Metropolen im Maßstab: Der Stadtplan als Matrix des Erzählens in Literatur, Film und Kunst [1. Aufl.] 9783839409053

Stadtpläne übersetzen den dreidimensionalen urbanen Raum in eine zweidimensionale Fläche. In der Verschränkung von Bild,

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Metropolen im Maßstab: Der Stadtplan als Matrix des Erzählens in Literatur, Film und Kunst [1. Aufl.]
 9783839409053

Table of contents :
INHALT
Metropolen im Maßstab
Zur Einführung ein Fritz Lang-Film
Flanieren mit dem Stadtplan? Literarische Peripatetik und die Kartographie der Großstadt
Stadt-Plan ↔ Text-Plan? Über Kartographie, Écriture und ›mental mapping‹ in der Parisliteratur 1781 bis 1969
Zwischen Kombinatorik und Kontrolle: Zur Funktion des Stadtplans in Jean-Pierre Melvilles Le Samouraï
Zeit/Stadt/Plan. Zum Erzählen von urbanen Topographien bei Uwe Johnson
»Man muss beweglich bleiben.« Sehen und Gehen in Jacques Rivettes Le Pont du nord
Zwischen Topographie und Topologie: Los Angeles Plays Itself
A to Z. Zum Einsatz von Stadtplänen in der Konzeptkunst
Der Dichter in New York. Federico García Lorca als surrealistischer Flaneur
Imaginäre Karten. Performative Topographie bei Borges und Réda
Triptychon der Städte. Cuzco – Abancay – Chimbote bei José María Arguedas
Pläne von Städten, Pläne von Texten: Die kartographische Imagination von Robert Majzels und Karen Tei Yamashita
Stadtplan als Autobiografie. Orhan Pamuks melancholischer Blick auf Istanbul
Kein Erzählen ohne Stadtplan. Um Michel Butor herum
Das Diese. Georges Perecs Lust an der Ortung
Abstracts
Über die Autorinnen und Autoren

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Achim Hölter, Volker Pantenburg, Susanne Stemmler (Hg.) Metropolen im Maßstab

Band 1

2009-05-14 14-24-51 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02e9210204431710|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 905.p 210204431718

Editorial Die interdisziplinäre Reihe Urbane Welten versammelt aktuelle Positionen zu einem jungen und im Entstehen begriffenen Forschungsfeld: der kulturwissenschaftlichen Stadtforschung. Im Zentrum der Reihe steht das wechselseitige Bezugsverhältnis zwischen Kultur und Urbanität: Kulturen und kulturelle Artikulationen werden in urbanen Zusammenhängen stets neu konturiert. Zugleich wird Urbanität durch eine Vielfalt medialer Inszenierungen neu erschaffen und transformiert, werden städtische Wandlungsprozesse durch Medien sichtbar, hörbar, fühlbar und lesbar. Die Reihe Urbane Welten führt internationale Forschungsdiskurse der urban studies unter medien- und kulturwissenschaftlicher Perspektive zusammen und bietet besonders jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein Publikations- und Diskussionsforum. Die Reihe wird herausgegeben von Laura Frahm und Susanne Stemmler.

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Achim Hölter, Volker Pantenburg, Susanne Stemmler (Hg.) Metropolen im Maßstab. Der Stadtplan als Matrix des Erzählens in Literatur, Film und Kunst

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Diese Publikation wurde ermöglicht durch das Center for Metropolitan Studies (Berlin). Eine Druckbeihilfe stellte die Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster e.V. zur Verfügung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: aus »Le Samouraï« (F 1967, Regie: Jean-Pierre Melville) Lektorat & Satz: Volker Pantenburg Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-905-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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INHALT Metropolen im Maßstab ACHIM HÖLTER / VOLKER PANTENBURG / SUSANNE STEMMLER 9

Zur Einführung ein Fritz Lang-Film ACHIM HÖLTER 15

Flanieren mit dem Stadtplan? Literarische Peripatetik und die Kartographie der Großstadt CHRISTIAN MOSER 25

Stadt-Plan  Text-Plan? Über Kartographie, Écriture und ›mental mapping‹ in der Parisliteratur 1781 bis 1969 ANGELIKA CORBINEAU-HOFFMANN 51

Zwischen Kombinatorik und Kontrolle: Zur Funktion des Stadtplans in Jean-Pierre Melvilles Le Samouraï JÖRG DÜNNE 77

Zeit/Stadt/Plan. Zum Erzählen von urbanen Topographien bei Uwe Johnson NILS PLATH 97

»Man muss beweglich bleiben.« Sehen und Gehen in Jacques Rivettes Le Pont du nord EKKEHARD KNÖRER 135

Zwischen Topographie und Topologie: Los Angeles Plays Itself LAURA FRAHM 149

A to Z. Zum Einsatz von Stadtplänen in der Konzeptkunst VOLKER PANTENBURG 175

Der Dichter in New York. Federico García Lorca als surrealistischer Flaneur ANKE BIRKENMAIER 193

Imaginäre Karten. Performative Topographie bei Borges und Réda ANDREAS MAHLER 217

Triptychon der Städte. Cuzco – Abancay – Chimbote bei José María Arguedas MARCEL VEJMELKA 241

Pläne von Städten, Pläne von Texten: Die kartographische Imagination von Robert Majzels und Karen Tei Yamashita DOROTHEA LÖBBERMANN 265

Stadtplan als Autobiografie. Orhan Pamuks melancholischer Blick auf Istanbul SUSANNE STEMMLER 289

Kein Erzählen ohne Stadtplan. Um Michel Butor herum ACHIM HÖLTER 301

Das Diese. Georges Perecs Lust an der Ortung ROBERT STOCKHAMMER 331

Abstracts 341

Über die Autorinnen und Autoren 347

M E T R O P O LE N

IM

M A S S ST A B

ACHIM HÖLTER / VOLKER PANTENBURG / SUSANNE STEMMLER Einen Stadtplan zu benutzen gehört zu den geläufigsten Alltagspraktiken; jeder ist mit der Mischung aus Lektüre und Suche vertraut, die es erlaubt, im Hin- und Herblättern zwischen Straßenverzeichnis und Karte, im Abgleich von angegebenem Planquadrat und maßstäblicher kartographischer Darstellung die gesuchte Stelle allmählich einzukreisen und schließlich zu finden. Aber schon die Beschreibung dieses elementaren Vorgangs macht deutlich, dass in der Benutzung des Stadtplans zwei verschiedene Kulturtechniken miteinander verschränkt sind: Die Lektüre von Straßennamen und Raumkoordinaten muss mit der Suche im Terrain der Karte zusammentreffen, wenn sie zum Erfolg führen soll. Zwei verschiedene Formen der Interpretation – die von sprachlichen Zeichen und die von visuellen Informationen – gehen ganz selbstverständlich Hand in Hand. Dies gilt für jede Verwendung des Stadtplans, es gilt aber auch (und in gesteigertem Maße), wenn Stadtpläne aus ihrem pragmatischen Kontext herausgelöst werden und in ästhetischen Zusammenhängen erscheinen. Was passiert, wenn Stadtpläne in literarischen Texten, in Filmen oder Kunstwerken eingesetzt werden? Welche Erzählverfahren initiieren sie? Wie bringt der Stadtplan die Handlung ans Laufen? Welche Brücken und Brüche zwischen Fiktion und Realität lässt er entstehen? Schon Theodor Fontane mokierte sich 1882 über eine Frau Professorin, die seine in Berlins Mitte angesiedelte Erzählung Schach von Wuthenow gelobt habe. Ihr Argument: »[E]s ist so spannend, man kennt ja alle Straßennamen«. Ganz gleich, ob die Leserin sich lediglich von der abstrakten Suggestion des Namensklangs begeistern ließ oder ob sie bei der Lektüre eine virtuell-konkrete Sicht der Stadt aus der Vogelschau genoss; in beiden Fällen gilt: Nennung ist topographische Realitätsstiftung, und als solche erfüllt sie unterschiedliche Funktionen: Straßennamen stehen pars pro toto für die Stadt (die Sperlingsgasse bei Wilhelm Raabe, der Alexanderplatz bei Döblin), aber gerade in ihrer Häufung evozieren Straßennamen darüber hinaus auch eine Struktur, ein Straßensystem, mithin einen Stadtplan. Gerade die Stadtliteratur hat eine mehrschichtige Beziehung zur Kartographie: Je nachdem, ob man von der Texterzeugung ausgeht oder vom 9

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Buchobjekt, von der Struktur der narratio oder von der graphischen Symbolik, von expliziten und impliziten, vorausgesetzten oder beigehefteten Stadtplänen, kommt man zu jeweils anderen Fragestellungen: Wer hat sich zum Schreiben einen Stadtplan beschafft? Wo werden ganz explizit Stadtpläne benutzt? Sind diese dechiffrierbar? Oder wird der Leser irregeleitet? Wo wird am Plan entlangerzählt; wo bleibt er unsichtbare Matrix? Den Ausgangspunkt von Metropolen im Maßstab bildeten solche literarischen Auseinandersetzungen mit der Großstadt. Entsprechend sind London, Paris, Berlin, New York, Havanna, Cuzco oder Istanbul einige der realen und literarischen Schauplätze, an und mit denen die versammelten Beiträge spielen. Aber die Literatur deckt nur einen Teil des Feldes ab, das durch den Focus auf das erzählerische Potenzial von Stadtplänen abgesteckt und ausgemessen wird.1 Schon am historischen Aufriss erzählerischer Konzepte in Texten über London, wie sie Christian Moser rekonstruiert, wird deutlich, dass dem textuellen Umgang mit Plänen und der Großstadt immer auch unterschiedliche Beobachterstandpunkte und Blickregime eingeschrieben sind. Der Rückgriff auf einen Ansichtsplan, wie er bis Mitte des 17. Jahrhunderts üblich war, erzeugt einen anderen Text als der auf einen planimetrischen Stadtplan, wie wir ihn heute kennen. Die visuelle Repräsentation der Großstadt schlägt sich in unterschiedlichen Konzepten des Gehens und Flanierens nieder, und diese wiederum rufen verschiedene narrative Verfahren auf. Auf diese Weise ergeben sich ganz unterschiedlich gefärbte literarische Topographien, wie Angelika Corbineau-Hoffmann an Paris-Texten von Louis-Sébastian Mercier bis Patrick Modiano zeigt. Wenn also einerseits die Texte das Ergebnis eines bestimmten, von Karten und Plänen miterzeugten Blicks auf die Metropole sind, so ruft andererseits der Stadtplan selbst unterschiedliche Medien und Kunstformen auf, die verschiedene Möglichkeiten des Stadtplans entfalten und jeweils medienspezifisch ausformulieren. Insbesondere das Kino hat sich dabei als produktiver Umschlagplatz von Stadtplan und Erzählraum erwiesen. Als ein Nebenschauplatz und im Schatten der zahlreichen StadtDarstellungen der Filmgeschichte – man denke an die Querschnittfilme der 1920er Jahre, die sich Berlin, St. Petersburg, Nizza und anderen Metropolen zu nähern versuchten – ist auch der Stadtplan als ein spezifisches Medium der Großstadterfahrung in viele Filme eingegangen. In Metropolen im Maßstab begegnet er nicht zuletzt als eine besonders wirkmächtige Chiffre der Raumbeherrschung. Wo die Stadtlandschaft

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Einen differenzierten Einblick in die Beiträge vermitteln die englischen Abstracts am Ende des Buchs. 10

METROPOLEN IM MASSSTAB

unübersichtlich geworden ist und dem Individuum zahlreiche Möglichkeiten des Verschwindens in der Menge und im urbanen Raum bietet, bedienen sich insbesondere die Ordnungsregimes der Pläne, um ihre Macht durchsetzen zu können. Sei es in Fritz Langs M, in dem der Stadtplan von Berlin – aber nicht nur dieser, wie Achim Hölter in seinem kurzen Einleitungsbeitrag zeigt – eine prominente Rolle bei der Einkreisung und Erfassung des mutmaßlichen Kindermörders spielt; sei es in JeanPierre Melvilles Le Samouraï, in dem das schon bei Lang angedeutete Dispositiv der Verfolgung auf einen technisch avancierten Stand gebracht wird, wie in Jörg Dünnes Beitrag nachzulesen ist: Der Plan, zumal Melvilles Verschaltung von Stadtplan und U-Bahn-Plan, steht hier für das Phantasma der zentralisierten Raumkontrolle, die an Foucaults Beschreibung panoptischer Zugriffe erinnert. Jacques Rivettes Film Le pont du nord wirkt vor diesem Hintergrund wie ein Gegenvorschlag; er zeigt einen alternativen Einsatz des Planes, der eher an die situationistischen Praktiken der ›dérive‹ erinnert. Zwar trägt Paris auch bei Rivette panoptische Züge, wie Ekkehard Knörer in seinem Beitrag nachzeichnet, aber mit dem Plan ist dieses Blickregime nun gerade nicht verbunden. Der Stadtplan wird vielmehr zum Spielplan, dessen Felder und Planquadrate einen zufälligen und improvisierten Weg durch die Großstadt initiieren, der nicht zufällig ein Pendant in Rivettes improvisierter Arbeitsweise findet. Spielerisch, wenn auch nicht unbedingt mit improvisatorischer Geste begegnen Stadtpläne in zahlreichen Arbeiten der Conceptual Art um 1970. Nicht nur aufgrund der in sich bereits konzeptuellen Form des Stadtplans, sondern auch wegen der Attraktivität, den er als generative Matrix für Kunstproduktion gewann, die den individuellen und expressiven Autoren zurücktreten lassen konnte, trifft die konzeptuelle Kunst in Landkarten und Stadtplänen auf eine visuelle Form, die ihr besonders nahe ist. An Beispielen von Douglas Huebler, Hans Haacke und On Kawara beschreibt Volker Pantenburg Strategien, die auf das konzeptuelle, das analytische und das autobiographische Potential des Stadtplans abzielen. Auch in der literarischen Moderne hat es eine Gruppierung gegeben, die, den Exponenten der Konzeptkunst vergleichbar, auf die Prinzipien der Serialität und mathematisch-systematische Spielregeln gesetzt hat und in diesem Zusammenhang auch auf den Stadtplan zurückgreift. Immer wieder suchen und finden Georges Perec und andere Mitglieder des Ouvroir de littérature potentielle (OULIPO) generative Regeln, die die Texte ans Laufen und die Erzählungen ins Rollen bringen. Robert Stockhammer interpretiert einen Gedanken aus Georges Perecs Text Espèces d’espaces als Handlungsanweisung und macht sich – ausgerüstet mit

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dem Berliner Stadtplan – mit einer Kamera auf den Weg dorthin, wo ihn die alphabetische Struktur trägt. Entstanden ist der Film Das Diese, zu dem sich der hier abgedruckte gleichnamige Text als Kommentar versteht. Die ausgreifende Fussnote ist aber durchaus auch als eine Zeitraffersequenz durch zentrale Unterscheidungen der zeitgenössischen Raumtheorie von Henri Lefebvre, Deleuze/Guattari und de Certeau zu verstehen. Stockhammers Film könnte auch Berlin spielt sich selbst heißen, obgleich sich die Stadt hier anders erzählt als in Thom Andersen ausführlicher Montage von Los Angeles-Filmen mit dem Titel Los Angeles Plays Itself. Eine Fülle von Spielfilmen, deren Schauplatz die wohl meistgefilmte Kino-Metropole ist, setzt sich hier zu einer historisch-assoziativen Stadtkarte filmischer Repräsentationsweisen zusammen. Wie Laura Frahm zeigt, unterliegen der Systematik Andersens nicht nur die drei Prinzipien »City as Background«, »City as Character« und »City as Subject«; der Film kann auch nach den Raumkonzepten von Topographie und Topologie gewinnbringend analysiert werden. Andere Pläne, andere Städte, andere Kontinente: Susanne Stemmler analysiert in den Romanen Orhan Pamuks, wie sein Blick auf das in Wandlung begriffene Istanbul eine Verschränkung von fotografischen Techniken und melancholischen Erinnerungen an die Stadt seiner Kindheit hervorbringt und der inzwischen veraltete Stadtplan zur autobiografischen Folie wird. Marcel Vejmelka folgt dem peruanischen Schriftsteller und Anthropologen José María Arguedas durch drei Städte zwischen Anden und Pazifik. In den Romanen Arguedas werden die Städte und ihre Pläne als Palimpseste kolonialer und postkolonialer Vergangenheit erkennbar, an denen die Vergangenheit des Inkareichs ebenso wie die Modernisierung und globalisierte Ausbeutung ablesbar sind. Mit einer konzentrierten und auch räumlich verdichteten Form der Weltgeschichte hatte Uwe Johnson zu tun, als er in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Bau der Mauer über die Möglichkeiten der Repräsentation von Stadt und Geschichte nachdachte. Nils Plath bezieht Johnsons topographische Überlegungen auf die Art und Weise, wie U-Bahn-Pläne und Stadtwahrnehmung in New York und den Jahrestagen zusammenkommen und sich Raum und Geschichte verschränken. Einige Jahrzehnte vor Johnson (und Gesine Cresspahl) bewegte sich Federico Garcia Lorca durch New York. Wie Anke Birkenmaier zeigt, orientieren sich die Gedichte in Poeta en Nueva York weniger an Stadtplänen (gegen die Lorca einen starken Vorbehalt hatte) als vielmehr an anthropologischen und surrealistischen Modellen der Begegnung mit dem Fremden. Wenn in Lorcas Kontrastierungen von New York und Havanna vor allem Orte gegeneinandergesetzt werden, bringen die zeitge-

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METROPOLEN IM MASSSTAB

nössischen Romane Robert Majzels und Karen Tei Yamashitas auch die Zeitebenen ins Schwanken. Wie Dorothea Löbbermann erläutert, unterhalten die heterogenen und vielstimmigen Erzähltexte ein spielerisches Verhältnis zu ihren lokalen Bezugspunkten Los Angeles und Montreal und bringen die räumliche Ordnung auf der Ebene des Plots ebenso wie im Umgang mit Karten und Diagrammen ins Wanken. Sie sind somit mit und gegen das Paradigma der Karte entworfen. Von der Unterscheidung zwischen ›map‹ und ›territory‹ geht Andreas Mahler in seiner Lektüre von Texten Jorge Luis Borges’ und Jacques Rédas aus. Er bezieht diese Differenz zunächst auf Saussures Strukturmodell der Sprache, bei der die Dynamisierung zwischen Signifikat und Signifikant zur Bedeutungsstiftung führt; analog dazu »macht ein Stadttext eine Stadt, stellt sie poetisch (›poein‹) her, gibt ihr ›Form‹«. Die Lust am Stadtplan zeigt sich gerade auch dort, wo fiktiven Städten fiktive Pläne unterlegt werden, wie es kürzlich mit großem Aufwand sogar für die Comic-Metropole Entenhausen geschehen ist. Wenn aber schon die Pläne realer Orte in Erzähltexten die Struktur, die Totalität, die Geschichtshaltigkeit der Stadt verkörpern und dadurch die Projektion von Stories auf sich ziehen, so eignet dem gänzlich erfundenen Stadtplan, wie Achim Hölter am Beispiel von Michel Butors Bleston demonstriert, zusätzlich eine intensive Symbolik, bei der die Medialität der papierenen Stadtrepräsentation in ihrer Brennbarkeit aufscheint. Melvilles Polizeichef und Fritz Langs Kommissar Lohmann hängen einer Vorstellung der Vermessung und Identifizierung an, die Michel de Certeau in seinem einflussreichen Text Kunst des Handelns mit dem panoptischen Blick zusammengebracht hat. Die Aufsicht, die als göttliche oder – säkularisiert – als Vogelperspektive den Blick auf die im Stadtplan verkleinerte Stadt kennzeichnet, hat solche Züge der visuellen Beherrschung. In de Certeaus Text von 1980 ist es der Blick vom World Trade Center, der eine panoptische Phantasie evoziert. 2008 existiert das WTC nicht mehr, aber der Blick von oben ist jedem Computerbenutzer von Weltrepräsentationsmodellen wie »google maps« und »google earth« mehr als geläufig; ein Blick, bei dem das fotografische und das kartographische Dispositiv – Bild und Karte – miteinander verschmelzen. In de Certeaus raumtheoretischen Überlegungen zur Orten und Räumen findet sich eine Art Definition dessen, was Erzählungen mit Topographie zu tun haben könnten. Anschließend an seine Unterscheidung von ›espace‹ und ›lieu‹ schreibt er: »Les récits effectuent donc un travail qui, incessament, transforme des lieux en espaces ou des espaces en lieux. Ils organisent aussi les jeux des rapports changeants que les uns

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entretiennent avec les autres.«2 Die narrativen Spiele, die dieser Band untersucht, finden auf einem besonderen Spielfeld statt: auf dem Stadtplan. Danken möchten wir dem Center for Metropolitan Studies in Berlin, das die dem Buch vorangehende Tagung im Berliner Brechthaus ebenso wie diesen Band großzügig unterstützt hat. Therese Hörnigk, zum Zeitpunkt der Tagung Leiterin des Literaturforums im Brecht-Haus, sei ebenfalls gedankt. Auch die Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster e.V. hat einen finanziellen Beitrag zur Drucklegung beigesteuert. Bei der Ausrichtung der Tagung und der Einrichtung der Manuskripte halfen insbesondere Carolin Bohn, Anke Diedrich und Stefanie Zimmer, denen an dieser Stelle ebenfalls herzlich gedankt sei. Rainer Schäle leistete Last Minute-Hilfe bei den Abbildungen.

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Michel de Certeau: L’invention du quotidien I. Arts de faire, Paris: 10/18 1980, S. 210. ›Die Erzählungen führen also eine Arbeit aus, die unaufhörlich Orte in Räume und Räume in Orte verwandelt. Sie organisieren auch das Spiel der wechselnden Beziehungen, die die einen zu den anderen haben. Diese Spiele sind sehr zahlreich‹ (Michel de Certeau: Kunst des Handelns, aus dem Französischen von Ronald Vouillé, Berlin: Merve 1988, S. 220.) 14

Z U R E I N F Ü HR U N G E I N F R I T Z L A N G -F I L M ACHIM HÖLTER »Ging […] noch alte Strecken ab – Berlin«, notiert Helmut Krausser in seinem Tagebuch vom 10. Januar 2001 – »Straßennetze als emotionale Topographie meiner Vita.«1 Damit markiert zunächst ein Gegenwartsautor den Ansatz dieses Bandes: den Stadtplan als mediale Diskursform in den Blick zu nehmen, die es erlaubt, dem objektiven Produkt von Vermessung, symbolischer Abstraktion, Benennung sowie Aufschlüsselung durch Raster und Index eine subjektiv-private und im Fall von Literatur und Film zudem eine ästhetische Folie überzuschreiben. Krausser hat aber schon 1992 eine weitere interessante Parallele bezeichnet. Ausgehend von Emil und die Detektive (1931), den er als »durch und durch kryptofaschistische[n] Film« perspektiviert, weil er »durch Bespitzelung, Denunziation, polizeiliche Organisation« »den Volksschädling in einer großen Treibjagd zur Strecke bring[e]«,2 appliziert er diese Überlegung auf jenen Film, an den man bei den genannten Verfahren vielleicht zuallererst denkt, nämlich an Fritz Langs M. Freilich erkennt Krausser die »faschistoide Ästhetik« primär in den »langen, ledernen (Gestapo)mäntel[n]« (in Wirklichkeit ist es wohl ein Singular, der Mantel der von Gustaf Gründgens verkörperten Figur, wobei die weitere Assoziation sich von dem historischen Gründgens aus erklärt) sowie in dem »Notkonsens« aller Parteien zur Ausmerzung des Volksschädlings.3 Auf die Medien der Fahndung in M geht Krausser nicht ein. Dabei zeigt der Film eine durchgängige Codierung durch Stadtpläne. Das soll hier, als kurzes Beispiel für den zu entfaltenden Zugriff, kurz und ausdrücklich ohne den Versuch, darüber eine »faschistoide Ästhetik« zu rekonstruieren, entwickelt werden.

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Helmut Krausser: Januar. Tagebuch des Januar 2001. Februar. Tagebuch des Februar 2002, Reinbek: Rowohlt 2003, S. 70. Helmut Krausser: Mai. Tagebuch des Mai 1992. Juni. Tagebuch des Juni 1993, Reinbek: Rowohlt 1995, S. 123. Ebd., S. 124. 15

ACHIM HÖLTER

Zunächst ist daran zu erinnern, dass Fritz Langs Filme stets eine elementare Faszination durch unkontrollierte Topographien aufweisen. In Der Tiger von Eschnapur und Das indische Grabmal (1959) sollten es die Katakomben und die Leprakolonie sein, und schon in Metropolis (1927) ließ sich beobachten, wie der hauptsächlich ausschnitthaft, ikonisch und durch ihre Höhendimension wirkenden Stadtutopie ein alter, geheimer, phantastischer Stadtplan unterlegt wird: Joh Fredersen sieht sich von dem Werkmeister Grot mit zwei klandestinen Plänen konfrontiert (Abb. 1-2), die in der von Zukunftstechnik beherrschten Stadt bereits als Papierobjekte eine terroristische Drohung ausstrahlen.4 Der Sekretär Josaphat ist ratlos (Abb. 3), aber Freder, der Sohn des Beherrschers von Metropolis, begibt sich auf die Suche und müht sich noch an seinem zifferblattartigen Schaltpult, den Geheimplan der Unterwelt zu entziffern (Abb. 4-5). Inzwischen sieht der Zuschauer, wie der Erfinder Rotwang in seiner Bibliothek den alten Fredersen anhand eines aktuellen Plans darüber aufklärt, dass es sich um die zweitausendjährigen Katakomben handelt (Abb. 6-7); und in einer Überblendung marschieren die Arbeiter in den mysteriösen Plan hinein zu diesem geheimen Versammlungsort (Abb. 8-10).5 Für manchen Kenner des Films aber mag es doch überraschend sein, dass man auf Rotwangs Schreibtisch deutlich und breit ausgefaltet einen Stadtplan von Metropolis liegen sieht. Freilich ist die Projektion so flach, dass ein Erkennen von Details unmöglich bleibt. Man beAbb. 1-6 nötigte die Kamera des Blade Runners Phil Deckard, um den Plan über Eck lesen zu können…

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Vgl. Enno Patalas: Metropolis in/aus Trümmern. Eine Filmgeschichte, Berlin: Bertz 2001, S. 42-43. Ebd., S. 60. 16

ZUR EINFÜHRUNG EIN FRITZ LANG-FILM

Deutlicher und dennoch verrätselt arbeitet Lang mit Plänen in M, so intensiv sogar, dass man behaupten könnte, das Bildinventar mache aus diesem Film mindestens auch einen kontinuierlichen Stadtplandiskurs. Am 24. Mai 1930 wurde in der Mettmanner Straße in der Düsseldorfer Stadtmitte Peter Kürten verhaftet. Die Geschichte dieses Serienmörders verarbeitete Fritz Lang in M. Mörder unter uns (uraufgeführt am 11.5.1931), bekannter unter dem Titel M – eine Stadt sucht einen Mörder. Tatsächlich wird der letztere Untertitel durch die hier hervorgehobene Linie bestätigt. In M wird zwar nicht herausgestellt, aber durch die städtebaulichen Details und den Akzent der sprechenden Figuren klar, dass die Handlung in Berlin abläuft. Der Mord an der kleinen Elsie Beckmann am 21.6. ist in Friedrichsfelde zu lokalisieren, nahe dem heutigen Tierpark. Kommissar Lohmann schlägt mit dem Zirkel Kreise um die Laubenkolonie (Abb. 11-12). Dort also, im Osten Berlins, wird die Polizei zunächst nach dem Täter suchen. Doch nicht nur die Polizei verfolgt den Mann, denn die Berliner Unterwelt fühlt sich durch die verstärkten Razzien beeinträchtigt und beschließt daher, ebenfalls systematisch zu fahnden. Und sie wendet im Prinzip dasselbe Mittel an: den Stadtplan. In einer Szene hoher ikonischer Symbolkraft6 gibt der von Gustaf Gründgens gespielte »Schränker« als Chef des Vereins Anweisungen, und er tut dies vor einem ausgebreiteten Faltplan, der durch den Großen Stern im Tiergarten eindeutig als Berliner PharusStadtplan zu identifizieren ist (Abb. 13). Kaum ein Bild ist denn auch so sprechend für den toAbb. 7-12 talisierenden Zugriff, den der Stadtplan in Langs M verkörpert wie die Hand des Gangsteranführers im Lederhandschuh die, ausgespreizt wie eine Spinne, das

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Vgl. schon Peter Lorre. Das doppelte Gesicht, BRD 1984, Regie: Harun Farocki und Felix Hofmann. 17

ACHIM HÖLTER

gesamte Stadtgebiet der flächendeckenden Kontrolle durch die Spione des Ringvereins unterwirft (Abb. 14). In der Szene, in der der Ringverein seine Mitglieder aktiviert und gezielt auf Überwachungssektoren verteilt, sieht man zunächst an der Wand im Hintergrund des Komitees eine gängige Verkehrskarte von Berlin (Abb. 15), hier bedeutsam, insofern der Film nebenher auch eine Kartentypologie ausbreitet. Es sind also schon ins Bild gelangt eine Detailkarte der Polizei, ein Gesamtplan von Berlin, nun der Plan der Verkehrslinien, überdies ein genau mit den Namen der Mordopfer versehener Kartenausschnitt von Oberschöneweide/ Biesdorf (Abb. 16). Und schließlich kann der Zuschauer genau verfolgen, welcher beim Verbrechersyndikat registrierte Bettler die Hauptstraße 89-196 zu überwachen hat (Abb. 17). Doch welche Hauptstraße soll das sein? Die im Bezirk Lichtenberg? Oder soll durch diesen generischen Namen ein Gleiten ins Unspezifische begünstigt werden? In einer klassischen Kriminalfilm-Einstellung sehen wir nun den zigarrerauchenden Kommissar Lohmann an seinem Schreibtisch, aber hinter ihm an der Wand die typische großformatige Gesamtkarte der Stadt Berlin (Abb. 18). In der Zeitlupe erkennt man deutlich den Grunewald, den Tiergarten, die Müggelberge. Der Erstbetrachter des Films freilich wird bei Normaltempo diese authentischen Details nicht bemerken oder nicht zentral in seine Wahrnehmung der Handlung einbauen, denn dies ist zu unterstreichen: Nicht ein einziges Mal verrät M, der ohnehin weitgehend Interieurs zeigt und auch bei ›Außenaufnahmen‹ eine beklemmende Studioatmosphäre vermittelt – eine Aura des frühen Tonfilms, der die Straßengeräusche Abb. 13-18 wegfiltert bzw. einfach nicht erzeugt –, durch eindeutige Architektur, durch verbale Nennung oder eine sonstige ›film-offizielle‹ Geste, dass die Handlung in Berlin spielt.

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ZUR EINFÜHRUNG EIN FRITZ LANG-FILM

Dann zieht sich das Netz zusammen. Man ermittelt einen Verdächtigen – sogleich den richtigen –, und zwar einen Hans Beckert, der als Untermieter bei einer Frau Winter in der Gledirstraße 15, I. (oder II.?) Stock wohnt (Abb. 19). Eine Gledirstraße nun gab es nicht (wohl aber eine Gleditschstraße und andere mit ähnlichen Namen); so schützte man womöglich reale Berliner Zimmervermieter davor, in den Verdacht zu geraten, sie hätten einen Kindermörder beherbergt. Dies bestätigt also, dass die im Osten Berlins angesiedelte und vermittels Plan en détail beglaubigte Lokalisierung sich nun, da man sich dem Täter nähert, in einen hybriden Status verflüchtigt, bei dem Konkretes mit absichtlich Erfundenem auf Stadtplanebene konvergieren. Parallel werden andere Stadterfassungsmedien – später kommen noch Kartei und Liste sowie, wenn man will, auch das Telefon hinzu – ins Bild gerückt, zum einen das Telefonbuch, das ein Informant des Ringvereins benutzt (Abb. 20), zum andern, wiederum in einer Telefonzellenszene, die die Jäger aus der Unterwelt zum Zufluchtsort des Mörders dirigiert, ein zweites Fernsprechverzeichnis, vor allem aber im Hintergrund ein Berliner U-BahnNetzplan (Abb. 21). Eine weitere Karte hängt im Wachbüro der Schließgesellschaft, die die Gangster unter Anführung des falschen Polizisten Gründgens überfallen, um an die Anschrift des Schutzobjekts, eines Bürogebäudes, zu gelangen. Gleich zwei Dokumente, die den Stadtplan Berlins erschließen, finden sich in der anschließenden Einstellung, in der die Verbrecher anhand der Kartei (Abb. 22) und des zugehörigen Kartenausschnitts (Abb. 23), der später noch einmal gezeigt wird, das Haus lokalisieren. Abb. 19-24 Wir sehen den Häuserblock, der begrenzt wird von Kölner Straße 57-61, Ostendallee 114-117 (nebenher: eine typische Berliner Zählung, da offenbar umlaufend) und Bennostraße 29-33. Kölner Straße und Bennostraße existierten in dieser Konstellation in Ber-

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lin nicht, eine Ostendallee auch nicht, wohl aber eine Ostendstraße, passend zum Namen und dem Filmszenario entsprechend, in Oberschöneweide. Das dort angeblich gelegene Bürohaus ist aber ohnehin als Studiobau erkennbar, und von hier an driftet der Film endgültig ins Allgemeine. Der Speicher, auf dem sich der Mörder alias Peter Lorre versteckt, ist als Schauplatz nicht an Straße, Stadtteil oder Metropole gebunden, die finalen gleichsam jenseitigen locations werden also nicht mehr konkretisiert, auch nicht die aufgelassene Fabrik (Abb. 24), in der dem gestellten Triebtäter durch die Unterwelt der Prozeß gemacht wird. Zweierlei aber ist noch zu bemerken. Einerseits gehört es zwar zum Standard des Polizeifilms, dass hinter dem Schreibtisch des Fahnders ein Stadtplan hängt,7 und da er einmal dort hängt, wird er auch alle Szenen grundieren oder Abb. 25-27 dominieren, in denen der Kommissar am Schreibtisch nachdenkt. Insofern kann Fritz Lang in späteren Sequenzen den Berlin-Plan symbolisch nutzen (Abb. 25-26), indem im Vordergrund Kommissar Lohmann mit allen Gesten intensiver Reflexion bildlich darum bemüht ist, die Kontrolle über den Fall zu gewinnen. Zwar wendet er sich nicht dem Plan zu, denn dieser hilft ihm nicht mehr bei der Fahndung; dafür sitzt er gewissermaßen im Plan. Und dass dieser Eindruck durch die Kamera, die zuweilen mehr diesen Plan als den kaffetrinkenden Kommissar zu inszenieren scheint, kein Zufall ist, beweist vollends eine geradezu experimentelle Einstellung, in der Lang Lohmann in Untersicht zeigt (Abb. 27), derangiert an seinem Schreibtisch hockend, und zwar genau so, dass wiederum hinter ihm der Stadtplan zur Gänze ins Bild rückt. Vielleicht ist es übertrieben, hier eine ironische Referenz an frühneuzeitliche Figuren vor (Stadt-)Landschaften zu vermuten – jedenfalls wird in verschiedenen Perspektiven stets der Polizist und hinter ihm abbreviaturhaft die Stadt als Plan gezeigt, eine ambivalente Formulierung, insofern der Plan einerseits die unbeherrschbare Megalopolis verkörpert, den Heuhaufen gleichsam, in dem eine Stecknadel zu suchen nahezu zwecklos scheint, andererseits aber auch genau das Mittel, mit dem dieses vermeintliche Chaos der Kontrolle unterworfen

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Vgl. in diesem Band Jörg Dünnes Beitrag zu Le Samouraï. 20

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Abb. 28

wird. Gerade deshalb ist es in Kraussers Sinn vielleicht präfaschistisch zu lesen, wenn beide Seiten der Gesellschaft in einem fatalen Konsens die lückenlose Fahndung der Stadt durchexerzieren, und zwar mit Erfolg.8 Freilich sind es die Verbrecher, deren Boss im Ledermantel, ikonisch konzentriert im Symbol der raumgreifenden Lederhand, dieses Suchsystem perfektionieren. Jason Lutes übernimmt zitathaft eine solche Optik in seinen Comic berlin steinerne stadt (2001), wo dieser schildert, wie der Vizepräsident der Berliner Polizei, Bernhard Weiß, am 1. Mai 1929 seine Anordnungen zur Eindämmung der Arbeiterdemonstrationen gibt (Abb. 28).9 Die Berliner Stadtpläne suggerieren in M demnach Repräsentativität, Normalität, Kontrolle. Ab wann hätte man ihr Fehlen bemerkt? Merkwürdig genug, dass in Fassbinders Berlin Alexanderplatz, der fast ausschließlich im Studio und in allenfalls ähnlichem Ambiente Kreuzbergs, das aber immer kleinteilig gefilmt werden mußte, um nicht den wirklichen Schauplatz zu verraten, produziert wurde, kaum Kompensation durch Stadtpläne erfolgt. – Und noch ein Zweites fällt auf – wenn es auffällt, eine Pointe gewissermaßen, die Lang oder sein Requisiteur in den Film einbaute, und die endgültig den Subtext aus Stadtplänen bestätigt, der M nachweislich durchzieht, im Sinne totaler Erfassung des Raums sogar prägt. Als nämlich der Wachmann sich befreit hat und der Polizei mitteilt, in welchem Bürogebäude der Ringverein gerade den Mörder Hans Beckert stellt, da hängt an der Bürowand neben der Tür noch ein anderer Plan, den man bisher nicht sehen konnte. Er wird in Sekundenschnelle aus dem Bild verschwunden sein; wer indes die hier erkennbare Topographie (Abb. 29) vergleicht, wird sofort bemerken, dass es sich nicht um Berlin handeln kann. Warum aber sollte der Berliner Kommis-

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Vgl. Farocki/Hoffmann: Peter Lorre. Das doppelte Gesicht. Jason Lutes: berlin steinerne stadt. Hamburg: Carlsen 2003, S. 194f. 21

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sar im Büro den Plan einer anderen Stadt aufhängen? Dies gibt nur einen Sinn, wenn man die minimale Szene als versteckten Verweis auf den real-historischen Hintergrund von M liest. Und in der Tat: Was in Lohmanns Büro, dem Berlin-Plan offenbar schräg gegenüber, an der Wand hängt, ist, identifizierbar durch das charakteristische Rheinknie und die dunkle Schneise des von Norden ins Stadtzentrum führenden Schienenstrangs, ein Stadtplan von Düsseldorf (Abb. 30),10 jener Stadt, in der Peter Kürten seine Taten begangen hatte.11 Fritz Lang hatte eine Spurensuche inszeniert und nicht darauf verzichten können, selbst eine Spur zu legen. Das junge Medium Tonfilm verschmolz er dafür subtil Abb. 29-30 mit dem Medium Stadtplan. Es ist eine Binsenweisheit aller Selbstreferenz, dass der zweidimensionale, plane Film sich damit in größtmögliche identifikatorische Nähe zum planen Medium der Kartographie wagt. Solche medialen crossovers werden in späteren Jahrzehnten – etwa bei Peter Greenaway (Prospero’s Books) vom Film in Richtung Buch oder umgekehrt bei Mark Danielewski (House of Leaves) vom Buch in Richtung Film – Standard, M aber ist als Stadtplanfilm eine ziemlich innovative Idee gewesen.

10 Meyers Lexikon. 7. Aufl. 3. Bd. Leipzig: Bibliographisches Institut 1925, Sp. 1127f. 11 Die italienische Fassung von M verrät kurzerhand diese Pointe, indem sie dem Film den zusätzlichen Untertitel »Il mostro di Düsseldorf« hinzufügt. 22

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Literatur Krausser, Helmut: Januar. Tagebuch des Januar 2001. Februar. Tagebuch des Februar 2002, Reinbek: Rowohlt 2003. Krausser, Helmut: Mai. Tagebuch des Mai 1992. Juni. Tagebuch des Juni 1993, Reinbek: Rowohlt 1995. Lutes, Jason: berlin steinerne stadt. Hamburg: Carlsen 2003. Meyers Lexikon. 7. Aufl. 3. Bd. Leipzig: Bibliographisches Institut 1925. Patalas, Enno: Metropolis in/aus Trümmern. Eine Filmgeschichte, Berlin: Bertz 2001.

F il m e M (D 1931, Regie Fritz Lang) Metropolis (D 1927, Regie: Fritz Lang) Peter Lorre. Das doppelte Gesicht (BRD 1984, Regie: Harun Farocki/ Felix Hofmann)

Abbildungen Alle Bilder Screenshots aus den Filmen M und Metropolis, außer: Abb. 28: Jason Lutes: berlin steinerne stadt. Hamburg: Carlsen 2003, S. 195. Abb. 30: Meyers Lexikon. 7. Aufl. 3. Bd. Leipzig: Bibliographisches Institut 1925, Sp. 1127f.

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FLANIEREN

MIT DEM

S T A D TP L A N ?

L I T E R A R I S C HE P E R I P A TE T I K U N D D I E K A R T O G R A P H I E D E R G R OS SS T A DT CHRISTIAN MOSER »Flanieren mit dem Stadtplan?« Ich bin mir dessen bewusst, dass die im Titel meines Beitrags aufgeworfene Frage leicht als rhetorische Frage (miss-)verstanden werden kann. Die Tätigkeit des Flanierens scheint mit dem Gebrauch des Stadtplans nur schwer vereinbar zu sein. Denn der Flaneur bewegt sich nach landläufigem Verständnis zwang-, ziel- und planlos durch den städtischen Raum. »I walk about, not to and from«, auf diese Formel bringt Charles Lamb in seinen Essays of Elia den Bewegungsmodus des Flanierens.1 Wer dagegen mit dem Stadtplan bewehrt durch die Straßen läuft, der gibt zu erkennen, dass er nicht müßiggeht, sondern ein konkretes Ziel verfolgt, oder – schlimmer noch – der outet sich als Tourist. Von dieser verachteten Spezies des Stadtgängers will der Flaneur sich unter allen Umständen absetzen – vielleicht, weil sie ihm in mancherlei Hinsicht nur allzu sehr verwandt ist. Lässt sich der Tourist durch den Stadtplan von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten navigieren, wobei er, den Kopf über die Karte oder den Reiseführer gebeugt, den Raum zwischen den touristischen Stätten gar nicht mehr bewusst wahrnimmt, so markiert eben dieser Zwischenraum – das Verbindungsmedium der Straße – für den Flaneur die eigentliche Hauptattraktion: Die Straße ist die Bühne, auf der der Zufall ihm flüchtige Schauspiele des urbanen Lebens zuträgt;2 seine Gedanken hängen ihnen nach, bis die nächste Erscheinung sie in eine andere Richtung lenkt. Einer solchen freien Bewegung der Gedanken wie auch der Beine scheint der Stadtplan, der den städtischen Raum der normierenden Herrschaft der Zahl und des Maßes unterwirft, Gewalt anzutun.

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Charles Lamb: Elia and The Last Essays of Elia, hg. von Jonathan Bate, Oxford, New York: Oxford UP 1987, S. 225. Zur Straße als Bühne für den Flaneur vgl. Deborah Epstein Nord: »The City as Theater: From Georgian to Early Victorian London«, in: Victorian Studies 31 (1988), S. 159-188. 25

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Es mag daher abwegig erscheinen, nach möglichen Zusammenhängen zwischen der Praxis des Flanierens und der Kartographie der Großstadt zu fragen. Doch mit genau dieser Frage möchte ich mich im Folgenden auseinandersetzen. Um sie sinnvoll erörtern zu können, ist es freilich erforderlich, sich von vorgefassten Meinungen hinsichtlich der Figur des Flaneurs wie auch der Repräsentationsform des Stadtplans zu befreien. Hinsichtlich des Flaneurs zum einen: Das Bild, das man sich gegenwärtig von dieser Figur macht, steht noch immer im Banne der eindrucksvollen Studien Walter Benjamins.3 Benjamin ist es zu verdanken, dass man die Gestalt des Flaneurs in erster Linie mit dem Œuvre des französischen Dichters Charles Baudelaire assoziiert und sie infolgedessen an eine spezifische kulturelle Topographie, eine bestimmte historische Epoche und eine konkrete architektonische Figuration gebunden sieht, nämlich an das Paris des 19. Jahrhunderts, genauer: das Paris der Passagen. Neuere Forschungsarbeiten haben sich jedoch erfolgreich darum bemüht, den Flaneur aus diesem beschränkten Kontext herauszulösen.4 Sie zeigen auf, dass der Typus des Müßiggängers, der sich – zumeist zu Fuß – durch die Straßen bewegt, um das urbane Leben in seinen vielfältigen Erscheinungsformen zu beobachten, in allen westlichen Metropolen anzutreffen ist – und dies nicht erst im 19. Jahrhundert, sondern (in diversen Vorformen) bereits seit dem Ausgang der Renaissance. Da nur eine derartige Erweiterung des Blickfelds den Zusammenhang zwischen der Flanerie und der urbanen Kartographie sichtbar zu machen vermag, werde ich im folgenden auf Beispieltexte aus drei verschiedenen Jahrhunderten eingehen. Und um ein Gegengewicht zur Dominanz des Pariser Flaneurs zu schaffen, beabsichtige ich, mich dabei vor allem mit peripatetischen Streifzügen durch das neuzeitliche London zu beschäftigen. Hinsichtlich des Stadtplans zum anderen: Das Verhältnis zwischen Flanerie und Kartographie lässt sich nur dann, wie eingangs in karikatu-

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Zur Kritik an der einseitigen Orientierung der Forschung an Benjamin vgl. Harald Neumeyer: Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1999, S. 14-25. Vgl. etwa Dana Brand: The Spectator and the City in Nineteenth-Century American Literature, Cambridge u.a.: Cambridge UP 1991 (insbesondere das Kapitel The Development of the Flaneur in England, S. 14-40); Deborah Epstein Nord: Walking the Victorian Streets. Women, Representation, and the City, Ithaca, London: Cornell UP 1995; Matthias Kreidel: Die Wiederkehr der Flaneure. Literarische Flanerie und flanierendes Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006; H. Neumeyer: Der Flaneur; Deborah L. Parsons: Streetwalking the Metropolis. Women, the City, and Modernity, Oxford: Oxford UP 2000. 26

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ristischer Überzeichnung geschehen, als Gegensatz beschreiben, wenn man eine spezifische Form des Stadtplans zugrundelegt – des Stadtplans nämlich als einer maßstabsgetreuen, planimetrischen Darstellung des urbanen Raumes, die das System der Straßen und Plätze exakt verzeichnet, die Gebäude hingegen stark vereinfacht wiedergibt, indem sie sie ihrer vertikalen Dimension beraubt. Der uns heute geläufige planimetrische Stadtplan ist aber nur eine von vielen möglichen Formen der urbanen Kartographie. Besondere Bedeutung für die Praxis des Flanierens besitzt etwa, wie zu zeigen sein wird, der historische Vorläufer des planimetrischen Stadtplans, der perspektivisch gezeichnete ›Ansichtsplan‹ (›mapview‹), der in der Renaissance die dominierende Form der urbanen Kartographie markiert. Um den Zusammenhang zwischen Flanerie und Stadtplan zu ergründen, ist es folglich notwendig, der Verschiedenheit der kartographischen Repräsentationsformen Rechnung zu tragen. Jede dieser Repräsentationsformen kodifiziert, wie Louis Marin in seiner Analyse utopischer Raumkonstruktionen aufgezeigt hat, eine spezifische Perspektive auf die Entität der Stadt.5 Der Blick, den der Flaneur auf das urbane Leben richtet, ist kein naiver oder ›natürlicher‹ Blick, der seinen Gegenstand unvermittelt erfasst. Er steht vielmehr im kulturellen Kraftfeld der kartographisch vorgegebenen Perspektiven. Der Flaneur orientiert sich – sei es positiv in Form einer Adaption, sei es negativ in Form der Ablehnung und der Entwicklung von Alternativen – an dem Repertoire der Blickwinkel, das ihm die urbane Kartographie zur Verfügung stellt. Da der Blick des Flaneurs und der daran gekoppelte Bewegungsmodus konstitutive Bedeutung für eine spezifische Form der neuzeitlichen Großstadtliteratur besitzt, ergeben sich zugleich Interferenzen zwischen der kartographischen und der literarischen Repräsentation der Stadt. Es wird also zu untersuchen sein, wie der kartographisch programmierte Blick das Beobachtungsverhalten des Flaneurs beeinflusst und auf welche Weise dieses wiederum in ein literarisches Schreibverfahren umgesetzt wird.

1 . Ro b er t B ur t o n u nd d er A n s i c ht s p l a n d er R en a i s s a n c e Untersuchungen zur Geschichte des literarischen Spaziergangs datieren die Anfänge des Genres zumeist auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhun-

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Vgl. Louis Marin: Utopiques. Jeux d’espaces, Paris: Minuit 1973, S. 257290. 27

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derts.6 Sie verweisen gerne auf Texte wie Jean-Jacques Rousseaus Les rêveries du promeneur solitaire oder Johann Wolfgang von Goethes Die Leiden des jungen Werthers, denen der Status von Gründungsurkunden zuerkannt wird. Dabei wird jedoch in der Regel übersehen, dass es eine ältere Traditionslinie der literarischen Peripatetik gibt, die bis in die Antike zurückreicht.7 Diese Tradition bestimmt den Spaziergang als Bestandteil einer Ethik oder Diätetik des Lesens. Das Gehen erscheint als ein Instrument der ›meditatio‹; es unterstützt die memorative und kontemplative Aneignung des Gelesenen, die in Analogie zum physischen Vorgang der Verdauung gesehen wird. Besondere Bedeutung erlangt der Spaziergang als Heilmittel gegen ›Verdauungsstörungen‹. Dazu zählt etwa die Melancholie, die als eine typische Krankheit des Gelehrten – des notorischen Vielessers und Viellesers – bestimmt wird. Eine der Hauptursachen der Melancholie ist, wie der englische Gelehrte Robert Burton in seiner monumentalen Abhandlung The Anatomy of Melancholy (1621) erklärt, der durch »overmuch Study« hervorgerufene Bewegungsmangel, mit dem eine physische und geistige Dyspepsie verbunden ist: »melancholy men most part have good appetites, but ill digestion«.8 Als ein Gegenmittel empfiehlt er die »deambulatio per amœna loca« – »to walk amongst orchards, gardens, bowers, mounts, and arbours« (AM II 74).

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Vgl. etwa Wolfgang Koebner: »Versuch über den literarischen Spaziergang«, in: Wolfgang Adam (Hg.): Das achtzehnte Jahrhundert. Facetten einer Epoche. Festschrift für Rainer Gruenter, Heidelberg: Winter 1988, S. 39-76; Helmut J. Schneider: »Selbsterfahrung zu Fuß. Spaziergang und Wanderung als poetische und geschichtsphilosophische Reflexionsfigur im Zeitalter Rousseaus«, in: Jürgen Söring/Peter Gasser (Hg.): Rousseauismus. Naturevangelium und Literatur, Frankfurt/Main u.a.: Lang 1999, S. 133-154; Kurt Wölfel: »Andeutende Materialien zu einer Poetik des Spaziergangs. Von Kafkas Frühwerk zu Goethes Werther«, in: Theo Elm/Gerd Hemmerich (Hg.): Zur Geschichtlichkeit der Moderne. Der Begriff der literarischen Moderne in Theorie und Deutung. Festschrift für Ulrich Fülleborn, München: Fink 1982, S. 69-90. Zu dieser Traditionslinie vgl. Christian Moser: »›You must walk like a camel‹. Kurze Geschichte des literarischen Verdauungsspaziergangs«, in: Axel Gellhaus/Christian Moser/Helmut J. Schneider (Hg.): Kopflandschaften. Landschaftsgänge. Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs, Köln, Weimar: Böhlau 2007, S. 51-82. Robert Burton: The Anatomy of Melancholy, hg. von Holbrook Jackson, London, Toronto: Dent 1972, Bd. 1, S. 300-301., Bd. 2, S. 27. – Die Stellennachweise zu The Anatomy of Melancholy erfolgen fortan unter der Sigle AM mit Angabe der römischen Bandziffer und der arabischen Seitenziffer parenthetisch im Anschluss an die Zitate. 28

FLANIEREN MIT DEM S TADTPLAN?

Burton hält sich allerdings nicht lange damit auf, die Heilkraft des Gehens in freier Natur zu erörtern. Als ein noch effektiveres Pharmakon preist er vielmehr den Spaziergang durch den bebauten, kulturell markierten Raum an. Insbesondere das Gehen in der Stadt vermag seiner Auffassung nach die Melancholie zu bekämpfen, da es dem Betrachter ein abwechslungsreicheres Schauspiel bietet als das Gehen durch die Natur: »It will laxare animos, refresh the soul of man, to see fair-built cities, streets, theatres, temples, obelisks, etc.« (AM II 76) Das Beispiel, das Burton für einen solchen therapeutischen Stadtgang anführt, macht jedoch stutzen. Er verweist auf das biblische Jerusalem mit seinem gewaltigen Tempel, das sowohl von außen (»[from] afar off«, AM II 76) einen prächtigen Eindruck vermittele als auch in seinem Inneren (»[in its] inner parts«, AM II 76). Wie, so fragt man sich, soll es möglich sein, eine Stadt aus der Ferne zu betrachten und in ihrem Inneren zu durchlaufen, die in dieser Form seit Jahrhunderten nicht mehr existiert? In der Argumentation Burtons hat offenbar erneut eine Verschiebung stattgefunden: Nachdem die Stadt das Land als peripatetischer Schauplatz verdrängt hat, tritt nun die durch Bücher vermittelte Erkundung der Stadt an die Stelle des konkreten Stadtgangs. Das biblische Jerusalem lässt sich nur über das Medium des Buches kennenlernen. Tatsächlich spricht Burton in der Folge unverblümt aus, dass das Studium dem Spaziergang als Heilmittel überlegen ist: »But amongst those exercises or recreations [...], there is none [...] so fit and proper to expel idleness and melancholy, as that of study.« (AM II 86) Das wirksamste Heilmittel gegen die durch übermäßiges Studium hervorgerufene Melancholie ist paradoxerweise das Studium. Allerdings vermag das Studium den Spaziergang aus seiner therapeutischen Funktion nicht ganz zu verdrängen. In der unter dem Stichwort ›Studium‹ geführten Liste der Tätigkeiten, die laut Burton dazu geeignet sind, die Schwermut zu vertreiben, taucht das Gehen weiterhin an prominenter Stelle auf: »What so full of content, as to read, walk, and see maps [and] pictures [...]?« (AM II 86) Burton deutet an, dass es sich hierbei nicht um eine Aufstellung von Tätigkeiten handelt, die unabhängig voneinander ausgeübt werden sollen. Er hat vielmehr eine Praxis im Sinn, die das Lesen mit dem Sehen und dem Gehen verbindet – ein peripatetisches Lesen/Sehen sozusagen. Die Tätigkeit, die eine derartige Synthese zu leisten vermag, ist das Studium von »maps«, das imaginäre Reisen auf der Landkarte. »What greater pleasure can there now be,« so fragt Burton, »than to view those elaborate maps of Ortelius [...]? To peruse those books of cities, put out by Braunus and Hogenbergius?« (AM II 89) Um seine Vorstellung von einem peripatetischen Studium zu erläutern, verweist Burton somit auf zwei bahnbrechende Unternehmungen der früh-

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neuzeitlichen Kartographie: auf den ersten Weltatlas, Abraham Ortelius’ Theatrum orbis terrarum, sowie auf den ersten Städteatlas, die von Georg Braun, einem mit Ortelius befreundeten Kölner Geistlichen, und dem flämischen Kupferstecher Frans Hogenberg herausgegebenen Civitates orbis terrarum, die zwischen 1572 und 1612 in sechs Bänden erschienen.9 Die Stadtdarstellungen, die in dieser Sammlung enthalten sind, sind zum größten Teil sog. Ansichtspläne. Sie kombinieren eine Grundrisszeichnung des urbanen Raums mit einer Aufrisszeichnung der Gebäude, so dass der Betrachter einen Einblick in das horizontale System der Straßen und Plätze erlangen, zugleich aber auch eine Vorstellung von der vertikalen Dimension der Stadt, von der Architektur ihrer Gebäude gewinnen kann.10 Braun selbst erläutert die Vorteile dieser Repräsentationsform in der Praefatio zum dritten Band der Civitates folgendermaßen: »Ea forma exhibeantur, quae vicos omnes, plateas, aedificia, areas spectatori manifeste ob oculos ponat« – dem Betrachter werden alle Stadtteile, alle wichtigen Straßen, Gebäude und Plätze unmittelbar vor Augen gestellt.11 In der deutschen Fassung der Civitates wird Braun hinsichtlich der Vorteile des neuen Darstellungsmodus noch deutlicher: »darzu die Contrafeytungen der Stätt und Flecken der gestalt fürgemahlt sind / daß der Leser in alle Gassen und Strassen sehen / auch alle gebäu und ledige platzen anschawen kann«.12 Laut Braun bietet die Kombination von Grundriss und Aufriss die Gewähr, dass der Betrachter sich einen Gesamteindruck von der Stadt verschaffen, aber gleichzeitig auch in alle Zum Stellenwert der Civitates innerhalb der Geschichte der urbanen Kartographie vgl. James Elliot: The City in Maps. Urban Mapping to 1900, London: The British Library 1987, S. 26-37; Jan Mokre: »Grundriß contra Aufriß: Die Stadt in der Kartographie«, in: Österreichische Nationalbibliothek u.a. (Hg.): Kartographische Zimelien. Die 50 schönsten Karten und Globen der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien: Holzhausen 1995, S. 1927, hier: S. 22. 10 Zu den besonderen Eigenschaften des perspektivisch gezeichneten Ansichtsplans vgl. die vorzügliche Studie von Lucia Nuti: »The Perspective Plan in the Sixteenth Century: The Invention of a Representational Language«, in: The Art Bulletin 76 (1994), S. 105-128. Siehe auch J. Mokre: »Grundriß contra Aufriß«, S. 22-24. 11 Ich zitiere die lateinische Fassung der Civitates nach der Ausgabe von 1599 (Exemplar der Universitätsbibliothek Bonn, Signatur M 2' 318/25). Vgl. Georg Braun: »Praefatio ad lectorem«, in: Georg Braun/Frans Hogenberg: Civitates orbis terrarum. Liber tertius, Köln 1599, unpaginiert. 12 Georg Braun: Vorrede, in: Georg Braun/Frans Hogenberg: Contrafactur und Beschreibung von den vornembsten Stetten der Welt. Liber tertius, Köln 1581, unpaginiert (Exemplar der Universitätsbibliothek Bonn, Signatur M 2' 318). Hervorhebungen von C.M. 9

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Straßen und Wege hineinblicken und die Details der architektonischen Ausstattung erkennen kann. Er sieht die Stadt, wie Burton mit Bezug auf das biblische Jerusalem sagt, nicht bloß von außen und aus der Ferne, sondern auch »[in its] inner parts«. Der Benutzer der Civitates hat sozusagen die Möglichkeit, mit seinen Augen auf den Wegen und Plätzen der abgebildeten Städte spazieren zu gehen. Der Ansichtsplan erlaubt ein Flanieren wenn nicht mit dem Stadtplan, so doch in dem Stadtplan, und instituiert solchermaßen eine ganz neue Form von Peripatetik: »Insonderheit weil man in disen büchern ganz frey und ohn alle forcht einiger beschmeissung böser sitten / spatzieren mag.«13 Es ist diese Form des imaginären, kartographisch angeleiteten Gehens, die Burton als heilsame Synthese von Studium und Erholung, belehrender und spielerischer Tätigkeit anpreist und der er, wie noch zu zeigen sein wird, einen paradigmatischen Status für seine eigene Schreibweise zuerkennt. Der Ansichtsplan markiert zwischen 1500 und 1650 die dominierende Form der urbanen Kartographie. Seine Sonderstellung verdankt er nicht zuletzt der Tatsache, dass er die Zusammenführung der von dem antiken Mathematiker Claudius Ptolemäus systematisch voneinander geschiedenen Disziplinen der Geographie und Chorographie betreibt.14 Erstere zielt, wie Ptolemäus im Eingangskapitel seiner Geographia erläutert,15 auf die Repräsentation des Weltganzen und beruht auf mathematischer Berechnung, letztere dagegen soll nur einzelne Teile des Ganzen erfassen und dabei auf bildliche Darstellungsformen zurückgreifen.16 Indem die ›map-view‹ den auf Messungen basierenden Grundrissplan mit der Aufrisszeichnung verknüpft, erzeugt sie eine hybride Einheit von geometrischen und pikturalen Repräsentationsmodi, von Karte und Bild, szientifischem Kalkül und künstlerischer Mimesis. Voraussetzung für das Gelingen einer solchen Synthese ist die virtuose Handhabung der perspektivischen Darstellungstechnik, wie sie einer der berühmtesten Ansichtspläne der Renaissance, Jacopo de’ Barbaris Ansicht von Venedig aus dem Jahre 1500, nahezu in Perfektion vorführt.17 Der Betrachter 13 Ebd. 14 L. Nuti: »The Perspective Plan«, S. 117; Barbara Ann Nadeo: »Topographies of Difference: Cartography of the City of Naples, 1627-1775«, in: Imago Mundi 56 (2004), S. 23-47, hier: S. 24. 15 Claudius Ptolemäus: Geographia, hg. von Karl Friedrich August Nobbe, Leipzig: Tauchnitz 1843-45, Ndr. Hildesheim: Olms 1966, S. 3-5. 16 Zur Bedeutung der ptolemäischen Unterscheidung für das »Zeichenregime der Kartographie« vgl. Robert Stockhammer: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur, München: Fink 2007, S. 16-18. 17 Zu Jacopo de’ Barbaris Ansichtsplan von Venedig vgl. Jürgen Schulz: »Jacopo de’ Barbari’s View of Venice: Map Making, City Views, and Moral31

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Abb 1: Jacopo de’ Barbari: Venetie MD (1500)

von de’ Barbaris Venedig-Plan gewinnt den Eindruck, dass ihm ein Standort oberhalb der Stadt zugewiesen wird, von wo aus er in steilem Winkel auf die Häuser und Straßen herabblickt (Abb. 1). Doch dieser Eindruck täuscht. »Such a wide and complex object cannot be anchored to one specific viewpoint and to one central visual ray«, so erklärt Lucia Nuti.18 Der Verfertiger eines Ansichtsplans operiert nicht mit einer Zentral- oder Linearperspektive, sondern er kombiniert und bündelt auf geschickte Weise eine Vielzahl perspektivischer Ansichten. Es existiert kein einheitlicher Standpunkt, von dem aus man die Stadt als Ganzes und gleichzeitig alle ihre Teile sehen kann. Dieser totalisierende Standpunkt ist, wie Louis Marin darlegt, weder außer- noch oberhalb der Stadt anzusiedeln, er ist vielmehr ein fiktiver Nicht-Ort, ganz buchstäblich eine Utopie.19

ized Geography before the Year 1500«, in: Art Bulletin 60 (1978), S. 425474. 18 L. Nuti: »The Perspective Plan«, S. 109. 19 L. Marin: Utopiques, S. 267. 32

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Für den synkretistischen Konstruktcharakter der durch den Ansichtsplan installierten Perspektive gibt es noch weitere Indizien. Bronwen Wilson macht darauf aufmerksam, dass einige ikonographische Details in de’ Barbaris Venedig-Ansicht – insbesondere die figürlich dargestellten Winde – als Anspielung auf alte Weltkarten zu entziffern sind, in denen Jerusalem als Zentrum des Universums präsentiert wird.20 Ein Ansichtsplan von Venedig, der das Frontispiz zu Giacomo Francos Habiti delle donne veneziane (1614) ziert, stellt die Stadt in sphärischer Form als ›orbis terrarum‹ dar, wobei die einzelnen Stadtteile den verschiedenen Erdteilen zugeordnet werden (Giudecca, zum Beispiel, entspricht dem neu entdeckten Amerika).21 Die Kartographie von Venedig ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Matthäus Merians Ansichtsplan von Paris aus dem Jahre 1615 ist in der linken unteren Ecke mit der folgenden Inschrift versehen: »Ceste ville est un autre monde / Dedans un monde florissant / En peuple et en biens puissant / Qui de toutes choses abonde.«22 Burtons Hinweis auf das biblische Jerusalem deutet in eine ähnliche Richtung. Der Ansichtsplan stellt die Stadt als Welt dar, als eine sich selbst genügende, in sich geschlossene Totalität. Er konstruiert eine Perspektive, die den göttlichen Allanblick der Erde simuliert. Doch zugleich hält er die Möglichkeit bereit, diesen totalisierenden Standpunkt nach Belieben wieder zu verlassen und sich in der vagabundierenden Betrachtung des einzelnen zu verlieren. Der Ansichtsplan kombiniert die kontemplative Schau eines geordneten Ganzen mit der spielerischen Erkundung des Partikularen. Burton sieht in der Wahrung einer solchen kartographisch geschulten Doppelperspektive nicht nur ein Schutzmittel gegen die Anfälle der Melancholie. Er erkennt ihr zudem eine Modellfunktion für sein eigenes Schreibverfahren zu. Das lässt sich der langen Vorrede zu The Anatomy of Melancholy entnehmen, in der Burton die Wahl seines Pseudonyms »Democritus Junior« begründet. Er bekundet seine Absicht, dem antiken Philosophen Demokrit nachzueifern, der es verstanden habe, »writing« und »walking«, ernsthaftes Studium und erholsames Vergnügen in ein Gleichgewicht zu bringen (AM I 20) – dadurch nämlich, dass er seine Wohnstatt am Rande der Stadt Abdera, »in a garden in the suburbs« aufgeschlagen habe, wo er ungestört seinen naturphilosophischen Forschun-

20 Bronwen Wilson: »Venice, print, and the early modern icon«, in: Urban History 33 (2006), S. 39-64, hier: S. 45-46. 21 Ebd., S. 51. 22 Zit. nach Catherine Bousquet-Bressolier: »Matthäus Merian’s 1615 Map of Paris: Its Structure, Decoration and Message«, in: Imago Mundi 58 (2006), S. 48-69, hier: S. 60. 33

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gen nachgehen konnte, aber bei Bedarf auch die Möglichkeit besaß, in das belebte Hafenviertel hinabzusteigen (»[to] walk down to the haven«), um sich am Anblick der Menschen und Dinge zu delektieren (AM I 16). Burton will sich dieses Zugleich von Abstand und Nähe zu eigen machen. Er möchte den totalisierenden Standpunkt eines distanzierten Zuschauers einnehmen – »in some high place above you all, like Stoicus sapiens omnia saecula [...] videns, uno velut intuito, [...] a mere spectator of other men’s fortunes and adventures« (AM I 18).23 Doch zugleich reklamiert er für seinen Geist die Freiheit, ziellos in den Niederungen des Alltäglichen, Trivialen oder gar Abseitigen umherzuschweifen (»now and then to walk abroad, look into the world«, AM I 19). Er attestiert sich selbst »a roving humour«; seine Gedanken besäßen die Neigung, sich, »like a ranging spaniel«, in jede Kleinigkeit zu verbeißen (AM I 17). »Qui ubique est, nusquam est« (AM I 17) – der Geist, der statische Distanz mit dynamischem Vagabundieren synthetisiert, ist überall und nirgends, zu diesem Fazit gelangt Burton. Nicht zufällig ist das eine adäquate Beschreibung der durch den Ansichtsplan codierten Perspektive, versetzt sie den Betrachter eines solchen Plans doch in ein exterritoriales Nirgendwo, das seinen Augen Zugang zu jedem einzelnen Punkt der dargestellten Stadt gewährt, sie mithin überallhin vordringen lässt. Dass Burton sich bei der Charakterisierung seiner Denk- und Schreibweise tatsächlich an einem kartographischen Dispositiv orientiert, legt eine bekenntnishafte Äußerung nahe, die er in diesem Zusammenhang artikuliert: »I never travelled but in map or card, in which my unconfined thoughts have freely expatiated« (AM I 18).

23 Burton spielt hier auf eine Meditationstechnik der stoischen Philosophie an, den ›Blick von oben‹. Dabei versetzt sich der Philosoph imaginativ an einen Standort in großer Höhe, von wo aus die Welt und alle ihre Bestandteile klein und nichtig erscheinen. Auf diese Weise übt er sich in die von der stoischen Lehre geforderte Haltung der Gleichgültigkeit gegenüber den mundanen Gegenständen ein. Der ›Blick von oben‹ ist, wie Jörg Dünne glaubhaft zu machen vermag, durch ein spezifisches kartographisches Dispositiv präformiert. Vgl. Jörg Dünne: »Kartographische Meditation. Mediendispositiv und Selbstpraxis in der Frühen Neuzeit«, in: Jörg Dünne/Christian Moser (Hg.): Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien, München: Fink 2008, S. 331-351. Zum stoischen Meditationsverfahren des ›Blicks von oben‹ vgl. auch Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, aus dem Französischen von Ilstraut Hadot u. Christiane Marsch, Berlin: Gatza 1991, S. 123135. 34

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2 . » M r . S p e c t a t o r « u nd d er p l a ni m e t r is c h e S t a d t p l a n Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verliert der Ansichtsplan an Bedeutung. Er wird zunehmend durch die planimetrische Stadtkarte verdrängt. In der Geschichtsschreibung der Kartographie wird dieser Wandel häufig zu einem Sieg der Wissenschaft über die Kunst stilisiert und auf die Entstehung des neuzeitlichen Rationalismus zurückgeführt. 24 Doch die Ursachen für den Aufstieg des planimetrischen Stadtplans sind vielschichtig; ein klarer historischer Bruch lässt sich im Grunde nicht feststellen. Tatsächlich ist der planimetrische Plan keine Erfindung des Rationalismus oder der Aufklärung, sondern der Renaissance. Einer der ältesten Grundrisspläne, die auf exakter Vermessung und Berechnung beruhen, eine Karte der italienischen Stadt Imola, stammt aus der Feder von Leonardo da Vinci.25 Planimetrische Kartierungen des urbanen Raumes bilden zudem – im Wortsinne geradezu – die geometrische Grundlage der dreidimensionalen Ansichtspläne. Folglich ist es nicht zutreffend zu behaupten, dass der Ansichtsplan im 18. Jahrhundert durch die planimetrische Stadtkarte ersetzt werde. Richtiger müsste man formulieren, dass dem Ansichtsplan die bildhaften Elemente weitgehend ausgetrieben werden und er somit auf seine geometrische Basis reduziert wird. Diese Tendenz steht in Wechselwirkung mit einer Vielzahl komplexer kultur-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Entwicklungen, wird aber mitunter auch durch kontingente Ereignisse befördert. In England etwa trägt der verheerende Brand, dem die Metropole London im Jahre 1666 zum Opfer fällt, maßgeblich zum Durchbruch des planimetrischen Plans bei.26 Die London-Karte von John Leake und Wenceslaus Hollar wurde unmittelbar nach der Katastrophe hergestellt und sollte das Ausmaß der Zerstörung dokumentieren.27 Sie ist eine Mischung aus Ansichtsplan und planimetrischer Karte – die vom Feuer verschonten Teile der Stadt werden im Aufriss, die zerstörten Bezirke dagegen im Grund24 J. Elliot: The City in Maps, S. 51–66; J. Mokre: »Grundriß contra Aufriß«, S. 23-25; L. Nuti: »The Perspective Plan«, S. 120. 25 Vgl. John A. Pinto: »Origins and Development of the Ichnographic City Plan«, in: Journal of the Society of Architectural Historians 35 (1976), S. 35-50 (zu Leonardo: S. 38-42). 26 Peter Whitfield: London. A Life in Maps, London: The British Library 2006, S. 55: »One of the incidental effects of the Great Fire was to hasten a cartographic revolution in England.« 27 An Exact Survey of the Streets and Lanes and Churches Contained within the Ruines of the City of London First described in Six Plates, London 1669. 35

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riss wiedergegeben.28 Die planimetrische Repräsentation gehorcht in diesem Fall noch nicht rein mathematischen Prinzipien – ein mimetischer Impuls ist vielmehr auch in ihr noch spürbar: Der nackte Grundriss veranschaulicht die Vernichtungskraft des Feuers, das die Stadt ihrer vertikalen Dimension beraubt hat. Nur zehn Jahre später, in einer Stadtkarte von John Ogilby, die in dem Ruf steht, »the first truly accurate map of London« zu sein,29 hat sich die geometrische Grundrisszeichnung des gesamten urbanen Raumes bemächtigt.30 Nicht das Feuer, sondern die Mathematik hat der Stadt auf dieser Karte ihr physiognomisches Antlitz entrissen (Abb. 2). Beim Wiederaufbau des zerstörten London ist es ein Hauptanliegen der Stadtplaner, die Straßen zu vergrößern und zu begradigen. Sie folgen damit nicht allein den Erfordernissen des Brandschutzes, auch ökonomische Erwägungen spielen eine Rolle. Zu den historischen Faktoren, die den Aufstieg der planimetrischen Stadtkarte befördern, gehört die Entstehung einer frühen Form der kapitalistischen Warenwirtschaft. Die Stadt interessiert nicht mehr bloß als Abbild einer statisch aufgefassten kosmischen oder sozialen Ordnung, die über die symbolische Valenz der Häuserfassaden sichtbar gemacht werden kann, sondern auch als Ort eines beschleunigten Umschlags von Gütern, eines Knotenpunktes des Warenzirkulation.31 Der Verkehr – Verkehrswege und Verkehrsmittel – gewinnt an Bedeutung. Der planimetrische Stadtplan trägt dieser Verschiebung der Gewichte Rechnung, indem er die Darstellung der Verkehrswege gegenüber der Repräsentation der Gebäude hervorhebt. Die wichtigsten Symbole, mit denen er operiert, sind weiße (oder helle) Flächen zur Kennzeichnung der Straßen und Plätze sowie schwarze (oder dunkle) Flächen (»solid black block[s]«) zur Kennzeichnung des bebauten Raumes (Abb. 2).32 Das Netzwerk von Straßen, auf denen Waren bewegt, und von Plätzen, auf denen sie umgeschlagen werden, hebt sich deutlich erkennbar als lichter Freiraum der Bewegung von dem dunklen Hinter-

28 Vgl. dazu Felix Barker/Peter Jackson: The History of London in Maps, New York, London, Paris: Cross River Press 1992, S. 33-35. 29 Ebd., S. 38. – Zu Ogilbys Karte vgl. auch Ida Darlington/James Howgego: Printed Maps of London circa 1553-1850, London: George Philip 1964, S. 22-25. 30 John Ogilby/William Morgan: A large and accurate Map of the City of London, ichnographically describing all the Streets, Lanes, Alleys […] and Houses […], London 1676. 31 Vgl. B.N. Nadeo: »Topographies of Difference«, S. 37-38. 32 Ebd., S. 38; vgl. auch L. Marin: Utopiques, S. 266. 36

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Abb. 2: John Ogilby/William Morgan: A large and accurate Map of the City of London (Ausschnitt; Guildhall Library, City of London)

grund ab, der die Gebäude der Stadt als undifferenzierte und undurchdringliche Masse, als Verkehrshindernis mithin, markiert. Die durch den planimetrischen Plan installierte Perspektive befördert diese Tendenz zur Aufwertung der Verkehrswege: Jeder einzelne Punkt der Stadt erscheint aus dem Blickwinkel einer vertikalen Aufsicht; jeder einzelne Punkt wird in seiner relativen Position gleichermaßen transparent gemacht.33 Dadurch ist es möglich, nicht nur (wie im Ansichtsplan) in die Straßen hineinzublicken und ihrem Verlauf auf einem imaginären Spaziergang zu folgen, sondern das Netzwerk der Straßen zu überblicken und als kohärentes Wegesystem wahrzunehmen. Dieser Überblick ist von anderer Qualität als die Totalansicht, die der dreidimensionale Plan vermittelt. Die planimetrische Karte verzichtet darauf, die unendliche Vielzahl der vertikalen Aufsichten, die ihre Repräsentation der Stadt konstituieren, in einem fiktiven Standpunkt zu bündeln. Der Betrachter des planimetrischen Stadtplans ist sozusagen überall, aber nicht zugleich auch in einem utopischen Nirgendwo. In welcher Beziehung steht nun der planimetrische Stadtplan zur literarischen Peripatetik? Gibt es eine Form des Gehens durch den urbanen Raum, die diesem kartographischen Repräsentationsmodus korrespondiert und die durch ihn kodifizierte Perspektive in eine Beobachtungs33 Vgl. B.N. Nadeo: »Topographies of Difference«, S. 24; L. Marin: Utopiques, S. 266. 37

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praxis zum einen, ein Schreibverfahren zum anderen umsetzt? Oder muss man das Verhältnis zwischen Peripatetik und planimetrischem Stadtplan als eines der Opposition charakterisieren? Ein Vorgänger des Flaneurs, wie ihn die Großstadtliteratur des 19. Jahrhunderts konzipiert, ist Mr. Spectator, jene von Joseph Addison und Richard Steele erfundene Kunstfigur, die der zwischen März 1711 und Dezember 1712 im Tagesrhythmus publizierten Zeitschrift The Spectator ihren Namen gegeben hat.34 Mr. Spectator fungiert als Sprachrohr für die Erörterung moralischer, politischer und ästhetischer Fragestellungen; seine Beobachtungen werden einem bürgerlich-aufgeklärten Publikum in der neuen Form des ›periodical essay‹ kundgegeben. Vordergründig betrachtet, hat Mr. Spectator eine gewisse Ähnlichkeit mit der von Robert Burton gewählten ›persona‹ des »Democritus Junior«. Wie Democritus Junior geriert sich Mr. Spectator als ein distanzierter und unparteiischer Beobachter des praktischen Lebens: Thus I live in the World, rather as a Spectator of Mankind, than as one of the Species; by which means I have made my self a Speculative Statesman, Soldier, Merchant, and Artizan, without ever medling in any Practical Part in Life.35

Doch während Democritus einen Standpunkt des totalisierenden Überblicks außer- und oberhalb der Stadt einnimmt (»in some high place above you all«), den er nur gelegentlich verlässt, um sich durch das Schauspiel des urbanen Lebens zerstreuen zu lassen, logiert Mr. Spectator mitten in der Metropole London (»in the World«), in der er unablässig unterwegs ist. Er geht auf Tuchfühlung mit den Bewohnern der Stadt und wahrt dabei doch stets eine innere Distanz.36 Er schaut den Aktivitäten der Bürger zu, ohne unmittelbar daran teilzunehmen. Democritus hält Abstand von der Stadt; Mr. Spectator hält Abstand in der Stadt. Tatsächlich ist es auffällig, dass The Spectator keinen einzigen Essay enthält, in dem der Protagonist den Versuch unternimmt, die Gesamtanlage der Stadt durch einen Blick aus der Höhe oder Ferne zu erfassen. Eine Ausnahme scheint lediglich Nr. 383 zu bilden. Doch hier ist es be34 Zu Mr. Spectator als seiner Vorläuferfigur des Flaneurs vgl. D. Brand: The Spectator and the City, S. 31-40. 35 Joseph Addison/Richard Steele: The Spectator, hg. von Gregory Smith, London: Dent 1964, Bd. 1, S. 5. – Die Stellennachweise zu The Spectator erfolgen fortan unter der Sigle S mit Angabe der römischen Bandziffer und der arabischen Seitenziffer parenthetisch im Anschluss an die Zitate. 36 Zu dieser sorgfältig kultivierten Haltung des inneren ›detachment‹ vgl. D. Brand: The Spectator and the City, S. 33-34. 38

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zeichnenderweise nicht Mr. Spectator, sondern sein Freund Sir Richard de Coverly, der Vertreter eines alten, aristokratischen und ländlichen England, der während einer Bootsfahrt auf der Themse das Panorama der Hauptstadt studiert, um an ihrem Erscheinungsbild den Verfall der Sitten abzulesen: In den neuen westlichen Stadtteilen, so erklärt er, seien kaum Kirchtürme zu erkennen – »There is no Religion at this End of the Town.« (S III 198) Diese quasi-physiognomische Lektüre des Stadtbilds, die dem Zeichencharakter der Fassaden Rechnung trägt, erscheint Mr. Spectator obsolet. Er schaut nicht auf die Stadt, sondern bewegt sich in ihr. Die Personen, denen er in den Straßen begegnet, oder die Plätze und Institutionen, die er besichtigt, bilden den Ausgangspunkt für seine moralistischen Betrachtungen und spekulativen Gedankenausflüge: die Bettler, die ihn um Almosen angehen und ihn zu Überlegungen über das Für und Wider von »charity« herausfordern (Nr. 232), die Prostituierte, die ihm in Covent Garden ihre Dienste offeriert und ihn dazu anregt, einen »Discourse upon Wenches« zu entwerfen (Nr. 266), oder ein Besuch in der Bank, der zu ökonomischen Reflexionen Anlass gibt (Nr. 3). Mr. Spectator ist ein mobiles Auge, das die Stadt durchstreift; seine Beobachtungen beleuchten partielle Aspekte des urbanen Lebens in seiner prismatischen Vielfalt. Dennoch vermeidet er es, sich in der Betrachtung von Einzelheiten zu verzetteln und im Labyrinth der Straßen verloren zu gehen. Mr. Spectator behält den souveränen Überblick, der aber seiner Struktur nach nichts mehr mit der totalisierenden Schau zu tun hat, wie sie durch den Ansichtsplan der Renaissance programmiert wird. In zwei Essays wird die spezifische Verfasstheit dieses Überblicks besonders deutlich vor Augen geführt. In Nr. 454 (S III 401-405) schildert Mr. Spectator eine Tour, die ihn in einem Zeitraum von vierundzwanzig Stunden durch ganz London führt. Noch in der Nacht bricht er dazu auf. Den Ausgangspunkt bildet der kleine Ort Richmond, ein paar Meilen vor den Toren der Metropole gelegen. Hier gesellt sich Mr. Spectator zu den Gemüsebauern, die ihre Waren auf Boote verladen, um sie den Märkten der großen Stadt zuzuführen. Er betritt London also über eine der Hauptverkehrsadern, die Themse. Mr. Spectator lässt sich vom Strom der Güter und Menschen tragen, die auf diesem Wege in die Stadt gespült werden. An der StrandBridge verlässt er das Boot und begibt sich im Gefolge der Bauern und Händler auf den Hauptmarkt von London, Covent-Garden. Dort beobachtet er mit Vergnügen den Umschlag der Waren. Die müßige Bewegung zu Fuß erlaubt es ihm zunächst, den Weg der Güter weiterzuverfolgen (»I strolled from one Fruit-shop to another«, S III 403), das Gehen bringt aber auch die Gefahr einer Stockung der Fluktuation mit sich: Mr. Spectator wird von einem Bettler angehalten, der ihn zu einem unöko-

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nomischen Verhalten (dem Geben von Almosen) nötigen, das heißt: den Tauschverkehr obstruieren will. Mr. Spectator entzieht sich der Gefahr, indem er eine Kutsche besteigt. Dieses schnellere Verkehrsmittel erlaubt es ihm zudem, die Verfolgung einer Dame aufzunehmen, die ihm in der Menge der Passanten aufgefallen war. Aufgrund seiner überlegenen Kenntnis des Londoner Straßensystems gelingt es Mr. Spectator, der Dame den Weg abzuschneiden und einen entlarvenden Blick auf sie zu werfen. Die nächste Station auf seinem Rundweg ist einer seiner Lieblingsorte in der Metropole – die Royal Exchange. Sie ist ein weiterer Knotenpunkt des Handelsverkehrs – diesmal nicht des regionalen, sondern des internationalen Handels. Erneut zieht Mr. Spectator von Stand zu Stand, um zu beobachten, wie Waren aus aller Herren Länder den Besitzer wechseln. Nr. 403 ist nicht weniger aufschlussreich als Nr. 453. Mr. Spectator reflektiert zunächst auf die unterschiedlichen Sitten und Mentalitäten, die sich bei den Bewohnern der verschiedenen Stadtteile Londons ausgebildet haben: »When I consider this great City in its several Quarters and Divisions, I look upon it as an Aggregate of various Nations distinguished from each other by their respective Customs, Manners and Interests.« (S III 254) Mr. Spectator greift somit die alte Vorstellung von der Stadt als Welt wieder auf, wie sie den Ansichtsplänen der Renaissance zugrundeliegt. Diese Welt droht jedoch ihr einheitliches Gepräge zu verlieren und in eine Vielzahl partikularer Entitäten zu zerfallen. Mr. Spectator versteht es, die Gefahr der Fragmentierung abzuwehren. Er erlangt einen Überblick, indem er sich diesmal nicht an die Knotenpunkte des Güterverkehrs, sondern des Nachrichtenverkehrs begibt. Eine politische Neuigkeit – der Tod des französischen Königs – bietet dazu den willkommenen Anlass. Mr. Spectator sucht nacheinander die wichtigsten Kaffeehäuser in den diversen Stadtvierteln der Metropole auf und belauscht dort die politischen Gespräche, in denen die Nachricht aus Frankreich thematisiert wird. Auf diese Weise verschafft er sich einen Überblick über die unterschiedlichen Denkweisen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Er kartiert sozusagen die Vielfalt der Londoner Mentalitäten. In beiden Essays zeigt Mr. Spectator auf, wie es ihm gelingt, Überblick über das Ganze des städtischen Lebens zu gewinnen. In beiden Fällen ist dieser Überblick nicht mit einem Blick von oben gleichzusetzen. Wichtig ist die horizontale Bewegung innerhalb eines Netzwerks von Straßen und Plätzen, nicht jedoch das vertikale Oszillieren zwischen einer erhöhten Position außerhalb und einem beschränkten Standpunkt im Inneren. Mr. Spectator frequentiert die Knotenpunkte in einem System von Wegen, auf denen Güter und Nachrichten zirkulieren. Er sucht diese

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Knotenpunkte nacheinander auf, bemüht sich aber darum, den dazwischenliegenden Raum auf dem günstigsten Wege und mit den schnellsten Verkehrsmitteln zu überwinden. Sein Ideal besteht also darin, gleichzeitig überall, das heißt auf allen Straßen und Plätzen präsent zu sein, um den Kreislauf der Waren und Menschen in seiner Totalität zu erfassen. Was in den Räumen geschieht, die sich zwischen den Wegen befinden, interessiert ihn hingegen weniger. Sie bleiben in seiner Darstellung dunkel, abstrakt und schemenhaft – so schemenhaft wie die schwarzen Blöcke, die im planimetrischen Stadtplan die bebauten Flächen repräsentieren. Der planimetrische Stadtplan bildet somit die Matrix für die Beobachtungstätigkeit und Gedankenbewegung von Mr. Spectator. Die Totalität der Stadt ist für ihn die Totalität eines Netzwerks mit privilegierten Knotenpunkten, wie ihn ein solcher Stadtplan darbietet. Mr. Spectator ist fasziniert von der Zirkulation der Waren- und Menschenmengen, die London so durchströmen, wie der Blutstrom durch den menschlichen Körper pulsiert. Der Blutkreislauf, den William Harvey in De motu cordis 1628 erstmals systematisch beschrieben hatte, avanciert im 17. und 18. Jahrhundert zu einer Modellvorstellung, die, wie der Urbanist Richard Sennett aufzeigt, nicht nur für das ökonomische Denken, sondern auch für die Stadtplanung große Relevanz besitzt.37 Es ist kein Zufall, dass der Aufstieg der planimetrischen Karte in den Zeitraum fällt, in dem der Städtebau sich an dem Modell des Blutkreislaufs orientiert. Harveys Modell impliziert die Annahme eines motorischen Zentrums, das den Kreislauf in Gang hält: Das Herz sorgt dafür, dass das Blut unablässig in Bewegung bleibt. Auch für Mr. Spectator ist der Warenkreislauf ohne eine zentrale Triebkraft nicht vorstellbar. London, das Zentrum nationaler und internationaler Verkehrsströme, besitzt demnach seinerseits ein klar markiertes Zentrum: »the Centre of the City, and Centre of the World of Trade, [is] the Exchange of London« (S III 404).38 Indem Mr. Spectator die Royal Exchange als das Zentrum von London ausweist, begibt er sich ein eine auffällige konzeptuelle Nähe zu dem Plan, den der berühmte Baumeister Christopher Wren für den Wiederaufbau der Stadt nach dem großen Brand von 1666 entwickelt hatte. Dieser in planimetrischer Form erstellte Plan sah vor, London mit einem Netzwerk breiter Boulevards und großer Piazzas zu überziehen, das auf die Royal Exchange hin zentriert werden sollte.39 Wrens Plan einer radikalen Umge37 Richard Sennett: Flesh and Stone. The Body and the City in Western Civilization, New York, London: Norton 1994, S. 255-281. 38 Zu Mr. Spectators Vorliebe für die Royal Exchange vgl. auch D. Brand: The Spectator and the City, S. 35-36. 39 Zur kultur- und sozialgeschichtlichen Signifikanz von Wrens Wiederaufbauplan vgl. Richard Lehan: The City in Literature. An Intellectual and 41

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staltung der Stadtanlage wurde jedoch nicht realisiert. Anstatt die Royal Exchange zum Zentrum der Stadt zu erheben, zog man es vor, das überkommene Straßensystem in seinen Grundzügen beizubehalten und den alten Mittelpunkt, die St. Paulskathedrale, erneut mit der Würde der Zentralposition zu bekleiden. Wenn Mr. Spectator die Royal Exchange gleichwohl als Zentrum tituliert, dann zeigt das, wie sehr sein Blick auf die Stadt durch die Prinzipien des planimetrischen Plans bestimmt wird – und nicht etwa durch ihr ›reales‹ Erscheinungsbild. Während Democritus Junior imaginäre Spaziergänge auf dem Ansichtsplan vollführt, bewegt sich Mr. Spectator bei seinen essayistischen Erkundungen der bürgerlichen Werte- und Warenwelt in einem Netzwerk von Wegen, das ihm die planimetrische Stadtkarte vorgezeichnet hat.

3 . T he G r ea t Wo r l d o f L o n d o n Es ist offenkundig, dass der moderne Flaneur in vielerlei Hinsicht in die Fußstapfen von Mr. Spectator tritt. Wie sein Vorgänger aus dem 18. Jahrhundert fühlt er sich magisch vom Strom der Menschen und Güter in den Hauptverkehrsstraßen der Metropole angezogen. In einem The Londoner betitelten Essay für die Morning Post aus dem Jahre 1802 schildert Charles Lamb die Lust, die es ihm bereitet, auf der Fleet Street in diesen Strom einzutauchen und die vielen kleinen geschäftlichen Transaktionen, die an jeder Ecke stattfinden (»the obliging Customer, & and the obliged Tradesman – [...] things which exist but for homage«), zu beobachten. 40 Lambs Zeitgenosse Thomas de Quincey verfährt ganz ähnlich. Im ersten Teil seiner Confessions of an English Opium-Eater, einer autobiographischen Analyse seiner Opiumsucht, beschäftigt sich de Quincey mit The Pleasures of Opium. Zu diesen zählt vor allem das im Rauschzustand unternommene Durchstreifen der Metropole London. Während das Rauschmittel in seinem Körper zirkuliert, zirkuliert de Quincey durch das NetzCultural History, Berkeley, Los Angeles: University of California Press 1998, S. 26-27.; zur Signifikanz seiner Nicht-Verwirklichung vgl. Christian Moser: »Einleitung: Die Metropole – azentrisches Zentrum«, in: C.M. u.a. (Hg.): Zwischen Zentrum und Peripherie. Die Metropole als kultureller und ästhetischer Erfahrungsraum, Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 11-22, hier: S. 18-19; zur Kartographie der Wiederaufbaupläne nach dem großen Brand vgl. F. Barker/P. Jackson: The History of London in Maps, S. 36-37. 40 The Letters of Charles and Mary Anne Lamb, hg. von Edwin W. Marrs, Vol. II, Ithaca, London: Cornell UP 1976, S. 57-59, hier: S. 57 (zitiert nach der Transkription des Essays, die Lamb eigenhändig für seinen Freund Manning anfertigte und diesem brieflich übersandte). 42

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werk der großen Straßen und lässt sich vom Strom der Menschen auf die Marktplätze treiben, wo er bis spät in die Nacht dabei zuschaut, wie die einfachen Leute ihren hart verdienten Lohn gegen Güter eintauschen.41 Der nächtliche Heimweg steht dann jedoch im Zeichen einer ganz anderen Form von Zirkulation. De Quincey orientiert sich dabei nicht mehr am Wegesystem, das der planimetrische Stadtplan ihm vorgibt, sondern am Sternenhimmel: Some of my rambles led me to great distances; for an opium-eater is too happy to observe the motion of time. And sometimes in my attempts to steer homewards, upon nautical principles, by fixing my eye on the pole-star, and seeking ambitiously for a north-west passage, instead of circumnavigating all the capes and head-lands I had doubled in my outward voyage, I came suddenly upon such knotty problems of alleys, such enigmatical entries, and such sphynx’s riddles of streets without thoroughfares, as must, I conceive, baffle the audacity of porters, and confound the intellect of hackney-coachmen. I could almost have believed, at times, that I must be the first discoverer of some of these terrae incognitae, and doubted, whether they had yet been laid down in the modern charts of London.42

De Quincey evoziert an dieser Stelle das alte Motiv von der Stadt als Welt, das auf den Ansichtsplan der Renaissance verweist. Sein Flaneur blickt aber weder distanziert auf diese Welt herab, noch frequentiert er als ein Paar mobiler Augen die Knotenpunkte des Verkehrssystems, das sie erschließt. Er geriert sich vielmehr als Weltumkreiser und Entdecker, der in unkartierte Bereiche vorstößt. Die Stadt als Welt beinhaltet auch neue, fremde Welten. De Quinceys nächtlicher Wanderer erkundet die schemenhaften schwarzen Blöcke, die auf dem planimetrischen Stadtplan den Raum zwischen den Straßen und Plätzen ausfüllen. Tatsächlich stellen diese schwarzen Blöcke für den Flaneur des 19. Jahrhunderts ein bevorzugtes Terrain dar. Charles Dickens etwa stilisiert den Stadtgänger in seinen Sketches by Boz zu einem Entdecker und Erforscher verborgener Welten, der die diversen urbanen Milieus, selbst wenn sie ihm in Wirklichkeit bereits vertraut sein sollten, stets so wahrzunehmen versucht, als sähe er sie zum ersten Mal.43 Der »Scot-

41 Thomas de Quincey: Confessions of an English Opium-Eater and Other Writings, hg. von Grevel Lindop, Oxford: Oxford UP 1985, S. 47. 42 Ebd., S. 47-48. 43 Vgl. D. Brand: The Spectator and the City, S. 48: »In virtually all the sketches, Boz enters an environment like an explorer, observing and describing its particular features and customs as if it were a place no one had ever seen before, rather than a familiar part of London.« 43

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land Yard« gewidmete Text aus den Sketches bietet dafür ein gutes Beispiel. Dickens bemüht sich zunächst darum, dieses Stadtviertel – unter Rekurs auf die planimetrische Karte – möglichst exakt zu lokalisieren, indem er die Verkehrswege nennt, die es von allen Seiten begrenzen: die Themse, Northumberland-Street, Whitehall-Place, The Strand.44 Obwohl diese Verkehrswege täglich von unzähligen Menschen frequentiert werden, erweist sich das Gebiet, das sie (als einen schemenhaften Block) umschließen, als vollkommen unbekannt: »When this territory was first accidentally discovered , [...] the original settlers were found to be a tailor, a publican, two eating-house keepers, and a fruit-pie maker; and it was also found to contain a race of strong and bulky men, who repaired to the wharfs in Scotland-yard regularly every morning«.45 Scotland Yard erscheint als ein fremdartiges, noch kaum kolonialisiertes Land, in dem einige wenige Pioniere der Zivilisation (und der Zirkulation – die Ladenbesitzer und Händler) mit einem exotischen Stamm von Ureinwohnern (den Werftarbeitern) zurechtzukommen versuchen. Der Flaneur sieht es als seine Aufgabe an, die geographischen und ethnographischen Daten dieses unbekannten Landes aufzunehmen, ehe es ganz von der Landkarte verschwindet: Denn die Werften von Scotland Yard sind, wie am Schluss der Skizze mitgeteilt wird, in ihrer Existenz durch den Bau einer neuen großen Themsebrücke gefährdet – der schwarze Block wird einem weißen Balken weichen müssen.46 Diese ›ethnographische‹ Variante der Flanerie, der sich Dickens mit spielerischer Ironie hingibt, wird von anderen mit großem, fast schon wissenschaftlichem Ernst betrieben. In erster Linie wäre da der Journalist und Schriftsteller Henry Mayhew zu nennen, mit dem ich meinen kleinen Ausblick auf die literarische Flanerie des 19. Jahrhunderts abschließen möchte. Mayhew unternimmt es in London Labour and the London Poor und in The Criminal Prisons of London, das unbekannte London der Armenviertel, Vorstädte und Gefängnisse zu sondieren. Bei dem Versuch, die Lebensweise der Armen detailliert zu beschreiben, gelangt er zu der Einsicht, dass diese vermeintlich amorphe Masse aus einer unüberschaubaren Vielzahl von Gruppen besteht, die jeweils über eigene Sitten und Gebräuche verfügen. Wer die schwarzen Blöcke genauer unter die Lupe nimmt, kann London nicht mehr als Einheit wahrnehmen. Um dieser zentrifugalen Tendenz entgegenzuwirken, versucht Mayhew noch einmal die totalisierende Perspektive des frühneuzeitlichen Ansichtsplans mitsamt der zugehörigen Vorstellung von der Stadt als Welt wiederzubele44 Charles Dickens: Sketches by Boz, hg. von Dennis Walder, London u.a.: Penguin 1995, S. 84. 45 Ebd., S. 85. 46 Ebd., S. 87-88. 44

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ben. In der Einleitung zu The Criminal Prisons of London, die bezeichnenderweise den Titel The Great World of London trägt,47 projiziert er die Karte von London auf die Weltkarte: Viewing the Great Metropolis [...] as an absolute world, Belgravia and Bethnal Green become the opposite poles of the London sphere – the frigid zones, as it were, of the Capital [...]. Of such a world, Temple Bar is the unmistakable equator, dividing the City hemisphere from that of the West End, and with a line of Banks, representative of the Gold Coast, in its immediate neighbourhood.48

Abb. 3: The Great World of London

Diese Korrelation von Stadt- und Erdteilen wird durch eine Illustration flankiert, welche die Wahrzeichen der modernen Metropole (die Kuppel der St. Paulskathedrale, die rauchenden Schlote der Fabriken, die Masten der Handelsschiffe) einem stilisierten Erdkreis einzeichnet (Abb. 3). Doch Mayhews Versuch einer karto- und ikonographischen Einheitsstiftung, die sich an die alte Stadt-Welt-Gleichung anlehnt, ist zum Scheitern verurteilt. Die Gleichung ruft in ihm den Gedanken an die immensen Unterschiede hervor, die zwischen den Kontinenten der Erde und ihren Völkern obwalten, und erinnert ihn somit an die unüberwindlichen Differenzen, die die verschiedenen Bevölkerungsgruppen Londons voneinander trennen:

47 Diese Gleichsetzung von London mit der Welt hat im 19. Jahrhundert Konjunktur. In den vierziger Jahren publiziert John Fisher Murray eine Reihe von literarischen Skizzen über das Leben in der Metropole unter dem Titel The World of London. Darin schildert auch er die Schwierigkeiten, die es dem Betrachter bereitet, die Metropole als Einheit wahrzunehmen: »This is the great difficulty, to see London at one view; it is a many-headed monster, with a different physiognomy to every head.« (John Fisher Murray: The World of London. A New Series, London: Richard Bentley 1845, S. 28.) 48 Henry Mayhew/John Binny: The Criminal Prisons of London and Scenes of Prison Life, London: Griffin, Bohn and Co. 1862, S. 4. 45

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[T]he metropolitain people differ from one another – as much as if they belonged to different races – not only in their manners and customs, as well as religion, but in their forms of speech; for [...] there is some species of cant or other appertaining to every distinct circle of society.49

Unter den Augen des Kartographen zerfällt The Great World of London wieder in seine einzelnen Bestandteile. Daher unternimmt Mayhew im zweiten Teil der Einleitung einen weiteren Versuch der Einheitsstiftung. Diesmal berichtet er von einem Ballonflug über London, der ihm die Möglichkeit verheißt, die unübersehbare Vielfalt der Stadt »into one harmonious and varied scene« zu bringen.50 Doch auch dieser Versuch misslingt: Aus der Höhe betrachtet, offenbart sich London dem Ballonfahrer nicht als geordnete Struktur, als ein Ganzes aus Teilen, die durch Verkehrswege zugleich miteinander verbunden und voneinander geschieden werden. Je höher der Ballonfahrer steigt, desto gestaltloser wird vielmehr die Stadt: »all blent into one immense black spot – [...] it dwindled into a mere rubbish heap«.51 Aus der Höhe hat London das Ansehen einer planimetrischen Karte, die nur aus einem einzigen undurchdringlich-schwarzen Block besteht. Die Weltkarte von London erzeugt Differenzen ohne umgreifende Einheit; der Höhenblick dagegen generiert eine abstrakte Einheit, die der Differenzierung entbehrt. Karte und Bild, die im Ansichtsplan der Renaissance vereinigt sind, finden nicht mehr zueinander. Aber selbst das Scheitern dieser Synthese bezeugt die suggestive Wirkung, welche die alte Repräsentationsform des Ansichtsplans auf den modernen Flaneur des 19. Jahrhunderts noch auszuüben vermag.

49 Ebd., S. 6. 50 Ebd., S. 7. 51 Ebd., S. 9. 46

FLANIEREN MIT DEM S TADTPLAN?

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CHRISTIAN MOSER

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Abbildungen Abb. 1: Aus: Jürgen Schulz: »Jacopo de’ Barbari’s View of Venice: Maß Making, City Views, and Moralized Geography before the Year 1500«, in: Art Bulletin 60 (1978), S. 426 (Ausschnitt). Abb. 2: Aus: John Ogilby/William Morgan: A large and accurate Map of the City of London, ichnographically describing all the Streets, Lanes, Alleys […] and Houses […], London 1676. (Ausschnitt; Guildhall Library, City of London) Abb. 3: Aus: Henry Mayhew/John Binny: The Criminal Prisons of London and Scenes of Prison Life, London: Griffin, Bohn and Co. 1862, S. 3.

