www. google.de, 9. 12. 03) ergab für war against terrorism mehr als eine Viertelmillion (»ungefähr 275 000«) Treffer und für die Bezeichnungsvariante war on terrorism sogar mehr als eine Million (»ungefähr 1 120 000«) Treffer. Daraus lässt sich vielleicht schließen, dass die Idee des war against terrorism in den USA bewusstseinsprägend wurde. Seit dem 11. 9. waren die USA »at war«, d. h. im Krieg. Das war – kann man sodann weiter schließen – seitdem in den USA gemeinsames gesellschaftliches Wissen. In der deutschen Öffentlichkeit hat man die Bezeichnung Krieg gegen den Terrorismus als seltsam empfunden. Einen Krieg gegen den Terrorismus kann man überhaupt nicht führen, und einen Krieg gegen Terroristen auch nicht. Terroristische Vereinigungen sind nicht Völkerrechtssubjekte 24 und nicht Staaten oder staatsähnliche Organisationen, gegen die Kriegführung möglich wäre, und verfügen nicht über Streitkräfte.25 Gegen sie wie andere kriminelle Organisationen braucht man Polizisten, Abhör- und Computerspezialisten, Bankfachleute, Geheimdienstagenten usw.; in der Regel kann man mit Soldaten gegen sie so gut wie nichts ausrichten. »Wenn man Mäuse fangen will, dann nimmt man eine Katze. Keine Panzer« (Georgios Grivas).26 Demnach war – so hätte man schlussfolgern können – die Bezeichnung Krieg von Bush wohl metaphorisch gemeint. Eine mögliche Erklärung dafür wäre folgende gewesen: Um den Ernst der Lage und die Größe der Aufgabe, die sich daraus ergab, zu betonen, griff der US-Präsident zu der Metapher, dass die USA jetzt einen »Krieg« zu führen hätten. Zumal war im Englischen zwar prototypisch »Krieg« bedeutet, aber metaphorisch in erweiterter Bedeutung absolut sprachüblich auch »Kampf« (so in Wendungen wie war against organized crime und on drugs).27 23 24 25 26 27

www.whitehouse.gov/news/releases/2001/09/ , gesehen am 11. 9. 2003 [nicht mehr verfügbar]. Bush betonte seinen Willen zum war against terrorism danach immer wieder, so bereits in seiner Rede am 20. 9. 2001 (ebd.). Dieser Begriff nach Steinhauer (2003, 97), die den Gesamtvorgang der begrifflichen Verschiebungen im Kontext des von Bush in Gang gebrachten Kriegs gegen den Terrorismus prägnant darstellt. Krieg ist ein »mit Waffengewalt ausgetragener Konflikt zwischen Staaten, Völkern«, eine »größere militärische Auseinandersetzung, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt« (Duden 2003, s. v.). Sinngemäß zitiert nach Laqueur (1987, 397). Collins Cobuild (1995, s. v.) erklärt a war zuerst (Hauptbedeutung) als »a period of fighting  … between countries or states«, «, dann jedoch auch als »Kampf« (mit den oben angegebenen Beispielen). Deutsches Un-

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In der Folge zeigte sich dann aber, dass mit war von Bush doch wirklich Krieg gemeint war. Ganz unmetaphorisch. Denn es wurde die Semantik oder – wenn man so will – Logik der Bezeichnung Krieg für die USA bald handlungsleitend. Krieg war angekündigt, und Krieg wurde geführt. Ein Krieg gegen Terroristen ist zwar ein Ding der Unmöglichkeit, doch fand man bald und ohne große Mühe Ersatzfeinde, die kriegstauglich waren, nämlich die zwei Staaten Afghanistan und Irak. Womit aus dem war against terrorism zwei wirkliche Kriege wurden. Dass dabei eine Objektverschiebung stattfand (so Czempiel 2002, 116) – vom Krieg »against terrorism« zum Krieg gegen diese beiden Staaten – wurde, scheint es, in der Öffentlichkeit in den USA kaum wahrgenommen, es genügte, diese beiden Staaten mit dem Terrorismus irgendwie in Verbindung zu bringen. »Metaphors we live by« (Lakoff  & Johnson 1980)  – das bedeutet, Metaphorik kann Realität erzeugen oder, anders ausgedrückt, gesellschaftliches Wissen. Seit dem 11. 9. 2001 und der Rede von Bush wusste man in den USA, dass man sich in einem Krieg befindet. Aus dem Grund, dass es die Medien täglich systematisch wiederholten.28 Speziell in beiden Häusern des US-Kongresses wusste man fortan, dass Krieg war. Das zeigt u. a. die Bewilligung von Mehrausgaben für den Militäretat in noch nicht dagewesener Höhe, danach die Erteilung der Vollmachten zur Kriegführung gegen Afghanistan und dann den Irak durch den Kongress. Denn das beste Indiz dafür, dass jemand der eigenen Meinung so gewiss ist, dass er sie als Wissen ansieht, ist wohl, dass er danach handelt. Offensichtlich nicht gemeint als Bedeutung von terrorism war in dem Phrasem war against terrorism die Spezialbedeutung der Experten. Denn dann hätten die US-Reaktionen auf den 11. 9. ganz anders ausfallen müssen. Um den islamischen Terrorismen und speziell den arabischen im Bereich des Nahen Ostens längerfristig ihre Basis zu entziehen, hätte den Ursachen für sie auf den Grund gegangen werden müssen, um sodann politische Maßnahmen einzuleiten, die sich dazu hätten eignen können, arabische Feindschaft gegen die USA abzubauen. Dies geschah jedoch nicht, weder seitens der US-Regierung noch auch – von Ausnahmen abgesehen, die es sicherlich gab – in den großen US-Medien, die vielmehr die politische Linie und Semantik der US-Regierung vorbehaltlos, scheint es, unterstützten.29 Nicht einmal die Frage nach den politischen Zielen der arabischen Urheber und Ausführenden der Attentate des 11. September wurde, scheint es, in den großen US-Medien erörtert. Offensichtlich gab man sich zufrieden

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behagen gegenüber der Bezeichnung Krieg gegen den Terrorismus ist erkennbar in der Präferenz von Kampf gegen den Terrorismus; eine Google-Suche (9. 12. 2003) ergab dafür ca. 19 000 Treffer, gegenüber ca. nur 12 000 Treffern für den Ausdruck Krieg gegen den Terrorismus. Ich kann mich an eine wochenlange Nachrichtenrubrik »America at war« bei CNN erinnern. Da ich selbst die US-Mediendiskurse nach und zu dem 11. 9. noch nicht einmal ansatzweise habe untersuchen können, muss ich mit »es scheint«, »anscheinend« usw. explizit darauf hinweisen, dass hier eine Untersuchung noch fehlt; die hier vorgetragene Vermutung kann sich daher vorerst nur auf meine eigenen gelegentlichen Beobachtungen stützen. Immerhin spricht aber als ein Kenner der USA u. a. Junker (2003, 154) diesbezüglich von den »regierungskonformen« US-Massenmedien.

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mit der Analyse von Bush, der einfach erklärte, dass die Attentäter als »Feinde der Freiheit« (»enemies of freedom«) »böse« Menschen seien (»evil«).30 Das Wort evil hat Bush zur Erklärung des Schrecklichen schon in seiner kurzen Rede am Abend des 11. 9. (s.o.) dreimal gebraucht. Deshalb bleibt als einzige Bedeutung der Vokabel terrorism, die von Bush und dann auch in den Medien zunächst hat gemeint sein können, die Pauschalbedeutung dieses Wortes übrig. Danach war der Terrorismus, dem die USA den Krieg erklärten, jegliches gewaltverbrecherische Handeln, ohne Betracht seiner politischen Ziele, speziell wenn gerichtet gegen die USA oder US-Bürger. Metonymisch waren dann auch die Akteure oder Unterstützer dieses Terrorismus selbst »der« Terrorismus. Der Feind Terrorismus wurde sodann weiter personalisiert in jeweils einer Person, zuerst in Bin Laden, dann in Saddam Hussein, als Verkörperungen des Prinzips des Bösen, wie vor ihnen Hitler oder Stalin. In der Bezeichnung war against terrorism wurde hauptsächlich das Wollen deutlich, mit sämtlichen Mitteln, insbesondere auch militärischen, zurückzuschlagen – gegen wen auch immer, der den Terrorismus unterstütze.31 (Dass es bei den Terroristen des 11. September vielleicht eine Absicht war, gerade dies zu provozieren, ist in das Kalkül der darauf reagierenden US-Regierung entweder nicht eingegangen oder wurde bewusst nicht beachtet, weil es im Interesse der US-Regierung lag, die Provokation anzunehmen.) Bush sah die Ereignisse des 11. 9. sofort nicht nur als ein nationales Unglück, sondern auch als eine »großartige Chance«.32 Eine Chance wozu? Offenbar zu solcherlei Maßnahmen, wie sie die US-Regierung dann ins Werk gesetzt hat oder danach setzen wollte, wie vor allem die Kriegführung gegen Afghanistan und den Irak, später auch noch andere zu besiegende Feinde; alles dies als Mittel zum Erreichen größerer, auf diesem Wege zu verwirklichender politischer Ziele.33 Zur Kriegführung aber musste die 30 Bush am 20. 9. (a. a. O.): »Americans Americans are asking, why do they hate us? … They They hate our freedoms …«. Überzeugende Antworten auf die Frage von Bush geben u. a. Czempiel (2002, 50 ff.); Massarat (2002) und – in die Tiefe der mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhänge gehend – Gholamasad (2002). 31 Bush am 11. 9. (a. a. O.): »We will make no distinction between terrorists … and those who harbor them«, und (am 20. 9., a. a. O.): »Our war on terror will not end until every terrorist group of global reach has been found, stopped and defeated«, Bush (ebd.) über die Mittel der Terrorismus-Bekämpfung: »We will direct every resource at our command – every means … and every necessary weapon of war – … to the defeat of the global terror network«. 32 So Bush schon am 11. 9. (Woodward 2003, 47). Wenig später sagte Bush: »We have found our mission« (Kreft 2002, 15). Über den politischen US-amerikanischen Begriff der »mission« – speziell auch in Bezug auf die Politik der Bush-Regierung – informiert mentalitätsgeschichtlich Junker (2003). 33 Als Kriegsziele (hier zusammengestellt aus diversen Quellen) kommen insbesondere die folgenden in Frage: US-Militärpräsenz im Mittleren, verstärkte Militärpräsenz im Nahen Osten; Ersatz US-feindlicher Regime in Afghanistan und im Irak, dann vielleicht auch im Iran sowie in Syrien durch US-freundliche; langfristige Sicherung preiswerter Ölversorgung der USA; Demokratisierung und Befriedung (mit Beilegung des Konflikts von Israel und Palästina) des gesamten Nahen Ostens (per Domino-Effekt); Ostentation sowohl der militärischen Kampfkraft der USA als auch der Bereitschaft der US-Regierung, diese weltweit ohne Rücksicht auf bestehende Verträge, internationales Recht und internationale öffentliche Meinung einzusetzen.

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US-Regierung ein Bewusstsein schaffen, ein gesellschaftliches Wissen, dass die Vereinigten Staaten einen Krieg zu führen hätten. Dies geschah durch die Feststellung, dass sie bereits im Krieg seien. Bush erklärte (in der Rede am 20. 11., s. o.): »On September the 11th, enemies of freedom committed an act of war against our country«. Demnach waren die USA zu diesem Zeitpunkt schon im Krieg, wie 1941 nach dem Angriff auf Pearl Harbor. Nunmehr »at war against terrorism«. Wie sie sich bis 1990 permanent im »Kalten Krieg« befunden hatten.34 Beide Bezeichnungen, Kalter Krieg und Krieg gegen den Terrorismus, taten ähnlich gute Dienste, wenn das Ziel war, Kriegsbereitschaft und damit die Bereitschaft zu Opfern zu erzeugen. Terrorismus war ein ähnlich einleuchtender Feind wie Kommunismus, denn »der« Terrorismus war nach den Ereignissen des 11. 9. 2001 genauso furchteinflößend wie zuvor »der« Kommunismus. Angst vor Feinden schafft sowohl Opferbereitschaft als auch Kriegsbereitschaft. Darin sehe ich den Sinn des Prägens und In-Umlauf-Bringens – in den US-Medien – des Begriffs war against terrorism durch Bush und seine Regierung. Diese Wortwahl hatte offenbar, so stellt es sich im Nachhinein dar, den Sinn einer psychologischen Kriegsvorbereitung.

5 Zur Semantik von Krieg und Sieg Beide Kriege, die als »Krieg gegen den Terrorismus« bisher geführt wurden, waren völlig untypische Kriege.35 Dies schon wegen der exorbitanten Übermacht der angreifenden Seite. Afghanistan und der Irak hatten gegen USA und Großbritannien von vornherein keine Chance. Was denn beide Kriegsverläufe auch bewiesen. Es hat nennenswerte Gegenwehr, von einigen Ausnahmen abgesehen, nicht gegeben und deshalb auch kaum Verluste bei den Siegern. Statt zu kämpfen, lösten sich die militärischen Einheiten der Verliererstaaten selbst auf, so im Irak.36 Oder gingen zum Feind über, so ist es an-

34 Zur Diskursgeschichte (speziell in der BRD) über den »Kalten Krieg« informiert Wengeler (2003), zur Geschichte der als Kalter Krieg bezeichneten Epoche Stöver (2003), der auch skizziert (ebd., 59 – 63), wie der Kalte Krieg sich in den US-Medien, insbesondere im Medium Spielfilm, spiegelte und darin das Bewusstsein von ihm wachgehalten wurde. In seinem Versuch einer Auffrischung dieses Kalten Krieges wurde übrigens von Ronald Reagan, als dem damaligen US-Präsidenten, 1983 erstmals der West-Ost-Konflikt als ein Kampf »zwischen Gut und Böse« (»evil«) interpretiert (ebd., 96 f.), wie dann wieder von Bush jun. der »Krieg gegen den Terrorismus«. An die Stelle des »empire of Evil« (Reagan) trat bei ihm nur die »axis of Evil« (Czempiel 2002, 117). 35 Dabei soll hier außer Betracht bleiben, dass der Krieg gegen den Irak, als ein von der UNO nicht in Auftrag gegebener Angriffskrieg, vom Völkerrecht verboten war, also ein Kriegsverbrechen. Sogemäß herrschender Meinung – u. a. Arnold (2003). 36 Purdum (2003, 117). Die Verluste auf Seiten der Alliierten betrugen bis zum erklärten Kriegsende (1. 5. 2003) 159 Tote, so Aust & Schnibben (2003, 7) bei ungefähr 150 000 aufgebotenen Soldaten (ebd., 9); über die Zahl der Verletzten scheinen keine Zahlen vorzuliegen.

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scheinend in Afghanistan gewesen.37 Auch das ist in Kriegen mehr als ungewöhnlich. Vielleicht sollte man hier deshalb von Krieg gar nicht sprechen, sondern eine andere Bezeichnung wählen, wie z. B. Feldzug oder militärische Besetzung eines Landes, wie bei der »Besetzung« Dänemarks durch Deutschland 1940. Allerdings gab es allein im Irak nach den aktuellen Schätzungen bis Ende 2003 allein in der irakischen Zivilbevölkerung etwa 8 000 bis 10 000 Tote.38 Alternativ könnte man das, was in beiden Fällen geschah, »militärische Vernichtung eines Staates« nennen. Denn was darin ebenfalls untypisch war für einen Krieg, wie man sich einen Krieg so vorstellt, das war, dass dadurch die beiden Staaten Afghanistan und der Irak nicht nur besiegt wurden, sondern – als Staaten – vernichtet. Es gab nicht einmal mehr staatliche und militärische Instanzen, durch die eine Kapitulationserklärung hätte unterschrieben werden können. Kriege, wie wir sie aus der Geschichte kennen und die unseren Vorstellungen von Krieg entsprechen, enden mit einem förmlichen Akt der Unterwerfung des besiegten Staates, wie im Zweiten Weltkrieg bei der Kapitulation von Deutschland und von Japan. Wodurch die besiegten Staaten sich verpflichten, ihren Siegern zu gehorchen. Ihre staatlichen Institutionen  – Polizei und andere Behörden  – funktionieren danach innerstaatlich weiter so, als wäre nichts geschehen. Nur dass sie fortan mit den Siegern kooperieren. Absolut vorbildlich, nämlich absolut gehorsam, spielten sowohl Deutschland als auch Japan diese ihre Rolle als besiegte Staaten. In den beiden bisherigen AntiTerrorismus-Kriegen sind dagegen die USA übererfolgreich gewesen, so dass nach dem Sieg kein Staat mehr da war, dem sie noch befehlen und der ihnen noch hätte gehorchen können. USA und Großbritannien sind mit ihren beiden Siegen sozusagen übers Ziel hinausgeschossen, so total sind sie gewesen. Denn das Kriegsziel war nur, Herrschaft über ein Land zu gewinnen und ein »Regime«, wie man sagte, durch ein anderes, genehmes, zu ersetzen. Und nicht: die Bedingungen der Herrschaft über ein Land, d. h. den Staat selber, gleich mit zu zerstören. Da dies aber geschah, brachte der Sieg der USA dem Land Irak zuerst Raub und Plünderungen, darauf Terrorismus (gegen aus- und inländische Organisationen und Personen) und Guerilla (gegen die Besatzungstruppen), die bis jetzt (Dezember 2003) andauern. Man reibt sich also die Augen und man fragt sich: Waren das tatsächlich Kriege? Und tatsächlich Siege? Jedenfalls nicht so, wie sie im Buche stehen. Und das ist das linguistisch Relevante und mentalitätsgeschichtlich Interessante an der Sache. Offen37

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Dort war ebenfalls untypisch für klassische Kriege, dass der Krieg am Boden als ein Bürgerkrieg – der »Allianz des Nordens« gegen die regierungstreuen Truppen – geführt wurde. Und dass der Sieg offenbar auf dem Verhandlungsweg errungen wurde. Es gab eine wochenlange Feuerpause, bevor die Nordallianz auf einmal ohne Widerstand bis Kabul durchmarschieren konnte. Dafür besteht bisher keine andere Erklärung als die, dass man sich darauf geeinigt hatte. – Über eine solche Verhandlung berichtet als ein Zeuge Judah (2001). Zahlen nach www.iraqbodycount.net (11. 12. 2003).

