Das Grenzwesen Mensch: Vormoderne Naturphilosophie und Literatur im Dialog mit Postmoderner Gendertheorie 9783110521825, 9783110519471

In this study, which compares vastly different text corpora, early modern texts on natural philosophy and literature are

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Das Grenzwesen Mensch: Vormoderne Naturphilosophie und Literatur im Dialog mit Postmoderner Gendertheorie
 9783110521825, 9783110519471

Table of contents :
Danksagung
Inhalt
1. Zur Fragestellung
2. Theoretisches und methodologisches Inventar
3. Schwellenzeiten: Das ausgehende 16. und das angehende 21. Jahrhundert
4. Naturphilosophische Körpermodelle in der Frühen Neuzeit
5. Leiblichkeit in feministischen und Gender- Theorien
6. Umstrittene Grenzziehungen: Affekte, Emotionen, Passionen
7. Umstrittene Grenzziehungen: Mensch & Tier
8. Umstrittene Grenzziehungen: Mensch & Artefakt
9. Zusammenfassung der Ergebnisse
10. Bibliographie
Index

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Marlen Bidwell-Steiner Das Grenzwesen Mensch

Mimesis

Romanische Literaturen der Welt Herausgegeben von Ottmar Ette

Band 65

Marlen Bidwell-Steiner

Das Grenzwesen Mensch Vormoderne Naturphilosophie und Literatur im Dialog mit postmoderner Gender-Theorie

Gedruckt mit der Unterstützung des Dekanats der philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

ISBN 978-3-11-051947-1 e-ISBN [PDF] 978-3-11-052182-5 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-051951-8 ISSN 0178-7489 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Jose Luis Pelaez Inc/Thinkstock Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Danksagung Der vorliegende Text ist die überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, aufgrund derer mir im November 2015 die Lehrbefugnis für Romanische Literaturwissenschaft zuerkannt wurde. Die Konzeption nahm nur knapp fünf Jahre in Anspruch, da ich zwischen 2010 und 2014 im Rahmen einer Elise-RichterStelle des FWF (V148-G15) konzentriert arbeiten konnte. Mein Dank gilt daher zuallererst dem Österreichischen Fonds für Wissenschaft für diese großzügige Unterstützung, die auch die notwendigen Auslandsrecherchen ermöglichte. Diese führten mich mehrmals nach London an die Warburg Library und an das Wellcome Institute. Beiden Einrichtungen danke ich für optimale Arbeitsbedingungen und kompetente Hilfestellungen. An der Biblioteca Nacional de Madrid durfte ich mehrere Monate des Jahres 2012 lang ungestört lesen und arbeiten. Ein absoluter Höhepunkt war im Jahr darauf ein Forschungsaufenthalt am Instituto de Historia de la Medicina y de la Ciencia López Piñero in Valencia. Dort fand ich eine wunderbare Bibliothek vor und konnte erste Ergebnisse präsentieren. Ich bedanke mich für die herzliche und kollegiale Atmosphäre sehr herzlich bei der Leiterin, María Luz López Terrada, stellvertretend für das ganze Team. Der Großteil der Arbeit entstand freilich am Institut für Romanistik der Universität Wien, an dem ich habilitiert wurde. Hier gilt mein besonderer Dank Birgit Wagner, hat sie mein Projekt doch von Beginn an unterstützt und viele wertvolle Anregungen für die Drucklegung gegeben. Ein herzliches Dankeschön ergeht an Kirsten Dickhaut für ihre ebenso wohlwollende wie gründliche Lesung, welche die vorliegende Fassung durch zahlreiche Präzisierungen bereicherte. Auch Josep Barona verdanke ich medizinhistorische Konkretisierungen und Anregungen. Bei Lukas Dorfmeister bedanke ich mich für seine Hilfe bei den Übersetzungen aus dem Latein. Der philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät danke ich für die finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung. Viele Menschen haben Teile der Arbeit kommentiert, mit mir diskutiert, mich ermutigt und mir die Lust am Forschen erhalten, insbesondere: Nikolaus Benke, Montserrat Cabré, David Halperin, Hans-Uwe Lammel, Tina Lutter, Michael Metzeltin, Wolfgang Müller-Funk, Claus Zittel. Sergius Kodera schließlich hat an meiner Arbeit einen Anteil, der mit Dank nicht zu fassen ist, deshalb sei sie ihm gewidmet. Wien, am 15.01.2016

DOI 10.1515/9783110521825-202

Marlen Bidwell-Steiner

Inhalt 1

Zur Fragestellung 

1

2

 7 Theoretisches und methodologisches Inventar  Metaphern als Übersetzungen   9 Wandernde und wandelbare Konzepte   11 Theoretische Fundierung der Genderforschung 

 14

3 Schwellenzeiten: Das ausgehende 16. und das angehende 21. Jahrhundert   17  23 4 Naturphilosophische Körpermodelle in der Frühen Neuzeit  Leib-Seele-Vorstellungen im 16. Jahrhundert   26 Das Wechselspiel von Physiologie und Psychologie   27 Die Wunde Melancholie und ihre neuplatonischen Spielarten   29 Radikalisierungen des Aristotelismus   32 Rhetorik als Erkenntnislehre   33 5 Leiblichkeit in feministischen und Gender-Theorien  Zwei gegensätzliche Forschungstraditionen zum Geschlechtskörper   36 Eine neue Ontologie   40

 35

 45 6 Umstrittene Grenzziehungen: Affekte, Emotionen, Passionen  Neuere Theorien – Philosophie, Psychologie und Neurologie der Gefühle   47 Affektive Wendungen   51 Die affektive Arbeit an der De/Konstruktion von Geschlecht   58 Grenzen feministischer Besetzungen des Affektiven   60 Emotionen in Leib-Seele-Debatten des 16. Jahrhunderts   66 Innovation und Tradition: Rückgriff auf die Stoa   70 Girolamo Fracastoro: Natur in affektiver Berührung   75 Juan Luis Vives: Emotionen als soziale Kraftfelder   83 Oliva Sabuco: Stoa im protofeministischen Kopfstand   90 Juan Huarte de San Juan: Inhärente Affektprogramme   95 Kongruenzen und Divergenzen: Ein Zwischenbefund der vorgestellten Emotionslehren   98 Das große Welttheater der Gefühle   102

VIII  7

 Inhalt

Emotionen im Erstickungstod   103 Tötung im Affekt?   113 Affekte als theatrale Lehrstücke   121  124 Umstrittene Grenzziehungen: Mensch & Tier  Auf Seiten der Anderen: Gender & Animal Studies   127 Derridas Katzenjammer in feministischer Dekonstruktion   130 Die unselige Metapher des Genozids   133 Donna Haraways Einsprüche   139 Eine Ethik des Wortspiels?   144 Die «Vertierung» der Menschen in Renaissance-Psychologien   148 Bernardino Telesio und der Zweikampf von Heiß und Kalt   149 Oliva Sabuco und die mütterliche Trias   160 Juan Huarte de San Juan und die Zoomorphisierung der Frau   166 Gómez Pereira und der tierische Mechanismus   169 Tierischer Ventriloquismus als Diatribe?   179 Sprache & Differenz: Michel de Montaigne, Girolamo Fabrizio   185 Zusammenschau der Ergebnisse   196 Fantastischer Furor & tierische Trauer: Orlando   197 Traum und Wahn   199 Eifersucht als physiologischer Schock   202 Engelsgleiches Phantasma   206

 211 8 Umstrittene Grenzziehungen: Mensch & Artefakt  Postmoderne Körperregimes   216 Komplementäre Positionen   218 Intersektionale Fallstricke feministischer Analyse   221 Wann ist ein Mann ein Mann?   224 Ästhetische Chirurgen – moderne Demiurgen?   227 Authentizität als Maßarbeit   230 Entzauberung des Okkulten oder Magie der Wissenschaft?   234 Stigma der Anderen oder Gottesstrafe   235 «Professori de’ segreti» oder Geheimwissen als Bestsellerliteratur   240 Isabella Cortese – gelehrte Giftmischerin oder Anagram männlichen Geheimwissens?   243 Giovan Battista della Porta – ein demiurgischer Naturmagier als Vorläufer moderner Wissenschaft?   255 Celestina: Himmlische Erhöhung des Höllisch Abjekten   267 Parodie auf die Liebesmelancholie   268

Inhalt 

9

Petrarkistischer Ästhetikcode versus handgreifliche Schönheit   270 Das Rad der Fortuna   274 Vergänglichkeit ohne Aussicht auf ein Jenseits   277 Ein vielschichtiges Fiktionsgewebe   281 Zusammenfassung der Ergebnisse 

10 Bibliographie  Index 

 313

 293

 283

 IX

1 Zur Fragestellung Dieses Buch verdankt sich der Integration einer zweifachen wissenschaftlichen Verortung: Neben der Beschäftigung mit Texten aus der Romania habe ich mich jahrelang professionell mit theoretischen Grundlagen der Gender Studies auseinandergesetzt. Seit dem Studium der Hispanistik, Französistik und der Komparatistik faszinieren mich Werke der Frühen Neuzeit. Die Geschlechterordnungen der spanischen comedia und der romanischen Novelle des 17. Jahrhunderts erforderten schon früh ein Verständnis für Körpermodelle, wie sie in den pragmatischen und faktischen Texten der Naturphilosophie vor allem gegen Ende des 16. Jahrhunderts verhandelt wurden. Freilich gibt es in der Frühen Neuzeit noch keine strenge Trennung von faktischer und fiktionaler Literatur. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden oft als «Theoriediskurs im Modus der Fiktion»1 dargeboten, während etwa Theaterstücke handfeste Körpervorstellungen ausspielen. Diese Gattungsambivalenz bzw. Gattungspolyvalenz lösen Intellektuelle des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts mit der Aufwertung von Rhetorik zu der Erkenntnis generierenden téchne, also Kunstfertigkeit, ein. Deshalb stehen Tropen des Wissens im Fokus meines Forschungsinteresses. Mit dem sogenannten linguistic turn hat dieser Denkstil2 im 20. Jahrhundert in den Kulturwissenschaften erneut an Bedeutung erlangt. Unabhängig von der Dauer wissenschaftlicher Trends ist die Frage nach der rhetorischen Fundierung von Erkenntnis vor allem in den Gender Studies zentral, da durch eine Analyse der sprachlichen Verfasstheit von Geschlechterzuschreibungen deren Realitätseffekt aufgedeckt bzw. unterlaufen werden kann. Die Zusammenschau von Körpermodellen aus dem ausgehenden 16. Jahrhundert mit jenen meines zweiten wissenschaftlichen Kompetenzfeldes, feministischer Forschung und Genderforschung, fördert darüber hinaus aber auch signifikante inhaltliche Parallelen zutage. Nachdem die Gender Studies lange Zeit eher «körperabstinent» agiert hatten, greifen neuere wissenschaftstheoretische Positionen des sogenannten feminist materialism Embodiment-Theorien auf. In den Blickpunkt gelangen damit wie schon in der Frühen Neuzeit wieder physiologische Modelle, die die strikte Trennung von Form und Materie bzw. 1 Bernd Häsner: Der Dialog. Strukturelemente einer Gattung zwischen Fiktion und Theoriebildung. In: Klaus W. Hempfer (Hg.), Poetik des Dialogs. Aktuelle Theorie und rinascimentales Selbstverständnis. (Text und Kontext Band 21). Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, S. 13–67, hier: S. 19. 2 Diesen Terminus entlehne ich dem Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck. Vgl. dazu Sylwia Werner/Claus Zittel (Hg.): Ludwik Fleck, Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse. Berlin: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 2011. DOI 10.1515/9783110521825-001

2 

 1 Zur Fragestellung

Leib und Seele aufheben und damit das spätestens seit dem 18. Jahrhundert geltende Leitparadigma der Lebenswissenschaften demontieren. Auf der Folie von Körpermodellen der Renaissance-Philosophie lässt sich daher das scheinbare Emergieren materialistischer Körpervorstellungen innerhalb rezenter feministischer Theorie besser kontextualisieren, denn es zeigt sich, dass diese als Sedimente im historischen Gedächtnis bereit liegen. Dabei gilt es aber jene Neusemantisierungen zu rekonstruieren, welche derartige ­Konzepte mit der Montage in veränderte Kontexte erfahren. Als methodischer Leitbegriff dafür fungiert in der nachfolgenden Untersuchung Mieke Bals «Travelling Concept»,3 der semantische Verschiebungen nicht nur im diachronen Vergleich, sondern auch über unterschiedliche Diskursformationen hinweg zu ergründen hilft. Die vorliegende Untersuchung zielt also darauf, vermeintliche Ähnlichkeiten voneinander weit entfernter Textkorpora daraufhin zu untersuchen, ob es sich um beliebige Koinzidenzen oder aber um strukturelle und strategische Parallelen handelt. Eine Analyse des Nachlebens der hier versammelten Texte des 16. Jahrhunderts erwiese sich in diesem Fall nämlich als tauglich, Potentiale und Fallstricke heutiger Gender-Diskurse herauszuarbeiten, um damit im Kantschen Sinne einen Beitrag zur Kritik der Gender Studies zu leisten. Frühneuzeitliche Naturphilosophie fand bislang kaum Eingang in den Kanon der Philosophie. Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass naturphilosophische Neuansätze der Spätrenaissance sich nicht im damaligen wissenschaftlichen Mainstream, der Scholastik, verorten lassen: AutorInnen wie Girolamo Fracastoro, Oliva Sabuco, Bernardino Telesio oder Gómez Pereira u. a., deren Innovationen im Zentrum der nachfolgenden Untersuchung stehen, agierten allesamt eher am Rande institutionalisierter Wissensproduktion, was auch ihre radikalen Körperkonzepte erklären hilft. Wie punktuell gezeigt werden soll, bereiteten die genannten frühneuzeitlichen Intellektuellen damit jenen Paradigmenwechsel vor, der als «Scientific Revolution» in die Wissenschaftsgeschichte einging. Die Ironie dieser Historiographie besteht darin, dass ausgerechnet die Kanonisierung nachfolgender Intellektueller, welche ihrerseits radikale Neuansätze der Renaissance maßgeblich für ihre epistemologischen Innovationen rezipieren – etwa Francis Bacon, William Harvey, René Descartes – zur beinahe kollektiven Amnesie der Grundlagenarbeit ihrer Vorläufer beitrug. Waren die erwähnten Neukonzeptualisierungen im 16. Jahrhundert die Vorbedingung für Fortschritt und Innovation, die die Erfolgsgeschichte positivistischer Wissenschaftsnarrative der letzten dreihundert Jahre einleitete, so lässt sich unser 21. Jahrhundert als deren Nachleben fassen. Die A ­ ufsplitterung

3 Mieke Bal: Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide. Toronto: University Press 2002.



1 Zur Fragestellung 

 3

­ issenschaftlicher Forschung in hoch spezialisierte Disziplinen und deren w Wettbewerb um symbolisches und ökonomisches Kapital erweisen sich als zunehmend unzureichend, den Komplexitäten postmodernen Lebens gerecht zu werden. Neue Technologien werden dem menschlichen Körper einverleibt, künstliche Intelligenz überflügelt die Leistungen des menschlichen Gehirns, die kulturelle Durchformung von «Natur» wird durch emotionale und ästhetisierende Aufladungen zelebriert. Trotz oder vielleicht wegen technologischer Fortschritte ist unsere materielle Welt immer mehr gefährdet und gerechte Ressourcenverteilung nach wie vor eine hypothetische Position. Postmoderne Gender-Theorien konzentrieren sich angesichts dieser gerade in Bezug auf Geschlechterordnungen drängenden Probleme zunehmend auf Untersuchungen des Leibes, ohne einer naiven oder fortschrittspessimistischen Ideologie anheimzufallen. Die Konzeptualisierung der lebendigen Marterie, wie sie Anne Fausto-Sterling, Donna Haraway, Rosi Braidotti, Karen Barad und andere in Angriff nehmen, zeigt erstaunliche Parallelen zu holistischen Vorstellungen der Frühen Neuzeit. Aus diesem Grund hebe ich dieses Textkorpus aus dem (wissenschafts-) historischen Vergessen. Genauer gesagt möchte ich anregen, einige der alternativen Anthropologien des 16. Jahrhunderts in Bezug auf das Zusammenspiel von Materie und Form für feministische Neukonzeptionen nutzbar zu machen. Damit geht mein Anspruch aber über historische Gerechtigkeit hinaus. Vielmehr liegt dieser Untersuchung die Überzeugung zugrunde, dass NaturphilosophInnen des 16. und GenderforscherInnen des 21. Jahrhunderts nicht nur ähnliche Themen behandeln, sondern auch einen vergleichbaren Denkstil pflegen, der Dynamiken und Verknüpfungen favorisiert. Während der letzten Jahre vollzogen wissenschaftliche Erkundungen des menschlichen Körpers einen Paradigmenwechsel von soliden zu immer subtileren Elementen: von Organen zu Genen zu Hormonen und gegenwärtig zur sogenannten Epigenetik. Dementsprechend gewinnen physiologische Modelle wieder mehr an Bedeutung. Feministische und Genderforschungen beteiligen sich an dieser Entwicklung mit Konzepten von fließenden und vernetzten Morphologien. Ein Beispiel dafür ist die Übernahme des dynamischen Modells der Möbiusschleife, die feministische Forscherinnen aus unterschiedlichen Traditionen gleichermaßen benutzen,4 um die Interaktion zwischen dem Körperinneren und der Körperoberfläche bzw. Einflüssen der Körperumgebung zu visualisieren. Mit der Adaption neuerer Embodiment-Vorstellungen konterkarieren Genderforscherinnen normative und 4 Die prominentesten Beispiele wären Anne Fausto-Sterling: Sexing the Body. Gender Politics and the Construction of Sexuality. New York: Basic 2000 und Elisabeth Grosz: Volatile Bodies. Toward a Corporeal Feminism. Bloomington and Indianapolis: Indiana University Press 1994.

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 1 Zur Fragestellung

stabile Körperkonzepte, die seit über dreihundert Jahren die ‹westliche› Philosophie dominieren. Wie sich zeigen wird, argumentieren auch die Intellektuellen des 16. Jahrhunderts mit beweglichen und volatilen Körpersäften. Deshalb sind sie an organischen Funktionen weniger interessiert, als an einem ganzheitlichen ­Strukturmodell dieser Körper in flux. Der Anspruch, unterschiedlichste natürliche Phänomene in komplexer Interaktion zu begreifen, verlangt nach elaborierten Visualisierungsstrategien. Die Ausrichtung auf holistische Modelle hin bedingt daher ein weiteres gemeinsames Feld, das die nachfolgend präsentierten NaturphilosophInnen der Renaissance mit postmodernen feministischen und GenderforscherInnen teilen: die Überzeugung, dass die Basis des Wissens bzw. jedweder konzeptueller Rahmungen, immer rhetorisch ist. Aus diesem Grund ist das Imaginäre, das die symbolische Ordnung durchkreuzt – mithin der bildhafte Teil der Sprache – in beiden Textkorpora von außerordentlichem Interesse. Inzwischen teilen auch ‹harte› Wissenschaften diese Überzeugung: Metaphern als kognitive Denkmuster basieren auf der Orientierung von Körpern in Raum und Zeit und sind daher geeignet, das Zusammenspiel von Leib und Geist zu analysieren. Basierend auf dem Paradigma von ‹Embodiment› bzw. von ‹Embodying› verfolgen rezente Ansätze in Medizin, Psychologie und Neurowissenschaften die Idee der Prozesshaftigkeit und Plastizität menschlichen Lebens. Eines der eher zweifelhaften Ergebnisse dieser Neuorientierung zeitigt die Glücksverheißung von Körperkorrekturen wie sie etwa die euphemistischen Bezeichungen von «body enhancement» und «brain enhancement» suggerieren. In den Sozialwissenschaften werden diese relativ neuen Phänomene bereits seit ein paar Jahren untersucht, allerdings mit Fokus auf ihre politischen und sozialen Bedingungen, wobei als theoretischer Rahmen meist Michel Foucaults Gouvernementalitätstheorie herangezogen wird. Allerdings werden die epistemologischen Grundlagen, auf denen Debatten über Embodiment in den Lebens- und Neurowissenschaften basieren, kaum je näher untersucht. Diese Arbeit stellt sich daher der Herausforderung, auf die andere Seite der wissenschaftshistorischen Wasserscheide zu blicken, um deren Konzepte von Verkörperungen und Einverleibungen sowie Phantasien von Körpermodifikationen mit den scheinbar so innovativen postmodernen Ideen zu kontrastieren. Im Vordergrund steht dabei allerdings nicht ein Abtausch der beiden wissenschaftlichen Systeme, sondern die literaturwissenschaftliche Untersuchung der rhetorischen Modelle, aus denen diese jeweils hervorgebracht werden. Obwohl es ausgedehnte Forschungen zu einzelnen Aspekten von frühneuzeitlichen Körpergrenzen gibt – wie etwa zu Metamorphosen und zum Monströsen oder der Affinität des menschlichen Körpers zu Maschinen – ist diese



1 Zur Fragestellung 

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­ ntersuchung meines Wissens die erste, die systematisch die frühneuzeitliche U Arbeit an der Definition und Begrenzung des menschlichen Körpers erfasst und  mit heutigen Ansätzen vergleicht. Sie fokussiert daher auf epistemische Veränderungen der Demarkationslinie zwischen Materie und Form, oder anders gesagt, auf umstrittene Grenzziehungen in Bezug auf genuin Menschliches: Affekte/­Passionen, Mensch & Tier, Mensch & Artefakt. Da ich philosophische Konzepte nicht losgelöst von gesellschaftlicher Praxis sehe, werde ich für jede der «umstrittenen Grenzziehungen» jeweils auch ein signifikantes Textbeispiel für dessen fiktionale Umsetzung in der Frühen Neuzeit analysieren. Die jeweils unterschiedlich kontrastierenden Zeiträume zwischen fiktionalen und referentiellen Bearbeitungen zu den drei Großkapiteln verdeutlichen, dass ich keine kausale Beziehung von Ursache und Wirkung bzw. von Vorher und Nachher für die gewählten Textbeispiele annehme. Manchmal reizen fiktionale Texte Phantasien aus, die das philosophische Imaginäre noch nicht erfasst hat, manchmal werden in ihnen vorher faktisch verhandelte neue Paradigmen durchgespielt. Ich beginne meine Grenzvermessung gewissermaßen von Innen heraus: mit der Frage der Entstehung und Wirkweise der Emotionen, die evident sowohl ­körperliche als auch seelische Phänomene sind und somit als Kernthema für ­TheoretikerInnen fungieren, die die Binarität von Geist und Materie in Frage stellen. Aus diesem Grund verwundert es wenig, dass es jüngst im Bereich der Genderforschung zu einem regelrechten Boom an Affekttheorien gekommen ist. Renaissance DenkerInnen greifen ihrerseits auf antike und mittelalterliche Emotionstheorien zurück, um relationale Modelle für die äußeren Anstöße, wie sie dem Begriff Affekt inhärent sind, mit den individuellen Verarbeitungen und Reaktionen, die der Terminus Passion umschreibt, zu erhalten. Dass Emotionen auch machtvolle Agenten in Bezug auf Gesellschaftsprozesse sind, verdeutlicht die frühneuzeitliche Vorliebe für die Bühne, auf der Emotionen vielgestaltig zum Einsatz kommen, wie zwei Dramen von Pedro Calderón de la Barca verdeutlichen. Ein immer wieder vieldiskutiertes Thema, wenn es um Anthropologie geht, ist die Frage nach der Unterscheidung des Menschen von anderen Tieren. Als prominenteste Verfechterin der Grenzauflösung zwischen Mensch und Tier gilt Donna Haraway, die deshalb die Überschneidungen zwischen Gender und Animal Studies besonders greifbar macht. Viele ihrer Ideen finden sich auch schon in den materialistischen Tendenzen der Renaissance-Philosophie. Eine der faszinierendsten Positionen zum Thema, nämlich jene von Gómez Pereira, gelangt allerdings zum ebenso abrupten wie verwunderlichen Schluss, dass Tiere nichts anderes als Automaten seien, womit die nächste Grenzziehung, nämlich jene zwischen Mensch und Artefakt, schon anklingt. Beide Extrempole – Tier und Artefakt – werden auch im fiktionalen Beispieltext, Orlando Furioso von Ludovico

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 1 Zur Fragestellung

Ariosto, ausgelotet. Dass der heldenhafte Krieger ausgerechnet als seines Verstandes beraubtes ‹Tier› authentischer Gefühle fähig ist, ermöglicht außerdem, Themen aus dem ersten Großkapitel wieder aufzunehmen. Als letzte Traversale der Grenzvermessung führe ich in die Machbarkeitsphantasien ästhetischer Körperpraktiken ein. Denn für die Einverleibung des Artefakts werden im 16. Jahrhundert (noch) nicht mechanistische MaschinenModelle beansprucht, sondern vielmehr Zurichtungs- und Optimierungsphantasien im Feld des Diätetischen und Ästhetischen ausagiert. Eine Parallele ­zwischen beiden Textkorpora zeigt sich in diesem Sinne in der Figur des männlichen Spezialisten, der die invasiven Prozeduren überwacht bzw. exekutiert. Demgegenüber wird einer der ältesten gedruckten narrativen kastilischen Texte, la Celestina von Fernando de Rojas, die damit einhergehende Enteignung weiblichen Expertinnen-Wissens, vor Augen führen. Bevor ich die drei «umstrittenen Grenzziehungen» in Angriff nehme, lege ich zunächst meine theoretischen und methodischen Grundlagen offen. Im Anschluss stelle ich die Hypothese vor, dass die thematischen und rhetorischen Konvergenzen der beiden Textkorpora ähnlichen Erfahrungen von Ruptur und Auflösung geschuldet sind. Als ‹Schwellenzeiten› lassen das 16. und der Übergang zwischen 20. und 21. Jahrhundert meiner Ansicht nach analoge Tendenzen zur Bewältigung von medialen, politischen und wissenschaftlichen Umbrüchen erkennen. Die dafür maßgeblichen Paradigmen und Episteme werden in Folge jeweils zu Beginn der drei Hauptkapitel in einer Präsentation der beiden Textkorpora eingeführt. Mir ist bewusst, dass die Distanz zwischen beiden Betrachtungszeiträumen sowie die Fülle an unterschiedlichen Werken die Gefahr der Beliebigkeit birgt. Dieser versuche ich mit einer sorgfältigen Lektüre zu begegnen, die Argumente und Denkfiguren jeweils aus den Texten heraus entwickelt und nicht von außen an sie heranträgt. Dabei kann ich dominante Argumentationslinien, aber auch viele faszinierende Spuren für weitere Forschungen offenlegen. Daraus resultiert hoffentlich eine kulturwissenschaftliche Grundlagenarbeit, die historische Semantiken produktiv mit aktueller Theorienbildung verknüpft und damit Kolleginnen und Kollegen für weiterführende Textanalysen gewinnen kann.

2 Theoretisches und methodologisches Inventar Der Schlüsselbegriff für meine methodologische Herangehensweise lautet «Übersetzung» in seinen unterschiedlichsten Semantiken. Wie Birgit Wagner in einem pointierten Aufsatz anmerkt, ist Homi Bhabhas Begriff der «kulturellen Übersetzung» als inzwischen schon inflationäres «Versprechen» in das Repertoire der Kulturwissenschaften eingegangen, wodurch die Unschärfe des Begriffs – und zwar sowohl in seiner Aneignung von Seiten der RezipientInnen, aber durchaus auch als Intention seines Schöpfers – zutage tritt.1 Ohne mich direkt auf Bhabhas «staging of cultural difference»2 zu beziehen, sehe ich meine Arbeit dennoch als eine Art Übersetzungsleistung, wie ich im Folgenden darlegen möchte. Zunächst verstehe ich ‹Übersetzung› durchaus im wörtlichen Sinn, wenn es etwa um zentrale Paradigmen in historischen Texten geht, die teilweise recht  umschweifige Übertragungsschichten vom Griechischen ins Lateinische und von dort in unterschiedlichste Vernakularsprachen aufweisen; als Beispiel sei der Aristotelische Begriff eidos genannt, der für die vormoderne Naturphilosophie sehr bedeutsam ist, wie ich in Kapitel 4 dieser Arbeit näher ausführen werde. In Bezug auf die Einführung des naturphilosophischen Korpus der Frühen Neuzeit verstehe ich ‹Übersetzung› als die Aufgabe, einen heute oftmals hermetisch anmutenden Diskurs in eine nachvollziehbare Narration zu übertragen, ohne die Alterität der Texte zu glätten. Hier kommt dann tatsächlich Bhabhas Terminus ins Spiel, allerdings mehr in seiner zeitlichen als in seiner räumlichen Dimension, denn auch bei historisch entlegenen Texten stellt sich das Problem einer prinzipiellen Inkommensurabilität, das Birgit Wagner sehr prägnant beschreibt: […] der kulturellen Differenz eine Bühne zu bieten, heißt sie in ihrer Fremdheit äußerst sichtbar zu machen und sie durch diese Sichtbarkeit der Intelligibilität und Übersetzbarkeit zumindest anzunähern. Dass dabei ein ‹Rest› bleibt, der sich der Verständlichkeit entzieht, macht das Unheimliche dieses Prozesses aus.3

Auch zeitliche Fremdheit stellt durchaus eine hybride Art von Alterität dar, da ein Text sich ja nicht nur über die – ohnehin per se uneinholbare intentio auctoris4 – erschließt, sondern durch Vielstimmigkeit geprägt ist. Um die «words of

1 Birgit Wagner: «Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept» auf http://www.kakanien.ac.at/beitr/postcol/BWagner2, vom 23.7.2009, S. 1–8, Zugriff am 10.9.2014 2 Homi Bhabha: The Location of Culture. London/New York: Routledge 1994, S. 227. 3 Birgit Wagner: Kulturelle Übersetzung, S. 7. 4 Begriff nach Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation. München: dtv 1992, S. 75 ff. DOI 10.1515/9783110521825-002

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 2 Theoretisches und methodologisches Inventar

conversation»,5 als die sich Texte in die unterschiedlichsten Diskurse einbringen, zu identifizieren, ist zunächst eine Sensibilisierung für das Phänomen der Intertextualität unabdingbar: Montage, Zitat und spielerische Mimesis sind in der Renaissance intentionale Strategien wissenschaftlichen Schreibens und zwar sowohl als streitbarer Dialog von ZeitgenossInnen, als auch auf diachroner Ebene. In diesem Sinne ging es mir vor allem um die Rekonstruktion und den Vergleich unterschiedlichster frühneuzeitlicher Interpretationen von Konzepten Aristoteles’, Platons, Galens und von anderen antiken und mittelalterlichen Quellen. Wie derartige intertextuelle Adaptierungen ihrerseits wiederum neue und teilweise sehr radikale Positionen innerhalb des naturphilosophischen ­Diskurses ausbilden, erschließt sich nur, wenn Wissensproduktion in jeweils spezifischen soziokulturellen Rahmungen situiert wird. In diesem Sinne ist die folgende Untersuchung der Diskursanalyse verpflichtet, wobei ich Ansätze von Paul Ricœur, Michail Bachtin und Michel Foucault verschränke. Michel Foucaults Terminus der «archéologie» hilft, philosophische Texte nicht als eine von ihren materiellen Bedingungen hermetisch abgeschottete und unbefleckte Ideengeschichte zu begreifen. Sein Verständnis des menschlichen Körpers als Schauplatz von Biomacht verstehe ich als Verpflichtung, die ausgewählten Texte auf ihre Interdependenz mit den in historische Körperkulturen eingeschriebenen Disziplinierungsdispositiven, Begehrensstrukturen und Geschlechtsmarkierungen zu befragen, auch wenn Foucault selbst die Kategorie Geschlecht erstaunlicherweise weitgehend ausgeblendet hat.6 Bachtin hat als einer der ersten Intertextualität als Merkmal jedweder Texte thematisiert und dabei vor allem die Wechselbeziehungen zwischen unterschiedlichsten Genres und Diskursen hervorgehoben, da er von einer umfassenden Dialogizität von Texten ausging. Inwieweit dies für meine nachfolgende Arbeit bedeutsam ist, werde ich noch in Verbindung mit Mieke Bals narratologischen Ansätzen erläutern. Der eigentliche Begriff der Intertextualität geht aus einer Weiterentwicklung Bachtins Ideen durch Julia Kristeva hervor. In Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman7 zeigt sie, dass die Originalität von Texten nicht nur

5 Begriff nach Stanley Cavell: Pursuit of Happiness. The Hollywood Comedy of Remarriage. ­Cambridge/ London, Harvard University Press 1981. 6 Zur feministischen Kritik und Weiterentwicklung von Konzepten Foucaults vgl. Judith Butler: Bodies That Matter: On the Discursive Limits of «Sex». New York: Routledge 1993; Jana Sawicki: Foucault, Feminism, and Questions of Identity. In: Gary Gutting (Hg.): The Cambridge Companion to Foucault. Cambridge: Cambridge University Press 1994; Sandra Lee Bartky: Foucault, Femininity, and the Modernization of Patriarchal Power. In: Diana Tietjens Meyers (Hg.): Feminist Social Thought: A Reader. New York: Routledge 1997. 7 Julia Kristiva: Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman. In Critique 4/1967, S. 438–465.



2 Theoretisches und methodologisches Inventar   

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im Spannungsverhältnis von Konvention und Ruptur auszuloten ist, sondern dass die Semiose des Spiels von ‹Permutation und Transformation› eine feinere Analyse verlangt und darin auch die von AutorInnen nicht intendierten Umdeutungen einbeziehen kann. Paul Ricœur schließlich konkretisiert im Rückgriff auf Aristoteles die Art der Referentialität von literarischen Texten am Beispiel der Tragödie: Es handelt sich um Mimesis – eine Abbildung einer menschlichen Wirklichkeit aber eben nicht als einfache Verdoppelung dessen, was unsere Umwelt ist, sondern als Poiesis, als verdichtete Neu-Schöpfung. Dabei kommt der Metapher eine besonders bedeutungsstiftende Rolle zu, da sie sozusagen in nuce diese textuellen Verdichtungen lesbar macht.8 Und wenngleich der Grad der Verdichtung bei philosophischen Texten weniger hoch ist als bei im engeren Sinn literarischen Texten, so hilft dieser dezidiert literaturwissenschaftliche Ansatz die historische Semantik entlegener Texte doch besser herauszuarbeiten.

Metaphern als Übersetzungen Diese Überzeugung bildet den Hintergrund meiner Fokussierung auf die rhetorische Verfasstheit der analysierten Werke, womit eine andere Semantik von ‹Übersetzung› relevant wird: Translatio ist die lateinische Übersetzung des griechischen Begriffs ‹Metapher›. Ich werde daher besonders die zu Bildern verdichteten Körpervorstellungen der Texte in den Blick nehmen, um historische Formen der Sinngebung nachzuzeichnen: Verstehen ist ein Prozeß des Vertrautmachens des Unvertrauten oder des im Freudschen Sinne dieses Wortes «Unheimlichen»; ein Prozeß, in dem dieses aus dem Bereich der Dinge, die als «exotisch» und unklassifiziert empfunden werden, herausgenommen und dem einen oder anderen Bereich von Erfahrung eingefügt wird […] Dieser Verstehensprozeß kann nur tropologischer Natur sein, denn das Vertrautmachen des Unvertrauten beinhaltet ein tropisches Verfahren (troping), das im allgemeinen figurativer Art ist.9

Auch meine Metaphernanalyse vereint unterschiedliche theoretische Ansätze: Die von George Lakoff und Mark Johnson begründete sogenannte kognitive 8 Paul Ricoeur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik. In: Anselm Haverkamp (Hg.): Theorie der Metapher. Darmstadt 1983, S. 356–375. 9 Hayden White: Einleitung: Tropologie, Diskurs und die Formen des menschlichen Bewußtseins. In: Auch Klio dichtet, oder, Die Fiktion des Faktischen: Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart: Klett-Cotta 1986, S. 7–36, hier: S. 12.

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Metapherntheorie10 zeichnet sich durch ein Instrumentarium aus, das die Übersetzungsbewegungen zwischen Quellbereich und Zielbereich systematisch kartographierbar macht und es dadurch erlaubt, metaphorische Konzepte in ihrer «kulturellen Kohärenz» herauszupräparieren, anstatt nur einzelne auffällige Wortbilder aufzulisten. Wenngleich ich das wegen der Fülle der analysierten Texte nicht jeweils detailliert nachzeichnen kann, werde ich derartige metaphorische Kraftfelder jeweils markieren und vereinzelt auch eingehender besprechen. Doch Lakoff und Johnson konzentrieren sich in ihren Untersuchungen vor allem auf Alltagssprache und blenden dabei das historische kulturspezifische Erbe von metaphorischen Konzepten ebenso weitgehend aus wie die intentionale Neuschöpfung oder Wiederaneignung von Sprachbildern, wie sie geschriebene, vor allem literarische, Texte auszeichnet. Angesichts der überzeugenden Darstellung einer grundlegenden Ordnung metaphorischer Kohärenz, die sich in binären Begriffspaaren nach dem Schema Schwarz-Weiß organisiert, und der Tatsache, dass der wohl markanteste Dualismus unserer Kultur die Geschlechterdifferenz ist, scheint mir darüber hinaus bemerkenswert, dass ihre Theorie derart geschlechterblind ist.11 Dabei teilen sie mit vielen TheoretikerInnen der Gender Studies ihr Desinteresse an historischen Vertiefungen, was ihre ansonsten überzeugende Darstellung besser fundiert hätte, wie folgenden Ausführungen von Michael Metzeltin zu entnehmen ist: Über die Similarität – in Form von Metaphern, Personifizierungen und Hyperbeln – tasten wir uns, ausgehend vom Verständnis unseres Körpers, allmählich vor in der begrifflichen Erkundung unserer näheren und dann ferneren Umgebung, wie es treffend schon der neapolitanische Philosoph Giambattista Vico in seinen Principij di una scienza nuova d’intorno alla commune natura delle nazioni (1725/1730, Teil II) formuliert hat.12

Um die Dynamik zwischen intentionalen und zu bestimmten Zeiten in bestimmten Kulturen unter bestimmten Bedingungen emergierenden Metaphern besser zu verstehen, ziehe ich Hans Blumenbergs Metaphorologie heran, da er als Experte für die Philosophie der Renaissance um die besondere Bedeutung tropischer Erkenntnisgewinnung in diesem Zeitraum weiß: 10 George Lakoff/Mark Johnson: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg 1998. 11 Das weitgehende Fehlen der Kategorie Geschlecht in einschlägigen Metapherntheorien sowie dieses Forschungsdesiderat aufarbeitende Neuansätze wird thematisiert in Marlen BidwellSteiner/Veronika Zangl (Hg.): Körperkonstruktionen und Geschlechtermetaphern. Zum Zusammenhang von Rhetorik und Embodiment. (Gendered Subjects, Bd. 5). Innsbruck/Wien/Bozen: Studienverlag 2009. 12 Michael Metzeltin: Der Mensch als kognitives Wesen. In: Ders. (Hg.): Diskurs Text Sprache. Eine methodenorientierte Einführung in die Sprachwissenschaft für Romanistinnen und Romanisten. Wien: Praesens Verlag 2008, S. 99–121, hier: S. 105.



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Je mehr wir uns von der kurzen Distanz der erfüllbaren Intentionalität entfernen und auf Totalhorizonte beziehen, die für unsere Erfahrung nicht mehr zu durchschreiten und abzugrenzen sind, umso impressiver wird die Verwendung von Metaphern.13

Beeindruckende Metaphorik lässt sich demnach von holistischen Modellen erwarten und tatsächlich trifft dies sowohl für frühneuzeitliche Naturphilosophie, als auch für die rezenten material feminisms zu. In einem weiteren Band metaphorisiert Blumenberg selbst heuristische Akte als eine Art «Fallenstellen»14 und legt damit dar, dass unseren Begrifflichkeiten immer eine gewisse Unbestimmtheit haften bleibt, was er auf einen – wiederum metaphorisch gebrauchten – Fachterminus der Frühen Neuzeit zurückführt: «Der Begriff ist aus der actio per distans, aus dem Handeln auf räumliche und zeitliche Entfernung entstanden.»15 Die Unbestimmtheit resultiert demnach aus einer Fortbewegung von Wörtern aus einem Quellbereich in einen Zielbereich, in dem diese Metaphern oft erfolgreich zu verbindlichen Begriffen kondensieren. So werden sie – zumindest für bestimmte Zeit – stillgelegt, da sie als Fachtermini scheinbar nicht weiter verhandelbar sind und tauchen oftmals erst nach einer Ablöse des ganzen Diskurses, in den sie eingepasst sind, in neuen diskursiven Umgebungen wieder auf. Mieke Bal bietet für die Untersuchung der damit verbundenen Veränderungen einen brauchbaren wissenschaftlichen Rahmen an, der auch zunächst ‹unverdächtige› wissenschaftliche Paradigmen als metaphorisch aufgeladene Konzepte lesbar macht. Außerdem erlaubt ihre Verknüpfung narratologischer und metapherntheoretischer Ansätze mit Positionen der Gender Studies die Archäologie geschlechtlich verdichteter Körpermodelle, die sich dem kollektiven Imaginären als wirkmächtige Sprachbilder einprägen und gerade deshalb einer buchstäblichen Lesart ­entziehen.

Wandernde und wandelbare Konzepte Sie fasst die Wanderschaft der Wörter als travelling concepts, die sie folgendermaßen definiert:

13 Hans Blumenberg: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit. In: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 193–210, hier: S. 196. 14 Hans Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, hg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2007, S. 10. 15 Hans Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit 2007, S. 11.

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Concepts are never simply descriptive; they are also programmatic and normative. Hence, their use has specific effects. Nor are they stable […] Precisely because they travel between ordinary words and condensed theories, concepts can trigger and facilitate reflection and debate on all levels of methodology in the humanities.16

Bals travelling concepts helfen dabei, einen epistemologischen Grenzwall abzutragen, der die wissenschaftshistorische Zäsur, für die das Konzept – also in Bals Verständnis die Narration – der Scientific Revolution steht, überhaupt erst inszeniert: die rigide Trennung von Fakten und Fiktionen, die gleichzeitig Natur- und Kulturwissenschaften voneinander isoliert. Interessanter Weise hat das auf der vermeintlich schwächeren Position – den Kulturwissenschaften – eine Fülle an anregenden und sehr differenzierten Theorien zum Thema Fiktionalität hervorgebracht, während in den Naturwissenschaften Fakten als scheinbar unhintergehbare unmittelbare Evidenz keinerlei weiterer Konzeptualisierung bedürfen. Diese Beobachtung lässt sich gendertheoretisch doppeln, da Ähnliches für den Geschlechtskörper gilt: Der Mann repräsentiert den Normkörper und muss daher keiner gesonderten theoretischen Betrachtung unterzogen werden, während die ‹Devianz› des Frauenkörpers immer wieder aufs Neue verhandelt werden muss.17 Entlang dieser Geschlechterdichotomie hat sich auch die Polarisierung von faktischen und fiktionalen Texten entwickelt: Faktische Texte sind in wesentlich höherem Maße sowohl auf Seiten der Produktion als auch auf Seiten der Rezeption eine männlich dominierte Sphäre, analog dazu sind fiktionale Texte stärker weiblich besetzt.18

16 Mieke Bal: Travelling Concepts, S. 28–29; vgl. auch Mieke Bal: Introduction: Travelling Concepts and Cultural Analysis. In Sonja Neef/Joyce Goggin (Hg.): Subjectivity – Text – Hybridity. Amsterdam: University Press 2001 und Mieke Bal: The Concept of ‹Metaphor› and the Metaphor ‹Concept›. In A Mieke Bal Reader. Chicago: University Press 2006, S. 157–162. 17 Vgl. Thomas Laqueur: Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud. Cambridge: Harvard University Press 1990. 18 Das ist freilich eine recht vereinfachende Darstellung, die sich gerade für ältere Texte nicht sauber aufrechterhalten lässt, da die Trennung in fiktionale und faktische Literatur noch nicht in dem Maße vollzogen ist wie heute. Doch schon Boccaccios Novellistik richtet sich an Frauen, d. h., der Ausschluss von Frauen aus der öffentlichen Sphäre korreliert schon hier mit dem Substitut des Literaturgenusses in einer ähnlichen Weise wie Stanley Cavell für die frühe Fernsehkultur des amerikanischen suburbia mit dem Begriff des monitoring analysiert, dass der mediale Weltbezug direkten Handlungsvollzug bzw. direkte Teilhabe ersetzt. Wie Frauen aus einem erfolgreichen Genre der Frühen Neuzeit verdrängt werden, das konstitutiv fiktionale und faktische Anteile vermischt, beschreibe ich im Kapitel «Umstrittene Grenzziehungen: Mensch und Artefakt». Vgl. dazu auch Jörn Steigerwald: Phantasia in utero. In: Thomas Dewender/Thomas Welt (Hg.): Imagination, Fiktion, Kreation. München/Leipzig: Saur Verlag 2003, S. 267–291, hier: S. 289.



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Wenn wir aber im Sinne Bals auch wissenschaftliche Konzepte als Mikrogeschichten, als kleine narrative Kerne eines immer schon interpretativen Zugangs begreifen, wird die Kluft zwischen den Objekten und den Subjekten der Interpretation als narrative Verdichtung eines Aneignungsversuchs lesbar. Diese Perspektive hat den Vorteil, dass sie nicht einen Pol favorisiert – also hier subjektive Fiktion oder dort objektive Fakten – sondern die Interaktion beider in den Blick nimmt. Für eine qualifizierte Wahrnehmung der Interaktion ist entscheidend, diese nicht einseitig gerichtet zu bestimmen: der interpretative/narrative Akt ist nicht immer intentional, manchmal erzwingen ihn die Objekte oder Ereignisse, manchmal entziehen sich diese, sie tragen vorangegangene Narrationen mit sich, sie interagieren mit anderen Objekten, sie stehen in einem Netzwerk bestimmter Normen.19 Die Unterscheidbarkeit von Fiktionen und Fakten in Frage zu stellen, heißt deshalb keineswegs, den Modus der Narration als ununterscheidbar anzunehmen. Die Art und Weise, wie Menschen in bestimmten Situationen Sinn ­generieren, ist an Normen des Sagbaren geknüpft, womit etwa die Frage nach unterschiedlichen Diskursen sehr wohl relevant bleibt. In diesem Sinne war es mir wichtig, nicht nur Körpermodelle in naturphilosophischen Texten zu analysieren, sondern auch literarische Texte heranzuziehen. Auch hier gilt es, keine wie immer geartete Linearität oder K ­ ausalitätsbeziehung der wandernden Konzepte zu behaupten: Weder agieren literarische Texte lediglich aus, was vorher als Fakten definiert wurde noch greifen Fakten immer auf, was etwa an utopischem oder dystopischem Potential im Modus der Fiktion erzeugt wird. Vielmehr lassen sich auch hier verschieden geartete Konversationen zwischen Diskursen nachzeichnen: Konzepte, die die Dimensionen Zeit und Raum überwinden und so in anderen narrativen Rahmungen lebendig bleiben. Auf diese Weise bleiben nicht nur dominante Lesarten, sondern auch der unbewältigte Überschuss metaphorischer Wissensgenerierung greifbar und prinzipiell weiteren Fortbewegungen zugänglich. Gleichzeitig lässt sich im Abgleich metaphorischer Konzepte in zeitlicher und diskursiver Verschiebung, also etwa zwischen einem naturphilosophischen Text aus dem 16. Jahrhundert und einem Drama des 17. Jahrhunderts die «Kondensiertheit»20 des Konzepts besser verstehen, also inwieweit etwa ein Begriff schon topisch, da besonders fixiert, ist oder ihm noch sein ‹Reisegepäck› anhaftet. 19 Während Bal das Paradigma «Faktum» somit narratologisch in Frage stellt, unterstreichen VertreterInnen der sogenannten «Cognitive Narratology» wie Monika Fludernik und Jonathan Culler die Bedeutung der im engeren Sinne literarischen Texte für die Verbesserung kognitiver Bedingungen. Vgl. dazu Monika Fludernik: An Introduction to Narratology. London/New York: Routledge 2009. 20 Begriff nach Mieke Bal: Travelling Concepts.

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Theoretische Fundierung der Genderforschung Schließlich sind neuere feministische und Gender-Theorien nicht nur Untersuchungsgegenstand meiner Forschung, die als solche ebenfalls einer diskurs- und metapherntheoretischen Lesung unterzogen werden, sondern durchaus auch theoretische und methodologische Basis meiner Untersuchungen. Denn feministische WissenschaftlerInnen wie Evelyn Fox Keller, Anne Fausto Sterling, u. a. haben schon vor Jahren nachgewiesen, dass «westliche» natur- und lebenswissenschaftliche Diskurse scheinbar neutrale Körpermodelle in eine zutiefst vergeschlechtlichte Rhetorik hüllen, die Rückschlüsse auf «vested interests»21 und damit auf die jeweilige Dynamik von Ein- und Ausschlüssen erlauben.22 Gerade die Tatsache, dass auch innerhalb der feministischen Lebens- und Naturwissenschaften die tropischen Konstruktionen von Geschlechterdifferenz schon seit geraumer Zeit quer durch die Disziplinen beforscht werden, steht in einem krassen Missverhältnis zu den geringen Auswirkungen dieser Forschung auf den Mainstream der jeweiligen Disziplin. Auch um dieses Phänomen besser zu verstehen, scheint mir die Vergleichsfolie meines frühneuzeitliches Korpus besonders relevant, da darin bereits viele kritische, (avant la lettre) beinahe dekonstruktivistische Ansätze angelegt sind, die in der wissenschaftlichen Tradierung und Kanonbildung aber eigentümlich neutralisiert erscheinen. Um die Spuren solcher kritischer Zugänge und deren Weiterleben im historischen Gedächtnis zu rekonstruieren, formuliere ich eine Frage von Sandra Harding neu: Why has the widespread availability of more accurate information about purported [gendered] difference had so little positive effect on scientific practices?23 Meine komparative Studie legt nahe, dass die vermeintliche Wirkungslosigkeit einer (proto-) feministischen Kritik kein argumentatives Versagen darstellt, sondern einem strukturellen Prinzip des kulturellen Gedächtnisses geschuldet ist. Die kollektive Memoria weist nämlich ein erstaunliches Beharrungsvermögen auf: Neue Erfahrungen werden nach vorhandenen Mustern adaptiert und so etwa egalitäre Vorstellungen in vertraute Hierarchien einpasst. Diese Beobachtung korreliert mit dem Konzept der metaphorischen Kohärenz von Lakoff und Johnson, wobei 21 Begriff nach Marjorie Garber: Vested Interests: Cross-Dressing and Cultural Anxiety. New York: Routledge 2008. 22 Evelyn Fox Keller: Making Sense of Life. Explaining Biological Development with Models, Metaphors, and Machines. Cambridge (USA)/London: Harvard University Press 2002; Anne Fausto-­Sterling: ­Sexing the Body. Gender Politics and the Construction of Sexuality. New York: Basic Books 2000. 23 Harding spricht von rassistischen Konstruktionen und verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff «racial», nicht «gendered», ich denke aber, sie würde dieser Parallele zustimmen. Vgl. dazu Sandra Harding: Science and Social Inequality: Feminist and Postcolonial Issues. Champaign: University of Illinois Press 2006.



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ich aber stärker historische Prozesse des Wiederholens und Einübens beleuchte und nicht wie Lakoff und Johnson von einer unwandelbaren inhärenten kognitiven Struktur ausgehe, die ja dieses Phänomen erst recht naturalisieren würde. Um das scheinbar metahistorische Phänomen weiblicher Defizienz als geschichtlich wandelbares ‹Passepartout› zu fassen, beziehe ich mich auf Joan Scotts Begriff des «Fantasy Echo».24 Scott entwickelt dieses «tool», wie sie es in leicht koketter Bescheidenheit nennt, aus dem psychoanalytischen Konzept der Primärphantasien. Phantasien haben Anteil an der Ausformung (kollektiver) Identitäten und unser Repertoire an Imaginationen verdankt sich eben nicht vorrangig einer anthropologischen Konstante wie etwa inhärenten kognitiven Strukturen, sondern zählebigen, aber dennoch historisch gewachsenen imaginären Bildprogrammen. Laut Scott kennzeichnet diesen Prozess «a double structure, which at once reproduces and masks conflict, antagonism, or contradiction».25 Während Phantasie Kontinuität imaginiert, gibt es aber gleichzeitig das Echo, das den Moment der Veränderung repräsentiert. So gesehen modelliert sich Identität in einem «play of repetition and difference among signifiers».26 Scotts «tool» hilft zu verstehen, warum manche Narrative trotz ständiger Neusemantisierungen einen so vertrauten Subtext aufweisen. Echos und Spiegel sowie die dazu gehörigen Phänomene von Brechungen und Verzerrungen sind in der Renaissance sowohl als Metaphern als auch auf der Inhaltsebene sowie in der materiellen Kultur allgegenwärtig. Auch neuere Texte aus der Geschlechter-­ forschung greifen häufig auf diese Metaphorik zurück, vor allem – wie ja auch das Beispiel von Scott zeigt – wenn sie auf psychoanalytische Theorien rekurrieren. Die Parallele in der rhetorischen Verfasstheit meiner beiden Textcorpora erschließt sich meiner Ansicht gewissermaßen als Paradox über die genannte Forschungstradition: die Psychoanalyse, die ich deshalb als eine Art «missing link» zwischen den untersuchten Textcorpora betrachte. Wie die RenaissanceTexte und auch jene der material feminisms operiert die Psychoanalyse mit einem holistischen Modell des Menschen, da sie von einem Leib-Seele-Kontinuum ausgeht, was innerhalb der Humanwissenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts durchaus bemerkenswert ist.27 Paradox scheint mir daran, dass ausgerechnet 24 Joan W. Scott: Fantasy Echo: History and the Construction of Identity. In: Critical Inquiry, 27/2 /2001, S. 284–304. 25 Joan W. Scott: Fantasy Echo, S. 288. 26 Claire Nouvet: An Impossible Response: The Disaster of Narcissus. In: Yale French Studies, 79/1991, S. 103–134, hier: S. 114, zit. nach Joan W. Scott: Fantasy Echo, S. 291. 27 Zur Engführung von Verschiebung und Verdichtung mit Metapher und Metonymie innerhalb der Psychoanalyse siehe Anna Babka/Marlen Bidwell-Steiner: Begriffe in Bewegung – Gender, Lesbian Phallus und Fantasy Echoes. In: Marlen Bidwell-Steiner/Anna Babka (Hg.): Obskure Differenzen: Psychoanalyse und Gender Studies. Gießen: Psychosozial-Verlag 2013, S. 239–269.

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jene wissenschaftlichen Felder, die ganzheitliche Ansätze verfolgen, so viele theoretische Konzepte zu Fragmentierungen und Brüchen aufweisen. Aber gerade das Narrativ des Bruchs beansprucht ja, dass es eine Kontinuität gibt, wodurch diese Metaphorik wiederum Teil eines Ganzheitsmodells wird.28

28 Zum Verhältnis von Ruptur und Narrationen vgl. Anna Babka/Marlen Bidwell-Steiner/Wolfgang Müller-Funk (Hg.): Narrative im Bruch: Theoretische Positionen und Anwendungen. Wien: UVP 2016.

3 Schwellenzeiten: Das ausgehende 16. und das angehende 21. Jahrhundert WissenschaftsforscherInnen betrachten das 16. Jahrhundert vielfach als eine Art Gärungszeit vor dem Übergang zur Professionalisierung in strukturiertere und zunehmend empirisch ausgerichtete Disziplinen, mit anderen Worten: zu ‹wirklichen› Wissenschaften. Zwar stimmen einschlägige Historiographien darin überein, dass die Scientific Revolution in der Mitte des 16. Jahrhunderts ihren Ausgang nimmt,1 die Diskussion von deren Charakteristika beschränkt sich dann aber meist auf Intellektuelle des 17. Jahrhunderts wie zum Beispiel Francis Bacon und die Royal Society, nur wenigen Denkern wird eine Vorreiterrolle zuerkannt. Dieser einseitige Blick auf eine Ruptur, der scheinbar bedenkenlos alles vorher produzierte Wissen vernachlässigen kann, vergibt die Chance, eines der Kernprobleme der ‹westlichen› Philosophie im diachronen Kontext zu historisieren: das Verhältnis von Leib und Seele. Dabei leugne ich keineswegs, dass die Frühe Neuzeit eine Schwellenzeit darstellt, in der sich nicht nur in den Wissenschaften, sondern allgemein in soziokulturellen Belangen ein neuer Denk- und Wahrnehmungsstil ausbildet. Doch neben den Veränderungen, die mit diesem in Gesellschaft, Politik, Religion, Technologie, etc. einhergehen, lassen sich durchaus auch Kontinuitäten erkennen. Wenn diese Dynamik von Kontinuitäten und Umbrüchen für den Kontext der sich ausdifferenzierenden Wissenschaften berücksichtigt wird, erhält man ein komplexeres Bild auf die Wissenschaftsgeschichte. Dazu müssen Wissenschaften aber als Kulturtechniken begriffen werden, die in ein bestimmtes Weltbild eingebettet sind und sich im Austausch mit anderen kulturellen und sozialen Praktiken befinden. Tatsächlich beanspruchten die Transformationen, die sich im 16. Jahrhundert vollzogen, alle Bereiche menschlicher Erfahrung: die Sphäre des Realen, des  Imaginären und des Symbolischen.2 Erstmals in der Geschichte ist es möglich, von einer globalen Welt sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn  zu  ­sprechen. Wörtlich, da die portugiesischen und spanischen Kolonisierungen auf dem amerikanischen Kontinent mehr oder weniger die Kartographie unserer heutigen Welt konsolidierten. Diese Veränderung und Ausdehnung des

1 Vgl. dazu Steven Shapin: Bibliographic Essay. In The Scientific Revolution. Chicago/London: University of Chicago Press 1996, S. 167–212. 2 Diesen Befund legt unter der treffenden Kapitelüberschrift «Diskurse der Tropen und Tropen der Diskurse» wesentlich ausführlicher dar: Ottmar Ette: Eine literarische Globalisierungsgeschichte. Berlin/Boston: de Gruyter 2012 (mimesis. Romanische Literaturen der Welt 54), S. 105 ff. DOI 10.1515/9783110521825-003

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Weltbildes finden ihre Entsprechung auch auf wissenschaftlicher Ebene: 1543 erscheint Kopernikus’ Schrift De revolutionibus orbium coelestium; es wird aber noch ein Jahrhundert dauern (also vor allem den von mir untersuchten Zeitraum), bis sich statt des geozentrischen ein heliozentrisches Weltbild durchsetzt. Viel unmittelbarer als der nur Gelehrten zugängliche kosmologische Wandel wirkt sich das erweiterte Welt-Bewusstsein aber auf Alltagskulturen aus. Obwohl die historische Forschung sich im Zuge des material turn verstärkt Phänomenen wie Ernährung und Körperpflege widmet, wird immer noch unterschätzt, welche Folgen etwa der Import von Kartoffeln, Mais, Paprika, Tomaten, Ananas, Tabak etc. nicht nur für europäische Pharmaka, Essgewohnheiten und Landwirtschaft hat, sondern auch für Sprache, Narrative und Phantasien.3 Eine anderer Ressource aus Nueva España verdeutlicht den Zusammenhang von realer, imaginärer und symbolischer Veränderung noch augenscheinlicher: Edelmetalle, allem voran Gold und Silber. Diese soliden Metalle trugen in nur einem Jahrhundert dazu bei, die europäische Wirtschaft, vor allem die spanische, massiv zu destabilisieren: im 16. Jahrhundert musste Spanien dreimal Staatsbankrott erklären (1557, 1575, 1596). Diese Situation führte zu sozialen und politischen Spannungen, im Zuge der Minenbewirtschaftung zu Sklaverei und zu Migration im großen Stil, wodurch die mittelalterliche Feudalordnung nachhaltig ins Wanken geriet. Wie ich im folgenden Kapitel ausführen werde, wird die Kolonisierung Amerikas in bemerkenswerter Weise fiktional vorbereitet und untermauert. Sowohl epische Dichtung als auch Schäferromane eröffnen einen Imaginationsraum, der von Amazonen, Riesen, Menschenfressern und anderen Ikonen der Alterität bevölkert ist und mit der Figur des hypermaskulinen Helden im Dienste höherer – weltlicher und göttlicher – Machthaber kontrastiert. So verschmelzen politische Interessen und antike literarische Kanones zu einem Diskurs, der das Wundersame, das Unglaubliche und das Fremdartige des unbekannten Kontinents auf der Folie der eigenen kulturellen Memoria verarbeiten hilft. Damit ­verfestigt sich das Meisternarrativ einer legitimen Eroberung, das in Europa für Jahrhunderte dominiert. Es ist kaum nachvollziehbar, welche Mischung aus Ängsten und Hoffnungen die Gewissheit ausgelöst haben mag, dass es diese Fabelwesen am anderen Ende des Ozeans ‹wirklich gibt›. Eine Spur davon lässt sich darin erkennen, dass in zeitgenössischen Verarbeitungen das Monströse nicht mehr 3 Selbstverständlich unterliegen auch diese Pflanzen einer wandelnden Semantik, sie werden nicht immer so wie heute genutzt: Der Tomate als «Goldapfel» oder «Liebesapfel» wurden etwa recht ambivalente Wirkkräfte zugeschrieben, erst relativ spät etablierte sie sich als Genusspflanze; ähnliches gilt für die Kartoffel, während etwa dem Tabak nahezu magische Heilkräfte anhafteten.