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ÜBER

S T A D T -P L A N  T E X T -P L A N ? KARTOGRAPHIE, ÉCRITURE UND ›MENTAL M A P P I N G ‹ I N D E R P A R I SL I T E R A TU R 1781 B I S 1969 ANGELIKA CORBINEAU-HOFFMANN »Mit dem Stundenplan hast Du mir eine Freude gemacht. Ich studiere ihn wie eine Landkarte. Wenigstens eine Sicherheit.« Kafka an Milena

Die Spanne der Daten macht es deutlich: Der zu unternehmende Gang durch mehr als zweihundertfünfzig Jahre literarischer Parisdarstellung wird kaum das geruhsame Schlendern des Flaneurs erlauben, sondern eher den raschen Schritt des eiligen Reisenden erfordern, der dem ›Prinzip vitesse‹1 huldigt (oder nachläuft…). Bis hin zum Rand der Postmoderne, umfasst die Zeit von 1781 (Merciers Tableau de Paris) bis 1969 (Modianos La Ronde de nuit) die Geschichte der Moderne am Beispiel jener Metropole, von der sie ihren Ausgang nahm. Bei dieser Geburt der Moderne aus dem Geist der Metropole ist freilich die möglicherweise mäeutische Funktion der Kartographie bislang im Verborgenen geblieben2 – die Frage nach dem durch den Stadtplan3 generierten Plan literari-

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Paul Virilios Versuch, die Geschichte der Menschheit als Geschichte sich erhöhender Geschwindigkeiten zu schreiben, erbringt u.a. folgenden, auf die kommenden Überlegungen passenden (und deren Fragmentarität zugleich entschuldigenden) Befund: »Die Bewegkraft wird […] zu einem Phänomen der Zerlegung schlechthin, wobei nichts mehr in seinem Zustand verharren kann […].« Paul Virilio: Der negative Horizont. Bewegung – Geschwindigkeit – Beschleunigung, aus dem Französischen von Brigitte Weidmann, München u.a.: Hanser 1989, S. 163. Eine generelle Bibliographie zum Thema ›Stadt und Literatur‹ verbietet sich aus Raumgründen. In neuerer Zeit spielt, ausgehend von Michel Butors La ville comme texte, aus dem Franz. von Helmut Scheffel, Graz, Wien: Droschl 1992, die Frage nach der ›Textualität‹, dem ›Lesen und 51

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scher Werke, darüber hinaus diejenige nach der Planbarkeit von Texten und schließlich jene nach dem ›mental mapping‹, in dem der Leser4 Stadt- und Textplan ineinander aufgehen lässt. Die Akkumulation der Aspekte mag schon jetzt, am Anfang der Überlegungen, deren Ausrichtung und Ausgang signalisieren, damit nicht weniger unterstellend als eine analoge Anlage, einen Gleichklang von Stadt-Plan und Text-Plan – dabei aber zugleich die Unmöglichkeit erahnen lassen, den Gegenstand einzuholen.5 Die Landkarte, schrieb Elmar Schenkel, sei »gleichsam die Totenmaske« seines Besuches in Prousts Combray.6 Aus der farbigen Lebendigkeit eines gleichermaßen topographischen und literarischen StadtBildes werden die schwarzen Linien auf ge- und entfaltetem Papier. Denkt man hier weiter, werden auch die Buchstaben auf dem Papier zu leichenhaften Relikten des lebendigen gesprochenen Wortes:7 das literarische Werk als Grab, die Literaturgeschichte als Friedhof, die Landkarte als Totenmaske, wenn auch nur ›gleichsam‹ – nicht auszudenken, was aus jenen wird, die sich hiermit beschäftigen: Totengräber? Doch kann nicht die Bezugsetzung der Land- oder Stadtkarte zu deren realem Referenten, die Transposition der Kartographie in die ›écriture‹ zu einer Verlebendigung führen, die Schenkel, selbst Autor und Literaturwissenschaftler, befremdlicherweise aussparte und sich deshalb der Erfahrung einer Quasi-Mortifikation aussetzte? Das Thema ›Literatur und Landkarte‹ enthält, so die Ausgangs(hypo)these, Potenziale der Verlebendigung auch dann, wenn Großstädte als Orte gesteigerter Vitalität auf dem

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Schreiben‹ der Stadt eine besondere Rolle. (Vgl. z.B. Reinhold Alber: New York Street Reading – Die Stadt als beschrifteter Raum, Diss. masch., Tübingen 1997.) Dieses Textualitäts-Konzept ist dem kartographischen Ansatz entfernt verwandt, da auch hier eine graphisch-flächige Vorstellung der Stadt gegeben ist. Der Stadtplan von Paris hat der leichteren Handhabbarkeit willen längst die Form eines nach Arrondissements aufgeteilten Büchleins, ›guide‹ genant, angenommen, das dem Fremden, nach einem ›plan de Paris‹ fragend, zu seiner Überraschung als durchaus praktische Alternative angeboten wird. Auch hier gilt, wie für alle meine sonstigen Arbeiten: Die Leserin ist mit gemeint. Von den Dimensionen der Paris-Literatur gibt die große Untersuchung von Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München u.a.: Hanser 1993, eine Vorstellung. Elmar Schenkel: »Illiers-Combray«, in: E.S.: Die andere Reise. Prosa, Buchenbach: Nachtcaféverlag 1980, S. 60-64. Das ist der Ansatz von Derridas ›Schrift‹-Konzept; vgl. Jacques Derrida: De la grammatologie, Paris: Les Editions de Minuit 1967, bes. S. 15-21. 52

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Stadtplan still gestellt und schließlich in Texten konserviert werden; das ›mental mapping‹, als Konzept der Kartographie und der ›écriture‹ angefügt, steht für die Übersetzung graphischer Zeichen in Bilder und beleuchtet von anderer Seite das imaginäre Potenzial der Literatur. Freilich: Die zu gewinnenden Ergebnisse stehen im Zeichen der Vorläufigkeit, denn es bedürfte einer breiteren Materialbasis, als sie der gegebene Rahmen erlaubt, um die Übersetzbarkeit von Stadt-Plänen in Textintentionen, der graphischen Zeichen in Schrift-Zeichen zu belegen, die in ihrer Komplexität noch überboten werden von den imaginären Karten, erwachsend aus dem Prozess der Rezeption. Das Konzept der ›mental maps‹ oder kognitiven Karten,8 in der Kognitionswissenschaft wegen seiner Unschärfe nicht unumstritten, kann sich aus eben diesem Grund für die kommenden Überlegungen als hilfreich erweisen. Soll es die Art und Weise räumlicher Vorstellungen bezeichnen, mit denen sich der Mensch9 in vor allem fremder Umgebung orientiert, so werden im gegebenen Fall diese Vorstellungen ganz konkret durch ›Karten‹, Beschreibungen von Örtlichkeiten innerhalb der Metropole Paris, ausgelöst.10 Während der Autor eine bestimmte Straße, einen Platz oder ein Stadtviertel benennt oder beschreibt, ermöglicht er dem Leser, sich diesen Ort zu vergegenwärtigen: durch das Studium eines Stadtplans, durch Abbildungen, durch eigene Erinnerungen – zusammen, einzeln oder in verschiedenen Kombinationen. Während ›mental map‹ eine Metapher ist (mit den vorhersehbaren Irritationen für den wissenschaftlichen Gebrauch), erlaubt ihre Anwendung innerhalb des

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Das Letztere ist die gängige deutsche Übersetzung des Ersteren. – oder auch: ein Tier; denn das Konzept wurde 1948 durch Edward C. Tolman geprägt und im Zusammenhang mit Forschungen an Ratten entwickelt: »Cognitive Maps in Rats and Men«, in: Psychological Review 55, 4, (1948), S. 189-208. 10 Die Verbindung von ›mental mapping‹ und Kartographie der Stadt ist bislang in der Forschung noch nicht sehr stark besetzt. Vgl. aber, gleichsam als Anfang, die Übertragung der ›mental maps‹ auf die Orientierung in der Stadt: Kevin Lynch: Das Bild der Stadt, aus dem Amerikanischen von Henni Korssakoff-Schröder und Richard Michael, Basel, u.a.: Birkhäuser 2007 (zuerst Cambridge/Mass. 1960); Mark May: Mentale Modelle von Städten. Wissenspsychologische Untersuchungen am Beispiel der Stadt Münster, Münster u.a.: Waxmann 1992 (insgesamt sehr kritisch bis ablehnend dem Konzept gegenüber) sowie, in komplexer Perspektivierung: Nina Möntmann/Yilmaz Dziewior (Hg.): Mapping a City, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004. In diesem Band u.a. der für unser Thema einschlägige Beitrag von Tom McDonough: »Wahnhaftes Paris. Kartieren als paranoischkritische Tätigkeit«, S. 58-70. 53

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gegebenen Zusammenhangs die Rückführung der uneigentlichen Begriffsverwendung in die eigentliche: Ein ›mental map‹ wäre jene innere Karte, in welche der Leser die ihrerseits auf konkrete Örtlichkeiten bezogenen Beschreibungen von Paris übersetzt.11 Aus dem Stadtplan, dem Textplan und dem kognitiven Plan zusammengesetzt, entsteht ein dreifach geschichteter Stadt-Komplex, von dem sich schon jetzt vermuten lässt, dass er den gewohnten, medial gesicherten Verlauf des Diskurses unterminiert: Legt man an die Metropolen den Maßstab an, könnte aus dem ›Erzählen mit dem Stadtplan‹ unversehens ein anderer Diskurs entstehen … Für die von Deleuze und Guattari entwickelte Vorstellung der ›Plateaus‹ spielt die Karte eine konstitutive Rolle. Ungleichartige, koexistierende Realitäten gehen in die Konzeption einer Schichtung ein: Sich vielfach durchkreuzende, in ihrem Verlauf irreguläre Linien bilden eine Fläche; aus dieser Bewegung entstehen weitere Flächen, treten zueinander in instabile Verbindungen, entflechten sich, kommen wieder zusammen. Auf die Literatur übertragen,12 ergeben sich Kartierungen verschiedener Art – zunächst auf der Ebene eines Textes, darüber hinaus im Zusammenspiel verschiedener Texte, schließlich im mentalen Innenraum des Rezipienten. Ähnlich wie die ›mille plateaux‹ können Textelemente oder ganze Texte übereinander geschichtet, gegeneinander verschoben werden, wieder auseinander fallen, sich erneut und nunmehr anders anordnen. Die Labilität der jeweiligen Anordnung führt dazu, dass zahlreiche, oftmals freilich nur kurzlebige Schichtungen möglich sind. Deshalb ist das Konzept der ›mille plateaux‹ gut geeignet, der Literaturgeschichtsschreibung eine neue Ausrichtung zu verleihen: Die Literaturgeschichte

11 Dabei ergibt sich jene in der Kognitionswissenschaft unterschiedlich beantwortete Frage, ob die inneren Karten als konkrete Bilder oder vielmehr als abstrakte Schemata zu interpretieren seien. Neisser unterscheidet zwischen kognitiven Landkarten und Vorstellungsbildern; vgl. Ulrich Neisser: Kognition und Wirklichkeit. Prinzipien und Implikationen der kognitiven Psychologie, Stuttgart: Klett-Cotta 1979, bes. Kap. 7. Für die Literaturwissenschaft ist indes der auf Bilder und Vorstellungen bezogene Begriff der ›mental map‹ schon deshalb geeigneter, weil andernfalls die wechselseitige Übertragung von Karte(n) und Texten nicht nur kaum vorstellbar, sondern auch, abstrakte Schemata vorausgesetzt, wenig ergiebig wäre. Im Unterschied zu Neisser verstehen Downs und Stea das Kartieren als Abbildung; vgl. Roger M. Downs/David Stea: Kognitive Karten. Die Welt in unseren Köpfen, aus dem Amerikanischen von Daniela und Erika Geipel, New York: Harper & Row 1982, S. 91. 12 ... die hier, im Unterschied etwa zu Gilles Deleuzes Untersuchung Logique du sens, Paris: Les Editions de Minuit 1969, nicht gemeint ist. 54

STADT-PLAN  TEXT-PLAN?

wäre unter diesem Aspekt ein Prozess der Verschiebung, wenn nämlich die ›Platten‹ in Bewegung geraten; sie wäre aber auch, zumindest zeitoder epochenweise, eine Funktion der Schichtung, d.h. der in einer bestimmten Schichtung angeordneten ›plateaux‹. Nach dieser Konzeption fände die geschichtliche Dynamik sich verschiebender ›plateaux‹ ein Gegengewicht in der Überlagerung der Schichten, so labil diese auch sei. So würde der Verlauf der Literaturgeschichte immer wieder durchkreuzt, indem sich, die Zeiten überspannend, Analogien ebenso ergeben wie (im Sinne Deleuzes:) Differenzen.13

1 . M e r c i er : E in m o r a l is c h er S t a d t p l a n Beginnen wir mit dem Anfang. Die Großstadtdarstellung, sofern sie nicht aus Einzelbildern besteht, sondern in einem eigenen Diskurs verankert ist, setzt nicht in London, der beherrschenden Metropole der damaligen Zeit, sondern in Paris ein. Bevor Louis-Sébastien Mercier ab 1780 sein sich immer stärker amplifizierendes, schließlich im idyllischen Schweizer Neuchâtel auf 12 Bände anwachsendes Tableau de Paris verfasste, hatte er seine Geburtsstadt auf andere Weise literarisch konzipiert, ja recht eigentlich geplant: 1770 im utopischen, eine imaginäre Zeitreise enthaltenden L’an 2440. Rêve s’il en fût jamais. Das ideale Paris des Jahres 2440 ist ein durch und durch imaginiertes, das freilich, wenngleich in transformierter Weise, die Orte des realen Paris teilweise wieder aufruft: Im Alter von 700 Jahren sieht das sprechende Ich die Bastille geschleift,14 den Pont au change von seiner kleinlichen Bebauung befreit,15 die Sorbonne in einen Ort friedlicher und konstruktiver Zusammenarbeit der Gelehrten verwandelt16 (es handelt sich, wie bereits gesagt, um einen utopischen Text), und aus der Königlichen Bibliothek sind alle überflüssigen – und das heißt: bei weitem die meisten – Bücher verbannt.17 Schon hier spricht weniger der Träumer als jener Moralist, der wenig

13 Zu dem gegenüber Derrida anders gearteten ›Differenz‹-Begriff Deleuzes (Differenz als Voraussetzung für die Versöhnung des Einzelnen mit dem Allgemeinen) die fundierte Darstellung von Marc Rölli: Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus, Wien: Turia und Kant 2003, bes. Kap. IV.2.1: Metaphysik und Differenzphilosophie. 14 Louis Sébastien Mercier: L’an 2440, nouvelle édition, revue et corrigée par l’auteur, London 1774, S. 36. 15 Ebd., S. 33. 16 Ebd., S. 67. 17 Ebd., S. 189-190. 55

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später, ebenfalls in der Ich-Form, das Tableau de Paris18 schreiben wird. Voraussetzung dafür ist die Wendung von der Fiktion des utopischen Entwurfs in die Realität der konkreten Stadt, von der Romanform in jenen erst zu schaffenden Großstadt-Diskurs, der das Paris-Tableau als Gattungskonzept etabliert.19 Merciers Entdeckung der eigenen Stadt in all ihrer uneinholbaren Differenziertheit – und mithin jenseits der immer auch planbaren Utopie – erfolgt erst nach einer London-Reise, aus der 1774 die Schrift Parallèle de Paris et de Londres hervorgeht.20 Wurden im utopischen Roman nur gelegentlich bestimmte Orte der Stadt genannt und beschrieben (zumeist ging es um die allgemeinen Verbesserungen, vor allem solche im Verhalten der Menschen), scheint die Erfahrung der fremden Metropole Merciers Blick für die eigene Geburtsstadt geschärft zu haben, denn der Diskurs über Paris gewinnt fortan einen Elan, der die schon genannten zwölf Bände hervorbringt. Doch folgt das Tableau de Paris mit seinen kaum zu zählenden, oft winzigen Kapiteln wirklich einem Stadtplan, ja verfolgt Mercier überhaupt einen Plan? Sicher nicht im Sinne einer kartographischen Gliederung oder Ordnung, wohl aber in dem Bewusstsein einer konkreten Verortung des Diskurses. Er sei, schreibt Mercier, »tant couru pour faire le Tableau de Paris, que je puis dire l’avoir fait avec mes jambes […].« 21 Diese Art des Gehens ist eine wahre Kunst: Merciers durchaus körperlicher Kontakt mit Paris kennzeichnet nicht nur den Ursprung moderner Großstadtdarstellung, sondern leitet auch die Stadt-Erfahrung aus der Gang-Art des Protagonisten und, im Weiteren, dem ›Diskurs‹ des Textes ab. Offenbar verdankt sich die Entstehung dieses Buches einer Kunst des Gehens, die ipso passu eine authentische Weise der Beobachtung garantiert. Doch bringt die neue Gangart auch eine neue Sehweise hervor? Wie schon das Vorwort unmissverständlich darlegt, schildert das Buch nicht die berühmten Bauwerke; Merciers Tableau de Paris ist kei-

18 Merciers Tableau de Paris erschien zuerst, mit fingiertem Druckort Hamburg, in zwei Bänden 1781 und wuchs bis 1788 auf zwölf Bände an. Im Folgenden zitiert nach der Ausgabe Amsterdam 1788 (12 Bde.). 19 Vgl. hierzu Angelika Corbineau-Hoffmann: Brennpunkt der Welt. Großstadterfahrung und Wissensdiskurs in der pragmatischen Parisliteratur 1780 – 1830, Bielefeld (d.i. Berlin): Schmidt 1991, Kap. III. 20 L.S. Mercier: Parallèle de Paris et de Londres, hg. von Claude Bruneteau und Bernard Cottret, Paris: Didier-Erudition 1982. Der Text stammt aus dem Jahr 1781, der Titel wurde von den Herausgebern gewählt. 21 L.S. Mercier: Tableau de Paris, Bd. 11, S. 229. (›Ich bin so sehr gelaufen, um das Tableau de Paris zu erstellen, dass ich sagen kann, es mit meinen Beinen gemacht zu haben […].‹ (Übersetzung hier und im Folgenden A.C.H.) 56

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ne Stadt-Descriptio, die das physische Bild von Paris enthielte. Vielmehr werden wie Markierungspunkte auf dem Stadtplan solche Orte aufgesucht, an denen sich die »physionomie morale« der Kapitale aufzeigen lässt. Das Paradox einer moralischen Physiognomie bezeichnet die Schwierigkeit der Aufgabe, der ohnehin nur ein Kenner der Stadt und nicht etwa der flüchtige Reisende gewachsen ist, gilt es doch, in deren verborgene Tiefen einzudringen. Vor dem, was sich dem Betrachter an den Rändern der Stadt darbietet, gilt es den Leser manchmal sogar zu warnen: Vous conduirez-je enfin, lecteur, dans ces gargottes de faubourgs, obscures et enfermées, où les maçons tenant sous le bras leur morceau de pain enduit de plâtre, ainsi que leurs personnes, vont le plonger dans un chauderon bannal, ce qui s’appelle tremper la soupe ?22

Mit der Entdeckung des abseitigen, schäbigen Paris geht der Hinweis auf den Sprachgebrauch einher: Die Stadt ist oder wird immer auch Sprache und ist eben deshalb geeignet, in einen literarischen Text einzugehen. Mischung aus Gebäuden, Plätzen und Straßen auf der einen, den Menschen und ihrem Verhalten auf der anderen Seite, zeigt diese hybride Thematik des Tableau de Paris das ›ideologische‹ Programm des Autors: Die Verortung des Moralischen im Physischen der Stadt. So weist das Kapitel Mont de Piété – um ein letztes Beispiel zu bemühen – nicht ohne gesellschaftliche Anklage auf die Funktion des Pfandhauses hin: Telle femme sort d’un équipage, enveloppée dans sa capote, & y dépose pour vingt-cinq-mille francs de diamans, pour jouer le soir. Telle autre détache son jupon, & demande de quoi avoir du pain.23

Mercier durchstreift Paris zwar ohne Karte, aber nicht ohne Konzept. Sein Stadtplan bildet das Elend der Stadt, die sozialen Spannungen und schreienden Ungerechtigkeiten ab – mithin alles, was den Autor des Tableau de Paris buchstäblich umtreibt. Ohne konkretes Ziel unterwegs,

22 Ebd., Bd. 3, S. 152. ›Werde ich Euch, Leser, schließlich in jene düsteren, muffigen Vorstadt-Garküchen führen, wo die Maurer mit ihrem Stück Brot unter dem Arm, das genauso mit Mörtel beklebt ist wie sie selbst, es in einen einfachen Kochkessel tauchen werden, was man tunken (verbläuen [altes Argot]) nennt.‹ 23 Ebd., Bd. 3, S. 122. ›Diese Frau tritt, in ihren Kapuzenmantel eingehüllt, aus einer Equipage und deponiert dort Diamanten für fünfundzwanzigtausend Franc, um abends zu spielen. Diese andere knüpft ihren Unterrock auf und bittet um Geld für Brot.‹ [Übers. A.C.-H.]) 57

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trifft Mercier überall jenes moralische Paris an, dessen Kartographie sein ›Tableau‹ nachzeichnet und dabei so wenig an sein Ende kommt wie das Thema selbst, das menschliche Elend, je endet. Die dem ›Tableau‹-Begriff inhärente Vorstellung von ›Bild‹, ›tabellarischer Aufstellung‹ und (sprachloser) Finalszene des Dramas verweist zumindest in ihren beiden ersten Komponenten auf ein ›mental mapping‹, das die Stadtkarte von Paris nicht so sehr reproduziert als vielmehr interpretiert. Indem die Stadt zur Bühne eines moralischen Dramas wird, geraten die Straßen, die Gebäude zu Bühnenbildern. Hier kündigt sich schon die Transformation an, die Balzac vornehmen wird.

2 . B a l z a c : E in d r a m a t i s c h er S t a d t p l a n Mercier, der als erster nicht nur ein Buch über Paris schrieb, sondern Paris als Buch konzipierte – Hugo wird sich in Notre-Dame de Paris, dem livre-cathédrale, seinerseits an diesen Kunstgriff erinnern – machte Epoche und stiftete die Tradition des Paris-Diskurses. Balzacs Paris-Romane stellen gleichsam das fiktionale Pendant zu Merciers Tableau de Paris dar, denn nach einer Überfülle von pragmatischen Paris-Beschreibungen stand eines noch aus: die Gewinnung der Thematik für den Roman, die Fiktionalisierung der Großstadt. Ist mit diesem Vorgang die konkrete Kartographie auf der Verlust-Seite zu verbuchen? Für Balzac gilt das Gegenteil. Kaum ein Paris-Roman von Balzac, der nicht von exakten topographischen Angaben durchsetzt wäre. Schon das erste Werk der Comédie Humaine, La maison du chat-qui-pelote, setzt mit einer genauen Schilderung des Schauplatzes ein: Au milieu de la rue Saint-Denis, presque au coin de la rue du Petit-Lion, existait naguère une de ces maisons précieuses qui donnent aux historiens la facilité de reconstruire par analogie l’ancien Paris.24

Von welchem Nutzen eine derartige Präzision für den Leser sein könnte, bleibt an dieser Stelle noch unklar. Erst die in unserem Rahmen nicht zu realisierende Gesamtaufstellung der topographischen Angaben bei Bal24 Honoré de Balzac: La comédie humaine, éd. Pierre-Georges Castex, 12 Bde., Paris: Gallimard 1976, Bd.1, S. 39. ›In der Mitte der Rue SaintDenis, beinahe an der Ecke zur Rue du Petit-Lion, stand vor kurzem noch eines dieser wertvollen Häuser, die den Historikern die Möglichkeit bieten, das alte Paris durch Analogieschluß zu rekonstruieren.‹ (Die menschliche Komödie, Bd. I: Eine Evastochter. Novellen, aus dem Französischen von Thorgerd Schücker und Tilly Bergner, Berlin: Aufbau 1984, S. 223.) 58

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zac könnte letzten Aufschluss geben über die Funktion der zahlreichen Straßen- und Ortsbezeichnungen. Und doch: Auch eine approximative Annäherung an Balzacs Paris-Plan legt bereits bedeutende Spuren. Das »Haus der Ball spielenden Katze« befindet sich im Marais, einem der ältesten Stadtteile von Paris. Der Hinweis auf das historische Interesse an diesem Haus situiert die Geschichte nicht nur in ihrer Stadt, verleiht nicht nur den Geschichten die Authentizität des Geschehenen, sondern zeichnet auch den Erzähler mit der Glaubwürdigkeit des Historikers aus. Die Romanfiktion zu unterlaufen und immer wieder Hinweise auf die ›Wirklichkeit‹ des Geschilderten zu geben, gehört gleichsam allgegenwärtig zur Erzählarbeit Balzacs, bildet das Gütesiegel seines literarischen Handwerks. So berichtet der Erzähler in Facino Cane mit aller Präzision von seinem Wohnviertel, einer Gegend der kleinen Leute in der Nähe der Bastille: Je demeurais alors dans une petite rue que vous ne connaissez sans doute pas, la rue de Lesdiguières: elle commence à la rue Saint-Antoine, en face d’une fontaine près de la place de la Bastille et débouche dans la rue de la Cerisaie.25

Der Erzähler stellt sich als eine Mischung aus Flâneur und Wissenschaftler dar, der auf den Straßen seine Studien durchführt und zu diesem Zweck den einfachen Leuten auf den Boulevards hinterher geht, etwa vom Boulevard du Pont-aux-Choux bis zum Boulevard Beaumarchais. Als die Serie der geschilderten gewohnheitsmäßigen Streifzüge abbricht und mit »un jour« die eigentliche Geschichte beginnt, folgt sogleich wieder ein Straßenname: In der Rue de Charenton findet eine Hochzeitsfeier statt, auf der jener venezianische Klarinettist auftritt, dessen Name den Titel bildet. Damit setzt der Text gegenüber der allwaltenden Gewöhnlichkeit jenes Stadtviertels einen Kontrapunkt und versieht das Geschehen mit dem Akzent des Außergewöhnlichen und sogar Tragischen. Wo sich Balzacs Geschichten, die Dramen der Alltäglichkeit, abspielen, ist keineswegs beliebig, wird doch dem Leser angesonnen, die Orte zu kennen, d.h. mit den Straßennamen eigene Erfahrungen zu verbinden. Durch Balzacs Pariser Stadtplan gerät der Leser in eine Komplizenschaft mit den Figuren und ihren Schicksalen. So ist es denn auch kein Zufall, dass der von seinen reichen Töchtern im Stich gelassene, im gesellschaft25 Ebd., Bd. 6, S. 1019. ›Ich wohnte damals in einer kleinen Straße, die Sie vermutlich nicht kennen, in der Rue de Lesdiguières: sie beginnt in der Rue Saint-Antoine, nahe der Place de la Bastille gegenüber einem Springbrunnen, und mündet in die Rue de la Cerisaie.‹ (Die menschliche Komödie, Bd. 13: Die Beamten, aus dem Französischen von Tilly Bergner, Berlin: Aufbau 1980, S. 353.) 59

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lichen Abseits lebende Père Goriot auch an einem abseits der großen Stadt gelegenen Ort Zuflucht fand: »La maison où s’exploite la pension bourgeoise appartient à Mme Vauquer. Elle est située dans le bas de la rue Neuve-Sainte-Geneviève, à l’endroit où le terrain s’abaisse vers la rue de l’Arbalète […].«26 Sollte sich, so der Text weiter, ein Pariser dorthin verirren, träfe er dort entweder das Elend oder den Überdruss an, entweder das Alter, das stirbt, oder die Jugend, die gezwungen ist zu arbeiten: »Nul quartier de Paris n’est plus horrible, et, disons-le, plus inconnu.« Der Stadtplan, statt das Geschehen nur zu situieren, interpretiert es auch. Noch ehe die Geschichte des Vaters Goriot, noch bevor jene Facino Canes begonnen hat, gibt deren Ort die Tendenz vor: Paris mit seinen Straßen und Plätzen bildet bei Balzac die Bühne für das ›drame‹, die Tragik des modernen Alltags, die nicht minder erhaben ist als jene der antiken Mythen. Wie bei einer Theaterinszenierung ist die Bühne nicht bloßes Gehäuse des Geschehens, sondern an sich schon ein hoch signifikanter Ort, ausgestattet mit allen Signalen des Bedeutenden. Denn die Straßen von Paris verfügen, wie der Anfang von Ferragus, chef des dévorants, ausführlich darlegt, über menschliche Eigenschaften und sind mithin den Figuren des Dramas verwandt: Il est dans Paris certaines rues déshonorées autant que peut l’être un homme coupable d’infamie ; puis il existe des rues nobles, puis des rues simplement honnêtes ; puis des jeunes rues sur la moralité desquelles le public n’a pas enocore formé d’opinion […]. La rue de la Paix est une large rue, une grande rue; mais elle ne réveille aucune des pensées gracieusement nobles qui surprennent une âme sensible au milieu de la rue Royale, et elle manque certainement de la majesté qui règne dans la place Vendôme.27 26 Ebd., Bd. 3, S. 50. ›Das Haus, in dem sich die Familienpension befindet, ist das Eigentum der Madame Vauquer. Es liegt im unteren Teil der Rue Neuve-Sainte-Geneviève, an der Stelle, wo der Boden sich […] gegen dei Rue de L’Arbalère senkt […].‹ (Die menschliche Komödie, Bd. 4: Vater Goriot, aus dem Französischen von von Franz Hessel, Alice und Hans Seiffert, Berlin: Aufbau 1960, S. 8.) 27 Ebd., Bd. 5, S. 793. ›In Paris gibt es Straßen, die entehrt sind wie ein Mensch, der eine Schurkerei begangen hat; es gibt vornehme Straßen, schlichtweg honnete Straßen und junge Straßen, über deren Moral die Öffentlichkeit noch keine Meinung gewonnen hat […]. Die Rue de la Paix ist eine mächtige Straße, eine Hauptstraße, aber sie weckt keine der schönen, edlen Gedanken, die eine empfängliche Seele in der Rue Royale ankommen, und es gebricht ihr gewiß an jener Majestät, die auf der Place Vendôme herrscht.‹ (Die menschliche Komödie, Bd. 11, Geschichte der Dreizehn, aus dem Französischen von Christel Gersch und Christine Hoeppener, Berlin: Aufbau 1989, S. 13.) 60

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Die Aufzählung der Straßen von Paris, hier nur verkürzt wiedergegeben, steht wiederum in engem Konnex zur Geschichte selbst, in der die Bande des Ferragus Paris durchsetzt und unterminiert. Das Geflecht der Straßen entspricht dem Netzwerk des Verbrechens oder kann sich, wenn die Straßen mit positiven moralischen Akzenten versehen sind, diesem entziehen.

3 . Zo l a : E i n p it t o r es k er S t a d t p l a n Zahlreiche Beschreibungen von Paris, exakt dem Stadtplan und den topographisch genau platzierten Gebäuden folgend, durchziehen das Werk Zolas; doch nur jener Text soll im Folgenden betrachtet werden, der immer wieder eine Karte von Paris zu entfalten scheint: Une page d’amour. Der Roman mit dem unübersetzbaren Titel (auf Deutsch zumeist Ein Blatt Liebe, eigentlich aber: Eine Buchseite Liebe mit deutlich autopoetischen Implikationen) erzählt eine traurig endende Liebesgeschichte, wie eine Tragödie in fünf Kapitel / Akte geteilt, die jeweils am Anfang und am Ende des betreffenden Kapitels, aus immer derselben Perspektive, eine Beschreibung von Paris enthält. Der Anlage des Textes entspricht offensichtlich die Anlage der Stadt als Analogie zwischen einer Architektur des Diskurses und einer Architektur des Ortes. Von den Höhen Passys aus gesehen, dem einzigen Schauplatz des Romans (mit Ausnahme des Schlusses, der Hélène auf dem Père Lachaise am Grab ihrer Tochter zeigt), bietet sich Paris immer in seiner Gesamtheit dar, wird aber verändert durch verschiedene atmosphärische Bedingungen, die wiederum den Stimmungen der weiblichen Hauptfigur entsprechen. Wie ein Gemälde (oder eine Bilder-Serie, wie Monet sie vielfach malte) entsteht Paris in immer wieder neuen Entwürfen – am Anfang des Romans im Bild einer soeben erwachenden Frau, deren zart-durchsichtige Kleidung die Metapher für den über Paris und besonders dem Flussbett der Seine liegenden Morgennebel ist.28 Die Stadt, so viel wird schon hier deutlich, ist Partnerin der Protagonistin: »Depuis trois mois qu’elle ne sortait pas«, steht an späterer Stelle im Text, »elle n’avait pas d’autre compagnon de veillée au chevet de la malade que le grand Paris étalé à l’horizon.«29 Wenn im

28 Émile Zola: »Une page d’amour«, in: E.Z.: Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire, éd. Armand Lanoux, 5 Bde., Paris: Gallimard 1961, Bd. 2, S. 846. 29 Ebd., S. 965. ›Seit den drei Monaten, da sie nicht mehr das Haus verließ […], hatte sie keinen anderen Gefährten bei der Nachtwache am Bett der Kranken als das große, am Horizont ausgebreitete Paris.‹ (Emile Zola: Ein 61

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Verlauf der Beschreibungen immer wieder dieselben Orte oder Gebäude von Paris auftauchen wie aus einer ununterscheidbaren Masse von Eindrücken, bilden sie nicht nur die Fixpunkte in den atmosphärischen Veränderungen der Stadt, sondern geben auch dem Aufruhr der Gefühle Hélènes so etwas wie einen inneren Halt: Au nord, sur Montmartre, il y avait un réseau d’une finesse extrême, comme un filet de soie pâle tendu là, dans un coin du ciel, pour quelque pêche de cette mer calme. Mais, au couchant, vers les coteaux de Meudon qu’Hélène ne pouvait voir, une queue de l’averse devait encore noyer le soleil, car Paris, sous l’éclaircie, restait sombre et mouillé, effacé dans la buée des toits qui séchaient. C’était une ville d’un ton uniforme, du gris bleuâtre de l’ardoise, que les arbres tachaient de noir, très distincte cependant, avec les arêtes vives et les milliers de fenêtres des maisons. La Seine avait l’éclat terni d’un vieux lingot d’argent. Aux deux bords, les monuments semblaient badigeonnés de suie ; la tour SaintJacques, comme mangée de rouille, dressait son antiquaille de musée, tandis que le Panthéon, au dessus du quartier assombri qu’il surmontait, prenait un profil de catafalque géant.30

Als die Krankengeschichte der Tochter und die Liebesgeschichte der Mutter, beide gleichermaßen katastrophisch, auf ihr Ende zulaufen, versinkt auch Paris in einem heftigen, sintflutartigen Regenfall. Die Seine ist nun nicht mehr eine erwachende Schöne, sondern »un ruisseau de boue«, und sogar die Türme der Kirchen, sonst wie eingekerbt im Stadtbild von Paris, widerstehen diesem Wetter nicht: »on apercevait le dôme des Invalides, les flèches de Sainte-Clothilde, les tours de Saint-Sulpice mollis-

Blatt Liebe, aus dem Französischen von Elisabeth Eichholz, Berlin: Rütten und Loening 1981, S. 153.) 30 Ebd., S. 904. ›Im Norden lag über dem Montmartre ein Geflecht von äußerster Feinheit, wie ein Netz aus matter Seide, das dort in einem Winkel des Himmels für irgendeinen Fischfang in diesem ruhigen Meer ausgespannt war. Doch im Westen konnte Hélène in Richtung der Höhen von Meudon nichts sehen, dort mußte ein Ausläufer des Regengusses noch die Sonne ertränken, denn Paris blieb unter dem lichten Strich düster und feucht, ausgelöscht im Dunst der trockenen Dächer. Es war eine Stadt in einförmigem Farbton, im bläulichen Grau des Schiefers, auf dem die Bäume schwarze Flecken bildeten, sehr deutlich jedoch mit den scharfen Kanten und den Tausenden von Fenstern der Häuser. Die Seine hatte den matten Glanz eines alten Silberbarrens. Die Baudenkmäler auf beiden Ufern schienen mit Ruß übertüncht zu sein; der wie von Rost zerfressene Turm Saint-Jacques reckte seinen Museumsplunder hervor, während das Panthéon über dem verdüsterten Stadtviertel, das es überragte, den Umriß eines riesigen Katafalks annahm.‹ (Ein Blatt Liebe, S. 98.) 62

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sant, se fondant dans l’air trempé d’humidité.«31 Die Stadt, den Veränderungen der Atmosphäre ausgesetzt und mit ihnen die inneren Zustände der Protagonistin spiegelnd, nimmt jenes Motiv wieder auf, das sowohl in der Liebe Hélènes als auch im Tod der Tochter wirksam wird: Alle Zivilisation vermag nichts gegen die Gewalt der Natur, alle Kunst der Ärzte nichts gegen den Tod. Bietet der Stadtplan Halt und Orientierung, wirken und wüten doch oberhalb seiner – sowohl im hoch gelegenen Passy als auch am Himmel, von woher das Wetter auf die Stadt einwirkt – die Naturgewalten. In Une page d’amour ist Zola, weil er Paris als Ganzes erfassen will, ein ferner Verwandter von Mercier. Statt sich aber, wie Mercier, in die Stadt hineinzubegeben und sich damit ihrer Differenziertheit auszuliefern, nimmt der Erzähler einen erhöhten Standpunkt ein, erfasst zwar Details, aber vor allem ihren Gesamtentwurf, der auf die Totalität der Geschichte gleichsam gespiegelt wird. Paris gerät zum Aktanten in einer Tragödie und folgt einem Heils›plan‹. Dieser ›dramatische‹ Ansatz kann überleiten zu Proust und seinen in Paris verorteten Dramen der Emotionalität – bis hin zur erotischen Aufladung der Vergangenheit im Zeichen des ›désir‹.

4 . P r o us t : E i n er o t is c h er S t a d t p la n Damit Paris bei Marcel Proust, der hier wohnte und starb, die Präsenz eines – wenngleich immer nur partiellen – Stadt-Plans gewinnt, sind Spannungen, Veränderungen, ja teilweise Katastrophen vonnöten, das heißt: Die Gegebenheit der Stadt, veränderlich zwar, aber der Zeit doch weitgehend enthoben, wird dieser anverwandelt. Was nicht überrascht in einem Roman über Zeit und Erinnerung, hat Folgen für den Plan der Stadt und, damit verbunden, den poetischen Bauplan des Textes. Im Blick begrenzt, zumeist auf eine bestimmte Situation des Protagonisten reduziert, gewinnt Paris Zeitentiefe und, wenn man dies so formulieren darf, auch Ortstiefe: Paris en profondeur. Als Swann eines Abends auf der Suche nach Odette ist, bewegt er sich, unterstützt von seinem Kutscher, in allen Richtungen auf den Boulevards, um die Flüchtige, die er indes eigentlich gar nicht treffen will, in einem der Cafés oder Restaurants zu finden. Nicht so sehr die Namen der Boulevards als vielmehr jene der Restaurants bilden die sprachlichen 31 Ebd., S. 1032. ›[man gewahrte] den Invalidendom, die Kirchturmspitzen von Saint[e]-Clothilde, die Türme der Kirche Saint-Sulpice, die verschwammen und sich in der von Feuchtigkeit durchtränkten Luft auflösten.‹ (Ein Blatt Liebe, S. 214.) 63

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Fixpunkte der Suche, in deren Verlauf die Dunkelheit immer undurchdringlicher wird: D’ailleurs on commençait à éteindre partout. Sous les arbres des boulevards, dans une obscurité mystérieuse, les passants plus rares erraient, à peine reconnaissables. Parfois l’ombre d’une femme qui s’approchait de lui, lui murmurant un mot à l’oreille, lui demandant de la ramener, fit tressaillir Swann. Il frôlait anxieusement tous ces corps obscurs comme si, parmi les fantômes des morts, dans le royaume sombre, il eût cherché Eurydice.32

Die Begegnungen mit Prostituierten und deren gemurmelten Einladungen führen Swann nicht zu der von ihm gesuchten, ihrerseits durchaus ›legeren‹ Frau, sondern, bedingt durch die Doppelbedeutung von »corps« als Körper und Leichnam, in die imaginierte Tiefe des Totenreichs und zu einer literarisch-mythologischen Reminiszenz. Ist Orpheus bei seinem Versuch, die geliebte Gattin wieder zu erlangen, letztlich erfolglos, gilt Ähnliches zunächst nicht für Swann. Er trifft schließlich Odette auf der Straße, kann sie aber, wie der weitere Verlauf des Liebesdramas von Un amour de Swann fatal belegt, doch nicht gewinnen, will es auch nicht mehr, als er sie schließlich – bezeichnenderweise in einem narrativen ›blanc‹ –, ohne Liebe, heiratet. Die Irrgänge auf den nächtlichen Boulevards, scheinbar nur ein topographisches Detail, zeigen gleichwohl eine innere Örtlichkeit und die mäandrischen Wege der Psyche, weisen schon den Weg zum Tod der Liebe. Die Topographie von Paris bei Proust steht im Zeichen der Liebe oder zumindest der Erotik. Dies belegen nicht nur die kindlichen Spiele ›Marcels‹ mit Gilberte auf den Boulevards; auch der Bois de Boulogne, mit seinen einzelnen Örtlichkeiten in einer groß angelegten Beschreibung gegenwärtig, ist nicht nur ein Park mit der Funktion, der großen Gesell32 Marcel, Proust: A la recherche du temps perdu, éd. Jean-Yves Tadié, 4 Bde., Paris: Laffont 1987, Bd. 1, S. 227. ›Im übrigen wurden jetzt fast überall die Lichter gelöscht. Unter den Bäumen der Boulevards irrten nur noch vereinzelte Passanten umher. Manchmal ließ der schwarze Umriss [Anm. A.C.-H.: Im Original: »der Schatten«, was schon auf das später evozierte ›Reich der Schatten‹ verweist: warum also diese allzu freie deutsche Übersetzung?] einer Frau, die herantrat, ihm etwas zuflüsterte und ihn bat, sie mitzunehmen, Swann zusammenzucken. In qualvoller Unruhe streifte er all diese dunklen Körper, als hätte er unter den Schatten des Totenreichs [den Fantomen der Toten, im düsteren Reich; Anm. A.C.-H.] nach Euridyke gesucht.‹ (Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1: Unterwegs zu Swann, aus dem Franzöischen übersetzt von Eva RechelMertens; revidiert von Luzius Keller, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1. Aufl. 1998, S. 303.) 64

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schaft beim Flanieren einen Rahmen zu bieten; für ›Marcel‹ ist er der »Jardin élyséen de la femme«33, und die eleganteste unter ihnen, Odette Swann, zieht den jungen ›Marcel‹ in ihren Bann. Am Bois de Boulogne kommt schließlich, als ›Marcel‹ ihn zu späterer Zeit wieder aufsucht, der unaufhaltsame, die Poetik des Romans freilich alimentierende Verfall von Ästhetik und Eleganz zur Anschauung. Aus dem mythologisch überhöhten Bois mit seinen »bosquets virgiliens«34 wird, in Kleinschreibung, ein bloßer Wald, der jeglichen Zauber einbüßte. An diesem Ort zeigt sich die Zeit. Es war das nächtliche Paris, das Proust zu Anfang, in Un amour de Swann, darstellte; wie in einer impliziten Analogie ist auch am Ende des Romans die Stadt, nunmehr kriegsbedingt, verdunkelt. Bei den nächtlichen Streifzügen des Baron de Charlus treten definitiv die homosexuellen Neigungen dieses Adeligen aus der alten Familie Guermantes zutage. Das verdunkelte Paris verbirgt nicht, dass Charlus ein finsteres Etablissement aufsucht, in dem er perversen Vergnügungen nachgeht. Unter den Bedingungen des Krieges, als die deutschen Gothas über Frankreichs Hauptstadt kreisen, kommt Paris bei Proust erst recht eigentlich zur Erscheinung. Als ›Marcel‹ sich abends in der Nähe der Invalidenbrücke befindet, geraten die Türme des Trocadéro gleichsam zu Fixpunkten in einer Stadt, die sich nicht so sehr in ihrem konkreten als vielmehr in ihrem poetischen Erscheinungsbild zu wandeln beginnt: Dans toute la partie de la ville qui dominent les tours du Trocadéro, le ciel avait l’air d’une immense mer nuancé de turquoise, qui se retire, laissant déjà émerger toute une ligne légère de rochers noirs, peut-être même de simples filets de pêcheurs alignés les uns après les autres, et qui étaient de petits nuages. Au reste, à force de regarder le ciel paresseux et trop beau, qui ne trouvait pas digne de lui de changer son horaire et au-dessus de la ville allumée prolongeait mollement, en ces tons bleuâtres, sa journée qui s’attardait, le vertige prenait: ce n’était plus une mer étendue, mais une gradation verticale de bleus glaciers. Et les tours du Trocadéro qui semblaient si proches des degrés de turquoise devaient en être extrêmement éloignées […]. 35 33 Ebd., S. 419. (der »Elysische Garten der Frau«) 34 Ebd.; (»vergilischen Baumgruppen«). Zu den Vergil-Reminiszenzen in dieser Textpassage vgl. den Kommentar zu S. 410 in der genannten Ausgabe. 35 Ebd., Bd. 4, S. 341-342. ›In der Region, die von den Türmen des Trocadéro beherrscht wurde, glich der Himmel einem unermeßlichen türkisfarbenen Meer, das im Zurückweichen eine leichte Kette von schwarzen Felsen, vielleicht gar nur von schlichten, nebeneinander aufgereihten Fischernetzen sichtbar macht, die in Wirklichkeit kleine Wolken sind. Ein Meer, in diesem Augenblick noch türkisfarben, das unmerklich die Menschen mit sich zieht, die von der ungeheuren Kreiselbewegung der Erde fortgetragen wer65

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Die Fragmentarität von Prousts Paris wird hier, nicht lange vor dem Ende des Romans, unzweifelhaft evident und erweist sich als Folge eines nunmehr poetischen ›Plans‹. Unverbrüchlich mit dem Wirken der Zeit verbunden, trägt der Ort die Spuren sowohl der Erinnerung als auch, ins Dunkel getaucht, die Signatur des Vergessens. Als Totalitätserfahrung ist Paris, anders als bei Balzac oder auch Zola, nicht mehr verfügbar, und der Plan der Stadt zeigt nur einzelne Örtlichkeiten in den Farben des Traumas oder des Begehrens. Das Moment des Traumas kann den Übergang bilden zu Patrick Modiano.

5 . Mo d ia no : E i n o r i en t i er e nd e r S t a d t p l a n Als Patrick Modiano in seinem 1969 erschienenen zweiten Roman, La ronde de nuit, den Zweiten Weltkrieg darstellt, ist der Handlungsort Paris ebenfalls von der Zeit geprägt – freilich nicht in dem Sinne, dass er wie bei Proust äußerlich wahrnehmbaren Veränderungen unterworfen wäre. Im Gegenteil bleibt die Stadt mit ihren Straßen und Plätzen intakt, verändert sich aber gravierend im Hinblick auf die Moral ihrer Bewohner. Bei zunehmender Mangelwirtschaft mit ihren Versorgungsengpässen sowie zeitbedingt gesteigerter Ohnmacht der Behörden treibt eine Bande von Kriminellen, die chaotischen Verhältnisse ausnutzend, ihr Unwesen. Deren verbrecherische Aktionen bestimmen die Handlung; vor Gewalt schreckt man unter diesen Bedingungen, in einem Szenario von Gesetzlosigkeit, nicht zurück. Die Hauptfigur ist auf zwei Seiten tätig – für die genannte kriminelle Bande und für eine Vereinigung, die jene zu entlarven sucht. In einer solchen Doppelrolle büßt der Protagonist und IchErzähler immer mehr seine Identität ein und ist von der Angst verfolgt, dass sein trügerisches Spiel tödliche Folgen haben könnte. Dem Identi-

den, der Erde, auf der sie in ihrer Verblendung ihre Revolutionen und Kriege weiterführen wie zum Beispiel den, der jetzt den Boden Frankreichs mit Blut tränkte. Wenn man den trägen, überschönen Himmel anschaute, der es unter seiner Würde fand, seinen Stundenplan zu ändern, vielmehr statt dessen über der lichterglänzenden Stadt in blauen Tönen seinen noch andauernden Tagesschimmer breitete, fühlte man sich von einem Schwindelgefühl erfaßt: Er war jetzt nicht mehr ein weitgespanntes Meer, sondern eine vertikale Staffelung wie von blauen Gletschern. Die Türme des Trocadéro aber, die den Stufen aus Türkis so nahe schienen, mußten wohl weit entfernt sein […].‹ (M.P.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 7: Die wiedergefundene Zeit, aus dem Franzöischen übersetzt von Eva RechelMertens; revidiert von Luzius Keller, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2. Aufl. 2003, S. 104.) 66

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tätsverlust der Person und dem Tohuwabohu der Verhältnisse auf der einen entspricht freilich auf der anderen Seite die geradezu zwanghafte, über 180 Seiten gewahrte, ja geradezu geschützte Identität des Textes: Wo alles fließt, verharrt der Text bewegungslos in seinem einmal gegebenen Darstellungsmuster, wo der ›Held‹ ein doppeltes Spiel spielt, bleibt der literarische Diskurs er selbst. Während zunehmend deutlich wird, dass, zumindest bei der einen Bande, die Moral im Dunkel der Kriegszeiten auf der Strecke blieb, beim Protagonisten Orientierungslosigkeit vorherrscht, bewahrt der Text die Ordnung der Stadt mit ihren Straßen und Plätzen. Immer wieder, wie mit einem rituellen Zwang zur Wiederholung, tauchen topographische Bezeichnungen auf, die Stadt gleichsam vermessend. Im Unterschied zu den Gepflogenheiten des ›klassischen‹ nouveau roman etwa eines Robbe-Grillet, enthält dieser Text nur wenige, eher lapidar daherkommende Beschreibungen; er weist aber, geradezu manisch und wie um diesen Mangel zu kompensieren, eine Fülle von Namensnennungen auf, die allesamt Orte der Stadt betreffen: Je marche vers l’ouest de Paris. Châtelet. Palais Royal. Place de la Concorde. Le ciel est trop bleu, les feuillages beaucoup trop tendres. Les jardins des Champs-Elysées ressemblent à une station thermale. Avenue Kleber. Je tourne à gauche. Square Cimarosa.36

Scheinbar ziellos streift der Protagonist durch Paris, sich – bei ohnehin deutlichen Bezügen zu Proust – an jene Spaziergänge aus Jugendtagen erinnernd, deren Verlauf wiederum mit Ortsnamen bezeichnet wird. Er folgt dabei nicht eigenem Antrieb, sondern fühlt sich von den Chefs der Banden in der Stadt hin und her gezerrt wie zwischen den Buden eines riesigen Lunaparks: »Je n’étais pas fait pour tout cela. […] On était venu me chercher.«37 Solcherart sich selbst entfremdet, gelangt er auf seinen Streifzügen zufällig zum Théâtre des Ambassadeurs, wo ein längst vergessenes Werk gespielt wird: La ronde de nuit. Damit hat der Roman seinen Titel gefunden, entlehnt einer »längst vergessenen« Operette: Die

36 Patrick Modiano: La ronde de nuit, Paris: Gallimard 1969, S. 82f. ›Ich lenke meine Schritte westwärts. Châtelet. Palais-Royal. Place de la Concorde. Der Himmel ist unnatürlich blau, das Laub der Bäume allzu zart. Die Gärten der Champs-Elysées gleichen einem Thermalbad. Avenue Kléber. Ich wende mich nach links. Square Cimarosa.‹ (Die Lemuren, in: Patrick Modiano: Pariser Trilogie, aus dem Französischen von Walter Schürenberg, Frankfurt/Main u.a.: Ullstein 1981, S. 48.) 37 Ebd., S. 95. ›Für all das war ich nicht der richtige Mann. […] Man hatte mich einfach geholt.‹ (Ebd. S. 60.) 67

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Populärmusik, ohnehin fast omnipräsent in diesem Text und identitätsstiftend für seine Figuren, fügt sich mit einem Ort zusammen, um dem Text seinen Namen zu geben. Hat hier der Ich-Erzähler seinen Ort gefunden? Und während die Zeit unterwandert wird (»bien oubliée«: zu welchem Zeitpunkt?) und zur allgemeinen Verunsicherung des Textes – sowohl auf der Ebene des Plots als auch auf der Ebene des Rezipienten – beiträgt, schafft der Ort, hier das genau bezeichnete und situierte Theater, Sicherheit. Der Stadtplan gewährt jene Orientierung, welche die Zeitläufte längst verweigerten. Nicht ein gelassener Flaneur schlendert durch die Stadt, wie es eine idyllische Tradition will, sondern ein Getriebener hetzt durch Paris, beherrscht von der Angst, zwischen den Fronten zerrieben, bald entdeckt und schließlich erschossen zu werden; oder im Gegenteil treibt ihn die Hoffnung, er könnte der Angst entgehen, indem er an den bekannten Stellen der Stadt einen äußeren und inneren Halt sucht. Patrick Modiano versetzt seinen düsteren Roman aus dem Paris des Zweiten Weltkrieges mit zahlreichen intertextuellen Reminiszenzen. Rilkes degoutantes Abbruchhaus, dessen Mauern und Wände in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge beschrieben werden,38 taucht aus dem Dunkel ebenso auf wie die Markthallen aus Zolas Ventre de Paris oder das Bild des Bois de Boulogne, bekannt aus Prousts Recherche. Die Genauigkeit der topographischen Bezeichnungen lässt an Balzac denken, das vielfach wiederholte Durchqueren von Paris an Mercier. Welche auch immer die intertextuellen Bezüge sein mögen: In dieser Spätzeit der Parisdarstellung hat sich der Stadtplan längst literarisiert, sind die nächtlichen Streifzüge des Protagonisten von den Gedankengängen ihres Autors zwischen den Texten begleitet. Paris hat seine Unschuld verloren. Wer es durchstreift, planlos oder von der Karte begleitet, trifft allenthalben auf Spuren der Literatur.

6 . F a r g u e: e in o r i g i nä r er S t a d t p l a n Als Piéton de Paris – so auch der Titel jenes seiner Werke, das nun den Schlusspunkt setzt – hat Léon-Paul Fargue im ›Fußgänger‹ Mercier einen fernen Verwandten, und beide Texte, gleichermaßen nicht-fiktional und in unserem Kontext deshalb Fremdkörper (was ihre Position am Anfang bzw. Ende erklärt), verweisen konkret auf die Stadt. Doch nicht mehr das moralische Paris interessiert den Autor des Surrealismus, sondern die Stadt in ihrer pittoresken Farbigkeit, die schon im Schwinden begriffen

38 Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke, hg. vom Rilke-Archiv, 12 Bde. Frankfurt/Main: Insel-Verlag 1975, Bd. 11, S. 749-51. 68

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ist und deshalb den bewahrenden Akt der Literarisierung aufruft. Baudelaires nostalgische Feststellung »Le vieux Paris n’est plus«39 könnte auch für Fargues Piéton de Paris40 das Motto abgeben. Wo die Zeit mit ihren sowohl unvorhersehbaren als auch unabsehbaren Veränderungen die vertraute Welt unkenntlich macht, scheint es einen verlässlichen Plan von Paris gar nicht geben zu können. Dennoch bekennt Fargue: »Il y a des années que je rêve d’écrire un ›Plan de Paris‹ pour personnes de tout repos, c’est-à-dire pour des promeneurs qui ont du temps à perdre et qui aiment Paris«.41 Zu diesen darf sich ohne Zweifel auch Fargue selbst rechnen, doch ist ihm der Plan von Paris, den schreiben zu wollen er vorgibt, in Wirklichkeit längst bekannt – vielleicht ist sogar das Buch bereits geschrieben. Jener Plan nämlich bildet auch den Plan des Piéton de Paris, denn gleich das erste Kapitel, Mon quartier, beginnt programmatisch mit dem oben zitierten Satz: Sein Viertel ist nicht nur Wohnort und Zentrum des Lebens, sondern auch Origo des Schreibens und Keimzelle des Buches. Erst und nur diese Funktion rechtfertigt die Deskription eines Stadtbezirks, der aus Mangel an Sehenswertem kaum geeignet ist, Touristen zu interessieren; um so mehr zieht er jene Spaziergänger an, für die Fargue den Stadt-Plan zu schreiben sich vornahm: Et il y a des années que je me promets de commencer ce voyage par un examen de mon quartier à moi, de la gare du Nord et de la Gare de l’Est à la Chapelle, et non pas seulement parce que nous ne nous quittons plus depuis quelque trente-cinq ans, mais parce qu’il a une physionomie particulière, et qu’il gagne à être connu.42

Eine Physiognomie zeichnet zunächst Menschen oder ihnen verwandte Lebewesen aus; bei Städten wäre sie allenfalls metaphorisch zu verstehen. Und doch gewinnt die Stadt Paris bei Fargue humane Qualitäten, kann die Metapher fast im eigentlichen Sinne verstanden werden: Paris

39 Charles Baudelaire:»Le cygne«, in: C.B.: Œuvres complètes, éd. Claude Pichois, 2 Bde., Paris: Gallimard 1975, Bd. 1, S. 85. 40 Léon-Paul Fargue: Le piéton de Paris suivi de D’après Paris, Paris: Gallimard 1964 (zuerst 1932).) 41 Ebd., S. 14. ›Seit vielen Jahren träume ich davon, für ganz und gar ruhige Menschen einen ›Plan von Paris‹ zu schreiben, das heißt für Spaziergänger, die Zeit zu verlieren haben und die Paris lieben.‹ (Übers. A.C.-H.) 42 Ebd.: ›Seit vielen Jahren nehme ich mir vor, diese Reise durch eine Untersuchung meines eigenen Stadtviertels zu beginnen, vom Nord- und Ostbahnhof bis zur Chapelle, und nicht nur, weil wir uns seit einigen fünfunddreißig Jahren nicht mehr trennen, sondern weil es eine besondere Physiognomie hat, die er durch das Kennenlernen erhält.‹ (Übers. A.C.-H.) 69

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spielt die Rolle eines vertrauten Gegenübers. Wie das Leben des Autors, beginnt auch der Text mit/in einem Viertel, das zwar objektiv wenig interessant, als Ursprung oder Keimzelle eines dem Schreiben gewidmeten Lebens, eines dem Leben verpflichteten Schreibens eine neue und keineswegs nur funktionale Dignität erlangt. Wenn Fargue den Plan von Paris als Orientierungshilfe für Touristen konzipiert, statten jene ParisBesucher auch dem Autor des Piéton de Paris einen Besuch ab. Der Verlauf des Diskurses, Modell für den Akt des Lesens, wird auf ein ideales Durchstreifen von Paris übertragen, das vom ersten, dem Ursprungskapitel seinen Ausgang nimmt. Damit soll der Leser nachvollziehen, dass für Fargue der Plan von Paris nicht weniger ist als die Landkarte seines Lebens. Nicht die durchaus verschiedenen inhaltlichen Ausrichtungen, wohl aber die Intentionen beider Paris-Bilder im Zeichen des Fußgängers, die Mercier resp. Fargue verfassten, kommen, über die Zeiten hinweg korrespondierend, zur Konvergenz. Unmittelbar in die Erfahrung übersetzbar, ist das Paris-Bild bei Mercier und Fargue Abbild der realen Stadt – auch wenn eine solche Feststellung (im Sinne der Autoren getroffen) unter konstruktivistischem Aspekt naiv anmuten mag. Die Paris-Bilder der Romane hingegen werfen jenes alte Problem der Fiktionstheorie erneut auf, das entsteht, wenn in fiktionalen Texten reale Gegenstände, Städte etwa, auftauchen.43 Sind solche ›Stadtpläne‹ mit der Realität ohne weiteres zu verrechnen? Sicher nicht direkt. Aber in diesem speziellen Fall wird die Fiktionalität des Textes gleichsam durchkreuzt oder anders formuliert: An bestimmten Stellen, bestimmten ›Orten‹, bricht die Fiktion ein und erlaubt die Bezugsetzung der ›Stadt im Text‹ zum Text der Stadt.44 Analog dazu erfährt die Karte im Kopf eine Ergänzung durch die Karte als topographisches Abbild. Die Vermischung beider wäre logisch unsauber, beider Bezugsetzung aber führt zu einem wechselseitigen Gewinn: Der ›trockenen‹, mortifizierten Stadt-Karte der Realität wächst die Lebendigkeit einer Stadt zu, die Handlungs- und Erfahrungsraum ist; die autoreferentiellen Konstruktionen der Fiktion hingegen, deren einzig gesicherter Ort die Sprache selbst ist, öffnen sich auf die Realität hin, da sie nunmehr, statt in sich selbst beschlossen zu bleiben, zur kartographischen Wirklichkeit der jeweiligen Stadt ins Verhältnis gesetzt werden können. Jeder Stadt-Plan der Literatur ist virtuell ein Plan der wirklichen Stadt – 43 Die Dimensionen dieses Problems übersteigen den Rahmen der vorliegenden Darstellung; vgl. aber die Überlegungen von Rudolf Haller: Facta und Ficta. Studien zu ästhetischen Grundfragen, Stuttgart: Reclam 1986: »Wirkliche und fiktive Gegenstände«, S. 57-93. 44 Zur Bedeutung dieses Konzepts für die neuere Großstadt-Forschung vgl. Anm. 10. 70

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so wie umgekehrt grundsätzlich jeder Stadt-Plan der Realität literarische Stadt- (und: Text-) Pläne inspirieren oder generieren kann.

7 . S c hl us s : P a r is – e i n l it er a r is c h er S t a d t p l a n Nach dem Gang durch Paris gleitet dem erschöpften Spaziergänger der Stadtplan oder jenes Büchlein, das ihn als ›guide‹ begleitete, aus der Hand; bleibt, als ›mental map‹, die Kartierung der Texte. Der ihnen jeweils immanente Plan von Paris rückt die Autoren untereinander in ein Verhältnis der Differenz, schafft aber eine aussagekräftige Relation zur Anlage der Werke. Ganz Paris zu durchqueren, wie es Mercier topographisch und gedanklich wohl mehr als einmal unternahm, setzte den Stadtplan ins Verhältnis zum Ethos der großen Stadt: Das Paris Merciers bringt eine Kartographie der Moral hervor. Auf Seiten des Autors sind die Örtlichkeiten des utopischen Romans und mehr noch jene des Tableau de Paris Stätten eines unbedingten ethischen Engagements. Merciers ›mental map‹ ist der Entwurf eines moralischen Stadtplans im pragmatischen Rahmen von Paris. Anders Balzac. Seine topographisch exakten Beschreibungen der Handlungsstätten situieren nicht nur die Geschichten einer – nach Dantes erklärtem Modell – nunmehr menschlichen Commedia, sondern garantieren auch deren Authentizität. Die Orte der Handlung sind auf dem Stadtplan auffindbar, die geschilderten Schicksale werden in der Kartographie von Paris verortet, was auf der Rezeptionsebene sowohl deren Wirklichkeit suggeriert als auch deren Wirksamkeit gewährleistet. Bei Proust, lange Bewohner der legendär gewordenen Korkkammer am Boulevard Haussmann, zerfällt Paris in Fragmente und situiert sich im Innenraum. Es trägt nicht selten die Signatur eines Traumas oder zumindest die Farbe der Nostalgie. Während ›tout Combray‹ aus einer Tasse Tee aufsteigen konnte, ist ›tout Paris‹ allenfalls noch gesellschaftlich verfügbar, nicht aber mehr topographisch. Es tritt hervor je nachdem, ob es die Erinnerung bewahrte oder sich das Vergessen seiner bemächtigte. Das Wunder des Wiederfindens von Combray wiederholt sich nicht, weil Paris nie in demselben Sinne verloren war wie der Ort der Kindheit. Für Modianos Lemuren45 schließlich, denen jede Moral längst abhanden kam, bietet der Stadtplan von Paris die einzige Orientierung in ihrer »ronde de nuit«. Die Prägnanz des äußeren Stadtplans folgt zwingend aus dem inneren, an der Moral vollzogenen Verfall. Die Zeiten der deutschen Besatzung zerstören die gewohnte, auch staatlich sanktio-

45 So der deutsche Titel von La ronde de nuit in der Ausgabe Pariser Trilogie. 71

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nierte Ordnung und lassen die Kenntnis des Ortes, die Präzision der Ortsund Straßennamen an deren Stelle treten. La ronde de nuit ist die Schwindel erregende Choreographie moralischer Haltlosigkeit, gebannt in die Totenmaske eines Stadtplans. So führt der Weg von Merciers moralischem Paris zu einem Ort ohne Ethos, und der Lebens- und Handlungsraum Großstadt degeneriert am Ende zu einer Ansammlung topographischer Bezeichnungen, die aber gerade dadurch, reiner Ort und reine Sprache geworden, Halt bieten können jenseits der aus jeder Ordnung gefallenen Realität. Fargues Paris schließlich kann gegen die Chronologie für die Hoffnung stehen, dass die Karten nicht seelenlos sind, sondern etwas bewahren von den Ursprüngen – des Lebens, der Literatur. Was die Karte – als Stadtplan, Text-Plan oder ›mental map‹ – bedeutet, bleibt am Schluss unserer Überlegungen als schwer zu beantwortende Frage übrig. Peter Weiss fügt der Ermittlung eine Karte an,46 ›seine‹ Ortschaft abbildend: Sie zeigt eine Ansammlung von Gebäuden mit ihren nüchternen Nummerierungen: das Bild von Auschwitz. Während alle anderen Stationen seines Lebens einander ähnlich und miteinander verbunden waren, liegt, so der Autor, Auschwitz »gänzlich für sich«; während alle Aufenthaltsorte »etwas Provisorisches« annehmen, war diese Ortschaft für ihn bestimmt. Geht diese Bestimmtheit/Bestimmung in die Karte ein? Durch das Bild befreit sich die Literatur vom Zwang ihrer unterschiedlichen, aber als solche nicht zu vermeidenden Gang-Arten oder anders gesagt: vom Druck des Diskurses. Wenn sie sich medial still stellt, entgeht sie der Zeit und gewinnt Raum. Das Bild ist eine Überschreitung. Nimmt es nun die Gestalt einer graphischen Karte an, verschiebt sich erneut die mediale Problematik, indem die Literatur nicht nur Ereignisse, Figuren, Schicksale entwirft, sondern ihnen zugleich einen konkreten Ort zuweist mit der Folge, dass sich die Fiktionalität relativiert. Durch die Karte gewinnt die Literatur Authentizität und Bestimmtheit oder, mit Kafka, »Sicherheit«. Der Plan ermöglicht aber auch, ein schreckliches Geschehen so zu verorten, dass es sich, mental oder real eine Karte konstituierend, neutralisiert: Karten denotieren und referenzialisieren etwas, bedeuten aber nichts. Mit dem Paris Modianos teilt das Auschwitz von Peter Weiss ein entscheidendes Charakteristikum: Die Konstanz (der Erinnerung bei Peter Weiss, der Paristopographie mit ihren Namen bei Modiano) überwindet das Entsetzen des Augenblicks. Sowohl dauerhaft als auch neutral, gewährleistet die Karte, indifferent gegenüber dem menschlichen Leiden, den Fortbestand des Faktischen, erlaubt aber auch die Einschreibung der Schicksale: grafisch, sprachlich.

46 Peter Weiss: Die Ermittlung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 223. 72

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Wenn reale Orte und ihre Pläne, wenn literarische Texte und ›mental maps‹ zu einer komplexen Kartierung zusammenfinden, sind deren Bezugsrahmen so bewegt wie, folglich, instabil. Die Kartierungs-Plateaus können differente Konstellationen eingehen oder, um im Bild zu bleiben, verschiedene Schichtungen vornehmen, deren Inneres horizontale Schnitte offen legen – immer bezogen auf einen Augenblick, denn schon der nächste bringt Veränderungen. Das Modell ist auf bestechende Weise dem Gegenstand Großstadt analog, in dessen Raum sich ein permanenter Wandel vollzieht. Nur mentale Karten von begrenzter Dauer vermögen dieser Dynamik Rechnung zu tragen. Die Kartographie der Großstadt, gerade in ihrer Übertragung auf fiktionale Texte, gewährleistet eine RePragmatisierung des literarischen Gegenstandes, die in Zeiten monumentaler Text-Räume und sich rhizomartig fortpflanzender Simulacra wie ein konzeptioneller Fremdkörper anmutet. Gleichwohl: auch kartographiert, Städte sind Räume der Differenz/différance … In Elmar Schenkels anderer Reise-Prosa transformiert sich der Ort, skandiert von »Landkarten, Wegweisern, Schildern«,47 in einen nicht fixierbaren Raum, dessen Signatur der eigentlich unmögliche, weil Topographie und Bewusstsein in eins setzende Name Illiers-Combray ist. Dass man sich dort, allen Hinweisen zum Trotz, verirrt, dass auch die Fotos, der Leser ahnte es, nichts werden, belegt die Widerständigkeit der »Höhlen des Bewusstseins« gegenüber der Faktizität des Dokumentarischen. Elmar Schenkel machte eine Reise, die verfehlte, was der Reisende erreichen wollte, und die doch mehr erschloss, als jede noch so gut vorbereitete, perfekt durchgeführte Besichtigungstour jemals sichtbar machen kann: Er suchte Combray und fand Marcel Proust. In ihm begegnete er jenen Hinter- oder Tiefgründigkeiten der Literatur, die bei allen (auch Proust nicht fremden) Versuchen, den Leser zu lenken, diesen mitsamt dem Autor in unvermessene, ja unermessliche Räume führen: hier entgleiten die Pläne…

Literatur Alber, Reinhold: New York Street Reading – Die Stadt als beschrifteter Raum, Diss. masch., Tübingen 1997. Balzac, Honoré de: La comédie humaine, éd. Pierre-Georges Castex, 12 Bde., Paris: Gallimard 1976-81. Baudelaire, Charles:»Le cygne«, in: C.B.: Œuvres complètes, éd. Claude Pichois, 2 Bde., Paris: Gallimard 1975, Bd. 1.

47 E. Schenkel: »Illiers-Combray«, S. 61. 73

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Butor, Michel: Die Stadt als Text, aus dem Franz. von Helmut Scheffel, Graz, Wien: Droschl 1992. Corbineau-Hoffmann, Angelika: Brennpunkt der Welt. Großstadterfahrung und Wissensdiskurs in der pragmatischen Parisliteratur 1780 – 1830, Bielefeld (d.i. Berlin): Erich Schmidt 1991. Deleuzes , Gilles: Logique du sens, Paris: Les Editions de Minuit 1969. Derrida, Jacques: De la grammatologie, Paris: Les Editions de Minuit 1967. Downs, Roger M./Stea, David: Kognitive Karten. Die Welt in unseren Köpfen, aus dem Amerikanischen von Daniela und Erika Geipel, New York: Harper & Row 1982. Fargue, Léon-Paul: Le piéton de Paris suivi de D’après Paris, Paris: Gallimard 1964 (zuerst 1932). Haller, Rudolf: Facta und Ficta. Studien zu ästhetischen Grundfragen, Stuttgart: Reclam 1986. Lynch, Kevin: Das Bild der Stadt, aus dem Amerikanischen von Henni Korssakoff-Schröder und Richard Michael, Basel und Berlin: Birkhäuser 2007. May, Mark: Mentale Modelle von Städten. Wissenspsychologische Untersuchungen am Beispiel der Stadt Münster, Münster u.a.: Waxmann 1992. McDonough, Tom: »Wahnhaftes Paris. Kartieren als paranoischkritische Tätigkeit«, in: Nina Möntmann/Yilmaz Dziewior (Hg.): Mapping a City, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004, S. 58-70. Mercier, Louis Sébastien: L’an 2440, nouvelle édition, revue et corrigée par l’auteur, London 1774. Mercier, Louis Sébastien: Parallèle de Paris et de Londres, hg. von Claude Bruneteau und Bernard Cottret, Paris: Didier-Erudition 1982. Mercier, Louis Sébastien: Tableau de Paris, 12 Bde., Amsterdam 17821788. Modiano, Patrick: La ronde de nuit, Paris: Gallimard 1969. Modiano, Patrick: Pariser Trilogie, aus dem Französischen von Walter Schürenberg, Frankfurt/Main u.a.: Ullstein 1981. Neisser, Ulrich: Kognition und Wirklichkeit. Prinzipien und Implikationen der kognitiven Psychologie, Stuttgart: Klett-Cotta 1979. Proust, Marcel: A la recherche du temps perdu, éd. Jean-Yves Tadié, 4 Bde., Paris: Gallimard 1987-89. Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke, hrsg. vom Rilke-Archiv, 12 Bde. Frankfurt/Main: Insel-Verlag 1975. Rölli, Marc: Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus, Wien: Turia und Kant 2003.

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Schenkel, Elmar: »Illiers-Combray«, in: E.S., Die andere Reise. Prosa, Buchenbach.: Nachtcaféverlag 1980, S. 60-64. Stierle, Karlheinz: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München u.a.: Hanser 1993. Tolman, Edward. C.: »Cognitive Maps in Rats and Men«, in: Psychological Review 55, 4, (1948), S. 189-208. Virilio, Paul: Der negative Horizont. Bewegung – Geschwindigkeit – Beschleunigung, aus dem Französischen von Brigitte Weidmann, München u.a.: Hanser 1989. Weiss, Peter: Die Ermittlung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005. Zola, Émile: »Une page d’amour«, in: E.Z.: Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire, éd. Armand Lanoux, 5 Bde., Paris: Gallimard 1961, Bd. 2.

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ZWISCHEN KOMBINATORIK UND KONTROLLE: Z U R F U N K T I O N D ES S T A D T P L A NS I N J E A N -P I E R R E M E L V IL L ES L E S A M O U R A Ï JÖRG DÜNNE Stadtpläne erzeugen Bilder, die mehr oder weniger deutlich von den Möglichkeiten des ›normalen‹ menschlichen Blicks auf die Stadt abweichen. In dieser konstitutiven medialen Differenz liegen vielfältige sowohl politische als auch ästhetische Möglichkeiten beschlossen, um die es in diesem Beitrag vor allem am Beispiel eines Films des französischen Regisseurs Jean-Pierre Melville gehen wird. Einleitend sollen einige Bemerkungen zu Funktionen des Stadtplans in politischen wie auch in erzähltheoretischen Zusammenhängen den Rahmen abstecken, in dem sich die folgenden Überlegungen bewegen.

1 . S t a d t p l a n u nd K o n t r o l l e Die Geschichte des neuzeitlichen Stadtplans lässt sich näherungsweise als eine zunehmende Ablösung der Darstellung von einem menschenmöglichen Blickpunkt beschreiben, zunächst durch eine Überhöhung des Stadtprofils oder der so genannten Kavaliersperspektive zum imaginierten Blick aus der Vogelperspektive, der in frühneuzeitlichen Veduten prägend ist. Während Veduten häufig die in ihnen repräsentierten Räume nicht vermessen, beruht die aperspektivische orthogonale Draufsicht auf städtische Räume auf Messungen, die sich vor allem zu militärischen und juristischen Zwecken herausbilden.1

1

Einen Überblick über die Entwicklung der Stadtdarstellung zwischen Profil- und Grundrissdarstellung mit Fluchtpunkt Lateinamerika liefert Richard L. Kagan: Urban Images of the Hispanic World, 1493-1793, New Haven/London: Yale UP 2000, v.a. S. 1-18. Vgl. außerdem Lucia Nuti: Ritratti di città: Visione e memoria tra Medioevo e Settecento, Venedig: Marsilio 1996. 77

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Bereits in Stadtplänen, die in der Tradition der frühneuzeitlichen Veduten die Fiktion eines imaginierten Blicks von oben aufrecht erhalten, wird ein besonderer visueller Effekt greifbar, der sich als ›panoptisch‹ beschreiben lässt: So findet sich bereits lange vor dem – von Michel Foucault ausführlich analysierten2 – panoptischen Dispositiv Jeremy Benthams, das gegen Ende des 18. Jahrhunderts das Phantasma des Alles-Beobachtens in einem Traktat zur Gefängnisarchitektur realisiert, die Idee einer Karte als Panoptikum. Sie ist letztlich auf die antike Imaginations- und Meditationsübung der ›Kataskopie‹, d. h. den imaginierten Blick auf die Erde von oben zurückzuführen. In der Neuzeit wandelt sich diese Übung der Distanzierung von der Welt durch den Einsatz eines kartographischen Dispositivs zunehmend in eine medialisierte Form der Raumaneignung.3 Bezeichnenderweise lässt die bedeutendste Sammlung von Städteansichten der Frühen Neuzeit, die Civitates orbis terrarum von Georg Braun und Frans Hogenberg, im Vorwort des ersten Bandes eine allegorische Figur namens Panoptes auftreten, der als Kartographieexperte einem staunenden, Thaumastes genannten Betrachter von Stadtplänen die Leistungen des Mediums erklärt.4 Mit der ästhetischen Schaulust geht aber auch ein politisches Potenzial der Raumkontrolle einher, das weniger auf der perspektivischen Ansicht als auf der Vermessung und dem Grundrissplan basiert. So verbinden sich von Anfang an koloniale Städtegründungen mit dem erklärten Willen zur Kontrolle des Siedlungsprozesses. Vor allem in den spanischen Vizekönigreichen in Lateinamerika entstehen dabei koloniale Städte im Schachbrettmuster, die nicht nur auf imaginierten Ansichten, sondern auf Techniken der Vermessung beruhen und jeden bebauten Ort in der Stadt als Resultat einer mathematischen Adressierbarkeit erscheinen lassen.5 Das panoptische Dispositiv des Stadtplans abstrahiert hierbei

2 3

4

5

Vgl. Michel Foucault: Surveiller et punir, Paris: Gallimard 1975, hier S. 228-264, Kap. »Le panoptisme«. Vgl. zur Transformation der antiken Kataskopie durch die kartographische ›Medialisierung‹ des Blicks in der Frühen Neuzeit Jörg Dünne: »Kartographische Meditation. Mediendispositiv und Selbstpraxis in der Frühen Neuzeit«, in: J.D./Christian Moser (Hg.): Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und Neuen Medien, München: Fink 2008, S. 331-351. Alexander Grapheus: »In orbis terrarum civitates colloquium«, in: Georg Braun/Frans Hogenberg: Civitates Orbis Terrarum, hg. von R. A. Skelton, 3 Bde., Kassel/Basel: Bärenreiter 1965 [Reprint der 6 Bände von 15721618], hier Bd. 1, o. S. Vgl. dazu Hubert Damisch: »La grille comme volonté et comme représentation«, in: Cartes et figures de la terre, Paris: Centre Georges Pompidou 1980, S. 30-40 [Ausstellungskatalog]. 78

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ganz von einem bestimmten, wenn auch imaginierten erhöhten Beobachtungspunkt zugunsten eines ubiquitären, nicht durch perspektivische Auszeichnungen gesteuerten Blicks. Stadtpläne verkörpern, wie Louis Marin in Anlehnung an das Epistemenmodell Michel Foucaults gezeigt hat, in exemplarischer Weise das räumliche Ordnungsdenken des klassischen Zeitalters und übertragen die kognitive Ordnung des Tableaus auf diejenige des städtischen Raums.6 Es ist jedoch offensichtlich, dass dabei Repräsentationssysteme und repräsentierte Territorien nie restlos zur Deckung kommen, selbst wenn Foucaults Modell mit seiner Annahme einer ›transparenten‹ Repräsentation dies für das 17. und 18. Jahrhundert nahelegt. Vielmehr ist die Suggestion tableauartiger Kontrolle des gesamten städtischen Raums in erster Linie ein Effekt medialer Dispositive. Diese Dispositive treten in ihrer Bedeutung um so stärker hervor, je mehr Repräsentationsanspruch und konkrete Raumpraktiken auseinanderfallen: So lässt sich behaupten, dass das mediengesteuerte politische Imaginäre der Raumkontrolle in der Moderne in dem gleichen Maße an Bedeutung gewinnt, wie sich eine Erfahrung der Unkontrollierbarkeit des kartographisch repräsentierten Raums einstellt – Dispositive der Raumkontrolle und davon divergierende Raumpraktiken bedingen und verstärken sich gegenseitig.7 Es wird eine konstitutive Spannung zwischen statischer Ordnung der Repräsentation und ereignishafter Störung dieser Ordnung deutlich, die neue Ordnungsprojekte ebenso hervorbringt wie ihre Überschreitung und nicht nur für politische Überwachungsprozesse verantwortlich ist, sondern auch die Möglichkeiten ästhetischer Raumkonstitution in der Moderne nachhaltig beeinflusst. Allerdings verlagert sich der Akzent beim Einsatz der Kartographie für moderne Überwachungstechniken zunehmend von der Kontrolle von Orten zur Kontrolle von Bewegungen – damit wird die Verbindung der Karte mit der architektonischen Realisierung geschlossener Räume gelöst; sie bekommt stattdessen verstärkt die Funktion, Bewegungen zwischen Orten beobachtbar zu machen. Man könnte diesen Übergang als Umbruch von der panoptischen Disziplinargesellschaft nach Foucault zu dem beschreiben, was Gilles Deleuze in Abgrenzung davon eine ›Kontrollgesellschaft‹ genannt hat, die seit dem 20. Jahrhundert in Erscheinung tritt und die gegenwärtigen Überwachungstechniken nachhaltig 6 7

Vgl. Louis Marin: »Les voies de la carte«, in: Cartes et figures de la terre, S. 47-54. Zum Verhältnis von Dispositiv und Praxis in Abgrenzung von Foucaults machttheoretischen Schriften vgl. grundlegend Michel de Certeau: L’invention du quotidien I, 2. Auflage, Paris: Gallimard 1990, speziell zu Raumpraktiken S. 139-191. 79

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prägt:8 In Kontrollgesellschaften geht es nicht mehr darum, abweichende Bewegungen an bestimmten Orten wie zum Beispiel Gefängnissen oder Kliniken zu fixieren, sondern vielmehr darum, die Unvermeidbarkeit dieser Bewegung zu beobachten und fallweise in Möglichkeiten gezielter Ortung bzw. Regulierung zu überführen. Überwachungstechnisch ist nun nicht mehr allein das statische Tableau des Stadtplans polizeilich relevant, sondern es kommt der strategische Einsatz von – insbesondere drahtlosen – Übertragungsmedien hinzu. Der Film von Jean-Pierre Melville, den es in der Folge zu untersuchen gilt, macht in seinem Einsatz von Karten und Überwachungstechnologien den Übergang von den statischen Formen der Disziplinargesellschaft zu Mechanismen der Kontrollgesellschaft beobachtbar, ohne sich jedoch in der Implementierung solcher Techniken zu erschöpfen. Bevor dies im Einzelnen untersucht werden soll, zunächst einige allgemeine Bemerkungen zum möglichen Formen des Umgang filmischer Erzählung mit Karten.

2 . K a r t en u n d f i l m is c h es E r z ä hl e n Karten können neben dem indexikalischen Verweis auf ein Territorium auch eine intermediale Funktion bei der Konstitution von Erzählungen wahrnehmen. Zur Untersuchung von Erzählstrukturen bietet es sich hierbei an, die kultursemiotische Raumanalyse von Jurij M. Lotman heranzuziehen. Nach Lotman lässt sich eine Karte als sujetlos-klassifikatorische Ermöglichungsstruktur ansehen, auf deren Basis eine konkrete Raumbewegung als sujethafte Dynamisierung dieses statischen Modells stattfinden kann.9 Das bei Lotman vorausgesetzte Verhältnis von kartierbarem Gesamtraum und individueller Raumbewegung ist dabei mit dem von Michel de Certeau beschriebenen Gegensatzpaar von ›carte‹ und ›parcours‹ vergleichbar.10 Während Certeau dieses Verhältnis jedoch vornehmlich als eine Genealogie beschreibt, die vom ›parcours‹ zur ›carte‹ führt, interessiert sich Lotmans Modell der kartographischen Narration für die umgekehrte Nutzung eines kartenartigen Gesamtraums als Ermöglichungsstruktur für einen konkreten ›parcours‹. Damit liefert das Lotmansche Raummodell die topologische Grundlage für die moderne 8

Gilles Deleuze: »Post-scriptum sur les sociétés de contrôle«, in: G.D.: Pourparlers: 1972-1990, Paris: Minuit 1990, S. 240-247. 9 Vgl. insbes. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, aus dem Russ. von Rolf-Dietrich Keil, 3. Auflage München: Fink 1989, S. 300-346, speziell zu Karten S. 340-341. 10 Vgl. Certeau: Invention du quotidien I, S. 175-180. 80

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Rückkoppelung zwischen räumlich strukturiertem Überwachungsdenken und dessen Transgression im unkontrollierbaren individuellen ›parcours‹ moderner Individuen im Rahmen einer Disziplinargesellschaft: Diese Konstellation liefert das raumsemantische Grundmuster für einen Großteil narrativer Sujets in der Moderne, vom Roman bis hin zum Spielfilm. Speziell der Film scheint für die visuelle bzw. plurimediale Konkretisierung des Verhältnisses von ›carte‹ und ›parcours‹ geradezu prädestiniert, weil er die (gedachte oder visuell tatsächlich gezeigte) simultane Übersicht des Stadtplans visuell problemlos in bewegte Bilder eines ›parcours‹ überführen kann und auf diesem Weg Sujets auf einer konkreten topographischen Matrix erzeugen kann: Dieses sujetkonstitutive Verhältnis von ›carte‹ und ›parcours‹ ist besonders charakteristisch für die raumorientierte filmische Organisationsform, die Gilles Deleuze als Bewegungsbild bezeichnet. Insbesondere eine bestimmte Art von »imagemouvement«, das im klassischen Kriminalfilm dominierende »AktionsBild«, das sich nach Deleuze durch die Überführung von Situationen in Handlungen (und umgekehrt) auszeichnet, lässt sich raumtheoretisch als ein dynamisches Verhältnis von ›carte‹ und ›parcours‹ ausdrücken.11 Karten sollen hierbei in einem durchaus konkreten Sinn verstanden werden: Während Michel de Certeau trotz seines kartengeschichtlichen Interesses dazu tendiert, die Karte primär im Sinn einer kognitiven Karte aufzufassen, bezieht sich Lotman auf das Beispiel einer Karte als externes mediales Dispositiv – Karten erscheinen hierbei nicht als eine abstrakte kognitive, sondern als eine konkrete, historisch wandelbare und in bestimmten Macht- und Wissenszusammenhänge stehende topographische Erzählmatrix. Sie stellen somit nicht einfach eine unvordenkliche basale Raumstruktur bereit, in die sich alle möglichen ›parcours‹ fügen, sondern suggerieren in durchaus problematischer Weise innerhalb des erzählten Raums eine Raumkontrolle, ohne diese Suggestion jedoch vollständig einzulösen. Dies gilt selbst in Fällen, in denen Karten bzw. Stadtpläne im filmischen Erzählen als extradiegetische Erzählmatrizes erscheinen,12 die die gesamte filmische Erzählung – meist in Kombination mit einer ebenfalls extradiegetischen Erzählerstimme – zu rahmen und gleichsam hervorzubringen beanspruchen. Auch diese Rahmungen sind de facto Teil eines 11 Vgl zum Aktionsbild Gilles Deleuze: Cinéma I. L’image-mouvement, Paris: Minuit 1983, S. 196-242. 12 Zur Unterscheidung von extradiegetischer und intradiegetischer Ebene beziehe ich mich auf die erzähltheoretische Terminologie von Gérard Genette: »Discours du récit«, in: G.G.: Figures III, Paris: Seuil 1972, S. 65-273, ohne hier näher auf die umstrittene Frage nach dem genauen Status filmischen ›Erzählens‹ einzugehen. 81

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historischen Raummodells, das die narrative Entwicklung spezifischer ›parcours‹ im Film prägt. Ein Beispiel für eine derartige kartographische Einbettung der Sujetbewegung liefert etwa der Beginn von Casablanca aus dem Jahr 1942 (Regie: Michael Curtiz), wo mittels eines Globus sowie in Form einer stilisierten Karte Fluchtwege aus dem von Nazis okkupierten Europa gezeigt werden, die unter anderem auf dem Umweg über Casablanca nach Lissabon und von dort aus weiter nach Amerika führen. Der kartographische parcours von Europa nach Amerika via Casablanca wird dabei in Form einer Linie von Paris über Marseille und Oran nach Casablanca dargestellt und mit bewegten Bildern von Flüchtlingen bzw. Verkehrsmitteln überblendet. Damit wird – mit Details, die an die politischen Karten sowie die Nachrichtensprecher der im Kino gezeigten ›newsreels‹ erinnern und damit ›objektive‹ Faktizität suggerieren – der geopolitische Horizont aufgerufen, in den die an einem Ort spielende Handlung eingebettet ist. Zum anderen tauchen Karten in Filmen, und vor allem in Krimis, intradiegetisch häufig als Dekor im präfilmischen Raum auf. Als Dekor ist die Karte topischer Bestandteil von Polizeistationen und suggeriert eine Totalität von Kontrolle des städtischen Raums, die in der erzählten Geschichte entweder bestätigt oder dementiert werden kann – ein Beispiel aus dem klassischen ›film noir‹, wo die Ordnungs-Suggestion weitgehend eingelöst wird, ist die Polizeistation in Pickup on South Street (1953, Regie: Samuel Fuller), wo mitten in der McCarthy-Ära der städtische Raum New Yorks durch Kooperation eines kleinen Taschendiebs mit der Polizei von einer kommunistischen Bedrohung gesäubert wird. Die Karte im Büro des Kommissars steht dabei emblematisch für die Sujetbewegung als eine Restauration weltpolitischer Ordnung durch den panoptischen Überblick über den städtischen Raum und verleiht dem individuellen Sujet einen geopolitischen Rahmen, der den ungreifbaren weltpolitischen Bedrohungen der Epoche die Suggestion eines ›statisch‹ beherrschbaren Raums gegenüberstellt. Es zeichnet sich dabei eine Koinzidenz von Ordnungsrestauration auf Sujetebene und einer ›statischen‹, kartographisch verfestigten räumlichen Imagination ab, in dem das panoptische Überwachungsdispositiv nach Foucault im Rahmen des fiktionalen Weltmodells restauriert wird. Nicht immer jedoch ist die Funktion von Karten im Film so klar im Sinn eines kartographisch gestützten Restitutionssujets im Sinn von Jurij M. Lotman beschreibbar wie in diesem Beispiel. Dies zeigt sich beispielsweise im französischen Film der Okkupationszeit, der anstelle eines Imaginären der überlegenen Kontrolle mit Hilfe von Karten ein Phantasma des drohenden Kontrollverlusts inszeniert. In dem 1943 erschienenen Krimi Picpus (Regie: Richard Pottier), der Verfilmung eines Sime-

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Abb. 1: Karte der Pariser Verbrechen in Picpus

non-Romans mit Kommissar Maigret als Hauptfigur, dominiert über die Konnotation der Überwachbarkeit, die durch den Stadtplan im Polizeihauptquartier aufgerufen wird, eine andere Konnotation, nämlich die der Überwältigung durch das um sich greifende Verbrechen. In der hinsichtlich der ›mise en scène‹ sicher beeindruckendsten Sequenz dieses (in der Wahl filmsprachlicher Mittel sehr heterogenen) Films sitzt Maigret vor einem überdimensional großen Stadtplan, auf dem die Orte aufleuchten, an denen gerade ein Mord geschehen ist (Abb. 1).13 Das kartographische Panoptikum hat hier seine Überwachungsfunktion verloren und macht stattdessen ein Phantasma der Omnipräsenz von Verbrechen sichtbar, das nicht vollständig für den Kriminalplot funktionalisierbar ist, auch wenn die Totale mit der Kartierung der Morde in der gesamten Stadt bald einer engeren Kadrierung weicht: Die Fokussierung auf einen Kartenausschnitt, mit einem neu aufleuchtenden Licht leitet über zu einem gerade gemeldeten Mord in der Nähe der Bastille, der in der Folge von Maigret aufgeklärt wird. Dennoch bleibt bei Anblick der riesigen Verbrechenskarte mit ihren blinkenden Lämpchen ein Überschuss, der das bedrohliche Faszinosum der Beobachtung proliferierender Delikte über die vom Plot geforderte Restitution einer unwahrscheinlichen Ordnung dominieren lässt.

13 Vgl. den Ausstellungskatalog: Paris au cinéma. La vie rêvée de la Capitale de Méliès à Amélie Poulain, hg. von N. T. Binh, Paris: Parigramme/ Compagnie parisienne du livre 2005 S. 59-60. 83

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Was an der Verbrechenskarte in Picpus außerdem in medientechnischer Sicht vollkommen ungeklärt bleibt, ist die Funktionsweise der Deliktskarte, auf der jeder neu gemeldete Mord offensichtlich unmittelbar nach Eingang der Meldung mittels eines Lämpchens visualisiert wird. Die Übertragung vom Ort des Verbrechens zum zentralen Dispositiv der Visualisierung im Polizeihauptquartier setzt de facto einen vorgängigen Einsatz von Telekommunikationstechniken voraus, die in Picpus als Mittel der kriminalistischen Aufklärung selbst jedoch weitgehend ausgeblendet bleiben. Dies ändert sich spätestens im französischen Nachkriegskrimi, der sich vom Gebrauch der Karte als einem Medium der Disziplinierung wegbewegt und stattdessen die Erfassung von Bewegung im Raum im Sinn der Kontrollgesellschaft zum zentralen Phantasma der kriminalistischen Ermittlung macht. Hier sei nur ein Beispiel aus den späten Fünfzigerjahren in Frankreich genannt: Die Jagd des Mörders in Un témoin dans la ville (1959, Regie: Édouard Molinaro) zeigt ein alternatives Modell der Fahndung, das nicht mehr auf der ›statischen‹ Visualisierung von Verbrechen auf Stadtplänen beruht, sondern die Fortschritte der drahtlosen Telegraphie nutzt: Bezeichnenderweise sind es in diesem Film nicht die hoffnungslos inkompetenten, weil ›unbeweglichen‹ Polizisten, die den Verbrecher fangen, sondern die Fahrer der Pariser RadioTaxis, denen es durch Funkkontakt mit der Taxizentrale gelingt, den Mörder, der selbst in einem gestohlenen Taxi flieht, zu orten und schließlich an der westlichen Stadtgrenze vor dem »Jardin d’acclimatation« zur Strecke zu bringen.14 Karten sind für die Ortung hier überflüssig geworden, was dem gesamten Film eine intermediale Spannung unterlegt, die darin besteht, das Funktionieren nicht unmittelbar visuell greifbarer Übertragungsmedien zu veranschaulichen. Beide Filme werden, wie auch die Tradition der Stadtpläne im amerikanischen ›film noir‹, in Jean-Pierre Melvilles Le Samouraï aufgegriffen. Besonders auf die Verknüpfung von funkgestützter Bewegungsmeldung und ihrer kartographischen Repräsentation wird dabei noch genauer einzugehen sein. Zunächst aber ganz allgemein zur besonderen Kartophilie Jean-Pierre Melvilles, die sich insbesondere in der Verwendung von Stadtplänen zeigt.

3 . J ea n -P i er r e M el v i l l e u nd d e r S t a d t p l a n In Un flic, dem letzten Spielfilm von 1972 unter Jean-Pierre Melvilles Regie, verleiht dieser seinem lebenslangen Dialog mit dem amerikani-

14 Vgl. dazu Paris au cinéma, S. 72. 84

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Abb. 2: Die zwei Stadtpläne im Büro des Kommissars in Un flic

schen Film auf besonders einprägsame Weise Ausdruck: Im Büro des Kommissars Édouard Coleman, gespielt von Alain Delon, hängen zwei Stadtpläne (Abb. 2): Einer davon ist die als Bollman Map bekannte konstruierte Ansicht der Wolkenkratzer Manhattans aus der Luft,15 die auf einer topographischen Karte beruht, diese jedoch variiert, um eine Vogelperspektive auf die Hochhäuser Manhattans zu suggerieren. Die Bollman Map entwickelt somit den Spezialfall eines panoptisches Szenarios, das die Flächigkeit der Karte mit einer besonderen Suggestion von räumlicher Tiefe verbindet. Diese Suggestion, die dem Pariser Stadtbild diametral entgegengesetzt ist, greift Melville für das Setting seines Films in der französischen Hauptstadt insofern auf, als er das Büro Colemans in das damals neu erbaute Pariser Viertel Hochhausviertel »La Défense« verlegt. Bei dem zweiten Stadtplan in Colemans Büro handelt es sich um einen Plan des sechzehnten arrondissement von Paris zwischen der Place de l’Étoile im Nordosten, dem Bois de Boulogne im Nordwesten und der Seine im Südosten: Nicht nur die farbliche Hervorhebung des langgestreckten arrondissement lässt dieses bei flüchtiger Betrachtung wie eine weitere Darstellung Manhattans erscheinen, auch heißt die Uferstraße, die das Viertel zur Seine hin begrenzt, avenue de New York. Schließlich findet sich etwas weiter flussabwärts (und ebenfalls noch auf dem im Büro des Kommissars hängenden Kartenausschnitt zu sehen) die Pariser Replik der New Yorker Freiheitsstatue. Durch diese kartographische

15 Zur Reproduktion und Beschreibung dieses Stadtplans vgl. Paul E. Cohen/Robert T. Augusty (Hg.): Manhattan in Maps, 1527-1995, New York: Rizzoli 1997, S. 152f. Ich danke Robert Stockhammer für den Hinweis auf diese Karte. 85

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Abb. 3: Der »Plan Turgot« im Büro des Kommissars in Le Samouraï

Suggestion wird in Un flic buchstäblich ein Plan von New York über denjenigen der Stadt Paris gelegt, was nicht zuletzt als ästhetische Aussage Melvilles über seine Absichten zur ›Amerikanisierung‹ des französischen Krimis gelesen werden kann.16 Über die Karte als Index für den filmästhetischen Transfer des amerikanischen ›film noir‹ nach Frankreich hinaus knüpft Melvilles Kartophilie und insbesondere seine Vorliebe für Stadtpläne auch an spezifisch französische Traditionen an, was hier vor allem am Beispiel seines bekanntesten Krimis Le Samouraï aus dem Jahr 1967 untersucht werden soll: Dort sind mehrere Stadtpläne intradiegetisch in höchst auffälliger Weise präsent, allen voran der Paris-Stadtplan im Büro des Kommissars (Abb. 3). Dass dieser Stadtplan jedoch nicht unmittelbar für den Kriminalplot funktionalisierbar ist, indem er disziplinarische Raumkontrolle suggeriert, wird schon daran deutlich, dass es sich bei ihm um den wohl bekanntesten historischen Stadtplan von Paris handelt, der aus dem Ancien Régime stammt, den so genannten Plan Turgot aus den Dreißigerjahren des 18. Jahrhunderts.17 Ohne hier näher auf die genaue Funktion dieses Planes im Rahmen einer Darstellung des Polizeihauptquartiers

16 Vgl. hierzu allgemein Ginette Vincendeau: Jean-Pierre Melville. An American in Paris, London: BFI 2003 – dieses Buch ist die einzige neuere monographische Studie zu Melvilles Filmen, der der vorliegende Beitrag zahlreiche Anregungen verdankt – vgl. speziell zu Le Samouraï S. 175-188. 17 Vgl. dazu die kommentierte Ausgabe von Laure Beaumont-Maillet/JeanYves Sarrazin (Hg.): Le plan Louis Bretez dit Plan de Turgot 1734-1739, Paris: Réunion des musées nationaux 2005. Für den Hinweis auf den plan Turgot danke ich Christian Moser. 86

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eingehen zu können, lässt sich dennoch vermuten, dass mit diesem Plan ein historisches Modell der ›disziplinarischen‹ Raumbeherrschung aufgerufen und zugleich als möglicherweise obsolet ausgestellt wird. Bezeichnenderweise ist es auch nicht dieser Paris aus der Vogelperspektive zeigende historische Stadtplan, der eine Funktion im Rahmen der kriminalistischen Nachforschung erhalten wird, sondern ein anderer Plan, dessen Nutzung mit dem Einsatz drahtloser Übertragungsmedien verknüpft wird. Vor der näheren Analyse der Funktion dieses Stadtplans kurz zur Handlung des Samouraï, die an den amerikanischen ›film noir‹ mit dem Titel This Gun for Hire (1942, Regie: Frank Tuttle) angelehnt ist. Der Protagonist des Films, der Auftragskiller Jeff Costello, hat einen Nachtclubbesitzer umgebracht und wird von der Polizei nach einer nächtlichen Razzia festgenommen und verdächtigt, kann jedoch nicht dauerhaft festgehalten werden, da sein Alibi nicht widerlegbar ist und er außerdem in einer Gegenüberstellung mit den Nachtclubangestellten nicht zweifelsfrei als der Täter identifiziert werden kann. Entscheidende Entlastung liefert hierbei die Aussage der Pianistin, die ihn zwar gesehen hat, ihn aber deckt. Nach seiner Freilassung wird er sowohl von der Polizei beschattet als auch von den Auftraggebern des Mordes verfolgt, die ihn als Sicherheitsrisiko aus dem Weg schaffen wollen. Ein Versuch, ihn zu ermorden, scheitert jedoch, und schließlich bekommt er von den Auftraggebern einen zweiten bezahlten Mord angeboten. Er geht auf das Angebot ein, erpresst sich aber von dem Mittelsmann mit Gewalt den Namen des Auftraggebers beider Morde und bringt diesen um. Darauf begibt er sich erneut in den Nachtclub, wo er – darin besteht der zweite Mordauftrag – die Pianistin aus dem Weg schaffen soll, mit der er inzwischen nicht nur selbst ein Verhältnis begonnen hat, sondern die sich auch als die Geliebte des von Jeff ermordeten Auftraggebers herausstellt: Im Wissen, damit seinen eigenen Tod zu provozieren, richtet er seine ungeladene Waffe auf sie und erreicht, dass die von dem Plan inzwischen ebenfalls informierte Polizei ihn erschießt. Le Samouraï erzählt, im Gegensatz zu This Gun for Hire, eine handlungslogisch weitgehend unmotivierte, d. h. durch keine Vorgeschichte und keine psychologische Handlungsmotivation des Protagonisten plausibilisierte Geschichte.18 Anstatt narrativ motiviert zu werden, wird in der 18 In This Gun for Hire wird dagegen die Geschichte des Killers als späte Bekehrung eines Sünders vor seinem Tod erzählt: Vom amoralischem Eigeninteresse daran, seinen Auftraggeber, der ihn betrogen hat, umzubringen, wandelt sich die Motivation des Protagonist Philip Raven, veranlasst durch die schöne Freundin des Kommissars, zur Bereitschaft, sein Leben schließlich einer guten Sache zu opfern: Er zwingt seinen Auftraggeber als letzte 87

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›mise en scène‹ des Films gleich zu Beginn die Unausweichlichkeit des Schicksals des Protagonisten in einer ›metonymischen Metapher‹ vorgeführt: Der Vogel im Käfig seines Zimmers, zu dem Jeff eine fürsorglichere Beziehung unterhält als zu irgendeinem anderen Lebewesen, steht für sein eigenes Leben. Vor dem Hintergrund fehlender kausaler Motivation der erzählten Geschichte stellt sich die Frage nach der Transformation der klassischen Krimi-Intrige von Ordnungstransgression und ihrer möglichen Restitution. Dieser Konflikt, der sich als Raumkonflikt zwischen transgressiver Bewegung des Protagonisten und polizeilicher Schließung des Raums manifestiert, wird vor allem in der berühmten, insgesamt etwa zehnminütigen Verfolgungssequenz in der Pariser Métro im letzten Drittel des Films behandelt. Der Versuch der Polizei, Jeffs Bewegungen zu kontrollieren, gipfelt hier, nach einer zuvor gescheiterten Abhöroperation in seiner Wohnung, in einer Strategie, die die beiden bereits erwähnten Medien der polizeilichen Fahndung paradigmatisch miteinander verkoppelt, nämlich den Stadtplan als Dispositiv der panoptischen Überwachung und die drahtlose Sendetechnik als Werkzeug zur ortenden Kontrolle von Bewegung auf diesem Plan. Signifikanterweise beginnt die Observation bei der Métrostation »Télégraphe« im zwanzigsten arrondissement im Osten von Paris: Der Name der Station verweist nicht nur referentiell auf Belleville, also auf das Unterweltviertel par excellence im Pariser Krimi dieser Zeit, er macht als sprechender Name auch auf die tele- und kartographische Schreibszene aufmerksam, mittels derer das Überwachungsdispositiv umgesetzt wird. Zu Beginn der Sequenz wird vom Kommissar vor dem bereits erwähnten Turgot-Plan in seinem Büro das Zusammenspiel der bei der Fahndung eingesetzten Medien erläutert: Die Einsatzgruppe besteht aus Observanten in den Gängen und Zügen der Métro, die mit einem Sender versehen sind: Die Observanten aktivieren den Sender, sobald sie in Jeffs Nähe sind – das Signal des Senders wird in der Polizeistation auf einem eigens dafür gefertigten Stadtplan angezeigt, der an die seinerzeit üblichen Metropläne in manchen Pariser Metrostationen erinnert, mit denen sich ein Reisender mittels einer elektrischen Lichterkette die passenden Verbindungen zu seinem Reiseziel anzeigen lassen kann. Sobald die Informanten vor Ort, die in Kontakt mit Jeff sind, mit ihren Sendern Lichtsignale auf dem Plan aktivieren, schickt der Kommissar neue Observanten in anderen Stationen los, da er nun weiß, in welche Richtung sich Jeff gute Tat vor beider Tod zum Rückzug seiner Geschäfte mit deutschen Nazis. Vgl. im Gegensatz dazu zur psychologischen Entmotivierung des Plots von Le Samouraï ein Interview Jean-Pierre Melvilles, in dem er angibt, bewusst auf einen biographischen Hintergrund des Killers verzichtet zu haben: Rui Nogueira: Le cinéma selon Melville, Paris: Seghers 1974, S. 182. 88

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Abb. 4: Der Kontrollraum des Kommissars: Funkzentrale und Métroplan

bewegt bzw. er beordert das oberirdisch aktive Einsatzteam zu den möglichen Ausgängen, die Jeff wählen kann. Der Métroplan, auf dem der Kommissar den Bewegungen Jeffs entsprechend seine Leute dirigiert, ist das Herzstück einer Art kybernetischen Schaltzentrale (Abb. 4). In alternierender Montage werden die Visualisierung der Bewegung auf der Karte und die Reaktionen des Kommissars mit den Reaktionen seines oberirdischen Einsatzteams, das mit Autos die jeweils möglichen Ausgänge besetzt, und vor allem mit der Bewegung Jeffs und seiner unmittelbaren Verfolger durch die Schächte der Métro konfrontiert. Auffällig ist hierbei vor allem, dass die Handlungsebene um Jeff jeweils deutlich größere Einstellungslängen bekommt als die beiden anderen, die meist nur in kurzen Zwischenschnitten eingeblendet werden. Dies erzeugt den Eindruck einer zeitlichen Dehnung, die noch durch Alain Delons kühles ›Unterspielen‹ im Gegensatz zum deutlicher seine Affekte zeigenden Kommissar verstärkt wird. Jeff bemerkt, dass er verfolgt wird und bemüht sich nun, die Strategie des Einsatzplans der Observanten zu ergründen. Dies geschieht zunächst durch das Abschütteln einzelner verdächtiger Personen, von denen er sich verfolgt glaubt. Er begreift bald, dass er es mit einem Netz von Observanten zu tun hat und verhält sich intuitiv genau so, dass es ihm gelingt, das um ihn gelegte Überwachungs-Netz an seinem schwächsten Punkt zu durchbrechen. Während der Beginn der Sequenz fast in Realzeit abläuft und nur in kurzen zeitlichen Ellipsen die Momente der Fahrt zwischen den einzelnen Stationen herausschneidet, überbrückt im Verlauf der Verfolgung eine längere Ellipse den Weg zwischen den Stationen im Pariser Osten, wo Jeff zunächst die Grenzen der Überwachung austestet, und der Station »Chatelêt« im Zentrum von Paris (Abb. 5), die den größ89

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Abb. 5: Die Lampe bei Châtelet zeigt Jeff Costellos Aufenthaltsort auf dem Métroplan

ten Knotenpunkt von Métrostationen in der Stadt bildet und auch über die meisten Ausgänge verfügt. Hier, wo die Zahl der Möglichkeiten im Vergleich zu den bisherigen Stationen um ein Vielfaches zunimmt, gelingt es Jeff schließlich nicht nur, seine ihn gerade beschattende unterirdische Verfolgerin auf einem der langen Laufbänder abzuschütteln, sondern auch, an einem der Ausgänge ungesehen zu entkommen, der von den oberirdischen Observanten nicht schnell genug besetzt werden konnte. Damit endet die Sequenz, und Jeff kann in aller Ruhe mit der Vorbereitung seines zweiten Mordes beginnen, die filmisch als eine leicht variierte Wiederholung der ersten Mordsequenz präsentiert wird. Es stellt sich die Frage nach der Funktion dieser Verfolgungsjagd: Innerhalb des Plots des Films ist die Observation, wie bereits erwähnt, nur sehr begrenzt funktional, was die Verknüpfung der erzählten Ereignisse zu einem kohärenten Kriminalplot betrifft: Weder zur Aufklärung von Jeffs Täterschaft – das klassische Krimi-Handlungselement der detektivischen Ermittlung – noch als Schauplatz eines echten Ereignisses ist die Verfolgungsszene besonders relevant. Rein handlungslogisch steht die Motivation, Jeff observieren zu wollen, in einem grotesken Missverhältnis zum Aufwand, der dabei betrieben wird19 – ein Missverhältnis, 19 Das Bemühen Melvilles, sich im Interview mit Rui Nogueira unter Berufung auf die angebliche Aussage eines ›echten‹ Polizeikommissar Lob für seine Erfindung abzuholen (vgl. R. Nogueira: Le Cinéma selon Melville, S. 198), ist wohl eher als Versuch der Rechtfertigung einer Überwachungsphantasie zu verstehen, die sich durch ihr Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag von vornherein als pragmatisch nutzlos entlarvt. 90

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das aber von Melville offensichtlich sehr bewusst als Kontrapunkt zur Folie von This Gun for Hire eingesetzt wird, wo die Verfolgung des Protagonisten durch die Polizei nie auf ein technisches Kontrolldispositiv, sondern auf klassische detektivische Spurensicherung zurückgreift.20 Gerade in dieser Funktionslosigkeit macht die Métro-Sequenz aber den grundlegenden Umbruch von disziplinarischen zu kontrollgesellschaftlichen Überwachungstechniken deutlich, indem sie das Ins-Leere-Laufen des komplexen Überwachungsdispositivs zeigt.21 Darüber hinaus stellt sich natürlich die Frage, welches Raummodell Le Samouraï und andere Filme Melvilles an die Stelle der Affirmation einer restitutiven Schließung des polizeilich geordneten Raums setzen. Betrachtet man die Verfolgungsszene für sich, kann man den Eindruck gewinnen, als benutze Melville das Szenario der Verfolgung durch die Métro weniger zur Unterstützung einer kausalen Motivation der Erzählung. Vielmehr geht es ihm offensichtlich darum, die Möglichkeiten einer Kombinatorik auszuschöpfen, die das Dispositiv der kartographisch gesteuerten Überwachung sprengt. In der Verfolgungsszene spielt die Überlagerung von städtischer Topographie und U-Bahn-Netz eine wichtige Rolle. Der Weg in den Untergrund reduziert dabei Bewegungsmöglichkeiten und passt sie in das Schema einer festen Kombinatorik ein: Bewegung in den Métro-Schächten wird somit zumindest potenziell kalkulierbar, weil sie einem festen Set von Regeln (mögliche Anschlüsse und Ausgänge pro Station) folgt und ein Kalkül von Bewegungsrichtungen ermöglicht. Gleichzeitig benennt Melville mit der Métro-Sequenz jedoch auch den Punkt, an dem die Kombinatorik der verschiedenen ›parcours‹ zu komplex wird, um noch berechenbar zu sein. Er markiert somit zumindest vorläufig die Grenze einer Kontrollmacht und – so könnte man meinen – auch die Grenze jeglichen disziplinarischen Raumkalküls.