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sichtlich wussten die Regierungen der kriegführenden Mächte USA und Großbritannien vor den beiden Kriegen, was ein Krieg und was ein Sieg ist. Und mit ihnen auch die öffentliche Meinung beider Länder. Auch sie wusste schon im Voraus, wie die beiden Kriege enden würden. Dieses Wissen aber war ein semantisches Wissen. Also ein stereotypes Wissen. Weiß man, was ein Krieg und was ein Sieg ist, dann verfügt man wissend über Gegenwart und Zukunft. Man weiß dann: So wird es kommen. Auf den Krieg wird, Übermacht vorausgesetzt, Sieg folgen. Und aus diesem Sieg wird Herrschaft über die Besiegten resultieren, die sich ihren Siegern fügen werden, weil sie gar nicht anders können. Das ergibt sich logisch daraus, was ein Sieg ist. So bestimmen die Bedeutungen von Wörtern unser Denken. Dass es gänzlich anders kommen würde, damit hat man offenbar in den USA nicht gerechnet. Wir vertrauen unseren Begriffen. Aber manchmal führen sie uns in die Irre. Und dann wissen wir auf einmal nicht mehr weiter. Nämlich dann, wenn wir feststellen müssen, dass die Wörter nicht mehr passen auf die Dinge und die Sachverhalte, die durch sie beschrieben werden sollen.39 Festgeschrieben werden die Bedeutungen von Wörtern immer in Diskursen und in der modernen Welt zu einem guten Teil in Mediendiskursen, es gibt aber auch noch einen anderen Faktor der Bedeutungsprägung: die Erfahrung. Nicht nur Deutsche, sondern – je auf ihre Weise – auch wohl alle anderen Europäer haben mit Krieg, scheint es, andere Erfahrungen als die meisten US-BürgerInnen. Erfahrungen, die dann – wiederum über Diskurse – an nachfolgende Generationen tradiert werden und so in die nationalen Kollektivgedächtnisse eingehen.40 In der Sprache und im Denken der Bevölkerung der USA – als einer trotz des Vietnam-Kriegs sieggewohnten Weltmacht  – hat deshalb auch das Wort Krieg, so lässt sich wohl annehmen, eine andere deontische Bedeutung als mehrheitlich in Europa. In Europa ist anscheinend auch noch über fünfzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die vorwiegende deontische Bedeutung dieses Wortes: Krieg darf nicht sein. Krieg muss unbedingt verhindert werden. »No war!« Krieg nur im äußersten Falle. In Mentalität und Sprache der USA gehört zur Bedeutung von Krieg heute mehrheitlich, so scheint es, derzeit eher die Deontik: Krieg muss manchmal sein. Das ist normal. Wir müssen immer Hier muss hinzugefügt werden: Die Begriffe von Krieg und Sieg waren bei vielen der US-Kriegs- sowie Nahost-Experten selbstverständlich nicht so simpel, dass sie einfach vorausgesetzt hätten, dass mit der Bezwingung der militärischen Gegenwehr des Irak automatisch schon ein »Sieg« mit nachfolgendem friedlichen Verhalten der Bevölkerung des Landes gewährleistet wäre. Es gab bekanntlich – auch international – zahlreiche Stimmen, die darauf hinwiesen, dass der Krieg gegen den Irak in einer Verschlimmerung der Lage sowohl im Irak als auch im ganzen Nahen Osten enden könne. 40 Kollektivgedächtnis (oder auch kulturelles Gedächtnis) ist ein Begriff, den Fraas (2000) in die Linguistik eingeführt hat. -Zu den unterschiedlichen Lektionen, die in Kriegen von Nationen- je nach ihrer jeweiligen Kollektiverfahrung anders - gelernt werden, ist das Buch Lehrmeister Krieg von Hondrich (1992) zu empfehlen. 39

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wieder einmal unser Militär einsetzen, dazu ist es ja da. Mit dem Willen, den Feind zu besiegen. Dann muss die Nation dafür zusammenstehen. Unterstützt von dem Gedanken: Ohne Krieg kein Sieg. Der Sieg wird unseren Krieg belohnen. Vielleicht mit der zusätzlichen, vormals deutschen, Logik: Ohne Krieg und Sieg kein Frieden.41 Wenn man dies – spekulativ – voraussetzt, dann erscheint die Wahl von Krieg als Interpretationsvokabel für das für die USA traumatische Ereignis der Zerstörung des Welthandelszentrums und die Kriegserklärung an »den« Terrorismus durch den USPräsidenten jedenfalls als näherliegend, als sie ohne die Zuhilfenahme einer solchen Mentalitätshypothese wäre.42 Ihr zufolge müsste man vermuten: Es gab in den USA von vornherein, schon vor dem 11. 9. 2001, eine bedingte Kriegsbereitschaft, eine Kriegsbereitschaft auf Abruf, auf die sich die US-Regierung hat verlassen können. Eine solche permanente und latente – wenn auch nur bedingte – Kriegsbereitschaft würde auch das uneingeschränkt positive Medienecho, das Bush zuteil wurde, verständlicher machen. Offenbar sind, wie gesagt, die großen US-Medien nach dem 11. 9. ausnahmslos und ohne Vorbehalte auf die Idee des war against terrorism abgefahren. Wodurch sie das diesbezügliche gesellschaftliche deontische Wissen etablierten: Dieser Krieg muss von uns jetzt energisch geführt und gewonnen werden. So dass es zu zwei realen – wenn auch gänzlich untypischen – Kriegen dann nur noch ein kleiner Schritt war. Gewiss kann die Linguistik historische Ereignisse, Entscheidungen und Handlungen nicht erklären. Aber seit der bahnbrechenden Einsicht von Koselleck (1972) in die Funktion von Begriffen (konkret: Wörtern) als »Faktoren der geschichtlichen Entwicklung« wissen wir: Sie kann etwas beitragen zur Erklärung von Geschichte. Wenn man das meint, denkt man bisher wohl hauptsächlich an die Fahnenwörter großer geschichtlicher Bewegungen, an die großen Erwartungs- und Kampf begriffe (wie z. B. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Demokratie, Sozialismus usw.). Doch sind außer ihnen auch noch viele andere Begriffe (Wörter) handlungsleitend, weil das Denken, Fühlen, Wollen der historischen Subjekte prägend. Dazu könnten – so im Falle des letzten Afghanistanund des letzten Irakkriegs – auch die Wörter Krieg und Sieg gehören.

41 Dazu Münkler & Storch (1988) in ihrem Buch Sieg frieden. Politik mit einem deutschen Mythos. 42 Spekulativ muss diese Hypothese bleiben, solange die Ergebnisse diesbezüglicher Meinungsumfragen (jedenfalls mir) nicht bekannt sind und (alternativ oder zusätzlich) die einschlägigen Diskurse (speziell Medienund Parlamentsdiskurse) philologisch daraufhin nicht untersucht sind.

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Zur Pragmatik von Kommunikation

Slogans und Schlagwörter

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Was sind Slogans ? Sieben Eigenschaften Slogans als Appelle Kurz, weil teuer Zwei Beispiele Slogans und Schlagwörter Vorstellungen, Einstellungen Zitierte Literatur

Nach Grice (1967, 26 ) gelten für das rationale Reden u. a. zwei sich zwar nicht widersprechende, doch gegensätzliche Maximen. Einerseits sind wir gehalten, ausreichend informativ zu sprechen, also nichts Wichtiges wegzulassen: »Make your contribution as informative as is required«. Dieser Satz besagt nämlich, wenn man ihn umformt: »Do not make your contribution less informative than is required«. Andererseits sollen wir nichts Redundantes und Irrelevantes äußern: »Do not make your contribution more informative than is required«. Man soll nach Grice nicht zu wenig sagen, aber auch nicht zu viel. Dieses Ideal der rechten Mitte zwischen zwei sehr wahrscheinlichen Fehlern ist vielleicht in manchen Kommunikationskonstellationen gar nicht und in anderen nur im Glücksfall zu erreichen, denn es ist ein schmaler Grat, auf dem man manchmal zwischen beiden Wünschbarkeiten wandelt. Wenn dann trotzdem etwas sprachlich kurz und treffend »auf den Punkt gebracht« wird, nennen wir das Prägnanz . Prototypisch prägnant sind ( gute) Sentenzen, Aphorismen und Definitionen, aber u. a. auch ( gute) Slogans und Schlagwörter. Davon handeln die folgenden Seiten.1 Dieser Beitrag ist erstmals 2007 erschienen in: Bär, Jochen A. ; Roelcke, Thorsten ; Steinhauer, Anja (Hgg.): Sprachliche Kürze. Konzeptuelle, strukturelle und pragmatische Aspekte. Berlin/New York, 459 – 478. 1

Ich bedanke mich bei Elke Donalies, Werner Holly, Josef Klein, Werner Scholze-Stubenrecht und Martin Wengeler für Rat und Hilfe.

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Fritz Hermanns

1 Was sind Slogans ? Das Ideal der prägnanten Kürze ergibt sich bei Slogans und Schlagwörtern aus deren (pragmatischen) Funktionen. Beide Arten sprachlicher Einheiten sollen stets ein jeweils relevantes Wissen (Vorstellungen) und zugleich ein jeweils ganz bestimmtes Wollen (Einstellungen) einerseits ausdrücken, andererseits evozieren, beides möglichst ökonomisch. Eine Wörterbucherläuterung (Duden 2001, 1461) des Wortes Slogan lautet: »besonders in Werbung und Politik verwendete Redensart, einprägsame, wirkungsvoll formulierte Redewendung [ … ]«. Dass die beiden Bezeichnungen Redensart und Redewendung treffen, könnte man bezweifeln ( gemeint ist wohl Phrasem , s. u.). Mehr als fraglich ist auch, ob tatsächlich viele Slogans »einprägsam« und »wirkungsvoll« sind. Aber dass dies stets erwünscht ist, ist wohl in der Tat ein definitorisches Merkmal, so dass wir beim Slogan wohl nicht umhin können, eine Definition anzusetzen, die nicht darauf abhebt, wie ihr Gegenstand ist, sondern darauf, wie er – idealerweise – sein soll . (Hier ist Prototyp gleich Idealtyp.) Das zeigen auch andere Definitionen, wie z. B. (Behrens et al. 2001, 348) diese: kurze, prägnante Zusammenfassung der zentralen Werbeaussage, der ein hoher Erinnerungswert und Suggestionskraft zukommen soll. Der Slogan soll eingängig , bildhaft, unverwechselbar, leicht verständlich und kurz formuliert sein. Als Gestaltungselemente bieten sich hierbei [ an ] Prägnanz, Rhythmus, Stabreim, Lautmalerei, Originalität, Gedächtnishilfe, Einfachheit und Wortspiel. Auch auf die sprachlichen Eigenschaften eines Slogans wird in folgender Begriffserklärung – einer Linguistin – eingegangen (Baumgart 1992, 35 f., über Slogans in der Produktwerbung ), die, nachdem sie u. a. festgestellt hat, ein Slogan sei »eine Art Zusammenfassung der Werbebotschaft«, ausführt: Ein Slogan kann nur aus einem Wort bestehen – meistens dem Markennamen – oder sich als Wortverbund bis hin zum vollständigen Satz präsentieren. Dazwischen liegt eine Bandbreite verschiedenster Möglichkeiten, die jedoch alle vom Zwang zur Kürze und größtmöglicher Eingängigkeit beherrscht werden. Tief und dauerhaft will sich der Slogan in das Gedächtnis des Rezipienten eingraben, um dort seine ›Überzeugungsarbeit‹ fortführen zu können. [ … ] Ein weiteres Abgrenzungskriterium ist seine ständige Wiederholung [ … ]. Aus diesen und anderen Begriffserläuterungen lässt sich das folgende Destillat ableiten: 1 ) Slogans sind Appelle ; 2 ) heute prototypisch ist ihr Gebrauch in der Werbung ; 3 ) Slogans sind nicht Texte, sondern Sätze ;

Slogans und Schlagwörter

4) 5) 6) 7)

365

erfolgreiche Slogans sind Phraseme ; nur bei hohen Wiederholungsraten sind Slogans erfolgreich ; Slogans sollen möglichst kurz und möglichst einprägsam sein.

Dem hinzuzufügen wäre eine Skizze der typischen Kommunikationsbedingungen von Slogans: Die typischen Sender (Adressanten) sind bei ihnen heute Organisationen und Institutionen (wie Parteien, Firmen, Kirchen, Gewerkschaften, Regierungen usw.), die versuchen, mit dem jeweiligen Slogan eine Botschaft »unters Volk« zu bringen. Denn es sind die gemeinten Empf änger (Adressaten) immer Kollektive, meistens sehr große Gesamtheiten von Menschen ( Wählerschaften, Käuferschaften usw.). Auch speziellere Zielgruppen (u. a. die eigenen Sympathisanten bei der Werbung von politischen Parteien, ganz bestimmte Käufergruppen bei der Produktwerbung ) lassen sich oft nur erreichen, wenn der Slogan erst einmal »an alle« adressiert wird, wobei man erwartet, dass die eigentlich gemeinten Adressaten sich dann schon selbst »angesprochen« fühlen werden. Die typischen Kommunikationskanäle sind bei Slogans deshalb heute vornehmlich die Massenmedien (Radio, Fernsehen, Zeitungen, Plakate, Postwurfsendungen), nur sie erreichen maximale Adressatenzahlen. Daraus folgt, dass sie in Einwegkommunikation (Dieckmann 1969, 103) verbreitet werden. Kommunikationsumgebungen von Slogans – als deren nächste Kontexte – sind vor allem Werbespots (in Radio und Fernsehen), Anzeigen (in Zeitungen,Zeitschriften und deren Beilagen) und Plakate, aber auch Demonstrationen oder Kundgebungen.

2 Sieben Eigenschaften Im Folgenden einige Erläuterungen zu den sieben eben aufgezählten definitorischen Eigenschaften eines Slogans. 1. Slogans als Appelle. Einerseits wohl sowieso sofort einleuchtend, andererseits in der Literatur zum Thema Slogan unbestritten ist, dass der Sinn eines Slogans immer ein Appell ist, den er ausdrückt. (Dazu mehr im folgenden Kapitel dieses Beitrags.) 2. Werbung. Slogans haben heute ihren hauptsächlichen Ort in kommerzieller und in politischer »Werbung«. In Westdeutschland haben die großen Parteien »seit Anfang der sechziger Jahre« mehr und mehr die massenwirksamen Methoden der »Markenartikelwerbung« übernommen (Toman-Banke 1996, 67). Seitdem folgen auch die »Wahlkampagnen« der Parteien den Vorbildern der »Werbekampagnen« für Produkte in der Konsumwerbung. Slogans sind jedoch erheblich älter als die Institution der modernen Werbung , und die alten Formen der Slogan-Verwendung und -Verbreitung sind noch heute höchst lebendig. Nicht nur Werbeagenturen, sondern auch spontane Organisationen Gleichgesinnter – wie die Menschenmengen bei De-

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monstrationen  – können Slogans bekannt machen, so zuletzt den Slogan »Pace« und zuvor, denkwürdig , »Wir sind das Volk« und dann »Wir sind ein Volk«. Diese Slogans 2  – ob im Sprechchor vorgetragen oder auf Spruchbändern  – haben eine Wirkungskraft entfaltet, die vielleicht derjenigen des Slogans »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« zeithistorisch-momentan nicht nachstand (allerdings nur, weil in ihrer Wirkungskraft vervielfacht durch das Massenmedium Fernsehen, das sie bekannt machte, wie den französischen Slogan fast genau zweihundert Jahre früher das Medium Zeitung ). 3. Texte oder Sätze ? Wie das Sprichwort ist ein Slogan immer ein Satz.3 Das gilt allerdings nur unter der terminologischen Bedingung , dass der Begriff Satz auch Einwortsätze (wie z. B. »Unkaputtbar« oder »Pace«) sowie andere vermeintlich »unvollständige« Satzformen  – minor sentences nach Bloomfield (1933, 176 )  – einschließt (wie »Nicht immer, aber immer öfter« oder »No No war«). «). Slogans können als (vollständige) Texte fungieren, weshalb man der Meinung sein kann, dass der Slogan eine eigene Textsorte (oder Gruppe von Textsorten) darstellt.4 Besser ist es aber wohl, ihn – gemäß seinem häufigsten Vorkommen und wie andere Satztypen – als Textbausteinsorte anzusehen. Wenn man sich darauf verständigt, die Begriffe Satz und Text nicht (mehr) als Antonyme anzusehen, dann verschwinden die mit diesem Pseudogegensatz verbundenen begriff lichen Probleme.5 4. Slogans als Phraseme. Während es bei den erfolgreichen Schlagwörtern klar sein dürfte, dass es sich bei ihnen um Lexeme (mit speziellen Eigenschaften, die sie näher definieren) handelt, scheint sich in der Linguistik bisher der Gedanke noch nicht durchgesetzt zu haben, dass es sich bei erfolgreichen Slogans in der Regel (mit Ausnahme nur der Ein-Wort-Slogans) um Phraseme handelt.6 Denn Phraseme (Phraseologismen) sind – so Burger (2003, 14) – sprachliche Einheiten, die erstens 2

Eine kommentierte Sammlung von spontanen Wende-Slogans bieten Fix (1990) und Reiher (1992).