3 Schwellenzeiten: Das ausgehende 16. und das angehende 21. Jahrhundert 

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­ usschließlich an den Rändern der Welt situiert wird, sondern zunehmend in den a eigenen Erfahrungsraum rückt.4 Neben ökonomischen Krisen, wiederholten Epidemien wie etwa der ‹neuen› Seuche Syphilis,5 aber auch der Erschließung bislang unbekannter Pflanzen, Tiere und Ethnien, die aus dem neu entdeckten Erdteil nach Europa gelangten, führte das zu Verunsicherung und einer kollektiven Erfahrung von Fragmentierung. Zudem zog das mittlerweise unwiderrufliche Schisma der christlichen Kirchen verfeinerte Disziplinierungsmechanismen wie die Reformulierung der Inquisition – als spanische Inquisition ab 1478 installiert – nach sich und regte im Zusammenhang mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen intellektuelle Auseinandersetzungen zum Themenkreis von Schöpfung, Willensfreiheit und der Würde des Menschen an. Fragen nach der Ontologie des Menschen aktualisieren auch die Kartographie des menschlichen Körpers. Und tatsächlich publiziert Andreas Vesalius seinen prächtigen Anatomieatlas im gleichen Jahr wie Kopernikus’ Werk, also 1543. In De humani corporis fabrica wird das Innere des Menschen erstmals ebenso detailliert zu visualisieren versucht wie die ‹hinzugewonnenen› Erdteile in den neuen Landkarten, denn im 16. Jahrhundert werden neue Bildtechnologien auch für die Vermessung der Welt verstärkt genutzt. Generell scheinen die Dynamiken von Kontinuitäten und Brüchen nach neuen Sichtweisen zu verlangen. Es ist ­sicherlich kein Zufall, dass in diesem Zeitraum die Zentralperspektive (wieder)entdeckt und mit der Camera Obscura erstmals auch bewegliche Bilder hergestellt wurden.6 Gläser konnten so fein geschliffen werden, dass ein eingeschränkter Sehsinn prothetische Ausdehnungen erfuhr und Spiegel dienten der

4 Surekha Davie: The Unlucky, the Bad and the Ugly: Categories of Monstrosity from the Renaissance to the Enlightenment. In: Asa Simon Mittman mit Peter J. Dendle (Hg.): The Ashgate ­Research Companion to Monsters and the Monstrous. Burlington/Farnham: Ashgate 2013, S. ­49–77. 5 Zu diesem Thema gibt es eine unüberschaubare Fülle an Forschungsliteratur. Im engeren Sinne sozialhistorische Annäherungen bieten Ernst Bäumler: Amors vergifteter Pfeil. Kulturgeschichte einer verschwiegenen Krankheit. Frankfurt/Main: Ed. Wötzel 21997; Birgit Adam: Die Strafe der Venus. Eine Kulturgeschichte der Geschlechtskrankheiten. Pößneck: Orbis 2001; Klassiker zur Erforschung der Syphilis sind Iwan Bloch: Der Ursprung der Syphilis: Eine Medizinische und Kulturgeschichtliche Untersuchung. Jena: 1901; Claude Quétel: History of Syphilis. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1992; Karl Sudhoff: Aus der Frühgeschichte der Syphilis (Studien zur Geschichte der Medizin, hg. von der Puschmann-Stiftung an der Universität Leipzig), 9/1912; einschlägige Texte aus der Renaissance kommen im Kapitel «Mensch und Artefakt» zur Sprache. 6 Einen frühneuzeitlichen Experten in Fragen von neuartigen Visualisierungen, der vielfach auch als einer der Erfinder der Camera Obscura gilt, Giovan Batista della Porta, werde ich im Kapitel «Mensch und Artefakt» näher vorstellen.

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räumlichen ­Inszenierung ebenso wie der – durchaus auch metaphorischen  – Selbstbeschau. Kurz zusammengefasst: Neue und bessere Bilder und Sehweisen nahmen Gestalt an. Das veränderte kosmologische Weltbild wirft weitreichende Fragen aus unterschiedlichster Perspektive auf: Wie materielle und formale Prinzipien in der sublunaren Welt interagieren und welche Beziehung sie zum weiteren Kosmos unterhalten, tangieren Metaphysik, Naturphilosophie und Ethik gleichermaßen. Da sich sowohl die religiösen, als auch die wissenschaftlichen Leitvorstellungen wandeln, ist klar, dass derartige Probleme neu verhandelt werden müssen. Aus diesem Grund war die Verknüpfung von Körper und Geist im 16. Jahrhundert ein Thema ebenso lebendiger wie kontroverser Diskussionen. Eine besondere Rolle in dieser Auseinandersetzung spielt der Medienumbruch: Erstmals wird durch den Buchdruck auch eine Form der ‹globalen› scientific community möglich. Der Zugang zu  verbindlichen Quellen und deren Rezeption und Diskussion wird dadurch ebenso erleichtert wie der intellektuelle Austausch.7 Auf textueller Ebene reflektiert diese Tendenz die in der Renaissance zu einer Hochkonjunktur gelangende Dialogform.8 Und schließlich entwickelt sich daraus eine erweiterte Semantik des Wissens, da die neue Technologie den Wissenschaften zu einer Marktförmigkeit verhilft, die den AutorInnen neben ihrer eigentlichen fachlichen Kompetenz auch noch ganz andere merkantile und auch stilistische Fähigkeiten abverlangte. Das Bewusstsein für ein erweitertes Publikum zog nämlich auch einen anderen Begriff von Öffentlichkeit nach sich, denn ein gedrucktes Buch konnte losgelöst von seinem zeitlichen und räumlichen Produktionskontext existenzbedrohende Probleme mit staatlichen und kirchlichen Disziplinierungsinstanzen wie den Index Librorum Prohibitorum einbringen, was Elizabeth Eisenstein anhand eines Zitats von Rabelais verdeutlicht: «In the course of collating texts by Hippocrates and Galen, [he observed that] one wrong word may now kill thousands of men.»9 Aus dieser Reflexion eines frühneuzeitlichen Autors ließe sich folgern, dass das Wissen um die Marktförmigkeit des Wissens und damit um die Gefahr des Wissens auf Seiten der Intellektuellen einen rhetorischen Schub ausgelöst hat, da Verschleierungs- und Ironisierungsstrategien auch als Schutzmaßnahme

7 Elizabeth Eisenstein: The printing revolution in early modern Europe. Cambridge UK: Cambridge University Press 22005; Anthony Grafton: Der Humanist als Leser. In: Roger Chartier/ Gugliemlo Cavallo (Hg.): Die Welt des Lesens: Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt/Main: Campus 1999, S. 263–313. 8 Virginia Cox: The Renaissance Dialogue. Literary Dialogue in its Social and Political Contexts, Castiglione to Galileo. Cambridge: Cambridge University Press 1992. 9 Elizabeth Eisenstein: The Printing Press as an Agent of Change, Band 2. Cambridge: University Press 1979, S. 567–568.



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gegen politische Verfolgung notwendig wurden. Und tatsächlich lässt sich im 16. Jahrhundert nicht nur eine Fülle an neuen fiktionalen Formen und Stoffen nachweisen, sondern auch ein gegenüber der traditionellen scholastischen Textproduktion rhetorisch elaborierter und eloquenterer Wissenschaftsdiskurs. Die Möglichkeiten und Gefahren einer globalisierten Welt und der damit verbundenen ökonomischen, politischen und kulturellen Umwälzungen ist der von Renaissance und unserer Zeit geteilte Horizont, wenngleich damit unterschiedliche Erwartungen und Strategien verknüpft werden: Menschen versuchen Phänomene von Komplexität, von unsicheren Befindlichkeiten zwischen Anachronismus und Simultanität, von Erfahrungen veränderter Zeit- und RaumBedingungen sowie Beschleunigungsprozessen mit Ordnungsstrategien und Grenzverschiebungen zu bewältigen. Verstehen wir die Spätrenaissance als eine Art Vorspiel des sogenannten Subjektivierungsprozesses, der mit solchen Erfahrungen einhergeht, so können wir heutige Probleme und Krisen und deren Bewältigungsstrategien wohl als dessen – zumindest vorläufiges – Ende ansehen. Die veränderten Mentalitäten und Denkstile, die von der digitalen Medienwende und der globalen Marktwirtschaft ausgelöst wurden, lassen sich noch kaum erahnen. Aber die Diskussionen der drängenden Probleme weisen oft eine erstaunliche semantische Affinität mit jenen der Frühen Neuzeit auf: In beiden Fällen ist Kontamination ein Schlüsselbegriff für die Furcht, die Kontakte in den unterschiedlichsten Kontexten hervorrufen, sei es nun virtuell aufgrund von Computerviren, sei es aufgrund inquisitorischer Eingriffe in Texte oder im engeren Sinne wegen infektiöser Krankheiten wie Syphilis oder aktuell Ebola. Andererseits erlaubt die metaphorische Aufladung des Begriffs auch produktive künstlerische Verfahren zu verstehen, die etwa literarische oder ikonografische Konventionen unterlaufen und damit innovative Genres hervorbringen: In der Renaissance veranschaulichen das etwa die Makkaroni-Dichtung oder die manieristischen Vexierbilder von Giuseppe Arcimboldo, in der Gegenwart lässt sich eine Verwissenschaftlichung der Künste beobachten, wie dies etwa Konzeptkunst oder Theaterproduktionen von René Pollesch verdeutlichen. Umgekehrt integriert heute die wissenschaftliche Forschung Phänomene des scheinbar Ungeordneten und des Kontingenten, um der Dynamik lebendiger Systeme gerecht zu werden. In diesem Prozess verschieben sich die Grenzen zwischen einzelnen Wissenschaftsgebieten. Die Natur- und Lebenswissen­ schaften nehmen Anleihen bei den Sozial- und Kulturwissenschaften, wodurch ­Theorien und Modelle wandern und sich dabei wandeln.10 Als Beispiel seien

10 Zum Begriff der «travelling concepts» siehe Mieke Bal: Travelling Concepts in the Humanities sowie 2. Kapitel dieser Arbeit.

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 3 Schwellenzeiten: Das ausgehende 16. und das angehende 21. Jahrhundert

narratologische Ansätze in der Medizin bzw. die Bedeutung des Schmetterlingseffekts in poststrukturalistischen Literaturtheorien genannt. Generell lässt sich ein Trend zu ganzheitlicheren Modellen beobachten, wie ich im fünften Kapitel näher ausführen werde. Auch ‹harte› Wissenschaften wie die Kognitionsforschung bemühen sich, nature und nurture als komplexe Interaktion zu fassen. Somit befinden wir uns in der paradoxen Situation, dass immer spezialisierte WissenschaftlerInnen mit entsprechend rigiden Karrierevorgaben mit immer offeneren und dynamischeren Konzepten operieren. In feministischer und Gender Forschung sind holistische Ansätze besonders avanciert, da sie meist von einer dezidiert ethischen Ausrichtung getragen und der Transdisziplinarität des Forschungsfeldes folgend weniger spezialisiert sind. Darin ähneln sie NaturphilosophInnen des 16. Jahrhunderts. Diese entwickeln ebenfalls holistische Ansätze, die aufgrund der zunehmend fragwürdigen Instanz eines Gottes, der ordnend in seine Schöpfung eingreift, auch eine neue ethische Dimension verfolgen. Somit lässt sich in den Wissenschaften beider Epochen konstatieren, dass traditionelle Kategorien und Taxonomien den komplexeren Modellen nicht mehr gerecht werden. In der Frühen Neuzeit führen die zunächst ganzheitlichen und fließenden Körpervorstellungen aber allmählich zu geschlossenen Ordnungsprinzipien. Wie sich auf gesellschaftlicher Ebene die Sphären von Privat und Öffentlich ausdifferenzieren, so spezialisieren sich die Wissenschaften und entwickeln dabei über Instrumente, Terminologien und Verfahren neue Ein- und Ausschlüsse. Demgegenüber verschwimmen die Grenzen zwischen Privat und Öffentlich gegenwärtig. Ob damit auch eine Grenzauflösung der Wissenschaftsfelder einhergeht, werde ich am Ende dieser Arbeit nochmals thematisieren.

4 Naturphilosophische Körpermodelle in der Frühen Neuzeit Im Gegensatz zum heutigen Wissenschaftsbetrieb mussten sich Natur­ philosophInnen der Renaissance nicht spezialisieren. Da Naturphilosophie neben der Theologie als Leitwissenschaft galt, beschäftigten sie sich vielmehr mit einer weiten Bandbreite von Phänomenen wie etwa dem Ausmaß und der Beschaffenheit des Kosmos, den Bausteinen der sinnlich erfassbaren Objektwelt und – für meinen Zusammenhang besonders relevant – mit dem Wesen des Menschen. Aus heutiger Perspektive umfasst der Begriff also so unterschiedliche Disziplinen wie Biologie, Metaphysik, Astronomie und Medizintheorie. Denn seit der Antike war es üblich, den menschlichen Körper in mythologischen, politischen und religiösen Analogien zu denken: A human body which, endowed with an internal organisation and an obvious functional hierarchy, could be a reference to social order and sometimes, a model of comparison to justify, as natural, the hierarchical structure of the Church. In this intellectual framework the human body had to be sacralized.1

Doch diese Verweisstrukturen wurden mit komplexeren Ordnungsmustern immer hypertropher und standen Innovationen zunehmend im Weg. Wie auch in anderen Epochen waren es in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts deshalb vor allem DenkerInnen an den Rändern wissenschaftlicher Zentren bzw. Institutionen, die auf naturphilosophische Kernfragen mit originellen Neuansätzen reagierten. Das von mir ausgewählte Textkorpus versammelt solche Autorinnen und Autoren, die nicht dem Mainstream zugerechnet werden können. Die meisten von ihnen widmeten sich aber nicht nur der Theorienbildung zum menschlichen Körper, sie waren als Ärzte oder in anderen im weitesten Sinne therapeutischen Berufen tätig. Deshalb unterstreichen ihre Texte auch den Stellenwert der Empirie, wenngleich in der Frühen Neuzeit darunter noch nicht standardisierte wiederholbare Verfahren und Methoden zu verstehen sind, sondern vielmehr Erkenntnisse aus eigener Erfahrung bzw. aus eigener Anschauung. Gemäß der Themenstellung dieser Arbeit handelt es sich um Intellektuelle, die die Interaktion von Leib und Seele reformulieren. Damit leiten sie einen ­Paradigmenwechsel ein, der die nachfolgende Scientific Revolution überhaupt

1 Josep Lluís Barona: The Body Republic: Social Order and Human Body in Renaissance Medical Thought. In: History and Philosophy of the Life Sciences 15/1993, S. 165–180, hier: S. 166.

DOI 10.1515/9783110521825-004

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erst ermöglicht.2 Zu Lebzeiten galten die meisten von ihnen freilich als exzentrisch oder gar häretisch, manchmal wurden sie vom intellektuellen Establishment auch einfach ignoriert. Kurz gesagt handelt es sich um eine materialistisch ausgerichtete, aber antischolastische Strömung, die aristotelisch-galenisches Körperwissen reformiert, wodurch auch Positionen zum Geschlechtskörper erneut verhandelt werden. Abgesehen von ihrer eher pragmatisch-diesseitigen Tendenz eint die in dieser Arbeit analysierten Autorinnen und Autoren der Frühen Neuzeit auch ihr kultureller Horizont: der mediterrane Raum. Darunter verstehe ich nicht so sehr eine geographische Einheit, sondern einen Resonanzraum, der durch gemeinsame Geschichte/n, Erziehungssysteme, soziopolitische Transformationen im Sinne von Braudels Begriff der longue durée geprägt ist.3 In der Renaissance kommt es dabei aufgrund größerer linguistischer Kompetenzen zur Wiederentdeckung, Wiederbelebung und Neuformulierung mediterraner Traditionen. In diesem Zusammenhang ist vor allem eine spezifische Ausformung des Materialismus von entscheidender Bedeutung, der auf die Stoiker und die Epikuräer des dritten ­Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung zurückgeht. Die Renaissance dieser Denkbewegung ging im 15. und 16. Jahrhundert vor allem vom südlichen Italien aus und verbreitete sich in Folge rasch über Spanien und Südfrankreich. Historisch ließe sich die Region als das Einflussgebiet der aragonesischen Krone fassen.4 Sie war über die Jahrhunderte ein Begegnungsraum für die drei monotheistischen Kulturen und ein Umschlagplatz für deren Körperwissen, wofür ich  hier  exemplarisch die medizinische Schule von Salerno oder die Universitäten in Valencia und Montpellier nennen möchte. Auch wenn Américo Castros Begriff der convivencia heute als sehr umstritten gilt,5 so ist die Bedeutung der 2 Wie aus meinen bisherigen Ausführungen hervorgeht, stehe ich dem Begriff sehr kritisch gegenüber, greife ihn aber auf, denn er performiert gewissermaßen, was in der Zeit der Spätrenaissance an Veränderung vor sich geht, da er ein Produkt eines sequenzierten Denkens ist, das in dieser Form in der Epoche selbst nicht vorherrschte und damit auch die Kontinuitäten und vorangegangenen «Revolutionen», etwa im 12. Jahrhundert, nicht integriert. 3 Siehe dazu Fernand Braudel: La méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II. 2 Bde. Paris: Armand Colin 1966 (vor allem Band 1). 4 Diese Präzisierung verdanke ich Michael Metzeltin. 5 Das Werk von Américo Castro: España en su Historia. Cristianos, moros y judíos. Buenos Aires 1948, löste einen Streit mit seinem Kollegen Claudio Sánchez-Albornoz aus, der seinerseits das westgotische Erbe als das eigentliche Charakteristikum Spaniens definierte. Die Debatte wurde zunächst in der Revista de Occidente ausgetragen und im Exil fortgeführt. Siehe dazu José Luis Gómez-Martínez: Américo Castro y Sánchez-Albornoz: dos posiciones ante el origen de los españoles. In: Nueva Revista de Filología Hispánica 21/1972, S. 301–320. Für eine differenziertere Sicht von außen siehe Jerrilyn D. Dodds/Thomas F. Glick/ Vivian B. Mann (Hg.): Convivencia. Jews, Muslims, and Christians in Medieval Spain. New York: Georges Braziller 1992.



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arabischen Tradierung Aristotelischer Schriften für die europäische Entwicklung der Wissenschaften ebenso unleugbar wie die hohe Anzahl von conversos an naturphilosophischen und medizinischen Einrichtungen der Frühen Neuzeit wie etwa den protomédicos.6 Ausgangspunkt für den von mir konstatierten Paradigmenwechsel am Ende der Renaissance bildet wie angedeutet einmal mehr die Frage nach der Hegemonie von Seele oder Körper. Wie Ernst Haeckel mit Bezug auf die Vitalismusdebatte des 18. und 19. Jahrhunderts treffend bemerkte, stehen damit «persönlicher Gott, die Unsterblichkeit der Seele, [die] Freiheit des Willens»7 und – wie ich hinzufügen möchte – die Ordnung der Geschlechter zur Disposition. Ohne die in den folgenden Kapiteln im Kontext konzeptueller Grenzverschiebungen diskutierten Positionen vorwegzunehmen, werde ich hier kurz die wichtigsten epistemologischen Grundlagen der Renaissance-Naturphilosophie vorstellen und vor allem meine etwas kontroverse These ausführen und begründen, wonach die versammelten philosophischen Neuansätze dem Materialismus zuzuschlagen seien. In diesem Zusammenhang werde ich die – scheinbar ­widersprüchliche – Frage diskutieren, ob das von mir behandelte Textcorpus als holistisch oder gar monistisch bezeichnet werden kann. Vorweg sei jedenfalls festgehalten, dass es sich durchwegs um Positionen handelt, die ein allgemeingültiges Prinzip bzw. ein allumspannendes Naturgesetz annehmen und deshalb auch jene andere wichtige philosophische Innovation nicht mittragen, welche gemeinhin als die eigentliche Vorbedingung für die wissenschaftliche «Revolution» des 17. Jahrhunderts gilt: jene mathematisch-mechanistischen Ansätze, die in der Wissenschaftshistoriographie vor allem mit René Descartes in Verbindung gebracht werden und die im Unterschied zu meinem Textkorpus einer streng deduktiven Wissensgenerierung folgen. Diese Denktradition ist bekanntlich gut erforscht und wird als eine aufsteigende Erfolgsgeschichte europäischer Wissenschaft erzählt. Die im Folgenden analysierten Texte der frühen Neuzeit stehen demgegenüber noch im Zeichen ganzheitlicher Heuristik, weshalb sie die Hinwendung zur Mathematik – noch – nicht vollziehen. In diesem Sinne habe ich das teilweise in den gewählten Zeitraum fallende Werk von Galileo Galilei nicht

6 Zu dieser für das frühneuzeitliche Spanien wichtigen Institution siehe María Soledad Campos Díez: El Real Tribunal del protomedicato castellano, siglos XIV–XIX. Cuenca: Ed. de la Universidad de Castilla-La Mancha 1999 (Monografías 25). 7 Ernst Haeckel: Die Welträtsel. Bonn: Emil Strauß 1899, S. 438. Ich verweise hier deshalb auf den umstrittenen Biologen, der später wegen seiner sozialdarwinistischen Ansichten von den Nationalsozialisten vereinnahmt worden war, weil er eine monistische Weltsicht vertrat und seine Ideen zu den Verdichtungs- und Ausweitungstendenzen der Materie jenen von Bernardino Telesio nahe zu sein scheinen.

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berücksichtigt: Er gilt ja als einer der Begründer mathematisch-geometrischer Naturforschung und hat sich auch weniger mit medizinischen oder lebenswissenschaftlichen, sondern vielmehr im engeren Sinn mit messbaren naturwissenschaftlichen Fragestellungen beschäftigt. Bei der einseitigen Emphase auf deduktive Methodik und empirische Systematik für die Ausdifferenzierung der Naturwissenschaften geht vielfach verloren, dass selbst Descartes, der Ahnherr der dualistischen Epistemologie, etwa in seiner Psychologie durchaus auch vitalistische Vorstellungen vertritt und viele seiner Paradigmen in den von mir analysierten Werken vorbereitet werden. Doch mit dem Siegeszug der mechanistischen Naturwissenschaften wurde diese Denk­ tradition lange vernachlässigt. Deshalb lohnt es sich, die Entwicklung ganzheitlicher Wissenschaftsmodelle, wie sie heute wieder zu beobachten sind, diesen Vorläufern gegenüberzustellen. Denn die zentrale Hypothese meiner Untersuchung lautet, dass die beiden Epochen, die die sogenannte Scientific Revolution rahmen, nicht nur epistemologische Grundannahmen, sondern auch rhetorisch ausgerichtete Denkstile teilen.

Leib-Seele-Vorstellungen im 16. Jahrhundert Vielleicht überrascht es, dass die wissenschaftliche Basis der Neuinterpretationen des Zusammenspiels von Körper und Seele im 16. Jahrhundert nicht so sehr die Anatomie, sondern die Physiologie darstellt. Der Terminus selbst wurde von einem Autor geprägt, dessen basale Paradigmen der von mir behaupteten Denktradition angehören: Jean Fernel.8 Das Bezugssystem für die Erforschung des lebendigen Organismus bildete seit der Antike über das ganze Mittelalter hindurch die sogenannte Humoralpathologie, die sich allerdings gegen Ende des 16. Jahrhunderts zu einem immer komplizierteren Feld entwickelt hatte. Deshalb zielten dissidente DenkerInnen darauf, dieses hypertrophe Modell aus Flüssigkeiten, Elementen und Qualitäten zu reorganisieren, indem sie die drei- und vierteiligen Schemata von Vitalkräften und Körpersäften auf einen einzigen «Lebensgeist»9 reduzierten. Dabei konnten

8 Jean Fernels Physiologia erschien 1567 in seinen gesammelten Schriften zur Medizin und gehört zu einer der meistrezipierten medizinischen Schriften der Frühen Neuzeit. 9 So lautet die einerseits treffende, wegen ihrer scheinbar körperlosen Qualität aber auch irreführende Übersetzung für Spiritus, wie sie vor allem in Spinoza-Übersetzungen gängig ist. Auch eine detallierte Auseinandersetzung mit dem Konzept führt den Begriff im Titel: Gerhard Klier: Die drei Geister des Menschen: die sogenannte Spirituslehre in der Physiologie der Frühen Neuzeit. Stuttgart: Steiner Verlag 2002 (Sudhoffs Archiv: Beihefte 50).



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sie sich nicht nur auf medizinische Neuerforschungen stützen, sondern auch auf die Wiederentdeckung klassischer und mittelalterliche Quellen der Medizinphilosophie, wie etwa den «neuen Galen», der ihre Innovationen als unhintergehbare Autorität fundierte: Während galenische Werke im Mittelalter lediglich über den Filter seiner arabischen Kommentatoren zugänglich waren, ermöglichte die nunmehr aufliegende kritische lateinische Edition der überlieferten griechischen Originalschriften Galens völlig neue Zugänge.10

Das Wechselspiel von Physiologie und Psychologie Die Kombination von textkritischen Zugängen und neuartigen Spekulationen stützte sich auf eine breite Basis unterschiedlichster – alter und neuer – Texte und fokussierte in ihrer Betrachtung menschlichen Lebens zumeist auf etwas, was wir heute vielleicht als Botenstoffe bezeichnen könnten. In der Frühen Neuzeit lauten die korrekten Termini «spiritus» und «species» – deren Zusammenspiel sei hier kurz erläutert. Um die in den folgenden Kapiteln nachgezeichneten Innovationen verstehen zu können, ist eine Klärung des frühneuzeitlichen Seelenbegriffs nötig. Anima bezeichnet seit der Antike ganz allgemein ein Lebensprinzip. Deshalb wird allen Lebewesen anima zuteil, die freilich je nach Komplexität des Organismus hierarchisch gedacht wird: Über eine anima concupiscibilis verfügen alle Lebewesen, also neben den Menschen auch Pflanzen und Tiere; die anima irascibilis ist gleichsam als Bewegungsseele außerdem Menschen und Tieren gemeinsam, die anima rationalis hingegen zeichnet allein den Menschen aus. Diese trichotome Seelenarchitektur geht auf die wirkmächtige Interpretation von Aristoteles’ Hauptwerk zur Naturphilosophie, De Anima, durch den Kirchenlehrer Thomas von Aquin zurück.11 Darüber hinaus korrespondiert sie aber auch mit der Galenischen Physiologie, welche den einzelnen Organsystemen jeweils einen subtilen dampfartigen Stoff zuordnet, der die jeweiligen Funktionen steuert: die vegetativen Prozesse der triebhaften Seele, die von Leber, Verdauungstrakt und Geschlechtsorganen ausgehen, unterliegen dem spiritus naturalis, der somit für Verdauung und Metabolismus verantwortlich ist; die im Herz lokalisierten «muthaften» Seelenanteile, die Bewegungen im weitesten Sinne, also auch Affekte, 10 Siehe dazu Robert J. Hankinson (Hg.): The Cambridge Companion to Galen. Cambridge: University Press 2008. 11 Für die Rezeption dieser und anderer Interpretationen der Aristotelischen Naturphilosophie in der Frühen Neuzeit siehe Edward F. Cranz: The Renaissance Reading of the De Anima. In Platon & Aristotle à la Renaissance. Paris 1976, S. 359–377.

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umfassen, steuert der spiritus vitalis, und die vom Gehirn ausgehenden vernunftgeleiteten Operationen wie etwa die Kognition charakterisieren das Wirken des spiritus animalis. Zuallererst wirken die «vital virtues», wie Nancy Siraisi12 die spiritus genannt hat, als Garanten für das geordnete Wechselspiel bzw. die Harmonie der Körperteile. Aber die Galenische Medizin hat mit den sex res non naturales auch ein systematisches Bewusstsein dafür entwickelt, dass jeder Organismus in enger Interaktion mit seiner Umwelt steht und in diesem Sinne haben die spiritus auch Anteil am Austausch zwischen Körperinnerem und Körperumgebung, ob es sich nun um Ernährung, klimatische Bedingungen oder um Emotionen handelt. Frühneuzeitliche Erklärungsmuster für solche Prozesse verweisen nicht nur oft auf Einsichten der Neurowissenschaften, sie nehmen generell manchmal rezente Embodiment-Theorien vorweg. Während komplexer Prozesse der menschlichen Seele fungieren spiritus und species als Mediatoren zwischen Materie und Form. Der Begriff species ist die lateinische Übersetzung des griechischen Begriffs eidos, der zunächst eigentlich Form bedeutet.13 Nach Aristoteles’ immanenter Teleologie kommen Formen jedoch immer nur verkörpert vor oder anders gesagt trägt die Materie ihre Form schon in Potenz in sich, eine Erklärung für die Dynamik lebendiger Prozesse, die er unter dem Begriff Entelechie einführt.14 Diese Potenz zu ihrer vollen Ausprägung zu entfalten, ist denn auch das Ziel jeglichen Lebens. Im Mittelalter wird die Unterscheidung von Materie und Form wieder stärker akzentuiert, da die anima rationalis des Menschen als Analogon des Aristotelischen unbewegten Bewegers bzw. in einer Engführung der thomistischen Philosophie als Analogon Gottes fungiert. So wird die Unsterblichkeit der menschlichen Seele auch naturphilosophisch argumentierbar und das Ziel menschlichen Lebens gleichzeitig auf ein Jenseits verwiesen. In dieser stärkeren Ausdifferenzierung von Form und Materie erhält species eine andere Semantik, die sich manchmal dem Begriff der Gestalt annähert. Metaphorisch werden species häufig als Strahlen gefasst: Die materielle Umwelt sendet diese aus und so treffen sie auf die menschlichen Sinnesorgane. Über diese «Einfallstore» werden sie über die spiritus an die erste Kammer des Gehirns, den sensus comunis, weitergeleitet, wo sie phantasmata, ­Vorstellungsbilder, erzeugen. Spiritus bezeichnet in diesem Zusammenhang also auch die subtile T ­ rägersubstanz 12 Nancy G. Siraisi: Medieval and Early Renaissance Medicine. An Introduction to Knowledge and Practice. Chicago: University Press 1990, S. 107. 13 Für eine detailliertere Definition siehe Leen Spruit: Species Intelligibilis. From Perception to Knowledge. Renaissance Controversies, Later Schloasticism, and the Elimination of the Intelligible Species in Modern Philosophy, Bd. 2. Leiden/New York/Köln: Brill 1995, vor allem S. 5 ff. 14 Aristoteles: Metaphysik IX, 8.



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der species. Gleichzeitig fungieren die spiritus aber wie beschrieben als «Treibstoff» für sämtliche Lebensprozesse des (menschlichen) Organismus. So lässt sich erklären, weshalb phantasmata nicht einfach nur generiert – und, so ihre idealtypische weitere Verarbeitung – in der hintersten Gehirnkammer, der memoria, abgelagert werden, sondern mitunter im menschlichen Organismus ein hartnäckiges Eigenleben führen, das Psyche und Physis gleichermaßen bedrohen kann, was am augenscheinlichsten im Fall der Liebesmelancholie passiert.15

Die Wunde Melancholie und ihre neuplatonischen Spielarten Im Liebesleiden treffen die species als Augenstrahlen vom geliebten Objekt ausgehend wie Pfeile auf das Herz des Blicksubjekts, das dadurch selbst zum willfährigen Objekt des Liebesleidens wird. Die damit verbundene emotionale Dynamik zwischen Ausagieren und Erleiden werde ich im ersten Hauptkapitel näher ausführen. Jedenfalls beansprucht das phantasma der/des Geliebten die «Lebensgeister» der Melancholiker so sehr, dass diese von ihren anderen lebenserhaltenden Funktionen abgezogen werden. Diese prinzipiell mit der Aristotelisch-Galenischen Philosophie in Einklang befindliche Vorstellung erlangt gegen Ende des 15. Jahrhunderts eine eher leibfeindliche Ausprägung, die einerseits enger an christliche Ethikvorstellungen angelehnt ist, andererseits aber auch die Tradition der Naturmagie entscheidend wiederbelebt. Beide Traditionen – neuplatonische Körperdiskurse und magische Praktiken gehen in der Liebeslyrik eine besonders produktive Verbindung ein, die auch auf alle anderen Künste nachhaltig wirken wird.16 15 Zur Systematik der fakultativen Psychologie siehe Katharine Park: The Organic Soul. In: Katharine Park/Charles B. Schmitt u. a. (Hg.): The Cambridge History of Renaissance Philosophy, Cambridge: University Press 1988, S. 464–485. 16 Zur Verarbeitung neuplatonischer Körperdiskurse in der Lyrik siehe Joachim Küpper: (H)er(e)os: Petrarcas Canzoniere und der medizinische Diskurs seiner Zeit. In: Romanische Forschungen 111/1999, s. 178–224. Zur Bedeutung der Imagination in Ficinos Neuplatonik und deren Wirkung auf die Künste siehe Robert Klein: L’imagination comme vetement de l’ame chez Marsile Ficin et Giordano Bruno. In: Ders.: La forme et l’intelligible. Écrits sur la Renaissance et l’art moderne. Hg. von André Chastel. Paris: Gallimard 1970, S. 65–88. Eine fundierte Abhandlung zum Motiv der Liebeskrankheit bietet Marion A Wells: The Secret Wound: Love-melancholy and Early Modern Romance. Stanford, Calif: Stanford University Press, 2007; zum Zusammenhang von Liebesmelancholie und Petrarkismus siehe Joachim Küpper: (H)er(e)os: Petrarcas Canzoniere und der medizinische Diskurs seiner Zeit. In: Romanische Forschungen 111/1999, S. 178–224; zu den Bearbeitungen des Topos in fiktionaler Literatur an der Schwelle zur Frühen Neuzeit in Spanien siehe Robert Folger: Images in Mind: Lovesickness, Spanish Sentimental Fiction and «Don Quijote». Chapel Hill, NC: Univ. of North Carolina Press 2002.

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Eine Schlüsselfigur zwischen diesen scheinbar widersprüchlichen Strömungen ist Marsilio Ficino (1433–1499), der mit seinen Übersetzungen der Dialoge Platons und vor allem mit seinem Kommentar zum Symposium einen wahrhaften Schub an Verarbeitungen des amor hereos, der Liebesmelancholie, auslöst.17 Während Ficinos Neuinterpretation der Spiritusdoktrin auf die Kontemplation Platonischer Ideen zielte und eine sublimierte Form des Melancholikers als Wesen des Philosophen definierte, resultierte aus vielen vulgarisierten Rezeptionen seiner Texte eine Abwertung des Materiellen an sich und in scheinbar zwingender metaphorischer Kohärenz in Folge die Abwertung der Frau. In der katholischen Lehre galt der Körper spätestens seit Augustinus als Gefängnis der gottähnlichen Seele und wenn nun ein populärer Denker im Dienste eines mächtigen Staatsherrn eine weitere philosophische Fundierung der christlichen Jenseitsvorstellungen anbot, so ergänzte das kirchliche Disziplinierungsanliegen in einer insgesamt turbulenten Zeit. Diese Lesart dürfte durchaus auch von Ficino selbst intendiert gewesen sein, da er neben den Übersetzungen der Platonischen Dialoge und dem Symposion-Kommentar ein weiteres Hauptwerk namens Theologia platonica (1482) vorlegt, also schon im Titel eine Verknüpfung von platonischer Philosophie und Theologie intendiert. Insofern kann

17 Marsilio Ficino: Commentarium in convivium Platonis de amore, Florenz 1468. Zu Ficino gibt es eine lange und ausgezeichnete Forschungstradition, als Überblickswerke sind zu empfehlen: James Hankins: Plato in the Italian Renaissance. 2 Bände. Leiden: Brill 1990; darin: Band I, S. ­277–366 über Ficino, Brian P. Copenhaver/ Charles B. Schmitt: Renaissance philosophy (=A history of western philosophy: 3) Oxford: University Press 1992, zu Ficino vor allem S. 143–62. Einer der elegantesten Ficino-Forscher ist Michael Allen, siehe etwa: Michael J.B. Allen/Valery Rees: Marsilio Ficino. His theology, his philosophy, his legacy. Leiden: Brill 2002; Michael J. B. Allen: Icastes. Marsilio Ficino’s interpretation of Plato’s Sophist. Five studies and a critical edition with translation. Berkeley: University of California Press 1989; zu Ficinos Spirituslehre siehe die klassischen Aufsätze von Walker, etwa Daniel Pickering Walker: The astral body in Renaissance medicine. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 21/1958; Daniel Pickering Walker: Spiritual and demonic magic from Ficino to Campanella. London: Warburg Institute 1958, sowie den relative rezenten Aufsatz von Sergius Kodera: The Art of the Distillation of ›Spirits‹ as a Technological Model for Human Physiology. The Cases of Marsilio Ficino, Joseph Duchesne and Francis Bacon. In: Manfred Horstmannshof/Helen King/Claus Zittel (Hg.): Blood, Sweat and Tears. The Changing Concepts of Physiology from Antiquity into Early Modern Europe. Leiden: Brill 2012, S. 139–170; die Zusammenhänge zwischen Philosophie und Magie bei Ficino bearbeiten Ioan P. Couliano: Eros and Magic in the Renaissance. Chicago and London: Univerity of Chicago Press 1987; Paola Zambelli: L’ambigua natura della magia. Filosofi, streghe, riti nel Rinascimento. Milano: Il Saggiatore 1991, Guido Giglioni: Coping with Inner and Outer Demons: Marsilio Ficino’s Theory of the Imagination. In: Yasmin Haskell (Hg.): Diseases of the imagination and imaginary disease in the early modern period. Turnhout: Brepols Publishers 2011, S. 19–51.



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der Florentiner Gelehrte als konservativ gelten. Gleichzeitig ist Ficino aber auch ein Neuerer, der etwa durch seine Konzeption des Ingeniums zur Emanzipierung der Künste und Wissenschaften beiträgt. In diesem Sinne arbeitet er jene Seelenanteile stärker heraus, die bislang gegenüber der Kognition eher vernachlässigt wurden. So räumt er vor allem der Phantasie und auch dem Willen eine entscheidende Rolle für die Entwicklung des Menschen ein, mithin zwei seelische Vermögen, die in Kunst und Wissenschaft entscheidend sind. Hintergrund für den von Ficino aufgewerteten Phantasiebegriff bildet die Dominanz des Sehsinns, dessen Funktionszusammenhang er in seiner naturphilosophisch-medizinischen Lehre parallel zu neuen Konstruktionsparadigmen in der bildenden Kunst wie der von Filippo Brunelleschi perfektionierten Zentralperspektive entwickelt. Im Unterschied zu scholastischen Modellen unterscheidet Ficino nicht strikt zwischen Imagination und Phantasie. Beide sind Basis der menschlichen Kreativität, die das spielerische Instrument der Annäherung an die göttliche Schöpfungskraft darstellt. Der Wille wiederum ist bei Ficino eine Art sublimiertes Begehren, ein auf ein Höheres gerichteter Eros. Wille und Imagination sind im Aristotelischen Schema eigentlich der mittleren Seele zugeordnet, bei Ficino hingegen formen sie das Ingenium der Künstler und Wissenschaftler, deren Temperament ein Übermaß an schwarzer Galle ausweist, weshalb sie qua Natur Melancholiker, also eigentlich Liebende, sind – im Unterschied zu den akzidentiell von Liebessstrahlen befallenen Menschen. In jedem Fall lädt diese noch ganz mittelalterlich geprägte Temperamentdoktrin auch esoterische und magische Traditionen ein, da der inhärent dominante Charakterzug, also etwa die schwarze Galle, durch astrologische Konstellationen, durch magische Praktiken bzw. Phantasien der Mutter während der Zeugung u. ä. hervorgebracht wird. Ficino beschäftigt sich selbst mit Zahlenmagie und mit magischen Rezepturen. Neben der scholastischen Tradition, die an den Universitäten dominiert und die Aristotelische Philosophie in eine christliche Ethik einpasst, gibt es mit Ficinos Neuplatonismus ab der Frührenaissance nunmehr eine alternative philosophische Strömung, die vor allem Intellektuelle in den neuen urbanen Zentren Italiens anzieht. In Bezug auf das Leib-Seele-Problem lässt sich ­vergröbert feststellen, dass Neuplatoniker den Aristotelischen Hylemorphismus eher als vergeistigte Materie konzipieren. Es wäre allerdings unrichtig anzunehmen, dass in der Renaissance zwei säuberlich voneinander getrennte Denktraditionen koexistierten, vielmehr gibt es zwischen dem Aristotelismus, der vor allem für medizinische Belange von Bedeutung ist, und neuplatonischen Interpretationen wie etwa der Aufwertung der Imagination zahlreiche Überkreuzungen.

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Radikalisierungen des Aristotelismus Die von mir analysierten NaturphilosophInnen greifen zwar auch einige neuplatonische Konzepte auf, ihre wesentlichen Neuinterpretationen resultieren aber aus einer akzentuiert buchstäblichen Lesart Aristotelischer Naturphilosophie. Damit grenzen sie sich gegen jene beiden Felder ab, die Ficinos Werk für ihre Anliegen adaptieren: Naturmagie und Theologie. Wie ich an gegebener Stelle zeigen werde, bemühen sich vor allem medizinisch interessierte Philosophen im Umfeld der Universität Padua, Einmischungen von Seiten der Kirche damit abzuwehren, dass sie das Dogma der Unsterblichkeit der Seele18 in ihren Forschungen nicht berücksichtigen zu müssen. Zu diesem Zweck werten sie sämtliche Funktionen des menschlichen Organismus als Leistungen der spiritus und erklärten sich in Belangen der solcherart nur mehr rein abstrakt verbleibenden körperlosen transzendenten Seele für unzuständig. Die nunmehr rein physisch determinierten Funktionszusammenhänge ermöglichen es aber auch, Phänomene wie etwa die actio in distans, die bis dahin magisch erklärte Fernwirkung, zu naturalisieren und damit manche Problemstellungen aus dem Giftschrank arkaner Wissensbestände zu holen und dem Licht des neuen Erfahrungs-Paradigmas auszusetzen. In diesem Zusammenhang adaptieren viele der von mir untersuchten DenkerInnen auch stoische Paradigmen, wie etwa eine taktile Konzeption der species. Davon ausgehend stehen Körper in einer wechselseitigen Beziehung von Anziehung und Abstoßung, wofür immer wieder der Magnetismus als offensichtlicher Faszinationstyp herangezogen wird. Im Körperinneren ermöglichen spiritus, die subtilen Botenstoffe der Seele, innerhalb der frühneuzeitlichen Naturphilosophie plausible Modelle für physiologische Prozesse, die ansonsten kaum zu erklären wären, wie etwa die menschliche Wahrnehmung. In Übereinstimmung mit dem Aristotelischen Diktum, wonach der Mensch zunächst eine tabula rasa ist und erst mittels der Sinne zu Erkenntnissen gelangt, operationalisieren die untersuchten DenkerInnen intellektuelle Fähigkeiten aber im Unterschied zu scholastischen Prämissen analog zu diesem Wahrnehmungsmodell. Demnach ist Kognition gewissermaßen zu einer Wahrnehmung höherer Ordnung geworden. Das geht soweit, dass sie nur mehr eine Transmittersubstanz, den Spiritus animalis, annehmen. Dadurch wird die Triade der spiritus eingeebnet und die Dichotomie zwischen Materie und Form weitgehend zugunsten der ersteren aufgelöst.

18 Als solches wurde es auf dem Lateranischen Konzil 1513 fixiert.



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Rhetorik als Erkenntnislehre Frühneuzeitliche NaturphilosophInnen konzipierten den menschlichen Körper nicht vorrangig als Kompositum voneinander unabhängiger Organe, sondern betonten eine fließende und durchlässige Organisation des Körpers mit dem spiritus als Trägersubstanz für so unterschiedliche Prozesse wie Wachstum, Wahrnehmung und Wagemut. Aus diesem Grund dominieren in ihren Modellen auch Metaphern des Fließens und der Bewegung. In gewisser Weise scheint die Konzeption des spiritus als subtiler dampfartiger Botenstoff selbst eine Metonymie für den Prozess des Embodiment darzustellen, da er die Grenze zwischen Körperlichem und Geistigem auflöst und Anteil an beidem hat. Derartige Figuren basieren auf einem Weltbild, das sich als Netz struktureller Ähnlichkeiten darstellt, die rhetorisch re/konstruiert werden müssen. Der menschliche Organismus als Mikrokosmos widerspiegelt demnach die Ordnungsprinzipien des Makrokosmos und umgekehrt, die Reflexion drückt sich häufig in Analogien und Metaphern aus. Dass sowohl unser Imaginäres als auch unsere Sinnproduktion generell metaphorisch funktionieren, entspricht auch den Erkenntnissen neuerer Metapherntheorien wie z. B. von Hans Blumenberg, Mieke Bal und Lakoff/Johnson, wie ich sie in Kapitel 2 erläutert habe. Doch in der Frühen Neuzeit galt diese Erkenntnis unter Intellektuellen als Allgemeinplatz, schließlich war Rhetorik Teil des wissenschaftlichen Propädeutikums, der studia humanitatis. Der enge Zusammenhang zwischen Medizinphilosophie und Rhetorik wird im medizinischen Humanismus der Renaissance vor allem unter Rückgriff auf Platons Phaidros zusätzlich untermauert. In diesem Werk stellt Platon klar, dass Medizin und Rhetorik der gleichen Methodik folgen: Beide Felder müssen die Natur ihres Betrachtungsgegenstandes ergründen. Im Falle des Arztes ist das laut Platon der Körper, im Falle des Redners die Seele des Menschen.19 Diese Natur erschließt sich aber nur «umwegig» über Effekte, auf deren Ursachen gewissermaßen nur in Analogie zu bekannten ­Wirkzusammenhängen bzw. zu ähnlichen Fallgeschichten geschlossen werden kann. Deshalb ist das Dechiffrieren von Zeichen – körperliche Symptome im ersten, affektive Reaktionen im zweiten Fall – für diese hermeneutische Deduktion entscheidend.20 Wenn nun aber auch die Seele und deren Affekte als Körperteil bzw. dessen Funktionen verstanden werden, fallen Rhetorik und  Medizin ineinander. Tatsächlich gilt Rhetorik als Überzeugungskunst auch als eine ganz bedeutsame Form der Therapie, also eine etwas andere

19 Vgl. dazu Platon: Phaidros 270 b. 20 Zu dieser medizinischen Semiotik, die Platon von Hyppokrates herleitet, siehe Joel Warren Lidz: Medicine as Metaphor. In: Journal of Medicine and Philosophy 20/1995, S. 527–541.

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Art der «talking cure». Diese Auffassung scheint in Europa auf einer langen Tradition zu fußen, die wiederum laut Emile Benveniste ebenfalls eine metaphorische Ordnung reflektiert: Innerhalb dieser seien therapeutische Interventionen seit Jahrhunderten hierarchisch nach dem Ständeprinzip organisiert: Der Geistliche steht für das Gespräch, der Krieger für das Messer und der Bauer für Kräuter. Daraus habe sich eine Dreiteilung in Arzt (Gespräch), Chirurg (Messer) und Apotheker (Kräuter) entwickelt.21 Gerade in der Renaissance legen die physici auch besonderen Nachdruck auf die theoretische Fundierung ihrer Kunst und definieren diese auch dezidiert als Textwissenschaft, der sie im Unterschied zu den Chirurgen bzw. Barbieren zu einer ganzheitlichen Sicht auf ihr Fach befähigt. Was ich hier eingeschränkt für die Medizin dargestellt habe, gilt generell für die meisten NaturphilosophInnen der Frühen Neuzeit. Denn ihrer Überzeugung folgend, dass Naturerscheinungen gleichbleibenden Grundprinzipien gehorchen, gruppierten sie einzelne Phänomene zu Analogieordnungen. Am anschaulichsten lässt sich das in Bezug auf Bewegung zeigen. Ausgangspunkt für dieses Schlüsselthema frühneuzeitlicher Naturphilosophie ist die Aristotelische Unterscheidung von dynamis und energeia. Erstere steht für die inhärente passive Bewegung der Materie wie Wachstum, zweitere für willkürliche aktive Bewegungen. Wie ich vor allem in der ersten Transversale von Grenzziehungen darlegen werde, werden auch die einfachen Zuschreibungen von aktiv und passiv beweglich, woraus insgesamt ein vitalistischer Kosmos beweglicher Körper resultiert. Der passive, beharrende, Moment ist für diesen lebendigen Kosmos dabei ein durchaus positiver und notwendiger Faktor, als conatus charakterisiert er den Selbsterhaltungs- bzw. Selbstbehauptungstrieb alles Materiellen, innerhalb des menschlichen Organismus ebenso wie in anderen Naturdingen.

21 Vgl. dazu Emile Benveniste zit. nach Andrea Carlino: Les fondements humanistes de la médicine: rhétorique et anatomie à Padoue vers 1540. In: Andrea Carlino/Alexander Wenger (Hg.): Littérature et médicine: approches et perspectives (XVI–XIX siècle). Genf: Droz 2007, S. 19–47, hier: S. 19.

5 Leiblichkeit in feministischen und ­Gender-Theorien Wie andere Wissenschaftsfelder auch durchliefen feministische Forschung und Genderforschung seit der zweiten Frauenbewegung unterschiedliche Fokussierungen. Innerhalb der wissenschaftlichen Historiographie werden derartige Wenden oftmals als «turns» bezeichnet. Laut Doris Bachmann-Medick1 handelt es sich dabei nicht einfach um wechselnde Themenfelder, sondern um inhaltliche Schwerpunkte, die neuartige Analysekategorien und Theorienbildung hervorbringen und als solche nicht mehr einer spezifischen Disziplin zuzuschlagen sind, sondern inter- und transdisziplinäre Fragestellungen aufwerfen. Sie werden also «von Forschungsgegenständen zu Analysekategorien».2 Aus diesem Grund verstehe ich feministische und Gender-Theorien hier als umbrella-term, in dem je nach Thema und Entstehungszeitpunkt jeweils unterschiedliche Ansprüche und Annahmen repräsentiert sind. In den drei Hauptkapiteln dieser Arbeit werde ich diese vereinzelt näher erläutern. Gemäß den sozial- und kulturwissenschaftlichen Wendungen haben die Gender Studies den sogenannten «linguistic turn» – sogar besonders intensiv – mitvollzogen, den folgenden «cultural turn» gestalteten sie mit der Entwicklung vieler Paradigmen aktiv mit, und schließlich hatten sie auch Anteil am stärker Sinnes-orientierten «visual/pictorial turn». Dieser hat meiner Ansicht nach den «material turn» antizipiert, der gegenwärtig in den Sozial- und Kulturwissenschaften zu beobachten ist.3 Zuvor galten die Gender Studies lange Zeit als eher körperlos, d. h., sie blendeten die Materialität des menschlichen Körpers weitgehend aus ihren Theorien aus. Erst Ende der 1990er Jahre formulierten immer mehr ForscherInnen ein Unbehagen angesichts einer einseitigen Orientierung an der Diskursivierung von Geschlecht, die vor allem aus einer verkürzten Interpretation der Theorien Judith Butlers resultierte. Denn Butlers Radikalisierung, wonach nicht nur gender,

1 Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften. Reinbek: Rowohlt 2006. 2 Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 26 3 Feministische RezensentInnen der 13 Turns, die Bachmann-Medick definiert, monieren meiner Meinung nach zu Recht, dass sie von einem «gender turn» absieht, obwohl die Genderforschung alle Kriterien erfüllt, die sie selbst als konstitutiv für diese kulturwissenschaftlichen Wenden ansieht. Vgl. dazu: «Doris Bachmann-Medicks Cultural Turns Neuorientierung in den Kulturwissenschaften». Zur Diskussion gestellt von Christoph Conrad, Hanna Hacker, Barbara Lüthi und Elisabeth Timm in L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 8,2/2007, S. 23–38. DOI 10.1515/9783110521825-005

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das  kulturelle und soziale Geschlecht, sondern auch sex, das biologische Geschlecht, nur in seiner Zeichenhaftigkeit bedeutsam wird bzw. kulturell konstruiert ist, wurde vielfach dahingehend missverstanden, dass Leiblichkeit in Diskursivität aufginge, was Butler selbst in ihrem nachfolgenden Werk energisch beeinspruchte, wie der Titel bereits nahelegt: «bodies that matter».4 Seither kamen gerade aus den Gender Studies wichtige Anregungen für den sogenannten «material/corporeal turn».5 Das weiterhin anhaltende Forschungsinteresse am ‹Rohmaterial›, am ‹Substrat›, an der ‹res extensa› – um einige der häufig zitierten historischen Konzeptualisierungen zu nennen, gegen die die Gender Studies anschreiben – ist meiner Ansicht nach eine der vielversprechendsten und gleichzeitig riskantesten Wendungen, die feministische und Gender-Theorien genommen haben. Denn damit wird nichts Geringeres als das Fundament patriarchaler Dichotomien reorganisiert: Körper versus Geist/Seele; Natur versus Kultur/«nurture»; Materie versus Form – alle diese binären Konzepte gruppieren sich zu einer metaphorisch kohärenten Kette, die letztlich von der Dichotomie Mann/Frau unterlegt ist. Bevor der nächste «turn» erfolgt, ist es sinnvoll, die Beiträge der feministischen und Gender-Theorien zu der Des/organisation von Körperkonzepten zu sichten, um die dabei generierten Erkenntnisse und neuen Forschungsansätze, aber auch mögliche Desiderata, Risiken und Exklusionen benennen zu können. Eine probate Vorgehensweise dabei ist es, neuere feministische Körperkonzepte «neutralen», d. h. patriarchalen, Konzepten gegenüberzustellen, wie das Elisabeth Grosz schon relativ früh vorgeschlagen hat. Sie ist auch eine der wichtigsten Proponentinnen innerhalb eines feministischen «material turn».6

Zwei gegensätzliche Forschungstraditionen zum Geschlechtskörper Meinen Überblick zu jenen Vorschlägen aus den Gender Studies, die die binäre Logik von Geist/Körper bzw. Kultur/Natur und deren jeweiliges philosophisches 4 Judith Butler: Bodies that Matter: On the Discursive Limits of «Sex». New York: Routledge 1993. 5 Die Kontroverse wurde vor allem durch Judith Butlers erstes weltweit vielrezipiertes Buch Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, New York: Routledge 1990 ausgelöst. Zu den Kritikerinnen zähl(t)en etwa Barbara Duden: Die Frau ohne Unterleib. Zu Judith Butlers Entkörperung. In: Feministische Studien, 11/1993, S. 24–33; Martha C. Nussbaum: The Professor of Parody: The Hip Defeatism of Judith Butler. In: New Republic, Februar 1999; Nancy Fraser: False Antitheses: A Response to Seyla Benhabib and Judith Butler. In: Justice Interruptus: Critical Reflections on the «Postsocialist» Condition. New York: Routledge 1997. 6 Elizabeth Grosz: Volatile Bodies. Toward a Corporeal Feminism. Bloomington and Indianapolis: Indiana University Press 1994.



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Erbe hinterfragen bzw. aufzulösen trachten, starte ich deshalb mit Grosz’ flexibler Rahmung von «inside out» und «outside in», die laut Grosz allerdings ineinander übergehen und daher untrennbar sind, wofür sie den phänomenologischen Begriff des Körperbildes (body image) heranzieht, der beides integriert. Der erste Begriff («inside out») umfasst Positionen, die auf das Körperinnere fokussieren und davon ausgehen, dass dieses ständig seelische/geistige Prozesse auf die materielle Körperoberfläche projiziere und so das Subjekt erst hervorbringe. Dieser Ansatz dominiert vor allem in psychoanalytischer, phänomenologischer und neurophysiologischer Genderforschung. Eine gegenläufige Orientierung zeigt sich in soziologischen und politikwissenschaftlichen Analysen von Herrschaftsverhältnissen, die den Körper als Vehikel von Einschreibungen definieren («outside in»), wobei Disziplinierungspraxen gleichsam in die Körperoberfläche graviert werden und erst daraus die Vorstellung eines inneren Raums entsteht, der ein Subjekt ausformt. Die meisten VertreterInnen dieser Ausrichtung kommen aus den Sozial- und Kulturwissenschaften und lesen den Körper als Text, folgen also dem Paradigma der Diskursivierung von Geschlecht. Vereinfacht gesagt orientiert sich die erste Ausrichtung stärker an naturwissenschaftlicher und empirischer Forschung, während zweitere an der Rekonstruktion und Dekonstruktion sozialer Mechanismen und Machstrukturen interessiert ist. Innerhalb feministischer und Gender Forschung standen sich diese zwei unterschiedlichen Ansätze lange mit Misstrauen gegenüber: Die «inside out» ProponentInnen bezichtigten ihr Gegenüber vielfach als oberflächlich, selbstreferentiell und vage, während sie umgekehrt als essentialistisch und die patriarchale Ordnung stützend verdächtigt wurden. Nur wenige AutorInnen, wie etwa Anne Fausto-Sterling, als praktizierende Molekularbiologin, und Rosi Braidotti, eine poststrukturalistische Philosophin, – um zwei Vertreterinnen völlig unterschiedlicher disziplinärer Verortungen zu nennen – bemühten sich, die Kluft zu überwinden und beide Forschungsansätze zu vereinen bzw. Leiblichkeit und Zeichenhaftigkeit zusammenzudenken.7 Wie im zweiten Kapitel dargelegt, halte ich Metaphern für besonders wichtig bei der Erforschung von Körpermodellen. Denn folgen wir Lakoff und Johnson, handelt es sich dabei um die materiellsten Fundamente unserer Sprache, da sie unmittelbar auf Erfahrungen des Körpers in Raum-Zeit-Settings basieren. Eine ähnliche Konzeptualisierung liegt Judith Butlers innerphilosophischer Re-­ Rhetorisierung von «Bodies that matter» zugrunde, weshalb es wie erwähnt nicht

7 Siehe dazu etwa Rosi Braidotti: Transpositions. On Nomadic Ethics. Cambridge (UK): Polity Press 2006; Anne Fausto-Sterling: Sex/Gender: Biology in a Social World. New York: Routledge 2012.

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wirklich nachvollziehbar ist, warum sie immer wieder als Ikone der diskursiven Wende innerhalb der Gender Studies angegriffen wird.8 Doch darüber hinaus gibt es innerhalb feministischer und Gender-Theorien schon eine lange Tradition der Analyse von metaphorischen Konstruktionen natur- und lebenswissenschaftlicher Körpermodelle wie etwa von Nancy Tuana, Susan Bordo, Teresa de Lauretis, Judith Lorber und Lisa Moore, Nancy Hartsock, um nur einige zu nennen, die Leitvorstellungen von Medizin, Naturphilosophie und Biologie auf die ihnen figurativ eingeschriebenen Geschlechtervorstellungen hin untersuchen.9 Die meisten von ihnen argumentieren aus einer philosophischen Perspektive, ohne die historische Entwicklung hartnäckig wiederkehrender metaphorischer Konzepte ausreichend in den Blick zu nehmen. Jene, die historische Positionen berücksichtigen, tun dies oft in verkürzter bzw. gefilterter Lesart. Ich möchte das an zwei Beispielen erläutern: Einer der wenigen frühneuzeitlichen Autoren, die in feministischer und Gender Forschung zur Leib-Seele-Dichotomie immer wieder diskutiert werden, ist Baruch Spinoza. Aber die meisten feministischen Spinoza-Interpretationen wie etwa jene von Genevieve Lloyd oder Rosi Braidotti beziehen sich dabei sehr stark auf eine ausgesprochen tendenziöse Interpretation von Gilles Deleuze und Félix Guattari, deren antihumanistische und postmoderne Spinoza-Figur in neueren Texten zu einer fast kanonisierten und viel rezipierten Version wurde.10 Grosz wiederum rekurriert auf Friedrich Nietzsches körperphilosophische Ansätze, ohne deren massive Anleihen in der Frühen Neuzeit zu berücksichtigen, etwa aus der Naturphilosophie von Giordano Bruno. Neben dieser philosophischen Tradition gibt es auch einige feministische Wissenschaftlerinnen, die die Metaphorisierung der Natur- und Lebenswissenschaften von innen heraus thematisieren, da sie selbst in den jeweiligen Fächern ausgebildet und sozialisiert wurden wie etwa Karen Barad, Smilla Ebeling,

8 Judith Butler: Bodies That Matter: On the Discursive Limits of «Sex». New York: Routledge 1993. 9 Nancy Tuana (Hg.): Feminist Interpretations of Plato. University Park: Pennsylvania State University 1994; Susan Bordo: Twilight Zones: The Hidden Life of Cultural Images from Plato to O.J. Berkeley: University of California Press 1997 sowie Unbearable Weight: Feminism, Western Culture, and the Body. Berkeley: University of California Press 1993; Teresa de Lauretis: Technologies of Gender. Bloomington: Indiana University Press 1987; Judith Lorber/Lisa Moore: Gendered Bodies. Feminist Perspectives. Los Angeles: Roxbury Publishing Company 2007; Nancy Hartsock: The Feminist Standpoint: Developing the Ground for a Specifically Feminist Historical Materialism. In: S. Harding/M.B. Hintikka: Discovering Reality. Dordrecht: Reidel 1983. 10 Ich beziehe mich dabei auf folgende Werke: Genevieve Lloyd: Spinoza and the Ethics. London & New York: Routledge 1996; Rosi Braidotti: Metamorphosis. Towards a Materialist Theory of Becoming. Cambridge (UK): Polity Press 2002. Eine Ausnahme zu dieser selektiven Spinoza-Lesart bildet etwa Hasana Sharp: Spinoza and the Politics of Renaturalisation. Chicago: Univ. Press 2011.