20 Die Verfolgungsszene zwischen Philip Raven und der Polizei, die der Verfolgung durch die Métro entspricht, wird dort ganz ›klassisch‹ als eine Art Schnitzeljagd inszeniert, bei der es der von Raven entführten Ellen gelingt, unterwegs unbemerkt Spielkarten (mit denen sie normalerweise eine Zaubernummer in einem Cabaret durchführt) zurückzulassen und die Mauer der Fabrik, wohin Raven sie entführt, beiläufig mit ihrem Schminkkissen zu markieren. 21 Zur Vermutung, dass Kontrollgesellschaften – im Gegensatz zu Disziplinargesellschaften – nicht primär auf Sichtbarmachung von Überwachungstechniken angewiesen sind und die Visualisierung in ihnen weitgehend funktionslos geworden ist, vgl. Ekkehard Knörer: »›Hollywood blickt dich an.‹ Bilder der Überwachung in The Truman Show und Enemy of the State«, Vortrag auf der Tagung »Infame Bilder« (Filmmuseum Wien, 2004), http://www.jump-cut.de/textarchiv-infamebilder.html [Abruf 20.2.2009]. 91

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In dieser Hinsicht teilt Melvilles Stadtplan-Kombinatorik wichtige Merkmale mit den Texten von Pariser Zeitgenossen: Zu denken wäre etwa an die Experimente der Autoren, die dem Nouveau Roman, dem OULIPO oder auch den Situationisten nahe stehen, so Michel Butors Roman L’emploi du temps von 1957, die Paris-Texte Raymond Queneaus oder Georges Pérecs oder die psychogeographischen Experimente der Gruppe um Guy Debord.22 Dennoch greift dieser Vergleich zu Autoren und Regisseuren, die nicht unbedingt zu Melvilles ästhetischem Bezugshorizont gehören, zu kurz, denn Melville setzt die Stadtplan-Kombinatorik nicht nur als experimentelle Matrix zur Erzeugung von narrativer Komplexität ein. Er gibt sich also nicht dem Optimismus einiger seiner französischen Zeitgenossen hin, die glauben, dass die Mechanismen der Kontrollgesellschaft auf spielerische Weise zu subvertieren seien:23 Während ein solcher experimenteller Optimismus auf die visuelle Macht der Karten gegenüber kontrollgesellschaftlichen Ortungsverfahren setzt, lässt Melville letztlich sowohl kartographische als auch übertragungstechnische Ortungen in ihrer Funktionalität kollabieren, indem er ihnen von vornherein eine andere Art der Schließung seines Plots unterlegt. Bei dieser Schließung geht es ihm weder um die krimitypische restitutive Affirmation einer bestehenden sozialen Ordnung, die das Verbrechen als transgressiven Störfaktor ortet und eliminiert – sei es mittels kartographischer Disziplinierung oder mittels Kontrolle von Bewegung – noch um das spielerische Experiment mit einer Gegen-Ordnung. Vielmehr wird ein Kurzschluss zwischen dem Raum der polizeilichen Ordnung und dem Gegenraum in einer tragischen Opferkonstellation inszeniert, die die Raumordnung generell entdifferenziert, statt sie zu affirmieren oder zu dekonstruieren. Es wird häufig in Melvilles Filmen auf die Ähnlichkeiten zwischen dem Verhalten der Polizei und dem der Verbrecher hingewiesen24 – am deutlichsten manifestieren diese sich wohl im Verhältnis seines bereits erwähnten letzten Films, Un flic, zu seinen anderen Kriminalfilmen mit Alain Delon: In Un flic wird Alain Delon vom 22 Vgl. zu Michel Butor den Beitrag von Achim Hölter in diesem Band sowie zum OULIPO und speziell zu Georges Pérec den Beitrag von Robert Stockhammer. 23 Ein gesondert zu diskutierender Fall wären Filme Jacques Rivettes, die die Spannung zwischen Panoptismus und spielerischer Kombinatorik in anderer Weise als Melville aufarbeiten – vgl. hierzu den Beitrag von Ekkehard Knörer in diesem Band. 24 Vor allem in Le cercle rouge von 1970 wird in moralistischer Tradition die erbsündenähnliche Schuld aller Menschen hervorgehoben – vgl. dazu u. a. G. Vincendeau: American in Paris, S. 198-200. 92

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Verbrecher zum Kommissar Coleman, behält aber dabei den Look, die Autos und auch die Verhaltenweisen seines Jeff Costello-Charakters bei. Zugespitzt ließe sich von hier aus behaupten, dass Melvilles Plots letztlich alle auf das Erreichen eines stillschweigenden Einverständnisses zwischen Kommissar und Killer zulaufen. Dieses Einverständnis legt eine schicksalhafte Verstrickung frei, der zufolge einer der Protagonisten dafür bestimmt ist, den anderen zu töten, wobei die Rollen prinzipiell austauschbar sind: Diese Schließung ist nicht mehr als eine normalisierende Durchsetzung von Ordnung und auch nicht mehr als ihre spielerische Außerkraftsetzung zu verstehen, sondern als schicksalhafte Komplementarität von Ordnung und dem, was durch sie ausgegrenzt wird: Melvilles Filme führen den Kriminalfilm-Plot insofern an eine Grenze, als sie sich als Maschinen zur Erzeugung einer tragischen Unausweichlichkeit verstehen lassen.25 Vor diesem Hintergrund wäre das Entkommen Jeffs durch den freien Ausgang in der Kombinatorik des Métro- bzw. Stadtplans nicht ein Zeichen für polizeiliche Ineffizienz, sondern vielmehr ein Zeichen dafür, dass noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, die tragische Katastrophe effektiv am dafür notwendigen Punkt zu verorten. Der letzte Handlungsort, an dem sich die strategische Verfolgung des Kommissars und die taktische Flucht Jeffs zu einer tragischen Opferszene fügen, bedarf selbst nicht mehr der kartographischen Verortung, sondern konstituiert sich durch die ritualisierte Wiederholung, die so lange erfolgt, bis das Zusammentreffen zwischen Verfolger und Verfolgtem gleichsam ›notwendig‹ eintritt: Die Wiederholungsstruktur wird im Samouraï eingelöst durch die fatale Rückkehr Jeffs an den Ort seines ersten Auftragsmordes – Melville bezeichnet die Pianistin, die den Anlass dafür liefert, in einem Interview als die Allegorie des Todes und den Kommissar als den Vollstrecker des Schicksals.26 Die Bar, in der es zum Showdown kommt, nimmt dabei ikonographisch mittels langer Plexiglasstangen das Motiv des Vogelkäfigs aus der Anfangssequenz des Films wieder auf, jetzt allerdings mit Jeff in der Rolle des Gefangenen bzw. Opfers. Die rituelle Wiederholung des Tötungsakts bis zur Erfüllung des Schicksals bedarf nicht der Kartierung, möglicherweise lässt sich aber behaupten, dass der Film auch die Auflösung kartographischer Raumordnung noch mitreflektiert: Sieht man Jeffs kahle Zimmerwand zu Be25 Dies gilt übrigens m. E. nicht nur für Melvilles Krimisujets, sondern auch – und da wird die Annahme einer tragischen Korrespondenz, ja sogar Angleichung von Tätern und Opfern ungleich brisanter – für seine politischen Filme über die Résistance in Frankreich, insbesondere L’armée des ombres von 1969. 26 Vgl. R. Nogueira: Le cinéma selon Melville, S. 190 bzw. 192. 93

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Abb. 6: Das ›Kartenpalimpsest‹ an der Wand in Jeffs Zimmer

ginn der Verfolgungsszene in Korrespondenz mit dem kurz zuvor gezeigten Stadtplan des Kommissars im Polizeiquartier, so meint man in den grob abgeschliffenen, all ihrer ursprünglichen Farben entkleideten Wänden ein verschwommenes Palimpsest oder Nachbild des schwarz-weißen Turgot-Plans im Büro des Kommissars zu erkennen (Abb. 6). Die Ritualisierung des Showdowns, die in Melvilles Filmen evident ist, verdiente sicherlich eine genauere Untersuchung – insbesondere müsste dabei wohl die Frage verhandelt werden, wie sich ritualisierte Opferung und filmisch inszenierte ›coolness‹ zueinander verhalten und welche politischen Implikationen diese moralistischen ›Verhaltensmuster der Kälte‹ haben, die in den der Résistance gewidmeten Filmen Melvilles ebenso wie in den Krimis zu finden sind. Für die Frage der möglichen Funktionalisierung von Stadtplänen im Rahmen filmischen Erzählens bleibt, um abschließend auf die hier entfalteten Grundgedanken zurückzublicken, festzuhalten: Das palimpsestartige Verschwinden des Stadtplans an den kahlen Wänden von Jeffs Wohnung als Gegenbild zum Turgot-Plan im Büro des Kommissars gibt die Verwendung des Stadtplans als ›Leitphantasma‹ kriminalistischer Kontrolle des Raums und der in ihm stattfindenden transgressiven Delinquenz als kontingentes historisches Dispositiv zu erkennen. Der Einsatz des Stadtplans ist für Melville zwar sowohl hinsichtlich der Überwachung und Kontrolle von Delinquenz als auch als Ermöglichungsstruktur einer narrativen Kombinatorik letztlich funktionslos. Dennoch prägt sich der Stadtplan als eines der wesentlichen medialen Regulative des Films ein, das den krimitypischen ›heißen‹ Konflikt von Bewegungskontrolle und Transgression in die Aporie treibt und damit die Kontrastfolie des ›kalten‹ Schlusses um so deutlicher in den Vordergrund treten lässt. 94

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Literatur Beaumont-Maillet, Laure/Sarrazin, Jean-Yves (Hg.): Le plan Louis Bretez dit Plan de Turgot 1734-1739, Paris: Réunion des musées nationaux 2005. Braun, Georg/Hogenberg, Frans: Civitates Orbis Terrarum, hg. von R. A. Skelton, 3 Bde., Kassel/Basel: Bärenreiter 1965. Certeau, Michel de: L’invention du quotidien I. Arts de faire, 2. Auflage, Paris: Gallimard 1990. Cohen, Paul E./Augusty, Robert T. (Hg.): Manhattan in Maps, 15271995, New York: Rizzoli 1997. Damisch, Hubert: »La grille comme volonté et comme représentation«, in: Cartes et figures de la terre, Paris: Centre Georges Pompidou 1980 [Ausstellungskatalog], S. 30-40. Deleuze, Gilles: Cinéma I. L’image-mouvement, Paris: Minuit 1983. Deleuze, Gilles: »Post-scriptum sur les sociétés de contrôle«, in: G.D.: Pourparlers: 1972-1990, Paris: Minuit 1990, S. 240-247. Dünne, Jörg: »Kartographische Meditation, Mediendispositiv und Selbstpraxis in der Frühen Neuzeit«, in: J.D./Christian Moser (Hg.): Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und Neuen Medien, München: Fink 2008, S. 331-351. Foucault, Michel: Surveiller et punir, Paris: Gallimard 1975 Genette, Gérard: »Discours du récit«, in: G.G.: Figures III, Paris: Seuil 1972, S. 65-273. Kagan, Richard L.: Urban Images of the Hispanic World, 1493-1793, New Haven/London: Yale UP 2000. Knörer, Ekkehard: »›Hollywood blickt dich an.‹ Bilder der Überwachung in The Truman Show und Enemy of the State«, Vortrag auf der Tagung »Infame Bilder« (Filmmuseum Wien 2004), http://www.jumpcut.de/textarchiv-infamebilder.html [Abruf 20.2.2009]. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, aus dem Russischen von Rolf-Dietrich Keil, 3. Auflage, München: Fink 1989. Marin, Louis: »Les voies de la carte«, in: Cartes et figures de la terre, Paris: Centre Georges Pompidou 1980 [Ausstellungskatalog], S. 47-54. Nogueira, Rui: Le cinéma selon Melville, Paris: Seghers 1974. Nuti, Lucia: Ritratti di città: Visione e memoria tra Medioevo e Settecento, Venedig: Marsilio 1996. Paris au cinéma. La vie rêvée de la Capitale de Méliès à Amélie Poulain, hg. von N. T. Binh, Paris: Parigramme/Compagnie parisienne du livre 2005 [Ausstellungskatalog]. Vincendeau, Ginette: Jean-Pierre Melville. An American in Paris, London: BFI 2003.

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F il m e Casablanca (USA 1942, Regie: Michael Curtiz) This Gun for Hire (USA 1942, Regie: Frank Tuttle) Picpus (F 1943, Regie: Richard Pottier) Pickup on South Street (USA 1952, Regie: Samuel Fuller) Un témoin dans la ville (F 1959, Regie: Édouard Molinaro) Le Samouraï (F 1967, Regie: Jean-Pierre Melville) L’armée des ombres (F 1969, Regie: Jean-Pierre Melville) Le cercle rouge (F 1970, Regie: Jean-Pierre Melville) Un flic (F 1972, Regie: Jean-Pierre Melville).

Abbildungen Abb. 1: Aus: Paris au cinéma. La vie rêvée de la Capitale de Méliès à Amélie Poulain, hg. v. N. T. Binh, Paris: Parigramme/Compagnie parisienne du livre 2005 [Ausstellungskatalog], S. 60. Abb. 2-6: Screenshots aus Le Samouraï (1967, Regie: Jean-Pierre Melville)

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ZUM

Z E I T /S T A D T /P L A N . ERZÄHLEN VON URBANEN TOPOGRAPHIEN BEI UWE JOHNSON NILS PLATH

Lieber Uwe, könntest Du Peter Weiss helfen? Er sucht einen Stadtplan von Berlin aus den Jahren 1933 bis 1940 mit einem Straßenverzeichnis. Gibt es so etwas noch? Vielleicht in einem Berliner Antiquariat? [...] Dein Siegfried Lieber Siegfried, wegen des von Peter Weiss gewünschten Stadtplans von Berlin aus den Jahren 1933 bis 1940 habe ich in sechs Antiquariaten angerufen. Fünfmal bekam ich eine negative Antwort, die sechste war aufklärend: solche Stücke sind sehr gesucht, und die Vormerkliste seit Jahren nicht befriedigt. Wenn ich die Sache selbst schon nicht besorgen konnte, so doch die Beschreibung. Was Herr Weiss sucht, ist 1. H. HEYDE, ›Plan von Berlin‹. Berlin (1936) 56,5 mal 79 cm; 1:25000. G. Westermann. 2. G. WESTERMANN, ›Plan der Stadt Berlin‹. Berlin, Braunschweig, Hamburg (1937), 115,5 mal 177,5 cm; 1:25000. 3. ›Pharus‹-Plan. Berlin mit den 20 Verwaltungsbezirken. Berlin, 1940. 121 mal 181 cm; 1:25000. Mehr nicht, leider. Herzliche Grüße, Uwe.1

1 . I m P l a ns o l l Leerstellenbewusstsein. Wenn es dazu kommt, sind es Blicke auf die Flecken auf der Landkarte, die es sichtbar werden lassen. Eingelassen in die erzählte Gegenwart, die nacherzählten eigenen Wahrnehmungsmuster, die das Wiedergegebene unsichtbar verbleibend herstellen, verdeutlichen sich in ihnen die Möglichkeiten einer anderen Geschichte, ihres

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Brief von Siegfried Unseld an Uwe Johnson, Frankfurt am Main, 25. Juli 1972; Brief von Uwe Johnson an Siegfried Unseld, Friedenau 28. Juli 1972, in: Eberhard Fahlke/Raimund Fellinger (Hg.): Uwe JohnsonSiegfried Unseld. Der Briefwechsel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 753 und S. 754. 97

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denkbar alternativen Verlaufs wie einer Abweichung vom Gegebenen und des aus einem jeweiligen Heute nachträglich als vorbestimmt Besehenen: davon zu erzählen ist. So wie an jener Stelle, wo im dritten von vier, dem 1973 erschienenen Band der Jahrestage von Uwe Johnson unter dem Datum des 29. Mai 1968 eine kleine Erzählung eingebunden wurde, in der einer der Hauptschauplätze des Romans, der fiktive Ort Jerichow, nahe der ehedem Zonenrand genannten Grenze und östlich von ihr gelegen, als »zum Westen gekommen« imaginiert wird.2 In der dort beschriebenen doppelten Fiktion – der fiktive, im Osten liegende Handlungsort im Roman wird fiktiv als dem anderen politischen System, dem Westen, zugehörig beschrieben und als solcher in seinem Anderssein dargestellt – werden all die übrigen in den Jahrestagen auftauchenden Handlungs- und Bezugsorte – teils ebenfalls fiktiv (wie einige weitere Orte, man auf den Karten des östlichen Mecklenburgs vergeblich suchen würde), teils real und anhand von akribisch recherchierten Details geschildert (wie die in den Jahrestagen genauestens erzählerisch vermessene Stadt New York) – als Teil einer topographischen Realität beschrieben, die zuvörderst immer eine erzählerische und erzählte ist und als eine solche betrachtet werden muss: In der Schilderung von Orten und Plätzen, die als handlungsvorgebend und nicht nur als Handlungshintergrund ihren Eigenwert besitzen, nämlich Zeitansichtsvorgaben sind, findet sich die Realität von Geschichte als einer Inszenierung von Ansichten wiedergegeben. Nacherzählung, so erfährt man es bei der Solches vergegenwärtigenden Lektüre von Johnsons Ortsbesichtigungsprosastücken, ist als Re-Konstruktion von Zeitgeschichten vor Ort und im Raum anzusehen. Jenes angesprochene, vom Erzähler Uwe Johnson in seinem Roman inszenierte Gedankenspiel ›Wenn Jerichow zum Westen gekommen wäre‹ spiegelt so nicht eine gesellschaftliche Utopie und zeigt auch nicht eine möglichst konkrete Wiedergabe eines Was-wäre-wenn. Es illustriert in einer detaillierten Oberflächenbeschreibung, die zeigt, wie die Lebensumstände der Bewohner und somit ihre Handlungsweisen sich hier wie dort, fiktiv wie real von einem immer kontingenten Geschichtsverlauf bestimmt finden, das bestimmende Erzählprinzip eines Chronisten: Ansichten zu hinterlassen, aus denen sich Einstellungen herauslesen lassen, die diese Ansichten auf eine Realität genannte Darstellungswirklichkeit diktieren. Der Blick auf die Karte, der solange nichts verrät, solange diese nicht als Teil einer Erzählung – und damit: der Geschichte – beschrieben und gedeutet ist, wird zum Ausdruck, ein Leerstellenbewusstsein als Motiv für das Erzählen zu sehen. Nämlich in vorgefundenen

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Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Band 3, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973, S. 1240-1243. 98

ZEIT/STADT/PLAN

Leerstellen ein Bewusstsein für das eigene Erzähltwerden in der Zeit vermittelt zu bekommen. Davon erzählt das Stellenlesen in Uwe Johnsons Erzählungen. Das ist die Vorgabe, die sie für das Kartographieren – jenes Bereitstellen von Orientierungswissen angesichts von Landschaft und Geschichte – liefern. Der weiße Fleck, der blinde, verzeichnet als Illustration historische Verständnisgewinne oder Verstehensbehauptungen. Leerstellenbewusstsein, sichtbar gemacht in den Einlassungen und Auslassungen über den Verlauf der Zeit und dessen Darstellungen in Erzählungen von Landschaften – inneren und äußeren –, bietet damit Anlass genug auch für kritische Lektüren, wenn vom Entwerfen neuer Gewissheiten angesichts geänderter Pläne die Rede ist. Wie in einem rückblickenden Zeitungsbeitrag, der vergangene Zeit in der Gegenwart erinnert und repräsentiert, dabei unausgesprochen eine eigene Wahrnehmungspoetik von Karten und ihren Räumen anbietet: November 1989: Die historischen Ereignisse werfen alle geografischen Gewissheiten in Europa über den Haufen. Die Berliner Mauer fällt, und unter dem nicht endenden Strom der gen Westen drängenden Menschen verschwindet die Grenze, kaum dass sie offen ist. Zeitungen und Fernsehen hielten damals die Jubelszenen fest – die Bilder haben sich tief ins Gedächtnis des zu Ende gehenden Jahrhunderts eingeprägt.3

Ein Kartograph, der in seinem Beitrag für Le Monde diplomatique die Pläne der Welt erläutert, beschreibt sich mit diesen Worten beim retrospektiven Blick auf sein Material selbst als einen Geschichtsschreiber – in einem Beitrag, der mit dem Titel »Der Kartograf und seine Welten« eine Art Rechenschaftsbericht zur Erstellung eines Atlas der Globalisierung ist, und also auch für einen motivierten, umfassenden Blick auf eine gegenwärtige Lage der Welt wirbt. Stellvertretend verzeichnet er sich darin als ein Aufzeichner von Annäherungsweisen an diese auf Stadtplänen und Landkarten real werdende Welt. Sichtbar wird in seinen Worten, die von einem Zeitbruch und dessen Folgen für die Deutung von vergangenen Ansichten ebenso erzählen wie – unausgesprochen – von einem nicht weniger vorbehaltlosen Blick auf die Gegenwart der Weltdarstellung auf Messblättern und in normierten Maßstäben, dass ein blinder

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Philippe Rekacewicz: »Der Kartograf und seine Welten«, aus dem Französischen von Marie Luise Knott in: Le Monde diplomatique, Nr. 8075, 15.9.2006, S. 12-13. 99

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Fleck die Selbstwahrnehmung desjenigen bestimmt, der Karte und Plan studiert und der Aufgabe nachkommt, in sie Wirklichkeit einzutragen. Karten entstammen der Geschichte. Als Produkte von historischen Darstellungstraditionen und tradierten Konventionen, die ihre Geschichte erläutert vorzeigen können,4 erweisen sie sich als Belege für die jedwede historische Schilderung und ihre Lektüren bestimmende Annahme, dass sich Geschichte – ob nun als kollektiv erinnert imaginierte oder als eine in hoheitlicher Herrschaftsabsicht entworfene kritisch in den Blick zu nehmende – stets medial vermittelt, nur in materieller Ausformung weiterführende Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann, und sich einzig mittels Medien über Orte und Zeiten vermitteln lässt. Mit dem bewusst betonten Blick des von außen kommenden Fremden, der ihm zugleich der des professionellen Kartenentwerfers ist5 – beschreibt Philippe Rekacewicz in seinem Zeitungsbeitrag eine ihm als einmalig erschienende Arbeitssituation zu einem als historisch bezeichneten Zeitpunkt: Dank der aufgeregten Live-Berichterstattung richtete sich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit wochenlang auf die glücklichen Massen, die endlich eine ›neue Welt‹ entdeckten, die ihnen 28 Jahre lang verwehrt gewesen war. Zur gleichen Zeit setzten sich ein paar Sonderlinge – bei weitem nicht so zahlreich und völlig unbemerkt – in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung, um eine andere ›neue Welt‹ zu entdecken, eine Welt, die bislang hermetisch abgeriegelt war und die nun erstmals ihre Tore öffnete. Ostdeutschland, ein Staat, aus dem bis dahin wenig Verlockendes nach Paris vorgedrungen und der doch Gegenstand vieler Projektionen gewesen war, gab sich den neugierigen Blicken einiger weniger französischer Geografen und Kartografen preis. Wir näherten

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Vgl. John Goss: KartenKunst. Die Geschichte der Kartographie, Braunschweig: Westermann 1994; Dietrich Ebeling: Historisch-thematische Kartographie. Konzepte, Methoden, Anwendungen, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1999; Roger M. Downs/David Stea: Kognitive Karten. Die Welt in unseren Köpfen, New York: Harper & Row 1982; Alan M. MacEachren: How Maps Work. Representation, Visualization, and Design, New York: Guilford Press 1995; Mark Monmonier: Eins zu einer Million. Die Tricks und Lügen der Kartographen, Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser 1996; Manfred Scheuch: Historischer Atlas Deutschland. Vom Frankenreich zur Wiedervereinigung in Karten, Bildern und Texten, Wien, München: Brandstätter 1997; Denis Wood/John Fels: The Power of Maps, New York, London: Guildford Press 1992. Der hier schreibt, arbeitet unter anderem für das UN-Umweltprogramm (Unep) an der Entwicklung der Kartographie, leitet Projekte zur Erfassung und Darstellung von Umweltdaten und war federführend befasst mit der Entstehung des 2006 erschienenen, von Le Monde diplomatique herausgegebenen »Atlas der Globalisierung«. 100

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uns dem ›neuen europäischen Territorium‹ so ähnlich, wie die Eroberer des 16. und 17. Jahrhunderts in die geheimnisumwitterte Terra incognita aufgebrochen waren.

Als Entdecker schildert sich ein Kartograph, der ein doppeltes Geschäft des In-Ansicht-Nehmens und Zur-Ansicht-Gebens betreibt; mit anderer Zielrichtung und anderer Aufmerksamkeit als die Nachrichtenproduktionen sieht er sich am Werk – seiner Darstellung von Wirklichkeit. Mit den Augen des Fremden wird eine kurz vorher noch abgesperrte Wirklichkeit in Augenschein genommen, vor Ort abgeglichen mit den Projektionen, die die Vergangenheit einst an die Hand gab. Die Betrachtung der von ihm als nunmehr zu besichtigende Realität betretenen, vormals verbotenen »Zone« zeigt nach dieser rückblickenden Schilderung die Unzuverlässigkeit der Aufzeichnungen der Vergangenheit, an die sich der eigene Orientierungssinn zu halten hatte. Sie will – nicht ohne Selbstbewusstsein – den Prozess der Selbstreflexion vor Augen führen, der sich angesichts der wahrgenommenen Nichtentsprechung von kartographischer Darstellung und Wirklichkeit ergab – und schreibt so doch in diesem Paratext zu seinen Karten die Geschichte eines Abbildrealismus fort, der sich weiter an die trügerisch selbstversichernde Trennung zwischen Faktizität und Fiktionalität klammert oder heftet: »Zu unserer Orientierung hatten wir nur ein paar alte topografische DDR-Karten,« erinnert er sich: Aber die waren so falsch, dass wir so gut wie nichts von dem, was wir vor Augen hatten, auf ihnen wiedererkannten. Auf einem zehn bis zwanzig Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze fehlten alle wesentlichen geografischen Bezeichnungen – Straßen und Dörfer, ja die gesamte Infrastruktur, alles, was auch nur irgendwie der Orientierung hätte dienen können. Ein weißer, von Nord nach Süd über die Karte verlaufender ›Schmiss‹ hatte es den Menschen unmöglich gemacht, sich in diesem verminten Gelände zu bewegen. Doch der Schmiss war zugleich die ›Grenze des Reiches‹, ganz so, als habe die verfälschende Hand, die hier am Werk gewesen war, schlimmstenfalls sagen wollen: Hier endet die Zivilisation! Oder bestenfalls: Hier beginnt die verbotene Zone. Auf sowjetischen und anderen osteuropäischen Karten waren ›weiße Flecken‹ keine Seltenheit. Die einzigen offiziellen Karten waren Scheingebilde: Der Westen sah auf ihnen wie eine unberührte Gegend aus, auf eigenem Territorium existierten keine Militärbasen, und wichtige Städte waren um zig Kilometer verlegt. [...] Nie zuvor haben wir die engen und komplexen Bezüge zwischen Karte und Raum so deutlich wahrgenommen. Bislang hatten wir gemeint, Karten seien relativ getreue Abbilder der jeweiligen Staatsgebiete. Dabei war uns natürlich bewusst, dass sie nur ein unvollständiges und notdürftiges Bild vermittelten. Dennoch: Erst die außergewöhnlichen historischen Umstände des Mauerfalls boten uns die Gelegenheit, die politischen Aspekte des Kartenmachens zu stu-

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dieren und die Karte als ein Lügengebilde – und zwar als ein doppeltes Lügengebilde – zu studieren.

In Rekacewicz’ exemplarischer Selbstversicherung bei der Betrachtung der Welt verrät sich eine ebenso augenscheinliche wie erklärliche Naivität des Kartenwesens mit den geäußerten Ansprüchen auf die Orientierungssicherheitsvermittlung über Gelände und Zeiten. Denn wenn er von einem »doppeltes Lügengebilde« spricht, das die offizielle Karte der Vergangenheit als »Scheingebilde« in der nun veränderten Zeit zum Studienobjekt macht, dann, weil er die Darstellungsfähigkeit des Wirklichen auf Plänen und die Faktizitätsspiegelung von Karten gerade bei aller Selbstperspektivierung eben nie grundlegend und nicht einmal bedingt als Konstruktion hinterfragt. Schon gar nicht die eigene Perspektive gegenüber der Gegenwart. Was bleibt, über den so signifikanten Zeitbruch hinaus, ist auf Seiten desjenigen, der vor Ort zum Territorienerfasser wird, um fremde Darstellung und eigene Wahrnehmung von Räumen und topographischen Ordnungen miteinander in Einklang zu bringen, ein ungebrochener Glaube an einen wirklichkeitsvermittelnden Abbildrealismus, als dessen Illustration er die Karte ansehen will. Und muss. Wer nach bestimmten Maßstäben Karten verfertigt, die Darstellung der Vermessbarkeit der Landschaft als sein Geschäft betreibt, kann nicht anders als daran zu glauben, Wirklichkeit in jeder Karte – und in einer jeden schon für sich allein, versehen mit Legende – zumindest potentiell und dabei maßstabsgerecht wiedergegeben zu finden. Dementsprechend wird der Arbeitsbericht des Kartographen zu einer Nacherzählung eines verdrängenden Darstellungsprozesses, in dem die Grundlagen der eigenen Perspektivierungen, eingeschrieben in jedes Kartenwerk, vor Augen der Leser gelöscht werden; und sein Zeitungsbeitrag als die Erzählung eines Wirklichkeitsfabrikationshandwerkers wird zu einem Selbstbeglaubigungssendschreiben. Eben solche Verdrängungen eines das Handeln bestimmenden Leerstellenbewussteins in Sprache wiederzugeben, die Vermessenheit des Anspruchs auf Objektivierbarkeit von Ansichten sprachkritisch darzustellen, mit der Verbindlichkeit des Chronisten auf die historische Erfahrung vom Sprachwandel angesichts von Ereignisgeschichte zu reagieren, dies sind Uwe Johnsons Motive, die eigene Wirklichkeitserfassung auf schriftstellerische Weise zum Ausdruck kommen zu lassen: eine verschriftlichte Haltung zum Realismus für sich und andere zu formulieren, und damit eine ihm eigene Fassung von Realismus zu fabrizieren. Aus der Perspektive des Zeit-Erzählers und Landschafts-Beschreibers Uwe Johnsons – und diese unterscheidet sich sichtbar von der des

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zitierten Kartographen, der erzählt, um sich im Werk zu begründen – ist nur so dem in seiner Komplexität adäquat beizukommen, was als Geschichtsdarstellung zur Herausforderung für Re-Lektüren mit der Zeit und zu unterschiedlichen Zeiten werden muss – auch in und mit literarischen Texten, die ihre Geschichte haben, ohne von ihr in Besitz genommen zu werden, von ihr besetzt zu sein. Ein fortgesetzter Überprüfungsprozess dessen, was als modellhaft an Wirklichkeitsbeschreibungen in Schrift und Bild dargeboten und in den Mitteilungen zur Zeit vermittelt wird, zeichnet in Uwe Johnsons Augen gerade den Roman als ein Aufzeichnungsformat aus, wenn dieser jeweils seine »Version der Wirklichkeit« zum Vergleich mit denkbar anderen zur Überprüfung anbietet. Nicht um seinerseits allgemeingültige Modelle zur Orientierung zu entwerfen allerdings, sozusagen als Pläne für die Wirklichkeit. Sondern um die von ihm vorgefundenen und zueinander in Relation gestellten Schemata von Wirklichkeitsbezeichnungen durch das zu ergänzen, was er zu sagen hat. Seinen einzigen Maßstab, Johnsons Maßgabe für sein Erzählen, das Unterscheidungen produktiv macht, formuliert er als eine Frage: Und warum eigentlich sollte zwischen oder neben beiden Schemata der Berichterstattung noch ein anderes erscheinen? Das ist zunächst die private Angelegenheit des Verfassers. [...] Er leugnet eigensüchtige Motive. Er fängt einfach an. Dann wird er zum Sprecher eines Personenkreises, der ihn nicht beauftragt hat. Oder man hält ihn dafür. Er wendet sich an einen anderen Personenkreis dem er die Notwendigkeit seines Themas erst noch nachweisen muß; dazu darf er aber keine anderen als literarische Argumente benutzen, so daß die Einzelheiten der geplanten Geschichte mit Absichten besetzt werden, die diesem Medium fremd sein könnten. [...] Sein Schema kann spezifisch literarische Fehler produzieren: Er kann für allgemein halten, was einzeln ist. Er kann typisch nennen, was privat ist. Er kann ein Gesetz erkennen wollen, wo nur eine statistische Häufung erscheint. Unablässig ist er in der Gefahr, daß er versucht etwas wirklich zu machen, das nur tatsächlich ist.6

Eingeschrieben in die Haltung zur Darstellungsform von Wirklichkeit, als die Karte wie Erzählung herhalten können, ist die Frage nach der Gattung und ihrer Funktion. Dabei stellt sich Uwe Johnson, grundsätzlich interessiert an Möglichkeiten und Maßstäben zur Wahrheitsfindung und diese wiederholt mit nicht zu übersehender Emphase beteuernd,7 tatsäch6 7

Uwe Johnson: »Berliner Stadtbahn (veraltet)«, in: U.J.: Berliner Sachen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1975, S. 13f. Wahrheit heißt für ihn: fortgesetzte Überprüfung von Standpunkten, an und von denen aus gesehen sich Wahrheit, als solche bezeichnet, formuliert und sich gegenüber anderen, diesen widersprechenden Ansprüchen lesen lässt. In »Berliner Stadtbahn« schreibt Johnson: »Solange die Arbeit an einem li103

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lich praktisch der im Vergleich zu den Verortungen des Kartographen ungleich kritischeren Frage nach der Darstellungsfähigkeit dessen, was er ins Werk setzt: was man eine bestimmte literarische Gattung nennt und so in seiner Funktion bestimmen will, wenn er fragt und antwortet: Wozu also taugt der Roman? Er ist ein Angebot. Sie bekommen eine Version der Wirklichkeit. Es ist nicht eine Gesellschaft in der Miniatur, und es ist kein maß-stäbliches Modell. Es ist auch nicht ein Spiegel der Welt und weiterhin nicht ihre Widerspiegelung; es ist eine Welt, gegen die Welt zu halten. Sie sind eingeladen, diese Version der Wirklichkeit zu vergleichen mit jener, die Sie unterhalten und pflegen. Vielleicht passt der andere, der unterschiedliche Blick in die Ihre hinein.

Zwei Seiten zuvor fordert Johnson: Zu prüfen wäre da nicht nur das Bewußtsein, in dem wir erkennen: so leben wir. Stimmt. Auch ein anderes, das der Frage hilft: Aber wollen wir so leben? Stimmt das?8

Vor allem erkennt Johnson in den als Wirklichkeit beschriebenen Phänomenen offensichtlich sprachliche Organisationsmuster, die zu deuten und in ihren Voraussetzungen zu erkunden er seine fiktiven Charaktere einsetzt.9 Um diese als zeitabhängig erscheinen zu lassen, sind die kontinuierlichen Abläufe in seinen Erzählungen immer wieder unterbrochen. Fortwährend schieben sich Reflexionen, Erinnerungen, Exkurse in den Ablauf der Erzählung, die – so in den Jahrestagen – ihr Raster von der strengen Struktur der Chronologie erhält, einer Tag-für-Tag-Nach-

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terarischen Text dieser Art sich mit der Wahrheit befasst, muß ihr Gegenstand also geprüft werden an wie gegensätzlichen Tendenzen der Wahrheitsfindung. Einige einfache Fehlerquellen bei der Herstellung und Übermittlung von Information sind bekannt: da haben die Augenzeugen nicht genau hingesehen, was sie nicht gesehen haben, können sie nicht sagen.« (U. Johnson: »Berliner Stadtbahn«, S. 11) Uwe Johnson: »Vorschläge zur Prüfung eines Romans«, in: Rainer Gerlach/Matthias Richter (Hg.): Uwe Johnson, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984, S. 35 u. 33. Es sind territoriale Ansprüche, Ansprüche über Raum und Zeit, die sich in sprachlicher Form manifestieren und zur Kontrollnorm für Handlungen werden (und darum Anlass für Beobachtungen und konstellative Selbstbeobachtungen bieten), in denen es in den Manifestationen von Bedeutung um Macht geht. »[B]eide Machtapparate [haben] ihre eigenen sprachlichen Verabredungen getroffen [...] und sie in ihrem Gebiet teilweise als Konvention durchsetzen [können].« (U. Johnson, »Berliner Stadtbahn«, S. 19). 104

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erzählung des Wandels der Orte und Zeiten vor den Erfahrungen der Einzelnen mit der Geschichte.

2 . E i n V o r b l a t t z ur S ei t e »Deswegen kann einer, der in Zeiten wie diesen etwas aufschreibt, nur die erste Hälfte der V. von Walter Benjamins Thesen beherzigen: Lass dir keinen Gedanken incognito passieren, jedoch wird er sich hüten, die Fortsetzung zu befolgen: und führe dein Notizheft so streng wie die Behörde das Fremdenregister.«10

In einem Johann Peter Hebel gewidmeten Vortrag unterscheidet Walter Benjamin zwischen dem Historiker, der sich an »Weltgeschichte« halte – einen Begriff, den Benjamin in der Schriftfassung dieses nicht mehr genau zu datierenden, etwa 1929 entstandenen Vortrags in bezeichnende Anführungszeichen setzt – und dem Chronisten, der sich an den Weltlauf hält. Der eine hat es, schreibt Benjamin, mit dem nach Ursache und Wirkung unabsehbar verknoteten Netz des Geschehens zu tun – und alles was er studierte oder erfuhr, ist in diesem Netz nur ein winziger Knotenpunkt; der andere mit dem kleinen, eng begrenzten Geschehn seiner Stadt oder Landschaft – aber das ist ihm nicht Bruchteil oder Element des Universalen sondern anderes und mehr. Denn der echte Chronist schreibt mit seiner Chronik zugleich dem Weltlauf sein Gleichnis nieder. Es ist das alte Verhältnis von Mikro- und Makrokosmos, das sich in Stadtgeschichte und Weltlauf spiegelt.11

»Zur Chronologie«, notiert Uwe Johnson ein gutes halbes Jahrhundert später, und erweist sich im Weiteren als ein mitschreibender Leser Benjamins: Wie sie eine Erfindung ist, gemacht zu einer Sortierung der Dinge, so ist es eine Erfindung, daß auch nur die Romane des neunzehnten Jahrhunderts sie streng befolgt hätten. Wir benutzen in unserem Denken die zeitliche Folge, aber auch andere Methoden. Warum sollten wir nicht als Kompliment ansehen, daß

10 Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980, S. 72. 11 Walter Benjamin: »Johann Peter Hebel«, in: W.B.: Gesammelte Schriften, Band II, hg. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 637. 105

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Romane unserer Zeit wenigstens sich versuchen an den artistischen Fertigkeiten zeitgenössischer Gehirne?12

Dieses einer Gegenwärtigkeit verpflichtete, in Darstellung gebrachte Zeitdenken ist einerseits der unbestimmbaren Zukunft zugewandt, die so unabsehbar erscheint, dass sie nur in Klammern, vom eigentlichen Text abgesetzt, angesprochen werden kann.13 Andererseits reflektiert Johnson die Erfahrung als ein Reisender oder als jemand, der sich in einer Fremde einrichtet, die zuallerst eine Differenzierungsarbeit in Sprache und Sprechweisen ist: Es wird ihn Mühe kosten, sein Zeichensystem dem Bezeichneten adäquat zu verändern. Es wird ihn Mühe kosten, das Zeichensystem des fremden Landes zu erlernen, dies mit dem mitgebrachten zu vergleichen und endlich ein eigenes nach seinen persönlichen Erfahrungen anzustimmen. Ein Text, der sich mit diesem Aspekt des Vorgangs befassen will, wird eine Sprache gebrauchen müssen, die beide Gegenden in einen Griff bekommt und zudem überregional verständlich ist. Dazu benötigt er einen Maßstab, der sich durch Neuigkeit und geringe Deckung selbst gefährdet. Auch kann das Ergebnis am Ende nicht mehr sein als eine separate Lösung.14

Gegenwärtig bleibt es beim Eindruck, als verstelle der inszenatorisch wieder ins Bild genommene Autor, wo immer er als maßgebend im Bild auftaucht, leichtfertig den Blick auf Karten, Zeitpläne und Archivalien.15

12 Uwe Johnson: »Vorschläge zur Prüfung eines Romans«, in: R. Gerlach/M. Richter (Hg.): Uwe Johnson, S. 34; ursprünglich in: Eberhard Lämmert u.a. (Hg.): Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland seit 1880, Köln: Kiepenheuer 1975, S. 398-403. 13 U. Johnson: »Berliner Stadtbahn«, S. 20: »(Es versteht sich, dass einige dieser Bemerkungen nur gerechtfertigt sind durch den Umstand, dass diese zwei Städte einmal die Hauptstadt eines nicht geteilten Landes bildeten, und durch den Blick auf eine mögliche oder wünschbare Wiedervereinigung.)«. 14 Ebd. 15 Wie hingegen ein Autorporträt auszufertigen ist, das diese oder diesen nicht in ein geschlossenes Bild, in einen bestimmenden Rahmen versetzt, zeigt Johnsons Nachruf auf Ingeborg Bachmann. In Buchlänge versucht er durch eine Montage von vor Ort unternommenen Beobachtungen, historischen Quellenmaterialien, Gegenwartsschriften über die Stadt sowie aus brieflichen, autobiographischen und anderen Zitaten der Autorin ein Porträt zu verfassen, das dem diesem vorangestellten Diktum gerecht werden kann: »Außerdem ist sowieso jeder Nachruf zwangläufig eine Indiskreti106

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Das gilt auch dann, und insbesondere dort, wenn und wo sich auf seine Spuren begeben wird, indem Wege der Annäherung gesucht werden, die ihm von Ort zu Ort, den fiktiven und den realen in seinen Romanen und Erzählungen, nachzugehen versuchen. Wenn das Bild des Autors den Blick auf die Orte und die Zeiten verstellt, wo dessen Porträt zur vordergründig wichtigsten Ansichtsache wird, dem die Blicke gelten. In Gesellschaft gebracht, zur Nacherzählung von Begebenheiten in der Erinnerung zum Beispiel: Es war an einem dieser langen Abende in der Stierstrasse in Berlin-Friedenau, zu Anfang der siebziger Jahre. Uwe Johnson stand an der Wand vor dem riesig vergrösserten Messtischblatt, auf dem er mir die märkische Umgebung Berlins erklärte. [16] In der Einflugschneise überm Haus dröhnten die Abendmaschinen; ein wunderbares Geräusch, sagte Uwe, das den Luftweg über die Mauer nach Westen garantiert. Hier unten, südlich von Potsdam, Wilhemshorst, habe man Peter Huchel gefangengehalten. Ein Stück westlich davon, zwischen Caputh und Petzow, bemerkte ich den Schwielow-See, aber woran ich plötzlich zu denken hatte, das war der Unterschied, den zwei Endbuchstaben herstellten und die mir einen See vergegenwärtigten, der nördlich von Cottbus liegt, der Schwieloch-See.17

In seinem »Berliner Programmgedicht« von 1971 wurde die von Jürgen Becker beschriebene Besuchsszene, in der die Messblattbetrachtung ihm zu einer involuntären Erinnerung verhilft, zum Johnson-Porträt mit Karte umgeschrieben:

on.« (Uwe Johnson: Eine Reise nach Klagenfurt, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S. 7.) 16 »Von jener süd-östlich von Güstrow gelegenen Gegend Mecklenburgs hatte er sich aus Messtischblättern eine quadratische 3,40 Meter große Wandkarte auf Leinen gezogen und ins Wohnzimmer gehängt. Im Zentrum dieser Karte, zwischen Malchow und Röbel, ist jenes fiktive Rittergut zu verorten, auf dem Heinrich Cresspahl 1888 als Sohn einer Landarbeiterfamilie zur Welt kommt. Am unteren rechten Rand dieser Karte wäre das fiktive Wendisch-Brug einzufügen, das den südöstlichen Fixpunkt jenes mecklenburgischen ›Yocknapatawpha‹ bildet. Den anderen anderen Fixpunkt bildet das fiktive Jerichow an der mecklenburgischen Ostseeküste im Nordwesten. Dazwischen eingespannt liegt jenes durch Wirklichkeit garantierte Mecklenburg, das Uwe Johnson sich mit einem ›homerischen Gedächtnis‹ schreibend erworben hat.« (Siegfried Unseld/Eberhard Fahlke: Uwe Johnson: Für wenn ich tot bin, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 113.) 17 Jürgen Becker: »Das Dokument aus Cottbus«, in: Du. Die Zeitschrift der Kultur, Heft Nr. 10, Oktober 1992 (Thema: »Uwe Johnson. Jahrestage in Mecklenburg«), S. 53. 107

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Die ganze Umgebung Wird überschaubar in Friedenau Auf den Messtischblättern von Johnson. »Kommt jemand /dichten Sie sagt er/ sehen Sie mich an/ ein Context/Erfahrungen montiert/ na gut«; und ich betrachte die Gegend, zusammenmontiert, an der Wand, und lasse mir zeigen die Nähe von Peter Huchel – wie er da saß, suchte Johnson genau auf der Karte die Gegend zusammen aus seinen Erzählungen, verwischtes Erinnern und heute lag die Einflugschneise einmal nicht über Friedenau [...]18

Einen Autor auf einem Foto vor einer Karte zu zeigen, ihn so im Text auftauchen zu lassen, sein Abbild in den Vordergrund zu rücken, wo das Thema die Verbindungslinien zwischen Texten und Karten sind, birgt eine leicht erkennbare, eine ausgesprochene Gefahr. Einmal so gezeigt, auf diese Weise ins Bild gesetzt, wird an ihm bei all den Worten nicht mehr vorbei zu kommen sein, an der Figur eines Autors, die sich, ist sie erst einmal im Bild aufgetaucht, nicht so leicht beiseite schieben lässt. Verdeckt, so steht zu erwarten, wird von ihm – wie den verschiedenen in Planverfahren und Messblattvorlagen entwor-

18 Jürgen Becker: »Berliner Programm-Gedicht«, in: J.B.: Ende der Landschaftsmalerei, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, zitiert nach: J.B.: Die Gedichte, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 48-49. In einem Brief an Siegfried Unseld wird Beckers Gedicht von Johnson erwähnt. Betont wird auch, wie aus Bildern Bücher werden in der Vorstellung: »Herr Becker hat für sein Berlingedicht [im Rahmen der von Walter Höllerer organisierten Ausstellung »Welt aus Sprache« im Herbst 1972 in der Berliner Akademie der Künste] eine lange Wand bekommen und es recht appetitlich mit Fotos garniert (die von mir beeinträchtigen die Schönheit ein wenig); ich sah da gleich das wenn auch dünne Buch, das daraus werden könnte.« (U. Johnson/S. Unseld: Der Briefwechsel, S. 759). Siehe auch: Akademie der Künste (Hg.): Welt aus Sprache. Erfahrungen und Ergebnisse, Berlin (West): o.V. 1972. 108

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fenen Figurationen von Autorschaft, die sein Abbild je nach Sichtweise repräsentiert –, die Sicht auf sein eigentliches Material, und die auf den Plan, der hinter ihm sichtbar wird. In Johnsons eigenen Worten findet man die ausgesprochene Bitte, eine entsprechende Gleichsetzung des im Text namentlich und als Textverfasser außerhalb des Textes Auftauchenden mit jener Person sorgsam zu unterlassen, die seinen Namen an anderen Orten trägt. Johnson bittet, mit kurzsichtigen Zuschreibungen von Autorschaft vorsichtig zu sein. Eine Bitte, keine Stellvertretungsansprüche an einen zu richten, der anderenorts als auf dem Papier zur Selbstdarstellung als Passinhaber und damit Subjekt eines Staates aufgefordert ist, als ein »Bürger der Bundesrepublik Deutschland« gemäß gesetzlicher Bestimmungen den Kontrollen des Ausweispapiers unterliegt und sich der anweisenden Drohung von Ausweisung und Zurückweisung ausgesetzt sieht. Hinter Johnsons Bitte, die er in seiner Frankfurter PoetikVorlesung an die Zuhörer richtete, wird auch ein bestimmtes Zeitbewusstsein deutlich: Johnson problematisiert das Entstehenlassen von Fremdbildern, bringt die Zeit ins Spiel. In seinen in Frankfurt gehaltenen Vorlesungen, veröffentlicht als Begleitumstände, spricht Johnson im Mai 1979 seine Zuhörer direkt an: »Bitte, wollen Sie von mir annehmen, und im Gedächtnis behalten, daß ich von einem anderen Subjekt sprechen werde als dem, das heute Nachmittag auf dem Flughafen Rhein/Main kontrolliert wurde auf seine Identität mit einem Reisepass. Das Subjekt wird hier lediglich vorkommen als das Medium der Arbeit, als das Mittel einer Produktion.«19 Wörtlich muss man einer solchen Selbstversicherung ex negativo nicht folgen. Schließlich handelt es sich, und nichts anderes wird behauptet, bei der an die Leser und Zuhörer der Frankfurter Poetikvorlesungen gerichteten poetologisch-programmatischen Äußerung um eine reine Bitte, der zu entsprechen oder zu widersprechen den Angesprochenen überlassen bleibt.20 Im Gedächtnis zu behalten jedoch sind Johnsons wiederholte Absicherungen gegen ein vorschnelles Modellieren von Ansichten über das, was einem als etwas Fremdes begegnet und sich als das Eigene einem gegenüber behauptet, in der Zeit und mit der Zeit, an gegenwärtigen und an erinnerten Orten, in der Faktualität der Verhältnisse und in der Fiktion ihrer Darstellungen.

19 U. Johnson: Begleitumstände, S. 24. 20 Der Warnung vor dem zu schnellen Verstehen hat die Warnung vor der leichtfertigen Durchkreuzung von Autorschaftsansprüchen durch verdiktiv an entsprechenden Textstellen platzierten Äußerungen (versehen mit Autornamen) zu entsprechen. 109

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Von seinem ersten Roman, der bis nach seinem Tod 1984 unveröffentlicht blieb22, lässt Johnson in der Frankfurter Vorlesung wissen, als Sache mochte dieser fertig gewesen sein, erfüllte aber – so lässt ihn das eigene Rückschauhalten auf den eigenen Text behaupten – »allzu sehr jene von Walter Benjamins Thesen zur Technik des Schriftstellers, der täglich zu widersprechen war: XIII. Das Werk Abb. 1: Uwe Johnson vor Karte in ist die Totenmaske der KonzeptiBerlin-Friedenau, ca. 1973 21 on. Denn in Leipzig war der Verfasser gestossen auf Leute, die schrieben unverlegen an den Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main, wenn dort im Jahre 1955 zwei Bände Schriften von Walter Benjamin unerreichbar erschienen waren, und er21 An dieser Stelle also, nach dem Porträt im Gedicht, das die Karte auftauchen lässt als kennzeichnend für die Autorfigur, das Bild: Abgedruckt auch an verschiedenen Orten, in denen es darum geht, den Autor Johnson sichtbar zu machen – u.a. in der Uwe Johnson gewidmeten Ausgabe der Zeitschrift Du, Heft Nr. 10, Oktober 1992, S. 77 –, zeigt sich darauf, auf einer Fotografie von Renate von Mangoldt, jemand in seiner Friedenauer Wohnung, circa 1973. Hinter ihm eine Karte von Berlin – ein Plan der in Teilung befindlichen Stadt, in der er einige Zeit als Zugezogener und über die Grenze Getretener lebte und schrieb, von dort verreiste an andere Orte, die Namen tragen wie Klagenfurt und Frankfurt am Main, New York, Princeton, Lübeck oder Ratzeburg, schließlich dann wegzog, dorthin, wo er die Figuren auch seiner Jahrestage auftauchen lässt: an einen Ort nahe der Themse-Mündung. Zum Zeitpunkt der Aufnahme erschienen waren Mutmaßungen über Jakob (1959), Das dritte Buch über Achim (1961), Karsch, und andere Prosa (1964), Zwei Ansichten (1965), Jahrestage, Band 1 (1970), Band 2 (1971), und möglicherweise auch bereits der Band 3 (1973) des Werkes, das erst mit dem 1983 erschienenen Band 4 seinen Abschluss finden sollte. 22 Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953 erschien posthum 1985 (Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag) nach Johnsons Tod Anfang 1984, war von ihm zu einer Zeit geschrieben worden, da er noch als »Bürger der Deutschen Demokratischen Republik« firmierte, bevor er 1959 umziehen sollte, mit der S-Bahn auf eine Seite wechseln würde, die seine nicht war, in Friedenau Wohnung bezog und als in Berlin-West oder West-Berlin Gemeldeter mit längeren Auslandsaufenthalten in den USA die Zeit dort unterbrach bis zum endgültigen Umzug nach England. 110

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klärten ihre Lage. Der Suhrkamp Verlag, ein denkwürdiges Haus, versehen mit dem Copyright auch Bertolt Brechts, verstand diese Zustandsbeschreibung, und sandte das Gewünschte. In den Diskussionen über These XII konnte einer lernen, dass er sie nur widerlegen konnte mit einem zweiten Versuch.«23

3 . E nt f er n un g s a nz e ig er »Die Neue Welt war die Sorge, mit einem falschen Paß aufgegriffen zu werden.« 24

Die Karte, der Stadtplan, ein Erscheinungsbild: Überführung eines Realismusbildes in die Materialität der Drucksache. Und damit in die medialisierte Narrativität, Abbild der Fiktion einer faktisch wiederzugebenden Wirklichkeit und ihrer Darstellungsbedingungen. So wie die Metropole als Zeitzeichen erscheint und als veränderliche Ansichtssache für Umschriften und Abschriften herhalten muss, in seriellen Formaten Fortsetzung erfährt als Ort der Identifikation von Sprechweisen und Identitätsmodellentwürfen, so bleiben der Plan und die Karte, formatierte Wiedergaben von Stadt und Land, ein Oberflächenphänomen, ein Druckwerk, in dem Realität und Fiktion sich eingeschrieben finden, auch als jeweils exemplarische Geschichte der Darstellungsweisen und Formate, die dem Realen, der Geschichte und ihren Erzählweisen Platz in der Imagination einräumt und selbst als Ort für die Erinnerungen in einer sich verflüchtigenden Gegenwart markiert wird. Wenn in ihr Bedingungsverhältnisse von Raum, Medien und Körpern sichtbar gemacht werden, wird die Stadt als urbane Topographie in ihrer Organisation mehr und mehr zu einer visuellen Konstruktion, was soziale und kulturpragmatische Räume gleichermaßen nicht nur als Texte zu erfassen veranlasst, sondern auch aus Fortschreibungen semiotischsemantischer Raumuntersuchungen diese Lektüren selbst wieder im Raum zu verorten und platzieren fordert.25 Die eigenen Ausweispapiere – 23 U. Johnson: Begleitumstände, S. 74. 24 Uwe Johnson: Zwei Ansichten, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1965, S. 240. 25 Verzeitlichungen in ihren Beschreibungen und in ihrem Beschriebensein – durch die Zeichen, die sich buchstäblich in ihr abbilden – stellen die Stadt im 20. Jahrhundert vor zuvor ungesehene Lektüreherausforderungen. Diese betreffen eine Bestimmung: die Bestimmung der Stadt – nicht zuerst die Bestimmung der Stadt als einer nach Idealen oder utopischen Vorstellungen entwickelten oder bemessenen architektonischen Realität, die sich als Stadtbild verschiedenartig deuten lässt –: sondern die Bestimmung und Be111

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die Schriften, mit denen man die Anwesenheit zu beglaubigen hat – werden so Belege für das Eingefasstsein in Räume, die sich mit der Zeit wandeln und damit auch die Bedingungen des Aufenthaltes innerhalb und außerhalb von ihnen. Innen- und Außenbezüge sind zeitbedingt, so hält es jede Stadtlektüre vor Augen; und beschreibt die Erfassung von Ganzheit als eine Inszenierung für Folgebeobachtungen mit der Zeit und von anderem Ort. Von wo aus Stadt beschreibbar wird, räumlich und zeitlich, ist maßgeblich für sich bietende Gelegenheiten zur Perspektivierung, die mit dem Begriff des Werks – nämlich: der idealisierten Totalität und dem idealisierten Autor vor allen Plänen – die Ausblicke bestimmt: Jedes Werk ist ein Werk der Umstände: das besagt nur, daß dieses Werk einen Anfang hatte, daß es in der Zeit begann und dieses Zeitmoment ein Teil des Werkes ist; ohne dieses wäre es nur ein unlösbares Problem geblieben, nichts weiter als die Unmöglichkeit es zu schreiben. Nehmen wir an, das Werk sei geschrieben: mit ihm wird der Schriftsteller geboren. Zuvor war niemand, der es hätte schreiben können; durch das Buch jedoch ist ein Autor vorhanden, der eins mit ihm ist. Wenn er wahllos den Satz hinschreibe »Er schaut aus dem Fenster«, befinde er sich, sagt Kafka, in einer Art Inspiration, in einer Weise, dass dieser Satz schon vollkommen ist. Dies deshalb, weil er der Autor dieses Satzes ist – oder, genauer, dank dieses Satzes ist er Autor: ihm verdankt er sein Dasein, ihn hat er gemacht und er hat ihn gemacht, der Satz ist er selbst und er selbst ist gänzlich, was der Satz ist.26

stimmbarkeit des Ortes und Raumes, das heißt: des Rahmens, in dem wir uns mit und in den Lektüren bewegen, als Platz und Bestimmungsort von Leseunternehmungen. 26 Maurice Blanchot: Die Literatur und das Recht auf den Tod, aus dem Französischen von Clemens-Carl Härle, Berlin: Merve 1982, S. 21; im Original erschienen 1949, 1947 in einem Teilabdruck in der Zeitschrift Critique. Blanchot bezieht sich hier auf eine Stelle aus Franz Kafkas Tagebüchern, auf einen Eintrag vom 19.2.1911, in dem die Niederschrift von Aussichtnehmen in nur einem Satz manifest wird und sich zugleich Raum- und Zeiterfahrung als ein Sich-ins-Verhältnis-Setzen zum Arbeiten beschrieben findet: »19. Februar. Die besondere Art meiner Inspiration, in der ich Glücklichster und Unglücklichster jetzt um zwei Uhr nachts Schlafen gehe [...], ist die, daß ich alles kann, nicht nur auf eine bestimmte Arbeit hin. Wenn ich wahllos einen Satz hinschreibe, zum Beispiel ›Er schaute aus dem Fenster‹, so ist er schon vollkommen.« (Franz Kafka: Tagebücher 1910-1923, Frankfurt/Main: Fischer 1973, S. 29) Für Skizzenhaftes zu Kafkas Stadtwahrnehmungen siehe: Walter Fähnders/Wolfgang Klein/Nils Plath: »Fremde? Heimat? Wanderung? Blicke von heute auf Städte und Reisende«, in: W.F./W.K./N.P. (Hg.): Europa-Stadt-Reisende. Blicke auf 112

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Solches sind Sätze über den Ausblick, der Aussicht eröffnet, beim Verfassen sich der Blicke und Stimmen zu vergegenwärtigen, die Anzeigen sind, sich im Überblicken der Stadt – aus dem Fenster, von der Innenwelt in die Außenwelt, aufs Geratewohl und in der dritten Person – eine Perspektive zu geben.27 »Bei der Betrachtung eines Stadtplanes fallen zwischen den begrenzten Farben für bebaute Flächen und Parks verbundene Liniennetze auf, verschiedene für Magistralen, Oberflächenverkehr, Schnellbahnen über und unter der Erde.«28

Reisetexte 1918-1945, Bielefeld: Aisthesis 2006, S. 231-260, besonders 231-234. 27 »Maries Schulaufsatz heißt ›Ich sehe aus dem Fenster‹. Sie sitzt schon den halben Vormittag am Fenster vor der Maschine, auf der sie den Aufsatz ins Unreine schreibt. Im Nachdenken, wenn ihr die Hände auf die Knie rutschen, wird ihr der Rücken immer krummer, und seitlich gelegten Kopfes sieht sie so streng in den Riverside Park, dass sie einen Blick nicht fühlt, einen Schritt nicht hört.« (Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Band 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970, S. 177) Marie Cresspahls Aufsatz, die Beschreibung eines Blicks aus dem Fenster, das »die große Scheibe des Gut Eß Geschäfts an der 96. Straße und Broadway nach Süden« ist, »ein Abend im späten Mai des vorigen Jahres«, endet nach der detaillierten Schilderung eines Brandes des gegenüberliegenden Hauses in einer Analogie: »Meine Mutter sagt, so ist es im Krieg.« Diese Analogisierung wird sogleich von der Mutter bestritten: » – Das habe ich nicht gesagt. [...] Am Morgen [...] habe ich gesagt: roch es nach Krieg. – Vom Riechen dürfen wir nichts schreiben. – Kannst Du schreiben: So ähnlich sieht es aus?« (Ebd., S. 179) Entscheidend für Johnson ist diese mittels seines fiktionalen Personals vorgeführte Rückerinnerung an eine andere Zeit im eigenen Leben: von den Sinneseindrücken, die vergangene Wahrnehmungen – wie die des Kriegs – wieder beleben und plötzlich gegenwärtig machen, bleiben in den Worten nur abstrakte Übertragungen. Die Konkretheit des eindrücklichen und individuellen Erlebens und des als erlebt Gespeicherten bleibt undarstellbar, ist nur vermittelt – als Ähnlichkeit – benennbar. Sie wird, nicht ohne unausgesprochenen Verweis auf Proust mémoire involontaire, zum Gegenstand der Auseinandersetzungen über Sagbarkeiten: Diskursnormen, die die Erinnerung bestimmen. 28 Uwe Johnson: »Boykott der Berliner Stadtbahn«, in: U.J.: Berliner Sachen, S. 22; zuerst in: Die Zeit, Nr.2/1964, 10. Januar 1964, S. 9-10, wiederabgedruckt in: Deutsches Mosaik. Ein Lesebuch für Zeitgenossen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1972, S. 369-383. Der Abdruck von »Boykott der Berliner Stadtbahn« in dieser Anthologie, die in dreisprachiger Ausgabe an die Teilnehmer der XX. Olympischen Spiele in München 1972 verteilt 113

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Abb. 2: Berliner S-Bahnnetz von Oktober 1960 30

Mit diesem Satz beginnt Uwe Johnsons 1964 veröffentlichter Aufsatz »Boykott der Berliner Stadtbahn«: die Antwort auf einen eigenen Text, dessen Revision durch das historische Ereignis des Mauerbaus und damit die Trennung und räumliche wie zeitliche Zäsur, durch welche diese Umschrift sich diktierte. »Berliner Stadtbahn«, so hatte Johnson einen für den Merkur geschriebenen Beitrag betitelt, der im August 1961 erschien.29

werden sollte, sorgte für einen offiziellen Protest der DDR; von Johnson kommentiert in »Begleitumstände« (siehe dort, S. 445f.). 29 Mit dem kursiv gesetzten nachträglichen Zusatz »veraltet« findet dieser sich beim Wiederabdruck in seiner eigenen Zeitgebundenheit bezeichnet. Vor dem 13. August 1961 konnte Johnson formulieren und über diese Grenze »zwischen den beiden Ordnungen, nach denen heute in der Welt gelebt werden kann«, schreiben: »Alle anderen Territorialgrenzen zwischen den verfeindeten Armeen sind zu militärischen Demarkationen erstarrt und sperren den Verkehr. Das Leben der beiden Seiten durchblutet sie nicht. Berlin hingegen ist ein Modell für die Begegnung der beiden Ordnungen.« Es scheint unmöglich, schreibt Johnson weiter, und sollte in dieser Aussage bei Drucklegung seines Merkur-Beitrags bereits widerlegt sein, »eine Schneise durch eine lebende Stadt zu schlagen und ihre Verbindungen gänzlich abzuklemmen, immer noch nicht ist die eine Hälfte Ghetto der anderen. In diesem Modell leben zwei gegensätzliche staatliche Organisationen, zwei wirtschaftliche Arrangements, zwei Kulturen so eng nebeneinander, daß sie einander nicht aus dem Blick verlieren können und 114

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Abb. 3: Berliner S-Bahnnetz von 1966

Es geht ihm darin darum, und vermittelt spricht er es aus, etwas an die Hand zu geben, wenn er in einem längeren Exkurs »über einige Schwierigkeiten, die mich hinderten einen Stadtbahnhof in Berlin zu beschreiben« berichtet.31 In seiner Schilderung findet sich die Frage nach der Selbstplatzierung, die er einem über Beckett schreibenden Autor abgenommen hat:32

einander berühren müssen. Die Abstraktion und Dämonisierung, die politisch mit diesem Ort betrieben werden und als Sprachregelungen auf ihn zurückfallen, verfehlen die Möglichkeiten des Modells. Was in ihm symptomatisch erscheint für die Teilung und Wiedervereinigung eines Landes, kann auch repräsentativ sein für die Feindschaft und Annäherungen der beiden Lager in der Welt.« (U. Johnson: »Berliner Stadtbahn«, S. 10). 30 Siehe auch: Alfred Gottwaldt: Das Berliner U- und S-Bahnnetz. Eine Geschichte in Streckenplänen, Berlin: Argon 1994. 31 U. Johnson: »Berliner Stadtbahn«, S. 7. 32 Vgl. Maurice Blanchot: »Wer spricht in den Büchern von Samuel Beckett? [...] Was erwartet der Autor, der sich ja irgendwo befinden muß? Was erwarten wir, die wir ihn lesen? Oder ist er in einen Kreislauf eingetreten, in dem er sich auf dunkle Art umtreibt, fortgezogen von der schweifenden Aussage, die zwar nicht sinnlos, aber der Mitte beraubt, die nicht anfängt und nicht aufhört, dabei gierig und fordernd ist, die nie innehalten wird und deren Innehalten uns unerträglich schiene.« (Maurice Blanchot: »›Wer nun? Wo nun?‹«, in: Hartmut Engelhardt/Dieter Mettler (Hg.): Materialien zu Samuel Becketts Romanen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976. S. 248.) 115

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Wo steht der Autor in seinem Text? Die Manieren der Allwissenheit sind verdächtig. Der göttergleiche Blick eines Balzac ist verwundernswert. Balzac lebte von 1799 bis 1850. Wenn der Verfasser seinen Text erst erfinden und montieren muß: wie kann er dann auf hohem Stuhl über dem Spielfeld hocken wie ein Schiedsrichter beim Tennis, alle Regeln wissen, die Personen sowohl kennen als auch fehlerlos beobachten, zu beliebiger Zeit souverän eingreifen und sogar den Platz tauschen mit einer seiner Personen und noch in sie blicken, wie er sogar selbst sich doch selten bekannt wird. [...] Gewiß entstehen dabei Gesten, deren epischer Charakter umstritten ist, aber wenn zum Beispiel mit den erzählten Vorfällen wirksam verbunden ein ideologisches System vorkommt, so scheint dessen Diskussion auch eine Weise davon zu erzählen und nicht die am meisten unhandliche.33

Ins Buch der Stadt schreibt das eine Perspektive ein: Kein konstruierter Blick fällt mehr von oben auf ein Unten, der Autor ist drin im Text, bei seinen Figuren, seine Rolle und Funktion müssen als Teil des Plans betrachtet und gelesen werden, irgendwo darin und darauf verzeichnet. Nichts mehr schafft die behauptete Übersicht auf die Organisiertheit der Stadt, wie sie sich in den Plänen und Fahrplänen ablesen lässt, auf denen es überall – wie in Johnsons Chroniken aus einer Perspektive zur Gegenwart – um mögliche Verbindungen geht. Um Linien, Ausstreichungen, Raster, Ränder, Zonen, anhand derer Zeiten und ihre Veränderungen ablesbar sind. Maurice Blanchot, vorhin zitiert mit einem Abschnitt aus »Die Literatur und das Recht auf den Tod«, beginnt seinen 1964 auf italienisch erstveröffentlichten Aufsatz »Il nome Berlino« – dem in der englischen und französischen Fassung noch die Jahreszahl »1961« in Klammern beigefügt ist – mit einem Satz zur Trennung und zur Wahrnehmung von Unterscheidungen.34 Gemeinsam mit seinem ehemaligen Professor aus Leipziger Studienzeiten, Hans Meyer, publizierte Johnson einen Sammelband zu Samuel Beckett: Hans Meyer/Uwe Johnson (Hg.): Das Werk von Samuel Beckett. Berliner Colloquium, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1975. Sein Roman Zwei Ansichten (1965) ist »S.B.« gewidmet. 33 U. Johnson: »Berliner Stadtbahn«, S. 20. 34 Maurice Blanchot: Der Name Berlin, aus dem Italienischen von Isolde Eckle, Berlin: Merve 1983; zuerst erschienen auf Italienisch mit dem Titel »Il Nome Berlino«, in: Il Menabò, Nr. 7, Turin, 1964, S. 121-125; aus dem Französischen von Guido Neri; die ursprüngliche französische Fassung war verschollen); unter dem Titel »Le Nom de Berlin«, in einer von Hélène Jelen und Jean-Luc Nancy rekonstruierten Version erschienen in der deutschen Ausgabe und in Café librairie, Nr. 3, Herbst 1983, S.42-46; ebenso in einer französischen Originalversion in Lignes, Nr. 03 (Neue Serie) Ok116

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»Für alle«, schreibt Blanchot, »ist Berlin das Problem der Teilung.« Als ein politisches Problem verlange es laut Blanchot nach politischen Lösungsansätzen, als ein sozio-ökonomisches nach entsprechenden. Berlin sei dennoch nicht einfach Berlin – und hier klingt er wie Johnsons Echo.35 Blanchot sieht in der Stadt zugleich ein Symbol der Teilung der Welt, und gerade dies mache sie zu einem universellen Punkt, zu jenem Ort nämlich, »an dem sich die Reflexion über eine Einheit, die beides, nämlich notwendig und unmöglich ist, vollzieht bei allen, die dort wohnen und die, weil sie dort wohnen, nicht nur die Erfahrung eines Wohnortes machen, sondern auch die einer Abwesenheit dieses Ortes.«36 Diese Problematik der Trennung – oder der Fraktur – die sich mit und in Berlin darstellt, ist Blanchots Meinung nach Angelegenheit nicht allein der Berliner, nicht einmal nur Sache der Deutschen, sondern »in meinen Augen«, schreibt er, »jedes denkenden Wesens – und zwar auf gebieterische, ich möchte sagen schmerzliche Art und Weise – ist, glaube ich, ein Problem, das wir in seiner GANZEN Realität nur adäquat formulieren können, wenn wir uns entschließen, es FRAGMENTARISCH zu formulieren (was nicht partiell bedeutet).« Blanchot hebt auf jene Darstellungsproblematik ab, die Berlin in der Gegenwart seiner Äußerung (und der Geschichte) immer als singulär und exemplarisch zugleich, als stellvertretend und unvergleichlich beschreibt. Und doch nie ganz, nie als Totalität aller Perspektiven gleichzeitig. Der Name Berlin, er steht für die Bezeichnung eines Anspruchs auf Bezeichnungshoheit. Es gebe bereits, so beginnt Blanchot den letzten Absatz seines nur wenige Seiten langen Aufsatzes aus dem Jahr 1961, eine große Anzahl von Schriften, die sich mit der Situation in Berlin befassen. Erstaunt sei er darüber gewesen, dass es angesichts dieser Fülle zwei Romane seien, die auch dem NichtDeutschsprachigen den besten Zugang zu der Problematik böten, Romane, die weder politisch noch realistisch zu nennen wären:

tober 2000, S.129-134 u. 137-141; auf englisch erschien der Aufsatz mit dem Titel »Berlin« in Modern Language Notes, Vol. 109, No. 3, German Issue (April 1994), S. 345-355; als »The Name Berlin (1961)«, in: Michael Holland (Hg.): The Blanchot Reader, Oxford, Cambridge: Blackwell 1995, S. 266-268; aus dem Französischen von Michael Holland. 35 »Es gibt nicht: Berlin. Es sind zwei Städte Berlin, die nach der bebauten Fläche und Einwohnerzahl vergleichbar sind. Berlin zu sagen ist vage und vielmehr eine politische Forderung, wie die östliche und die westliche Staatenkoalition sie seit einiger Zeit aufstellen, indem sie der von ihnen beeinflussten Hälfte den Namen des ganzen Gebietes geben als sei die andere nicht vorhanden oder bereits in der eigenen enthalten.« (U. Johnson: »Berliner Stadtbahn«, S. 9.) 36 M. Blanchot: Der Name Berlin, S. 7. 117

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Abb. 4: »Die Folgen des Krieges, den die vorigen Deutschen uns nach Hause geholt haben, schieben wir auf die Stadtbahn. Wir anerkennen sie nicht. Wir radieren sie von der Karte.« 38

Ich werde das Verdienst nicht nur dem Talent von Uwe Johnson zuschreiben, sondern der Wahrheit der Literatur. Die Schwierigkeit, selbst (und besser gesagt) die Unmöglichkeit für den Autor, Bücher wie diese zu schrieben, in denen die Teilung ins Spiel gebracht wird – und daher die Notwendigkeit für ihn, jene UNMÖGLICHKEIT einzuholen, indem er sie schreibt und in der Schrift: das ist es, was die literarische Operation so in Einlang mit der Einzigartigkeit von ›Berlin‹ gebracht hat, gerade vermöge dieses Hiatus, den sie offen lassen musste, mit der dunklen Strenge, die nie nachlässt, zwischen der Realität und dem literarischen Zugriff auf ihren Sinn.37

Im Anhang eines der beiden von Blanchot nicht namentlich genannten Romane von Johnson, dem 1961 erschienenen Das dritte Buch über Achim (bei dem zweiten handelt es sich um Mutmaßungen über Jakob von 1959) findet sich ein Hinweis des Autors: »Die Personen sind erfunden. Die Ereignisse beziehen sich nicht auf ähnliche sondern auf die Grenze: den Unterschied: die Entfernung. Und den Versuch sie zu beschreiben.«39 Leerstellenbewußt formuliert, nachgestellt dem Fiktiven, spricht dieser Ausweis für ein Bewusstsein von Geschichte als einer, die

37 Ebd., S. 15. 38 U. Johnson: »Boykott der Berliner Stadtbahn«, S.33. 39 Uwe Johnson: Das dritte Buch über Achim, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973 [Original 1961], S. 301. 118

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ständig entfernt – sich und sich von anderen.40 Die auf den Plänen der Städte abgebildeten städtischen Räume können dafür als Entfernungsanzeiger gelesen werden.

4 . V er i n n er l i c h t e O r t s er k u n d u n g e n im A uß enr a u m »The child has swapped experiences with all the passengers/ exhausted all the stewardesses/ and still knows questions:/ Why is it later here?/Is Berlin out of time? Is Vietnam nearby?/ Nearby is East Germany. Nearby is Schmöckwitz and Caputh and/ Werder and Lehnitz and Lichtenberg station/ in East Berlin. [...] What business do we have in Berlin?/ Memories. [...] And where can you fly from here?/ Fasten seat belts./ Every day from London, once a week to New York./ That is what I like about Berlin.« 41

Ein Stadtplan kann Anzeiger für das Maß an Vertrautheit sein, mit der sich Raum und Zeit im Gegenwartsbewußtsein der handelnden Figuren angeeignet finden. Auch im Roman. Exemplarisch erzählt das eine Szene, die Gesine Cresspahl als Hauptfigur unter dem Datum des 21. No-

40 »Daiber: Man hat den Eindruck, Sie wollen, daß nichts vergessen wird. Da soll das Leben behütet sein. Johnson: Das will, glaube ich, alle Fiktion. Es soll bewahrt werden. Daiber: Fühlen Sie sich gebunden an Geschichte? Johnson: Gesine Cresspahl fühlt sich gebunden an Geschichte. Denn Geschichte hat in ihrem Leben für Todesfälle gesorgt, hat Versetzungen in Frage gestellt, hat Umzüge erzwungen, hat den Verlust der Heimat gebracht, hat sie versetzt übers große Wasser an eine ihr anfangs ganz ungeheure Stelle, nach New York, sie hat nur noch in wenigen Sachen die Einbildung, daß sie diese hätte ganz frei entscheiden dürfen. Daiber: Ich rede vom Beschreiber und Sie von der Beschriebenen. Gibt es nicht auch für Sie eine Bindung an die Ereignisse? Der Autor wäre dann ein Medium. Johnson: Richtig. Ich bin der Aufzeichnende und komme weiter nicht in Betracht.« (Hans Daiber: »Die Cooperation mit Gesine. Interview mit Uwe Johnson«, in: Michael Bengel (Hg.): Johnsons Jahrestage, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, S. 129 (Sendung im Radio, WDR 2, 16.10.1983; unter dem Titel »Eine Heldin wird selbstständig« leicht gekürzt in: Kölner StadtAnzeiger, 4.11.1983). 41 Uwe Johnson: »How to explain Berlin to a Newcoming Child« (1968), in: U.J.: Berliner Sachen, S. 102, 103, 105. 119

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vembers 1967 in den Jahrestagen schildert. Berichtet wird ein Besuch in Richmond, England, dem Ort, an dem der dorthin umgezogene Vater Heinrich Cresspahl vor seiner Rückkehr ins nationalsozialistische Deutschland gewohnt hatte, um ihn dann, seiner Frau wieder zurück in deren Heimatort in Mecklenburg – das fiktive Jerichow – folgend, auf immer zu verlassen: Wir fuhren nach Richmond mit der Linie District anfangs in einem offenen Steinkanal, neben bräunlich eingestaubten Leitungen her, die aussahen wie in Ruhe vor sechzig Jahren verlegt und nicht notdürftig geflickt nach einem Bombenangriff der Deutschen. Dann kam das Licht über der Ede in den Zug, schwarz und braun gestochen in den Farben des hiesigen November. Die Hochhäuser waren zum Wegdenken, die hatten meine Eltern nicht gesehen. [...] Waren das Kähne auf der Themse? Da war Nebel. Ich könnte die Kette der Stationen auswendig wissen: Ravenscourt Park, Stamford Brook, Turnham Green, Gunnersbury, Kew Gardens, Richmond, und zurück nach Upminster. Stattdessen musste ich in Richmond einen Straßenplan kaufen; ich wusste nicht einmal, ob Cresspahl vor dem Bahnhof sich nach links oder rechts gewandt hatte.42

Parallelisiert treten an dieser exemplarischen Stelle Gegenwartsschilderung, fiktiv als dokumentarisch ausgestellt, und Vorstellung einer Vergangenheit in der Wahrnehmung der nunmehr nicht mehr präsenten Eltern zusammen. Präsent die Vergangenheit im geschilderten Außenraum. Abwesend ein Vorstellungsvermögen im Inneren, das die verlässliche Rekonstruktion eines Damals erlaubte. Der als Notwendigkeit empfundene Kauf des Stadtplans, den die Protagonistin des Romans erwähnt, markiert für die Erzählfigur eine Unvertrautheit mit dem aufgesuchten Ort, der als wiederholter Name auch Geschichtsträger ist, und spricht von einer signifikanten Orientierungslosigkeit auf Seiten der Protagonistin, aus deren Perspektive diese Reisebeschreibung als Zeitrekonstruktionsvorhaben geschildert ist. Ohne Plan keine Verlässlichkeit, wenn es keine Vertrautheit mit dem Ort gibt, nichts in der Erinnerung, das dessen gesicherte Schilderung mehr zuließe. Topographische Ordnungen, in der Erinnerung der Serie von Haltepunkten beispielsweise, werden hier zu Hinweisen auf ein historisches Bewusstsein gegenüber der eigenen Biographie als einer kontingenten Geschichte, der doch die Geschichtsverläufe ihre Rahmen geben, auf die die Betrachterin nach Möglichkeit reagiert: und sei es, um in ihr eine Perspektive von anderen Verläufen abzulesen. Auch dazu kann der Plan herhalten: in ihm die Möglichkeiten wiederzufinden, andere Weg gangbar in der Vergangenheit in die Hand gegeben zu sehen.

42 U. Johnson: Jahrestage, Band 1, S. 331-332. 120

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Johnsons montierendes Erzählprinzip setzt darauf, die Aufzeichnungen zu Orten und Zeiten, wie sie die Figuren seines Romans einander weitergeben, in Wechselreden mit eingeschnittenem dokumentarischem Material Schwierigkeiten verdeutlichen zu lassen, verbindlich über Geschichte zu erzählen – und dennoch Erinnerungsarbeit im literarischen Text zu leisten. So gesehen wird Johnsons Postulat, seine Beschreibungen von Wahrheit als Ansichtssachen zu betrachten, zu deren Überprüfung er den Leser auffordert, von seinen Romanfiguren in ihrer Realität umgesetzt. Sie beide, die in dieser Leseszene agieren – Mutter und Tochter –, sind in einem Prozess wechselseitiger Überprüfungen und Abgleichungen von Zeit- und Raumwahrnehmungen von Vergangenheiten und Gegenwarten, Abwesenheiten und Anwesenheit miteinander verbunden. Der unvermittelten Mitteilung von so genanntem Faktischen, selbst dem von Standorten, gilt das ausgesprochene Misstrauen derjenigen in dieser Chronik, die sie aufnehmen und weitergeben: »Das erste Mal ruft Marie an von der Chambers Street (gibt sie an).«43 Und mit dieser Gesine Cresspahl, die nach Behauptung des Autors Johnson für die Aufzeichnungen sorgt, spricht Johnson selbst – sich selbst aus über die Wahrheit von Wahrnehmungen und die Verbindlichkeit von abgerissenen Austauschprozessen für die Gegenwart. In dieser erscheint Geschichte als eine erzählte, als eine wiedererzählte, als eine wiederzuerzählende: als vielstimmige Nacherzählungen von partikularisierten Historienbildern, niemals jedoch als strukturell erfassbare oder als totale.

5 . A b g l e ic h v o n U n t er s c h i ed en i n R ea l i en z ur S p r a c h e »Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.«44

Mit einem zunächst lapidar klingenden Satz, der einer aus der New York Times des Tages entnommenen Nachricht von einem tödlichen Raubüberfall auf einen Studenten auf der Amsterdam Avenue nahe der Wohnung jener Person, der die Jahrestage ihren Untertitel »Aus dem Leben der Gesine Crespahl« verdanken, nachgestellt ist, setzt eine mehrere Seiten des ersten Bandes des Romans füllende Beschreibung ein: Beschrieben wird die Selbstverortung der Romanfiguren an Ort und Stelle, Zeit 43 Ebd., S. 369. 44 Uwe Johnson: Mutmaßungen über Jakob, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1959, S.7. 121

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und Geschichte. Die Nacherzählung des Versuchs, sich angesichts geänderter Linienführungen zu verorten: »Heute morgen beginnt die Ubahn acht ihrer 36 Routen anders zu fahren, und Marie ist seit dem frühen Vormittag unterwegs, um die neuen Kodes und Linienführungen wenigstens in Manhattan nachzuprüfen.«45 Ein Fahrplanwechsel des öffentlichen Nahverkehrsnetzes – ein reales Geschehen, nachprüfbar in der Geschichte der Metropole – erlaubt eine vielschichtige Schilderung, wie Identifikation mit dem Ort sich vollzieht. Es stehen dabei – auf Seiten des fiktiven Roman-Personals – Ansprüche im Raum: auf Orte und Zeiten in einem durch die Beschreibung anthropomorphisierten Stadtbild. Von der Berliner Stadtbahn schrieb Johnson 1964 als von einem der Netze, »Adern leicht vergleichbar, sagt gut für die Gesundheit. Ihr Blut bewegt sich darin, durchläuft die Glieder, hält sie belebt.«46 Die Demontierung der Verbindungen zwischen Ost und West wurde dort mit der Unterbrechung eines lebendigen Kreislaufs verglichen, einem gewaltsam herbeigeführten Tod der einen Stadt: »Der Ring, eine fast natürliche Bahn im Organismus des Verkehrs: zerbrochen. Die Vorortlinien, die Einladungen der Stadt an die Städte, an Potsdam, Falkensee und Nauen, Velten, Oranienburg, Bernau, Straußberg, Erkner, Königswusterhausen, Teltow, Mahlow, Zossen: abgewürgt, zerschnitten, tot.«47 Von dem zehnjährigen Mädchen, das sich zur Überprüfung der neuen Linien in der Stadt auf und unter die Straßen Manhattans begibt, heißt es im Eintrag vom 26. November 1967, sie habe mit der dortigen U-Bahn »kaum Umstände gemacht.« Sie diene ihr in erster Linie als eine im Stadtraum befindliche Selbstverständlichkeit. Aber gerade in der U-Bahn

45 U. Johnson: Jahrestage, Band 1, S. 367. 46 U. Johnson: »Boykott der Berliner Stadtbahn«, S. 22. 47 U. Johnson: »Boykott der Berliner Stadtbahn«, S. 25. Johnson bleibt bei seinem Bild, Berlin als einen lebendigen Organismus zu kennzeichnen, dem er eine schlechte Diagnose stellt: »Will man das Gedränge in den Autobussen, die langen Wartezeiten an den Haltestellen, die Zusammenbrüche der Fahrpläne, die eingeengten Busherden auf den überfüllten Straßen hernehmen als den Puls der Großstadt, so muß man ihn auch als provinziell erkrankt bezeichnen, will man im Bilde bleiben. Es erweist sich, dass die Stadtbahn, 1882 angefangen als die erste Viaduktbahn Europas und seitdem zusammengewachsen mit der Stadt in achtzig Jahren, nicht zu ersetzen ist. Der Vergleich des Boykotts mit einer Amputation zieht den mit schweren Kreislaufstörungen nach sich.« (ebd., S. 29). Zur Metaphorik des Organismus der Stadt vgl. Richard Sennett: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, aus dem Englischen von Linda Meissner, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. 122

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gegenüber gezeigten Geste einer gewissen ortstypischen Gleichgültigkeit, die angesichts der einschneidenden Änderung in der Organisationsstruktur der Metropole New York City hervorgehoben wird, verzeichnet sich eine Versicherung in ihrer eigenen Gegenwärtigkeit: die Gleichgültigkeit, mit der die junge Protagonistin den Wandel quittiert, macht sie zur Einheimischen, die allein für sich eine Präsenz formuliert in einem und als »ein Anspruch auf den Besitz der Stadt.«48 In dem, was folgt, wird die Schilderung der in sechs Jahren Aufenthalt in New York City erworbenen, in der Schilderung der Spezifika der New Yorker U-Bahn herauszulesende Erfahrung dazu genutzt, Bilder von Städten zu vergleichen. Um so die Ausbildung von Unterschiedswahrnehmungen zu illustrieren. Vordergründig geht es um die Wiedergabe des Eindrucks von Unterschieden gegenüber dem Gewohnten; auch um die Schilderung von Zeitverläufen in der Aneignung des städtischen Raumes, wie sie die Mutter und ihre bei der Ankunft in New York vierjährige Tochter erlebten. In der Erzählung gibt es Raum für einen Vergleich mit Westberliner Verhältnissen, einer genauen Skizze von Unterschieden und Vorurteilen, die – aus Unkenntnis der Verhältnisse – Besucher der Stadt den anderen Ort porträtieren lassen. An anderer Stelle bei Johnson ist es eine Farbe, deren Wahrnehmung verbindet und trennt. Er beschreibt sie – das Gelb der Stadt New York City – als ein Element des Raumes und in der Bedeutung, die sie sammelnd aufgezeichnet für die Selbstwahrnehmung übernimmt.49 Hier sind es die nicht durch Augen48 Diesen Anspruch gilt es für die Figur der Marie Cresspahl buchstäblich zu erfahren: »Einmal, so hat sie sich vorgenommern, wird sie mit jener einzigen Zeichenmünze, die man braucht für den Eintritt in das Liniennetz, alle Strecken abfahren, alle 381 Kilometer, alle 484 Stationen, Tag und Nacht, ›wenn ich den Mumm aufbringen werde‹; auch dies ein Zeitpunkt, den zu bestimmen sie für sich vorbehält.« (U. Johnson: Jahrestage, Band 1, S. 368.) Besitzstände sind nur, so die metaphorische Übersetzung, durch Bewegungen zu erlangen und zu beteuern. Allein das Bewegtwerden von den diversen Transportmedien, zu denen Sprache zählt, erlaubt Perspektivwechsel, denen Johnsons durchlaufende Aufmerksamkeit gilt. 49 Farbwahrnehmung als Sammlung von Sinneseindrücken dient, unbesehen, meist (und darauf verweist Johnsons Detailinventarisierung), zur Zugehörigkeitsstiftung: in Farberkennungen machen sich auch kollektive Wahrnehmungsmuster als Normen zur Identitätsbehauptung sichtbar: »Über was hier anders ist [...]/ Gelb, zum Beispiel/Gelb ist hier anderswo/Ich meine die ganze Farbenfamilie [...]/ Die Farbe der Stadt, ein Element ihrer Bestimmung [...]/ gelb sind die Bahnsteigkanten der Fernbahnen angestrichen/ Gelb ist etwas Nationales denk an die einzige gelbe Bahnsteigkante ganz Westberlins auf dem amerikanischen Militärbahnhof in Lichterfeld/ Gelb sind die Bahnsteigkanten in der Ubahn/ Auf Gelb sagt der Bahnsteig Vor123

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schein erworbenen Eindrücke, die Vorurteile, die als bemerkenswert geschildert werden, um im Roman Beispiele für ein raum-zeitliches Unterscheidungsvermögen zu liefern. Geschichtlicher Wandel, die Abbildhaftigkeit einer gewachsenen Stadtgeschichte, abgebildet in den Linienverlaufsplänen des innerstädtischen Massentransportnetzes: Sie interessieren als Statthalter – so werden in den Mikrologien, den in den Blick fallenden geschilderten Details, aus denen sich jedem Betrachter für sich ein Eindruck von Totalität zusammensetzt, Chroniken der Zeit und des Raumes: das – mit den Worten von Walter Benjamin – »alte Verhältnis von Mikro- und Makrokosmos, das sich in Stadtgeschichte und Weltlauf spiegelt.«50 Und abermals kann ein neuer Plan einem vor Augen führen, dass Aufzeichnung und Erinnerung in einem Korrespondenzverhältnis stehen, nur so von einem historischen Bewusstsein sprechen lassen, das die Beziehungen der auf der Karte verzeichneten Gegenden verinnerlicht hat (und als dessen idealisierter Träger Marie in den Jahrestagen figuriert): Unsere Leibzüge, früher benannt nach dem von ihnen unterfahrenen Broadway und der Siebenten Avenue, heißen jetzt nur noch 1, 2 und 3 und sind auf dem geänderten Plan in den Farben Orange, Hellblau und Knallrot gekennzeichnet, übrigens leicht zu verwechseln mit der Linie E in Queens oder der 8, der Hochbahn über der Dritten Avenue in der Bronx, wenn Einer das Verhältnis der Stadtteile nicht fest im Kopf hat. Von Marie kann man sagen: sie hat es in ihrem Kopf.51

sicht unterm Fuß des Reisenden/ Mit Gelb beschmiert sind in den Ubahnstationen die unteren Ansätze der Treppen und Stufen vor Absätzen und mitunter die Absätze ganz und gar und noch die Senkrechte der obersten Stufe [...]« (Uwe Johnson: »Ein Brief aus New York«, in: Kursbuch 10, Oktober 1967, S. 189 und 190). Siehe zu Farbbeschreibung bei Johnson: Elisabeth K. Paefgen: »Farben in der Fremde, Farben in der Heimat. New York und Mecklenburg in Uwe Johnsons Jahrestagen«, in: JohnsonJahrbuch, Band 9/2002, S.241-274; sowie dieselbe: »Das gelbe New York und das goldene On. Beschriebene und erzählte Städte bei Thomas Mann und Uwe Johnson«, in: Peter Klotz/Christine Lubkoll (Hg.): Beschreibend wahrnehmen – wahrnehmend beschrieben. Sprachliche und ästhetische Aspekte kognitiver Prozesse, Freiburg: Rombach 2005, S. 229-246. 50 W. Benjamin: »Johann Peter Hebel«, S. 637. 51 U. Johnson: Jahrestage, Band 1, S. 369. 124

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6 . Z ul a u f en a u f k ei n E n d e »Die Grenze zerlegt den Begriff. Sie kann nicht als Kenntnis vorausgesetzt werden.«52

»Auf einen Längsbalken, der die Decke von Brechts Arbeitszimmer stützt, sind die Worte gemalt: ›Die Wahrheit ist konkret.‹ Auf einem Fensterbord steht ein kleiner Holzesel, der mir dem Kopf nicken kann. Brecht hat ihm ein Schildchen umgehängt und darauf geschrieben: ›Auch ich muß es verstehen.‹«53 Uwe Johnsons Erzählweisen stehen in enger Korrespondenz mit diesem einen, von Walter Benjamin nach seinen Svendborger Notizen im beschriebenen Raum bemerkten Satz. Die »Wahrheit«, von der Johnson (nicht ohne Bezug zu Brecht) spricht, ist nur durch das hinweisende Herausarbeiten von Unterscheiden und also in Relationen beschreibbar, welche die Versionen von Wirklichkeit als konkrete verstehen wollen, ihnen dennoch weder Endgültigkeit noch den Anspruch auf Beschreibungshoheit zubilligen können. Entsprechend sind Johnsons Äußerungen zu verstehen, in denen von Möglichkeiten gesprochen wird, mit den eigenen Beschreibungen benennbar Wirkung zu erzeugen. »Wirkungen?«, fragt Johnson sich: »um sie zu versuchen, müsste man sie berechnen können. Es ist nicht mehr, als daß ein erzählendes Buch ein Modell der Welt anbietet, Geschichte als Beispiel, die Welt in der Version des Verfassers, Lesern vorgelegt zum unterhaltsamen Ver52 U. Johnson: »Berliner Stadtbahn«, S. 8. Dieser Satz gilt, wieder, mit dem Abstand der Zeit, der wieder und andere Leerstellen sichtbar macht. 53 Walter Benjamin: »Notizen Svendborg Sommer 1934«, in: W. B.: Gesammelte Schriften, Band VI, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986, S. 526. In einem Brief an Hannah Arendt notiert Johnson während eines Urlaubsaufenthalts auf Bornholm am 31.8.1973: »Die Adresse da oben sieht nach Ferien aus; [aber] ich bin eingesperrt unter einem Dach und schreibe den dritten Band der ›Jahrestage‹ zu Ende, immer wieder verblüfft von Funden in der Frühgeschichte des ostdeutschen Sozialismus, auf die die frechste Erfindung nicht käme. Was immer Herr Brecht gemeint hat mit seiner Hypothese, die Wahrheit sei konkret, es lässt sich oft gegen ihn wenden.« (Hannah Arendt/Uwe Johnson: Der Briefwechsel 1967-1975, hg. von Eberhard Fahlke/Thomas Wild, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. 95f.) Zeilen, die einen Eindruck davon hinterlassen, wie Johnson Selbstfiktionalisierung (in seiner Anspielung auf den namentlich ungenannten Benjamin, als dessen Herausgeberin einer ersten Schriftenauswahl im Englischen Arendt fungiert hatte), kritische Chronologie und Ideologiekritik im literarischen Format als ein assoziativer Stellenleser zu verdichten und als Problematisierung des Realismus zu adressieren und zu versenden versteht. 125

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gleichen mit ihrer eigenen Version. Eine Art Information, in der Form der Erzählung, wahrscheinlich weit weniger wirklich als die regelrechte Nachricht.«54 Erzählen ist für Uwe Johnson eine Form zum Unterbreiten eines Angebots von Sichtweisen, um im mit der Zeit auszubildenden Unterscheidungsvermögen Identitäten – eigenen und fremden – wiederzubegegnen und Wiederbegegnungen durch Texte hindurch zu ermöglichen. Das lässt Johnson zu den Realien der Sprache greifen. Und lässt ihn dem brechtschen, jenem auf Hegel und ursprünglich auf den Kirchenvater Augustinus zurückgehenden Satz »Die Wahrheit ist konkret« entsprechen, sofern man hier das Konkrete als etwas begreift, das sich entsprechend dem alltagssprachlichen Gebrauch des Begriffs als Greifbares, Wirkliches, Körperliches, Anschauliches zeigt und zugleich als das konkrete Korrelat zu etwas Abwesenden. Wobei aber die Abstraktion doch grundsätzlich immer in der Konkretion des Sichtbaren und Handhabbaren, in einer zu begreifenden Materialität besteht, die das an Komplexität überbietet, was darstellbar und nacherzählbar wäre. Wie ein Stadtplan. Der kein Ende kennt, nur Ränder, die über sich hinausweisen; als Matrix für erdenklich viele Zirkulationen und Neuauflagen.55 Konkret dient der Plan der Stadt – abstrakt in mehrfacher Hinsicht – als Medium einer Überprüfungspraxis von Darstellungskonstellationen. Er kann als Leitmedium zur Betrachtung von Historie in der Darstellung des Erzählten und als Wegstreckenanzeiger betrachtet werden, auf dem sich die Spuren einer überprüfenden Annäherung an von Dokument und Aussage Bezeugtem verzeichnen lassen. In Johnsons Romanen und Prosastücken werden Plan und Karte, wo sie ihre Stelle im literarischen Text

54 U. Johnson: Begleitumstände, S. 327. 55 Johnsons Schreiben verzeichnet eine besondere Aufmerksamkeit für Verbindungen, Transportstrecken, Kreisläufe, Wasserwege – für Flüsse: »Am Ende könnte man mir nachsagen, ich sei jemand, der hat es mit Flüssen. Es ist wahr, aufgewachsen bin ich an der Peene von Anklam, durch Güstrow fließt die Nebel, auf der Warnow bin ich nach und in Rostock gereist, Leipzig bot mir Pleisse und Elster, Manhattan ist umschlossen von Hudson und East und North, ich gedenke auch eines Flusses Hackensack, und seit drei Jahren bedient mich vor dem Fenster die Themse, wo sie die Nordsee wird. Aber wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht umwaldete Seenplatte Mecklenburgs von Plau bis Templin, entlang der Elde und der Havel, und dort hoffe ich mich in meiner nächsten Arbeit aufzuhalten, ich weiß schon in welcher Eigenschaft, aber ich verrate sie nicht.« Siegfried Unseld zitiert diese Selbstbeschreibung Johnsons in Nachwort zu dem posthum erschienenen ersten Roman Ingrid Babendererde (Siegfried Unseld: »Die Prüfung der Reife im Jahre 1953«, in: U. Johnson: Ingrid Barbendererde, S. 263-264). 126

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einnehmen, nicht einfach metaphorisiert, auch nicht funktionalisiert als reine Belege für die Existenz einer außer-textuellen Wirklichkeit, in der sie die Fiktion des Literarischen vorgeblich verankern helfen könnten. Pläne und Karten scheinen an den wenigen Stellen, an denen sie bei Johnson auftauchen, Schnittstellen zu sein, an denen das Verhältnis von Fiktivem und behaupteter Wirklichkeit in besonderer Weise eine Bestimmung erfährt. In ihrer Mehrdimensionalität zusammengesetzt aus Gestaltungskonventionen und Narrationselementen fungieren sie als Platzhalter, in der Sprache der Literatur, dienen zur Erinnerung: innerhalb des Textes den darin handelnden und nach Perspektiven suchenden Figuren wie nach außen, den Lesern, denen sie sich als exemplarische Formatvorlagen einer Wirklichkeitsvermessung vor Augen stellen. Die Schilderung des Verlaufs des 26. Novembers 1967 findet sich fortgesetzt, und einmal mehr wird den Mitlesern ein Stadtplan in den Blick gerückt: Seit sechs Jahren hängt an unserer Wand oberhalb des Telefons jene Ubahnkarte, die das Hotel unserer ersten Tage mit den Empfehlungen der Union Dime Savings-Bank austeilte. Die Flüsse, der Sund und der Atlantik umgeben die Landstücke mit einem schmutzigen blassen Grün, viel freundliche Laubfarbe ist an die Stelle von Parks und sogar Flugplätzen und Friedhöfen gekleckst und sitzt unter der Windrose, die vierundzwanzig Richtungen angibt. Über die ganzen und halben Inseln und über das Wasser aber laufen rot und dunkelblau und orange die Linien der Subway von damals, hübsch verknotet im südlichen Manhattan und um die Straße Jay in Brooklyn, ungeschickt in Kurven gerundet oder geradezu eckig seitwärts strebend, wie Fußwege im Wald. Die Sehenswürdigkeiten der Stadt sind fast immer richtig an ihre Standorte gedruckt [...], die ungefähre Form der Brücken ist über die Flüsse skizziert, über den beiden Flugfeldern hängen tapsige Flugmaschinen, die Statue namens Liberty steht auf einem spitzzackigen Adventsstern, und tatsächlich fährt da doch eine South Ferry vom Battery Park und hält einen zierlich gedrehten Zopf weißen Rauches über sich. Zwei gelbe Einsätze weisen hin auf die Häuser der Band, die all dies spenden will, und wo immer Subway und Parks einen freien Raum lassen, hat sie allerliebste Briefkästen aufgebaut[.]

Diese detaillierte Beschreibung des Stadtplans, die dessen Konventionalisierung und Darstellungseigentümlichkeit hervorhebt, erstreckt sich über nahezu eine ganze Druckseite, um in einem Gebrauchskommentar zu enden. Die Karte ist ein Werbemittel, als ein solches in die Hand gegeben worden, und hat eben nicht dem Geber, sondern dem Nehmer einen Wertgewinn gebracht: »all diese Großzügigkeit und Fürsorge hat der Bank nicht einen einzigen Dime, nicht zehn Cent aus unserem Haushalt

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eingebracht; uns aber ein auswendiges Bild der Linien der Subway.«56 Angesichts der Karte wird ein durch sie erworbenes Vermögen – Vertrautheit mit der Landschaft, in der sich das fiktive Romanpersonal aufhält – gegen ihren Einsatz als Mittel zum Zweck der geschäftsmäßigen Wertschöpfung gesetzt. Bezeichnenderweise hat die Karte, der alte Plan, der die Realität nicht mehr abbildet, obgleich nur einige U-Bahnen nun andere Routen nehmen, an zentraler Stelle, unter einem innerhalb der Jahrestage vielfach als wichtig angesprochenen Kommunikationsmedium, dem Telefon, ihren Platz in der Wohnung der Romanfiguren. Zwei Seiten weiter (und abermals wird seine Nähe zum Telefon erwähnt) erfährt der Plan eine weitere Beschreibung: Nachgeliefert wird eine Zustandsbeschreibung, die die Karte als Anwesenheitshalter von Vergangenheit kennzeichnet: »Über dem Telefon hängt unser alter Plan, gestiftet von der Dime Savings. An den Rändern ist er beschädigt mit notierten Nummern, er mag auch in den Brüchen kurz vor dem Reißen sein schon aus der Zeit, als ich ihn auf Wohnungssuche in der Manteltasche durch New York trug. [57] Aber auf der Karte sind weiterhin die Zeichen, mit denen Marie die von ihr benutzten Bahnhöfe abhakte und Umsteigepunkte umrandet, da steht ach ihre ungefügte Kindergartenschrift, einzelne Worte in den Hudson, in den Atlantik, in den Central Park geschrieben.« Buchstäblich beschrieben, beschriftet mit den Zeitspuren ihres Gebrauchs und ihrer Benutzung, ist die Karte ein Dokument. Und die Stelle des Romans, an der sie nicht einfach ein Mittel der Darstellung von in die Erzählung geholter extratextueller Wirklichkeit darstellt, stellt jeden Stadtplan und jede Karte als lesbare und interpretierbare Tradierungsinstrumente vor. Als entscheidend erweist sich die Frage, wie man diese handhabt, der Tradition in und auf der Karte begegnet und ihr entspricht. Die Frage findet sich, schon vor und nach der gerade zitierten Passage, im Roman gestellt: »Jetzt kommt Marie durch die Tür, achtzehn Minuten nach ihrem Anruf vom Times Square, und hat ein Exemplar der neuen Karten für die Ubahn mitgebracht. Nun werden wir sehen, ob dies ein Kind ist, das etwas hält von Tradition.« Verknappter noch dann direkt nach der Beschreibung: »Wird sie die alte Karte der neuen opfern?«58 56 U. Johnson: Jahrestage, Band 1, S. 371f. 57 Kurzzeitig kann der Leser an dieser Stelle die Autorenfigur Johnson auf ihren auch fotografisch dokumentierten Wegen durch die Stadt New York (siehe die Fotoserie von Klaus Podak, in: M. Bengel (Hg.): Johnsons Jahrestage, S. 350-358) mit der Hauptfigur des Romans zu verwechseln versucht sein, die hier in der selten gebrauchten Ersten Person Singular von sich spricht. 58 U. Johnson: Jahrestage. Band 1, S. 373 und 374. 128

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Diese neue Karte, so wird sie beschrieben, und abermals verorten auch diese ihre genauestens festgehaltenen gestalterischen Elemente in ihrer Zeitgebundenheit, ist größer, ein elegantes Ding, zum größeren Teil weiß, mit einer ausgesuchten Mischung von acht Farben besprenkelt. Die Ufer sind einen Schatten tiefer nachgezogen als das Wasser blau ist, wie in einem nicht ganz ungefährlichen Traum. Alle Linien sind säuberlich parallel oder in Winkeln übereinander gelegt, in Abb. 5: Karte des U-Bahnnetzes von New York City 1967 schulmäßige Kurven gebracht und in ein Verhältnis gesetzt, das Ausgewogenheit und Vollkommenheit vortäuscht. Einzig die Linie GG, Queens/Brooklyn, hat einen eckigen Bauch, der zu weit nach Südostost durchhängt. Am Grand Concourse an der 138. Straße scheint etwas missverständlich, da verdeckt das Verzeichnis der haltenden Züge, daß die Linie 2 einen Bogen nach rechts macht; da wird man in Zukunft mehrmals hinsehen müssen. Zugestanden, es entspricht einer herrschenden Mode.59

Hier kündigen sich bereits die vorhergesehenen Lektüreschwierigkeiten an; erwartbare Folgeerscheinungen eines zeitgemäß sich gebenden Informationsgraphikdesigns. Verdeutlicht wird: Die neue Karte hat im Moment der Besitznahme bereits ihre Geschichte. Auch diese gilt es entsprechend als Perspektive auf das Ansichtige zu respektieren. Eine Beschreibung, die Unterschiede macht, findet sich so abermals gefolgt von der Frage nach Tradierung, dem Plan der Tradition: »Wird es an unsere Wand kommen? Was wird nun mit der Vergangenheit?«60 (Abb. 5) Ein Stadtplan verzeichnet Verbindungslinien über die Zeiten. Er ist als ein lesbarer Zeitspeicher zu betrachten, als ein Aufbewahrungsort für vielperspektivische Inventarisierung vereinzelter, nie vereinfachend kollektiv zu nennender Erinnerungsstücke, dient zur Orientierung, wo keine verinnerlicht ist, als Archivierungsmedium, als das die urbane Topographie als Ganze und im Wandel der Zeit als geschichtliche zu betrachten wäre, ohne aber als eine solche als Totalität jemals erfassbar und darstellbar zu sein. In der Fiktion, sofern davon zu sprechen ist, steht er 59 U. Johnson: Jahrestage. Band 1, S. 374. 60 U. Johnson: Jahrestage, Band 1, S. 374. 129

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stellvertretend für die Fiktionalität – nämlich für die Erzählbarkeit – der darin nachgeschilderten Wirklichkeit von Geschichten. Ein Plan braucht einen Platz, um sichtbar zu sein, um zur Ansichtssache zu werden. Ein Plan, von der Zeit überholt, braucht einen Ablageort, um ihr zum Speicher zu werden:61 Marie nimmt die Karte von 1961 von den Nägelköpfe, legt sie behutsam in die Brüche von 1961, streicht die Karte von 1967 an der Wand glatt und drückt die Nägel durch. Da hängt die neue. Die andere ist zum Aufheben: sagt Marie. Zum Aufheben für wen? Für dich? Für dich doch, Gesine, Mensch: sagt Marie.62

Mit der Zeit Aufgehobenes zeugt so, mit den ihm eigenen Brüchen, von einem Leerstellenbewusstsein. Als Fundsache zu betrachten, ansprechend formuliert, kann es kein Ende markieren, nicht einmal ein vorläufiges.