3

Manchmal allerdings ist er auch mehrsatzförmig , wie der seinerzeit berühmte Slogan der Deutschen Bundesbahn: »Alle reden vom Wetter. Wir nicht.« Dieser war ein Satzpaar.

4

Argumente dafür, dass der ( Wahlkampf-)Slogan eine eigene Textsorte darstellt, bei Klein (1991, 274 f.). Später hat sich Klein (2000, 742) dafür entschieden, Slogans (hier: Wahlslogans) als sowohl Texte wie Textbausteine anzusehen. – Toman-Banke (1996, 79) bestimmt Slogans einerseits als »Mikrotexte«, andererseits als »satzähnliche Gebilde«.

5

Man muss dazu aber folgende Sprachregelungen akzeptieren: Ein Text besteht prototypisch aus mehreren Sätzen, aber auch ein Einzelsatz kann einen ( ganzen) Text ausmachen. Es gibt also Ein-Satz-Texte. Und sogar ein Einzelwort kann einen ( ganzen) Text ausmachen. Es gibt also sogar Ein-Wort-Texte, allerdings nur, wenn das Wort darin zugleich als Satz (als Ein-Wort-Satz) gebraucht ist.

6

Hemmi (1994, 62) weist darauf hin, dass es »neu« ist, dass sie »Werbesprüche«, d. h. Werbeslogans, in die Liste ihrer Typen von »verbalen Phraseologismen« aufnimmt. – Zum Begriff Phrasem vgl. Donalies (1994). Gegenüber Phraseologismus ist er kürzer und daher bequemer, ist kein Zungenbrecher und erinnert außerdem erwünschtermaßen an Morphem und Lexem (ebd., 346 f.).

Slogans und Schlagwörter

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»aus mehr als einem Wort« bestehen und die zweitens »fest« sind, d. h. in genau bestimmter »Kombination« von bestimmten Wörtern (bei Slogans sogar im Wortlaut) in der jeweiligen Sprachgemeinschaft bekannt und gebräuchlich. Das heißt, dass sie lexikalisiert sind (Fleischer 1997, 68). Sie sind damit als Einheiten von Form und Bedeutung – als sprachliche Zeichen – Elemente des Wortschatzes (des Lexikons) einer Sprache, so dass sie eine Gesamtbedeutung haben, die en bloc gewusst wird, und zwar auch, wenn sie nicht idiomatisiert sind (dann ergibt sich nur ihre Gesamtbedeutung zusätzlich auch noch aus ihren Komponenten, was sie »transparent« macht).7 Selbst die erfolgreichsten Slogans sind vermutlich noch nicht oder nicht mehr sämtlichen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft bekannt, doch das gilt ja auch für viele andere Phraseme. Viele Slogans sind auf alle Fälle so bekannt, dass sie darin zahlreiche andere Phraseme übertreffen. 5. Wiederholung. »Jeder Werbeschrift, jeder Zeitungsanzeige, jedem Fernseh- und Rundfunkspot, jeder Veranstaltung wird der Wahlkampfslogan zugeordnet« (Klein 1991, 266). Im Rahmen einer Werbekampagne gilt Entsprechendes auch für die Produktwerbung. Slogans sollen sich einprägen, so dass man sie wiedererkennt, wenn man ihnen abermals begegnet, und man sich an sie bei passender Gelegenheit sogar spontan erinnert, so beim Einkauf oder, je nachdem, am Wahltag. Daraus resultiert bei Slogans das Erfordernis der hohen Wiederholungsquote. Für den Slogan gilt: Einmal ist keinmal. Dies schon deshalb, weil nicht jede/jeder von uns überall und immer zuhört, zusieht, hinsieht. Aber eben auch, weil man den Slogan in der Regel nur dann lernt, wenn man ihn wiederholt hört und sieht. Repetitio est mater studiorum , wissen nicht nur LehrerInnen, sondern auch Werbefachleute. Slogans werden darum ihren Adressaten gnadenlos und unermüdlich eingeschärft und eingehämmert, das ist eins der Hauptmerkmale der Verwendung der Textbausteinsorte Slogan. 6. Kürze. Wie soll man den Begriff Kürze in der Definition eines Slogans präzisieren ? Toman-Banke (1996, 78) entscheidet sich für die magische Zahl 7. Damit trifft sie sicherlich ganz genau das Richtige: Mehr als sieben Wörter darf ein guter Slogan nicht enthalten. 7. Einprägsamkeit. Auch für Slogans gilt das Ideal »form follows function« (selbst ein Slogan). Die erwünschte Kürze ist deshalb bei Slogans bereits eine Konsequenz der angestrebten leichten Erinnerbarkeit.8 Dieses Ziel macht aber außerdem den ( guten) Slogan oft zu einer Art von Lyrik (Gebrauchslyrik). So ist der Satz »( Nein ,) 7

»Transparent« nach Gauger (1971).

8

Darauf wird zentral in folgender, besonders hübscher Definition abgehoben: »A A slogan is a short, easily-remembered phrase. Slogans are used in advertisements and by political parties who want people to remember what they are saying or selling« (Collins Cobuild 1995, 1570).

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nicht immer, aber immer öfter« ein Vers, der aus fünf Trochäen (Schema: – Ǖ ) besteht, vierfach alliteriert (i – a – i – ö) und ein Wortspiel enthält ( immer heißt zuerst ›ohne Ausnahme‹, aber immer öfter heißt ›zunehmend häufig‹). »Milch macht müde Männer munter« alliteriert sogar fünf fach und besteht aus vier Trochäen. »Pack den Tiger in den Tank!« war ebenfalls versförmig ( – Ǖ – Ǖ – Ǖ – ), alliterierte (Tiger und Tank ) und vermittelte durch seine wahrhaft kühne Metaphorik (der Treibstoff als Tiger) AutofahrerInnen das erbauliche Bewusstsein ihrer Herrschaft über Naturkräfte. »Katzen würden Whiskas kaufen« ( gleichfalls ein vierhebiger Trochäus, mit zwei Alliterationen: ka - ka , w - w ) entzückt uns durch die anmutige Vorstellung von den einkaufenden Katzen. Manche Slogans reimen sich auch (»Rauche, staune  – gute Laune«, zweimal zwei Trochäen). Manche sind, wie manchmal die moderne Lyrik, enigmatisch (so z. B. »Pack den Tiger …«), was beweist, dass gute Slogans keineswegs »leicht fasslich« formuliert sein müssen. Enigmatik bewirkt sowohl Aufmerksamkeit als auch Interesse (manchmal sogar Faszination). Beides – und damit Einprägsamkeit  – ist auch durch (absichtliche) Nichtbeachtung von sprachlichen Normen zu erzielen. »Unkaputtbar« (angebliche Eigenschaft der damals neuen Coca-Cola-Plastikflaschen) ist genauso unvergesslich wie der Satz »Hier werden Sie geholfen«.9

3 Slogans als Appelle Manche Slogans haben sogar die Form von Appellen, d. h., sie sind auch formal Aufforderungen, so z. B. »Nimm Vim« und »Trink Coca-Cola«. Aber eigentlich sind Slogans sprechakttheoretisch samt und sonders »Empfehlungshandlungen« und nur scheinbar primär u. a. »Behauptungshandlungen« bzw. »Präsentationsakte« (Flader 1972). Diesen ihren Zweck erkennen Hörer- oder LeserInnen wohl fast immer schon vorab, noch ehe sie einen bestimmten Slogan in seinem Wortlaut verstanden haben.10 Dafür sorgen die Kontexte, in denen die Slogans dargeboten werden (Plakatwerbung , Werbespots, Demonstrationen). Es bedarf hier also beim Verstehen keines scharfsinnigen Nachvollziehens von Implikaturen. Der illokutionäre Sinn von Slogans – und insoweit sind sie alles andere als »geheime Verführer« – liegt stets klar zu Tage.11 Man weiß schon von vornherein, dass sie Appelle sind, die uns zu irgendeinem Tun bewegen sollen. 9

Eine Liste von rhetorischen Figuren in der Werbung und z. T. in Slogans findet man bei Janich (2001, 145 ff.).

10

In Bezug auf Wahlkampfslogans sagt dies ähnlich Toman-Banke (1996, 100).

11

Das verkennen manche Kritiker der Werbung , die ihr unterstellen, dass sie ihre Adressaten täusche über ihre »Grundtendenz«, dass sie »jemanden etwas ganz Bestimmtes zu tun heißt« sowie darüber, »wessen Sache« sie so »eigentlich betreibe« (Klotz 1962, 545). Für so dumm braucht man die Werbeadressaten nicht zu halten. Sie sind in der Tat »nicht so hilf los manipulierbar«, wie ihnen das manchmal unterstellt wird ( Janich 2001, 39).

Slogans und Schlagwörter

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Sehr viel interessanter ist daher die Frage, wie – auf welche verschiedenen Weisen – Slogans so formuliert werden, dass sie ihre perlokutionäre Funktion optimal erfüllen, so dass dem spezifischen Appell, den sie zum Ausdruck bringen, tatsächlich gefolgt wird. Viele Slogans haben implizite (die in ihnen also nicht zum Ausdruck kommen) Argumentationsstrukturen.12 Dann ist von den Argumenten, die zu ihrem Verständnis benötigt werden, der Slogan nur eines. Manche Slogans sind nur einfache Tatsachenbehauptungen, so z. B. (nach Hars 1999) »Pril entspannt das Wasser«, »Delial / bräunt ideal«, »Der nächste Winter kommt bestimmt« (Braunkohlenbrikett-Werbung 1960). Hier wird, wie ersichtlich, explizit nur immer eins der Argumente angegeben, die zusammen  – und zusammen mit der Schlussfolgerung  – eine Schlussfigur ergeben: In »Der nächste Winter …« wird nur ein Problem benannt bzw. angedeutet (Kälte), in »Pril entspannt …« und in »Delial bräunt …« nur die Lösung des Problems, von dem also vorausgesetzt wird, dass die Slogan-Adressaten es sofort (als auch ihr eigenes) erkennen (»Wie erziele ich am besten sauberes Geschirr bzw. Körperbräune ?«). Erst recht wird das Ziehen der Schlussfolgerung (»Ich tue also gut daran, das Produkt x zu kaufen«) ihnen nur anheimgestellt. Man kann hier offenbar darauf vertrauen, dass sie darauf selber kommen. Die sprachliche Kürze (Prägnanz) wird also in diesem Falle möglich durch vorausgesetztes Mitdenken der Adressaten, aber das gilt vielleicht überhaupt für viele Phänomene sinnvoller sprachlicher Kürze. Viele Slogans wirken außerdem auf gänzlich andere Weise. Bei dem Slogan »Alle Wege des Marxismus / führen nach Moskau ! / Darum CDU« (1953) bestand ohne Zweifel in der Tat die Absicht, »beim Wähler Angst vor Kommunismus, Marxismus und der Sowjetunion auszulösen. Aus dieser Angst heraus soll [ te ] er der primären Intention nachkommen, nämlich die CDU zu wählen« (Toman-Banke 1996, 101). Doch es hätte die »Auslösung« dieser Angst wohl kaum gelingen können, wenn sie – in der heißen Zeit des Kalten Krieges – nicht bereits bestanden hätte, so dass diese Angst durch diesen Slogan lediglich erneut aktiviert wurde. Der Slogan griff also zurück auf eine schon gegebene Einstellung. Erfolgreiche Slogans heben ab auf das, was viele Menschen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt sowieso schon hoffen, wünschen oder fürchten.13 Es gilt bei der Formulierung eines Slogans demnach, seine Adressaten ( potentielle Wähleroder KäuferInnen) bei den Einstellungen (und dem Wissen) »abzuholen«, die sie bereits haben, um sie zur Ausbildung einer neuen, zusätzlichen Einstellung zu motivieren (hier: 12

Zu den »Argumentationsverfahren« in der Werbung s. Janich (2001, 87 ff.).

13

»Ins Gehirn der Masse kriechen ! « (Gries et al. 1995) ist daher ein Slogan, dem erfolgreiche Werbeberater folgen. Wie Gries et al. darlegen, sind die erfolgreichen Slogans deshalb eine Quelle ersten Ranges für die Eruierung der Mentalität historischer Zeiträume. – Dass die Wünsche und Gefühle, auf die sich die Werbung bezieht, »unbewusst« sein müssen ist ein evidentermaßen falsches Klischee (denn man folgt ja auch bewussten Wünschen und Gefühlen), das vielleicht in Allmachtsphantasien (Stichwort »geheime Verführer«) mancher Werbeleute gründet.

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der Hoffnung , dass die CDU sie vor dem Kommunismus schützen würde) oder sie in dieser, wenn bereits vorhanden, zu bestärken. Es lässt sich der Slogan »Alle Wege führen …« aber auch als Kurzform einer Argumentation verstehen (Prämisse A : Sozialismus führt zu Stalinismus ; Prämisse B : Den wollen wir nicht ; praktischer Schluss : Es ist daher von uns eine Partei zu wählen, die den Sozialismus nicht will ), also als etwas ganz Rationales. Umgekehrt spielen bei allen oben angeführten und als rational interpretierten Slogans Emotionen oder Wünsche eine Rolle: Man freut sich an sauberem Geschirr, man möchte schön (und also leicht gebräunt) sein, man hat Angst vor winterlicher Kälte ohne Heizung. Argumentation ist von Emotionalisierung zwar begriff lich absolut verschieden, aber in der Wirklichkeit der Meinungs- und Einstellungsbeeinflussung gehen sie zusammen. Weshalb ( gute) Slogans sich wohl immer auf beides beziehen, beides voraussetzen, beides aktivieren und von beidem profitieren: sowohl von den Vorstellungen, die wir von den Dingen haben, als auch von den Einstellungen, die wir dazu haben. Um dann zusätzliche Vor- und Einstellungen zu erzeugen oder sie zu bestätigen  – solche, die direkt dem jeweiligen Werbezweck entsprechen. In der Regel finden sich deshalb in der Bedeutung eines Slogans alle drei Bedeutungskomponenten, nämlich  – in der Terminologie von Bühler (1934)  – neben dem »Appell« auch die »Darstellung« eines Sachverhaltes und der »Ausdruck« einer Emotion oder Einstellung. ( Anders formuliert: Sie haben außer den appellativen – oder volitiven – auch noch kognitive sowie emotive Bedeutungsanteile.) (Gute) Slogans »appellieren« aber nicht nur in des Wortes engerer Bedeutung (wie bei Bühler), wonach der Appell zu einem Tun auffordert, wie z. B., dass die Adressaten eines Slogans dieses oder jenes Produkt kaufen, diese oder jene Partei wählen sollen. Sondern ihr Appell zielt immer zugleich und sogar hauptsächlich darauf, ganz bestimmte Meinungen und Einstellungen zu bestärken oder zu erzeugen. Nur wenn dies gelingt, hat dann auch der Appell zum jeweils intendierten Handeln eine Chance, akzeptiert zu werden.