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Evelyn Fox Keller, Donna Haraway, Sandra Harding oder Anne Fausto-Sterling.11 Diese Denkerinnen trugen dazu bei, die patriarchale und zumeist heterosexuelle Ausrichtung der Körperkonzepte in den Natur- und Lebenswissenschaften offenzulegen. Damit eröffneten sie faszinierende Erkenntnisse über die Konstruktion dieser wirkmächtigen Bedeutungsfelder, die historische Kontextualisierung ihrer Einsichten ist aber noch nicht sehr weit fortgeschritten, da feministische und Gender-Theorien meist nicht hinter das 18. Jahrhundert zurückreichen. So scheinen feministische Texte manchmal sogar ungewollt eine Naturalisierung patriarchaler Ordnungen zu untermauern, da sie sich der Aufdeckung von deren binären Strukturprinzipien widmen, ohne historische Alternativen und/oder Subversionen in den Blick zu nehmen. Aus diesem Grund möchte ich die Thesen der genannten feministischen und Gender Forscherinnen auf der Folie der historischen Modelle untersuchen. So wird sich zeigen, welche Elemente fehlen bzw. welche Fährten vergleichsweise riskant sind. Ich möchte das an einem weiteren Beispiel erläutern: Eine Möglichkeit für die Konzeption eines alternativen nicht essentialistischen Körpermodells bietet Rosi Braidottis Anregung «towards a materialist theory of becoming».12 Darin entwickelt sie Ansätze einer feministischen Ethik, die auf körperlichen Erfahrungen beruhen, ohne diese an ein klar definiertes, starres (weibliches) Subjekt zu knüpfen. Aus einer historischen Perspektive hätte etwa ihre darin enthaltene These der Bedeutung von Leidenschaften («passions») bei der Ausbildung einer verkörperten («embodied») Subjektivität durch eine Analyse von 11 Vgl. dazu Karen Barad: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham and London 2007, sowie Karen Barad: Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter. In: Corinna Bath u. a. (Hg.), Materialität denken. Studien zur technologischen Verkörperung – Hybride Artefakte, posthumane Körper. Bielefeld: Transcript 2005, S. 187–216; Smilla Ebeling: Parthenogenese gibt es eigentlich nicht. In: Marlen Bidwell-Steiner/Karin S. Wozonig (Hg.): Gender & Generation [Gendered Subjects Vol.2]. Innsbruck/ Wien/ Bozen: Studienverlag 2005; Evelyn Fox Keller: Making Sense of Life. Explaining Biological Development with Models, Metaphors, and Machines. Cambridge (USA) & London: University Press 2002; Donna Haraway: A Cyborg Manifesto: Science, Technology and Socialist-Feminism in the late twentieth Century. In The Cybercultures Reader, hg. von David Bell and Barbara M. Kennedy. London/New York: Routledge 2000, S. 291–344, sowie Donna Haraway: The Companion Species Manifesto: Dogs, People and Significant Otherness. Chicago: Prickly Paradigm Press, 2003; Sandra Harding: Whose Science? Whose Knowledge? Thinking from Women’s Life. Ithaka/New York: Cornell University Press 1991; Anne Fausto-Sterling: Refashioning Race: DNA and the Politics of Health Care. In: The Question of Embodiment. Differences: 15,3/2004, S. 1–37; sowie Anne Fausto-Sterling: Sexing the Body. Gender Politics and the Construction of Sexuality. New York: Basic 2000 und Anne Fausto-Sterling: Sex/Gender: Biology in a Social World. New York: Routledge 2012. 12 Braidotti: Metamorphosis.

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Affekttheorien der Frühen Neuzeit mehr Plausibilität erhalten, da diese viel stärker als körperliche Phänomene diskutiert werden, als das in manchen späteren Emotionsvorstellungen der Fall ist. Viele der rezenteren feministischen und Gender-Theorien radikalisieren die Ansätze von Braidotti, Grosz und Haraway und verbinden sie mit einer dezidiert politischen Haltung, die den dialektischen Materialismus zwar auf neoliberale Biopolitiken anwendet, gleichzeitig aber versucht, ihn seiner Dialektik zu entkleiden, um die Binarität geschlechtlicher Ordnungen zu überwinden.

Eine neue Ontologie Texte, die sich etwa seit der Jahrtausendwende unter Bezeichnungen wie new materialism bzw. material feminisms gruppieren, zeichnen sich zunächst durch einen emphatischen Ontologiebegriff aus.13 Was darunter zu verstehen ist, werde ich im Folgenden erläutern, eine Reflexion darüber scheint mir allerdings erst im Anschluss an meine komparatistische Analyse sinnvoll und wird daher in das Schlusswort Eingang finden. Ontologie bedeutet für die VertreterInnen des neuen Materialismus nicht bloß die Erforschung der Natur alles Seienden, sondern auch die Erforschung von deren Verstrickung mit Wertvorstellungen, Sinnproduktion, Identitätsfragen, mithin all jenen Phänomenen, die bislang eher als diskursiv betrachtet wurden.14 Es lässt sich also eine Gegenbewegung zu den postmodernen Wissenschaftsparadigmen von Konstruktivismus und Dekonstruktion beobachten: Wurde darin mit Nachdruck das schlichte So-Sein von Realitäten dementiert und/oder als Effekt von diskursiven Konstruktionen angesehen, nimmt eine neue Generation von ForscherInnen die Materialität von Diskursen in den Blick. Damit sind selbstverständlich nicht einfach nur Texte gemeint, sondern etwa jene Prozesse, in denen sich eine Idee als sozialer Akt manifestiert. So sind bereits zwei weitere wichtige Merkmale des rezenten Materialismus benannt: Prozesshaftigkeit und Transdisziplinarität. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen nicht vermeintlich stabile Entitäten, sondern dynamische Geschehen: «one could conclude, accordingly,

13 Die Begriffe sind zugleich Titel zweier umfassender Sammelbände der Hauptproponentinnen dieser Forschungsrichtung, siehe dazu: Stacy Alaimo/Susan Hekman (Hg.): Material Feminisms. Bloomington & Indianapolis: Indiana University Press 2008; Diana Coole/Samantha Frost (Hg.): New Materialisms, Ontology, Agency, and Politics. Durham & London: Duke University Press 2010. 14 Zu dieser Konfiguration von Ontologie siehe Stephen White: Sustaining Affirmation, S. 3.



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that ‹matter becomes› rather than that ‹matter is›».15 Mit diesem Verständnis korreliert auch eine veränderte sinnliche Qualität von Materie: Neuere Forschungen fokussieren nicht mehr auf das Werden von Substanzen, sondern vielmehr auf das Verdichten von Energien, von Kraftfeldern, von Dynamiken als ‹Wesensart› und gleichzeitig Potential von Materie. Dieser Ansatz verbindet rezente naturwissenschaftliche Forschungen mit philosophischen Traditionen, wenn es etwa um die Frage von Emergenzen geht. Statt eines mechanistischen und einseitig kausalen Wirkzusammenhangs wird die Verflechtung unterschiedlichster Kräfte interagierender Materien zum Ausgangspunkt der Forschung. Diesem Modell liegt einerseits eine Zusammenschau von philosophischen Konzepten, die Dynamik thematisieren wie etwa das von Gilles Deleuze, mit biologischen Erkenntnissen wie z. B. dem Butterfly Effekt zugrunde, andererseits physikalische und molekularbiologische Forschungen, die ebenfalls von multikausalen Netzwerken ausgehen. Ein solcherart eklektisches Programm entwickelt etwa die Physikerin und Genderforscherin Karen Barad in ihrer Studie zur Quantenphysik, womit sie auf die Verwobenheit von Materie und Bedeutung insistiert: Ausgehend von Niels Bohrs Konzeptualisierung von Apparaturen führt sie Michel Foucaults Diskurstheorie, Judith Butlers Performanzbegriff und Donna Haraways Posthumanismus eng: If performativity is linked not only to the formation of the subject but also to the production of the matter of bodies, as Butler’s account of «materialization»and Haraway’s notion of «materialized refiguration»suggest, then it is all the more important that we understand the nature of this production. Foucault’s analytic of power links discursive practices to the materiality of the body. However, his account is constrained by several important factors that severely limit the potential of his analysis and Butler’s performative elaboration, thereby forestalling an understanding of precisely how discursive practices produce material bodies.16

Für die Klärung des Wie, die sie bei Foucault vermisst, bietet Barad hoch suggestive metaphorische Sprachschöpfungen an, wie etwa die Begriffe intra-action, agential realist ontology und entangled, die allerdings ebenso viele sinnstiftende wie entbehrliche Assoziationen eröffnen, sodass die konkrete Interaktion oder «Intraaktion» von Materie und Performanz meiner Ansicht nach erst recht unklar bleibt. Was soll etwa das Adjektiv realist erhellen, wenn es um Ontologie geht?

15 Diana Coole/ Samantha Frost: Introducing the New Materialism. In: Diana Coole/ Samantha Frost (Hg.): New Materialisms, Ontology, Agency, and Politics. Durham & London: Duke University Press 2010, S. 1–47, hier: S. 10. 16 Karen Barad: Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter. In: Material Feminisms, S. 120–157, hier: 126–127.

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Die zweite Konsequenz, die aus dem Anspruch resultiert, Interaktionen unterschiedlichster Materialitäten zu analysieren, ist die oben bereits angedeutete disziplinüberschreitende Ausdehnung dessen, was als Materie gilt. Denn dieser neue Materialismus beansprucht nicht nur eine Verschränkung von natur- und lebenswissenschaftlichen mit sozialwissenschaftlichen Forschungen, sondern ist meist mit dem dezidierten Anspruch auf politische Praxis verbunden. Die darin postulierte entscheidende Erweiterung von Foucaults Begriff der Biopolitik besteht darin, dass der menschliche Körper in seiner Eigendynamik in den Blick genommen wird und nicht Subjekte, sondern agierende Körper Gegenstand der politischen Analyse ebenso wie konkreter politischer Aktion werden. Damit verbunden ist eine Verweigerung gegenüber Ansätzen von Identitätspolitiken, die durch die Konzentration auf die transformativen Kräfte verkörperter Handlungen in Machtverhältnissen ersetzt werden. Melissa A. Orlie geht dabei soweit, von «impersonal matter» zu sprechen. Sie übernimmt dafür Friedrich Nietzsches «Wille zur Macht», den sie aber – angeblich in Übereinstimmung mit dem deutschen Philosophen – keinem Subjekt überantwortet, sondern der sich im Widerstreit unterschiedlichster und manchmal widersprüchlicher Triebe, die uns als Individuen und als Kollektiv bewegen, modelliert. Wenn wir diese positiv fassen und ihr Drängen nicht durch Subjektvorstellungen blockieren würden, so Orlie in ihrer Deutung Nietzsches, hätten wir einen wesentlich unmittelbareren Zugang zu den Lebensenergien der Materie: To be cut off from life and the range of experience it entails, to lose a visceral sense of the  matter that composes us, is our human affliction. The body despairing of itself is our ­affliction because we become fixated by an image of our experience and a false impression of a self. As a result, our selves and our experience are limited by this image, typically in the form of a perception of the past joined to a projection about the future.17

Wie ich im folgenden Kapitel zeigen werde, weist diese affektiv aufgeladene ­Konzeption von Materie eine große Affinität zu Emotionstheorien des 16. Jahrhunderts auf. Die im Zitat zum Ausdruck gebrachte Skepsis gegenüber unseren kognitiven Verarbeitungen vollzieht freilich einen Schritt nicht, den sie sich zuvor selbst auferlegt: Konzipieren wir auch menschliche Kognition als verkörperten Prozess, oder wie Orlie es zuspitzt, als körperliche Aktivität, dann ist die Metapher von Bildern und falschen Eindrücken eigentlich fehl am Platz, da es sich um eine habituelle Ausrichtung des Körpers aufgrund vergangener – im Kontext des Zitats schmerzlicher – Erfahrungen handeln müsste, denen mithin ein ‹ontologischer› Status zukommt, der als solcher für MaterialistInnen ja eigentlich

17 Melissa A. Orlie: Impersonal Matter. In: New Materialisms, S. 116–139, hier: S. 123.



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­ nhintergehbar sein sollte. Auch die angesprochenen Metaphern aus dem Quellu bereich des Visuellen finden sich im 16. Jahrhundert, und zwar in neuplatonischen Texten, die das Zusammenspiel von Leib und Seele in Abgrenzung zu den von mir als materialistisch bezeichneten NaturphilosophInnen hin konzipieren. Das Zitat bringt zwei weitere Paradigmen des neuen Materialismus zum Ausdruck: Die Körper bzw. Materien, von denen hier die Rede ist, sind nicht vorrangig menschliche, denn die Selbstorganisation der Materie verdankt sich dem ­Austausch von Menschen, Artefakten, Tieren, Ideen, Technologien etc., die ihrerseits allesamt komplexe materielle Gebilde sind. Dieser Ansatz radikalisiert Donna Haraways Theorie des Posthumanismus, da es sich nicht einfach um eine Verbindung von Mensch, Artefakt, Tier, etc. handle, sondern sich dabei eine neue Materie ausbilde, die aus einem Wechselspiel der Bewegungen resultiert, welche der Eigendynamik der beteiligten Materien entsprechen. Der von Janet Bennett geprägte Begriff des «enchanted materialism», den Diana Coole und Samantha Frost als provokative Geste lesen, finde ich in diesem Zusammenhang unfreiwillig und völlig ironiefrei zutreffend, da manche Formulierungen der materiellen FeministInnen derart enthusiastische Allmachtsphantasien formulieren, dass magische Traditionen, wie ich sie in meinem dritten Haupt-Kapitel vorstelle, anklingen.18 Jedenfalls ist die forciert positive und vitalistische Konzeption von Materie, welche immer in Bewegung, immer selbsttransformierend, immer schöpferisch ist, eine sehr ausgeprägte Charakteristik aller TheoretikerInnen, die sich dem new materialism bzw. den feminist materialisms verschreiben. Wenngleich damit patriarchale Logiken von Kausalität, Linearität und Stabilität ausgehebelt werden, kommen mit Begriffen wie aktiv, produktiv, vital, exzessiv, kraftvoll doch lauter Epitheta auf die Materie zur Anwendung, denen aus meiner Sicht ein sehr maskulinistischer Subtext anhaftet, was angesichts vieler der ausgewählten Quellen – siehe etwa Nietzsche und Deleuze – vielleicht auch nicht verwundert. Den hohen Stellenwert von vitalistischen Systemen, an denen übrigens nicht nur Lebewesen, sondern auch unbelebte Materie Anteil hat, verdeutlicht das folgende Zitat: What is brought to the fore in this Marxist imperative is both monism and vitalism. Monism: matter and spirit must not be accepted as distinct beings but must be thought of as the outcome of an ongoing and active genesis. Vitalism: neither matter nor spirit should be accepted as simply being, but they should be viewed as nothing more than the process of always-productive becoming.19

18 Jane Bennett: The Enchantment of Modern Life, zit. nach Coole & Frost, New Materialisms, S. 9. 19 Claire Colebrook: On Not Becoming Man: The Materialist Politics of Unactualized Potential. In: Material Feminisms, S. 52–85, hier: S. 64.

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Wie ich in meiner Präsentation naturphilosophischer Konzepte des 16. Jahrhunderts erwähnte und in den folgenden Kapiteln weiter ausführe, spielen Vitalismus, Monismus, Materialismus und Naturalismus auch auf der anderen Seite der wissenschaftshistorischen Wasserscheide eine wichtige Rolle. Ich werde im Hauptteil dieser Arbeit entlang der Grenzverschiebungen bzw. Grenzauflösungen, die die im Zitat anklingenden -Ismen zu versprechen scheinen, einzelne Positionen aus beiden Korpora nach ihrer Argumentationsführung und ihrer Metaphorik in Hinblick auf folgende Bereiche befragen: zwischen Mensch und Artefakt, Mensch und Tier, Affekt und Bewegung. Ausgehend von dieser Gegenüberstellung werde ich in meinem Resümee nochmals auf die Frage zurückzukommen, ob diese Versprechen auch haltbar sind. Abschließend möchte ich an dieser Stelle nur darauf verweisen, dass es doch bemerkenswert ist, wenn eine Forschungsrichtung, die materielle Prozesse untersucht, problemlos so viele Ismen – oder überspitzt formuliert: Ideologien – ins Rennen führt. In Bezug auf die Frage, inwieweit diese umfassenden Ansprüche eines feministischen Materialismus auch den natur- und lebenswissenschaftlichen Mainstream beeinflussen, scheint mir aus einer anderen Beobachtung heraus leider wenig Optimismus geboten: Alle der genannten Theoretikerinnen – auch jene, die aus den ‹harten› Disziplinen kommen – sind inzwischen in Instituten der Frauen- und Geschlechterforschung tätig und werden auch vor allem innerhalb der feministischen und Gender Forschung rezipiert.20

20 Einzuwenden wäre die Ausnahme von Anne Fausto-Sterling, die neben ihrer Verankerung im Department of Gender Studies an der Brown University auch am molekularbiologischen Institut ihre Forschungen weiterführte. Zu der Problematik des Nischendaseins von feministischen Natur- und Lebenswissenschaftlerinnen siehe Kerstin Palm: Kanonisierungsweisen von Kanonkritik – die Geschlechterforschung zu Naturwissenschaften als Reflexionsmedium disziplinärer Kritikoptionen. In: Marlen Bidwell-Steiner/Karin Wozonig (Hg.): A Canon of Our Own? Kanonkritik und Kanonbildung in den Gender Studies. Innsbruck/Bozen/Wien: Studienverlag 2006, S. 76–89.

6 Umstrittene Grenzziehungen: Affekte, Emotionen, Passionen Der Mensch hat, neben dem Trieb der Fortpflanzung und dem zu essen und zu trinken, zwei Leidenschaften: Krach zu machen und nicht zuzuhören. Kurt Tucholsky

In der unüberschaubaren Abfolge wissenschaftlicher Trends, sogenannter turns,1 haben Emotionstheorien seit Beginn des 21. Jahrtausends Konjunktur. Ein implizites Versprechen des emotional bzw. affective turn2 ist es, interdisziplinären Austausch geltend zu machen. Denn Schlagworte wie «emotional intelligence» appellieren nicht nur an die Neurowissenschaften und deren Analyse innerpsychischer Prozesse, sie fordern den sozialwissenschaftlichen Blick auf soziale Interaktion jenseits normativer Erklärungsmuster ein und eröffnen schließlich Raum für eine Neuausrichtung ästhetischer und kreativer Strategien in den Kunst- und Kulturwissenschaften. Die komplexe Phänomenologie der Emotionen wird denn auch in so unterschiedlichen Fächern wie Kognitionspsychologie, Soziologie, Philosophie und Theaterwissenschaften erörtert. Deshalb ist die Frage nach den Gefühlen und deren körperlicher Gebundenheit für einen diachronen Vergleich besonders lohnend, da in der Frühen Neuzeit die einzelnen Disziplinen noch nicht klar ausdifferenziert waren und die Philosophie, gerade auch als Naturphilosophie, mit einem sehr weit gefassten Anthropologie-Begriff operierte. Die Wissensproduktion des 16. Jahrhunderts ist also gewissermaßen idealtypisch für eine interdisziplinäre Praxis, wie sie heute erst wieder eingeübt werden muss. In diesem Kapitel werden zunächst rezente Emotionstheorien vorgestellt und um Ergänzungen und kritischen Positionen aus den Gender Studies erweitert. In der Zusammenschau postmoderner Emotionstheorien und frühneuzeitlicher ­Konzeptionen der Affekte bzw. der Passionen wird deutlich, dass auf beiden Seiten der wissenschaftshistorisch etablierten Zäsur, die wir als Scientific Revolution umschreiben, der Anspruch auf ein holistisches Leib-Seele-Modell Neuansätze generiert. Auffällig ist, dass die meisten gegenwärtigen Konzepte auf wirkmächtige Emotionstheorien aus dem 17. und 18. Jahrhundert rekurrieren, namentlich auf Thomas Hobbes, René Descartes, John Locke, Baruch Spinoza 1 Doris Bachmann-Medick macht in ihrer Analyse dieser Paradigmenwechsel innerhalb der Kulturwissenschaften eine Absage an das Meisternarrativ des cultural turn aus, dem eine andere, auf Pluralisierung zielende, Geschichte der Kulturwissenschaften gegenübergestellt wird. Vgl. dazu Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. 2 Es gibt sogar einen gleichlautenden Sammelband: Patricia Ticineto Clough/Jean Halley (Hg.): The Affective Turn: Theorizing the Social. Durham: Duke University Press 2007. DOI 10.1515/9783110521825-006

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und David Hume. Diese beziehen nun aber ihre physiologischen und auch epistemologischen Grundlagen von jenen DenkerInnen, die im Zentrum meiner Forschung stehen, meist allerdings mit divergierendem erkenntnistheoretischen und strategischen Interesse. Eine Gegenüberstellung avancierter Positionen der  Frühen Neuzeit und deren späterer Adaptionen mit gegenwärtigen Emotionstheorien ermöglicht es daher, die Grenzen des Ganzheitsanspruches, der Theoretiker­Innen des 16. Jahrhunderts und heutigen feministischen und GenderTheoretiker­Innen gemein ist, herauszupräparieren. Wie kaum ein anderes Phänomen menschlicher Erfahrung stellen Emotionen aber auch jenseits des Wissenschaftsbetriebes exemplarische travelling concepts dar: Michel Foucault konstatiert für die Schwelle zwischen 16. und 17. Jahrhundert, dass im Subjektivierungsprozess an der Schwelle zur Neuzeit sich ausdifferenzierende Körperpolitiken individuelle Gefühlsregimes neu modellieren, die als Selbsttechnologie verinnerlicht werden;3 komplementär dazu weist Norbert Elias  aus der Perspektive eines kontinuierlichen Zivilisationsprozesses die herausragende Bedeutung der Affektregulierung für die höfische Gesellschaft absolutistischer Monarchien der Frühen Neuzeit nach.4 Aus kulturwissenschaftlicher Sicht lässt sich der Befund dieses Paradigmenwechsels durch die in diesem Zeitraum sich etablierende (massen)kulturelle Praxis des Theaters und dessen Apparatur der Gefühle präzisieren. Viele der physiologischen und medizinischen Debatten des 16. Jahrhunderts finden sich auch in den Dramen des 17. Jahrhunderts als mehr oder weniger verschlüsselte Beziehungskasuistik. Zum Elisabethianischen Theater, allen voran zu William Shakespeares Werken, gibt es hinsichtlich des Transfers zwischen anthropologischen Theorien und der Figurengestaltung auf der Bühne reichlich Forschungsliteratur.5 Ähnliche Forschungslinien sind für den mediterranen Raum erst im Entstehen.6 Dabei gibt es hinsichtlich der Rezeption durchaus Parallelen zwischen frühneuzeitlichem 3 Vgl. dazu Michel Foucault: Das Subjekt und die Macht. In: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Aus dem amerikanischen ­Englisch von Claus-Dieter Rath und Ulrich Raulff. Weinheim: Beltz, Athenäum 1994, S. 243–261 (Orig. 1982). 4 Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft: Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987. 5 Es soll hier keineswegs eine einseitige Kausaulbeziehung behauptet werden, denn wie ich im ersten Kapitel dieser Arbeit darlege, erfolgt der Transfer von Konzepten zwischen faktionalen und fiktionalen Texten nicht nach vorgegebenen Zeit- und Raumlogiken. 6 Beispiele für die Forschungstradition bezüglich des englischen Theaters wären etwa: Kaara L. Peterson: Popular Medicine, Hysterical Disease, and Social Controversy in Shakespeare’s England. Farnham: Ashgate Press 2010; Todd Howard James Pettigrew: Shakespeare and the Practice of



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spanischen und englischem Theater: Walter Cohen weist die außerordentliche Popularität bei einer sozial durchmischten urbanen Bevölkerung als gemeinsames Charakteristikum beider Theatertraditionen aus, was sich einem ähnlichen Nationswerdungsprozess verdanke.7 Im letzten Abschnitt dieses Kapitels werden daher zwei Stücke eines Virtuosen auf der Klaviatur der Gefühle analysiert: Pedro Calderón de la Barca spricht in seiner comedia Hija del aire die Emotionen der Zuschauer durch die Inszenierung eines Emotionsstaus auf der Bühne an; im Médico de su honra lässt er das Publikum daran teilhaben, wie Emotionen als Motor des Handelns eines Protagonisten generiert werden.

Neuere Theorien – Philosophie, Psychologie und Neurologie der Gefühle Furcht, Freude, Ärger, Stolz, Trauer, Hoffnung u. ä. subsumieren wir im Deutschen üblicherweise unter dem Begriff Gefühl. Bereits der Versuch einer Übersetzung in andere Sprachen führt exemplarisch vor Augen, wie schwierig diese ähnlichen, aber sehr komplexen und unterschiedlichen Erscheinungen zu definieren sind. Das englische feeling etwa ist enger gefasst und betont vor allem den phänomenologischen Aspekt, also das leibliche Spüren. Ein annähernd adäquater Begriff für Gefühl wäre im Englischen emotion. Dagegen bringt die spanische emoción einseitig den expressiven Anteil von Gefühlen zum Ausdruck, während sentimiento die Gesamtqualität des Begriffs Gefühl am besten wiedergibt. Im Unterschied zur deutschen Emotion beleuchten Gefühl oder sentimiento aber eher den subjektiven Erlebnisgehalt.8 Im Folgenden wird die Komplexität des Phänomens daher zunächst unter dem Terminus Emotion diskutiert, was auch mit der wissenschaftlichen Tradition im Deutschen und im Englischen im Einklang steht, da diese die gesamte Bandbreite des Phänomens zu erfassen versuchen:

Physic: Medical Narratives on the Early Modern English Stage. Cranbury: Rosemont Publishing 2007; F. David Hoeniger: Medicine and Shakespeare in the English Renaissance. Delaware: University Press 1992; Aubrey C. Kail: The Medical Mind of Shakespeare. Baltimore: Williams & Wilkons 1986. 7 Walter Cohen: Drama of a Nation. Public Theater in Renaissance England and Spain. Ithaka: Cornell University Press 1985. Cohen argumentiert, dass der Übergang von mittelalterlich feudaler Gesellschaft zu kapitalistischer Gesellschaft in Spanien und England anders als in Frankreich nicht mit einer flächendeckend wirksamen absolutistischen Herrschaft durchgesetzt worden sei. 8 Vgl. dazu Jo Labanyi: Doing Things: Emotion, Affect and Materiality. In: Journal of Spanish Cultural Studies, 11/2010, S. 223–233.

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Genese, Erlebnisgehalt und Effekte. Wenn aber einzelne Aspekte im Vordergrund stehen bzw. bestimmte begriffliche Traditionen in theoretische Konzepte Eingang finden, werde ich das entsprechend markieren. Philosophische Emotionstheorien9 konzentrieren sich im Wesentlichen auf drei Charakteristika, die allerdings widersprüchlich perspektiviert werden: Emotionen sind Gefühlserlebnisse, die jeweils eine unterschiedliche Qualität und eine unterschiedliche Intensität aufweisen. Darüber hinaus sind sie, wie die Tübinger Philosophin für Ethik, Sabine A. Döring, festhält «[...] wesentlich intentional (auf etwas in der Welt gerichtet) und haben einen repräsentationalen Inhalt (stellen die Welt als in bestimmter Weise seiend dar)».10 «In bestimmter Weise» impliziert ein weiteres Distinktionsmerkmal, das allerdings umstritten ist: Emotionen beinhalten Werturteile. Die Debatte verdankt sich dem Prozesscharakter von Emotionen. Denn während die ältere kognitivistische Schule zunächst davon ausging, dass erst dieses evaluative Moment die Unterscheidung der Spürqualität einzelner Emotionen ermöglicht, halten ­KritikerInnen entgegen, dass die Bewertung ein nachträglicher Akt, also eine Rationalisierung des Gefühlserlebnisses sei.11 In der rezenten neurologisch geprägten Kognitionstheorie liegt das Augenmerk wieder stärker auf der physiologischen Komponente von Emotionen. Kompliziert wird diese Theoriendebatte durch eine Unterscheidung in zwei traditionelle Schulen, die auf David Hume12 zurückgeht und als cognitive versus connative divide in den einschlägigen Disziplinen diskutiert wird. Grob vereinfacht postulieren Kognitivisten, dass Emotionen auf Urteilen und Überzeugungen gründen, was schon der Definition von Aristoteles entspricht. Die Gegenposition sieht Wünsche als Basis von Emotionen und beruft sich dabei zumeist auf René Descartes. Der folgenschwere Unterschied zwischen beiden

9 Einen guten Überblick über dieses selbstverständlich keineswegs homogene Feld bietet Peter Goldie (Hg.): The Oxford Handbook of Philosophy of Emotion. New York: Oxford University Press 2010; einen eher klassischen und kontinentaleuropäischen Zugang bietet Dominik Perler: Transformationen der Gefühle: Philosophische Emotionstheorien 1270–1670. Frankfurt/Main: Fischer Wissenschaft 2011; Mathias Rothe: Die Entstehung der Gefühle. Aspekte einer Geschichte des philosophischen Nachdenkens über Affekte. In: Clemens Risi/Jens Roselt (Hg.): Koordinaten der Leidenschaft. Berlin: Theater der Zeit 2009. 10 Sabine A. Döring: Allgemeine Einleitung: Philosophie der Gefühle heute. In: Diess. (Hg.): Philosophie der Gefühle. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2009, S. 12–69, hier: 15. 11 Vgl. dazu Brian Massumi: Parables of the Virtual: Movement, Affect, Sensation. Durham: Duke University Press 2002, S. 9. 12 Die Emotionstheorie Humes findet sich vor allem im zweiten Buch seines A Treatise of Human Nature: Being an Attempt to Introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects. (1739–1740; deutsch: Ein Traktat über die menschliche Natur).



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Auffassungen besteht darin, dass die konative Schule Emotionen überwiegend als vordiskursive und daher kontingente Phänomene beschreibt. Meiner Meinung nach vernachlässigt diese Interpretation allerdings wichtige Elemente in Descartes’ Emotionslehre, denn für ihn ist zwar nicht «la volonté», sondern vielmehr «le désir» ein Motor des Handelns. In Artikel LVII führt Descartes nun aber alle Emotionen auf ein Urteil nach dem Primärschema von l’Amour & la Haine zurück. Somit zielt der Wunsch auf eine Ökonomie der Selbsterhaltung, die durchaus rational motiviert ist. Die wesentlich komplexere semantische Bandbreite des naturphilosophischen Begriffs conatus werde ich in der Analyse der Emotionstheorien des 16. Jahrhunderts erörtern. Die zunehmend selektive Lesart der Passions de l’âme (1649) ist vermutlich einem Zirkelschluss der Cartesianischen Schule geschuldet, die aus der Synthese unterschiedlicher Texte von Descartes eine trennscharfe Theorie generiert, die in dessen Abhandlung der Leidenschaften so freilich nicht vorkommt. Dieser Zirkelschluss ließe sich wie folgt fassen: Alles, was nicht diskursiv ist, gehört der res extensa an, steht also in keiner Verbindung zur res cogitans, kann daher nur kontingent sein und kein kognitiv geleitetes Handeln generieren.13 In derartigen Interpretationen verschränken sich gleich mehrere Dichotomien, die abendländische Wissenschaftstraditionen nach der Scientific Revolution prägen, zu einer scheinbar unauflösbaren Aporie: Körper/Geist bzw. Seele, Subjekt/Objekt, Innen/Außen. Einen Versuch, diese Aporie zu umgehen, erschließt der bereits eingeführte Begriff der Intentionalität, die wie auch der Begriff des conatus auf historisch weit zurückliegende Konzepte rekurriert: Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt [...] oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden. Jedes enthält etwas als Objekt in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise. In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urteile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehasst, in dem Begehren begehrt usw. Diese intentionale Inexistenz ist den psychischen Phänomenen ausschließlich eigentümlich. Kein physisches Phänomen zeigt etwas Ähnliches.14

13 René Descartes (1649): Passions de l’âme/Die Leidenschaften der Seele, hg. und übers. von Klaus Hammacher. Hamburg: Meiner 1986, S. 96. Eine Kritik an verkürzten Descartes-Interpretationen leistet etwa Daniel M. Gross: The Secret History of Emotion. From Aristotle’s Rhetoric to Modern Brain Science. Chicago: University Press 2006, S. 21–43. 14 Franz Brentano (1874): Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd.I, hg. von O. Kraus. ­Hamburg: Meiner 1924, S. 124.

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Die in Brentanos Hinwendung zur Empirie schon angelegte «Gerichtetheit» psychischer Phänomene wird in den rezenten philosophischen Emotionstheorien unter dem Schlagwort «direction of fit» diskutiert. Wie Elisabeth Anscombe ausführt, weisen Emotionen als Kognitionen verstanden – also Gefühle, die auf Überzeugungen und Urteilen basieren – eine «mind to world – direction» auf, während sich die von Wünschen motivierten durch eine «world to mind – direction» definieren. Gefühle als Kognitionen zielen demnach auf Wahrheit, Gefühle als Wünsche auf Handlungen.15 Da auf diesen Gerichtetetheiten basierende Gefühlsschemata jeweils spezifischen Qualitäten von Emotionen nicht gerecht werden können, gibt es auch Versuche, den divide zu überbrücken. Der britische Philosoph Peter Goldie, der als einer der wichtigsten Vertreter seiner Zunft im 20. Jahrhundert den Zusammenhang von Ethik, Ästhetik und Emotionen wiederaufgegriffen hat, diskutiert etwa unterschiedliche Emotionstypen – körperliche Gefühle wie Herzrasen und sogenannte «(welt)gerichtete Gefühle» wie Furcht vor der Schlange –, um die damit verbundene Unterscheidung aber wieder abzuschwächen und stattdessen Prozesshaftigkeit und subjektive Qualität zu fokussieren: Das beste Verständnis der Emotionen einer Person berücksichtigt die Unterscheidungen, die ich diskutieren werde, ist aber gleichwohl dem allgemeinen Ansatz nach holistisch und faßt Gefühle als eingebettet in das Narrativ einer Emotion auf, als Teil des Lebens einer Person.16

Die Emphase auf die narrative Struktur von Emotionen entwickelt Goldie aus der Analyse unterschiedlicher Situationen, in denen Emotionen nicht oder zeitversetzt mit Empfinden korrelieren. So führt er etwa Schocksituationen an, in denen das körperliche Spüren erst nach dem unmittelbaren Erleben einsetzt und erklärt diese Inkongruenz mit der Unterscheidung in reflexives und nicht-reflexives Bewusstsein.17 Auch die Annahme, dass es neben dem eigentlichen Bewusstsein eine vorzeitliche Bewusstseinsinstanz gibt, findet sich in den Texten des 16. Jahrhunderts. Goldie wendet sich mit diesem diskursiven Zugang zu Emotionen explizit gegen jene Definitionen, die Charles Darwins The Expression of the Emotions in Man and Animal (1872) weiterentwickeln. Sie verstehen Emotionen zunächst als  «Affektprogramme», die im Menschen wie in höheren Tieren mehr oder weniger gleich ablaufen. Einer der Vertreter dieser Ausrichtung ist Paul Griffith, der aus dem Modell der Affektprogramme auch komplexere Emotionstypen

15 Vgl. dazu Elizabeth Anscombe: Intention. Oxford: Blackwell 1957. 16 Peter Goldie: Emotionen und Gefühle. In: Döring, Philosophie, S. 369–397, hier: S. 370. 17 Goldie: Emotionen, S. 385 ff.



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­ bleitet, die er als irruptive motivational states bezeichnet.18 Wie Affektprogramme a entziehen sich diese propositionalen Einstellungen von Seiten des Subjekts. Sie brechen über uns herein, sie sind also insofern «echte» Leidenschaften, als wir ihnen passiv ausgeliefert sind. Derartige Theorien legen besonderen Nachdruck auf die Physiologie des affektiven Erlebens, wie sie in den Neurowissenschaften erforscht werden. Ein wirkmächtiges Beispiel dafür sind etwa die sogenannten neuronalen Schaltkreise, die Joseph LeDoux für das Phänomen «Furcht» geltend macht. Mit dieser Maschinenmetapher beschreibt er den experimentellen Nachweis, dass im affektiven Erleben von Furcht und Aggression innerhalb des Limbischen Systems die Amygdala aktiviert ist, die wesentlich schneller agiere als die Bereiche des kognitiven Systems.19 Ausgerechnet diese eher empirisch und neurowissenschaftlich orientierten Affekttheorien beleben nun seit ungefähr zwanzig Jahren das kultur- und sozialwissenschaftliche Interesse an Emotionen.

Affektive Wendungen Selbstverständlich sind auch Affekttheorien nur im Plural zu haben, ihre Konzepte unterscheiden sich sowohl hinsichtlich der disziplinären Verortung und Tradition, als auch hinsichtlich ihrer Zielsetzung. Gregory Seigworth und Melissa Gregg stellen in ihrem Einführungsband zunächst zwei Haupt-Traditionsstränge einander gegenüber: Die bereits erwähnte Richtung der Psychobiologie greift darwinistische Ansätze auf und hat ihren prominentesten Vorreiter in Silvan Tomkins. Demgegenüber knüpfen die eher philosophischen Affektkonzeptionen an Gilles Deleuze und damit indirekt an Baruch Spinoza an.20 Diese poststrukturalistische Ausrichtung betont den relationalen Aspekt von Affekten, die als Wunschmaschinen gleichursprünglich Körper und Welt beleben, wie ich noch erläutern werde. Von diesen zwei Prototypen der Affekttheorien leiten Seigworth und Gregg acht Gruppen von Weiterentwicklungen ab, die unter Einbeziehung anderer Forschungsdisziplinen wie etwa Kybernetik oder Psychoanalyse neue Anwendungsfelder und Perspektivierungen gewinnen. Jenseits dieser Heterogenität geht es allen divergierenden Ansätzen letztlich um eine neue Ontologie: Im Fokus stehen 18 Paul Griffith: What Emotions Really Are: The Problem of Psychological Categories. Chicago: University Press 1997, S. 120–122. 19 Joseph LeDoux: The Emotional Brain: The Mysterious Underpinnings of Emotional Life. New York 1996. 20 Gregory J.Seigworth/Melissa Gregg: An Inventory of Shimmers. In: Dies. (Hg.): The Affect Theory Reader. Durham: Duke University Press 2010, S. 1–29, hier: S. 3–4.

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weniger Repräsentationen, sondern Materialitäten; weniger Subjekte, sondern Dynamiken. Die Disziplinen übergreifende Bewegung vom linguistic über den material zum affective turn zielt also auf eine Neudefinition von Wirklichkeit(en), um damit das Paradigma der Objektivität und des leidenschaftslos rationalen Zugriffs auf die Objektwelt radikal in Frage zu stellen und «all pre- or extra discursive reality»21 mit in den Blick zu nehmen. Schließlich tragen jene Netzwerkmodelle, wie sie im Zuge neuer Technologien in den Forschungen zu artificial intelligence und robotics entwickelt werden, dazu bei, die Dialektik von Subjekt und Objekt, von Geist und Materie, von Außen und Innen, von Real und Virtual als der Analyse untauglich zu verwerfen. Einer der renommiertesten Affekttheoretiker ist Mark Hansen. Er insistiert auf Eigendynamik und Eigenlogik von Materialität bzw. von Technologien, die sich der Repräsentation entziehen und im Wesentlichen prädiskursiv seien. Für den poststrukturalistischen Gestus, Technologien immer diskursiv zu assimilieren und logozentrischen Logiken unterzuordnen, prägt Hansen den Begriff der technesis.22 Diese ignoriere jedoch, dass es ein Wissen gebe, das unterhalb der Schwelle der Repräsentation ganzkörperlich erfahren werde und das «can only be experienced through mimetic reproduction, never through translation into language».23 Das außersprachliche Element menschlicher Verkörperung ist für Hansen der Affekt. Dieses Konzept verdeutlicht er in seiner Analyse der Wahrnehmung einer Kunstinstallation, für die der Künstler Roberto Lazzarini einen menschlichen Schädel digitalisierte und im Anschluss die Daten so verfremdete, dass zunächst verzerrte zweidimensionale Bilder des Schädels entstehen, die wiederum in vier dreidimensionale verzerrte Schädel umgeformt und an unterschiedlichen Punkten im Raum präsentiert werden. Die Verstörung, die angesichts unserer gewohnheitsmäßigen visuellen Perzeption und den Verfremdungen der «skulls» aufkommt, macht laut Hansen die Kluft zur technologischen Intervention, die unserer Wahrnehmung unzugänglich bleibt, aus. Es handle sich um ein [...] realignment of human experience from the visual register of perception (be it in an «optical» or «haptic» mode) to a properly bodily register of affectivity in which vision, losing its long-standing predominance, becomes a mere trigger for a nonvisual haptic apprehension.24 21 Monica Greco/Paul Stenner (Hg.): Emotions: A Social Science Reader. London: Routledge 2008, S. 9. 22 Diese Kritik exemplifiziert er ausgerechnet an Jacques Derrida, der ja seinerseits eine posthumanistische, anti-logozentrische Philosophie verfolgt. Vgl. dazu Mark Hansen: Embodying Technesis: Technology Beyond Writing, Studies in Literature and Science. Ann Arbor: University of Michigan Press, S. 75 ff. 23 Hansen: Embodying Technesis, S. 52. 24 Mark Hansen: New Philosophy for New Media. Cambridge: MIT Press 2004, S. 209.



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Am Beispiel dieser Installation arbeitet Hansen die Alterität der digitalen Sphäre heraus, die mit der Raum-Zeit-Orientierung unserer Verkörperungen nicht zur Deckung zu bringen sei. Dennoch bleibt unsere verkörperte Wahrnehmung der Referenzrahmen für die Effekte von «skulls», wie Lenoir in seinem Vorwort zu Hansens Text anmerkt: « The body continues to be the active framer of the image, even in a digital regime».25 Der Körper, von dem hier die Rede ist, ist vornehmlich ein affektiver Körper. Die Affektivität dient demnach dazu, das radikal Andere der digitalen Technologie ohne kognitive oder sprachliche Verarbeitung zu erfassen und sie sich auf diese Weise – in einem Modus, der mich an Marschall MacLuhans Medienbegriff erinnert – prothetisch einzuverleiben. Hansen greift in seiner Konzeption das von Humberto Maturana und Francisco Varela entwickelte Modell der Autopoeisis26 auf, demzufolge sich (menschliche) Materie in Interaktion mit der Umwelt in einem unentwegten Prozess der Selbstkonstitution befindet. Maturana und Varela bezeichnen die Strukturveränderungen, die in der Interaktion von Körpern entstehen, als «strukturelle Koppelung».27 Hansen untermauert seinerseits die dafür unabdingbaren zwei Elemente, wonach Leben immer «necessarily involves a structural coupling of an organism and an environment».28 Als eigentliches Agens dieser Koppelung zwischen Organismus und Umwelt firmiert Bewegung, womit erneut das Paradigma der Dynamik die Idee autonomer Subjekte dezentriert. Warum nun Sprache und Repräsentation aus dieser speziellen Koppelung von Technologie und menschlichem Körper ausgeklammert bleiben müssen, ist angesichts des Beispiels einer Kunstinstallation, die ja einen privilegierten Ort der Repräsentation darstellt und im konkreten Fall zudem an barocke diskursiv hoch aufgeladene Bildtraditionen der Anamorphosen anknüpft, nicht restlos nachvollziehbar. Zumindest auf Seiten des Künstlers lässt sich ein sehr konzeptueller und damit diskursiver Zugang rekonstruieren. Aber sind nicht auch die Algorithmen, welche die «skulls» zuallererst generierten, Produkte kognitiver und diskursiver Aktivitäten? Lassen nicht erst unsere Sehgewohnheiten, die an der Zentralperspektive geschult sind, die Verstörung der Verzerrung als affektiv reizvoll erscheinen? Und spielt nicht bereits der verzerrte Totenschädel im Bildnis von Hans Holbeins «Gesandte(n)» (1533) mit der Möglichkeit von Virtua-

25 Tim Lenoir: Haptic Vision: Computation, Media, and Embodiment in Mark Hansen’s New Phenomenology. In: Hansen: New philosophy 2004, S. xviii. 26 Francisco Varela/Humberto Maturana: Autopoiesis and Cognition: The Realization of the Living (Boston Studies in the Philosophy and History of Science). New York/Wien: Springer Verlag 1980. 27 Varela/Maturana: Autopoiesis, S. 85. 28 Hansen: New philosophy, S. 299.

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lität, ohne dafür diesen heute so strapazierten Begriff zu kennen? Auch Holbeins Effekt basiert auf ausgeklügelten technologischen Interventionen, die ungeschulten RezipientInnen nicht sinnlich nachvollziehbar sind. Und im Lichte eigener Erfahrungen in der Kunstbetrachtung würde ich konstatieren, dass emotionaler Genuss vielfach erst aus der Kenntnis der technologischen Verfasstheit rührt. Ich teile daher David Cecchettos Befund, dass Hansens Hypothese nicht haltbar sei, wonach […] the extra-discursive materiality of technology might be accessed, linguistically, without attaching a meaning to it that is foreign to this materiality. Such access, then, generates a bias that is naturalized through the notion of technology per se, since the latter masks its contingency.29

Insbesondere die Annahme, dass Technologien und menschliche Körper wechselseitig Strukturveränderungen auslösen, impliziert doch zwingend, dass derartige Strukturveränderungen Affekt, Wahrnehmung, Kognition, Imagination etc. nachhaltig informieren. Dieses Verb meint hier nicht eine reduktive und eindimensionale Übertragung von Daten im nachrichtentechnologischen Sinn, sondern bezieht seine eigentliche etymologische Wurzel ein: Ich denke, dass ein vordiskursiver Affekt ein ahistorisches, paradoxes transzendentes Konstrukt ist und möchte dem entgegenhalten, dass jede Erfahrung im gesamten Körper Einund Umformungen, oder um es mit Gilles Deleuze, einem weiteren Affekttheoretiker zu sagen, «Einfaltungen», nach sich zieht. Auch Deleuze übernimmt von den beiden chilenischen Biologen die Metapher der Autopoeisis für die kreative Kraft der Materie. Generell scheint mir signifikant, dass der material turn von Gilles Deleuze sich in besonders eingängigen rhetorischen Figuren vollzieht, was eine eigenartige Spannung zwischen dem Sprechen der Körper und dem Sprechen über (das Sprechen der) Körper hervorbringt, worauf ich noch zurückkomme. Deleuze begreift Affekte als Bewegungsimpulse von Körpern im Raum und kommt damit den frühneuzeitlichen Konzepten am nächsten, was sich wohl seiner Beschäftigung mit Baruch Spinoza verdankt. In Kombination mit der Relektüre des Werks eines herausragenden Denkers der Kategorie Zeit, Henri Bergson, entwickelt er daraus ein Modell des Affektiven, das nicht wie in der idealistischen Philosophie üblich, im Dienste einer aufsteigenden Zeitachse steht, sondern sogenannte «Transversale der Zeit» durchkreuzt, denn die logique du sens30 verbindet Vergangenheit und Zukunft

29 David Cecchetto: Deconstructing Affect: Posthumanism and Mark Hansen’s Media Theory. In: Theory Culture Society, 28,3/2011, S. 5. 30 Begriff nach Gilles Deleuze: Logique du sens. Paris: Les éditions de minuit 1969.



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im Gegenwärtigen chiastisch, indem das Werden aus der – kreativen oder besser autopoeitischen – Wiederholung des Gewesenen im Hier und Jetzt hervorgeht. Wiederholung ausgelöst durch Affekte wendet Deleuze zum eigentlich innovativen Moment und ganz dezidiert gegen ein Repressionsmodell von Verdrängung in der Psychoanalyse: Je ne répète pas parce que je refoule. Je refoule parce que je répète, j’oublie parce que je répète, Je ne peux vivre certaines choses ou certaines expériences que sur le mode de la répétion.31

Hier wird die Doppelbedeutung von sens im Französischen – Sinn und Richtung – unmittelbar erfahrbar, da durch die Richtungsumkehr des Erlebens sich ein anderer – bejahender – Sinn der affektiven Wiederholungsleistung ergibt, wodurch die Freudsche Forderung der Übersetzungsarbeit ins Bewusstsein abgewertet wird. Und tatsächlich zelebrieren die späteren – ausgerechnet mit dem Psychoanalytiker Félix Guattari gemeinsam verfassten Werke – die vitalistische Kraft des «Es», während das «Ich» nicht nur nicht Herr im eigenen Haus,32 sondern gewissermaßen delogiert wird: «Ça fonctionne partout, tantôt sans arrêt, tantôt discontinu. Ça respire, ça chauffe, ça mange. Ça chie, ça baise. Quelle erreur d’avoir dit le ça.»33 Die Affekte des Es bringen in Interaktion mit einem Kollektiv die bereits genannten Wunschmaschinen hervor, in denen die Phantasie gewissermaßen die Trias von Körper und Sprache komplimentiert. Auch die Aufwertung dieser Instanz findet sich in den Affekttheorien der Frühen Neuzeit. Das eigentlich depersonalisierte und chaotische Wirken der Phantasie hat aber nichts mehr mit den im Borromäischen Knoten Jacques Lacans sich zwar überschneidenden, aber dennoch getrennten Parametern von Realem, Imaginären und Symbolischen zu tun, da die Phantasie alle drei durchdringt, somit also nicht bloß dem Imaginären zuzuschlagen wäre. Und mit dieser Aufhebung hierarchischer Ordnung erheben Deleuze und Guattari auch die Forderung, die heteronormative Zweigeschlechtlichkeit zu dekonstruieren: Il faudrait dire le contraire: à la fois n’y a rien de commun entre les deux sexes, et ils ne cessent pas de communiquer l’un avec l’autre, sur un mode transversal où chaque sujet possède les deux, mais cloisonnés, et communique avec l’un ou l’autre d’un autre sujet.34

31 Gilles Deleuze: Différence et répétition. Paris: PUF 1968, S. 23. 32 Die Metapher stammt von Sigmund Freud (1917): Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse (GW Bd. XII). Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1999, S. 3–12, hier: S. 11. 33 Gilles Deleuze/Félix Guattari: L’Anti-OEdipe (1. Band von Capitalisme et Schizophrénie). Paris: Edition Minuit 1972, S. 7. 34 Deleuze/Guattari: L’Anti-Oedipe, S. 72.

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In diesem Zusammenhang wird verständlich, dass Deleuze als ein Vordenker des feminist materialism gewürdigt wird,35 der das Diskursive gegenüber der Performanz «unordentlicher» Körper scheinbar gering schätzt. Doch eine derartige Lesart von Deleuze übersieht nicht nur, dass er den Großteil seiner Ideen an literarischen bzw. literarisch verdichteten philosophischen Texten entwickelt, sondern auch die figurale, fast barocke Sprache seiner eigenen Schriften. Denn Deleuze und Guattari wenden das Konzept der Autopoiesis durchaus auch ins Sprachliche, indem in der Wiederholung die Zeichen ebenfalls als sich ständig neu konstituierende Signifikantenketten Veränderungen des sens kommunizieren.36 Die beiden Prozesse der Autopoeisis laufen nicht nur parallel, sie verschränken sich, womit die Dialektik von Natur und Kultur nicht länger haltbar ist. Oder anders ausgedrückt: Vorstellungen von Ursprüngen und Ursachen hinsichtlich des Zusammenwirkens der affizierten Körper und ihrer diskursiven Hervorbringungen greifen ins Leere. Wie ich noch zeigen werde, tritt dieses Element Deleuzscher Affektformationen bei nachfolgenden TheoretikerInnen in den Hintergrund, wodurch diese meiner Ansicht nach Dualismen – zwar in ihr Gegenteil verkehrt – aber doch erneut reproduzieren. Ein signifikantes Beispiel dafür ist der wirkmächtigste Theoretiker der neuen Affekttheorien, der in seiner Konzeption noch einen Schritt über Deleuzes vitalistisches Prinzip hinausgeht: Quantum indeterminacy puts affect at every level of matter such that the distinctions of living and non living, the biological and the physical, the natural and the cultural begin to fade.37

Für Brian Massumi und seine Anhänger ist Affekt letztlich so etwas wie materialisierte Intensität, ein Effekt einer plötzlich emergierenden Energie. Doch seine scheinbar so bahnbrechenden naturwissenschaftlichen Versuchsanordnungen nehmen gleichzeitig ein wichtiges Element der Deleuze’schen Kategorienlehre von Zeit und Raum zurück: Er baut auf das Modell von LeDoux auf und stellt fest, dass im Affekt der Furcht der physiologische Response vor dem Erleben und dieses kurz vor der kognitiven bzw. versprachlichten Reaktion eintritt. Daraus leitet er ab, dass Affekt, Empfindung und benennbare Emotion in einem zeitlichen Kontinuum stehen, das gewissermaßen von der Körperhülle ins Innere des Gehirns fortschreitet. Doch hier bleibt die Interaktion von Reiz und Reaktion in 35 Vgl. zum Beispiel Rosi Braidotti: Nomadic Subjects: Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory. New York: Columbia University Press 1994. 36 Vgl. dazu Deleuze: Logique. 37 Brian Massumi: Parables of the Virtual: Movement, Affect, Sensation. Durham: Duke University Press 2002, S. 39.



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einer Linearität einseitig gerichtet und darüber hinaus die Dualität von Innen und Außen aufrecht. Gleichzeitig reproduziert Massumi die Lokalisierung von Konzepten, die eine elaborierte Affekttheorie eigentlich hinterfragen müsste: Denn er räumt ein, dass der körperliche Stimulus wohl das Gehirn aktiviere, nicht aber dessen Kognitionszentrum. Abgesehen davon, dass wir gerade von Denker­Innen der Frühen Neuzeit lernen, dass Kognition ein komplexer Prozess ist, der vor allem auf verkörperten Wiederholungen und weniger auf zerebralen Verortungen basiert, sollte doch in Frage gestellt werden, welche Operationen in jener Hirnregion tatsächlich vonstatten gehen. Daraus resultiert dann auch die Problematisierung, ob denn jeder Affekt jeden Körper in jeder Situation gleichermaßen bewegt. Sind unterschiedliche physiologische Antworten auf gleiche Reize «nur» einer unterschiedlichen Materialität geschuldet? Oder ist diese Materialität nicht unvermeidlich eine diskursiv durchformte? Ich bin davon überzeugt, dass Affekte immer schon informierte – eingeformte – Körper bewegen. Diese Überzeugung gründet zunächst auf dem Versprechen, das mit der Hinwendung zum Affekt verknüpft ist: die Überwindung der Dichotomie von Körper und Geist, von Innen und Außen, von Subjekt und Objekt. Insbesondere Metaphern als die wohl körperlichsten Elemente unserer Sprache verdeutlichen, dass Körper ohne Diskurs und Diskurs ohne Körper nicht zu haben ist. Denn wie MetapherntheoretikerInnen zeigen, leiten sich diese Tropen als sprachlich-kognitive «Interaktionen»38 von unmittelbaren Raum- und Zeiterfahrungen her.39 Oder, wie es Hans Blumenberg fasst, von der dringenden verkörperten Orientierung des Mängelwesens Mensch: Der Mensch als das reiche Wesen verfügt über seinen Besitz an Wahrheit mit den Wirkungsmitteln des rhetorischen ornatus. Der Mensch als das arme Wesen bedarf der Rhetorik als der Kunst des Scheins, die ihn mit seinem Mangel an Wahrheit fertig werden lässt.40

Räumliche und zeitliche Aus- und Zurichtungen konstituieren demnach unser Sprechen, mittels dessen wir uns weitere Erfahrungen von Wirklichkeiten in Übertragungen erschließen. Dass auch das Sprechen an sich, ja selbst das wesentlich abstraktere Schreiben, ein körperlicher Akt ist, wird von den SkeptikerInnen diskursiver Theorien beredt ausgeblendet.

38 Terminus nach Ivor A. Richards: The Philosophy of Rhetoric. New York: Oxford University Press 1936. 39 George Lakoff/Mark Johnson: Metaphors we live by. Chicago/London: University of Chicago Press 1980. 40 Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Ästhetische und Metaphorologische Schriften. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 406–435, hier: S. 407.

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Das Sprechen im Hier und Jetzt ist aber nicht nur aufgrund der Schallwellen, die es hervorbringt, ein eigentlich taktiles Phänomen, es interagiert ja mit anderen Körpern unter Einsatz von Stimme, Mimik und Gestik. Und trotz des schon von Platon konstatierten Mangels der Schriftlichkeit, diese Unmittelbarkeit aufgrund seiner immanenten Diatopie und Diachronie nicht herstellen zu können, bleibt auch das Schreiben von der Mobilität der Finger, von der Sitz- oder Stehhaltung, von der Bewegung der Augen recht eigentlich «affiziert». Ähnliches gilt für das «reine Denken», das ja nicht im Vakuum erfolgt und überdies eng an das Sprechen gekoppelt ist. Wie die Einfaltungen von Körpern und Semiotik von der Affekttheorie der Frühen Neuzeit her weitere Plausibilität erhält, zeige ich an Leseproben ausgewählter Texte. Doch zuvor möchte ich noch das feministische Potential des affective turn hinterfragen.

Die affektive Arbeit an der De/Konstruktion von Geschlecht Innerhalb feministischer und Gender-Theorien bieten die von Massumi postulierten, wenngleich meiner Meinung nach in seinem Konzept nicht realisierten, Grenzauflösungen zahlreiche Anknüpfungspunkte. Da Ontologie im «westlichen» Denken im Wesentlichen entlang einer dichotomen und hierarchischen Metaphernkette41 organisiert ist, die die Frau auf der unterlegenen Seite von Natur und Körperlichkeit verortet, war die feministische Theorienbildung lange von einer Scheu vor dem Materiellen geprägt. Jeder Versuch, Körperprozesse zu benennen, läuft Gefahr, etablierte Essentialismen zu reproduzieren. Deshalb gibt es innerhalb der feministischen und Gender-Theorien viele Analysen darüber, wie sich patriarchale Disziplinierungsdispositive in den Körper einschreiben, ohne Aussagen darüber zu treffen, was dieser Körper sei. Elizabeth Grosz ist eine jener Forscherinnen, die diese Unterlassung auch im Sinne einer feministischen Politik kritisiert: […] we have forgotten the nature, the ontology of the body, the conditions under which bodies are enculturated, psychologised, given identity, historical location, and agency.42

Das seit den 1990er Jahren verstärkte Forschungsinteresse am Leiblichen greift Embodiment-Konzepte auf, die vor allem die Dynamik des Materiellen betonen.

41 Vgl. dazu George Lakoff/ Mark Johnson: Metaphors. 42 Elizabeth Grosz: The Nick of Time: Politics, Evolution, and the Untimely. Durham: Duke Univ. Press 2005, S. 2.