61 Vgl. Nils Plath: »Stadt als Ansichtssache und Sendung. Von und mit On Kawara, Michel Butor und anderen«, in: Walter Fähnders/Nils Plath/ Hendrik Weber/Inka Zahn (Hg.): Berlin, Paris, Moskau. Reiseliteratur und die Metropolen, Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 47-70. 62 Unverkennbar ist das Zusprechen von Besitz von Vergangenheiten auch ein Zuspruch in der Gegenwart, in dem sich Zeitbewusstsein als Selbstbewusstsein äußert. (U. Johnson: Jahrestage, Band 1, S. 374). 130

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L i t er a t ur Arendt, Hannah/Johnson, Uwe: Der Briefwechsel 1967-1975, hg. Eberhard Fahlke/Thomas Wild. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004. Becker, Jürgen: »Das Dokument aus Cottbus«, in: Du. Die Zeitschrift der Kultur, Heft Nr. 10, Oktober 1992, S. 53. Becker, Jürgen: Die Gedichte, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995. Bengel, Michael (Hg.): Johnsons Jahrestage, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985. Benjamin, Walter: »Johann Peter Hebel«, in: W.B.: Gesammelte Schriften, Band II, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 635-640. Benjamin, Walter: »Notizen Svendborg Sommer 1934«, in: W.B.: Gesammelte Schriften, Band VI, hg. von Rolf Tiedemann/Herman Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986. S. 523-532. Blanchot, Maurice: »›Wer nun? Wo nun?‹«, in: Hartmut Engelhardt/Dieter Mettler (Hg.): Materialien zu Samuel Becketts Romanen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976, S. 248-252. Blanchot, Maurice: Der Name Berlin, aus dem Italienischen von Isolde Eckle, Berlin: Merve 1983. Blanchot, Maurice: Die Literatur und das Recht auf den Tod, aus dem Französischen von Clemens-Carl Härle, Berlin: Merve 1982. Daiber, Hans: »Die Cooperation mit Gesine. Interview mit Uwe Johnson«, in: Michael Bengel (Hg.): Johnsons Jahrestage, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985. S. 129-132. Fahlke, Eberhard/Fellinger, Raimund (Hg.): Uwe Johnson – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999. Fähnders, Walter/Klein, Wolfgang/Plath, Nils: »Fremde? Heimat? Wanderung? Blicke von heute auf Städte und Reisende«, in: Walter Fähnders/Wolfgang Klein/Nils Plath (Hg.): Europa-Stadt-Reisende. Blicke auf Reisetexte 1918-1945, Bielefeld: Aisthesis 2006, S. 231260. Gottwaldt, Alfred: Das Berliner U- und S-Bahnnetz. Eine Geschichte in Streckenplänen, Berlin: Argon 1994. Johnson, Uwe: »Berliner Stadtbahn (veraltet)«, in: Uwe Johnson, Berliner Sachen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1975, S. 7-21. Johnson, Uwe: »Boykott der Berliner Stadtbahn«, in: Uwe Johnson, Berliner Sachen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1975, S. 22-40. Johnson, Uwe: »Ein Brief aus New York«, in: Kursbuch 10, Oktober 1967, S. 189-192.

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Johnson, Uwe: »How to explain Berlin to a Newcoming Child« (1968), in: Uwe Johnson, Berliner Sachen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1975, S. 102-105. Johnson, Uwe: »Vorschläge zur Prüfung eines Romans«, in: Rainer Gerlach/Matthias Richter (Hg.): Uwe Johnson, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984, S. 30-36. Johnson, Uwe: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980. Johnson, Uwe: Das dritte Buch über Achim, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973. Johnson, Uwe: Eine Reise nach Klagenfurt, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974. Johnson, Uwe: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Band 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970. Johnson, Uwe: Mutmaßungen über Jakob, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1959. Johnson, Uwe: Zwei Ansichten, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1965. Kafka, Franz: Tagebücher 1910-1923, Frankfurt/Main: Fischer 1973. Meyer, Hans/Johnson, Uwe (Hg.): Das Werk von Samuel Beckett. Berliner Colloquium, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1975. Plath, Nils: »Stadt als Ansichtssache und Sendung. Von und mit On Kawara, Michel Butor und anderen«, in: Fähnders, Walter/Plath, Nils/Weber, Hendrik/Zahn, Inka (Hg.): Berlin, Paris, Moskau. Reiseliteratur und die Metropolen, Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 47-70. Rekacewicz, Philippe: »Der Kartograf und seine Welten«, in: Le Monde diplomatique, Nr. 8075, 15.9.2006, S. 12-13. Sennett, Richard: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, aus dem Englischen von Linda Meissner, Frankfurt/Main 1997. Unseld, Siegfried/Eberhard Fahlke: Uwe Johnson: Für wenn ich tot bin, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991. Unseld, Siegfried: »Die Prüfung der Reife im Jahre 1953«, in: Uwe Johnson: Ingrid Barbendererde, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987, S. 249-264.

Abbildungen Abb. 1: Uwe Johnson vor Karte in Berlin-Friedenau, ca. 1973, Foto: Renate von Mangoldt; abgebildet in: Du, Heft Nr. 10, Oktober 1992, S. 77. Abb. 2 und 3: Berliner S-Bahnnetz von Oktober 1960 und 1966.

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Abb. 4: Berliner BVG-Netzplan von 1963. Abb. 5: Karte U-Bahnnetz New York City 1967.

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»M A N SEHEN

M U S S B E WE G L I C H B L E I BE N .«

U ND

G E H E N I N J A C Q U ES R I V E T TE S LE PONT DU NORD EKKEHARD KNÖRER 1 . M e t a p h er

Michel de Certeau schreibt in Kapitel IX Récits d’espace (Berichte von Räumen) seines Buches Kunst des Handelns über das Verhältnis von Stadtraum und Narration: Dans l’Athènes d’aujourd’hui, les transports en commun s’appellent metaphorai. Pour aller au travail ou rentrer à la maison, on prend une »métaphore« – un bus ou un train. Les récits pourraient également porter ce beau nom: chaque jour, ils traversent et ils organisent les lieux; ils les sélectionnent et les relient ensemble; ils en font des phrases et des itinéraires. Ce sont des parcours d’espaces.1

Damit stellt de Certeau selbst ein – nicht vergleichendes, sondern als gleich setzendes, unvermitteltes, also genuin metaphorisch ersetzendes – Übertragungsverhältnis her, zwischen realer Raumorganisation und tatsächlichen Verkehrssystemen und dem Erzählen, das fiktive Räume produziert, organisiert und dynamisiert – und natürlich von realen Raumorganisationen und tatsächlichen Verkehrssystemen, Räumen und Plänen 1

Michel de Certeau: L’Invention du quotidien I. Arts de faire, Paris: 10/18 1980, S. 205. ›Im heutigen Athen heißen die kommunalen Verkehrsmittel metaphorai. Um zur Arbeit zu fahren oder nach Hause zurückzukehren, nimmt man eine »Metapher« – einen Bus oder einen Zug. Auch die Geschichten könnten diesen schönen Namen tragen: jeden Tag durchqueren und organisieren sie die Orte; sie wählen bestimmte Orte aus und verbinden sie miteinander; sie machen aus ihnen Sätze und Wegestrecken. Sie sind Durchquerungen des Raumes.‹ (Kunst des Handelns, aus dem Französischen von Ronald Voullié, Berlin: Merve 1988, S. 215.) Die Seitenangaben im Folgenden – bei Original und Übersetzung – im Text direkt hinter den Zitaten. 135

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handeln kann. Die den Geschichten und narrativen Strukturen eigene Übertragung ist die Verwandlung des statischen Raums in geordnete Bewegung. Die Erzählung greift aber auch in den tatsächlichen Raum ein, sie gibt dem Akt, der die Bewegung ist, die Struktur eines Sprechakts, der auf dem Plan – auf dem Stadt- oder Linienplan, das heißt: mit einem das Ganze ins Auge fassenden, einem damit Ganzheiten produzierenden Blick – nicht zu erfassen ist. Vielleicht muss man genauer sagen: Erzählung heißt genau diese real-fiktive Übertragung, die sich ereignet, wenn aus dem statischen Ort durch Erzähl- und Bewegungsakte das wird, was de Certeau den Raum nennt, nämlich ein »lieu pratiqué« (208), ein »Ort, mit dem man etwas macht«. (218) Festzuhalten ist: Unterscheidbar, aber realiter nicht unterschieden gehen in der Bewegung durch die Stadt, in der aktartigen Aneignung des Orts als Raum das Erzählen, das Übertragen, die Bewegung in eins. Das Verhältnis von Plan und Akt fasst de Certeau im vorangehenden Kapitel VII Marches dans la ville (Gehen in der Stadt) ins Auge. Er geht dabei von einer zentralen Unterscheidung aus – die sich freilich selbst einer phantasmatischen Erzählung, einer konjunktivischen Bewegung, ja, einer Erzählbewegung verdankt. Auf der einen Seite von de Certeaus Unterscheidung liegt das Phantasma eines ›panoptischen‹ Blicks, eines Blicks von oben, der alles als statische Landschaft erfasst und so die Fiktion einer sich vor den Augen erstreckenden, stillgestellten – Orte, nicht Räume erfassenden – Ganzheit ermöglicht. Ich zitiere die Schilderung dieser Bewegung, den Beginn dieser Erzählung, die die Setzung dieser Unterscheidung vorführt und performiert. Es handelt sich um die ersten Sätze des Kapitels: »Depuis le 110e étage du World Trade Center, voir Manhattan. Sous la brume brassée par les vents, l’île urbaine [...].«2 (171) Von hier oben, von da oben liegt die Stadt vor einem, abstrakt, unbelebt, zeitlos wie auf einem Stadtplan. Eine Abstraktions- und eine Entzugsbewegung: »Le corps n’est plus enlacé par les rues qui le tournent et le retournent selon une loi anonyme; ni possédé, joueur ou joué [...]«3 (172), und weiter: »Celui qui monte là-haut sort de la masse qui emporte et brasse en elle-même toute identité d’auteurs ou de spectateurs.« (172)4 Dies ist das Paradigma des panoramatischen ›Sehens‹ der Stadt, eines Sehens, nach dem »l’aménageur de l’espace, l’urbaniste ou le car2 3

4

›Von der 110. Etage des World Trade Centers sehe man auf Manhattan. Unter dem vom Wind aufgewirbelten Dunst liegt die Stadt-Insel.‹ (179) ›Der Körper ist nicht mehr von den Straßen umschlungen, die ihn nach einem anonymen Gesetz drehen und wenden; er ist nicht mehr Spieler oder Spielball ...‹ (180) ›Wer dort hinaufsteigt, verlässt die Masse, die jede Identität von Produzenten oder Zuschauern mit sich fortreißt und verwischt.‹ (180) 136

»MAN MUSS BEWEGLICH BLEIBEN.«

tographe« (173), die »Raumplaner, Stadtplaner oder Kartographen« (181), streben. Es ist zu fragen, ob diese Bewegung hinauf, diese vom Text eingeforderte und zugleich schon performierte Bewegung selbst an dem partizipiert, was sie produziert (dann wäre sie exemplarisch und hätte ihren Ort im Bild, das sie entwirft), oder ob sie der Produktion des von ihr generierten, durch sie möglich gewordenen Blicks selbst entzogen ist – und somit singulär wäre, mit Notwendigkeit außerhalb des Bilds, ein Akt, der das Phantasma einer panoptisch mortifizierenden Aktlosigkeit hervorbringt. Vielleicht lässt sich aber auch einfach sagen: Auch und gerade die Fiktion des Orts, der nicht vom Erzählen, von der Metapher affiziert ist, des Orts, der den panoptischen Blick erst ermöglicht, ist ein Ort, den nur die Erzählung und ihre metaphorisierende Bewegung als Akte hervorbringen. Es geht mir nicht etwa darum, auf einen Widerspruch hinzuweisen; vielmehr nur um die Anerkennung der Tatsache, dass die eine Seite der Unterscheidung auf ihre andere Seite jederzeit angewiesen bleibt, sich selbst ohne diese andere Seite (bzw. den re-entry der Unterscheidung auf der eigenen Seite) gar nicht fassen könnte. Die Bewegung des Erzählens ist somit nie eine einfache Bewegung, findet niemals nur auf der einen Seite der Unterscheidung statt, kreuzt immer schon vom Exemplarischen ins Singuläre, vom Akt zum Blick, vom Blick zum Akt. Die andere Seite der großen Unterscheidung setzt de Certeau in der Erzählung, die die Genese der Unterscheidung erzählt und performiert, als ›panoptischen Blick‹ vorgängig. Die Bewegung hinaus aus der Stadt, hinauf auf das World Trade Center ist eine Reaktion auf das, was zuerst da ist: das Gewimmel unter dem vom Wind aufgewirbelten Dunst. Was sich im Gewimmel ereignet, erfassbar nur in der panoptischen Aufstiegsbewegung, ist die – freilich unautorisierte – Aneignung durch die Bewegung, das Gehen, ein Schreiben des Textes der Stadt, das sich mit diesem Schreiben, als dieses Schreiben »sans auteur ni spectateur« (174) – »ohne Autor oder Zuschauer« (182) – jener Lesbarkeit durch Aufstieg gerade entzieht, die im Paradigma des panoptischen, des ›Plan‹-Sehens gesucht wird. Noch einmal de Certeau: »Une ville transhumannte, ou métaphorique, s’insinue ainsi dans le texte clair de la ville planifiée et lisible.«5 (174) Genauso gut ließe sich freilich sagen: Die Metapher ist immer schon in den Plan eingedrungen, Plan und Metapher kreuzen und durchdringen einander und bringen nur auf ihrer jeweiligen Rückseite die Unterscheidung hervor.

5

›Eine metaphorische oder herumwandernde Stadt dringt somit in den klaren Text der geplanten und leicht lesbaren Stadt ein.‹ (182) 137

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2 . A n d e r N o r d b r üc k e Jacques Rivettes Film An der Nordbrücke (Le Pont du nord) aus dem Jahr 1981 ist, so meine These, auf der unmöglichen Linie dieser Unterscheidung angesiedelt (oder auch: auf einer unmöglichen Brücke), er geht auf vertrackte Weise um mit dem Sehen nach Maßgabe von Stadtplänen und dem Gehen als einem Streifen durch die Straßen der Großstadt Paris, einem Schreiben des Textes der Stadt als von keinem Autor gesteuerter Fortgang einer Bewegung. Freilich ist die Linie, auf der sich Rivettes Film und seine Protagonistinnen Baptiste und Marie bewegen, als Grenzlinie alles andere als gerade – und führt damit die gerade skizzierte Unhaltbarkeit der Unterscheidung selbst vor Augen; im Verlauf des Films erweist sich die Linie, die die Ordnung des Plans von der Ordnung des Akts, das Sehen vom Gehen trennt, als krumm, geschlungen, selbst metaphorisch, als ›metaphora‹, in ständiger Vorwärts-, Seitwärtsund vor allem auch Übertragungs-Bewegung. Und zwar von Beginn an: ›Sehen ist Bewegung‹, so scheint das Gesetz schon der allerersten Einstellung des Films – nach dem Vorspann – zu lauten: Er beginnt mit einem langen Schwenk über Pariser Innenstadtszenerie, man sieht Straßen, Autos, eine Brücke, und irgendwann begreift man, dass die Kamera nicht mit einem nur dem eigenen Gesetz gehorchenden Blick die Stadt abschwenkt, sondern von Anfang an an der Bewegung eines kleinen weißen Motorrads haftet, dem sie folgt, bis es stehenbleibt. Auch die Kamera hält inne, es folgt ein Schnitt von der Totalen auf den close up des Gesichts der Motorradfahrerin, das zunächst aber noch unter dem Motorradhelm verborgen ist. Bereits diese erste Totale ist kein establishing shot im traditionellen Sinne, eine Einstellung also, die den Blick des Betrachters, indem sie ihm Übersicht bietet, über das Verhältnis von Raum und Figur aufklärt. Diese erste Einstellung zieht den Betrachter sogleich medias in res, versetzt den Raum, den sie produziert, in Bewegung. Das setzt sich fort, denn die Frau blickt nach links, und die Kamera folgt nun ihrem Blick im Umschnitt mit einer Subjektiven in einem weiteren langen Schwenk. Am Anfang des Films steht also keine Lektüreanweisung wie etwa: »Von der Plattform des Eiffelturms (oder: vom Standort der Kamera aus) sehe man auf Paris.« In An der Nordbrücke ist die Kamera selbst, von Anfang an, von der Bewegung der Figur, der Stadt, der Figur in der Stadt affiziert, und es wird der Eindruck erzeugt, die Figur, auf der sie verharren, der sie folgen wird – zunächst selbst nur ein Bewegungspunkt –, sei durch bloßen Zufall in den Blick geraten. Oder auch: Es ist, als würden die Kamera und ihr Blick vom Blick der Figur, die ihr in den Blick geraten ist, eingefangen und usurpiert. Der Blick auf die Figur wird von An-

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»MAN MUSS BEWEGLICH BLEIBEN.«

fang an zum Blick der Figur in der Stadt. Diese Blick-Kreuzung liegt vor jeder Ordnung, vor jedem Plot und vor jedem Plan von der Stadt. Ein Plot jedoch kommt ins Spiel und mit dem Plot auch ein Stadtplan – oder vielleicht umgekehrt: mit dem Stadtplan ein Plot. Freilich steht der Plan nicht am Beginn. Er taucht etwa in der Mitte des Films auf, aus dem Nichts, aus einer Tasche, als merkwürdiges Palimpsest aus Stadtplan und Spielfeld, als eine Herausforderung, mit der umzugehen ist.

3 . S t a d t p l a n/ G ä n s e s p ie l Jeu de l’oie, das Gänsespiel, das Spiel ums Gesetz. ›L’oie‹, die Gans mit Artikel, und ›loi‹, das Gesetz ohne Artikel, sind im Französischen homophon. Das Gänsespiel ist ein Felderspiel mit Würfeleinsatz. Man würfelt und rückt vor auf einem vorgeschriebenen, nummerierten Weg und kommt auf ein Feld. Ich zitiere Marie aus dem Film (Abb. 1): C’est un jeu d’enfant, un jeu de hasard. C’est composé par cases; il y a les bonnes cases et il y a les cases mauvaises et les cases pièges. Et, par exemple, le tombeau c’est une case piège. [...] Le tombeau, la mort. Mais la mort, c’est aussi un recommencement, on commence le jeu. De toute facon, c’est un jeu qui fait très peur.6

Die Regel schreibt vor, was das Feld bedeutet. Die Regel ist eine Bedeutungs- und eine Bewegungsvorschrift: Hier musst du stehenbleiben, hier darfst du noch einmal würfeln, hier musst du aussetzen, hier musst du noch einmal anfangen. Und hier bist du raus. Sich auf die Vorschrift, die Setzung einzulassen, ist Voraussetzung fürs Gelingen – oder überhaupt fürs Losgehen und das Weitergehen – des Spiels, des Gänsespiels, aber natürlich eines jeden Spiels. Regel und Gesetz eines jeden Spiels ist die Setzung. Anders gesagt: Es gibt Symbole, Zeichen, Bedeutungen, aber keine Referenz. Spiele referieren nicht auf Wirklichkeit, sondern sie zäunen mit Regeln und Symbolen etwas ein, ein eigenes Feld, einen eigenen Raum und Bereich, in dem andere Gesetze gelten als in den Räumen der Wirklichkeit und den Sprachspielen des Realismus. Spiele und Spielpläne unterscheiden sich, mit anderen Worten, von Stadtplänen. Stadtpläne referieren, und zwar, nach Möglichkeit, 6

›Das ist ein Kinderspiel, eine Art Glücksspiel. Es besteht aus Feldern. Es gibt also gute Felder und es gibt Hindernisfelder. Und das Grab zum Beispiel ist ein Hindernisfeld [...] Das Grab, der Tod. Der Tod ist auch ein Neubeginn. Man fängt wieder von vorn an. Na, auf alle Fälle, das ist ein Spiel, das viel Angst macht.‹ 139

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Abb. 1: Spiel/Plan

verlässlich. Sie bilden ab, was ist – gewiss nach eigenen Verkleinerungsund Maßstabs-, Symbolisierungs- und Relevanzgesetzen, die sich nach unterschiedlichen Zwecken richten können. Das ist kein Widerspruch zu der Annahme, dass Pläne Wirklichkeiten nicht nur abbilden, sondern auch erzeugen. Das Argument ist rein pragmatisch: Stadtpläne funktionieren – als Stadtpläne – nur unter der Voraussetzung, dass man an ihr verlässliches Referieren glaubt. Anders gesagt: Auch Stadtpläne schaffen ihre ›eigene‹ Wirklichkeit, dennoch gilt: Bedeutung gewinnt auf dem Stadtplan alles dadurch, dass es referiert – und nicht dadurch, dass es etwas anderes ›bedeutet‹. Das Vorkommen auf dem Plan bedeutet, mit anderen Worten, zunächst nichts anderes, als dass es in der Wirklichkeit ist (oder, genau genommen: war), und zwar genau da und genau so, wie der Plan es behauptet. Natürlich kann man sich Fantasiestadtpläne vorstellen, so, wie man sich auch Fantasie-Biografien und Fantasie-Städte und Fantasie-Wesen vorstellen kann, im Reich der Fiktion, das freilich eher den Gesetzen des Spiels gehorcht als denen des Stadtplans. In An der Nordbrücke spielt ein Stadtplan eine wichtige Rolle (es ist der Stadtplan von Paris) – und auch ein Spiel (eben das jeu de l’oie, das Spiel um Gans und Gesetz). Diese Dopplung charakterisiert als Überblendung von Plan und Spiel in der Fiktion den Film – und sie sorgt dafür, dass die Demarkation zwischen Sehen und Gehen, zwischen Blick und Bewegung, aber auch zwischen Realem und Fantastischem von der ersten bis zur letzten Szene nicht stabilisiert werden kann. Das reale Pa-

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ris, durch das sich die Protagonistinnen bewegen, ist offen für die Übertragungen, denen das über den Plan gelegte Spiel nicht das Gesetz (denn ein Gesetz gibt es nicht – nur die Möglichkeit von Setzungen und Besetzungen), aber den Spielraum gibt. Dreimal begegnen sich Marie (Bulle Ogier) und Baptiste (Pascale Ogier), zwei Frauen, Zufall, sagt die eine, Schicksal, sagt die andere, also auch hier, in der Frage nach der Ordnung, die der Erzählung zugrundeliegt, sind die Setzung des Spiels (als Zufall, als Würfelwurf) und das Gesetz, der Plan (als Schicksal) bereits aufgerufen. Dem Gesetz oder dem Zufall, der Setzung oder der Fügung folgend tun die beiden sich daraufhin zusammen zum Stadtstreichertum. Mit im Spiel der Fiktion sind noch zwei Männer, Julien (Pierre Clementi) und Max (Jean-François Stévenin), diverse Löwen aus Stein im Stadtbild von Paris, ein feuerspeiender Drache, eine kriminelle Vorgeschichte und ein mysteriöser Krimiplot in der Gegenwart. In letzterem spielen eine Tasche bzw. mehrere Taschen, alte Zeitungsausschnitte und eben der Stadtplan und das Gänsespiel eine Rolle. Genauer kann man es kaum sagen, denn genauer sagt der Film selbst es nicht. Er lässt genau an den Stellen, an denen die Realität von Paris, der Stadtplan und die Bedeutungsproduktion des Gänsespiels sich kreuzen, selbst Spiel, bringt die Ebenen miteinander in Kontakt, fixiert die Beziehungen und Verbindungen aber nicht. In einer zentralen Szene, etwa in der Mitte des Films, sieht man Marie und Baptiste, die den Spielplan, der ihnen zugespielt worden ist, vor sich auf dem Boden entfaltet haben. Baptiste erklärt, dass das schneckenförmig eingezeichnete Bild, das an eine Karte der Pariser Arrondissements erinnert, in Wahrheit der Plan eines Gänsespiels ist, in dem sich reale Orte in Paris mit Feldern auf einem Spielplan überlagern. Zitat aus dem Film: »À moi, ça me fait plutôt penser, plus je regarde, à un ›jeu de l’oie‹. [...] C’est un jeu d’enfant, un jeu de hasard.«7 Im Folgenden lassen sich Baptiste und Marie ein auf dies Kinderspiel, wir sehen sie auf dem Weg durch Paris, angeleitet durch den Spielplan, der ihnen zur Legende der Stadt wird. Sie unterschieben dem Spiel also die Referenz einer Karte und tatsächlich gelingt es ihnen so, Übereinstimmungen von Wirklichkeit und Ereignisfeldern des Gänsespiels zu ›entdecken‹ – etwa die an die Wand geschriebene Zahl ›42‹, die anhand des Spielplans als Nummerierung eines Spielfelds lesbar wird (Abb. 2). Die Frauen bewegen sich vom inneren Paris immer weiter nach außen, gelangen in Gegenden, die Brachen sind und unbewohnt, sich selbst und dem Verfall überlassene Stadtlandschaft. Das heißt: Diesem Zugewinn an Lesbarkeit kontrastiert eine zunehmende

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›Also mich erinnert das eher, je mehr ich es anschaue, an ein ›jeu de l’oie‹. [...] Das ist ein Kinderspiel, eine Art Glücksspiel.‹ 141

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Abb. 2: Spiel und Wirklichkeit: Die Schrift an der Wand

Verwüstung – und damit ein Unlesbarwerden – der Stadt selbst, damit auch eine Desorientierung. Wie man sich durch diese Orte als Orte bewegen soll, wie sie zu ›nutzen‹ sind, das scheint nun ganz der Bewegung selbst aufgegeben, den einzelnen Akten der Lektüre, des Gehens und des Imaginierens. Ein System von ›metaphorai‹ durchzieht An der Nordbrücke, jedoch ist es weit davon entfernt, einer einfachen Ordnung – und sei es der des öffentlichen Transportsystems – zu gehorchen. Es geht vielmehr in Plan und Raum und Bild des Films um eine vielfältige Überlagerung und Schichtung. Der literale, auf die Straßen und Orte der Stadt referierende Plan von Paris erhält eine zweite Ebene; auf ihn wird auf-, in ihn wird eingetragen ein zweiter Plan, dessen Bedeutung zunächst rätselhaft, jedenfalls metaphorisch bleibt, »ein großer Drache, in seinen Schwanz eingerollt«, wie Baptiste über den Gänsespiel-Plan sagt. Oder auch »ein Spinnennetz«, so Marie. Beides wird ganz buchstäblich in den Bildern des Films Wirklichkeit werden. Baptiste wird später in eine Art Spinnenkokon eingewickelt, Marie muss sie daraus befreien. Und am Ende des Films, wenn die Bewegung der Figuren beinahe zum Stillstand gekommen sein wird, tritt, im Bild des Films, ›tatsächlich‹ ein Drache auf (Abb. 3), den Baptiste mit Kung-Fu-Bewegungen konfrontiert. Die Überlagerung produziert also, könnte man sagen, eine erste Transformation: Das metaphorische Bild für die Bildebene des Stadt/Spiel-Plans wird im

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»MAN MUSS BEWEGLICH BLEIBEN.«

Abb. 3: Spiel mit der Wirklichkeit: Der Drache

Filmbild selbst buchstäblich: als Spinnennetz, als Drache. (Der Kampf zwischen dem Drachen und Baptiste behält freilich eine Art Index des Irrealen, nicht nur, weil es sich ›in Wahrheit‹ nur um eine Kinderrutsche handeln, sondern auch, da die Kämpfenden fast nur in Schuss und Gegenschuss miteinander verbunden sind.) Neben der Lektüreoption visuelle ›Metapher‹ (Spinnennetz, Drache) wird aber eine zweite Lektüreoption aktualisiert, eben die des von Linien überlagerten Plans als Gänsespiel. Ich zitiere noch einmal: »À moi, ça me fait plutôt penser, plus je regarde, à un ›jeu de l’oie‹. [...] C’est un jeu d’enfant, un jeu de hasard.« Auch eine Ähnlichkeitsbeziehung – insofern auch eine Metapher –, aber sie zieht eine Nutzanwendung nach sich, eine neue Lesbarkeit. Der Stadtplan wird in dieser Lektüre als Spielplan lesbar, und das heißt: benutzbar. Die beiden Frauen bewegen sich durch die Stadt Paris, als wäre sie die Referenz des ›jeu de l’oie‹; sie suchen die ›Brücke‹ auf, das ›Labyrinth‹, sie bewegen sich in der Stadt wie auf einem Spielfeld – und bringen so den Plot voran, denn an den unwahrscheinlichsten und zusehends an der Peripherie der Stadt gelegenen Orten begegnen sie immer denselben Figuren, als seien diese per Würfelwurf aufs selbe Feld im Gänsespiel bugsiert. Es kommt so – und zwar in der Geschichte, den Bewegungs- und Begegnungs-Schicksalen der Figuren, zur Interferenz von Eigenraum des Spiels und Referenzraum des Plans. Das Gänsespiel wird zum Gegenprinzip des Stadtplans, das zugleich unauflöslich in ihn verhakt ist, indem es die referentielle Les143

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barkeit des Plans ins Bewegungsspiel auflöst und die Stadt willkürlich, nach Art des Spiels, nicht des Plans, fragmentarisch mit Bedeutungen besetzt. Wie das eine nun ins andere übergeht und übergreift, die Stadt aufs Spiel, das Spiel auf die Stadt, das wird im Film-Narrativ von Le Pont du Nord zur Sache des Plots. Der Plot bringt, mit Hilfe der Tasche mit dem Plan, den Marie und Baptiste stehlen, das Spiel in Bewegung, und er bringt auch und zugleich Bewegung ins Spiel und in den Plan.

4. G e h en/ Dr e h en/ In B e w eg u ng b l e ib en Alle Transformationen, alle buchstäblichen und metaphorischen Bewegungen zielen dabei auf den ersten Blick auf die Auflösung der von Michel de Certeau beschriebenen Zeitlosigkeit und Ganzheit der panoptischen Projektion. Zugleich bleibt, als verschobenes, das Prinzip des AllBlicks, des Plans, der Lesbarkeit, doch anwesend, nämlich in Baptistes (für Rivette wiederum sehr typischen) Verschwörungstheorien. Überall wittert sie Beobachter. Sie sieht nicht alles, steht aber, wie sie glaubt, unter ständiger Beobachtung durch die Stadt. Nicht ›ich sehe alles‹, sondern ›ich werde immerzu gesehen‹. Wiederholt zückt sie ein Messer und sticht Gesichtern auf Plakaten die Augen aus. Sie glaubt, anders als Marie, nicht an Zufälle, sondern an Schicksal. So bleibt sie noch im Kampf gegen den panoptischen Blick an seine Idee gebunden, wenn auch in einer Umkehrung, die an die Stelle des einen unbewegten Standorts, von dem aus alles sichtbar wird, eine zerstreute Serie von Standorten macht, die doch dem einen Blick und der Beobachtung nie entkommen. Es ist auch die Umkehrung vom Subjekt zum Objekt des Blicks, der Wechsel von der ermächtigenden Beobachter- zur machtlosen Gefangenen-Situation des von Foucault in Überwachen und Strafen beschriebenen Benthamschen Gefängnisentwurfs. Ich rufe kurz Foucaults Beschreibung des Benthamschen ›Panopticon‹ in Erinnerung, das bei ihm als Allegorie der Disziplinargesellschaft auftritt: »On en connaît le principe: à la périphérie un bâtiment en anneau; au centre, une tour; celle-ci est percée de larges fenêtres qui ouvrent sur la face intérieure de l’anneau; le bâtiment périphérique est divisé en cellules, dont chacune traverse toute l’épaisseur du bâtiment«.8 Es ist, als wäre das Disziplinarsystem selbst in Be8

Michel Foucault: Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris: Gallimard 1976, S. 201. ›Sein Prinzip ist bekannt: an der Peripherie ein ringförmiges Gebäude; in der Mitte ein Turm, der von breiten Fenstern durchbrochen ist, welche sich nach der Innenseite des Ringes öffnen; das Ringgebäude ist in Zellen unterteilt, von denen jede durch die gesamte Tiefe des Gebäudes reicht‹. (Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt 144

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Abb. 4-5: ›Ich werde immerzu gesehen‹

wegung geraten, totalisiert – der Turm ist überall, die ganze Stadt wird zum Ringgebäude, die Bewegung als Gänsespiel ums Gesetz droht in der panoptischen Paranoia die von de Certeau beschworenen Freiheitsmomente zu verlieren. Der unmögliche Ort des stillstellenden Blicks kehrt wieder als Verdacht der Totalisierung, der auch durch die Bewegung im »Ringgebäude« der Stadt, auf den Feldern des Spiels, im Spinnennetz des Raums nicht zu entgehen, zu entrennen und entrinnen ist. Noch die Metaphorisierung des Stadt-Plans zum Drachen entspricht dieser Verschwörungs-Idee, die im Raum des Films tatsächlich dazu führt, dass wie aus dem Nichts, also potenziell überall, die Agenten der Überwachung – seien es Drachen, seien es jene Männer, die Baptiste die ›Maxe‹ nennt – auftauchen können. Alles, was ihr begegnet, so Baptistes Überzeugung, referiert. Ganz buchstäblich wird das in einer Szene deutlich, in der sie den Arm nach oben streckt und sich noch durch die Sterne am Himmel beobachtet und in ihrem Schicksal bestimmt fühlt (Abb. 4-5). Zugleich aber entwirft An der Nordbrücke auch das Gegenprinzip zu dieser Paranoia-Version des panoptischen Sehens. Anders gesagt: Was ausagiert wird, ist die Auseinandersetzung um den Gegensatz von Sehen und Gehen, von Plan und Zufall, von Referenz und Setzung. So ist der Raum in An der Nordbrücke immer schon in Bewegung gesetzter Raum, metaphora in de Certeaus Sinne. Und diese metaphora der Bewegung als Narration, des Erzählens als Bewegung geht dem Plan und dem Plot voraus. Dies gilt auch für eine weitere Ebene des Films, nämlich seine Entstehungsbedingungen. Jacques Rivette hat im Interview mit Susanne Röckel, Manfred Blank und Harun Farocki festgestellt: Ich wünsche mir, überhaupt kein Drehbuch zu haben. Bei Dreharbeiten verabscheue ich alles Geschriebene. [...] Ich rede gern mit den Leuten, mit den Darstellern, den Technikern, und gelegentlich auch mit dem Produzenten. Aber

des Gefängnisses, aus dem Französischen von Walter Seitter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976, S. 256-257.) 145

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wenn etwas geschrieben werden muss, was dann aber auch gelesen wird, das will ich nicht, auf keinen Fall. Alles, was es beim Drehen gibt, sind drei, vier hingekritzelte Wörter, für die Dialoge eines Tages. Man muss beweglich bleiben. [...] Auch ich schreibe mir etwas auf, aber bei mir ist es nur ein Blatt Papier mit einer Gliederung, einer Liste von Anhaltspunkten, so dass man weiß, in welchem Moment eine bestimmte Person eine andere trifft usw. Es ist ein Schema, eine Art mathematische Kurve.9

Und der Kameramann William Lubtchansky erzählt von den Dreharbeiten zu An der Nordbrücke: Jacques sagte: es geht los, und dann musste man sehen, wie man zurechtkam. In der Metro-Sequenz zum Beispiel. Wir hatten keine Dreherlaubnis. Jacques hat mir gesagt: die Metro kommt, das Mädchen steigt ein, du folgst ihr, es wird ihr schlecht, dann kommt die nächste Station und sie steigt aus. Das war alles, was ich wusste. Keine Schauspielerprobe. Wir haben den Take dreimal gemacht. Es gab Probleme mit dem Licht; es war Abend, die Sonne fiel sehr schräg in den Wagen. Wir sind eingestiegen. Die Metro ist abgefahren, dann ist sie mitten auf der Strecke stehengeblieben. Das war nicht vorgesehen. Ich habe weitergedreht, weil ich dachte, es wird schon nicht so lange dauern. Sie ist dann wirklich weitergefahren. Das Mädchen ist ausgestiegen und als sie draußen auf der Banks saß, bin ich in die Knie gegangen und habe sie so aufgenommen. Das hat mir niemand gesagt. Ich habe das aus eigenem Antrieb gemacht.10

Dieser Film, könnte man mit wenig Übertreibung sagen, mobilisiert sich selbst. Worauf es ankommt, ist das In-Bewegung-Sein, das BeweglichBleiben, das Prinzip metaphora als Bewegungs- und Übertragungsprinzip einer Geschichte, die fortwährend um einen Stadtplan kreist – und in diesem Kreisen das Referenzprinzip des Plans ins Setzungsprinzip des Spiels überträgt. Diese Übertragungsbewegung gelangt aber niemals vollständig über die Grenze vom Sehen zum Gehen. Nicht nur bleibt das panoptische Prinzip in der immer wieder Bestätigung findenden Paranoia Baptistes stets präsent; nicht nur hat das Spiel von Anfang an sehr wohl im realen, konkreten und wiedererkennbaren Paris seinen Austragungsort. Vielmehr bewegt sich der Film selbst eher auf den Stillstand zu als auf die Potenzierung der eigenen Mobilität. Die beiden Hauptfiguren entfernen sich, wie erwähnt, zusehends aus dem Zentrum der Stadt in die Peripherie, die von Brachlandschaften, Trümmern und der Abrissbirne, die man einmal in Aktion sieht, geprägt ist. Fast scheint es, als zerfalle 9

Manfred Blank, Harun Farocki und Susanne Röckel: »Gespräch mit Jacques Rivette«, in: Filmkritik 8/1982, S. 383-395: 390. 10 Manfred Blank, Harun Farocki und Susanne Röckel: »Gespräch mit William Lubtchansky«, in: Filmkritik 9/1982, S. 422-433: 426-427. 146

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Abb. 6: Rien ne va plus.

und erstarre hier der Stadtraum, nicht unter dem panoptischen Blick von oben und außen, sondern aus sich selbst heraus. Es geht keineswegs um die Verwandlung der »metaphorischen oder herumwandernden Stadt« in den »klaren Text der geplanten und leicht lesbaren Stadt« – sondern um eine Art Unlesbarwerden, Verwischen und Verfallen der Lesbarkeit und eine völlige Einengung des Bewegungsraums. Auf der Ebene des Plots: Marie stirbt, Baptiste tritt an zu einem letzten Kampf/Kung-Fu-Bewegungs-Ballett mit Max auf der Schlachthofbrücke. Dies also, auf der Ebene des Spiels: das Grab, ein Ende, der Tod, wohl kaum ein Neubeginn. Sehen und Gehen, Spiel, Plan und Stadt scheinen sich zuletzt gegenseitig zu durchkreuzen und zu lähmen. Und auch der Plan, als System von Koordinaten, kehrt in merkwürdiger Form ein letztes Mal zurück ins Bild, als Streifenmuster, das an die Linien eines Visiers erinnert (Abb. 6). Es ist alles andere als klar, wer hier blickt, ja, ob überhaupt noch jemand diesen Blick blickt. An der Nordbrücke endet mit einer Entscheidungsschlacht, die nichts entscheidet. Auf einem Spielfeld, dessen Bedeutung nicht eindeutig klar wird, an einem ebenso realen wie imaginären Ort zwischen zerfallener Stadt und dem Schauplatz eines Kampfs mit einem feuerspeienden Drachen. Die Brücke führt nirgendwohin. Die Bewegung der Kamera geht ins nichts. »Man muss beweglich bleiben«? Hier scheint es unmöglich geworden. Das GänseSpiel um Stadt, Plan, Setzung, Gesetz, Metapher und Bewegung endet eher mit einem »Nichts geht mehr«. Rien ne va plus.

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Literatur Blank, Manfred/Farocki, Harun/Röckel, Susanne: »Gespräch mit Jacques Rivette«, in: Filmkritik 8/1982, S. 383-395. Blank, Manfred/Farocki, Harun/Röckel, Susanne: »Gespräch mit William Lubtchansky«, in: Filmkritik 9/1982, S. 422-433. Certeau, Michel de: L'invention du quotidien I: Arts de Faire, Paris: 10/18 1980, dt. von Ronald Voullié als Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1989. Foucault, Michel: Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris: Gallimard 1976, dt. von Walter Seitter als Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976.

F il m Le Pont du nord (F 1981, Regie: Jacques Rivette)

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Z W I S C H E N T OP O G R A P H I E U N D T O P O L O G I E : L O S A N G E L E S P L A Y S I T S EL F LAURA FRAHM Wenn man davon ausgeht, dass jeder Film einen bestimmten ›Moment‹ hat, wie es Anton Kaes in seiner Analyse des Weimarer Straßenfilms Die Strasse (Karl Grune, 1923) anhand der plötzlichen Belebung eines unbelebten, gemalten Augenpaares beschreibt, in dem sich die Macht des Blicks und die Modernität des Urbanen überkreuzen.1 Und wenn man davon ausgeht, dass auch jede Metropole ihren bestimmten ›Moment‹ in der Geschichte hat, in dem sie sich auf besondere Weise vor anderen Metropolen auszeichnet und hervortritt,2 so lässt sich der Experimentalfilm Los Angeles Plays Itself (Thom Andersen, 2003) als eine Ansammlung, ja als eine Überkreuzung ebensolcher Augenblicke und besonderen Momente der filmischen Metropole verstehen. Der Film Los Angeles Plays Itself ist ein filmischer Essay über Los Angeles und zugleich ein Meta-Film, bestehend aus über 200 Filmausschnitten, der sich seinem Gegenstand – der unzählige Male verfilmten und wiederverfilmten Metropole Los Angeles – auf unterschiedliche Weise und in drei Zugriffen nähert, während er zugleich die Möglichkeiten und Grenzen der filmischen Stadtkonstruktion auslotet. Mehr noch, die Besonderheit dieses Films begründet sich gerade darin, dass er immer wieder die Grenzzonen und Übergänge zwischen einer filmischen Topographie und einer filmischen Topologie modelliert. Andersens Film lässt 1

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Kaes schreibt hierzu: »Every film has its moment. Be it an unforeseen glance, an unmotivated gesture, or a startling sequence unnecessary for narrative progression, such a ›moment‹ reveals in a flash what’s at stake – then and now«; Anton Kaes: »Urban Vision and Surveillance. Notes on a Moment in Karl Grune’s Die Strasse«, in: German Politics and Society. Issue 74, Vol. 23, No. 1 (1996), S. 80-87, hier S. 80. Vgl. hierzu Heinz Reif: »Metropolen. Geschichte, Begriffe, Methoden«, in: CMS Working Paper Series, No. 001-2006, S. 5; sowie Christiane Eisenberg: »Die kulturelle Moderne – eine Schöpfung der Großstadt? Paris und London in sozialwissenschaftlicher Perspektive«, in: Ortrud Gutjahr (Hg.): Attraktion Großstadt, Berlin: Spitz 2001, S. 11-36. 149

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sich folglich als ein Versuch lesen, eine umfassende Historiographie der filmischen Stadt zu schreiben. Er tut dies jedoch im Wechselspiel zwischen topographischen und topologischen Annäherungen und nimmt dazu wiederum – und dies ist entscheidend – den Film selbst in Anspruch. Los Angeles – so legt der Titel nahe – spielt sich in diesem Film selbst und wird dadurch sowohl zum Gegenstand als auch zum Motor einer umfassenden filmischen Reflexion der Filmgeschichte von Los Angeles. So bildet der Film einen dreistündigen Querschnitt der Metropole, wie es bereits die frühen Stadtfilme der zwanziger Jahre – man denke etwa an Berlin. Die Sinfonie der Großstadt (Walter Ruttmann, 1927) oder auch an Manhatta (Charles Sheeler/Paul Strand, 1920/21) – so gekonnt in Szene gesetzt haben.3 Los Angeles Play Itself markiert hierzu jedoch insofern einen Unterschied, als sein Querschnitt nicht allein die Metropole Los Angeles und auch nicht allein den Film betrifft, sondern die Historiographie der filmischen Metropole selbst. So kombiniert, verkettet und komprimiert er einzelne Filmausschnitte zu einer großen filmischen Collage und bildet dadurch die Quersumme aus knapp neunzig Jahren Filmgeschichte von Los Angeles.4 Dementsprechend breit gefächert ist auch das Spektrum der Filme, das sich von frühen Beispielen der zehner Jahre, wie A Muddy Romance (Mack Sennett, 1913), über zentrale Beispiele der LA Film School der siebziger Jahre, wie etwa Killer of Sheep (Charles Burnett, 1977) und Bush Mama (Haile Gerima, 1979), bis hin zu aktuellen Beispielen, wie The Million Dollar Hotel (Wim Wenders, 2000) oder auch Swordfish (Dominic Sean, 2001), erstreckt. In dieser Hinsicht lässt sich Los Angeles Plays Itself als eine ›Stadtsinfonie im Rückwärtsgang‹ lesen, die noch einmal alle zentralen Stationen der Filmgeschichte dieser Stadt Revue passieren lässt: Thom Andersen nennt seinen Essay darüber, wie Filme Los Angeles darstellen, eine ›Stadtsymphonie im Rückwärtsgang‹. Die Phrase ist evokativ, wenn auch

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4

Zu einer umfassenden Diskussion der Stadtsinfonien mit Schwerpunktsetzung auf Ruttmanns Berlin-Sinfonie, vgl. William Uricchio: Ruttmann’s ›Berlin‹ and the City Film to 1930, Ph.D. New York University 1982; zu einem fundierten Überblick über die Stadtsinfonien im Kontext der frühen amerikanischen Avantgarde vgl. insbesondere: Jan-Christopher Horak (Hg.): Lovers of Cinema. The First American Film Avant-Garde, 19191945, Madison, WI: University of Wisconsin Press 1995. Bezüglich des Ausmaßes dieses Projekts zieht Steve Ericksen den Vergleich zu Jean-Luc Godards Histoire(s) du Cinema (1988-98); vgl. Steve Ericksen: »The Reality of Film. Thom Andersen on ›Los Angeles Plays Itself‹«, unter: http://www.indiewire.com/people/people_040727laplays. html [Abruf 20.2.2009]. 150

ZWISCHEN TOPOGRAPHIE UND TOPOLOGIE

bescheiden, denn Los Angeles Plays Itself ist in Wirklichkeit eine Symphonie mit vielen Stilrichtungen und Tempi. Geleitet von seiner aufmerksamen, nachdenklich stimmenden Erzählung, trägt Andersen, mit Hilfe von Ausschnitten aus einer eklektischen Reihe von Filmen, eine kritische Geschichte und Gegengeschichte von Los Angeles zusammen.5

Dabei liegt dem Film stets die zentrale Frage zugrunde, wie man sich einer Metropole nähern kann, deren Verfilmungen im Verlauf ihrer Geschichte eine schier unendliche Fülle an Variationen hervorgebracht haben. Andersen findet hierfür eine ebenso schlüssige wie komplexe Lösung, indem er seiner (Film-)Metropole ein klar definiertes Maß anlegt. Er unterzieht Los Angeles einer umfassenden filmischen Vermessung, welche die einzelnen Filmausschnitte nach drei Kategorien anordnet: ›The City as Background‹, ›The City as Character‹ und ›The City as Subject‹. Wie diese Dreiteilung bereits andeutet, werden hier unmittelbar die zentralen Diskussionslinien aufgerufen, welche die filmische Stadt von jeher begleiten.6 So stellt Andersen wiederholt die Frage, ab welchem Zeitpunkt eine Stadt zu einer genuin filmischen Stadt wird, wie sich der Übergang von der reinen Darstellung der Stadt zur Stadt als ›Mitakteur‹ vollzieht, und vor allem: welche filmischen Konfigurationen der Stadt selbst, und insbesondere einer Metropole wie Los Angeles als »the most photographed city in the world«,7 überhaupt gerecht werden können. Diese Sortierung und Kategorisierung der filmischen Metropole quer durch das 20. Jahrhundert hinweg hat in Bezug auf den Umgang mit der Geschichte des Films weit reichende Konsequenzen. Denn indem die Metropole hier selbst zum Hauptreferenzpunkt erhoben wird, auf den sich die gesamte Anordnung des Films konzentriert, liest Andersen die gesamte Filmgeschichte noch einmal quer, ohne Rücksicht bzw. nur mit modifizierter Rücksicht auf ihre Entwicklungsphasen und Genrekonventionen. Den Entwicklungslinien der Filmgeschichte wird damit eine an5

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Astrid Ofner: »Los Angeles Plays Itself«, in: Der Weg der Termiten. Beispiele eines essayistischen Kinos 1909-2004, hg. von A.O., Marburg: Schüren 2007, S. 220-221, hier S. 220. Zu einer ausführlichen Diskussion der feinen Begriffsverschiebungen zwischen der ›Stadt im Film‹, dem ›Stadtfilm‹ und der ›filmischen Stadt‹, wobei letztere die »die ästhetische Konstruktion und ihre Wirkungsabsicht auf das Publikum« umfasst und »permanent filmtechnische, filmsprachliche, filmästhetische Innovationen« hervorruft, vgl. Guntram Vogt: Die Stadt im Film. Deutsche Spielfilme 1900-2000, Marburg: Schüren 2001, S. 26-28. Vgl. Thom Andersen: »Los Angeles Plays Itself« [Voiceover des Films], unter: http://newfilmkritik.de/archiv/2005-03/los-angeles-plays-itself/; Zu griff am 20.2.2009. Alle Zitate des Voiceover beziehen sich auf diese Quelle, die im Folgenden jeweils nicht eigens nachgewiesen wird. 151

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dere, ein zweite mögliche Filmgeschichte gegenübergestellt: die Filmgeschichte der Metropole selbst, welche die bisherigen Kategorien weitgehend verwirft und neu anordnet – und nicht zuletzt in diesem Gestus artikuliert sich das grundlegende Spannungsfeld zwischen der topographischen Vermessung und der topologischen Neuordnung, welches Los Angeles Plays Itself auf untrennbare Weise eingeschrieben ist. Die wechselvolle Geschichte von Los Angeles im Film wird vor diesem Hintergrund folglich auch nicht etwa sukzessive in ihrem strikten historischen Verlauf nachgezeichnet, wenngleich der Film diese Linien nicht gänzlich verwirft, sondern punktuell immer wieder einbezieht. Dennoch lässt sich die übergreifende Bewegung des Films vielmehr als eine spiralförmige, zyklische Bewegung charakterisieren,8 welche – ausgehend von den drei zentralen Kategorien – die filmische Metropole immer weiter einkreist und immer mehr in die Tiefe dessen vordringt, was die Filmgeschichte an vielschichtigen, komplexen oder, in Andersens Worten, ›wahren‹ Bildern von Los Angeles hervorgebracht hat.9 Die Bilder und Kommentare bilden auf diese Weise sowohl eine Geschichte als auch eine Gegengeschichte, die sich gemeinsam wiederum als Gegengeschichte des Kinos lesen lassen. Die zyklische Bewegung des Films artikuliert sich darüber hinaus – und hierauf soll im Folgenden vor allem das Augenmerk gerichtet werden – in einer kontinuierlichen Variation der zugrunde gelegten Raumkonzepte. So stellt der Film wechselnd materielle, soziale oder symbolische Raumordnungen in den Mittelpunkt, findet ein regelrechtes Spiel mit unterschiedlichen Raumkonzepten statt, die in diesem Beitrag vor dem Horizont der Frage nach dem Maßstab bzw. der Maßstablosigkeit filmischer Räume diskutiert werden sollen.

To p o g r a p hi e n u nd To p o l o g ie n Topographische und topologische Konzepte markieren zwei zentrale Eckpunkte innerhalb der gegenwärtigen Raumdiskussion, die sich – nicht zuletzt in Anschluss an den einflussreichen Spatial Turn der achtziger

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Andersen selbst bezeichnet in einem Interview die Struktur des Films als grundlegend intuitiv, wenn er äußert: »I think the structure is fairly natural and straightforward, although it’s basically intuitive«, vgl. S. Erickson: »The Reality of Film«, o. S. So spricht auch Erickson in seiner Einleitung des Interviews mit Andersen davon, es gehe ihm stets um eine »accurate relationship to reality«, wodurch Los Angeles Plays Itself der beständige Versuch kennzeichne, »to grab control back by searching for truth within the image overload«; vgl. ebd. 152

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und neunziger Jahre10 – immer weiter ausdifferenziert und eine schier unüberschaubare Fülle an Konzepten und Perspektiven, an Neufassungen und Rückdatierungen des Raums hervorgebracht hat. Die Omnipräsenz räumlicher Konzepte in der gegenwärtigen Forschung birgt dabei sowohl eine Problematik als auch eine große Chance in sich: Problematisch daran ist, dass die Diskussion mittlerweile übersättigt scheint bzw. dass zunehmend bemängelt wird, der allgemeine Fokus auf den Raum verstelle wiederum andere zentrale Fragestellungen.11 Demgegenüber stehen jedoch auch die Errungenschaften einer breit geführten Raumdebatte, die mittlerweile so weit fortgeschritten ist, dass eine Diskussion räumlicher Konzepte, so die These, nicht mehr darin aufgehen muss, eine grundlegende Dynamisierung und Flexibilisierung der Raumkategorie in Abgrenzung zu statisch operierenden Raumvorstellungen zu postulieren und herzuleiten. Damit hat die gegenwärtige Raumdiskussion ein neues Stadium erreicht. Sie steht an einem Punkt, an dem sich zwei unterschiedliche Perspektiven eröffnen: Eine Möglichkeit ist es, die Relationalität des Raums noch konsequenter weiter zu denken und an die Grenzen dessen zu gelangen, was unter Raum bzw. Räumlichkeit überhaupt noch zu fassen ist – und an diese Grenzpunkte werden wir im Bereich der Diskussion topologischer Räume immer wieder stoßen. Eine andere Möglichkeit ist es, und dies soll vor allem im Zuge der Diskussion topographischer Zugänge entwickelt werden, von diesem Punkt aus wiederum Fragen nach möglichen Rückdatierungen der aktuellen Raumdebatte bzw. einer 10 Ausgehend von Henri Lefèbvres einflussreichem Werk: The Production of Space, Oxford: Blackwell 1974, sind hier insbesondere die beiden Arbeiten des Humangeographen Edward Soja: Postmodern Geographies: The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London, New York: Verso 1989 sowie Thirdspace: Journeys to Los Angeles and other Real-and-Imagined Places, Malden MA: Blackwell 1996, zu nennen; vgl. hierzu zuletzt: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript 2008. 11 Vgl. Roland Lippuner/Julia Lossau: »In der Raumfalle. Eine Kritik des spatial turn in den Sozialwissenschaften«, in: Georg Mein/Markus RiegerLadich (Hg.): Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien, Bielefeld: transcript, 2004, S. 47-64. Auch der Historiker Karl Schlögel äußert in seiner Auseinandersetzung mit dem Wechselverhältnis von Raum und Geschichte, er halte »eine Geschichtsschreibung, die nun (nach einer langen Zeit einer gewissen Blindheit oder Unaufmerksamkeit) partout zu einer ›Geschichte von Räumen‹ werden will, für einen Irrweg und eine Sackgasse«; vgl. Karl Schlögel: »Räume und Geschichte«, in: Stephan Günzel (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript 2007, S. 33-51, hier S. 33. 153

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erneuten Fundierung des Raums zu stellen, nun jedoch unter den Bedingungen »kultureller, sozialer und mediengebundener Räumlichkeit«.12 Topographie und Topologie sind jedoch nicht allein zwei raumtheoretische Konzepte, die sich im Kern der gegenwärtigen Diskussionen herauskristallisiert haben, sondern sie versprechen darüber hinaus, auch im Kontext der ›Metropolen im Maßstab‹ weiteren Aufschluss über die hier verfolgte Frage nach der Konstruktion filmischer (Stadt-)Räume zwischen Maßstab und Maßstablosigkeit zu geben. Diese Engführung der Topographie und der Topologie auf Fragen des Maßstabs unterschlägt zwar in vielerlei Hinsicht die Komplexität dieser beiden raumtheoretischen Zugriffe. Dennoch werden sie dadurch anschlussfähig, um das dem Film zugrunde liegende Spannungsverhältnis zwischen der kartographischen Vermessung der Stadt einerseits, die sich auf einen metrisch ausgerichteten, mittels Koordinaten vermessbaren Raum bezieht, und der filmischen Transformation der Stadt andererseits, die grundsätzlich andere, nicht-metrische Räume und parallele Welten entstehen lässt, in einen breiteren raumtheoretischen Kontext zu stellen. Die Vermessung des urbanen Raums, die in Los Angeles Plays Itself zu verzeichnen ist, lässt sich über den Begriff der Topographie näher fassen, der im Zentrum der gegenwärtigen Debatte rund um einen Topographical Turn steht. Dieser geht insbesondere auf einen Essay von Sigrid Weigel aus dem Jahr 2002 zurück, in welchem sie – ausgehend von einem ›Kartenstreit‹ – eine grundlegende Wende hin zur räumlichen Konzeption kultureller Praktiken feststellt. Durch seine dezidiert kulturwissenschaftliche Ausrichtung hat der Topographical Turn eine andere Zielrichtung als der Spatial Turn, zielt letzterer doch primär auf die soziale Fundierung jeglicher Räumlichkeit sowie auf die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse räumlicher Ordnungen ab. Dem Topographical Turn geht es hingegen vielmehr darum, sich grundlegend von den politisch fundierten Raumkonzepten und kartographischen Methoden der Cultural Studies angloamerikanischer Prägung abzugrenzen und darüber hinaus das Paradigma der Karte als Repräsentationsform von Räumlichkeit und zugleich als »technisches Verfahren in der Geschichte des Wissens«13 innerhalb der Kulturwissenschaften zur Debatte zu stellen. Eine fundierte Definition des Begriffs der Topographie findet sich in Robert Stockhammers Sammelband TopoGraphien der Moderne (2005). So leitet er die Topographie aus den beiden griechischen Bezeichnungen 12 Stephan Günzel: »Raum – Topographie – Topologie«, in: S.G. (Hg.): Topologie, S. 13. 13 Vgl. Sigrid Weigel: »Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«, in: KulturPoetik, Bd. 2, Heft 2 (2002), S. 151-165, hier S. 153. 154

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topos (›Ort‹) und gráphein (›kratzen‹, ›ritzen‹, ›eingraben‹) her, wobei er letzteres – und dieser Punkt ist entscheidend – mit dem Prozess des Kerbens von Räumen und folglich mit dem ›Gemacht-Sein‹ von Räumen in Analogie setzt, »indem es markiert, dass diese vor allem auch Produkte graphischer Operationen im weitesten Sinne sind«.14 Mit einer ähnlichen begrifflichen Herleitung, jedoch mit leicht abgewandelter Ausdeutung wird der Begriff der Topographie auch bei Vittoria Borsò und Reinhold Görling erläutert: Das Wort Topografie verbindet die griechischen Worte topos, Ort, und graphein, schreiben. In seiner Geschichte ist darunter zunächst das Beschreiben von Orten verstanden worden, das Beschreiben ihrer Lage, ihrer Beschaffenheit, ihrer Gestalt, ihrer Wirkung. [...] In der Renaissance werden neue Techniken erfunden, Räume zu konstruieren, zu rastern und zu vermessen. Topografie wird damit immer mehr zu einer Bezeichnung für die Übersetzung dieser Praktiken der Vermessung in die zweidimensionale Form von Karten. 15

Hier wird folglich die Entwicklung des Topographiebegriffs von einer (reinen) Ortsbeschreibung bis hin zu (komplexen) kartografischen Vermessungspraktiken nachgezeichnet, mit der gleichzeitig ein fortschreitender Abstraktionsprozess hin zur Zweidimensionalität der Karte als Repräsentationsmedium einhergeht. Dabei entfaltet die Topographie gerade dann ihr volles Potenzial, wenn sie das Spannungsverhältnis zwischen der Zweidimensionalität der Karte und der Mehrdimensionalität räumlicher Praktiken auslotet und modelliert. Demgegenüber setzt die Topologie an einem anderen Punkt – jenseits dieses Spannungsverhältnisses – an, indem sie von einem relationalen, n-dimensionalen Raumbegriff ausgeht, dessen Charakteristikum es gerade ist, die Messbarkeit des Raums zu überschreiten.16 Als Zweig der Mathematik geht die Topologie zurück auf die Mitte des 19. Jahrhun14 Robert Stockhammer (Hg.): TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München: Fink 2005: S. 15. 15 Vittoria Borsò/Reinhold Görling (Hg.): Kulturelle Topografien, Stuttgart: Metzler 2004, S. 8. 16 Die Raumvorstellung der Topologie verweist in vielerlei Hinsicht auf Leibniz’ Konzept des relationalen Raums als ›Ordnung des Nebeneinanderbestehens‹ (›spatium est ordo coexistendi‹), indem der Raum aus seinen Lagebeziehungen heraus definiert wird, denn »Raum [ist] nichts anderes als diese Ordnung bzw. Beziehung und ohne Körper überhaupt nichts weiter als die Möglichkeit ist, sie anzuordnen«. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: »Briefwechsel mit Samuel Clarke«, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006 [1716/17], S. 58-74, hier S. 62. 155

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derts17 und lässt sich zunächst als ›Theorie der Strukturen und Relationen‹ fassen, denn sie begreift den Raum nicht länger als eine in sich geschlossene Entität oder gar als Substanz, sondern als eine abstrakte Raumstruktur, die sich aus räumlichen Relationen herausbildet. Dabei kommt der Frage nach der Metrik eine besondere Rolle zu, ist es doch eine Besonderheit der Topologie, die Strukturen des Raums auf nichtmetrische Weise zu denken: In den geometrischen und perspektivischen Raumtheorien herrscht das Maß, es gibt eine Metrik, euklidisch oder nicht-euklidisch. Demgegenüber ist die Topologie grundsätzlich nicht metrisch, sie ist gewissermaßen eine Theorie von Strukturen und Relationen, sie denkt den Raum ohne den Abstand.18

Folgt man Joachim Huber, so wurde die Topologie »selbst in ihrer rudimentärsten Form [...] dazu entwickelt, um komplexe, nicht-repräsentierbare ›Dinge‹ räumlich zu beschreiben«.19 Hierzu zählen paradoxe, irrationale (Raum-)Figuren wie etwa das Möbiusband, bei denen die räumlichen Parameter – oben/unten, rechts/links, innen/außen – letztendlich ununterscheidbar bzw. nicht-orientierbar sind. Genau dadurch sind topologische Räume auch vor dem Hintergrund nicht-metrischer Parameter zu fassen, was auch Johann Benedict Listing in seinen Vorstudien zur Topologie (1847) als Ausgangsbasis setzt: Unter der Topologie soll also die Lehre von den modalen Verhältnissen räumlicher Gebilde verstanden werden, oder von den Gesetzen des Zusammenhangs, der gegenseitigen Lage und der Aufeinanderfolge von Punkten, Linien, Flächen, Körpern und ihren Teilen oder ihren Aggregaten im Raume, abgesehen von den Maß- und Größenverhältnissen.20

Listing strebt hiermit eine rein qualitative Betrachtung der Ortsverhältnisse an, bei der die volle Komplexität nicht-metrischer Beziehungen von Orten, das heißt »der Ordnungs- und Zusammenhangsgrad des Raumes 17 Marie-Luise Heuser-Keßler verweist jedoch darauf hin, dass sich der Begriff der Topologie als Disziplinbezeichnung erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchzusetzen beginnt; vgl. Marie-Luise Heuser-Keßler: »Geschichtliche Betrachtungen zum Begriff der Topologie«, in: Günther Bien u.a. (Hg.): Topologie. Ein Ansatz zur Entwicklung alternativer Strukturen, Stuttgart: Sprint 1994, S. 1-13, hier S. 1. 18 Joachim Huber: Urbane Topologie. Architektur der randlosen Stadt, Weimar: Universitätsverlag 2002, S. 6. 19 Ebd., S. 35. 20 Johann Benedict Listing: »Vorstudien zur Topologie«, in: Göttinger Studien 2 (1847), S. 811-875, hier S. 814; Hervorhebung L.F. 156

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aller ›Complexionen‹«,21 greifbar wird. Gerade aufgrund des Fehlens eines einheitlichen Maßstabs werden unter topologischer Perspektive paradoxe, gekrümmte und gestauchte Räume denkbar und analysierbar. Dabei treten Fragen der qualitativen Raumkonstruktion in den Vordergrund, wird der Raum als Transformationsraum begriffen, der kontinuierlichen (Relations-)Verschiebungen unterworfen und im Zuge seiner nicht-metrischen Eigenschaften – ganz im Gegensatz zum topographischen Raum – nicht mehr messbar und nicht mehr fixierbar ist. Mit der Topographie und der Topologie stehen sich demnach zwei Raumkonzepte gegenüber, die sich über die Fragen des Messens und Vermessens, von Maßstab und Metrik voneinander differenzieren lassen. Unter dieser Perspektive rücken sie zugleich in die Nähe des Begriffspaars des gekerbten und des glatten Raums, wie es Gilles Deleuze und Félix Guattaris in ihrem umfassenden Werk Mille Plateaux (1980) entwickeln. Der glatte Raum (espace lisse) und der gekerbte Raum (espace strié) sind zwei Raumformen, deren Gegensätzlichkeit zunächst anhand des ›Modells der Musik‹ bei Pierre Boulez entfaltet wird, wobei ein glatter Zeit-Raum, der ›besetzt, ohne zu zählen‹ und ein gekerbter ZeitRaum, der ›zählt, um zu besetzen‹ einander gegenübergestellt werden:22 [L]e strié, c’est ce qui entrecroise des fixes et des variables, ce qui ordonne et fait succéder des formes distinctes, ce qui organise les lignes mélodiques horizontales et les plans harmoniques verticaux. Le lisse, c’est la variation continue, c’est le développement continu de la forme, c’est la fusion de l’harmonie et de la mélodie au profit d’un dégagement de valeurs proprement rythmiques, le pur tracé d’une diagonale à travers la verticale et l’horizontale.23

21 M.-L. Heuser-Keßler: »Geschichtliche Betrachtungen«, S. 8. 22 Deleuze und Guattari formulieren hierzu: »Au plus simple, Boulez dit que dans un espace-temps lisse on occupe sans compter, et que dans un espacetemps strié, l’on compte pour occuper.« (Gilles Deleuze/Félix Guattari: Mille Plateaux. Capitalisme et Schizophrénie, Paris: Minuit 1980, S. 596.) ›Im Prinzip sagt Boulez, daß man in einem glatten Zeit-Raum besetzt, ohne zu zählen, während man in einem gekerbten Zeit-Raum zählt, um zu besetzen.‹ (Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, aus dem Franzöischen von Gabriele Ricke und Ronald Vouillé, Berlin: Merve 1992, S. 662.) 23 Ebd., S. 597. ›[D]as Gekerbte ist das, was das Festgelegte und Variable miteinander verflicht, was unterschiedliche Formen ordnet und einander folgen läßt und was horizontale Melodielinien und vertikale Harmonielinien organisiert. Das Glatte ist kontinuierliche Variation, die kontinuierliche Entwicklung der Form und die Verschmelzung von Harmonie und Melodie zugunsten einer Freisetzung von im eigentlichen Sinne rhythmischen 157

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Dennoch bilden das Glatte und das Gekerbte keine einfachen binären Oppositionen heraus, sondern werden vor allem in ihrem Zusammenspiel, in ihren Überlagerungen und Interdependenzen wirksam, denn »l’espace lisse ne cesse pas d’être traduit, transversé dans un espace strié; l’espace strié est constamment reversé, rendu à un espace lisse«.24 Dieses permanente Umschlagen und die wechselseitige Durchdringung von glattem und gekerbtem Raum erfolgt über die »komplexen Operationen einer Übersetzung oder Transformation zwischen dem glatten und dem gekerbten Raum«25, die sich ebenso auf das Verhältnis von Topologie und Topographie übertragen lassen. Denn hiermit sind zwei Übersetzungsbzw. Transformationsmechanismen beschrieben, die innerhalb der (medialen) Raumkonstruktion immer wieder auf untrennbare Weise ineinander greifen. Die Transformation wird damit zu einem entscheidenden Prozess der Raumbildung, sei diese nun metrisch oder nicht-metrisch. So lässt sich Los Angeles Plays Itself zum Anlass nehmen, um das Wechselspiel dieser beiden Logiken der filmischen Raumkonstruktion, dieser glatten und gekerbten Räume des Films, in einer breiten Perspektive durch das 20. Jahrhundert hinweg zu verfolgen. Auf diesem Weg werden zugleich die Dynamiken sichtbar, die sich aus dem spiralförmigen, zyklischen Zugriff auf die Filmgeschichte ergeben, die im Modus der filmischen Metropole durchgespielt wird. Dabei steht auf der einen Seite die filmische Topographie (als das Vermessbare, das Gekerbte, das Sichtbare), die hier in hohem Maße als kartographische Vermessung der Stadt in Kraft tritt. Denn die einzelnen Filmausschnitte werden sowohl klar zugeteilt und kategorisiert als auch immer wieder in Hinblick auf ihre Sichtbarmachung der geographischen, architektonischen Substanz dieser Metropole befragt – und genau hierin artikuliert sich die doppelte Bedeutungsebene der Topographie. Und da ist auf der anderen Seite die filmische Topologie (als das Nicht-Messbare, das Glatte, das Unsichtbare), die auf untrennbare Weise mit der medialen Umformung der Metropole zusammenhängt, indem sie andere, nicht-metrische und paradoxe Räume denkbar macht. Und es ist insbesondere diese zweite Sinnordnung des Raums, die eine Kartographie der anderen Art, eine imaginäre,

Werten, die reine Linie einer Diagonale quer zur Vertikalen und Horizontalen.‹ (663) 24 G. Deleuze/F. Guattari: Mille Plateaux, S. 593. ›der glatte Raum wird unaufhörlich in einen gekerbten Raum übertragen und überführt; der gekerbte Raum wird ständig umgekrempelt, in einen glatten Raum zurückverwandelt‹ (658) 25 Reinhold Görling: »Emplacements«, in: Vittoria Borsò und R.G. (Hg.): Kulturelle Topografien, Stuttgart: Metzler, S. 43-65, hier S. 55-56. 158

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rein gedankliche Karte in das Geschehen einzieht und dadurch zugleich ein Kino des Sehens und ein Kino des Denkens freisetzt.

Di e V er m es s u ng d er fi l m is c h e n Me t r o p o l e Der erste Zugriff, den Los Angeles Plays Itself auf die filmische Metropole Los Angeles vollzieht, lässt sich als umfassendes Projekt einer topographischen Vermessung bezeichnen, die als Aufzeichnung des Sichtbaren im Sinne des materiellen, architektonischen Raums der Stadt in Kraft tritt. Dabei macht Andersen unmittelbar – noch bevor er sich der ›City as Background‹ nähert – das Spannungsfeld zwischen Los Angeles als filmischer Stadt und als Filmstadt auf, indem er seinen Film mit kurzen Ausschnitten von The Crimson Kimono (Samuel Fuller, 1959) beginnen lässt, der die so oftmals in Szene gesetzte Noir-Stadt in ihrer Reinform heraufbeschwört: Die Lichter der Großstadt, die Leuchtreklamen bei Nacht in Los Angeles’ Little Tokyo und die Verfolgung der Tänzerin einer Nachtbar durch die Straßen, während ihre Fluchtbewegungen von einer treibenden, rastlosen Jazz-Musik unterlegt werden. Im nächsten Moment blendet der Film auf ein gänzlich anderes Bildspektrum über, während parallel dazu Andersens Kommentar mit folgenden Worten einsetzt: »This is the city: Los Angeles, California. They make movies here. I live here. Sometimes I think that gives me the right to criticize the way movies depict my city.« In der Folge wird Los Angeles nun als Filmstadt und damit als zentraler Produktionsort der Filmindustrie gezeigt. Andersen seziert die Zersetzung der Stadt durch den gesamten Apparat der Filmindustrie auf akribische Weise, indem er Straßenschilder zeigt, die nach berühmten Filmstars und Regisseuren benannt sind. Auch konkrete Hinweisschilder auf die Drehorte werden ins Bild gesetzt, die mit den Aufschriften ›Diablo‹, ›Elysian‹ oder auch ›Crimes‹ die Filmcrews zu ihrem jeweiligen Drehort leiten, während Andersen selbst immer wieder eine Reflexion über diejenigen Orte der Stadt – eine ausgestorbene Tankstelle, ein leeres Fast-Food-Restaurant – in Gang setzt, die allein durch den Film zum Leben erweckt werden. Mit dieser Eingangssequenz wird unmittelbar der Rahmen des gesamten Films abgesteckt, der sich zwischen der topographischen Vermessung und der filmischen Transformation, zwischen der Filmstadt und der filmischen Stadt erstreckt. Während sich zu Beginn des Films jedoch die topographischen und topologischen Raumordnungen noch weitgehend getrennt voneinander, als zwei unterschiedliche räumliche Logiken, gegenüberstehen, so wird Andersen im weiteren Verlauf des Films schrittweise dazu übergehen, diese beiden Ebenen miteinander zu ver-

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schränken und sie als zwei sich wechselseitig beeinflussende Sinnsysteme des filmischen Raums zu ergründen. Im ersten Teil dieses filmischen Querschnitts, der sich mit der ›City as Background‹ auseinander setzt, steht die topographische Vermessung der Filmstadt deutlich im Vordergrund. Denn hier zerlegt Andersen die Stadt in ihre baulichen Grundbestandteile, greift einzelne Viertel, Schauplätze und Straßenzüge von Los Angeles heraus, um sie anhand genauer Ortsangaben innerhalb der urbanen Topographie zu verorten. Dennoch bleibt er nicht an diesem Punkt stehen, sondern zeichnet diese Orte in ihrer je eigenen filmischen Entwicklung nach. Als zentralstes Beispiel ist in diesem Zusammenhang das Bradbury Building zu nennen, das erstmals in Filmen der vierziger und frühen fünfziger Jahre auftaucht, wie beispielsweise in China Girl (Henry Hathaway, 1942) oder in D.O.A. (Rudolph Maté, 1950), wo es seine erste spezifische Prägung durch eine spektakuläre Verfolgungsjagd erhält. Insbesondere jedoch durch seinen prominenten und gleichzeitig stark verfremdeten Einsatz in Blade Runner (Ridley Scott, 1982), der dystopischen Vision von Los Angeles schlechthin, erfährt das Bradbury Building eine schrittweise Umwertung, ja gewinnt es regelrecht ein neues ›Image‹. Auch der Bahnhof von Los Angeles, die Union Station, kann eine eigene ›Filmkarriere‹ verzeichnen und ist dadurch charakterisiert, dass sie immer wieder für unterschiedliche filmische Zwecke eingesetzt wird, die ihrer ursprünglichen Funktion völlig fremd sind, wie etwa als Polizeistation in Blade Runner oder gar als Los Angeles International Airport in The Replacement Killers (Antoine Fuqua, 1998). Dennoch hebt Andersen in diesem Zusammenhang besonders das im Jahr 1924 von Frank Lloyd Wright erbaute Ennis House heraus. Und dies nicht allein, da es ein noch breiteres Spektrum an Einsatzmöglichkeiten aufweist, sondern da es wie kaum ein anderes Gebäude in Los Angeles Raum und Zeit gänzlich zu transzendieren vermag: The Ennis House apparently transcends space and time. It could be fictionally located in Washington or Osaka. It could play an ancient villa … a nineteenth century haunted house … a contemporary mansion … a twenty-first century apartment building … or a twenty-sixth century science lab where Klaus Kinski invents time travel.

An diesem Punkt tritt zugleich die doppelbödige Argumentation Andersens hervor, welche der klaren Einteilung des Films in drei Sinneinheiten der filmischen Metropole wiederum eine Wendung verleiht. Denn auf den ersten Blick steht hier die topographische Vermessung der Stadt im Vordergrund, indem ihr immer wieder ein materieller, architektonischer Raumbegriff zugrunde gelegt wird, der sich allein auf ihre gebauten 160

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Strukturen und topographischen Sichtbarkeiten zu beziehen scheint – und genau in dieser Hinsicht lässt sich auch die Kategorie der ›City as Background‹ verstehen, bei der die Stadt in ihrer baulichen Struktur zunächst einmal ›einfach nur da‹ ist und auf die der Film zurückgreift, um in ihr und mit ihr eine Geschichte zu erzählen.26 Auf der anderen Seite wird diese umfassende Vermessung der filmischen Stadt jedoch auch wiederum durch eine andere räumliche Logik unterlaufen. Denn den einzelnen, singulären Architekturen von Los Angeles – dem Bradbury Building, der Union Station und dem Ennis House –, die ihre je eigene, wechselvolle Filmgeschichte zu verzeichnen haben, wird hier ein eigenes Leben verliehen, das der Film über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg verfolgt. Dies bedeutet zugleich, dass diese Gebäude durch den Film zu lebenden Architekturen werden, die ihre ganz eigenen Entwicklungsdynamiken entfalten. Dabei handelt es sich jedoch nicht um genuin bewegte Räume, die plötzlich animiert werden und auf diese Weise vom ›nichtorganischen Leben der Dinge‹ zeugen.27 Im Gegenteil: In Los Angeles Plays Itself gewinnen diese filmischen Architekturen ihr Leben erst mit Blick auf die Filmgeschichte, in deren Verlauf sie kontinuierlichen Deutungen und Umdeutungen unterworfen sind, und damit erst im Zuge der Metaperspektive des Films selbst. Diese Beobachtung verbindet sich dann unmittelbar mit einer zweiten Facette, die Andersen im Rahmen der Kategorie der ›City as Background‹ herausstellt und die gleichsam als Negativum dieser Hervorhebung singulärer, überdeterminierter Architekturen gelten kann: das Phänomen, dass sich Los Angeles aufgrund seiner generischen, gleichgestaltigen Formen oftmals gerade nicht selbst zu spielen scheint.28 Andersen belegt dies mit dem Begriff der ›Falschheit‹ und der ›Lügen der Filmindustrie‹, wenn etwa in den frühen Filmen der zwanziger und dreißiger Jahre die baulichen Strukturen von Los Angeles allein als Material zur Darstellung einer diffusen, allgemeinen Vorstellung des Städtischen dienen. Oder aber, wenn sie zur Inszenierung einer vollkommen anderen 26 So äußert sich auch Andersen ganz zu Beginn des Films: »Of course, I know movies aren’t about places, they’re about stories. If we notice the location, we are not really watching the movie. It’s what’s up front that counts. Movies bury their traces, choosing for us what to watch, then moving on to something else.« 27 Diesen Ausdruck verwendet etwa Gilles Deleuze in seiner Kinotheorie zur Beschreibung des expressionistischen Films; vgl. Gilles Deleuze: Cinéma I: L’image-mouvement, Paris: Minuit 1983. 28 Andersen argumentiert in seinem Kommentar folgendermaßen: »The varied terrain and eclectic architecture allowed Los Angeles and its environs to play almost any place. [...] Its landmarks are obscure enough that they could play many roles.« 161

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Stadt eingesetzt werden, wie etwa in The Public Enemy (William A. Wellmann, 1931), in dem Los Angeles ›Chicago spielt‹. In dieser Hinsicht zeigt sich Andersen zugleich deutlich von den Argumentationen von Mike Davis beeinflusst, wenn dieser die Undefiniertheit und Ungreifbarkeit von Los Angeles im frühen Stadtfilm ironisch als ›Praktikumsphase‹, ja als ihr »apprentinceship as a back lot«29 bezeichnet: Los Angeles [...] had no compelling image in American letters. [...] While turning a lens on itself and constructing ›Hollywood‹ [...], the industry otherwise had no need to acknowledge the specificity of place. LA was all (stage) set, which is to say, it was u-topia: literally, no-place (or thus any place).30

Die Kategorie der ›City as Background‹ zielt damit sowohl auf das Generische als auch auf das Spezifische der filmischen Stadt ab, sie bezieht sich auf die Gleichgestaltigkeit der baulichen Formen, die im Film für (beinahe) jeden Zweck eingesetzt werden können, und zugleich auf die Überdeterminiertheit einzelner filmischer Orte, die dazu führt, dass sich jede Neuverfilmung eben dieser Orte mit einer ganzen Reihe vorheriger bildlicher Zuschreibungen auseinander zu setzen hat.31 Auf beiden Linien wird die topographische Vermessung der filmischen Stadt durch die topologischen Facetten des filmischen Raums unterwandert, ja entzieht sich die filmische Stadt immer wieder gerade dem Maßstab, der ihr durch die Kategorie der ›City as Background‹ angelegt wird. Der erste Zugriff auf die filmische Metropole lässt sich folglich als die Produktion von Sichtbarkeit fassen, die sich im Wechselspiel zwischen den glatten und den gekerbten Räumen des Films vollzieht. Denn die umfassende Sichtung, Aufzeichnung, Kategorisierung und Vermessung, kurz: die Kerbung dieser ›City as Background‹ bildet lediglich eine Seite der Medaille der filmischen Raumproduktion. Auf der anderen Seite treten unter dieser Vermessung immer wieder die glatten Räume des Films hervor, die sich einerseits in der spezifisch filmischen Verfremdung des Sichtbaren artikulieren und andererseits als das Potenzial des Films in Kraft treten, eben jene Prozessualität und jenes Werden einzufangen, die dem filmischen Raum untrennbar innewohnen.

29 Mike Davis: »Bunker Hill: Hollywood’s Dark Shadow«, in: Mark Shiel/ Tony Fitzmaurice (Hg.): Cinema and the City. Film and Urban Societies in a Global Context, Malden, MA: Blackwell 2001, S. 33-45, hier S. 36. 30 Ebd., S. 35. 31 So zitiert Andersen etwa in Bezug auf Ridley Scotts Wunsch, das Bradbury Building bei den Dreharbeiten zu Blade Runner einzusetzen, mit folgenden Worten: »Fancher [der Drehbuchautor; Anm. L.F.] argued it was too familiar, overdone. Scott responded: ›Not the way I’ll do it.‹« 162

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Di e un s ic h t b a r e n S t ä d t e un d d a s G ed ä c h t n i s d e s F i l m s Unter der ersten Kategorie der ›City as Background‹ wird folglich ein Spannungsfeld zwischen der topographischen Vermessung der Stadt und ihrer Unterwanderung durch die topologischen Facetten der filmischen Raumkonstruktion aufgemacht. Immer wieder vermischt hier Andersen die unterschiedlichsten Phasen und Genres, um sie nach räumlichen Kriterien noch einmal neu zu ordnen. Gegenüber diesem weiten, eklektischen Zugriff markiert die zweite Kategorie der ›City as Character‹ nun einen signifikanten Wechsel. Und dieser Wechsel begründet sich einerseits, in räumlicher Hinsicht, in einer Fokussierung des Blicks auf einzelne Stadtviertel und Teilräume der Metropole Los Angeles und andererseits, in zeitlicher Hinsicht, auf die Mitte des 20. Jahrhunderts, worin sich zugleich die Einkreisung der filmischen Metropole, ja die spiralförmige, zyklische Bewegung von Los Angeles Plays Itself manifestiert. Mit der ›City as Character‹ verschiebt sich jedoch auch das zugrunde liegende Raumkonzept. Nun ist es nicht mehr ein materieller, architektonisch geprägter Raum, der durch den Film gleichsam ›in Bewegung gebracht‹ wird, sondern die Relationalität der Raumkonstruktion, ebenso wie das Potenzial des Films, auf abstrakterer Ebene Raumzusammenhänge zu stiften, treten hier erstmals deutlich hervor. Der Übergang von der ›City as Background‹ zur ›City as Character‹ vollzieht sich dabei vor allem in einem bestimmten »sense of place« (Andersen), der den Filmen eingeschrieben ist. Dies bedeutet, dass die filmische Metropole nun nicht mehr darin aufgeht, lediglich den räumlichen Rahmen der Handlung zu bilden, sondern selbst auf aktive Weise in das Geschehen eingreift. Dies geschieht, indem sie eine ganz bestimmte Atmosphäre kreiert und den einzelnen Teilräumen der Stadt ein Eigenleben verleiht. Denn in seinem ›sense of place‹ trifft der Film eine Aussage über genau diejenigen Orte, die er ins Bild setzt. Und bezeichnenderweise nimmt Andersen für diese Facette der filmischen Raumkonstruktion zuallererst den Film noir der vierziger und fünfziger Jahre in Anspruch, wenn er mit Blick auf Double Indemnity (Billy Wilder, 1944) äußert: »You could charge L.A. as a co-conspirator in the crimes this movie relates.« Diese Aussage lässt sich jedoch noch weiter zuspitzen, denn die Metropole wird im Film noir nicht allein zum Mitwisser und ›coconspirator‹ des Verbrechens, sondern sie ist selbst in ihren Polaritäten und Ambivalenzen, in ihrer Unsichtbarkeit und Ungreifbarkeit, auf das

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Tiefste in die Handlung eingeschrieben.32 Die Noir-Stadt lässt sich als eine hochgradig symbolische Form der Raumkonstruktion lesen, bei der sich der spezifische ›sense of place‹ gerade darin äußert, dass jedes einzelne Element stets auf sein Gegenteil, auf das Andere, auf die Schattenseite verweist, die gleichsam in ihm enthalten ist.33 In der hohen Symbolik der Noir-Stadt, in ihrer Verfremdung und Umformung des Sichtbaren ebenso wie in ihrem hohen Grad an Zeichenhaftigkeit und Selbstreflexivität wird sie immer wieder zum Ausdruck der topologischen, der glatten Räume des Films, die sich in ihre Doppelbödigkeit und ihr Untergründiges einschreiben. Dennoch setzt Andersen auch hier wiederum ein topographisches Maß an, wenn er diese Noir-Räume, die gerade dann ihr volles Potenzial entfalten, wenn sie vom ›Unsichtbaren‹ der Städte berichten, nach ihrem jeweiligen Umgang mit der städtischen Topographie befragt. So verortet er etwa das Haus von Phyllis Diedrichsen in Double Indemnity auf präzise Weise »just above the north end of Vine Street, close to Hollywoodland where Cain had placed it.« Oder aber er stellt den Film noir Kiss Me Deadly (Robert Aldrich, 1955) als einen ›literalist film‹ heraus, der sich aus ›wirklichen Adressen‹ zusammensetze und damit als ein »close to definitive [...] portrait of the city in the mid-fifties«34 gewertet werden könne, was zur Folge hat, dass hier die beiden Raumordnungen der filmischen Topographie und der filmischen Topologie in Diskrepanz zueinander stehen. Das Unsichtbare und das Andere der Städte, das durch den Film sichtbar gemacht werden kann, lässt sich jedoch auch noch in eine zweite Richtung ausdeuten: als das Gedächtnis des Films. Auch unter dieser Perspektive entwickelt die ›City as Character‹ einen bestimmten ›sense of place‹, indem sie auf sensible Weise gerade diejenigen Orte aufzeich-

32 Mark Bould überträgt diesen Aspekt auf das Phänomen des Film noir allgemein, wenn er äußert: »Film noir, like the femme fatale, is an elusive phenomenon: a projection of desire, always just out of reach«; vgl. Mark Bould: Film noir: From Berlin to Sin City, London: Wallflower 2005, S. 13. 33 Die wohl umfassendste Untersuchung zur Raumkonstruktion im Film noir hat Edward Dimendberg mit seinem Buch: Film Noir and the Spaces of Modernity, Cambridge, MA: Harvard UP 2004, vorgelegt, in welchem er die Relationalität der Raumkonstruktion in Auseinandersetzung mit Lefèbvres triadischem Raumkonzept als Wechselspiel von zentripetalen und zentrifugalen Stadträumen diskutiert. 34 Andersen führt hier weiter aus: »Kiss Me Deadly is a literalist film. Mike Hammer has a real address: 10401 Wilshire Boulevard. And when he pulls away from his apartment building in his new Corvette, what we see is what was really there.« 164

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net, die bereits im Verfall begriffen sind. Der Film wird damit zu einem Speichermedium eben derjenigen verlorenen Teilräume und Viertel der Stadt, die den massiven urbanen Umstrukturierungen von Los Angeles zum Opfer gefallen sind, wobei sich die Betrachtungen Andersens vornehmlich auf den Stadtteil Bunker Hill konzentrieren, der von ihm als genuines »film noir territory« bezeichnet wird. Der Stadtteil Bunker Hill durchläuft in noch stärkerem Maße als die einzelnen, singulären Architekturen der ›City as Background‹ eine eigene Filmgeschichte. Denn bereits innerhalb der Zeitspanne des Film noir unterliegt Bunker Hill einer weit reichendem Umdeutung, indem es einerseits zum Inbegriff von Raymond Chandlers ›crook town, shabby town‹ , andererseits aber auch als »solid working-class neighborhood, a place where a guy could take his girl home to meet his mother« inszeniert wird. Demgegenüber enthüllen die Filme der siebziger Jahre, wie etwa The Omega Man (Boris Sagal, 1971), das Bild einer völlig anonymisierten, eigenschaftslosen Hochhausstadt, in der jede Spur ihrer Geschichte gänzlich verloren scheint. Und genau in diesem Punkt artikuliert sich wiederum das spezifische Potenzial des Films, das Andersen so hervorhebt: die Fähigkeit, unterschiedliche Zeiten und Räume zu bewahren, ihre einzelnen Vergangenheitsschichten sichtbar zu machen und auf diese Weise eine »documentary history of their evolution« zu schreiben. Die stärkste bildliche Verdichtung von Bunker Hill hat jedoch, so Andersen, der Independent Film The Exiles (Kent MacKenzie, 1961) hervorgebracht, mit dem er zugleich seinen Bogen zur Kategorie der ›City as Character‹ abschließt. Denn dieser Film behandelt eine Gruppe ausgesiedelter Indianer aus Arizona, die in Bunker Hill leben und sich hier, in diesem Stadtviertel, ihre ganz eigene Welt eingerichtet haben. Dabei ist der Film in seiner Inszenierung von Bunker Hill von einer gegenläufigen Bewegung gekennzeichnet: Auf der einen Seite wird The Exiles, wie Andersen feststellt, zu einem sichtbaren Beweis dafür, »that there once was a city here, before they tore it down and built a simulacrum.« Auf der anderen Seite zeichnet sich jedoch auch hier bereits der schrittweise Verfall von Bunker Hill in die Bilder ein, wodurch The Exiles zugleich zum Sinnbild für die tiefen sozialen Probleme und die Segregation in Los Angeles in den frühen sechziger Jahren wird. Und auch in dieser Hinsicht artikuliert sich der ›sense of place‹, welcher der ›City as Character‹ untrennbar eingeschrieben ist: Wenn er den unsichtbaren Städten und Parallelwelten innerhalb der Stadt, der Welt der Exilanten und Ausgegrenzten, die außerhalb der räumlichen Ordnung existieren und sich ihren ganz eigenen Raum in den städtischen Raum einzeichnen, ein nachhaltiges Bild verleiht: »It reveals the city as a place where reality is opaque, where different social orders coexist in the same

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space without touching each other.« So handelt dieser Film zugleich von den Spannungsverhältnissen zwischen Reich und Arm, zwischen Privilegierten und sozial Schwachen, zwischen Einheimischen und Exilanten, die der filmischen Metropole noch einmal ein gänzlich anderes Gesicht verleihen. Denn hier wird die Metropole in ihrer Widersprüchlichkeit gezeichnet, ja werden die Widersprüchlichkeiten und Unvereinbarkeiten selbst zum prägenden Merkmal der filmischen Metropole. Nimmt man diese Aspekte zusammen, so vollzieht sich mit dem Wechsel von der ›City as Background‹ hin zur ›City as Character‹ in allererster Linie ein Wechsel in der Auseinandersetzung mit dem städtischen Raum. Denn während es im ersten Fall lediglich um diejenigen Bauteile geht, die zunächst einmal ›einfach nur da‹ sind und als Material für die Raumkonstruktion dienen, so geht es im zweiten Fall vielmehr um die Bedeutungsproduktion, die an diesen und mit diesen städtischen Räumen vollzogen wird. Als Folge davon verschiebt sich die Produktion von Sichtbarkeit nun in Richtung der Hervorbringung des Unsichtbaren und Ungreifbaren der Metropolen, denen der Film ein Bild zu geben vermag. Dabei entfaltet die Kategorie der ›City as Character‹ das Unsichtbare und Ungreifbare jedoch auf zweierlei Weise: Auf der einen Seite steht das Unsichtbare für das andere Gesicht, für das Dunkle, für die Schattenseiten der Metropole, wie der Film noir sie hervorgebracht hat. Auf der anderen Seite wird das Unsichtbare der Städte jedoch auch als das NichtMehr und das Noch-Nicht einer räumlichen Ordnung begriffen, die wiederum allein durch den Film sichtbar gemacht werden kann. Die ›City as Character‹ positioniert sich damit unmittelbar in einem neuen Kontext, indem sie das Potenzial des Films hervorbringt, von der Unsichtbarkeit zur (potenziellen) Sichtbarkeit überzugehen und, was mehr ist, das Unsichtbare als das nicht mehr Sichtbare der Städte zu bewahren.

Rä um e o h ne Ma ß u nd d a s D enk en d e s K i no s Während die ersten beiden Kategorien zwischen der Produktion von Sichtbarkeit und der Hervorbringung des Unsichtbaren changieren und dadurch immer wieder neue Spannungsverhältnisse zwischen der filmischen Topographie und der filmischen Topologie aufziehen, stehen die Filmbeispiele, die Andersen unter der Kategorie der ›City as Subject‹ fasst, für eine gegenläufige Bewegung. Denn die hier behandelten Filme zeugen gerade von einem umfassenden Auseinandertreten dieser beiden Sinnordnungen des filmischen Raums, wodurch zugleich ein hoch komplexes und reflexives Kino entsteht, das bezüglich seiner Konstruktion filmischer Räumlichkeit den beiden ersten Kategorien noch einmal deutlich entgegengesetzt ist. Um diesen grundlegenden Perspektivwech166

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sel, der mit der Kategorie der ›City as Subject‹ einhergeht, deutlich zu machen, äußert Andersen gleich zu Beginn dieser Passage im Film: The city could finally become a subject in the early seventies, because it had finally become self-conscious. It could no longer be mistaken for a sunny Southern town. It had big-city problems: big-city racism and big-city race riots.

An dieser Aussage sind zwei Dinge entscheidend: Erstens grenzt Andersen hier seinen filmischen Korpus noch weiter ein, indem er sich mit den frühen siebziger Jahren auf eine zentrale Phase der filmischen Metropole konzentriert und somit eine gewisse Entwicklungslinie der filmischen Metropole impliziert, die mit den Filmen der zehner und zwanziger Jahre ihren Ausgangspunkt genommen hat. Dennoch – und dies ist entscheidend – unterwandert Andersen diese vermeintlich klare Zuteilung und Entwicklungslogik der filmischen Metropole kontinuierlich und in jeder der drei Kategorien, indem er immer wieder aus dieser Linie ausbricht und vollkommen andere, überraschende Beispiele in seine Überlegungen einbezieht, die oftmals quer zum filmischen Korpus stehen.35 Zweitens verlagert Andersen mit dieser Aussage jedoch auch den Blick auf ein Gegenkino, auf ein politisches Kino, das die Bandbreite der sozialen Probleme der Stadt unmittelbar ins Bild setzt. Denn während die ›City as Character‹ dadurch gekennzeichnet ist, dass sie sich immer wieder in das Geschehen selbst einschreibt und in ihrem ›sense of place‹ diejenigen Dinge sichtbar macht, die an sich nicht sichtbar bzw. nicht mehr sichtbar wären, so beziehen die Filme, die Andersen unter der Kategorie der ›City as Subject‹ fasst, nun eine eigene Position und treffen eigene Aussagen über die Stadt, mit der sie sich filmisch auseinander setzen. Und sie tun dies auf zweierlei Weise: Zunächst bezieht sich Andersen auf diejenigen Filme, die unmittelbar die Themen der Segregation und der räumlichen Exklusion, die Fragen des ›ungleichen‹ Verkehrssystems, der zwielichtigen Rolle der LAPD und vor allem der polizeilichen Gewalt gegenüber Minderheiten verhandeln. Der Aspekt der Bewusstwerdung, der ›self-consciousness‹, die Andersen der ›City as Subject‹ zuspricht, artikuliert sich jedoch nicht allein in dem Bewusstsein der Filme, dass sie eine Aussage über die Stadt zu treffen haben, sondern sie betrifft ebenso ihre Bewusstwerdung als Film selbst. Dies bedeutet, dass die Filme in ihrer Reflexion des eigenen 35 So diskutiert Andersen etwa das ›Wasserprojekt‹ in Chinatown (Roman Polanski, 1970) in unmittelbarem Zusammenhang mit Who Framed Roger Rabbit (Wanye Woodburry, 1983), als »cartoon version of Chinatown«, um im nächsten Moment zur ›Transportfrage‹ in Sunset Boulevard (Billy Wilder, 1950) überzugehen. 167

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Filmseins zugleich eine Aussage über die Welt treffen, die sich vor ihnen ausbreitet und mit der sie sich auseinander setzen; eine Aussage jedoch, die bereits durch den Film hindurch gegangen ist.36 Dieser Aspekt soll insbesondere an zwei Beispielen entfaltet werden, mit denen auch Andersen seine Betrachtungen zur ›City as Subject‹ abschließt: Killer of Sheep (Charles Burnett, 1977) und Bush Mama (Haile Gerima, 1979). Denn diese beiden Filme beziehen sich ebenfalls auf die ethnischen Probleme von Los Angeles, indem sie afroamerikanische Protagonisten und ihren spezifischen Blick auf das Leben im Stadtteil Watts ins Zentrum der Filme rücken. Im selben Zuge entwickeln sie jedoch auch einen ganz eigenen filmischen Stil, experimentieren sie mit der filmischen Form und rufen unterschiedliche Verfremdungstechniken von Räumlichkeit auf den Plan, mit denen sie zugleich ihre eigene Welt als eine verfremdete, nicht mehr greifbare Welt herausstellen. Als Teil der von Clyde Taylor als ›LA Rebellion‹ bezeichneten Gruppe afroamerikanischer Regisseure, die in den siebziger Jahren aus der Filmschule der UCLA hervorgeht, stehen Charles Burnetts Killer of Sheep und Haile Gerimas Bush Mama für eine andere Art von Kino, das sowohl in Abgrenzung zum Mainstreamkino Hollywoods als auch zu den Blaxploitationfilmen der siebziger Jahre zu begreifen ist.37 Unter starker Bezugnahme auf den italienischen Neorealismo entsteht hier eine Reihe von Filmen, die sich durch das Zeigen des alltäglichen Lebens, durch den Einsatz von Laiendarstellern sowie durch die langen Einstellungen filmstilistisch deutlich von den bisherigen Beispielen abheben, was Andersen mit den Worten beschreibt: »But there is another city. [...] And another cinema. A city of walkers, a cinema of walking.« Denn die langen, ruhigen Einstellungen lassen in Bush Mama und The Killer of Sheep Räume entstehen, die ohne ein eindeutiges Maß und

36 Andersen stützt seine Aussagen innerhalb der Kategorie der ›City as Subject‹ in hohem Maße auf die filmtheoretischen Positionen von Gilles Deleuze, worin sich zugleich seine Fokussierung des italienischen Neorealismus sowie der Raum-Zeitkonstruktionen als ›Denken des Kinos‹ begründet; vgl. Gilles Deleuze: Cinéma II: L’image-temps, Paris: Minuit 1985. 37 So betrachtet Paula J. Massood in ihrem Buch Black City Cinema den Film Bush Mama als Gegenfilm zu den zentralen Blaxploitationfilmen, wie etwa Sweet Sweetback’s Baadasssss Song (Melvin van Peebles, 1971) und Superfly (Gordon Parks Jr., 1972), mit dem Vorhaben: »I will assert that the city is an active presence in the film, playing a central role like any other character«; Paula J. Massood: Black City Cinema: African American Urban Experiences in Film, Philadelphia: Temple UP 2003, S. 86. Vgl. hierzu auch: Ed Guerrero: Framing Blackness. The African American Image in Film, Philadelphia, PA: Temple UP 1993. 168

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ohne eindeutige Koordinaten existieren. Es sind gedehnte und gestreckte Räume, die in einem anderen, ja gebrochenen Verhältnis zur Realität stehen. Beide Filme drehen sich um eine zentrale Figur: In Bush Mama ist dies Dorothy, die immer wieder durch den Stadtteil Watts streift und dabei stets auf die Grenzen ihres Raums verwiesen wird. Und in Killer of Sheep ist dies Stan, der die Welt um sich herum ebenso registriert, wie diese durch ihn hindurch geht. So droht er auch an dieser Realität, an seiner Arbeit im Schlachthof und an den sozialen Missständen in Watts, zu zerbrechen. Es geht ein ›Riss‹ durch seine Welt, den Andersen auch in Hinblick auf Bush Mama beobachtet: Neorealism describes another reality, and it creates a new kind of protagonist: Dorothy, the bush mama, is a seer, not an actor. There is a crack in the world of appearances, and she is defenseless before a vision of everyday reality that is unbearable.

In beiden Fällen geht es um ein Kino des Sehens, geht es um eine Welt, die Stan und Dorothy in sich aufnehmen, die sie aber nicht verarbeiten können, da sie bereits von innen her zerbrochen ist. Diese Aussage über die letztendliche Ungreifbarkeit einer städtischen Umwelt, die zu widersprüchlich, zu gewalttätig und zu komplex geworden ist, artikuliert sich in beiden Filmen in fragmentierten Sichtbarkeiten – in einem vielschichtigen Ineinandergreifen von privaten und öffentlichen, von Innen- und Außenräumen, die nicht mehr unterscheidbar sind. In dieser »multiplicity of noises on top of each other in a near-deafening urban heteroglossia«38 wird das Urbane zu einer vielschichtigen Vermischung aus Tonspuren und Bildfragmenten. In beiden Fällen zeugt die filmische Transformation des Urbanen von einem Auseinandertreten zwischen der filmischen Topographie und der filmischen Topologie, die letztendlich nicht mehr aufeinander rückführbar sind, ja die gerade in ihrem Auseinandertreten wiederum den ›Riss‹ in der Welt wahrnehmbar und sichtbar machen. Der filmische Raum wird jedoch nicht allein durch das Ineinandergreifen und die Überlagerungen von Innen und Außen, von Visuellem und Akustischem transzendiert, sondern er öffnet sich im selben Zuge auf die Zeit hin. Dabei liegt beiden Filmen ein nicht-lineares, mannigfaltiges Zeitkonzept zugrunde. Die Zeit wird hier, wie auch Andersen herausstellt, zyklisch verstanden, indem unterschiedliche zeitliche Schichten übereinander gelegt und trotz ihrer zeitlichen Differenz unmittelbar miteinander in Kontakt gebracht werden:

38 P. Massood: Black City Cinema, S. 111. 169

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Neorealism also posits another kind of time, a spatialized, nonchronological time of meditation and memory. In Bush Mama everything is filtered through Dorothy’s consciousness, and the film is as it slides freely from perception to memory. Charles Burnett’s Killer of Sheep seems suspended out of time. Burnett blended together the decades of his childhood, his youth, and his adulthood and added an idiosyncratic panorama of classic black music, from Paul Robeson to Lowell Fulson.

Hier tritt ein anderes Kino hervor, das Räume entstehen lässt, die sich dem Maßstab, den Andersen seinem filmischen Querschnitt durch knapp neunzig Jahre Filmgeschichte von Los Angeles anlegt, immer wieder zu entziehen scheinen. Denn diese Räume lassen sich nicht eindeutig verorten, sie existieren in gewissem Sinne außerhalb des Koordinatensystems, ja jenseits noch eines messbaren Raums und einer messbaren Zeit. So wird Andersens Projekt einer konkreten Kartographie der filmischen Metropole, die sich zunächst an ihren materiellen, gebauten Strukturen orientiert, letztendlich von einer abstrakten, filmischen Kartographie unterwandert, die paradoxe, entgrenzende und topologische Formen von Räumlichkeit entstehen lässt. Dadurch werden zugleich Fragen nach den Grenzen der filmischen Metropole selbst aufgeworfen, oder präziser: nach den Grenzen der Möglichkeiten des Films, sie auf adäquate Weise einzufangen und sichtbar zu machen. So zeigen sich in Los Angeles Plays Itself zuallererst die umfassenden Bestrebungen Andersens, das Phänomen dieser filmischen Metropole zu fassen, es greifbar, sichtbar und dingfest zu machen, was sich vor allem in seinem Sezieren, Zerteilen, Ordnen und Neuanordnen äußert, das ebenso die Stadt wie auch die gesamte Filmgeschichte betrifft. Im selben Zuge – und dies ist entscheidend – animiert, belebt und ›bewegt‹ er die Filmgeschichte jedoch auch selbst, indem er sie in Bezug auf die filmische Metropole noch einmal durchmischt, die Kategorien wieder verwirft, um im nächsten Moment wieder an einen anderen Punkt anzusetzen. Auf diese Weise ist der Experimentalfilm Los Angeles Plays Itself untrennbar in ein Wechselspiel zwischen der filmischen Topographie und der filmischen Topologie, zwischen den gekerbten und den glatten Räumen des Films eingespannt. Auch der Titel Los Angeles Plays Itself gewinnt vor diesem Hintergrund noch einmal eine neue Bedeutung. Denn gerade im Zuge dieser Aufmischung und Animierung der filmischen Metropole und ihrer Filmgeschichte scheint dieser filmische Essay letztendlich zu der Aussage zu gelangen: Los Angeles spielt nicht nur sich selbst – die Stadt lebt: Sie lebt mit dem Film, der ein Teil von ihr ist; sie lebt im Film, der immer wieder neue Konfigurationen und Variationen von ihr entwirft; und sie lebt durch den Film, der selbst diejenigen Teile bewahrt und sichtbar 170

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macht, die eigentlich nicht mehr sichtbar wären oder aber gänzlich in Vergessenheit geraten sind. In anderen Worten: Es ist das übergreifende Werden, das Prozessuale des Films selbst, das sich in die Stadt einschreibt und sie somit zum Leben erweckt, denn jeder Fortschritt, so haben Deleuze und Guattari formuliert, geht im gekerbten Raum vonstatten, während sich das Werden selbst im glatten Raum vollzieht.39 Andersens filmischer Essay kann damit als eine Variation zu den Entwicklungslinien und Dynamiken der filmischen Metropole gelten. Als eine Variation über die Wechselspiele zwischen der Produktion von Sichtbarkeit, dem Unsichtbaren der Metropole und den fragmentierten Sichtbarkeiten, als eine Variation über die wechselseitigen Einschreibungen des Materiellen, des Symbolischen und des Sozialen und vor allem als eine Variation über die filmische Topographie und filmische Topologie, über den Maßstab und die Maßstablosigkeit filmischer Stadträume. Los Angeles Plays Itself, diese ›Stadtsinfonie im Rückwärtsgang‹, lässt sich damit in vielerlei Hinsicht als ein Spiel mit eben denjenigen Grundverhältnissen der filmischen Metropole lesen, die ihre Geschichte von jeher konturieren. Und es ist ein Spiel, das seine Besonderheit nicht zuletzt aus seinem freien, eklektischen Zugriff auf die Filmgeschichte gewinnt, der im Zuge einer übergreifenden Reflexion der filmischen Metropole in einer Gesamtperspektive auf das 20. Jahrhundert der Geschichte des Films noch einmal einen neuen, modifizierten Maßstab zugrunde legt und mehr noch, die filmische Metropole selbst zum Ausgangspunkt nimmt, um die Filmgeschichte als Raumgeschichte neu zu schreiben.