4 Kurz, weil teuer Die Funktion, dass sich ein Slogan einprägen soll, macht ihn doppelt teuer. Erstens ist er schon gedächtnisökonomisch »teuer«, weil der Raum sowohl in der Aufmerksamkeit (Kurzzeitgedächtnis) als auch der Erinnerung (Langzeitgedächtnis) jedes Menschen knapp ist, zweitens in dem Sinne teuer, dass die zur Einprägung notwendige andauernde Wiederholung in den Massenmedien viel Geld kostet. Beiderlei Bedingungen erklären – beide schon für sich alleine – die Erwünschtheit von sprachlicher Kürze. Eine zusätzliche Voraussetzung von Einprägsamkeit ist die optimale Präsentation eines Slogans in der Öffentlichkeit. Damit man ihn überhaupt erst einmal wahrnimmt und damit er sich dann einprägt, muss ein Slogan möglichst gut – d. h. möglichst auffäl-

Slogans und Schlagwörter

371

lig – platziert werden. Auch das impliziert in aller Regel kommunikative Kosten, bei der kommerziellen und der politischen Werbung konkret wieder als z. T. enorme finanzielle Kosten, die sprachliche Kürze erwünscht machen. Der »Platz«, den der Slogan in der Öffentlichkeit einnimmt, soll bereits als Platz, ganz unabhängig davon, was dann den Platz einnimmt, Aufmerksamkeit auf sich lenken (beste Sendezeiten, beste Positionen im Gesichtsfeld von Zuschauern, u. a. bei Banderolenwerbung , auffällige große Flächen, u. a. Plakatwände, oder auffällige Gegenstände wie Luftschiffe oder Ballons, leuchtkräftige Farben). Da der gute Platz ein »knappes Gut« ist, muss er »bezahlt« werden, ob mit Geld (wie in der kommerziellen Werbung , aber auch z. B. durch privaten Kauf von Regenbogen-Fahnen mit der Aufschrift »Pace«) oder durch z. T. aufwändiges Herstellen und Beschriften hausgemachter Schilder und Spruchbänder (zuletzt: »No war«, »Kein Blut für Öl«). Aber auf dem sowieso schon teuren Platz muss dann oft auch noch anderes als allein der Slogan untergebracht werden, nämlich Kontext (in Gestalt von Bildern, Bild- und Filmsequenzen und sprachlichem Kontext), ohne den der Slogan unverständlich oder seiner Wirkung beraubt wäre. Soll der Slogan seine Wirkung so tun, wie sein Urheber es möchte, dann müssen sich daher seine Adressaten nicht nur an den Slogan selber, sondern auch an den Kontext erinnern können, in dem und mit dem zusammen er der Öffentlichkeit zuerst – und dann immer wieder – dargeboten wurde.14

5 Zwei Beispiele Beispielsweise ist der schon genannte Werbeslogan15 »Alle reden vom Wetter. Wir nicht« (1968) unverständlich, wenn man sich bei seinem Hören oder Lesen nicht daran erinnert, wer hier »wir« ist (die Bahn). Ohne diese Kenntnis ist vor allem sein Sinn nicht einsichtig , nämlich dass er für die Bahn wirbt. Dass man dies erkennen konnte, dafür sorgte bei der ursprünglichen Darbietung des Slogans schon das Medium des Plakats (heute fast ausschließlich Werbezwecken dienend ), mit der expliziten Nennung des Urhebers des Plakates, dessen Name hier identisch war mit der Bezeichnung der beworbenen Dienstleistung , d. h. mit dem »Produktnamen« (»DB. Die Bahn.«). Was der Slogan selbst besagen sollte, war dagegen einem eindrucksvollen Foto (Zug fährt durch Schneewetter) zu entnehmen. Der Slogan war doppelt witzig. Thema des Plakats war »Bahn und Wetter«, weshalb sich der Slogan scheinbar sofort selber dementierte. Und dann bezog er sich, anders als auf Anhieb zu vermuten – alle reden wir vom Wetter, d. h. führen immer wieder mal »Wettergespräche«, war die naheliegende Bedeutung – nur auf ganz 14

Außer diesem Kontext i. e. S. (Kotext) wird, wie auch bei anderen Lexemen, sein situativer Kontext miterinnert, d. h. die »Gebrauchsbedingungen« (Linke & Nussbaumer 2000, 440) des Slogans, auf die er deshalb indexikalisch verweist. Feilke (1996, 160, nach Maas 1989) nennt das Konnotation .

15

In seiner Entstehung dargestellt von Hars (1999, 14 f.).

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bestimmte, nämlich schlimme, insbesondere winterliche Wetterlagen, so dass mit ihm ausgesagt war: Bei katastrophalem Wetter fährt nur die Bahn zuverlässig. Die Behauptung »Wir nicht« meinte, dem entsprechend, nicht: Wir führen nie Wettergespräche, sondern: Wetter ist für uns »kein Thema«, d. h., Wetter ist für uns kein Problem. Diese witzige Verschiebung der Bedeutung (von der naheliegenden zur eigentlich gemeinten) hat wohl großen Anteil daran gehabt, dass der Slogan so beliebt und bekannt wurde, dass er heute noch ein »geflügeltes Wort« ist (Duden 2002, 29), obwohl ihn die Deutsche Bahn schon längst nicht mehr verwendet und aus allgemein bekannten Gründen heute auch nicht mehr verwenden könnte. Eine ähnliche Verschiebung der Bedeutung – die gleichfalls nicht ohne Witz war – liegt vor in den Wahlkampfslogans (Bundeswahlkampf 1976 ) »Freiheit oder Sozialismus« (der CSU) und »Freiheit statt Sozialismus« (der CDU).16 Nur dass hier auf den Plakaten, die sie bekannt machen sollten, derjenige Kontext, der sie erst verständlich machte, fehlte.17 Trotzdem trifft die obige Behauptung , dass ein Slogan ohne seinen Kontext keinen Sinn hat, auch auf diesen Fall zu. Allerdings war hier der einschlägige Kontext kein sichtbarer, sondern einer, der noch hinzugedacht werden musste. Dabei aber konnten sich die CDU und CSU als die Urheberinnen der Plakate offenbar darauf verlassen, dass die Adressaten ihn sich selbst zutreffend zurechtlegen würden. Es war klar, dass die beiden Unionsparteien sich selbst mit dem Ideal der Freiheit identifizierten. Freiheit war in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland schon von Anfang an ein Fahnenwort der CDU gewesen (u. a. in den Schlagwörtern freie Marktwirtschaft 18 und freier Westen ), das als solches auch im Jahre 1976 auf dem CDU-Plakat herausgestellt war (s. vorige Fußnote). Andererseits war Freiheit schon seit langer Zeit (man denke nur an »Einigkeit und Recht und Freiheit«) zu einem zentralen deutschen Hochwertwort geworden (das sich deshalb u. a. auch die NSDAP zu eigen gemacht hatte). Was die SPD betrifft, so hatte sie seit ihrem Godesberger Programm (1959) ebenfalls versucht, das Wort mit ihrem Namen zu assoziieren (Hermanns 1989, 95 ff.), konnte aber diesbezüglich mit der CDU/CSU (bis heute) nicht gleichziehen.

16

Dazu Radunski (1980, 105 ff.); Behrens et al. (1982, 231 ff.); Toman-Banke (1996, 264 f., 268 f.); Hars (1999, 128 f.); Platzdasch (2002). – Der Unterschied beider Slogans ( statt bzw. oder ) ist wohl daraus zu erklären, dass die CSU in Bayern 1976 an der Macht war, bundesweit jedoch die Union nicht.

17

Beide Slogans waren zwar auf den Plakaten von Kontext begleitet, nämlich von einem Einleitungsslogan (»Aus Liebe zu Deutschland:«) sowie einem »Basisslogan« (»CDU – sicher – sozial – und frei«) auf den CDUPlakaten und von einer Art Situationsbestimmung auf den CSU-Plakaten (»CSU – 1976 – Deutschland – vor der Entscheidung«) (Toman-Banke 1996, ebd.), aber dieser Kontext konnte über die Bedeutung von »Freiheit statt /oder Sozialismus« keinen Aufschluss geben.

18

Dazu Wengeler (1996, 396 ff.).

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Sozialismus war dagegen einerseits ein Fahnenwort der SPD geblieben, ja sogar – in der Verbindung Demokratischer Sozialismus – 1959 von der SPD als solches nochmals 19 ausdrücklich bekräftigt worden (ebd., 88 ff.), so dass man das Lexem Sozialismus 1976 mit den Sozialdemokraten in Verbindung bringen musste, zumal SPD-Anhänger damals, wie noch heute, oft kurz Sozis genannt wurden. Nun war aber damals Sozialismus andererseits in Westdeutschland mehr und mehr zu einem Unwertwort geworden, weil man bei der Nennung dieses Wortes hauptsächlich an die verhasste DDR – in der das Wort ein Hochwert- und ein Fahnenwort der SED war – und an deren »Kommunismus« dachte, vor dem man Angst hatte, weshalb durch Gebrauch des Wortes Sozialismus in den beiden Slogans die Angst vor dem Kommunismus – eine der zentralen Einstellungen in der Zeit des Kalten Krieges auch noch in seiner Spätphase – mobilisiert werden konnte. Diese Ambiguität von Sozialismus – einerseits als (wenn auch 1976 nur noch verschämt mitgeführtes) Fahnenwort der SPD und andererseits als zuverlässig etabliertes Unwertwort fast der gesamten bundesdeutschen Öffentlichkeit – machten sich die CDU und CSU mit ihren Slogans nun zu Nutze,20 indem sie sich selber als die Parteien der Freiheit und die SPD als die Partei des (kommunistischen) Sozialismus und damit auch der Unfreiheit (»kommunistische Zwangsherrschaft«) charakterisierten. So dass der Slogan besagte: Die Wahl zwischen den Parteien CDU/CSU und SPD ist im Grunde die Wahl zwischen Gut und Böse. Dabei konnten CDU und CSU bei ihrem Spiel mit Bedeutungen darauf spekulieren, dass zahlreiche WählerInnen das Spiel nicht durchschauen, also darauf hereinfallen würden. Aber vielleicht haben sie nicht minder darauf gesetzt, dass sich ihre eigenen SympathisantInnen über den Witz dieses »hundsgemeinen« (was jedoch in Bayern, wie man hört, nicht unbedingt ein Tadel sein muss) Slogans amüsieren würden, sozusagen als Komplizen der Austeilung dieser sprachlichen Ohrfeige und im Vollgenuss erlebter Schadenfreude. Denn es wurde sicherlich damit gerechnet, dass die SPD-AnhängerInnen sich darüber maßlos ärgern würden, was dann auch tatsächlich eintrat.21 Diese mussten nämlich diesen Slogan als Verleumdung lesen, d. h. als die gänzlich unzutreffende 19

Wie im übrigen noch einmal 1989 (Toman-Banke 1996, 72) – nicht gerade ein Beweis dafür, dass man aus Schaden klug wird.

20

Behrens et al. (1982, 232) zitieren dazu Bergsdorf (1977, 45), der erklärt hat, wie bewusst dies 1976 geschah: »Demoskopische und semantische Untersuchungen haben bei den Begriffen ›Freiheit‹ und ›Sozialismus‹ ein bemerkenswertes Ergebnis gebracht: Obwohl diese Begriffe aus zwei völlig verschiedenen Bereichen kommen und unterschiedlicher Struktur sind (Freiheit mit dem Bedeutungskern eines politischen Grundwertes und Sozialismus als Kurzformel für eine politische Utopie), haben sich im politischen Deutsch der Bundesrepublik die Assoziationsfelder beider Begriffe zu einem Gegensatz par excellence entwickelt. Für eine Mehrheit der Bundesbürger ist heute Unfreiheit weitgehend identisch mit Sozialismus.« – Zur Polysemie des Wortes Sozialismus Liedtke (1989).

21

Dieser Slogan war insofern wirklich ein ( gelungener) »Provokationsslogan« mit der Funktion der »Polarisierung« (Toman-Banke 1996, 87, 264, 268). Diese ist jedoch so gut gelungen, dass er viele SPD-Sympathisanten,

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Behauptung: Die westdeutschen Sozialdemokraten sind in Wirklichkeit und insgeheim in ihren politischen Zielen nach wie vor VerfechterInnen des ostdeutschen (und russischen) Sozialismus , also eigentlich des Kommunismus , und somit Feinde der Freiheit . Das empfanden die betroffenen Sozialdemokraten als perfide (weil nicht offen ausgesprochene und bewusst falsche, also lügenhafte) Unterstellung , gegen die sie aber wehrlos waren (Radunski 1980, 106; Behrens et al. 1982, 233 f.). Was an den drei Slogans (dem der Bahn und denen der Unionsparteien) als gemeinsam auffällt, ist die Indirektheit der Art ihres Appellierens. Ihr Zweck stand zwar außer Frage, denn sie waren ja als Wahl- bzw. Werbeslogans auf den seinerzeitigen Plakaten sofort zu erkennen. Aber der Zusammenhang von evidentem Werbezweck und explizitem Slogan-Wortlaut war von ihren LeserInnen nur im Wege eines abduktiven Schließens (oder, wie man es auch nennen kann, intelligenten Ratens) zu ermitteln: 1) »Die reden, wie sie sagen, nicht vom Wetter, obwohl das hier dargestellte Wetter allen Anlass dazu geben würde. Warum wohl nicht ? Weil es für die Sicherheit und Pünktlichkeit der Bahn nicht relevant ist. Die ist auch »bei Wind und Wetter« pünktlich. Das ist also hier das Argument, mit dem ich aufgefordert werde, Bahn zu fahren.« 2) »Bald ist Wahltag. Ich soll die CDU oder die CSU wählen, sagt das Plakat. Was hat das zu tun mit ›Freiheit oder Sozialismus‹ ? Nun, die CDU tritt ein für Freiheit und die SPD ist für den Sozialismus (sagen beide selber). So dass ich mich bei der Wahl, die ansteht, zwischen einem hohen Wert, der Freiheit, und dem Sozialismus, einem Unwert, zu entscheiden habe. Das ist also hier das Argument, mit dem ich aufgefordert werde, CDU bzw. CSU – und keinesfalls die SPD – zu wählen.« Jeder der drei Slogans war also zunächst ein Rätsel, das zu seiner Lösung ein aktives Mitdenken verlangte (was als ein Charakteristikum von manchen Slogans bereits genannt wurde). Der Wortlaut für sich alleine war bei jedem der drei Slogans unverständlich. Denn ihre Bedeutung enthielt sehr viel mehr und anderes als das, was die Slogans ihrem Wortlaut nach aussagten. Hier, zusammengefasst, in Form von Bedeutungsparaphrasen, nochmals die Bedeutungen der Slogans: 1) »Schnee und Regen machen der Bahn nichts aus, denn sie fährt auf Schienen. Deshalb: Fahrt Bahn ! « 2) »Die Wahl zwischen CDU/CSU und SPD ist eine Wahl zwischen Freiheit und Unfreiheit. Deshalb: Wählt CDU und CSU ! «. Vergleicht man die Länge dieser (schon sehr knapp gefassten) Paraphrasen mit der Kürze der drei Slogans, dann wird man sie wohl tatsächlich als prägnant bezeichnen wollen.

die sonst nicht zur Wahl gegangen wären, zur Wahlbeteiligung motiviert hat. So dass der so gut gezielte Schuss, der dieser Slogan war, im Endeffekt nach hinten losging ; die SPD (unter Schmidt) gewann, wenn auch nur knapp, die Wahlen (Platzdasch 2002, 39 f.).

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6 Slogans und Schlagwörter Aus Platzgründen kann das Thema Schlagwort hier nicht ausführlich behandelt werden. Das macht aber nichts, denn in der Linguistik steht das Schlagwort seit geraumer Zeit im Mittelpunkt erheblichen Interesses, es ist also viel Literatur dazu vorhanden.22 Nur auf einige der Ähnlichkeiten und der Unterschiede zwischen Slogans und Schlagwörtern soll hier hingewiesen werden, und zwar wiederum anhand von »sieben Eigenschaften«. Vorab ein Satz zur Definition von Schlagwort . Darüber ist in der Linguistik bis jetzt keine Einigkeit vorhanden, aber immerhin lässt sich mit Aussicht auf Konsens behaupten: Prototypisch ist ein Schlagwort ein Lexem mit den folgenden Eigenschaften: Es ist aktuell , parteiisch und daher auch appellativ . 1. Auch Schlagwörter sind Appelle. Deshalb sind die prototypischen Schlagwörter Fahnenwörter oder Stigmawörter. Bei diesen Schlagwörtern ist der Appell (als deontische Bedeutung ) der zentrale Teil ihrer Bedeutung. Aber auch Schlagwörter haben außerdem wohl immer kognitive, oft auch emotive Bedeutungsanteile. 2. Prototypisch ist ihr Gebrauch in der Politik. Doch Fahnenwörter gibt es gleichfalls im Bereich der Warenwerbung (obwohl man sie in der Linguistik der »Sprache der Werbung« so noch nicht nennt). 3. Schlagwörter sind Wörter oder Wortkombinationen (in der Funktion eines Wortes ; freie Marktwirtschaft ist ein Paradebeispiel). Wie die meisten anderen Wörter können sie jedoch nicht nur als Satzbausteine, sondern auch als selbständige Sätze (und als Texte) und mithin auch als Slogans fungieren. Von der Linguistik bisher nicht so recht beachtet wurde, dass auch Eigennamen (Namen von Personen, Parteinamen, Markennamen) oft als Fahnenwörter gebraucht werden. 4. Die erfolgreichen Schlagwörter sind Lexeme (Ein- oder Mehrwortlexeme), also, wie die Slogans als Phraseme, Elemente des Lexikons ihrer Sprache. Doch bei ihnen ist ihre Bedeutung , anders als bei Slogans, oft umstritten, was sie polysem macht ( ideologisch polysem nach Dieckmann 1969, 70 ff.). Auch dann, wenn ein expliziter »Streit um Worte« um sie nicht stattfindet, sind bei ihnen oft Bedeutungs- und Bezeichnungskonkurrenz gegeben (nach Klein 1989 b, 21 ff.). 5. Wiederholung. Für ihren Erfolg ist eine Voraussetzung , wie bei Slogans, die ständige Wiederholung. Auch bei ihnen ist daher die Wiederholung eine ihrer auffälligen Gebrauchseigenschaften.

22

In letzter Zeit z. B. (recht ausführlich) Hermanns (1994) sowie ( prägnant) Burkhardt (2003), zuvor (und grundlegend) Dieckmann (1969). Einschlägige Sammelbände sind von Heringer (1982), Klein (1989 a) und Liedtke et al. (1991) herausgegeben worden. Im Format von Wörterbuch- bzw. Lexikon-Artikeln werden viele einzelne Schlagwörter der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte dargestellt in Strauß et al. (1989), Niehr (1993), Stötzel & Eitz (2002); narrativ und im Zusammenhang derjenigen Diskursgeschichte, der sie jeweils zugehören, in Wengeler (1992), Jung (1994), Stötzel & Wengeler (1995) und Böke et al. (1996 ).