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Wenn nun Affekte, wie Massumi sagt, nichts anderes als Intensität sind,43 diese aber im Sinne von Deleuze gleichzeitig einen semiotischen Prozess in Gang bringt,44 versprechen sie einen neuen Zugang zum Körper, der diesen immer schon als kulturell durchformt begreift: Affect thus cannot be reduced to either ‹discourse› or ‹emotion›, but rather exceeds these categories; it is a material intensity that emerges via the ‹in-between› spaces of embodied encounters.45

Die zunehmende Skepsis gegenüber Identitätskonzepten innerhalb der feministischen und Gender-Theorien gründet in der Analyse, dass diesen ein Personenbegriff eingeschrieben ist, der idealtypisch den weißen Mann repräsentiert. Eine stärkere Akzentuierung von Räumen, die aus der Interaktion politisch handelnder Körper entstehen, muss nicht einen Identitäts- oder Subjektbegriff entlang der Achse race-class-gender dekonstruieren, um ihn gewissermaßen ex negativo zu reformulieren, wie das in manchen poststrukturalistischen feministischen und Gender-Theorien den Anschein hat. Vielmehr verliert eine Politik der Repräsentation und der Subjekte an Validität, wenn die Dynamik des Austauschs zwischen unterschiedlichsten AkteurInnen in den Blick genommen wird, wie es eine der Proponentinnen eines posthuman feminism, Patricia T. Clough, beschreibt: The agencies of the singular, subindividual, finite forces of mattering, therefore, refer to an interimplication of nature and culture all the way down, such that nature and culture are best understood as technonature and technoculture.46

Aber dieser auch von Seigworth und Gregg konstatierte «[…] shift away from the text and discourse as key theoretical touchstones and a vital re-centering of the body»47 könnte meiner Meinung nach auch für jene psychoanalytisch orientierten feministischen KritikerInnen interessant sein, die Jacques Lacans «nom/n du père» aufgreifen. Ihnen gelang es, die patriarchale Struktur der (Schrift)Sprache und damit jedweder abendländischer Kultur- und Ordnungssysteme offenzulegen. Das Weibliche als Chaos, als Dunkles, als Un-Ort, als das Andere des Phallischen Gesetzes ist im Lacanschen System nicht oder lediglich als Phantasma

43 Massumi: Parables, S. 27. 44 Vgl. dazu Gilles Deleuze: Différence et répétition. 45 Carolyn Pedwell/Anne Whitehead: Affecting Feminism: Questions of Feeling in Feminist Theory. In: Feminist Theory 13,2/2012, S. 115–129, hier: S. 116. 46 Patricia Ticineto Clough: The Technical Substrates of Unconscious Memory: Rereading Derrida’s Freud in the Age of Teletechnology. In: Sociological Theory 18,3/2000, S. 383–398, hier: S. 384. 47 Gregg/Seigworth: Affect Theory, S. 9.

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repräsentierbar. So gesehen kann es nur partiell und temporär in feministischen und Gender Politiken subversiv durchkreuzt werden. In meiner zugegeben zugespitzten Lesart kann der Ort des Weiblichen auch das Reale der Lacanschen Trias sein, das sich letztlich der symbolischen Ordnung verweigert. Damit erhielte das Weibliche gerade in seiner Verstrickung mit dem Affektiv-Materiellen eine subversive Kraft, da es sich gewissermaßen beständig autopoietisch erneuert und so dem Zugriff entzieht. Diese Denkfigur scheint mir den Reiz zu erklären, den Affekttheorien in den letzten Jahren auf einige feministische und Gender TheoretikerInnen ausüben. Denn sollten Affekte tatsächlich vordiskursiv sein, erlauben sie eine Öffnung zu einer Sphäre jenseits patriarchaler – symbolischer – Ordnung: «[…] emotions are imagined to provide a privileged source of truth about the self and its relations with others».48 Elaine Swan führt diese zunächst optimistische Perspektive ein, um sie allerdings unmittelbar darauf zu relativieren, indem sie für therapeutische Verfahren herausarbeitet, dass dieser Ansatz die «dangers in over-privileging emotions as the unalienated part of the self»49 unterschätzt. Die Falle, in die wir mit der Überbewertung des Affektiven geraten können, besteht daher meiner Meinung nach darin, Authentizität am Pathologischen festzumachen. Ich möchte im Anschluss aus einer weiter gefassten Perspektive die Schwierigkeiten und Gefahren einer emphatischen Aneignung von Affekttheorien von Seiten feministischer und Gender ForscherInnen diskutieren.

Grenzen feministischer Besetzungen des Affektiven Der Ansatz, Wahrheit über vordiskursive Empfindungen zu erschließen, ist aus mehreren Gründen eine riskante Verheißung. Zunächst erscheint es als fataler Rückschritt, ausgerechnet jene Sphäre als liberatorisches Potential anzunehmen, die seit der Aufklärung die Inferiorität der Frau begründet hatte: die Emotionen, die dem Weiblichen wesenhaft – ontologisch! – näher seien als rationale Kognition. Denn selbst wenn damit der Versuch einherginge, die männlich konnotierte kognitive Erkenntnisfähigkeit gegenüber der affektiven abzuwerten, bleibt der historisch aufgeladene Begriff der Wahrheit doch einer kognitiven Logik geschuldet. Wahrheit erhält in dieser Lesart wieder jene dekontextualisierte überzeitliche und allgemeingültige Strahlkraft, die eben erst mit dem Poststrukturalismus

48 Elaine Swan: You Make Me Feel like a Woman: Therapeutic Cultures and the Contagion of Femininity. In: Gender, Work and Organization, 15,1/2008, S. 88–107, hier: S. 89. 49 Swan: Make Me Feel, S. 91.



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aufwändig überwunden wurde. Das Affektive als das Andere der Ordnung weist überdies – wie bereits dargelegt – eine Affinität zum Pathologischen auf, was im komplementären Ausdruck «Passion» etymologisch angelegt ist. Die Frau ist aber aufgrund patriarchaler Ängste vor ihrer Physiologie historisch mit einer fatalen Tendenz zum Pathologischen belegt, womit ihr Ausschluss aus der öffentlichen Sphäre vielfach legitimiert wurde. Eine problematische politische Dimension einfacher Aneignungen von Affekttheorien legt Clare Hemmings offen. Sie betont, dass Affekte nicht einfach frei fließen, sondern dass sie an kulturellen und sozialen Normen ‹kleben›, eine Metapher, die sie von Sara Ahmed übernimmt. Komplementär zu dem von mir ideengeschichtlich gefassten Einwand ist Hemmings Befund, den sie entlang von Frantz Fanons Analyse des kolonialen Subjekts50 entwickelt: «[…]only for certain subjects can affect be thought of as attaching in an open way; others are so overassociated with affect that they themselves are the object of affective transfer».51 Überspitzt formuliert zeigt sich gerade in emotional aufgeladenen Situationen, dass Affekt als Verstärker bestehender Herrschaftsverhältnisse wirkt: Die Position der Macht gewinnt zur Technologie rationaler Logik jene der affektiven Anziehung bzw. Überzeugungskraft hinzu, während die Position der Subalternen durch einen Überschuss an affektiver Energie gesellschaftliche Ordnung und Harmonie vermeintlich zu destabilisieren droht. Ausgangspunkt von Hemmings Überlegungen ist Sara Ahmeds Analyse der sogenannten «affective economies», ein Konzept, das Emotionen nicht als innerpsychische Gefühlsangelegenheit begreift, sondern als Phänomene, die erst im sozialen Austausch entstehen und so Grenzen und Oberflächen zwischen Innen und Außen, zwischen Privat und Öffentlich, zwischen Subjekt und Anderen inszenieren. Ahmed verliert auch die Ebene der Zeichen nicht aus den Augen: This is what I would call the rippling effect of emotions; they move sideways (through ‹sticky› associations between signs, figures, and objects) as well as backward (repression always leaves its trace in the present – hence ‹what sticks› is also bound up with the ‹absent presence› of historicity).52

Ahmed führt diesen Prozess etwa am Beispiel von 9/11 vor, in dessen Folge die Differenzen innerhalb der Bevölkerung der Vereinigten Staaten zugunsten eines affektiv vermittelten nationalen Gemeinschaftsgefühls nivelliert worden seien, wodurch sich aber erst die Differenz zum ebenfalls kollektiv imaginierten Anderen

50 Vgl. dazu Frantz Fannon: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1981. 51 Clare Hemmings: Invoking Affect. In: Cultural Studies 19,5/2000, S. 548–567, hier: 561. 52 Sara Ahmed: Affective Economies. In: Social Text 79 22/2/2004, S. 117–139, hier: S. 120.

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umso stärker instituieren konnte. Diese Dynamik der Verschiebungen und Verdichtungen – die meiner Meinung nach in Nachfolge von Freuds Traumdeutung psychoanalytisch gewendet als Metonymien und Metaphern gelesen werden kann und somit auf ein kollektives Trauma deutet – relativiert aber die Möglichkeit, über eine affektive Leiblichkeit egalitäre Ökonomien in Gang zu bringen, da der Affekt nun mal nicht an unbestimmter Materialität ‹kleben› bleibt, sondern an gezeichneten Körpern. In Ahmeds affektiver Ökonomie sind Zeichen bedeutsam, wenngleich sie nicht klar herausarbeitet, dass Affekte der Zeichenhaftigkeit rhetorischer Figuren folgen. Denn obwohl sie stellenweise auch Freuds Trieblehre in den Blick nimmt, scheint Ahmed doch Massumis Paradigma zu folgen, wonach Affekte ein protosubjektives System außerhalb des Diskursiven und der Signifikation bilden.53 Manchmal ist es zielführend, die scheinbaren Vorzüge wissenschaftlicher turns an jenen Theorien zu überprüfen, gegen die sie sich implizit wenden. In Bezug auf Affekte bietet sich die Psychoanalyse an, auch wenn sich ein paar ­TheoretikerInnen bemühen, die mit dem wirkmächtigen Anti-Ödipus von Deleuze und Guattari auftretende Kluft zwischen den unterschiedlichen psychodynamischen Modellen zu überbrücken. Unzweifelhaft ist die Psychoanalyse genetisch in eine patriarchale Weltsicht eingebettet, sie agiert politikfern und subjektzentriert und verdichtet so die Schnittflächen zwischen Innen und Außen. Doch der Mediziner Sigmund Freud hatte ein recht ausgefeiltes Affekt-TraumaModell entwickelt, das gewisse Leerstellen in heutigen Affekttheorien erkennen lässt. Der strikten Trennung von Außen und Innen entspricht in Freuds Psychodynamik die Aufsplitterung in innere und äußere Impulse: Aktive Impulse von Seiten des Körperinneren sind laut Freud Triebe; Anstöße von außen, die das Individuum passiv erfährt bzw. erleidet, nennt er Affekte. Letztere fasst er tatsächlich wesentlich negativer als etwa Deleuze. Freud erweist sich in diesem Zusammenhang beinahe als Neostoiker.54 Denn Affekte strömen laut Freud unkontrolliert und werden zumeist als Unlust erlebt. In der Regel handelt es sich um psychophysische Erregungen, die über das Individuum hereinbrechen und daher abgewehrt werden müssen. Im extremen Fall ist die destruktive Kraft der Erregung so groß, dass sie ein Trauma bildet, welches durch Verschiebung, Ersatzbildung, Verdrängung oder als Symptombildung in der Konversion abgewehrt werden muss.55 Im Unterschied zu vielen AffekttheoretikerInnen von heute zielte Freuds ­Psychoanalyse 53 Massumi: Parables, S. 25. 54 Wie ich im folgenden Kapitel zur Grenzziehung zwischen Mensch und Tier erläutern werde, hatten die Stoiker einen sehr negativen Begriff von Affekt. 55 Vgl. dazu Sigmund Freud: Zur Ätiologie der Hysterie. In: Gesammelte Werke I. Frankfurt/ Main: Fischer 1999, S. 425–459; Eveline List: Psychoanalyse. Wien: Facultas 2009, S. 67–68.



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auf ­Therapie. Ungeachtet seines allgemein eher pessimistischen Habitus begegneten Affekte Freud daher in Pathologien, als verschobene und verdichtete Ängste, welche auch das eigentlich lebensbejahende Triebsystem derart in Schach hielten, dass sie sich im Leiden von PatientInnen manifestierten. So wird verständlich, warum er eine weniger vitalistische Auffassung der bewegten Körper im Blick hatte als Deleuze, Massumi und auch Ahmed. Doch welche «Kur» können jene für den Fall anbieten, dass die Affekte sich so ungebremst der Körper bemächtigen, dass sie diese brechen? Wird sich ein Kriegs- und/oder Vergewaltigungsopfer damit trösten können, dass ihm die Kraft zur Autopoiesis innewohnt? Oder muss eine antisubjektivistische Ethik destruktive Energien schlicht in Kauf nehmen? Das politische Mobilisierungspotential, das dem Modell von sich wechselseitig bewegenden Körpern eignet, lässt sich auch ins Gegenteil verkehren: als destruktive Macht der «Meute». Diesen in der Moderne viel gebrauchten Terminus für das Phänomen der Massengesellschaft besetzte Deleuze im Umfeld der sozialen Bewegungen der 1968er Jahre positiv. Angesichts kollektiver Hysterien bei Fußballspielen, Rockkonzerten oder gar (neo)faschistischen Aufmärschen bzw. shit-storms im Internet kann die äußerst fragwürdige männerbündische Konnotation des Begriffs allerdings gerade aus feministischer Sicht nicht restlos ins Positive verkehrt werden. Wie schon erwähnt wirkt in diesem Zusammenhang auch das Sprechen über affizierte Körper entlarvend: Die Entgrenzungsphantasien, die Deleuze und Guattari mit ihrem Programm des Werdens (devenir-intense, devinir-animal, devenir-imperceptible) zelebrieren, welches viele GenderforscherInnen affirmativ aufgreifen,56 bewegen sich im Rahmen des Numinosen, des Abjekten, des dezidiert Antihumanistischen. Kann ein Anti-Ödipus, der die Kraft der Imagination aus der Negation schöpft, der Ratte-Werden, Wolf-Werden und – die Aneinanderreihung ist aufschlussreich – Frau-Werden als Kampfansage gegen die ödipalen Anmutungen von kapitalistischer Entfremdung ausruft, tatsächlich auch eine Nomadologie der – geschlechtlich, sexuell, ethnisch... – Anderen in Szene setzen? Oder werden die «Meuten» der Anderen dadurch nicht vielmehr zu Monaden, zu sozialen Inseln, innerhalb derer sie Differenzen in der performativen Mimikry des ­Ödipalen erneut inszenieren? Abgesehen von diesen konkreten Problematisierungen alternativer Körperpolitiken wirft die von AffekttheoretikerInnen immer wieder nachdrücklich beschriebene Qualität des Affektiven aus Perspektive der Gender Studies tiefer greifende strukturelle Probleme auf. Wenn nämlich Affekte losgelöst von kogni-

56 Vgl. dazu den Sammelband Chrysanthi Nigianni/Merl Storr (Hg.): Deleuze and Queer Theory. Edingburgh: University Press 2009.

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tiver Verarbeitung eine Dynamik entwickeln, setzt das einige der ethischen Vorstellungen außer Kraft, die feministische und Gender Forschung gerade mit ihrer Postulierung einer posthumanen Ära einfordern, wie etwa eine größere Empathie gegenüber unserer Umwelt. Denn führt der Affekt außerhalb einer Wertehaltung ein Eigenleben, entzieht er sich ethischer Beurteilung und damit auch der Modellierung. Ruth Leys übt an der Indifferenz, die dieses ideologiefreie Affektregime impliziert, scharfe Kritik: For […] the affect theorists […] political campaigns, advertising, literature, visual images, and the mass media are all mechanisms for producing such effects below the threshold of meaning and ideology.57

Ein autonomes System der Affekte reifiziert darüber hinaus auch auf epistemologischer Ebene jene Dichotomie, die feministische und Gender Forschung seit Jahrzehnten auszuhebeln trachten. Denn die Intensität der Affekte gehört in dieser Konzeption der materiellen Sphäre an. Damit bliebe die grundsätzliche Hierarchie der eingangs eingeführten Metaphernkette intakt: Affekt ist gleich Materie ist gleich weiblich und damit der männlich konnotierten Ratio entgegengesetzt. Gleichzeitig sind Energie, Impuls, Intensität traditionell am gegenüberliegenden Pol der Geschlechterordnung verankert. So haftet den emphatisch vitalistischen Energie- und Kräftevorstellungen eine maskulinistische Rhetorik an, die sich der Anderen zu bemächtigen bzw. in einem den europäischen Orientalismusvorstellungen des 19. Jahrhunderts nicht unähnlichen Gestus sich diese einzuverleiben droht. Die viel beschworene Grenzauflösung zwischen den abendländischen Dualismen kann damit erneut nur partiell auf Seiten des westlichen männlichen Intellektuellen bzw. Künstlers eingelöst werden, da dieser nun beide Achsen besetzen kann. Mein vorläufiger Befund lautet daher, dass Verkörperungen immer schon angerufen, gezeichnet und diskursiviert sind. Deshalb kann Affektivität auch nicht im Vordiskursiven verharren, wie das die Ausführungen Massumis u. a. zu suggerieren scheinen. Vielmehr ist diese Zuschreibung schon als Apriori ein Konstrukt, denn im Wechselspiel der Körper emergieren Affekte abhängig von geformter Materie. Je nach Vorerfahrung, je nach Sensibilisierung der Wahrnehmung, je nach habitueller Körperspannung erreichen uns diese Energien in unterschiedlicher Intensität. Die in Emotionstheorien vielzitierte Begegnung mit der Schlange affiziert Wüstenbewohnerinnen sicherlich anders als den von Psychoanalyse und Surrealismus vorinformierten Europäer, dessen Affekt vielleicht ein widersprüchliches Amalgam von Furcht, Abscheu und sexueller Erregung ist

57 Ruth Leys: The Turn to Affect: A Critique. In: Critical Inquiry 37/2011, S. 434–472, hier: 451.



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und damit der Deleuzschen Affinität zum gefährlichen Tier nahe kommt.58 Affekttheorien greifen daher weitgehend ins Leere, wenn sie nicht als Phänomene der verkörperten Ratio, der verkörperten Erinnerung, der verkörperten Sprache betrachtet werden. Deshalb kann weder feministische Wissenschaft noch feministische Politik – sofern diese Bereiche überhaupt zu trennen sind – auf die Analyse der rhetorischen Aufladungen von Materialismen und Körperpolitiken verzichten. Auffällig scheint mir, dass die mancherorts beobachtbare Preisgabe diskursiver oder epistemologischer Genderforschung zeitlich damit korreliert, dass Frauen zumindest in der westlichen Welt – endlich – symbolische Ordnungen erfolgreich durchkreuzen und scheinbar festgezurrte Dispositive erobern. Ähnliches gilt auch für LGBT-Gruppierungen, die innerhalb der Queer Studies vielleicht die bislang vielversprechendsten Verschränkungen von affektiver Körperperformanz mit diskursiven bzw. rhetorischen Theorienansätzen anzubieten haben.59 Zu glauben, dass derartige «Fortschritte» sich gewissermaßen autopoetisch linear perpetuieren, hieße, hinter die eigenen analytischen Ansprüche zurückzugehen und eine unstatthafte Naturalisierung zu setzen. Die Frauen- und Geschlechtergeschichte lehrt uns dagegen, dass Inklusionen und Exklusionen immer wieder aufs Neue verhandelt werden müssen.60 Die soziale Konstruktion von Geschlecht und damit auch die Konstruktion von Begehren bzw. von Affekten sollte für die Gender Forschung unhintergehbares Paradigma bleiben. Das impliziert keinen «linguistic re-turn»: Soziale Konstruktionen modellieren sich im doing gender, welches affektives «Schieben» und «Ziehen» ebenso umfasst wie die Performanz der körperlichen Memoria und die sprachlich-symbolische Bewältigung sinnlicher Erfahrungen.61 Eine der überzeugendsten Positionen feministischer Ethik, die sich mit den Konzepten der Autopoiesis bei Deleuze/Guattari und anderen auseinandersetzt, bietet Nancy Katharine Hayles. Sie operiert wie ich rhetorisch und weist nach, dass die Entgrenzungsphantasien der französischen Philosophen weniger auf einem stringenten Gegenmodell zu humanistischen Leitvorstellungen von

58 Vgl dazu Deleuze/Guattari: Anti-Oedipe, sowie das nachfolgende Kapitel zur Grenzziehung zwischen Mensch und Tier. 59 In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass die zurzeit wichtigste Theoretikerin der Gender und der Queer Studies, Judith Butler, einen Lehrstuhl für Rhetorik innehat. 60 Vgl. dazu die mehrbändige Histoire des femmes en Occident, herausgegeben von George Duby und Michelle Perrot. 61 Zu dieser Körpergebundenheit unserer Affekte siehe Martha Nussbaum: Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge. In: Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge. Drei philosophische Aufsätze. Stuttgart: Reclam 2002, S. 163–234.

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­ ubjektivität, Diskursivität und abgeschlossenen Organismen basieren, sondern S vielmehr schon als Text eine einzige persuasive Wunschmaschine seien: Within their text, desire manifests itself through a powerful rhetoric that accomplishes through description what cannot be accomplished through physical processes. The engine of desire that breaks up subjectivity, organism and signification is not the desire of mutating machines but rather that of the authors who perform themselves and others as assemblages through metaphoric language.62

Hayles gilt als eine der prominentesten VertreterInnen eines Posthumanismus. Ihre Kritik an «Mille Plateaus» eignet sich daher, eine Differenzierung zwischen Antihumanismus und Posthumanismus vorzunehmen. Hayles geht es nämlich nicht um eine Überwindung – oder wie es bei Deleuze anmutet – um eine Auslöschung des Menschen, sondern um ein Modell einer Interaktion zwischen Menschen, anderen Lebewesen und Maschinen. Ihre Ethik leitet sie in diesem Zusammenhang wesentlich unmittelbarer vom Autopoiesis-Begriff der Evolutionsbiologie ab. Dieser führt das spontane Emergieren und Knüpfen neuer Koppelungen nämlich mit Grenzen bzw. Widerständen (constraints) der jeweiligen Materien zusammen. Für das Gelingen struktureller Koppelungen sind demnach vor allem Feedbackschleifen notwendig. Zwar betonen auch Deleuze und Guattari die Notwendigkeit von Wiederholungen, aber laut Hayles ist das eher einer performativen Haltung geschuldet als einer Auseinandersetzung mit den komplexen Modellen der Evolutionsbiologie, die das Entstehen neuer Lebensformen als Interaktion von Anstößen und Widerständen begreift, die alle Agenten im System verändert. Dieses Postulat einer physischen Dynamik von Anziehung und Abstoßung prägt auch die Naturphilosophie der Frühen Neuzeit. Im folgenden Kapitel werde ich das am Beispiel eines «affective turn» in der Spätrenaissance ausführen. Einzelne Positionen des 16. Jahrhunderts scheinen mit den bisher eingeführten Texten in Dialog zu treten und ermöglichen damit Vertiefungen, aber auch Abgrenzungen. Ob sie auch hinsichtlich der Zweifel und der Kritik, wie ich sie in Bezug auf rezente Affekttheorien einmahne, historische Alternativen anbieten, wird sich zeigen.

Emotionen in Leib-Seele-Debatten des 16. Jahrhunderts Die Frage nach Grenzziehungen und Grenzverschiebungen innerhalb frühneuzeitlicher Körperkonzepte lässt sich am Thema «Emotion» besonders augenscheinlich verhandeln. Emotionen unterlaufen die Unterscheidung von Äußerem 62 Nancy Katherine Hayles: Desiring Agency, Limiting Metaphors and Enabling Constraints in Dawkins and Deleuze/Guattari. In: SubStance, Bd. 30, 1&2, S. 144–159, hier: 155.



Emotionen in Leib-Seele-Debatten des 16. Jahrhunderts 

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und Innerem des Körpers ebenso wie jene von Subjekt und Sozietät. Gewissermaßen symbolisieren Emotionen menschliche Grenzerfahrung schlechthin. Ihr hybrider Charakter wird daher im 16. und 17. Jahrhundert intensiv diskutiert: Ärger beschleunigt den Herzschlag, Scham lässt uns erröten und Furcht macht uns zittern – Emotionen sind leibliche Phänomene und daher ein Kernproblem Frühneuzeitlicher Physiologie. Begehren macht blind für die Defizite seines Objekts, Eifersucht korrumpiert die Urteilskraft und Freundschaft ist gleichsam das fünfte Element – Emotionen sind Bewegungen der Seele und bedürfen daher ethischer Korrektur. Emotionen modellieren soziale Interaktion, ja, sie modellieren sich in sozialer Interaktion, sie sind somit ein ebenso wirkmächtiges wie gefährliches Agens in der Organisation von Körperpolitiken.63 Die Vielgestalt des Phänomens korrespondiert seit der Antike mit unterschiedlichen Begriffen. Die geläufigsten Termini ‹Passion› und ‹Affekt› akzentuieren jeweils komplementäre Aspekte der Seelenregungen: ihre Zusammenschau umspannt der Begriff ‹Emotion›. Wie etwa Susan James im Rahmen ihrer Studie zu Emotionstheorien des 17. Jahrhunderts ausführt, gibt schon die Präferenz der Terminologie Aufschluss über die philosophische – und wie ich hinzufügen möchte ideologische – Traditionslinie, in die sich AutorInnen einschreiben: To classify a state as a passion or affect is to say something about its metaphysical and causal status, and something about its epistemological credentials […] it is to place it in a hierarchical structure of human thoughts and feelings and a broader topography of the mind and body, each replete with moral significance. So when Descartes names his treatise Les Passions de l’ame, or when Spinoza offers general definitions of the affects (Affectuum Definitiones), the terms they use carry with them a web of implications as to what the emotions are and how they work.64

Allerdings lassen sich die Begriffe nicht auf die einfache Formel von passiven versus aktive Seelenbewegungen bringen. Im Aristotelismus, der mit all den unterschiedlichen Filtern und Adaptierungen bis hinein ins 18. Jahrhundert die Reverenz für Emotionstheorien bildet, muss zwischen der Seele an sich und der nach dem Prinzip des Hylemorphismus körperlich gebundenen Seele unterschieden werden. Während die Seele nun ihrer eigentlichen Substanz nach gleich dem unbewegten Beweger – bzw. in der christlichen Einfärbung gleich einem göttlich-transzendenten Prinzip – reine Aktivität darstellt, verfügt die verkörperte Seele über unterschiedliche Fakultäten, die als vegetative, sensitive

63 Alle diese Positionen finden sich nicht nur in rezenten Texten zu Biopolitiken, sondern auch in den hier analysierten Texten des 16. Jahrhunderts und werden in Folge detaillierter behandelt. 64 Susan James: Passion and Action: The Emotions in Seventeenth-century Philosophy. Oxford: Clarendon Press 1997.

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und intelligible Seele verhandelt werden. Für Aristoteles sind nun die vegetative sowie die intelligible Seelenfakultät des Leibkompositums aktiv, die sensitive passiv. Wie begründet er das? Die vegetative Seele geht ihrer Aufgabe, Essen in eine andere Form, nämlich Nährstoffe für den Organismus zu überführen, aktiv nach. Ebenso ist es der intelligiblen Seele gegeben, selbstständig abstrahierte Formen zu immer neuen Formen zu kombinieren. Die sensitive Seele dagegen nimmt Eindrücke von außen auf, sie bleibt laut Aristoteles diesem Affizieren der Objektwelt ausgeliefert und gestaltet diese auch nicht um, sondern sammelt sie lediglich, um sie von der intelligiblen Seele weiter verarbeiten zu lassen. Analog zu diesem Wahrnehmungsmodell sind auch die Passionen passiv, da wir sie ohne Anstoß von außen nicht hervorbringen und laut Aristoteles auch kaum modifizieren können.65 An dieser Sollbruchstelle des Aristotelischen Systems setzen nun Kritiker­ Innen des 16. Jahrhunderts an. Zunächst ist fraglich, ob mit der Assimilierung der Eindrücke bzw. mit der unmittelbaren Reaktion auf Affekte tatsächlich keine ­formalen Veränderungen einhergehen. Aristoteles verortet nämlich auch die Imagination im Bereich der sensitiven Seelenfakultät, die wiederum in enger Verbindung mit der Memoria steht. Außerdem unterliegen Affekte in irgendeiner Weise einem Urteil, da sie als angenehm oder ablehnenswert empfunden werden. Die komplexen Prozesse der sensitiven Seele hatten es auch notwendig gemacht, dass die Scholastik immer mehr Subsysteme und Begriffe einführen muss, um ihre hierarchische Seelentrias zu halten.66 In diesem Spannungsfeld wird der Streit um die Be/deutungsmacht über die Seele zwischen Theologie und Naturphilosophie ausgetragen. Denn wenn die Seele das Prinzip allen Lebens ist, muss die sich zunehmend emanzipierende Naturphilosophie dazu Position beziehen (können). Mit der Fixierung des christlichen Dogmas der Unsterblichkeit der individuellen Seele am 5. Laterankonzil von 1513 drohte ihre wissenschaftliche Erforschung aber in engere Schranken gewiesen zu werden. Nur drei Jahre später entwickelt Pietro Pomponazzi in seinem Traktat De immortalitate animae (Über die Unsterblichkeit der Seele) 65 Aristoteles’ Emotionstheorie findet sich je nach Perspektive in den unterschiedlichsten Schriften: Die leiblichen Komponenten in De Anima, die ethische Dimension in der Nikomachischen Ethik und der Eudemischen Ethik, die Phänomenologie der Emotionen in der Rhetorik und in der Poetik. Eine gute Zusammenschau findet sich bei Catherine Newmark: Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant. Hamburg: Meiner 2008, vor allem S. 26–49. 66 Zur zunehmenden Beliebigkeit der scholastischen fakultativen Psychologie siehe Nancy G. Siraisi: Psychology in Some Sixteenth- and Early Seventeenth-Century General Works on Medicine. In: Paul J.JM. Iaker u. a. (Hg.): Psychology and the Other Disciplines: A Case of Cross-­ Disciplinary Interaction (1250–1750). Leiden: Brill 2012, S. 325 ff.



Emotionen in Leib-Seele-Debatten des 16. Jahrhunderts 

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­ usgehend vom sogenannten Alexandrismus67 eine sehr materialistische Seea lenkonzeption. Im Streit darüber, ob es eine individuelle oder kollektive Transzendenz gäbe, argumentiert er, dass die Seele in allen ihren Operationen von der sinnlichen Wahrnehmung abhängig, also immanent und daher der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung anheimgestellt sei: «Humanus intellectus [...] est actus corporis organici».68 Die Position Alexanders, wonach es eine gleichsam immaterielle Gattungsseele der Menschen gäbe, bleibt für Pomponazzi ebenso Spekulation wie die Unsterblichkeit der Individualseele. Damit ist die Frage der Unsterblichkeit dem Zuständigkeitsbereich der Naturphilosophie entzogen. Die menschliche Seele bleibt stoffgebunden, also materiell, auch wenn sie ihrem Wesen nach nicht stofflich ist. Daraus folgt laut Pomponazzi, dass auch der Intellekt sterblich ist. Die Wahrheit der Transzendenz obliegt dem Glauben: Man beachte sehr, daß [Thomas von Aquin] dort offenbar unsere Meinung andeutet, nämlich die, daß Aristoteles der Ansicht gewesen sei, die menschliche Seele sei nicht wahrhaft erkennend, sondern besitze nur eine Art Teilhabe am Intellekt; deshalb sei sie auch nur in uneigentlicher Weise unsterblich.69

Pomponazzis Werk wurde öffentlich verbrannt und er selbst nur dank eines mächtigen Fürsprechers, des späteren Kardinals Pietro Bembo, von der Häresie freigesprochen.70 Die von ihm angestoßene Immortalitätsdebatte und seine proto-materialistische Seelenkonzeption sind aber Grundlage für nachfolgende Intellektuelle wie seinen Schüler Girolamo Fracastoro und dessen Nachfolger Bernardino Telesio. Tatsächlich verdankt sich die längerfristige Wirkung der Thesen Pomponazzis auch seiner herausragenden Bedeutung als Lehrer. Er unterrichtete an jenen 67 Im Zuge der diversen Aristoteles-Interpretationen, namentlich der von Averroes und der für die Scholastik verbindlichen von Thomas von Aquin wurde in der Renaissance die Position von Alexander von Aphrodisias (ca. 200 n. Chr.) erneut heftig diskutiert, wonach die individuelle Seele nicht unsterblich sein könne, wohl aber so etwas wie eine kollektive Gattungsseele gegeben sei, die gewisse Anklänge an Reinkarnationsvorstellungen zeigt. Vgl. dazu Bernd Roling: Glaube, Imagination und leibliche Auferstehung: Pietro Pomponazzi zwischen Avicenna, Averroes und jüdischem Averoismus. In: Andreas Speer/Lydia Wegener (Hg.): Wissen über Grenzen. Berlin: de Gruyter 2006. 68 Pietro Pomponazzi: Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele / Tractatus de immortalitate animae: Lateinisch, hg. und übersetzt von Burkhard Mojsisch. Hamburg: Meiner 1990, S. 22. 69 «Et diligenter adverte, quod ibi videtur innuere hanc nostram opinionem, scilicet quod Aristoteles senserit animam humanam non vere esse intelligentem, sed solum habere quandam participationem intellectus; quare et improprie immortalis!», Pomponazzi: Abhandlung/ Tractatus, Kapitel IX, S. 116–117. 70 Eine Biographie Pomponazzis, welche die heftigen Debatten gut aufbereitet, bietet Marco Sgarbi: Pietro Pomponazzi. Tra tradizione e dissenso. Firenze: Leo S. Olschki 2010.

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namhaften norditalienischen Hochschulen, die gerade auch für Naturphilosophie und Medizin die humanistische Wende repräsentierten: Padua, Ferrara und Bologna. Wie Jerome J. Bylebyl darlegt, wird sich vor allem in Padua unter der Schirmherrschaft der venezianischen Dogen ein Paradigmenwechsel vollziehen, der die Curricula des Medizinstudiums bis heute prägt.71 Neben der zunehmenden Bedeutung anatomischer Forschung betrifft das vor allem die Ausbildung am Krankenbett; beide Innovationen wurden von der neuen Kenntnis der Originalschriften Galens angeregt. Vor allem De placitis, das 1530 wiederentdeckte Werk Galens, das sich mit den Lehren von Hippokrates und Platon auseinandersetzt, war für die weiteren Lehrinhalte an der Fakultät für Artes entscheidend.72 Damit wurde die Jahrhunderte währende Autorität von Avicenna und Averroes, den arabischen Kommentatoren der Naturphilosophie des Aristoteles, revidierbar und reformierbar. Für Emotionslehren bedeutet diese Hinwendung zu antiken Quellen weniger ein Aufgreifen neuplatonischer Thesen als eine Revitalisierung stoischen Gedankenguts. Denn keine andere antike Philosophie hatte die unterschiedlichen Aspekte menschlicher Emotionen derart systematisch erfasst wie die Stoa.73

Innovation und Tradition: Rückgriff auf die Stoa Neben dem Neuplatonismus eröffnete der sogenannte Neustoizismus eine der Möglichkeiten, die fakultative Seelenarchitektur der Scholastik umzubauen. Anders als bei der mit der Figur des Übersetzers und Kommentators von Platons Schriften, Marsilio Ficino, klar rekonstruierbaren Tradierungslinie des Neuplatonismus waren in der Renaissance nur wenige und teilweise sehr fragmentarische stoische Originalschriften zugänglich. Für das 16. Jahrhundert nehmen vor allem Ciceros Tusculanae disputationes und die Philosophiegeschichte des Diogenes Laertius eine wichtige Vermittlerrolle ein. Allerdings ist ihre Darstellung stoischer Theoreme sehr selektiv und subjektiv geprägt und im Falle von Diogenes auch recht oberflächlich. Der Nachweis eines direkten stoischen Einflusses ist für die Renaissance daher angesichts der Bruchstücke von zahlreichen und teils

71 Jerome J. Bylebyl: The School of Padua: Humanististic Medicine in the Sixteenth Century. In: Charles Webster (Hg.): Health, Medicine and Mortality in the Sixteenth Century. London: ­Cambridge University Press 1979, S. 335–370. 72 Bylebyl: School of Padua, S. 64. 73 Vgl. dazu Martha C. Nussbaum: Stoic Tonics: Philosophy and the Self-Government of the Soul. In: Dies.: The Therapie of Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics. Princeton: University Press 1994, S. 316–358.



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widersprüchlichen Varianten der sich über mehrere Jahrhunderte erstreckenden Denktradition kaum zu leisten.74 Ein Panorama dessen, was AutorInnen des 16. Jahrhunderts selbst als genuin stoisch definierten, ist für das Verständnis ihrer Neuzugänge zu Passionen bzw. Affekten dennoch unerlässlich. Denn ob jene Elemente, die sie mit konsensualen Axiomen des Aristotelismus zu innovativen Theorien montieren, innerhalb des zeitgenössischen Horizonts dem Neuplatonismus oder dem Neustoizismus zugeordnet werden, hilft ihre Distanz zum peripatetischen Mainstream und ihre ideologischen Intentionen zu erschließen. Die folgenden schlaglichtartig dargestellten Elemente der Stoa ermöglichen somit eine bessere Rekonstruktion der epistemischen Arbeit der in diesem Kapitel dargestellten frühneuzeitlichen Emotionslehren. Wie bereits mehrfach erläutert, sehe ich die wichtigste Differenz zwischen den von mir untersuchten Texten und der traditionellen Naturphilosophie in einer materialistischen Seelenkonzeption, wenngleich jeweils in unterschiedlich radikaler Formulierung. Für die Stoa bildet nun die Auffassung, dass die Seele in all ihren Funktionen eine materielle Entität sei, ein unhintergehbares Paradigma. Bereits Zenon verweist darauf, dass alles, was in einem Körper wirkt, selbst körperlich sein muss. Denn es kann nur Ähnliches mit Ähnlichem interagieren. Da die Seele als Lebensprinzip verkörpert ist, muss ihr Physisches eignen. Materien treten miteinander in Kontakt, nur so entsteht Interaktion. Der Schulgründer der Stoa schlägt deshalb auch ein Wahrnehmungs- und Erkenntnismodell vor, das sich nicht wie im Platonismus oder im Aristotelismus am Sehsinn orientiert, sondern den Tastsinn präferiert. Nicht Bilder, sondern haptische Eindrücke bestimmen das Zusammenspiel von sinnlicher Wahrnehmung, Phantasie und Kognition: Such a sensation is called a «graspable presentation», a phantasia kataleptike. It is noteworthy that Cicero, who translates this last term as comprendibile, reports that Zeno was the first to use terms of manual grasping cognitively [...] The Stoics are thus responsible for the replacement of terms of vision with terms of contact in much of modern philosophy.75

Bei allen unterschiedlichen Perspektivierungen lässt sich die Psyche der Stoiker auf zwei Axiome reduzieren: Erstens influiert sie als pneuma den ganzen Körper, was wiederum eine einfache Erklärung für ihre unterschiedlichen Funktionen in unterschiedlichen Organen ermöglicht. Pneuma ist feinstofflich und besteht 74 Cicero: Tusculanae disputationes/Gespräche in Tusculum. Lateinisch/Deutsch. Hg. und übers. von Olof Gigon. Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 1998; Diogenes Laertios: Leben und Lehre der Philosophen. Hg. und übers. von Fritz Jürß. Stuttgart: Reclam 1998. 75 Eva T.H. Brann: The World of the Imagination: Sum and Substance. Lanham USA: Rowan & Littlefield 1991, S. 47.

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aus den Grundelementen Feuer und Luft. In den Körper gelangen diese nun über die Respiration. Von einem der führenden Stoiker, Chrysippus, wird überliefert, dass er den Atem als menschliches Lebensprinzip schlechthin postuliert,76 womit sich zeigt, dass die Stoiker großes Augenmerk auf eine Philosophie legten, die auf einfach nachvollziehbaren physischen Kausalzusammenhängen beruht und okkulte Ursachen verneint. Zweitens übt die Psyche ihr gesamtes Wirken über eine innerkörperliche Schaltzentrale aus, das sogenannte hegemonikon.77 Diese verorten die meisten Stoiker im Einklang mit den in der Antike vorherrschenden physiologischen Prinzipien im Herzen. Das hegemonikon verarbeitet Eindrücke, die von den Sinnesorganen aufgenommen und über das in den Nervenbahnen befindliche Pneuma weitergeleitet werden. Dieser Prozess wird zunächst wie auch bei Aristoteles und Platon mit der Metapher des Wachssiegels beschrieben.78 Da aber viele Eindrücke gleichzeitig aufgenommen werden, ihre Bewertung vielfältig und vor allem auch veränderbar ist, schlug Chrysippus eine andere Trope vor: Wahrnehmung erfolge analog der Veränderung der Luft, die von verschiedenen Reizen modifiziert werde, wenn mehrere Menschen gleichzeitig sprechen.79 Augenscheinlich korrespondiert diese Visualisierung besser mit der holistischen Weltsicht der Stoiker, denn die Materialität zwischen Innen und Außen bleibt erhalten: Luft ist das Medium, in dem Körper miteinander in Kontakt treten, Luft ist aber auch das Grundelement des Pneumas. Meiner Ansicht nach haben wir es also nicht mit einer Metapher im eigentlichen Sinn zu tun, sondern mit der konsequenten Durchformulierung eines physikalischen Axioms. Oder anders gewendet: Für den stoischen Materialismus ist auch Sprache körperlich und daher immer wörtlich zu nehmen. Die Vorstellung der im Medium Luft übertragenen Reize entspricht auch insofern besser der Pneumakonzeption der Stoiker, da damit die Prozesshaftigkeit von Wahrnehmung zur Anschauung gebracht wird. Denn wenn das Pneuma die materielle Seele ist, erfolgt die Reizverarbeitung auch schon bei unmittelbarer Kontaktnahme, das hegemonikon im Herzen steuert den Prozess lediglich. Dieses Wahrnehmungsmodell ist auch entscheidend für die stoischen ­Affekttheorien.80 Wie Richard Sorabji bemerkt, lassen sich diese trotz aller

76 Calcidius: Kommentar zu Platons Timaios. 220 = LS 53 GI-5 und Nemesius 78.7–79.2=LS 45c. 77 Einen guten Überblick über stoische Passionslehren gibt Margaret R. Graver: Stoicism and Emotion. Chicago/London: Chicago University Press 2007. 78 Platon, Theätet 191d-e, Aristoteles, De Anima II 12, 424a18f. 79 Graver: Stoicism, S. 25. 80 Ich rekurriere deshalb auf den Begriff «Affekt», weil für die Stoiker der physische Kontakt die Vorstellung der Seelenregungen grundiert.



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­nterschiedlichen Akzentuierungen durch zwei Paradigmen charakterisieu ren: «the idea of philosophy as psychotherapy and the view that emotions are ­cognitive.»81 Aus meinen bisherigen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass die Vorstellung, Emotionen unterlägen immer einer kognitiven Beurteilung, aus Sicht der Stoiker selbstverständlich ist. Denn egal, ob in einfacher Sinneswahrnehmung, im Sprechakt oder im abstrakten Denken: Es agiert immer die gleiche materielle Seele. Daher bringt jeder Eindruck ein Werturteil hervor, das wie eine einfache sprachliche Aussage organisiert ist. Werturteile lassen sich auf zwei Kategorien reduzieren: Ein Eindruck ist gut oder schlecht und: er impliziert daher Handlungsimpuls oder Rückzug. Aus diesen Charakteristika entwickeln die Stoiker vier Grundtypen von Emotionen, die Cicero wie folgt zusammenfasst: Sie lehren ferner, daß alle Leidenschaften auf Grund eines Urteils und eines Meinens zustande kommen. So definieren sie sie genauer, damit man nicht nur erkennt, wie schlecht, sondern auch wie sehr sie in unserer Gewalt sind: Der Kummer ist also das gegenwärtige Vermeinen eines gegenwärtigen Übels, in das die Seele zu stürzen und zu verkrampfen richtig zu sein scheint. Die Lust ist das gegenwärtige Vermeinen eines gegenwärtigen Guten, in das sich treiben zu lassen richtig zu sein scheint. Die Angst ist das Vermeinen eines drohenden Übels, das unerträglich zu sein scheint. Die Begierde endlich ist das Vermeinen eines kommenden Guten, das man gerne gegenwärtig und greifbar haben möchte.82

Neben der zeitlichen Dimension – positive und negative Eindrücke, die auf Gegenwart oder Zukunft gewendet werden – enthält dieses Zitat einen weiteren wichtigen Aspekt stoischer Emotionsdoktrinen: Ein eintretendes Übel führt zu Kontraktion, Gutes zu Expansion. Diese Vorstellung von Anspannung und Entspannung zeigt auffällige Parallelen zum Herzzyklus: Die Anspannung, die das Blut aus dem Herzen presst, bezeichnen wir heute noch als Systole, die darauffolgende Phase der Erschlaffung als Diastole. Ihr Zusammenspiel ist als Pulsbewegung an Schläfen, Hals und Handgelenk taktil überprüfbar und passt somit in das holistisch-materialistische Erklärungsmodell der Stoa. Denn in der a ­ usgefeilten 81 Richard Sorabji: Emotion and Peace of Mind. From Stoic Agitation to Christian Temptation. Oxford University Press 2002, S. 17. 82 Cicero: Tusculanae Disputationes, Liber Quartuor, 14 (VII), S. 256, dt. Übersetzung von Olof Gigon, S. 257: Sed omnes perturbationes iudicio censent fieri et opinione. Itaque eas definiunt pressius, ut intellegatur, non modo quam vitiosae, sed etiam quam in nostra sint potestate. Est ergo a egritudo opinio recens mali praesentis, in quo demitti contrahique animo rectum esse videatur, laetitia opinio recens boni praesentis, in quo ecferri rectum esse videatur, metus opinio impendentis mali, quod intolerabile esse videatur, libido opinio venturi boni, quod sit ex usu iam praesens esse atque adesse.

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Pulsdiagnose der hellenistischen Medizin ist der empirisch nachweisbare physikalische Impuls auf die spiritus vitalis zurückzuführen, deren Bedeutung wie erwähnt in der Frühen Neuzeit aktualisiert wird. In der stoischen Physiologie regeln sie Metabolismus, Wahrnehmung, Affekte, Kognition, also sämtliche Lebensprozesse des menschlichen Organismus. Wie bereits in Bezug auf das stoische Wahrnehmungsmodell ausgeführt, sind derartige Vorstellungen durchaus wörtlich zu nehmen: Die körperliche Seele zieht sich zusammen und sinkt nach unten bzw. sie entspannt sich und weitet sich aus. Besonders diese physiologische Komponente der stoischen Emotionslehre wird von vielen frühneuzeitlichen TheoretikerInnen wieder aufgenommen und präzisiert. Damit ist die naturphilosophische Fundierung der Affekte also in ein allumfassendes Energieprogramm eingebettet. Ihre besondere Bedeutung erlangt die stoische Affektelehre allerdings innerhalb der Ethik, die als Handlungstheorie gefasst wird. Denn die Stoiker entwickeln eine Taxonomie der (meist unerwünschten) Affekte, indem ein Wechselspiel zwischen Vorstellung, Antrieb und Affirmation das Handeln determiniert, wobei das wichtigste Element allerdings die Zustimmung der Vernunft zu den phantasiegeleiteten Handlungsimpulsen darstellt. Anders ausgedrückt fassen die Stoiker Vernunft, Logos, zwar als verkörpert auf, doch der Logos ist jene Instanz, die letztlich die Finalität menschlichen Lebens ausmacht. Deshalb muss der erwachsene Mensch seinen Logos so ausbilden, dass dieser gegenüber den Affekten an Terrain gewinnt. Hierin sehe ich auch die Parallele zum Freudschen AffektTrauma-Modell. Im Unterschied zur Psychoanalyse ist der Zweck des Menschen bzw. des Logos aber nicht auf die Entfaltung des Individuums, sondern auf die Polis, die Gemeinschaft gerichtet. Deshalb ist das Urteil hinsichtlich der Affekte auch von seiner sozialen Wertigkeit abhängig. Generell gilt allerdings, dass ein möglichst affektfreies Leben in philosophischer Kontemplation die Idealvorstellung darstellt.83 Aus christlich geprägter Perspektive scheint es paradox, dass eine materialistisch ausgerichtete Philosophie der Vernunft einen derart hohen Stellenwert einräumt und Emotionen mit einer so großen Skepsis begegnet. In der Frühen Neuzeit sind die Anleihen bei der Stoa daher auch eher von naturphilosophischen Fragestellungen motiviert, die stoische Ethik wird gleichermaßen als zu materialistisch und als weltfremd angesehen.

83 Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike: Stoa, Epikureismus und Skepsis. München: Beck 1995, S. 45 ff.



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Girolamo Fracastoro: Natur in affektiver Berührung Girolamo Fracastoro (1476/78–1553) hat wie kein anderer frühneuzeitlicher Philosoph E/motion – Bewegung im umfassenden Sinne – zum Leitparadigma lebendiger Prozesse gemacht. In seinem naturphilosophischen Modell unterhalten nämlich sämtliche natürliche Objekte eine Beziehung der Sympathie bzw. der Antipathie zueinander. Physikalisch gewendet dehnen sich Körper im Zustand der Sympathie aus, bei Antipathie ziehen sie sich zusammen. Zwar ist diese Terminologie schon im hippokratischen Corpus und bei Galen für das Verhältnis von Organen zueinander eingeführt, der Veroneser Arzt und Naturphilosoph begründet damit aber ein System, das ihm hilft, traditionelle Erklärungsmodelle zu verwerfen und stattdessen eine konzise Beschreibung der Dynamik von Körpern und in Körpern darzulegen. Wie im nächsten Kapitel dargelegt, zielt er vor allem auf eine Überwindung der sogenannten abditae causae, der versteckten Ursachen, die immer dann als magische oder alchemistische Erklärung einstehen müssen, wenn keine unmittelbaren natürlichen Zusammenhänge nachgewiesen werden können. Fracastoro schärfte aber nicht nur einen medizinischen Fachbegriff, er hatte tatsächlich ein ontologisches Erklärungsmodell, mithin das elementare Naturgesetz schlechthin, im Blick: Es ist das Prinzip der Sympathie, das die Welt zusammenhält!84 Sein Bemühen um eine konzise philosophische Gesamtordnung geht daraus hervor, dass er den im engeren Sinn medizinischen Traktat De Contagione zusammen mit der Schrift De Sympathia et Antipathia Rerum im Jahr 1546 publizierte. Das philosophische Fundament dazu legt er bereits in seiner Erkenntnislehre im engeren Sinn: Turrius sive de intellectione (1555). Diese ist zwar erst posthum erschienen, laut der Eigenaussage des Autors wurde sie aber vorher verfasst.85 In De Sympathia definiert Fracastoro Sympathie als ausdehnende Bewegung, als eine Hinwendung oder Anziehung, die auf Ähnlichkeit basiert. Dies gilt grundsätzlich für Naturphänomene, insbesondere für organisches Leben und wird in Folge auch für die intellegible Seele durchdekliniert.86 Affekte bzw. Passionen verursachen aber nicht nur einfache lineare Bewegungen, wie etwa schon das Zerren und Schieben in der Weiterentwicklung der Aristotelischen Seelenlehre durch Thomas von Aquin suggeriert.

84 Als Kräfte von Anziehung konfigurieren Sympathien die Morphologie der Materie, und zwar sowohl bezogen auf den menschlichen Körper als auch auf materielle Objekte im Allgemeinen. 85 Girolamo Fracastoro: De sympathia et antipathia rerum liber vnus: De contagione et contagiosis morbis et curatione libri III. Venezia: Giunta 1546, fol. 27 li. 86 Fracastoro: De sympathia, fol. 15 li.–re.

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Wie einige seiner Zeitgenossen zielt Fracastoro auf eine Revision der scholastischen fakultativen Psychologie, welche die einzelnen Seelentätigkeiten scheinbar so klar hierarchisch separieren kann. Diese vermeintlich konzise ­ durchformulierte Seelenlehre weist nämlich mehrere logische Leerstellen auf, die mit immer neuen Subsystemen und Kategorien ausgefüllt werden, sodass die scholastische Naturphilosophie im 16. Jahrhundert eher dem von Aristoteles verfemten Sophismus ähnelt als einem präzisen System.87 Im besten humanistischen Sinne lesen vor allem die im Umfeld der Universität von Padua sozialisierten Intellektuellen nach genauerer Analyse der Schriften Aristoteles’, die mittlerweile zunehmend im Original rezipiert werden, gegen den scholastischen Aristotelismus an. Die Reformbestrebungen betreffen im Wesentlichen drei Paradigmen der scholastischen Naturphilosophie: Schon Fracastoros Lehrer Pomponazzi machte deutlich, dass die Trias der Seelenpotenzen mit der neuen Emphase auf Erfahrungswissen und Sensualismus nicht vereinbar ist. Konkret wird die Frage, ob die Seele nur an ihrem konkreten Sitz, dem Herzen oder dem Kopf, wirkt oder über den gesamten Körper verteilt, zunehmend zugunsten der zweiten Version beantwortet. In diesem Zusammenhang erfährt auch der scholastische Hylemorphismus eine Neuinterpretation, denn die Reduktion der Seele auf die Form des Körpers ist mit diesem extensiven Seelenbegriff nicht mehr haltbar. Damit einher geht die Neukonzeption von aktiven und passiven Vermögen, die sich mit den Aristotelischen Paradigmen der Aktualität und Potentialität zu einem komplexen und teilweise widersprüchlichem System verschränkt hatten.88 Fracastoro interpretiert vor allem den Aristotelischen Formbegriff, das eidos – bzw. frühneuzeitlich gewandt – die species neu. Ähnlich den seminaria morbi, jenen Krankheitskeimen, die er in De contagione als unsichtbar, aber doch feinstofflich beschreibt, sind species für ihn nicht abstrahierte Abbilder oder bloße ideelle Konzepte,89 sondern subtile materielle Gebilde, die physisch über die Luft ausströmen. So werden sie samt ihrer Modi, also etwa Lage, Größe, Ort etc., von der Seele wahrgenommen. Damit radikalisiert Fracastoro – wie zuvor Pomponazzi – das Aristotelische Paradigma, wonach nichts in der Seele

87 Vgl. dazu Aristoteles: Organon, Buch 6 («Sophistische Überlegungen»). 88 Zur Vorgeschichte und den einzelnen Debatten über die Seelenkonzeption vgl. Katharine Park: The Organic Soul. In: Cambridge History of Renaissance Philosophy. Cambridge: University Press 1988, p. 464–485 und Eckhard Kessler: The intellective Soul. In: Cambridge History of Renaissance Philosophy. Cambridge: University Press 1988, p. 485–535. 89 Siehe dazu Leen Spruit: Species Intelligibilis. From Perception to Knowledge. Renaissance Controversies, Later Scholasticism and the Elimination of the Intelligible Species in Modern Philosophie, Bd. 2. Leiden/New York/Köln: Brill 1995.



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ist, das nicht vorher in den Sinnen ist. Die spiritus der Seele neigen sich gemäß der similitudo zu Phänomenen der Umwelt, nehmen deren species auf, die sich dann im Zusammenwirken von phantasia und memoria in der Seele entfalten. Dieser Prozess unterläuft lineare Zuschreibungen von aktivem Einwirken und passiven Erleiden einer wahrgenommenen species, da Sympathie bzw. Antipathie ja als Wechselspiel, als dynamische Beziehung, konzipiert sind. Voraussetzung für das Verständnis dieses durch und durch physikalisch argumentierten organischen Geschehens ist die Idee des conatus. Der Begriff geht auf die Antike zurück und lässt sich am besten als Selbsterhaltungstrieb übersetzen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass conatus weder ausschließlich physisch noch «bloß» psychologisch zu verstehen ist, sondern die beiden Bereiche – also Körper und Seele – untrennbar verschränkt: Die Seele als Lebensprinzip hält alle Bereiche des Organismus aufrecht, indem sie sich vornehmlich jenen Objekten zuneigt, die diesem bekommen. Dementsprechend wird conatus auch oft als in­clinatio wiedergegeben.90 Mit seiner Konzeption der species kann Fracastoro auch die Fehleranfälligkeit menschlicher Wahrnehmung und Kognition sowie die Komplexität und Widersprüchlichkeit menschlicher Emotionen darlegen. Denn die similitudo einzelner Zustandsweisen der species bedingt es manchmal, dass Phänomene zueinanderfinden, die doch eigentlich keine wirkliche Affinitität aufweisen, sondern nur in Teilen übereinstimmen. Aber vor allem eine innerhalb der scholastischen Seelenkonzeption eher fragwürdige Instanz wertet Fracastoro in Bezug auf seine Emotionenlehre auf: die Phantasie. Sie zeichnet sich durch eine Affinität – consensus – zu den spiritus sowie zum wichtigsten Organ, dem Herzen, aus: […] aus der so großen Übereinstimmung, den die Phantasie mit dem Herzen und mit den Spiritus hat, entstehen zuerst jene sogenannten Affekte: Freude, Liebe, Hoffnung, Lachen, Bewunderung, Entrückung, Traurigkeit, Angst, Zorn, Scheu, Mitleid, und was es noch dergleichen gibt.91

90 Ein wichtiger «Multiplikator» des Begriffs war etwa Thomas Hobbes, siehe dazu Cees Leijdenhorst: Sense and Nonsense About Sense: Hobbes and the Aristotelians on Sense Perception and Imagination. In: Patricia Springborg (Hg.): The Cambridge Companion to Hobbes’s Leviathan. Cambridge: University Press 2007, S. 82–109, hier: S. 88. 91 Fracastoro: De sympathia, fol. 20 re.: [...] e tanto igitur consensu quem phantasia cum corde habet et spiritibus, illi primo fiunt qui affectus animi dicuntur, gaudium amor spes risus admiratio ecstasis tristitia timor ira uerecundia commiseratio et si qui allij sunt». Diese wie alle anderen nicht ausdrücklich anders ausgewiesenen Übersetzungen sind von mir.

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Damit bestätigt Fracastoro die Bedeutung des Herzens als dominantes Organ, was den vorherrschenden naturphilosophischen Paradigmen durchaus auch in der scholastischen Lesart entspricht. Einige ForscherInnen leiten daraus eine Nähe Fracastoros zur Stoa92 ab. Concetta Pennuto wiederum, die De Sympathia ins Italienische übersetzt und einen ausgedehnten Kommentar dazu verfasst hat, sieht gerade in der stoischen Emphase auf ein Hegemonialorgan eine Differenz zu Fracastoros Naturphilosophie. Dem liegt aber eher eine Fehlinterpretation der Stoa zugrunde, denn aus der Etablierung eines Steuerorgans lässt sich per se noch keine Aufwertung des Geistes gegenüber dem Körper ableiten, wie das Pennuto in ihrer Einschätzung des stoischen hegemonikon tut: [...] una ripartizione siffatta, accompagnata dalla concezione unitaria dell’anima, conduce ad una teoria della prevalenzia dell’elemento spirituale su quello corporeo che inficia il rapporto di comuncazione bilaterale tra anima e corpo e quindi i fondamenti della fisiolgoia umorale.93

Tatsächlich weist Fracastoros Definition des Herzens Anklänge an das stoische hegemonikon auf. Allerdings gibt es auch stoische Philosophen, die das hegemonikon im Gehirn ansiedeln. Entscheidend für alle stoischen Überlieferungen ist, dass es sich um einen verkörperten und körperlichen Geist handelt, die Antithese von Materiellem und Spirituellen ist mithin nicht haltbar. Nur ein materieller Intellekt kann überhaupt erst uneingeschränkt Körperprozesse im Sinne des conatus begleiten – ob nun im Herz oder im Hirn, als Basis und Schaltzentrale eines im Idealfall möglichst affektfreien Daseins. Die Vorherrschaft des Herzens über das Gehirn begründet sich bei Fracastoro – wie im Übrigen auch bei den Stoikern – aus der Evidenz der Physiologie: Der Herzschlag veranschaulicht das Axiom des Kontakts und Emotionen werden körperlich zuallererst im Brustbereich spürbar. Wir dürfen nicht vergessen, dass Fracastoro Arzt war und der galenischen Doktrin der eingehenden individuellen Diagnostik, die sich etwa in der hervorragenden Bedeutung der Pulsmessung veranschaulichen lässt, folgte.94 Wie buchstäblich Fracastoro die Materialität der Affekte liest, lässt sich in seiner Analogie zum gaudium erkennen:

92 Vgl. dazu Michaela Boenke: Turrius, S. 17. 93 Concetta Pennuto: Simpatia, fantasia e contagio. Il pensiero medico e il pensiero filosofico di Girolamo Fracastoro. Roma: Edizioni di Storia e Letteratura 2008, S. 378. 94 Fracastoro wurde als hervorragender Arzt beschrieben, was ihm offenbar auch ein eher erzwungenes Engagement als Konzilsarzt in Trient einbrachte. Vgl. dazu Michaela Boenke: «Girolamo Fracastoro – Leben und Werk. In: Dies.:Turrius, S. 7–10.