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Z U M E I N S A T Z V O N S T A D T P L Ä NE N I N D E R K O N Z E P T K U NS T VOLKER PANTENBURG Wer die Begriffe ›Stadt‹ und ›Plan‹ sprachlich und gedanklich miteinander verschränkt, kann damit zweierlei meinen. Im einen Fall hat der Plan die präskriptive Funktion, ein noch nicht kultiviertes Gebiet in ein städtisches, erschlossenes Areal umzuwandeln. Aus Brachen werden – plangemäß, nach Plan – Straßen, Plätze, eine Abfolge von bebauten und unbebauten Flächen. Das ist die genuin stadtplanerische Perspektive, ihr entspricht der Blick des Urbanisten; die skizzenhafte Zeichnung enthält einen in die Zukunft gerichteten Handlungsvektor, der von der Vorstellung zur Realisierung führt und dabei den präzise ausgearbeiteten Plan als ordnende Zwischenform nutzt. ›Plan‹ ist, in dieser Verwendungsweise, transitiv und beschreibt ein Übergangsstadium. Die andere und weit üblichere Form des Stadtplans ist die nachträglich registrierende. Ein meist unübersichtliches Terrain, ein Gewimmel aus Asphalt, Gebäuden, Bäumen und Verkehrswegen wird systematisiert und in Schemata übersetzt, um seine Benutzung zu regeln. Der Stadtplan ist das Navigationstool des Stadtbenutzers, in der verkleinerten Aufsicht kann er sich zu Fuß, im Auto oder unterwegs mit öffentlichen Verkehrsmitteln orientieren. Das geometrisch-ordnende Raster des Stadtplans domestiziert somit die sehr viel konfusere Geometrie des urbanen Raums. In der Reduktion von drei auf zwei Dimensionen (anders als in der Ersetzung des urbanen Lärms durch das schweigsame Papier) verfährt sie maßstabsgetreu und pseudo-mimetisch. In beiden Fällen ist der Stadtplan – soweit es sich nicht um fiktive Stadtpläne handelt – an Handlungen im realen Raum angeschlossen und geht vollständig in dieser pragmatisch-funktionalen Verwendung auf. Im ersten Fall erzählt er etwas über seine städtebauliche Umsetzung in der Zukunft, im anderen bezieht er sich ordnend auf einen komplexen Zusammenhang in der Gegenwart. Eine dritte Möglichkeit tritt hinzu, wenn der Stadtplan dazu dient, das eigene, vergangene Handeln (die zurückgelegten Wege in der Stadt) in seine kartographische Matrix einzutragen. 175

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Das erste dieser drei Modelle lässt sich auf den Begriff ›Konzept‹ bringen, weshalb Michel de Certeau auch kritisch von dem Konzept Stadt spricht, das er der Tatsache Stadt entgegensetzt,1 das zweite auf die Begriffe ›Systematisierung‹ und ›Struktur‹. Das dritte birgt in sich die Idee einer möglichen ›Transkription‹ und ›Formalisierung subjektiver Bewegungen‹. In der Conceptual Art um 1968, so das Argument, das ich im folgenden entwickeln möchte, werden alle drei alltäglichen Verwendungsweisen des Stadtplans aufgegriffen und modifiziert. Allerdings ist die Landkarte dessen, was mit dem Begriff Conceptual Art bezeichnet wird, weitaus unübersichtlicher, als es der bündelnde Terminus suggeriert.2 Ich will deshalb einen kleinen Ausschnitt aus dieser Karte herauslösen und drei Künstler und ihre Arbeiten aus den Jahren 1967 bis Anfang der siebziger Jahre vorstellen und kommentieren: Ein selektiver Blick auf wenige Koordinaten also, aus denen eine Skizze allenfalls zu extrapolieren wäre.3

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Michel de Certeau: »Gehen in der Stadt«, in: M.d.C.: Kunst des Handelns, aus dem Französischen von Ronald Voullié, Berlin: Merve 1988, S. 179208: 183. Als Gründungsurkunde wird häufig Sol LeWitts Text »Paragraphs on Conceptual Art« von 1967 verstanden. Zu den konkurrierenden Bezeichnungen und den kanonischen Ausstellungen vgl. Peter Osborne: »Survey«, in: P.O. (Hg.): Conceptual Art, London: Phaidon 2002, S. 17. Vgl. für einen wertend-kanonisierenden Überblick Benjamin H.D. Buchloh: »Conceptual Art 1962–1969: From the Aesthetics of Administration to the Critique of Institutions«, in: October Vol. 55 (Winter) 1990, S. 105-143. Kritische Reaktionen in der folgenden October-Ausgabe von Joseph Kosuth und Seth Siegelaub. Da es mir weniger um das Phänomen der Kartographie allgemein als um den Stadtplan im ganz konkreten Sinn geht, wird ein Zusammenhang wie die Land Art, die in einem komplexen Verhältnis der Überschneidung und Ergänzung zum hier Diskutierten steht, wenig zur Sprache kommen. Zur Literatur: Das Verhältnis von Kartographie und (Konzept-)Kunst thematisieren die Aufsätze von Denis Cosgrove, Lucy Lippard und Astrid Wege im Band Mapping a city, hg. von Nina Möntmann/Yilmaz Dziewior, Galerie für Landschaftskunst, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004. Vgl. auch den Überblicksartikel von Denis Cosgrove: »Maps, Mapping, Modernity: Art and Cartography in the Twentieth Century«, in: Imago Mundi 57 (2005), S. 35-54. Spezifischer zum Zugriff konzeptueller Künstler auf Landkarten und Stadtpläne: Peter Wollen: »Mappings. Situationists and/or Conceptualists«, in: Jon Bird/Michael Newman (Hg.): Rewriting Conceptual Art, London: Reaktion 1999, S. 27-46. 176

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P l a nq ua d r a t A . H ueb l er s a l p ha b et is c h e G eo m et r i e Als Douglas Huebler 1966 an seiner ersten Gruppenausstellung in New York teilnimmt, ist er bereits 42, zum Zeitpunkt der von Seth Siegelaub organisierten Einzelausstellung November 1968 44 Jahre alt. Es gibt eine bekannte Fotografie, die ihn neben Robert Barry und den sehr viel jüngeren Kollegen Lawrence Weiner und Joseph Kosuth zeigt; die vom Kunsthändler Siegelaub gefeatureten ›fab four‹ der Konzeptkunst posieren lässig vor einer Wand, auf der selbstredend keine Bilder zu sehen sind. Huebler hatte Anfang der sechziger Jahre eine kurze Phase als Bildhauer durchlaufen, ehe er sich 1967 von der Objektkunst abwandte. Den Grund dafür hat er in seinem wohl bekanntesten Statement zu Protokoll gegeben: »The world is full of objects, more or less interesting; I do not wish to add any more. I prefer, simply, to state the existence of things in terms of time and/or place.«4 Gemessen an der Malerei der Abstrakten Expressionisten, der industrie-affinen Objektkunst der Minimalisten oder den seriellen Bild- und Objektserien der Pop-Art liegt darin eine radikale Entgegenständlichung, und an dieser Differenz von Material und Entmaterialisierung müsste wohl auch die umstrittene Frage nach der politischen Dimension der Konzeptkunst ansetzen.5 Hueblers »I prefer« ist im eigentlichen Sinne ein »I would prefer not to« und setzt der Ding- und (Kunst-)Warenwelt eine Art künstlerischen Bartlebyanismus entgegen.6

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Douglas Huebler: »Statements«, in: D.H.: »Variables«, etc., Limoges: F.R.A.C. 1993, S. 173. Eine deutsche Übersetzung in der frühen zweisprachigen Textsammlung Über Kunst/On Art. Künstlertexte zum veränderten Kunstverständnis nach 1965, hg. von Gerd de Vries, Köln: DuMont 1974. Ein instruktiver Rückblick, der die Entwicklung der Konzeptkunst um 1968 auf die gleichzeitigen politischen Ereignisse bezieht, stammt von Lucy R. Lippard. In einem Vorwort zu ihrem 1997 neu aufgelegten Klassiker Six Years stellt sie die Arbeiten in einen Zusammenhang mit der Bürgerrechtsbewegung, dem aufkommenden Feminismus und einer Kritik am Begriff der Ware. Vgl. Lucy R. Lippard: »Escape Attempts«, in.: L.R.L.: Six Years. The Dematerialization of the Art Object 1966-1972, Berkeley: University of California Press 1997, S. vii-xxii: xiii-xv. In diesem Sinne hat Lippard die »Dematerialisation of Art« zum bestimmenden Zug der Kunst zwischen 1967 und 1973 erklärt (Vgl. Lippard: Six Years). Sol LeWitt, als Künstler und Theoretiker selbst Teil des Prozesses, hat die Prominenz von Idee und Planung als eine Möglichkeit der Entsubjektivierung beschrieben: »The idea itself, even if not made visual, is as much a work of art as any finished product. All intervening steps – scrib177

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Allerdings tritt bei Huebler nun gerade nicht ›nichts‹ an die Stelle des künstlerischen Objekts, sondern der Stadtplan, oder allgemeiner: die kartographische Vorlage. »By late 1967, I was looking for an alternative to object-making and found it in the idea of the map: the perfect conceptual model, with its reduced visual signs juxtaposed with descriptive language.«7 Zwei Aspekte sind für Hueblers Analogisierung von »map« und »conceptual model« verantwortlich: zum einen das auf Farben und geometrische Formen reduzierte visuelle Erscheinungsbild der Landkarte, zum anderen ihre intern bereits in Abbild und Beschriftung aufgefächerte Struktur, mit deren Komplexität sich spielen lässt. An diesem Punkt wird die Nähe der Conceptual Art zu sprach- und literaturtheoretischen Positionen der sechziger Jahre greifbar, die etwa für die britische Gruppe »Art and Language« ebenso bestimmend wie namensgebend war.8 Das semiotische Modell von Signifikat und Signifikant stellte hier einen Hebel dar, mit dem Diskursiv-Theoretisches seinen Weg in das Museum finden konnte um in dieser Bewegung zugleich die Grenze zwischen Kunstwerk und kritisch-theoretischer Aufarbeitung zu überschreiten, negieren, streckenweise auch zum Kollabieren zu bringen.9 Will man die Verbindung von ›map‹ und konzeptuellen Techniken etwas genauer fassen, kommt der Stadtplan mit seiner rigideren Struktur beinahe automatisch in den Blick. Denn spezifischer noch als allgemein bei Landkarten legt hier – insbesondere beim durchnummerierten ›grid‹ nordamerikanischer Städte – das Raster von Straßen einen Bezug zu konzeptuellen Praktiken nahe. Hueblers Arbeit Boston-New York Exchange Shape von 1968 spricht im Titel vom Austausch zweier Stadtareale, man könnte sagen: von der virtuellen Transplantation städtischen Raumes. Huebler geht dabei in mehreren Etappen vor: Zunächst bringt er kleine, unscheinbare Aufkleber als Markierungen im Stadtraum der beiden genannten Städte an. In Boston

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bles, sketches, drawings, failed work, models, studies, thought, conversations – are of interest. Those that show the thought process of the artist are sometimes more interesting than the final product.« (Sol LeWitt: »paragraphs on conceptual art« [1967], in: Alexander Alberro/Blake Stimson (Hg.): conceptual art: a critical anthology, Cambridge: MIT 1999, S. 1216: hier S. 14). D. Huebler: »Statements«, S. 175. Im Zusammenhang mit kartographischen Modellen ist hier vor allem die Map not to indicate (1967) der beiden Art & Language-Gründer Terry Atkinson und Michael Baldwin zu nennen. Vgl. Peter Osborne: »Conceptual Art and/as Philosophy«, in: J. Bird / M. Newman (Hg.): Rewriting Conceptual Art, S. 47-65, Vgl. auch Ian Burn: »Dialogue«, in A. Alberro/B. Stimson (Hg.): conceptual art, S. 110-111. 178

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Abb. 1

geschieht dies, wie mit typisch konzeptualistischer Lust an der Präzision vermerkt ist, am 27. August 1968 zwischen 12 Uhr 30 und 16 Uhr 48, in New York knapp zwei Wochen später am 9. September 1968. Anschließend macht Huebler jeweils eine gezielt kunstlose Fotografie des markierten Ortes, »with no attempt made for a more or a less interesting or picturesque representation of the location«. (Abb. 1) In einem nächsten Schritt werden die Koordinaten der Markierungen in Form von Straßennamen nach dem Schema A, B, C, D, E und F für Boston und A’, B’, C’, D’, E’ und F’ für New York tabellarisch notiert und mit dem nunmehr dritten zeitlichen Index »September 16, 1968« versehen. Im Ausstellungsraum erwartet den Besucher schließlich nichts weiter als eine nüchterne Broschüre, in der die Fotografien und die Liste der Koordinaten versammelt sind. Wichtig und unmittelbar mit dem Stadtplan verbunden ist allerdings das von mir bisher unerwähnte Kriterium, nach dem Huebler die markierten Orte aussucht. Denn seine Auswahl verdankt sich keineswegs Qualitäten des jeweiligen Orts selbst. Sie richtet sich vielmehr nach einer kontingenten Setzung, für die Huebler den Stadtplan mit einer geometrischen Form konfrontiert. In Pläne der

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Abb. 2

beiden Innenstädte hat er ein gleichseitiges Sechseck eingezeichnet, dessen Eckpunkte die oben genannten Koordinaten definieren. Die Geometrie des Stadtplans wird also von einer zweiten, intervenierenden Geometrisierung überlagert, die vollständig im Konzeptuellen verbleibt. (Abb. 2) Was im Titel der Arbeit als utopischer ›Exchange‹ in Aussicht gestellt ist, findet selbstverständlich nicht oder nur in der Vorstellung des Betrachters statt. Ausgetauscht oder für einen potentiellen Ortswechsel vorgesehen werden lediglich Informationen: Fotos, Listen, Pläne. Insofern teilt diese Arbeit mit zahlreichen anderen Arbeiten dieser Zeit nicht nur den Aspekt der Site Specificity.10 Sie ersetzt auch das visuell Sichtbare durch die Dokumentation, das Bild durch die Information.11 Mit einem medizinischen Terminus könnte man Hueblers Eingriff in den öffentlichen Raum als ›minimal invasiv‹ charakterisieren. Die beinahe unsichtbaren Markierungen, die flüchtig-beiläufigen Fotografien, die lakonische Nennung der Orte nach dem Prinzip der Reihung; all das verschiebt die Register künstlerischen Arbeitens vom Expressiven zum Experimentell-Administrativen. Der Schritt vom Objekt zum Konzept, von der Produktion zur Registratur und Bestandsaufnahme der zeitlichen und/oder räumlichen Existenz der Dinge hat im folgenden Jahrzehnt zu mehreren umfassenden Se10 Vgl. Miwon Kwon: »One place after another. Notes on Site-Specificity«, in: October, Vol. 80 (Spring 1997), S. 85-110. 11 Vgl. etwa auch die Ausstellung mit dem programmatischen Titel Information, die vom 2. Juli bis 20. September 1970 im MoMA stattfand: Kynaston McShine: »Introduction to Information«, in: A. Alberro / B. Stimson (Hg.): conceptual art, S. 212-214. 180

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Abb. 3 und 4

rien geführt, die Huebler jeweils den Rubriken »location pieces« oder »duration pieces« zuordnet. Für Kombinationen aus zeitlich und räumlich fokussierten Arbeiten steht mit der Rubrik »variable pieces« eine dritte Kategorie zur Verfügung, der etwa das maßlose, aber mit großer Gelassenheit betriebene Projekt subsummiert wird, die gesamte Erdbevölkerung zu fotografieren. In einem dieser »variable pieces«, dem New York Variable Piece # 1, hat Huebler die eben skizzierte Umwidmung des Stadtplans weitergeführt und dynamisiert. Auch hier operiert er erneut mit Markierungen im New Yorker Stadtbild. Allerdings ist nun nicht die Transplantation eines statischen Sechsecks, sondern die interne Dynamisierung und Auflösung mehrerer Quadrate12 sein konzeptuelles Ziel. Drei Mal vier Aufkleber definieren drei ineinander geschachtelte Quadrate (Abb. 3 und 4): A3B3 C3D3-MARKERS PLACED ON TRUCKS AND AUTOMOBILES THEREBY BEING CARRIED INTO RANDOM AND HORIZONTAL DIRECTIONS A2B2 C2D2- MARKERS PLACED IN STEADY AND PERMANENT LOCATION A1B1 C1D1- MARKERS PLACED IN ELEVATORS THEREBY BEING CARRIED INTO RANDOM AND VERTICAL DIRECTIONS

12 Zur Prominenz von Kubus und Quadrat in der minimalistischen und konzeptuellen Kunst siehe B.H.D. Buchloh: »Conceptual Art 1962–1969«, S. 130-131. 181

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Im New York Variable Piece # 1 liegt damit eine konzentrierte Weiterführung und Auflösung der früheren Arbeit zugleich. Ist das bereits bekannte Prinzip nun auf eine Reihe kleinerer Planquadrate in New York eng geführt, diffundiert es andererseits durch die Bewegungen von Fahrstühlen und Autos und damit durch die Dynamik des städtischen Raumes selbst. Der eingangs eingeführte Begriff des stadtplanerischen ›Konzepts‹ wird bei Huebler somit aus zwei Richtungen porös gemacht: Eine Realisierung (und damit der Umschlag vom konzeptuellen Möglichkeitsraum in den tatsächlichen Wirklichkeitsraum) ist nicht vorgesehen, und selbst die zurückhaltenden Hinweise auf das Konzept werden von den Bewegungen der Stadt erfasst und damit gewissermaßen ausradiert.

P l a nq ua d r a t B . H a a c k e s p o l it is c h e In ter v e nt io n en Beschreibt man New York - Boston Exchange Shape und New York Variable Piece #1 als spekulative Transformationen des Raums, so betreibt Hans Haacke um 1970 dessen materialistische Untersuchung. Im oben angeführten zweiten Sinne – dem der Systematisierung und Strukturierung – legt Haacke eine latente Struktur des Raumes frei und zeichnet sie in den scheinbar objektiven Stadtplan ein. Haackes Arbeiten richten sich dabei nicht auf den Raum als ganzen, sondern meist konkreter auf die Rahmenbedingungen des Betriebssystems Kunst. Was dabei aus dem künstlerischen Off ins Bild rückt, sind die ›Orte der Kunst‹, sprich: das Museum und der Kunstmarkt als zwei Eckpunkte und Koeffizienten künstlerischen Arbeitens. Haackes Arbeiten in den sechziger Jahren, zunächst in Köln und New York, ab 1965 dann dauerhaft in der amerikanischen Metropole, hatten die natürlichen Elemente Luft und Wasser zum Gegenstand.13 Jetzt, ab 1968, wendet er sich den elementaren Voraussetzungen des Kunstbetriebs als gesellschaftlichem System zu. Den Begriff des ›Systems‹ übernimmt Haacke von John Burnham und nutzt ihn in Interviews mehrfach strategisch zur Beschreibung seiner Produktionsinteressen. Im Falle der Arbeiten, die den Stadtplan zur Matrix einer gesellschaftlichen Analyse machen, ist es zum einen das Kunstpublikum als Schnittpunkt statistischer Werte, zum anderen der Immobilienmarkt Manhattans.

13 Vgl. etwa Rain Tower (1962), Condensation Cube (1963-1965) oder Kugel in schrägem Luftstrahl (1964). 182

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Abb. 5

Zunächst ein Blick auf Gallery Goers Profile, dessen erster Teil 1969 in der Howard Wise Gallery in New York stattfand (Abb. 5): Ich bat die Leute, die in meine Ausstellung kamen, auf großen Landkarten mit blauen Nadeln ihre Wohnung zu bezeichnen. Nach der Ausstellung fuhr ich zu all den Stellen auf dem Stadtplan von Manhattan, die durch eine blaue Nadel markiert waren, und fotografierte das Gebäude, oder ungefähr die Stelle. Ich kam auf etwa 730 Manhattan-Fotos (natürlich beteiligte sich nicht jeder Besucher an dem Spiel). Die Aufnahmen wurden auf 13 x 18 cm vergrößert. Sie werden entsprechend einer geographischen Partitur an einer Wand des Guggenheim Museums gezeigt. Alle Punkte östlich der Fifth Avenue kommen über einer waagerechten Mittellinie an die Wand, die westlichen kommen darunter.14

In der Verlagerung der künstlerischen Aktivität vom Künstler auf den Besucher der Ausstellung generiert Haackes Verfahren verschiedene Abbildungsmodi des Sozialen. Die Stecknadel auf dem Stadtplan, die an-

14 »Hans Haacke im Gespräch mit Jeanne Siegel«, in: H.H.: Werkmonographie, Einleitung von Edward F. Fry, Köln: DuMont 1972, S. 47-53: 52. Zum Zeitpunkt des Interviews ging Haacke noch davon aus, im Guggenheim-Museum auszustellen, aber wegen einer zweiten Arbeit, von der noch die Rede sein wird, wurde die Ausstellung vom Leiter des GuggenheimMuseum kurzfristig abgesagt. Eine Rekonstruktion des Eklats findet sich im zitierten Band auf den Seiten 55 bis 73. Ausgestellt wurde die gesamte Arbeit schließlich 1971 in der Galerie Paul Maenz in Köln. 183

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Abb. 6

schließende Fotografie des Wohnorts und die horizontal/vertikale Anordnung an der Museumswand sind drei Darstellungsformen, aus deren Zusammenspiel und Interferenz sich das im Titel genannte Besucherprofil zusammensetzt. Die Verteilung an der Wand entspricht einer geographischen Verteilung entlang der Mittelachse 5th Avenue, in der Häufung von Stecknadeln bildet sich eine Parzellierung des städtischen Raumes in Distinktionszonen ab. (Abb. 6) In soziologischer Hinsicht sind die Ergebnisse von Haackes Erhebung sicher nicht überraschend oder neu: Dass es auf der finanzkräftigen Upper West und East Side eine hohe Konzentration von Kunstinteressierten gibt und sich eine weitere Häufung von Markierungen in der Lower East Side finden würden, wusste man vorher. Auch die Abwesenheit von Kunstpublikum in Harlem ist wenig überraschend. Neu jedoch ist, dass das soziologische Instrumentarium von Umfrage und Auswertung sich nicht auf ein Objekt namens Kunstausstellung bezieht, sondern der Ausstellungszusammenhang selbst das sozialwissenschaftliche Werkzeug zu seiner Analyse in Anschlag bringt. In der Geschichtsschreibung der Conceptual Art steht Haacke mit anderen daher für die Schnittstelle zwischen Konzeptkunst und Institutional Critique. 15 15 Für die sechziger und siebziger Jahre wären hier auch Marcel Broodthaers oder Daniel Buren zu nennen, zeitgenössiche Fortschreibungen dieses 184

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Dass die Institution Museum sich einer solchen Kritik Anfang der siebziger Jahre nicht aussetzen wollte, zeigt die Reaktion des Guggenheim Museums auf Haackes Arbeit Shapolsky et al. Manhattan Real Estate Holdings, a Real-Time Social System, as of May 1, 1971 (1971), das die geplante Ausstellung sechs Wochen vor ihrer Eröffnung kurzerhand absagte. Erneut besteht Haackes Arbeit in einer Vermessung Manhattans, nun aber nicht als Topographie ästhetischer Distinktionszonen, sondern als Spielfeld unübersichtlicher Immobilienspekulationen. Im Zentrum steht die ›Shapolsky Real Estate‹-Immobiliengruppe um Harry Shapolsky. Aus öffentlich zugänglichen Quellen hat Haacke eine Liste der 146 Gebäude erstellt, die dem Unternehmen ›Shapolsky Real Estate‹ oder einem seiner zahlreichen Subunternehmen gehören. Wie im Gallery Goers Profile fotografiert er die Gebäude anschließend. Neben den Stadtplänen, auf denen Shapolskys Gebäude markiert und durchnummeriert sind, werden die Fotografien und Informationstafeln ausgestellt, auf denen die An- und Verkäufe sowie sonstige finanzielle Transaktionen durch Linien sichtbar gemacht sind. Wer sitzt in welchem Aufsichtsrat, Vorstand oder sonstigen Gremium? Wann wurde welches Gebäude beliehen, ver- oder gekauft? In den Schaubildern wird sichtbar, wie die steuersparenden An- und Verkaufsspekulationen der meist in Slum-Gegenden befindlichen Grundstücke und Gebäude über zahlreiche Zwischenfirmen abgewickelt werden, in deren Aufsichtsräten, Vorständen jeweils weitere Mitglieder der Shapolsky-Familie positioniert sind. Auch hier gilt: Haacke ›entdeckt‹ nichts, sondern greift auf allgemein zugängliche Informationen zurück, die jeder im New Yorker Grundbuchamt einsehen könnte. Aber den vermeintlich ›neutralen‹ Ort des Museums zum Ausstellungsort dieser Informationen zu machen, transformiert beide Räume; es macht im Stadtplan eine ökonomische Struktur sichtbar. Raum – und zwar der urbane Raum ebenso wie der des Museums – ist ein produzierter Raum, der auf einem meist unthematisierten Fundament von Spekulationen ökonomischer Natur aufruht. Es ist deshalb nahe liegend, bei Haackes Praxis an zwei Theoretiker zu denken, die zur gleichen Zeit an ihren raumorientierten Analysen des Sozialen arbeiteten. Der eine ist Pierre Bourdieu, mit dem Haacke Anfang der neunziger Jahre mehrere Gespräche über Gemeinsamkeiten ihrer Arbeit geführt hat.16 Strangs finden sich bei Maria Eichhorn, Thomas Hirschhorn und zahlreichen anderen. 16 Haacke selbst hat sich in einem Gespräch als »amateur sociologist« bezeichnet. (Vgl. »Interview. Molly Nesbit in conversation with Hans Haacke«, in: Hans Haacke, London/New York: Phaidon 2004, S. 7-24: 8. Dort auch Aussagen über die Nähe seiner Polls zu den Arbeiten Bourdieus und die Bekanntschaft mit ihm. 185

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Der andere ist Henri Lefebvre, dessen Text zur ›Produktion des Raumes‹ im gleichen Jahr erschienen ist wie Haackes Arbeit über die Wertsteigerung eines Manet-Spargelstilllebens und der sich problemlos auf Haackes Arbeiten beziehen lässt: Ainsi l’espace contient ces entrecroisements multiples, en lieux et places assignés. Quant aux représentations des rapports de production, que enveloppent des relations de puissance, ils s’effectuent aussi dans l’espace, et l’espace en contient les représentations dans les édifices, les monuments, les œuvres d’art.17

Vielleicht kann man es sich so vorstellen, dass der von Huebler und radikaler noch von Künstlern wie Lawrence Weiner oder Robert Barry leer geräumte Ort ›Museum‹ in einem nächsten Schritt mit unterschiedlichsten Inhalten gefüllt werden konnte, die nun eben nicht mehr an das Tafelbild oder überhaupt an Kunstobjekte gebunden sind. Der Raum öffnet sich vielmehr – oder wird offensiv geöffnet – einerseits in Richtung anderer Medien und Künste (etwa in Richtung Video und Film oder in Richtung Performance und Tanz), aber auch in Richtung anderer Disziplinen wie der Sozialwissenschaft oder der Philosophie.

P l a nq ua d r a t C . K a wa r a s s er i el l e V er o r t un g In Hueblers nummerierten Location Pieces und Haackes an anderen Orten wiederholten und modifizierten Umfragen ist neben der Frage des Raums das Prinzip der Serialität prominent. Dieses Prinzip hat kunstimmanente Vorbilder in den Serienproduktionen der Pop Art und der Minimal Art. Es ist aber auch denkbar, dass nicht zuletzt das durchnummerierte, geometrische Straßenraster amerikanischer Städte und insbesondere New Yorks dafür Pate stand. Ich will deshalb zum Abschluss zu On Kawara kommen, der das Prinzip der Serie in besonders radikaler Weise zur Grundlage seiner Arbeiten gemacht hat. Seit 1966 entstehen mehrere Reihen, die unter dem

17 Henri Lefebvre: La production de l’espace, Paris: Anthropos, 4. Auflage 2000, S. 42. ›So enthält der Raum seine vielfältigen Überkreuzungen an dafür bestimmten Orten und Plätzen. Auch die Repräsentationen der Produktionsverhältnisse, die Machtbeziehungen beinhalten, finden im Raum statt, und der Raum enthält solche Repräsentationen in den Gebäuden, den Denkmälern und den Kunstwerken.‹ (Henri Lefebvre: Die Produktion des Raums [1974], in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 330-342: 332-333.) 186

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Abb. 7 und 8

Begriff Today-Series zusammengefasst werden. Die Date Paintings bilden wahrscheinlich die prominenteste dieser Werkreihen. Ab Mai 1968 sind ihr die Reihen I got up und I went zur Seite gestellt.18 Die letzteren Serien werden von zwei lakonischen Feststellungen initiiert: »Each day I send two friends a picture post card from where I am« und »Each day I trace on a map my day’s passage from midnight to midnight«. Unterzeichnet sind beide nicht mit dem Namen des Künstlers, sondern mit der zeitlichen und räumlichen Indexikalisierung »1968, Mexico City«. Über das Prinzip der Postsendung und seine beunruhigenden Effekte in Kawaras Postkartenserie hat Nils Plath andernorts ausführlich geschrieben,19 ich beschränke mich hier daher auf die Stadtpläne der I went-Serie. Ihr Prinzip ist einfach: Jeden Tag trägt Kawara die an einem Ort zurückgelegten Wege mit rotem Kugelschreiber in einen Stadtplan oder eine Landkarte ein – im Fall seiner Atlantiküberquerung an Bord der Queen Elisabeth in eine Seekarte. Bei Ortswechseln, die äußerst häufig vorkommen, wird der Weg vom Flughafen oder Bahnhof zur Wohnung oder von der Wohnung zum Flughafen eingetragen. Bevor er seine Wege einzeichnet, kopiert Kawara jede Karte Schwarz-Weiß und stellt damit eine größere Vergleichbarkeit her, die Datierung erfolgt durch einen Datumsstempel am Fuß der Seite. In der Zeit zwischen Mai 1968 und dem 18 Weitere Serien Kawaras sind I read, I am still alive und I met. 19 Vgl. Nils Plath: »Stadt als Ansichtskarte und Sendung. Von und mit On Kawara, Michel Butor und anderen«, in: Walter Fähnders/N.P./Hendrik Weber/Inka Zahn (Hg.): Berlin, Paris, Moskau. Reiseliteratur und die Metropolen, Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 47-70. 187

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17. September 1979, an dem Kawara die Reihen I got up und I went beendet, wächst allein das Kartenmaterial zu einem Konvolut von 23 Ordnern an.20 Eine Reihe von Spannungen kennzeichnet das scheinbar simple Projekt, und diese Spannungen sind mitverantwortlich für die Beunruhigung, die I went erzeugt: Da ist das Schlichte und Zurückgenommene des einzelnen Plans, das gegen die Offenheit und den immensen Umfang des Gesamtprojekts steht. Da ist das forciert Autobiographische, das jedoch kein Subjekt generiert, oder allenfalls eines, das sich im nüchternen Verwaltungsakt zugleich konstituiert und verliert. Und da sind mindestens zwei Perspektiven, die im Plan zusammenkommen und sich aneinander reiben. Prominent ist die vertikale Aufsicht, die für Verfügung und Übersicht steht. In der Markierung durch den roten Kugelschreiber ist dem Schwarz-Weiß-Plan aber auch eine horizontale Bewegung eingeschrieben, die Kawara von einem »double consciousness« sprechen lässt, aufgrund dessen er sich sowohl in der Aufsicht objektiviere als auch als Fußgänger in den Straßen erfahre. Michel de Certeaus häufig zitierte Opposition zwischen dem aus großer Höhe blickenden Voyeur und dem horizontal laufenden Fußgänger, mit der sein Kapitel »Gehen in der Stadt« einsetzt, scheint gerade in Kawaras Wiederholung und Insistenz buchstäblich umgangen oder unterlaufen. Die ›Transkription und Formalisierung subjektiver Bewegungen‹, die ich zu Beginn als dritte Option des Stadtplans genannt habe, betreibt Kawara mit einer beängstigenden Disziplin. In der analytischen Zerlegung des Lebens in strikt formalisierte Einzelhandlungen – I got up, I went, I met, I read – bis hin zu I am still alive ist dieses »Ich« zwar prominent, aber die Selbstversicherung, die von der autobiographischen Notation ausgehen mag, rieselt zugleich durch die Finger wie Sand.

Planquadrat D. Nach Plan Trotz Douglas Hueblers Analogisierung von ›Konzept‹ und ›Karte‹ wäre es voreilig, den Stadtplan und die Zugriffe der Conceptual Art bündig aufeinander abbilden zu wollen. Denn in die zweidimensionale Matrix ›Stadtplan‹, ein systematisches und regelhaftes Spielfeld, lassen sich diverse Praktiken eintragen, von denen hier drei zur Sprache gekommen sind: Da ist zunächst Douglas Hueblers spielerisch-epistemologische

20 Vgl. Ulrich Wilmes: »Das Leben des Künstlers«, in: On Kawara: Horizontality/Verticality, hg. von Ulrich Wilmes mit einem Essay von Michel Butor, Köln: Walther König 2000, S. 7-9. 188

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Markierung minimaler Veränderungen; seine spekulative Umorganisation städtischen Raums nach Maßgabe abstrakter geometrischer Formen. Da ist zum zweiten Hans Haackes soziologisch-analytische Recherche, die in den Stadtplan den gesellschaftlichen Status Quo einzeichnen lässt und damit ein Geflecht von ökonomischen Beziehungen sichtbar macht. Und da sind drittens On Kawaras existenziell-biographische Notationen, durch die der Stadtplan zum Papier wird, auf dem mit jedem Schritt eine nach hinten offene, aber durch den Tod begrenzte BewegungsAutobiographie eingezeichnet werden kann. Die Zuspitzung auf diese drei Optionen führt allenfalls zu Eckdaten, und auch die definieren nur einen Ausschnitt aus einer potentiellen Karte. Zu schärfen wäre der Blick etwa durch die Einbeziehung von weitaus rücksichtsloseren Verwendungen des Stadtplans, die im Lettrismus und Situationismus bereits zehn Jahre früher zu finden sind. Bleibt der Stadtplan als Grundfläche bei Huebler, Haacke und Kawara intakt, so wird er in den Karten Guy Debords nach psychogeographischen Maßstäben zerschnitten und neu zusammengesetzt. Beispiele für das, was Guy Debord »influentielle Geographie« nennt, sind sein Guide Psychogéographique de Paris und die Karte The Naked City,21 beide von 1957. Aber auch der Blick auf Anschlüsse an konzeptuelle Praktiken in den neunziger Jahren würde auf Arbeiten aufmerksam machen, in denen der Stadtplan nur noch als unsichtbares Referenzsystem vorkommt und durch andere Navigationshilfen ersetzt ist. Ich denke dabei zum Beispiel an Janet Cardiffs Audio-Walks, die den Fußgänger per Kopfhörer begleiten und ihn durch Erzählungen und Töne auf Fiktives oder Reales aufmerksam machen und damit Gänge durch die Stadt initiieren, die sich nicht an kartographischen Koordinaten, sondern an Erzählungen ausrichten, in denen die Realität des Gesehenen sich am Phantasmatischen der gehörten Töne und Stimmen bricht. Wie die Systematisierung der Abschnitte meines Textes zeigt, sind wir erst im Planquadrat D angekommen. 21 Hier sind dann auch zentrale Texte zu Psychogeographie und Dérive hinzuzuziehen: »Alte Karten, Luftbilder und experimentelles Umherschweifen können dazu dienen, eine bislang noch ausstehende influentielle Kartographie zu erstellen, deren gegenwärtige Unzuverlässigkeit (unvermeidlich, da hier noch eine enorme Arbeit zu leisten ist) nicht schlimmer ist als die der frühen Seekarten, mit dem Unterschied, daß es nicht mehr um die präzise Bestimmung unveränderlicher Kontinente geht, sondern um die Veränderung von Architektur und Urbanismus.« (Guy E. Debord: Theorie des Umherschweifens, in: G.E.D.: Potlatch 1954-1957. Informationsbulletin der Lettristischen Internationale, aus dem Französischen von Wolfgang Kukulies, Berlin: Edition TIAMAT 2002, S. 332-340: 339.) 189

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Literatur Alberro, Alexander: Conceptual Art and the Politics of Publicity, Cambridge: MIT 2004. Buchloh, Benjamin H.D.: »Conceptual Art 1962–1969: From the Aesthetics of Administration to the Critique of Institutions«, in: October Vol. 55 (Winter) 1990, S. 105-143. Burn, Ian: »Dialogue«, in Alexander Alberro/Blake Stimson (Hg.): conceptual art: a critical anthology, Cambridge: MIT 1999, S. 110-111. Certeau, Michel de: »Gehen in der Stadt«, in: M.d.C.: Kunst des Handelns, aus dem Französischen von Ronald Voullié, Berlin: Merve 1988, S. 179-208. Cosgrove, Denis: »Karto-City. Kartografie und Stadtraum«, in: Mapping a city, hg. von Nina Möntmann, Yilmaz Dziewior, Galerie für Landschaftskunst, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004, S. 32-47. Cosgrove, Denis: »Maps, Mapping, Modernity: Art and Cartography in the Twentieth Century«, in: Imago Mundi 57 (2005), S. 35-54. Debord, Guy E.: »Theorie des Umherschweifens«, in: G.E.D.: Potlatch 1954-1957. Informationsbulletin der Lettristischen Internationale, aus dem Französischen von Wolfgang Kukulies, Berlin: Edition TIAMAT 2002, S. 332-340. Haacke, Hans: Werkmonographie, Einleitung von Edward F. Fry, Köln: DuMont 1972. Huebler, Douglas: »Statements«, in: D.H.: »Variables«, etc., Limoges: F.R.A.C. 1993. Kwon, Miwon: »One place after another. Notes on Site-Specificity«, in: October, Vol. 80 (Spring 1997), S. 85-110. Lefebvre, Henri: »Die Produktion des Raums« [1974], in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 330-342. LeWitt, Sol: »paragraphs on conceptual art« [1967], in: Alexander Alberro/Blake Stimson (Hg.): conceptual art: a critical anthology, Cambridge: MIT 1999, S. 12-16. Lippard, Lucy R.: »Escape Attempts«, in.: L.R.L.: Six Years. The Dematerialization of the Art Object 1966-1972, Berkeley: University of California Press 1997, S. vii-xxii. Lippard, Lucy: »Alles auf einen Blick«, in: Mapping a city, hg. von Nina Möntmann, Yilmaz Dziewior, Galerie für Landschaftskunst, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004, S. 84-95.

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McShine, Kynaston: »Introduction to Information«, in: Alexander Alberro/Blake Stimson (Hg.): conceptual art: a critical anthology, Cambridge: MIT 1999, S. 212-214. Osborne, Peter (Hg.): Conceptual Art, London: Phaidon 2002. Osborne, Peter: »Conceptual Art and/as Philosophy«, in: Jon Bird/Michael Newman (Hg.): Rewriting Conceptual Art, London: Reaktion 1999, S. 47-65. Plath, Nils: »Stadt als Ansichtskarte und Sendung. Von und mit On Kawara, Michel Butor und anderen«, in: Walter Fähnders /N. P./Hendrik Weber/Inka Zahn (Hg.): Berlin, Paris, Moskau. Reiseliteratur und die Metropolen, Bielefeld. Aisthesis 2005, S. 47Über70.Kunst/On Art. Künstlertexte zum veränderten Kunstverständnis nach 1965, hg. von Gerd de Vries, Köln: DuMont 1974. Wege, Astrid: »Bewegungen durch nicht befestigtes Gelände«, in: Mapping a city, hg. von Nina Möntmann, Yilmaz Dziewior, Galerie für Landschaftskunst, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004, S. 130-137. Wilmes, Ulrich: »Das Leben des Künstlers«, in: On Kawara: Horizontality/Verticality, hg. von Ulrich Wilmes mit einem Essay von Michel Butor, Köln: Walther König 2000, S. 7-9. Wollen, Peter: »Mappings. Situationists and/or Conceptualists«, in: Jon Bird/Michael Newman (Hg.): Rewriting Conceptual Art, London: Reaktion 1999, S. 27-46.

Abbildungen Abb. 1-3: Aus: Alexander Alberro: Conceptual Art and the Politics of Publicity, Cambridge: MIT 2004, S. 78 und S. 81. Abb. 4: Aus: Jon Bird/Michael Newman (Hg.): Rewriting Conceptual Art, London: Reaktion 1999, S. 37. Abb. 5-6: Aus: Hans Haacke, hg. v. Walter Grasskamp, Molly Nesbit und Jon Bird, London: Phaidon 2004, S. 48-49. Abb. 7-8: Aus: On Kawara: Horizontality/Verticality, hg. von Ulrich Wilmes mit einem Essay von Michel Butor, Köln: Walther König 2000, S. 82 und S. 212.

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DER DICHTER IN NEW YORK. F E D E R I C O G A R C Í A L O RC A A L S S U RR E A L IS T I S C HE R F L A N EU R ANKE BIRKENMAIER Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sind ein präziser Moment und ein Ort: New York in der Zeit zwischen Juli 1929 und Mai 1930. Am Beispiel der in diesem Zeitraum entstandenen Gedichte von Federico García Lorca, die 1939 zum ersten Mal unter dem Titel Poeta en Nueva York in einer englisch-spanischen Ausgabe erschienen, soll diese städtische Moderne surrealistisch-ethnographisch gelesen werden.1 Es geht dabei nicht so sehr um die bloße Übernahme der surrealistischen Ästhetik in Lorcas Bildsprache, sondern um eine surrealistische Lebensart oder Kultur, die die zeitgenössische urbane Wahrnehmung nicht nur von Dichtern wesentlich bestimmte. Wenn man diese surrealistische Brille also aufsetzt, dann erscheint New York als Ort der unvermittelten Konfrontation nicht nur von Objekten und Gebäuden, sondern auch von Kulturen, die nicht miteinander kommunizieren, aber auf ein tiefer liegendes, gleichsam magisch aufleuchtendes Prinzip der Realität hören, das einen modernen diskontinuierlichen und doch gemeinschaftlichen Raum bildet. Damit wird bei Lorca dann auch das Prinzip des zweidimensionalen Stadtplans unterlaufen: dieser wird nämlich gleichgesetzt mit der nurmehr rationalen Analyse des Raumes und deshalb verworfen. Wie die Spaziergänge Lorcas durch New York und seine Reisen von New York nach Lake Eden und nach Kuba einen eigenen surrealistischen Raum konstruieren, soll im Folgenden gezeigt werden.

1

Ich stütze mich hier auf den schon klassischen Artikel von James Clifford: »On Ethnographic Surrealism«, in: J.C.: The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature, and Art, Cambridge und London: Harvard UP 1988, S. 117-52. Clifford zeigt in seinem Artikel die vielfältigen Kontakte und Gemeinsamkeiten von Surrealisten und Anthropologen im Paris der 30er Jahre. Er analysiert dabei vor allem die von Georges Bataille 1929 und 1930 herausgegebene Zeitschrift Documents. 193

ANKE BIRKENMAIER

In seinem Aufsatz »Rückblickend auf den Surrealismus« beschrieb Theodor W. Adorno die Eigentümlichkeit des Surrealismus folgendermaßen: Die eigentlich surrealistische Praxis jedoch hat jene Elemente [das alte Bildmaterial; A.B.] mit ungewohnten versetzt. Eben die haben ihnen durch den Schreck das Vertraute, das: Wo habe ich das schon einmal gesehen? verliehen. Man wird also die Affinität zur Psychoanalyse nicht in einer Symbolik des Unbewußten vermuten dürfen, sondern im Versuch, durch Explosionen Kindheitserfahrungen aufzudecken. Was der Surrealismus den Abbildern der Dingwelt hinzufügt, ist, was uns von der Kindheit verlorenging: so sollen uns als Kindern jene damals selbst schon veralteten Illustrierten angesprungen haben wie jetzt die surrealistischen Bilder.2

Die Wahrnehmung der sichtbaren Welt wird im Surrealismus, so Adorno, nicht einfach ersetzt durch die Wendung nach innen, auf die Symbolik des Unbewussten hin, sondern sie wird durch Erinnerungsbilder bereichert. Den surrealistischen Schock kennzeichnet also nicht so sehr die bloße Überraschung durch verdrängtes Bildmaterial, sondern das Ineinanderfügen von heterogenen Bildfeldern und Temporalitäten zu etwas, was bekannt erscheint. Grundlegend für den Surrealismus stünde somit die Fähigkeit, das Bekannte, das in die Vergangenheit relegiert worden war, zu aktualisieren und in Beziehung zu setzen. Walter Benjamin bezeichnete diese Reaktualisierung in seinem Essay über den Surrealismus als Wendung vom historischen Blick zum politischen Blick.3 Ich möchte jedoch einer anderen Lesart des Surrealismus folgen, der anthropologischen, und möchte so den surrealistischen Blick bei Lorca kulturell wenden. Es ist weniger New York als Metropole des Kapitalismus oder der modernen Architektur, die für den spanischen Dichter entscheidend ist, als vielmehr die Konfrontation mit einer ›anderen‹ Kultur, der USamerikanischen. Insbesondere die Kultur der Afroamerikaner fasziniert ihn, sie ist ihm neu, verweist ihn aber zugleich auf das Zusammenleben von Spaniern und Roma, das er in seinem Romancero Gitano (Zigeunerromanzen) behandelt. Zwischen Identifikation und Erleben der Fremde

2 3

Theodor W. Adorno: »Rückblickend auf den Surrealismus«, in: T.W.A.: Noten zur Literatur, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S. 103. »Der Trick, der diese Dingwelt bewältigt – es ist anständiger hier von einem Trick als von einer Methode zu reden – besteht in der Auswechslung des historischen Blicks aufs Gewesene gegen den politischen«; Walter Benjamin: »Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz«, in: W.B.: Gesammelte Schriften, Bd. II, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980, S. 300. 194

DER DICHTER IN NEW YORK

sind die Gedichte von Poeta en Nueva York ein Zeugnis einer ethnographischen Moderne, die sich aus interkulturellen Dialogen, aber auch aus Lücken und Missverständnissen zusammensetzt. Das surrealistische Verfahren steht damit als eine nurmehr verschärfte Form der Erfahrung der großstädtischen Moderne in der Zeit zwischen den Kriegen. Im Gegensatz zum Paris Charles Baudelaires gestaltet sich das Verhältnis zwischen dem dichterischen Subjekt und der Gesellschaft nicht mehr als rauschhafter Kontakt eines Flaneurs mit der Masse. Lorcas Perspektive auf die Masse ist jedoch auch weit entfernt von der Kritik des Massenmenschen, die der zeitgenössische Philosoph José Ortega y Gasset üben sollte.4 Mit Lorcas New York sehen wir gleichsam ein neues Paradigma der Großstadt des 20. Jahrhunderts, in der die Masse als kulturell heterogen erfahren wird. Lorca als surrealistischer Flaneur sieht nun nicht mehr die Menge als Abbild der bürgerlichen Gesellschaft, sondern er nimmt sie als geballte Fremde war.5 Lorca ist auch nicht der einzige, der New York als Stadt einer solchen surrealistisch-ethnographischen Moderne erfährt. Drei weitere Texte sollen das veranschaulichen. Im Jahr 1941 kommt der Anthropologe Claude Lévi-Strauss nach New York, um dort seine Exiljahre zu verbringen, die auch die Jahre der Begründung der strukturalen Anthropologie sein werden. Wie Clifford James berichtet, war Lévi-Strauss von der magischen Qualität der Präsenz unterschiedlicher Kulturen in New York beeindruckt, die für LéviStrauss sowohl eine räumlich als auch zeitliche Ferne verkörpern: Mais New York – de là lui venait son charme et l’espèce de fascination qu’elle exerçait – était alors une ville où tout semblait possible. À l’image du tissu urbain, le tissu social et culturel offrait une texture criblée de trous. Il suffisait de les choisir et de s’y glisser pour atteindre comme Alice de l’autre côté du miroir, des mondes si enchanteurs qu’ils en paraissaient irréels.6 4 5

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Ortega y Gassets Werk La rebelión de las masas erschien 1930 in Spanien und wurde zwei Jahre später in englischer Übersetzung veröffentlicht. Die hier zugrundegelegte Definition des Flaneurs folgt Walter Benjamins »Der Flaneur«, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. I, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S. 536-69. Claude Lévi-Strauss: »New York post- et préfiguratif«, in: C.L.-S.: Le regard éloigné, Paris: Plon 1983, S. 348. ›New York – und daher rührten sein Charme und seine besondere Faszination – war damals eine Stadt, in der alles möglich schien. Wie die städtische Textur waren auch das soziale und kulturelle Gewebe durchlöchert und durchlässig. Man brauchte sich nur ein Loch auszusuchen, um wie Alice auf der anderen Seite des Spiegels Welten zu erreichen, die so zauberhaft waren, dass sie unwirklich erschienen.‹ 195

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Lévi-Strauss betont den Reichtum des kulturellen und sozialen Gewebes New Yorks, insbesondere die Abstände oder ›Löcher‹, die zwischen den Menschen wie auch den Gebäuden bestehen. Was Stadtarchitektur und Gesellschaft in New York verbindet, ist ihre textartige Verfasstheit, die Tatsache, dass der Beobachter zwar eine zusammenhängende moderne Realität wahrnimmt, die jedoch zugleich unwirklich erscheint, weil sie gleichsam magisch ständig aus sich heraus, auf Kulturen und Gesellschaften der Vergangenheit oder der Zukunft verweist. Wie bei einem Text hat der Beobachter die Möglichkeit, die Stadt zweifach zu lesen, auf ihre durchgehende Syntax, das Straßennetz hin, oder auf die Löcher, die Inkongruenzen, Kontraste und unausgefüllten Räume des Stadtbildes. Deutlicher noch wird der Verweis auf die Moderne als Reaktualisierung ›alter‹ Kulturen anhand der Objekte, die Lévi-Strauss und seine surrealistischen Freunde in den Archiven des Museum of the American Indian erwarben. Die von Lévi-Strauss gekauften Eskimomasken waren für ihn wie auch für die Surrealisten Kunstobjekte und gleichzeitig anthropologische Fundstücke, die genauso wichtig für Lévi-Strauss’ Denken werden sollten wie die Bände des Bureau of American Ethnology, die er aus der Zeit in New York nach Paris mit zurücknehmen sollte. Diese Doppelfunktion des ›objet trouvé‹ als anthropologisches Fundstück und Kunstwerk kann auch für Lorcas New Yorker Spaziergänge gelten. New York wurde für ihn wie für Lévi-Strauss zum Ort der Erfahrung von kultureller Heterogeneität und künstlerischer Inspiration zugleich, ein Ort der anthropologischen Feldarbeit und lyrischen Produktion. Ein zweiter Text soll hinzugezogen werden: das Gedicht Amor de ciudad grande José Martís, welches er mit dem Zusatz »New York. April 1882« versieht. Bekanntermaßen verbrachte der kubanische Dichter vierzehn Jahre im Exil in New York, von 1881 bis 1895. Während dieser Zeit schrieb er Chroniken für diverse lateinamerikanische Zeitungen, die kritisch über die Stadt und über die USA reflektierten. In Amor de ciudad grande drückt Martí seine Hassliebe für die Stadt aus, die für ihn eine Stadt der Eile, der Anonymität, des Verlusts der Liebe ist. Me espanta la ciudad! Toda está llena De copas por vaciar, o huecas copas! Tengo miedo ay de mí! De que este vino Tósigo sea, y en mis venas luego Cual duende vengador los dientes clave! Tengo sed, – mas de un vino que en la tierra No se sabe beber!7

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»Amor de ciudad grande«, in: José Martí: Poesía completa. Edición crítica. Centro de Estudios Martiano, 1984. México: Universidad Nacional Autó196

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Im Gegensatz zum Paris Baudelaires und der Surrealisten betrachtet Martí New York als eine Stadt der Fremde: Sie ist zwar ebenso menschenangefüllt und bewegt wie das Paris von Baudelaires A une passante oder das von Bretons Nadja, doch der Rausch, den New York anbietet, ist nicht das, was der Dichter sucht. Sein Wein ist Martí zu ›rauh‹, sein Geschmack, seine Feinfühligkeit unterscheiden sich von der der amerikanischen Metropole. Martí, der wie Lévi-Strauss als ein politisch Exilierter in New York lebt, erfindet sich selbst neu, indem er sich an der Stadt reibt, aber nicht im Sinne eines passiven Geformtwerdens durch die Stadt, sondern im Sinne einer politischen Neu-Situierung als Lateinamerikaner gegenüber den Vereinigten Staaten. Susana Rotkers merkt dazu an: Martí wants to alter the way reality itself is thought. He writes from the margins of the gaze, not with the inferiority assumed of the subject confronted by Empire, but with a transforming will. He does not want to subject or be subjected, but to create.8

Die Stadt wird für Martí zum Ort der Abgrenzung des Ichs gegenüber der anderen Kultur und positioniert den Dichter als einen Beobachter am Rande des Geschehens. Die Stadt New York steht somit synekdochisch für zwei Dinge zugleich: sie repräsentiert das Territorium des politischen Rivalen, der Vereinigten Staaten, und zeigt zugleich dessen Ränder, nämlich diejenigen Teile der Gesellschaft, die von der Modernisierung der Stadt (und des Staates) ausgeschlossen sind. Die Orte, die Martí in New York beschreibt – die Brooklyn Bridge, Coney Island – werden bei ihm zur Folie des Rationalisierungswahns der Moderne, der die Arbeiter und die Afroamerikaner, die doch an der Neuorganisierung des urbanen Raums wesentlich beteiligt sind, benachteiligt.9

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9

noma de México, 1998, S. 88-90. ›Die Stadt erschreckt mich! Voll ist sie / Von Gläsern die noch zu lehren sind, oh hohle Gläser! / Ich habe Angst, oh weh mir! Dass dieser Wein / Rauh ist, und dann in meine Venen, / als ob er ein Rachegespenst wäre, die Zähne gräbt! / Ich habe Durst, – aber nach einem Wein / den man auf der Erde nicht zu trinken weiß!‹ Alle Übersetzungen von A.B. sofern nicht anders angegeben. Vgl. Susana Rotker: »José Martí and the United States: On the Margins of the Gaze«, in: Julio Rodríguez-Luis (Hg.): Re-Reading José Martí. One Hundred Years Later, Albany: State University of New York 1999, S. 31. Vgl. Julio Ramos: Desencuentros de la modernidad en América Latina. Literatura y política en el siglo XIX, México: Fondo de cultura económica 1989, S. 156-162, 228-233. 197

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Ein dritter Moment scheint mir weiterhin relevant: Lorca reist am Ende seines New York-Aufenthaltes nach Havanna, um dort eine Reihe von Vorträgen zu halten, und bleibt drei Monate. Er ist begeistert von der Stadt, vergleicht sie mit Cádiz und Kuba mit Andalusien und schreibt, man solle ihn in Kuba suchen, falls er einmal verschwände. Doch es ist nicht nur die Rückkehr zur hispanischen Kultur und Muttersprache, die Lorca so positiv für Havanna einnimmt. Von New York nach Havanna und zurück, diese Reise wird Teil seines Buchs über New York, das nicht nur die moderne Metropole New York darstellt, sondern auch die Erfahrung der fortgesetzten Distanznahme des bereits Bekannten. Poeta en Nueva York wurde lange Zeit nicht nur als ein Höhepunkt in Lorcas Dichtung gelesen, sondern auch als sein einziges wahrhaft surrealistisches Werk, das Werk, mit dem er sich von den traditionellen Formen der spanischen Lyrik trennte, die er noch in seinem vorigen erfolgreichen Gedichtband, dem Romancero Gitano gepflegt hatte. Das Buch schien Lorcas Antwort auf die Herausforderung zu sein, die seine Freunde aus den Madrider Studentenjahren, Salvador Dalí und Luis Buñuel an ihn stellten: es war einem neuen Bildideal verpflichtet, das nicht mehr thematisch an eine gegebene historische Realität wie die der Sinti und Roma gebunden war, sondern sich aus eigenen ›poetischen Ereignissen‹ konstruierte. Die Idee des ›poetischen Ereignisses‹ formuliert Lorca in einem Vortrag von 1928, »Imaginación, inspiración, evasión«.10 Andrew Anderson und Christopher Maurer haben in ihren Artikeln gezeigt, dass die Lebenskrise, von der Lorca damals sprach, nicht nur persönliche Gründe hatte, sondern sich auch insbesondere aus der Kritik ergab, die Salvador Dalí und Luis Buñuel, seine engen Freunde, an seinem Romancero Gitano geübt hatten. Dalí schreibt ihm, das Buch sei der alten Lyrik verhaftet, welche uns nicht bewege und die Bedürfnisse des modernen Lesers nicht erfüllen könne. Er fordert von Lorca ein anderes Bildverständnis, das seiner eigenen Idee von Metapher entspricht. Für Dalí hat das Bild für sich zu stehen, sollte aber nie nur auf sich deuten. Die Zeiger einer Uhr würden erst dann interessant, wenn sie nicht mehr auf die Stunde hinwiesen und ihr Kreisen aufhöre. Sie müssten der Uhr entkommen und zum Körperglied werden, erst dann habe der Künstler seine Funktion erfüllt, meint Dalí. Buñuels Reaktion war nicht viel freundlicher, für ihn ist Lorcas Bildsprache »unerträglich« in der Art und Weise, wie sie auf spanische Stereotype zurückverweist.11 Lorca aber wendet die

10 Federico García Lorca: »Imaginación, inspiración, evasión«, in: F.G.L.: Obras Completas III, Prosa, hg. von Miguel García-Posada, Barcelona: Galaxia Gutenberg, Círculo de Lectores 1997, S. 98-113. 11 Vgl. ebd. 198

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Empfehlungen seiner surrealistischen Freunde auf eigene Weise. Die poetischen Ereignisse des Poeta en Nueva York sind als surrealistisch im anthropologischen Sinn zu verstehen: es sind nämlich Ereignisse oder Objekte einer ›anderen‹ Kultur, an die er sich zwar annähert, mit der er bis zum Schluss, also bis er nach Havanna kommt, jedoch nicht kommuniziert. Lorcas surrealistische Anthropologie ist in der Tat der von Claude Lévi-Strauss in Tristes Tropiques nicht unähnlich, da in beiden Fällen die Annäherung an eine andere Zivilisation zugleich die Erfahrung der Fremde des eigenen Ichs ist. Aber wie auch bei Lévi-Strauss das Leben mit den Nambikwara und anderen Stämmen in Brasilien vom humanistischen Ethos zur Erfahrung der Nicht-Kommunikation führt, so bleibt auch bei der Reise des Ichs von Lorcas Gedichtband ein Rest der Unerfahrbarkeit des modernen Ichs wie auch der anderen Kultur.12 Im Mittelpunkt von Poeta en Nueva York steht damit die Stadt als Ort des Erlebens des ›Anderen‹ für den Dichter, und als Ort, der die eigene poetische Imagination entscheidend verändert. Der Schock New Yorks drückt sich also nicht so sehr in der Vision der modernen Großstadt aus, sondern im Erleben des Anderen. Ähnlich wie bei Lévi-Strauss löst sich die Stadtlandschaft auf in eine Vielfalt von Impressionen. Lévi-Strauss analysiert dieses Gefühl der Auflösung oder Verfremdung (›dépaysement‹) dabei deutlicher als Lorca. Für ihn lässt es sich auf den Eindruck einer nahezu sublimen »énormité« zurückführen, der typisch für Amerika sei: Cette impression d’énormité relève en propre de l’Amérique; on l’éprouve partout, dans les villes comme dans la campagne; [...] Partout on est saisi par le même choc; ces spectacles en évoquent d’autres, ces rues sont des rues, ces montagnes sont des montagnes, ces fleuves sont des fleuves: d’où provient le sentiment de dépaysement? Simplement, de ce que le rapport entre la taille de

12 Die surrealistischen Züge von Tristes Tropiques hat Vincent Debaene überzeugend herausgearbeitet. Vgl. seinen Artikel »›Un quartier de Paris aussi inconnu que l'Amazone‹. Surréalisme et récit ethnographique«, in: Les Temps Modernes 628 (August-Oktober 2004), S. 133-53. Debaene beschreibt die Reise von Lévi-Strauss zu den Nambikwara von Brasilien als nur scheinbar lineare Reise »zum äußersten Ende der Barbarei«, die jedoch in Realität aus zwei Reisen bestand und nicht einen Gewinn von Wissen sondern die Erfahrung der Unordnung wiedergibt. Diese Desintegration des Ichs erscheint als Spiegeleffekt des Niedergangs der Nambikwara und der Mundé. Debaene zitiert Lévi-Strauss: »Aussi proches de moi qu’une image dans le miroir, je pouvais les toucher non les comprendre« (ebd. S. 137). 199

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l’homme et celle des choses s’est distendu au point que la commune mesure est exclue.13

Dieses Evozieren von schon bekannten Räumen in Amerika, die aufgrund ihrer veränderten Dimensionen dann aber doch fremd bleiben, stellt Lévi-Strauss ein wenig später als eine von mehreren notwendigen Erkenntnisachsen dar, die der Reisende oder der Anthropologe mindestens durch eine Achse der Zeit und der sozialen Hierarchie ergänzen muss. Er schreibt: Un voyage s’inscrit simultanément dans l’espace, dans le temps, et dans la hierarchie sociale. Chaque impression n’est définissable qu’en la rapportant solidairement à ces trois axes, et comme l’espace possède à lui seul trois dimensions, il en faudrait au moins cinq pour se faire du voyage une représentation adéquate.14

Die Erfahrung des modernen Reisenden ist also durch ein Vervielfältigen der Beschreibungsparameter gekennzeichnet, die doch nie ganz ausreichen, um die Fremde wiederzugeben. Dies trifft auf Lévi-Strauss wie auch auf Lorca zu. Auf seine intuitive Weise verhält sich Lorca ähnlich wie der Reisende Lévi-Strauss: er benutzt alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel um New York zu begreifen, Raum und Sprache bleiben ihm dabei aber am wenigsten zugänglich. Wenn auch der Dichter an der Universität Columbia studierte, um Englisch zu lernen, brachte er es doch nie so weit, sich im Englischen fließend auszudrücken geschweige denn es zu verstehen.15 Lorca schien 13 Claude Lévi-Strauss: Tristes tropiques, Paris: Plon 1955, S. 84-85. ›Dieser Eindruck des Riesenhaften ist überhaupt ein Merkmal Amerikas; man empfindet ihn überall [...]. Allenthalben erlebt man denselben Schock; dieses Schauspiel erinnert an andere, diese Straßen sind Straßen, die Berge Berge, die Flüsse Flüsse: woher rührt das Gefühl der Fremdartigkeit? Einfach daher, daß sich das Verhältnis zwischen der Größe der Menschen und der Größe der Dinge so sehr verzerrt hat, daß kein gemeinsames Maß mehr besteht.‹ (C.L.-S.: Traurige Tropen, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1978, S. 69) 14 Ebd. S. 92. ›Eine Reise vollzieht sich sowohl im Raum wie in der Zeit und der sozialen Hierarchie. Jeder Eindruck läßt sich nur in bezug auf diese drei Achsen definieren, und da allein schon der Raum drei Dimensionen hat, so wären mindestens fünf erforderlich, um sich vom Reisen eine adäquate Vorstellung zu machen.‹ (S. 76) 15 Über Lorcas Englisch-Kenntnisse und seine New Yorker Kontakte siehe Ian Gibson: Federico García Lorca. A Life, New York: Pantheon Books 1989, S. 251-253. 200

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nicht daran interessiert zu sein, genau so wenig wie an den markanten Ereignissen im New York von 1929.16 Er wendet, was er wahrnimmt, ins zeitlos Anthropologische. Wenn auch Lorca beispielsweise in einem Brief an seine Familie ausführlich beschreibt, wie er in der Wall Street die Selbstmorde von mehreren Bankern am Tag des Crashs beobachtete, so verwandelt das dem Ereignis gewidmete Gedicht Danza de la muerte den Börsenkrach in ein rituelles und damit potentiell wiederholbares Ereignis, den Totentanz, über dem eine afrikanische Maske wacht. Lorca versteht den Börsenkrach damit nicht apokalyptisch, wie so viele damals, sondern als Ereignis, bei dem das primitive Element der modernen Zivilisation zutage tritt. Einige Verse aus diesem Gedicht fassen das Verhältnis zwischen Moderne und Primitivismus zusammen, wie es Lorca versteht: No es extraño para la danza Este columbario que pone los ojos amarillos. De la esfinge a la caja de caudales hay un hilo tenso Que atraviesa el corazón de todos los niños pobres. El ímpetu primitivo baila con el ímpetu mecánico, Ignorantes en su frenesí de la luz original.17

Wie in der alttestamentarischen Geschichte vom Tanz um das goldene Kalb wird hier die Verehrung des bloßen Geldes mit Ägypten (der Sphinx) – also einem heidnischen Glauben –, und mit der Entfernung vom ›wahren Licht‹ assoziiert. Die Krise an der Wall Street wiederholt somit nur den »gespannten Faden«, der von der Fremde zum Mammon 16 Zwar beschreibt Angel del Río, wie beliebt Lorca in seiner New Yorker Zeit war, wie viele Einladungen er erhielt und wie er sie genoss, doch betont del Río ebenso, dass Lorca sich vor allem in spanischsprachigen Kreisen bewegte, von der wirtschaftlichen Situation des Landes nichts verstand und auch zu den literarischen Kreisen in New York nicht wirklich Kontakte aufbaute (vgl. Angel del Río: »Introduction«, in: F.G.L.: Poeta en Nueva York. English and Spanish. Übersetzung Ben Belitt, New York: Grove Press 1955, S. xvi-xvii). 17 ›Kein schlechter Ort für den Tanz, / dies Kolumbarium, das gelbe Augen aufschlägt. / Sphinx und Tresor verbindet ein gespannter Faden, / der durch die Herzen aller armen Kinder läuft./ Der primitive Antrieb tanzt mit dem mechanischen, / und in ihr Toben fällt kein Schimmer des ursprünglichen Lichts.‹ (Federico García Lorca: Dichter in New York. Poeta en Nueva York, Gedichte Spanisch und Deutsch, Übertragung und Nachwort von Martin von Koppenfels, Frankfurt/M. Suhrkamp 2000, S. 50-51). Zitatnachweise im Folgenden im fortlaufenden Text nach dieser Ausgabe mit Seitenzahl. 201

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führt. Was beiden, der Moderne und den primitiven Zeiten gemeinsam ist, ist überdies die Verwandlung von Menschen in bloße Elemente eines einzigen großen Kollektivs, verbildlicht in den »gelben Augen« der Wolkenkratzer. Ähnlich dem Flaneur befindet sich der Dichter demgegenüber in der Position des Beobachters, er ist distanziert: »Yo estaba en la terraza luchando con la luna« (52). New York erscheint hier als ein ›Dschungel‹ der Moderne und zugleich als eine Stadt, deren Gesellschaft doch den immer gleichen ›primitiven‹ Dynamiken und Ritualen der Massenbildung und Auflösung gehorcht, von der es aber möglich ist, sich zu entfernen. Lorca läuft während seiner neun Monate in New York oft durch die Stadt, allerdings sucht er dabei eher konventionelle Orte auf: Sie befinden sich in der Mehrheit an der Upper West Side, wo der Dichter wohnte, oder in Harlem, oder sie sind dem Leser von der Literatur über New York her bekannt: das damals erst kürzlich fertig gestellte Chrysler Gebäude, Coney Island, Brooklyn Bridge, Battery Place.18 Einige Gedichte sind Gotteshäusern gewidmet (»Iglesia abandonada«, »Nacimiento de Cristo« und »Cementerio judío«; 42; 80; 150). Es ist bekannt, dass der Dichter auf der Upper West Side mehrere Gottesdienste besuchte, protestantisch, katholisch, oder jüdisch, and schließlich in Harlem eine afroamerikanische Kirche, welche ihn am meisten beeindruckte.19 Der urbane Raum an sich wird für ihn zum Schauplatz für den Kontrast zwischen Gemeinschaft und Individuum, ähnlich dem Flaneur des 19. Jahrhunderts. Für Marshall Berman in seinem Buch All that is solid melts into the air ist diese Erfahrung des teilnehmenden Spazierengehens grundlegend für die Großstadt des 19. Jahrhunderts. In den Straßen der Boulevards trafen die Menschen aufeinander und bildeten eine neue Art von buchstäblich ›vorübergehender‹ Gemeinschaft, und nur so konnten, laut

18 Der Vergleich mit José Martí ist hier besonders interessant: Beide Autoren machen die Brooklyn Bridge und Coney Island nämlich zum Thema eines Gedichtes beziehungsweise einer Chronik. Jedoch sind bei Martí Coney Island und die Brooklyn Bridge Produkte einer Welt, die sich zu schnell verändert und in der das Ich in Frage gestellt wird. Für Lorca hingegen pulsiert an diesen Orten das Leben der Masse und stellt doch seinen Standpunkt als Individuum nicht in Frage. Es ist die Ansammlung von Menschen, die ihn beeindruckt, nicht so sehr ihre Vereinzelung. Vgl. Dichter in New York, »Ciudad sin sueño (Nocturno del Brooklyn Bridge)«, S. 70-75, und »Paisaje de la multitud que vomita (Anochecer de Coney Island)«, S. 56-59. Für Martís New Yorker Chroniken sind Susana Rotkers Ausgabe und ihre Einleitung besonders aufschlussreich. Vgl. Susana Rotker (Hg.): José Martí: Crónicas. Antología crítica, Madrid: Alianza Editorial 1993. 19 Vgl. I. Gibson: A Life, S. 254-255. 202

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Berman, die revolutionären Energien entstehen, die zu den politischen Bewegungen der französischen Kommune oder des frühen 20. Jahrhunderts führten.20 Lorca, im Gegensatz zu Martí etwa, erkennt dieses Phänomen nicht nur als modern, sondern als Fortsetzung religiöser Formen der Gemeinschaftsbildung und -auflösung. Diese sind für ihn nicht als historisch überkommene Lebensformen zu verstehen – Lorca selbst war ein aktiv praktizierender Katholik in Spanien –, sondern koexistieren mit modernen Gesellschaftsritualen und Orten der Versammlung, wie bereits gesehen. Luis Fernández-Cifuentes bestätigt, dass Lorca sich in seinem Stadtbild an die Gemeinplätze der damals üblichen touristischen Beschreibungen New Yorks hielt: er erfüllte die Erwartungen, die das Leserpublikum mit dem Namen New York in den zwanziger und dreißiger Jahren verband, und evozierte in seinen Gedichten die Angst, die sich um die Idee des Wolkenkratzers herum kristallisiert. Die Originalität Lorcas in Bezug auf New York wäre, wenn man Fernández-Cifuentes folgt, darin zu sehen, dass der Dichter die Stadt trotzdem als eine neue pastorale Utopie interpretiert. New York im Buch würde insofern nicht mehr so sehr als eine Stadt der fragmentierten Vision erscheinen, sondern als ein Raum der Akkumulation von disparaten Elementen, der vor allem den Widerspruch zwischen Stadt und Land in sich vereint: La nueva visión del poeta en Nueva York borra sin más la frontera de verosimilitud que separa al zoo de los rascacielos: en la arquitectura de estos poemas no hay solución de continuidad entre casa de hombres y casa de fieras, entre los fragmentos de la una y los fugitivos de la otra, entre la sierpe y la escalera, por ejemplo.21

Diese Perspektive Lorcas auf die Stadt ähnelt, laut Fernández-Cifuentes, der von Lewis Mumford in seinem Buch The Culture of Cities (1938). Dieser diagnostizierte für die moderne Großstadt eine Vermischung der Kategorien von Stadt und Land, die den Stadtbewohnern in Gestalt von

20 Vgl. Marshall Berman: All That Is Solid Melts Into Air, New York: Simon & Schuster 1982, S. 148-155. 21 ›Die neue Vision des Dichters in New York hebt ganz einfach die Grenze der Wahrscheinlichkeit, die den Zoo von den Wolkenkratzern trennt, auf. In der Architektur dieser Gedichte findet sich keine Lösung für die Kontinuität zwischen Menschenhaus und Tierhaus, zwischen Fragmenten des einen und Fluchten des anderen, zwischen Schlange und Treppe, zum Beispiel.‹ (Luis Fernández-Cifuentes: »Lorca en Nueva York: Arquitecturas para un poeta«, in: Boletín de la Fundación Federico García Lorca 10-11 (1992), S. 133.) 203

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Parks, Zoos und, am Ende der zwanziger Jahre, von Werbung mit Land und Naturmotiven, suggeriert wurde.22 Doch ist die Nähe von Stadt und Natur in der Bildwelt von Poeta en Nueva York illusorisch, das heißt bei genauerem Hinsehen dominiert nicht die Metonymie, sondern die Metapher, die auf der Entfernung und dem Kontrast zwischen den zwei Bildfeldern insistiert. Wie Fernández-Cifuentes richtig anführt, besuchte Lorca in New York häufig den Zoo, der in der Tat die Grundlage für die vielen Tiere bietet, die im Buch erscheinen. Der Zoo ist ein Bereich, in dem nicht die Natur dargestellt wird, sondern das, was merkwürdig und exotisch an ihr ist, was nicht zum Klima und der Natur um New York herum gehört. Im Zoo Lorcas befinden sich vor allem seltene Tiere, die aus fremden Ländern kommen und als wild oder gefährlich gelten. Die lange Liste von exotischen Tieren – Löwen, Skorpione, Affen, Nilpferde, etc. – in Poeta en Nueva York steht somit nicht so sehr für das Ineinanderwirken von Land- und Naturleben in der Stadt, sondern für eine domestizierte, aber weiterhin problematische Fremde. Der Bezug zwischen dichterischem Ich und seiner Umgebung sollte nicht einfach abbildend oder allegorisch verstanden werden. Für die Surrealisten zählt nicht die direkte Anschauung als Beweis für die Realität eines Objektes oder Sachverhalts, sondern seine Vorstellung, die für Breton im Stadium des Halbschlafes geschehen muss. Man gelangt erst zu einer ›tieferen Wahrheit‹, wenn man in der Lage ist, die Vernunft auszuschalten und sich ganz dem Unterbewusstsein, wie es im Traum erscheint, hinzugeben. Der englische Literaturkritiker Anderson hat überzeugend gezeigt, dass Dalí und Lorca hier ein von den Franzosen divergierendes Bildverständnis haben. Der Unterschied zu den französischen Surrealisten liegt, ihm zufolge, in deren Einstellung zum Traum: Sowohl Dalí wie auch Lorca streben ein Schaffen an, das inspiriert ist, aber bei vollem Bewusstsein geschieht, während die französischen Surrealisten die poetische Inspiration künstlich herbei beschwören wollen.23 Dieser ›spanisch-surrealistische‹ Ansatz ist der Arbeit des Ethnologen nicht unähnlich. Für Lévi-Strauss besteht der Erkenntnisprozess vor allem, analog zur Psychoanalyse, in der Abstraktion, die von der direkten Observation vorgenommen wird. Er schreibt in Tristes Tropiques über seine hermeneutische Erfahrung:

22 Ebd. S. 132. 23 Andrew A. Anderson: »García Lorca's Poemas en prosa and Poeta en Nueva York: Dalí, Gasch, Surrealism, and the Avant-Garde«, in: Robert Havard (Hg.): A Companion to Spanish Surrealism, Woodbridge: Tamesis 2004, S. 169. 204

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Etres et choses peuvent conserver leur valeurs propres sans perdre la netteté des contours qui les délimitent les uns par rapport aux autres, et leur donnent à chacun une structure intelligible. La connaissance ne repose pas sur une renonciation ou sur un troc, mais consiste dans une selection des aspects vrais, c’est-àdire ceux qui coincident avec les propriétés de ma pensée.24

Für Lévi-Strauss ist diese Art und Weise zu Wissen zu gelangen sogar der des Geologen nicht unähnlich: Dans les deux cas, le chercheur est placé d’emblée devant des phénomènes en apparence impénétrables; dans les deux cas il doit, pour inventorier et jauger les éléments d’une situation complexe, mettre en œuvre des qualités de finesse: sensibilité, flair et gout. Et pourtant, l’ordre qui s’introduit dans un ensemble au premier abord incohérent n’est ni contingent, ni arbitraire. 25

Ein ästhetisches Urteil wird somit zur Entdeckung eines objektiven Gesetzes, und die dichterische Inspiration wird der wissenschaftlichen Intuition angenähert. Dieser Intuition wird so zu ihrem Recht im Bewusstsein verholfen, und es ist eben dies, was Lévi-Strauss’ Methode mit der Lorcas verbindet. Was wir nun in den Gedichten Lorcas sehen, ist eine Konfiguration von Ich und Stadtlandschaft, die das Subjekt als ortlos erscheinen lässt und doch in Bezug zum Raum setzt. Ähnlich wie bei Lévi-Strauss sind sich Geographie und Mensch nahe in der Art, wie sie von Gesetzen regiert werden, treten jedoch nicht miteinander in Kommunikation. Wir sehen das in Lorcas erstem Gedicht, Vuelta de paseo:

24 C. Lévi-Strauss: Tristes Tropiques, S. 58. ›Wesen und Dinge [können] ihren Eigenwert bewahren, ohne ihre klaren Konturen zu verlieren, die sie voneinander abgrenzen und jedem eine intelligible Struktur verleihen. Die Erkenntnis beruht nicht auf einem Verzicht oder auf einem Tausch, sondern sie besteht in einer Auswahl der wahren Aspekte, d.h. derjenigen, die mit den Eigenschaften meines Denkens übereinstimmen.‹ (S. 48-49) 25 Ebd. S. 60. ›In beiden Fällen muß er, um die Elemente einer komplexen Situation erfassen und ermessen zu können, mit äußerster Sensibilität zu Werke gehen: Fingerspitzengefühl, Spürsinn und Geschmack. Dennoch ist die Ordnung, zu der sich ein auf den ersten Blick zusammenhangloses Ganzes fügt, weder zufällig noch willkürlich.‹ (S. 50) 205

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Asesinado por el cielo Entre las formas que van hacia la sierpe y las formas que buscan el crystal dejaré crecer mis cabellos. Con el árbol de muñones que no canta y el niño con el blanco rostro de huevo. Con los animalitos de cabeza rota y el agua harapienta de los pies secos. Con todo lo que tiene cansancio sordomudo y mariposa ahogada en el tintero. Tropezando con mi rostro distinto de cada día. ¡Asesinado por el cielo!26

Zu sehen ist im Parallelismus der ersten Strophe (»entre las formas que ... y las formas que«), wie belebte Formen (die Schlange) den unbelebten (dem Kristall) gleichgestellt werden und das Ich sich inmitten dieser oder zwischen ihnen befindet. Auch im Fortlauf des Gedichtes sind beiordnende Präpositionen bedeutsam: die drei folgenden Paarverse werden durch ein »mit« verknüpft und bestehen aus der Aufzählung von Objekten, die das Ich in ungeklärter Weise verändern. Dabei fällt auf, wie wenig konkret die Stadtlandschaft ist, die beschrieben wird. Der fragmentarische Charakter der Wahrnehmung wird durch die unvollständige Syntax angezeigt, das Gedicht enthält keinen Hauptsatz. Die evozierten Bilder bestehen aus Pflanzen und Tieren, sie beschreiben nicht die Architektur, sondern die Räume um sie herum. Die dadurch betonte Unvollständigkeit der beschriebenen Szene wird unterstrichen durch den ersten und letzten Vers, von dem nicht klar ist, ob er sich auf das lyrische Ich bezieht oder auf das, was das Ich um sich herum sieht. »Vom Himmel umgebracht« kann sich metonymisch auf die Hochhäuser beziehen, die alles andere um sich herum »töten« und klein und blass erscheinen lassen. Der 26 ›Vom Spaziergang zurück / Vom Himmel umgebracht / Zwischen den Formen, die zur Schlange neigen, / und den Formen, die Kristall sein wollen, / will ich meine Haare wachsen lassen /Mit dem Stummelbaum, der nicht mehr singt, /und dem Jungen mit dem weißen Ei-Gesicht. / Mit den aufgeknackten Köpfen kleiner Tiere / Und dem zerlumpten Wasser mit den trocknen Füßen. / Mit allem, was von taubstummer Erschöpfung zeugt / Und vom toten Schmetterling im Tintenfass. / Stolpernd über mein täglich wechselndes Gesicht. /Vom Himmel umgebracht!« (F. García Lorca: Dichter in New York, S. 10-11). 206

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Mord könnte jedoch auch der des lyrischen Ichs sein, das sich vom Himmel alleingelassen fühlt und so könnte dieser umrahmende Vers auf die spirituelle Vereinsamung des Ichs in der großen Stadt verweisen. Diese Bedrohtheit des Ichs durch den Raum – sei es der Leerraum des Himmels oder der der Hochhäuser – sieht man auch in anderen Gedichten des Bandes. Sie nimmt häufig die Form des Paradoxes an: es gibt etwas zu sehen und doch nicht zu sehen. So geschieht es im Gedicht mit dem Titel 1910 (12). Hier erinnert sich das Ich mit den Augen von 1910 an das, was es nicht gesehen hat, und nimmt dies als Folie für die »Luftlöcher« der Gegenwart. In einem anderen Gedicht, Panorama ciego de Nueva York (76), ist das Paradox des Sehens und Nichtsehens in den Titel schon eingeschrieben. In El Rey de Harlem (30) sticht das Ich mit einem Löffel anderen Menschen die Augen aus. Diese Begrenztheit der Stadtbetrachtung, die oft bis zum Feststellen ihrer Unmöglichkeit – der Blindheit – geht, wird aber ergänzt durch die Bewegung des Beobachters oder der Gegenstände, die das Gedicht ausmachen. Paisaje de la multitud que vomita (56) und Paisaje de la multitud que orina (60) bestehen aus scheinbar statischen Landschaften, deren Protagonist, die Menschenmasse, aber aktiv ist. Verortet sind das Subjekt und seine Gegenüber durch die Untertitel, die sie bestimmten Orten zuordnen. Alle Gedichte sind mit Datum und dem Namen New York unterschrieben und in zehn Kapitel geordnet, die eine gewisse narrative Kontinuität herstellen. Ihr Inhalt jedoch erlaubt kaum räumliche Zuordnung, die einzelnen Gedichte wirken mehr wie Tagebucheinträge, Momente der Reflexion auf einer Reise. Was Lorca eigentlich an New York interessiert, ist noch klarer seinen Briefen an die Familie in Spanien zu entnehmen. Es sind die Menschen, insbesondere die Schwarzen von Harlem, die Fremdesten der Fremden für ihn, denen er die ersten Gedichte widmet.27 Ebenso sind es aber die Menschenmassen, egal welcher Couleur, die ihn interessieren und die nicht nur als Großstadt-Phänomen abgehandelt werden, sondern als Gemeinschaften analysiert werden, die sich nach dem Modell primitiver Gesellschaften momenthaft im Tanz oder im Krieg konstituieren. Lorca übersetzt so das, was er als moderne Charakteristik New Yorks erkennt, in ein anthropologisch universelles Idiom. Im Brief an die Eltern schreibt 27 Zur Chronologie der Entstehung der einzelnen Gedichte vgl. Ben Belitts »Critical Chronology« in: Federico García Lorca: Poet in New York, Übersetzung Ben Belitt, S. 181-192. Zum neuesten Stand der Editionsgeschichte von Poeta en Nueva York und den einzelnen Gedichten siehe Miguel García-Posadas ausführlichen philologischen Kommentar. Federico García Lorca: Poesía, in: F.G.L.: Obras Completas, hg. von Miguel GarcíaPosada, Barcelona: Galaxia Gutenberg, Círculo de Lectores 1996, S. 932995. 207

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Lorca, wieder über Wall Street: »Ich habe erst hier eine klare Vorstellung davon bekommen wie eine Menschenmasse um das Geld kämpfen kann. Es ist ein wahrhaftiger internationaler Krieg mit nur einer kleinen Spur von Höflichkeit.«28 Die Vermitteltheit der Wahrnehmung wird sichtbar an Lorcas Art und Weise, sich in Manhattan zu orientieren und an seiner Ablehnung von Stadtplänen: Así pues, me voy conociendo esta ciudad. No me digáis que lleve un plano, porque el plano no me sirve para nada. Es inútil. Yo no tengo sentido de orientación por medio del plano. … A mí me ha costado un trabajo inmenso saber cuál era mi mano derecha, y todavía tengo que hacer la señal de la cruz con ella para cerciorarme antes de entrar en un piso o en una calle. No sé dónde tengo la mano derecha, como no he sabido hasta casi mis veinte años el secreto del reloj. Así es que el plano es una cosa imposible para mí. Me es imposible ligar el signo abstracto de las líneas con la realidad viva y ruidosa que me rodea. Pero sin plano ando por aquí como ya quisieran muchas gentes con planos especiales. En cambio, tengo una memoria plástica asombrosa. Por el sitio donde he pasado una vez, lo recuerdo siempre…29

Interessant ist hier die Tatsache, dass Lorca sein Raumgedächtnis zwar als exzellent, aber nicht fähig zur Abstraktion bezeichnet, und dass er es mit seinem Zeitsinn vergleicht. In beiden Fällen scheint sein Gefühl für Raum und Zeit relativ zu sein und sich nicht an Aufschreibesysteme hal-

28 Brief an die Eltern, datiert auf die zweite Augustwoche 1929. Federico García Lorca: Epistolario completo, hg. von Christopher Maurer/Andrew A. Anderson, Madrid: Cátedra 1997, S. 636-638. 29 Brief vom 21. Oktober 1929 (F.G. Lorca: Epistolario completo, S. 654657). ›Und so lerne ich also die Stadt kennen. Sagt nicht, ich sollte einen Stadtplan mitnehmen, es nützt nichts. Was Stadtpläne angeht, habe ich keinen Orientierungssinn. Wenn ich meinem Instinkt vertraue, dann komme ich an mein Ziel, Karten führen mich nur in die Irre… Es war für mich schrecklich schwer, meine rechte Hand von der linken unterscheiden zu lernen, und ich muss sogar heute noch das Kreuz machen, bevor ich in einem Gebäude oder auf der Straße rechts abbiege. So wie ich nicht weiß, welche meine rechte Hand ist, so habe ich das Mysterium der Uhr nicht verstanden, bis ich zwanzig Jahre alt war. Ein Stadtplan ist für mich einfach unmöglich: ich scheine nicht in der Lage zu sein, abstrakte Linien mit der lebendigen, lärmenden Realität um mich herum zu verknüpfen. Ohne Stadtplan aber finde ich mich wunderbar zurecht, besser als die meisten anderen mit ihren speziellen Stadtplänen. Mein plastisches Gedächtnis ist fantastisch. Wenn ich einmal an einem Ort gewesen bin, erinnere ich mich immer daran.‹ 208

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ten zu wollen. Es wird aber außerdem deutlich, dass Wahrnehmung und Schreiben immer aus der Erinnerung heraus funktionieren: Lorca ist weniger am Raumgefühl interessiert als an der Raumerinnerung. Sein analytischer Sinn funktioniert nicht spontan und in der Gegenwart, sondern im Nachhinein, daher auch seine Probleme mit dem Uhrenlesen und der Unterscheidung zwischen rechts und links. Der Stadtraum ist für Lorca Abb. 1 nur aus der Erinnerung heraus fassbar, nicht als Plan, die Gegenwart ist pures Geräusch und Leben.30 Auch in den Zeichnungen, die Lorca in New York anfertigt, bleibt die Stadt eigentümlich flach, so als ob sie den Dichter nicht eigentlich interessiert, und nur unzulänglich erfasst werden kann. Wir sehen das vor allem an seinem Selbstporträt Autorretrato en Nueva York (Abb. 1). Auffallend ist die Verzerrung des Blicks: die Betonung der Größe einzelner 30 Die erste Beschreibung seiner New York-Gedichte deutet auf musikalische Eindrücke hin, nicht auf ein räumlich empfundenes New York: »Escribo un libro de poemas de interpretación de New York que produce enorme impresión a estos amigos por su fuerza. Yo creo que todo lo mío resulta pálido al lado de estas cosas que son en cierta manera sinfónicas, como el ruido y la complejidad neoyorkina.« (F.G. Lorca: Brief datiert auf die erste Januarhälfte, in: F.G.L.: Epistolario completo, S. 672-674). ›Ich schreibe an einem Buch mit Gedichten über New York, das so gewaltig ist, dass es aufgrund seiner Kraft einen enormen Eindruck auf jene Freunde macht. Ich glaube, dass alles was ich bisher geschrieben habe, verblasst im Vergleich mit diesen Dingen hier, die gewissermaßen sinfonisch sind, so wie der Lärm und die Komplexität New Yorks.‹ Ebenso die erste Beschreibung Havannas: »Habana es una maravilla, tanto la vieja como la moderna. Es una mezcla de Málaga y Cádiz, pero mucho más animada y relajada por el trópico. El ritmo de la ciudad es acariciador, suave, sensualísimo, y lleno de un encanto que es absolutamente español, mejor dicho, andaluz.« (Brief vom 8. März 1930, in: F.G.L.: Epistolario completo, S. 681-684). ›Havanna ist ein Wunder, die Altstadt ebenso wie sein moderner Teil. Es ist eine Mischung aus Malaga und Cadiz, aber viel lebhafter und entspannter durch die Tropen. Der Rhythmus der Stadt ist schmeichelnd, mild, sinnlich, und voll von einem Zauber, der absolut spanisch ist, oder besser gesagt: andalusisch.‹ 209

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Gebäude – Lorca schreibt in einem seiner ersten Briefe aus New York mit charakteristischem Hang zur Übertreibung: Sería tonto que yo expresara la inmensidad de los rascacielos y el tráfico. Todo es poco. En tres edificios de éstos cabe Granada entera. Son casillas donde caben 30.000 personas.31

Im Selbstbildnis werden beim Aufzeichnen des Bildes die visuellen Impressionen unversehens zur Chiffre. Man sieht das in den Gebäuden, wo die Fenster die Form von Buchstaben des Alphabets oder von Nummern annehmen: Für Lorca ist – gleichgültig, ob Fensterfassade oder Zeichentafel – die Stadt als Bildraum flach und kryptisch. Sie steht im Kontrast zu den Pflanzen, den Tieren und dem Dichter selbst, die sich im Vordergrund des Bildes befinden und nicht so recht zu dieser Geographie passen wollen. Ganz ähnlich sind auch die Gedichte zu verstehen, als Impressionen der Stadt, die an sich jedoch unzugänglich bleibt, ein überwältigendes, aber flaches Gemälde der Fremde. Bekanntermaßen umfasst Poeta en Nueva York mehrere Abschnitte, deren Gedichte von Reisen handeln, die der Dichter von New York aus macht. Deren wichtigste ist jedoch im letzten, dem zehnten Abschnitt angedeutet, es ist die Reise, die Lorca im Anschluss an seinen New York-Aufenthalt nach Havanna unternahm, wo er sich drei Monate aufhalten sollte.32 Das Gedicht dieses Abschnitts, Son de negros en Cuba (192), ist dem kubanischen Anthropologen Fernando Ortíz gewidmet, der Lorca nach Kuba eingeladen hatte. In Havanna wird Lorca endlich vom bloßen Beobachter zum Flaneur, der sich auch unterhält, Anteil nimmt und dann weitergeht. Im Brief an die Eltern beschreibt er Kuba als das Paradies des Spaziergängers: Esta isla es un paraíso. Cuba. Si yo me pierdo, que me busquen en Andalucía o en Cuba. El otro día entré en un gran patio colonial barroco, lleno de azulejos y fuentes, y me puse a conversar con unos niños negros muy pobres, a los que di

31 Brief vom 28. Juni 1929, Epistolario completo, S. 614-619. ›Es wäre dumm auch nur zu versuchen, die ungeheure Größe der Wolkenkratzer und des Verkehrs wiederzugeben. Jedes Wort ist zuwenig. Ganz Granada würde in drei solcher Gebäude hineinpassen. Ein einziges »Häuschen« hier beherbergt ungefähr 30 000 Leute.‹ 32 Lorca weilte vom 4. März bis zum 12. Juni 1930 in Havanna. Er machte auf der Rückkehr nur noch einen Tag lang in New York Zwischenstation, um von dort nach Spanien zurückzukehren. Siehe I. Gibson: A Life, S. 282302. 210

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monedas; cuando me iba a retirar, la madre de estos niños, una negraza inmensa y bondadosa, me ofreció una taza de café que hube de aceptar y que bebí rodeado por toda la negrería. Ya supondréis lo agasajado que estoy siendo, pero yo dejo muchas veces a todos y me voy solo por La Habana hablando con la gente y viendo la vida de la ciudad.33

Während Lorca in New York zwar von der Welt der Schwarzen fasziniert war und in Harlem auch einen Gospel-Gottesdienst besuchte, war sein Kontakt doch weitgehend auf die Jazzwelt, die er durch seine Harlemer Bekannte Nella Larsen kennen lernte, beschränkt. In Havanna hingegen sich kann Lorca unterhalten und mischt sich unter die einfachen Leute. Er gibt die »Negrophilie«34 des Avantgardekünstlers zugunsten der Normalität des kubanischen Alltags auf. In Havanna trifft er auch Lydia Cabrera wieder, die kubanische Anthropologin, die er drei Jahre zuvor in Madrid kennen gelernt hatte. Sie nimmt ihn auf eine Zeremonie der Náñigos mit, einer afro-kubanischen Geheimgesellschaft. Wie Dulce María Loynaz und Enrique Roig de Leuchsenring berichten, interessierte sich Lorca für alles, was die schwarzen kubanischen Bevölkerung betraf und scheute nicht davor zurück, politische Stellungsnahmen abzugeben, in denen er sich gegen soziale Ungerechtigkeiten gegenüber den Schwarzen aussprach.35 Überhaupt scheint es, dass Lorcas weiße Gastgeber und die intellektuellen Bekanntschaften ihn weniger interessierten als seine Stadtspaziergänge und sein Kontakt mit den Schwarzen und den Mulatten Kubas.36 33 ›Die Insel ist ein Paradies. Kuba! Falls ich verloren gehe, sucht nach mir in Andalusien oder in Kuba. Vor ein paar Tagen betrat ich einen großen barocken Innenhof voller Kacheln und mit Brunnen und fing ein Gespräch mit einigen sehr armen schwarzen Kindern an, denen ich ein paar Münzen gab. Als ich schon gehen wollte, bot mir die Mutter der Kinder, eine riesige, gutmütige Schwarze, eine Tasse Kaffee an, die ich natürlich annehmen musste und in Anwesenheit aller Schwarzen der Nachbarschaft trank. Ihr könnt Euch vorstellen wie ich hier mit Aufmerksamkeit verwöhnt werde. Aber oft lasse ich sie alle stehen und laufe auf eigene Faust durch die Straßen von Havanna, spreche mit Leuten und beobachte das Leben der Stadt.‹ (Brief vom 5. April 1930, Epistolario completo, S. 685-686). 34 Ich entlehne den Begriff »negrophilia« Sandrine Archer-Straws Buch Negrophilia. Avant-Garde Paris and Black Culture in the 1920s, New York: Thames & Hudson 2000, das ein nützliches Kapitel über die Verbindungen zwischen New Yorker und Pariser Avantgarde enthält (S. 159177). 35 Vgl. I. Gibson: A Life, S. 291. 36 Unter den vornehmlich weißen Intellektuellen In Kuba hinterließ Lorcas Besuch einen langanhaltenden Eindruck, wie man an der Reihe von Veröf211

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Die ›Löcher‹ in der Beschreibung der Stadt werden nun größer: der Leser vermisst nicht mehr nur eine Beschreibung des Stadtraumes, sondern auch die Unterhaltungen und Bekanntschaften, die der Dichter knüpft und von denen er nicht schreibt. Die Reise insbesondere, die er nach Santiago de Cuba unternahm, und von der das letzte Gedicht des Poeta en Nueva York handelt, sollte seine Biographen noch lange beschäftigen.37 Von ihr sind keine Dokumente oder Veröffentlichungen erhalten, und es wurde von vielen bezweifelt, dass Lorca die Reise überhaupt unternommen habe. Selbst die Geschwister Loynaz, mit denen sich Lorca besonders angefreundet hatte, waren nicht unterrichtet über Lorcas Reise nach Santiago de Cuba. Son negros en Cuba ist in Paarversen geschrieben und drückt die gleiche Unsicherheit der Reise aus. Der zweite, immer wiederholte Vers lautet: ich werde nach Santiago gehen, »iré a Santiago« (der Vers entspricht außerdem dem Son-Rhythmus). Die restlichen Verse sind auch hier wieder Gemeinplätze dessen, was der Dichter mit Kuba assoziiert: Palmen, Bananen, Zigarren, Maracas (»semillas secas«), Krokodile, erotische Frauen (»cintura caliente«), Rum, Meer, Sand, Hitze. Auch hier wieder ist das Ich unbehaust, wir wissen nur, dass es in Bewegung ist, und assoziieren Santiago mit dem Ursprungsort des Son, dem Tanz, den der Versrhythmus selbst so eindrücklich evoziert. Martin Jay vergleicht in seinem Artikel »Scopic Regimes of Modernity« das Verhältnis des Ichs zum Raum in der Renaissance und dem Barock. Während in der Renaissance der Betrachter (Maler oder Publikum) den Raum aus der Distanz betrachte und so gleichsam verschwinde, sei hingegen im Barock der Blick immer durch die Materialität des Auges vermittelt ist und so entstehe eine Beziehung des erotischen Begehrens, die das Objekt der Betrachtung anamorphisch verzerre.38 Haim Finkelstein nimmt dieses ›moderne‹ barocke Verhältnis zwischen Betrachter

fentlichungen sehen kann, die es über Lorca und Kuba gibt. Darunter sind erwähnenswert: Luis Amado Blanco: Poema desesperado a la muerte de Federico García Lorca. Dibujos de Amelia Pelaez, Habana: Editorial Ucacia 1937; Ciro Bianchi Ross: García Lorca: pasaje a La Habana, Barcelona, La Habana: Pablo de la Torriente 1997; Urbano Martínez Carmenate: García Lorca y Cuba: todas las aguas, La Habana: Centro Juan Marinello 2002; Miguel Iturria Savón, Miradas cubanas sobre García Lorca, Sevilla: Renacimiento 2006. 37 Vgl. I. Gibson: A Life, S. 290-291. Zur kubanischen Diskussion darüber, ob die Reise Lorcas nach Santiago de Cuba jemals stattfand, siehe Martínez Carmenates Kapitel , »El viaje en ›luna llena‹ y las ›aguas negras‹ de la polémica« (García Lorca y Cuba: todas las aguas, S. 109-124). 38 Vgl. Martin Jay: »The Scopic Regimes of Modernity«, in: Hal Foster (Hg.): Vision and Visuality, Seattle: Bay Press 1988, S. 3-28. 212

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und Bild zum Anlass, um über Salvador Dalís paranoisch-kritische Maltheorie zu sprechen. Für Finkelstein geht der narzistische Hang Dalís, den anderen, das Objekt, aus sich selbst heraus zu produzieren, immer einher mit einer Reflektion über den proportionalen Unterschied zwischen dem Ich und dem anderen. Finkelstein schreibt in Anspielung auf Lacan: The form discovered by the infant in the mirror is thus a gestalt that situates the ego in a fictional direction, and prefigures its alienating destination.39

Lorca erscheint in diesem Sinne als Surrealist im barocken, spanischen Sinn, indem er, wie Dalí, das Verhältnis zwischen dem Ich und dem Anderen als notwendige Projektion versteht. In beiden Fällen wird die Wahrnehmung des Raumes reduziert auf das Verhältnis zwischen Subjekten, Dalí-Gala im einen Fall, Lorca und die Kultur der Schwarzen im anderen Fall. Die Stadt oder der Raum werden so zur Theaterbühne oder, um mit Lautréamont zu sprechen, dem Seziertisch, auf dem das Verhältnis des Subjekts mit dem anderen inszeniert wird. New York, Lake Eden, Newburgh, Havanna, Santiago – es scheint, als ob die Erkundung eines Ortes immer schon die des nächsten erfordere, als Vergleichspunkt und Möglichkeit der Distanznahme. In Kuba erfolgt diese Distanzierung, wie wir gesehen haben, auf eine rundere, fröhlichere Weise als in New York. Im letzten Gedicht zieht der Dichter einen offenen Kreis, eine Kurve um den Raum Kuba: »Oh Cuba! Oh curva de suspiro y barro«, heißt es dort abschließend, »Oh Kuba, du Kurve aus Seufzern und Lehm!« Während New York vor allem die Stadt der mechanischen Moderne bleibt, die der Dichter in eine Stadt des primitiven Tanzes der Elemente übersetzt, ist Kuba der Raum der Umgrenzung des Ichs. Doch auch hier entzieht sich das Ich immer wieder und reist weiter, auch der Raum Kuba bleibt offen für die Flucht. Santiago wird so für Havanna, und Havanna für New York zum Fluchtpunkt, der dem Dichter eine Perspektive auf die Stadt erlaubt. Sein Verhältnis zu beiden Städten, oder zu allen dreien, ist dabei das der Alterität und ihrer Notwendigkeit für den Dichter, um sich als Subjekt zu erfahren. New York existiert für Lorca nicht als Topographie, sondern als anthropologisches Versuchsfeld. Ähnlich wie bei Lévi-Strauss gerät so die Reflexion über die Stadt zur Reflexion über die Bedeutung einer Kultur, über das Verhältnis des Subjekts zur Gemeinschaft, und die Möglichkeiten der Wahrnehmung und Kommunikation mit dem Anderen. 39 Haim Finkelstein: Salvador Dalí’s Art and Writing, 1927-1942: The Metamorphoses of Narcissus, Cambridge, New York: Cambridge UP 1996, S. 136. 213

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Literatur Adorno, Theodor W.: »Rückblickend auf den Surrealismus«, in: T.W.A: Noten zur Literatur, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S. 100-105. Anderson, Andrew A.: »García Lorca’s Poemas en prosa and Poeta en Nueva York: Dalí, Gasch, Surrealism, and the Avant-Garde«, in: Robert Havard (Hg.): A Companion to Spanish Surrealism, Woodbridge: Tamesis 2004, S. 163-183. Archer-Straw, Petrine: Negrophilia. Avant-Garde Paris and Black Culture in the 1920s, New York: Thames & Hudson 2000. Benjamin, Walter: »Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz«, in: W.B.: Gesammelte Schriften. Bd. II, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980, S. 295-310. Benjamin, Walter: »Der Flaneur«, in: W.B.: Gesammelte Schriften. Bd. I, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S. 537-69. Berman, Marshall: All That Is Solid Melts Into Air, New York: Simon & Schuster 1982. Bianchi Ross, Ciro: García Lorca. Pasaje a La Habana, Barcelona: Puvill Libros, Pablo de la Torriente 1998. Blanco, Luis Amado: Poema desesperado a la muerte de Federico García Lorca. Dibujos de Amelia Pelaez, Habana: Editorial Ucacia 1937. Clifford, James: »On Ethnographic Surrealism«, in: J.C.: The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature, and Art, Cambridge and London: Harvard UP 1988, S. 117-52. Debaene, Vincent: »›Un quartier de Paris aussi inconnu que l’Amazone‹. Surréalisme et récit ethnographique«, in: Les Temps Modernes 628 (August-Oktober 2004), S. 133-53. Del Rio, Angel: »Introduction«, in: Poeta en Nueva York. English and Spanish, übersetzt von Ben Belitt, New York: Grove Press 1955, S. ix-xxxix. Fernández-Cifuentes, Luis: »Lorca en Nueva York: Arquitecturas para un poeta«, in: Boletín de la Fundación Federico García Lorca 10-11 (1992), S. 125-35. Finkelstein, Haim: Salvador Dalí’s Art and Writing, 1927-1942: The Metamorphoses of Narcissus, Cambridge, New York: Cambridge UP 1996. García Lorca, Federico: Poet in New York, übersetzt von Ben Belitt, eingeleitet von Angel del Río, New York: Grove Press 1955.

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García Lorca, Federico: Poet in New York, 1988, überarbeitete Ausgabe, Übersetzung Greg Simon und Steven F. White, hg. von Christopher Maurer, New York: Farrar, Straus and Giroux 1998. García Lorca, Federico: »Poesía«, in: F.G.L.: Obras Completas, hg. von Miguel García-Posada, Barcelona: Galaxia Gutenberg, Círculo de Lectores 1996-1997. García Lorca, Federico: Epistolario completo, hg. von Christopher Maurer/Andrew A. Anderson, Madrid: Cátedra 1997. García Lorca, Federico: Dichter in New York. Poeta en Nueva York, Gedichte Spanisch und Deutsch, Übertragung und Nachwort von Martin von Koppenfels, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000. Gibson, Ian: Federico García Lorca. A Life, New York: Pantheon Books 1989. Iturria Savón, Miguel (Hg.): Miradas cubanas sobre García Lorca. Sevilla: Renacimiento 2006. Jay, Martin: »The Scopic Regimes of Modernity«, in: Hal Foster (Hg.): Vision and Visuality, Seattle: Bay Press 1988, S. 3-28. Lévi-Strauss, Claude: Tristes tropiques, Paris: Plon 1955. Lévi-Strauss, Claude: »New York post- et préfiguratif«, in: C.L.-S.: Le regard éloigné, Paris: Plon 1983, S. 345-56. Martínez Carmenate, Urbano: García Lorca y Cuba: todas las aguas, La Habana: Centro Juan Marinello 2002. Ramos, Julio: Desencuentros de la modernidad en América Latina. Literatura y política en el siglo XIX, México: Fondo de cultura económica 1989. Rotker, Susana (Hg.): José Martí: Crónicas. Antología crítica, Madrid: Alianza Editorial 1993. Rotker, Susana: »José Martí and the United States: On the Margins of the Gaze«, in: Julio Rodríguez-Luis (Hg.): Re-Reading José Martí. One Hundred Years Later, Albany: State University of New York 1999, S. 17-35.

Abbildung Federico García Lorca: Autorretrato en Nueva York © 2007 Artists Rights Society (ARS), New York / VEGAP, Madrid.

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IMAGINÄRE KARTEN. P E R F O R M A T I V E T O P O G R A P HI E B O R G E S U N D R ÉD A

B EI

ANDREAS MAHLER 1 . V o r s p i el in C h in a Mein Weg führt, wie der Titel weist, nach Paris und Buenos Aires.1 Beginnen will ich jedoch ganz woanders, jenseits der Metropolen, der Romania, des Westens; ich beginne an der Chinesischen Mauer. In seinem Essay La muralla y los libros – ›Von der Mauer und den Büchern‹ – erzählt der Argentinier Jorge Luis Borges die Geschichte vom Kaiser Shih Huang Ti.2 Dieser Kaiser der Ts’in-Dynastie aus dem ausgehenden 3. Jahrhundert vor Christus ist bekannt vor allem durch den Beginn des Baus der Chinesischen Mauer; er ist allerdings auch bekannt durch eine beispiellose, flächendeckende Bücherverbrennung mit dem Ziel der Errichtung eines ›ganz neuen Reichs‹. Borges’ Frage richtet sich darauf, wie beides miteinander zusammengeht: Wie lässt sich grandiose Konstruktion einerseits und rückhaltlose Zerstörung andererseits interpretatorisch vereinbaren? Aus historisch-ideologischer Sicht scheint dies zunächst ganz einfach: Sowohl die Tilgung der Vergangenheit als auch der Schutz vor der Zukunft dienen vordergründig immerwährender Herrschaftssicherung. In weiterer Verzeitlichung ließe sich dies – je nach Erst- und Zweitstellung der beiden Akte – sodann psychologisierend lesen einerseits als Geschichte einer in Enttäuschung gründenden Vernich1

2

Beide Städte verbindet eine deutliche Zusammengehörigkeit, etwa als Orte gegenseitigen Exils, wie sich dies von argentinischer Seite beispielsweise in den Texten Julio Cortázars bezeugt. Jorge Luis Borges: »La muralla y los libros« (1950), in: J.L.B., Prosa completa, 3 Bde., Barcelona: Bruguera 1980, Bd. 2, S. 131-133; zur Konjunktur von Borges’ China als einem Faszinosum der Alterität im Frankreich der Nachkriegszeit vgl. etwa auch den Auftakt zu Michel Foucault: Les Mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines (1966), Paris: Gallimard 1990, S. 7: »Ce livre a son lieu de naissance dans un texte de Borges.« 217

ANDREAS MAHLER

tung oder andererseits als Geschichte in Resignation konservierender Buße. Beides hat in der Historie keinen Beleg. Wie aber, so Borges, wenn man beide Akte zusammendenkt: als zwei Seiten einer Medaille, von der immer nur eine sichtbar wird, die andere aber gleichwohl stets mit vorhanden ist? Dann ließe sich das Ganze lesen als Metapher, derzufolge etwa der Mauerbau genau denjenigen für die Zukunft so viel sinnlose Konstruktionsarbeit aufbürdet, welche in den Büchern das Vergangene vergöttern – statt in der Gegenwart zu ›sein‹. Oder anders gewendet: Der Fiktion verkrusteter Resultate steht mit einem Mal entgegen der lebendige Prozess, die ganze ›Realität‹. Acaso Shih Huang Ti amuralló el imperio porque sabía que éste era deleznable y destruyó los libros por entender que eran libros sagrados, o sea libros que enseñan lo que enseña el universo entero o la conciencia de cada hombre. Acaso el incendio de las bibliotecas y la edificación de la muralla son operaciones que de un modo secreto se anulan.3

Dem Bau der Mauer korrespondiert ihre Zerstörbarkeit wie der Zerstörung der Bücher ihre stete potentielle Wiederherstellung. Was sich verzeitlicht deuten lässt und ideologischen Semantiken anheimfällt, hebt sich verräumlicht – auf beiden Seiten ein und derselben Medaille – auf. Es geht nicht um »muralla« einerseits und »libros« andererseits, es geht ums ›y‹; es geht also nicht um semantische Besetzungen, es geht um ein Prinzip. La muralla tenaz que en este momento, y en todos, proyecta sobre tierras que no veré, su sistema de sombras, es la sombra de un César que ordenó que la más reverente de las naciones quemara su pasado; es verosímil que la idea nos toque de por sí, fuera de las conjeturas que permite. (Su virtud puede estar en la oposición de construir y destruir, en enorme escala.) Generalizando el caso anterior, podríamos inferir que todas las formas tienen su virtud en sí mismas y no en un »contenido« conjetural. Esto concordará con la tesis de Benedetto Croce; ya Pater, en 1877, afirmó que todas las artes aspiran a la condición de la música, que no es otra cosa que forma. La música, los estados de felicidad, la mitología, las caras trabajadas por el tiempo, ciertos crepúsculos y ciertos lugares, quieren decirnos algo, o algo dijeron que no hubiéramos debido perder, o están 3

J.L. Borges: »La muralla y los libros«, S. 133 (›Vielleicht hat ja Shih Huang Ti das Reich gerade deshalb mit einer Mauer umgeben, weil er wusste, dass es zerstörbar ist, und die Bücher deswegen zerstört, weil ihm bewusst war, dass es heilige Bücher sind oder zumindest Bücher, die lehren, was das gesamte Universum oder auch das Bewusstsein jedes einzelnen auch lehren. Vielleicht sind ja die Verbrennung der Bibliotheken und die Errichtung der Mauer Handlungen, die sich auf geheime Weise aufheben.‹) 218

IMAGINÄRE KARTEN

por decir algo; esta inminencia de una revelación, que no se produce, es, quizá, el hecho estético.4

Dieses Prinzip geht nicht auf in irgendeiner benennbaren Bedeutung; es ist nicht hermeneutisch greifbar, sondern vermittelt sich fast wie von selbst (»que la idea nos toque de por sí«): unmittelbar, direkt, anhermeneutisch. Dies ist der Moment asemantischer Plötzlichkeit, Schockerfahrung, Illusion einer Schau auf den Grund der Dinge; es ist der Moment einer differentiellen Epiphanie:5 unmittelbare Ahnung eines Wesens, eines ›Dings-an-sich‹, einer »virtud« oder »Form« (»todas las formas tienen su virtud en sí mismas y no en un ›contenido‹ conjetural«), ohne dass sich dies erfüllt (»inminencia de una revelación, que no se produce«).