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6. Kürze. Ein Syntagma wie das Wortungetüm ökologische und soziale Marktwirtschaft war schon wegen seiner Länge kaum zum Fahnenwort geeignet (Wengeler 2003, 42). Auch die langen Parteinamen (Christlich-Demokratische Union , Sozialdemokratische Partei Deutschlands usw.) tendieren dazu, ihren Schlagwortstatus zu verlieren (der dann nur noch ab und zu einmal hervorgekramt wird) und zu Abkürzungen zu mutieren ( CDU , SPD usw.). Auch hier liegt die Würze offensichtlich in der Kürze. 7. Einprägsamkeit. Daraus, dass man sich an sie erinnern soll, folgt bei den prototypischen Schlagwörtern, wie bei auch bei den Slogans, das Erfordernis der Einprägsamkeit, und zwar in Form und Bedeutung. Man kann von Schlagwörtern sagen, dass in ihnen Bedeutungen sozusagen »kondensiert« sind (Dieckmann 1969, 103). Die Erklärung: Sie verweisen – im Fall insbesondere der politischen Schlagwörter – »aus dem Text hinaus auf etwas anderes«, nämlich »auf den ideologischen Hintergrund, aus dem [ sie ] stammen, auf das Programm, das sie repräsentieren, auf die Wirtschaftstheorie, die sich in ihnen handlich vorstellt oder auf den politischen Standort des Redners« (ebd., 104). Darin, dass sie an all dies erinnern können, besteht also die Auf lösung der Metapher von der semantischen »Kondensierung« oder auch »Verdichtung«, die wohl in der Tat charakteristisch ist für prototypische Schlagwörter.

7 Vorstellungen, Einstellungen Wie wohl schon dem bisher Ausgeführten zu entnehmen, ist für das Verstehen von Schlagwörtern und von Slogans immer eine Aktivierung von Vorwissen23 nötig. Hier kann man vielleicht drei Wissensarten oder drei Wissensdomänen unterscheiden: Erstens Wissen, das benötigt wird zum Erstverstehen eines Slogans oder Schlagworts, zweitens dasjenige Wissen, das dann die Bedeutung eines Slogans oder Schlagworts ausmacht (»bedeutetes Wissen«), drittens Wissen, das von Slogan oder Schlagwort außerdem noch aktiviert wird (»implizites Wissen«). Das zum Erstverstehen benötigte Wissen bestand beispielsweise bei dem Slogan »Freiheit und/statt Sozialismus« u. a. in Wissenselementen wie: »Derzeit ist Wahlkampf«, »Die Plakate, die man überall sieht, werben für die Partei, deren Namen sie angeben«, »Freiheit ist ein hohes Gut, für das die CDU/CSU eintritt« (oder: »einzutreten angibt«) usw. Wie daraus ersichtlich, kann und muss für das erstmalige Verstehen eines Slogans und Schlagwortes (wie auch jedes Lexems, Phrasems, jeder Äußerung und jedes Textes) Wissen aller möglichen Bereiche beigezogen, d. h. mobilisiert, aktiviert, evoziert 23

»Wissen« in der soziologischen Bedeutung dieses Wortes, d. h. inklusive Glauben oder Meinen , wie erklärt von Berger & Luckmann (1966, 1 f.).

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werden, das dafür nur irgend von Belang sein könnte. Aktiviert wird dieses Wissen wohl stets durch Kontexte. Zweitens wird bei jedem folgenden Verstehen eines Lexems, Phrasems usw. (und mithin auch jedes Schlagworts, jedes Slogans) dasjenige Wissen aktiviert, das jeweils die (kognitive) Bedeutung dieses Lexems oder Phrasems ausmacht. (So beim Slogan »Alle reden …« u. a. das Wissen, dass die Bahn mit miserablem Wetter weniger Probleme hat als Autos, bei dem Schlagwort freie Marktwirtschaft das Wissen, dass nur sie eine optimale Balance zwischen maximaler wirtschaftlicher Leistung und sozialer Gerechtigkeit gewährleiste.) Dieses Wissen – bedeutetes Wissen könnte man es nennen – wird, wenn es durch das erstmalige Verstehen eines Lexems oder Phrasems erst einmal erlangt ist, immer wieder »abgerufen« (oder »aufgerufen«), d. h. aktiviert bei jedem Hören oder Lesen dieses Lexems oder Phrasems.24 So dass dieses Wissen nicht durch einen Kontext (wenn auch immer mit Beteiligung von Kontext), aktiviert wird, sondern durch das Lexem oder Phrasem selber.25 Doch erschöpft sich das von einem Lexem oder Phrasem (Schlagwort oder Slogan) jeweils aktivierte, evozierte Wissen nicht in demjenigen Wissen, das seine Bedeutung ausmacht. Denn das bedeutete Wissen bleibt stets eingebettet in anderes Wissen – eine dritte Art von Wissen  – ohne das es sinnlos wäre. (Anders ausgedrückt: Es ist vielfach vernetzt mit solchem anderen Wissen.) Man kann dieses zusätzliche Wissen (nach Linke & Nussbaumer 2000) implizites Wissen nennen. (Es ist implizit im Gegensatz zum bedeuteten Wissen, das in einer Äußerung bzw. einem Text »zum Ausdruck kommt« und damit explizit ist.) In der Linguistik heißen diejenigen Elemente dieses impliziten Wissens, die für ein Verstehen jeweils akut relevant sind, Präsuppositionen – eine treffende Bezeichnung , weil man sprechend oder schreibend in der Tat »voraussetzt«, dass die Hörer- oder LeserInnen über dieses implizite Wissen aktuell verfügen, d. h. davon ausgeht, dass es – wie das bedeutete Wissen – bei den Adressaten eines Sprechakts oder Textes schon im Augenblick des Hörens oder Lesens aktiviert ist oder jederzeit sofort aktiviert werden könnte.26 In der Existenz von bedeutetem und von implizitem Wissen haben wir wohl die Erklärung dafür, dass in Schlagwörtern  – und Slogans  – Ziele und Programme von Parteien »kondensiert« sein können. Sie »verweisen« darauf, insofern sie es bei jedem 24

Mittlerweile ist es in der Linguistik üblich, die Gesamtheiten der Wissenselemente, die sich an ein jeweiliges Lexem knüpfen, als Stereotype , mentale Modelle usw. zu bezeichnen. Früher nannte man sie Vorstellungen und Ideen (Hermanns 2002 a).

25

Unterschiedlich nach Art und nach Umfang des Vorwissens. Das eine Bedeutung ausmachende Wissen kann entweder sehr viel Wissen oder aber nur ein Wissensminimum umfassen, was besonders in die Augen sticht bei jedem Vergleich von Experten- und Laienbegriffen, d. h. Experten- und Laienwissen (Wichter 1994).

26

Eine andere in der Linguistik übliche Sprechweise redet hier vom »Mitgemeinten« oder vom »Mitverstandenen« (so v. Polenz 1985); zusammenfassend ließe sich hier auch vom »Mitgedachten« sprechen.

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Gebrauch aktivieren. Es wird aus der Existenz und dauernden Verfügbarkeit von implizitem Wissen (kraft seiner Vernetzung mit dem bedeuteten Wissen) außerdem verständlich, wieso Wörter außerhalb der Linguistik metaphorisch manchmal »Kürzel« oder »Chiffren« für Gedanken (und ganze Komplexe von Gedanken) genannt werden. Für das Wissen, das sie evozieren, sind sie in der Tat so etwas wie »Merkwörter« oder »Erinnerungszeichen«.27 Dieses Wissen kann immens sein, und es wird wohl so sein, dass sich davon im je augenblicklichen »Bewusstsein« (im »Kurzzeitgedächtnis« oder »Arbeitsspeicher« des menschlichen Geistes) immer nur ein kleiner Teil befindet. Der übergroße Rest ist aber jederzeit »abruf bar«. Darin liegt vermutlich wiederum ein Teil der Antwort auf die Frage, welcherlei Voraussetzungen – außer dem Mitdenken – die sprachliche Kürze, um die es in diesem Band geht, möglich machen. Fasst man das gesamte Wissen, das durch ein Lexem (hier: Slogan oder Schlagwort) aktiviert wird, unter dem Begriff der Vorstellung zusammen, dann lässt sich mit einem zweiten Wort prägnant angeben, was durch ein Lexem zusätzlich ausgedrückt und evoziert wird: außer der Vorstellung auch noch die Einstellung , die daran geknüpft ist. (Davon war hier schon die Rede.) Diese Einstellung gehört bei manchen Wörtern und Phrasemen zu ihrer Bedeutung , nämlich immer dann, wenn sie durch ein Wort oder Phrasem regelmäßig ausgedrückt und evoziert wird (dazu zuletzt Hermanns 2002 b). Das ist stets der Fall bei (erfolgreichen) Slogans und Schlagwörtern, da sie (definitionsgemäß) stets einen Appell zum Ausdruck bringen, also ein bestimmtes Wollen. Neben Volitionen können Slogans und Schlagwörter, wie gesehen, auch Gefühle, also Emotionen, zeigen und mobilisieren. Dieses beides aber ist das, was eine Einstellung ausmacht: ein bestimmtes Wollen oder ein bestimmtes Fühlen oder beides.28 Wie gleichfalls gesehen, greifen Slogans und Schlagwörter Einstellungen, die bereits bestehen, auf, um neue oder andere Einstellungen zu erzeugen und dann immer wieder zum Ausdruck zu bringen, wie sie auch auf schon vorhandene Vorstellungen zurückgreifen, um sie zu modifizieren oder durch bestimmte Wissenselemente zu ergänzen, die sie dann gleichfalls bei jedem abermaligen Gebrauch zum Ausdruck bringen. So dass Vor- und Einstellungen zusammengenommen das sind, was in Slogans und Schlagwörtern ausgedrückt wird, und zwar, wenn sie gut sind, in prägnanter Kürze.

27

So Kilian (2003, 105), der zudem hervorhebt (ebd., 106 ), dass das durch ein Merkwort evozierte Wissen (und Fühlen und Wollen) engstens angebunden bleiben kann an je persönliche Erfahrung.

28

Außer Volitionen sowie Emotionen sind auch Kognitionen Komponenten der Einstellung , dieses jedoch nur im fachsprachlichen ( psychologischen) Gebrauch des Wortes (dazu Hermanns 2002 c). Um diese fachsprachliche Bedeutung abzudecken, muss man bildungssprachlich »Einstellungen sowie Vorstellungen« (o. ä.) sagen.

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Schmollen ist ein Kommunikationsversuch Eine linguistische Lektüre von Kellers Pankraz, der Schmoller 1

1. Kommentierenswerte Wörter 2. Pankraz’ Konversion von Müßiggang zu Arbeit in der Fremde 3. Schmollen als Kommunikationsverhalten 4. Als Kommunikationsversuch schlägt Pankraz’ Schmollen fehl 5. Zum Zusammenhang von Schmollen, Essen, Arbeit, Grollen Warum schmollt Pankraz, der Schmoller ? Einfach deshalb, weil nun einmal von Natur aus eine »herbe und bittere Gemütsart« sein Los ist ? So deutet es der seines Schmollens schließlich doch entwöhnte Pankraz selber (26 f.). Aber Kellers Text gibt, nimmt man ihn beim Wort, außerdem noch eine andere, genaue und auch interessantere Erklärung und Beschreibung der Genese und des Wesens seines Schmollens, die bei einer linguistisch und lexikologisch orientierten Textlektüre deutlich wird. Dementsprechend ist der erste Leitgedanke dieses Beitrags: Die Zurkenntnisnahme linguistischer Gegebenheiten kann für das Verständnis eines Textes wie des Pankraz nützlich sein. Zweiter Leitgedanke: Schlüsselwörter eines solchen Textes sind – nicht immer, aber oft – zugleich auch Schlüsselwörter der Kultur, der dieser Text entstammt ; dergestalt, daß die semantische Beschreibung dieser Wörter eo ipso auch ein Stück Kulturbeschreibung ist. Mit der Untersuchung solcher Schlüsselwörter kann die germanistische Linguistik – oder, denn so könnte sie sich ebenso gut nennen, linguistische Germanistik – einen Beitrag leisten Dieser Beitrag ist erstmals 1992 erschienen in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 18, 414 – 429. 1

Kellers Text zitiere ich – wie alle anderen Beiträgerinnen und Beiträger zu dieser Sammlung von Lektüren – nach der Edition von Thomas Böning im Deutschen Klassiker Verlag (Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla. Frankfurt a. M. 1989) mit Angabe der Seitenzahl in runden Klammern ; in dieser Ausgabe (679 – 690) ist auch der im folgenden Kapitel gleich erwähnte »Stellenkommentar« enthalten. Zur Erzielung eines besseren Leseflusses habe ich in Zitaten oft vom Präteritum ins Präsens umgeformt, ohne dies an Ort und Stelle jeweils nochmals anzuzeigen. Unterstreichungen (Kursivsetzungen) sind ausnahmslos von mir, und nicht von Keller ; sie dienen ebenso der Fokussierung auf ein Wort (statt nur auf die damit gemeinte Sache ) wie auch der Betonung.

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zu einer als Kulturwissenschaft sich verstehenden Germanistik und also auch zu einer interkulturellen Germanistik.

1 Kommentierenswerte Wörter Extrapostillion und Burnus, Schöpsenfleisch und Haselanten, Sykomoren, Frauenzimmer, Düte und Skribenten, Stänker und Kampagne – diese Wörter sind es, die ein neuer »Stellenkommentar« zu Kellers Pankraz unter sprachlichen Aspekten kommentiert, eine Reihe anderer Wendungen und Wörter ähnlichen Kalibers kommt hinzu. Um es harsch und ganz pauschal zu sagen: vorzugsweise solche Wendungen und Wörter, die, wie es scheint, der Kommentator selbst in irgendeiner Weise seltsam findet. Lauter für das Textverständnis und die Interpretation des Textes ausgesprochen marginale Wörter werden da erläutert. Nicht erklärt hingegen wird in diesem Kommentar das Titelwort des Textes, Schmoller, noch auch schmollen, obwohl diese Wörter im Zusammenhang des Textes höchst erläuterungsbedürftig sind. Gleichfalls nicht erläutert wird aber auch der übrige in diesem Text zentrale Wortschatz mit oft und emphatisch wiederholten Wörtern wie z. B. (und vielleicht vor allem): arbeiten und Arbeit. Als wüßte sozusagen jeder Leser schon, was es mit diesen Wörtern auf sich hat, was sie bedeuten. Gerade solche Wörter aber sind natürlich für das Textverstehen – und zwar für jedes Textverstehen, sei es nun fremd- oder eigenkulturelles Textverstehen – die Schlüsselwörter, ohne deren Kenntnis und Beachtung man das Wesentliche eines Textes überliest. Wie bei Arbeit handelt es sich dabei oft um hochfrequente Alltagswörter, die als solche sozusagen unscheinbar und unauffällig sind: man glaubt, weil man sie oft vernimmt und oft verwendet, diese Wörter gut zu kennen, und man hält sie deshalb auch für einfach und problemlos, während sie in Wahrheit, wiederum wie Arbeit, oft semantisch höchst komplex und also kommentierenswürdig sind.

2 Pankraz’ Konversion von Müßiggang zu Arbeit in der Fremde So ist in Kellers Text das Lob der Arbeit ausgerechnet aus dem Munde eines Offiziers von einer unfreiwilligen, aber auch unvermeidlichen Ironie und Ambiguität. Darin spiegeln sich gewisse Widersprüchlichkeiten, in denen sich bezüglich ihrer Einstellung zu Arbeit die deutschsprachige und überhaupt die europäische Gesellschaft im 19. Jahrhundert noch befindet und von denen eine hier nur angedeutet sein soll. Einerseits generalisiert sich das Gebot der Arbeit, so daß zunehmend sogar Adlige und Künstler sich als Arbeitende verstehen und am Ende, aber erst im Lauf des 20. Jahrhunderts, in der europäischen Gesellschaft niemand übrig bleibt, zu dessen Selbstverständnis es nicht gehören würde, daß er arbeiten muß, ausgenommen nur die Kinder (aber mit Beginn der