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Auf diese Weise kommt es bei Kleinkindern, deren Mund zur Mutterbrust geführt wird, zuerst zu einem Zusammenziehen des Mundes rings um die Mutterbrust herum und zum Saugen der Milch, dann – damit sich auch andere Teile daran laben – soll es ein Einziehen der Milch von einem Teil zum andern bis hin zum Magen geben.95

Diese Passage erinnert an psychoanalytische Theoreme zum Triebgeschehen des Kleinkindes, das in Freuds Version ja durchaus auch physiologisch definiert ist. Fracastoro Psychophysiologie ist beinahe noch radikaler: Wie ein Kleinkind die Muttermilch als Nahrung des Magens ansaugt, so «appetiziert» das Herz ­nährende Emotionen. Hier wird auch deutlich, dass Fracastoro die Affektfeindlichkeit der Stoa nicht teilt. In De Sympathia fehlt der ethische Anspruch auf Affektüberwindung, die über logische intelligible Operationen erreicht wird. Fracastoro entwickelt demgegenüber die Tätigkeit des Intellekts analog zu einfacheren seelischen Aktivitäten wie etwa der Wahrnehmung oder der Verarbeitung der Affekte. Intelligible Prozesse haben auch bei ihm ihren Ort im Gehirn, genauer gesagt in den Nerven und Gehirnhäuten, allerdings handelt es sich immer um ein- und dieselbe Seele, die den Organismus in den unterschiedlichsten Lebensprozessen durchströmt, also bewegt: […] die Phantasietätigkeit einiger hindert allerdings nicht daran, wenn wir behaupten, das Herz würde nicht durch dieselben Species erkennen, es könne allerdings eingeschnürt werden oder sich weiten und Zeichen der Furcht, des Zornes und der Freude zeigen, denn (wie bereits gesagt wurde) es gibt im ganzen Organismus eine einzige Seele.96

Eine Hierarchie der Operationen, die die spiritus bzw. – stoisch gewendet – das pneuma als Seelenvehikel – vollziehen, lässt sich bei Fracastoro kaum ausmachen. Denn das Herz ist eher als Konzentration und Kristallisationsfeld der Wirkkräfte der spiritus beschrieben. Eine Parallele zu stoischen Theoremen sehe ich vor allem in jenen Elementen Fracastoros eklektischer Naturphilosophie, die er selber als innovativ ausweist. Beachtlich ist etwa die Neusemantisierung der Phantasie bei der Sortierung einwirkender Eindrücke, sei es nun in Bezug auf die sinnliche Wahrnehmung oder in Bezug auf die Affekte.

95 Fracastoro: De sympathia, fol. 20 li.: Quo pacto, ab infantibus admoto ad mammillam ore, primum astrictio oris fit undequaque circa mammillam et suctio lactis, deinde, ut et aliae quoque partes fruantur, attractio fit lactis de parte in partem usque ad ventriculum. 96 Fracastoro: De sympathia, fol. 19 re–20 li.: [...] facta tamen phantasia quorundam nihil ­prohibet si dexerimus cor non eisdem speciebus cognoscere, posse tamen & constringi, & dilatari, & signa terroris, & ire &gaudij praeseferre, quoniam anima (ut dictum est) una est in toto animali.

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Wie erwähnt werden die scholastischen species bei den Neuplatonikern zu simulacra, zu Abbildern oder gar eingeborenen Ideen, während Fracastoro zwar subtile, aber dennoch materielle Übertragungen der Objektwelt über die Luft annimmt. Damit geht eine andere Trope für den Prozess der Wahrnehmung einher: Anders als etwa bei Ficino bestimmt nicht so sehr der Sehsinn das Wirken der phantasia, sondern der Tastsinn, demgemäß die species als ein Anstoßen und Greifen buchstäblich an die Seele rühren. Diese entscheidende Abkehr von der Dominanz des Sehsinns dürfte Fracastoro im Rückgriff auf die bereits vorgestellte phantasia kataleptikë konzipiert haben, die ja dem Tastsinn für die Vorstellung von Erkenntnisprozessen Priorität einräumt.97 Fracastoro gelingt hier eine bedeutende Neusemantisierung: Wie in seinen Erläuterungen zum Makrokosmos und in seiner Lehre zur Ansteckung sind auch Wahrnehmungen und Affekte nichts anderes als Kontaktnahme zur Vermeidung des Vakuums bzw. zur Selbsterhaltung. Damit wendet er sich gegen magische Erklärungsversuche für Phänomene der Anziehung: Denn Wärme bringe mit ihren species vor allem Bewegung hervor, und über diese Bewegung sei die scheinbare Kausalität aus Ähnlichkeit einsichtig zu machen. Damit erst ist das Erklärungsschema von der Wirkung des Ähnlichen auf das Ähnliche ausmanövriert: Fracastoro lässt nur reale Bewegungswirkungen zu.98

Ein weiteres innovatives Element der Affekttheorie Fracastoros betrifft die Frage nach der Intelligibilität der Affekte. Sind also Affekte Ergebnisse von Urteilen der rationalen Seele? Mit der Trias der Seele verabschiedet Fracastoro auch die scholastische Unterscheidung von species sensibilis und species intelligibilis, die der sogenannte intellectus agens aus ersteren abstrahiert.99 Dagegen generiert er den Begriff der subnotio, die, wie Spruit meint, der stoischen prolepsis ähnle.100 Fracastoro beschreibt damit ein erstes Gewahrwerden, ein spontanes Differenzieren von Sinneseindrücken oder Affekten in einzelne Sequenzen. Er erläutert das am Beispiel eines Waldes, welchen wir zunächst als verwirrendes Ganzes wahrnehmen, dann einzelne Bäume unterscheiden und schließlich die ihnen eignen97 Vgl. dazu Marcia l. Colish: The Stoic Tradition from Antiquity to the Early Middle Ages, Band 1. Leiden: Brill 1985, S. 51 ff. 98 Martin Mulsow: Frühneuzeitliche Selbsterhaltung: Telesio und die Naturphilosophie der Renaissance. Tübingen: Niemeyer 1998, S. 83–84. 99 Der Begriff intellectio agens wurde erst im Mittelalter sehr wirkmächtig ausgearbeitet, vor allem von Thomas von Aquin: Über sittliches Handeln. In: Summa theologiae I – II q. 18–21, ­lat.-dt., kommentiert und hg. von Rolf Schönberger. Stuttgart: Reclam 2001. 100 Siehe dazu Leen Spruit: Species Intelligibilis, Bd. 2, S. 49, vgl. dazu auch Boenke, die in ihrer Einleitung zum Turrius darauf hinweist, dass Cicero den Begriff als subnotio ins Lateinische übertragen hätte (Boenke: Einleitung. In: Dies., Turrius, S. 7–34, hier S. 20).



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den Blätter erkennen. Die subnotio kennt allerdings kein Richtig oder Falsch. Es handelt sich noch um kein vollgültiges kognitives Urteil, sondern vielmehr um eine Vorstufe, eine sortierende Basis der Beurteilung. Fracastoro favorisiert hier aber keine trennscharfen fakultativen Funktionen, vielmehr betont er die Prozesshaftigkeit von Sinneswahrnehmung hin zu intellektuellem Wissen und Urteilsbildung. Letzteres erfolgt in einem Zusammenspiel der von der subnotio gefilterten Wahrnehmungsinhalte mit phantasia und memoria. Die Phantasie vergleicht die neuen Erfahrungen nämlich mit einem Bündel ähnlicher Inhalte, die in der memoria gespeichert sind. Erst im Laufe des Lebens können so im empirischen Lernprozess Universalia abstrahiert werden.101 Für die Interaktion von subnotio, phantasia und memoria bei der Generierung von Wissen sind aber physiologische – innerseelische – Voraussetzungen entscheidend: Die Seele muss im Zustand der applicatio sein, was Michaela Boenke als Konzentration der Seele übersetzt, ich im Einklang mit Fracastoros Leitparadigmen aber eher als «Zu/neigung» im wörtlichen Sinne fassen möchte. Dieser Zustand geht mit der intentio einher – eine durchaus auch körperlich zu verstehende Anspannung, eine physiologische Fokussierung. Hier kommt also im Prozess der Kognition wieder das allumfassende Prinzip der affektiven Zuwendung im Sinne von Sympathie und Antipathie zum Tragen: Sodann müssen wir noch einmal darauf zurückkommen, warum die bloße Präsenz von Species nicht ausreicht, um eine Erkenntnis zustande zu bringen, sondern es außerdem der Konzentration der Seele (applicatio) und angespannter Afumerksamkeit (intentio) bedarf […] In diesem Zusammenhang müssen wir auch vorausschicken, daß ebenso, wie bei der Erscheinung und Inbesitznahme von etwas Gutem Freude entsteht, Traurigkeit dann entsteht, wenn etwas Gutes sich gezeigt hat, aber nicht oder nur unzureichend bessen wird […] Hierin nun liegt der ganze Schlüssel zu dem, worüber ich Euch im Zweifel sehe. Zum ersten ist das, was wir «die Seele bewegt sich» genannt haben, nichts anderes als daß sie sich etwas Bestimmten zuwendet und dies aufmerksam beobachtet.102

101 Cees Leijenhorst: Attention Please! Theories of Selective Attention in Late Aristotelian and Eary Modern Philosophy. In: Paul J.J.M. Bakker/Johannes M.M.H. Thijssen (Hg.): Mind, Cognition and Representation. The Tradition of Commentaries on Aristotle’s De Anima. Aldershot/­ Burlington: Ashgate 2007, S. 205–231, hier: S. 212. 102 Girolamo Fracastoro (1555): Turrius oder über das Erkennen/Turrius sive de intellectione., herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Michaela Boenke. München: Wilhelm Fink Verlag 2006. S. 64–65: Deinde et illud recipiendum est, quód ad faciendam intellectionem non sufficit praesentia specierum, sed requiritur et applicatio animae, et intentio [...] Ad haec autem et illud praenotandum est, quód sicuti ad oblatum et habitum boni laetitia fit, ita ad oblatum quidem, non autem habitum, aut non bene habitum tristitia innascitur [...] Ex his igitur ratio omnes pendet eorum, quae vos arbitror dubitare. Primum enim, quod movere se animam dicimus, nihil aliud est, quam applicari ipsam atque intendi ad unum aliquid.

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Für die Abstraktionsfähigkeit der Seele wird somit kein separater Intellekt und auch keine neue species verantwortlich gemacht. Vielmehr verdankt sie sich dem komplexen Wechselspiel von subnotio, phantasia und memoria, das sich mit zunehmender Dichte an species in der memoria verfeinert. Damit verwirft Fracastoro das Aristotelische Paradigma, dass dem Menschen Allgemeinbegriffe gewissermaßen inhärent seien. Vielmehr verdanken sich diese der Sortierung von Erfahrungen, wobei der Phantasie eine entscheidende Bedeutung zukommt.103 Daraus ist auch ableitbar, dass Affekte in Fracastoros Sicht zwar einer Art Analyse, einer Sortierung nach dem Prinzip der Ähnlichkeit, keinesfalls aber immer tatsächlicher Urteilsbildung unterliegen. Sie durchlaufen die subnotio, können aber manchmal aufgrund der Zerstreutheit der spiritus kognitiv nur unvollständig assimiliert werden. Denn die eigentliche kognitive Verarbeitung erfolgt durch die Ansammlung der spiritus, die ganz physiologisch gedacht als Konzentration durch aktive Wärme konzipiert ist. Daraus leitet Fracastoro auch Ansätze einer Charakterlehre ab, wonach sich ein Habitus ausbildet, der wiederum jedwede weitere Affiziertheit determiniert: Denn wir alle haben angeborene Neigungen zu bestimmten Dingen, denen wir mit Eifer und Lust nachgehen. Aus diesem Grund bringen Geizhälse mit geradezu unglaublichem Fleiß Subnotionen, Vorstellungen, Zahlenfolgen und Erinnerungen hervor, die um Geld kreisen, und sind ansonsten bei anderen Dingen ungeschickt; andere tun dies in Bezug auf ihre Liebschaften, andere in Bezug auf Spiele, wieder andere in Bezug auf die Philosophie, usw.104

Hier manifestiert sich eine Gegenposition zur stoischen Philosophie, die ja das Primat der Ratio für alle Lebensprozesse behauptet. Implizit ist mit der Absage einer durchgängigen kognitiven Verarbeitung von Sinneswahrnehmung und Affekten auch der intellegible Prozess an sich abgewertet. Denn die Aufnahme von species, die affektiv von der körperlich gebundenen subnotio assimiliert werden, scheint ja schon einen vitalen Eigenwert zu haben, der keineswegs immer schädliche Auswirkungen zeitigt. Offenkundig fokussiert Fracastoro die körperliche Determiniertheit der seelischen Prozesse, die auch den Zusammenhang zwischen Habitus und Affekten erklärt. Wenn nun Affekte dem Prinzip der Sympathie und Antipathie folgend nach der Seele greifen, so sind meiner Meinung nach

103 Vgl. dazu Thomas Sören Hoffmann: Dimensionen des Erkenntnisproblems bei Girolamo Fracastoro. Ein Beitrag zur Fortentwicklung der aristotelischen Gnoseologie in der italienischen Renaissance. In: Vivarium 41,1, 2003, S. 168; diese Analyse bezieht sich auf Turrius, 176 li. 104 Fracastoro: Turrius, Übersetzung Boenke, S. 82–83: Quippe nascimur omnes ad certa inclinati, quae et intente, et cum voluptate facimus. Qua de causa avari circa pecuniam incredibili quadam industria et subnotiones, et imaginationes, et enumerationes, et memorias exercent, ad reliqua alioqui rudes. alii circa amores, alii circa lusus, alii circa philosophiam, et ita in aliis.



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die Metaphern der rezenten feministischen Affektelehre nicht weit: affects stick! Denn auch bei Fracastoro «befallen» Affekte nicht beliebig, sie folgen habituellen Mustern und sind somit entscheidende Faktoren im empirischen Lernen, das Voraussetzung aller intellegibler Prozesse ist.

Juan Luis Vives: Emotionen als soziale Kraftfelder Die habituelle Grundierung des emotionalen Lebens findet sich indes auch bei einem anderen Denker des 16. Jahrhunderts, dem auch immer wieder eine Affinität zu den Neuplatonikern attestiert wird: Juan Luis Vives publizierte seine Affektelehre bereits acht Jahre vor Fracastoro und schrieb darin explizit gegen die stoische Emotionskonzeptionen an. Vives’ Auseinandersetzungen mit den Bewegungen der Seele bilden das dritte Buch seines an Aristoteles angelehnten De Anima -Traktats. Er verknüpft die schon bei Fracastoro anzutreffenden habituellen Neigungen der Menschen mit einer Präzisierung der unterschiedlichen Konnotationen des Affektbegriffs, der die in späteren Lehren so zentralen Kategorien des Objekts, der Intensität und Qualität, aber auch die körperliche Determiniertheit von Emotionen aufgreift: Für die übrigen Affekte gibt es keine einfache Bezeichnung. Denn die Affekte sind die naturgegebenen Möglichkeiten im Geist, sich auf ein Gut hin zu weiten oder sich von einem Übel zusammenzuziehen, und die Tätigkeiten dieser Möglichkeiten im Geist werden mit eben jenem Namen bezeichnet, auch die Gewohnheiten, die aus den Tätigkeiten erstarken, welche mit dem griechischen Wort ‹hexis› (= Eigenschaft/Zustand) bezeichnet werden, d. h. ‹habitus› (= Zustand, Beschaffenheit). Sie alle müssen im Weiteren berücksichtigt werden, damit wir keinem Fehler erliegen. Was wir aber von ihnen beanspruchen werden, das wird leicht von der sinnlichen Wahrnehmung zu verstehen sein […] manche sind naturgegeben aus der Beschaffenheit des Körpers, und wenn lange Gewöhnung in die Kräfte der Natur übergegangen ist.105

Dieses Zitat führt die leibliche und die kulturelle Determiniertheit der Affekte zusammen, da der Habitus eines Menschen ein komplexes Wechselspiel von

105 Juan Luis Vives (Brügge 1538): De anima et vita libri tres. In: G. Mayans y Siscár (Hg.): ­Joannis Ludovici Vivis valentini opera omnia, Bd. 3. Valencia: Monfort, 1782–90, S. 423–425.: Ceterum affectionum non est simplex appellatio, nam facultates naturales in animo dilatandi sui ad bonum, et contrahendi a malo, affectus sunt, et earum actiones in animo, eodem censentur in nomine, consuetudines quoque, quae ex actionibus invaluerunt, quae hexis Graeco verbo nominantur, hoc est, habitus; quae omnia tenenda erunt deinceps, ne fallamur, quod autem horum usurpabimus, facile de sensu intelligetur […].

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­ örperlicher Konstitution und Erfahrungen, die immer auch kulturell geprägt k sind, umfasst. Denn wenngleich Affekte die Körpersäfte verändern, sind ihre Effekte doch auch vom Temperament – dem vorhandenen Säftehaushalt – des Individuums abhängig, der sich gemäß der körperlichen Anlagen, dem Geschlecht, dem Alter und der Lebensweise eines Individuums konstituiert, wie Gail Kern Paster im Hinblick auf das Figurenrepertoire in William Shakespeares Theater ausführt: The passions located between ‹Reason and Sense› were not identical to the bodily humors, but the two were closely allied in their workings, teleological function, and significance.106

Die frühneuzeitliche Physiologie kann wesentlich unproblematischer als nachfolgende Natur- und Lebenswissenschaften kulturelle und soziale Bedingungen, die sich leiblich manifestieren, gewissermaßen naturalisiert integrieren. Denn der Körper ist kein geschlossenes System, sondern beständig im Fluss und als Naturwesen in Interaktion mit anderen natürlichen Phänomenen. Die Physiologie als Harmonie der Säfte bildet somit ein äußerst fragiles Gleichgewicht. Behandelte Fracastoro die Bewegungen der Seele weitgehend wertneutral als natürliches Movens inter alia, so folgen sie in Vives’ Konzeption einem teleologischen Programm: Und weil der Geist im Körper wohnen sollte, wurde dem Organismus von dem bewundernswerten Schöpfergott jene Fähigkeit der Affekte gegeben, auf dass der Geist wie durch eine Art von Sporn angestachelt werde, damit er nicht völlig darniederliegt und vergraben unter der Last des Körpers wie ein träger Esel auf ewig faul bleibe und seinen guten Anlagen wegschlafe und in dem, was ihm besonders förderlich wäre, säumig sei. Deshalb wird er, gleichsam wie durch verschiedene Ansporne, immer wieder da und dort angestachelt, dann aber auch wieder im Zaum gehalten, damit er sich nicht auf Schädliches stürzt.107

In dieser christlich gefärbten Lesart peripatetischer Naturphilosophie begegnet uns die Seele also wieder als höher stehendes Prinzip, welche die korrumpierbare Materie bewohnt. Die bisher vorgestellten Zitate lassen erkennen, dass

106 Gail Kern Paster: Melancholy Cats, Lugged Bears, and Cosmology: Reading Shakespeare’s Psychological Materialism Acorss the Species Barrier. In: Gail Kern Paster u. a. (Hg.): Reading the Early Modern Passions. Essays in the Cultural History of Emotions. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2004, S. 113–130. 107 Vives: De Anima, S. 424: Et quandoquidem animus erat habitaturus in corpore, indita est animanti ab admirabili artifice Deo facultas haec affectionum, ut quibusdam veluti stimulis excitaretur animus, ne jacens penitus, obrutusque mole corporis, veluti segnis asinus, torperet perpetuo, bonisque suis indormisceret, et in eo, quod illi valde expediret, cessaret; itaque variis tamquam calcaribus hinc inde subinde excitatur, alias autem cohibetur freno ne ruat in noxia.



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Vives  seine Naturphilosophie wesentlich konventioneller fasst als Fracastoro. Dennoch ist seine Emotionslehre so innovativ, dass ihn Descartes als einen der wenigen frühneuzeitlichen Vorläufer positiv erwähnt.108 Diese richtungsweisende Neusemantisierung erschließt sich nun gerade an Stellen, an denen Vives den Lehren der Stoa widerspricht. Denn für ihn sind Affekte nicht Störmomente der im Idealzustand in Ruhe befindlichen Seele, sondern vielmehr ein Antrieb zur Perfektion des aufgrund des Sündenfalls defekten Menschen: Was als gut beurteilt wird, das bewegt, sobald es dem Willen entgegengebracht wurde, diesen sofort und zieht das, was mit sich übereinstimmt, an sich durch eine gewisse natürliche [Übereinstimmung], so wie die Wahrheit mit dem Geist, das Schöne mit dem Auge.109

Als Indikator für die richtige Assimilation finden wir also auch hier das Element der similitudo, idealtypisch repräsentiert in der Liebe, weshalb sie auch die erste Stelle in Vives’ Katalog der Emotionen einnimmt. Wie aus der vorher zitierten Passage hervorgeht, manifestiert sich die richtige und damit tugendhafte Assimilation der Emotionen im Handlungsvollzug, sie sind daher auch für eine vita activa unerlässlich. Darüber hinaus kommunizieren Emotionen miteinander und grundieren so erst jedwede weitere Kommunikation. Bei den Affekten [verhält es sich so:], wie manche von ihnen leicht aus anderen hervorsprießen, so werden manche von anderen im Zaum gehalten und unterdrückt: Aus Liebe entsteht Missgunst und Hass und Zorn, wenn jemand die geliebte Sache hasst oder verletzt […] umgekehrt wird große Freude durch Trauer ausgelöscht, Missgunst durch Mitleid oder durch Angst, und Trauer kann vergehen, wenn eine andere Trauer drückt, Schmerz oder Kränklichkeit durch Angst, z. B. in einer Schlacht oder in einer gegenwärtigen Gefahrensituation. Denn der Lahme beginnt zu laufen, wenn der Feind andrängt. Und so sind sie gleich wie Flutwellen im Sturm, bei denen jeweils die nachfolgende die frühere vergrößert, ein andres Mal aber verkleinert und erstickt.110

108 In René Descartes: Marginalie zu Artikel 127 der Passions de l’Ame, vgl. dazu Klaus Hammacher: Einleitung. In: René Descartes: Passions de l’âme/Die Leidenschaften der Seele, hg. und übers. von Klaus Hammacher. Hamburg: Meiner 1986, S. LVIII und LXXXVIII. 109 Vives: De Anima, S. 428: Quod bonum esse judicatur, simul ac voluntati est oblatum, movet eam continuo, et allicit ad se se congruentia quadam naturali, qualis est veri cum mente, formosi cum oculo. 110 Vives: De Anima, S. 427: In affectibus, quemadmodum affectuum inter se alii ex aliis facile supullulant, ita et alii ab aliis coercentur, et restinguntur; ex amore invidia oritur, et odium, atque ira, si quis rem caram oderit, aut laeserit [..] vicissim, magna laetitia moerore diluitur, invidia misericordia, vel metu, et alio moerore premente alius moeror aufertur, vel metu dolor, aut aegritudo, ut in pugna, et praesenti discrime, currit enim claudus, hoste urgente; itaque sunt hae tempestates instar undarum, et fluctuum, quorum sequens modo priorem auget, alias minuit, et opprimit.

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Hier tut sich eine Parallele von Emotion und Sprache auf, die für das Werk Vives’ meines Wissens noch niemand konstatiert hat, die aber auf poststrukturalistische Wendungen verweisen, wie ich sie etwa in Hinblick auf Hayles vorgestellt habe. Gemeinsam ist Sprache und Emotion dabei nicht nur ihre mediale Funktion in der Kommunikation, sondern auch ihre Verankerung im Leiblichen, die freilich bei Vives nicht so rundweg positiv konnotiert ist wie bei Hayles oder bei Deleuze/Guattari.111 Als Scharnier zwischen Körper und Seele fungieren bei Vives der freie Wille, die Vernunft und vor allem die memoria, welche die Modellierung der Affekte erst sicherstellt, wie das ähnlich für die Sprachfähigkeit gilt: Concerning language he repeats the concept that it originates in the mind, like water from a spring, that it needs cultivation and exercise, that the memory aids its fluidity of expression [...] in confirmation of the absolute centrality of sermo (speech) in the philosophy of Vives.112

Im Hinblick auf die Bewertung des Körpers an sich orientiert sich Vives allerdings an eher leibfeindlichen neuplatonischen Paradigmen, wenn er etwa meint: [...] aus diesem Grund nehme ich nur Gott aus; wenn man ihn – nicht so, wie er tatsächlich ist (denn das wäre ja der Sache nach unmöglich), sondern soweit der menschliche Geist, eingeschlossen in diesen Körper, in der Lage dazu ist – betrachten würde, dann würde man umso heftiger von Liebe zu ihm ergriffen werden.113

Mit dieser Leibfeindlichkeit ist aber keine Abwertung der Affekte verbunden. Laut Vives sind es vielmehr die materialistischen Stoiker, die den Menschen die Gefühle austreiben und sie damit zu Steinen machen wollten: «Aber die Stoiker wollen wir bei Seite lassen: Sie haben sich selbst, die die Natur doch als ­Menschen geschaffen hat, durch ihre schulmeisterlichen Spitzfindigkeiten zu Steinen machen wollen, dies aber nicht erreicht.»114 111 Vgl. dazu Seite XX. dieser Arbeit. 112 Valerio Del Nero: A Philosophical Treatise on the Soul: De Anima et Vita in the Context of Vives’s Opus. In: Charles Fantazzi (Hg.): A Companion to Juan Luis Vives. Leiden: Brill 2008, S. 277–314, hier: S 298. Für die herausragende Bedeutung der Sprache in Vives’ Gesamtwerk und vor allem auch für die Gottähnlichkeit des Menschen siehe weiters: Valerio Del Nero: Linguaggio e filosofia in Vives. L’organizzazione del sapere nel «De disciplinis» (1531). Bologna: Clueb 1991; Eugenio Coseriu: Zur Sprachphilosophie von J.L. Vives. In: Werner Dierlamm/Wolfgang Drost (Hg.): Aus der französischen Kultur und Geistesgeschichte. Heidelberg: Kehrle 1971, S. 234–255. 113 Vives, De Anima, S. 442: […] qua in ratione Deum solum excipio, quem si, non ut ipse est (nam id factu non esset possibile) sed ut humana mens corpore hoc clausa potest, contemplaretur, concitatius in amorem raperetur illius, […] 114 Vives: De Anima, S. 461: Sed Stoicos dimittamus, qui se, quos natura homines condiderat, scholasticis cavillatiunculis saxa voluerunt reddere, nec sunt tamen assequuti.



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Vives betont die positiven Effekte der Emotionen im Rahmen eines psychologischen Erziehungsprogramms. Dem stoischen Ideal der Affektkontrolle im Sinne einer weitgehenden Affektunterdrückung setzt er die Affektmodellierung entgegen. Vives definiert die Affekte als Schlüssel für den Austritt aus dem Körpergefängnis. Sie halten nämlich die Seele in Bewegung, indem sie deren Tätigkeit einfordern. Diese Konzeption nimmt bereits neukantianische Deutungen zu den Hauptströmungen antiker Ethik vorweg: «Kein Handeln kann ohne ein Streben gedacht werden, die Vernunft, die nur eine regelnde Funktion ausübt, würde ohne das Hinzutreten des Triebes nichts auszurichten vermögen».115 In der Frage der kognitiven Beurteilung von Affekten orientiert sich Vives an der fakultativen Psychologie: Sie erfolgt im Zusammenspiel von Phantasie, Memoria und Willen. Affekte werden von der Phantasie dem Willen vorgeführt, der sie nach Maßgabe rationaler Werte modellieren soll. [...] denn jene gewaltigen und völlig verworrenen Bewegungen kommen von der Unwissenheit und von der Unbedachtsamkeit oder von der Falschheit, weil wir das Gute und das Schlechte für größer halten, als es in Wahrheit ist, da wir ja durch einen Nebel von Unwissen blicken [...] Und wenn wir die Dinge angehen, ohne ein geistiges Urteil anzusetzen, und ihnen entgegen gehen, aber nach Gutdünken der Natur, dann werden wir nur so weit bewegt, wie die Natur dazu in der Lage ist. Denn Handlungen sind nicht naturgegeben aus den Grenzen unseres Willens, sondern aus dem Vermögen jener höchsten Macht und Kraft.116

Die Umsemantisierung des Willens ist einer der originären Aspekte in Vives’ Emotionslehre. Er wird gewissermaßen aus dem traditionellen Schema der inneren Sinne herausgehoben und erhält eine entscheidende Funktion für die Entwicklung des Menschen hin auf die similitudo dei. Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist aus meiner Sicht, dass Vives arbitrium ausdrücklich der Natur zuschlägt. Damit ist zunächst die Lasterhaftigkeit mancher Emotionen schlüssig erklärt, denn alles Irdische ist fehlbar. Gleichzeitig ist damit der rationale Anteil beim Verarbeiten von Affekten marginal. Somit scheint Carlos Noreñas Befund teilweise plausibel, wonach für Vives Emotionen

115 Max Wundt: Geschichte der griechischen Ethik, Band 1. Leipzig: Engelmann 1908, S. 119. 116 Vives: De Anima, S. 425: [...] nam ingentes illae agitationes, et praeturbidae, ab ignorantia sunt et inconsideratione, aut a falso, quòd bonum, malum’ve, majus censemus esse quàm revera sit, nimirum, per nebulam intuentes imperitiae [...] cumque non statuto mentis judicio res aggrediamur, et obeamus, sed arbitratu naturae, tantum commovemur, quantum natura potest. Sunt enim actiones naturales non ex limitibus voluntatis nostrae, sed ex facultatis cuiusque summa vi ac potentia.

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[...] are not judgements but imply judgements. These judgements, however, do not need to be propositions about beliefs. A mere stirring of the imagination often suffices to fire up the corresponding emotion.117

Allerdings unterliegt das «mere stirring of the imagination» eben zuallererst dem Willen. Denn die Willensfreiheit ist in Vives’ metaphysischem Gesamtmodell immens wichtig. Es mutet etwas unheimlich an, dass ausgerechnet Juan Luis Vives, der Sohn eines von der spanischen Inquisition hingerichteten converso, die katholische Gnadenlehre mit seiner Konzeption des liber arbitrium um einen wichtigen Beitrag bereichert. Für diese wie andere Akzentuierungen in Vives’ Seelenmodell dürfte ein anderer Konvertit die Rahmung gegeben haben: Vives hatte in seiner Jugend das Werk von Augustinus von Hippo intensiv studiert und teilweise kommentiert.118 Der Kirchenvater unterscheidet zwischen imago dei und similitudo dei, also Gottebenbildlichkeit und Gottähnlichkeit, wobei erstere dem Menschen kraft seiner mens gegeben sei. Aber in seiner wirkmächtigen Schrift De trinitate verknüpft Augustinus die Liebesfähigkeit des Menschen mit dem Willen und rechnet diese innerhalb eines der Trinität analogen Schemas der intelligiblen Seelenkräfte dem Heiligen Geist zu.119 Indem Vives den Willen zwar als inneren Sinn definiert, aber klar der Natur zuordnet, gelingt ihm der Spagat zwischen Augustinischer Gnadenlehre und subjektivistischer Theorien zur Würde des Menschen, wie sie innerhalb des Renaissance-Humanismus etwa von Giovanni Pico della Mirandola propagiert wurden.120 Aus den bisherigen Ausführungen geht aber auch hervor, dass nur Schulung und Wissen den Nebel, den die Affekte verursachen, vertreiben können. Vives’ nachhaltigste Leistung lässt sich insgesamt am besten als Reformpädagogik ­charakterisieren. Die hervorragende Rolle der Affekte innerhalb seines Erziehungsprogramms kommt allerdings in einer Passage am nachhaltigsten zum Ausdruck, die uns heute eher als schwarze Pädagogik anmutet: In seinen Erläu-

117 Carlos Noreña: Foreword. In: Juan Luis Vives: The Passions of the Soul. The Third Book of De Anima et Vita. Einleit. und übers. von Carlos G. Noreña. Lewiston/Queenston/Lampeter: The Edwin Mellen Press 1990, S. I–XV, hier: S. VIII. 118 Das Werk De civitate Dei divi Aurelii Augustinii (Löwen 1521) wurde später auf den Index gesetzt. 119 Vgl. dazu De trinitate, Buch XIV und Buch XV. Die Diskussion um den freien Willen wurde wesentlich durch Luthers Heterodoxie ausgelöst und auf Seiten katholischer Reformer durch die Beiträge von Vives’ Jugendfreund Erasmus angeregt. Deren Freundschaft wurde gerade aufgrund der Frage des liber arbitrio auf die Probe gestellt. Vgl. dazu Del Nero: A Philosophical Treatise, S. 300. 120 Vgl. dazu Giovanni Pico della Mirandola (1496): Über die Würde des Menschen (De dignitate hominis), Lat.-Dt., Hg. von August Buck. Hamburg: Felix Meiner 1990.



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terungen zur Memoria betont er die zentrale Bedeutung emotionaler Verstärker bei der Fixierung von Erinnerungsbildern. Als Beispiel führt er an, wie Kindern durch Schläge geographisches Wissen erlangen.121 Letztlich hängt es aber von der richtigen (Selbst)Erziehung ab, ob die Affekte auch tatsächlich ihrem telos gemäß wirksam werden, den Vives folgendermaßen definiert: «Velut ex duobus illis Dei numeribus bonum esse conservationem sui ipsuis, et beate vivere».122 Als Impuls jedweder Bewegung begegnet uns damit erneut das zentrale Paradigma frühneuzeitlicher Naturphilosophie, das auch bei Fracastoro organische Prozesse leitet: die Selbsterhaltung, der conatus. Vives hat aber gleichzeitig ein metaphysisches Ziel vor Augen: Der conatus neigt sich dem transzendental Guten zu. Die Passage zum freien Willen dokumentiert, dass Vives neben Willensfreiheit und Selbsterhaltung auch ein formales Objekt von Emotionen annimmt: Das Gute ist ausdrücklich eins für alle Naturwesen, aber leider sind wir oft so ungebildet, dass wir uns falsche Vorstellungen davon machen, wie aus der Passage hervorgeht. Das universell Gute muss also vom Menschen in den «richtigen» Objekten gesucht werden. Vives’ christliche Metaphysik erweist sich somit als ausgesprochen rationalistisch: Selbsterhaltung wird durch Selbsterkenntnis erreicht, die wie die Sprachfähigkeit erst im Lebensvollzug allmählich einholbar ist. Wie bei Fracastoro folgen auch bei Vives die Bewegungen der Seele dem Prinzip der similitudo, allerdings operiert dieser mit der neuplatonischen Metapher des Spiegels: [...] denn Ähnlichkeit ist der Grund für Liebe, gleichsam zu einem anderen Selbst, weil Ähnlichkeit gewissermaßen dasselbe erzeugt, und so kommen alle Lebewesen leicht mit anderen zusammen, die ihnen dem Aussehen nach ähneln, und Kinder umarmen und küssen Spiegel, in denen sie ihr Abbild sehen, weil sie meinen, es sei irgendein Kindchen da drinnen, das ihnen ähnlich ist. Wie groß muss man sich jenes Feuer der Liebe vorstellen, das im Geist Adams entfacht wurde, als er Eva zum ersten Mal gesehen hat, in der er gleichsam sich selbst erblickt hat in einem völlig neuartigen Ansehen?123

Wären da nicht der etwas pathetische Stil und die Referenz auf die Genesis, ginge dieses Zitat auch als Teil eines feministischen Kommentars auf Jacques Lacans

121 Vives: De Anima, S. 361. 122 Vives: De Anima, S. 422. 123 Vives: De Anima, S. 429: similitudo enim amoris est causa, tamquam in alterum ipsum, quoniam similitudo idem quodammodo efficit, eoque animantes omnes ad similes sibi formas facile aggregantur, et pueri complectuntur ac deosculantur specula, in quibus imaginem sui aspiciunt, quoniam inesse intus arbitrantur puerulum aliquem sibi similem: ¿quantam existimari convenit fuisse illam amoris flammam, quae in animo Adae ad primum Evae conspectum excitata est, in qua ille velut semet ipsum est intuitus aspectu novo penitus?

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Spiegelstadium durch. Bekanntlich konstituiert sich Ganzheit und die Gewissheit der ‹Selbigkeit› im menschlichen Individuationsprozess laut Lacan in der präödipalen Phase, während der das Kleinkind im Spiegel der Mutter, also gewissermaßen außer sich Identität findet.124 Aus dieser Urerfahrung, die mit einer jubilatorischen Geste verbunden ist,125 konstellieren sich unsere weiteren Beziehungsentwürfe, die somit immer auch im Dienste der gespiegelten Identitätsversicherung sind, um damit die dahinter liegende Spaltung abzuwehren. Tatsächlich ist Vives ein vergleichsweise philogyner Humanist,126 wenngleich er die konventionelle physiologische Unterlegenheit der Frau in seinen Kommentaren zur humoralen Konstitution perpetuiert. Eine spanische Naturphilosophin des ausklingenden 16. Jahrhunderts wird hier um einiges forscher die Partei der Frauen ergreifen, indem sie in der für frühneuzeitliche Neukonzeptionen typischen eklektischen Aneignung verschiedener Denktraditionen die Aufwertung der Materie für die Aufwertung des Weiblichen nutzt.

Oliva Sabuco: Stoa im protofeministischen Kopfstand Oliva Sabuco de Nantes y Barrera war 25 Jahre alt, als die editio princeps ihrer Nueva filosofía de la naturaleza del hombre in Madrid erschien (1587). Darin entwickelt die Tochter eines Apothekers aus der spanischen Provinz Albacete ein radikal naturalistisches Menschenbild und verweist mit ihren physiologischen Neuerungen auf spätere medizinische Errungenschaften. Das Werk fand beachtliche Resonanz und wurde während der Lebenszeit der Autorin dreimal wieder aufgelegt. Der Fund des Testaments ihres Vaters im Jahr 1903, worin dieser die Autorschaft für sich reklamiert, führte zu einem in der Frauen- und Geschlechtergeschichte bekannten Phänomen: die Enteignung der weiblichen Signatur. Bislang konnte dieser Eingriff in Urheberinnenrechte durch keine schlüssige Argumentation oder weitere Fakten gerechtfertigt werden. Hinzu kommt die ­Tatsache, dass das Werk wie gesagt zu Lebzeiten der Autorin und darüber hinaus

124 Lena Lindhoff: Einführung in die feministische Literaturtheorie. Stuttgart/Weimar: Metzler 1995, S. 76. 125 Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: Ders.: Schriften I. Weinheim/Berlin: Quadriga, 1991, 61–70, hier: S. 63. 126 Davon zeugt etwa seine Schrift De institutione feminae christianae (Oxford 1523), in der er für die Erziehung und das Recht auf Bildung der Frauen eintritt.



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bis zu besagtem Fund unter ihrem Namen herausgegeben wurde. Deshalb gehe ich von der originalen Autorinnenschaft aus.127 Strukturell wirkt die Nueva filosofía wie das Gegenstück zu Vives’ De anima. Vives lehnt Aufbau und Thematik seines Textes eng an das Vorbild Aristoteles’ an. Seine Auseinandersetzung mit der peripathetischen Naturphilosophie verlässt erst am Ende das wohlbekannte Terrain scholastischer Kommentare zum antiken Meisterdenker: nämlich just mit dem Katalog der Emotionen. In diesem abschließenden dritten Buch wird der Text auch beredter und rhetorisch aufgeladener und zieht zahlreiche alltagsrelevante Beispiele zur Erläuterung heran, wie die vorgestellten Textpassagen demonstrieren. Sabuco hingegen beginnt ihr Werk schon mit einem fiktionalen Setting, in dem drei Schäfer die Wirkweise der Affekte besprechen. Erst nach diesem vergleichsweise allgemeinzugänglichen Dialog verdichtet sich ihr Text zu immer elaborierteren naturphilosophischen Theoremen. Auch innerhalb der Affektelehre gehen Sabuco und Vives konträr vor: Vives beginnt mit der Liebe als modellhafter Seelenregung und verdeutlicht schon damit sein zuallererst christlich ethisches Programm. Erst nach der Diskussion der jeweils vier unterstützenden Basisaffekte widmet er sich deren schädlichen Pendants. Positive und negative Primäraffekte modellieren sich zu weiteren Bewegungen der Seele, da sie entweder auf die Vergangenheit oder auf die Zukunft projiziert werden. Doch auch bei den negativsten Gefühlregungen wie Hass mahnt Vives einen transzendentalen Mehrwert auf dem Weg zur Gottähnlichkeit ein. Sabuco dagegen integriert ihre Affektdoktrin von Beginn an in einen medizinischen Diskurs und begreift diese Seelenbewegungen als potentielle Störmomente in Bezug auf die optimale Lebensdauer und Gesundheit der Menschen. So nimmt es nicht Wunder, dass sie mit den negativen Affekten Kummer und Ärger einleitet und erst zum Abschluss und vergleichsweise kursorisch gesundheitsfördernde Emotionen vorstellt. In dieser engeren Anlehnung an die stoische Psychologie bleibt Sabuco in vielen Details hinter Vives’ Innovationen zurück: Seine ausgefeilte Taxonomie der Emotionen nach Qualität und Intensität vermisst man in ihrem Dialog ebenso wie die Frage der Willensfreiheit. Ganz im Geiste einer filosofía médica fokussiert sie stärker auf das leibliche Geschehen: Wie wirken die Affekte? Und welche Kuren gegen deren Schädigung gibt es?

127 Zur Debatte um die Autorschaft siehe: Marlen Bidwell-Steiner: Große Welt-kleine Welt – ­verkehrte Welt. Die philogyne Naturphilosophie der Renaissance-Denkerin Oliva Sabuco de Nantes y Barrera. Innsbruck: Studienverlag 2009, S. 65–73. Im weiteren Text findet sich eine eingehende Analyse des Werks sowie eine Teilübersetzung. Das in der feministischen Forschung wiederkehrende Phänomen der Tilgung weiblicher Autorschaft wird als Matilda-Effekt bezeichnet.

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In ihrer Physiologie der Affekte geht es Sabuco offenkundig um ein einheitliches, stringentes und auch einfacheres Erklärungsschema für deren Wirkung auf Leib und Seele. Aus ihren Argumentationen lässt sich aber zunehmend ein dezidiert materialistisches Menschenbild extrapolieren: Wir Menschen sind nämlich deshalb so hinfällig und morbid, weil wir eine rationale Seele haben, die affizierbar ist: Como el hombre tiene el anima racional [...] della le resultan las potencias, reminiscencia, memoria, entendimiento, razon y voluntad, situadas en la cabeça, miembro diuino, a que llamo Platon, silla y morada del anima racional [...] De manera que solo el hombre tiene dolor entendido espiritual, de lo presente, pesar de lo passado, temor, congoxa, y cuydado de lo por venir.128

Ausgerechnet die vermeintliche Gottähnlichkeit – die Sabuco im Verlauf des Textes auch immer stärker zurücknehmen wird – erweist sich als Problem für ein erfülltes Leben, weil darin ein Bewusstsein für Zeit angelegt ist, über das andere Naturwesen nicht verfügen. Erst unsere Fähigkeit des Erinnerns und Imaginierens – des Vor- und Nachdenkens – ruft nämlich Ängste, Sorgen, Kummer und schlimme Erwartungen hervor, die – ähnlich wie bei Fracastoro – die pia mater, die innere Gehirnhaut, anrühren. Diese versucht nun, die verhassten species über den spiritus des Gehirns in den restlichen Körper abzuleiten, was wegen der Temperaturunterschiede zwischen diesem kühlen «Botenstoff» aus dem Kopf und den warmen humores in Magen und Herz Krankheit hervorruft: [...] aquella especie que entra por vno de los cinco sentidos tan aborrecida, y contraria, y que tanto le duele al alma, que luego el entendimiento y voluntad le arrojan, y sacuden, con mouimiento de la pia madre de si, no queriendo que aquello fuera en el mundo [...] que arrojan tambien con ella toda la sustancia, humidad, y xugo, que tenia la rayz el celebro para alimento, salud, y vegetacion de sus ramas [...].129

Der Schäfer Antonio, der uns mit Bewegungen der Seele vertraut macht, lässt denn auch keinen Zweifel daran, dass den Menschen keine andere der sex res non naturales derart gravierend schädige wie die Affekte. Auf die Frage seines Schäferfreundes, ob denn nicht auch schlechte Nahrung den Menschen krank mache, antwortet er:

128 Ich zitiere nach der Zweitausgabe des Werks, da dieses an der Nationalbibliothek in Wien einsehbar ist und außerdem die von der Autorin selbst korrigierte Fassung darstellt, welche die editio princeps um eine tassa, eine Inhaltsangabe, erweitert: Oliva Sabuco de Nantes y Barrera: Nueva filosofía de la naturaleza del hombre. Madrid: Madrigal 1588, fol. 9 re.–10 li. 129 Sabuco: Nueva filosofía, fol. 45 re.–46 li.



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Pero es meaja el daño que el comer demasiado haze en los hombres en la armonia segunda del estomago, en comparacion del daño que hace el enojo, y pesar [...] y otros afectos en la armonia primera, y principal del celebro, donde habita, y mora el anima diuina, desbaratandola, y haziendo discordia entre alma, y cuerpo, mediante las especies contrarias, y aborrecidas que allí entran por las cinco puertas de los cinco sentidos.130

Diese Unterscheidung in zwei Harmonien, die mit der Unterscheidung zwischen Seele und Körper korrespondiert, scheint meine These zu widerlegen, die Nueva filosofía entwickle ein ebenso holistisches wie materialistisches Menschenmodell. Wie ich in den nachfolgenden Kapiteln ausführlicher darstellen werde, dekonstruiert Sabuco im weiteren Verlauf des Textes aber den hier anklingenden Hylemorphismus, da die Seele über die Schaltzentrale des Gehirns den gesamten Körper influiert. Die wenigen Affekte, die sie als ausschließlich dem Menschen eignend anführt, die wir also unserer vermeintlichen Rationalität verdanken, sind denn auch besonders negativ, entweder für die Harmonie des Kollektivs oder für die Harmonie des Subjekts. Ersteres zeigt sich etwa im Hass, denn «El odio a su semejante, y de su propia especie, solo el hombre lo tiene.»131 Der Grund dafür liegt in der kognitiven «memoria del mal», die einem der Mitmensch «con su arbitrio», also willentlich zufügte.132 In diesem Fall begegnet uns gewissermaßen ein formales Objekt zweiter Ordnung. Hass bezieht sich ja auf jene species, die die Seele bei dem vom Anderen ursprünglich zugefügten Unrecht affizierten. Auch hier zeigt sich der forcierte Materialismus von Sabuco, denn da es sich um eine erinnerte species handelt, schadet sie wesentlich weniger als eine «frische»: «[...] haze gran daño a la salud, porque derriba del celebro su parte, aunque menos que el mal, y daño quando fue presente a la primera llegada».133 Ein Beispiel für einen weiteren ausschließlich menschlichen Affekt, der die individuelle Harmonie schädigt, ist der Hochmut: «Los soberuios son como los altos lugares, y cumbres de montes: los quales son combatidos, y heridos mas de los ayres, y rayos, que no los valles, y lugares baxos».134 Gegen diesen «abgehobenen» Affekt gibt es entsprechend wenig Gegenmittel, denn er führt in die Einsamkeit, was der natürlichen Konstitution des Menschen widerspricht, denn: El amor a su semejante es afecto natural, da salud, y alegria, porque el hombre es animal sociable [...] La soledad le es muy contraria, y causa melancolia, [...] porque es necessario al

130 Sabuco: Nueva filosofía, fol. 43 li. 131 Sabuco: Nueva filosofía, fol. 30 li. 132 Sabuco: Nueva filosofía, fol. 30 li. 133 Sabuco: Nueva filosofía, fol. 30 re. 134 Sabuco: Nueva filosofía, fol. 140 re.

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hombre tener donde emplee este afecto de amor [...] pero mira que ha de ser con la cautela [...] porque el demasiado amor es muy peligroso, y acarrea muchas muertes [...].135

Von dieser natürlichen Bestimmung des Menschen als soziales Wesen leiten sich demnach auch die wichtigsten Kuren gegen die schädlichen Affekte ab: Unmittelbar nach dem Einwirken eines Affektes hilft etwa insinuación retórica.136 Diese rhetorische Einschmeichlung umfasst in etwa das, was wir im Volksmund als «gut zureden» bezeichnen. Der bzw. dem Affizierten sollen mit sanfter Stimme die eigenen Vorzüge sowie die vorteilhaften Seiten des erlittenen Affekts näher gebracht werden. Aber auch vorbeugend wirkt eine Redekur, die sogenannte eutropelia. Wird nämlich der Mensch als soziales Wesen durch Gespräche angeregt, bildet er einen gelasseneren Habitus aus. Dieser ermöglicht dem Menschen auch einen besseren Umgang mit der ihm gegebenen prekären Zeitlichkeit bzw. ein positiv grundiertes Zeitbewusstsein: Statt Furcht vor der Zukunft kann er eine Grundhaltung der Zuversicht einnehmen. So kommen dann eigentlich nur mehr formale Objekte für positive Gefühlsregungen in Betracht, denn die Erwartung ist auf jene Elemente gerichtet, die die pia mater – die als Hand der Seele bezeichnet wird137 – erheben und somit konativ wirken. Analog zur Verbaltherapie durch Andere können wir uns aber auch selbst kurieren. Denn durch Autosuggestion kann ein scheinbares Missgeschick als hilfreich für die eigene Entwicklung umsemantisiert werden, gerade so, wie das in modernen Therapieangeboten wie etwa der systemischen Familientherapie als Reframing angewandt wird: «Dixo un sabio, haz de grado, y a plazer, lo que por fuerça has de hazer [...] ¿Quantas cosas juzga el hombre a las vezes por dañosas que despues se conuierten en bien y en prouecho?»138 Letztlich steht demnach auch Sabucos Affektetheorie im Zeichen eines Erziehungsprogramms. Ihre Diskussion der einzelnen Seelenregungen zielt allerdings weniger auf die christlich-ethische Lehre, sondern auf Selbsterkenntnis durch Selbsterforschung. Ein weiteres überraschend aktuell anmutendes Element in Sabucos Affektelehre ließe sich als gendered medicine umschreiben: In der Diskussion der einzelner Affekte wird immer wieder auf die spezifischen Probleme von Frauen verwiesen. Dabei geht es weniger um Krankheit aufgrund einer genuin weiblichen Physiologie, sondern vielmehr um Affekte, die mit weiblichen Erfahrungen einhergehen, wie etwa Furcht während der Schwangerschaft oder Kummer aufgrund

135 Sabuco: Nueva filosofía, fol. 49 li.–re. 136 Sabuco: Nueva filosofía, fol. 19 li. 137 Zu der wie schon bei Fracastoro beschriebenen Doppelfunktion eines Begriffs als Metapher und als Fachterminus siehe Bidwell-Steiner: Große Welt, S. 90 ff. 138 Sabuco: Nueva filosofía, fol. 17 li.–re.



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einer unglücklichen Eheschließung. Diese gendergerechte Diskussion des menschlichen Emotionshaushaltes ist aber nur ein Aspekt dessen, was ich andernorts als philogyne Naturphilosophie bezeichnet habe. Wie im nächsten Kapitel noch näher erläutert wird, fügen sich die materialistischen Bausteine der Nueva filosofía nämlich zu einer präzise durchargumentierten weiblich konnotierten Ontologie. Daraus lässt sich freilich keineswegs ableiten, dass materialistische Strömungen der Frühen Neuzeit immer frauenfreundliche Konzeptionen hervorbringen. Zum Abschluss dieses Parcours durch mediterrane Emotionslehren des 16. Jahrhunderts soll noch ein Autor vorgestellt werden, dessen Reformen der Humoralpathologie ein deterministisches Menschenbild entwerfen, in dem die Frau aufgrund ihrer physiologischen Konstitution ausschließlich zur Rolle der Gebärenden befähigt ist.

Juan Huarte de San Juan: Inhärente Affektprogramme Der 1575 vom Arzt Juan Huarte de San Juan publizierte Examen de ingenios para las ciencias gilt als Gründungstext der spanischen Psychologie und wurde unmittelbar nach seinem Erscheinen ein internationaler Bestseller. Das ist umso erstaunlicher, als er weder aus philosophischer noch aus rhetorischer Perspektive besonders innovativ ist. Aber offensichtlich traf Huarte den Nerv seiner Zeit.139 Er versprach nichts Geringeres als ein präzises psychologisches Mapping individueller Talente für Ämter und Berufe auf Grundlage traditioneller medizinischer Erkenntnisse. Seine Tendenz, dabei ephimere Elemente der Physiologie zu unveränderlichen statischen Charaktereigenschaften umzudeuten, erinnert aus heutiger Sicht an spätere Eugenikprogramme.140 Bei näherer Betrachtung

139 Eine detailliertere Einbettung des misogynen Materialismus bei Huarte als Geschichte der longue durée in Zusammenschau mit anders fundierten, aber rhetorisch ähnlich argumentierten Elementen bei Cesare Lombroso im ausgehenden 19. Jahrhundert und neuropsychologischen Paradigmen aus dem beginnenden 21. Jahrhundert gebe ich in Marlen Bidwell Steiner: Arguments about Female Deficiencies in Changing Discoursive Clothes: From the ‹Humournome› via the Genome to the ‹Hormonome›. In: Stefanie Knauss/Theresa Wobbe/Giovanna Covi (Hg.): Gendered Ways of Knowing in Science. Scope and Limitations. Trento: Fondazione Bruno Kessler Press 2012, S. ­109–133. Einige der in diesem Text eingeführten Argumente finden sich hier in neuem Kontext wieder. 140 Dieser Eindruck wird besonders unheimlich, wenn man vom bisher in der Forschung vorherrschenden Befund ausgeht, wonach Huarte converso gewesen sei. Dieser These wurde auch widersprochen, etwa in José Luis Peset: Genio y desorden. Valladolid: Cuatro 1999; José Javier Biurrun Lizarazu: Huarte de San Juan: vida y obra en el contexto politico y religioso de la España del siglo XVI. In: El Basilisco, 21/1996, S. 16–17. In seinem singulären Werk kommt Huarte jedenfalls erstaunlich oft auf die humorale Beschaffenheit der Juden zu sprechen.

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geht es Huarte allerdings nicht um sozialen Ausschluss, sondern vielmehr um Einschluss. Um dieses scheinbar widersprüchliche Argument zu verstehen, ist ein Blick auf den sozialpolitischen Kontext seines Schreibens unerlässlich. Unter Philipp II. befand sich das spanische Reich bereits im Niedergang: Mehrfach kam es zu Inflation; die Wirtschaft litt außerdem unter der hohen Nobilitierungsrate und der damit verbundenen mangelnden sozialen Mobilität sowie der mangelnden ökonomischen Dynamik. In diesem Lichte erscheint Huarte als Reformer: als Arzt, der seine professionelle Expertise anbietet, um seinem Land zu neuer Prosperität zu verhelfen. Er verfolgt einen strikt materialistischen Ansatz, der an Metaphysik ebenso wenig interessiert ist wie am aristokratischen Ehrenkodex. Vielmehr propagieren die physio-psychologischen Berufsprofile des Examen Aufstiegsmöglichkeiten für talentierte Individuen niedriger sozialer Herkunft. Indem Huarte also im absolutistischen und feudalistischen Spanien ein hochvirulentes Thema erörtert, agiert er durchaus progressiv. Doch kann eine Person gleichzeitig progressiv und konservativ sein, ein Befund, der sich besonders aufdrängt, wenn es um die Ökonomie der Geschlechter geht: Pero, quedando la mujer en su disposición natural, todo genero de letras y sabiduría es repugnante a su ingenio. Por donde la Iglesia católica con gran razón tiene prohibido que ninguna mujer pueda predicar ni confesar ni enseñar, porque su sexo no admite prudencia ni disciplina.141

Die Frau ist nicht zu intelligiblen Leistungen befähigt, weil es ihrer Natur widerspricht. Als Beweis dafür wird Eva angeführt. Der Dämon habe sich deshalb an sie und nicht an Adam gewandt, weil er wusste, dass sie weniger reflektiert und daher verführbarer sei. Ihre gottgegebene teleologische Bestimmung war es nämlich schon vor dem Sündenfall, ein fruchtbares Nährbecken für den männlichen Samen bereitzustellen. Gemäß der aristotelisch-galenischen Säftelehre muss dieses kalt und feucht sein, was nun aber ein phlegmatisches Temperament hervorbringt, mithin höhere geistige Fähigkeiten ausschließt. Nach der gleichen Logik sind für Huarte Gefühlsregungen – er spricht in diesem Zusammenhang durchaus im Einklang mit seiner deterministischen Körperkonzeption von Passionen – Nebenprodukte der natürlichen Disposition unterschiedlicher menschlicher Temperamente: Los que tienen fuerte imaginativa ya hemos dicho atrás que son de temperamento muy caliente y de esta calidad nacen tres principales vicios del hombre: soberbia, gula y lujuria [...]

141 Juan Huarte de San Juan (1575): Examen de ingenios para las ciencias, hg. von Felisa Fresco Otero. Madrid: Espasa Calpe (Edición Austral) 1991, S. 305.



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Y que del calor nazcan estas tres malas inclinaciones y de la frialdad las virtudes contrarias, pruébalo Aristóteles [...]142

Anders als Sabuco verfolgt Huarte also nicht das Ziel, die Effekte menschlicher Passionen möglichst unschädlich zu machen bzw. zu kurieren. Auch die Möglichkeit, Affekte über Vergemeinschaftung zu modellieren, wie es Vives vorschlägt, interessiert ihn nicht. Für Huarte sind Gefühlsregungen manifester Bestandteil einer charakterlichen Disposition der Menschen, d. h. der Männer. Ein gut geführter Staat muss diese nun an adäquaten Stellen einsetzen, um deren Affektprogramme und Talente für die Staatsräson nutzbar zu machen. Dieses materialistische Konzept zielt also nicht auf eine Harmonie, in der Extreme möglichst nivelliert werden, wie das in den bisher vorgestellten Affektlehren mehr oder weniger der Fall ist. In Huartes «Prüfung der Köpfe», wie Gottfried Ephraim Lessing den Titel des Werkes 200 Jahre später ins Deutsche übersetzen wird, gibt es für jedes Temperament ein geeignetes Betätigungsfeld; Harmonie kann allenfalls dadurch hergestellt werden, dass die naturgegebenen Hierarchien zwischen den Köpfen innerhalb des Sozialkörpers getreu abgebildet werden. Huartes emphatischer Naturbegriff anerkennt aber nicht nur Hierarchien in den Begabungen der Menschen. Er übernimmt aus Aristotelismus und Galenismus auch die hierarchisch organisierte fakultative Psychologie. Die Akzente, die er dabei setzt, stehen im Einklang mit seiner Auffassung eines inhärenten Affekt- und Begabungsprogramms: Im Vergleich zu den bisher vorgestellten DenkerInnen, aber auch im Vergleich zum traditionellen scholastischen System wertet Huarte die Fakultät der Memoria ab. Diese ist für ihn ein rein passives Speicherorgan. Damit steht er in klarer Opposition zu den Reformprogrammen von Vives, Fracastoro oder Sabuco, die der Memoria ja in der Verarbeitung von Affekten und damit in der Erziehung des Menschen eine Schlüsselrolle zukommen lassen. Für den Erfolg von Huartes psychologischen Mappings ist ein statisches – (avant la lettre) biologistisches – Affektprogramm unabdingbar, das fatale argumentative Parallelen zu heutigen Effizienzsteigerungs-Programmen aufweist, wie sie etwa unter dem Stichwort «Neuro recruitment» laufen. Mir scheint diese angeblich objektiv wissenschaftliche Talentebestimmung und Talenteoptimierung aus dem 21. Jahrhundert ebenso suspekt wie Huartes Kartographie des Sozialkörpers im 16. Jahrhundert.