2 . S p r a c he/ ›F o r m ‹/ Ä s t he t i k Dies bringt mich zu Saussure. Denn auch Saussure benutzt den Begriff der »Form«, und er benutzt ihn in verblüffend ähnlicher Weise wie Borges. In den Gemeinplätzen der Wissenschaftszunft gilt Saussure weithin als Ahnherr eines undifferenziert-unheilbringenden Binarismus, aber schon einem etwas genaueren Blick auf sein Zeichenkonzept hält dieses 4

5

Ebd., Hervorh. J.L. Borges (›Die feste Mauer, die in diesem Augenblick, wie in jedem Augenblick, ihr Schattensystem auf Länder wirft, die ich niemals sehen werde, ist der Schatten eines Cäsar, der angeordnet hat, dass die ehrerbietigste aller Nationen ihre Vergangenheit verbrenne; wahrscheinlich berührt uns diese Vorstellung an sich schon, jenseits aller Spekulationen, zu denen sie einlädt. (Möglicherweise liegt ihre Besonderheit im Gegensatz von Aufbauen und Zerstören, in ungeheurem Ausmaß.) Hieraus ließe sich ganz allgemein der Schluss ziehen, dass grundsätzlich alle Formen ihre Besonderheit in sich selbst tragen und nicht in irgendeinem spekulativen ›Inhalt‹. Dies stünde im Einklang mit der These Benedetto Croces; schon Pater hat 1877 die Ansicht vertreten, dass die Künste allesamt nach dem Zustand der Musik streben, welche nichts anderes sei als Form. Musik, Glückszustände, Mythen, von der Zeit gezeichnete Gesichter, bestimmte Sonnenuntergänge und bestimmte Orte wollen uns etwas sagen oder haben uns etwas gesagt, was wir nicht hätten vergessen sollen, oder sind dabei, uns etwas zu sagen; dieses unmittelbare Bevorstehen einer Offenbarung, zu der es nie kommt, ist vielleicht das Ästhetische.‹) Siehe Rainer Warning: »Lektüre eines Textspiels. Jacques Réda: Un Passage«, in: Andreas Mahler/Wolfram Nitsch (Hg.): Rédas Paris. Topographien eines späten Flaneurs, Passau: Stutz 2001, S. 149-179; von Warning ist derzeit hierzu eine größere, unter dem Leitbegriff der ›Heterotopie‹ stehende Arbeit in Vorbereitung. 219

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Vorurteil kaum stand. Saussure fasst Sprache bekanntlich als in Lautmaterial organisierte Gedanken, d.h. er geht aus von zwei indistinkten Ebenen, einer materiell lautlichen und einer ideell gedanklichen, und behauptet, dass beide erst diskriminatorischen Wert (»valeur«) gewinnen durch ein Drittes, ein »tertium«, durch eine Stanzung, welche zeitgleich erfolgt durch beide Ebenen hindurch. Saussures Zeichenkonzept ist also ternär: Die beiden Nebelwolken (»nébuleuses«) sprachlichen Tuns gewinnen kommunikable Klarheit erst durch ein von außen kommendes, willkürliches Gliederungsraster. Psychologiquement, abstraction faite de son expression par les mots, notre pensée n’est qu’une masse amorphe et indistincte. Philosophes et linguistes se sont toujours accordés à reconnaître que, sans le secours des signes, nous serions incapables de distinguer deux idées d’une façon claire et constante. Prise en ellemême, la pensée est comme une nébuleuse où rien n’est nécessairement délimité. Il n’y a pas d’idées préétablies, et rien n’est distinct avant l’apparition de la langue. [...] La substance phonique n’est pas plus fixe ni plus rigide; ce n’est pas un moule dont la pensée doive nécessairement épouser les formes, mais une matière plastique qui se divise à son tour en parties distinctes pour fournir les signifiants dont la pensée a besoin. Nous pouvons donc représenter le fait linguistique dans son ensemble, c’est-à-dire la langue, comme une série de subdivisions contiguës dessinées à la fois sur le plan indéfini des idées confuses (A) et sur celui non moins indéterminé des sons (B) [...].6

6

Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale (1916), hg. von Tullio de Mauro, Paris: Payot 1985, S. 155-156. ›Psychologisch betrachtet ist unser Denken, wenn wir von seinem Ausdruck durch Worte absehen, nur eine gestaltlose und unbestimmte Masse. Philosophen und Sprachforscher waren immer darüber einig, dass ohne die Hilfe der Zeichen wir außerstande wären, zwei Vorstellungen dauernd und klar auseinander zu halten. Das Denken, für sich allein genommen, ist wie eine Nebenwolke, in der nichts notwendigerweise begrenzt ist. Es gibt keine von vornherein feststehenden Vorstellungen, und nichts ist bestimmt, ehe die Sprache in Erscheinung tritt. [...] Die lautliche Masse ist ebensowenig etwas fest Abgegrenztes und klar Bestimmtes; sie ist nicht eine Hohlform, in die sich das Denken einschmiegt, sondern ein plastischer Stoff, der seinerseits in gesonderte Teile zerlegt wird, um Bezeichnungen zu liefern, welche das Denken nötig hat. Wir können also die Sprache in ihrer Gesamtheit darstellen als eine Reihe aneinander grenzender Unterabteilungen, die gleichzeitig auf dem unbestimmten Feld der vagen Vorstellung (A) und auf dem ebenso unbestimmten Gebiet der Laute (B) eingezeichnet sind [...]‹; Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (1931), übers. von Herman Lommel, 2. Aufl. Berlin: de Gruyter 1967, S. 133. 220

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Das Faktum Sprachlichkeit verdankt sich einer gleichursprünglichen Einteilung beider Ebenen: nicht einer nachträglichen Zuordnung willkürlicher Signifikanten zu bereits existierenden Gedanken noch einer nachträglichen Zuordnung von Signifikaten zu bereits existierenden Lautschablonen, sondern einem simultanen Schnitt. Le rôle caractéristique de la langue vis-à-vis de la pensée n’est pas de créer un moyen phonique matériel pour l’expression des idées, mais de servir d’intermédiaire entre la pensée et le son, dans des conditions telles que leur union aboutit nécessairement à des délimitations réciproques d’unités. La pensée, chaotique de sa nature, est forcée de se préciser en se décomposant. Il n’y a donc ni matérialisation des pensées, ni spiritualisation des sons, mais il s’agit de ce fait en quelque sorte mystérieux, que la »pensée-son« implique des divisions et que la langue élabore ses unités en se constituant entre deux masses amorphes.7

Sprache fungiert also als Mittlerin (»intermédiaire«) zwischen zwei ohne sie gestaltlos bleibenden Massen. Saussure veranschaulicht dies ein weiteres Mal mit dem Bild vom Blatt Papier: La langue est encore comparable à une feuille de papier: la pensée est le recto et le son le verso; on ne peut découper le recto sans découper en même temps le verso; de même dans la langue, on ne saurait isoler ni le son de la pensée, ni la pensée du son; on n’y arriverait que par une abstraction dont le résultat serait de faire de la psychologie pure ou de la phonologie pure.8

7

8

Ebd., S. 156. ›Die Sprache hat also dem Denken gegenüber nicht die Rolle, vermittelst der Laute ein materielles Mittel zum Ausdruck der Gedanken zu schaffen, sondern als Verbindungsglied zwischen dem Denken und dem Laut zu dienen, dergestalt, dass deren Verbindung notwendigerweise zu einander entsprechenden Abgrenzungen von Einheiten führt. Das Denken. das seiner Natur nach chaotisch ist, wird gezwungen, durch Gliederung sich zu präzisieren; es findet also weder eine Verstofflichung der Gedanken noch eine Vergeistigung der Laute statt, sondern es handelt sich um die einigermaßen mysteriöse Tatsache, dass der »Laut-Gedanke« Einteilungen mit sich bringt, und die Sprache ihre Einheiten herausarbeitet, indem sie sich zwischen zwei gestaltlosen Massen bildet‹; ebd., S. 133-134. Ebd., S. 157. ›Die Sprache ist ferner vergleichbar mit einem Blatt Papier: das Denken ist die Vorderseite und der Laut die Rückseite; man kann die Vorderseite nicht zerschneiden, ohne zugleich die Rückseite zu zerschneiden; ebenso könnte man in der Sprache weder den Laut vom Gedanken noch den Gedanken vom Laut trennen; oder es gelänge wenigstens nur durch eine Abstraktion, die dazu führte, entweder reine Psychologie oder reine Phonetik zu treiben‹; ebd., S. 134. 221

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Dies heißt, jede Arbeit an der Sprache beschäftigt sich nicht allein mit zwei Substanzen, sondern vor allem mit der diese für sich amorphen Substanzen verbindenden »Form«, der Stanzung, mit der formgebenden Kraft, welche sich äußert nicht im sprachlichen Resultat, sondern im sprachschöpfenden, beziehungsherstellenden Akt.9 Die sprachliche Kombination von (oder besser zu) Signifikant und Signifikat ist also selbst nicht substantiell, sondern »Form«: »cette combinaison produit une forme, non une substance.«10 Sprache verdankt sich demnach einer erweckenden, belebenden Relation zwischen zwei amorphen Substanzen, und diese Relation ist – wie das Bild vom Blatt Papier verdeutlicht – radikal invers, insofern zwischen den Substanzen eine Asymptote liegt, die die gleichzeitige Teilhabe an beiden Bereichen logisch ausschließt. Die Struktur der Sprache ist paradoxal.11 Genau dies allerdings hat sich der Sprachbenutzer in der Regel zu verdecken.12 Damit Sprache gemeinhin funktionieren kann, werden die Ebenen verzeitlicht und hierarchisiert: zumeist in der Verso-Recto-Richtung (von B nach A) zur Dominantsetzung von ›Sinn‹, gelegentlich umgekehrt wie in Christian Morgensterns Ästhetischem Wiesel, das auf dem »Kiesel« sitzt nur »um des Reimes

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Zur genealogischen Rückführbarkeit Saussureschen Denkens auf die Sprachtheorie Humboldts und, weiter, auf diejenige Herders siehe, in aller gebotenen Kürze, Robert H. Robins: A Short History of Linguistics (1967), 3. Aufl. London: Longman 1990, S. 218-222 und entsprechend S. 192-196 und S. 166-170. 10 F. de Saussure: Cours de linguistique générale, S. 157 (Hervorh. F.S.); »diese Verbindung schafft eine Form, keine Substanz«; (Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 134.) 11 Dies verdankt sich der Struktur der sprachermöglichenden kognitiven Matrix als der einer inversen Vektorialität; ich habe versucht, dies näher auszuführen in »Semiosphäre und kognitive Matrix. Anthropologische Thesen«, in: Jörg Dünne/Hermann Doetsch/Roger Lüdeke (Hg.): Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medienhistorischer Perspektive, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 57-69. 12 Zur anthropologischen Notwendigkeit von Verdeckungen siehe Niklas Luhmann: »Soziologische Aufklärung«, in: N.L.: Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Bd. 1, 4. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag 1974, S. 66-91, dort S. 69, sowie ausführlicher Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, 3 Bde. (1980-89), Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, v.a. Bd. 1, S. 63-71, und Die Kunst der Gesellschaft (1995), 3. Aufl. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 136-148. Vgl. auch Anselm Haverkamp: Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002. 222

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willen«,13 zur Freisetzung von Material. Wo aber die Verdeckung bricht, wird Sprache, Form, Stanzung selbst erahnbar. Ist ersteres diskursiv, funktional, ›thetisch‹, wirkt letzteres a-diskursiv, dysfunktional, (und auch im Borges’schen Sinne der unmittelbar bevorstehenden Enthüllung, welche gleichwohl nicht statthat) ›ästhetisch‹.14

3 . I m a g i nä r e K a r t e n/ P er fo r m a t i v e To p o g r a p hi e Ich will versuchen dies umzusetzen auf den Raum.15 Schon Roland Barthes sprach von der Stadt als einer Sprache.16 Semiologisch lässt sich dies teilen in Territorium und Karte: in die gedankliche Vorstellung eines spezifischen Raums und dessen materielle Repräsentation mit graphischen Zeichen auf Papier. Und auch hier gilt das Prinzip der Gleichursprünglichkeit: Es gibt kein Territorium ohne Karte, aber zugleich auch keine Karte ohne Territorium; beides zugleich ist Effekt einer simultanen Stanzung.17 Die Karte bezeichnet also etwas, was sie eigentlich erst herstellt, während das bezeichnete, von ihr vermeintlich dargestellte Territorium so tut, als habe es vor jeder Karte existiert. Je nach Verzeitlichungsrichtung initiiert dies ein Spiel von Nachahmung oder Symbolisierung.18 In Verso-Recto-Richtung entsteht das nachahmende Spiel der Mimesis: 13 Christian Morgenstern: Galgenlieder/Der Gingganz, München: dtv 1975, S. 37. 14 Rainer Warning: »Poetische Konterdiskursivität. Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault«, in: R.W., Die Phantasie der Realisten, München: Fink 1999, S. 313-345; zum Begriff des ›Thetischen‹ siehe Julia Kristeva: La révolution du langage poétique. L’avant-garde à la fin du XIXe siècle: Lautréamont et Mallarmé, Paris: Seuil 1974, S. 78. 15 Siehe hierzu nunmehr die umfassende Zusammenstellung bei Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006. 16 »La cité est un discours, et ce discours est véritablement un langage«; Roland Barthes: »Sémiologie et urbanisme« (1967), in: R.B., L’aventure sémiologique, Paris: Seuil 1985, S. 261-271, das Zitat S. 265. 17 Siehe Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 426-480; Iser nimmt dort Bezug auf Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, übers. von Hans Günter Holl, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, S. 241-261, v.a. S. 245. 18 W. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 430-442; dort auch die Begriffsvariante von ›Nachahmung‹ und Vorahmung‹. 223

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Wir lesen die Karte, als bilde sie Wirklichkeit ab, und finden so verlässlich Orientierung; in Recto-Verso-Richtung ergibt sich das ›vorahmende‹ Spiel der Performanz: Die Karte schafft die Wirklichkeit, und wir tun so, als glaubten wir der eben erst von ihr hergestellten Realität.19 Gleiches gilt vom topographischen Text. Jeder Stadttext ist eine Karte, und jede Textstadt Territorium.20 Mimetisch tut ein Stadttext so, als bilde er vorgängige ›reale‹ Städte ab, während er in Wirklichkeit Textstädte herstellt, deren Differenz zur Realität wir uns verdecken, um unsere Orientierung nicht zu verlieren: In mimetischem Gebrauch erscheint ein solcher Text wie eine reale Karte, die wir benutzen, als stelle sie ein reales oder fiktives Territorium dar. Performativ hingegen macht ein Stadttext eine Stadt, stellt sie poetisch (»poein«) her, gibt ihr »Form«: Er ist imaginäre Karte, betreibt aktive Stadterschreibung, ist im emphatischen Sinn performative Topographie.21 Dies gilt für Borges’ Buenos Aires; es gilt gleichermaßen für Rédas Paris. Beiden geht es nicht um die Herstellung einer Darstellung, eines darstellenden Resultats, eines Sowar-es oder So-ist-es, sondern um die Herstellung einer Vorstellung, der Vorstellung einer Vorstellbarkeit überhaupt, um beständigen Prozess. Ihre Topographien sind supplementär:22 tastende Erschreibungen eines Unverfügbaren, tentative Formgebungen, Stanzungsversuche, De/Rekonstruktionen zur herstellenden Erahnung einer epiphanischen Enthüllung

19 Zum Begriffspaar von ›Mimesis‹ und ›Performanz‹ vgl. ebd., S. 481-515. 20 Zur Begrifflichkeit siehe Andreas Mahler: »Stadttexte – Textstädte. Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution«, in: A.M. (Hg.): StadtBilder. Allegorie – Mimesis – Imagination, Heidelberg: Winter 1999, S. 11-36. 21 Vgl. hierzu Hermann Doetsch: »Baudelaires Pariser Topographien (am Beispiel von ›Les Veuves‹)«, in: Andreas Mahler (Hg.): Stadt-Bilder, S. 197-228; ebenso Robert Stockhammer: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur, München: Fink 2007, v.a. S. 159-164, sowie R. Stockhammer (Hg.): TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München: Fink 2006. Zu imaginären Karten als topographischen Skizzen für den Entwurf fiktiver Territorien siehe auch Hilde Strobl: »Die Planung des Raumes in der Zeichnung des Dichters«, in: Winfried Nerdinger u.a. (Hg.): Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur, Regensburg: Pustet 2006, S. 146-159. 22 Vgl. Andreas Mahler: »Supplementäre Topographien. Rédas Kopfbahnhöfe als Spielräume des Imaginären«, in: A.M./Wofram Nitsch (Hg.): Rédas Paris, Topographien eines späten Flaneurs, Passau: Stutz 2001 S. 109-131, zum Begriff S. 115. 224

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que no se produce.23 Borges’ Buenos Aires-Texte wie Jacques Rédas Paris-Texte sind imaginäre Karten zur spielerischen Produktion eines stets neuen, stets überraschenden, stets kurz vor der Enthüllung stehenden ›ästhetischen‹ Text-Buenos Aires/Text-Paris.

4 . F e r v o r de B ue n o s A i r e s 1922 kommt Borges 22-jährig nach Buenos Aires zurück. In den acht Jahren seiner Abwesenheit im avantgardegeprägten Europa hat sich die Stadt grundlegend gewandelt. Sie ist Metropole geworden, eine Metropole, die es dem Rückkehrer in die ›Heimat‹ neu zu vermessen gilt. Borges nimmt sich dem an. In rascher Folge entstehen seine ersten Gedichtsammlungen: Fervor de Buenos Aires (1923), Luna de enfrente (1925), Cuaderno San Martín (1929). Sie kreisen allesamt um Buenos Aires,24 um seine Straßen, seine Viertel, die ihm auch und gerade in der Fremde ›Fleisch und Blut‹ geworden, Inbegriff eines radikal aneignenden, verzehrenden, tangogleichen »fervor«.25 Rückblickend wird Borges behaupten, in seinem Schreiben über den ersten Band nie hinausgekommen zu sein, im Laufe seines Lebens nichts anderes getan zu haben, als dieses

23 Hierin liegt ihre A- bzw. Konterdiskursivität: im beständigen Aufbau und Niederreißen alteritärer Möglichkeit, im Zitat gesellschaftlicher Instituierung und ihrer Verwerfung, im Entwurf des Anderen und der Bewussthaltung seiner Inexistenz; siehe R. Warning: »Poetische Konterdiskursivität«, S. 317-322. 24 Buenos Aires-Texte durchziehen ohne große Unterbrechungen sein gesamtes lyrisches Œuvre; benutzte Ausgabe: Jorge Luis Borges: Obra poética, 1923/1977, 7. Aufl. Madrid, Barcelona: Alianza, Emecé 1995. 25 Zum ›Fleisch und Blut‹ siehe das nicht in Obra poética aufscheinende Auftaktgedicht Las calles in der zweisprachigen kommentierten deutschen Neuausgabe der frühen Gedichte: Jorge Luis Borges: Der Gedichte erster Teil, übers. von Gisbert Haefs/Karl August Horst, München: Hanser 2006 (Gesammelte Werke 7), S. 10-11. (»Las calles de Buenos Aires/ ya son mi entraña«: ›Die Straßen von Buenos Aires/ sind mir längst Fleisch und Blut‹); zur Verbindung zum Tango vgl. Jorge Luis Borges: Historia del tango (1930), in: J.L.B., Prosa completa, Bd. 1, S. 87-98, sowie Dieter Reichardt (Hg.): Tango. Verweigerung und Trauer – Texte und Kontexte, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984. 225

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eine Buch stets neu zu schreiben: »Para mí, Fervor de Buenos Aires, prefigura todo lo que haría despues.«26 Worum es in den Texten geht, ist die ertastende, hoffnungsvoll skeptische Erschreibung eines entzogenen Signifikats: des Buenos Aireshaften seiner Stadterfahrung.27 Der Namenssignifikant ist perfide da; die Suche forscht nach dem unverfügbaren, gleichwohl geahnten Pendant der suggerierten Stanzung. Dies folgt, wie der späte Prolog zum Lyrischen Werk aus dem Jahr 1979 bezeugt, der Erkenntnistheorie George Berkeleys: Este prólogo podría denominarse la estética de Berkeley, no porque la haya profesado el metafísico irlandés – una de las personas más queribles que en la memoria de los hombres perduran –, sino porque aplica a las letras el argumento que éste aplicó a la realidad. El sabor de la manzana (declara Berkeley) está en el contacto de la fruta con el paladar, no en la fruta misma; análogamente (diría yo) la poesía está en el comercio del poema con el lector, no en la serie de símbolos que registran las páginas de un libro. Lo esencial es el hecho estético, el thrill, la modificación física que suscita cada lectura.28

Genau diese »manzana«, diesen Berkeleyschen Apfel,29 den ›Kontakt‹ zwischen Materialität und Vorstellung, ›Kommerz‹ zwischen buchstäbli-

26 Jorge Luis Borges: »Fervor de Buenos Aires« (1923), in: J.L.B., Obra poética, 1923/1977, S. 23-68, S. 25. (›Aus meiner Sicht nimmt Fervor de Buenos Aires alles vorweg, was ich später einmal machen sollte.‹) 27 Zum Verhältnis Borges’ zur Skepsis siehe Susanne Zepp: Jorge Luis Borges und die Skepsis, Stuttgart: Steiner 2003 (Text und Kontext 20); zur Genealogie von Skepsis und ›Literatur‹ vgl. die umfangreiche Studie von Verena Olejniczak Lobsien: Skeptische Phantasie. Eine andere Geschichte der frühneuzeitlichen Literatur, München: Fink 1999. 28 J.L. Borges: Obra poética, S. 21. (›Dieses Vorwort ließe sich als Berkeleysche Ästhetik bezeichnen; nicht etwa, weil sie der irische Metaphysiker – einer der liebenswertesten Menschen im kollektiven menschlichen Gedächtnis – so entworfen hätte, sondern weil hier auf die Sprache das gleiche Argument angewandt wird, das dieser auf die Wirklichkeit bezogen hat. Der Geschmack des Apfels, so Berkeley, liegt im Kontakt der Frucht mit dem Gaumen, nicht in der Frucht selbst; ganz analog, so würde ich meinen, liegt die Poesie im Austausch des Gedichts mit dem Leser, und nicht in der Kette von Zeichen, die sich auf den Seiten eines Buchs befindet. Wesentlich ist das ästhetische Faktum, der thrill, die körperliche Veränderung, die aus jeder Lektüre hervorgeht.‹) 29 Zum Grundsatz »esse is percipi« siehe George Berkeley: The Principles of Human Knowledge (1710/34), hg. von T.E. Jessop, London: Nelson 1945, S. 28 und insbes. S. 31-39 (Sec. § 3 und 8-20), zum Apfel S. 27: »Thus, for 226

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chem Text und amorpher Gedankenwelt, konstruierter Karte und imaginärem Territorium, genau dieses ästhetische »Faktum« (»hecho estético«) erahnt der Macher Borges, der »poeta«, der »hacedor«,30 in den tristen müden Straßen seiner Heimat. Dies zeigt als Initiation das Gedicht Arrabal:31 El arrabal es el reflejo de nuestro tedio. Mis pasos claudicaron cuando iban a pisar el horizonte y quedé entre las casas, cuadriculadas en manzanas diferentes e iguales como si fueran todas ellas monótonos recuerdos repetidos de una sola manzana. El pastito precario, desesperadamente esperanzado, salpicaba las piedras de la calle y divisé en la hondura los naipes de colores del poniente y sentí Buenos Aires. Esta ciudad que yo creí mi pasado es mi porvenir, mi presente; los años que he vivido en Europa son ilusorios, yo estaba siempre (y estaré) en Buenos Aires.

Der Text mischt die Struktur des barocken Emblems mit der Tradition des romantisch-revelatorischen Beschreibungsgedichts.32 Der erste Satz example, a certain colour, taste, smell, figure and consistence having been observ’d to go together, are accounted one distinct thing, signified by the name apple.« (Sec. § 1) 30 So der Titel einer späteren Gedichtsammlung aus dem Jahr 1960; siehe J. L. Borges: Obra poética, S. 115-62. 31 J.L. Borges: »Fervor de Buenos Aires«, S. 45. (›Vorstadt.// Die Vorstadt ist das Spiegelbild unseres Überdrusses./ Meine Schritte zögerten,/ als sie den Horizont betreten sollten,/ und ich blieb zwischen den Häusern,/ geviertelt zu Blocks,/ verschieden und gleich,/ als ob sie alle/ eintönig wiederholte Erinnerungen wären/ an einen einzigen Block./ Die bedrohte Wiese,/ verzweifelt hoffnungsvoll,/ durchsetzte die Steine der Straße,/ und ich sah in der Tiefe/ die bunten Spielkarten des Sonnenuntergangs/ und empfand Buenos Aires./ Diese Stadt, die ich für meine Vergangenheit hielt,/ ist meine Zukunft, meine Gegenwart;/ die Jahre, die ich in Europa lebte, sind illusorisch,/ immer war ich (und werde sein) in Buenos Aires‹; Der Gedichte erster Teil, S. 41) 227

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ist eine sentenzenhafte ›inscriptio‹ (1); die beiden Folgesätze (2-15) schildern, wie eine ›pictura‹, ein Stadterlebnis der Vergangenheit als Begegnung des Sprechers mit der ›Apfeligkeit‹ des Apfels der differentiellidentitären Vorstadthäuser (»y quedé entre las casas, cuadriculadas en manzanas/ diferentes e iguales/ como si fueran todas ellas/ monótonos recuerdos repetidos/ de una sola manzana«); diese Begegnung führt zu einer Epiphanie, die Spurensuche zu einem Spüren, zum Spüren der Ahnung dessen, was Buenos Aires in nicht-materieller Hinsicht bestimmt, wie die bewusste Kursivierung am Ende der Beschreibung bezeugt: »y sentí Buenos Aires«; schließlich bewertet der Sprecher in einer kommentierenden ›subscriptio‹ (16-19) die bereits wieder entschwundene Erfahrung als Aufgabe der ewigen Suche und des Schreibens: »Esta ciudad que yo creí mi pasado/ es mi porvenir, mi presente;/ los años que he vivido en Europa son ilusorios,/ yo estaba siempre (y estaré) en Buenos Aires«. Solches Erschreiben ästhetischer Stadterfahrung thematisiert programmatisch ›metalyrisch‹ das zweite Gedicht der Sammlung, El Sur:33 32 Zur Struktur des Emblems siehe Arthur Henkel/Albrecht Schöne (Hg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des 16. und 17. Jahrhunderts (1967), Taschenausgabe, Stuttgart, Weimar: Metzler 1996; zu Borges’ Verhältnis zum Barock vgl. sein Vorwort zu: Historia universal de la infamia (1935), in: J.L.B., Prosa completa, Bd. 1, S. 239-309, S. 243-244; zum Wiederaufleben des Barock in Lateinamerika Severo Sarduy: »Barroco« (1974), in: S.S., Obra completa, hg. von Gustavo Guerrero/François Wahl, 2 Bde. Madrid: ALLCA XX 1999, Bd. 2, S. 1195-1261; zum Beschreibungsgedicht Klaus Dirscherl: Zur Typologie der poetischen Sprechweisen bei Baudelaire. Formen des Besprechens und Beschreibens in den ›Fleurs du Mal‹, München: Fink 1975, S. 117-164. 33 J.L. Borges: »Fervor de Buenos Aires«, S. 31 (›Südstadt.// Aus einem deiner Patios betrachtet zu haben/ die uralten Sterne,/ von der Bank des/ Schattens betrachtet zu haben/ diese verstreuten Lichter,/ die meine Unkenntnis nicht zu benennen gelernt hat,/ noch, sie in Konstellationen zu ordnen,/ empfunden zu haben den Wasserkreis/ in der geheimen Zisterne,/ den Duft von Jasmin und von Geißblatt,/ die Stille des schlummernden Vogels,/ den Bogen des Eingangs, die Feuchtigkeit/ – diese Dinge sind, vielleicht, das Gedicht‹; Der Gedichte erster Teil, S. 15); aufgrund der östlichen Begrenzung durch den Río de la Plata dehnen sich die Vorstädte von Buenos Aires nach Norden, Westen und Süden aus, das Gedicht selbst scheint erst spät (1969) in die Sammlung gekommen (vgl. zu beidem ebd., S. 308-309). Zum Begriff des ›Metalyrischen‹ siehe Eva MüllerZettelmann: Lyrik und Metalyrik. Theorie einer Gattung und ihrer Selbstbespiegelung anhand von Beispielen der englisch- und deutschsprachigen Dichtkunst, Heidelberg: Winter 2000. 228

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Desde uno de tus patios haber mirado las antiguas estrellas, desde el banco de sombra haber mirado esas luces dispersas que mi ignorancia no ha aprendido a nombrar ni a ordenar en constelaciones, haber sentido el círculo del agua en el secreto aljibe, el olor del jazmín y la madreselva, el silencio del pájaro dormido, el arco del zaguán, la humedad – esas cosas, acaso, son el poema.

Der Text zeigt einen implizit bleibenden Sprecher im Gespräch mit der geliebten Stadt. Die Konstitutionsisotopie erweist diese als alltägliche, gewöhnliche: aus Innenhöfen (»patios«), Schattenbänken (»banco de sombra«), Zisternen (»aljibe«), Häuserfluren (»zaguán«). Über diese lagern sich Spezifikationen synästhetischer Erfahrung: des Sehens (»haber mirado«), Hörens, Riechens, Fühlens (»haber sentido«).34 Sie sammeln Dinge (»cosas«), Material von Buenos Aires, und stellen sie zusammen zu etwas Neuem, Entzogenem, das dem Sprecher, gleich dem innenhofbegrenzten Ausschnitt aus dem Sternenhimmel, wohlvertraut und unbegreiflich ist zugleich: zu einer Karte des Unbenennbaren, Unklassifizierbaren (»que mi ignorancia no ha aprendido a nombrar/ ni a ordenar en constelaciones«), der im Verlauf des Textes ein Territorium zuwächst, dessen Ahnung es dort, aber eben nur dort, gibt: als Resultat einer Produktion, der Erschreibung eines Orts (oder besser Raums35), als supplementäre Topographie: »esas cosas, acaso, son el poema.«

5 . F e r v e ur de B o r g e s Auf den Spuren Borges’ – des in seiner Sicht unleugbaren Beherrschers eines »espace durable [...] sur les mouvantes cartes de la géographie litté-

34 Zum textuellen Zusammenhang von Konstitutionsisotopie und Spezifikationsisotopien im Aufbau von Stadttexten siehe A. Mahler: »Stadttexte – Textstädte.«, S. 13-23. 35 Zur Differenzierung zwischen abstraktem semantischem Ort (»lieu«) und individuell erlebtem pragmatischem Raum (»espace«) siehe die Überlegungen bei Michel de Certeau: L’invention du quotidien I. Arts de faire, Paris: Gallimard 1990, S. 137-191, v.a. S. 173. 229

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raire contemporaine«36 – schreibt auch der französische Literat und Paris-Poet Jacques Réda. In einem unmittelbar der Sammlung Fervor de Buenos Aires gewidmeten Essay mit dem bezeichnenden Titel A propos d’une ferveur – der gesamte Band versteht sich als »hommage à la ferveur exemplaire que Borges manifesta durant toute sa vie pour la littérature«37 – beschreibt Réda sein eigenes endloses Schreibprojekt folgendermaßen: Durant de nombreuses années, j’ai arpenté les rues de Paris, puis ses faubourgs et ses banlieues. Au cours de ces trajets, mes dispositions n’étaient pas exactement celles de la flânerie, ni, l’on s’en doute, celles d’un explorateur. Car la flânerie est plutôt désintéressée, et l’exploration, au contraire, suppose un but et la plus extrême attention. J’étais bien cependant à la recherche de quelque chose, dont ces rues indéfiniment suivies ne me livraient de temps à autre que des signaux. Mais pour les percevoir je devais, autant que possible, affecter cette humeur rêveuse et détachée qui gouverne vaguement la promenade. Alors seulement les signaux s’enhardissent et se laissent surprendre. J’errais dans une sorte d’état second, participant à la fois de l’hypnose et de l’éveil du chasseur. A moins d’évoquer je ne sais quelle indéfinissable quête métaphysique – et d’ailleurs sans rejeter en bloc cet aspect de pareils cheminements – il me semble que le véritable objet de la recherche n’était autre que l’état où elle me plongeait.38 36 Das Zitat entstammt einem einer Falschmeldung aufsitzenden Nachruf aus den späten Fünfziger Jahren, der zusammen mit anderen, über mehrere Jahrzehnte verstreuten Aufsätzen zu Borges wiederabgedruckt ist in Jacques Réda: »Commençant par la fin« (1957), in: J.R.: Ferveur de Borges, Montpellier: Fata Morgana 1987, S. 13-21, das Zitat selbst S. 15. 37 Jacques Réda: »Note liminaire« (1987), in: J.R.: Ferveur de Borges, S. 912, S. 11 (»Hommage an die beispielhafte Inbrunst, die Borges zeit seines Lebens gegenüber der Literatur an den Tag legte«). 38 Jacques Réda: »A propos d’une ferveur« (1986), in: J.R.: Ferveur de Borges, S. 89-98, S. 91-92. (›Über zahlreiche Jahre hinweg habe ich die Straßen von Paris durchmessen, dann seine Vorstädte und Vororte. In diesen Streifzügen war ich weder direkt aufs Flanieren aus noch, wie man ahnt, auf die Entdeckung. Denn das Flanieren ist eher interesselos, und die Entdeckung setzt im Gegenzug ein Ziel voraus, und die gespannteste Erwartung. Gleichwohl war ich auf der Suche nach etwas, von dem mir die unentwegt verfolgten Straßen hin und wieder lediglich Signale lieferten. Doch um ihrer gewahr zu werden, musste ich soweit wie möglich mich jener traumverlorenen und losgelösten Stimmung hingeben, die auf unbestimmte Weise das Promenieren regiert. Erst dann fassen die Signale den nötigen Mut und lassen sich überraschen. Ich irrte in einer Art sekundärem Zustand umher, hypnotisiert und zugleich von der Wachheit des Jägers beseelt. Ohne irgendeine wer weiß wie undefinierbare metaphysische Suche 230

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Das Projekt ist das eines Spurenlesers und Zeichensuchers; weniger allerdings das einer resultatorientierten Entschlüsselung als das der permanenten Suche: »le véritable objet de la recherche n’était autre que l’état où elle me plongeait«. Die Suche gilt also weniger der allemal illusorisch endgültigen Schau eines gewähnten Anderen denn der wahrnehmungsalerten hoffnungsfrohen Erweckung eines »pressentiment, illusoire sans doute, qu’il existe une autre réalité«.39 Dies ist der gleiche hoffnungsvolle Skeptizismus wie bei Borges.40 Der prinzipale Ort solcher Suche ist die Schrift. Rédas Texte bilden mithin nicht vorgängige Erfahrung mimetisch ab, sondern erschreiben ästhetische Erfahrungen performativ neu; sie erstellen imaginäre Karten, an denen, in denen sich die »signaux« zu erkennen geben, um das gewähnte Zeichenhafte der gesamten Stanzung, des Urbanen ›Form‹, supplementär-illusorisch zu präsentieren. Ich will dies illustrieren an Rédas Prosagedicht Ayant raté mon train je circule aus der Sektion Une petite porte bleue der Sammlung Les Ruines de Paris (1977). Ayant raté mon train je circule autour de Saint-Lazare: rue de Rome, rue de Vienne, rue de Londres, rue d’Amsterdam. Il est huit heures. Après cette aspiration frénétique des foules vers vingt-six voies, largement se réépanouit le pied calme de la Stupeur, se rouvre l’œil de la Grande Tête Vide. Je serais incapable d’affirmer qu’il fait jour encore ou déjà nuit, tant ce quartier demeure imprégné pour moi d’une sorte de transparence, d’éclairement sans rapport avec des étoiles ou le soleil. Un peu la même lueur abstraite que dans un rêve, mais le néant très correct s’y déclare en fermes contours: correction des façades, correction des trottoirs, des cafés balayés sous leurs chaises comme bien satisfaites d’être en piles. En somme un néant coopérateur, attentif à des petits détails comme ces buis ou troènes, que de très amples pans coupés d’immeubles autorisent à friser en triangle dans un jardin. C’est, au coin de la rue de Léningrad et de la rue de Liège, suffisant pour l’ornemental. Tout le restant délimite posément la frange obligatoire où, malgré des velléitiés d’emphase endiguée par beaucoup de froideur, a lieu l’échange entre ce qui de façon palpable se manifeste, et ce qui de manière non moins sensible n’existe pas. Il pourrait n’y avoir rien alors,

heraufbeschwören zu wollen – und ohne im übrigen diesen Aspekt solcher Bewegungen im Raum in Bausch und Bogen zu verwerfen –, scheint mir, dass der wahre Gegenstand der Suche nichts anderes war als der Zustand, in den sie mich versetzte.‹) 39 Jacques Réda: »Commentaire de L’immortel« (1962), in: J.R.: Ferveur de Borges, S. 23-61, S. 40. 40 Réda zitiert den Satz von der »imminence d’une révélation, qui ne se produit pas, [et qui] est peut-être le fait esthétique« aus »La muralla y los libros« mehrfach; so etwa in »Commençant par la fin«, S. 21, und in »Commentaire de L’immortel«, S. 41 (beide Male Hervorh. Jacques Réda). 231

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ce serait tellement plus simple – et surtout sans douleur – mais on vérifie là que de la présence est nécessaire (des maisons, des troènes, moi) pour que ce rien aboutisse correct au comble de sa pure perte. Et sur ce trompe-l’œil séparant deux manques de profondeur, on conçoit bien que le seul halo de plénitude admissible ait été la lampe tabagique et rose de Mallarmé. Rose, dirais-je, oui, tandis qu’une deuxième fois j’abandonne la rue de Rome pour voir en dessous du pont de l’Europe, briller en YX les rails au biseau d’un sonnet de cristal. Et redescendente, rue d’Amsterdam, vers cette brasserie où les gens avalaient debout d’écœurants bols de moules, ma halte favorite autrefois lorsque je ratais déjà les trains, et que pour s’annihiler, pour s’étreindre, deux masses d’obscurité se cherchaient à travers moi, m’amincissant comme une vitre à peine embuée, au Café Fleur.41

41 Jacques Réda: Les Ruines de Paris (1977), Paris: Gallimard 1993, S. 87-88. (Zeilenangaben nach dem dortigen Text); vgl. mittlerweile auch die zweisprachige Ausgabe Die Ruinen von Paris/Les Ruines de Paris, hg. von Wolfram Nitsch, Passau: Stutz 2007, dort S. 108-109 (ich übersetze selbst: ›Ich habe den Zug verpasst und laufe ziellos in der Gegend von SaintLazare umher: rue de Rome, rue de Vienne, rue de Londres, rue d’Amsterdam. Es ist acht Uhr. Nach dem frenetischen Drängen der Massen zu den sechsundzwanzig Gleisen entfaltet sich wieder weithin der geruhsame Schritt der Erstarrung, öffnet sich wieder das Auge des Großen Leeren Kopfs. Ich wäre außerstande zu sagen, ob es noch Tag ist oder schon Nacht, so sehr bleibt dieses Viertel für mich durchdrungen von einer Art Durchsichtigkeit, einem Leuchten, das sich weder den Sternen noch der Sonne verdankt. Ein wenig wie das abstrakte Licht in einem Traum, doch zeigt sich das sehr korrekte Nichts hier in festen Konturen: in der Korrektur der Fassaden, der Korrektur der Bürgersteige, der Cafés, unter deren wie zu ihrer großen Zufriedenheit gestapelten Stühlen gefegt worden ist. Alles in allem ein entgegenkommendes Nichts voller Aufmerksamkeit für kleine Details wie diese Buchsbaum- oder Ligusterhecken, denen weitläufige Häuserfronten gestatten, in Dreiecksform in einem Gärtchen vor sich hin zu wachsen. Das reicht vollkommen, an der Ecke rue de Léningrad, rue de Liège, zur Zierde. Alles Übrige begrenzt mit Bedacht den nötigen Rand, wo trotz von enormer Kälte eingedämmten emphatischen Wallungen der Austausch stattfindet zwischen dem, was sich greifbar zeigt, und dem, was es auf nicht minder fühlbare Weise nicht gibt. Es könnte hier jetzt auch nichts sein, das wäre so viel einfacher – und täte vor allem nicht weh –, doch wird einem gerade hier bewusst, dass Anwesenheit notwendig ist (Häuser, Ligusterhecken, ich), damit ein solches nichts zur korrekten Verausgabung seines reinen Verlusts gelangt. Und vor einem solchen Trompel’œil, welches zwei Mängel an Tiefe scheidet, wird einem schnell begreiflich, dass der einzige zulässige Schein an Fülle die tabaksverqualmte rosa Lampe Mallarmés gewesen ist. Rosa, würde ich sagen, genau, während ich ein zweites Mal die rue de Rome verlasse, um unterhalb des pont de 232

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Die Karte zeigt den Weg des Sprechers. Der Auftakt ist paradoxal. Das Verpassen des Zugs schickt ihn auf die Reise. (Abb. 1) Er bewegt sich nicht linear, nicht flaneurhaft desinteressiert; er zirkuliert.42 Zweimal beschreibt der Text einen Rundgang um die gare Saint-Lazare im quartier de l’Europe: »rue de Rome, rue de Vienne, rue de Londres, rue d’Amsterdam«.43 Der Bahnhof leert sich, Abb. 1 entfunktionalisiert, ›entbahnhoft‹ sich, und in der Schwellensituation der Abenddämmerung entsteht aus der Kollision der Häuserblocks (»manzanas de casas«) mit dem Promeneur das vermeintlich Eigentliche, Berkeleys ›Apfelhaftiges‹ der Stadt: der Eindruck einer ›correction‹, eines Zurechtrückens der Dinge auf ihr wahres Sein. Über die reale Karte l’Europe die abgeschrägten Gleise eines Kristallsonetts in YX-Form funkeln zu sehen. Und wieder runterwärts, rue d’Amsterdam, auf die Brasserie zu, wo man im Stehen erschütternde Schüsseln voller Muscheln verschlang, meinem Lieblingshalt von einst, als ich auch schon den Zug verpasste und als sich, wie um sich aufzuheben, sich zu umarmen, zwei obskure Massen durch mich hindurch suchten und mich dabei verringerten, als wäre ich eine nur ganz klein wenig beschlagene Scheibe, im Café Fleur.‹) Ich nehme im folgenden Gedanken wieder auf aus A. Mahler: »Supplementäre Topographien«, S. 115-119. 42 Zum Begriff des desinteressierten Flaneurs, der »Spielraum braucht und sein Privatisieren nicht missen will«, siehe Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeichen des Hochkapitalismus (1955), Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, das Zitat S. 52; zu einer Geschichte der literarischer Erschreitung von Paris vgl. Éric Hazan: L’invention de Paris. Il n’y a pas de pas perdus, Paris: Seuil 2002. 43 Zur gare Saint-Lazare mit dem quartier de l’Europe als literarisch produktivem Territorium vgl. etwa die große Eingangsdeskription in Émile Zola: La Bête humaine (1890), hg. von Henri Mitterand, Paris: Gallimard 1981, S. 27-29, oder auch Guy de Maupassants in der rue Saint-Lazare angesiedelte Kurzgeschichte »Le signe« (1886), in: G. de M., Œuvres, hg. von Brigitte Monglond, 2 Bde., 4. Aufl. Paris: Bouquins 1996, Bd. 2, S. 930934, S. 931-932, und, nicht zuletzt, Jacques Rédas Bahnhofsportrait »La gare Saint-Lazare« in seinen Châteaux des courants d’air, Paris: Gallimard 1986, S. 112-16; siehe auch É. Hazan: L’invention de Paris, S. 196-200. 233

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schiebt sich eine imaginäre. Rédas Text wird zum Vexiertext:44 über der mimetischen Abbildung eines als gegeben wahrnehmbaren Paris entsteht performativ ein ästhetisches Text-Paris als imminence d’une révélation, qui ne se produit pas. Die Ahnung der Enthüllung verdankt sich einem »néant«, einem positivierenden detailbedachten »néant coopérateur«, welches genau die Illusion des Kontakts, des »comercio«, des Wechselbezugs, »l’échange entre ce qui de façon palpable se manifeste, et ce qui de manière non moins sensible n’existe pas«, zwischen materieller Ebene und Vorstellungswelt, in Gang setzt. Damit beginnt das schwellenspezifische Kippspiel von Konstruktion und Destruktion, das Hin und Her zwischen ahnungsvollem Etwas und gleichwohl gewusstem Nichts, ein Kippspiel, das nicht nur die Illusion einer vervollkommnenden »correction des façades, correction des trottoirs, des cafés balayés« produziert, sondern selbst umgekehrt dort, wo nichts (»rien«) ist, zeigt, »que de la présence est nécessaire (des maisons, des troènes, moi) pour que ce rien aboutisse correct au comble de sa pure perte«.45 So wie also die Materialität (B) zum Schein ihrer Vervollkommnung eines hinzukommenden Nichts (A) bedarf, bedarf das Nichts (A) einer Materialität (B), um zu seiner vollkommenen Verausgabung zu gelangen. Erst beide Seiten der Stanzung – A und B – sind die »Form«.46 Gleichwohl führt dies nicht zum erhofften Zugriff auf das wahre Sein der Dinge47, nicht zur einvernehmlichen Schau ihrer vollkommenen ›Idee‹, Ende einer wie immer auch gearteten ›quête métaphysique‹, zur »plénitude«, sondern bleibt gewusste Sinnestäuschung, bloßer »halo«, ein aus dem Effekt der abendlichen Schwellensituation gespeister ah-

44 Zum Begriff des Vexiertexts als Verfahren unentscheidbarer Überblendung eines mimetischen und eines performativen Lektüreangebots siehe Andreas Mahler: »Sprache – Mimesis – Diskurs. Die Vexiertexte des Parnasse als Paradigma anti-mimetischer Sprachrevolution«, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 116 (2006), S. 34-47; zur mimetischen Verlockung als »un des dangers qui guettent les interprètes de Borges: le mimétisme presque fatal auquel, avec un luxe exagéré de prévenances, il les engage au seuil de ses galeries de reflets«, vgl. J. Réda: »Note liminaire«, S. 12. 45 Zum Hin und Her von Aufbau und Zerstörung, von illusionsbildender Einbettung in Kontexte und illusionsstörender Ausbettung aus Kontexten siehe nochmals R. Warning: »Poetische Konterdiskursivität«, S. 317-322; zur Idee des Kippspiels vgl. W. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 430480. 46 Mit A und B referiere ich nochmals auf Saussure (vgl. Anm. 6). 47 Zur Idee einer ›existence of things‹ in der Konzeptkunst seit den sechziger Jahren vgl. den Beitrag von Volker Pantenburg in diesem Band. 234

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nungsvoller »trompe-l’œil séparant deux manques de profondeur«. Vor diesem Hintergrund wird aber nunmehr begreiflich, dass sich der ersehnte Zugang zur Fülle nicht schon über eine situationsspezifisch hergestellte besondere Schau der Dinge finden wird, sondern über die Imagination der Dichter, intertextuell, über eine sich stets verschiebende, von Dichter zu Dichter wandernde Arbeit am Text:48 »on conçoit bien que le seul halo de plénitude admissible ait été la lampe tabagique et rose de Mallarmé«. Und genau dies geschieht: Von Mallarmé erleuchtet, sieht das Ich beim zweiten Parcours unterhalb des pont de l’Europe »briller en YX les rails au biseau d’un sonnet de cristal«.49 Topos und Text kippen in eins. 50 Was in der »Grande Tête Vide« der gare Saint-Lazare begann, endet im Verlauf des Textes über die Hinzufügung verschiedener Absenzen – einer »lueur abstraite«, einer »sorte de transparence«, einem »éclairement«, dem ›néant‹ einer referenzlosen ›poésie pure‹ – in einer wiederholbaren, hoffnungsvollen Ahnung von Fülle, der Überwindung des »biseau«, des ›pli‹, einer momentanen Zusammenschau der »deux manques de profondeur«, der »deux masses d’obscurité«: der in der performativen Rekreation erhofften Erkenntnis der »Form«.51 48 Zum Verknüpfung des Gedankens der Intertextualität mit dem der Unverfügbarkeit und damit einem Vorschlag zur Erklärung, warum Literatur zu großem Teil aus Literatur entsteht, siehe Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Literatur der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 65-87. 49 Mallarmé lebte im quartier de l’Europe, in seiner dortigen Wohnung fanden auch die legendären ›mercredis‹ statt, regelmäßige Zusammenkünfte einer damaligen Künstler-Bohème. Réda nimmt Bezug auf das sich aus einer komplexen Reimregel konstituierende sogenannte »Sonnet en yx«; vgl. Stéphane Mallarmé: Poésies, hg. von Lloyd James Austin, Paris: Garnier Flammarion 1989 (GF 504), S. 98; zu seinem insbesondere von einem epiphaniehaften Erlebnis einer Erstbegegnung mit Mallarmé in einem Buchladen der rue de Rome geprägten Verhältnis tiefer Bewunderung siehe Jacques Réda: »Le Livre«, in: J.R.: La Sauvette, Lagrasse: Verdier 1995, S. 79-81. 50 Hierin scheint sich Barthes’ pathetische Schlussformel von der Ununterscheidbarkeit von Gedicht und Stadt einzulösen: »Car la ville est un poème [...], mais ce n’est pas un poème classique, un poème bien centré sur un sujet. C’est un poème qui déploie le signifiant, et c’est ce déploiement que finalement la sémiologie de la ville devrait essayer de saisir et de faire chanter.« (R. Barthes: »Sémiologie et urbanisme«, S. 271) 51 Solches beschreibt, nicht zufällig am Paradigma Mallarmé, Foucault als »distance jamais comblée«, Kristeva als »intuition spatiale«, Derrida als »pli«, als »l’entre, l’entre-deux«; die Zitate bei M. Foucault: Les Mots et les choses, S. 317, J. Kristeva: La révolution du langage poétique, S. 44, 235

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6 . N a c h s p ie l i n C hi na Ich kehre abschließend zurück nach China. In einem von ihm selbst als »fantaisie«52 titulierten Essay mit dem Tapeten, Karten, Texte gleichermaßen umschließenden Titel Les papiers peints berichtet der Promeneur Réda von einem Traum. Darin erzählt er eine »histoire chinoise« à la Borges.53 Sie handelt von Territorium und Karte. Ein Herrscher gibt den Befehl zur naturgetreuen Kartierung seines Reichs, zur »construction d’un plan en grandeur nature de l’Empire«. Dies zeitigt ungeahnte Folgen: »De sorte qu’achevé ce travail, et contrairement à la formule qui veut que la carte ne soit pas le territoire, le territoire se confondait avec sa propre carte, point par point.« Karte und Territorium fallen in eins. Dies ist der Albtraum der Realitätsgläubigkeit und der Wunschtraum der Fiktion. Ist das, was wir für Territorium halten, möglicherweise bloße Karte, nichts als »représentation«54, so ist die performative Topographie imaginärer Karten womöglich Zugang zu ungeahnten Territorien, »présentation«, fingierende Realisierung des Auch-Möglichen.55 Genau dies macht Réda hier mit Borges selbst. Denn die Geschichte hat bei diesem keine Referenz.56 Wie Borges textmachend Buenos Aires-Territorien schafft, erschafft Réda ein Borges-Territorium vermittels einer von ihm selbst hergestellten Karte. Hierin spiegelt sich das weltmachende, weltschöpfende, ahnungsvoll erweiternde, supplementäre Verfahren alteritärer Stanzung; es ist das Verfahren des ›Poeten‹.

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Jacques Derrida: La dissémination, Paris: Seuil 1972, S. 282-290 und S. 240 (Hervorh. Jacques Derrida). J. Réda: »Note liminaire«, S. 12. J. Réda: »Les papiers peints« (1984), in: J.R.: Ferveur de Borges, S. 77-87, S. 85, dort auch die Folgezitate. Ebd., S. 86. Zur ternären Beziehung des Realen, Fiktiven, Imaginären siehe W. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 18-24, v.a. S. 20. »Au réveil, je me suis demandé d’où sortait l’histoire que j’avais ›inventée‹ – je me le demande toujours – c’est-à-dire dans quel livre je l’avais lue. Je ne l’ai pas retrouvée dans ceux de Borges, mais on y reconnaîtrait volontiers le motif d’un de ses contes.« (J. Réda: »Les papiers peints«, S. 86) 236

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Abbildung Abb. 1: Ausschnitt aus dem Pariser Stadtplan.

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T R I P T Y C H O N DE R S T Ä D T E . CUZCO – ABANCAY – CHIMBOTE BEI JOSÉ MARÍA ARGUEDAS MARCEL VEJMELKA Di e S t a d t im We r k v o n J o s é Ma r ía A r g ued a s Das Werk des peruanischen Schriftstellers und Anthropologen José María Arguedas (1911-1969) ist geprägt vom konfliktbeladenen Verhältnis zwischen der kolonialspanischen bzw. modernen und der indigenen Kultur. Anhand der geographischen Opposition von Gebirge und Küste entwickelt und veranschaulicht Arguedas interne und extern angeschlossene Bewegungslinien und kulturelle Dynamiken, die diese Konstellation auf eine Weise verkomplizieren, dass die globale Opposition westlichindigen bzw. modern-traditionell sich einerseits auf verschiedenen Bedeutungsebenen selbstähnlich wiederholt, andererseits eben diesen klaren Gegensatz aufbricht und vervielfältigt. Sichtbar wird dies in der für Arguedas zentralen und persönlich drängenden Problematik des kulturell begründeten mestizo oder misti, der mal als ›modernisierter Indio‹, mal als ›indianischer Weißer‹ wahrgenommen wird und so im Spektrum vom isolierten Andendorf bis in die Hauptstadt Lima oder die großen Küstenstädte keinen Ort der Zugehörigkeit findet. Dieser Topos des forastero, des Fremden, der seiner ursprünglichen Zugehörigkeit entrissen wurde und keine neue zu finden oder aufzubauen imstande ist, zieht sich durch die Gesamtheit von Arguedas’ Leben und Werk wie auch durch weite Teile der ihnen gewidmeten Forschungsliteratur.1 Diese interne und externe, individuelle und kulturelle Konfliktivität, die aus der gewaltsamen Begegnung und dem daraus folgenden gemeinsamen historischen Prozess von Kolonisator und Kolonisiertem entstand, verweist unmittelbar auf die fundamentale Arbeit des Anthropologen Fernando Ortiz zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Transkulturati1

Vgl. Mónica Bernabé: »La poética del forastero en El zorro de arriba y el zorro de abajo, de José María Arguedas«, in: Iberoamericana. América Latina – España – Portugal 1 (2001), Nr. 2, S. 5-26. 241

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on in Kuba, deren in der Dialektik von Zuckerplantage und Tabakanbau – im titelgebenden Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar von 1940 veranschaulichte Dynamik von De- und Akkulturation sowie der etwas neues hervorbringenden Neokulturation ein Grundmuster der Geschichte der Amerikas bildet. Ortiz prägte den Begriff der Transkulturation zum Zwecke einer größeren Angemessenheit gegenüber der kulturellen bzw. kulturhistorischen Realität Kubas und in gleichem Maße zur Markierung eines vom Ort des Geschehens, von einem beide beteiligten Seiten – die kolonisierende wie die kolonisierte Kultur – einbeziehenden Standpunkt ausgehenden Diskurses.2 Ottmar Ette zeichnet die bis in die sprachliche Struktur und textuelle Verfasstheit des Contrapunteo... reichende Bewegungsfigur des Pendelns und der selbstähnlichen Ausweitung der Reflexion von der Insel bzw. »Insel-Welt« Kuba auf die »Inselwelt« der Karibik bis hin zum »archipelischen Kontinent« Amerikas nach und bestimmt darin den Begriff der transculturación als zugleich Movens und Ingredienz dieses Bandes, der auf der Inhaltsebene unterschiedlichste grenzüberschreitende Bewegungen im transnationalen, transarealen und transkontinentalen Maßstab in den Mittelpunkt rückt.3

Vor dem Hintergrund dieser vor- wie nachzeitlichen Lektüre entwickelt die vom Literaturwissenschaftler Ángel Rama vollzogene Anwendung der Ortizschen Transkulturation auf eine »lateinamerikanische Literaturtheorie« neue Aktualität. Umso entscheidender ist es daher, dass Rama das Werk von José María Arguedas in den Mittelpunkt seiner Überlegungen rückte. In seiner Reflexion zur »narrativen Transkulturation« als Prozess einer transkulturierte Kulturen ausdrückenden und selbst transkulturierend wirkenden Literatur erscheint Arguedas als exemplarischer Vertreter des Andenraums, der neben u.a. der Karibik, Amazonien, der Gauchesca oder auch den Südstaaten der USA eine der intra- und transnationalen Regionen einer kulturell begründeten alternativen Landkarte Amerikas bildet.4 Die Gesamtheit solcher kulturhistorisch bestimm2 3 4

Fernando Ortiz: Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar, hg. von María Fernanda Ortiz Herrera, Madrid: Editorial CubanaEspaña 1999, S. 80. Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin: Kadmos 2005, S. 166. Zu einigen dieser kulturell begründeten Regionen siehe u.a. Ángel Rama: »El sistema literario de la poesía gauchesca«, in: Jorge B. Rivera (Hg.): Poesía Gauchesca, Caracas: Biblioteca Ayacucho 1977, S. IX-LIII und Ligia Chiappini: »Fronteiras culturais e cultura fronteiriça na comarca pampeana: obras exemplares«, in: L.C./Mária Helena Martins/Sandra Jatahy 242

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ten Regionen bildet schließlich eine von Rama vorgeschlagene KulturLandkarte der westlichen Hemisphäre, die zum einen ihre in der geopolitischen Karte nicht verzeichnete kulturelle Realität wiedergibt, zum anderen das Kulturelle vor dem Hintergrund von Kolonialgeschichte sowie post- und neokolonialer Gegenwart selbst politisch auflädt und stark macht. Estas regiones pueden encabalgar asimismo diversos países contiguos o recortar dentro de ellos áreas con rasgos comunes, estableciendo así un mapa cuyas fronteras no se ajustan a las de los países independientes. Este segundo mapa latinoamericano es más verdadero que el oficial cuyas fronteras fueron, en el mejor de los casos, determinadas por las viejas divisiones de la Colonia y, en una cantidad no menor, por los azares de la vida política, nacional o internacional.5

Diese Kartierung ist ebenso dynamisch wie die Konfliktivität von weißer, indigener und mestizo-Kultur bei Arguedas, sie zieht keine klaren Grenzen zwischen kulturellen Regionen, die einander überlappen können und sich wie die kulturellen Konstellationen auf verschiedenen Ebenen ständig verändern. Ramas spätere Analyse der spanischen Kolonialstadt in der Dualität der Formgebung für eine ideale absolutistische Gesell-

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Pesavento (Hg.): Pampa e Cultura de Fierro a Netto, Porto Alegre: Editora da UFRGS 2004, S. 251-280 zur Gauchesca zwischen Brasilien, Argentinien und Uruguay; Ana Pizarro: »Imaginario y discurso: la Amazonía«, in: Revista de Crítica Literaria Latinoamericana, Nr. 61 (2005), S. 59-74 zum Amazonasgebiet sowie Ana Pizarro: »La noción de literatura latinoamericana y del Caribe como problema historiográfico«, in: A.P. (Hg.): La literatura latinoamericana como proceso, Buenos Aires: Biblioteca Universitarias, Centro Editor de América Latina 1985, S. 132-140 zur Karibik, schließlich Carlos Pacheco: La comarca oral. La ficcionalización de la oralidad cultural en la narrativa latinoamericana contemporánea, Caracas: La Casa de Bello 1992 zum Gegensatz von Oralität und Schriftkultur als Strukturelement dieser regionalen Einteilung. Ángel Rama: Transculturación narrativa en América Latina, México/Buenos Aires/Madrid: Siglo XXI 1982, S. 58. ›Diese Regionen können ebenfalls Teile von verschiedenen benachbarten Ländern oder innerhalb dieser Länder Gebiete mit gemeinsamen Merkmalen umfassen; so bilden sie eine Landkarte, deren Grenzlinien nicht mit denen der souveränen Staaten übereinstimmen. Diese zweite Karte Lateinamerikas ist wahrhaftiger als die offizielle Karte, deren Grenzen im günstigsten Fall durch die alten kolonialen Aufteilungen und in nicht geringerem Maße durch die Zufälle der nationalen wie internationalen Politik bestimmt wurden.‹ (Alle Übersetzungen von Ángel Rama im Folgenden von M.V.) 243

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schaft und Speerspitze für die Kontrolle, Zivilisierung und Modernisierung des amerikanischen Territoriums ist daher nicht nur Ergänzung der regionalen Dimension der ›narrativen Transkulturation‹, sondern unverzichtbare Vertiefung der gegenseitigen Durchdringung und Bedingung von Stadt und Land in der geokulturellen Logik der Conquista. Nicht nur bildet jede noch so kleine Provinzstadt im kontinentalen urbanen Netzwerk aufgrund ihrer einheitlichen und regelmäßigen Anlage im Schachbrettmuster die Ordnung der Kolonialgesellschaft en miniature ab, sie trägt in ihrem Innern gleichzeitig das Ringen der davon erfassten kulturellen Ordnungen aus. Die nach innen gerichtete Ordnung der enthaltenen Gesellschaft wirkt nach außen als Funktion jeder einzelnen Stadt für das Gesamtgefüge des kolonialen Systems. Daraus ergibt sich für Rama das kritische Potenzial einer Analyse der Anlage, Unter- und Verteilung des Stadtraumes sowie seiner internen wie externen Kraftfelder. No es la sociedad, sino su forma organizada, la que transpuesta, y no a la ciudad, sino a su forma distributiva. El ejercicio del pensamiento analógico se disciplinaba para que funcionara válidamente entre entidades del mismo género. No vincula, pues, sociedad y ciudad, sino sus respectivas formas, las que son percibidas como equivalentes, permitiendo que leamos la sociedad al leer el plano de una ciudad.6

Eine wesentliche Dimension aller Städte im kolonialen Kontext ist die des Scharniers für geopolitische und transkulturelle Prozesse, für Kontrolle und Modernisierung. Eine Funktion, die sich in ihrer inneren Anlage ablesen lässt: El plano ha sido desde siempre el mejor ejemplo de modelo cultural operativo. Tras su aparencial registro neutro de lo real, inserta el marco ideológico que valora y organiza esa realidad y autoriza toda suerte de operaciones intelectuales a partir de sus proposiciones, propias del modelo reducido (CL 22).7 6

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Ángel Rama: La ciudad letrada, Montevideo: Arca 1998, S. 19 (im Folgenden abgekürzt mit CL). ›Nicht die Gesellschaft, sondern ihre organisierte Form wird nicht auf die Stadt, sondern auf ihre Verteilungsform übertragen. Das analoge Denken wurde diszipliniert, um zwischen Einheiten derselben Art zu funktionieren. So verbindet es nicht Gesellschaft und Stadt, sondern ihre jeweiligen Formen, die als äquivalent verstanden werden, weshalb wir beim Lesen eines Stadtplans die Gesellschaft lesen können.‹ ›Der Stadtplan war schon immer das beste Beispiel für ein operatives Kulturmodell. Hinter dem scheinbar neutralen Register der Wirklichkeit bildet er den ideologischen Rahmen, der diese Wirklichkeit bewertet und organi244

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Im literarischen Werk von José María Arguedas finden sich in der Darstellung von städtischen Räumen und der von ihnen verkörperten Ordnungen drei Spielarten dieser Logik: die Zerstörung und Umgestaltung des Zentrums der besiegten Macht in der Stadt Cuzco, die exemplarische Kolonialstadt mit ihren administrativen und machtpolitischen Funktionen in Abancay, schließlich die aus dem historischen Prozess resultierende Industriestadt an der Peripherie des Weltkapitalismus in Chimbote.

C uz c o : I m Z e nt r um d er We l t – ¡Mira al frente! – me dijo mi padre –. Fue el palacio de un inca. Cuando mi padre señaló el muro, me detuve. Era oscuro, áspero; atraía con su faz recostada. La parde blanca del segundo piso empezaba en línea recta sobre el muro.8

In Cuzco, der Hauptstadt des Tahuantinsuyu, des Inkareichs, wird die im Stadtraum verkörperte Geschichte von Zerstörung, Neuaufbau, Kontrolle und Widerstehen im Zuge der Eroberung Amerikas auf beeindruckende und verstörende Weise sichtbar. Auf den Ruinen und Grundmauern der inkaischen Tempel und Herrschaftsgebäude errichteten die spanischen Eroberer nach 1532 ihre Kirchen und Herrenhäuser. Nicht nur vertikal erhebt sich so die Stadt der Sieger über der der Besiegten, auch in der Horizontalen sind in das historische Zentrum von Cuzco zwei überlagerte Stadtanlagen eingeschrieben, wie man anhand der von Wolfgang Wurster erstellten Stadtpläne vergleichen kann. (Abb. 1) Ähnlich wie auf den beiden Achsen des Stadtbildes werden in der Erzählung des 14jährigen Ernesto im ersten Kapitel des 1958 erstmals erschienenen Romans Los ríos profundos die beiden Zeiten und kulturellen Ordnungen der inkaischen und der kolonialen Epoche vergegenwärtigt. In diesem für Ángel Rama als Ouvertüre fungierenden Eingangskapitel, das der eigentlich Handlung vorgeschaltet ist und doch alle Elemente und Themen des Romans in konzentrierte Form enthält9, vollzieht

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siert und auf der Grundlage der dem reduzierten Modell eigenen Vorgaben alle möglichen intellektuellen Operationen autorisiert.‹ José María Arguedas: Los ríos profundos, 2. Auflage, Caracas: Biblioteca Ayacucho 1986, S. 4 (im Folgenden abgekürzt mit RP). ›»Sieh da vorn!«, sagte mein Vater, »Das war der Palast eines Inka.« Als mein Vater mir die Mauer zeigte, blieb ich stehen. Sie war dunkel und rauh; ihre zurückweichende Oberfläche war anziehend. Die weiße Wand des zweiten Stockwerks setzte in gerader Linie über der Mauer an.‹ Á. Rama: Transculturación narrativa, S. 265. 245

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Abb. 1

Ernesto ein Itinerar auf diesen beiden Ebenen, auf dem hinter oder unter der kolonialen Ordnung des Stadtraumes immer wieder Elemente der Inkastadt zur Wirkung kommen. Seine Begegnung mit der Inkamauer reißt Ernesto aus der ersten Enttäuschung, im nächtlichen Cuzco nichts als Zeichen einer vergessenen Provinzstadt zu erkennen. Martine Rens deutet dieses zunächst trostlose Bild in seiner kulturgeschichtlichen Dimension: L’arrivée de nuit à Cuzco, capitale des Incas, au début du même roman, dévoile la situation andine occultée: le présent révèle son amnésie profonde du passé glorieux de l’ancien centre du monde. Seul le mur, vivant sculpté par les Incas, révélera à l’enfant Ernesto l’indomptable capacité de vie, à travers la ligne ondoyante des jointures de la pierre.10

Diese Mauer – die vom Vater als Teil der Grundmauern des Palastes von Inka Roca mit dem berühmten zwölfeckigen Stein Hatunrumiyoc identifiziert wird – verkörpert für ihn die gesamte Stadt und verweist auf ein zentrales Motiv des Romans: die »tiefen Flüsse« des Titels, Sinnbild der in Mythos und Natur eingebetteten Welt der indigenen Kultur.

10 Martine Rens: Dimension éthique de l’œuvre de José María Arguedas, Neuchâtel: Université de Neuchâtel 2003, S. 29. ›Die nächtliche Ankunft in Cuzco, der Hauptstadt der Inka, zu Beginn des Romans macht die verborgene Situation der Anden sichtbar: die Gegenwart erweist ihre tief greifende Amnesie hinsichtlich der ruhmreichen Vergangenheit des alten Zentrums der Welt. Nur die lebendige, von den Inka errichtete Mauer wird dem Jungen Ernesto durch die fließenden Linien zwischen den Steinen die unbeherrschbare Lebensfähigkeit vermitteln.‹ 246

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Era estático el muro, pero hervía por todas sus líneas y la superficie era cambiante, como la de los ríos en el verano, que tienen una cima así, hacia el centro del caudal, que es la zona temible, la más poderosa. Los indios llaman ›yawar mayu‹ a esos ríos turbios, porque muestran con el sol un brillo en movimiento, semejante al de la sangre (RP 6).11

Doch in derselben Szene wird deutlich, wie die Zeitschichten von Inkareich und Kolonisierung sich anhand dieser Mauer im Raum übereinander legen: La construcción colonial, suspendida sobre la muralla, tenía la apariencia de un segundo piso. Me había olvidado de ella. En la calle angosta, la pared española, blanqueada, no parecía servir sino para das luz al muro (RP 7).12

Mit den Augen eines Kindes erkundet Ernesto in zwei Gängen durch die Stadt die in ihr enthaltenen historischen und kulturellen Dimensionen. Mit dem Vater geht er zur nahen Plaza de Armas mit der Kathedrale und der Jesuitenkirche, die ebenfalls auf den Fundamenten inkaischer Zentren von Macht und Religion errichtet wurden. – Fue la plaza de celebraciones de los incas – dijo mi padre –. Mírala bien, hijo. No es cuadrada sino larga, de sur a norte. La iglesia de la Compañía, y la ancha catedral, ambas con una fila de pequeños arcos que continuaban la línea de los muros, no rodeaban. La catedral enfrente y el templo de los jesuitas a un costado (RP 8).13

11 ›Die Mauer war statisch, doch sie brodelte in allen ihren Fugen und ihre Oberfläche veränderte sich wie die der Flüsse im Sommer, die so eine Wölbung in der Mitte des Stroms haben, wo sie am gefährlichsten, am kraftvollsten sind. Die Indios nennen die trüben Flüsse ›yawar mayu‹, weil sie im Schein der Sonne einen bewegten Glanz besitzen, der aussieht wie Blut.‹ 12 ›Das Kolonialhaus, das auf der Mauer ruhte, wirkte wie ein zweites Stockwerk. Ich hatte es vollkommen vergessen. In der schmalen Straße schien die geweißte spanische Wand nur dazu da zu sein, um der Mauer Licht zu spenden.‹ 13 ›»Das war der Festplatz der Inka«, sagte mein Vater. »Schau genau hin, mein Sohn. Er ist nicht quadratisch, sondern zieht sich von Süden nach Norden.« Die Kirche der Gesellschaft Jesu und die mächtige Kathedrale, beide mit einer Reihe kleiner Bögen versehen, welche die Linie der Mauern fortsetzten, umringten uns. Die Kathedrale vor uns und der Jesuitentempel neben uns.‹ 247

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Zwischen der Jesuitenkirche, die auf den Grundmauern des Palastes von Huayna Cápac, Amaru Cancha, steht, und dem Kloster Santa Catalina, das auf dem ehemaligen »Haus der Jungfrauen der Sonne« Acllahuasi erbaut wurde, führt der Vater Ernesto durch die Straße der Sonne Loreto Quijllu. Wieder entsteht das Bild der tiefen Flüsse: »Como esa calle hay paredes que labraron los ríos, y por donde nadie más que el agua camina, tranquila o violenta« (RP 9).14 Am nächsten Morgen gehen sie mit dem gefürchteten und gehassten Onkel denselben Weg. Die Mauer und den ehemaligen Palast deutet der reiche Landbesitzer abschätzig im kolonialen Sinne: »Inca Roca lo edificó. Muestra el caos de los gentiles, de las mentes primitivas« (RP 14).15 Ernesto erfährt bei diesen Gängen die beiden Seiten des »modernen« Cuzco. Die noch lebendige Tradition der Inkas und die von Gier und Geiz bestimmte Welt der Kolonisatoren und ihrer Nachfahren, den Übergang von der eindeutigen Zuschreibung von Elementen der einen oder anderen Kultur zur mehrdeutigen Problematik der sie umgebenden kulturellen Ordnungen. Ernesto trägt diesen Konflikt in sich, Cuzco wird der Ausgangspunkt seiner Reise durch Peru zu sich selbst. Arguedas formuliert diese Konstellation in einem anthropologischen Aufsatz: Se acabó el Cuzco imperial, sobre sus ruinas se pelearon los mismos conquistadores, y allí encontraron su tumba Gonzalo Pizarro y el otro, Diego de Almagro. Y empezó el largo, oscuro y terrible tiempo de la agonía en que el espirítu indio, la sangre india habría de recomenzar otro destino; destino que llegaría a su alba, a su nueva luz, después de este oscuro tiempo de lucha, de dolor inmenso, de golpes y de bárbaro sufrir. Alba y nueva luz cuyo símbolo acaso volvería a ser la misma ciudad imperial antigua, transformada, convertida en otra, en sus barrio, en sus plazas, y en el espíritu de sus hombres; pero bajo el mismo cielo, protegida por los mismo aukis lejanos, gigantes y hermosos, bajo los mismos vientos, bajo las mismas estrellas; pero nueva en su sentido imperial, en su destino, en su símbolo y en su mundo. 16 14 ›Wie in dieser Straße gibt es Wände, die von den Flüssen geschaffen wurden, und wo nur das ruhige oder gewaltige Wasser hindurchschreitet.‹ 15 ›Die Mauer wurde von Inca Roca errichtet. Sie zeigt die Verwirrung der Ungläubigen, der primitiven Geister.‹ 16 José María Arguedas: »El nuevo sentido histórico del Cuzco«, in: J.M.A.: Indios, mestizos y señores, Lima: Horizonte 1985. S. 131-138, hier S. 133. ›Das imperiale Cuzco existiert nicht mehr, auf seinen Ruinen bekämpften sich die Konquistadoren untereinander, und dort fanden Gonzalo Pizarro und der andere, Diego de Almagro, ihr Grab. Und dann begann die lange, finstere und schreckliche Zeit der Agonie, in welcher der Geist der Indios, das Blut der Indio ein neues Schicksal beginnen sollten; ein Schicksal, das nach dieser finsteren Zeit des Kampfes, des unermesslichen Schmerzes, der 248

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So zeugt das übereinander gelagerte Stadtbild des inkaischen und des kolonialspanischen Cuzco keineswegs von einer urbanistischen Kontinuität durch die Conquista hindurch, sondern vom radikalen und gewalttägigen Bruch der neuen Ordnung mit der Vergangenheit.17 Das historische Zentrum Cuzcos, wie Ernesto es erlebt, verkörpert den mit der spanischen Eroberung Perus einsetzenden, von Gewalt und Unterwerfung geprägten Prozess der Transkulturation. Arguedas liefert analog zu seinem literarisch-sprachlichen Projekt eines quechuisierten Spanisch – das die gewaltsame Aufzwingung der Kolonialsprache auf die Sprache der Kolonisierten sichtbar bzw. hörbar macht – eine räumliche Miniatur seiner Poetik, deren Kern um die Suche nach einem identitären Raum zwischen den beiden Welten kreist.

A b a nc a y : D a s k o l o n i a l e M o d el l P er us ¡Abancay! Debió de ser un pueblo perdido entre bosques de pisonayes y de árboles desconocidos, en un valle de maizales inmensos que llegaban hasta el río. Hoy los techos de calamina brillan estruendosamente; huertas de mora separan los pequeños barrios, y los campos de cañaverales se extienden desde el pueblo hasta Pachachaca. Es un pueblo cautivo, levantado en la tierra ajena de una hacienda (RP 26).18

Bildete Cuzco die historische Tiefendimension und ethnisch-kulturelle Dualität des Landes ab, so stellt Abancay, Hauptstadt und wirtschaftliSchläge und barbarischem Leid seine neue Morgenröte, sein neues Licht erleben würde. Morgenröte und Licht, deren Symbol vielleicht wieder dieselbe alte imperiale Stadt sein würde, nun verändert, in eine andere Stadt verwandelt, in ihre Viertel, in ihre Plätze und in den Geist ihrer Menschen; aber unter demselben Himmel, beschützt von denselben fernen, riesigen und herrlichen aukis, unter denselben Winden, unter denselben Sternen; doch neu in ihrer imperialen Bedeutung, in ihrem Schicksal, in ihrer Symbolik und in ihrer Welt.‹ 17 Wolfgang Wurster: »Dos mundos, una ciudad: El Cuzco, capital de los Incas y ciudad colonial española«, in: Hanns-Albert Steger (Hg.): La concepción de tiempo y espacio en el mundo andino, Frankfurt/Main: Vervuert 1991, S. 147-167, hier S. 161. 18 ›Abancay! Früher muss es ein vergessenes Dorf inmitten von Wäldern aus Pisonay und unbekannten Bäumen in einem Tal mit riesigen bis an den Fluss reichenden Maisfeldern gewesen sein. Heute glänzen die Zinkdächer mächtig; Brombeersträuche trennen die kleinen Viertel voneinander ab und das Schilf zieht sich vom Dorf bis zum Pachachaca hin. Ein gefangenes Dorf, das auf dem fremden Land einer Hacienda errichtet wurde.‹ 249

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Abb. 2

ches Zentrum der Provinz Apurímac in den Zentralanden, seinen gesellschaftlichen Mikrokosmos dar. Abancay bildet seit 1574 einen fast beliebigen Knotenpunkt im von Ángel Rama benannten Netzwerk der Kolonialstädte, die am Ort bestehender Siedlungen gegründet wurden; einen ›zivilisatorischen‹ Fremdkörper im von der indigenen Kultur geprägten Teil des Landes. Dort wird Ernesto von seinem Vater in einem von Priestern geführten Internat zurückgelassen und erfährt das Erwachsenwerden in bühnenhaft ausgestalteten Kapiteln, deren Gesamtheit die Stadt soziokulturell und symbolisch kartiert. Ernestos Wege zeichnen den ethnisch-sozialen Plan der Stadt, der anhand von Gladys Marins Schema zur räumlich-symbolischen Struktur im Roman Los ríos profundos (Abb. 2) erhellt werden kann: der Hauptplatz als Zentrum des öffentlichen Lebens, die Kathedrale und das Internat, unmittelbar anschließend die bürgerlichen ›weißen‹ Viertel, in denen er sich fremd fühlt, und die entfernten Viertel der Indios, insbesondere Huanupata [2]19, wo er sich in den chicherías auf Quechua unterhält und den traditionellen huaynos lauscht. Sólo un barrio alegre había en la ciudad: Huanupata. Debió de ser en la antigüedad el basural de los ayllus, porque su nombre significa ›morro del basural‹. En ese barrio vivían las vendedoras de la plaza del mercado, los peones y cargadores que trabajaban en menesteres ciudadanos, los gendarmes, los empleados de las pocas tiendas de comercio; allí estaban los tambos donde se alo19

Die Zahlen in eckigen Klammern beziehen sich hier und im Folgenden auf die Nummerierung im abgebildeten Schema von Marin. 250

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jaban los litigantes de los distritos, los arrieros y los viajeros mestizos. Era el único barrio donde había chicherías ( RP 36). 20

Doch diese ›Heimat‹ ist nur provisorisch, ebenso wie seine Fluchten in die Natur und an den Fluss Pachachaca, dessen ›Brücke über die Welt‹ [4] für ihn die Möglichkeit symbolisiert, seine innere wie die Zerissenheit Perus zu überwinden. Die Schule bildet den Ort in der Stadt, an den er immer wieder zurückkehren muss. Die vom Roman entfaltete selbstähnliche Struktur kreist um das Colegio: das Internat ist aufgeteilt in einen gepflasterten Hof, in dem die Schüler sich aufhalten und spielen, und einen dunklen Hof, in dem verbotene und bedrohliche Dinge geschehen. Schule [1] und Stadt [3] bilden ineinander verschachtelt den Mikrokosmos für Ernestos Suche und Weg im Leben und in der peruanischen Gesellschaft. Wie die Stadt, die geographisch vom Großgrundbesitz [5] umgeben und von ihm abhängig ist, wird die Schule von den reichen Hacendados finanziert. In der Lektüre und Verräumlichung von Marin wird diese Verschachtelung und Konstellation noch an die mythisch-symbolische die Bedeutung Cuzcos [6] angeschlossen. In der Schule bildet sich dieser gesellschaftliche Raum in der Zusammensetzung der Schüler ab. Ernesto schwankt zwischen den möglichen Freundschaften und muss auch hier lernen, welche Orte ihm zugänglich sind oder nicht. Vor allem Antero, der Sohn eines Grundbesitzers, wird Ernestos Freund, hilft ihm, sich in der Schule und Stadt zu orientieren, entfernt sich aber aufgrund seiner Berufung zum Herren über Land und Indios unweigerlich von ihm. Der Aufstand der chicheras wegen des Mangels an Salz stellt eine einmalige Verbindung zwischen der aufgebrachten Menge der Indios und Mestizen auf dem Hauptplatz und der die Stadt umgebenden hacienda Patibamba her, wo die als Leibeigene vegetierenden colonos durch eine solidarische Geste vorübergehend in den Stadtraum integriert werden (RP 74). Ernesto begleitet diesen Aufstand. Wieder in der Stadt nimmt ihn Antero mit zum Haus seiner Angebeteten, wo die beiden Jungen sie und eine Freundin auf traditionelle Weise hofieren. Dieser Wechsel zwi20 ›Es gab nur ein fröhliches Viertel in der Stadt: Huanapata. Es muss früher der Abfallplatz der ayllus gewesen sein, denn sein Name bedeutet ›Abfallhügel‹. In diesem Viertel lebten die Verkäuferinnen vom Marktplatz, die Viehhirten und Lastenträger, die Arbeiten in der Stadt erledigen, die Gendarmen, die Angestellten der wenigen Läden; dort befanden sich die tambos, in denen die Kläger aus den Bezirken, die Transporteure und mestizischen Reisenden übernachteten. Es war das einzige Viertel, in dem es chicherías gab.‹ 251

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schen den ethnischen und gesellschaftlichen Welten macht Ernesto bewusst, dass seine Freundschaft zu Antero im Grunde unmöglich ist. Diese Trennung wird endgültig während der Abschiedsparade der eingerückten Armee, einem gesellschaftlichen Ereignis um den Platz herum. Während Ernesto zwischen den flanierenden Bürgern und der im Hintergrund bleibenden indigenen und mestizischen Bevölkerung pendelt, situiert sich Antero als andiner Herr auf gleicher Ebene mit dem Sohn des Kommandanten von der Küste (RP 146). Analog zu Ernestos Suche nach einem Ort der Zugehörigkeit zwischen Schule, Stadt und Indioviertel ist eine weitere Funktion des Colegio zu lesen, das Bildung und Glaube in sich vereint. So bildet dieser von Mauern umgebene Raum in der Stadt die von Ángel Rama beschriebene ciudad letrada, die Stadt der Schrift als Festung innerhalb der wirklichen Stadt, mit ihren Anbindungen des Diskurses an die Verflechtungen von gesellschaftlicher Kontrolle und Macht: Pero dentro de ellas siempre hubo otra ciudad, no menos amurallada ni menos sino más agresiva y redentorista, que la rigió y condujo. Es la que creo debemos llamar la ciudad letrada, porque su acción se cumplió en el prioritario orden de los signos y porque su implícita calidad sacerdotal contribuyó a dotarlos de un aspecto sagrado, liberándolos de cualquier servidumbre con las circunstancias (CL 32).21

So stellt sich für Ernesto die Problematik der gebildeten Eliten in Lateinamerika, die einen geschlossenen Kreis innerhalb derselben »Stadt der Bildung und der Schrift« darstellen und nur für sich schreiben. Zugleich aber bietet ihm diese Zugehörigkeit eine Möglichkeit, sich über die Bildung Respekt und sozialen Aufstieg in Grenzen zu erwerben. So wird er als hervorragender Vorleser geschätzt (RP 61) und schreibt für Antero Liebesbriefe an dessen Herzensdame, die Tochter einer reichen Familie. Er kann über die Literatur eine Welt erreichen, der er nicht angehört: »Yo sabía, a pesar de todo, que podía cruzar esa distancia, como una saeta, como un carbón encendido que asciende. La carta de debía escribir para la adorada del ›Markask’a‹ llegaría a las puertas de ese mundo« (RP

21 ›Innerhalb dieser Städte gab es schon immer eine andere Stadt, die nicht weniger befestigt war, mit nicht geringerer, sondern größerer Aggressivität und Sendungsbewußtsein, welche sie regierte und führte. Diese Stadt sollten wir die Stadt der Bildung und der Schrift nennen, denn sie handelte in der vorrangigen Ordnung der Zeichen und ihre implizite priesterliche Natur trug dazu bei, diese mit dem Anschein des Heiligen zu versehen und sie so von jeglicher Unterwerfung unter die Umstände zu befreien.‹ 252

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60).22 Dagegen kann er über die Schrift und die Literatur seine eigentlichen Adressaten nicht erreichen, denn die Indio-Mädchen aus ›seiner‹ Welt, werden nie solche Briefe ›lesen‹ können: »¿Y si ellas supieran leer? ¿Si a ellas pudiera yo escribirles?« Y ellas eran Justina o Jacinta, Malicacha o Felisa; que no tenían melena ni cerquillo, ni llevaban tul sobre los ojos. Sino trenzas negras, flores silvestres en la cinta del sombrero... [...] ¡Escribir! Escribir para ellas era inútil, inservible [...] (RP 60-61).23

Ernestos Versuch eines Textes in Quechua bildet dann erneut en miniature das literarische Programm von Arguedas ab, das diesen von Rama benannten Widerspruch der konstitutiven Schriftlichkeit zu überwinden trachtet: »Esta palabra escrita viviría en América Latina como la única valedera, en oposición a la palabra hablada que pertenecía al reino de lo inseguro y lo precario« (CL 22).24 Innerhalb dieser Widersprüchlichkeit erkennt Ernesto schließlich den einzig für ihn möglichen Ort einer ständig bedrohten und fragwürdigen Identität zwischen Moderne und Tradition, Schrift und Oralität, Quechua und Spanisch. So verwandelt sich am Ende die Schule vom isolierten und in sich gespaltenen Raum der Macht und des Wissens zumindest vorübergehend in einen Ort der Geborgenheit: Por primera vez me sentí protegido por los muros del Colegio, comprendí lo que era la sombra del hogar. […], el Colegio me abrigó aquella noche, me recibió con sus espacios familiares, sus grandes sapos cantores y la fuente donde el agua caía en silencio; el alto corredor donde vi llorar al pálido, al confundido ›Añuco‹, donde escuché la voz radiante del Padre Director, enfadado e indeciso. Y así, ya seguro de mí, y con la esperanza de que el patio interior también

22 ›Trotz allem wusste ich, dass ich diese Distanz überwinden konnte, wie ein Pfeil, wie ein glühendes Stück Kohle, das nach oben steigt. Der Brief, den ich für die Angebetete des ›Markask’a‹ schreiben sollte, würde bis an die Türen dieser Welt gelangen.‹ 23 ›»Und wenn sie lesen könnten? Wenn ich ihnen schreiben könnte?« Sie, das waren Justina oder Jacinta, Malicacha oder Felisa; sie hatten kein lockiges Haar und keine Haarreifen, sie trugen auch keinen Schleier vor den Augen. Statt dessen hatten sie schwarze Zöpfe und trugen wilde Blumen im Hutband [...] Schreiben! Für sie zu schreiben war sinnlos, nutzlos [...].‹ 24 ›Dieses geschriebene Wort sollte in Lateinamerika als das einzig gültige existieren, im Gegensatz zum gesprochenen Wort, das dem Reich des Unsicheren und Prekären angehöre.‹ 253

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me recibiría, fui allá, caminando despacio; una especie de gran fatiga y sed de ternura hacía arder mis ojos (RP 149).25

C hi m b o te : I m W ir b el w i nd d er G l o b a l is ie r u n g Sí, pues. Creo no conocer bien las ciudades y estoy escribiendo sobre una. Pero ¿qué ciudad? »¡Chimbote, Chimbote, Chimbote!« Parece que se me han acabado los temas que alimenta la infancia, cuando es tremenda y se extiende encarnizadamente hasta la vejez. Una infancia con milenios encima, milenios de historia de gente entremezclada hasta la acidez y la dinamita. Ahora se trata de otra cosa.26

Arguedas’ letzter, 1971 postum veröffentlichter Roman El zorro de arriba y el zorro de abajo bildet eine neue Etappe in seinem »migrierenden Schreiben«.27 Die bisher im Andenraum verortete und dargestellte Problematik der geteilten Nation erweitert sich notwendigerweise um die neuen Prozesse, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an der

25 ›Zum ersten Mal fühlte ich mich von den Mauern des Internats beschützt, ich verstand, was der Schatten des Zuhauses war. [...], die Schule schützte mich in jener Nacht, nahm sie mich in ihren vertrauten Räumen auf, mit ihren großen singenden Fröschen und dem Brunnen, in still das Wasser floss; dem hohen Korridor, wo ich den blassen, den verwirrten ›Añuco‹ weinen sah, wo ich die strahlende Stimme des wütenden und unentschlossenen Padre Director vernahm. Und so, meiner selbst schon sicher und erfüllt von der Hoffnung, dass der innere Hof mich auch aufnehmen würde, ging ich langsam dorthin; eine Art großer Erschöpfung und ein Durst nach Zärtlichkeit brannten mir in den Augen.‹ 26 José María Arguedas: El zorro de arriba y el zorri de abajo, kritische Ausgabe, hg. von Eve-Marie Fell, Madrid: ALLCA 1997, S. 81 (im Folgenden abgekürzt mit ZA). ›Nun gut. Ich glaube, die Städte nicht gut zu kennen und nun schreibe ich über eine. Aber über welche Stadt? »Chimbote, Chimbote, Chimbote!« Es scheint, als hätten sich mir die Themen erschöpft, die sich aus der Kindheit speisen, wenn diese voller Schrecken ist und sich quälend bis ins Alter hinzieht. Eine mit Jahrtausenden beladene Kindheit, Jahrtausende der Geschichte von Menschen, deren Mischung am Ende Säuren und Sprengstoff bildet. Jetzt geht es um etwas anderes.‹ 27 Antonio Cornejo Polar: »Migrant Conditions and Multicultural Intertextuality. The Case of José María Arguedas«, in: Sandra BoschettoSandoval/Ciro A. Sandoval (Hg.): José María Arguedas. Reconsiderations for Latin American Cultural Studies, Athens: Ohio UP 1998, S. 187-192, hier S. 190. 254

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Küste ablaufen. Beschleunigt von den neuen Dynamiken des Welthandels erlebt Peru nun eine neue Qualität der Einbindung in die sich bildenden Vernetzungen, in der die bestehenden Strukturen der kolonialen Kontrolle und ›Nutzbarmachung‹ nun ihrerseits in weiten Teilen neu genutzt werden. Es kann Arguedas nicht mehr nur um die Dualität und Notwendigkeit kultureller und identitärer Zwischenräume gehen. Seine bereits komplexe und konfliktive Auffassung der kulturellen Prozesse Perus erweitert sich um geokulturelle Verwerfungen, die es nachzuvollziehen und zu verstehen gilt. Doch das Verstehen dieser Prozesse wie auch der Stadt Chimbote als ihrem Schauplatz erfordert neue Formen der Erkenntnis und Darstellung, die im Zuge des Schreibens selbst noch reflektiert werden müssen. Dies ist eine der zentralen Funktionen der in den Roman integrierten Tagebücher, aus denen zu Anfang dieses Abschnitts zitiert wurde. Die Hafenstadt Chimbote – für Martin Lienhard eine »typische periphere Metropole des 20. Jahrhunderts«,28 für Axel Borsdorf und Herbert Wilhelmy »die gesichts- und geschichtsloseste, die häßlichste Stadt in Peru«29 – bildet im Romanfragment ein Scharnier für die Vermittlung globaler Dynamiken ins Landesinnere, nun in Fortführung und Erneuerung ihrer kolonial angedachten Funktionen der Kontrolle und Ausbeutung.30 Die ehemalige Fischersiedlung wurde in den 1870er Jahren vom US-Unternehmer Henry Meiggs gegründet und in Parzellen verkauft. Ab den 1940er Jahren wurde die Stadt zu einem Standort der Metallindustrie und innerhalb kürzester Zeit zum größten Fischereihafen der Welt mit eigenem Industriekomplex zur Produktion von Fischkonserven, Fischmehl und Fischöl für den internationalen Markt. Die regelmäßige Anlage des Stadtkerns verkörpert dabei nicht mehr das spanische Kolonialmodell einer Gesellschaftsordnung, sondern die moderne Funktionalität, ist Ausdruck ihres rein kapitalistischen Ursprung und Machtzentrums, das sich nicht mehr deckungsgleich mit dem Mittelpunkt der Stadt verorten lässt. Und so legt sich über die Topographie der Stadt in den zorros auch das Symbol der zorra als verführerischem und ausgebeutetem weiblichem Geschlecht und in der Figur der Hure. (Abb. 3)

28 Martin Lienhard: »La ›andinización‹ del vanguardismo urbano«, in: José María Arguedas. El zorro de arriba y el zorro de abajo, Madrid: ALLCA 1997, S. 312-332, hier S. 326. 29 Axel Borsdorf/Herbert Wilhelmy: Die Städte Südamerikas. Teil 2: Die urbanen Zentren und ihre Regionen, Berlin, Stuttgart: Gebrüder Bornträger 1985, S. 95. 30 Vgl. Á. Rama: Transculturación narrativa en América Latina, S. 73. 255

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Die Bucht von Chimbote wird zur sexuell konnotierten »gran concha«, deren Fischreichtum Wohlstand hervorbringt und die über die vitale Achse der im Roman immer wieder überquerten Panamericana ihre Produkte nach Lima transportiert und Scharen von Arbeitssuchenden von der Küste und aus den Anden anzieht, um die illegalen Elendssiedlungen der barriadas zu bevölkern. Vom Abhang der barriada San Pedro aus vermittelt denn auch eine Prostituierte den ersten Blick über die Stadt: Abb. 3

Llegó a la carretera ›marginal‹ de gruesa arena y basura en que empiezan las calles, todas derechas y en cuadro, de la barriada. Abajo, al pie del médano, el puerto pesquero más grande del mundo ardía como una parrilla. Humo denso, algo llameante, flameaba desde las chimeneas de fábricas y otro, más alto y con luz rosada, desde la fundición de acero (ZA 44).31

Bei der Begegnung der beiden dem Mythos entnommenen Füchse in Gestalt Don Diegos, der Don Ángel Rincón Jaramillo in der von ihm geleiteten Fischmehlfabrik besucht, lässt sich der obere Fuchs vom unteren den Ablauf der Produktion sowie das System der politisch-wirtschaftlichkriminellen Macht Chimbotes erläutern. Von einem Silo aus zeigt Don Ángel seinem Gast das Halbrund der Bucht mit den erleuchteten Fabriken und Wohnvierteln, mit den im Dunkeln liegenden barriadas, und entwirft von der Seeseite her das Panorama der Industriestadt mit ihren Licht- und Schattenseiten. (Abb. 4) Esa es la elegante urbanización residencial ›Buenos Aires‹ que los ejecutivos de las empresas, menos yo, se empeñaron en que se construyera para la alta clase

31 ›Sie kam an die mit grobem Sand und Müll bedeckte ›Seitenstraße‹, bei der die durchweg geraden und rechtwinkligen Straßen der barriada beginnen. Unten, am Fuße des Abhangs glühte der größte Fischereihafen der Welt wie ein Grill. Dichter Rauch mit vereinzelten Flammen stieg aus den Fabrikschornsteinen, und darüber lag ein anderer, rötlicher Rauch aus den Stahlwerken.‹ 256

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del puerto. [...] Y esas luces que se ven más cerca del puerto son del barrio fiscal de la clase ›obrera‹, El Trapecio. [...] Ya sabe; así es la cosa: ›Buenos Aires‹, después viene la oscuridad, varios kilómetros. En esa oscuridad están cinco barriadas, entre totorales, agua salada y viento; luego, nuevamente la oscuridad; depués El Trapecio, el Casco Urbano, la Fundición y su barrio, los muelles y más oscuridad hacia los médanos y el mar. Digamos treinta mil personas en los Abb. 4 campos iluminados que vemos desde aquí; el resto, unas... diagmos treinta barriadas, doscientos mil, vive en la basura y bajo la luz de loa estrellas. [...] Le he mostrado este inmenso arco de luz que orilla parte sur de la bahía que es casi la mitad de toda la playa sin igual de Chimbote (ZA 115-116).32

Dieses zweifache Panorama Chimbotes markiert die Pole der neuen Ordnung, das neue urbane Subproletariat aus Küste und Gebirge in den barriadas und die industrielle-kapitalistische Seele der Stadt im Industriekomplex. In der Spannung zwischen den Orten der Macht und der Machtlosen entsteht eine Physiognomie des fragmentierten Stadtraums, die für die Konfliktivität nicht nur lateinamerikanischer Metropolen der Gegenwart charakteristisch ist. Don Ángel erklärt weiter: [O]tros hambrientos bajaron directamente aquí para trabajar en lo que fuera; en la basura o en la pesca. [...] Los pantanos donde los zancudos reinan; los desiertos pesados fueron invadidos por esa avalancha. Oiga, los invadieron en orden, 32 ›Das ist das elegante Residenzviertel »Buenos Aires«, das auf Drängen der Firmenleiter, mich ausgenommen, für die Oberschicht des Hafens errichtet wurde. [...] Und diese Lichter, die man näher am Hafen sieht, gehören zur Mustersiedlung der »Arbeiter«klasse El Trapecio. [...] Sie wissen ja, so liegen die Dinge: »Buenos Aires«, dann mehrere Kilometer Dunkelheit. In diesem Dunkel befinden sich fünf barriadas umgeben von Schilfbänken, Salzwasser und Wind; dann wieder Dunkelheit; dann El Trapecio, der Stadtkern, das Stahlwerk mit seinem Viertel, die Molen und noch mehr Dunkelheit bis zum Berghang und zum Meer. Sagen wir dreißig Tausend Menschen im erleuchteten Teil, den wir von hier aus sehen; der Rest, so etwa... sagen wir dreißig barriadas, zweihundert Tausend, lebt im Müll und unterm Sternenhimmel. [...] Ich habe Ihnen diesen riesigen Lichtbogen gezeigt, der einen Teil der Bucht umrahmt, die fast die Hälfte dieses einzigartigen Strandes von Chimbote ausmacht.‹ 257

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mejor que en Lima, militarmente, diría yo; con disciplina castrense trazaron sus calles y plazas, se repartieron sus lotes, aparecieron barrios que ni la conciencia de Dios habría imaginado (ZA 93).33

Gleichzeitig sind die neuen Grenzziehungen nicht weniger streng und brutal, Elendssiedlungen, ordentliche Viertel und reiche Inseln, ethnische Separierung und Gruppierung aufgrund geographischer Herkunft der Zuwanderer. Sehr treffend weist Martine Rens denn auch auf die durch den literarischen Text entstehende soziokulturelle Kartierung Chimbotes hin, die sich einer soziologischen Geographie annähert: Nous aurons l’occasion de déambuler dans les rues de bon nombre de quartiers de Chimbote et de constater qu’à travers les péripéties des personnages, est en train de s’élaborer un plan de la ville aussi précis que celui que Denis Sulmont dessinera dans son mémoire sociologique qu’il consacrera au boom industriel de Chimbote en 1972.34

Die bisherige Zweiteilung in Weiße und Indios mit dem unbestimmten Zwischenraum der Mestizen wird aufgebrochen, von internationalen Interessen, Kapitalströmen und Akteuren durchzogen und erfasst. Don Ángel zeichnet für Don Diego das symbolische Schema der Kräfte, die hinter dem Panorama Chimbotes in Peru wirken – »La cara del Peru« (Abb. 5): Die beiden Momente der Bucht als rauchender Grill und Bogen aus Licht und Finsternis finden im Verlauf des Romans ihre Konkretisierung in sprunghaften Sequenzen, in denen Fischer, Arbeiter und Gewerkschaftler, Fabrikleiter und Mafiaschläger, Huren und Missionare des Peace Corps genauso wie die Raumfragmente Chimbotes – Hafen, Zentrum, barriada San Pedro im Norden, barriada »21 de Abril« im Osten und die mit ihnen verbundenen Dialekte und Soziolekte einander überlagern. Im 33 ›Noch mehr Hungrige kamen direkt hier herunter, um irgendwo zu arbeiten; im Müll oder im Fischfang. [...] Die Sümpfe, wo die Moskitos herrschen; die erdrückenden Wüsten wurden von dieser Lawine überrannt. Aber sie überrannten sie geordnet, besser als in Lima, ich würde es gar militärisch nennen; mit castrensischer Disziplin zogen sie die Linien ihrer Straßen und Plätze, verteilten sie ihre Parzellen, entstanden Viertel, die nicht einmal Gottes Bewusstsein sich hätte ausdenken können.‹ 34 M. Rens: Dimension éthique, S. 184. ›Wir können durch die zahlreichen Straßen der guten Wohnviertel von Chimbote spazieren und erkennen, dass durch die Peripetien der Figuren allmählich ein Stadtplan entsteht, der so genau ist wie der von Denis Sulmont in seiner soziologischen Studie vom 1972 zum industriellen Boom in Chimbote.‹ 258

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Abb. 5

zweiten Teil des Romans wird die Kapiteleinteilung in chaotisch ›brodelnde‹ Textpassagen aufgelöst. Als Gravitationszentrum dieser von Ausbeutung, Gewalt und kultureller Entwurzelung geprägten Stadt erscheint in der sexuellen Symbolik das Bordell, in dem sich alle begegnen, Kunden und Prostituierte aber wiederum nach Preiskategorien getrennt werden. Die Räume und Figuren werden durchwandert von den Füchsen, die aus der Zeit und Ordnung des andinischen Mythos in die postmoderne Küstenrealität eindringen, um ihre Darstellung im Literarischen zu ermöglichen. Trotz ihrer Hilfe fühlte sich Arguedas als Autor dieser Stadt nicht gewachsen, der Roman wurde von ihm kurz vor seinem Freitod als »unbeendet« abgeschlossen. Die Hereinnahme des eigenen Ringens mit dem Tod potenziert nicht nur den verstörenden Aufbruch der Romanform, er markiert gleichzeitig im Sinne des von Ottmar Ette geprägten Verständnisses von Lebenswissen, wie die Dimensionen des Lebens und Überlebens in die Auseinandersetzung mit Problemstellungen kultureller Räume und Identitäten verschränkt sind.35

35 Vgl. dazu Ottmar Ette: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin: Kadmos 2004 und O.E.: »Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften«, in: Lendemains 125 (2007), S. 7-32. 259

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S c hl u s s Städte und Stadträume bilden im literarischen wie anthropologischen Werk von José María Arguedas eine fremde, bedrohliche, schwer verständliche Welt. Selbst Cuzco kommt nur in dem kurzen Moment näher, in dem die Grundmauern und Straßenzüge des historischen Zentrums das von ihnen gespeicherte Erbe der Inka-Kultur mitteilen. Dennoch sind Städte konstitutive Schauplätze in seinem Werk, bilden sie unumgängliche Zentren des komplexen (trans)kulturellen Systems Perus, deren Impulse er selbst noch bei Feldstudien in den Hochanden verspürt. Die Städte in der arguedianischen Darstellung sind immer auf zwei Ebenen zu verstehen, sie bilden selbstähnlich Mikrokosmen einer universellen Ordnung ab und sind zugleich Punkte in global-historisch bedeutenden Netzwerken der Kolonialstädte, in den Dynamiken der Modernisierung, in seiner neuen – kulturellen – Kartierung Perus und Lateinamerikas im globalen Kontext, von denen sie intern maßgeblich gestaltet und bedingt werden. Diese dynamische Konstellation kann somit an die von Ottmar Ette – anhand der in Haus und Insel fraktal enthaltenen Inselwelt der Karibik – entwickelte Ausweitung auf transareal wie transdisziplinär erfasste Kulturprozesse der Amerikas angeschlossen werden: Bei ihrem ersten Auftauchen in Amerika verfügten die Spanier über weitreichende Erfahrungen mit Inseln. Ihre Vertrautheit mit Inseln als Transit- und Bewegungsräumen ermöglichte die Entfaltung einer Insel-Logik, die eine Grundvoraussetzung für die so rasche Eroberung des Festlandes nicht im Sinne der Inbesitznahme weiter Landflächen, sondern der Besetzung und nachfolgenden Absicherung beziehungsweise Versorgung singulärer Zentren darstellte. [...] Das ›Insulin‹, das dem zu errichtenden Kolonialkörper ›gespritzt‹ wurde, führte in logischer Konsequenz zur Stärkung einer externen Relationalität, während die interne Verknüpfung der Häfen und Machtzentren mit der ›Fläche‹ rudimentär blieb. Auch dies verstärkte die Tatsache, dass sich diese Macht-Inseln und Insel-Welten auf dem Kontinent gerade nicht durch eine zusammenhängende – also kontinentale – Territorialität, sondern durch vektorielle Verfasstheit auszeichneten.36

Cuzco ist das umgestaltete und umgedeutete Zentrum ehemaliger Macht, Abancay ein exemplarischer Knotenpunkt im Netzwerk der das Landes-

36 Ottmar Ette: »Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik«, in: Marianne Braig/O.E./Dieter Ingenschay/Günther Maihold (Hg.): Grenzen der Macht/Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext, Frankfurt/Main: Vervuert 2005, S. 135180, hier S. 149 260

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innere erfassenden Städte, Chimbote eine neue Art von Scharnier der Modernisierung in Gestalt des Welthandels und Laboratorium einer neuen Transkulturation. Der Weg führt Arguedas vom kulturell noch wirksamen Herzen des Inkareichs über einen Vorposten der Kolonisierung (zurück) an die Küste, wo die Erschließung des Territoriums einst begann und die neue Phase der globalen Ordnung nun wieder ansetzt. In der unmittelbar externen Einflüssen ausgesetzten Küstenstadt, an der »Schale [Perus], die schützt und unterdrückt« – so der Missionar Maxwell (ZA 218) –, setzt Arguedas weiterhin auf die zukunftsträchtige Rolle des »tiefen«, indigenen und mestizischen Perus für die Nation auf dem Weg zu sich selbst. Doch der Weg von Cuzco nach Chimbote verdeutlicht, dass die kulturellen Ordnungen sich auf neue und komplexe Weise verschränken und konstituieren. Auch die Stadt der Schrift und Bildung in Ramas Analyse muss in diesem neuen Kontext weiter gedacht werden. Eine Aufgabe, die Gustavo Remedi wie folgt formuliert: En este sentido todavía no hemos emprendido una cartografía de la ciudad letrada durante las dictaduras, durante las transiciones; ni tampoco el modo en que el exilio reconfiguró aspectos de la ciudad letrada y del propio proceso de la transculturación, ni el modo en que la cultura se produce y se administra dentro del modelo cultural neoliberal global.37

Entsprechend erscheint im ›brodelnden‹ Chimbote in der Gedankenlinie Julio Ortegas38 und Martin Lienhards ein »neues Cuzco« als postmoderner Mikrokosmos Perus und »schreckliche Metropole eines neuen modernen und proletarischen Tahuantinsuyu«,39 in dem nicht mehr Mauern oder Stadtanlagen die historischen Tiefenschichten einer Kultur kenntlich machen, sondern ihre Spuren und neuen Gestalten im Wirbel der global beschleunigten Transkulturation verfolgt werden müssen.