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Schulzeit fängt auch für sie die Zeit der Arbeit an), Alten, Kranken. Andererseits bilden gerade die par excellence als Arbeiter Bezeichneten und Betrachteten das besitz- und insofern auch rechtlose Proletariat, das man verachtet, wenn man selber nicht dazugehört (Proletariat: die, wie man weiß, trotzig-kämpferische Selbstbezeichnung der als Klasse sich verstehenden Arbeiterschaft bringt u. a. dies Verachtetsein zum Ausdruck). Solche Widersprüchlichkeiten also gehen selbstverständlich auch in die Semantik dieses Wortes ein und werden sichtbar, wenn ein hochgestellter Militär, ein »Oberst«, dessen Tätigkeit im 19. Jahrhundert schwerlich schon als Arbeit angesehen und bezeichnet werden kann, das Lob der Arbeit anstimmt. Und so heißt denn auch in Kellers Text das, was der »Kapitän« gewordene Pankraz zu tun hat, nicht Arbeit, sondern »Tätigkeit« (59). In Afrika erscheint für Pankraz, der inzwischen »Oberst« ist, die Rettung aus Gefahr in Gestalt einer Patrouille, die ihn suchen soll, nicht etwa deshalb, weil nun Arbeit auf ihn wartet, sondern: »da sich Geschäfte eingestellt hatten« (66); und offensichtlich kommt auch das nur selten einmal vor, der Oberst Pankraz ist ja meistens auf der Jagd. Andererseits kann es wohl nur ein sozial Arrivierter sein, aus dessen Mund das Lob der Arbeit kommt, nur seine Worte haben ein Gewicht. In derlei Widersprüchlichkeiten aber kann man sich auch existentiell verstricken, und gerade dies geschieht offenbar in Kellers Text dem jungen Pankraz, der, wie wir noch sehen werden, von zu Hause fortläuft, weil er sich zu Hause unerträglich schuldig fühlt. Warum schuldig ? Ganz besonders deshalb, wie wir weiter sehen werden, weil er keiner Arbeit nachgeht. Wenn aber dieses Schuldgefühl so groß ist, warum arbeitet er dann nicht einfach ? Nun, weil ihn »gar nichts reizte zu irgend einer Beschäftigung« (28). Und warum reizt ihn dazu nichts ? Antwort: weil er Arbeit eigentlich verachtet, »denn Alles was ich Andere tun sah, kam mir erbärmlich und albern vor ; selbst Euer ewiges Spinnen war mir unerträglich und machte mir Kopfweh, obgleich es mich Müßigen erhielt« (28). Wir sehen also Pankraz hier in einem double-bind gefangen, der genau die Form der widersprüchlichen Semantik dieses Wortes hat und ihr, so können wir vermuten, auch entspringt. Pankraz muß einerseits die Arbeit wollen, denn sie ist eine Pflicht, aber andererseits muß er sie auch verschmähen, weil sie so »erbärmlich« und so »albern« ist, so gar nichts Großes und Erhabenes. Das führt zu »Groll und Weh […] gegen mich selbst« (28), bis hin zu psychosomatischen Beschwerden (»Kopfweh«). Insbesondere für Leser anderer Kulturen als der Herkunftskultur des Textes muß in Kommentar und Interpretation eines Textes wie des Pankraz das Wort Arbeit ganz dick unterstrichen und erläutert werden als zentraler Wertbegriff der heute, wie gesagt, nicht allein deutschen, sondern gesamten europäischen und westlichen bürgerlichen Sprache und Kultur. Daß Arbeit dies ist, erfährt der Leser nämlich, wenn er nachschlägt, aus den Wörterbüchern der deutschen Sprache der Gegenwart nicht. Beispielsweise nicht aus dem in vieler Hinsicht und zu vielen Wörtern so vorzüglich informierenden Duden Deutsches Universalwörterbuch (1989), wo es nämlich (s. v. Arbeit) nur heißt:

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»Arbeit: 1a) Tätigkeit mit einzelnen Verrichtungen, Ausführung eines Auftrags […]; b) das Arbeiten, Schaffen, Tätigsein ; das Beschäftigtsein mit etwas […]; c) Mühe, Anstrengung ; Beschwerlichkeit, Plage […]; d) Berufsausübung , Erwerbstätigkeit […]« (es folgen weitere, hier nicht interessierende Bedeutungen). Derlei Umschreibungen erweisen sich angesichts eines Textes wie des Pankraz als geradezu lächerlich inadäquat, ein angemessenes Verständnis von Arbeit zu vermitteln. Denn hier fehlt jeder Hinweis darauf, daß Arbeit einer der Zentralbegriffe der deutschen und europäischen Ethik des 20. Jahrhunderts wie auch schon der Ethik Kellers ist. Kellers Pankraz ist ja nicht nur die Geschichte eines Schmollers, der zuguterletzt von seinem Schmollertum »bekehrt« wird, wie es der Erzähler (67) und der Ich-Erzähler Pankraz (25) nennen, und sich »in der Fremde« (68) in sein Gegenteil verwandelt. Sondern lange schon, bevor die Erzählung diese schließliche Bekehrung schildert, ist sie die erbauliche Geschichte eines jungen Menschen, der sich selbst vom »Müßiggang« (23, 28, 29) zum Arbeitsfleiß bekehrt und »urplötzlich arbeiten gelernt« hat (30). Diese Metamorphose wird dem Leser eingeschärft. Der junge Pankraz zeichnet sich als Kind nach Auskunft des Erzählers außer durch sein Schmollen dadurch aus: daß »er auf Gottes lieber Welt nichts tat oder lernte« (16) und auch später dann als Jüngling immer noch nichts »tat und lernte« (18), und auch der Ich-Erzähler Pankraz sagt von sich im Rückblick, daß er »nichts lernte und nichts tat« (28), wobei das dreifach wiederholte »lernte oder tat« als Synonym von Arbeit zu verstehen ist, denn auch als Kind und junger Mann tut Pankraz ja durchaus nicht gar nichts ; was aber eben überhaupt nichts daran ändert, daß er in seinem »Müßiggang« »faul« und »unnütz« (63) ist. »Urplötzlich« ändert sich in diesem Punkt der junge Mann, sobald er – wie wir heute deuten können – aus dem Rollenzwang der eingefahrenen Familienrollen sich durch eine »Flucht« (28) befreit hat und nun, wie wir weiter deuten können, durchaus nicht zufällig erst »in der Fremde« (s. o.), wenn sie auch zuerst nur »sieben Stunden weit« entfernt ist (28), alsbald »arbeitet wie ein Besessener« (28). Auf einen Schlag ist aus dem Taugenichts und Nichtsnutz jetzt ein »Arbeiter« (28) geworden, der als solcher »fleißig« (29) immer wieder »Hand anlegt« (29) und »zugreift« (30, 31), »wo sich eine Arbeit zeigt« (30), bis der zurückgekehrte Pankraz mit Genugtuung von sich sagen kann, daß er damals »arbeiten gelernt« hat (30) und daß er über eine »erworbene Arbeitsfähigkeit« (33) verfügt, die ihm, im Verein mit einer von ihm ebenfalls erworbenen »festen Lebensart«, etwas Besseres zu sein scheint als »eine Million« (33). Diese seine von dem Ich-Erzähler Pankraz selbst so angelegentlich herausgestellte Konversion von Müßiggang zu Arbeit muß in ihrem Sinn vollkommen dunkel bleiben, wenn Arbeit , wie es das zitierte Wörterbuch ja will, lediglich als Synonym verstanden wird von einerseits Tätigkeit, Beschäftigtsein, Berufsausübung , andererseits Mühe, Plage.

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Und also unverstanden bleibt als ein zentraler Wertbegriff unserer Sprache und Kultur, mit seinem Ethos und mit seinem Pathos. Ethos und Pathos von Arbeit sprechen sich in deutscher Sprache und Kultur in Sätzen und Zitaten aus wie: »Ohne Fleiß kein Preis.« – »Arbeit ist des Bürgers Zierde.« – »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.« – »Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hochkommt, sind es achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen, so ist’s Mühe und Arbeit gewesen.« – Und: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.« Solche und vielleicht sogar gerade diese Sätze gehören daher in ein Wörterbuch, in einen Kommentar und eine Interpretation hinein, wenn zu erklären ist, was Arbeit ist.

3 Schmollen als Kommunikationsverhalten In Kellers Pankraz haben wir den Sonderfall  – der aber doch vielleicht nicht selten eintritt –, daß ein Schlüsselwort und Zentralbegriff des Textes, nämlich Arbeit, zugleich auch Schlüsselwort und Zentralbegriff der Kultur ist, der dieser Text entstammt und für die – bei fremdkultureller Lektüre – er gewissermaßen zeugt ; so daß dann die Wortbeschreibung eo ipso auch ein Stück Kulturbeschreibung ist derjenigen Kultur, für die das Schlüsselwort ein Schlüssel ist. Gewiß kein Schlüsselwort der deutschen oder westlichen Kultur, wohl aber doch ein Schlüsselwort des Textes Pankraz, der Schmoller ist das Titelwort dieses Textes, Schmoller ; und ebenso das diesem deverbalen Substantiv zugrundeliegende Verbum schmollen (wobei Schmoller, in Analogie zu Spieler und zu Trinker, als gewohnheitsmäßig Schmollender verstanden werden kann). – Was ist schmollen ? Ist es, wie das eine Interpretin (Lilian Hoverland: Gottfried Kellers »Pankraz, der Schmoller«. Eine Neuwertung. In: Wirkendes Wort 25 (1975), 27 – 37, hier: 27), die sich als einzige überhaupt diese Frage stellt, aus Kellers Text herausliest, bloß ein zusammenfassender Begriff für »müssigkeit, finstere miene, unwille und bössein« als »die hauptmerkmale des schmollens«? Diese Zusammenstellung ist zwar gar nicht schlecht als Kurzporträt der Person des Schmollers Pankraz, trifft aber die Bedeutung des Wortes nicht, denn einerseits hat schmollen mit Müßigsein gar nichts zu tun. Andererseits aber fehlt darin das wichtigste Bedeutungselement von schmollen. Das beweisen unsere Wörterbücher, die zu schmollen kurioserweise sehr viel besser informieren als zu Arbeit . In allen diesen Wörterbüchern – von Adelung 1780 über Campe 1810, Sanders 1876, Grimm & Grimm 1899 bis hin zu Klappenbach & Steinitz 1976 und zum Duden Universalwörterbuch 1989 – wird schmollen übereinstimmend erklärt als ein Verhalten, das vor allem Kommunikationsverhalten ist ; und zwar jenes sozusagen paradoxe Kommunikationsverhalten, das in der ostentativen Verweigerung von Kommunikation besteht. Dazu nur drei Belege. Nach Adelung 1780 (s. v.) ist schmollen: »seinen Unwillen durch ein mürrisches Stillschweigen an den Tag legen«; nach Sanders 1876, also etwa hun-

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dert Jahre später (s. v.): »durch Einstellen der gewohnten Freundlichkeit zeigen, daß man verletzt od. Jemand böse ist«; und wieder hundert Jahre später, nach Klappenbach & Steinitz 1976 (s. v.): »seinen Unmut zeigen, bes. durch Verziehen des Gesichts«. Also Kommunikation durch demonstrierte Verweigerung von Kommunikation ist schmollen, als Zeigen eines Unwillens, Unmuts, Verletzt-Seins und/oder Jemandemböse-Seins, insbesondere durch Schweigen und, wie Sanders es so treffend formuliert, Einstellen der gewohnten (oder vielleicht auch: der erwartbaren) Freundlichkeit. Eine weitere Bedeutung , die für Kellers Text nicht relevant ist, geben die historischen und älteren Worterbücher des Deutschen an, so Adelung (1780, s. v.): »In einem gerade entgegen gesetzten Verstande ist schmollen in einigen Gegenden lächeln.« Das Schweizerische Idiotikon (1929) verbucht (Bd. 9, s. v. schmolle(n), ebenso aber auch s. v. schmöllele(n)) nur die Bedeutung lächeln , so daß Kellers Sprachgebrauch bezüglich schmollen im Pankraz nicht schweizerisch beeinflußt sein kann.

Kellers Text hebt bei Einführung und Schilderung des Schmollers Pankraz in der Tat auch ab auf dessen Kommunikationsverhalten, da Pankraz schon als Kind »nie lacht« (16), im Gegensatz zu seiner Schwester dauernd »murrt« (17) und nicht wie diese »freundlich« und nicht »lieblich« (17) ist, oft »lamentiert« (18), schließlich nichts lernt außer »eine sehr ausgebildete und künstliche Art zu Schmollen« (18) und »meisterlich den steten Unrechtleider zu spielen« (18) – was ihn, wie man interpretieren kann, berechtigt, dann sein Schmollverhalten weiter vorzuführen – bis er die Kommunikation mit Mutter und mit Schwester ganz beendet dadurch, daß er fortgeht und dann fünfzehn Jahre lang verschwunden bleibt, was Keller kommentiert (20): »Das war ein langes und gründliches Schmollen«, sprich: gründliches Verweigern jeder Kommunikation. Im weiteren Verlauf des Textes sind Bedeuhmgsverschiebungen festzustellen: schmollen bedeutet dann oft lediglich soviel wie schweigen oder nicht-kommunizieren, ohne daß dabei noch ein Unwille vorhanden ist und zum Ausdruck kommt ; ich gehe darauf hier nicht näher ein.

Noch deutlicher erkennbar wird das Element der Kommunikationsverweigerung in Pankraz’ Schmollen bei der Schilderung von seiner Rückkehr, wo der Leser weitere, schockierende Details davon erfährt. Mutter und Schwester haben den jungen Pankraz, so liest man jetzt, überhaupt »nie freundlich gesehen« (24). Was speziell die Mutter angeht, so hat Pankraz schon als Kind von noch nicht sieben Jahren »angefangen, sich ihren Liebkosungen zu entziehen« (24), wie er denn auch seitdem »in bitterer Sprödigkeit und Verstockung sich gehütet« hat, »seine Mutter auch nur mit der Hand zu berühren« (24); dies ist bei einem Kind von noch nicht sieben Jahren seiner Mutter gegenüber eine Kommunikationsverweigerung , wie wir sie uns wohl gar nicht schlimmer denken können. Schließlich erfährt der Leser auch erst jetzt, wo alles wieder gut ist, und nur wie

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nebenbei (»abgesehen davon, daß«, mit dieser Floskel leitet der Erzähler die Mitteilung der folgenden kindheitspsychologischen Ungeheuerlichkeit ein), daß der kleine Pankraz »unzählige Male schmollend zu Bett gegangen war, ohne Gutenacht zu sagen« (24). Per Kontrast hervorgehoben wird die kommunikative Komponente seines Schmollens bei der Schilderung von Pankraz’ Rückkehr dadurch, daß es Keller darauf anlegt, Pankraz’ neue, nunmehr positiven kommunikativen Eigenschaften zu benennen und seine nun erworbene kommunikative Kompetenz hervorzuheben. Zurückgekehrt, ist Pankraz nämlich voller »Höflichkeit und Achtung« (er nimmt, wie er das früher nie getan hat, beim Eintritt in die Stube seine Kopfbedeckung ab); sein Gesicht zeigt eine »unaussprechliche Freundlichkeit« (während er ja früher niemals freundlich war); er nimmt seine Mutter in die Arme (die so »nach wohl dreißig Jahren sozusagen zum ersten Mal sich von dem Sohne umfangen sah« (24)); ja Pankraz ist nunmehr von einer nie gekannten »Anmut« (24) und in dem Verhalten seiner Mutter gegenüber geradezu »holdselig« (25). Wichtig scheint, daß Pankraz jetzt, im Gegensatz zu früher, zur Empfindung und zum Zeigen von Gefühlen (»Herzensweh«, »Rührung«, »Reue« (24)) fähig ist ; dies gilt der Mutter und der Schwester gegenüber. Aber auch im Umgang mit den Nachbarn ist er nun ein Meister kommunikativer Fähigkeiten, so der »Leutseligkeit und Geschicklichkeit […], mit welcher er die Leute unterhält« (27), sowie der »freundlichen, aber sicheren Gewandtheit« (27), mit der er sie zum Schluß hinauskomplimentiert, was alles Estherchen und seine Mutter sehr »bestaunen« (27), denn so kennen sie ja ihren Pankraz gar nicht. Es erweist sich, daß zumindest in Bezug auf Kellers Pankraz Sanders Bedeutungserläuterung (s. o.) ins Schwarze trifft, wonach schmollen insbesondere in ostentativer Verweigerung von Freundlichkeit besteht, denn Freundlichkeit ist in diesem Text in der Tat das Gegenwort zu schmollen. Das ist deshalb möglich, weil auch Freundlichkeit ein Kommunikationsverhalten ist, wie wieder unsere Wörterbücher deutlich machen, so z. B. Sanders (1876, s.v. freundlich): »von einem gefällig entgegenkommenden Benehmen , wie es sich nam. in Mienen und Gebärden zeigt , zunächst als Zeichen innern Wohlwollens«. Als Gegenwort zu schmollen ist auch Freundlichkeit ein Schlüsselwort von Kellers Pankraz. Das beweist nicht nur die obstinate Wiederholung (in den eben angeführten Stellen wurde freundlich unterstrichen) dieses Wortes, das die auffälligste Haupteigenschaft des neuen, des bekehrten Pankraz nennt. Sondern Freundlichkeit ist auch der wesentliche Inhalt des Gelübdes, mit dem Pankraz in der Szene mit dem Löwen seiner »Schmollerei« endgültig abschwört (66): »ich […] gelobte, wenn ich dieser Gefahr entränne, so wollte ich umgänglich und freundlich werden, nach Hause gehen und mir und andern das Leben so angenehm als möglich machen«, welch letzteres nichts anderes ist als eine in die Tat umgesetzte Freundlichkeit. Schon die Soldaten, die sein Leben retten, lernen einen neuen Pankraz kennen, der seinen »Zorn« und seine »Bitterkeit« (66) verloren hat ; Pankraz, der einst ja »nie lachte« (s. o.), »lacht« nun »wie ein Narr«, und ihren

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eben noch so »bösen« Oberst zeichnen nun die beiden kommunikativen Eigenschaften der »Freundlichkeit und Gesprächigkeit« aus, was die beiden Soldaten »sehr verwundert« (67); worüber sie sich so verwundem, das muß wirklich etwas gänzlich Neues sein. Zurückgekehrt und in den »Hauptort des Kantons« umgezogen, ist dann Pankraz allgemein »geachtet und beliebt« wegen einerseits seiner »Tüchtigkeit«, andererseits aber, und nicht minder, wegen seiner »unverwüstlichen ruhigen Freundlichkeit«, die ihn nicht mehr verläßt, »denn nie mehr zeigte sich ein Rückfall in das frühere Wesen« (68) – d. h. Schmollwesen, als dessen Gegenteil die Freundlichkeit hier noch einmal herausgestellt wird. Als die Geschichte einer doppelten Bekehrung also läßt sich Kellers Pankraz lesen: der Bekehrung eines Menschen erstens vom lasterhaften Müßiggang zu den Tugenden der Arbeitsamkeit und der Tüchtigkeit, wie es am Ende heißt ; und zweitens der Bekehrung dieses Menschen auch vom Laster seines misanthropisch asozialen Schmollens zu der sozialen und kommunikativen Tugend der Freundlichkeit. Ist Freundlichkeit vielleicht ein Schlüsselwort nicht nur von Kellers Text, sondern zugleich auch der Kultur, in der und für die dieser Text geschrieben worden ist ? Das könnte sein.