142 Juan Huarte de San Juan: Examen de ingenios, S. 185.

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Kongruenzen und Divergenzen: Ein Zwischenbefund der vorgestellten Emotionslehren Um eine produktive Gegenüberstellungen der Theorien zu den Bewegungen der Seele aus dem 16. Jahrhundert mit Affekttheorien von heute leisten zu können, sollen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der vorgestellten Texte von Vives, Fracastoro, Sabuco und Huarte noch einmal herausgearbeitet werden. ­Gemeinsam ist ihren Konzepten ein radikal materialistisch ausgerichtetes Menschenbild, das jeweils an unterschiedlichen Scharnieren mit der fakultativen Psychologie der Scholastik bricht. Alle Texte enthalten auch Reformvorschläge, die den Umgang mit Emotionen betreffen. Die Motivation, den aristotelischen Hylemorphismus zu reformieren bzw. zu überwinden, lässt sich vor allem in den Texten von Fracastoro und Sabuco erkennen. Sie entwickeln ein allumspannendes Prinzip, das sich als übergeordnetes Axiom jedweden Naturgeschehens herausstellt. Dieses einheitliche Prinzip etablieren sie mit der Sympathie. Wie ich später noch weiter ausführen werde, lässt sich daran ersehen, wie aus der spekulativen Neuformulierung traditioneller Paradigmen ein heuristisch wirkungsvolles und für nachfolgende Neuerungen wirkmächtiges Programm hervorgehen kann. Vorstellungen von Sympathie und Consensus entsprechen nicht nur dem stoischen Animal mundi, sie korrespondieren ganz generell mit dem vorherrschenden Denkstil in Analogien, der die medizinische Philosophie des Abendlandes in Mittelalter und Früher Neuzeit prägte. Unter anderem zeigt sich das in der gängigen Praxis möglicher Therapien und Rezepturen: Ähnliches wird durch Ähnliches geheilt, weshalb der Genuss von Nüssen die Gehirnaktivität fördert und Wein die körpereigenen spiritus anregt.143 Analogien bilden also die Basis der sogenannten Signaturenlehre,144 wofür astrologische und magische Beziehungen als Erklärungsmodell herangezogen werden. Die hier vorgestellten materialistischen DenkerInnen stellen nun derartige Wirkzusammenhänge in den Kontext physischer Gesetzmäßigkeiten und verknüpfen sie mit empirisch beobachtbaren Daten.145 143 Diese Beispiele kommen etwa in Sabucos Affektelehre immer wieder vor. Siehe dazu Sabuco: Nueva filosofía, fol. 25 ff. 144 Eine gute Einführung in die Signaturenlehre gibt Umberto Eco: Kunst und Schönheit im ­Mittelalter. München: dtv 1993 im Kapitel 12.6 «Sympathie versus ‹proportio›», S. 209–213. 145 An dieser Stelle sei nochmals darauf verwiesen, dass Empirie in diesem Zusammenhang nicht wie heute eine geregelte Systematik und Taxonomie der Forschung umfasst, sondern beobachtbares und mitteilbares Erfahrungswissen, das sich gegen metaphysische und magische Erklärungen wendet. Siehe dazu auch Gerhard Penzkofer/Wolfgang Matzat (Hg.): Einleitung. In: Dies.: Der Prozess der Imagination: Magie und Empirie in der spanischen Literatur. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2005, S. 1–10.



Emotionen in Leib-Seele-Debatten des 16. Jahrhunderts 

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Fracastoro und Sabuco gehen aber über diese vertrauten Prinzipien der similitudo insofern hinaus, als sie sie dynamisieren. Naturobjekte befinden sich in einem beständigen physischen Kontakt, die Grenzen zwischen ihnen sind durchlässig. Als Leitmetaphern beider DenkerInnen fungieren folglich solche des Berührens und Fließens. Dabei folgen Körper aber dem conatus, weshalb sie sich vor allem zu Objekten hin öffnen, die Selbsterhaltung bzw. Selbsterweiterung ermöglichen: Ähnliches wird assimiliert. Anders als in heutigen konativen Emotionstheorien unterliegen Affekte also nicht irgendwelchen Wünschen, sondern eher dem Selbsterhaltungstrieb im Freudschen Sinne. Triebe sind aber ebenso wie kognitive Urteile von körperlicher Konstitution und von den Erfahrungen des Individuums durchformt, weshalb der cognitive/conative divide im Verständnis der materialistischen Affektlehren der Frühen Neuzeit keinen Sinn macht. Das gilt auch für Huarte und für Vives, deren Emotionstheorien durchaus ähnliche Elemente in ideologisch gegensätzliche Kontexte einpassen. Vives integriert seine Psychologie in eine dezidiert christliche Ethik. Seine Umsemantisierung negativer Affekte als Antriebe der Selbsterziehung sowie der Akzent auf die kommunikative Kraft der Affekte unterläuft ein hierarchisches Gesellschaftsmodell, das bei Huarte als durchnaturalisiertes Ordnungsprinzip scheinbar überzeitliche Gültigkeit erhält. Vives entwickelt eine ausgefeilte Psychologie für die Gemeinschaft der ChristInnen, während der Arzt Huarte de San Juan eine Politik der Harmonie des kollektiven Säftehaushalts vorschlägt. Damit kehrt Huarte die gängige Analogie zwischen dem Gleichgewicht der körperlichen humores und dem Gleichgewicht der politischen Kräfte wieder gemäß ihres antiken ethymologischen Ursprungs um.146 Fracastoro und Sabuco formulieren ihre Emotionslehren innerhalb einer dezidiert medizinisch fundierten Naturphilosophie, die auf dem Prinzip des conatus beruht. Die sich im 16. und 17. Jahrhundert zunehmend pluralisierende Gesellschaft verlangt nach Reformen. Trotz aller ideologischen Unterschiede stimmen Vives, Fracastoro, Huarte und Sabuco darin überein, dass Reformen nicht auf normativer Ebene, sondern nur über die Erziehung des Einzelnen erreicht werden. Gnothi

146 Vgl dazu folgendes Zitat von Erich  Schöner: Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie. Wiesbaden: Steiner  1964, S. 14: «Wichtig für das Verständnis des Verhältnisses der Säfte untereinander war der Begriff der Isonomie, der aus dem politischen Bereich stammte und die gleichberechtigte Beteiligung an Legislative und Exekutive beschrieb. Als Eukrasie, als gute ­Mischung, wird sie in Anlehnung an entsprechende Vorstellungen des Alkmaion von Kroton (um 500) aufgenommen und charakterisiert die Gesundheit. Krankheit wird demgegenüber aus dieser Säftevorstellung als Dyskrasie, als ein Missverhältnis, eine fehlerhafte Mischung der Säfte, bestimmt.»

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sauton, das Lemma der Selbsterkenntnis im Tempel von Delphi, findet sich ­implizit oder explizit in unterschiedlicher Perspektivierung in allen vorgestellten philosophischen Programmen: Als Aufgabe auf dem Weg ins Jenseits bei Vives, als Voraussetzung für den naturgemäß vorbestimmten richtigen Lebensvollzug bei Huarte, als konatives Prinzip der Selbsterhaltung, Selbstentfaltung und damit Lebensverlängerung bei Sabuco und Fracastoro. Die Textbeispiele belegen auch, dass Leib und Seele, Emotion und Ratio, Faktisches und Symbolisches ein komplexes Kontinuum bilden. Derartige Grundannahmen tendieren zu holistischen Weltmodellen. In den vorgestellten Texten werden Leib und Seele, Emotion und Ratio ganzheitlich, zunehmend aber auch materialistisch gedacht. Daraus resultiert der scheinbare Widerspruch, dass viele jener Paradigmen, die wir im 16. Jahrhundert noch in ein holistisches System eingepasst sehen, ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in völlig anderer Semantik wieder auftauchen. Denn WissenschaftlerInnen, die wir der sogenannten Scientific Revolution zurechnen, wie etwa die Royal Society, benutzen Texte von Fracastoro, Huarte, etc. als eine Art Steinbruch, dessen Bausteine endlich einer systematischen und daher fragmentierten Wissensorganisation zugeführt werden müssen. Während das 16. Jahrhundert noch von belebten Materien ausging, die dynamische Interaktionen unterhielten, ist der Materialismus der Folgezeit von der Vorstellung mechanischer und rationaler Prozesse geleitet. Physische Prozesse sind ja segmentierbar und als solches beobachtbar und zwar ungeachtet, ob innerhalb oder außerhalb des Körpers, wenn nur die geeigneten Instrumente verfügbar sind. Der Körper in seiner Zeitlichkeit und damit Korrumpierbarkeit erweist sich in der neuen Wissenschaftsnorm aber als zunehmend problematisch. Die Instanz des Wissenschafters als rationaler Mastermind muss überzeitlich gültige Ergebnisse sicherstellen. Der Weg vom spekulativen holistischen Materialismus des 16. Jahrhunderts zu den modernen Naturwissenschaften ließe sich polemisch als jener von lebendiger zu toter Materie fassen. Nicht zufällig erhoben die Lebenswissenschaften für die Scientific Revolution ein zuvor geringgeschätztes medizinisches Verfahren zur Leitdisziplin, deren Untersuchungsgegenstand der menschliche Kadaver ist: die Anatomie.147 Im 20. Jahrhundert wird unter dem Schlagwort der philosophischen Phänomenologie die Leiblichkeit epistemologisch rehabilitiert, womit auch die Emotionen erneut in den Blickpunkt philosophischer Analyse geraten. Ein wichtiger

147 Siehe dazu auch Carolyn Merchant: The Death of Nature: Women, Ecology, and the Scientific Revolution. New York: Harper & Roe 1980, worauf ich im Kapitel Mensch & Artefakt nochmals eingehen werde.



Emotionen in Leib-Seele-Debatten des 16. Jahrhunderts 

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Vertreter dieser Ausrichtung greift Elemente des holistischen Materialismus der Frühen Neuzeit auf und präzisiert deren Zusammenspiel: Ernst Cassirer. Für den deutschen Philosophen manifestiert sich gerade in den Emotionen die doppelte Gerichtetheit des Menschen als «animal symbolicum».148 ­Cassirer  entwirft damit eine sehr originäre kulturelle Anthropologie, nimmt aber gleichzeitig deren politische Dimension in den Blick. Wie kaum ein anderer Philosoph des 20. Jahrhunderts betont er die Notwendigkeit des Mythos für die Soziabilität des Menschen. Literatur und Theater kommt dabei die Funktion zu, Emotionen kollektiv erfahrbar zu machen und so das Selbst durch das Erlebnis des/r Anderen auszubilden. Cassirer rekurriert in seiner Philosophie der symbolischen Formen u. a. auf die Frühe Neuzeit, in der Künstler wie ­Cervantes oder Shakespeare die Aporie zwischen den affektiv gegensätzlich unterlegten Genres von Tragödie und Komödie in einer einzigartigen «coincidentia oppositorum» aufgehoben hätten. Bei Aristoteles ist die Tragödie formal und funktional noch streng von der Komödie geschieden. Dementsprechend finden sich die unterschiedlichen Aspekte menschlicher Emotionalität in unterschiedlichen Texten: ihre mediale und ästhetische Ausdrucksform in der Poetik, ihre ­politische Dimension in der Rhetorik, ihre physiologische Komponente in  den naturphilosophischen Schriften wie etwa De Anima und den Parva Naturalia. Wie ich anhand der Textauszüge der vorgestellten AutorInnen des 16. Jahrhunderts gezeigt habe, heben auch sie je nach Zielsetzung ihrer Schrift jeweils einen Aspekt der Seelenbewegungen hervor. Dennoch verlieren sie nie die komplementären Phänomene von Emotionalität aus dem Blick. Fracastoro geht es wie dargestellt vor allem um die naturphilosophische Fundierung der Affekte. In seiner Erläuterung zur Wirkweise der Phantasie findet sich aber auch eine bedeutsame Parallele zur symbolischen Dimension von Emotionalität: Jene species, die die Phantasie dem Geist vorführt, sind wie Repräsentationen auf der Bühne.149 Damit ist klar, dass die menschliche Materialität immer schon symbolisch durchformt ist. Im folgenden Kapitel soll nun gezeigt werden, wie das animal symbolicum zur Aufführung gebracht wird.

148 Mein Verständnis von Ernst Cassirer als bedeutenden Emotionstheoretiker verdanke ich vor allem folgendem Artikel: John Michael Krois: ‹A passion can only be overcome by a stronger passion›: Philosophical Anthropology before and after Ernst Cassirer. In: European Review, 13,4/2005, S. 557–575. 149 Fracastoro: De sympathia, fol. 20.

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Das große Welttheater der Gefühle Wie kaum eine soziokulturelle Interaktion eignet sich das Theater zur E ­ rforschung von Gefühlen. Im Unterschied zu anderen spielerischen Großveranstaltungen, etwa dem Fußball, werden Emotionen auf der Bühne bewusst und – soweit möglich – gezielt eingesetzt: Sie werden zur Schau gestellt, inszeniert und ausgetauscht. Gleichzeitig ist der Text ein kollektiver performativer Akt, der den Pakt zwischen AutorInnen – in diesem Fall als Kooperation zwischen AutorIn, DarstellerInnen und RegisseurIn – und RezipientInnen augenscheinlich macht: SchauspielerInnen verkörpern Emotionen, mit deren Hilfe sie die Emotionen der ZuschauerInnen ansprechen. Ob sie damit ihre Wirkung erzielen, erschließt sich freilich nur im Hier und Jetzt der jeweiligen Aufführung. Nicht nur PhilosophInnen von Aristoteles bis Cassirer wussten um die soziale Adhäsions- bzw. Sprengkraft des Theaters: HerrscherInnen aller Zeiten versuchten diese zu kontrollieren oder sie sich nutzbar zu machen. In manchen Epochen scheint die kollektive Lust an der emotionalen Performanz besonders ausgeprägt. Das gilt mit Sicherheit für die Frühe Neuzeit, insbesondere für England und Spanien. Auf der iberischen Halbinsel zeigt sich darin aus meiner Sicht eine fragile Spannung zwischen Tradition und Innovation, die mit dem «nationbuilding» der Habsburger einhergeht. Das Land entwickelt sich langsam von einer zusammengesetzten Monarchie mit massiven Problemen unter den konkurrierenden Adelsgeschlechtern und an den Peripherien hin zu einem ProtoNationalstaat, der eine relativ progressive Verwaltung mit einer überkommenen Feudalökonomie verbindet.150 Als identitätsstiftendes Element dient dem neuen Staatsgefüge die Ideologie der Gegenreformation. Laut Hans Ulrich Gumbrecht führt diese Mischung von beharrenden und fortschrittlichen Elementen und die daraus resultierenden Schwierigkeiten zu einem kollektiven Gefühl der ­«Entwirklichung»,151 die das erstaunliche Nebeneinander von ökonomischem ­Niedergang und einem kulturellen Goldenen Zeitalter, Siglo de Oro, erklären hilft. Am ­unmittelbarsten kanalisiert sich diese Realitätsentfremdung im Theater, wo das Leben zum Traum, la vida es sueño, und die Bühne zur großen Welt, el gran teatro del mundo, wird. Jedenfalls wurde während der Regentschaft der Habsburger in Spanien die comedia zur nationalen Obsession. Mit comedia bezeichnet 150 Vgl. dazu Francisco Comín Comín and Bartolomé Yun Casalilla: Spain: from composite monarchy to nation-state, 1492–1914. An exceptional case? In: Bartolomé Yun Casalilla/Patrick K. O’Brien (Hg.) The Rise of Fiscal States: A Global History, 1500–1914. Cambridge: University Press 2012, S. 233–267. Ich bedanke mich bei Christina Maria Lutter für die Literaturhinweise. 151 Hans Ulrich Gumbrecht: Eine Geschichte der spanischen Literatur. Bd. 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 426.



Das große Welttheater der Gefühle 

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man im frühneuzeitlichen Spanien die vorherrschende Dramengattung, die Elemente der Tragödie und der Komödie, wie sie seit Aristoteles verbindlich etabliert wurden, vermischt. Diese Mischform bezieht sich etwa auf das Nebeneinander niedriger und hoher Stände oder die Suspension der Aristotelischen Einheiten von Zeit, Raum und Aktion. Als nachträgliche theoretische Fundierung und Legitimierung für dieses neue und höchst erfolgreiche Bühnengenre gilt Lope de Vegas dazu verfasste Poetik.152 Es handelt sich also um die genuin spanische Form dessen, was Cassirer als coincidentia oppositorum bezeichnet. Alle Gesellschaftsstände hatten Anteil daran; und vor allem der Hof der Habsburger wurde zur (politischen) Bühne. Im Folgenden werde ich nicht die gerade genannten Stücke von Pedro Calderón de la Barca auf ihre affektive Gestaltung hin untersuchen, sondern zwei andere Bühnenwerke vom Meisterdramaturgen des spanischen Siglo de Oro, die seine Virtuosität bei der Entwicklung emotionaler Regimes in der Gegenüberstellung besonders deutlich vor Augen führen. Als Hofdichter von Philipp IV war Calderón selbst Protagonist der barocken Inszenierung der Habsburger: Die ­täglichen Wechselfälle und Ränkespiele der Hofgesellschaft waren ihm bestens vertraut, ihre opulenten Feste prägte er mit seinen eigens für die Kulissen des Retiro konzipierten comedias maßgeblich mit. Daneben schuf er aber auch Stücke für das bühnenbegeisterte städtische Ambiente Madrids, das die unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten erfasst hatte. Dieses für die Appellstruktur der Stücke jeweils unterschiedliche Setting werde ich in der Gegenüberstellung der Bühnenwerke La hija del aire (1653) und El médico de su honra (1637) herausarbeiten.153 Beide Werke iszenieren auch Ereignisse der spannungsreichen Geschichte der spanischen Monarchie, in El médico wird explizit ein bereits weit zurückliegender Bruderzwist verarbeitet, während in La hija ein relativ rezenter Konflikt einfließt.

Emotionen im Erstickungstod La hija del aire ist ein Werk für den Hof, das Calderón trotz des späten Publikationsdatums 1653 laut Francisco Ruiz Ramón bereits 1637 verfasst habe, also im 152 Felix Lope de Vega: Arte nuevo de hacer comedias (1609), hg. von de Enrique García SantoTomás. Madrid: Cátedra 22012, vv. 174–180. 153 Teile der folgenden Argumentation, vor allem zum zweiten Stück, habe ich eingeführt in Marlen Bidwell-Steiner: Bespoke Spanish Passions: Calderon’s Medico de su honra Against the Backdrop of Early Modern Doctrines of Affect. In: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, 17,4/2013, S. 433–452.

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Publikationsjahr von El médico.154 Das ist insofern interessant, als in diese Zeit die Turbulenzen um den Günstling von Philip IV., den mächtigen Conde-Duque de Olivares, fallen. Und tatsächlich macht die im Stück inszenierte Verschränkung von psychologischer und politischer Krise die herausragende Bedeutung von Emo­ nterschiedlichste tionen für Körperpolitiken lesbar. Die Handlung verarbeitet u antike Quellen um die Figur der Semiramis, der sagenumwobenen assyrischen Königin.155 Für die dramaturgische Absicht hinsichtlich der emotionalen Regimes ist dabei besonders instruktiv, welche narrativen Elemente in Calderóns Version im Rampenlicht stehen bzw. welche er unterdrückt:156 Seit ihrer Kindheit lebt Semiramis eingesperrt in einer Höhle in der Mitte einer heiligen Quelle. Tiresias, der Priester der Venus, bewacht und beschützt sie vor einer grausamen Prophezeiung, die sich den gewaltvollen Umständen ihrer Geburt verdankt. Gleich zu Beginn des Stücks berichtet Semiramis, dass ihre Mutter die Nymphe Arceta sei, welche von ihrem Vater, einem Menschen, vergewaltigt worden war. Calderón arrangiert spielerisch einzelne mythologische Quellen zu einer seiner bevorzugten rhetorischen Figuren, dem Chiasmus.157 Diese Trope der über Kreuz angeordneten Antithese beschließt folgende erste längere Rede von Semiramis, womit nicht nur ihrer konfliktreiche Persönlichkeit vorskizziert, sondern das ganze Stück konstelliert ist, wie ich noch zeigen werde. Mañosamente quejosa, Arceta se satisfizo de sus disculpas, bien como la serpiente que con silbos halaga para morder, y fue así, pues, divertido, le aseguró con blanduras, hasta que rosas y lirios que él hizo tálamo torpe, torpe túmulo ella hizo.158

154 Francisco Ruiz Ramón: Introducción. In: Pedro Calderón de la Barca: La hija del aire. Madrid: Cátedra 1987, S. 50. 155 Zu den wichtigsten verfügbaren Quellen zu Semiramis zählten Ovids Metamorphosen, IV, 55; Diodorus Siculus, Bibliotheca historica, III, XXII–XXV; Valerius Maximus, Facta ac Dicta memorabilia; Plutarchus, Sermo et disputationes amatoriae, 13–20; Claudius Aelianus, Varia Historia, VII, 47. 156 Theoretischer Hintergrund für diese Überlegung bildet das Konzept von «highlighting» und «hiding», wie in Lakoff/Johnson: Metaphors vorgeschlagen. 157 Zu dieser in der Philosophie wichtigen Gedankenfigur siehe Alice Pechriggl: Chiasmen: antike Philosophie von Platon zu Sappho – von Sappho zu uns. Bielefeld: Transcript 2006. 158 Pedro Calderón de la Barca: La hija del aire, hg. und eingl. von Francisco Ruiz Ramón. Madrid: Cátedra 1987, S. 98–99, Vs. 835–844.



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In Diodorus’ Version des Stoffes ist der Tumulus bzw. der Grabhügel ein Attribut der großen Wollust von Semiramis: Jedesmal, nachdem sie einen jungen Krieger verführt und mit ihm geschlafen hatte, tötete sie ihn und begrub ihn. Und da sie von unstillbarem Verlangen getrieben war, ist die Landschaft von Tumuli übersäht. In Calderóns Version weist Semiramis hingegen beinahe asexuelle Züge auf, bloßgestellt wird hingegen die unkontrollierte Leidenschaft ihres menschlichen Vaters. Dieser Adept der Göttin Venus bereitet der Nymphe Arceta ein linkisches Brautbett, so der allzu offenkundige Euphemismus für einen Akt der Vergewaltigung. Arceta, die Dienerin der Göttin Diana, ermordete ihn daraufhin, starb aber anschließend selber im Kindbett. Ich lese daher túmulo bei Calderón nicht als Fetisch der phallischen Frau Semiramis, wie das Jing Xuan und Everett Hesse vorgeschlagen haben.159 Vielmehr repräsentiert er einen Akt weiblicher Selbstverteidigung nach dem Verlust der körperlichen Integrität. Der Tod der Nymphe ist ein vertrautes Element in antiken Quellentexten, denn Diana bestraft ihre Priesterinnen unbarmherzig, wenn diese ihre Jungfräulichkeit verloren haben – und zwar ungeachtet mildernder Umstände. Aus diesem Grund rettet in la hija del aire Venus, die zunächst ihrem Adepten bei seinem Verbrechen geholfen hatte, anschließend das Neugeborene, das Diana ihren eigentlichen Kreaturen, den wilden Tieren, überlassen hätte. Esa infanta alumna es mía, y como siempre vivimos opuestas Diana y yo, la ofende ella y yo la libro. ...porque fui primera causa que alma y vida la dedico, las aves, como en efecto, Diosa del Aire, la envío a que la defiendan; ellas, a ley de preceptos míos, serán desde hoy sus nutrices, trayendola a aqueste sitio cada día su alimento, bien que a costa del aviso que no sepan nunca de ella los hombres; porque he temido que Diana ha de vengarse […]160 159 Jing Xuan: Der König im Kontext. Subversion, Dialogizität und Ambivalenz im weltlichen Theater Calderón de la Barcas. Heidelberg, Winter 2004, S. 231f. Everett Hesse hatte Semíramis als «phallic woman»gedeutet, vgl. Everett Hesse: Calderón’s Semíramis: Myth of the Phallic Woman. In: Bulletin of the Comediantes 38,2/1986, S. 209–218, hier: S. 214f. 160 Calderon: La hija, S. 101, Vs. 912–935.

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Wenn die weibliche Paradegöttin Venus in dieser Passage die primera causa für sich beansprucht, so verortet sie sich auf Seiten des patriarchalen Narrativs naturphilosophischer Reproduktionsmodelle, denn mit causa prima wird gemeinhin die Erstsubstanz bzw. die formale Fähigkeit zur Zeugung bezeichnet, wodurch die Seele allein dem männlichen Samen zugeschlagen wird. Gleich zu Beginn ist also klar, dass unsere Protagonistin zwei konfligierende Prinzipien von Weiblichkeit verkörpert: Ihre «Mutternatur» repräsentiert Diana, die Göttin der wehrhaften autonomen Frauen im Krieg, ihre zweite Natur die «Stiefmutter» Venus, die Göttin patriarchaler Geschlechterökonomien. Wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, gibt es eine interessante Parallele zu diesen Mutterfiguren in Oliva Sabucos Kosmologie. Jedenfalls verläuft der göttliche Antagonismus zwischen Diana und Venus geradewegs durch Semiramis’ Körper. Deshalb ist diese auch von fataler und im Übrigen auch sehr widersprüchlicher Schönheit, die gemäß der Prophezeiung des Orakels einem mächtigen König den Tod und seinem Land Krieg bringen wird. Calderóns hija del aire beginnt mit dem Aufmarsch des assyrischen Königs Nino und seiner Truppen in der Provinz Absalom. Bevor er wieder zu seinem Hof in Ninive zurückkehrt, setzt er den loyalen General Menon, der gleichzeitig der Verlobte seiner Schwester Irene ist, als Statthalter ein. Der Einzug der Truppen wird von einem weiteren Antagonismus begleitet: zwei gegensätzliche Melodien, eine liebliche und eine kriegerische, stören die heilige Ruhe von Semiramis’ Höhle. Die Disharmonie der Klänge leitet den ersten Aufruhr ein, der sich in den Emotionen von Semiramis spiegelt: Sie bedrängt ihren «zweiten Vater», wie sie Tiresias später nennen wird, er möge sie freilassen. Tiresias versucht sie zum Bleiben in «cuna y sepulcro», ihrer Wiege und ihrem Grabmahl, zu überreden, womit die Höhle eine weitere – und zentrale – Trope des Antagonismus wird. Denn die Losung, welche die Weissagung verhindern soll, besteht in einem uneingelösten Leben, das die Tochter der Luft gleichsam im Schoß der Erde zurückhalten soll. Die Parallele von Höhle und Mutterleib wird auf der Textoberfläche immer wieder angezeigt und wird deshalb Gegenstand zahlreicher Untersuchungen.161

161 Einen guten Überblick über die zahlreichen Untersuchungen zum Thema der Höhle und deren symbolischer Aufladung gibt Fernando Gómez: Inverting Plato’s Allegory of the Cave: The Cave as a Backstage to the World/Theater in La vida es sueño and La hija del aire. In: Bulletin of the Comediantes 63,1/2011, S. 87–104. Zum Themenkreis Geburt, Gewalt und Gefängnis siehe Wolfram Aichinger: El parto violento en Calderón y el dramatismo del parto en la España del Siglo de Oro. In: Manfred Tietz/Gero Arnscheidt (Hg.): La violencia en el teatro de Calderón. Vigo: Editorial Academia del Hispanismo 2014, S. 17–37.



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Tiresias lässt Semiramis die Prophezeiung deklamieren, um sie dann zu fragen, warum sie ein derartiges Unglück leben wolle. Ihre Antwort ist sehr aufschlussreich in Bezug auf frühneuzeitliche Emotionsdoktrinen: Porque es error temerle; dudarle basta […] Y si ya me mata el verme de esta suerte, ¿no es mejor que me mate la verdad que no la imaginación?162

In dieser Szene wird die Meisterschaft Calderóns darin deutlich, dass er gleich mehrere Elemente von Passionsvorstellungen der frühen Neuzeit verarbeitet. Die widerstreitenden Melodien machen die gegensätzlichen Elemente von Liebe und Krieg unmittelbar für das Publikum erlebbar. Damit bestätigt er die zentrale Position von Musik als Mittel Emotionen hervorzurufen bzw. auszulösen, wie sie von allen vorgestellten NaturphilosophInnen betont wird. Am ausführlichsten diskutiert Oliva Sabuco die Wirkmacht der Töne, womit sie laut eigener Angabe auf Marsilio Ficino rekurriert.163 Noch signifikanter ist, dass Semiramis sich mit ihrer Antwort auf eine einhellig als sehr effektiv beschriebene Therapie im Umgang mit überbordenden Emotionen beruft: Sie rationalisiert ihr Schicksal. Wie ich gezeigt habe, kommen die vorgestellten PhilosophInnen auch darin überein, dass imaginación, die Phantasie, insofern gefährlich sein kann, als sie starke Gefühle überhaupt erst hervorbringt. Es ist also nicht so sehr der sinnliche Input per se, der schädigt, sondern die Phantasmata, die sich im Zusammenspiel von Wahrnehmung, Memoria und Phantasie ausbilden und wachsen. Diese bedürfen daher der Modellierung bzw. der Unterdrückung durch die Vernunft. Wie ich in den vorangegangen Kapiteln gezeigt habe, besteht zwischen diesen beiden Strategien ein erheblicher Unterschied, wir werden sehen, welcher das Stück den Vorzug gibt. Phantasie grundiert vor allem die Furcht als eine Emotion, die eine Gefahr oder ein Unglück erwartet, ungeachtet dessen, ob es dafür eine reale Grundlage gibt, wie etwa Vives erklärt: Freilich, die Vorstellungskraft macht eine Sache gegenwärtig, wie ich anderswo sagte: Ängste richten sich auch auf das Mögliche aus […] doch diese Phantasien offenbaren sich in der Fülle aller Affekte.164

162 Calderon: La hija, S. 74, Vs. 147–148 u. 152–156. 163 Sabuco: Nueva filosofía, fol. 233. 164 Vives: De anima, S. 507–508: videlicet, imaginatio facit rem praesentem, ut alias dixi: porrigunt se itidem formidines ad possibile […] sed hoc phantasiae late per affectiones omnes patet.

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Semiramis’ Worte verweigern sich also fatalistischen Prophezeiungen, die Furcht auslösen und damit Handlungsstillstand bewirken. Während Semiramis im Umgang mit ihrem Schicksal somit scheinbar eine exemplarische Affektkontrolle an den Tag legt, lassen sich ihre männlichen Gegenspieler von ihrem sexuellen Begehren so sehr überwältigen, dass auch der Männerbund aus Freundschaft und Loyalität, der im ersten Auftritt von König Nino und seinem Vasall Meno geradezu hyperbolisch dargestellt wird, auf dem Spiel steht: N.: Dame, Menón, tus brazos, y cree que aquestos lazos nudo serán tan fuerte que solo le desate… M.: ¿Quién? N.: La muerte.165

Mit diesem unheimlich anmutenden Dialog appelliert Calderón erneut an die Emotionen des Publikums, handelt es sich doch um die Prolepse des erwartbar tragischen Endes. Aufgestachelt von Gerüchten, die die heilige Quelle in seinem neuen Territorium umgeben, bedrängt Menon den gracioso Chato, ihn in die raue Gegend zu begleiten. Menon birgt den «Schatz» der verwunschenen Insel und verliebt sich sofort unrettbar in Semiramis. Liebe auf dem ersten Blick ist seit Ficinos De amoris166 topisch und stellt ein Paradebeispiel für die Blockade des Denkens durch schädliche Phantasmata dar. Semiramis’ Wächter Tiresias begeht Selbstmord, nachdem er den neuen Statthalter nicht davon abbringen konnte, die Höhle zu öffnen. In diesem ersten Höhepunkt der Handlung verschränken sich wiederum mehrere Motive, die Semiramis’ Ursprungslegende doppeln: Der Austritt aus der Höhle steht für Semiramis (zweite) Geburt, das Eindringen von Menon kann aber gleichzeitig als Defloration gelesen werden. An dieser Stelle wird der Zusammenhang von Emotion, Tugend und freiem Willen besonders deutlich, wie er bei Vives diskutiert und im 17. Jahrhundert auch in moralistischen Romanen wie etwa Baltasar Gracians Criticón (1651) verarbeitet wird. Menon wird uns als Transgressor vorgestellt, denn alle, selbst der gracioso, warnen ihn davor, den heiligen Ort zu profanisieren. Außerdem macht sich Menon am Tod des Priesters Tireisias schuldig, lässt dieser doch keinen Zweifel daran, dass er das Tor zu Semiramis Höhle niemals freiwillig öffnen, sondern eher sterben werde. Aber anstatt sich zu beherrschen, wird Menon von seiner 165 Calderon: La hija, S. 79, Vs. 303–308. 166 Marsilio Ficino: Über die Liebe oder Platons Gastmahl, Latein-Deutsch, übers. von Karl Paul Hasse, hg. und eingeleitet von Paul Richard Blum. Hamburg: Meiner 2004.



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Phantasie beherrscht, die der lustvollen Aneignung und Steigerung von Sinneseindrücken freien Lauf lässt. In frühneuzeitlicher Medizintheorie ausgedrückt ist er ein willenloses Opfer der species, die über seine Ohren und Augen eindringen und sein Phantasma nähren: Sin luz quedaron los míos al oírlo; rayo fue esta voz, que mis sentidos frías cenizas ha hecho acá dentro de mí mismo. ¡Qué frenesí!, ¡qué locura!, ¡qué letargo, !qué delirio!167

Menon ignoriert sogar die Warnungen von Semiramis selbst und befreit sie. Kaum ans Tageslicht gelangt, wiederholt Semiramis ihre oben zitierte Bestimmtheit, den allegorischen Mutterleib für immer hinter sich zu lassen: Adiós, tenebroso centro mío; que voy a ser racional ya que hasta aquí bruto he sido.168

Gómez liest Semiramis’ Heraustreten aus ihrem Gefängnis als Inversion des platonischen Höhlengleichnisses.169 Wie an vielen anderen Stellen des Textes gehe auch ich von einem intertextuellen Verweis auf Platon aus. Allerdings verwendet Calderón Intertexte in eklektische Aneignung, eine getreue Nachbildung oder Weitererzählung interessiert ihn nicht. So sehe ich in der symbolischen Geburt der Semiramis keine Umkehrung des Höhlengleichnisses, denn ihre eigenen Worte streben ja nach neuer Rationalität, was durchaus im Sinne Platons wäre. Vielmehr nutzt Calderón meiner Meinung nach die Transition für eine chiastische Verschränkung auf der gesamten Handlungsebene: Während Semiramis zu einem rationalen Wesen wird, agieren sämtliche Männer des Stücks in Folge schattenhaft. Der blinde Seher stirbt und macht Männern Platz, die an ihrer Leidenschaft erblinden! Die Vorliebe für das Motiv der (platonischen) Höhle, das ja auch in la vida es sueño vorkommt, hat somit vermutlich nicht zuletzt mit seinem theatralischen Potential zu tun, denn auch in Sokrates’ Beschreibung der Höhle kommen die Gaukler vor, die an der Mauer schattenhafte Abbilder erzeugen.170 167 Calderon: La hija, S. 95, Vs. 724–730. 168 Calderon: La hija, S. 103, Vs. 1003–1006. 169 Gómez: Inverting Plato’s Allegory, S. 91 ff. 170 Vgl. Platon: Politeia in Sähmtliche Werke, übers. von Friedrich Schleiermacher. Hamburg: Rowohlt 2002, S. 195–539.

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Menon versteckt Semiramis in seinem Anwesen und versucht, von seinem König Nino die Erlaubnis für eine Eheschließung zu erlangen, wobei er die Schönheit seiner Liebsten äußerst sinnlich anpreist. Damit gelangen die species von Semiramis’ Schönheit – zumindest indirekt – in das mentale System Ninos. Wenig später reitet dieser zu Jagd aus und verliert dabei die Kontrolle über sein Pferd. Semiramis beobachtet die Szene zufällig und rettet Nino, indem sie das Pferd zügelt. Das durchgehende Pferd ist in der frühen Neuzeit eine sehr beliebte Metapher für den Verlust von Selbstkontrolle, vor allem bei Calderón.171 Und tatsächlich wird König Nino beim Anblick der schönen Semiramis von Leidenschaft überwältigt; geradeso wie vor ihm Menon, ohne zu wissen, dass das Objekt seiner Begierde jene ist, die dieser heiraten will. Sobald der Herrscher dies herausfindet, droht er seinen treuen Vasallen zu töten. Nachdem der geschmähte Menon seine Angebetete am Hof des Königs, wo sie inzwischen wohnt, verbotener Weise heimlich besucht, begnügt sich Nino auf Semiramis Bitten hin damit, Menon «nur» zu blenden, ihn also am Leben zu lassen. Semiramis gibt dem König dennoch das Jawort. Während der Feierlichkeiten zur Hochzeit verfügt der verbannte Menon plötzlich über die prophetischen Gaben eines blinden Sehers und sagt den Tod des Königs voraus. Diese Klimax bildet das Ende des ersten Teils des Stückes. Tatsächlich begegnet uns zu Beginn des zweiten Teils die verwitwete Semiramis als absolute und unbesiegbare Herrscherin von Babylon, das sie als neue Hauptstadt des wohlorganisierten und prosperierenden Reiches gegründet hatte. Doch obwohl sie ihre Schönheit mit Organisationsgeschick und Kampfbereitschaft verbindet, wird sie von ihrem Volk bedrängt, ihrem Sohn Ninias den Thron zu überlassen. Aber Semiramis hat nicht vor abzudanken. Um an der Macht zu bleiben, ersinnt sie eine List: Da sie ihrem Sohn zum Verwechseln ähnlich sieht, schlüpft Semiramis in Ninias Rolle, den sie in einem Turm gefangen hält. Auf der Textebene wird dieses Vergehen durch die Tatsache erklärt, dass Ninias von sehr schwächlicher und ängstlicher Konstitution ist, was in einem Moment, in dem das Reich einen starken Regenten braucht, fatale Folgen haben kann. In der Antithese von Höhle und Turm bei gleichzeitiger Gegenüberstellung von Ninias Verweichlichung und Semiramis’ Virilität zeigt sich erneut die chiastische Organisation des Dramas. Trotzdem besteht kein Zweifel darüber, dass Semiramis von soberbia, Stolz, getrieben ist, die in den Emotionstheorien der frühen Neuzeit die schädlichste Alteration, für den wirkmächtigen Kirchenvater Thomas von Aquin sogar eine Todsünde

171 Hintergrund dafür ist ein weiterer Intertext von Platon, diesmal aus Phaidros 242 d, in dem der Wagenlenker zwei widerstreitende Pferde lenken muss, die jeweils die Emotionalität und die Rationalität verkörpern. Im Stück folgt der König seinem Affekt, während Semiramis planvoll handelt, womit auf intertextueller Ebene die Rationalität der Semiramis untermauert wird.



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darstellt. Den physiologischen Hintergrund dieser Emotion beschreibtes Oliva Sabuco folgendermaßen: «Los soberuios son como los altos lugares, y cumbres de montes: los quales son combatidos, y heridos mas de los ayres, y rayas, que no los valles, y lugares baxos».172 Diese medizinphilosophische Definition erhellt das eigentliche Dilemma von Semiramis’ Persönlichkeit, oder – in frühneuzeitlicher Diktion – ihres Säftehaushalts, der sie alle Konventionen brechen lässt. Als hija del aire, Tochter der Luft, liegt es in Semiramis’ natürlicher Disposition, nach dem Himmel zu streben und ihre soberbia auszuleben. Das Aufwachsen in der Höhle hatte deshalb die eigentlichen Qualitäten ihres Temperaments geradezu konterkariert: Kälte und Feuchtigkeit der Erde kontaminieren die Luft.173 Als Semiramis also zurück in ihrem eigentlichen Element ist, gebietet ihr conatus, ihr Selbsterhaltungstrieb, alles zu tun, um der neuerlichen Gefangenschaft zu entkommen. Die sechs Jahre ihrer unhinterfragten Regentschaft beweisen überdies, dass sie ihre Macht zum Wohle aller benutzt hatte. Erst als die Hofgesellschaft sie drängt, sich in die Türme von Babylon zurückzuziehen und ihrem Sohn Ninias das Zepter zu übergeben, entfaltet ihre soberbia ihre destruktiven Kräfte. Im frühneuzeitlichen spanischen Theater muss eine derartige Grenzüberschreitung geahndet werden. Deshalb stirbt Semiramis in einer entscheidenden Schlacht. Aber dieser Moment poetischer Gerechtigkeit stellt sich als höchst ambivalent heraus, wie Semiramis’ letzte Worte zeigen: Yo no te saqué los ojos [Menon], yo no te di aquel veneno [Nino], yo, si el Reino te quité, ya te restituyo el Reino [Sohn Ninias]. […] Hija fui del Aire, ya hoy en él me desvanezco.174

Hier scheint sich die Sündhaftigkeit der Semiramis zu bestätigen, denn das Aufgehen in Luft evoziert den christlichen spiritus errans, der jegliche Hoffnung auf leibliche Auferstehung verwirkt.175 172 Sabuco: Nueva filosofía, fol. 141 li. 173 Die Idee, dass Erde und Wasser kontaminierende Keime enthalten können, die, wenn sie frei werden, Epidemien auslösen, ist ein Topos, der anscheinend auf Anaxagoras zurückgeht. Siehe dazu William K. Ch. Guthrie: In the Beginning. Some Greek Views on the Origins of Life and the Early State of Man. Ithaca: Cornell University Press 1957, S. 56. Eine wichtige Mittlerfigur dieser Theorie für die Frühe Neuzeit war Lukretius mit seinem Werk De rerum natura VI, 1119–1137. Innerhalb der Epoche ist wiederum vor allem Ficino die Referenz, auf die sich alle beziehen. Siehe dazu Marsilio Ficino: Consiglio contro la pestilenza, hg. von Enrico Musacchio. Bologna: Cappelli 1983, S. 55–56. 174 Calderon: La hija, S. 320, Vs. 3276–3279 u. 3284–3285. 175 Dieses Konzept hat etwa Augustinus in De trinitate wirkmächtig vertreten.

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Diese gewichtigen letzten Worte im Angesicht des Todes lassen nicht nur jegliche Gewissenskonflikte vermissen, sie offenbaren überdies, dass Semiramis’ fatale Präsenz nichts anderes als die ’self-fullfilling prophecy’ einer patriarchalen Aristokratie war, die Fortuna stärker gewichtet als die kluge Ausübung des libre albedrío, des freien Willen. Der zweite Teil von Calderóns Stück scheint daher ein exemplum ex negativo zu sein, in dem eine virile Frau einem effeminierten dekadenten Hof zeigt, wie man ein Land regiert. Eine Engführung mit dem bereits erwähnten Roman El Criticón I (1651) von Baltasar Graciáns stützt diese Interpretation. Ähnlich Semiramis berichtet der Protagonist im Roman des Jesuiten, Andrenio, seinem Gesprächspartner Critilio gleich zu Beginn des Textes, wie er seine Höhle hinter sich ließ, um den gran teatro del universo, die große Bühne des Lebens, zu betreten: «Crecía de cada día el deseo de salir de allí, el conato de ver y de saber; si en todos natural y grande, en mí, como violentado, insufrible.»176 Und während sowohl Sabucos als auch Vives’ Emotionskataloge mit der Offenlegung der Schäden von soberbia schließen, beendet Gracián das erste Buch des Criticón mit einer drastischen Darstellung dessen, wie dieses Übel in die Welt, oder besser: nach Spanien, gerät: […] cuando Dios crió al hombre encarceló todos los males en una profunda cueva acullá lejos, y aun quieren decir que en una de las islas Fortunadas […] allí encerró las culpas y las penas, los vicios y los castigos…Entregó la llave al albedrío del hombre, para que […] advirtiese que, si él no les abría, no podrían salir eternamente. […] Pero duróle poco esta dicha; que la mujer, llevada de su curiosa ligereza, no podía sosegar hasta ver lo que había dentro la fatal caverna […] corrió el cerrojo y al instante salieron de tropel todos los males, apoderándose a porfía de toda la redondez de la tierra. La Soberbia, como primera en todo lo malo, cogió la delantera, topó con España [...].177

Auf Calderóns Bühne ist es nicht die prototypische Frau Eva, sondern ein Höfling, der die Höhle öffnet, um das, was alle für Fortuna halten, freizugeben. Jene, die ihren freien Willen dazu benutzen sollten, sich als Männer im Dienste von Ratio und Aktion zu erweisen – Menon, Nino and Ninias – bleiben Opfer ihrer Phantasie und ihrer Affekte. In diesem mundus inversus hält die Frau dem höfischen Publikum einen Spiegel vor. Tatsächlich untermauert der letzte performative Szenencoup meine Lesart: Als der vermeintliche Ninias, also die verkleidete Semiramis, stirbt, rennt das Volk Babylons, um die vermeintliche Königin, also den eingesperrten Ninias, zu Hilfe zu holen, damit sie das bedrängte Reich rette. Bedenkt man, dass beide Charaktere auf der Bühne von der gleichen ­Schauspielerin ­dargestellt

176 Baltasar Gracián (1651): El Criticón, Crisis I; hg. von Elena Catarino und eingl. von Emilio Hidalgo Serna. Barcelona: Austral 2012, S. 69. 177 Gracián: El Criticón, Crisis XIII; S. 257.



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werden, offenbart das Crossdressing von rationaler Herrscherin zu emotional instabilem Erben die Fragilität der affektiven Einkleidung des Hofes der Spanischen Habsburger. Daneben ist Semiramis’ Travestie eine beinahe plakative Inversion des Dualismus von männlicher Rationalität und weiblicher Sinnlichkeit. Aber Calderón ist ein zu kunstfertiger Dramatiker, um einen solchen mundus inversus bloß als vordergründiges Unterhaltungsprogramm zu erfinden. Anders als in Lope de Vegas comedias, in denen die wehrhaften Frauen meist ein spielerisches Suspendieren der Norm ausagieren, anders als in den Psychogrammen vieler Französischer Tragödien des 17. Jahrhundert, geht es Calderón um die I­ nszenierung philosophischer Ideen. Deshalb verlangt seine Ausgestaltung der Emotionen zwischen Rationalität und Sinnlichkeit nach eingehender Analyse. Wie mehrfach betont, ist die Bewertung der Emotionen im Siglo de Oro eng mit der Frage nach dem freien Willen verknüpft. Folgen wir dem neostoischen Ideal, wie es am getreuesten in Sabucos Text eingelöst wird, besteht das höchste Ziel menschlichen Lebens in der Auslöschung von Emotionen. In diesem Sinne könnte Semiramis mit ihrer Rationalität und ihrer Affekteliminierung nachgerade als vorbildlich gelten. Aber Juan Luis Vives bietet ein anderes Emotionskonzept an: Für Vives sind Emotionen notwendige Agenten in der Perfektionierung der menschlichen Seele. Sie sind keine stabilen Qualitäten einer bestimmten Persönlichkeit, wie Huarte es annimmt und wie es die Emphase auf Fortuna im Text Calderóns vordergründig nahelegt. Vielmehr kommunizieren Emotionen mit der Außenwelt und können – und müssen – vom Willen nach Perfektion modifiziert werden. In diesem Sinne sind Stolz und Bescheidenheit nur zwei Extreme auf einer Skala möglicher Alterationen der Seele in einer jeweils spezifischen Situation. Denn die gegenreformatorische Emphase auf den freien Willen macht nur Sinn, wenn es auch einen Handlungsspielraum gibt. Dies scheint mir die intentio operis von Calderóns hija del aire zu sein: Es ist nicht die Aufgabe der Menschen Emotionen abzutöten, sondern sie zu modellieren. Semiramis Problem besteht nämlich darin, dass ihr Handeln steril bleibt. Die Tochter der Luft erstickt an der Rationalität der Macht, gerade weil sie rational sein wollte! Damit erschließt sich sogar auf der Handlungsebene meisterhaft Ernst Cassirers anthropologischer Befund: Emotionen müssen sich mit dem Intellekt in einer Art coincidentia oppositorum versöhnen, so wie Tragödie und Komödie auf der frühneuzeitlichen Bühne Calderóns in ein delikates Gleichgewicht gebracht werden.

Tötung im Affekt? In einem weiteren Bühnenwerk Calderóns ist der Zusammenhang von Emotionalität und Staatsräson zentrales Thema: El médico de su honra. Allerdings liegt in

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diesem Stück der Focus weniger auf der Rationalität der Machttechnologie auf Seiten der Regierenden, sondern auf der komplementären Logik der Selbststeuerung auf Seiten der Regierten. Eine Perspektive, die mit der Appellstruktur des Textes korrespondiert, wurde er doch für ein gemischtes städtisches Publikum und nicht für den Hof geschrieben. Dieser ist freilich im kollektiven Bewusstsein der Stadt ebenso allgegenwärtig wie der christliche Kalender, dem die städtischen Feste und Theateraufführungen folgten. Die symbolischen Stützen des dekadenten Spanischen Großreichs bildet vor allem in seinem Zentrum, der Residenzstadt Madrid, eine hypertrophe Kultur des ocio, Müßiggangs, und des ostentativen Ehrgehabes aus. So entwickeln sich honor bzw. honra178 zur nationalen Obsession des frühneuzeitlichen Spaniens. Der aus heutiger Sicht eher abstrakte und diffuse Wert «Ehre» bestimmt die tramoya, den Bühnenaufbau, einer beeindruckend hohen Zahl von Dramen des Siglo de Oro. Der spanische Ehrbegriff der Frühen Neuzeit ist eng mit der sexuellen Integrität der Frau verbunden, denn nichts beeinträchtigt die Ehre des pater familias mehr als eine sexuell aktive Tochter oder eine untreue Ehefrau. Selbstverständlich gilt das für jedwede patriarchale Gesellschaft. In Spanien fungiert aber die limpieza de sangre als Legitimation stiftendes Merkmal für das neu gegründete gegenreformatorische Großreich.179 Denn Reinheit des Blutes heißt in diesem Zusammenhang nichts anderes als das Fehlen jüdischer oder – weniger bedeutsam – maurischer Vorfahren. Da sich in der langen Zeit der convivencia vor allem große Teile des in Geldnot geratenen christlichen Adels mit wohlhabenden jüdischen Familien verheiratet hatten, war die Fiktion der Blutreinheit vielfach ein offenes Geheimnis. Dementsprechend besteht die Bedrohung vordergründig nicht im Ehebruch an sich, sondern in Gerüchten darüber, im Klatsch der Umgebung. Nicht Fakten verletzen die Ehre, sondern Zeichen, die gesellschaftliche Relevanz

178 Über die Thematisierung dieser beiden mehr oder weniger synonymen Begriffe für Ehre in den comedias, vor allem in jenen von Calderón, gibt folgender Text einen guten Einblick: Jesús López-Peláez Casellas: «Honourable murderers»: el concepto del honor en Othello de Shakespeare y en los «dramas de honor» de Calderón. Wien/New York: Lang 2009. 179 Zum Begriff der limpieza de sangre und deren Verarbeitung in literarischen Texten siehe Dopico Black: Perfect Wives, Other Women: Adultery and Inquisition in Early Modern Spain. Durham: Duke University Press 2001; Melveena McKendrick: Theatre in Spain 1490–1700. Cambridge: University Press 1989, S. 147–149; Yvonne Yarbro-Bejarano: Feminism and the Honor Plays of Lope de Vega. West Lafayette: Purdue University Press 1994, Matthew D. Stroud: Fatal Union: a Pluralistic Approach to the Spanish Wife-Murder Comedias. Lewisburg: Bucknell University Press 1990; Marlen Bidwell-Steiner: Differenz in Fleisch und Blut. Die Limpieza de Sangre als Konstrukt sozialer Ausgrenzung von Konvertiten und Frauen. In: Gisela Engel/Katja Kailer (Hg.): Kolonisierungen und Kolonisationen [= Salecina-Beiträge zur Gesellschafts- und Kulturkritik, vol. 4]. Berlin: Trafo 2003, S. 87–101.



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erlangen. Daher gehört es zu den wichtigsten Fähigkeiten für das soziale Überleben eines Adeligen oder gehobenen Bürgers, die symbolische Sphäre zu dekodieren, zu interpretieren und damit zu kontrollieren. Auf der Bühne wird diese semiotische Kunstfertigkeit zum kollektiven Erleben. In Pedro Calderóns El médico de su honra kommt ein drastisches Beispiel für so ein Ehrdrama zur Vorstellung.180 Das Stück verarbeitet das historische Erbe des vereinten katholischen Königshauses, konkret die Ära des kastilischen Königs Pedro I im vierzehnten Jahrhundert. Die Epitheta des historischen Königs, «el cruel» und «el justo» durchwirken den gesamten Text und spannen so die Ambivalenz des sozialen Wertesystems auf. In diesem Drama nimmt die bedrohliche Handlung gleich zu Beginn mit einem Jagdunfall wegen eines durchgehenden Pferdes ihren Lauf: Don Enrique, der Halbbruder des Königs, rettet sich in ein naheliegendes Haus, das dem königstreuen Don Gutierre gehört. Bald stellt sich allerdings heraus, dass die Hausherrin, Doña Mencía, vor ihrer Eheschließung von Don Enrique hofiert wurde. Der amouröse Reigen wird weiter kompliziert, als die ZuschauerInnen erfahren, dass Don Gutierre seinerseits vor seiner Eheschließung um Doña Leonor geworben hatte, davon aber bald darauf wegen deren vermeintlicher Untreue Abstand genommen hatte. Der erste Kasus kontaminierter Ehre – vor Beginn des Stücks – ist somit jener von Doña Leonor. Als nun aber der verletzte Don Enrique das Gastrecht missbraucht und seine Leidenschaft für Doña Mencía, die Frau seines Gastgebers, neu entflammt, steht die Ehre von Doña Mencía – oder genauer gesagt, die ihres Ehemanns – auf dem Spiel. Obwohl sie die sozialen Werte des gegenreformatorischen Spaniens verinnerlicht zu haben scheint, legt Doña Mencía ein ziemlich verdächtiges Benehmen an den Tag: Sie verstrickt sich immer mehr in ein widersprüchliches Netz aus Doppelbödigkeiten, Notlügen und Verstellungen, um ihre frühere Liebe zu Don Enrique zu verbergen. Und da ihr Gatte Don Gutierre ein Meister im Lesen der Zeichen befleckter Ehre ist, wird er bald celoso, eifersüchtig, oder besser: eifrig darin, seine Ehre zu restaurieren. Als er genügend scheinbar unwiderlegbare Evidenzen für den Betrug seiner Frau angesammelt hat, heuert Don Gutierre einen Barbier an, der seine Frau Mencía durch Aderlass töten wird. Wenn wir emotionale Regimes181 in den Blick nehmen, erweist sich das Agieren von Don Gutierre als besonders grausam. Weit davon entfernt, ein Verbrechen im Affekt zu begehen, kontrolliert er seine Emotionen aufs Äußerste. 180 Da es sich um eines der meistrezipierten Stücke Calderóns handelt, ist die Zahl an Analysen unüberschaubar. Einen guten Überblick über die wichtigsten Ansätze bietet Ana Armendáriz Aramendía: El médico de su honra de Calderón de la Barca y recepción crítica del drama. Madrid: Iberoamericana and Frankfurt /Main: Vervuert 2007. 181 Begriff nach William M. Reddy: The Navigation of Feeling: A Framework for the History of Emotions. Cambridge: University Press 2001, S. 129.

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Ja, er ist nahezu jedweder spontanen Gefühlsäußerung unfähig, gebietet ihm sein Ehrbewusstsein doch, alle Eventualitäten zu berücksichtigen und seine Handlungen diskret zu planen. So vertraut er sogar dem König seine prekäre Ehrsituation an, bevor er zur Tat schreitet. Und unmittelbar nach dem Verbrechen ist es erneut König Pedro, der Don Gutierre dabei ertappt, wie er den Barbier töten will, um alle Zeichen zu tilgen. In der absolutistischen Logik des Stücks ist es nämlich allein der König, der die Ökonomie von Vergebung und Vergeltung reguliert.182 Die Maßnahme zur Wiederherstellung seiner ehrenwerten Gesellschaft kapituliert anschaulich auf die Epitheta von Pedro I, der Grausame und der Gerechte, da sie das Stück in einem Doublebind enden lässt: Pedro gebietet Don Gutierre, die vorher von ihm als unehrenhaft verlassene Leonor zu heiraten. So entledigt sich der König zweier Ehrprobleme mit einem Streich, freilich ohne sie tatsächlich zu lösen. Da Leonors Ehre ja bereits beschädigt ist, vermag diese erzwungene Eheschließung Don Gutierre stillschweigend für die Ermordung seiner unschuldigen Frau zu bestrafen. Auf symbolischer Ebene bleibt keine der Figuren frei von Schuld, da – durchaus wortwörtlich – alle mit Blut befleckt sind: Der Barbier markiert die Tür von Don Gutierres Haus mit Mecías’ Blut, der neu geschlossene Ehebund mit Leonor wird mit der von Blut besudelten Hand Gutierres besiegelt, und der König wurde zuvor durch das Schwert verletzt, das sein Bruder in Mencías Haus zurückgelassen hatte – eine Anspielung auf das Schicksal des historischen Pedro I, der im Jahr 1369 tatsächlich von seinem Halbbruder in Montiel getötet worden war.183 Diese metaphorische Blutspur ist Teil eines wohlorganisierten rhetorischen Netzes aus Tropen des Quellbereichs Krankheit und Medizin, die sich, wie Melveena McKendrick treffend bemerkt, zu einer «sickening fusion of poetry and action» verdichten.184

182 Für eine ausführlichere Zusammenschau der Biographie des historischen Königs mit den humoralpathologischen Charakterzeichnungen in Calderón siehe: César Avilés Icedo: El rey don Pedro en El medico de su honra de Calderón: entre los (malos) humores y la referencia historiclegendaria. In: ConNotas. Revista de crítica y teoría literarias, V,8/2007, S. 85–105; Dian Fox: El médico de su honra: Political Considerations. In: Hispania 65,1/1982, S. 28–38; Alexander A. Parker: The Tragedy of Honor: El médico de su honra. In: Deborah Kong (Hg.): The Mind and Art of Calderón: Essays on the Comedias. Cambridge: University Press 1988, S. 213–37; Irvine A. Watson: «Peter the Cruel or Peter the Just? A Reappraisal of the Role Played by King Peter in Calderón’s El médico de su honra. In: Romanistisches Jahrbuch 14/1963, S. 322–346. 183 Zur herausragenden Bedeutung von Blut in diesem Drama siehe Ariane M. Balizet: ‹Drowned in Blood›: Honor, Bloodline, and Domestic Ideology in The Duchess of Malfi and El Médico de su Honra. In: Comparative Literature Studies, 49,I/2012, S. 23–48 und María M. Carrión: The Burden of Evidence: Performances of Marriage, Violence, and the Law in El médico de su honra. In: Revista Canadiense de Estudios Hispánicos 27,3/2003, S. 447–460. 184 Melveena McKendrick: Theatre in Spain 1490–1700. Cambridge: University Press 1992, S. 148.



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Wie erwähnt kommt die unheilvolle Dynamik durch das bereits vertraute Motiv des Sturzes vom Pferd in Gang. Und gerade so wie König Nino in la hija del aire legt auch Enrique eine ungezügelte, nahezu krankhafte Passion an den Tag, worauf alle anderen ProtagonistInnen damit reagieren, ihre Gefühle zu unterdrücken. Besonders deutlich wird das an den Bewältigungsstrategien des Objekts der Begierde, Doña Mencías’: […] porque ya, con más acuerdo, ni para sentir soy mía; y solamente me huelgo de tener hoy que sentir, por tener en mis deseos que vencer; pues no hay virtud sin experiencia… y así mi honor en sí mismo se acrisola, cuando llego a vencerme, pues no fuera sin experiencia perfecto.185

Wie McKendrick beobachtet, verweist diese Passage auf die Idee, Frauen werden «[c]onceived of as extensions to men, mere repositories of male honour, they are separated by marriage from their subjective selves, alienated even from their own emotions».186 Ich teile diese Auffassung, lese den Monolog der Protagonistin aber als ein Indiz dafür, dass in diesem Drama die Frauen das Wertesystem ebenso wie ihre männlichen Gegenspieler affirmieren.187 Wie das Zitat offenlegt, begreift Mencía das neuerliche Werben Enriques als ultimative Herausforderung. Der Satz «no hay virtud sin experiencia» steht dabei im Einklang mit der verstärkten Hinwendung zu Erfahrungswissen ab der

185 Pedro Calderón de la Barca (1637): El médico de su honra, hg. von D.W. Cruickshank. Madrid: Clásicos Castalia 1981, S. 82, Vs. 138–144/149–152. 186 Melveena McKendrick: Theatre, S. 152. 187 Robert Lauer wiederum deutet Mencías expressiven Monolog als Symptom einer latenten Melancholie, wie sie in der Frühen Neuzeit als amor heroes beschrieben wird, wodurch sie sich eigentlich schuldig mache. Sicherlich spielt Calderón in diesem Stück mit dem Topos des amor loco, aber ich sehe Mencía nicht als liebeskrank an, da sie die Liebe zu ihrem Ehemann ebenso formuliert wie ihre Bereitschaft zur Unterwerfung unter den Ehrkodex. Siehe dazu Robert Lauer: Affectio maritalis, matrimonia iniusta y repulsa. In: Manfred Tietz (Hg.): Deseo, sexualidad y afectos en la obra de Calderón. Duodécimo Coloquio Anglogermano sobre Calderón. Leipzig, 14–18 de julio de 1999, Bd. 9 (Archivum Calderonianum). Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2001. Zum Topos des amor hereos siehe Mary Frances Wack: Lovesickness in the Middle Ages. The Viaticum and Its Commentaries. Pennsylvania: University Press 1990; Marion A. Wells: The Secret Wound. Love Melancholy and Early Modern Romance. Stanford: University Press 2007.