37 Gustavo Remedi: »Ciudad letrada: Ángel Rama y la espacialización del análisis cultural«, in: Mabel Moraña (Hg.): Ángel Rama y los Estudios Latinoamericanos, Pittsburgh: IILI 1997, S. 97-122, hier: 112. ›In diesem Sinne haben wir noch keine Kartographie der ciudad letrada während der Diktaturen und der Transitionen erstellt, auch nicht der Art und Weise, wie das Exil Aspekte der ciudad letrada und den Prozess der Transkulturation selbst rekonfigurierte, auch nicht die Art und Weise, wie die Kultur innerhalb des globalen neoliberalen Kulturmodells produziert und verwaltet wird.‹ 38 Vgl. Julio Ortega: Texto, comunicación y cultura: Los ríos profundos de José María Arguedas, Lima: Centro de Estudios para el Desarrollo y la Participación 1982, S. 29. 39 M. Lienhard: »La ›andinización‹ del vanguardismo urbano«, S. 326. 261

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Literatur Arguedas, José María: »El nuevo sentido histórico del Cuzco«, in: J.M.A.: Indios, mestizos y señores, Lima: Editorial Horizonte 1985, S. 131-138. Arguedas, José María: Los ríos profundos, 2. Aufl., Caracas: Biblioteca Ayacucho 1986. Arguedas, José María: El zorro de arriba y el zorro de abajo, kritische Ausgabe, hg. von Eve-Marie Fell, 2. Aufl., Madrid: ALLCA 1997. Bernabé, Mónica: »La poética del forastero en El zorro de arriba y el zorro de abajo, de José María Arguedas«, in: Iberoamericana. América Latina – España – Portugal, Jg. 1 (2001), Nr. 2, S. 5-26. Borsdorf, Axel/Wilhelmy, Herbert: Die Städte Südamerikas. Teil 2: Die urbanen Zentren und ihre Regionen, Berlin, Stuttgart: Gebrüder Bornträger 1985. Chiappini, Ligia: »Fronteiras culturais e cultura fronteiriça na comarca pampeana: obras exemplares«, in: L.C./Mária Helena Martins/Sandra Jatahy Pesavento (Hg.): Pampa e Cultura de Fierro a Netto, Porto Alegre: Editora da UFRGS 2004, S. 251-280. Cornejo Polar, Antonio: »Migrant Conditions and Multicultural Intertextuality. The Case of José María Arguedas«, in: Sandra BoschettoSandoval/Ciro A. Sandoval (Hg.): José María Arguedas. Reconsiderations for Latin American Cultural Studies, Athens: Ohio UP 1998, S. 187-192. Ette, Ottmar: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin: Kadmos 2004. Ette, Ottmar: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin: Kadmos 2005. Ette, Ottmar: »Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik«, in: Marianne Braig/O.E./Dieter Ingenschay/Günther Maihold (Hg.): Grenzen der Macht/Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext, Frankfurt/Main: Vervuert 2005, S. 135-180. Ette, Ottmar: ›Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft‹, in: Lendemains (Tübingen), Jg. 32 (2007), H. 125, S. 7-32. Lienhard, Martin: »La ›andinización‹ del vanguardismo urbano«. In: José María Arguedas: El zorro de arriba y el zorro de abajo, Madrid: ALLCA 1997, S. 312-332. Marin, Gladys C.: La experiencia americana de José María Arguedas, Buenos Aires: Cambeiro 1973.

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Abbildungen Abb. 1: Aus: Wolfgang Wurster: »Dos mundos, una ciudad: El Cuzco, capital de los Incas y ciudad colonial española«, in: Hanns-Albert Steger (Hg.): La concepción de tiempo y espacio en el mundo andino, Frankfurt/Main: Vervuert 1991, S. 154-155. Abb. 2: Aus: Gladys C. Marin: La experiencia americana de José María Arguedas, Buenos Aires: Cambeiro 1973., S. 140.

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Abb. 3: SERPAC AGENCIAS S.A.C; http://www.serpac.com.pe/Port_ Chimbote_Chart.htm [Abruf 20.2.2009] Abb. 4: Aus: Axel Borsdorf/Herbert Wilhelmy: Die Städte Südamerikas. Teil 2: Die urbanen Zentren und ihre Regionen, Berlin, Stuttgart: Gebrüder Bornträger 1985, S. 97. Abb. 5: Aus: José María Arguedas: El zorro de arriba y el zorro de abajo, kritische Ausgabe, hg. von Eve-Marie Fell, 2. Aufl., Madrid: ALLCA 1997, S. 108.

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P L Ä N E V O N S T Ä D T E N , P L Ä N E V ON T E X T E N : D I E K A R T O G R A P H I S C HE I M A G I N A T I O N V O N R O B E R T M A J Z E LS U N D K A R E N T EI Y A M A S H I T A DOROTHEA LÖBBERMANN Im Jahre 1997 erschienen in Nordamerika zwei Romane, die sich auf unterschiedliche Weise mit der Komplexität, Heterogenität und Vielschichtigkeit von urbanem Raum auseinandersetzen: Robert Majzels MontrealRoman City of Forgetting und Karen Tei Yamashitas Los AngelesRoman Tropic of Orange.1 Den nordamerikanischen Kontinent von seiner nordöstlichen bis zu seiner südwestlichen Küste gewissermaßen einrahmend, entwickeln diese beiden Romane Konzepte von urbanem Raum und seiner Darstellung, die ich als Beispiele für die kartographische Imagination des ausgehenden Zwanzigsten Jahrhunderts untersuchen möchte. Kartographische Imaginationen ist ein Begriff, den David Harvey eher nebenbei entwickelt hat, um das urbanistische Schreiben von Honoré de Balzac darzustellen, dessen »Zugriff« auf das Paris des Zweiten Kaiserreichs er mit den Begriffen Detailtreue, Objektivismus, Differenzierung (insbesondere in Hinblick auf Klassendifferenz) charakterisiert, als eine »totalisierende Vision« des gesamten Stadtraums mit all seinen Widersprüchen, Geschichten und möglichen Zukünften sowie durch die Selbstermächtigung des Autors, der als Erschaffer, Kartograf und Interpret der Stadt diese erst ›lesbar‹ macht.2 Harvey vergleicht Balzacs Projekt, Paris zu »erschaffen«, mit George Haussmanns Plan von Paris und fragt nach der respektiven Macht von Schriftsteller und Stadtplaner als Agenten sozialen Wandels. Balzacs kartografische Imagination, so sein Ergebnis, kreiert zum einen die ›subversiven‹ Räume der niedrigeren Klassen, zum anderen macht er die Geheimnisse und Kräfte der bürgerlichen Werte sichtbar und damit durchschaubar. Die Karte, so Harvey, ist ein Instru-

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Robert Majzels: City of Forgetting, Toronto: Mercury Press 1997; Karen Tei Yamashita: Tropic of Orange, Minneapolis: Coffee House Press 1997. Vgl. David Harvey: »City Future in City Past: Balzac’s Cartographic Imagination«, in: Joan Ramon Rosina/Dieter Ingenschay (Hg.): AfterImages of the City, Ithaca: Cornell UP 2003, S. 23-48, hier S. 47. 265

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ment der Hegemonie, aber sie kann deutlich demokratische und befreiende Funktionen haben – selbst bei einem politisch so konservativen Autor wie Balzac.3 In Nordamerika stellt sich die Frage nach der kartografischen Imagination literarischer Texte am Ende des 20. Jahrhunderts neu. Das historische Paradigma, das laut Michel Foucault das 19. Jahrhundert dominiert hatte, ist im 20. Jahrhundert einem räumlichen gewichen, das die Welt nicht mehr über historische Teleologien, sondern über Gleichzeitigkeiten und Heterogenitäten im Raum versteht.4 Der spatial turn trifft in Nordamerika zudem auf ein historisches und kulturelles Selbstverständnis, das sich schon immer stark über den zu erobernden, zu verteidigenden, zu entwickelnden und zu durchquerenden Raum gebildet hat. Dies betrifft US-amerikanische und kanadische Vorstellungen von der ›Weite des Landes‹ (und seiner Eingrenzung/Aufteilung) genauso wie die von umkämpften innerstädtischen Räumen.5 Globalisierung und Postmoderne haben neue Räume und neue Darstellungs- und Interpretationsmodi geschaffen, in denen Vernetztheiten jeglicher Art eine genauso große Rolle spielen wie die mit der postkolonialen Theorie verwandte Skepsis vor der Macht der Karte (die wiederum in einem Zusammenhang mit der Skepsis vor der Macht des Erzählers steht).6 Gleichzeitig bezeugt eine Allgegenwart der Metaphorik der Karte – im unübersetzbaren englischen Begriff ›mapping‹ am deutlichsten dargestellt – von der weiterhin anhaltenden Präsenz des Stadtplans oder der Karte als Ordnungs- und Interpretationsinstrument für kulturelle, gesellschaftliche und psychologische Prozesse.7 All diese Elemente bestimmen die kartografische Imagination der Texte, die im Folgenden untersucht werden sollen. Sie zeichnen sich

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Vgl. ebd. S. 45-48. Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck u.a (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1998, S. 34-46. Vgl. z.B. Klaus Benesch/Kerstin Schmidt: Space in America: Theory – History – Culture, Amsterdam, New York: Rodopi 2005. Zur postkolonialen Kritik am Kartografieren vgl. z.B. Graham Huggan: »Decolonizing the Map: Post-Colonialism, Post-Structuralism and the Cartographic Connection«, in: Ariel 20.4 (1989), S. 115–131; José Rabasa: »Allegories of the Atlas,« in: Francis Barker u.a. (Hg.): Europe and its Others, 2 Bde. Colchester: University of Essex 1985, Bd. 2., S. 1-16. Zu dieser Beobachtung kommt auch Robert Stockhammer: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur, München: Fink 2007, S. 15. Stockhammers wertvolle Untersuchung von Texten des 18. und 19. Jahrhunderts füllt die große Lücke zwischen Balzac und den hier diskutierten Texten. 266

PLÄNE VON STÄDTEN, PLÄNE VON TEXTEN

durch eine verstärkte Reflexivität der räumlichen Metaphorik einerseits und ein In-Verbindung-Setzen der Gestaltung des urbanen Raums mit der des Text-Raumes andererseits aus, durch eine Reflexion der Ordnungssysteme von Stadtplan und dem Plan, der dem eigenen Text unterliegt, und ein Verständnis von der eigenen textlichen Arbeit aus dem Geiste der Karte. Dabei ist die Ambivalenz der Karte – des Stadtplans – ein roter Faden: Robert Majzels und Karen Tei Yamashita erzählen sowohl mit dem Stadtplan als auch gegen ihn. Majzels und Yamashitas Stadträume sind von einer starken Heterogenität und Disparatheit geprägt, deren Darstellung das Anliegen beider Romane ist. Um die gesellschaftlichen, kulturellen, physischen Prozesse der Stadt jenseits ihres Planes zu erzählen, müssen Ordnungen hinterfragt und umgestürzt werden: Dies betrifft sowohl die Narration, die sich in beiden Romanen aus einem vielstimmigen, deutlich intertextuellen Mosaik zusammensetzt, als auch die Handlung, die in beiden Romanen apokalyptische Züge annimmt, in denen der Raum, wie wir ihn kennen, zerstört wird.

Ro b er t Ma jz el s : C i ty o f F o r g e t ti n g Robert Majzels Roman City of Forgetting ist nicht zu unrecht mit Joyces Ulysses verglichen worden: Er verwendet viele der Verfahren von Ulysses, und ›macht‹ in vielerlei Hinsicht das mit Montreal, was James Joyce mit Dublin ›macht‹.8 Dies betrifft sowohl seine präzisen Örtlichkeitsund Wegbeschreibungen, die intertextuellen Referenzen, insbesondere das Aufrufen von Mythen, und die Juxtaposition verschiedener Erzählmuster, -stile und -modi. Anders als in Ulysses – aber ähnlich wie in Yamashitas Tropic of Orange – findet die Desintegration am Romanende nicht nur auf der textlichen Ebene statt, sondern auch auf der Handlungsebene bzw., viel konkreter, im Raum der von einem Erdbeben heimge8

Jack Ruttan: »The City as Living Library«, in: Place Publique 2003, http://www.richardgagnon.com/jack/articles/Majzels.htm [Abruf 22.2. 2009. Vgl. auch Dominic Beneventi: »Lost in the City: The Montreal Novels of Régine Robin and Robert Majzels«, in: Justin D. Edwards/Douglas Ivison (Hg.): Downtown Canada: Writing Canadian Cities, University of Toronto Press 2005, S. 104-121; Lianne Moyes: Interview mit Robert Majzels, in: Angela Carr u.a. (Hg.): The Matrix Interviews, Washington: DC Books 2001, S. 127-146; Angela Carr: »Unexpected Adjacencies: Robert Majzels’s City of Forgetting«, in: Domenic Beneventi/Licia Canton (Hg.): Adjacencies: Minority Writing in Canada, Toronto: Guernica Editions Inc. 2003, S. 168-189. 267

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suchten Stadt. Anders als Yamashitas Roman, dessen postmodernes Los Angeles, wie wir sehen werden, stärker popkulturell konnotiert ist, steht City of Forgetting eher im Zeichen einer hochkulturellen Postmoderne. Majzels setzt sich ausführlich (wenn auch nicht ausschließlich) mit Prätexten aus der klassischen Moderne auseinander. Mythos und Alltag verweben sich in seinem Montreal – wie in Joyces Dublin – im sehr präzise dargestellten Raum der Stadt; ein Fokus auf Obdachlosigkeit, Müll und Auswurf, auf zerstörte Kommunikationsformen wie die LoAbb. 1 gorrhö (die überstürzten Redeflüsse) vieler Charaktere und die Echolalie eines Charakters, sowie eine alles penetrierende Unordnung untergraben jedoch Joyces virtuoses Ordnungs- und Verweisungsprinzip. Während Joyce mit seinem Text den Stadtplan ersetzt – dieser fungiert für den Roman als Gerüst, das mit Narration, Zeitlichkeit und Mythos ›belebt‹ wird –, stellt Majzels beide Formen der urbanen Repräsentation nebeneinander. Seinem Text ist ein Stadtplan vom realen Ort der Handlung vorangestellt, eine gewissermaßen traditionelle Karte, wie sie sich am Anfang vieler historischer und fiktionaler Bücher befindet (Abb. 1). Majzels signalisiert damit sein Interesse an dieser Tradition, aber auch an der Geschichte, die sich dem Stadtplan entnehmen lässt, und in die sein Text vorstößt, sowie an der urbanen Gegenwart, die Plan und Text gleichermaßen darstellen. Die Leser des Romans werden aufgefordert, die Standorte und Bewegungen der Charaktere nicht nur zu verfolgen, sondern auch in die topographische Realität von Montreal zurückzuführen. Alle sechs Hauptcharaktere des Romans sind obdachlose Männer und Frauen. Vier von ihnen – sie heißen Clytaemnestra, Lady Macbeth, Che Guevara und Suzy Creamcheez – haben ein Lager in der Nähe des Aussichtspunktes auf dem Berg Mont-Royal aufgeschlagen; die anderen zwei – Le Corbusier und de Maisonneuve – hausen in einem Graben am historischen Hafen von Old Montreal. Die Namen der Charaktere und ihre Identitäten zeigen, dass sie nicht nur materielle Obdachlose sind: Sie sind auch aus ihren fiktionalen und historischen Texten herausgefallen

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(textually homeless). Die Charaktere, die am Hafen der Stadt hausen, sind Gründerväter-Figuren: Paul Chomedey, Monsieur de Maisonneuve ist der jesuitische Gründer von Montreal, der immer noch gegen die angreifenden Indianer kämpft; der Architekt Le Corbusier ist der Konstrukteur visionärer Städte, der jede Gelegenheit ergreift, die Welt von seinem universalen Maßstab Modulor zu überzeugen. Im Berglager dagegen wohnen die Herrscher und Rebellen: Che Guevara als sozialistischer Guerilla-Kämpfer, der den Kontakt zu seiner Truppe verloren hat und sich kurz vor der Niederlage weiß; Clytaemnestra, die letzte Matriarchin, die einst über die Stadt regierte (»the last matriarch to rule the city«9) und nun den Horizont nach dem Gatten absucht, den sie ermorden wird, und nach dem Sohn, der sie ermorden wird; Lady Macbeth, die die Ohnmacht der unterdrückten Frauen verflucht; und Suzy Creamcheez, eine anarchistische Punkerin, die mit ihren Gedächtnisstörungen und ihrer Echolalie die Kategorien Identität und Subjektivität problematisiert (ihr Name ist mehreren Frank Zappa-Songs entsprungen; in ihrer Ikonografie erinnert sie an die australische Comic-Heldin Tank Girl). Die textuell obdachlosen Charaktere vegetieren, gefangen in ihren jeweiligen Obsessionen, im urbanen und kulturellen Raum der Gegenwart bzw. des neuen Textes, in dem sie unbeholfen untergekommen sind: Majzels Roman. Majzels Technik der Intertextualität drückt sich nicht nur in den vielen Charakteren aus, die aus anderen, mehr oder weniger kanonischen Texten stammen, sondern auch in einer Inkorporierung dieser Texte selbst im Roman. Die Tagebücher Che Guevaras werden hier genauso zitiert wie Stellen aus Aischylos, Shakespeare, oder aus Le Corbusiers Texten. Majzels markiert die Zitate nicht, verweist jedoch in einem Anhang auf ihre Quellen. Dieser hypertextuelle bibliographische Anmerkungsapparat verhöhnt mit seiner Ordnung gewissermaßen den Text selbst, in dem all die Quellen unterscheidungslos zusammenfließen. Er stellt Identität und Eigentümerschaft (ownership) her, wo der Text diese verschleiert. Dieses Verhältnis von textueller Ordnung und Unordnung wird auch inhaltlich dargestellt: In dem Erdbeben gerät die Ordnung der Universitätsbibliothek, die als der Ort inszeniert ist, aus dem alle Texte stammen, durcheinander. Während die Handlung an den beiden auf der Karte extremen Punkten Berglager und Hafen beginnt, nähern sich die Figuren im Laufe der Zeit räumlich einander an: Zum einen treffen sie in der Innenstadt aufeinander, wo sie ihren verschiedenen Aktivitäten nachgehen (Betteln, Stehlen, Flaschen- und Blech-Sammeln etc.), zum anderen zwingt ein

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R. Majzels: City of Forgetting, S. 10. Seitenzahlen im Folgenden im fortlaufenden Text mit der Sigle M. 269

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Hochwasser Maisonneuve und Le Corbusier, den Hafen zu verlassen und sich den Bewohnern des Berglagers anzuschließen. Nach dieser Zusammenführung werden sie jedoch wieder in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Der Roman endet in der Bibliothek der McGill University, dem Ort, aus dem der Roman geboren wurde (ich komme später darauf zurück). Vom Aussichtspunkt auf dem Berg bis hinunter zum Hafen und weiter hinab in die U-Bahnhöfe und schließlich in die unterirdischen Verließe der Bibliothek werden die verschiedenen Höhen- und Tiefenschichten der Stadt erkundet. Die Topographie der Stadt wird als Muster für eine Erzählung verwendet, die historische Tiefen nicht nur der Stadt, sondern auch im kulturellen Imaginären auslotet – die Mythen, Geschichten und Diskurse, auf denen die heutige Stadt basiert. Dadurch, dass diese Geschichten nur in einem Fall (Maisonneuve) historisch mit der Stadt Montreal verknüpft sind, bezieht Majzels die (westliche) Kulturgeschichte in die Montrealer Matrix ein. Montreal ist im Geiste zusammengesetzt aus Erzählungen aus dem antiken Griechenland (Clytemnaestra), der südamerikanischen Revolution (Che Guevara), der sich über den Globus erstreckenden Architekurmodene (Le Corbusier), der westlichen Postmoderne (Suzy Creamcheez) usw. Hier wird ein Erzähler sichtbar, der sein Montreal darstellt, das sich aus einer sehr spezifischen Lektüre zusammensetzt. In dieser Art von Text übernimmt der Stadtplan, der unverkennbar das gegenwärtige Montreal mit seinem Gittermuster, seinen modernen Einrichtungen, seiner U-Bahn wiedergibt, verschiedene Funktionen. Erstens macht er in seiner Betonung des Hier die Deplaziertheit derjenigen Charaktere deutlich, die in Wirklichkeit Montreal nie betreten haben und auch sonst keine etablierte Verbindung zu dieser Stadt haben (z.B. Che Guevara). Zweitens macht er in seiner Betonung des Jetzt den Anachronismus der historischen Figuren deutlich (z.B. Maisonneuve). Wo der narrative Text das Wandern durch Räume und Zeiten zulässt, beharrt der Stadtplan auf einem bestimmten zeitlichen und räumlichen Moment. Drittens überführt er als Realitätseffekt nicht nur die räumlich und historisch deplazierten, sondern vor allem auch die fiktiven Charaktere in den realen Stadtraum (z.B. Lady Macbeth). Während mit dem Personal der Stadt gespielt wird, wird der Stadtplan nicht fiktional modifiziert: an seiner Authentizität und Autorität gibt es keinen Zweifel. Der Stadtplan erlaubt dabei ein lustvolles Spielen zwischen der visuell scheinbar erfassbaren Wirklichkeit und der im Lesen real erfahrbaren Fantasie. Gleichzeitig jedoch ist die Übertragung des Fiktiven in die Realität nicht nur als Spiel zu verstehen. Denn die fiktiven Charaktere sind tatsächlich Teil der gegenwärtigen Realität der Stadt: zeitgenössische Leser aus Montreal

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konnten in der Figur Le Corbusiers jenen obdachlosen Mann erkennen, der mit Hund und Wagen durch die Stadt strich und Dosen einsammelte, und in Lady Macbeth jene obdachlose Frau, die mit ihrer Mundharmonika in den neunziger Jahren die Prince Arthur-Fußgängerzone heimsuchte.10 Die Tatsache, dass die Orte der Stadt über die Figur der Obdachlosen erschlossen werden, ist ein Zeichen für die Hinterfragung der Funktion des Stadtplans, für die Funktion der Orte, ihrer Bedeutung und schließlich der ›Ganzheit‹ einer Stadt, in deren Lücken sich die homeless persons aufhalten.11 Die Visionen jedoch, die die Charaktere aus diesen Lücken heraus entfalten, bilden den vierten Bezug des Stadtplans zum Text. Wie die spirituellen, revolutionären, architektonischen, feministischen Visionen der fiktiven Obdachlosen ist der Stadtplan eine Vision von Ganzheit, von Überblick und Ordnung. Doch die Visionen der Charaktere drehen sich im Kreis und sind in ihren Diskursen verfangen, ohne sich entfalten zu können. Hier deutet sich eine Begrenzung der Macht des Stadtplans an, die im Roman allerdings nicht explizit Thema ist. City of Forgetting ist ein Roman über Weltentwürfe und Pläne. Clytaemnestra, Lady Macbeth, Che Guevara, de Maisonneuve und Le Corbusier sind alle in ihre Pläne, Kriege und Visionen verstrickt. Einzig Suzy Creamcheez ist so vergesslich und planlos, dass sie häufig noch nicht einmal weiß, wer sie ist. Ihr identitätsloser Charakter ist eine Art Korrektiv zu den monoman Besessenen. Majzels entledigt diese Pläne ihrer historischen und kulturellen Kontexte und ihrer Zeitlichkeit (Clytemnaestra wird immer auf ihren Sohn warten, der sie mordet; Lady Macbeths Feminismus ist auf eine ahistorische und entkontextualisierte Männerfeindlichkeit zusammengeschrumpft; Che Guevara weiß, dass er den GuerillaKrieg verloren hat, kann sich jedoch nicht aus ihm herausziehen usw.). Die Gefangenheit der Charaktere in der Wiederholung, die Enthobenheit der Handlung aus der Geschichte variiert dabei die Gegenwärtigkeit des Stadtplans. Die Bloßstellung der Visionen ist ein postmodernes SichVerabschieden von den grands récits – von Erzählungen, das sollte hin10 Vgl. Ruttan: »City as Living Library«, o.S. 11 An anderer Stelle argumentiere ich, dass die Figur des Obdachlosen in der US-amerikanischen Literatur es ermöglicht, die fragmentierte Stadt als dekonstruiertes ›Ganzes‹ darzustellen. Vgl. Dorothea Löbbermann: »Exploring Post/Modern Urban Space: Homelessness and American Literature« in: Walter Moser/Alvaro Pires/Pascal Gin (Hg.): Modernité en transit/Modernity in Transit, Ottawa: University of Ottawa Press (im Druck). Zum komplizierten Verhältnis von Obdachlosigkeit und Stadtplan vgl. mein »Weg(be)schreibungen, Ortserkundungen: Transients in der amerikanischen Stadt« in: Robert Stockhammer (Hg.): Topographien der Moderne, München: Fink 2005. S. 263-185. 271

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zugefügt werden, deren Kraft und Motivation nicht angezweifelt wird, und denen der Text durchaus sympathisierend begegnet. Allerdings wird ihr Ausschließlichkeitsanspruch kritisiert sowie ihre Radikalität, die im Sinne eines clean slate Geschichten ausradieren will und von Visionen des Neuanfangs beseelt ist, die sich als fatal herausgestellt haben. Die Sehnsucht nach der Tabula rasa und die Vision einer überzeitlichen Ordnung verbinden sich in dem Charakter Le Corbusiers mit dem Plan von der perfekten Stadt. Als Zeichner von Stadtplänen steht Le Corbusier in einem Konkurrenzverhältnis mit dem Autor, der ebenfalls eine Stadt ›zeichnet‹, jedoch eine, deren gelebte Realitäten, Widersprüche und ›kleinen Erzählungen‹ (bzw. Gegenerzählungen) den visionären Plan von der Stadt modifizieren und ergänzen. In der Gegenüberstellung von Autor und Architekt entwickelt Majzels seine eigene kartografische Imagination. Le Corbusier ist in City of Forgetting ein kauziger Alter, der die Welt von seinem Universalmaßstab Modulor überzeugen will, jenem Proportionssystem, mit dem der historische Le Corbusier der Architektur eine am Maß des Menschen orientierte Ordnung verleihen wollte. Ein wichtiges Handlungsmotiv im Roman ist Le Corbusiers Versuch, Rockefeller von einer Partnerschaft zwischen dessen Kapital und seinem eigenen Genie zu überzeugen. In einem Brief an Rockefeller zählt er – wie in einem Bewerbungsschreiben – seine eigenen Leistungen auf, die in der Realisierung der in dem 1950er Jahren erbauten indischen Stadt Chandigarh kulminieren (er schreibt von sich selbst in der dritten Person): [In Chandigarh, at last] Le Corbusier was given free reign to plan an entire city down to the last detail, and without the encumbrance of a single previously standing structure. Instead: a vast, limitless plain. Try to imagine, sir: the geometrical event was, in truth, a sculpture of the intellect, a battle of space fought within the mind. Arithmetic, my dear M. Rockefeller, texturic geometrics: standing there, surveying the empty plain (only a few oxen, cows, goats, and the peasants driving them marred the clean slate), Le Corbusier laid a map of the city over the sun-scorched fields. Now in that self-same place stands Chandigarh, a grid of straight wide highways on crossed axes with the financial offices at the centre, and the giant housing units branching out in the arms of the cross. The Radio-Concentric City of Exchange: no more filth, disease, homelessness, disorganization. Against the vast sweep of plain and the distant mountains, Chandigarh asserts the lasting presence of man, countering the uncertainty of fate with a certainty of vision. (M 58-59)12

12 Die von mir kursiv hervorgehobene Passage ist ein Zitat aus den Texten Le Corbusiers. 272

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Le Corbusiers Chandigarh, die »City Beautiful«, ist perfekt, weil sie ganz nach einem perfekten Plan funktioniert. Indem er den Stadtplan über die Felder legt, zaubert Le Corbusier gewissermaßen die Stadt aus seinem Geist hervor. Stadt und Plan werden hier eins. Allein die Ochsen und Bauern stören, sie verunzieren die Tabula rasa (auch sie sind eine Anspielung an ein Zitat Le Corbusiers; vgl. M 82). Diese allerdings – und mit ihnen die »filth, disease, homelessness, disorganization« – sind die verdrängten Elemente, die in City of Forgetting zurückkommen. Wenn Le Corbusier Rockefeller auffordert: »Together we shall eliminate the arbitrary, the chaotic spontaneity of your cities« (M 60), dann fährt Majzels damit Reizworte der Postmoderne auf, die den negativen Charakter, den sie in Le Corbusiers Äußerungen hatten, verloren haben: Arbitrarität, Chaos und Spontaneität bedrohen nicht mehr die monumentale modernistische Ordnung, sondern werden im heutigen Diskurs als notwendige Elemente einer sich immer wieder neu erschaffenden postmodernen Welt verstanden. Es fällt dementsprechend leicht, Le Corbusiers Vision als größenwahnsinnig und lächerlich zu verstehen. Folgerichtig hat Le Corbusier bei den anderen Charakteren mit seinen Ideen keinen Erfolg. Besonders die Frauen verhöhnen seinen Maskulinismus. Che Guevara kritisiert seine Anbiederung ans Kapital, Suzy Creemcheez randaliert gegen seinen Ordnungswahn. Während die Bloßstellung des Größenwahns und der Egomanie Le Corbusiers durchaus eine der Funktionen des Textes ist, erwecken die viele Passagen auf der anderen Seite auch ein Verständnis für Le Corbusiers Idealismus, der in seinen Stadtvisionen eine ideale Gemeinschaft anstrebte, die die Bewohner glücklich machen sollte, und dessen Sinn für Schönheit und vor allem für die Schönheit der Mathematik eine Poesie verrät, deren Zauber dem Leser nicht verborgen bleibt.13 Le Corbusiers poetische Schaffenskraft ist der des Autors gar nicht so unähnlich. Doch anders als Le Corbusier arbeitet Majzels nicht mit der Tabula rasa, sondern explizit mit bereits vorgefundenem Material: Sein Text ist nicht über ein »empty plain« gestülpt, sondern interagiert mit bereits existierenden anderen Texten – darunter denen Le Corbusiers. Während Le Corbusier das kulturell Andere (die indischen Bauern und ihre Ochsen) mit seinem Plan zudeckt, macht Majzels Differenz und Vielstimmigkeit zu einem Ordnungssystem seines Romans. 13 »›Mathematics‹, Le Corbusier sighs […], ›is the door to the absolute, the infinite, the prehensile and the unknowable. But there are walls which bar our way. Occasionally a door appears; a man opens it, enters, he is in another place: a land of gods, a land containing the secret keys to all the great systems. […]‹« (M 92). Majzels zitiert hier, wie er im Anhang verrät, direkt aus Le Corbusiers Le Modulor. 273

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Vergleicht man den dem Roman vorangestellten Stadtplan von Montreal mit dem Entwurf von Chandigarh, so wird sichtbar, dass sich auch in die reale Stadt Spuren der Landschaft (der Berg, der Fluss) und der Geschichte (Straßennamen, Bebauungsstrukturen) eingeschrieben haben. Dennoch kann der Stadtplan das Palimpsest von urbanen Strukturen, das der narrative Text konstruiert, höchstens andeuten. Insoweit steht der Stadtplan zwischen der planerischen Vision des Architekten und dem narrativen Text, dessen Vielschichtig- und Widersprüchlichkeit er nicht wiedergeben kann. Trotzdem wird die Autorität des Stadtplans nicht in Frage gestellt (wir glauben der Referentialität des Plans). Obwohl der Roman eine tiefere, komplexere Wirklichkeit aufruft, kann nur der Stadtplan die räumlichen Verhältnisse in einen Blick rücken, und er tut dies im Zeichen der Referentialität auf ein reales Montreal. Der Plan liefert die Plattform für die zu erzählenden Geschichten, er konturiert ihren Handlungsspielraum, der jedoch – auch dies macht der vorangestellte Plan deutlich – in seinen Quellen und Konsequenzen, in seiner Verwebung mit Geschichte und Fiktion, weit über die Grenzen von Montreal und weit über das in der indexikalischen und ikonischen Funktion eines Plans Darstellbare hinausdrängt. Damit schließt er auch an die Karten an, die nach der ersten Besiedlung Amerikas den Lesern in Europa von den neuen Orten kündeten: was sich hinter den Strichen, Punkten und Flächen verbarg, blieb größtenteils unbekannt. Wie Le Corbusier konstruiert Majzels eine Stadt. Seine Stadt ist jedoch nicht nach einem Universalmaßstab konstruiert, sondern steht im Zeichen der Heterogenität, Konflikthaftigkeit, Vieldeutigkeit und Mehrsprachigkeit (neben der Haupterzählsprache Englisch gibt es Stellen auf Französisch, Spanisch, Griechisch und Mohawk). Ein Beispiel dafür ist Majzels Behandlung des Motivs des Kreuzes, dessen Vieldeutigkeit er durch den gesamten Roman hindurch erprobt. Bei Le Corbusier fungiert das Kreuz als wichtigste geometrische Form, auf der seine Städte aufgebaut sind (»The Radiant City […]. A cruciform. Walls of light, pure geometric forms and pristine white surfaces«; M 27). Auch für Maisonneuve spielt das Kreuz eine wichtige Rolle; hier natürlich als Symbol des Christentums. Wie sein historisches Vorbild trägt der fiktive Maisonneuve ein Kreuz auf den Berg Mont-Royal und stellt die Stadt somit unter die Macht des Christentums. Für die Irokesen dagegen, so hebt Majzels hervor, ist das Kreuz das Symbol von Krieg, Eroberung und Kampf. Im Roman zerbricht Maisonneuves Kreuz und liegt in Einzelteilen in zwei parallelen Linien auf dem Boden. Hiermit korrigiert Majzels zum einen die Geschichte, denn die Parallelen sind das irokesische Friedenssymbol (mit dem Vertrag »Tekeniteyoha:te: the Two-Row Wampum, the Treaty of the Two Paths« wird das Verhältnis zwischen den Irokesen und den

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Franzosen als das von »Two parallel lines« beschrieben, »each people living freely in its own way«: »never to cross the other’s path, never to impede the other’s progress«; M 139). Zum anderen hat Majzels hier jedoch ein wichtiges ›mise en abyme‹ gefunden: die Parallelen symbolisieren auch sein gleichzeitiges und gleichberechtigtes Nebeneinander von Geschichten. Da sich Majzels Geschichten jedoch auch kreuzen, wird deutlich, dass er seinen Text in ein komplexes Ineinander von symbolischen Ordnungen stellt. Die mehrfache symbolische Bedeutung des Kreuzes erfährt nicht nur unzählige Erwähnungen, sondern wird auch auf die sprachliche Ebene geführt, in der das Kreuz Wortspielen unterzogen wird (z.B. fühlt sich Che Guevara verraten: »Crossed-out, doublecrossed«; M 15). Le Corbusiers monomane abstrakte Geometrie des Kreuzes wird mit alternativen Bedeutungen, kulturellen Kontexten, Mehrstimmigkeiten angefüllt, und das Motiv des Kreuzes wird immer stärker aus dem urbanen Raum in den der Sprache überführt. Und natürlich ist die Sprache Majzels Baustoff – wie die Erzählungen, die sie konstruiert, und die Bücher, in denen sie aufgehoben ist. Auch insoweit gewinnt die Bibliothek, in der die Handlung des Romans endet, an Bedeutung. Schließlich ist sie der Raum, aus dem ›alle‹ Texte dieses intertextuellen Romans stammen. Ihr Katalog, so möchte ich argumentieren, ist ein Ordnungs- und Orientierungssystem, das mit dem des Stadtplans konkurriert. Beginnt der Roman mit dem Stadtplan, so endet er mit einer Signatur. Der Titel des letzten Kapitels lautet: FC317.R4581858 V.2. Wie der Stadtplan hat die Signatur eine indexikalische Funktion: sie führt an einen bestimmten Ort. Wie der Stadtplan im Roman führt sie auch aus dem Text heraus. Mit FC317.R4581858 V.2 handelt es sich um die (wirkliche) Signatur der McGill Universitätsbibliothek von Relations des Jésuites, den Briefen jesuitischer Missionare über die Missionierung und die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Indianern von Nouvelle-France, in denen der historische Paul Chomedey de Maisonneuve eine große Rolle spielte. In der letzten Szene im Roman hat Suzy Creamcheez sich vor dem Erdbeben in die Bibliothek geflüchtet, wo sie diesen in Leder gebundenen Band, der wie alle anderen Bücher auch vom Erdbeben verstreut auf dem Boden liegt, findet. Sie schlägt den Band auf und entdeckt, dass das Buch von ihrer Stadt handelt – eine Entdeckung, die sie stark erregt (M 159). Majzels führt hier seinen Leser an eine der Quellen des Buches, das der Leser selbst in der Hand hält. Es geht ihm um eine Form des kulturellen Gedächtnisses, dem die Zerstörung der alten Ordnung voranging (nach dem Erdbeben wird uns die Signatur nicht mehr zu dem Buch führen). Tatsächlich sind während des Erdbebens Che Guevara, der einen Tagesjob angenommen hatte, und ein Kollege von den fallenden Büchern im

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Keller der Bibliothek erschlagen worden. Hatte diese Szene von der tödlichen Macht kanonischen Wissens und des kulturellen Vergessens gehandelt, so führt Suzys zufälliges Auffinden der Relations die – wenn auch unsystematische – Erinnerung wieder in den Roman ein. Ihre Suche nach weiteren Büchern am Schluss des Romans verweist auf die Zufälligkeit des neuen Textes, der von dieser halb-verrückten, unter Gedächtnisstörungen leidenden Leserin in einer zerstörten Bibliothek zusammengetragen wird. City of Forgetting ist eine Version dieses Textes. Mit der Bewegung von der Karte zum Text kehrt Majzels – möglicherweise unbewusst – die Geschichte der Kartografie um: Schließlich wurden im 15. Jahrhundert die leeren Stellen in Weltkarten und Globen gerne mit Textzitaten gefüllt. In seinem Globus, der noch kein Amerika verzeichnet, füllte Martin Behaim z.B. die leeren Stellen mit Zitaten von Marco Polo und Jean de Mandeville. Er brachte damit, wie Robert Stockhammer argumentiert, »seine Abhängigkeit von ganzen Bibliotheken mit Reisebeschreibungen auf die eigene Abbildungsfläche«.14 Robert Majzels macht auf diese Bedeutung der Bibliothek für das Bild der Welt aufmerksam, indem er seinen Roman, der mit dem Stadtplan beginnt, in der Bibliothek enden lässt.

K a r en T ei Y a m a s h it a : T r o p i c o f O r an g e Während Majzels die Notwendigkeit der Neuordnung des Wissens betont, inszeniert Karen Tei Yamashita die Ordnung ihres eigenen Textes. Ihr Roman Tropic of Orange beginnt mit einer ganz speziellen Art von ›Karte‹: einem Textplan, der nicht den Stadtraum von Los Angeles darstellt, sondern den Text gewissermaßen selbst visualisiert und verräumlicht (Abb. 2, folgende Seite). Der Plan stellt zwischen den Charakteren, Wochentagen und Leitmotiven eine Verbindung her und verortet die einzelnen Textstellen im Roman. Sicherlich ist diese Tabelle keine Karte, obwohl sie durchaus deren indexikalische Funktion erfüllt; angesichts ihrer Visualisierungs- und Spatialisierungsstrategie und des Kontexts, in dem sie steht, soll sie jedoch als solche gelesen werden. Denn der Roman quillt über vor Referenzen an kartografische Ordnungen. Karten spielen inhaltlich als Mittel der Orientierung und der Kontrolle eine bedeutende Rolle und tauchen zusätzlich in einer Überzahl von Metaphern auf (»mapping«). Tropic of Orange ist noch expliziter als City of Forgetting ein apokalyptischer Roman, der mit der Figur der Sieben (7 Charaktere, 7 Tage)

14 R. Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 41. 276

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Abb. 2

die Katastrophe des Endes in ein biblisches Format stellt. Los Angeles wird über sieben Hauptcharaktere erschlossen, deren Bewegungskreis sich zum Teil auf die Stadt konzentriert, zum Teil weit über sie hinausgeht. Damit verortet Yamashita Los Angeles in einem globalen Netz von Beziehungen. Während in Majzels Roman die Stadt durch Referenzen an andere Texte verlassen wird, geht es bei Yamashita konkreter um ökonomische und kulturelle Verbindungen zu anderen Orten, wie z.B. an der globalen Vernetzung der titelgebenden Orange zu erkennen ist (wobei ein großer Bogen gespannt wird von Orange County, dem Bezirk, in den Los Angeles übergeht, zur Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der Frucht).15 Die Tabelle ermöglicht, jenseits der linearen Erzählung das Ordnungsprinzip des Romans zu erfassen. So befindet sich z.B. Kapitel 20, »Disaster Movie Week – Hiro’s Sushi«, an der Kreuzung der Kapitel um die Japanese-American Medienarbeiterin Emi (horizontale Spalte) und der Kapitel um das Thema »Cultural Diversity«, dem der Mittwoch gewidmet ist (vertikale Spalte). Geht es in Kapitel 20 um Multikulti-Kitsch in einem Sushi-Restaurant, so handelt Kapitel 19, »The Hour of the Trucks – The Freeway Canyon«, das ebenfalls unter der Rubrik »Cultural 15 Mit der Metaphorik der Globalisierung in Tropic of Orange beschäftigt sich Molly Wallace: »Tropics of Globalization: Reading the New North America«, in: symbloké 9.1-2 (2001), S. 145-160. Einen lesenswerten Einblick in Yamashitas Denken gestattet Jean Vengua Gier/Carla Alicia Tejeda: »An Interview with Karen Tei Yamashita«, in: Jouvert: A Journal of Postcolonial Studies 2.2 (1998), http://social.chass.ncsu.edu/jouvert/ v2i2/yamashi.htm; Abruf 27. Sept. 2007. 277

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Diversity« gelistet ist, von einer ganz anderen Art von Multikulturalität, nämlich der der Diversität von Autofahrern auf dem Freeway, beobachtet von einem anderen Charakter (horizonale Spalte: Manzanar Murakami), der wiederum, genauso wie Emi, die sieben Tage und ihre Themen durchläuft, sie jedoch anders füllt usw. Die Tabelle stellt dem Text sein eigenes Kompositionsprinzip voran und ermöglicht es so, auf einen Blick eine Ordnung des Romans zu erkennen, die angesichts der Personen- und Motivfülle, aber auch angesichts der Bewegungen der Charaktere, der Unordnung und des Chaos, von dem City of Forgetting handelt, leicht aus dem Blick gerät. Die Vielstimmigkeit des Romans wird dabei durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Erzählstimmen erhöht, die wiederum sehr unterschiedlichen Genres zugeordnet werden können. Wenn Majzels Intertextualität im expliziten Zitieren anderer Texte besteht, so besteht Yamashitas Intertextualität im impliziten Zitieren von Genres. Die folgende Zusammenfassung wird diese Aspekte illustrieren: Manzanar Murakami, der einzige Charakter, der sich im Roman so gut wie nicht fortbewegt, ist ein gleichermaßen verrückter und weiser Obdachlose, eine absurde Figur aus der Klassischen Moderne, der von einer Autobahnbrücke den Verkehr des Freeways, der sich ihm als polyphone Sinfonie darstellt, dirigiert. Buzzworm ist ein Aktivist, der sich um Ghetto-Jugendliche, Obdachlose und andere sozial Schwache kümmert und zu Fuß in den Straßen von L.A. unterwegs ist. Seine Figur verweist auf eine Reihe afroamerikanischer Repräsentationsmodi, besonders das black vernacular (in Sprache und Musik). Der Journalist Gabriel Balboa recherchiert Obdachlosigkeit, einen Fall von Organschmuggel über die mexikanisch-USamerikanische Grenze sowie den Aufstand der Zapatisten in Mexiko und fährt bzw. fliegt zwischen diesen Schauplätzen hin und her. Die einzige Person, deren Abschnitt in der ersten Person erzählt ist, ist dem NoirGenre der Raymond Chandler-Romane und ihrer Verfilmungen entsprungen. Rafaela Cortez ist Haushälterin in seinem Wochenendhaus in Mexiko; mit ihrem Sohn Sol muss sie vor Organschmugglern zu Fuß und per Bus nach Los Angeles fliehen. Ihre Passagen sind im Modus des Magischen Realismus gehalten. Auf der Reise trifft sie Arcangel, der – eine magische Figur, die ganz Lateinamerika verkörpert, aber auch eine Anspielung an den Aktionkünstler Guillermo Gómez-Peña – auf einer mythischen Wanderung ebenfalls nach L.A. unterwegs ist. Rafaelas Ehemann, der transkulturelle Immigrant Bobby Ngu, muss nach Tijuana fahren, um eine chinesische Kusine über die Grenze zu schmuggeln; seine Figur verweist auf den Immigrationsroman. Emi schließlich ist Gabriels Freundin und wie er in den Medien tätig: Sie produziert Fernsehnach-

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richten, und obwohl sie L.A. nicht verlässt, ist sie über das Internet nirgendwo und überall in der Welt zuhause; ›ihr‹ Genre ist die Cyberfiction. Es wird deutlich, dass Los Angeles zum einen in seiner kulturellen und ökonomischen Verbundenheit mit Mexiko dargestellt wird; gleichzeitig – das machen schon die asiatischen Namen deutlich – gibt es Verbindungen nach China, Japan, Singapur, Vietnam: Los Angeles ist Teil eines großen transamerikanischen und transpazifischen Netzes. Yamashitas vorangestellter Textplan ist das Gitter, innerhalb dessen sich die Textelemente, die sich ansonsten jeder Systematisierung verweigernden, anordnen lassen. Eine visuelle Linearität (die Kolumnen der Tabelle) steht hier im Gegensatz zu der Alinearität des Erzählens. Dabei sind Linien – ähnlich wie bei Majzels das Kreuz – ein Leitmotiv von Tropic of Orange: »line« bezieht sich bei ihr auf so unterschiedliche Dinge wie Grenzen (»urban front line«16), Telefonleitungen (Y 154), das On-line der Kommunikation im Internet (Y 246) oder die Charakterlinien in einer Handfläche (Y 45). Die wichtigste Linie des Textes jedoch ist der Wendekreis des Krebses, und diese Linie schickt sich an, jede Andeutung von Ordnung fundamental zu zerstören. Der Wendekreis des Krebses, oder der nördliche Breitenkreis, ist eine imaginäre Linie, die den Globus umspannt und eine Grenzmarke der Sonnenbahn darstellt. Sie figuriert im Roman als alternative Markierung zur mexikanisch-US-amerikanischen Grenze, die die Trennung von Nord- und Südamerika symbolisiert. Der Wendekreis lokalisiert diese nun innerhalb Mexikos, um auf die innere ökonomische und kulturelle Zerrissenheit dieses Landes aufmerksam zu machen. Er ist eine quasinatürliche Grenze, durch die die Naturalisierung der politischen Grenze hinterfragt wird. Der Wendekreis verläuft durch Gabriels mexikanisches Grundstück, was dem Ort eine persönliche Bedeutung gibt: »In Gabriel’s mind the Tropic ran through his place like a good metaphor. If it were good enough for the Tropic, it was good enough for Gabriel« (Y 5). Yamashita lässt offen, wofür der Wendekreis eine Metapher ist, aber es liegt nahe, dass sie sich auf Gabriels geteilte Nationalität als Mexikaner und Amerikaner bezieht. Direkt auf dem Wendekreis hat Gabriel einen Orangenbaum gepflanzt, durch dessen einzige Frucht sich eine magische Linie zieht: »finer than the thread of a spiderweb«, »something like a thin laser beam« (Y 12). Diese Linie ist gewissermaßen eine Materialisierung des Wendekreises. Genau im Moment der Sonnenwende fällt die Orange, eine irdische Entsprechung der Sonne, vom Baum. Sie wird von Sol, Rafaelas kleinem Sohn, der die Sonne im Namen trägt, aufgehoben. Im wei-

16 K.T. Yamashita: Tropic of Orange, S. 217. Seitenangaben im Folgenden im fortlaufenden Text mit der Sigle Y. 279

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teren Verlauf der Geschichte trägt er die Orange nach Los Angeles und zieht mit der magischen Linie den gesamten Süden mit sich (wir befinden uns also tief im Genre des Magischen Realismus). In der Folge geraten Zeit und Raum durcheinander, sie ziehen sich zusammen und weiten sich, werden »elastisch« (Y 149). Alle Charaktere sind von dieser Veränderung betroffen. Bobby vergleicht das Phänomen mit dem Effekt einer Waschmaschine: »Streets streched and shrunk this way and that. Someone put this city in the washer/dryer. Shrunk 50% in places. Then ironed it out 200% in others« (Y 230). Menschen gehen und fahren, ohne sich fortzubewegen, Landschaften werden endlos, die Reviere von Gangs verschieben sich, Gewehrkugeln schießen an ihrem Ziel vorbei, da sich der Raum krümmt und Distanzen sich verändern. Landkarten, Stadtpläne und Uhren versagen ihren Dienst, und alle Kultur- und Sportereignisse in L.A. finden plötzlich gleichzeitig statt: Das Resultat ist absolutes Chaos in den Geschicken der Charaktere und auf den Straßen. Der mobil gewordene Wendekreis ist ein Kunstgriff, mit dem Yamashita ein Konzept von Raum als veränderlich, gemacht, vernetzt, konfliktreich (›contested‹) entwickelt. Mit dem »tropic of orange« mischt die symbolische Trennungslinie zwischen Süd- und Nordamerika den Stadtraum von Los Angeles auf. Die Weltordnung, die die Trennung aufrecht erhält, bricht in dem Moment, in dem die Koordinaten von Raum und Zeit in Unordnung geraten, zusammen. Mit dem englischen Wort für Wendekreis, »tropic«, kreiert Yamashita außerdem ein ›mise en abyme‹, da in der Konnotation »Trope« all die Wortspiele, an denen ihr Text reich ist, mitschwingen. Mit Tropen wie »der Süden dringt in den Norden ein«, die sie (ganz im Stil des Magischen Realismus) wörtlich nimmt, verbindet Yamashita Material und Metapher in einem triumphierenden Wirrwarr, das – mit der Apokalypse, die über die Stadt hineinbricht – den Kontinent und Los Angeles von ihren ideologischen Normierungen und traditionellen Repräsentationen befreit. Ähnlich wie Majzels spiegelt sie die räumlichen Operationen auf der Ebene der Sprache. Dies wird vor allem in dem Moment deutlich, wo Yamashita die Trennung zwischen der Karte und der Welt, die sie repräsentiert, verwischt. »There are maps and there are maps and there are maps« heißt es in möglicher Anspielung an Gertrude Steins Rose (Y 56), und es gibt einen Charakter im Roman, Manzanar Murakami, der durch die unterschiedlichen Funktionen der Karte »wie durchsichtige Fenster« hindurchsehen und ihr Wesen erkennen kann: ihr »complex grid of pattern«, ihr »spatial discernment» und ihren »body politic« (Y 56). Der obdachlose Dirigent des Freeways durchschaut nicht nur die verschiedenen historischen Schichten des Landes, wie das folgende Zitat zeigt, sondern auch die verschiedenen Ebenen der Karte selbst:

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PLÄNE VON STÄDTEN, PLÄNE VON TEXTEN

(What) were these mapping layers? For Manzanar they began with the very geology of the land, the artesian rivers running beneath the surface, connected and divergent, shifting and swelling. There was the complex and normally silent web of faults – cracking like mud flats baking under a desert sun, like the crevices in aging hands and faces. Yet, below the surface, there was the man-made grid of civil utilities: Southern California pipelines of natural gas; the unnatural waterways of the Los Angeles Department of Water and Power, and the great dunk tunnels of sewage (...); electric currents racing voltage into the open watts of millions of hungry energy-efficient appliances; telephone cables, cable TV, fiber optics, computer networks. On the surface, the complexity of layers should drown an ordinary person, but ordinary persons never bother to notice, never bother to notice the prehistoric grid of plant and fauna and human behavior, nor the historic grid of land usage and property, the great overlays of transport – sidewalks, bicycle paths, roads, freeways, systems of transit both ground and air, a thousand natural and manmade divisions, variations both dynamic and stagnant, patterns and connections by every conceivable definition from the distribution of wealth to race, from patterns of climate to the curious blueprint of the skies. As far as Manzanar was concerned, it was all there. (Y 57)

Die Geschichte von Los Angeles, die sich Manzanar hier räumlich offenbart, zieht sich von den Tiefen der Erde über die Vernetzungen der Oberfläche bis in die Kartierung des Himmels. Sie birst vor kartografischen Anspielungen an Stadtpläne (»maps«), Gitterraster (»grids«), Muster (»patterns«) und Entwurfspläne (»blueprints«). Diese Metaphorik ist Teil der bereits erwähnten Anspielungen an Karten – von einem Bezug auf die Karten der Gang-Reviere aus Mike Davis’ Los-Angeles-Buch City of Quartz über Überwachungstafeln der Verbrechensbekämpfung (und des Verbrechens selbst) und der Allgegenwart des »mapping«. Yamashita ignoriert Alfred Korzybskis Maxime, dass Karte und Terrain zwei verschiedene Dinge seien (»the map is not the territory«17) und vermischt Karten und das Land, das sie repräsentieren, in verwirrender Weise.18 In der sich vor seinen Augen entfaltenden Stadtlandschaft sieht Manzanar eine großartige Theorie der Karte: »a great theory of maps, musical 17 Zitiert in J.B. Harley: »Deconstructing the Map«, in: Michael J. Dear/ Steven Flusty (Hg.): The Spaces of Postmodernity, Oxford: Blackwell 2002, S. 277-289, hier 279. 18 Stockhammer führt aus, dass im Prozess der Kartierung sowohl das Land (durch ›land marks‹) als auch die Abbildungsfläche markiert werden: »Topographie kann folgerichtig sowohl die Repräsentation eines Geländes […] als auch dieses selbst bedeuten« (R. Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 40). Obwohl Yamashita dieses Phänomen nicht explizit anspricht, scheint sie es intuitiv erkannt zu haben. 281

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maps, spread in visible and audible layers – each selected, sometimes purposefully, sometimes at whim, to create the great mind of music« (Y 57). Bezeichnenderweise bedeutet »music« im Englischen sowohl Musik als auch ihre Repräsentation durch Noten. Manzanars Konzept der Auswahl der seh- und hörbaren Karten – »sometimes purposefully, sometimes at whim« – spiegelt dabei Yamashitas eigene Kompositionsmethode, in der wir zwischen Plan und Beliebigkeit nicht unterscheiden können. Diese Methode ist für die unwirkliche Atmosphäre des Romans verantwortlich, die auch die detailreichen realistischen Passagen bestimmt, aber sie ist auch ein Beitrag zur theoretischen Hinterfragung des Verhältnisses zwischen Repräsentation und ihrem Gegenstand und macht uns darauf aufmerksam, dass die Karte zwar nicht das Terrain ›ist‹, dass jedoch die Vorstellung von Terrain – und von Land und Stadt an sich – immer von dem erkennenden Auge und mithin von der Karte abhängt. Wenn Yamashita Land und Karte vermischt und das Land selbst mit dem Breitengrad in Bewegung setzt, dann reagiert sie kritisch auf den Diskurs des spatial turn, dem sie einerseits unverkennbar selbst angehört, den sie andererseits aber an seine Grenzen führt. Gewissermaßen erfüllt Yamashita eine Forderung, die Neil Smith und Cindy Katz bereits 1993 in ihrem Essay »Grounding Metaphor« aufstellten, als sie der von Althusser und Foucault beeinflussten Theoriebildung vorwarfen, mit einer unreflektierten Metaphorisierung der Karte zu arbeiten.19 Ein Ziel der Metaphorik des »positioning«, des »traveling« und des »mapping«, die der ›spatial turn‹ mitbrachte, sei mit Recht die Infragestellung der scheinbar gefestigten Ordnungen gewesen. Allerdings, so Smith und Katz, ignoriere diese Metaphorik die Komplexität des Raums selbst, der nur als Basis der Metapher angesehen wird (und nicht, wie die Metapherntheorie nahe legen würde, als Teil der Metapher, der ebenfalls affiziert wird). Während die räumliche Metapher soziale Veränderungen auf neue Art beschreiben helfe, bleibe der Raum weiterhin die unhinterfragte Plattform, auf dem sich diese Veränderungen abspielen: Wenn sich alles verändert, muss der Raum das einzig Konstante bleiben. Damit jedoch wird man der Komplexität von Raum nicht gerecht. Insoweit warnen Smith und Katz: »Spatial metaphors are problematic in so far as they presume space is not«.20 Als Geographen klagen sie eine Hinterfragung der Kategorie Raum ein und argumentieren mit Henri Levebvre, dass Raum kulturell, gesellschaftlich und politisch ›produziert‹ ist. Yamashitas Raumverschiebung ist ein Verzicht auf die stabilisierende Funktion 19 Neil Smith/Cindi Katz: »Grounding Metaphor: Towards a Spatialized Politics«, in: Michael Keith/Steve Pile (Hg.): Space and the Politics of Identity, London: Routledge 1993, S. 67-83. 20 Ebd., S. 75. 282

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der räumlichen Metapher; ihr Raum wird neu hergestellt, was sich nicht nur auf einer metatextuellen Ebene erkennen lässt (wo jeder Akt des Schreibens von der Stadt ein Herstellen eines textuellen urbanen Raums ist), sondern eben auch auf die Ebene der Handlung verschiebt: In Tropic of Orange ist der Raum ein Problem: space is problematic. Yamashitas kartografische Imagination steht wie Majzels’ im Dienste der Darstellung eines transkulturellen, transnationalen, vielstimmigen und heterogenen Stadtraums, die nur in der Brechung der verschiedenen Perspektiven möglich wird. Wie auch bei Majzels wird der Raum auf der Handlungsebene erschüttert. Yamashita geht allerdings über Majzels Technik hinaus, wenn sie den Raum nicht nur als konfliktbeladenen Schauplatz thematisiert, sondern auch in seiner vermeintlichen Gegebenheit problematisiert.

S t a d t p l ä n e u nd T ex t p l ä n e: E r z ä h l e n m it un d g e g en d e n S t a d t p l a n Kehren wir zusammenfassend zu den Karten zurück, mit denen die beiden hier diskutierten Romane beginnen. Majzels City of Forgetting ist ein Text ›über‹ Pläne (über Visionen, Gesellschaftsentwürfe und ihr notwendiges Scheitern), der mit einer Karte anfängt. Die Orte und ihre gegenwärtigen topographischen Beziehungen, die die Karte indexikalisch und ikonisch darstellt, werden zur Plattform der imaginären, historischen, möglichen Beziehungen, die der anschließende symbolische, narrative, literarische Text beschreibt. Eingesponnen in die Straßenverläufe der Stadt entwickelt Majzels einen Stadtraum, der sich in die Tiefe der historischen und fiktionalen Imagination erstreckt, deren symbolisches Zentrum die Bibliothek mit ihrem Katalog ist. Majzels Stadtraum ist gleichzeitig real und fantastisch. Wie Yamashitas Raum muss er zerstört werden, damit die festgefahrenen Diskurse in neue Bewegung kommen. Die Frau ohne Gedächtnis, Suzy Creamcheez, wird mit den Diskursresten – all der Rhetorik der Pläne, die aus den Mündern von Che Gueavara, Lady Macbeth, Le Corbusier und den anderen hervorstoßen – vielleicht einen neuen Text von Montreal schreiben. Obwohl City of Forgetting mit einem Stadtplan beginnt, endet der Roman ganz im Bereich der Literatur. Und obwohl Majzels sich für die Geschichtlichkeit (und damit Gemachtheit) von Raum und Raumrepräsentationen interessiert, benutzt er den vorangestellten Stadtplan vor allen Dingen als Realitätseffekt, dessen Wirkungsgrenzen zwar aufgezeigt werden, dessen Autorität jedoch nicht hinterfragt wird. Majzels erzählt mit dem Stadtplan, indem er dessen Wirklichkeitsbezug und seine räumliche Grundierung benutzt (»groun-

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ding«, im Sinne von Smith/Katz), und er erzählt gegen den Stadtplan, indem er urbane Beziehungen entwickelt, die der Stadtplan nicht darstellen kann. Yamashitas Tropic of Orange dagegen ist ein Text ›über‹ Karten (über Kartierungen und Machtverhältnisse im postkolonialen Raum), der mit einem Plan anfängt, einer Tabelle, die indexikalisch den anschließenden Text vorstellt und dessen unterliegende Motivstrukturen freilegt, um schließlich in ihrem symbolischen, narrativen Text die Gemachtheit des (nicht nur) urbanen Raumes durch das Motiv der Karte und der losgelösten Topographie darzustellen. Aus dem Gitternetz ihrer Tabelle entwickelt Yamashita einen Stadtraum, der sich – wie es für Los Angeles stereotyp ist – in die horizontale Weite nicht nur des ›urban sprawl‹, sondern auch der transnationalen ökonomischen und kulturellen Vernetzungen erstreckt. Yamashita erzählt gegen den Stadtplan, weil sie ihn auf der Handlungsebene zerstört, aber sie erzählt mit dem Stadtplan, weil ihr ganzer Roman auf der Figur der Karte aufgebaut ist. Die kartografische Imagination von Majzels und Yamashita wendet den realistischen Anspruch Balzacs postmodern, bleibt ihm jedoch in vieler Hinsicht verpflichtet. Für Majzels’ und Yamashitas (implizite) Autoren ist der Stadtraum nach wie vor das Objekt der Begierde, das in seiner widersprüchlichen Gänze dargestellt werden soll. Statt der realistischen Illusion einer allumfassenden Wirklichkeit arbeiten Majzels und Yamashita zwar nun mit Brüchen, Lücken und Selbstreflexivität – diese literarischen Techniken sollen jedoch unter Markierung der Leerstellen letztlich nichts anderes heraufbeschwören als ebenfalls eine Vision der Stadt. Allerdings hat sich der ›totalisierende‹ Aspekt dieser Vision verflüchtigt, und das kartografische Verlangen – die Lust daran, die Stadt zu erschaffen und ›lesbar‹ zu machen – steht nun unter den Vorzeichen der Inszenierung einer ›Einsicht‹ in die Unmöglichkeit des realistischen Projekts. Interessanter jedoch als der Wechsel von realistischem zu postmodernen Erzählen ist das Verhältnis, das die Texte zum Raum einnehmen. War der Raum von Paris für Balzac eine materielle und soziale Größe, die er vorfand und seiner Darstellung und Interpretation unterwarf, so ist der Stadtraum für Majzels und für Yamashita komplizierter geworden. Der Raum besteht nicht mehr nur aus materiellen und sozialen Bezügen, sondern ebenso aus Bildern und Texten, aus Medien und Sprache. Diese werden vom Autor nicht nur vorgefunden, sondern durch dessen Arbeit auch weiterentwickelt. Durch die Arbeit am imaginären Raum von Montreal und Los Angeles werden Weichen gestellt, die die materielle Stadt verändern können, weil der imaginäre Raum Teil der kulturellen Matrix

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ist, aus dem auch die Städteplaner schöpfen.21 Zudem sind nicht nur die sozialen Bezüge Gegenstand steter Veränderung (die es immer wieder neu zu kartografieren gilt), sondern auch der materielle Raum ist Objekt des Wandels – und eben nicht nur durch materielle Veränderungen in der Stadt (die Haussmannschen Boulevards), sondern auch durch eine neue Perspektive auf den Raum als Kategorie, die erst in der Wahrnehmung und Nutzung überhaupt entsteht.22 Illustriert Majzels literarischer intertextueller Raum vor allem den imaginativen Aspekt, der die postmoderne kartografische Imagination prägt, so illustrieren Yamashitas wandernder Wendekreis und ihr Vermischen von Karte und Land jenen mobilen, produzierten und immer wieder neu zu produzierenden Aspekt des Raums. Dieser postmoderne Blick auf den Raum hat jedoch den Stadtplan nicht obsolet gemacht. Immer noch ziert er den Beginn von Majzels Roman, und er tut dies nicht nur als nostalgisches Relikt, sondern auch mit all der Autorität des Hier und Jetzt, der ein Stadtplan fähig ist. Und obwohl Yamashitas Topographie in bisher unbekannte Bewegung geraten ist, braucht sie die Figur der Karte, um diese Veränderung zur Darstellung zu bringen.

Literatur Benesch, Klaus/Kerstin Schmidt: Space in America: Theory History Culture, Amsterdam, New York: Rodopi 2005. Beneventi, Dominic: »Lost in the City: The Montreal Novels of Régine Robin and Robert Majzels«, in: Justin D. Edwards/Douglas Ivison (Hg.): Downtown Canada: Writing Canadian Cities, University of Toronto Press 2005, S. 104-121. Foucault, Michel: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck u.a (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1998, S. 34-46. Gier, Jean Vengua/Carla Alicia Tejeda: »An Interview with Karen Tei Yamashita«, in: Jouvert: A Journal of Postcolonial Studies 2.2 (1998), http://social.chass.ncsu.edu/jouvert/v2i2/yamashi.htm vom 27. Sept. 2007.

21 Zu Balzacs möglichen Einfluss auf die Sicht seiner Zeitgenossen vgl. Harvey: »City Future in City Past«, S. 26. 22 Vgl. Henri Lefebvres Triade des gelebten, wahrgenommenen, und konzeptualisierten Raums: Henri Lefebvre: The Production of Space, Oxford: Blackwell, 1996, insbes. S. 36-42. 285

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Harley, J.B.: »Deconstructing the Map«, in: Michael J. Dear/Steven Flusty (Hg.): The Spaces of Postmodernity, Oxford: Blackwell 2002, S. 277-289, Harvey, David: »City Future in City Past: Balzac’s Cartographic Imagination«, in: Joan Ramon Rosina/Dieter Ingenschay (Hg.): AfterImages of the City, Ithaca: Cornell UP 2003, S. 23-48. Huggan, Graham: »Decolonizing the Map: Post-Colonialism, PostStructuralism and the Cartographic Connection«, in: Ariel 20.4 (1989), S. 115–131. Lefebvre, Henri: The Production of Space, Oxford: Blackwell, 1996. Löbbermann, Dorothea: »Exploring Post/Modern Urban Space: Homelessness and American Literature« in: W. Moser, A. Pires, P. Gin, (Hg.): Modernité en transit / Modernity in Transit, Ottawa: University of Ottowa Press (im Druck). Löbbermann, Dorothea: »Weg(be)schreibungen, Ortserkundungen: Transients in der amerikanischen Stadt« in: Robert Stockhammer (Hg.): Topographien der Moderne, München: Fink, 2005. S. 263-185. Majzels, Robert: City of Forgetting, Toronto: Mercury Press 1997. Moyes, Lianne: Interview mit Robert Majzels, in: Angela Carr u.a. (Hg.): The Matrix Interviews, Washington: DC Books, S. 127-146. Moyes, Lianne: »Unexpected Adjacencies: Robert Majzels’s City of Forgetting«, in: Domenic Beneventi/Licia Canton (Hg.): Adjacencies: Minority Writing in Canada, Toronto: Guernica Editions Inc., 2003, S. 168-189. Rabasa, José: »Allegories of the Atlas«, in Francis Barker u.a. (Hg.): Europe and its Others, 2 Bde. Colchester: University of Essex 1985, Bd. 2. S., 1-16. Ruttan, Jack: »The City as Living Library«, in: Place Publique 2003, http://www.richardgagnon.com/jack/articles/Majzels.htm [Abruf 20. 2.2009]. Smith, Neil/Cindi Katz: »Grounding Metaphor: Towards a Spatialized Politics«, in: Michael Keith/Steve Pile (Hg.): Space and the Politics of Identity, London: Routledge 1993, S. 67-83. Stockhammer, Robert: Die Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur, München: Fink, 2007. Wallace, Molly: »Tropics of Globalization: Reading the New North America«, in: symbloké 9.1-2 (2001), S. 145-160. Yamashita, Karen Tei: Tropic of Orange, Minneapolis: Coffee House Press 1997.

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Abbildungen Abb. 1: Aus: Majzels, Robert: City of Forgetting, Toronto: Mercury Press 1997, Beginn des Buchs, o.S. Abb. 2: Aus: Karen Tei Yamashita: Tropic of Orange, Minneapolis: Coffee House Press 1997, Beginn des Buchs, o.S.

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STADTPLAN ORHAN PAMUKS

A U T O B I O G R AF I E . M E L A N C H O L I S C HE R B L I C K A U F I S T A N BU L ALS

SUSANNE STEMMLER Orte auf einem Plan einzuzeichnen, entspringt dem simplen Bedürfnis, Etappen zu verfolgen oder eine Route zu entwerfen. Auf den Etappen gelangt man von Ort zu Ort, der Route folgend. So dient der Stadtplan auch der Fortbewegung, der Reise. Sie entsteht aus einer inneren Spur und ähnelt damit dem Erzählen. Eine solche Route verfolgt auch der autobiografische Erzähler, alter ego des türkischsprachigen Autors Orhan Pamuk im Text Istanbul. Hatıralar ve ehir (2003),1 wenn er sein Leben in Form eines vergangenen, imaginären Stadtplans erzählt. Auch der Erzähler Gihap in Pamuks Das Schwarze Buch,2 auf der Suche nach seiner spurlos verschwundenen Frau Rüha, versucht verzweifelt, alles im Stadtraum zu lesen, was ihn seiner Frau näher bringen könnte. Gihap bewegt sich in der Stadt wie in einem Text, den er aufgrund seiner unendlichen Möglichkeiten an Bedeutungen mit dem Netz unzähliger Straßen einer Stadt vergleicht. Der Suchende hofft so auf Hinweise, die sich ihm durch die Zeichen erschließen, welche er – mit Buchstabenschlüsseln und -chiffren ausgestattet – wie ein Mystiker auf dem Sufi-Pfad entziffert: Der Leser, der nach eigenem Maßstab versuchte, auf seine Art versuchte, das Rätsel zu ergründen, unterschied sich in nichts von dem Reisenden, der durch die Straßen des Stadtplans wandert und dabei in den Straßen, die er wählt und durchstreift, auf den Steigungen, die er nimmt, auf der eigenen Reise und im eigenen Leben das Geheimnis entdeckt, welches sich, je mehr es enthüllt wird,

1

2

Orhan Pamuk: Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt, aus dem Türkischen von Gerhard Meier, München: Hanser 2003. Im Folgenden abgekürzt mit der Sigle I. Der türkische Originaltitel »Erinnerungen und die Stadt« wurde im Deutschen mit Erinnerungen an eine Stadt übersetzt. Orhan Pamuk: Das schwarze Buch, aus dem Türkischen von Ingrid Iren, München: Hanser 1994. Im Folgenden im Text mit der Sigle SB abgekürzt. 289

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desto weiter ausbreitet, und je mehr es sich ausbreitet, desto mehr enthüllt. (SB 350-351)

Je weiter der Erzähler auf diese Weise voranschreitet, desto mehr gewinnen scheinbar belanglose Elemente wie Bürgersteige und Läden an Bedeutung – sie werden zu Aktualisierungen des Plans. (SB 401) Orhan Pamuks Texte sind voll von solchen Ortsangaben, die sich im Innern der Figuren zu einer imaginären Karte zusammensetzen. Das Schwarze Buch radikalisiert diesen Ansatz, indem es die Topographie der Stadt auf das Gesicht bezieht (SB 354): Gihap liest sowohl sein eigenes Antlitz als auch das der anderen Menschen wie einen Stadtplan (SB 355): »Am Schnittpunkt der Stadtpläne und der Gesichter« (SB 351), so der Erzähler, offenbare sich die Bedeutung der Zeichen auf dreierlei Ebenen – auf der Ebene der Schrift, des Gesichts und der Stadt. Im Folgenden möchte ich zeigen, wie im Akt des Lesens als Resultat des Pakts, den Autor und Leser im literarischen Genre der Autobiografie eingehen, ein imaginärer Stadtplan die Erinnerung an die eigene Vergangenheit und damit ein nachträgliches Erzählen generiert. Der Plan ist dabei Teil dieses Pakts – er suggeriert auf den ersten Blick Authentizität, um angesichts des rasanten Wandels der Stadt sogleich als ungenau verworfen zu werden und den Leser in die Vergangenheit zu weisen. All die Orte, von denen der Ich-Erzähler in Istanbul berichtet, könnte der Leser theoretisch auffinden – der Beweis: der Plan. Doch dieser ist selbst einem ständigen Wandel unterworfen. Es geht also im Folgenden um einen besonderen Fall der Nutzung des Stadtplans für das Erzählen, in dem die nachträgliche Aktualisierung von Orten und die Praxis des Gehens in der Stadt einander bedingen. Diese ›inneren Stadtpläne‹ werden bei Pamuk aus der Intertextualität generiert: Die vorgängigen Stadtpläne anderer Schriftsteller und Künstler unterliegen dem eigenen oder überlagern ihn. Ich möchte nun zeigen, wie Pamuk anhand eines ›inneren Stadtplans‹ eine Autobiografie schreibt (1), auf welche intertextuellen Verweise anderer imaginärer Stadtpläne er dabei zurückgreift (2) und inwiefern der darin entstehende Blick ein melancholischer Blick ist (3). Im Vordergrund meiner Überlegungen steht dabei Orhan Pamuks Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt, aber auch sein Roman Das schwarze Buch soll einbezogen werden.

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STADTPLAN ALS A UTOBIOGRAFIE

1 . Wa nd el : S t a d t p l a n a l s A ut o b io g r a f ie Orhan Pamuks Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt ist ein »GroßEssay«,3 ein autobiografischer Text, der Erinnerungen des Ich-Erzählers aus seiner Kindheit mit Reflexionen über Istanbul verbindet. Der Band ist mit zahlreichen Fotos des Istanbuler Fotografen Ara Güler sowie des Autors selbst ausgestattet.4 Innerhalb Istanbuls wird die Erzählung im europäischen Teil der Stadt angesiedelt. Als Wohnort des Erzählers als junger Mann wird Niantaı und – temporär – Cihangir angegeben. Das Elternhaus in Niantaı erscheint dem Jungen zunächst als »Mittelpunkt einer inneren Welt« (I 107). Eine Straßenbahn verbindet die Stadtteile des europäischen Teils von Istanbul, die auf der Nordseite des Goldenen Horns liegen, Niantaı und Taksim; die kleine »Tünel«-Bahn führt von der zentralen Schlagader Galatas, der Istıklal-Straße nach unten an das Ufer des Goldenen Horns zur Galata-Brücke. In der Rekonstruktion der Perspektive eines Kindes, das sich – wie die der fremden Sprache unkundige Marie in Uwe Johnsons Jahrestagen am New Yorker U-Bahn Plan5 – an der Straßenbahnlinie orientiert, erscheinen sie dem Erzähler wie fremde Länder (I 45). Elementarer Bestandteil eines solchen Stadtplans der Adoleszenz ist auch der Bosporus, der als Verkehrsader funktioniert, auf der ständig die kleinen vapurs, die Fähren von einer Seite zu anderen übersetzen: »Inmitten einer geschichtsträchtigen, verwahrlosten Großstadt, fühlt man die unbändige Energie des Meeres« (I 65). Inmitten von Menschenmengen und einer übermächtigen Geschichte, so der Erzähler, ist es zuweilen einzig auf dem Bosporus-Meeresarm möglich, allein und frei zu sein. Vom Bosporus aus kann man die Stadt als Silhouette erfahren und sie sich als Fata Morgana vorstellen. Man kann sich vom kleinen Ruderboot aus – ganz wie ein Fotograf – entscheiden, ob man sich von ihr entfernen will oder nah dran bleiben will (I 66). Diese fotografische Haltung, mit der der Erzähler die Stadt betrachtet, durchzieht den gesamten Text sowie seine Intertexte.6

3 4

5 6

Siegrid Löffler: »Eine Stadt wie die ganze Welt«, in: Literaturen 9/2008, S. 20-72: S. 22. Die Stadt Istanbul spielt eine wesentliche Rolle in Pamuks Werk. Vgl. dazu auch seinen Essayband Der Blick aus meinem Fenster. Betrachtungen. München/Wien: Hanser 2007. Vgl. dazu den Beitrag von Nils Plath in diesem Band. Auch in Das schwarze Buch besitzen die ständigen Bootspassagen über den Bosporus einen solchen transgressiven Charakter (Das schwarze Buch, S. 342). 291

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Orhan Pamuk ist Chronist einer unwiederbringlich verlorenen Zeit, etwa wenn er an die längst abgerissenen alten yalis, die Holzhäuser osmanischer Prägung erinnert. Das macht die Melancholie aus, die er mit dem türkischen Begriff hüzün umschreibt und die im Folgenden noch thematisiert werden soll. Bei der Erforschung des Verfalls ist er sowohl auf frühere Texte anderer türkischer Schriftsteller und Istanbuler Stadtschreiber angewiesen als auch auf Berichte europäischer Reisender von Alphonse de Lamartine über Gérard de Nerval bis zu Mark Twain. Einer dieser Reisenden, denen Pamuk in seinem Istanbul-Text einen großen Stellenwert einräumt, ist der Autor Anton Ignaz Melling, dessen 1819 erschienenen Voyages pittoresque de Constantinople et des rives du Bosphore sich Pamuks Erzähler in seinen Ansichten Istanbuls sehr nahe fühlt. An ihnen schätzt er, dass sie – im Gegensatz zur topografisch genauen Darstellung – kein Zentrum haben, sondern eher wie eine chinesische Bildrolle oder ein Cinemascope-Film funktionieren (I 83-84). Und tatsächlich, Pamuks Istanbul ist ohne Mitte »wie ein Kindermärchen«. Bei Melling sieht er, wie es an der gleichen Stelle heißt, ein »ungehindertes horizontales Schreiten, durch eine wunderbare glückliche Welt, soweit das Auge reicht«. Keinesfalls handelt es sich Pamuk zufolge bei dem für die Dauer von achtzehn Jahren in Istanbul lebenden Melling um einen orientalisierenden Blick von außen, sondern um einen Blick von innen: »Melling blickte nicht von außen auf Istanbul sondern von Innen« (I 91). Einen solchen Innenblick entwirft auch Orhan Pamuk, wenn er seine Kindheit im Istanbul der späten fünfziger und sechziger Jahre beschreibt. Istanbul zählte um diese Zeit ungefähr eine Million Einwohner. Nach der Bevölkerungsexplosion der achtziger und neunziger Jahre, in der Das schwarze Buch angesiedelt ist, beträgt die heutige Einwohnerzahl offiziell mehr als das Zehnfache, inoffiziellen Schätzungen zufolge beträgt sie weit mehr. Um den enormen Urbanisierungsschub zu verstehen, vor dessen Hintergrund Orhan Pamuks melancholische Erinnerungen an das kosmopolitische Istanbul zu sehen sind, soll im Folgenden der Modernisierungsprozess in der Türkei, der mit der rasanten Urbanisierung einhergeht, kurz dargestellt werden. Die Abneigung des Erzählers gegen den übergeordneten Stadtplan-Blick und sein Plädoyer für das Dezentrale des alten Istanbul sowie die Entwicklung seines eigenen Standpunktes innerhalb dieses historischen Wandels sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Mit der Staatsgründung 1923 ging in der Türkei eine radikale Modernisierung durch die Elite einher. Angeführt von Atatürk, dem ›Vater der Türken‹, war letztere von dem Bemühen geprägt, eine neue nationale Identität zu formen. Die Reformen bezogen sich auf Sprache und Schrift, Stellenwert der Religion, Kleidung, Namensgebung der Bürger, Ge-

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STADTPLAN ALS A UTOBIOGRAFIE

schlechter-Verhältnisse, Bildung, Recht und anderes Bereiche. Auch die Form der Städte und ihre Pläne waren davon affiziert, wie Bernd Nicolai anmerkt.7 So wurde Ankara 1923 als moderne Hauptstadt von Stadtplanern entwickelt. Ausländische Fachkräfte wurden eingeladen, den neuen Staat mit auf den Weg zu bringen.8 In Ankara sollte nach 1930/33 die neue Republik ein Gesicht bekommen, die Hauptstadt sollte den neuen Geist stadträumlich ausdrücken. Das drückte sich in einer an die Monumentalität der Sowjets, der NS-Zeit oder des italienischen Faschismus anklingenden Architektur aus. Ankara trat als Hauptstadt an die Stelle Istanbuls, des ehemalige Sultanssitzes, das für die alte, osmanischarabische Tradition stand. Istanbul galt als pittoreske, »verweichlichte Metropole«,9 die es zu verdammen galt, genauso wie den Islam und die nationalen Minderheiten wie Kurden und Griechen. Die Stadtpläne dieser beiden Städte im Vergleich vermitteln den gesellschaftlichen Umbruch und sind zugleich dessen Medien, also Schauplätze, an denen dieser Umbruch inszeniert wird.10 Es handelt sich um eine Orientierung am Westen, die in vielerlei Hinsicht dem Westen trotzt. Das führt zu einer Ambivalenz zwischen der Utopie des ursprünglichen Aufbruchs (und seinem Niederschlag in Stadtstruktur und visueller Repräsentation)11 und der alltäglichen Realität (der gesellschaftlichen Strategien und Praktiken).12 Zwar war die Türkei keine Kolonie, doch kann man diesen Prozess als »Kolonisierung nach innen«13 bezeichnen. Diese hatte – neben drei Militärputschen – auch die Vertreibung und Ermordung der ethnischen Minderheiten innerhalb des Landes zur Folge: der griechischen, jüdischen und armenischen Minderheiten (1922, 1955), der Unterdrückung der Kurden, die als anti-urban, als ›Bergvolk‹ bezeichnet wurden und die seit Mitte der achtziger Jahre in die großen Städte, vor allem nach Istanbul vertrieben wurden.

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9 10 11 12 13

Nicolai, Bernd: »Modernisierung im Schatten Europas. Die kemalistische Türkei im Spiegel von Fotografie und Architektur«, in: Katja Eydel: Model ve Sembol. Die Erfindung der Türkei/The Invention of Turkey, New York/Berlin: Sternberg 2006, S. 73-79. In den dreißiger Jahren war dies für Stadtplaner und Architekten wie Bruno Taut, Martin Wagner oder Ernst Reuter eine Möglichkeit zur Flucht vor dem Faschismus. B. Nicolai: »Modernisierung im Schatten Europas«, S. 77. Vgl. Katja Eydel: »Vorwort«, in: K.E.: Model ve Sembol, S. 5-6, hier: S. 5. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. B. Nicolai: »Modernisierung im Schatten Europas«, S. 74. 293

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Orhan Pamuk beginnt seinen autobiografischen Text mit seiner Geburt, 1952. In diesem Jahr wurde auch das Hilton am Taksim-Platz gebaut, eine Inkunabel des zuvor beschriebenen Modernisierungsprozesses auf dem zentralen Platz des europäischen Istanbuls. Pamuks Familie gehörte einer kemalistischen Elite an, die all jene Ideale der Modernisierung vertreten – das »Pamuk Appartmanı« beispielsweise befindet sich in Niantaı in einem neu gebauten Wohnhaus, kulturell und ökonomisch orientiert sich die Familie an den USA und an Frankreich (I 37). Diese Selbstverortung der Familie im neuen Plan der Stadt steht in einem starken Gegensatz zu den nächtlichen Wanderungen des jugendlichen Orhan durch die alten Gassen, die abbrennenden alten Bosporus-Villen im Blick, die allesamt das alte Istanbul vor der Modernisierung versinnbildlichen. Orhan registriert im Erzählen, wie sich die Stadt und damit der Plan wandelt: Straßenverläufe ändern sich, Straßenbahnlinien werden anders geführt. Er beschreibt die Europäisierung Istanbuls als radikale Umgestaltung: Das Kopfsteinpflaster Istanbuls etwa wird von eifrigen Stadtvätern gnadenlos mit Asphalt überzogen (I 49). Die alten Holzhäuser, die Konaks werden allmählich abgerissen und an gleicher Stelle moderne Wohnhäuser errichtet (I 47-48). Alte Geçekondus14 haben sich in doppelstöckige Stahlbetonbauten verwandelt. Biegt man etwa »nach einem leichten Anstieg […] auf einen kleinen Platz« mit ein Standbild Atatürks« ein, ganz im »Vertrauen auf den Plan« (ebd.), so wird man enttäuscht und irritiert. Plötzlich sind die armenischen oder griechischen Läden verschwunden, Platz- oder Straßennamen wurden türkisiert (I 43). Der Plan ist nicht mehr gültig, zu schnell wandeln sich die Stadt und ihre Einwohner. Pamuk lässt seinen Erzähler diesen Prozess wie folgt kommentieren: Das Streben nach Europäisierung schien weniger einem Modernisierungsdrang zu entspringen als vielmehr dem Wunsch, die mit quälenden Erinnerungen behafteten Überreste des untergegangenen Reiches so schnell wie möglich loszuwerden […]. (I 40)

Die neunziger Jahre wiederum ändern die Orientierungspunkte der Stadt auf ihre Weise – es beginnt eine Phase der umfassenden ReIslamisierung vor allem unter der armen, durch den Bürgerkrieg gegen die Kurden aus dem Osten des Landes geflüchteten Bevölkerung. Der Erzähler in Das Schwarze Buch spricht von

14 Geçekondus sind ›über Nacht gebaute Häuser‹, notdürftig errichtete Unterkünfte, die stehen bleiben dürfen. 294

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Wäldern elender Betonminarette – gegen steingefügte hättest Du nichts einzuwenden –, die unsere Städte und die neu entstehenden Städte am Rand dieser Städte wie einen angriffslustigen Lanzenwald umgeben.15

Mit dieser ironischen Bemerkung bringt der Erzähler die ambivalente Perspektive der aufgeklärten, liberalen, islamkritischen Oberschicht ein. Durch ein derartiges Erzählen entlang der Orte legt Pamuk die unterdrückten Erinnerungen der Stadt frei. Er zeigt, wie städtische Räume steter Transformation unterliegen, wie sich der Plan der Stadt ändert, wenn es die Menschen nicht mehr gibt, die ihn aktualisieren.

2 . In t e r t ex t u el l e V er w ei s e/ a n d er e Pl ä n e Die Erfahrung der eigenen Stadt ist überlagert von den »Augen des Westens« (I 270), den Ansichten europäischer Autoren, Fotografen und Maler. Bei Pamuk sind dies vor allem die literarischen Orient-Reisenden des 19. Jahrhunderts aus Frankreich, die über Istanbul schreiben: Gérard de Nerval (I 252-257), Gustave Flaubert (I 325-323), Théophile Gautier (I 258-269) und Pierre Loti (I 272-273). Pamuk versucht zu einer differenzierten Schichtung dieser imaginären Texte zu gelangen und bezieht ihre vorgängigen Stadtpläne in seinen Istanbul-Text explizit ein. Die Texte dieser Autoren zeigen, dass die visuelle Erfahrung des orientalischen Anderen eng mit der Erfahrung der Melancholie verbunden ist. Im melancholischen Blick auf den ›Orient‹ finden wir eine Sicht auf einen Gegenstand, dessen Anwesenheit zwar durch die Beschreibung hergestellt wird, zugleich aber immer schon das Verschwinden impliziert. Das muslimische Leben etwa erscheint dem Erzähler in Pierre Lotis Roman Aziyadé dem Untergang geweiht zu sein und avanciert zum Synonym für die »dernières heures de l’Orient«,16 die es so lange wie möglich zu erhalten gilt. Ähnliches gilt für die Orient-Texte Gérard de Nervals und die Reisebeschreibungen Gustave Flauberts, auf die Pamuk verweist.17 Eine wesentliche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die fotografische Geste, die dem Pamukschen Istanbul-Text sowohl in seiner écriture innewohnt als auch in Form materieller Fotografien den Text erwei15 Das schwarze Buch, S. 386. 16 Pierre Loti: Aziyadé, in: P.L.: Romans. Préface de Claude Gagnière, Paris: Presses de la Cité 1989, S. 7-132, hier S. 56. 17 Vgl. die ausführliche Analyse in: Susanne Stemmler: Topografien des Blicks. Eine Phänomenologie literarischer Orientalismen des 19. Jahrhunderts in Frankreich, Bielefeld: transcript 2004. 295

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tert. Die Anfänge der Fotografie sind eng mit den Reisen seit Ende des 19. Jahrhunderts verknüpft, sie wurde neben Reisetexten zum beliebten Mittel, um Reiseeindrücke zu konservieren. Der Fotografie wohnt aber auch das Verschwinden inne; sie impliziert den nachträglich auf sie gerichteten Blick: Dass etwas fotografiert wird, speist sich aus dem Wissen, dass das, was fotografiert wird, in Zukunft so nicht mehr sein bzw. nicht mehr sein wird. Der Verdacht auf Verfall respektive das Bewusstsein der Sterblichkeit ist folglich konstitutiv für den Akt des Fotografierens als solchen.18

Auch Pierre Loti thematisiert sowohl mit seinen Fotografien als auch mit seinen Texten zur Fotografie den im Verschwinden begriffenen ›Orient‹. Die ersten Annäherungen an Konstantinopel sind bereits durchsetzt mit solchen melancholischen Bildern: »Au milieu de ce calme, les images du passé sont vivement présentes à mon esprit, les images de tout ce qui est brisé, parti sans retour«.19 Wie die Fotografie ist das Bild Konstantinopels schon im Vorgriff ein vergangenes und wird nur dadurch präsent, dass es geschildert, beschrieben wird. Damit verbindet sich die Klage über den Verfall des status quo. Auch in der Beschreibung einer der Moderne weichenden ›alten‹ Türkei wird das sichtbar.20 Im Orientalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts wird die Fotografie so zum ›doppelt melancholischen‹ Medium. Der Reiz, den der ›Orient‹ ausstrahlt, ist immer der vergangene. Dem Anderen wird im Betrachteten eine Zeitstelle zugewiesen; noch ist es da, und wenn man es nicht mit dem eigenen Blick einfängt, dann droht es zu verschwinden. Das Verschwinden des Anderen ist aber geradezu die Bedingung für den visuellen und körperlichen Genuss, der diesen Momenten größter Intensität inne wohnt: »Dimanche 6 Novembre: Une semaine de merveilleux beau temps vient de passer, pendant laquelle j’ai mélancoliquement joui de Stamboul.«21 Durch Kolonisation, Handel und Fotografie ist der ›Orient‹ seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr der imaginäre, geträumte. Seine Be-

18 Därmann, Iris: »Manufaktur des melancholischen Bildes«, in: Fotogeschichte Nr. 10/36, 1990, S. 5-22, hier S. 11f. 19 P. Loti, Aziyadé, S. 47. 20 Ebd. 55. ›Inmitten dieser Ruhe ziehen die Bilder der Vergangenheit wie gegenwärtig an meinem Geist vorbei, die Bilder all dessen, was zerstört ist, ohne Wiederkehr entschwunden.‹ 21 Ebd., S. 82. ›Sonntag, 6. November: Es endet eine Woche mit wunderbar schönem Wetter, in der ich Istanbul auf melancholische Weise ausgekostet habe.‹ 296

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schreibung ist geprägt durch die Klage über das Verschwinden des Anderen, über den Verlust des pittoresken ›Orients‹ als Gegenstand des Betrachtens und Erfahrens. Dem Medium der Fotografie werden vermeintlich exakte repräsentative Fähigkeiten zugeschrieben, und in Bild und Text artikuliert sich das Bedürfnis festzuhalten, was im Verschwinden begriffen ist. Dabei versucht eine Rhetorik des ›j’ai vu‹ das zu erfassen, was man zuvor – in der Romantik – als Idealbild konstruiert hatte. Diese Alteritätserfahrung wird im Orientalismus potenziert – auf diese rekurriert Pamuk in seinem Istanbul-Text und gibt ihr als melancholische kollektive Grundhaltung eines jeden Istanbulers eine neue Wendung.

3 . M e l a n c h o l i e v s . » h ü z ü n« Im Istanbul-Text arbeitet Orhan Pamuk mit der zuvor geschilderten Melancholie orientalistischer Texte und zitiert mit dem fremden Blick auf die Stadt einen ›Klassiker‹ der Stadtbeschreibung. Die Erinnerung an die Stadt erfolgt im Schwarzweiß-Modus. Im fünften Kapitel »Schwarzweiß« (I 46-48) beschreibt der Erzähler Pamuks ausführlich das abendliche »schwarz-weiß Gefühl« (I 47), wie es in den Fotografien des Istanbuler Fotografen Ara Güler zum Ausdruck kommt, von denen einige im Istanbul-Buch abgedruckt sind und die im Text kommentiert werden. Die Straßen erscheinen ihm »so gefährlich wie die Schauplätze schwarzweißer Gangsterfilme« (I 46). Die Schwarzweißatmosphäre ist mit dem melancholischen Charakter der Stadt unauflöslich verbunden: In manchen Gassen der Viertel Tepebaı, Cihangir, Galta, Fatih und Zeyrek, aber auch in einigen Bosporus-Dörfern und in Üsküdar ist die SchwarzweißAtmosphäre, die ich hier zu schildern suche, auch heute noch anzutreffen. Rauchige Nebelmorgen, windige Nächte, auf Moscheekuppeln hockende Möwen, verschmutzte Luft, Ofenrohre, die aus Häusern herausragen wie Geschützläufe, verrostete Mülltonnen, Parks und Gärten, die an Wintertagen menschenleer und verwahrlost sind, und Menschen, die an Winterabenden durch Schnee und Matsch nach Hause eilen: All dies ist ein ständiger Appell an die SchwarzweißEmpfindsamkeit, die sich mal freudig, mal bekümmert in mir regt. (I 52).

Für Pamuk ist das schwarzweiße Istanbul das arme, gescheiterte, schwermütige, nicht das prächtige der osmanischen Zeit: »Die osmanischen Maler sahen Istanbul nicht als Volumen oder als Anblick, sondern als Oberfläche, als Stadtplan« (I 58). Der Stadtplan steht hier für einen Wahrnehmungsmodus, der das Alltagsleben der Stadt ausblendet. Um das im 20. Jahrhundert aufkommende Verlangen nach bildlicher Darstellung auf Postkarten und Fotos nachzukommen, musste man mangels ei297

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gener Darstellung in Zeitungen, Zeitschriften und Schulbüchern zur Bebilderung der Istanbuler Vergangenheit auf Schwarzweißversionen europäischer Stiche zurückgreifen (ebd.). Orhan Pamuk widmet ein ganzes Kapitel der »hüzün«, dem aus dem arabischen entlehnten Begriff für die Melancholie und Tristesse, den er auf die sufistische Tradition zurückführt. Nicht das Auftreten von »hüzün« wird als schmerzlich empfunden, sondern seine Abwesenheit (I 109). Das beschert dem Begriff eine hohe Wertschätzung in der islamischen Kultur, »hüzün« ist in Istanbul zentraler Bestandteil des Musikempfindens, ist Grundelement der Posie, Lebensanschauung und des Seelenzustands. Pamuks Ich-Erzähler zufolge ist es Ausdruck dessen, was die Stadt eigentlich ausmacht und dem man positive Seiten abgewinnen kann (I 110). Im Unterschied zu der als individuell erlebten Melancholie der orientalistischen Schriftsteller, die einen Seelenzustand angesichts des Verfalls des vermeintlich Authentischen beschreibt, umfaßt »hüzün« das kollektive Erleben eines solchen Gefühles in der Gemeinschaft, in diesem Fall der Stadtbewohner Istanbuls (I 113). Angesichts der widrigen Lebensumstände in der Stadt, die von Millionen erfahren werden und welche die Distanz zu westlichen Metropolen darstellen, siedelt Pamuk den »hüzün«-Begriff in der Nähe der »tristesse« von LéviStauss’ Traurigen Tropen an (I 120). Im Unterschied allerdings zur »tristesse«, welche die Reaktionen des westlichen Besuchers angesichts der Fremderfahrung schildert, ist »hüzün« nichts von einem Außenstehenden Empfundenes, sondern eine Reaktion des Istanbulers auf seine ureigene Lage (I 123). Die eigenen Überlegungen zu Istanbul, so der Ich-Erzähler am Schluss dieses Kapitels, sei im fortwährenden kritischen Dialog mit den Werken schwermütiger türkischsprachiger Autoren geschrieben, die dieses Istanbul-Bild im Laufe eines mühsamen, von Zufällen, LeseErfahrungen und ausgedehnten Spaziergängen gekennzeichneten Prozesses allmählich entwickelt haben (I 127): Das sind die IstanbulRomanciers Yahya Kemal, Ahmet Rasim und Ahmet Hamdi Tanpınar sowie der Populärhistoriker Reat Ekrem Koçu, Autor einer IstanbulEnzyklopädie, deren Wissens- und Kuriositätensammlung in ihrer grotesken Komik an das Unterfangen von Bouvard und Pécuchet aus Gustave Flauberts gleichnamigem Roman erinnert. In der Auseinandersetzung mit ihren Texten arbeitet der Pamuk’sche Erzähler mit dem Spazierengehen gegen die eigene Melancholie an, doch seine nächtlichen Ausbrüche aus dem Haus werden dann mehr und mehr zu einem noch tieferen Versenken in das als kollektiv empfundene »hüzün«-Gefühl der Stadt.

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4 . R es üm e e Orhan Pamuk arbeitet mit der Raumzeitlichkeit des Stadtplans. Der Text lässt einen inneren Stadtplan entstehen, der eng mit der zeitlichen Dimension verknüpft ist: Das Erzählen erfolgt im Rhythmus des Gehens durch die Stadt, in der permanenten Aktualisierung von Orten. In dieser Performanz des Gehens entsteht die Autobiografie. Pamuk erzählt nicht mit dem Stadtplan, vielmehr aktualisiert er durch das Erzählen die Orte und lässt so einen inneren Stadtraum entstehen. Es ist eine Stadt, die es in dieser Form nicht mehr gibt. Gehen wird zur ästhetischen Praxis, um die sich ständig verändernden Räume der Stadt zu erfassen. Der so entstehende innere Plan ist Dokument der Einschreibung des Menschen in den Raum, vermittelt über »hüzün« wird er zu einer kollektiven Angelegenheit. Das Gehen in der Stadt wird zu einem Mapping, das den Protagonisten durch die Stadt streunen lässt und ihn in Tagträumereien hineinzieht.

Literatur Därmann, Iris: »Manufaktur des melancholischen Bildes«, in: Fotogeschichte Nr. 10/36, 1990, S. 5-22. Eydel, Katja: »Vorwort«, in: K.E.: Model ve Sembol. Die Erfindung der Türkei/The Invention of Turkey, New York/Berlin: Sternberg 2006, S. 5-6. Löffler, Siegrid: »Eine Stadt wie die ganze Welt«, in: Literaturen Nr. 9, 2008, S. 20-72. Loti, Pierre: Aziyadé, in: P.L.: Romans. Préface de Claude Gagnière, Paris: Presses de la Cité 1989, S. 7-132. Nicolai, Bernd: »Modernisierung im Schatten Europas. Die kemalistische Türkei im Spiegel von Fotografie und Architektur«, in: Katja Eydel: Model ve Sembol. Die Erfindung der Türkei/The Invention of Turkey, New York/Berlin: Sternberg 2006, S. 73-79. Pamuk, Orhan: Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt, aus dem Türkischen von Gerhard Meier, München: Hanser 2003 [Istanbul. Hatıralar ve ehir, Istanbul: Iletiim 2003]. Pamuk, Orhan: Das schwarze Buch, aus dem Türkischen von Ingrid Iren, München: Hanser 1994 [Kara Kitap, Istanbul: Yayınları Ltd. 1991]. Pamuk, Orhan: Der Blick aus meinem Fenster, München/Wien: Hanser 2007.

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Stemmler, Susanne: Topografien des Blicks. Eine Phänomenologie literarischer Orientalismen des 19. Jahrhunderts in Frankreich. Bielefeld: transcript 2004.

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K E I N E R Z Ä H L E N O H N E S T A D TP L AN . UM MICHEL BUTOR HERUM ACHIM HÖLTER Ist Literatur planbar? Dies war und ist eine Hauptkonstante der abendländischen Ästhetik, eine Frage, abwechselnd bejaht und verneint, wobei man unter ›Plan‹ sehr verschiedene Dinge und Grade der Rigidität verstand. Um also gleich mit der Binsenweisheit ins Thema zu springen: Stadtpläne sind auch im poetologischen Sinn Pläne. Der Laie versteht unter einem Stadtplan eine papierene oder virtuelle schematisierte Repräsentation des Ist-Zustandes einer Stadt. Historische Pläne zeigen gewesene Zustände, deren Aufeinanderschichtung im wörtlichsten Wortsinn Geschichten erzeugt. Poetologisch interessanter ist es schon, dass im Bau befindliche oder verbindlich geplante Projekte in aktuelle (Stadtentwicklungs-)pläne gewöhnlich eingetragen werden, so dass die semantischen Hauptaspekte von ›Plan‹, Dokumentation und Zukunftsprojektion, gleitend ineinander übergehen. Bereits zum Genre Utopie gehören zukünftige Pläne mit dem Umfang und Detailreichtum gegenwärtiger Abbildungen. Man sieht: Stadtplanung und deren Repräsentation sind mit fiktionalen Texten verwandt; beide arbeiten mit Leer- bzw. Unbestimmtheitsstellen, beschränken sich auf das Wesentliche. Aktuelle Stadtpläne hingegen versuchen – unter dem Vorbehalt der maßstäblichen Erfaßbarkeit und der Zuordnungsschemata (z.B. rot = Wohnbebauung) – eine vollständige Abbildung.1 Im Bild der metropolitanen Buntheit, die die Kartierung kultureller Repräsentationen verspricht, wählt dieser Beitrag eine Art centre historique – das wird Butor sein oder auch: Bleston – und einen boulevard périphérique, der konstituiert wird von fünf mehr arrondierenden als nur peripheren, typologischen Exkursen zu Stendhal, John Dos Passos, Léo Malet, Dieter Forte und Kamila Shamsie.