4 Als Kommunikationsversuch schlägt Pankraz’ Schmollen fehl Jedes Kommunikationsverhalten zielt grundsätzlich ab auf dreierlei, sonst wäre es kein Kommunikationsverhalten: erstens darauf, daß es wahrgenommen wird ; zweitens darauf, daß es auch verstanden wird ; drittens darauf, daß es eine ganz bestimmte Reaktion bewirkt. Alles dieses kann gelingen oder auch mißlingen, mit anderen Worten: jedes Kommunikationsverhalten ist in actu nur ein Kommunikationsversuch und kann als solcher dreifach scheitern. Dies mag das Beispiel des Scheiterns wissenschaftlicher Veröffentlichungen deutlich machen. Fall 1: Das Publizierte wird überhaupt nicht wahrgenommen, also nicht gelesen. Fall 2: Es wird zwar gelesen, aber nicht verstanden. Fall 3: Statt der angestrebten Reaktion der Fachkolleginnen und -kollegen tritt eine gänzlich unerwünschte ein, sie finden alles falsch und schlecht. Fall 3.1: Sie haben falsch verstanden, und sie finden deshalb alles falsch. Fall 3.2: Sie haben richtig verstanden, und sie finden trotzdem alles falsch. All diesen Risiken ist jedes Kommunikationsverhalten deshalb ausgesetzt, weil es als solches immer nur in einem Kommunikationsversuch besteht ; so also auch das Schmollen. Und also insbesondere auch das Schmollen Pankraz’.

Als Kommunikationsversuch schlägt Pankraz’ Schmollen fehl. So schon in der Urszene der Familienkonstellation, die sich dort »immer wieder« (17) abspielt: Wenn beim Essen Esther ihrem Bruder Pankraz immer wieder etwas von der Butter wegnimmt, die ihm gehört, und er dann »lamentiert und schmollt« (18), was offensichtlich ein Protestverhalten gegen ein ihm angetanes Unrecht ist, dann reagiert darauf die »gute Mutter« (18)

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so, daß sie ihm weder recht noch unrecht gibt, sein Kommunikationsbegehren und Protestverhalten also ignoriert, der Tochter ihre »arge Unzukömmlichkeit«, so nennt es (18) der Erzähler, nicht verbietet und verweist, stattdessen aber beiden Kindem nun von ihrer eigenen Butter oder Milch gibt – gerade so, als würde Pankraz gar nicht gegen ein ihm angetanes Unrecht protestieren, sondern als sei sein Lamentieren und sein Schmollen nur ein Zweckverhalten zur Erlangung einer etwas größeren Portion. So stopft sie der moralischen Entrüstung ihres Sohnes buchstäblich das Maul, beleidigt ihn, indem sie durch ihr schweigendes Verhalten unterstellt, daß es ihm nur ums Essen gehe – während es ihm doch um die Gerechtigkeit beim Essen geht! –,wobei sie ihn zugleich auch dadurch noch beschämt, daß sie ihm vormacht, wie man, statt zu lamentieren und zu schmollen, großmütig auf das eigene Teil verzichtet. Durch ihr dauerndes ihn mißverstehendes »Erbarmen« (17) setzt die »gute Mutter« ihren Pankraz permanent ins Unrecht. Ein zweites Beispiel: Als der rückgekehrte Pankraz seine Mutter in die Arme nimmt, da »zittert sie […] in scheuer Seligkeit« (24), als ob sie nicht die Mutter, sondern die Geliebte wäre ; daraus kann und soll der Leser offensichtlich schließen, daß sie sich das immer schon gewünscht hat – sie, die, wie bereits zitiert, von ihrem Sohn noch nie umarmt worden ist, auch damals von dem kleinen Pankraz nicht. Als aber dieses »Bürschchen« (24) damals angefangen hat, »sich ihren Liebkosungen zu entziehen« (24), da hat sie darauf offenbar – denn anderes wird vom Erzähler nicht berichtet – gar nicht reagiert und also dies demonstrative »Einstellen der gewohnten Freundlichkeit« gar nicht als Kommunikationsversuch erkannt ; es nicht als ein Kommunikationsverhalten, sondern einfach nur als ein Verhalten wahrgenommen und als solches, wenn gewiß auch ungern, hingenommen. Wie sie es offenbar auch einfach hingenommen und nicht als Kommunikationsversuch verstanden hat, daß ihr kleiner Pankraz, wie gleichfalls schon zitiert, »unzählige Male schmollend zu Bett gegangen war, ohne Gutenacht zu sagen« (24). Sie hat den stummen Hilferuf in diesem Schmollen ihres Kindes überhört. Denn darum handelt es sich offensichtlich: Durch sein Schmollen will das Kind – das eben sagt ja der Begriff des Schmollens  – seiner Mutter etwas zeigen . Außerdem aber ist Pankraz’ Schmollen auch, wie überhaupt ja jedes Kommunikationsverhalten, ein Appell. Insgesamt bedeutet also dieses Schmollen: Mir geht es schlecht. Hilf mir doch! Auf diesen Hilferuf nun reagiert die Mutter so, als nähme sie ihn gar nicht wahr. So z. B. auch, als Pankraz einmal die von Estherchen ihm – ähnlich wie beim Essen – immer wieder wegstiebitzte Leuchte »zornig weinend« (25) auslöscht und darauf die Mutter weder Sohn noch Tochter etwa tadelt und stattdessen nur »bekümmert« (26) das Licht wieder anzündet und so den früheren Zustand wieder herstellt, so daß es ist, als wäre nichts geschehen ; als hätte Pankraz nicht geweint und nicht (»zornig«) aggressiv gehandelt. Und auch als dann die Schwester ihren Bruder wieder provoziert, indem sie ihm die Lampe wieder ausbläst und ihn auslacht, und Pankraz dann »zerrissenen Herzens in’s Bett gerannt« ist – da reagiert die Mutter darauf wieder nicht.

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Insgesamt also reagiert entweder Pankraz’ Mutter auf das Schmollen ihres Sohnes gar nicht und verhält sich mithin so, als ob sie es nicht wahrnimmt ; oder sie reagiert darauf doch, dann aber immer anders, als es Pankraz möchte, was wiederum zwei Deutungsmöglichkeiten zuläßt: entweder sie versteht das Schmollverhalten falsch und kann deshalb nicht richtig reagieren ; oder sie versteht es richtig und stellt sich nur blind oder taub für ihren Sohn. Auf alle Fälle aber scheitern Pankraz’ Kommunikationsversuche. Pankraz’ Schwester Estherchen, die soviel »freundlicher« und »lieblicher« ist als ihr Bruder und im Gegensatz zu ihm so oft und gerne »lacht« (18, 19, 20), reagiert auf ihres Bruders Schmollen auch nicht besser als die Mutter. Im Gegenteil, sie, die sein Schmollen immer wieder auslöst dadurch, daß sie ihm etwas wegnimmt und ihm damit Unrecht tut, hat »den Schmollenden tausendmal ausgelacht«, wie wir als Leser erst im nachhinein erfahren (24), als bei Pankraz’ Rückkehr endlich das Familienglück sich einstellt ; also erst bringt sie ihn zum Schmollen, und dann lacht sie ihn dafür noch aus. Esther und ihr also durchaus von Ambiguität nicht freies Lachen – also keineswegs allein das Zeichen einer heiteren Gemütsart – sind ja auch der Anlaß dafür, daß Pankraz von zu Hause wegläuft. Sie hat ihm sein Abendessen (immer wieder geht es um das Essen ) weggegessen, »traurig und wehmütig , mit kaum verhaltenen Tränen in den Augen« (19) besieht er »das unansehnliche, kalt gewordene Restchen«, während – nur dies eine Mal wird sie nicht positiv benannt – »die schlimme Schwester […] unmäßig lachte« (19). Fazit: Auf Pankraz’ Schmollen als den paradoxen Kommunikationsversuch der Kommunikation durch Kommunikationsverweigerung – ein gewissermaßen äußerstes und letztes Mittel der Kommunikation – antworten sowohl Mutter wie auch Schwester ihrerseits mit einer Kommunikationsverweigerung , indem sie beide dieses Schmollen ignorieren und nicht gelten lassen: die Schwester, indem sie darüber lacht, die Mutter, indem sie sich entweder so verhält, als ob der Sohn nicht schmollte, oder doch jedenfalls auf das in seinem Schmollen eigentlich Gemeinte, auf den Ausdruck des Verletzt-Seins oder Jemandem-böse-Seins, nicht eingeht ; also – ohne es zu wissen – selber schmollt. Kein Wunder, sagt man sich als Leser, wenn Pankraz später »von vornherein mit allem Weibervolk« beständig »schmollt und grollt« (38). Ist es denkbar, daß die Mutter ihren Sohn absichtlich mißversteht ? Also ihn zwar versteht, jedoch so tut, als würde sie ihn nicht verstehen ? Dafür scheint jedenfalls zu sprechen, wie Pankraz selbst im nachhinein sein eigenes Schmollen deutet. Zweimal nämlich nennt er es per Hendiadyoin auch »Bössein«. Durch den Löwen wurde Pankraz »von allem Schmollen und Bössein für immer geheilt« (25). Und: Pankraz erklärt in seiner Ich-Erzählung (28), daß er »hauptsächlich immer des Essens wegen bös wurde und schmollte«. Also Schmollen koinzidiert mit Bössein. Und was bedeutet dieses Wort ? Nun, böse (oder bös) im hier gebrauchten Sinne ist ein früh gelerntes Wort der Kinder- und Erziehungssprache, dessen Bedeutung heute (Duden Universalwörterbuch, s. v.) angegeben wird mit: ungezogen, unartig , mit den Verwendungsbeispielen: »Du bist

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ein böses Kind«, und: »Wenn du bös[e] bist, mußt du ins Bett«. Daß dies gut zum Sprachgebrauch von Pankraz paßt, zeigt auch der eine Satz, wo Pankraz selbst – und an hervorgehobener Stelle – sein früheres Schmollen als eine »Unart« bezeichnet (68): »Die Moral von der Geschichte sei einfach, daß er in der Fremde durch ein Weib und ein wildes Tier von der Unart des Schmollens entwöhnt worden sei«. Offenbar wiederholt Pankraz mit »Bössein« (Du bist böse! ) und mit »Unart« (Du bist unartig! ) nur die Worte, die er als Kind oft gehört hat, wenn er »schmollte«. Schmollen als Unart: wenn es so ist, daß Pankraz’ Schmollen insbesondere von der Mutter als »Unart« verstanden wird, dann scheint auch klar zu sein, warum die Mutter auf dies Schmollen immer wieder gar nicht reagiert. Offenbar deshalb, weil sie auf das Schmollen als auf eine »Unart« gar nicht reagieren darf  – es sei denn durch einen Verweis des Schmollens, auf dessen vielfaches Erfolgtsein in Pankraz’ Kindheit wir, wie eben schon geschehen, schließen können. Als »Unart« nämlich ist das Schmollen ein verbotenes Kommunikationsverhalten, das man durch Nicht-Erfüllung der in ihm auf nichterlaubte Weise ausgedrückten Wünsche zu bestrafen hat. Denn auf eine Unart muß man stets mit Strafe reagieren, das ist Teil der deontischen Bedeutung des Wortes Unart. So daß Pankraz’ Kommunikationsversuche also scheitern müssen, weil die Mutter gar nicht anders kann (weil sie nicht anders darf ), als sie und ihren Sohn »mit Nichtachtung zu strafen«, wie wir heute sagen und wie man vielleicht schon zu Kellers Zeit gesagt hat.

5 Zum Zusammenhang von Arbeit, Essen, Schmollen, Grollen »Wenn ich«, so Pankraz ganz am Anfang seiner Ich-Erzählung (28), die er, ihr glorioses Happy-end in diesem Augenblick vergessend, als »trübselige Geschichte« (28) annonciert, »hauptsächlich immer des Essens wegen bös wurde und schmollte, so war der geheime Grund hiervon das nagende Gefühl, daß ich mein Essen nicht verdiente, weil ich nichts lernte und nichts tat …». So beschreibt der Ich-Erzähler Pankraz den Endpunkt einer psychischen Entwicklung , die ihn bis zur Auswegslosigkeit geführt hat, wo ihm also nur noch eine »Flucht« (28) von zu Hause weg und in die »Fremde« (68) möglich war. Diese psychische Entwicklung ist  – anhand von Kellers Text, unter Ausfüllung gewisser darin enthaltener Leerstellen – als eine Stufenfolge und Eskalation des Schmollens zu rekonstruieren. An ihrem Anfang steht bereits die Situation des Essens , in der also Pankraz’ Schmollen nicht nur ihren End- und Höhepunkt, sondern auch ihren Ursprung hat. Die kleine Schwester nimmt ihm etwas weg , was ihm gehört. Dagegen darf er sich jedoch offenbar mit seiner Körperkraft nicht wehren, weil  – können wir vermuten  – Estherchen ein Mädchen ist. So bleibt ihm nur der Weg , daß er mit »Lamentieren« und mit »Schmollen« (s. o.) gegen Estherchens Verhalten protestiert, und zwar natürlich bei der Mutter,

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die dem Essen präsidiert und für die Kinder deren »Ein und Alles, ihr einziger Schutz und ihre einzige Oberbehörde« (15 f.) ist. Das ist Pankraz’ Schmollen ersten Grades. Auf dieses Schmollen hin erfolgt jedoch, wie dargetan, von der Mutter nicht der Verweis an Esther, auf den Pankraz einen Anspruch hat, sondern er bekommt nur seine Butter, statt sein Recht. Die eigentlich ihm geschuldete Genugtuung und Bestätigung seiner moralischen Position wird ihm verweigert, ja die Mutter setzt ihn sogar moralisch noch ins Unrecht. Als Kind kann Pankraz gegen dieses neuerliche Unrecht sich verbal – durch eine metakommunikative Analyse des Geschehens – nicht wehren, so bleibt ihm wieder nur der averbale Ausdruck des Verletztseins. Das ist die zweite Stufe seines Schmollens. Dies ist wiederum ein Kommunikationsversuch, mit dem sich Pankraz, wie beim ersten, an die Mutter wendet, die also immer noch die Adressatin seines Schmollens ist, nun aber außerdem die dadurch Angeklagte, also gewissermaßen Richterin und Prozeßpartei zugleich, so daß Pankraz keine großen Chancen hat, daß seiner stummen Klage stattgegeben würde. Und in der Tat, das geschieht auch nicht – ein neues Unrecht, gegen das ein Kind wie Pankraz wieder nur mit Schmollen reagieren kann. Die dritte Stufe also seines Schmollens: Pankraz schmollt, weil sein erstes und sein zweites Schmollen unbeantwortet geblieben sind. Die Mutter scheint ihn gar nicht zu verstehen, aber sie muß doch endlich merken, wie sie ihm dauernd Unrecht tut, wenn sie es nicht allein geschehen läßt, daß Estherchen ihm Unrecht tut, sondern ihn auch noch selbst ins Unrecht setzt und außerdem seine Appellation verwirft! Auf dieser Stufe ist wohl der massive demonstrierte Liebesentzug des kleinen Pankraz einzuordnen (keine Liebkosung mehr für diese Mutter, keine körperliche Berührung mehr, kein Gutenacht-Gruß). Man sieht, wie hier das vorher punktuelle Schmollen (aus akutem Anlaß) anfängt, sich in ein chronisches Schmollen zu verwandeln. Aber auch auf dies extreme Schmollen hin erfolgt von Seiten seiner Mutter keine Antwort. Sie verweigert ihrem Sohn das Zauberwort: Sei doch wieder gut! Du bist ja doch mein lieber Pankraz! Sondern erwidert offenbar den Liebesentzug ihres Sohnes – dadurch nämlich, daß sie ihn einfach hinnimmt – ihrerseits mit einem Liebesentzug , so daß also dieses Kind nun ohne die erlebte Liebe seiner Mutter aufwächst. Wie kann darauf das Kind nur reagieren ? Wiederum allein durch Rückzug , in die Innerlichkeit seines Träumens, und durch demonstrierte Kommunikationsverweigerung , durch die es sich zumindest gegen weitere Verletzungen durch Zurückweisung seiner ausgedrückten Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Liebe schützt. Das aber ist noch immer nicht die letzte Stufe auf der Stufenleiter seines Schmollens, es kommt noch schlimmer. Das ihm von der Mutter permanent, durch ihr nicht-liebendes Verhalten, vorgehaltene Spiegelbild seiner selbst, womit sie ihrem Sohn aufs neue immer wieder sagt: Du bist kein liebenswertes Kind, muß sich nun dieses Kind notwendigerweise selbst zu eigen machen ; und es muß in sich die Überzeugung bilden, daß es nicht liebenswert, sondern