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zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, wie ich es bei der Vorstellung der Affektlehren beschrieben habe. Der masochistische Unterton, mit dem Mecía den Test ihrer Affektkontrolle formuliert, legt nahe, dass sie aus der schmerzhaften Unterdrückung ihrer wirklichen Gefühle eine gewissermaßen verschobene Lust schöpft. Die Metaphern aus dem Quellbereich der Chemie evozieren das versprachlichte Imaginäre zeitgenössischer Technologien der Alchemie, wie sie in Kapitel 8 noch ausführlicher beschrieben werden. Gleich ihrem Ehemann profiliert sich Mencía somit als eifrige Erfüllungsgehilfin des Ehrenkodex. Der Unterschied zwischen den beiden besteht in ihrem Handlungsspielraum – dem patriarchalen Geschlechterregime.188 Gutierre mutiert seinerseits zunehmend zu einem kühl kalkulierenden médico de su honra, Arzt seiner Ehre. Als unser Arzt seine Diagnose erstellt und eine erste Therapie verschreibt, wird die Ehre gleichsam als Überwesen, in das die beiden Eheleute amalgamiert werden, allegorisiert: A peligro estáis, honor, no hay hora en vos que no sea crítica; en vuestro sepulcro vivis: puesto que os alienta la mujer, en ella estáis pisando siempre la guesa. Y os he de curar, honor, y pues al principio muestra este primero accidente tan grave peligro, sea la primera medicina cerrar al daño las puertas, atajar al mal los pasos: y os receta y ordena el medico de su honra primeramente la dieta del silencio, que es guardar la boca, tener paciencia;189

Wenn hier davon die Rede ist, dass die Einfallstore des Übels dicht gemacht werden müssen, wird neuerlich das Ideal stoischer Affekteliminierung evoziert. Da die «Patientin Ehre» keine Symptome der Besserung zeitigt, greift Gutierre 188 Bezüglich der politischen Aspekte des Dramas siehe William R. Blue: El médico de su honra and the Politics of Reading. In: Hispania 82/1999, S. 408–416; die männliche Dreiecksbeziehung analysiert scharfsinnig Ryan Prendergast: The Body Politic and Its Parts in El médico de su honra. In: Bulletin of the Comediantes, 62,1/2010, S. 31–46. 189 Calderón: El médico, S. 156–157, Vs. 1659–1676.



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auf eine bekannt gefährliche medizinische Kur zurück: den Aderlass. Für seine Frau ist dieser lethal, für seine Ehre – so das Kalkül – rettend. Um die Ableitung des heißen Lebenssaftes bewältigen zu können, aktiviert Don Gutierre sein eigenes cholerisches Temperament: Er stachelt seine bislang unterdrückten Emotionen willentlich unter Einsatz des phantasmatischen Charakters ­drastischer ­Wortbilder an. Diese Technik ist gleichzeitig ein metafiktionales Signal, da die Worte des Protagonisten die Inkarnation seiner Rolle von Seiten des jeweiligen Schauspielers unmittelbar zur Aufführung bringen; die allmähliche emotionale Steigerung liest sich beinahe wie eine Deklamation zu Übungszwecken: esta desdicha, esta pena, este rigor, este agravio, este dolor, esta ofensa, este asombro, este delirio, este cuidado, esta afrenta, estos celos…¿Celos dije? ¡Que mal hice! Vuelva, vuelva al pecho la voz; mas no, que si es ponzoña que engendra /mi pecho, … ¿Celos dije? Celos dije, pues basta; que cuando llega un marido a saber que hay celos, faltará la ciencia; y es la cura postrera que el medico de honor hacer intenta.190

Wie dieses Zitat zeigt, redet sich Gutierre in Rage. Alejandro Carpio nennt diese seltsame Anrufung der eigenen Emotionen «un auto-enardecimiento en su cólera progresiva».191 Diese Technik steht in voller Übereinstimmung mit Gutierres selbstbestimmter Rolle als Arzt, denn in der Frühen Neuzeit wird Mut aus einem heißen – cholerischen – Temperament generiert. Um seinen valor, seine Courage, richtig zu nutzen, muss er aber die Kontrolle über die entfesselten Emotionen zurück erlangen, wie er es am Ende der Passage selbst realisiert. Tatsächlich verkörpert er ein Musterbeispiel vormoderner Selbststeuerung. Nur einmal verliert er seine Beherrschung. Und wieder beginnt sein Soliloquium mit einer Reihe von ausgesprochen abstrakten wissenschaftlichen Metaphern:

190 Calderón: El médico, S. 157, Vs. 1692–1712. 191 Alejandro Carpio: No había otra opción: Otra interpretación de El médico de su honra de Calderón de la Barca. In: Bulletin of Hispanic Studies, 87,5/2010, S. 505–522, hier: S. 511.

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¿que son celos? átomos, ilusiones, y desvelos;… no más que de una esclava, una criada, por sombra imaginada, con hechos inhumanos, a pedazos sacara con mis manos el corazón, y luego envuelto en sangre, desatado en fuego, el corazón comiera a bocados, la sangre me bebiera, el alma le sacara, y el alma, ¡vive Dios!, despedazara, si capaz de dolor el alma fuera.192

Das Zitat veranschaulicht die eindringlichen Körperbilder, die das Stück dominieren und dadurch die Handlung selbst fast ein wenig zurücktreten lassen, besonders deutlich. Vor allem die Betonung des Herzens besticht, da sie auf die ­Anbetung des Heiligen Herzens, einer Metapher für die Liebe Christus’ anspielt. Diese Andachtspraxis wurde von den Jesuiten im ganzen Spanischen Großreich verbreitet und fand besonderem Widerhall bei den Azteken, die es synchretistisch mit ihrem traditionellen Ritual des flammenden Herzen engführten. Dieser ikonologische Hintergrund dürfte Calderóns Publikum nicht verborgen geblieben sein.193 Die Wollust, die Don Gutierres offenkundig authentischste emotionale Reaktion begleitet, verschränkt sich hier jedenfalls mit morbiden Destruktionsphantasien. Die Rhetorik des Zitats lässt auch die spanische Mystik der Renaissance anklingen. Doch während etwa in den Texten von Teresa de Jesús und Juan de la Cruz das körperliche Leiden des lyrischen Ichs eine erotische Ekstase hervorbringt, in der die Vereinigung mit Christus unmittelbar erfahrbar werden soll, imaginiert der männliche Protagonist auf der barocken Bühne Calderóns den Mord der Frau in den Worten der christlichen Kommunion. Rhetorische Contradictio und Paradox werden hier sinnlich sinnhaft: Denn die animierte Vorstellung von der Tötung der Frau und die damit verbundene kannibalistische Einverleibung des weiblichen Körpers machen vermeintlich den vom Ehrkodex amalgamierten patriarchalen Ehrkörper wieder intakt: Ein Ritualmord für die gottgleiche Ehre. In der Zwischenzeit befolgt Mencía die erste Kur, die Don Gutierre verschrieben hatte: Sie bewahrt Stillschweigen, obwohl sie ihr Schicksal bereits recht früh in der zweiten jornada erahnt:

192 Calderón: El médico, S. 170–171, Vs. 2019–2032. 193 Siehe dazu Jaime Lara: Christian Texts for Aztecs: Art and Liturgy in Colonial Mexico. Michigan. University of Notre Dame Press 2008. Ich danke Sergius Kodera für diesen Hinweis.



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No mintieron mis recelos; llegó de mi vida el fin.194

Nachdem keine Figur des Stücks eines lebendigen emotionalen Austauschs fähig ist, nimmt die fatale Handlung ihren unbeirrbaren Lauf. Die Affektkontrolle, die in den Emotionskatalogen der Renaissance als Prozess des gnothi sauton, der Selbsterkenntnis, entwickelt wurde, hat sich auf der barocken Bühne zu einem repressiven Machtdispositiv pervertiert. Das Ziel der inszenierten Affektregimes ist nicht Selbstbespiegelung zur Erlangung von Bewusstsein, sondern die Dechiffrierung und Tilgung von Zeichen auf und in Körpern.

Affekte als theatrale Lehrstücke Als ein meisterhafter Chirurg zeitgenössischer Körperpolitiken stellt Calderón die Schwächen jener Gesellschaft schonungslos zur Schau, an der er selbst Anteil hat: Im berüchtigten Spanischen Hofzeremoniell ersetzt ein ostentatives Repertoire an Zeichen und Codes die Kommunikation frei fließender Emotionen, um das absolutistische Spiel zu perpetuieren. Sogar der König, Don Pedro, zollt seinem zum Tableau erstarrten Hof Tribut: Wie es das Protokoll vorsieht, muss er Schwarz tragen. Lediglich die Verkleidung während seiner nächtlichen Spionierstreifzüge erlaubt ihm buntere Kleidung. Während des Tages sitzt er mit unbewegter Miene auf seinem Thron. Er bedroht sogar den gracioso Coquín damit, ihm alle Zähne zu ziehen, wenn dieser es nicht schaffe, ihn innerhalb eines Monats zum Lachen zu bringen. Ungezwungene menschliche Interaktion und Kommunikation wird ersetzt durch ein Puppenspiel in der Hand eines unzuverlässigen Spielleiters: honor. Was viele HistorikerInnen als jenes Übel diagnostizieren, an dem Spanien im 17. Jahrhundert krankt, bringt Calderón hier meisterhaft auf die Bühne: absoluter Stillstand. Metaphern von Dunkelheit untermauern die Versteinerung menschlicher Interaktion. Intensiviert wird dies durch den wiederkehrenden Begriff rigor. Ruth El Saffar diagnostiziert Don Gutierre ein melancholisches Temperament. Sein kaltblütiges Kalkül spricht für diese Analyse.195 Dem möchte ich allerdings hinzufügen, dass auch der König und letztlich das gesamte Setting so gestaltet sind, als stünden sie unter der Herrschaft des negativen Saturns. Tatsächlich war für

194 Calderón: El médico, S. 129, Vs. 1145–1146. 195 Ruth El Saffar: Anxiety of Identity: Gutierre’s Case in El medico de su honra. In: Dian Fox, Harry Sieber/Robert Ter Horst (eds.): Studies in Honor of Bruce W. Wardropper, Juan de la Cuesta Hispanic Monographs: Homenajes, 6/1989, S. 105–124.

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MedizintheoretikerInnen und NaturphilosophInnen während der frühen Neuzeit Melancholie ein zentraler Topos, was ich als Indiz für die mit einer Schwellenzeit einhergehende Verunsicherung lese.196 Wie in den meisten Dramen Calderóns erweist sich die Spannung der coincidentia oppositorum unter anderem in der eigentümlichen Diskrepanz zwischen Handlung und Schicksal der Figuren: Enrique, der Agitator, kommt ungeschoren davon, während das unschuldige Opfer Mencía die schlimmste Strafe erleidet. Zudem wird die vermeintlich wieder hergestellte Ordnung von den fragilen Chancen für das neu arrangierte Ehepaar ebenso konterkariert wie von den apartes des gracioso Coquín, dem es als Einzigen gelingt dem Ehrenkodex zu entkommen. Am Ende des Stücks wissen nur der gracioso und das Publikum, was ‹wirklich› geschehen ist. So gesehen ermöglicht das Bühnenwerk Spannungsabfuhr: Im Zuschauerraum können jene Emotionen ausgelebt werden, die die ProtagonistInnen auf der Bühne bezwingen müssen. Damit bietet Calderón ­ ähnlich wie Ignacio Loyolas Exercicios eine kathartische Lektion ex negativo an. Dies gelingt ihm nicht über Identifikationsangebote, sondern dadurch, dass er mit präzise eingesetzter Rhetorik die Phantasie in Gang setzt. Nachdem das Publikum Bilder von Angst und Schrecken einer möglichen und doch nicht eigenen Realität erlebt, kann sich Erleichterung einstellen: Wie gut, nicht dem inneren Machtzirkel anzugehören! Der Kunstgriff, Emotionen durch die Zurschaustellung unterdrückter Passionen auszulösen, ist nur in genauer Kenntnis der Vielgestalt von Emotionen möglich: Metaphern, Prolepsen und Paradoxien nutzen deren doppelte Gerichtetheit als verkörperte und reflektierte Phänomene letztlich für ein philosophisches Lehrstück. Während die Emotionstheorien der Renaissance – mit Ausnahme Huartes – auf individuelle Entwicklung fokussieren, löst Calderóns elaborierte barocke Emotionsapparatur kollektive Spannung in erlösende Distanz auf, womit letztlich die bestehenden Herrschaftsverhältnisse stabilisiert werden. Der politische und gesellschaftliche Stillstand Spaniens im 17. Jahrhundert muss sich wohl auch spielerisch entladen, wenn nicht größere gesellschaftliche Unruhen entstehen sollen. So gesehen führt Calderóns Bühnenwelt vor Augen, was ein Chronist des Ancien Régime in Frankreich, Ferdinando Galiani, circa 120 Jahre später konstatieren wird: Trotz aller Mängel scheinen die bestehenden sozialen Verhältnisse alternativlos, da ein Systemwechsel nur gewaltsam

196 Für die unterschiedlichsten medizinischen Implikationen zum Krankheitsbild Melancholie siehe Yasmin Haskell (Hg.): Diseases of the Imagination and Imaginary Disease in the Early Modern Period. Turnhout: Brepols Publishers 2011.



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passieren kann.197 Unter den bestehenden Bedingungen des gegenreformatorischen Großreichs trifft die strukturelle Gewalt gleichsam schicksalshaft Frauen. Das verdeutlichen die beiden Stücke gerade ob ihrer unterschiedlichen Themen und Semantiken. Diese ebenso einfache wie brutale Logik entspricht der rigiden ­ esonders grausam patriarchalen Ordnung, ohne dass dabei eine der Figuren sich b oder völlig unnachvollziehbar verhalten würde. Deshalb scheint mir die Frage, ob Calderón sich dem Schicksal seiner weiblichen Figuren gegenüber affirmativ verhalte, falsch gestellt: Seine Stücke legen Konflikte zwischen Sein und Schein offen, sie verdeutlichen somit virulente Konzepte der barocken Gesellschaft, ohne dazu Stellung zu beziehen oder ethische Direktiven daran zu knüpfen. Folgt man den Affekttheorien der Frühen Neuzeit, dann erschließt sich die Ethik der Stücke vielmehr aus den Emotionen, die diese in den ZuschauerInnen auslösen, denn sie implizieren ja immer auch ein Werturteil. Ein Mehrwert, Affekte als travelling concepts zur Aufführung zu bringen, liegt daher in der zeitlichen Koinzidenz des Bühnengeschehens, womit die coincidentia oppositorum barocker Wertesysteme auch unmittelbar erlebbar wird und nicht auf eine nachträglich kognitive Rekonstruktion beschränkt bleibt. Das bedeutet keineswegs, dass das Phänomen Emotion rundweg positiv bewertet wurde. Vor allem am Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts galten die Bewegungen der Seele als sinnliche Seelenanteile, die modelliert werden mussten. Die beiden Stücke Calderóns führen uns hingegen Figuren vor Augen, die ihre Emotionen unterdrücken und daher auch nicht in lebendigem Austausch mit ihrer Umwelt stehen. Zu dieser Form der Entfremdung seien Tiere auch in frühneuzeitlichen Vorstellungen niemals fähig, wie Martha Nussbaum verdeutlicht: Never, however, does a nonhuman animal reach the point that humans frequently reach, with or without the help of philosophy: of putting all their emotions «in the deep freeze», [...] and believing that self-respect (or perhaps, manly pride) requires not deeply needing or trusting anything outside oneself.198

Im folgenden Kapitel werde ich zeigen, dass die Unmittelbarkeit tierischen Erlebens und Agierens in den Vergleichszeiträumen vielfach auch als vorbildhaft konzipiert wurde.

197 Siehe dazu «Die Briefe des Abbé Galiani», mit Einleitung und Anmerkungen von Wilhelm Weigand, München und Leipzig ²1914. 198 Martha C. Nussbaum: Upheavals of Thought: The Intelligence of Emotions. New York/­ Cambridge: Cambridge University Press 22003, S. 137.

7 Umstrittene Grenzziehungen: Mensch & Tier In each constructed world of nature, the contrast between man and not-man provides an analogy for the contrast between the member of the human society and the outsider.1

Ist der Mensch ein Tier? Oder besser: Ist er mehr als das? Diese Frage stellt sich nicht erst mit der Postmoderne. Bereits in der Antike galt vor allem für die medizinische und naturphilosophische Vermessung der menschlichen Physis deren animalische Natur als unbestritten, sonst hätten etwa die von Galen an Schweinen durchgeführten Sektionen nicht als aussagerelevant für die menschliche Anatomie gelten können. Doch das im vierten Kapitel beschriebene Dreierschema der Seele verdeutlicht, dass es noch eine zweite quidditas, eine zweite relevante Wesenheit, des Menschen gibt: die rationale Seele. Wie für viele andere teilweise bis heute virulente philosophische Problemlagen bietet Aristoteles auch für diese scheinbare Aporie ein Paradigma an: Der Mensch hat gewissermaßen zwei Naturen, eine teilt er mit den anderen Tieren, die zweite entspricht seiner teleologischen Bestimmung. Die Natur erster Ordnung ist Gegenstand der Naturphilosophie, die Natur zweiter Ordnung ist Gegenstand der Ethik bzw. der Staatslehre. Zuvor hatte schon Platon vom zoon politikon gesprochen und damit die metaphysische Ausrichtung auf die Sphäre der Ideen als menschliche Grundausstattung definiert, welche über die Entwicklung von Tugenden in Annäherung ­einzulösen sei. Aristoteles verlegt diese transzendente Vorstellung in die Immanenz, indem er ausführt, dass unsere Bedingtheit als zoon logon echon, als einziges sprachfähiges Wesen, uns Vergemeinschaftung als Wesenszweck einschreibe. Die Fähigkeit zur Sprache determiniert die Fähigkeit zur Erkenntnis und in Folge die teleologische Verortung des Menschen als zoon politikon. Die causa finalis des Menschen ist also die Staatenbildung, und zwar eben weil er über Sprache verfügt. In den mittelalterlichen Adaptionen Aristotelischer Philosophie von Seiten christlicher Metaphysik geht diese durchgängig diesseitige Kausalkette verloren. Neben Aristoteles vertraten aber auch die Stoiker eine physikalischmechanistische, ja materialistisch geprägte Position zur Frage der menschlichen Natur, die in der Renaissance vielfach wieder aufgegriffen wird. Die zwei Naturbegriffe nach Aristoteles sind nicht nur für das Verständnis der  Auseinandersetzungen in der Frühen Neuzeit wesentlich, sie finden sich auch  – implizit oder explizit – in den Ausführungen des feminist materialism wieder, wenn es darum geht, das Verhältnis Mensch-Tier auszuloten. 1 Mary Douglas: Essays in Anthropology. In: Dies: Implicit Meanings. London: Routledge 1975, S. 289. DOI 10.1515/9783110521825-007



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Wie ich zeigen werde, bleibt in den radikaleren naturphilosophischen Systemen der Renaissance, die auf die Immortalitätsdebatte reagieren, die Unterscheidung von Gattung und spezifischer Art, die mit der Frage nach den zwei Naturen des Menschen korreliert, weitgehend ausgeblendet. Aus meiner Analyse der naturphilosophischen Texte, die dieser Untersuchung zugrunde liegen, kann hingegen tatsächlich eine Auflösung der in der christlich-scholastischen Doktrin strikten hierarchischen Grenze zwischen Mensch und Tier konstatiert werden. Im Bestreben, das Dreierschema der fakultativen Psychologie zu überwinden, wird von einigen heterodoxen frühneuzeitlichen Philosophien Rationalität als eigenständiges, von den anderen Seelenanteilen unabhängiges Vermögen, verworfen. Rationalität lässt sich vielmehr als ein Teilaspekt im Prozess der Sinneswahrnehmung verstehen, der sich erst im Verlauf des Lebens allmählich mit der Erfahrung ausbildet. Aus dieser Lesart radikaler Denkerinnen und Denker des 16. ­Jahrhunderts ließe sich logisch folgern, dass auch Tiere über Rationalität ­verfügen können. Doch wer sich ein neues Interesse an oder gar eine parallele naturphilosophische Wesensbestimmung von Tieren erwartet, wird enttäuscht. Denn die untersuchten Texte verfolgen ja nicht das Ziel, den Menschen als Tier zu ­definieren, es geht ihnen vielmehr um eine stringente Argumentation des menschlichen Lebensprinzips, das durchgängig physisch und damit der wissenschaftlichen Erforschung zugänglich bleiben soll. Sobald jedoch die Humoralpathologie dahingehend vereinfacht wird, dass nur mehr ein spiritus animalis ­angenommen wird, wird der Mensch streng genommen auf sein Tiersein reduziert. So gesehen ist die Aufweichung der Demarkationslinie zu anderen Tieren hin sozusagen der Preis für die Nivellierung der einzelnen seelischen Fakultäten, die den Menschen als ausschließliches Naturwesen erster Ordnung postuliert. Lediglich einer der radikalen Naturphilosophen, die gegen die scholastische Nomenklatur anschreiben, scheint sich über die Folgen derartiger Grenzauflösungen Gedanken zu machen: Gómez Pereira postuliert ebenfalls das Primat der Sinneswahrnehmung als Modell jedweder menschlichen seelischen Operation, er spricht diese aber den übrigen Tieren ausdrücklich ab, wie ich noch erläutern werde. Im Einebnen des hierarchischen Seelenmodells finden sich viele Argumente, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit jenen gegenwärtiger kognitiver Modelle aufweisen. Für die Gender Studies ist das insofern interessant, weil immer dann, wenn sich bislang stabile Hierarchien auflösen, auch gendergerechtere Ordnungen denk- und formulierbar werden. Doch auch die blinden Flecken der historisch voneinander weit entlegenen Argumentationslinien ähneln sich: Eine der interessantesten Stationen feministischer Theorienbildung zum Thema Tier verdanken wir etwa Donna Haraway, die sich mit Jacques Derrida bzw. mit dessen Katze auseinandersetzt. Ihr Vorwurf, dass die Strategie, die anthropomorphe Einverleibung des Tieres als

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das Andere des logozentrischen Menschenbildes zu dekonstruieren, bei Derrida nur unvollständig eingelöst sei, da er selber das jeweilige Tier bzw. die Tiere in seiner otherness nicht wirklich problematisiere, trifft bis auf wenige Ausnahmen wie den bereits genannten Gómez Pereira auch auf die von mir gesichteten Texte der Frühen Neuzeit zu. Allerdings gibt es auch für die Reflexionen von Derrida und Haraway einen mindestens ebenso eleganten wie scharfsinnigen Vordenker: Michel de Montaigne hatte bereits 1580 in seiner Apologie de Raimond Sebond (2,12) die Unmöglichkeit erörtert, sich in die Erlebniswelt seiner Katze einzufühlen.2 Die daraus resultierenden Grenzverschiebungen zwischen Mensch und Tier nimmt Jacques Derrida produktiv auf, um abendländische Positionen von Aristoteles über Descartes zu Immanuel Kant, Martin Heidegger und schließlich Emmanuel Levinas und Jacques Lacan zu diskutieren. Seine Dekonstruktion der Beziehung von Mensch und Tier bildet daher den Ausgangspunkt, den ich nach der Sichtung von signifikanten Modellen vorher und nachher ganz im Sinne Derridas in einer Art Rückkoppelung am Ende des Kapitels wieder aufnehme. Sehen wir von der solitären Position Montaignes ab, so bestätigt nicht nur das naturphilosophische Korpus, sondern auch die in der Frühen Neuzeit neu belebte Textsorte der Naturgeschichten und Enzyklopädien, in denen es von sprechenden Elefanten und Affen nur so wimmelt, den Befund der anthropomorphen Assimilierung von Tieren. Um die postulierten Parallelen argumentativer Strategien zwischen Vormoderne und Postmoderne aufzuzeigen, werde ich in einem ersten Schritt die wichtigsten Schnittstellen zwischen rezenten Theorien der Gender Studies und der Animal Studies vorstellen. Im Anschluss gehe ich näher auf die skizzierten frühneuzeitlichen Bearbeitungen der – animalischen – Seelenmodelle ein. Nun lehren die Gender Studies, dass Identität über ein Anderes konstruiert wird. Wo bleibt aber dann all das Tierische, das sich nicht – wie die sprechenden Elefanten – assimilieren lässt? Wo bleibt das Andere, das die Eigenart des (weißen, männlichen) Menschen außer Streit stellt? Diese Frage führt in ein weites Feld, in dem die von mir ausdifferenzierten Themen wieder verschwimmen und Mensch, Artefakt und Tier gewissermaßen amalgamieren. Ich habe das Andere des Tierischen vor allem in fiktionalen Texten bzw. in fiktionalen Einschlüssen faktischer Texte wieder gefunden, nämlich da, wo es um Monster geht. Wie ich zeigen werde, weisen die mehr oder weniger mythologisch aufgeladenen Monsterformationen und Hybridfiguren in der Literatur der Frühen Neuzeit ungeachtet ihrer unterschiedlichen Provenienz beinahe alle eine ganz

2 Michel de Montaigne, L’Apologie de Raimond Sebond, texte établi et annoté par Paul Porteau, Paris: Fernand Aubier 1937.



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­ ffenkundige ­Gender-Komponente auf: Das Monströse der Figuren ist – ü o ­ berspitzt ­ausgedrückt  – Resultat eines Produktionsfehlers, der sich zumeist dem weiblichen Begehren bzw. der weiblichen Imagination verdankt. An dieser Stelle schließt sich auch der Kreis zwischen Naturphilosophie, fiktionalen Texten und Naturgeschichten: Auffällig ist nämlich, dass sich einige der Autoren, die sich weniger mit der Seelenlehre, dafür aber explizit mit der Vielfalt der Tierwelt auseinandersetzen, auch mit Gynäkologie bzw. mit Em­bryologie beschäftigen. Als Beispiel werden in diesem Kapitel zwei Autoren näher betrachtet, die sich der aufstrebenden Zunft der Chirurgen zurechnen lassen: Girolamo Fabrizio d’Acquapendente, der sich um die Konstruktion der anatomischen Theater in Padua einen Namen gemacht hatte, und der französische Militär- und Hofarzt Ambroise Paré. Beide Autoren hinterlassen nicht nur vielbeachtete Schriften zu Tieren bzw. Monstern, mit ihren anatomischen Studien zur weiblichen Physis und zur Embryologie sind sie wichtige Vorreiter des «twosex-models».3 Ihre Ausführungen zur Genese embryonaler Fehlbildungen und Hybridfiguren lassen sich als travelling concepts mit den wundersamen Welten des Orlando Furioso engführen, mit denen ich einen Einblick in das Monströse im Modus der Fiktion gebe. Damit thematisiere ich die Metamorphose vom Menschen zum Tier, anthropomorphe Tiere gibt es in der frühneuzeitlichen Literatur selbstverständlich auch. Erwähnt sei der berühmte Coloquio de los perros aus den Novelas ejemplares von Miguel de Cervantes, den etwa meine Kollegin Claudia Leitner sehr treffend analysierte.4

Auf Seiten der Anderen: Gender & Animal Studies Der Topos der Affinität zwischen Frau und Tier ist nicht nur ein zuverlässiger Wiedergänger in monströsen Formationen der Weltliteratur und in patriarchalen Gründungsmythen der Wissenschaften, er findet sich auch als Klischee im Repertoire des sogenannten gesunden Menschenverstandes: Die ‹wollüstige Hündin›, die ‹falsche Schlange›, die ‹dumme Kuh›, der ‹böse Drachen›, aber auch die ‹fleißige Biene›, das ‹scheue Reh›, das ‹sanfte Kätzchen› sind nur einige Beispiele für weibliche Charakterisierungen, wie wir sie in Variationen in allen westlichen 3 Thomas Laqueur: Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud. Cambridge/New York: Cambridge University Press. 1990. 4 Claudia Leitner: Cervantes’ ambivalente Hunde: Fiebertraum und anthropologischer Schlaf. In: Claudia Leitner/ Christopher F. Laferl (Hg.): Über die Grenzen des natürlichen Lebens. Inszenierungsformen des Mensch-Tier-Maschine-Verhältnisses in der Iberoromania. Wien: LIT-Verlag 2009, S. 59–81.

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Sprachen kennen. Dieser Seitenblick auf Alltagskulturen offenbart, durch welche Strategien patriarchale Subjektpositionen gesichert werden müssen: Frauen und Tiere bannen die Differenz, die den (weißen) Mann in die Macht setzt. In der abendländischen Tradition sind Frauen daher defizitäre Varianten des Normmenschen, ihr Mangel schließt sie von der oben konstatierten Natur zweiter Ordnung weitgehend aus und verortet sie auf Seiten der Natur erster Ordnung, womit sie in eine teleologische Nähe zum Tier rücken. Gleichzeitig werden Tiere aber immer nur in ihrer metonymischen Indienstnahme für genuin menschliche Züge semantisiert. Somit setzen die genannten Schimpfwörter die Naturalisierung der Frau und die Anthropomorphisierung des Tiers parallel in Szene.5 Derartige performative Akte des Doing Gender tragen, wie dies inzwischen von unterschiedlichen Forschungstraditionen belegt ist,6 nicht unwesentlich dazu bei, dass sich derartiges «Wissen» verfestigt und perpetuiert. Die Arbeit an der und gleichzeitig gegen die Differenz ist somit die Schnittmenge, die Gender Studies und Animal Studies ausbilden. Im Rahmen meiner Fragestellungen werde ich von einem Panorama der Animal Studies und der Tierphilosophie im Allgemeinen absehen und lediglich einige Positionen punktuell erwähnen, um die spezifischen Ansätze genuin feministischer Animal Studies herauszuarbeiten. Die in Kapitel 5 begründete und in dieser Arbeit angewandte Nutzung der Bezeichnung Gender Studies als umbrella term muss in der Betrachtung der feministischen Tierstudien suspendiert werden, da in diesem Forschungsfeld – vielleicht noch ausgeprägter als in den Queer Studies – der Anspruch auf politische Aktion wesentlich, eine ‹rein› akademische Auseinandersetzung somit nicht denkbar ist. Nicht von ungefähr stehen einige der feministischen Forscherinnen, die sich auch mit dem Status von Tieren beschäftigen, in der Tradition des Ökofeminismus, welcher ursprünglich für Frauen einen

5 Adorno benutzt die Figur des Schimpfens, um in ähnlicher Weise den Antisemitismus bzw. Rassismus zu analysieren, der als Germanismus gewissermaßen ein Produkt der idealistischen Philosophie sei: Die Tiere werden im Idealismus beschimpft wie die Juden im faschistischen System, gemeint sei das Tier im Menschen, vgl. dazu Fragment 202 in Theodor W. Adorno: Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 123–124. 6 Zum Begriff des (Un)Doing Gender siehe Candace West / Don Zimmerman: Doing Gender. In: Judith Lorber/ Susan A. Farrell (Hg.): The Social Construction of Gender. Newbury Park u. a: Sage 1991, S. 13–37 [zuerst veröffentl. in Gender and Society 1,2/1987, S. 125–151]; Judith Butler: Undoing Gender. New York: Routledge, 2004; Stefan Hirschauer: Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung». In: Bettina Heintz (Hg.): Geschlechtersoziologie. Sonderheft 41, Wiesbaden: Westdt. Verlag 2001, S. 208–235; Marlen Bidwell-Steiner/Stefan Krammer: (Un)Doing Gender als gelebtes Unterrichtsprinzip. Sprache-Politik-Performanz. Wien: Facultas 2010.



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recht emphatischen Differenzbegriff mit einer Solidarisierung in der feministischen (Umwelt)Bewegung verbindet. Diese Forschungsrichtung wurde in den letzten dreißig Jahren innerhalb der Gender Studies unter dem sogenannten Differenzfeminismus subsumiert und im Zuge des linguistic turn eher als Geste der ­Selbstvergewisserung und als überholt verworfen. Mit der nunmehrigen stärkeren Fokussierung auf materielle Kulturen und politische Handlungsoptionen der Gender Studies insgesamt gewinnt der Ansatz des Ökofeminismus erneut an Terrain. Die meisten Ökofeministinnen von heute haben dabei durchaus die Theoriearbeit der poststrukturalistisch argumentierenden ForscherInnen der letzten Jahre in ihre Grundlagen aufgenommen und lehnen Essentialisierungen und Naturalisierungen ab. Es geht ihnen dabei grob skizziert um eine Zurückweisung binärer hierarchischer (Geschlechter) Ordnungen bei gleichzeitiger Sensibilisierung für reale Differenzen im Hier und Jetzt. Diese Differenzen beruhen auf ­situierten soziokulturellen Problemlagen, die in einer Verschränkung intersektionaler7 Kategorien unterschiedliche Macht- und Ohnmachtpositionen ausbilden, die es zu verändern gilt. Eine wichtige Aktivistin und Denkerin dieser Tradition ist die Gründerin der Gruppierung Feminists for Animal Rights, Marti Kheel, die in ihrem Standardwerk Nature Ethics. An Ecofeminist Perspective8 einen ganzheitlichen Care-Ansatz verfolgt, der gleichzeitig die heroische Geste einzelner historischer holistischer Ethikentwürfe dekonstruiert. Dagegen entwickelt sie eine Fürsorge-Ethik, die auf dem Prinzip der Empathie in situierten Interaktionen beruht. Auch die stärker psychoanalytisch und semiotisch orientierten radikalen französischen Differenzfeministinnen Luce Irigaray und Hélène Cixous griffen in den letzten Jahren Ansätze der feministischen Animal Studies auf, um die Dualismen westlicher Geschlechterordnung zu dekonstruieren, gleichwohl aber nicht auf Differenz zu verzichten. Cixous etwa entwickelt viele der Ideen, die sich um nachfolgend präsentierten Text Derridas wiederfinden, an «ihrer» Katze, oder genauer gesagt, an ihrem ganz persönlichen Bestiario.9 Kheels Weggefährtin und Mitstreiterin Carol Adams legt für deren handlungs orientierten Ansatz eine andere epistemologische Grundlage. Ihre Analyse des

7 Zum Begriff der Intersektionalität siehe Kathy Davis: Intersectionality as buzzword. A sociology of science on what makes a feminst theory successful. In: Feminist Theory 9,1/2008, S. 67–85; Gudrun-Axeli Knapp: ‹Intersectionality› – ein neues Paradigma feministischer Theorie? Zur transatlantischen Reise von ‹Race, Class, Gender›. In: Feministische Studien 23/2005, S. 68–81. 8 Marti Kheel: Nature ethics: An ecofeminist perspective. Lanham, Maryland: Rowman & Littlefield 2008. 9 Für den Kontext der Animal Studies besonders interessant ist Hélène Cixous: Animalmessie (in Zusammenarbeit mit Marta Segarra). In: Manuela Rossini (Hg.): Figurationen 15,1. Animal ­Traces / Tierspuren / Traces animales. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2014, S. 15–41.

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mangelnden Unrechtsbewusstseins in Bezug auf Tierversuche rekurriert auf Laura Mulveys feministische Filmstudien. Demnach können Tiere sozusagen «unter die Lupe genommen werden», da ihnen ähnlich wie den Frauen der Subjektstatus und damit Handlungsmacht, agency, fehlt, weil sie lediglich «to-belooked-at», also Objekte des – männlichen – Blicks sind, selber aber nicht über gaze verfügen.10 Die beiden letztgenannten Positionen werde ich im Zusammenhang mit zwei sehr prominenten WortführerInnen in der Debatte um die Mensch/Tier-­ Demarkationslinie weiterverfolgen: Donna Haraway beharrt wie Irigaray ebenfalls auf «Differenz» und schreibt in ihren «Miszellen», einer Textform, die bewusst (Ego-) Narrative, poetische Passagen und Wissenschaftsprosa mischt, explizit gegen den heroischen Gestus des wissenschaftlichen Main/Male/stream-Diskurs an. Die Bedeutung des Blicks in der Interaktion zwischen Mensch und Tier findet ein unerwartetes fantasy echo in Jacques Derridas Spätwerk. Da auch Haraway darauf repliziert, eignet sich Derridas Text als Basis für eine nähere Auseinandersetzung mit den hier zunächst nur kursorisch eingeführten Paradigmen.

Derridas Katzenjammer in feministischer Dekonstruktion Wie in vielen anderen Bereichen ist Jacques Derridas dekonstruktivistische Philosophie eine wichtige Referenz für wissenschaftliche Untersuchungen, die die Hierarchie zwischen Mensch und Tier hinterfragen, ihre historische Kontingenz fokussieren und die vielfältigen Beziehungen zwischen Menschen und Tieren problematisieren. Derridas L’ Animal que donc je suis11 ist insofern ein Schlüsseltext dieses Kapitels, da er gewissermaßen eine Relaisfunktion zwischen historischen ontologischen und ethischen Reflexionen und postmodernen Weiterentwicklungen in den unterschiedlichsten Feldern ausübt: Einerseits diskutiert und dekonstruiert er Positionen der klassischen, der rationalen und der idealistischen Philosophie und andererseits geben seine daraus abgeleiteten Fragestellungen und Problematisierungen wichtige Impulse für nachfolgende philosophische, soziologische und kulturwissenschaftliche Forschung, insbesondere auch in dem Feld, das sich zwischen Animal Studies und Gender Studies aufspannt.

10 Laura Mulvey: Visuelle Lust und Narratives Kino». In: Gislind Nabakowski u. a. (Hg.): Frauen in der Kunst. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980, S. 30–46. 11 Jacques Derrida: L’Animal que donc je suis. Edition établie par Marie-Louise Mallet. Paris: Galilée 2006.



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Ausgangspunkt dieses posthum erschienenen Texts bildet die Morgentoilette des Philosophen, zu der ihn regelmäßig seine Katze ins Badezimmer begleitete. Angesichts des Blicks der Katze auf seinen nackten Körper reflektiert Derrida seine eigene Subjektposition: «Devant le chat qui me regarde nu, aurais-je honte comme une bête qui n’a plus le sens de sa nudité? Ou au contraire honte comme un homme qui garde le sens de sa nudité?»12 Bislang scheint niemandem aufgefallen zu sein, dass es nicht einer gewissen Ironie entbehrt, wenn Derridas Scham sich dabei vor allem auf sein entblößtes Geschlecht bezieht: Als Emblem der Kastrationsangst, wie er sie am Ende des Textes für Jacques Lacans Bestimmung des Tiers gegenüber dem Menschen als zentrales Theorem herausarbeitet, schließe ich in metonymischer Übersetzung von Derridas nacktem Gemächt darauf, dass der Metasignifikant Phallus bloßgestellt ist. Diese Lesart korreliert durchaus mit Derridas Interpretation phallogozentrischer Strukturen, doch als Denkfigur für die Dekonstruktion seines ­«Urerlebnisses» mit der Katze bzw. als Fundierung seines eigenen Unbehagens ist ihm diese Interpretation entgangen, obwohl er in seiner Untersuchung der Kastrationsangst und dem Spiegelstadium bei Jacques Lacan viel Raum gibt. Die Fragen im Angesicht der Katze, welche hier über einen nahezu transzendenten gaze zu verfügen scheint, leiten Derridas Dekonstruktion kanonisierter Definitionen des Menschen in Abgrenzung zu (anderen) Tieren: Der Titel des Werks setzt an Stelle der cartesianischen Vernunft ihr binäres Gegenüber, das Animalische, und reizt die gesamte semantische Breite von Allgemeinplätzen aus, die das Begriffspaar rahmen: das Belebte, Beseelte, versus der vernunftgeleitete Automat bei René Descartes; das Vollkommenere, da Naturverhaftete, versus das Mängelwesen Mensch; das authentisch Handelnde versus das umständlich Sprechende. Doch Derrida legt offen, dass der scheinbare Mangel der hier angeführten Topoi zur eigentlichen Überlegenheit des Menschen umsemantisiert wird. Descartes wird in Derridas Darstellung zum logischen Platzhalter patriarchaler Ordnung, die das Abendland und vor allem die monotheistischen Religionen ausbilden. Kurz streift er die Definition Aristoteles’ («zoon politikon»), von der laut Derrida eine stringente Argumentationsspur über Descartes hin zu Kants «Maschinenwesen der Vorsehung»13 führe. Dieser fixiert die Grenze zwischen Tier und Mensch in der sogenannten «Ichheit»,14 der Fähigkeit zum artikulierten Selbstbezug. Kants Bestimmung von Menschenwürde findet Derrida auch bei 12 Derrida: L’Animal, S. 20. 13 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Ders.: Werkausgabe in 12 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Band 12. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, S. 686. 14 Kant: Anthropologie, S. 407.

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Levinas und Lacan wieder, mit denen er sich besonders ausführlich auseinandersetzt, um am Ende auch noch Heideggers Befund der angeblichen «Weltarmut» von Tieren als Folie für die Zuschreibungen Lacans auszuweisen. Mit der zentralen Rolle des Blickes und der Nacktheit in Derridas Text liegt die Beschäftigung mit dem Konzept der Verantwortung bei Levinas besonders nahe. Denn für Levinas ist es das nackte Antlitz (visage) des Anderen, das uns zur VerAntwortung verpflichtet. Derrida nähert sich Levinas’ Figur des – nicht psychoanalytisch fundierten, gleichwohl radikal – Anderen sehr respektvoll, aber auch kritisch. Er weist auf den unauflöslichen Widerspruch des – wie er meint – am meisten um eine Ethik besorgten jüdischen Philosophen hin, der sich nachhaltig weigert, dem Tier einen visage zuzugestehen und damit die anthropologische Differenz zementiere. Lacan greife dann u. a. auf Levinas zurück, um seinerseits die Gattung der Tiere von der Ordnung des Symbolischen auszuschließen, sie seien des réponse nicht fähig, sondern ausschließlich der reaction. Das Tier erkenne sich zwar im Spiegel, sein Erkennen bleibe aber imaginär befangen und zieht daher laut Lacan keinen Subjektivierungsprozess nach sich. Lacan argumentiert dies vor allem mit der Unmöglichkeit der Tiere eine Finte vorzutäuschen. Doch wie Derrida scharfsinnig bemerkt, ist der Unterschied zwischen feinte und feinte de la feinte, der bei Lacan die anthropologische Differenz fixiert, durch keinerlei Experiment oder ethnologisches Wissen gestützt und daher schlicht dogmatisch. Derrida endet seinen Parcours durch die Philosophiegeschichte da, wo er begonnen hat: Basierend auf Lacan führt er den Kastrationskomplex mit der Erbsünde eng. Der Andere, das Tier, wird geopfert, um die Schuld zu übernehmen, die Adam im Augenblick der Nacktheit und der Vertreibung aus dem Paradies erfährt. Im Text Derridas ist es nur angedeutet, aber in dieser Lesart wäre der Signifikant – der Phallus – meiner Meinung nach eine Prothese, die die Sprache dem Menschen/Mann zur Verfügung stellt, um die ursprüngliche Kastration, die im péché originel bereits geschehen ist, zu maskieren. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Grenzziehungen laut Derrida, dass sie das Tier lediglich als Theorem interessiere, welches das Andere der condition humaine konstruieren hilft.15 Deshalb gebe es im philosophischen Diskurs das Tier auch nur im Singular, gewissermaßen als Archetyp absoluter Alterität. Derrida versucht hingegen seine Katze als singuläres Individuum zu begreifen und entwickelt Spuren einer Ethik des animot. Dieser Neologismus spielt mit der Ununterscheidbarkeit des gesprochenen Wortes zur französischen ­Pluralform animaux

15 Zu Derridas Lesart der eingeführten Philosophen siehe Matthew Congdon: Derrida and Other Animals. In: Telos 148/2009, S. 185–191.



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und legt durch die Assoziation mit mot die symbolisch-sprachlich durchformte und daher kontingente Konstruktion des Tieres als unscharfe Metonymie für eine Unzahl völlig unterschiedlicher Arten und Individuen offen.16

Die unselige Metapher des Genozids Die symbolische Hypostasierung ‹des Tieres› in der westlichen Philosophie scheint Derrida auch als Voraussetzung für dessen unbegrenzte Aneignung und Beherrschung von Seiten der Menschen zu verstehen, die sich paradoxerweise mit zunehmendem Zivilisationsprozess verschärft. Als Kulminationspunkt dieser Entwicklung führt Derrida Massentierhaltung und Holocaust eng. Kontrapunktisch stellt er der – wie auch Matthew Congdon konstatiert17 – leider oft allzu leichtfertig bemühten Metapher des Genozids Emmanuel Levinas’ berührende Schilderung des Lagerhundes Bobby gegenüber, der als einziges Lebewesen die jüdischen Kriegsgefangenen im deutschen Gefangenenlager als Menschen ansah, was Levinas dazu veranlasste, Bobby als den letzten Kantianer Deutschlands zu bezeichnen.18 Viele ProponentInnen der Animal Studies scheuen weder die große Metapher noch Narrative, die an Levinas’ Problematisierung einer menschlichen Ethik ­erinnern. Einer der vielbeachteten Beiträge in dieser Tradition ist John M. Coetzees The Lives of Animals.19 Kernstück des hybriden Textes bildet eine Art Novelle, in der uns der südafrikanische Autor mit der Protagonistin Elizabeth Costello konfrontiert, die so viele Charakteristika mit Coetzee teilt, dass die Vermischung von Autor und fiktionaler Figur von Seiten vieler RezipientInnen nicht verwundert: Beide sind AutorInnen, beide ernähren sich vegetarisch, beide sind erklärte TierschützerInnen, beide halten eine Tanner Lecture an der renommierten Princeton University.20 Anstatt wie von den VeranstalterInnen intendiert über ihre Literatur zu sprechen, prangert die Protagonistin in ihrem Vortrag die systematische Gewalt an Tieren, wie sie in der Massentierhaltung am eindringlichsten zum Ausdruck kommt, als analog zum Holocaust an. Die Textedition dieser

16 Vgl. dazu Derrida: L’Animal, S. 11 und S. 73. 17 Congdon: Derrida, S. 187. 18 Emmanuel Levinas: The Name of a Dog, or Natural Rights. In: «Difficult Freedom: Essays in Judaism». Übers. von Sean Hand. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1990, S. 53. 19 John M. Coetzee: The Lifes of Animals, herausgegeben und kommentiert von Amy Gutmann. Princeton: University Press 1999. 20 Genaugenommen handelt es sich um eine mise-en-abyme, da der Autor die Figur seinerseits in einer Tanner Lecture einführt.

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fiktionalisierten Anklage wird von Reflections des Bioethikers Peter Singer, der Kulturwissenschafterin Marjory Garber, der Anthropologin Barbara Smuts und der Religionswissenschafterin Wendy Doniger komplettiert. Wenig später rekurrieren auch die Wittgenstein-Expertin und Moralphilosophin Cora Diamond und schließlich Donna Haraway auf diesen umstrittenen Text. Die meisten Argumente der unterschiedlichen RespondentInnen werden uns auch in Derridas Ausführungen und Haraways Entgegnungen wieder begegnen, deshalb seien sie hier kurz angeführt. Marjorie Garber21 holt gewissermaßen auf der Metaebene ein, was die Protagonistin Costello angeblich schuldig bleibt: Sie beleuchtet vor allem die Frage nach Literarizität und Fiktionalität im Werk Coetzees, wodurch sie die ethischen Dimensionen des Diskurses nicht auf ihren Wahrheitsgehalt, sondern auf ihre Geltendmachung in dessen Appellstruktur fokussiert. Tatsächlich unterstreicht die komplexe Struktur des Textes einen exponierten Anspruch an Literatur: den der gesellschaftspolitischen Einmischung. Das wird dadurch deutlich, dass die fiktive Elizabeth Costello sehr effektiv ein ethisches Problem entfalten kann, da sie im Unterschied zu PhilosophInnen bzw. JuristInnen auf die Kraft der Emotionen setzt, mithin die affektive Gestalt des Textes in den Vordergrund rückt. Laut Garber liegt darin die Stärke des literarischen Werks. Und genau an dieser Spannung zwischen Fiktion und Argument arbeitet sich der darauf folgende Respondent Peter Singer ab. Er repliziert seinerseits mit einem fiktiven Gespräch, das er mit seiner Tochter Naomi am Frühstückstisch geführt habe. Darin ärgert sich der Protagonist Peter über die Verschleierung der Textintention Coetzees in einem fiktionalen Text. Dadurch greife der Gerechtigkeitsdiskurs ins Leere, denn er bleibe uns die Erklärung schuldig, warum wir Tiere schützen sollten und vertrete eine Extremposition, die nicht einmal er, Peter, Autor des umstrittenen Artikels All Animals Are Equal,22 teile. Interessant ist Peters differenzierte Analyse der Engführung von Tiertötung und Holocaust: [Naomi:] Oooh, sensitive stuff. I wouldn’t equate what the Nazis did to your grandparents with what most people do today to animals« – »Nor would I. But a comparison is not necessarily an equation. Isaac Bashevis Singer has one of his characters compare human behaviour toward animals with the Nazi’s behaviour toward Jews. He’s not saying that the crimes are equally evil, but that they are based on the principle that might is right and the strong can do what they please with those who are in their power.23

21 Marjory Garber in Coetzee: The Lifes, S. 73–85. 22 Tatsächlich hat der Bioethiker Singer einen gleichnamigen Text geschrieben: Peter Singer: All Animals Are Equal. In: Animal Liberation, New York: New York Review of Books 1975, S. 1–22. 23 Peter Singer in Coetzee: The Lifes, S. 85–93, hier: S. 86.



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An dieser Textstelle sind mehre Aspekte interessant: Die Unterscheidung zwischen Vergleich und Gleichsetzung nimmt die vorher beklagte mangelnde Validität fiktionaler Argumentation zurück, denn sie wird ja in ebensolcher geführt. Der Eindruck einer ernsthaften Auseinandersetzung mit einem fiktionalen Text wird dadurch verstärkt, dass Singers Klarstellung die rhetorische Verfasstheit von Aussagen in den Blick nimmt, da er damit ja zwischen Analogie und Metapher unterscheidet. Das erleichtert es ihm herauszuarbeiten, was ihn eigentlich am Text Coetzees stört: das Prinzip, dass dem von ihm, Singer, geprägten Begriff des speciesism24 ein Gleichheitsdiskurs entgegen gestellt wird. Singers Konzept beruht aber nicht auf Gleichheit, sondern auf utilitaristischer Güterabwägung, also Vergleich: Wenn wir nämlich davon ausgehen können, dass Tiere wie Menschen preferences haben, dann gilt es, diese möglichst alle ins Recht zu setzen, solange sie sich nicht untereinander widersprechen. Der Begriff der preference ist eine Weiterentwicklung von Jeremy Benthams Beitrag zur Tierphilosophie, die den Status von Tieren unter dem Aspekt von deren Leidensfähigkeit erstmals radikal anders verhandelt.25 Wie ich noch zeigen werde, verfolgt auch Derrida diesen Ansatz, während Singers utilitaristischer Ethikbegriff von Haraway modifiziert wird. Implizit suggeriert Singers fiktionalisierte Replik auf Coetzee meiner Meinung nach, dass nur Nachkommen der jüdischen Opfer eine Deutungshoheit in Bezug auf den Holocaust hätten. Diese Ansicht markiert zunächst Naomis Frage. Verstärkt wird sie dadurch, dass der zitierte Isaac Bashevis Singer ein Autor war, der Zeit seines Lebens in Jiddisch geschrieben hat und seine Literatur vor allem Erfahrungen aus den untergegangenen Schtetln des Ostjudentums erzählt. Auch die Anknüpfung an jüdische Traditionen begegnet uns bei Derrida wieder, und zwar nicht nur in seiner Würdigung von Levinas’ Ethik, sondern auch in seiner Lesart des Alten Testaments. Wendy Doniger führt in ihrer Replik auf Coetzees Text in komparatistischer Absicht unterschiedliche Hindu-Mythen ein, die sich mit dem Essen von 24 Der Begriff ist ein Neologismus, der analog zu racism oder sexism darauf verweist, dass wir es mit einer Diskriminierung zu tun haben, die auf der nicht näher begründeten und begründbaren Annahme der überlegenen Species Mensch beruht. Er wurd von Richard Ryder geprägt, der eine ähnliche Position wie Singer vertritt, allerdings dessen utilaristisches Aufrechnen von unterschiedlichem Leiden abweist. Vgl. dazu Richard D. Ryder: Speciesism Again; The Original Leaflet. In: Critical Society, 2/2010, S. 1–2. 25 Jeremy Bentham ging davon aus, dass Hunde und Pferde rationale Wesen seien, wollte die Frage unseres Verhältnisses zu den Tieren aber gänzlich anders verstanden wissen: «The ­question ist not, can they reason? Nor, can they talk? But can they suffer?» in Jeremy Bentham: Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Oxford: Clarendon Press 1907, Reprint 1789, ch. 17.

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Tieren beschäftigen und zeigt Parallelen zu jüdisch-christlichen Traditionen auf: In beiden Kulturkreisen entlastet das Tieropfer an die Götter, die – so auch im Text Coetzees – eigens zum Zwecke der Gewissensbefreiung eingeführt werden, Schuld und die Angst vor Vergeltung. Die zentrale Rolle des Tieropfers in patriarchalen monotheistischen Traditionen wird ebenfalls eines der Hauptargumente von Derrida sein, wie ich noch zeigen werde. Eine weitere Parallele zwischen Hinduismus und jüdisch-christlicher Mythologie macht Doniger in der alten Diskussion um die Sprachfähigkeit von Tieren aus: It is language, not food, which ultimately separates us from the animals, even in myths. Only by speaking their language will we really be able to know how we would think and feel if we were fish or horses.26

Doniger insistiert also darauf, dass Tiere sprechen, wir ihnen lediglich nicht richtig zuhören würden bzw. könnten. Diese Idee greift Barbara Smuts27 in ihren Reflexionen auf. Sie hinterfragt die Haltung der Protagonistin: Deren Anklage und deren behaupteter Affiziertheit vom Leiden der Tiere stehe eine eigentümlich Versachlichung der Argumente gegenüber, eine Verweigerung des Einfühlens in die Tiere, als deren Fürsprecherin Elizabeth Costello auftrete. Anklänge an die feministische Theoretikerin des Postkolonialismus, Gayatri Chakravorty Spivak, und deren Schlüsseltext Can the Subaltern Speak?28 drängen sich auf. Smuts Anregungen werden unmittelbar von Cora Diamond rezipiert, ihre Denkbewegungen mittelbar auch von Haraway nachvollzogen. Cora Diamond verschiebt aber in ihrer Interpretation der Affiziertheit der Protagonistin die Perspektive, die sie psychoanalytisch untermauert: Elizabeth Costello spüre die Gewalt, die Tieren angetan werde, am eigenen Leib, als Wunde unter den Kleidern. Costellos «Mitleiden» gründet laut Diamond daher nicht in einem Einfühlen in die Tiere, sondern darin, dass deren Schicksal die eigene ­Verwundbarkeit und Sterblichkeit aufrufe, was die Voraussetzung für die Abweisung der Gewalt an Tieren sei. Erst dieses selbstbezogene Bewusstsein für die mit Tieren geteilte Verwundbarkeit ermöglicht für Diamond ein Verständnis von Tieren als «fellow creatures».29 Dass diese Ethik einer spiegelnden 26 Wendy Doniger in Coetzee: The Lifes, S. 93–107, hier: 105. 27 Barbara Smuts in Coetzee: The Lifes, S. 107–121. 28 Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia + Kant 2007, hg. von Boris Buden u. a., deutsche Übersetzung von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny. 29 Cora Diamond: The Difficulty of Reality and the Difficulty of Philosophy. In: Stanley Cavell u. a. (Hg.): Philosophy & Animal Life. New York: Columbia University Press, S. 43–91.



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­ mpathie, die Diamond auch der berechnenden Ethik Singers gegenüberstellt, E über den Körper einer Frau entwickelt wird, halte ich für signifikant. Damit wäre die Vormacht des Logos ein weiteres Mal von der anderen Seite des dialektischen Grabens, von Seiten der irrationalen, emotionalen, körperverhafteten Weiblichkeit beeinsprucht, da Diamond emphatisch von Costellos körperlicher Wunde ausgeht, einem Topos, dem ja schon in Bezug auf die Sexuierung des weiblichen Körpers eine lange und – wie ich meine – problematische historische Spur vorausgeht. Es ist bedauerlich, dass feministische Rezeptionen von Coetzees Text diese seltsame Ambivalenz übersehen, mit der einerseits die weiblich Wunde zur Schau gestellt wird, andererseits aber massive heterodiegetische männliche Interventionen durch die Figur des Sohnes der Protagonistin sowie durch den Erzähler erfolgen. In Anlehnung an David Halperins Interpretation der Rede Diotimas in Platons Symposium lese ich die Rede der Elisabeth Costello als männlichen Ventriloquismus, womit das Pathos der körperlichen Wunde zusätzlich problematisch wird.30 Die Metapher des Genozids birgt aber weitere Abgründe und ist daher auch in das Gegenteil der geschilderten Positionen verkehrbar: Die Trope, Menschen seien in den Konzentrationslagern «wie die Tiere» in den Tod getrieben worden, spielt implizit oder explizit auf das angeblich mangelnde Bewusstsein von Tieren für ihre Sterblichkeit und damit auch auf die mangelnde Leidensfähigkeit von Tieren an. An dieser argumentativen Leerstelle verortet Derrida denn auch mögliche Ansätze einer neuen Ethik. Er hebt Jeremy Benthams singuläre Problematisierung von Tieren erneut aus der philosophischen Memoria: La question, disait à peu près Bentham, n’est pas de savoir si l’animal peut penser, raisonner ou parler [...] La question préalable et décisive serait de savoir si les animaux peuvent souffrir. ‹Can they suffer›?31

Wie auch Cary Wolfe konstatiert, weist Derridas Arbeit an der Grenze Mensch/ Tier Parallelen zu Diamonds Ausführungen auf, wenngleich er gewissermaßen komplementär zu ihr argumentiert.32 Seine Fragestellung korreliert mit einem Paradigmenwechsel, der sich zwischen meinen beiden Textkorpora vollzieht, wie ich im nachfolgenden Kapitel weiter ausführen werde. Ein Paradigmenwechsel, dem ein Paradox zugrunde liegt und der mit dem 17. Jahrhundert zusammenfällt:

30 Vgl. David Halperin: Why is Diotima a Woman? In: One Hundred Years of Homosexuality. Routledge: New York 1990, S. 113–152. 31 Derrida: l’Animal, S. 48. 32 Vgl. Cary Wolfe: Exposures. In: Cavell u. a. (Hg.): Philosophy, S. 1–43, hier: 17 ff.

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Once it was no longer possible to find a source for power or its legitimization through the divine, power was made to rely upon a human covenant. The distinction between what is human and what is not was thus displaced to an imagined frontier between the state of nature and civil society, which is similar but not identical to the division between nature and culture.33

Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da die sich ausdifferenzierenden «exakten» Naturwissenschaften die Diskurshoheit in Bezug auf Wahrheit erlangen, begründet nicht mehr die Natur erster Ordnung, die Physis, die Überlegenheit des Menschen, sondern die Natur zweiter Ordnung. Folgerichtig sind Emotionen nicht wie in der Antike und im Mittelalter menschliche Unzulänglichkeiten, die Vernunft als das eigentlich Menschliche unterminieren und die es daher auszumerzen oder zu modellieren gilt, sondern wichtige Antriebe für die Perfektionierung der Natur zweiter Ordnung, der ethischen Entwicklung.34 So wird die Leidensfähigkeit zu einem genuin menschlichen Attribut aufgewertet. Der binäre Partner dieser Emotion ist die Aggression, die etwa in der vielzitierten unmenschlichen Grausamkeit der Nazi-Täter zum Ausdruck kommt. Und Aggression oder Krieg ist es auch, was laut Derrida die vorrangige Relation der Menschen zu animot bestimmt: [...] je crois que le cartésianisme appartient, sous cette indifférence mécaniste, à la tradition judéo-christiano-islamique d’une guerre contre l’animal, d’une guerre sacrificielle aussi vieille que la Genèse.35

Die Passage erinnert an Donigers «Gottesbeweis» und tatsächlich scheint der monotheistische Gott der jüdisch-christlichen Tradition laut Derrida nur instituiert zu sein, um die patriarchale Ordnung zu legitimieren und das kollektive Gewissen – mithin die Ethik – in Bezug auf die Opfer patriarchaler Ökonomien ruhig zu stellen. Der alttestamentarische Gott wird zum fehlbaren Übervater, der sich sozusagen ein caprice leistet, da er das tierische Opfer Abels dem des Ackerbauers Kain vorzieht und damit den Brudermord in Gang bringt. Kain wird fortan rastlos herumjagen, ausgestoßen aus der Gemeinschaft und verhüllt ob der Scham über seine Tat. Gott wird ihn aber auch schützen, denn er gelobt Rache gegen jene, die Kain töten wollen. Diese Konstellation bezeichnet Derrida als 33 Simone Pinet: The Animal Within: Chivalry, Monstrosity, and Gender in Renaissance Spain. In: Kathleen P. Long (Hg.): Gender and Scientific Discourse in Early Modern Culture. Farnham/ Burlington: Ashgate, S. 115–139, hier: S. 118. Eine fundierte Argumentation für diese Neubestimmung des Naturrechts findet sich etwa in Thomas Hobbes (1651): Leviathan. Revised Student Edition (= Cambridge Texts in the History of Political Thought), hg. von Richard Tuck. Cambridge: University Press 1996. 34 Zum Status der Emotionen im Betrachtungszeitraum siehe das vorangegangene Kapitel. 35 Derrida: l’animal, S. 140.