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Vgl. Achim Hölter: »Vollständige Beschreibung. Zu Borges und anderen Meta-Erzählern«, in: A.H./Monika Schmitz-Emans (Hg.): Wortgeburten. Beiträge des Bochumer Kolloquiums für Karl Maurer, Heidelberg: Synchron 2009, S. 159-173. 301

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Es gibt eine Lust am Stadtplan,2 so wie Robert Stockhammer explizit von der »Lust an der Karte« 3 spricht. Darin mag sich die Faszination unserer ästhetischen Epoche durch Hybridformen spiegeln. Literatur und Stadtpläne – das ist in diesem Sinne ein Derivat oder eine Fortentwicklung des im letzten Jahrzehnt dauerpräsenten Themas Literatur und Visualität.4 Die Komparatistik der sogenannten amerikanischen Schule hat ihrerseits als eines der Kerngebiete die Philologie des Inter- bzw. Transmedialen akzentuiert, was mittlerweile Gemeingut geworden ist, und zwar in mehrfachem Sinn: Zum einen befaßt sich die Komparatistik mit allen Koexistenzformen von Bild und Text, seien es Illustrationen, textintegrierte Fotos, Affinitäten zu filmischem Erzählen, typographische Experimente, Figurengedichte oder Comics. Zum andern ist unter kulturpoetologischem Aspekt die Basisqualität des ästhetischen Objekts, seine ontologische Bestimmung als Literatur oder Bild in den Hintergrund getreten. Ganz selbstverständlich gelten sowohl Städte als auch Stadtpläne als Text,5 man könnte beinahe die These riskieren, dass Stadtpläne momentan die Literatur reizen, weil sie auf eine vertrauenerweckende Weise wieder ein wenig mehr Text sind und enthalten als Alltagsrituale, Handlungsschemata der Populärkultur oder Fußballspiele, mehr Text aber auch als die Städte ›an sich‹. Pläne sind ihrer Etymologie nach scheinbar zweidimensional. Dadurch sind sie bereits eine Allegorie der ästhetischen Projektion, hat sich doch die wirklichkeitsabbildende oder – simulierende Kunst lange als eine Art Scheibenwelt verstanden. Karten und Pläne eignen sich daher besonders gut, um diesen defizitären Status zu versinnbildlichen. Die Provokation des Stadtplans aber zielt darauf,

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Auch im globaleren Sinn floriert die Bildlichkeit der Kartierung; als Beispiel: Anett Lütteken: »Der Poet als Landvermesser – Versuch zum literarischen Gradnetz«, in: Walter Schmitz/Jürgen Joachimsthaler (Hg.): Zwischeneuropa/Mitteleuropa. Sprache und Literatur in interkultureller Konstellation, Dresden: Thelem 2007, S. 181-190. Robert Stockhammer: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur, München: Fink 2007, S. 11. Die Lust am Stadtplan, speziell an der Extrapolation eines Plans aus Textmaterial, zeigt sich aktuell an der großangelegten Rekonstruktion Entenhausens aus den Disney-Comics: www.donald.org/stadtplan [Abruf 20.2.2009]. Vgl. Monika Schmitz-Emans/Gertrud Lehnert (Hg.): Visual Culture. Beiträge zur XIII. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft Potsdam, 18.-21. Mai 2005, Heidelberg: Synchron 2008. Zu diesem Usus Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt/Main: Fischer 2006, S. 309. 302

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einer flachen Beschreibung Tiefe zu verleihen. Diese Tiefe entsteht durch räumliche Imagination, vulgo: durch »lesen«. Hier ist nun einzusetzen, denn die unmittelbare Verbindung von Literatur und Stadtplan scheint ein close reading wert. Stadtpläne können nicht nur im Barthesschen Sinne Texte sein, sondern sie ähneln sprachlichen Gebilden – natürlich per analogiam – auf engere und systematischere Weise. Denken wir nur an Beschriftung, Legende, das Benennen, Um- und Übersetzen des Visuellen beim Abb. 1 Dechiffrieren, an den Verlauf der so orientierten Ortsbewegung, der dem des Erzählens bekanntlich ähnelt. Dabei differenziert Stockhammer die »Kartierbarkeit eines in der Literatur fingierten Geländes« von der »Kartizität der literarischen Beschreibung selbst«.6 Das heißt, die Poetik medialen Wissens läßt sich immer noch von zwei Seiten konstruieren: der wirklichkeitssimulierender (Erzähl-)literatur oder jener der plan projizierenden Karte. Überdies scheint die Fixierung auf einen topographischen Code eine Temporalisierung geradezu herauszufordern. Karl Schlögel tendiert in seinen Reflexionen7 immer wieder zur Historisierung des im Stadtplan Enthistorisierten. Die Restitution des Zeitindex ist denn auch ein – aber nur ein – Impetus für das Entfalten von Geschichten aus Faltkarten. 1965 erschien bei Wagenbach als Kollektivprodukt deutscher Autoren ein Atlas, in dem topographisch motivierten Texten eine Karte oder eine kartenaffines Dokument vorangestellt war. Er begann mit Johannes Bobrowskis Der Mahner und deshalb mit einem Stadtplanauszug des alten Königsberg (Abb. 1).8 In Herbert Rosendorfers Roman Das Messingherz wurde der Leser regelrecht in die Lektüre des Stadtplans involviert: »So nahm also Kessel den Stadtplan von Berlin zur Hand und fuhr an der Mauer – einer dicken, roten Linie – mit dem Finger entlang. In Neukölln

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R. Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 68. K. Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 304-313. Atlas. Zusammengestellt von deutschen Autoren, München: dtv 1968, S. 11. 303

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blieb sein Finger stehen«.9 Woraufhin der Freizeitspion das gesuchte konspirative Lokal in der Elsenstr. 74 mietet – diese Konkretion ist eine mittelbare Konsequenz des Stadtplan-Diskurses, denn zur Plan-Exaktheit gehört die Adress-Genauigkeit semi-dokumentarischen Schreibens. Vor allem aber entfaltet Rosendorfers Text einen veralteten Stadtplan! Was man von Texten jenseits kritischer Polemik nie behaupten würde, gehört genuin zum Medium Stadtplan: eine Verfallsfrist von ein bis zwei Jahren. Dadurch wirken Stadtpläne in Texten als Historisierungsbeschleuniger. Abb. 2

Michel Butor, 1926 geboren, war als Kind nach Paris gekommen, hatte u.a. bei Gaston Bachelard studiert, und war dann – wie bei französischen Autoren nicht selten – als junger Mann an Schulen im Ausland tätig gewesen. So hatte er – zwischen Stationen in Ägypten und Griechenland (er war später auch ein Jahr in Berlin)10 – 1951-52 ein Jahr als Französisch-Lektor an der Universität Manchester verbracht.11 Diese Erfahrung verarbeitete er in seinem 1956 erschienenen Roman, den er in die fiktive nordmittelenglische Großstadt Bleston verlegt (Abb. 2).12 Ein

Herbert Rosendorfer: Das Messingherz oder Die kurzen Beine der Wahrheit. Roman, 2. Aufl. München: dtv 1991, S. 387. 10 André Clavel: »Art. ›Michel Butor‹«, in: Jean-Pierre de Beaumarchais/Daniel Couty/Alain Rey (Hg.): Dictionnaire des littératures de langue française. A-D, Paris: Bordas 1994, S. 354. 11 Ebd., S. 353; Gisela Thiele: Die Romane Michel Butors. Untersuchungen zur Struktur von Passage de Milan, L’emploi du Temps, La Modification, Degrés, Heidelberg: Winter 1975, S. 63. 12 Bleston bleibt ungenannt in dem dreibändigen Kompendium von Manguel und Guadalupi, in dem nicht wenige fiktive Städte nachträglich bzw. nur auf der Basis der utopischen Beschreibungen mit erfundenen Plänen versehen werden: Alberto Manguel/Gianni Guadalupi: Von Atlantis bis Utopia. Ein Führer zu den imaginären Schauplätzen der Weltliteratur. 3 Bde., Frankfurt/Main, Berlin, Wien: Ullstein 1984. 9

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junger Franzose namens Jacques Revel trifft dort ein, um ein Jahr als Handelskorrespondent zu arbeiten. Nach provisorischem Aufenthalt in einem schäbigen Hotel findet er ein möbliertes Zimmer, lernt allmählich einige wenige Kollegen und Einwohner Blestons kennen und versucht – letztlich vergebens – sich mit der Stadt und ihren Bewohnern anzufreunden oder sie wenigstens zu durchschauen. Diese unüberwindliche Fremdheit einer abweisenden, größtenteils häßlichen, komplexen Industriestadt wird zum Hauptproblem von Revels Aufenthalt. Insofern ist die Stadt sein Thema oder, wenn man so will, sein Antagonist. Aufgabe des Ich-Erzählers und Butors vordergündige Intention ist es also, dem Leser die Mühen der Konfrontation mit einer fremden Großstadt, in der man ein Jahr seines Lebens auf sich selbst gestellt sein wird, zu veranschaulichen, und zwar nicht so sehr als psychisches Problem, sondern als Erzählaufgabe. Exkurs 1: Wie eine Großstadt erzählen? 1925 erschien Manhattan Transfer, John Dos Passos’ Meilenstein des Großstadtromans. Wer das Buch wahrnimmt als Versuch, eine objektive Querschnittspoetik zu verknüpfen mit dem Prinzip des historischen Romans, mehrere ›mittlere Helden‹ als Erlebnismedien zu installieren, der wird dieses Prinzip auch in der Simulation der topographischen Realität von New York City erkennen. Manhattan wird zwar nicht ›vollständig‹ simuliert, aber mehr als nur ausschnittweise. Das äußert sich u.a. darin, dass Dos Passos mit auffälliger Regelmäßigkeit Straßennamen nennt; beinahe könnte man – fälschlich – glauben, dass sämtliche Straßen von Manhattan einmal genannt, also narrativ durchfahren oder durchschritten werden sollen. Dies ist, wie gesagt, empirisch nicht der Fall, und doch werden über dreißig mit Namen versehene Straßen der Südspitze sowie alle größeren Knotenpunkte erwähnt, dazu von den gezählten Streets immerhin 23 zwischen der 4th und der 200th street.13 Und die Avenues sind sämtlich vertreten, was als indirekter Beweis dafür gelten kann, dass das grid von Manhattans Stadtplan als Garant von Quer- und Längsschnitten so wörtlich wie möglich genommen wird. Immer wieder kreuzt die Erzählung die Längsschluchten der Avenues, am häufigsten natürlich die zentrale fünfte. Dazu folgt die narrative Kamera immer wieder dem Broadway, und unter 13 Dieselbe Überblendung von Abbreviatur und Totalität entsteht auch in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, in dem ungefähr 200 mal Straßennamen genannt werden, einige natürlich häufig, aber auch viele nur einmal, so dass sich eine quantitativ adäquate Abbildung von Franz Biberkopfs ›Benutzung‹ der Stadt ergibt und damit indirekt narrative »Kartizität« (R. Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 67) erzeugt wird. Tertium comparationis ist der Index des Stadtplans, der den impliziten Straßenindex des Romans umfaßt. 305

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den Streets ist es die breite vierzehnte, die besonders die Aufmerksamkeit bündelt, aufgrund ihrer einst bevorzugten Geschäftigkeit, ihrer Bedeutung als Nordgrenze von Greenwich Village und überhaupt, weil hier das regelmäßige New York beginnt bzw. endet. Ein partikulär stadtplangebundener Erzählblick also, bei dem multiple nominale Indexierung schon durch ihre Kumulation eine Megalopolis virtuell erstehen läßt. Wie nun in der Großstadt Bleston? Hinreichend viele Straßennamen werden genannt. Bleston hat alles, was eine im nationalen Maßstab große Stadt reizvoll machen kann: zwei Kathedralen, Bahnhöfe, Museen, Parks, Restaurants, einen Jahrmarkt. Es geschieht auch das, was in jedem Großstadtroman erfolgen muß: Die Simulation der Stadt-Totale durch Abbreviaturen, durch das stellvertretende Nennen von Orten, Gebäuden, Straßennamen und anderen Indikatoren einer erfundenen Topographie. Denn wenngleich Butor seine Manchester-Erfahrungen verarbeitet – Bleston ist eine Phantasiestadt, die durch ihre Typik alle englischen Industriestädte, ja alle fremdbleibenden, feindlichen Großstadterfahrungen repräsentiert. Wie also diese Stadt jenseits des metonymischen Sprechens glaubhaft machen? Durch eine metonymische Zeichnung, eben einen Plan, und, auf dritter Stufe gleichsam, durch das wiederholte Erzählen davon. Dies ist wichtig: Wie in den zahleichen Texten mit Quellenfiktion wird durch das Erzählen auf der Basis eines Plans eine – leicht durchschaubare – Beglaubigung eingeholt. L’emploi du temps ist ein mehrdeutiger Romantitel14 – er verheißt Aufschluß über die Zeitverwendung, also eine Art retrospektives Protokoll, meint aber zugleich terminologisch einen Stundenplan, etwa in der Schule, und wäre so ein prospektives Gerüst. Beides trifft zu. Insofern in der Ich-Form erzählt wird, strukturiert der Text vergangene Zeit und ihre Ausfüllung, tut dies jedoch mit extremer Rasterung, also der Genauigkeit eines zeitökonomischen Schemas. Dies ist ein erstes reizvolles Paradox: Der nouveau roman geht mit der Zeit (oder, wie etwa Butor selbst in Passage de Milan oder Robbe-Grillet in La jalousie) mit dem Raum so mikrologisch um, wie es Proust mit der Erinnerung tat. Die Nähe zu Proust ist ohnehin keine zufällige, denn L’emploi du temps – obgleich ein gering intertextuell markiertes Buch – versucht beinahe in erster Linie, eine Proustische Optik zu entwickeln. Denkt man etwa an die Szene, in der Prousts Erzähler bei der Annäherung an das Gesicht der Geliebten im Kuß eine Abfolge von zehn Albertines evoziert,15 so muß man diese geringe sukzessive Verschiebung übertragen auf die Erinnerung an das und 14 Vgl. auch G. Thiele: Die Romane Michel Butors, S. 69-70. 15 Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 3. Guermantes, aus dem Franzöischen übersetzt von Eva Rechel-Mertens; revidiert von Luzius Keller, 2. Aufl., Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 512. 306

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die Einschätzung des eigenen Handelns. Butors Held Jacques Revel erzählt also, kurz gesagt, immer wieder dasselbe, aber durch den grundlegenden Zeitabstand zum Geschehen, der bei Schreibbeginn mehrere Monate beträgt und vor allem durch das Weiterlaufen der Zeit auf beiden Ebenen, der erzählten und der erzählenden, ergeben sich permanente Verschiebungen. Dies wäre für den Leser an sich wenig spannend, aber weil sich durch dieses Verfahren eine besondere Spielart des ›unreliable narrator‹ ergibt, weil also zusätzlich zu der UnzuverläsAbb. 3 sigkeit der erzählenden Einschätzung schlechthin auch noch die persönlich-charakterliche Rätselhaftigkeit des Erzählers hinzutritt, wird aus dem Zeit-Roman eine Art Kriminalerzählung, die eine beträchtliche Mystery-Spannung aufbaut, welche freilich am Ende nicht ein- oder aufgelöst wird. Die 1960 erschienene deutsche Übersetzung des Romans zwingt sich zwar zur Vereindeutigung des Titels ins Prospektive, auf Kosten des Charakters als Tagebuch, das sich über die Verwendung der Zeit buchstäblich Rechenschaft ablegt, dafür aber gewinnt es den im deutschen Kompositum geläufigen Aspekt der Planbarkeit, und das heißt ja auch der Erfaßbarkeit von Zeit. So heißt das Buch deutsch Der Zeitplan. Nun steckt darin im Deutschen eine verblaßte Metapher, denn ein Plan ist eben etwas Unzeitliches, eine zweidimensional sich erstreckende Fläche, Wiesenplan oder Stadtplan. Ein erstes – den Laokoon-Diskurs aufrufendes – Miniparadox besteht also darin, dass in dem Roman nirgends ein Zeitplan im Wortsinn begegnet, wohl aber ein Stadtplan. Diesen Stadtplan (Abb. 3) hat Michel Butor selbst gezeichnet.16 Der in der französischen Buchausgabe bis heute enthaltene Plan wurde lediglich von Verlagsseite etwas verschönt; im übrigen ist der Plan, auf den noch einzugehen ist, Butors primordiale Erfindung und natürlich die eigentliche Schreibbasis für die Arbeit an dem Roman. Doch hat – auch dies sei gleich gesagt – die Beigabe des Plans eine spiegelbildliche Funktion, denn es macht eine substantielle Differenz aus, ob der Leser durch

16 Schriftliche Mitteilung von Michel Butor an den Verf. vom 18.2.2007. 307

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einen Roman gleichsam zum Zeichnen eines impliziten Stadtplans provoziert werden soll wie bei Dos Passos, Döblin oder Paul Auster17 – dies erfolgt bei der Lektüre z.T. gar nicht, bei nichteidetischer, graphikskeptischer Disposition, oder gar als Lesehilfe explizit, manchmal auch erst als graphischer Kommentar in einer Edition wie in der SuhrkampEdition von Joyces Ulysses18 – oder ob ihm von Anfang an der Stadtplan nicht nur als Hilfsinstrument, sondern als Grundlage des Ganzen vorgegeben wird, so dass eine Lektüre des Texts ohne Abb. 4 Plan fahrlässig, jedenfalls unvollständig wäre. Man wird also den Plan auch lesen müssen. Umso unverständlicher ist es, dass die deutsche Ausgabe auf die Beigabe des Stadtplans verzichtet. Der erste Druck der Übersetzung von Helmut Scheffel enthielt wenigstens auf dem vorderen Leinen des Einbands die Stilisierung eines Stadtensembles (Abb. 4), zwar ohne jeden Informationswert, doch immerhin als emblematischen Verweis auf die Bedeutung des PlanMotivs. Zum Plan selbst: Die Stadt Bleston erscheint verbal als Ensemble aus Bezirken, Vierteln, wichtigen öffentlichen Gebäuden, privaten Bezugspunkten des Erzählers wie Wohnungen oder Restaurants sowie aus den Ingredienzien jeder größeren Stadt: Fluss, Straßen, Parks, Brücken, Bahnstrecken, Buslinien, Haltestellen usw. Es wird nun, ohne dass der philologische Beweis hier eine Rolle spielen soll, dem Leser rasch evident, dass der Romantext auch real aus dem fiktiven Stadtplan als Matrix (als zweidimensionaler ›histoire‹ im Sinn Todorovs) entstanden ist. Der Autor fährt gewissermaßen immer wieder als Erzähler den vor ihm lie17 Den Nexus zwischen Austers Roman City of Glass und der Kartierbarkeit der Diegese betont bereits Andreas Platthaus: »Festgemauert. Architektur als Grundprinzip grafischen Erzählens«, in: Vittorio Magnago Lampugnani/Matthias Noell (Hg.): Stadtformen. Die Architektur der Stadt zwischen Imagination und Konstruktion, Zürich: gta 2005, S. 70-80, hier: S. 74-79. 18 James Joyce: Ulysses. Roman, übersetzt von Hans Wollschläger, hg. und kommentiert von Dirk Vanderbeke, Dirk Schultze, Friedrich Reinmuth u. Sigrid Altdorf, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. 1084-1101. 308

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genden schematischen Plan ab und nennt an der Textoberfläche die ihm begegnenden Versatzstücke: Straßennamen, Gebäudebezeichnungen, Stadtviertel, Himmelsrichtungen. Der von Butor gezeichnete Plan weist, insbesondere für deutsche Leser, einige Besonderheiten auf. Zunächst enthält er keinen Maßstab, und die Aussagen über den Fluss Slee oder die Parks erlauben keine Vermutungen über deren absolute Breite bzw. Ausdehnung. Deshalb ist die Größe der Stadt mit ihren immerhin zwölf, offenbar in jüngerer Zeit (weil nicht spiralig, sondern von links oben nach rechts unten) definierten Distrikten schwer einzuschätzen. Immerhin lässt das kurios nahe Beieinander dreier Kopfbahnhöfe – städtebaulich nicht wirklich logisch – auf eine beträchtliche Einwohnerzahl schließen. Insofern ist eine Verwandtschaft mit dem Modell Manchester ohne jede direkte Ähnlichkeit typologisch und maßstäblich plausibel. Die Hauptverkehrswege sind eingezeichnet, dazu die regelmäßig geometrisch entworfenen Parks; das eher rechteckige Stadtzentrum mit der alten und der neuen Kathedrale zeichnet sich ab. Man muß sich diesen Plan im Prinzip farbig vorstellen in seinem späteren Œuvre arbeitet Butor denn auch visuell, teils mit unterschiedlichen Typographien und Farben (Réseau aérien, Boomerang),19 obgleich es sich erkennbar nicht um die Fiktion eines Faksimiles eines kommerziellen Stadtplans handelt. Was aber die Anwendung eines Maßstabs so erschwert, ist die Praxis, nur wichtige Straßen auszuzeichnen, Neben- und Wohnstraßen aber nur durch ihre Einmündungen anzudeuten. Ein deutscher Stadtplan hätte so nicht ausgesehen, wohl aber ein französischer (Abb. 5).20 Was mithin Butor spielerisch zur Entfaltung seiner Handlung entworfen hatte, war ein Michelin-Plan einer fiktiven britischen Stadt, so realistisch und alltäglich wie möglich. Dies ist von Belang: der Stadtplan wird im Folgenden mental dämonisiert, aber niemals als Objekt oder als kartographisches Verfahren. Es wäre der Eindruck irreführend, dass es im nouveau roman nicht auf die Handlung ankomme. Das Gegenteil trifft zu, insofern nämlich permanent Zweifel am exakten Erfassen und Kommunizieren von Gegenständen und Vorgängen gesät werden. Ohne eine minutiöse Handlung also kein nouveau roman. Freilich sind dies möglicherweise Vorgänge, die man nicht immer um ihrer selbst willen im Zentrum eines Romans sehen wollte. Doch Michel Butor hat sogar diesem Vorbehalt vorgebeugt. Die Handlung von L’emploi du temps wird in mannigfachen Anläufen mitgeteilt, aber es ist eine mindestens mysteriöse Abfolge von Er19 Vgl. A. Clavel: »Michel Butor«, S. 354. 20 Hier zur Illustration der Plan von Manchester aus dem im Original bekanntlich französischen, hier britisch adaptierten Guide Michelin: Michelin Great Britain and Ireland, Clermont-Ferrand: Michelin 1992, S. 372. 309

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eignissen, die auch – wenn man dies sagen darf – ›für sich‹ Spannung erzeugt. Indes geht es eigentlich um etwas anderes, nämlich um das unablässige, unvermeidliche Übereinanderschichten von Perspektiven und Bewertungen. Insofern, könnte man sagen, ist das Buch in erster Linie ein Zeitroman, und die temporale Struktur ist das Besondere an dem Roman: Revel beginnt mit der Beschreibung seines Aufenthalts erst sieben Monate nach seiner Ankunft, und er führt sie bis zu seiner Abreise so fort, dass im finalen Moment erzählte Zeit und Erzählzeit konvergieren, freilich ohne Schluss–pointe oder Aufklärung. Abb. 5 Revel schwankt zwischen zwei Schwestern, in die er sich erfolglos verliebt, weil ihm ein Landsmann den Rang abläuft. Er liest einen lokalen Kriminalroman, dessen Autor er kennenlernt und dem er ungeschickt das Inkognito zerstört. Er geht reihum in einer Anzahl von Restaurants essen usw. So erklärt sich die zunächst rätselhafte Zeitangabe »MAI, Oktober« zu Beginn. Am Donnerstag, dem 1. Mai beginnt Revel über seine Ankunft am 1. Oktober zu erzählen. Die Aufzeichnungen enden am Dienstag, dem 30. September, und erstrecken sich auf die Monate »August, Juli, März, September«. Zwar zwingt ihn niemand zur Beendigung seiner Reflexionen, aber mit der Abreise erlischt auch Revels Erzählbezug zu Bleston, beinahe, als würde die Stadt mit dem Glockenschlag zu existieren aufhören. Eine Woche vor seiner Abreise erkennt Revel, dass er quasi in der »umgekehrten Folge des Kalenders in die Vergangenheit zurückgehend« seinen Aufenthalt rekonstruieren müßte. Um eine bestimmte Phase zu verstehen, benötigte er z.B. »cette région du mois d’août pendant laquelle j’avais écrit les pages que je venais de lire, et les régions plus anciennes qu`elles concernaient, fragments d’avril, janvier, et juin« (S. 385).21 »Ainsi«, so erläutert der Tagebuchschreiber an ande-

21 Deutsche Übersetzung hier und im folgenden nach Michel Butor: Der Zeitplan. Roman, übersetzt von Helmut Scheffel, München: dtv 1964. ›jene Zeit des August, in der ich die gerade wieder gelesenen Seiten geschrieben 310

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rer Stelle »chaque jour, éveillant de nouveaux jours harmoniques, transforme l’apparence du passé, et cette accession de certaines régions à la lumière généralement s’accompagne de l’obscurcissement d’autres jadis éclairées qui deviennent étrangères et muettes jusqu‘à ce que, le temps ayant passé, d’autres echos viennent les réveiller.« (S. 388).22 Das unchronologische Erzählen führt z.B. dazu, dass Revel erstmals auf S. 13 (2.5.) den Stadtplan erwähnt, auf dem er seinen Weg in der noch fremden Stadt verfolgt. Dasselbe tut er am 7.5. (S. 18) für den nächtlichen Weg. Am 13.5. erinnert er sich daran, wie er sich in den ersten Tagen die Struktur der Stadt rekonstruiert hatte, ohne ihren Plan zu kennen (S. 28). Am 19.5. ist er in der Erinnerung an dem Punkt angelangt, an dem ihm Straßennamen wegen der Restaurants etwas zu bedeuten beginnen, an dem er aber deshalb auch beschließt, einen Stadtplan zu erwerben. Dies wird – erzählt unter dem Datum des 20. Mai – die erste Stadtplan-Schlüsselstelle (S. 49-50). Auf den Kauf folgt eine – später narrativ wiederholte – Lektüre des Stadtplans (22.5., S. 53-55). Diese schützt Revel jedoch nicht davor, sich trotz des Planes zu verirren (23.5., S. 57). Immerhin kennt er nach einiger Zeit das Zentrum, so dass er es beschreiben kann (29.5., S. 65-66). Am 27.5. verwendet Revel eine aufschlußreiche Metapher, denn er sieht sich in einer Bewegung auf der Oberfläche der Stadt wie ein Insekt (S. 62), was uns die Projektion auf eine defizitäre Zweidimensionalität verbal verdeutlicht. Es folgt auch sogleich die Ausflucht aus dieser Lage, die Besteigung des Kathedralenturms (S. 68-69, unter 29.5.): Revel will und wird die Stadt immer besser kennen (25.7., S. 240-241). Nach der Erinnerung an den ersten Auf- oder Überblicksversuch wird am 17. und 18. Juni erzählerisch wiederum, ausführlicher, die Lektüre des Stadtplans thematisiert; dies ist unsere zweite Schlüsselstelle (S. 135-138). Nach diesem Passus beginnt sich das Verhältnis des Erzählers – vielleicht ist es paranoider, vielleicht allgemein psychotischer Natur – zu Bleston zuzuspitzen. In der Stadt setzt eine Kette mysteriöser Brände (S. 155) ein, während zugleich (24.6.) darauf verwiesen wird, dass Revel den Stadtplan auf seinem Tisch hat. Und nun werden zwei Vorgänge – eigentlich eine zweistufige Handlung – auf irritierende Weise in immer neuen Erhatte, und die noch weiter zurückliegende Zeit, die sie betrafen, die Ausschnitte aus dem April, dem Januar und dem Juni‹, usw. (S. 287). 22 ›Auf diese Weise‹, so erläutert der Tagebuchschreiber an anderer Stelle, ›verändert jeder Tag, indem er neue mitklingende Tage auferstehen läßt, das Bild der Vergangenheit, und diese zum Licht aufsteigenden Zeiten der Vergangenheit verdunkeln andere, die vormals erhellt waren, jetzt aber fremd und stumm für uns werden, bis ein anderer Widerhall sie abermals weckt.‹ (S. 289) 311

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zählschüben in den Fokus gebracht, Erzählanläufen, die kulminieren, sich aber keineswegs erschöpfen in einer dritten Schlüsselstelle (S. 262-266). Dabei geht es, bildlich gesprochen, um den scheiternden Versuch,23 sich symbolisch von der Stadt oder aus ihrem Labyrinth (dieses Symbol wird explizit bemüht, S. 245) zu befreien. Was nun diesen Ausbruchsversuch betrifft, so besteht er schlicht, aber dramatisch darin, dass Revel eines Tages sein inzwischen abgenutztes Exemplar des Plans von Bleston verbrennt, sogleich aber ein neues Exemplar kauft. Nicht weniger als siebenmal erzählt Revel mehr oder minder ausführlich von der Verbrennung des Plans, sechsmal (nicht immer an denselben Stellen) vom Kauf

Abb. 6

eines Zweitexemplars. Deshalb läßt sich diese dritte Sequenz besonders gut stellvertretend für Butors Schreibverfahren lesen, von dem es in einem Nachschlagewerk heißt: »Geschehendes überlagert Geschehenes, spätere Erkenntnisse und Einsichten vermischen sich mit früheren.«24 Die Stadt wird mittelbar als Inbild der Erinnerung verstehbar.25 Die hauchdünnen Folien ihres je aktuellen und ihres je erinnerten Bildes lagern sich übereinander wie die Schichten Trojas.

23 Vgl. Régis Salado: »Labyrinthes : un état des lieux (à partir de L’emploi du temps de Michel Butor)«, in: Revue de Littératures Française et Comparée 3 (1994), S. 235. 24 Kindlers Neues Literaturlexikon. Bd. 3., S. 430-431, hier: S. 431. 25 Jean Bessière: »Mémoire et temporalité de la ville, ou le pouvoir du skyline, de T.S. Eliot à Michel Butor. Notes sur la ville moderniste en littérature«, in: Yves Clavaron/Bernard Dieterle (Hg.): La mémoire des villes. The memory of cities, Saint-Etienne: Centre d’Etudes Comparatistes 2003, S. 418. 312

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Darum hier Exkurs 2 zum memorialen Stadtplan: Die Problematik des Plans26 besteht in der Stillstellung eines Zustands. Insofern entspricht er dem Bildinventar der Fotografietheorie mit allen gängigen Implikationen. Der Stadtplanblick auf eine Stadt ist – wie es Susan Sontag u.v.a. vom Foto behauptete – ein tötender oder zumindest die Mortalität des Abgebildeten in Kauf nehmender Blick.27 Nun verändert sich aber die Stadt. Im Roman tut sie das objektiv, z.B. durch abbrennende Gebäude, und subjektiv – durch Abb. 7 die Emotionen, die einzelne Orte in Revel auslösen. Insofern lügt der Plan bzw. ist unfähig, das Eigentliche der Stadt abzubilden; statt dessen werden die Aufzeichnungen selbst zu einer Art narrativem, emotionalen Stadtplan, zu einem Authentizität versprechenden Privatarchiv. Stendhals autobiographische Selbstanalyse, die er als Roman unter dem maskierenden Titel Vie de Henry Brulard konzipierte, enthält eine Fülle von Materialien graphischer Natur. Der 1835/36 entstandene Text, der erst Ende des 19. Jahrhunderts ediert wurde, verfolgt im Grunde schon genau die Phänomene, die Butor in seiner Fiktion abzubilden versuchte, u.a. die permanente Überlagerung früherer durch spätere Eindrücke und die Veränderung oder Verfälschung der einstigen Wahrnehmung. Zu seinen wichtigsten Materialien gehört eine Fülle von selbstgefertigten Federzeichnungen, gewissermaßen graphischen Schnappschüssen und Kartenauszügen, die seine Erinnerung stützen sollten. Besonders sprechend ist einerseits die selektive Struktur dieser topographischen Fragmente – es geht um Stadtviertel, Nachbarschaften, einzelne Häusergruppen. Mehr noch: Henri Beyle zoomte seine Erinnerung gewissermaßen heran, so dass er Grundrisse von Häusern und Wohnungen erstellte sowie Interieurs einzelner Räume, meist in der Aufsicht, das Ganze stets mit handschriftlichen Legenden versehen. So enthält Stendhals Henry 26 Bei Giesenhagen etwas unscharf und nicht ohne Widersprüche skizziert; Elisabeth Giesenhagen: Stadtvisionen in der französischen Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main: Lang 2002, S. 135. 27 Vgl. Gerhard Plumpe: Der tote Blick – zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus, München: Fink 1990. 313

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Brulard28 eine ganze Serie von Skizzen der Vaterstadt Grenoble. Zwei Blatt nur zeugen davon, wo er wohnte, als er Ende 1799 erstmals nach Paris kam, ein weiteres von seiner Ankunft im Juni 1800 in Mailand (Abb.6-7). Zurück nach Bleston: Alle Analysen widmen sich den mythologischen Mustern: Kain, Theseus, dem Labyrinth. Die Stadt ist selbst (wie die These in Döblins Alexanderplatz lautet) Akteur, ein bedrohlicher Kontrahent, der den Fremden zum Kampf stellt. Und sie ist ein Etwas, ein Labyrinth, das den Fremden zum Theseus macht. Ein Ausflug Revels in die Peripherie mißlingt; es ist unmöglich, die Stadt distinkt von der Nicht-mehr-Stadt zu trennen, was symbolisch heißt: Ein Entkommen ist aussichtslos. Hier knüpft Butor erkennbar an symbolische Topographien à la Franz Kafka oder Dino Buzzati an. Mireille Calle-Gruber stellt das Motiv der Konfusion in den Mittelpunkt und deutet Bleston als »modernes Babel«.29 In diesem Horizont wäre für Revel der Plan ein Repertorium der Stadt mit dem Ziel, sie oder eher: die Angst vor ihr zu beherrschen.30 Deshalb wertet er die beinahe dekonstruktive Selbstverweigerung des Plans als »réponse ironique à mes efforts pour la recenser et la voir entière« (S. 135).31 D.h., das Systematische des Plans ist nur Schein, hinter dem sich ein provokantes Chaos, ja eine Falle verbirgt. Und während er noch versucht, sich mühsam und langsam des einen, des Ur-Plans zu bemächtigen, wird der gedruckte Plan in Erfahrung und Imagination überlagert »d’autres lignes«, »d’autres points remarquables, d’autres mentions, d’autres réseaux, d’autres distributions, d’autres organisations, d’autres plans« (S. 135).32 Hier wird mit einer Anzahl einschlägiger Vokabeln eine Art von ›ordre du discours‹ entwickelt, der sich auf der subjektiven Ebene zu der vom Genre Stadtplan vorgegebenen Wissensordnung konkurrierend hinzuentwickelt. Es geht also um Macht und darum, sich der Stadt zu bemächtigen, und es wird gehen um die physische Erzwingung dieser Bemächtigung und die Bestrafung von deren Verweigerung.

28 Stendhal: Vie de Henry Brulard, in: Œuvres intimes. II, hg. von V. del Litto, Paris: Gallimard 1982, S. 523-963. 29 Mireille Calle-Gruber: La ville dans L’Emploi du temps de Michel Butor, Paris: Nizet 1995, S. 42-52. 30 E. Giesenhagen: Stadtvisionen, S. 134. 31 ›ironische Antwort auf meine Anstrengung‹, ›die Stadt zu erfassen, sie in ihrer Ganzheit zu erkennen‹ (S. 104). 32 ›von anderen Linien‹, ›anderen bemerkenwerten Punkten, anderen Begriffen, anderen Netzen, anderen Aufteilungen, anderen Ordnungen, in einem Wort, von anderen Plänen‹ (S. 104). 314

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Nun ein 3. Exkurs, zur Geschichtlichkeit des Stadtplans: In Dieter Fortes Romantrilogie Das Haus auf meinen Schultern, die bis zur unmittelbaren Nachkriegszeit 1945 in Düsseldorf-Oberbilk spielt, begegnet eine Szene, die für deutsche Literatur typisch sein mag und auch für Forte typisch ist. Der eigenwillige Onkel Gustav sitzt an der Küchentür, auf der er einen Stadtplan seit so langer Zeit angebracht hat, dass dieser wegen der herumlackierten Farbe nicht mehr zu beseitigen ist. Der Plan hat gleichsam die Massivität der Tür angenommen. Wer Fortes Dauerthema ernstnimmt, die Materialität des Erzählens, das Chronikalische in der Familie, wird auch hier eine Variante davon sehen. Wie in Brechts Gefängnisparabel, in der der rebellische Text an der Zellenwand nicht mehr spurlos übertüncht werden kann, ist der Stadtplan unauslöschlich, Teil des kollektiven Archivs. Nun muß Gustav aber nolens volens nach 1933 neue Straßennamen eintragen. »Die Schwierigkeit«, heißt es nun, lag darin, daß er schon beim letztenmal, und das war erst einige Jahre her, mit dem Tintenstift gearbeitet hatte, so daß jetzt auf dieser alten Karte aus dem Kaiserreich alle wichtigen Plätze und Straßen mit mindestens vier Namen prunkten, denn die Republik wollte mit neuen Namen das Kaiserreich auslöschen, die Spartakisten die Republik und die jetzige nationale Herrschaft alles, was vor ihr war. Auf Gustavs Stadtkarte waren sie aber unauslöschbar mit Tintenstift eingetragen, dadurch alle gleichzeitig versammelt […], so daß der GrafAdolf-Platz/Ecke Königsallee sich in Adolf-Hitler-Platz/Ecke Karl-LiebknechtStraße verwandelt hatte, vom Horst-Wessel-Platz war es nur ein Sprung zur Rosa-Luxemburg-Straße, ehemalige Kaiser-Wilhelm-Straße, die FriedrichEbert-Straße hieß nun Litzmannstraße, die Rathenaustraße Theodor-KörnerStraße, und der Schlageter-Platz lag direkt am Spartakuswall, früherer und jetziger Hindenburgwall, in ruhigen Zeiten neutral und unverfänglich AlleeStraße, ganz früher einmal Boulevard Napoleon.33

Die Pointe – jenseits der auch in Berlin sattsam umstrittenen häufigen Umbenennungswut – liegt in der Zeit-und-Raum-Reise, die diese unbotmäßige Stadtkarte verräterisch und subversiv erlaubt. Natürlich ist mit diesem Palimpsest die These von der immerwährenden Anwesenheit des Ungleichzeitigen veranschaulicht, ja, wenn man so will, ist der Stadtplan (zumal nicht selten von dem »Quartier«, von Oberbilk also topographisch die Rede ist) auch eine Mikroabbildung des ganzen Buches, das zwar nicht primär eine Chronik von Düsseldorf sein will, wohl aber ein Abbild der Anpassungsfähigkeit zweier dort ansässiger Familien.

33 Die heutige Heinrich-Heine-Allee. Vgl. Dieter Forte: Das Haus auf meinen Schultern. 3. Aufl. Frankfurt/Main: Fischer 2004, S. 444-445. 315

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Ausdrücklich erklärt Fortes Erzähler, dass die Stadtkarte wie eine Generalstabskarte mit Front- und Besetzungslinien »neben der räumlichen Ordnung inzwischen auch eine zeitliche Dimension« aufwies (S. 445). Das Ganze hat aber mit dem Fluchtpunkt Nachkriegszeit eine Kehrseite, beinahe, wie oft bei Forte, zu viel der Symbolik auf zu engem Raum. Denn wie am Ende von Tomasi di Lampedusas Gattopardo das Fell des Hundes durch die Luft aufs Gerümpel segelt, so fliegt hier dank einer Luftmine eines Tages die Küchentür samt Stadtplan durch die Luft und landet so im Schutt, daß die sich wieder aufrappelnden Menschen einen Kreis um die interessante Stadtkarte bildeten, die mit ihren vielen Straßennamen die Erinnerung belebte. Und die Karte studierend, sahen die Menschen zu, wie die einzelnen Namen, all die angeblich unauslöschlichen Eintragungen, Buchstaben für Buchstaben sich auflösten und ineinander verliefen, ein Namensbrei entstand, eine trübe tintenfarbene Wasserlache, in der die Stadt ersoff. (S. 445-446)

Was nun wieder nicht das letzte Wort ist, denn wenn man die Rolle des Buches als memorialer Sicherungsdatei ernstnimmt, so zeichnet es gleichsam eine neue Karte, in der alle alten Versionen aufbewahrt sind. Freilich, dies zur Präzisierung, bei Dieter Forte mit merkwürdig begrenzter Liebe zum Detail. Wer nämlich seine Trilogie – zumal den ersten Teil – ohne nähere Lokalkenntnis liest, wird das reale Oberbilk kaum wiedererkennen oder für wesentlich größer halten, als es je war. Wie auch immer: Forte spricht symbolisch von einer Stadtkarte; die visuelle Imagination aktiviert er, mangels Maßstab, dadurch nicht. Und wieder zurück zu Butor: Sein Plan von Bleston wird als Abbild von Potentialität aufgefaßt. Insofern er sich allmählich mit Erfahrung und Konkretisierung füllt, korrespondiert er dem Kernphänomen des Romans, der Zeit: »dans cette feuille de papier«, schreibt Revel, »couverte de traits d’encre cinq couleurs, les centimètres carrés liés dans ma mémoire à des bâtiments perçus, à des heures, à des aventures, se sont multipliés, ont envahi de réalité un domaine de plus en plus vaste, mais il reste d’immenses lacunes, d’immenses trous dans cet espace, où les inscriptions restent lettre morte, où les lignes ne font apparaître aucune image« (S.134).34 – Gerade wenn der Betrachter die Bezirke betrachtet,

34 ›auf diesem Blatt Papier‹, schreibt Revel, ›das mit fünf verschiedenen Farben bedruckt ist, sind die Quadratzentimeter, die in meinem Gedächtnis mit wahrgenommenen Gebäuden, mit bestimmten Stunden und Ereignissen verbunden sind, immer zahlreicher geworden und haben ein immer größeres Gebiet mit Wirklichkeit überzogen, doch es bestehen noch riesige Lü316

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in denen er sich am besten auskennt, in Revels Fall den 7., in dem er wohnt und arbeitet (S. 134), oder den 10., in dem die Schwestern Bailey sowie ein Kollege wohnen (S. 134), wird er auf Namen aufmerksam, deren Signifikat er noch nie bemerkt hat (S. 134). Der Stadtplan als Objekt ist es nun aber auch, der den Leser aus mehrfachen Gründen am Geisteszustand und damit auch an der erzählerischen Zuverlässigkeit Revels zweifeln läßt. Zum einen schildert Revel, wie er den durch den Gebrauch eines halben Jahres abgenutzten Plan in einer beinahe feierlichen, rituellen Handlung – seinen Worten nach »presque en grande cérémonie«, freilich »dans un long, trés long moment de déraison « (S. 264), ja in einem »acte de folie« (S. 262)35 - in seinem Zimmer verbrennt: Puis j’ai pris le plan de Bleston que j’ai déplié, que j’ai tendu entre mes deux mains, qui s’est éclairé par transparence de telle sorte que je pouvais distinguer le tracé des rues principales et les monuments les plus importants à travers la vapeur qui s’en dégageait comme de mes vêtements, puis qui s’est obscurci par places, répandant une odeur de fumée […], qui s’est soudain ourlé de minces flammes en bas, s’agrandissant tout en montant, tout en couvrant et dévorant, tout en calcinant, tout en déchirant cet écran […], tout en le déchirant en deux fragments se transformant en mince écaille noire se pulvérisant au moindre souffle. (S.266)36

Typisch für den nouvau roman ist der minutiöse Bericht über Vorgänge. Hier fällt aber zunächst die Körperlichkeit des Plans auf, der mit seiner Äderung fast anthropomorph erscheint, sodann die Feindlichkeit, die dem Akt des Verbrennens explizit zugrundeliegt, und schließlich – die Stelle wurde abgekürzt – die Totalität der Vernichtung, auf die der Vorgang abzielt. Der Erzähler macht auch gar kein Hehl daraus, dass er auf cken, weite Flächen, deren Aufschriften tote Buchstaben bleiben, deren Linien kein Bild erwecken‹ (S. 103). 35 ›fast zeremoniell‹, freilich ›in einem langen, langen Augenblick der Verwirrung‹ (S. 200), ja in ›einem Akt des Wahnsinns‹ (S. 198). 36 ›Dann habe ich den Plan von Bleston ergriffen, habe ihn auseinandergefaltet, ihn mit beiden Händen gehalten, so daß er vor dem Feuerschein durchsichtig wurde und ich die Linien der Hauptstraßen und der wichtigsten Bauwerke durch den Dunst hindurch erkennen konnte, der aus ihm und aus meinen Kleidern aufstieg, während er sich stellenweise dunkler färbte und einen Brandgeruch verbreitete […], bis er sich plötzlich am unteren Rand mit winzigen Flämmchen säumte, die sich aufsteigend vergrößerten, ihn überdeckend, verzehrend, verschlingend, diesen Schirm verkohlend und zerreißend […], ihn in zwei Hälften zerteilend, die sich in eine hauchdünne schwarze Schale verwandelten, die dann zu Staub zerfiel […]‹ (S. 201). 317

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diese Weise »l’image de cette ville« (S. 267)37 habe zerstören wollen. Später spricht er die verhaßte Stadt sogar direkt an: »lorsque je te brûlais en effigie« (S. 347)38. Das Verbrennen in effigie – »the most powerful and primitive of all rites«, wie M.C. Spencer meinte39 - muss aber nicht die ganze Wahrheit sein, denn vergessen wir nicht, dass Revel – mehr en passant – von einer sich steigernden Serie von Brandstiftungen berichtet, zu deren Urheberschaft er sich nicht äußert; sie wird schlicht nicht geklärt. Pierre Brunel verweist bereits darauf, wie schwierig die Suche nach einem Motiv für diese Verbrennung (»les raisons de la déraison«) ist, die übrigens ›incendie‹ genannt wird, also den Brand der Stadt selbst evoziert.40 Im Horizont des Machtdiskurses erinnert sie an die Brandschatzung einer Festung nach verweigerter Schlüsselübergabe. Die Verbrennung des Plans erweist sich indes auf drei Ebenen als nutzlos. 1. ist Revel litteral eines Plans als Fremder weiterhin bedürftig, 2. – als sensus allegoricus gewissermaßen – ist die Befreiung aus dem Labyrinth so nicht möglich, 3. aber – sensus psychopathicus – rächt sich Bleston auf seine Weise, zumindest in der Vorstellungswelt des jungen Franzosen, denn: Als er am Folgetag bei Ann Bailey einen neuen Stadtplan kauft, lacht diese zunächst, in dem Glauben – so legt es der Erzähler aus –, »que je mimais par jeu d’amoureux notre encontre« (S. 262).41 Er gibt vor, dass er den alten Plan verloren habe (S. 263). Doch interpretiert er diese Lüge als extreme Verfehlung, denn angesichts des subjektiven Liebesverrats (der bei Ann nicht zum Zuge kommende Revel interessiert sich, wie er es nun darstellt, »depuis de nombreuses semaines«, S. 263-26442, für deren Schwester Rose), in dem wieder eher eine Pose und ein Selbstbetrug stecken, spürt er, wie der »neue Plan, weit entfernt, das Verschwinden des anderen zu verbergen, es geradezu laut hinausschrie«, ja er deutet sogar das Feuer als einen Racheakt der Stadt (oder als Bestrafung seiner Untreue, die in Wirklichkeit, da Ann sich mit seinem Kollegen James Jenkins verlobt, eine Notlüge zugunsten seines Ego ist): »le plan ancient brûlerait toujours au travers de l’autre, et que la démangeaison durerait 37 ›das Abbild der Stadt‹ (S. 202). 38 ›als ich dich in effigie verbrannt habe‹ (S. 260). 39 M. C. Spencer: »The Unfinished Cathedral: Michel Butor’s L’emploi du Temps«, in: Essays in French Literature 6 (1969), S. 87. 40 Pierre Brunel: L’emploi du temps. Le texte et le labyrinthe, Paris: PUF 1995, S. 44. – Revel verbrennt auch seine Eintrittskarte zum Park Plaisance Gardens und zerknüllt das Negativ des Fotos von George Burton. 41 ›ich […] spiele aus Verliebtheit die Szene unserer ersten Begegnung‹ (S. 198). 42 ›seit vielen Wochen‹ (S. 199). 318

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tant que je n’aurais pas éclairci un peu ce qui m’etait arrivé dans cette mauvaise ville.« (S. 263)43 Um es kurz zu resümieren: Der Stadtplan als Objekt der Kontrolle über eine Stadt wird zum Symbol des mentalen Kontrollverlusts. Aber der Stadtplan hat natürlich auch eine mediale Dimension: Gleich im Oktober hat sich Revel einen Stadtplan beschafft. Er erzählt davon am 20. Mai des folgenden Jahres. Die erotische Annäherung an Kellnerinnen und Verkäuferinnen belädt den simplen Kauf des Plans im Schreibwarengeschäft mit Verwirrung. Von Ann Bailey läßt Revel sich beraten, nachdem er, zur Entscheidung unfähig, verschiedene Pläne entfaltet und wieder zusammengeklappt hat (S. 50). Was er sucht, ist ein Plan mit den Buslinien; der aber enthält nicht die Straßennamen. Also muß er zum Busplan einen zweiten,44 einen totalen Stadtplan kaufen. Der simple Dialog mündet in die vieldeutige Order: »›Möchten sie einen farbigen, mit einem Straßenverzeichnis auf der Rückseite?‹ – ›Den besten, vollständigsten und klarsten, den Sie haben.‹« –»Ce qu’il y a de mieux, de plus complet et de plus clair.«45 Revel zeigt uns immer wieder diesen Stadtplan, den er entweder auf dem Tisch hat (9.7., S. 199), so dass er die Wohnung ausdrücklich ohne Plan verläßt (2.7., S. 182) oder den er abgenutzt in seiner Tasche trägt (30.6., S. 166-167). Pierre Brunel hat bereits auf die Texthaftigkeit des Stadtplans verwiesen: Er ist erforderlich zur Wohnungssuche und fungiert insofern als Komplement zur Zeitung Evening News.46 Zugleich ist er Mittler zwischen Realität und Fiktion. Das gängige Papierobjekt in einem Roman ist ein Buch; doch auch Stadtpläne kauft man in Buchhandlungen – sie sind per definitionem Bücher – also auch hier eine Figur der Selbstreferenz. Mediensystematisch gehört der Plan wie der Bleston-Krimi und der Reiseführer zu Revels Schreibwerkzeugen.47 Es gibt auch zwei Exemplare des Kriminalromans Der Mord von Bleston, eines liegt zusammen mit Plänen und Stadtführer auf dem Tisch; auch dies erzeugt eine engere semantische Parallelisierung. Und es wird ausdrücklich erzählt, dass das Betrachten des ausgebreiteten Plans und der Schreibvorgang miteinander koordiniert sind (S. 138). Die Verbrennung des Plans erfolgt am Sonntag, dem 27. April. Gisela Thiele 43 ›der alte Plan‹ würde ›immer durch den anderen hindurch brennen und sein nagendes Bohren so lange fortbestehen‹, wie er ›nicht das erhellt hätte, was mir in dieser heimtückischen Stadt widerfahren ist‹ (S. 199). 44 Vgl. P. Brunel: L’emploi du temps, S. 42. 45 Butor, dt., S. 39. Michel Butor: L’emploi du temps, Paris: Les éditions de minuit 1957, S. 50. 46 P. Brunel: L’emploi du temps, S. 42-43. 47 Butor dt., S. 58-59. Vgl. G. Thiele: Die Romane Michel Butors, S. 69; P. Brunel: L’emploi du temps, S. 45, 47. 319

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deutet diesen Akt als Initialzündung für den Beginn des Tagebuchs am 1. Mai,48 Elisabeth Giesenhagen aber teilt die Handlung in eine rezeptive und eine produktive Phase, gekennzeichnet als Zeit des ersten bzw. des zweiten Stadtplans.49 Damit käme dem Stadtplan konstitutive Bedeutung für die Existenz des Romans an sich zu: Kein Roman ohne Stadtplan. Hier bietet sich Exkurs 4 zum Schematismus des Stadtplans an: Einige Berühmtheit erlangten die in den 1980er Jahren als Serie ins Deutsche übersetzten Kriminalromane um den Pariser Privatdetektiv Nestor Burma. Insbesondere die 14 Romane – geplant waren 20 -, in denen der Autor Léo Malet den Helden seiner »nouveaux mystères de Paris« jeweils mit einem Fall konfrontiert, der für eines der Pariser Arrondissements typisch war, sind relevant für die Kartierungsthematik. Denn Malet richtete es so ein, dass die Handlung sich jeweils mehr oder minder präzise an die Arrondissementsgrenzen hielt. Deshalb lag es nahe, dass die deutsche Übersetzung erstens einen Plan des Bezirks mitlieferte, gemäß der Stadtwahrnehmung des geborenen oder geübten Parisers, der sich im L’indispensable von Arrondissement zu Arrondissement blättert. Und deshalb verwundert es nicht, wenn Joachim Hartstein seinen Übertragungen jeweils einen Planauszug sowie eine Liste der genannten Straßen hinzufügte und darüber hinaus jeweils einen fotografisch unterfütterten ›Nachgang‹ beschrieb.50 Dieses Schema dürfte indirekt zum Boom von Lokalkrimis beigetragen haben, denn wenn eine mit dem Stadtplan verfolgbare Krimihandlung in Paris für Bürger und Touristen gleichermaßen Authentizität suggeriert, so wird daraus bei den Bewohnern deutscher Provinzorte mindestens ein gutes Geschäft. Deshalb gehört es elementar zur Poetik des Lokalkrimis, möglichst viele Straßennamen und Landmarken genannt zu haben. Womit wir bereits eine weitere Feststellung erreicht hätten: die Nähe des Erzählens mit dem Stadtplan zur enumerativen Poetik des Katalogs,51 denn ein verbalisierter, erzählter Stadtplan ist als Textsequenz im Prinzip eine – durch Handlung aufgelockerte – Aufzählung von Straßennamen und Adressen.

48 G. Thiele: Die Romane Michel Butors, S. 77. 49 E. Giesenhagen: Stadtvisionen, S. 134. 50 Vgl. inzwischen zu den Kriminalromanen von Donna Leon auch die selbständige Publikation von Toni Sepeda: Mit Brunetti durch Venedig, Vorw. von Donna Leon, Zürich: Diogenes 2008. Von dem venezianischen Kommissar wird stereotyp mitgeteilt, dass ihm der komplizierte Plan seiner Vaterstadt, der den Ermittlungswegen naturgemäß zugrundeliegt, instinktiv und auswendig präsent ist. 51 Vgl. Sabine Mainberger: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin, New York: de Gruyter 2003. 320

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Abb. 8

Bei Butor hat das extrem dichte Beziehungsgefüge, beinahe ein »Beziehungswahn«,52 zwei Seiten. Eine psychologisch-narratologische: Revel kann, ein wenig wie Borges’ zwanghafter Gedächtniskünstler Ireneo Funes, »bald keinen Vorgang isoliert für sich betrachten, ohne nicht alle übrigen ähnlichen Ereignisse des vergangenen Jahres zu evozieren«.53 Und eine ästhetisch-poetologische Seite: L’emploi du temps ist ein Roman nach Art des strengen Satzes, wie ihn Thomas Mann im Doktor Faustus postulierte. Dieser Strenge korrespondiert eben auch das Raster des Stadtplans. Denn der Roman besteht aus fünf ungefähr gleich langen Teilen, die jeweils den Erzählvorgang eines Monats repräsentieren und jeweils in fünf Untereinheiten (montags bis freitags) gegliedert sind.54 Diesem Schematismus – Gisela Thiele erklärt: »Trotz des Eindrucks einer chaotischen Unordnung herrscht in dem Roman eine verblüffende Planmäßigkeit.«55 – entspricht innerhalb des Kunstwerks u.a. die mise en abyme des Stadtplans. Bezeichnenderweise enthalten fast alle Publikationen über Butors Roman ein graphisches Schema von Erzählzeit und erzählter Zeit.56 Ohne Zeitplan geht es also auch nicht.

52 53 54 55 56

Vgl. G. Thiele: Die Romane Michel Butors, S. 85. Ebd., S. 105. M. C. Spencer: »The Unfinished Cathedral«, S. 83-84. G. Thiele: Die Romane Michel Butors, S. 102. M. C. Spencer: »The Unfinished Cathedral«, S. 84; Marian A. Grant: Michel Butor: L’emploi du temps, London: Edward Arnold 1973, S. 31; G. 321

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Abb. 9

Eine Extremform dieses Schematismus realisiert Ute von Kahlden, die genau dies: die Graphisierbarkeit der Zeitebenen bis hin zur Frage nach Widersprüchen in den Mittelpunkt stellt,57 übrigens auch bis zu der Feststellung, dass einzelne erzählte Ortsbewegungen Revels dem Stadtplan widersprechen.58 Die Visualisierbarkeit ist deshalb interessant, weil rektanguläre, eine x- und eine y-Achse koordinierende Graphe auf abstrakter Ebene wiederum Bleston-Pläne sind, Pläne, die einmal die Erzählzeit, einmal die erzählte Zeit mit den Orten der Handlung zusammenbinden (Abb. 8-9). D.h., was in einem Stadtplan B 3 sein könnte, wäre in dieser Logik ein Essen im April im Restaurant Oriental Bamboo oder das Erzählen im August vom Bahnhof Hamilton Station.59 Franco Moretti untersuchte 2005 am Beispiel von diversen Dorferzählungen, wie die Kartierung von Aktanten, Handlungsorten und -strängen verborgene Kompositions- oder Aussageschemata verdeutlichen konnte.60 Schon in seinem Atlante del romanzo europeo (1999) hat-

57

58 59 60

Thiele: Die Romane Michel Butors, S. 94 u. 99-101; P. Brunel: L’emploi du temps, S. 156. Ute von Kahlden: Romanarchitektur im Koordinatenkreuz. Graphische Analysen von Erzähl- und Zeitstrukturen im zeitgenössischen Roman, Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 146. Ebd., S. 175, Anm. 91. Vgl. ebd., S. 173 u. 175. Franco Moretti: Graphs, Maps, Trees. Abstract Models for a Literary History, London, New York: Verso 2005, S. 53. 322

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Abb. 10

te er gezeigt, dass etwa die Handlung von Paris-Romanen nicht selten dem rive gauche/rive droite-Schema folgte, nämlich bei der Invention von Liebesbeziehungen. Paris als Diagramm, als »matrix of relations, not a cluster of individual locations«, wie Moretti es ausdrückt.61 Diese Sicht kehrt die gewohnte Perspektive um, insofern die Stadt selbst zum Plan abstrahiert wird. Sie ist die Karte, das visuelle Schema novellistischer Handlungen. Es wäre nach alldem ein Anachronismus, aber keine falsche Zuordnung, Butor in einem Atemzug mit der Gruppierung OULIPO zu nennen. Sein Roman Passage de Milan antizipiert ja in gewisser Weise Georges Perecs La vie mode d’emploi (welches sich vielleicht ein bisschen, und ebenfalls mehrdeutig, an Butors anderen Roman heranspielt), eine Großerzählung nach dem Muster, dem Plan eines Mehrfamilienhauses. Der Kernbegriff, der Butors Schreibkonzept mit den Oulipisten verbindet, ist die von diesen so genannte ›contrainte‹, der formale Zwang, sei es Reim, Lipogramm, Vokabelliste oder eben eine visuelle Matrix, unter der die Erzählung sich ein wenig wie von selbst entwickelt. Bei Butor ist dies der Stadtplan von Bleston. »Wenn der Roman«, so schrieb Butor 1992 in seinem Essay Die Stadt als Text, »wie er in den letzten Jahrhunderten entwickelt wurde, der Ausdruck par excellence der großen klassischen Stadt war, dann sind es die neuen mobilen und offenen Formen – Ringe und Netze […], die wir heute vervollkommnen müssen, um aktiver an der Verwandlung unserer Welt der Zerrissenheit zwischen rivalisierenden Städten in einen Garten 61 Ebd., S. 54. 323

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Abb. 11

von universaler Urbanität teilzunehmen.«62 Daher nun der letzte Exkurs, zum nicht mehr zweidimensionalen Stadtplan: 2002 erschien der dritte Roman der pakistanischen Autorin Kamila Shamsie unter dem Titel Kartography. Darin geht es um das Mädchen Raheen und ihren Freund Karim, um die familiären und ethnischen Konflikte in ihrem Umkreis, denn die 1973 geborene Autorin situiert die Handlung in der Anbahnung des Bürgerkriegs, der zur Abspaltung von

62 Michel Butor: Die Stadt als Text, aus dem Franzöischen von Helmut Scheffel, Graz, Wien: Droschl 1992, S. 26-27. 324

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Bangladesch führte. Das Buch selbst aber spielt in der Millionenstadt Karatschi, deren Topographie eine mehrfache Rolle zukommt. Zum einen enthält der Roman einen realen Stadtplan mit der Aufgabe, das gezeichnete Gesellschaftsbild auch optisch und statistisch als exemplarischen Mikro-Ausschnitt begreifbar zu machen (Abb. 10), zum anderen eine von der Hand einer Romanfigur gezeichnete schematisierte Karte, die das für die Handlung relevante Lebensumfeld darstellt, gewissermaßen einen subjektiven Stadtplan (Abb. 11). Der Roman mündet in Karims Idee, eine umfassende Karte Karatschis interaktiv im Internet zu produzieren: »Man fängt mit einer rudimentären Straßenkarte an, okay, aber überall sind Links. Klick hier, und du hörst Geschichten von Leuten in Karatschi, die erzählen, wie das Leben in unterschiedlichen Vierteln ist. Klick dort, und du kriegst das Bild einer Straße.« 63 Freilich ist dieser Gedanke nicht wirklich revolutionär, und die Rezensentin der taz merkte denn auch (25.3.2004) an, dass die Autorin sich mit der »titelgebenden Metapher« der Kartographie »wahrscheinlich etwas zu viel« vorgenommen habe. Dennoch hat die Hybridisierung von Papier- und Netzroman längst begonnen, und auf den GPS-Roman werden wir sicher nicht lange warten müssen. 1967 erklärte Butor: »Il y a peu de livres qui puissent être comparés à des villes«, diese seien die großen Bücher, »les grands livres ce sont ceux où l’on peut se promener«.64 Damit mag man zwar auch wieder bei den Metaphern angelangt sein, aber der gemeinte höhere Komplexitätsgrad jener Bücher, in denen man spaziergehen könne wie in Städten, gilt nicht nur für L’emploi du temps selbst, sondern auch – dies als Prognose – für das zukünftige Erzählen mit dem Stadtplan.

63 Kamila Shamsie: Kartographie, aus dem Englischen von Anette Grube, Berlin: Taschenbuch-Verlag 2005, S. 405. 64 Michel Butor: »Voyage à l’intérieur d’une langue. Entretien avec Michel Butor« [1967], in: M.B.: Entretiens. Quarante ans de vie littéraire. Enretiens réunis, présentés et annotés par Henri Desoubeaux. Bd. 1., Nantes 1999, hier: S. 336. – Zit. Nach S. Gomolla: Lesbare Architektur, S. 10. In seinem Text Description de San Marco (1963) bemüht sich Butor, Architektur jenseits aller Gleichungen, die doch immer nur Metapher bleiben, konkret lesbar zu machen, Architektur nachzubilden. Vgl. Stephanie Gomolla: Lesbare Architektur und architektonischer Text. Metaphern und deren Überwindung bei Michel Butor. Online unter: http://www.metaphorik.de/02/gomolla.htm [Abruf 20.2.2009], S. 5 u. 10. 325

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Abbildungen Abb. 1: Atlas. Zusammengestellt von deutschen Autoren. München: dtv 1968, S. 11. Abb. 2: Butor, Michel: L’emploi du temps, Paris: Les éditions de minuit 1957. Ausgabe 2002, Umschlag vorne. Abb. 3: Butor, Michel: L’emploi du temps, Paris: Les éditions de minuit 1957. Ausgabe 2002, S. 8. Abb. 4: Butor, Michel: Der Zeitplan. Roman, deutsche Ausgabe, Darmstadt: Moderner Buch-Club 1960, Einband vorne. Abb. 5: Michelin Great Britain and Ireland, Clermont-Ferrand: Michelin 1992, S. 372. Abb. 6: Stendhal: Œuvres intimes. II, hg. von V. del Litto, Paris: Gallimard 1982, S. 879. Abb. 7: Stendhal: Œuvres intimes. II, hg. von V. del Litto, Paris: Gallimard 1982, S. 955. Abb. 8: Kahlden, Ute von: Romanarchitektur im Koordinatenkreuz. Graphische Analysen von Erzähl- und Zeitstrukturen im zeitgenössischen Roman, Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 173. Abb. 9: Kahlden, Ute von: Romanarchitektur im Koordinatenkreuz. Graphische Analysen von Erzähl- und Zeitstrukturen im zeitgenössischen Roman, Tübingen: Stauffenburg 1997, S 175. Abb. 10: Shamsie, Kamila: Kartographie, aus dem Englischen von Anette Grube, Berlin: Taschenbuch-Verlag 2005. S. 165. Abb. 11: Shamsie, Kamila: Kartographie, aus dem Englischen von Anette Grube, Berlin: Taschenbuch-Verlag 2005, S. 134.

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This chord This water This son This daughter This day This time This land It's all mine This Calling Bell This Forge Bell This Dark Bell This The Knife Bell This calling This burden This falling The world's turning This What I thought I knew This What I thought was true This I understood This In the deep wood This Ah there I stood a child so fair This On a certain square This Down the dirty stairs This To see the table set This With golden chairs This Ah to follow, follow, follow, follow there This grace And this world This feeling And this girl This revolver This fire This I'll hold it up higher, higher, high (*)

GEORGES

DAS DIESE. P E RE C S L U S T A N

DE R

ORTUNG

ROBERT STOCKHAMMER »Sie ist also selbst zu fragen: Was ist das Diese?« Sie, die sinnliche Gewissheit, antwortet gern und sofort, »zum Beispiel:« Das Diese ist eine Satellitenantenne auf dem Balkon eines Hochhauses in der Lipschitzallee. »Um die Wahrheit dieser sinnlichen Gewißheit zu prüfen, ist ein einfacher Versuch hinreichend. Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht verlieren; ebensowenig dadurch, dass wir sie aufbewahren.« Beim ersten Versuch war die Wahrheit »das Jetzt ist die Nacht« bekanntlich schon »jetzt, diesen Mittag, [...] schal geworden«.1 Diesmal geht es vielleicht ein klein wenig besser aus. Freilich: Sie sehen diese Satellitenantenne nicht, Sie können meinem Finger nicht folgen, der auf sie, die Satellitenantenne, zeigt. Sie verstehen, anders gesagt, nicht, warum ich dieses Beispiel wähle. Sie sehen meinen Finger nicht, Sie sehen mein Zeigen nicht, das ich Ihnen zeigen will, wenn ich Ihnen diese Satellitenantenne zeigen will. Wenn es diesmal trotzdem ein klein wenig besser ausgeht, so dank des Wortes Lipschitzallee. Die Lipschitzallee gibt es unabhängig von diesem Satz. Und Straßen sind nicht nur dazu da, Häuser voneinander zu trennen oder von einem Haus zu einem anderen zu gehen, sondern vor allem auch dazu, Häuser zu orten: »De plus, la rue est ce qui permet de repérer les maisons. Il existe différents systèmes de repérage; le plus répandu, de nos jours et sous nos climats, consiste à donner un nom à la rue et des numéros aux maisons«.2 Repérer – ein Schlüsselwort in Georges Perecs Buch Espèces d'espaces – hält den Zusammenhang von Kerbung und Lokalisierung fest, da es ›markieren‹, ›kennzeichnen‹, aber auch ›mit Hilfe von Merkzeichen auffinden‹, ›ausfindig machen‹, ›adressieren‹ be1

2

Alle Zitate in diesem Absatz: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807), in: G.W.F.H.: Werke in 20 Bänden, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969-71, Bd. III., S. 84. Georges Perec: Espèces d'espaces (1974), Paris: Seuil 2000, S. 93; daraus auch alle weiteren Zitate im Haupttext dieses Beitrags, im Folgenden belegt mit Angabe der bloßen Seitenzahl im fortlaufenden Text. 331

ROBERT S TOCKHAMMER

deuten kann; mit ›orten‹ lässt es sich vielleicht noch am ehesten übersetzen. Dafür eben gibt es kartographische, numerische und alphabetische Systeme, auf dem Papier, auf Straßenschildern und in den Datenbanken von Geo-Informationssystemen: Gegen Ende seines Buches erzählt Perec die Anekdote, dass es in England gelungen sei, einen Brief richtig zuzustellen, der als Adresse ausschließlich Angaben zum Längen- und Breitengrad enthalten habe – und dies lange vor der Durchsetzung von GPS (163). Sie können die Lipschitzallee also orten. Sie werden wahrscheinlich nicht diese Satellitenantenne sehen, auf die ich gezeigt habe, diese Satellitenantennen sehen sich ja alle sehr ähnlich, und ich habe mir weder Hausnummer noch Stockwerk notiert, aber vielleicht muss es nicht genau diese sein, sondern eine von diesen tut es auch. Es muss aber eine in der Lipschitzallee sein, darauf bestehe ich. Sie finden die Lipschitzallee im alphabetischen Register eines Berliner Stadtplans. Sie finden die Lipschitzallee in jenen Planquadraten des Stadtplans, die Ihnen im Register des Stadtplans unter Lipschitzallee angegeben werden. (Im Falle meines Stadtplans handelt es sich um mehrere Planquadrate, die Lipschitzallee ist nicht ganz kurz; manchmal werden aber sogar die kürzesten Straßen mit zwei Planquadraten ausgewiesen, wenn sie eben zufällig an der Grenze zweier Planquadrate liegen.) Sie finden die Lipschitzallee, wenn Sie die Entsprechung dieser Planquadrate in der wirklichen Welt aufsuchen, im Stadtteil Gropiusstadt; sie können auch die U-Bahn nehmen, denn es gibt sogar einen U-Bahnhof Lipschitzallee. Ob und wo Sie umsteigen müssen, entnehmen Sie dem Plan der Berliner Verkehrsbetriebe. »Si j’en avais le temps, j’aimerais concevoir et résoudre des problèmes analogues à celui des ponts de Kœnigsberg, ou, par exemple, trouver un trajet qui, traversant Paris de part en part, n'emprunterait que des rues commençant par la lettre C.« (124) In Espèces d'espaces ist dies die einzige Stelle, an der Perec seine Mitgliedschaft im OULIPO verrät. Denn dieser Vorschlag wendet das Prinzip der ›contraintes‹, der einschränkenden Regeln beim Schreiben (etwa eines ganzen Romans ohne ein einziges ›e‹), auf das Gehen an, um dank dieser scheinbar willkürlichen Gesetze zu anderen Wegen gezwungen zu werden, als man sie sonst aus alter Gewohnheit eingeschlagen hätte. Ja, Perec motiviert selbst diesen Zusammenhang von Schreiben und Gehen, indem er Espèces d'espaces mit der kleinsten räumlichen Einheit des Schriftstellers beginnt, dem Blatt Papier, auf dem er

de gauche

à droite

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DAS DIESE

d e h a u t e n b a s schreibt (22), um von dort aus zu immer größeren Einheiten voranzuschreiten: über das Bett, das Zimmer, die Wohnung, die Straße, das Viertel, die Stadt und das Land bis hin zum Weltraum. Straßennamen, die – jedenfalls in unseren Zeiten und Breiten – auf dem Papier des Stadtplans ebenso stehen wie auf Schildern in der Wirklichkeit, sind wunderbare Schnittstellen von Alphabet und Stadt. Unter den von Perec vorgeschlagenen Aufgaben vom Typ des Problems der sieben Königsberger Brücken – das Leonhard Euler 1736 zum Anlass nahm, um die Analysis situs in Richtung auf dasjenige zu entwickeln, was heute ›Topologie‹ heißt3 – erschien mir der Versuch, ausschließlich auf Straßen mit dem Anfangsbuchstaben C voranzukommen, allerdings wenig erfolgversprechend, zumal in Berlin. Stattdessen entschloss ich mich, dem Alphabet auch in seiner reihenden Wirkung zu vertrauen, also in einer Straße loszugehen, deren Name mit A beginnt, bis zu ihrer Kreuzung mit einer Straße, deren Namen mit B beginnt, diese bis zur Kreuzung mit einer Straße, die mit C beginnt, etc. (»Ne pas dire, ne pas écrire ›etc.‹ Se forcer à épuiser le sujet, même si ça a l’air grotesque, ou futile, ou stupide.«; 101) Ohne zu springen kommt man so allerdings nie besonders weit; mir sind keine Gänge mit mehr als vier Buchstaben am Stück gelungen. Und die habe ich nicht im Gelände gefunden, sondern indem ich – in getreuer Umsetzung von Perecs Rat: »On étudie soigneusement le plan de la ville« (125) – den Berliner Stadtplan durchsuchte, auf seiner ganzen Fläche mit allen Nebenkarten, von Erkner bis Frohnau, von Wannsee bis Ahrensfelde. 3

Vgl. Moritz Epple: Die Entstehung der Knotentheorie. Kontexte und Konstruktionen einer modernen mathematischen Theorie, Braunschweig: Vieweg 1999, S. 46. 333

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»Méthode: il faudrait, ou bien renoncer à parler de la ville, à parler sur la ville, ou bien s’obliger à en parler, le plus simplement du monde, en parler évidemment, familièrement. Chasser toute idée préconçue. Cesser de penser en termes tout préparés, oublier ce qu’ont dit les urbanistes et les sociologues.« (122) Dies alles zu vergessen ist natürlich nicht das Einfachste der Welt. Schon gar nicht bei der Annäherung an Gropiusstadt, einen für die Geschichte der Urbanistik aus mindestens zwei Gründen berühmten Stadtteil: zum einen, weil er nach jenem Walter Gropius benannt ist, der ihn tatsächlich 1962 zu planen begann, der aber weit eher mit dem Bauhaus der Zwischenkriegszeit assoziiert wird; zum anderen, weil Gropiusstadt als eine jener Hochhaussiedlungen mit den größten ›sozialen Problemen‹ bekannt ist, Arbeitslosigkeit, Drogenkriminalität, Kampfhunde, Christiane F., etc. Beides zusammen ergibt dann die Dialektik der stadtplanerischen Moderne, zu der auch Entdialektisierungsversuche wie der Hinweis darauf gehören, das Ganze entspreche ja nicht Gropius’ ursprünglichem Plan und er sei vor der Fertigstellung gestorben. Ich stelle mir auch nicht gern das Bauhaus in Verbindung mit prügelnden Neuköllner Alkoholikern vor. Ich wusste nicht mehr als dies von Gropiusstadt, wo ich nie bin, und weiß noch immer nicht viel mehr. Ein bisschen anders aber ist es, seit ich den Stadtplan nach alphabetisch zusammenhängenden Straßen durchsucht habe. Denn da erschien mir Gropiusstadt dank der lupenreinen Folge von Imbuschweg, Johannisthaler Chaussee, Kölner Damm und Lipschitzallee in neuem, sonnigem Licht. (Schön finde ich übrigens auch, dass diese vier Straßennamen auch vier verschiedene Wörter für ›Straße‹ enthalten, ohne dass auch nur eines davon -straße lautete). Perecs Rat, sorgfältig den Stadtplan zu studieren, scheint auf den ersten Blick mit dem urbanistischen Wissen gemeinsame Sache zu machen. Denn die Stadtplaner sind es ja, die sich auf vorhandene Stadtpläne stützen und mit ihren Taten die Erstellung neuer Stadtpläne erzwingen. Die Kritiker der Stadtplaner hingegen misstrauen, scheinbar folgerichtig, vor allem auch Stadtplänen, denken sich das Glück, die Freiheit und das autonome Individuum im glatten, vektoriellen Raum, in der dérive, dem Sich-treiben-lassen ohne Halt an Kerbungen wie Straßenschildern oder Stadtplänen.4 Perec jedoch untersucht die repérage und hat seine Lust an 4

Dies ist, zugegeben, eine überspitzte Formulierung. Man kann sie aber halbwegs plausibel machen, wenn man Perecs Buch Espèces d'espaces als vorwegnehmenden Widerspruch gegen drei Bücher liest, die ebenfalls im Paris der 1970er Jahre entstanden sind und seit einiger Zeit als wichtige Referenztexte des ›spatial turn‹ dienen: (1.) Henri Lefebvre: La Production de l’espace, Paris: Anthropos 1974, 4. Aufl. 2000; in deutscher Übersetzung existiert bisher nur, aber immerhin – dank der übersetzerischen Hel334

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dentat Jörg Dünnes, dem die vorliegende Fußnote auch weitere Hinweise zu Lefebvre verdankt – ein Ausschnitt (S. 39-43 u. 46-53 des Originals), in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel in Zusammenarbeit mit Hermann Doetsch und Roger Lüdeke, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 330-340; (2.) Michel de Certeau: L'invention du quotidien I: Arts de Faire, Paris: 10/18 1980, aus dem Französischen von Ronald Voullié als Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1989; (3.) Gilles Deleuze/Félix Guattari: Mille plateaux, Paris: Minuit 1980, aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Voullié als Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1992. (Zitate aus den Originalen all dieser Bücher werden im Folgenden durch bloße Angabe der Seitenzahl nachgewiesen; Zitate aus den deutschen Übersetzungen – soweit vorhanden – mit Seitenzahl und der Abkürzung ›dt.‹). Da nicht alle diese Theorien sich ausdrücklich auf Stadtpläne beziehen, wird in der folgenden Kurzdarstellung der Status, den Karten im Allgemeinen in diesen Theorien einnehmen, mitberücksichtigt. De Certeau stellt zwei Umgangsweisen mit dem Raum einander gegenüber, die er auch terminologisch unterscheidet (208-209/dt. 217-218): Urbanistische Strategien zur Raumordnung, die einen lieu definieren und damit konstruieren, setzen die Möglichkeit voraus, ein Gelände von oben zu überblicken, sei es durch die direkte Einsetzung des panoptischen Blicks oder, noch besser, durch dessen technische Konstruktion mithilfe von Plänen. (Und wie nahtlos Stadtpläne, die das bereits Vorhandene festhalten, in Konstruktions-Pläne übergehen können, die etwas Zukünftiges vorschreiben, hat etwa Karl-Heinz Magister am Beispiel New Yorks gezeigt; vgl. seinen Aufsatz »New York und die Macht der Karten: Kartographie von Urbanisierung, Migration und Ethnizität«, in: Robert Stockhammer [Hg.]: TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München: Fink 2005, S. 341-382.). Die mikrobenhaften Praktiken eines listigen Umgangs mit der disziplinierenden Macht hingegen, die Taktiken des Gehens im Straßengewirr, mit denen der Erfahrungs- oder Handlungsraum (espace) entsteht, erscheinen gerade als Akte, die sich wesentlich nicht kartieren lassen. De Certeau räumt zwar ein, dass auch die »Prozesse des Gehens [...] auf Stadtplänen eingetragen werden« könnten – etwa durch Pfeile auf bestehenden Plänen, jenes Verfahren, mit dem Lotman das minimale Element von ›sujets‹ veranschaulicht –; dabei jedoch gehe »genau das verloren, was gewesen ist: der eigentliche Akt des Vorübergehens« (»Certes, les procès du cheminer peuvent être reportés sur des cartes urbaines«. Aber: »Les relevés de parcours perdent ce qui a été: l’acte même de passer.« (179-180/dt. 188). Es ist, als würde dabei – mit einem Vergleich, den de Certeau zwar hier nicht ausdrücklich zieht, den er aber durch seine eigenen Rekurse auf die Sprechakttheorie nahelegt – ein Sprechakt, der wesentlich etwas bewirken soll, auf sein konstatives Resultat reduziert werden. Man mag allerdings fragen, ob das Gehen tatsächlich

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als ein subversiver Akt beschrieben werden kann, der »sich von der Einzeichnung in eine Karte befreit« (»qui se dégage ainsi de sa mise en carte«; 183/dt. 192) oder ob das Verhältnis von Geh-Akt und Kartierbarkeit komplexer beschrieben werden muss (vgl. dazu: Dorothea Löbbermann, »Weg(be)schreibungen: Transients in New York City«, in: R. Stockhammer [Hg.]: TopoGraphien der Moderne, S. 263-285, insb. S. 280, oder Jörg Dünne: »Einleitung [zu Teil 4]«, in: J.D. /S. Günzel [Hg.], Raumtheorie, S. 289-302, hier: S. 300). Komplexer, wenngleich nicht in ausdrücklich reflektierter Weise komplexer, ist jedenfalls die Position von Karten in dem anderen legendären Begriffspaar von 1980, der Gegenüberstellung von glattem und gekerbtem Raum in Deleuze/Guattaris Mille Plateaux. Denn einerseits ist hier der gekerbte Raum, der ausgehend von Punkten strukturiert wird, derjenige des ›Staatsapparates‹ und entspricht also auch strukturell dem lieu von de Certeaus strategischen Urbanisten, die vorzugsweise mit Karten operieren – der glatte Raum hingegen, nach Deleuze/Guattari das Aktionsfeld der ›Nomaden‹, ist von Vektoren geprägt, die sich in das orthogonale Koordinatensystem nicht eintragen lassen, und entspricht strukturell dem espace von de Certeaus taktischen Fußgängern (vgl. 597-599/dt. 663-665; zum ›Richtungsvektor‹ als Konstituente des zweiten Modells vgl. auch. de Certeau, 209/dt. 218). Ja, wahrscheinlich stimmen Deleuze/Guattari mit de Certeau sogar in der historischen Diagnose überein, derzufolge sich die Geschichte der Kartographie vom parcours der Verlaufsbeschreibung zur carte der Zustandsbeschreibung entwickelt habe: Denn sie bezeichnen die Portolankarten des 13.-15. Jahrhunderts, denen noch kein Koordinatensystem zugrunde liegt, sondern die den Raum ausgehend von Bewegungen strukturieren, in denen also gleichsam die Vektoren den Punkte vorausgehen, etwas lax, aber durchaus plausibel als »keine richtigen Karten« (599/dt. 664-665). Um die Gemeinsamkeiten zwischen de Certeau und Deleuze/Guattari meinerseits etwas lax und unter Verwendung eines Wortes zusammenzufassen, das Deleuze/Guattari selbst übrigens viel seltener gebrauchen als ihre Adepten: Als ›subversiv‹ erscheint in beiden Entwürfen das Vektorielle, der Akt, der Widerstand gegen die Kartierung. Immerhin haben Deleuze/Guattari aber selbst gegen einen allzu binären Umgang mit ihrem eigenen Begriffspaar gewarnt: »Aber nichts paßt richtig zusammen, alles vermischt und überschneidet sich.« (»Mais rien ne coïncide tout à fait, et aussi tout se mélange, ou passe de l’un à l’autre«; 601/dt. 668) Besonders eklatant ist diese Vermischung oder Überschneidung, wenn man diese Aussagen über den gekerbten Raum, der doch wesentlich über Karten festgelegt wird, mit einer anderen, noch berühmteren Passage aus denselben Mille Plateaux konfrontiert. Denn andererseits plädieren die Autoren ja zu Beginn des Buches gerade dafür, Karten zu zeichnen, und trauen ihnen Funktionen zu, die den Zielen hegemonialer Mächte durchaus widersprechen:

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»Die Karte ist offen, sie kann in all ihren Dimensionen verbunden, zerlegt und umgekehrt werden, sie kann ständig neue Veränderungen aufnehmen. Man kann sie zerreißen oder umkehren; sie kann sich Montagen aller Art anpassen; sie kann von einem Individuum, einer Gruppe, einer gesellschaftlichen Organisation angelegt werden. Man kann sie auf eine Wand zeichnen, als Kunstwerk konzipieren oder als politische Aktion oder Meditationsübung begreifen.« (»La carte est ouverte, elle est connectable dans toutes ses dimensions, démontable, renversable, susceptible de recevoir constamment des modifications. Elle peut être déchirée, renversée, s’adapter à des montages de toute nature, être mise en chantier par un individu, un groupe, une formation sociale.«; 20/dt. 24). Diese Sätze werden in kunst- und literaturtheoretischen Arbeiten zur Kartographie gerne und affirmativ zitiert, während sich Kartographiehistoriker vom Fach, selbst wenn sie theoretisch akzentuierte Interessen verfolgen, nur selten und dann eher skeptisch zu ihnen verhalten: Karten, so muss ihr Einwand lauten, werden zumeist von sehr rigide organisierten, geschlossenen Kollektiven erstellt und zwingen ihren Leser mit der Wahl bestimmter Maßstäbe und Projektionen sowie der Auswahl bestimmter Merkmale durchaus zu einem bestimmten Blick. (Zu Nachweisen der entsprechenden Deleuze/Guattari-Rezeption vgl. Robert Stockhammer: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur, München: Fink 2007, S. 57.) Dies ist Deleuze/Guattari, die ja an anderer Stelle Staatsapparat und Karte zueinander in Beziehung setzen, zweifellos bewusst. Ist ihr Plädoyer also – zumal sie das Wort ›Karte‹ selbst gelegentlich in Anführungsstrichen setzen (vgl. 21 u. 639/dt. 24-25 u. 708) – so zu verstehen, dass man ›keine richtigen Karten‹ zeichnen solle, also vor allem auch Koordinantennetze vermeiden müsse? Oder gilt diese Passage über das Kartenzeichnen als flexibler politischer Aktion einer anderen Funktion der Kartographie: der performativen? Nur so wäre die eigenwillige Begriffsbildung verständlich, mit der Deleuze/Guattari die Karte in einen Gegensatz zur ›Kopie‹ bringen: »Bei einer Karte geht es um die Performanz, während die Kopie (calque) immer auf eine angebliche ›Kompetenz‹ verweist.« (»Une carte est affaire de performance, tandis que le calque revoie toujours à une ›compétence‹ prétendue«; 20/dt. 24; dabei wird der ›Performanz‹-Begriff der Sprechakttheorie gegen denjenigen Noam Chomskys gewendet, der, jedenfalls in seinem Frühwerk, ›Performanz‹ nur als mehr oder minder defizitäre Realisierung einer zugrunde liegenden ›Kompetenz‹ bestimmte). Die Kopie wird auf ihre Reproduktionseigenschaften eingeschränkt, die Karte (oder ›Karte‹) hingegen steht hier stellvertretend für einen Akt der Darstellung, in dem das Dargestellte erst produziert wird. Henri Lefebvres triadisches Modell fügt den beiden bei de Certeau oder Deleuze/Guattari unterschiedenen Räumen nicht einfach einen dritten hinzu, da schon seine ersten beiden (espace perçu und espace conçu) mit denen der anderen Autoren kaum zur Deckung zu bringen sind. Ob die bloße

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Dreizahl an sich schon einen Fortschritt gegenüber der Zweizahl bedeutet – wie das Lefebvre mit einigem Pathos und der ihm darin folgende Edward W. Soja (vgl. Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-andImagined Places. Cambridge, MA/Oxford: Blackwell 1996; Teilübersetzung »Die Trialektik der Räumlichkeit«, aus dem Amerikanischen von Robert Stockhammer, in: R. Stockhammer [Hg.]: TopoGraphien der Moderne, S. 93-123) in einer wahren triadischen Trance verkünden –, bleibe dahingestellt. Interessant aber erscheint mir, dass Lefebvre den Schritt vom zweiten zum dritten, vom vorgestellten zum gelebten Raum als Tausch der Positionen in der genitivischen Abhängigkeit von Raum und Repräsentation (von den »Repräsentationen des Raums« zu den »Räumen der Repräsentation«) konzipiert, das Leben also nicht als das Andere, sondern als einen bestimmten Umgang mit dem Vorgestellten entwirft. Das kartographische Dispositiv wäre, zunächst einmal, dem espace conçu zuzurechnen. Dieser Raum gehorcht einem Modell des ›Codes‹ oder der »grille«, des Gitters, das man sich als ein ›grid‹, als ein Netzwerk von Koordinaten vorstellen kann. Und zu solchen Wissenssystemen verhält sich Lefebvre äußerst skeptisch, weil sie die Widersprüche eliminierten und den Eindruck einer Kohärenz herstellten, die im Dienst der Macht stehe (vgl. 423). Ähnlich skeptisch verhält sich Lefebvre denn auch zur Rede von der ›Lektüre des Raums‹, da diese die räumlichen Gegebenheiten auf den Status von signes (Zeichen) reduziere, während es sich in Wahrheit um consignes (Befehle) handle (vgl. 167): ein im Zeitalter des ungebremsten Wucherns von kulturwissenschaftlichen Lesbarkeits-Metaphern bedenkenswerter Hinweis. Ebenso wie den Aspekt der Macht reduziere die Kodierung auch die Vielfalt des Gelebten: Der soziale Raum sei wesentlich eine »multiplicité indéfinie«, also durch seine Unzählbarkeit geprägt – Lefebvre spricht sogar von einem Aktual-Unendlichen – und könne daher nicht nur nicht durch eine Karte, sondern nicht einmal durch eine zählbare Menge von Karten erschöpfend dargestellt werden (103). Dass dasselbe strukturell identische Argument schon die Kartierung des geographischen Raumes beträfe, da ja jede Karte diesseits des Maßstabes 1:1 eine Trunkierung des vorgefundenden Merkmalreichtums vornimmt, erwähnt Lefebvre nicht ausdrücklich. Gleichwohl hält er die Entwicklung eines räumlichen Codes für denkbar, der eine Beziehung zum Wissen ebenso besäße wir zum Gelebten als einem Nicht-Wissen (78), der komplexe Symbolisierungen aufweise (vgl. 43/dt. 333) oder »vom Imaginären und vom Symbolismus durchdrungen« (»[p]énétré d’imaginaire et de symbolisme«; 52/dt. 339, Hervorhebung R.S.) sei. Und wenn Lefebvre der situationistischen Praxis der dérive, des Sich-Treiben-Lassens im Raum verpflichtet ist (vgl. J. Dünne: »Einleitung«, S. 298), so wäre immerhin festzuhalten, dass es sich dabei um eine durchaus methodische Praxis handelt, die an einem bestimmten Punkt sehr wohl mit Karten prozediert: bei der Bestimmung von Grundlinien und der

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ihr. Er wendet im Umgang mit dem urbanistischen Wissen eine List an: Er führt den Stadtplan unvorhergesehenen Zwecken zu, um das in ihm geronnene Wissen der Stadtplaner zu vergessen – und mit ihm dasjenige der Kritiker der Stadtplaner. In der Lipschitzallee schien mir diese List an jenem Februarnachmittag, an dem es mir grauenhaft schlecht ging, zu funktionieren. Diese Grazie dieser Satellitenantenne, die ich gesehen habe, werden Sie wahrscheinlich nicht sehen; dieses mein epiphanisches Erlebnis, prosopon pros prosopon der Stadt gegenüberzustehen, nur das Diese und ich in sinnlicher Gewissheit, werden Sie wahrscheinlich nicht teilen. Aber es gibt sie, diese Satellitenantenne in der Lipschitzallee.

(*) Brian Eno: »This«, auf: B.E.: Another Day on Earth, Opal Ltd. 2005, mit Dank an Bernd Stiegler. Für den ersten Vers der letzten Strophe geben die nicht autorisierten Quellen im Internet – die autorisierten Brian-Eno-Seiten enthalten keine lyrics – die Lesart ›race‹; ich höre ›grace‹. – Der vorliegende Beitrag ist ein Selbstkommentar zu dem Anfang 2007 gedrehten Film Das Diese, mit Dank an Max Glauner.]

Literatur Debord, Guy: »Théorie de la dérive« (1956), im Internet zu finden auf: http://www.larevuedesressources.org/spip.php?article38 [Abruf 20. 2.2009]. Certeau, Michel de: L’invention du quotidien I: Arts de Faire, Paris: 10/18 1980, dt. von Ronald Voullié als Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1989. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Mille plateaux, Paris: Minuit 1980, dt. v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié als Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1992. Dünne, Jörg: »Einleitung [zu Teil 4]«, in: J.D. /S. Günzel [Hg.], Raumtheorie, S. 289-302. Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006. Berechnung von Richtungen, in die vorzudringen ist. (Vgl. Guy Debord, »Théorie de la dérive« [1956], im Internet unter der folgenden Adresse: http://www.larevuedesressources.org/spip.php?article38; Abruf 20.2.2009). Insofern enthält die kartophobische Theorie Lefebvres einen kartophilen Widerhaken. 339

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Epple, Moritz: Die Entstehung der Knotentheorie. Kontexte und Konstruktionen einer modernen mathematischen Theorie, Braunschweig: Vieweg 1999. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (1807), in: G.W.F.H.: Werke in 20 Bänden. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969-71. Lefebvre, Henri: La Production de l’espace, Paris: Anthropos 1974, 4. Aufl. 2000. Löbbermann, Dorothea: »Weg(be)schreibungen: Transients in New York City«, in: R. Stockhammer (Hg.), TopoGraphien der Moderne, S. 263-285. Magister, Karl-Heinz: »New York und die Macht der Karten: Kartographie von Urbanisierung, Migration und Ethnizität«, in: Robert Stockhammer (Hg.): TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München: Fink 2005, S. 341382. Perec, Georges: Espèces d’espaces (1974), Paris: Seuil 2000. Stockhammer, Robert: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur, München: Fink 2007. Soja, Edward W.: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Realand-Imagined Places. Cambridge, MA/Oxford: Blackwell 1996; Teilübersetzung »Die Trialektik der Räumlichkeit«, dt. v. Robert Stockhammer, in: R. Stockhammer (Hg.): TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München: Fink 2005, S. 93-123.

Musik Eno, Brian: »This«. Aus: B.E.: Another Day on Earth, Opal Ltd. 2005.

F il m Das Diese, D 2007, Regie: Robert Stockhammer, Video, 14 min; im Internet unter der folgenden Adresse: http://www.komparatistik.uni-muenchen.de/personen/professoren/ stockhammer/abcberlin3e.wmv

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ABSTRACTS A c h im H ö l t er : S t a r t in g w i t h a F il m b y F r it z L a ng It is widely known that Fritz Lang’s famous movie M narrates how the police and the city mob are simultaneously searching for a murderer by systematically combing what the film designs as an abstract vision of Berlin. Even the totalitarian grip of this raid has not gone unobserved. The short paper, after pointing out the director’s addiction to cartography in a review of Metropolis, shows how practically every aspect of the parallel actions in M is symbolized by different species of city maps, displayed in central or marginal, backdrop or foreground position and suggesting the total, representative, controllable, net-like projection of a three-dimensional city subject to the requirements of a successful man hunt.

C hr is t ia n M o s er : A F l ân e ur w h o is G u id ed b y C it y M a p s ? P er i p a t e t i c L i t e r a t ur e a n d Ur b a n Ca r t o g r a p hy My paper investigates the relationship between the peripatetic practice of the flâneur, urban cartography, and literature. I argue that the way in which the flâneur moves through space and perceives the city is determined by specific modes of urban cartography. The flâneur’s mode of walking and seeing, in turn, influences the literary representation of the city. I analyze this relationship and its historical development by way of three case studies: Burton’s Anatomy of Melancholy (correlated to Braun’s and Hogenberg’s Civitates orbis terrarium), Joseph Addison’s The Spectator (correlated to maps of London dating from the seventeenth century), and writings by De Quincey, Dickens and Mayhew (correlated to nineteenthcentury practices of ›social mapping‹).

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A ng e l ik a Co r b in e a u -H o f fm a n n : M a p p i ng C it ie s  Ma p p i ng T ex t s . O n C a r t o g r a p hy , É c r i t ur e a nd Me nt a l Ma p p i ng . A Wa l k t h r o u g h l i t er a r y Paris, 1782 to 1964 Maps and cartography in literature can be conceived on a concrete level of reality. The paper examines diverse textual strategies of mapping narrative cities. It also shows how, for instance, maps of Paris do not merely and not primarily represent the real metropolis, but bear in themselves the germ of transformation into literary texts.

J ö r g D ün n e: B et w e en c o m b in a t o r i c s a nd c o nt r o l : O n t he f u nc t io n o f th e c i ty m a p i n J ea n -P i er r e M el v i l l e’ s L e S a m o u r a ï City maps in films may assume a function of panoptic control or work as a matrix for playful appropriation of urban space. Both of these uses of the map are challenged in Jean-Pierre Melville’s Le Samouraï (1967). In one of the most famous sequences of the film the protagonist, a killer, is persecuted by the police through the Paris Métro with the help of a mapbased dispositive of control. But this dispositive eventually fails as a means of panoptic control as much as an organizing narrative device: The final showdown takes place by tragic coincidence and is no longer in need of maps.

N il s P l a t h : T im e/ C it y / M a p . N a r r a t in g Ur b a n To p o g r a p hi e s w it h U we J o hn s o n This paper argues that a map can foremostly be regarded as a medium through which various claims to power are being made visible, just as different forms of narratives do, while in turn, the mediality and materiality of each map questions these very claims. This view is articulated through readings of prose by German author Uwe Johnson on the division of Berlin, and of passages from his 1970s novel, Jahrestage, in which the NYC subway map, as a means of measuring titles over time, takes on the function of an image articulating and challening claims over the representation of realities over the course of history.

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ABSTRACTS

E k k eh a r d K n ö r er : » Y o u ha v e t o k e ep m o v i n g « Wa l k i n g a n d l o o k i ng i n J a c q u e s R iv e t t e ’s L e P o n t d u No r d Paris is turned into a playing field and into a playground in Jacques Rivette’s film Le Pont du Nord from 1981. A city map overlayed by a labyrinth becomes the agent of this transformation. In my paper I try to follow the movements engendered by this transformation. I do this by referring to Michel de Certeaus distinction of a panoptic view of the city vs. the speech act-like view of the walker. The characters in Le Pont du Nord move on the unstable line that has to be drawn to produce this distinction. It is itself a moving and a metaphorical line; a line of metaphor leaving its trace in the film's movements.

L a ur a F r a h m : B et w e e n T o p o g r a p h y a nd To p o l o g y : L o s A n g e l e s P l ay s I t s e l f Addressing the question of the interrelation of scale and urban space, the paper centers on a discussion of filmic space, suggesting a two-sided approach that differentiates between a filmic topography and a filmic topology, between scale and non-scale. The experimental film Los Angeles Plays Itself in particular, as I will argue, reveals this two-sided logic of constructing filmic space in continuously shifting between topological inversions and the reassertion of the city’s topographical aspects. Moreover, in its attempt to re-narrate the (filmic) history of Los Angeles, Los Angeles Plays Itself allows us to reconsider the linkages between the cinematic city and the historiography of film.

Volker Pantenburg: A to Z. C it y Ma p s i n Co nc e p t ua l A r t Since the 1960s, a considerable number of conceptual artists have used city maps as either starting points, material, or generative matrices for their work. This affinity is due to the conceptual character of the city map itself, but also to a major shift towards impersonal, automatically generated artworks. The paper focuses on works by Douglas Huebler, Hans Haacke and On Kawara to outline some of the relations between urban spaces, city maps and site specific artworks. It identifies three major impulses to incorporate city maps as integral parts of artistic work: the virtual modifications of urban space (Huebler), the aim of investiga343

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ting interrelations between space, economics and society (Haacke) and the project of transcribing and conserving personal movement in a melancholic gesture (On Kawara).

A n k e B ir k e n m a i er : T he p o e t i n N e w Y o r k . F ed er ic o G a r c ía L o r c a s e en a s a s ur r e a l is t fl a n e ur In this essay, Federico García Lorca’s representation of New York, as it appears in his Poet in New York, is analyzed as akin to that of French exiles such as Claude Lévi-Strauss who arrived in New York a decade later. Decisive for their perspective on the city is their focus on cultural disparities rather than on modern space. Like the anthropologist, the Spanish poet engages with urban spaces such as New York and to a lesser degree, Havana, in order to reposition himself as a subject vis-à-vis his »other.«

A nd r ea s Ma h l e r : I m a g i n a r y M a p s . Perfor mative Top ograp hies by Borges a nd Réda The contribution takes the distinction between ›territory‹ and ›map‹ and describes the representation of territories with maps as a mimetic activity, their presentation, on the other hand, as a performative one. Seen against this background, both Borges’s poems ›about‹ Buenos Aires and Réda’s texts ›on‹ Paris can be understood as imaginary maps, as performative topographies which, instead of reporting on allegedly pre-existent urban experiences, poetically produce them, creating the illusion of a revelation, which can be called ›aesthetic‹.

M a r c e l V ej m e l k a : Ci t y Tr ip t y c h. C us c o – A b a nc a y – C h im o nb o t e i n J o s é Ma r ía A r g ued a s T ex t s On the crossroads of the concepts of »transculturation« (Fernando Ortiz) and »lettered city« (Ángel Rama), my analysis focuses on the representation of urban spacenamely of Cuzco as the former center of the Incan Empire, the colonial town of Abancay, and the gigantic fishery port of Chimbotein the work of the Peruvian writer and anthropologist José 344

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María Arguedas (1911-1969). The narrated cities in the novels Los riós profundos (1958) and El zorro de arriba y el zorro de abajo (1971) are to be understood as a microcosmos of an universal order and as nodes in urban networks of historical significance for the cultural formation of the Americas, which determine the inner shape of these urban spaces.

Do r o t he a L ö b b e r m a n n : M a p p i n g C it i es , Ma p p i ng T ex t : T h e C a r t o g r a p h ic I m a g i na t io n o f Ro b er t Ma jz el s a n d K a r e n T ei Y a m a s h it a This text analyzes two North American novels that, I argue, are written with and against the notion of the city map: Karen Tei Yamashita’s Tropic of Orange and Robert Majzels’ City of Forgetting. Both novels display the heterogeneity and disparity that characterize the urban spaces of Los Angeles and Montreal, respectively, and their social, cultural and physical processes through a break-down of order, both on the level of (polyvocal, intertextual) narrative and that of (apocalyptic) plot. Through forming different kinds of correspondences with the figure of the map, through a critical reflection of spatial metaphor, and in negotiating the relationships between visual and literary text, literary tradition and postcolonial consciousness, as well as the stasis and movement of urban space, both novels engage in contemporary discourses of spatiality. The hegemonic and deictic power of the map is thereby both acknowledged and simultaneously undermined.

S us a n n e S t em m l er : T h e A u t o b i o g r a p h ic a l Ci t y Ma p : O r ha n P a m uk ’s M e la nc ho lic P er s ep ec t iv e o n I s t a nb u l This contribution focuses on Orhan Pamuk’s book Istanbul. Memories of a city (2003) and his way of inscribing the autobiography on an imaginary city map. By taking the signs of the city quite literally and comparing them to older maps Pamuks alter ego describes a changing city space. The melancholic mourning about the loss of a cosmopolitan urban space is condensed within the Turkish expression »hüzün« and by intertextual references to historical Turkish novels and Orientalist Nineteenth Century writing.

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A c h im H ö l t er : N o M a p , no S t o r y . A b o u t a n d a r o u n d M ic h el B u t o r One of the crucial documents in Michel Butor’s experimental novel L’emploi du temps is the city map of the fictional town of Bleston, where a young Frenchman struggles against his isolation. It displays nearly the whole range of functions which invented or real maps assume in fiction, such as: matrix of the urban story, representative of the city as body, image of the city as structure, map of the historical depths under the metropolitan surface, abbreviation of a city’s totality by way of enumerative indexation. The paper combines these observations with systematic outlooks on further aspects of map-based fictional texts in 19th and 20th century literature.

Ro b er t S t o c k h a m m er : Th e T hi s . G eo r g e s P er ec a nd t h e P l ea s ur e o f L o c a t i n g As far as I understand it, this essayinspired by a reading of George Perec's Espèces d'espaces and written as a commentary to my no-budget, amateurish film Das Diese (The This)deals with the relationship between two distinctive spatial practices, both of which, however, can be articulated by using the word ›address‹. In some usages, ›addressing s.o./s.th.‹ presupposes the actual presence of the person or thing the attention is directed to; in other usages, an ›address‹ encodes the location of a person or thing far-off. While the first practice emphasizes the irreducible, untransferable, almost non-verbal thisity of something presentthis girl, this satellite dish, this grace, the second relies on arbitrary systems used for unequivocal locations and detections of something absent (repérage, Ortung). Both practices give a certain pleasure, but occidental spatial thinking tends to conceptualize the respective modes of pleasure as irreconcilable, as opposing each other. (Women, christians, or ordinary city dwellers, for example, are said to prefer the first kind of pleasure, while men, jews, or urban planners are said to prefer the second). Street signs, these interfaces between city and city map, do not obey this dichotomy of pleasures.

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ÜBER

DIE

AUTORINNEN

UND

A U TO R E N

Anke Birkenmaier ist Assistant Professor für lateinamerikanische Literatur an der Columbia University in New York. Sie ist die Autorin des Buchs Alejo Carpentier y la cultura del surrealismo en América Latina (2006), sowie Mitherausgeberin des Bandes Cuba: un siglo de literatura (1902-2002) (2004). In ihrem derzeitigen Buchprojekt geht es um die Amerikanismus-Debatte unter Anthropologen und Schriftstellern in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Angelika Corbineau-Hoffmann, Studium der Romanistik, Germanistik, Komparatistik, Philosophie und Anglistik. Promotion 1978, Habilitation 1990. Seit 1994 Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Leipzig. Buchpublikationen unter anderem Kleine Literaturgeschichte der Großstadt (Darmstadt: WBG, 2003) und Einführung in die Komparatistik (2. Auflage Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2004). Jörg Dünne, Studium der Romanistik, der AVL und der Philosophie in München und Paris, 2000 Promotion in Kiel mit einer Arbeit zum Thema Asketisches Schreiben (publ. Tübingen: Gunter Narr, 2003); 2008 Habilitation in München unter dem Titel Die kartographische Imagination; seit 2009 Professor für romanistische Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Schwerpunkte: Kulturwissenschaftliche Raumtheorie (u.a. Mitherausgeber von Raumthorie, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2006), Medienwissenschaft, Publikationen zu spanisch-, französisch- und portugiesischsprachiger Literatur. Laura Frahm, geb. 1978, hat Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Kunstgeschichte und Spanisch/Romanistik in Köln und Málaga studiert. Von 2005-2007 promovierte sie im Rahmen des Transatlantischen Graduiertenkollegs Berlin | New York »Geschichte und Kultur der Metropolen im 20. Jahrhundert« mit einer Dissertation zu topologischen Raumkonzepten in Metropolenfilmen des 20. Jahrhunderts. Seit April 2008 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Internationalen Kolleg für Kultur-

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technikforschung und Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität Weimar. Achim Hölter, geb. 1960 in Dülken/Rheinland, M.A. 1985, Dissertation Ludwig Tieck - Literaturgeschichte als Poesie (1989), Habilitation Die Invaliden (1995), nach Assistentenzeit in Wuppertal 1995-1997 Heisenberg-Stipendiat der DFG in Bonn, außerdem Lehrtätigkeit in Bochum und Düsseldorf, seit 1997 Professor für Komparatistik an der Universität Münster, seit 2005 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Herausgeber des Jahrbuchs Komparatistik. Zahlreiche Aufsätze und Buchpublikationen. Ekkehard Knörer, geb. 1971. Literatur- und Kulturwissenschaftler, Film- und Krimikritiker. Promotion zur Geschichte von ingenium und Witz. Publikationen zuletzt zu Bresson und Bollywood, Berliner Schule und Tod Browning. Kritiker für Perlentaucher und taz, Herausgeber des Online-Magazins Jump Cut und Redakteur bei CARGO. Film / Medien / Kultur. Lehraufträge Uni Konstanz, FU Berlin. Lebt in Berlin. Dorothea Löbbermann ist Amerikanistin an der Humboldt-Universität zu Berlin. In den Jahren 2001-2004 war sie Mitarbeiterin im Projekt »Die Andere(n) Moderne(n)« am Zentrum für Literaturforschung und vorher Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Berlin. Sie studierte Anglistik, Amerikanistik und Slavistik in Göttingen, Chapel Hill und Frankfurt am Main und promovierte an der HU Berlin, wo sie seit vielen Jahren unterrichtet. Ihre Buchpublikationen sind: Memories of Harlem: Fiktionale (Re)Konstruktionen eines Mythos der zwanziger Jahre (Frankfurt: Campus, 2002), Other Modernisms in an Age of Globalization, hg. mit Djelal Kadir (Heidelberg: Winter, 2002) und CinematoGraphies: Visual Discourses and Textual Strategies in 1990s New York City, herausgegeben mit Günter H. Lenz und Karl-Heinz Magister (Heidelberg: Winter, 2006). Sie arbeitet an einem Projekt über Figurationen der Obdachlosigkeit, wofür sie im Jahr 2004 mit einem Fulbright-Stipendium am Graduate Center der City University of New York forschte. Andreas Mahler lehrt Englische Philologie an der Ludwig-MaximiliansUniversität München und Romanische Philologie an der Universität Passau. Veröffentlichungen zur Frühen Neuzeit, zur Literaturtheorie und zur Stadt. Christian Moser ist Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universiteit van Amsterdam. Aktuelle Publikationen: Kannibali-

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ÜBER DIE AUTORINNEN UND A UTOREN

sche Katharsis. Literarische und filmische Inszenierungen der Anthropophagie von James Cook bis Bret Easton Ellis (Bielefeld: Aisthesis, 2005); Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne (Tübingen: Niemeyer, 2006); AutoBioFiktion. Konstruierte Identitäten in Kunst, Literatur, und Philosophie. (hg. mit J. Nelles, Bielefeld: Aisthesis, 2006); Kopflandschaften. Landschaftsgänge. Zur Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs (hg. mit A. Gellhaus u. H. J. Schneider, Köln u. Weimar: Böhlau, 2007); Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien (hg. mit Jörg Dünne, München: Fink, 2008). Zahlreiche Aufsätze zur europäischen Literatur des 16. bis 20. Jahrhunderts. Volker Pantenburg, Film- und Literaturwissenschaftler, arbeitet als Post-Doktorand im SFB 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« der FU Berlin. Buchpublikationen unter anderem: Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard (Bielefeld: transcript, 2006) und 93 Minutentexte. The Night of the Hunter (Mitherausgeber, Berlin: Brinkmann & Bose, 2006). Nils Plath, Literaturwissenschaftler, unterrichtet an der Universität Erfurt Germanistik, Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft und ist Lehrbeauftragter für Textgestaltung und Medientheorie am Fachbereich Design der Fachhochschule Münster. Jüngere Publikationen, als Mitherausgeber: Berlin, Paris, Moskau. Reiseliteratur und die Metropolen (Bielefeld, Aisthesis 2005); Europa. Stadt. Reisende. Blicke auf Reisetexte 1918-1945 (Bielefeld, Aisthesis 2006). Gegenwärtige Forschungsinteressen: Schriftbilder, Landschaftsinschriften, Zeiterzählungen, Sprachbesitz und Grenzziehungen in Literatur, Theorie, Bildern. Susanne Stemmler, Dr. phil., ist Romanistin und Leiterin des Bereichs Literatur, Wissenschaft, Gesellschaft am Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind urbane Kulturen, transkulturelle Prozesse sowie literarische und klangliche Stadtbilder. Jüngere Buchpublikationen als Mitherausgeberin: Hip-Hop und Rap in romanischen Sprachwelten. Stationen einer globalen Musikkultur (Frankfurt/Main u.a.: Peter Lang, 2007), New York – Berlin. Kulturen in der Stadt (Berlin: Wallstein, 2008). Robert Stockhammer, Dr. phil., geb. 1960. Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Thematisch einschlägige Buchpublikationen: TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion

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von Räumen (Hg., München: Fink, 2005), Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur (München: Fink, 2007). Gegenwärtige Forschungsschwerpunkte: Literatur und Wissen(schaften), Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung, Geschichte der Grammatik. Marcel Vejmelka, geb. 1973, ist Romanist und Lateinamerikanist, er lebt in Berlin und Gießen, ist zur Zeit Postdoc-Stipendiat des International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) der JLU Gießen. Forschungsschwerpunkte Lateinamerikanische Literatur und Kulturtheorie, transkulturelle Dynamiken, Übersetzungsprozesse. Veröffentlichungen: Kreuzungen: Querungen. João Guimarães Rosas Grande sertão: veredas und Thomas Manns Doktor Faustus im interkulturellen Vergleich (Berlin: Frey, 2005) und A obra de Jorge Amado nas Alemanhas Oriental e Ocidental: suas recepções e traduções (Salvador: Coleção Casa de Palavras 2008), Mitherausgeber von Welt des Sertão/Sertão der Welt. Erkundungen im Werk von João Guimarães Rosa (Berlin: edition tranvía 2007), AsiAmericas. Transpazifische Beziehungen und Amazonien – Weltregion und Welttheater (beide in Vorbereitung).

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Urbane Welten – Texte zur kulturwissenschaftlichen Stadtforschung Laura Frahm Jenseits des Raums Zur filmischen Topologie des Urbanen Juli 2009, ca. 428 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1121-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2009-05-15 11-45-33 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02c5210281274886|(S.

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) ANZ905.p 210281274894

2008-05-27 12-26-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a8179786122216|(S.

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) T00_02 seite 2 - 746.p 179786122240