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»bös« ist. Wenn es sich so verhält, daß selbst die Mutter es nicht liebt, dann kann das ja auch gar nicht an der Mutter liegen, so muß das von seinem Unwert einmal überzeugte Kind sich sagen, sondern nur an ihm selbst, es selbst ist also schuld, und nicht die Mutter. So daß dann also dieses Kind sich selber nicht mehr liebt, mit sich selber grollt, und mit sich selber schmollt. Des Schmollens letzte Stufe ist der Selbsthaß. »Als ich damals auf so schnöde Weise«, so berichtet ja der Ich-Erzähler Pankraz selbst, »entwich, war ich von einem unvertilgbaren Groll und Weh erfüllt ; doch nicht gegen Euch[!], sondern gegen mich selbst …» (28). Und Groll, das ist, wie sich durch Wörterbuchzitate zeigen läßt, ein aufgestauter Haß. Dieser Selbsthaß aber hat im Falle Pankraz’ nicht bloß in der weiterhin erlebten Lieblosigkeit seiner Mutter wie auch Schwester seinen Grund, sondern er findet mehr und mehr, in dem Maß nämlich, wie Pankraz älter wird und kein Kind mehr ist, eine rational-moralische Berechtigung und Begründung. Pankraz muß sich selber hassen, weil er, wie zitiert, »sein Essen nicht verdient«, d. h. weil er es nicht verdient, zu leben. Und er verdient dies nicht, »weil er nichts lernt und nichts tut«, weil er, so wurde oben schon interpretiert, nicht arbeitet. Und weil er es ja nicht verdient, hat seine Schwester, scheint es jetzt sogar, ganz recht, die ihm sein Essen immer wieder wegnimmt. Daß er es nicht verdient, folgt logisch aus dem Satz: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, den wir also zum Verständnis von Kellers Text in der Tat dringend brauchen, weil er – und nur er – die zureichende Erklärung für den Selbsthaß gibt, in dem sich Pankraz schließlich – bis zu seiner Flucht, und länger – permanent befindet. Es ist der Selbsthaß eines Menschen, der in einer Krise der Identität ist, wo ein Widerspruch zwischen Sein und Sollen  – zwischen dem, wie man sein soll, und dem, wie man ist  – unerträglich wird als permanent erlebte Schuld, und wo auch »keine Hoffnung« ist, »daß es je anders würde« (28). Anders wird es in der Tat erst nach der Flucht und also in der »Fremde«, wo Pankraz, wie zitiert, sofort arbeitet »wie ein Besessener«, dann aber auch das »Morgenbrot« (28) und »Mittagsessen« (29) »mit großem Appetit« (29) verzehrt, erstmals wieder mit sich selbst im reinen ; dann mit den Schiffsleuten, wieder nach getaner Arbeit, »unterschiedliche tüchtige Mahlzeiten« einnimmt (30); und insgesamt bei abwechselnd »schwerer Arbeit« und »tüchtigem Essen« (30) körperlich gut gedeiht, und offenbar auch seelisch. Er verdient ja, können wir uns sagen, jetzt das Essen, da er dafür Arbeit leistet. Also Pankraz’ in ihm aufgestauter »Groll« verwandelt sich nach seiner »Flucht« zuerst in Arbeitsenergie, sodann jedoch in die sozial erlaubte, ja erwünschte Aggressivität des Soldaten und des Jägers, bis dann Pankraz seine gegen ihn selbst gerichtete Gewalttätigkeit überwindet und besiegt in Gestalt eines Löwen, der ihn ebenso, wie er sich selbst, bedroht mit seiner immer sprungbereiten Aggressivität, so daß man deuten kann: der Löwe, das ist Pankraz selbst als sein ihn hassendes, lebensbedrohendes, aggressives Alter Ego ; der Löwe, das ist Pankraz’ Selbsthaß. Als Löwentäter jedenfalls kehrt Pankraz

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dann »bekehrt« zurück, »geheilt«, wie es (25) auch heißt, von seinem Grollen gegen sich und seinem Schmollen. Könnte eine linguistische Lektüre von Kellers Pankraz einen Beitrag leisten auch zur Lösung anderer Probleme, die man beim Verstehenwollen dieses Textes hat ? Neben Arbeit, Essen, Schmollen, Grollen, Freundlichkeit ist sicherlich auch Liebe eins der Schlüsselwörter dieses Textes, wie zugleich ein Schlüsselwort der deutschen und der westlichen Kultur. Die Beachtung der Semantik dieses Wortes führt vielleicht zum besseren Verständnis der in Kellers Text zentralen Lydia-Geschichte.

Verzeichnis der zitierten Wörterbücher Adelung , Johann Christoph (1780): Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches Der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. 4. Teil. Leipzig. Campe, Joachim Heinrich (1810): Wörterbuch der Deutschen Sprache. 4. Teil. Braunschweig. Deutsches Universalwörterbuch = Dudenredaktion: Duden Deutsches Universalwörterbuch. 2. Auflage. Mannbeirn/Wien/Zürich 1989. Grimm, Jacob ; Grimm, Wilhelm (1899): Deutsches Wörterbuch. 9. Band. Leipzig. Schweizerisches Idiotikon = Antiquarischen Gesellschaft in Zürich: Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache. Band 9. Frauenfeld 1929. Klappenbach, Ruth ; Steinitz, Wolfgang (1976 ): Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. 5. Band. Berlin (DDR). Sanders, Daniel (1879): Wörterbuch der Deutschen Sprache. Mit Belegen von Luther bis auf die Gegenwart. Zweiter Abdruck. Leipzig.

Zum Schluss

Mit freundlichen Grüßen Bemerkungen zum Geltungswandel einer kommunikativen Tugend

Selbst die Behörden haben es so weit gebracht. Sie grüßen uns, wenn sie uns schreiben, jetzt in aller Regel freundlich statt, wie vor nicht allzu langer Zeit noch, hochachtungsvoll. Es ist, als würde die Behörde freundlich lächeln, wenn sie uns am Ende ihres Schreibens grüßt. Dieses Lächeln hat sich als soziale Norm, so habe ich den Eindruck, zunehmend durchgesetzt in der Kultur der Gegenwart. Dabei, scheint mir, wurde es zum Habitus von immer weiteren Gesellschaftsschichten und von immer mehr gesellschaftlichen Rollenträgern, also auch von solchen, die uns früher ohne große Freundlichkeit begegneten. Selbst Gewerkschaftsführer, die sich noch vor kurzem kämpferisch und grimmig gaben, lächeln heute. Schaut man sich in Colleges in England Galerien der gemalten Principals und Masters an, dann sieht man, sie beginnen irgendwann im 20. Jahrhundert zu lächeln. Vorher sind sie hoheitsvoll und finster, ja sie blicken tadelnd aus dem Bild auf den Betrachter, der sich dabei unbehaglich fühlt. Dann auf einmal kommt der erste Principal, der lächelt, so, als hätte ihm der Maler zugerufen: »Bitte recht freundlich!« Ob sich auch die Päpste heute freundlich lächelnd porträtieren lassen? Was bedeutet freundlich? Nach Auskunft eines guten deutschen Wörterbuchs von heute, nämlich des DUW (1989), bedeutet es: »im Umgang mit anderen aufmerksam u. entgegenkommend, liebenswürdig«. Geht man dem nach, so findet man im selben Wörterbuch, daß aufmerksam bedeutet: »höflich u. dienstbereit«; entgegenkommend: »hilfreich, gefällig, konziliant«; liebenswürdig: »freundlich u. zuvorkommend«. Zuvorkommend wiederum ist: »höflich, liebenswürdig u. hilfsbereit anderen kleine Gefälligkeiten erweisend«. Gefällig ist: »zu Gefälligkeiten bereit, hilfsbereit«, Gefälligkeit: »kleiner, aus Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft erwiesener Dienst«. Zu meiner Überraschung ist in allen diesen Paraphrasen überhaupt nicht die Rede vom Affekt, der, wie ich bisher dachte, doch zur Freundlichkeit dazugehört: die freundlichen Gefühle, die jemand für Dieser Beitrag ist ersmals 1993 erschienen in: Klein, Wolf Peter ; Paul Ingwer (Hgg.): Sprachliche Aufmerksamkeit. Glossen und Marginalien zur Sprache der Gegenwart. Heidelberg , 81 – 85.

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mich hat und die ich spüre, wenn jemand wirklich freundlich zu mir ist und eben nicht nur freundlich tut. Stattdessen wird in dem zitierten Wörterbuch nur abgehoben einerseits ein wenig auf die Form ( freundlich = aufmerksam = höflich) des freundlichen Verhaltens (Umgang), andererseits und vor allem aber auf die Verhaltensdisposition, auf die Dienst- und Hilfsbereitschaft, Entgegen- und Zuvorkommendheit, die sich offenbar im freundlichen Verhalten sei es ausdrückt, sei es auch bereits in Handeln umsetzt. Freundlichkeit wäre diesem Wörterbuch zufolge insbesondere eine Dienstbereitschaft, aus der heraus man gern (aber auch dieses Wort fehlt in den Paraphrasen) kleine Gefälligkeiten, kleine Dienste tut, und auf die Kleinheit kommt es offensichtlich an. Denkt hier das Wörterbuch vor allem an Verkäuferinnen und Verkäufer? Und an die »Bedienung«, die gemeint ist, wenn wir lesen: »Freundliche Bedienung gesucht«? Das kommerzielle Ideal der Freundlichkeit scheint mir mit »aufmerksam = höflich, dienstbereit« ganz gut getroffen. Die freundliche Bedienung hat ein routiniertes Lächeln, das aber keine Schlüsse auf Gefühle zuläßt. Der routinierte Konsument erwartet gar nicht mehr, es könnte ihre routinierte Freundlichkeit noch etwas anderes zum Ausdruck bringen als die Dienstbereitschaft, die bezahlt wird. Da wäre also, wenn das Wörterbuch hier recht hat, prototypisch freundlich heute die Freundlichkeit der Dienstleistungsberufe, und zwar gerade insofern (und nicht: obwohl) in ihr die freundlichen Gefühle keine Rolle spielen. Oder ist es etwa so, daß hier die Skepsis einer »skeptischen Generation‹‹ von Wörterbuchverfassern durchschlägt, die grundsätzlich an der Existenz von freundlichen Gefühlen zweifelt? Wie dem auch sei, bemerkenswert ist jedenfalls das Fehlen der Gefühle in der Freundlichkeit, wie unser repräsentatives Wörterbuch sie auffaßt. Die deutsche Wörterbuchkultur der Gegenwart ist in Bezug auf die Gefühle skeptisch, ist auch sonst mein Eindruck. Das ist in anderen Wörterbuchkulturen anders – auch, was speziell die interlingualen Synonyme von freundlich angeht. So findet man im Wörterbuch des Englischen von Hornby (1974) friendly definiert als: »acting, acting, or ready to act, as a friend ; showing or expressing kindness«; und kind definiert als: »having, showing, thoughtfulness, sympathy or love for others« (thoughtful, das hier von deutschen Lesern mißverstanden werden könnte, meint u. a. considerate = rücksichtsvoll ). Man fragt sich: Unterscheiden sich hier nur die Wörterbücher oder wirklich auch die Wörter? Oder ist es beides, und die Wörterbücher übertreiben bloß die Eigenarten, die jedoch im Sprachgebrauch bezüglich freundlich einerseits und kind und friendly andererseits real bestehen? Sicherlich, Bereitschaft, »als ein Freund« zu handeln, ist im Deutschen etwas anderes als Freundlichkeit, aber »wie ein Freund« (im Gegensatz zu Feind ), das könnte auch fürs deutsche freundlich gelten. Liebe wird gewiß mit Freundlichkeit nicht ausgesagt – denn Liebe ist im Deutschen ein besonders großes Wort geworden, das den feierlichsten Augenblicken vorbehalten ist – aber ein gewisses Maß an Sympathie wohl doch. Wer freundlich zu mir ist, so meine ich, der gibt mir zu erkennen, daß er Sympathie für mich hegt, in diesem

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Augenblick zumindest. Läßt man das weg, dann bleibt von Freundlichkeit tatsächlich nur die Höflichkeit und Dienstbereitschaft übrig, und das alleine ist, so finde ich, noch keine wahre Freundlichkeit. Natürlich hat man auch fürs Deutsche früher anders definiert. Das Wörterbuch von Adelung (1796) erläutert freundlich: »Liebe, freundschaftliche Gesinnungen habend, verrathend, liebreich. Eigentlich [d. h. in der Grundbedeutung], so fern sich diese Gesinnung durch Geberden und Mienen äußert«. Also für Adelung kommt es gerade auf das Innerliche, die Gesinnung , an. Und Adelung schreckt nicht davor zurück, dafür die Wörter Liebe, freundschaftlich und liebreich zu verwenden, obwohl seine Verwendungsbeispiele das nicht vermuten lassen würden, sie sind auch uns noch ganz geläufig und alltäglich: »Ein freundlicher Mann. Er siehet immer freundlich aus. Jemanden freundlich anreden, aufnehmen. Sich freundlich stellen. Ein freundliches Gesicht, freundliche Mienen. Freundliche Worte. Jemanden freundlich grüßen«. Außerdem macht er besser als das Wörterbuch von heute deutlich, daß Freundlichkeit nicht bloß ein Haben freundlicher Gesinnung, sondern auch ihr Verraten und ihr Äußern ist, d. h. ein Kommunikationsverhalten. Von Liebe ist schon keine Rede mehr im Wörterbuch von Sanders (1876), jedenfalls nicht in dem, was es als die geläufige Bedeutung von freundlich angibt: »von einem gefällig entgegenkommenden Benehmen, wie es sich nam. in Mienen und Gebärden zeigt, zunächst als Zeichen innern Wohlwollens«. Auch hier ist wieder auf das Kommunikative (Mienen, Gebärden, zeigt, Zeichen) im Verhalten (Benehmen) abgehoben, auch hier wird noch betont, daß in der Freundlichkeit ein Inneres zum Ausdruck kommt. Zwar ist dieses nun statt Liebe bloß noch Wohlwollen, es geht hier also mit der Freundlichkeit schon deutlich abwärts. Oder aber mit der Liebe geht es hier schon derart aufwärts ins Erhabene, daß sie als Quintessenz von Freundlichkeit schon nicht mehr in Betracht kommt. Auf alle Fälle aber ist in Freundlichkeit die Sympathie noch da. Auch wenn sich mit gefällig und entgegenkommend die Beschränkung auf die Dienstbereitschaft in den kleinen Dingen, scheint es, vorbereitet. 1796, 1876, 1989 – die zitierten Wörterbücher stehen auch für drei Jahrhunderte im Ablauf deutscher Wörterbuchkultur und deutscher Sprachkultur, in denen sich gewiß ein Stück Mentalitätsgeschichte spiegelt, also auch ein Stück Geschichte der Gefühlskultur. Freundlichkeit ist dabei immer mehr in Kurs gekommen, wenn es stimmt, was ich anhand von einigen Indizien vermutet habe. Andererseits ist Freundlichkeit im Wert gesunken, wenn es stimmt, was unser jüngstes deutsches Wörterbuch darüber sagt bzw. nicht sagt; auch schon, wenn es nur der Tendenz nach stimmt. Und wenn dies alles beides stimmt, dann hat sich offensichtlich eine Inflation von Freundlichkeit ereignet: durch vermehrten Umlauf ist der Wert gesunken. Und zwar der Wert sowohl der Wörter Freundlichkeit und freundlich wie auch der Wert des freundlichen Verhaltens selbst, das als ein Kommunikationsverhalten ebenso dem Wertewandel unterworfen ist wie

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Wörter, insbesondere also dem Verschleiß der Werte. Diese Inflation ist sicher auch im Briefstil der Behörden wirksam, der mit seinem formelhaften Schluß die Freundlichkeit quantitativ vervielfacht und sie eo ipso qualitativ trivialisiert. Mit der prätendierten Freundlichkeit der Amtspersonen und Behörden ist es nicht weit her, so müßte man daher vermuten. Wenn nicht andererseits die Behördenangestellten heute oft – im Gegensatz zu früher – wirklich freundlich wären, wie übrigens auch die Verkäuferinnen und Verkäufer. Für mich als Zeitgenossen steht es außer Frage, daß sie in der Regel freundlich sind, wenn sie sich freundlich geben, d. h. auch wirklich freundliche Gefühle haben und nicht nur dienstbereit sind, sondern auch hilfsbereit, also freundlich sind im Sinne Adelungs und Sanders’. Sonst machen sie sich gar nicht erst die Mühe, den Anschein zu erwecken, daß sie freundlich wären. Ich erinnere mich noch gut daran, wie dies einmal ganz anders war und wie besonders bei Behördenmenschen Unfreundlichkeit und Unhöflichkeit normal war. Also doch nicht bloß Inflation von Freundlichkeit? Sondern ein wirklicher Gewinn und Zuwachs allgemeiner Freundlichkeit in unserer Gesellschaft? Mir zumindest scheint es so, entgegen den Befunden aus den Wörterbüchern. Noch scheint es mir so, ich sehe nämlich auch die Zeichen, daß es wieder anders werden könnte. Wollte man privat nur einfach freundlich grüßen, wäre das zumindest »nicht gerade freundlich«, ja es könnte als Affront verstanden werden. Wenn sogar schon die Behörden, die uns nicht persönlich kennen und uns als Personen gar nicht kennen wollen können, freundlich zu uns reden, dann erwartet man von der persönlichen Bekanntschaft etwas anderes und mehr. Herzliche Grüße sind in unseren Kreisen mittlerweile üblich, aber diese Formel will mir gar nicht mehr gefallen, und vermutlich deshalb, weil ich sie so oft verwendet sehe und auch selbst verwendet habe. Herzlich widerspricht routinemäßiger Verwendung. Also wie jetzt schließen? Nun: mit vielen Grüßen und mit allen guten Wünschen. Und dies letztere von ganzem Herzen. Fritz Hermanns