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zweite Ursünde. Wie in der Genesisstelle eröffnet erst die Verfehlung den Blick auf die eigene Nacktheit und konstituiert Scham. Und da dieser Gott zu billigen scheint, dass wir Menschen in Folge vom Kainsmal untilgbarer Schuld angetrieben werden, billigt er auch das Opfern von Tieren, das Jagen der Gejagten. Der Titel von Derridas Text spielt auf diese Hassbeziehung an: je suis heißt sowohl ‹ich bin›, als auch ‹ich folge›, bzw. wie es die weiteren Ausführungen des französischen Philosophen deutlich machen, ‹ich verfolge›. Die vor allem von feministischen ForscherInnen vielbeachtete intersektionale Verknüpfung dieser Verfolgung von Tieren mit der abwehrenden Konstruktion anderer Alteritäten, respektive der Frau, die es ja meist auch nur im hypostasierenden Singular gibt, sei hier wegen ihrer Polemik ausführlich wiedergegeben: [...] Jusqu’où peut aller cette référence au judaïsme, à la haine idéaliste de l’animal comme haine du Juif -qu’on pourrait facilement, selon les schèmes désormais familiers de la même logique, étendre à une certaine haine de la féminité, voire de l’enfance? Le mal voulu, le mal fait à l’animal, l’insulte à l’animal serait alors le fait du mâle, de l’homme en tant qu’homo, mais aussi en tant que vir. Le mal de l’animal, c’est le mâle. Il serait assez facile de montrer que cette violence faite à l’animal est sinon d’essence du moins à prédominance mâle, et, comme la dominance même de la prédominance, guerrière, stratégique, chasseresse, viriloïde. Il peut y avoir des Dianes chasseresses et des amazones cavalières mais personne ne saurait contester que sous sa forme phénoménale la plus massive, de la chasse à la corrida, des mythologies aux abattoirs, et sauf exception, c’est le mâle qui s’en prend à l’animal, comme c’est Adam que Dieu a chargé d’asseoir son autorité sur les bêtes. (C’est pour nommer cette scène sacrificielle que j’ai parlé ailleurs, comme d’un seul phénomène et d’une seule loi, d’une seule prévalence, d’un carnophallogocentrisme.36

Donna Haraways Einsprüche Donna Haraway greift Derridas Ansätze einer neuen Ethik auf, indem sie seine Position weiter dekonstruiert und dem Vordenker der Dekonstruktion ihrerseits Anthropomorphismus vorwirft. Denn ob er sich nun als schämendes Tier oder schämender Mensch seiner Katze gegenüber sehe, warum stelle er sich nicht deren Blick, warum folge er nicht dessen Einladung? But with his cat, Derrida failed a simple obligation of companion species; he did not become curious about what the cat might actually be doing, feeling, thinking, or perhaps making available to him in looking back at him that morning […] What happened that morning was, to me, shocking because of what I know this philosopher can do. Incurious, he missed a possible invitation, a possible introduction to other-worlding.37 36 Derrida: l’Animal, S. 144. 37 Donna Haraway: When Species Meet. Minneapolis: University of Minnesota Press 2008, S. 2.

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Haraway versucht also vielmehr das wechselseitige Ereignis «when species meet»38 zu reflektieren. Das Zentrum ihrer Ideologie einer companionship über die Gattungsgrenzen hinweg bezieht sich aber nicht wie bei Cora Diamond oder bei Marti Kheel auf Empathie, auf ein spiegelndes Einfühlen in oder ein ‹Mitleiden› mit den Tieren, Haraway nimmt vielmehr die konkrete Beziehung zwischen konkreten Lebewesen, im vorliegenden Fall einem konkreten Menschen und einem konkreten Tier, in den Blick, woraus sich keine wie immer gearteten überzeitlichen Wahrheiten ableiten ließen: In Judith Butler’s terms, there are only «contingent foundations;» bodies that matter are the result. A bestiary of agencies, kinds of relatings, and scores of time trump the imaginings of even the most baroque cosmologists. For me, that is what companion species signifies.39

Die entscheidende Denkbewegung von Derrida über Butler zu Haraway besteht darin, dass sich laut letzterer die beiden AkteurInnen – also etwa Derrida und seine Katze – überhaupt erst durch ihre Beziehung im Hier und Jetzt formieren, da Dasein («being») nicht der Beziehung vorgängig sei.40 Haraway entlehnt viele der Begriffe, die diese komplexe Beziehungsgestalt beschreiben, von Karen Barad, die ihrerseits versucht, das Semiotische und das Materielle in deren Gleich­ ursprünglichkeit semantisch zu erfassen. So sollen etwa Schlüsselkonzepte wie entanglement, Verknüpfung, oder der Neologismus intra-action die unauflösliche Ineinanderfaltung von Physis und Diskurs verdeutlichen. Ähnlich, wie ihr Schreiben die traditionelle Wissenschaftsprosa mit alltagsweltlichen Beobachtungen und Ego-Narrativen «kontaminiert», so verabschiedet Haraway die Idee einer «artenreinen» Spezies und bestimmt unsere menschliche Existenz als eine komplizierte Assemblage symbiotischer Koexistenzen mit anderen Spezies (z. B. Bakterien, die zu unserem Organismus gehören) und biopolitischer Technologien. Daraus leitet sie aber keineswegs eine Demutsethik ab, sondern begreift diese dynamische Heterogenität als Chance für das, was sie other-worlding nennt. I would not for a minute deny the importance of the question of animals’ suffering and the criminal disregard of it throughout human orders, but I do not think that it is the decisive question […] the one that promises an autre-mondialisation. The question of suffering led Derrida to the virtue of pity, and that is not a small thing. But how much more promise is in the questions, Can animals play? Or work? And even, can I learn to play with this cat? […] 38 Das ist auch der gleichnamige Titel ihres Standardwerks zum Thema, siehe vorangegangene FN. 39 Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness. Chicago: Prickly Paradigm Press 2003, S. 6. 40 Donna Haraway: The Companion, S. 6–7.



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What if work and play, and not just pity, open up when the possibility of mutual response, without names, is taken seriously as an everyday practice available to philosophy and to science?41

Die rhetorischen und etymologischen Spiele Haraways sind daher solche im eigentlichen Sinn und zielen gleichzeitig wesentlich weiter als Derridas dekonstruktivistische Sprachakrobatik: Haraway begreift die Begegnung zwischen den Arten als Spiel, als Tanz, als eine leibliche Praxis des Embodiment, mit all den Überraschungen und all den Risken, die diese Interaktionen über die Artengrenzen hinweg mit sich bringen. Wie aus den Begriffen der Assemblage und der autre-mondialisation bereits hervorgeht, bezieht Haraway ihr antihumanistisches Modell von Gilles Deleuze und Félix Guattari, die mit ihrem Konzept des «devenir» für viele Denkerinnen des Feminist Materialism wichtige Anregungen gaben. Doch obwohl sie viele der Tropen ihrer Andersweltlichkeit von Deleuze ­en­tlehnt, den sie übrigens hauptsächlich über die feministische Weiterentwicklung durch Rosi Braidotti rezipiert,42 stellen Deleuzes und Guattaris Wegmarken zu deren Erreichung – «Devenir animal, devenir imperceptible, devenir i­mpersonnel» – für Donna Haraway ein Ärgernis dar: Despite the keen competition, I am not sure I can find in philosophy a clearer display of misogyny, fear of aging, incuriosity about animals, and horror at the ordinariness of flesh, here covered by the alibi of an anti-Oedipal and anticapitalist project. It took some nerve for D & G to write about becoming-woman just a few pages later.43

Was Haraway entgegen ihrer üblicherweise auch der companion species Wissenschaftler gegenüber respektvollen Haltung hier so emotional werden lässt, ist zunächst der vitalistisch-aggressive Rundumschlag von Deleuze und Guattari, den sie darin festmacht, dass diese ausschließlich vom wilden, vom exotischen, vom abjekten Tier ausgehen, wenn sie die Tierwerdung als antikapitalistisches und – das scheint mir in diesem Zusammenhang wichtig – als antibürgerliches Projekt beschreiben. Haraway trifft meiner Meinung nach einen wichtigen Punkt, wenn sie kritisiert, dass die beiden alles Alltägliche und Gewöhnliche abweisen. Wenn die Verabschiedung einer humanistischen und nicht-teleologischen Ethik um den Preis einer Anbiederung an alles Monströse erkauft wird, ist tatsächlich ein maskulinistisch-heroischer Gestus, diesmal gewissermaßen ex negativo, am Plan.

41 Haraway: When Species, S. 22. 42 Vgl. dazu Haraways Anmerkung in When Species Meet auf Seite 27 und Braidotti: Metamorphosis, S. 125 ff. 43 Haraway: When Species, S. 22.

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Allerdings lässt sich auch unschwer eine persönliche Betroffenheit der kalifornischen Gender- und Animal-Forscherin erkennen: Haraway entwickelt ihre Theorie der companionship ja dezidiert aus ihren alltagsweltlichen Erfahrungen mit Haustieren, respektive Hunden. In der Passage, auf die sich das obige Zitat bezieht, geben Deleuze und Guattari eine alte Frau mit ihrem Hund der Lächerlichkeit preis. Haraway, die dezidiert für die Verschränkung von Theorie und Alltagspraxis plädiert und deren manchmal beinahe kindliche Begeisterung in der Beschreibung ihrer Erlebnisse mit ihrer Hündin Cayenne offenkundig ist, verurteilt diesen wohl auch sehr europäischen Zynismus, weil er ein Tier und eine Frau gleichermaßen herabwürdigt. Tatsächlich werfen aber auch viele feministische AutorInnen Haraway vor, dass ihre Ethik einer respektvollen Koexistenz mit Haustieren zu kurz greife. Kaum je erläutert sie ihre Neuansätze an anderen Tieren. Das mag daran liegen, dass es ja vor allem Haustiere sind, die unsere Lebenswelt unmittelbar teilen. Dennoch bleibt der Eindruck bestehen, dass sich diese auf ein ausschließlich bürgerliches, mittelständisches und «westliches» Idyll erstreckt. Ein Unbehagen ob dieses etwas eingeschränkten other worlding blitzt hin und wieder in ihren Schriften auf, etwa wenn sie ihrerseits vor der ödipalen Falle im Umgang mit Haustieren spricht. So betont sie in diesem Zusammenhang stärker als Derrida die Notwendigkeit, die otherness der companion species anzuerkennen, zu respektieren und nicht den eigenen Bedürfnissen einzuverleiben: «[…] contrary to lots of dangerous and unethical projection in the Western world that makes domestic canines into furry children, dogs are not about oneself.»44 Als Beispiel für eine respektvolle Neugierde an der companion species führt sie die Begegnungen von Barbara Smuts mit Primaten an. Diese beobachtete Gruppen von Pavianen in Tansania und Kenia, wobei sie gemäß der bis dahin gängigen Forschungspraxis versuchte, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, um höchst ‹objektive› Daten zu erlangen. Dabei musste Smuts allerdings feststellen, dass ihre verweigerte Präsenz, ihre mangelnde Kommunikationsbereitschaft, die Paviane hochgradig irritierte. Aus der Interaktion der Primaten schloss Smuts, dass diese mit Grußritualen Verhältnisse des Kohabitats begründen und dass sie selber daher diese Form der «embodied communication» erlernen musste.45 Meiner Ansicht nach schließt Smuts daraus allerdings recht pauschal auf Kommunikation im Allgemeinen, wenn sie aus ihrer Erforschung der Paviane in

44 Haraway: The Companion, S. 11. 45 Vgl. dazu Barbara Smuts: Sex and Friendship in Baboons. New York: Aldine Publishing Co 2009.



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Guinea eine ontologische Konstante ableitet: «With language, it is possible to lie and say we like someone when we don’t. However, if the above speculations are correct, closely interacting bodies tend to tell the truth».46 Die Wahrheit der Körper(sprache) ist für mich als Expertin für Literatur der Frühen Neuzeit ein besonders fataler Irrtum, denn genau darauf beriefen sich Inquisitoren und legitimierten so die grausamsten Torturen, um dieser «Wahrheit» habhaft zu werden. Direkt auf Tiere angewandt lese ich Smuts’ Pauschalurteil als fantasy echo der abendländischen Philosophie, wie es schon in Lacans Bestimmungen des im Imaginären verhafteten Tieres deutlich wurde: Das Tier kann zwar nachstellen, es kann auch sprechen, es kann sich aber nicht durch Sprechen verstellen. Abgesehen von der mangelnden Beweisführung dieses Befundes stellt sich aber ein schwerwiegenderes Problem: Ob darin nun ein Mangel der Tiere gründen soll, wie in der Philosophiegeschichte seit Platon, oder aber eine besondere Qualität, wie Smuts es intendiert, die Differenz wird ontologisiert. Ihre Bewertung bliebe damit sekundär, eine Geschmacksfrage. Im Unterschied zu einigen anderen Human-Animal-ForscherInnen und Post-FeministInnen, die so etwas wie einen «ontological turn»47 fordern, anerkennt Haraway aber, dass Materialität immer schon diskursiv durchformt ist, da soziale Beziehungen, die Subjekte jedweder Art erst hervorbringen, symbolisch determiniert sind. Deshalb betont sie auch die rhetorische Fundierung der Kontaktnahme mit Tieren, wie sie es am Beispiel ihrer Erfahrungen mit Hunden beschreibt: All stories traffic in tropes, i. e., figures of speech necessary to say anything at all. Trope (Greek: tropós) means swerving or tripping. All language swerves and trips; there is never direct meaning; only the dogmatic think that trope-free communication is our province. My favorite trope for dog tales is «metaplasm». Metaplasm means a change in a word, for example by adding, omitting, inverting, or transposing its letters, syllables, or sounds. The term is from the Greek metaplasmos, meaning remodelling or remolding.48

Zu den besonderen Stärken von Donna Haraway gehört es, derartige permutative Neuformulierungen entlang durchaus umstrittener und riskanter Themen zu entwickeln. In der vieldiskutierten Frage unserer karnivoren Ernährung, die innerhalb feministischer Animal Studies sehr leicht zum Marker für Nichtzugehörigkeit werden kann, meint Haraway: 46 Barbara Smuts: Embodied Communication in Non-Human Animals. In: Alan Fogel u. a. (Hg.): Human Development in the Twenty-First Century: Visionary Ideas from Systems. Cambridge: University Press, S. 136–146, hier: S. 144. 47 Beispiele aus der Genderforschung finden sich in Coole/Frost (Hg.): New Materialisms. 48 Haraway: The Companion, S. 20.

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I do not disagree that vegetarianism, veganism, and opposition to sentient animal experimentation can be powerful feminist positions; I do disagree that they are Feminist Doxa,49

Haraway fährt fort: I think what my people and I need to let go of if we are to learn to stop exterminism and genocide, through either direct participation or indirect benefit and acquiescence, is the command «Thou shalt not kill». The problem is not figuring out to whom such a command applies so that «other» killing can go on as usual and reach unprecedented historical proportions. The problem is to learn to live responsibly within the multiplicitous necessity and labor of killing, so as to be in the open, in quest of the capacity to respond in relentless historical, nonteleological, multispecies contingency. Perhaps the commandment should read, «Thou shalt not make killable».50

Frei übersetzt leitet sich daraus eine klare Haltung gegen Massentierzucht ab: ‹Du sollst nicht zur bloßen Schlachtung züchten›. Was diesen Ansatz gleichzeitig sehr radikal und radikal feministisch macht, ist der Verzicht auf eine immergültige Wahrheit oder eine wie immer geartete Instanz der Wahrheits- bzw. Rechtssprechung. Dieser Verzicht korreliert umgekehrt mit der Annahme von Verantwortung und auch von Schuld, wenn es ums Töten geht. Wie Haraway ausführt, ist es uns Menschen nicht möglich uns zu ernähren, ohne in irgendeiner Form auszubeuten und auch zu töten. Daher sollten wir uns um eine Haltung bemühen, die diese Tatsache nicht leugnet und Lebewesen nicht auf deren Status als Nahrungsmittellieferant reduziert. Tiere sind nicht nur Fleisch, das wir essen, sondern auch Partner bei Arbeit und Spiel, wie sie immer wieder betont. Für unser Zusammenleben mit ihnen gibt es allerdings keinen vorgefertigten Verhaltenskodex: Richtiges Handeln muss in konkreten Situationen unter Einbeziehung möglichst aller AkteurInnen entschieden werden.

Eine Ethik des Wortspiels? Bevor ich nun die Frage «Wie hältst du’s mit den Tieren?» an ausgewählte Autorinnen und Autoren des 16. Jahrhunderts richte, möchte ich die Beiträge von Jacques Derrida und Donna Haraway noch auf der Ebene der sprachlichen Verfahren ­diskutieren. Denn letztlich argumentieren beide nicht primär in logischer Beweisführung, sondern unter erheblichem Aufwand rhetorischer Instrumentarien.

49 Haraway: When Species, S. 80. 50 Haraway: When Species, S. 80.



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Haraways metaplasms zielen darauf, große Theorien in einfache Alltagspraxen zu übersetzen und umgekehrt. Ihre Wortspiele brechen häufig ­Sprachregister, um die Erhabenheit philosophischer Diskurse durch die vermeintliche Vulgarität alltäglicher Verrichtungen zu stören. Manchmal wirkt ihr Schreiben dadurch fabulierend und die Textintention erschließt sich lediglich in kleinen aperçues, die sich der großen These verweigern und Sinnangebote in Anspielungen verpacken. Dieser Diskurs ist nur im Kontext des Gesamtwerks von Haraway zu verstehen, an welchem ihre Dog-Races ebenso Anteil haben wie ihre Texte. Wenn wir diesen Anspruch einer absolut gleichwertigen Verknüpfung von Denken, Handeln sowie Affekten und Neigungen außer Acht lassen, klingen viele ihrer Ausführungen beliebig und ihre zutiefst politische Agenda greift ins Leere. Haraways Texte adäquat zu rezipieren heißt daher, Denken, Artikulieren und Handeln zumindest theoretisch engzuführen, was etwa in heutigen Wissenschaftskulturen auf erhebliche Schwierigkeiten stößt. Deshalb werden ihre Texte auch vornehmlich in Programmen der Gender Studies aufgegriffen, während die natur- und lebenswissenschaftliche Rezeption der Biologin nur sehr eklektisch erfolgt. Derridas Dekonstruktion des carnophallogocentrisme ist ein einziges großes Wortspiel: «l’animal donc je suis» und «le mal du mâle» sind nur zwei Beispiele für ein Verfahren, das zwar zunächst hoch suggestiv, bei genauerer Betrachtung aber auch fragwürdig ist, denn eine Homonymie ist noch lange keine Homologie: être und suivre haben etymologisch ebenso wenig miteinander gemein wie mal und mâle. Selbstverständlich können derartige Kunstgriffe oft unterdrückte oder  ­ verborgene Zusammenhänge zur Schau stellen, was ja das eigentliche Projekt  der dekonstruktivistischen differance umschreibt. Im vorliegenden Fall scheinen sie mir aber wichtige Fragen bzw. Details zu verschleiern. Denn wie Derrida in anderem Zusammenhang Lacan vorhält: Wo bleiben die kultur- und sozialanthropologischen Beweise dafür, dass das Tieropfer immer und überall eine phallogozentrische Hierarchie begründet bzw. begleitet? Und verweist nicht gerade die Praxis des Schächtens in der jüdischen Tradition auf gravierende Unterschiede zur christlichen Auffassung von Tieren? Das rabbinische Verbot des Genusses von Blut basiert auf der Überzeugung, dass es sich dabei um Seele handelt. Ähnliches gilt für das Verbot, Fleisch- und Milchprodukte zu vermischen. Meines Erachtens besteht aber der heroische Gestus patriarchaler Diskurse darin, große und immergültige Thesen und Begründungsmythen anzubieten. Im Falle Derridas mutet es sehr sympathisch an, dass er den Mythos des Tieropfers als Ausschlussnarrativ entlarvt. Aber indem er sämtliche diachrone und kulturelle Differenzen nivelliert, räumt er dem Mythos gleichzeitig metaphysische Gültigkeit ein. So wird der Phallogozentrismus allerdings erst recht zementiert. Die Kontextualisierung einzelner Positionen gerade im Hinblick auf kulturelle und historische Alterität ergibt ein wesentlich komplexeres Bild. Zunächst widerlegen

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die geschilderten Ausführungen von Doninger die Monotheismus-These.51 Die teilweise entgegengesetzten Standpunkte zum Tieropfer innerhalb der gleichen philosophischen Schulen in der Antike und im europäischen Mittelalter schildert Richard Sorabji in seinem Standardwerk.52 Keineswegs ist dabei das Tieropfer ein Charakteristikum monotheistischer Kulturen. Ganz im Gegenteil, begründeten die frühen Christen eines der Alleinstellungsmerkmale ihrer Religion damit, dass ihr Gott keines materiellen Sakrifiziums mehr bedürfe, da der Gottessohn sich selber metonymisch für die ganze Christenheit geopfert habe. Einer der überzeugendsten Fürsprecher der Tiere in der Spätantike, der Neuplatoniker Porphyrius, verknüpft seine Thesen zum Tierschutz u. a. mit einer Diatribe gegen den Gründungskult der neuen Religion, wie Sorabji dokumentiert: Porphyry describes it as more bestial (theriodes) than any bestiality that humans should eat each other’s flesh and drink each other’s blood and thereby have eternal life. He is aware that the saying may be taken ‹allegorically›, and his attack is more subtle than the earlier ones which accused the Christians of literally killing and eating babies at their assemblies.53

Die Genesis-Lesart, die Derrida anbietet, ist späteren Datums. Sie wird durch Thomas von Aquin kanonisiert, der Argumente von Augustinus’ Civitas Dei 1,20 aufgreift, wonach Tiere nicht der menschlichen Gemeinschaft zurechenbar und daher aus deren Ethikgeboten herausfallen und überdies keine rationalen Wesen seien. Es hätte aber auch unter den Kirchenvätern andere Traditionen gegeben, die eine prinzipielle ontologische Gemeinschaft von Tier und Mensch annahmen: But Lactantius, who like Augustine wrote in Latin, had not even accepted that animals lack reason (ratio). They have reason, can converse (colloqui), laugh (ridere) and exercise foresight, perhaps perfect foresight (perfecta providentia). The only way in which man differs is not through reason, but through what Cicero mentioned, knowledge of God.54

Die Annahme einer grundsätzlichen Gemeinschaft von Mensch und Tier kehrt in verschiedenen Texten wieder. Interessant ist dabei der Eklektizismus, der verschiedene, teilweise entgegengesetzte Argumente zusammenführt. Denn der Begriff der societas knüpft an das griechische Wort oikeiotês an, das Gemeinschaft im Sinne von Verwandtschaft meint. Es wurde von den Stoikern stark gemacht, 51 Vgl. dazu S. 135–136 dieser Arbeit. 52 Richard Sorabji: Animal, Minds & Human Morals. The Origins of the Western Debate. London: Duckworth 1993. 53 Sorabji: Animal, Minds, S. 181. Vgl dazu auch Stephen Newmyer: Animals, Rights and Reason in Plutarch and Modern Ethics. New York: Routledge 2006. 54 Sorabji: Animal, Minds, S. 202.



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um unter der Prämisse ihrer fehlenden Ratio Tiere von dieser Zugehörigkeit auszuschließen. Theophrastus und Porphyrius greifen nun aber Argumente aus Aristoteles’ Naturgeschichte und aus platonischen Texten auf, um das für die Stoa so wichtige Paradigma für Tiere zu reklamieren: In this way, too, we class all humans as related both to each other and to all animals. For their bodily origins (arkhai) are by nature the same. By this I do not mean to refer to the primary elements, since plants also are made of these, but for example skin, flesh, and the type of fluids that are natural to animals. And much more are they related through their souls being no different in nature, I mean in their appetites (epithumiai), anger (orgai), and again in their reasonings (logismoi) and above all in their senses (aisthêseis). But as with their bodies, some animals have souls more finely tuned, others less so, but they still all by nature have the same origins. And this is shown by their passions (pathê) being akin (oikeiotês).55

Diese ‹erweiterte Haushaltsethik› finde ich insofern interessant, da sie eine Nähe zu Donna Haraways Konzept der companionship aufweist, im vorliegenden Fall noch durch naturphilosophische Paradigmen erweitert. Derrida verfolgt in seinem Text aber offenbar weniger einen ethischen Anspruch. Es geht ihm vielmehr um die Dekonstruktion einer Ideengeschichte zum Verhältnis Mensch/Tier. Nicht zuletzt deshalb, weil er sich dabei hauptsächlich auf Texte kanonisierter Philosophen beschränkt, scheint er die Alternativlosigkeit der Dialektik zwischen Jäger und Gejagten zu zementieren. Der Eindruck, er trage mit seiner Verschmelzung von Tieropfer, Patriarchat und Monotheismus zur Hypostasierung des Immergleichen bei, wird dadurch untermauert, dass es ausgerechnet der Blick einer Katze ist, der seine Urszene konstelliert. Wie kaum ein anderes Tier steht dieses feline Wesen für die erotische Verkörperung der Frau, womit die normative Heterosexualität intakt bleibt. Derridas Wortspiele werden so zur schillernden Textoberfläche, zu einer rhetorischen Installation phallogozentrischer Kohärenz, und letztlich zum geistreichen, aber weitgehend folgenlosen Katzenjammer. Historisch forschende KulturwissenschaftlerInnen könnten darin eine Affinität zu den Etymologiae des Isidor von Sevilla sehen. Dessen ideologielastigen Wortherleitungen wurden von vielen Denkerinnen und Denkern der Frühen Neuzeit zitiert, gelegentlich auch mit Spott bedacht. Dabei wird deutlich, dass (natur)philosophische Texte des 16. Jahrhunderts von einem ausgeprägten Bewusstsein für die rhetorische Determiniertheit des Schreibens und Denkens künden und die jeweilige Montage ein und derselben Argumente aus einem 55 Porphyrius: Peri apochḗs empsýchōn, lat. De abstinentia, zit. nach Sorabji: Animal, Minds, S. 177–178.

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historischen Fundus je nach Kontext und Textintention völlig unterschiedlich erfolgt.56

Die «Vertierung» der Menschen in Renaissance-Psychologien Wie bereits mehrfach dargelegt, arbeiten sich viele NaturphilosophInnen des 16. Jahrhunderts am Dreierschema des Aristotelisch-Galenischen Seelenbegriffes ab. Eine komplexe Überlagerung unterschiedlichster sozialer und politischer Veränderungen bereitet diesen Paradigmenwechsel vor: In Folge der Ausdifferenzierung von Wissenschaft und Religion verwehren sich viele Intellektuelle gegen eine Einschränkung der Forschung von Seiten kirchlicher Doktrin, was in der bereits geschilderten Immortalitätsdebatte kulminiert. Das Dogma der unsterblichen Seele ist wiederum maßgeblich vor dem Hintergrund des einbrechenden providentiell geschlossenen Weltbildes zu verstehen. Damit referiere ich nicht vorrangig auf das heliozentrische Modell von Kopernikus. Vielmehr sehe ich dessen Durchsetzung in engem Zusammenhang mit der Eroberung Amerikas und den von dort importierten neuen Spezies von Pflanzen und Tieren, die sich im kollektiven Imaginären mit mittelalterlichen Mirabilia-Vorstellungen vermengen, gleichwohl aber von der Küche über die Alchemie bis hin zu Pharmazie und Medizin neue materielle Kulturen ausbilden.57 Die mit der Kolonialisierung der Neuen Welt einhergehenden Mobilitätserfahrungen ziehen ein wiedererwachtes Interesse für eine Neukonzeptualisierung von Bewegung nach sich, womit eines der Leitparadigmen von (menschlichem) Leben neu verhandelt werden muss. In der christlichen Interpretation der Aristotelischen Naturphilosophie sind der Unbewegte Beweger und Gott nahezu ident. Analog dazu folgt in der scholastischen Animakonzeption die unsterbliche rationale Seele des Menschen dem Prinzip des unbewegten Bewegers: sie ist dessen Anteil an einem höheren Sein!

56 Bei dieser Enzyklopädie von Isidor von Sevilla (ca. 560 bis 636) handelt es sich um einen der wirkmächtigsten Texte des Mittelalters. Ein Beispiel für Isidors etymologisches Brimborium wäre etwa die Herleitung des Begriffs Menstruation von monstrum. Vgl. dazu Isidor von Sevilla: Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla. Wiesbaden: Marixverlag 2008, deutsche Übersetzung von Lenelotte Möller. 57 Zu den ökonomischen und in Folge gesellschaftlichen Veränderungen in Spanien siehe Elvira Vilches: New World Gold: Cultural Anxiety and Monetary Disorder in Early Modern Spain. Chicago/London: Chicago University Press 2010; zu der Vermischung von magischen und alchemistischen Traditionen mit neuen pharmazeutischen Errungenschaften siehe Lorraine Daston/ Katharine Park: Wonders and the Order of Nature 1150–1750. New York: Zone 1998, S. 150 ff.



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Die rationale Seele kann also nur deshalb unsterblich sein, weil sie nicht von  Materie affiziert wird, sie befindet sich im menschlichen Körper gewissermaßen im Exil, oder, wie es eine beliebte Metapher vor allem christlich-neuplatonischer Prägung drastischer ausdrückt: im Gefängnis.58 Die «pure Aktivität», die die rationale Seele in der traditionellen christlichen Lesart charakterisiert, verdankt sich ihrer Abstraktionsfähigkeit, die ihr vom Schöpfer selbst gegeben wurde. Die menschliche Gottebenbildlichkeit, der menschliche Intellekt, besteht demnach darin, dass die Einflüsse der Umwelt, die von den materiellen Seelenteilen an die anima rationalis herangetragen werden, von dieser einer Prüfung und Beurteilung unterzogen werden. Darin besteht Kognition, welche die intellegible Seele kraft der ihr inhärenten Universalia durchführen kann. Dieses in Variationen vorherrschende Axiom scholastischer Seelenlehre verliert nun in den vitalistisch-materialistischen Neuformulierungen der Spätrenaissance an Gültigkeit, da diese ein Paradigma Aristoteles’ wiederbeleben: Nihil est in intellectu, quod non prius in sensu.59 Die Abstraktionsfähigkeit menschlicher Kognition ist demnach nichts anderes, als ein Lernprozess, der auf Erfahrungen mehrmaliger Sinneswahrnehmungen beruht. Welche Seelenvorstellungen mit dieser sensualistischen Fokussierung einhergehen, werde ich an repräsentativen Positionen vorführen.

Bernardino Telesio und der Zweikampf von Heiß und Kalt Bernardino Telesio (1509–1588) gilt vielfach immer noch als Geheimtipp unter ­ hilosophiehistorikerInnen. Wie die meisten der heterodoxen DenkerInnen, deren P Innovationen ich meiner Untersuchung zugrunde lege, wirkte er nie an einer der etablierten Institutionen, sondern führte die von seinem Onkel gegründete Accademia Concentina in seiner Heimatstadt Cosenza fort, nachdem er sich zehn Jahre lang in ein Benediktinerkloster zum Selbststudium zurückgezogen hatte. Die Distanz zu gängigen Wissenschaftskarrieren und –traditionen spiegelt sich auch in der wissenschaftlichen Produktion von Telesio: Im Grunde genommen ist sein Werk ein beständiges Weiterentwickeln, Weiterdenken und Weiterformulieren eines einzigen opus magnus: Erst nach langen Jahren des Studiums und des 58 Wie Paul Richard Blum und Elisabeth Blum darlegen, geht diese Konzeption auf Boetius De consolatione philosophiae zurück und wurde dann von Petrarca aufgegriffen und in Folge vor allem von Ficino weiter ausgefeilt. Siehe dazu Paul Richard Blum/Elisabeth Blum: Argumentum in Platonicam theologiam. In: Elisabeth Blum/Paul Richard Blum/Thomas Leinkauf (Hg.): Marsilio Ficino: Traktate zur Platonischen Philosophie. Berlin: Akademie Verlag 1993, S. 84–93. 59 Vgl. dazu Aristoteles: De anima III 8, 432a3–10.

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­ nterrichts legt er De rerum natura iuxta propria principia erstmals 1565 vor, eine U weitere Ausgabe folgt 1570, die letzte, erweiterte, 1586, ein Jahr vor seinem Tod. Telesios peripheres und trotz Unterstützung durch einflussreiche Mäzene immer auch ein wenig prekäres Privatgelehrtendasein macht es umso erstaunlicher, dass ihm als einem der wenigen Naturphilosophen des ausgehenden 16. Jahrhunderts dennoch eine Vorreiterrolle in Bezug auf die scientific revolution zugesprochen wird. Diese Würdigung im Kanon der Philosophie verdankt sich vor allem Francis Bacons Diktum, der den Süditaliener als ‹first of the moderns›60 apostrophierte. Ob Telesios Radikalisierung oder besser gesagt seine radikale Vereinfachung der Qualitäten- und Elementenlehre frühneuzeitlicher Kosmologie und Physiologie tatsächlich die empirischen und mechanistischen Modelle des 17. Jahrhunderts vorbereiten geholfen hat, ist in der Wissenschaftsforschung nach wie vor umstritten. Wie Cees Leijdenhorst anmerkt, räumt Telesio der Mathematik – anders etwa als der eine Generation jüngere Galileo Galilei – nur einen nachgeordneten Stellenwert ein, womit er den entscheidenden Paradigmenwechsel hin zu neuzeitlichen Wissenschaftskulturen nicht vollzieht.61 Bis zum heutigen Tag werden auch die redaktionellen Revisionen der drei Textfassungen von De rerum natura kontrovers diskutiert. Die meisten der Adaptierungen beziehen sich auf die Konzeption von anima: Die erste Ausgabe widmet sich ausschließlich einer sterblichen, also materiellen Seele. In den folgenden Editionen bemüht sich Telesio hingegen zunehmend, die anima ex semine educta einer anima a Deo infusa gegenüberzustellen. Leen Spruit erklärt Telesios zögerliche Anerkennung eines unsterblichen Seelenanteiles als argumentationslogische Konsequenz der Beobachtung, dass Menschen sich einen Begriff von Unsterblichkeit machen und dass dieser symbolischen Position etwas wesenhaft ­entsprechen müsse.62 Diese mit Telesios Materialismus in Einklang gebrachte Metaphysik überzeugt mich weniger als Guido de Ruggieros Befund, bei den textuellen Erweiterungen handle es sich um «una tardiva concessione alle esigenze religiose e confessionali».63 Auch einer der Übersetzer von Telesios Werk, Roberto Bondi, teilt die Annahme, die vor allem in der dritten Ausgabe eingefügten Ansätze einer immateriellen Seele seien der zunehmend restriktiven

60 Bacon Francis: Opera Omnia, Hg. von Spedding J. – Ellis R.L – Heath D.D. London: 1887, Reprint Stuttgart – Bad Cannstatt: 1963), S. 79–118, hier: S. 114. 61 Cees Leijdenhorst: Bernardino Telesio (1509–1588). In: Paul Richard Blum (Hg.): Philosophen der Renaissance. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft/Primus 1999, S. 137–149, hier: S. 146. 62 Leen Spruit: Telesio’s Reform of the Philosophy of Mind. In: Bruniana & Campanelliana 3, 1997, S. 123–143, hier: S. 129. 63 Guido de Ruggiero: Rinascimento, Riforma e Controriforma. Bari: Laterza 1947, Bd. II, S. 120.



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­ egenreformatorischen Zensurpraxis geschuldet. Er begründet dies damit, dass g die Verweise auf die unsterbliche Seele nicht organisch in die Gesamtargumentation des Werks eingearbeitet sind.64 Insgesamt lässt sich jedenfalls feststellen, dass Telesio ein konzises materielles Erklärungsmodell konstruiert, das die Aristotelische Metaphysik ebenso wie Galens Psychophysiologie zu überwinden sucht. Der Angelpunkt von Telesios Naturphilosophie besteht darin, dass er das Aristotelisch-Galenische Modell der vier Qualitäten (heiß, kalt, feucht, trocken) auf zwei antagonistische Prinzipien, heiß und kalt, reduziert, wobei dem ersten die teleologisch höhere Funktion zukommt. Bereits Galen hatte in einer seiner vielen Schriften angedeutet, dass Trockenheit und Feuchtigkeit vielleicht nur Derivate der Primärqualitäten Hitze und Kälte seien, so gesehen konnte Telesio sich in seiner Argumentation auf die wirkmächtigste Autorität der Frühen Neuzeit in Bezug auf Körpermodelle berufen, freilich um sie gleichzeitig zu widerlegen.65 Aus den Mischungen der Qualitäten formieren sich bei Galen die Temperamente, denen im menschlichen Organismus eine prominente Wirkkraft zukommt, da sie den Säftehaushalt, also nichts Geringeres als die menschliche Physiologie, ausbilden. Für Telesio sind nun aber Hitze und Kälte die eigentlichen Kräfte, ja sie zeichnen sich durch permanente und ungemischte Aktivität aus. Noch radikaler ist Telesios Bruch mit der scholastischen Naturphilosophie, wenn es um die Interaktion der beiden naturae agentiae, Kalt und Warm, mit der Materie geht. Im Aristotelischen Hylemorphismus ist Materie prinzipiell amorph und unbelebt, sie bedarf der Form, um zu einem – konkreten – belebten Körper zu werden.66 Tatsächlich ist Materie aber immer schon verkörpert, da sie sonst im Zustand der Privation, der Beraubung, wäre und deshalb die Formgebung begehrt. Diese erfolgt laut Aristoteles als teleologisch vorbestimmte Entwicklung, denn sie ist der jeweiligen Materie schon in Potenz inhärent, muss also nur aktualisiert werden. Diese Entwicklung ist demnach unabwendbar, daher auch unabhängig von der Umgebung und entspricht der Eigenbewegung, dynamis, der Lebewesen. Die Eigenbewegung natürlicher Körper erfolgt nach gänzlich anderen Prinzipien als die angestoßene oder willentliche Bewegung. Zweitere besteht nämlich in reiner Aktivität, Energie, energeia. Telesio konzipiert demgegenüber die Materie als das stabilste der Grundelemente. Sie bleibt gleich, nimmt weder ab noch zu und ist zwar rezeptiv, aber selbstgenügsam, womit er das von Aristoteles postulierte Prinzip der Privation 64 Roberto Bondi: Introduzione a Telesio. Roma/Bari: Laterza 1997, S. 123–135. 65 Galen: Hipp. Elem. (1.494–5, 142, I–6 K.); Siehe dazu auch Robert J. Hankinson: The ­Cambridge Companion to Galen. Cambridge: University Press 2008, S. 219. 66 Aristoteles: Phys. I, 9.

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in Abrede stellt. Die Formenvielfalt auf Erden verdankt sich nicht der Bedürftigkeit und Unersättlichkeit der Materie, die immer neue Formen anziehen muss, sondern resultiert vielmehr aus dem Widerstreit der Qualitäten der Wärme und Kälte, die auf die Materie einwirken: denn jede handelnde Natur, wie immer sie auch beschaffen ist, vergisst niemals die ihr eigene Anlage und hört nie auf, zu handeln, sondern bekämpft und schwächt die ihr ähnlichen und verwandten (Naturen), um sich selbst an deren Stelle zu erweitern. Wie immer sie beschaffen ist, sie strebt und kämpft mit aller Kraft danach, in dieser Beschaffenheit zu sein und erhalten zu bleiben, sich weiter auszudehnen und allen ihr Unterlegenen vorgezogen zu werden. Was man also ‹die Aktionsprinzipien der Dinge› [agentia rerum principia] genannt hat, das scheinen Wärme und Kälte zu sein.67

Karl Schuhmann betont, dass für Telesio die Materie an sich bereits körperhaft bzw. substantiell sei, womit «he participates in that broad movement which eventually led to the ontological upgrading of matter».68 Telesios Materie bleibt zwar passiv, aber sie hat eine sinnliche Qualität, denn sie strebt nach Selbsterhaltung, weshalb Passivität nicht mit Inertia gleichzusetzen ist, sondern ein Sensorium für förderliche Einflüsse mit einschließt: Passion, in the context of Telesio’s natural philosophy, signifies a process of receptive suppleness that includes a dimension of active response. We can therefore say that Telesio understands sensus as the primordial sense of being affected pervading the entire universe.69

Telesio hebt damit die Unterscheidung von dynamis und energeia auf und nimmt als Agens aller Lebensprozesse eine aktive Energie an, die darauf zielt, ein komplexes und daher prinzipiell auch fragiles Gleichgewicht der Kräfte Kalt und Warm herzustellen. Dafür ist es allerdings notwendig, dass jedweder natürliche Körper, ja jedes Organ, einen sensus dafür hat, was ihm entspricht. Mit dieser Prämisse widerspricht er auch der trichotomen Psychologie von Aristoteles und

67 Bernardino Telesio (1570): La natura secondo i suoi principi, con testo originale a fronte. Hg., übers. und eingel. von Roberto Bondí. Florenz: La Nuova Italia Ed. 1999, S. 38: […] qualiscunque enim existit natura agens quaevis nunquam proprii ingenii oblitanumquam agere cessat, sed vel similes cognatasque oppugnat deturbatque, ut in earum se ipsam sedibus amplificet qualiscunque est talis esse servarique et diffundi amplius atque in subiectis produci omnibus summe appetens summeque contendens. Quod igitur dictum est agentia rerum principia calor esse et frigus videntur. 68 Karl Schuhmann: Telesio’s Concept of Matter. In: Accademia Consentina (Hg.): Atti del Convegno Internazionale di Studi su Bernadino Telesio. Cosenza 1990, S. 115–134, hier: S. 115. 69 Guido Giglioni: The First of the Moderns or the Last of the Ancients? Bernardino Telesio on Nature and Sentience. In: Bruniana & Campanelliana, XVI,1/2010, S. 69–87, hier: S. 72.



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Galenus. Diese unterscheidet wie im Kapitel «Körpervorstellungen in der Naturphilosophie der Frühen Neuzeit» dargestellt zwischen gleichsam mechanischen, instinkthaften Naturprozessen, der anima vegetativa, einem wahrnehmenden Prinzip, der anima sensitiva, und schließlich einer sich selbst gewahr werdenden und willentlich agierenden und urteilenden Seele, der anima rationalis. Für Telesio gibt es demgegenüber nur eine einzige Seele, und zwar die sinnliche, die in allen Lebewesen sämtliche Lebensvorgänge steuert: Ich will also niemals behaupten (wie andernorts gesagt wurde), man müsse aus diesem Grund zwei verschiedene und getrennte Seelen im Menschen annehmen; das möchte ich ganz im Gegenteil dezidiert verneinen, da ich doch nicht nur aus der Heiligen, Göttlichen Schrift, sondern auch aus den menschlichen Wissenschaften gelernt habe, dass der gesamte Organismus von einer einzigen Seele gelenkt wird.70

Neben der Nivellierung des trichotomen Seelengebäudes sind zwei weitere Abweichungen signifikant: Seele als Synonym menschlichen Lebens ist gleichbedeutend mit Bewegung und diese Bewegung ist letztlich immer eine intentionale, da sie um conservatio sui, also Selbst- bzw. Systemerhaltung bemüht ist. Aus diesem Grund ist sensus das eigentliche Wesensmerkmal der Seele. To recapitulate, then, we might say that, whereas Aristotle explained all natural movements as a result of the unintentional process of actualisation pervading the universe, Telesio conflated the very notions of movement and perception by defending the existence of a natural and sentient appetite of self-preservation in each part of the universe.71

Gegen diese an sich sehr luziden Analyse von Telesios Seelenlehre muss ich einwenden, dass Telesios Innovation nicht darin besteht, Bewegung und Wahrnehmung ineins zu setzen, denn bereits innerhalb der fakultativen Psychologie gehören die beiden Prinzipien dem gleichen Seelenanteil, der anima sensitiva, an. Telesios Angriff gilt wie ausgeführt der Aristotelischen Entelechielehre und damit dem Paradigma der dynamis, die in der Galenischen Konzeption des menschlichen Körpers Parallelen zum calor innatus aufweist. Dieser regelt alle unwillkürlichen Körperprozesse wie Atmung, Verdauung etc. Telesio postuliert aber den mittleren Seelenanteil als den einzigen, Sinneswahrnehmung und Bewegung werden somit die Marker der Seele schlechthin und selbst die unwillkürlichen Operationen des Körpers haben immer sensus. Dieser geht über die scholastische 70 Telesio: La natura, S. 411: Nec tamen (ut alibi dictum est) duas propterea in homine animas distinctas separatasque ponendas dixerim unquam; quin summe id pernegem, non a sacris modo divinis litteris, sed ad humanis etiam edoctus rationibus, ab una omnino anima universum gubernari animal. 71 Giglioni: The First, S. 84.

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Konzeption der anima sensitiva hinaus, da er eigenmächtig ist und sich nur graduell von Kognition unterscheidet: «Denn ein Sinneseindruck kann als nichts anderes denn als Wahrnehmung der eigenen Passion angesehen werden».72 Telesio verabschiedet nicht nur die dreiteilige Seelenkonzeption, sondern auch die damit verbundene Hierarchie der Organe (Leber, Herz, Gehirn), die bei Galen diese gesteuert und drei unterschiedliche «Lebensgeister», spiritus, ausgebildet hatten. An deren Stelle tritt bei Telesio – durchaus im Einklang mit einigen anderen Naturphilosophen der Spätrenaissance73 – ein einziger spiritus. Wichtig dabei ist, dass dieser spiritus nicht nur eine abstrakte Funktionsbeschreibung darstellt und auch keineswegs bloß metaphorisch zu verstehen ist. Es handelt sich vielmehr um eine Substanz, die zwar sehr subtil und somit versatil, aber eben materiell ist. Als solche steuert der spiritus nicht nur alle Lebensprozesse in allen Lebewesen, sondern er wird zur materiellen, zur verkörperten Seele aufgewertet: Wenn nicht einmal [die Peripatetiker] am Werkzeug der Seele festhalten, sondern die Substanz der Seele selbst auch als Seele selbst erscheinen soll, dann wohnt selbstverständlich jener Geist, der aus dem Samen gezogen wurde, allen aus Samen bestehenden Dingen inne, mit Ausnahme allein der Knochen und aller übrigen knochenähnlichen Dingen.74

Wie Katherine Park resumiert, ist der spiritus damit nicht länger das Instrument der Seele, sondern die Seele als Lebensprinzip schlechthin.75 In der Konzeption dieses spiritus ist Telesio näher am stoischen pneuma76 als etwa der wirkmächtige Neuplatoniker Marsilio Ficino, der ebenfalls von einem einzigen spiritus ausgeht, der als eine Art Transmitter zwischen der niedrigen Materie und der Sphäre der Ideen vermittelt: 72 Telesio : La natura, S. 106: Neque enim aliud sensus quam propriae passionis perceptio videri potest. 73 Die wichtigsten Vertreter dieser Spirituslehre sind Jean Fernel, Girolamo Fracastoro und Miguel Servet, Giordano Bruno. Vgl. dazu Gerhard Klier: Die drei Geister des Menschen. Die sogenannte Spirituslehre in der Physiologie der Frühen Neuzeit. Stuttgart: Franz Steiner 2002 (Sudhoffs Archiv: Beihefte; H.50). 74 Telesio : La natura, S. 168 : Id si non praestent ne ipsis quidem animae organum, sed ipse animae substantia et anima ipsa videri debet, is nimirum spiritus qui e semine eductus est rebusque e semine constitutis unis ossibus ossibusque similibus rebus exceptis reliquis inest omnibus. 75 Park : Organic Soul, S. 464–485. 76 Bezüglich der Anklänge an stoische Ideen in Telesios Werk siehe Eckard Kessler: Selbstorganisation in der Naturphilosophie der Renaissance. In: Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften 3/1992, S.15–29.Zum Stoischen Begriff der Selbstkonservierung siehe Gisela Striker: The Role of oikeiosis in Stoic Ethics. In: Julia Annas (Hg.): Oxford Studies in Ancient Philosophy. Oxford: University Press 1983, S. 145–168; Brian Inwood: Ethics and Human Action in Early Stoicism. Oxford: University Press 1984; Antony A. Long: Stoic Studies. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1996, S. 250–263.



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Ficino considera lo spirito come un medium, Telesio come un subiectum. L’uno guarda allo spirito come a un veicolo diretto dall’anima e privo di percezioni proprie, l’altro come un’entità intrinsecamente e autonomamente mobile e senziente.77

Bei Telesio wird aus einem Botenstoff also die eigentliche Materie der anima, deren Sitz weiterhin die Gehirnventrikel sind, die aber aufgrund ihrer Beweglichkeit den ganzen Körper über das Nervensystem durchflutet. Daher besteht der Idealzustand der Seele nicht wie bei Aristoteles in absoluter Ruhe, sondern in beständiger Bewegung, in einer unabwendbaren Interaktion mit der Umgebung zum Zwecke der Selbsterhaltung und Selbsterweiterung. Mit der herausragenden Bedeutung von Bewegung korreliert ein sehr interaktives Modell der Selbsterhaltung: Sämtliche natürliche Körper drängen nämlich nach Berührung mit wesensähnlichen Körpern und nach Distanz von wesensfremden Körpern, einem Prinzip von Sympathien und Antipathien, wie es schon Girolamo Fracastoro ausgearbeitet hatte, der im vorangegangenen Kapitel vorgestellt wurde. Das Paradigma für die Interaktionen zwischen Körpern ist folglich Kontakt, womit wiederum stoische Konzeptionen anklingen. Dieses Paradigma ist für den Metabolismus, für die Wahrnehmung, für Emotionen und für die Kognition gleichermaßen wirksam. In all diesen Prozessen kommt es zu einem physikalischen Kontakt, der entweder auf Anziehung oder auf Abstoßung beruht. Das Modell ist also keineswegs metaphorisch, sondern buchstäblich zu verstehen. Dementsprechend ist Wahrnehmung nichts anderes als eine Affektion des spiritus über die Vermittlung der Sinne, die als Vergnügen oder Schmerz empfunden wird. Telesio entwickelt aber ein dynamisches Modell für diese Affektionen: Es handelt sich keineswegs um einseitige Anstöße, die von außen etwa auf den menschlichen Organismus einwirken, vielmehr ist dieser in einem Zustand der Bereitschaft, da der spiritus aktiv nach Bewegung verlangt, um dem Prinzip der Selbsterweiterung zu entsprechen. Für dieses Wechselspiel verwendet Telesio zwei Begriffe, die an Aristoteles’ Unterscheidung von energeia und dynamis erinnern: actio bezeichnet den Anstoß, die physikalische Einwirkung eines Dinges auf ein anderes, und operatio die darauf folgenden inneren Operationen.78 Bei Telesio kommen diese beiden Bewegungsformen aber nur im Tandem vor. Denn der spiritus als «Samen-Seele» aller Kreaturen ist nicht im Zustand der bloßen Potentialität, sondern wirkt als eine ausgesprochen aktive Substanz: ‹Telesio believed that the soul comes to grasp natural reality by means of physical i­nteraction›.79 77 Guido Giglioni: Spirito e coscienza nella medicina di Bernardino Telesio. In: Germana Ernst/ Rosa M. Calcaterra (Hg.): Virtù ascosta e negletta. La Calabria nella modernita. Milano: Franco Angeli 2011, S. 154–169. 78 Telesio: La natura, S. 18–20. 79 Spruit: Species, S. 201.

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Deshalb sind die species intellegibiles nicht wie bei den Peripatetikern immaterielle Formen bzw. Phantasiebilder, sondern Entitäten in Interaktion. Die Idee von «handfesten» Impulsen basiert auf einer Umwertung des Leitsinns: Während in den meisten naturphilosophischen Texten der Frühen Neuzeit der Sehsinn der wichtigste ist, favorisiert Telesio den Tastsinn. Dieser Sensualismus durchdringt alle Prozesse des Lebens. Einige WissenschaftlerInnen haben diesen Ansatz auf das Erbe Averroes’ zurückgeführt: Martin Mulsow etwa geht davon aus, dass Telesios Modell auf der Annahme einer anima mundi beruhe, die aber durch die Erbsünde nicht weiter wichtig ist.80 Diese These setzt einen Denkschritt voraus, der in Telesios eigenen Schriften so nicht vorkommt: Dass es nämlich so etwas wie einen Beginn oder Urzustand der Materie gegeben hätte. Telesio betont demgegenüber lediglich, dass die beiden Kräfte Heiß und Kalt aus den Primärkörpern resultieren: der Sonne und der Erde. Für diese beiden anerkennt er tatsächlich auch einen Schöpfungsakt. Doch nach ihrer Kreation sind die beiden Primärkörper nun ewig – und im ewigen Widerstreit, wodurch ebenso einfach wie genial das Gleichgewicht alles ­Seienden gewährleistet wird. Denn die Hitze des Himmels und die Kälte des Erdinneren als naturae agentiae wirken unentwegt auf die Materie ein. Die Materie befindet sich auf der Erdoberfläche und unterliegt einer beständigen Veränderung. Hier widerspricht Telesio der Aristotelischen Konzeption ausdrücklich: Nicht irgendwelche abstrakten Formen besetzen abwechselnd die Materie. Die Vielfalt der Dinge resultiert vielmehr daraus, dass die Hitze manchmal in größerer, manchmal in geringerer Intensität, manchmal länger und manchmal kürzer auf bestimmte Teile der Materie einwirkt, dann wiederum die Kälte, je nachdem, wie sich die Himmelsbewegungen zur Erde hin verhalten. Gewissermaßen kann die Vielfalt der Erscheinungen der sinnlichen Welt als Produkt unterschiedlich erhitzter Dinge, die in Austausch treten, vorgestellt werden. Das Paradigma für diese Aktivität ist wiederum Berührung: Jedwede Veränderung ist das Ergebnis einer Erweiterung oder einer Kontraktion als Ergebnis eines angenehmen oder verabscheuten Kontakts. Hitze agiert, indem sie Dinge bewegt, ausdehnt und verdünnt; Kälte, indem sie die Dinge kondensiert und stabil hält, wie bereits im Zitat auf Seite 152 anklingt. Da im menschlichen Körper die gleichen – physikalischen! – Kräfte wirksam sind wie in allen Naturdingen, lässt sich aus den Textbeispielen direkt auf Telesios Kosmologie schließen, die konsequent peripatetischen Konzepten widerspricht. Er nimmt für die supralunare Welt und die sublunare Welt die gleichen Naturgesetze an, sie unterscheiden sich lediglich graduell. Darin sehe ich ein

80 Mulsow: Selbsterhaltung, S. 285.



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weiteres Indiz dafür, dass er kein transzendentales Seelenprinzip der Bewegung intendiert, denn eine anima mundi verliert ihre argumentative Basis, wenn der Kosmos nichts anderes als eine subtilere Form der immer gleichen Prinzipien wie auf Erden darstellt. In dieser ebenso dynamischen wie fließenden Konzeption naturphilosophischer Axiome korrigiert Telesio auch das Prinzip der Korruption, denn streng genommen wird nichts Seiendes zerstört, es geht nur in eine andere Gestalt über, denn es handle sich um eine Art Fließen und nicht um sprunghafte Veränderungen.81 Die graduellen Unterschiede verdanken sich einem mehr oder weniger ­raffinierten spiritus, was wiederum mit unterschiedlichem Einwirken der Primärkräfte zu tun hat. Denn letztlich sind es Hitze und Licht, deren Impulse die subtileren Prozesse steuern: «Hitze muss daher angesehen werden als entstanden aus Bewegung, dieser der Hitze eigenen Aktivität, somit der Substanz der Hitze.»82 In dieser Passage wird eine offensichtliche Diskrepanz in Telesios Text deutlich, da er ja üblicherweise Hitze als Prinzip und nicht als Substanz beschreibt. In dieser widersprüchlichen Formulierung setzt er aber die Sonne als homolog für die Qualität der Hitze, um seine rigorose Grundannahme von lediglich zwei kreativen Elementen zu untermauern.83 Und ebenso durchlässig und fließend wie im Makrokosmos ist nun die anthropologische Differenz in De rerum natura konzipiert: Denn wer würde nicht sehen, dass jede einzelne, zumal die inneren, ihre jeweils eigenen Werke vollbringen, und wie die einen durch den Lauf der Natur stark verändert werden und leiden, von größter Lust oder größter Beschwernis betroffen werden, während anderen kein Leiden und keine Sinneswahrnehmung geschieht, wie die einen sich unaufhörlich bewegen und an der Bewegung Freude haben, während andere von ihrer Natur aus unbeweglich sind und von anderen bewegt werde müssen, wer würde da nicht sehen, dass jede einzelne ihre eigene Anlage, ihre eigene Art erhalte habe?84

81 Telesio: La natura, S. 100: non saltus, sed quasi fluxus quidem existit! 82 Telesio: La natura, S. 100: Calor itaque a motu factus, a propria caloris factus operatione, a caloris substantia factus videri debet. 83 Telesio: La natura, S. 10 ff. 84 Dies kommt auch noch in der wesentlich kirchenkonformeren letzten Ausgabe von Telesios Hauptwerk zum Ausdruck, das ich daher an dieser Stelle zitiere: Bernardino Telesio: De rerum natura iuxta propria principia libri IX. Neapel: Horatium Salvianum 1586, Lib. V, S. 183: Quis enim propria singulas, internas praesertim, opera conficere, & quibus aliae à rerum naturis summopere immutantur, patiunturque, & voluptate summa, summaue afficiuntur molestia, nullam alijis passionem, nullumque fieri sensum, & perpetuó alias moueri, motuque oblectari, immobiles alias sui natura esse, & ab alijs vectandas esse, quis itidem singulas propriam dispositionem, propriamque sortitas esse speciem, non intuetur.

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Auf eine parallele Wesensbestimmung von Menschen und Tieren verweist auch der Titel eines seiner libelli, eines kürzeren Traktats, den sein Schüler Antonio Persio zwei Jahre nach dem Tod Telesios herausbrachte: Quod animal universum ab unica animae substantia gubernatur (Venedig 1590). Auch hier wird für Tiere und Menschen prinzipiell der gleiche Funktionsmechanismus angenommen: […] in den Gehirnventrikeln wie in einem Fürstensitz und in allen übrigen Dingen, die aus Samen bestehen und dem Gehirn verbunden und ähnlich, d. h. weiß und blutlos, sind, wohnt sie (die Substanz der Seele) allen inne, jedes Tier und auch der Mensch wird so gelenkt.85

Aus der Engführung von Hitze, Bewegung und spiritus lässt sich in Folge auch Telesios Kognitionsmodell erklären: Kognition bildet sich im Laufe eines Lebens aus, nachdem viele unterschiedliche Bewegungen wahrgenommen wurden, wodurch der spiritus noch heißer und subtiler wurde. So kann der sensus bei neuen Impulsen auf vorangegangene Erfahrungen rekurrieren. Diese Konzeption zieht eine Neubestimmung der memoria nach sich: Sie ist nicht länger ein passives Bildarchiv im letzten Gehirnventrikel, sondern ein Pool verkörperter Erfahrungen. Als solche ist sie von eminenter Bedeutung für Telesios Theorie der Kognition.86 Denn die ursprüngliche Bewegung kann bei ähnlicher Wahrnehmung wieder aktiviert werden und diese Engführung gegenwärtiger und vergangener Impulse ermöglicht es schließlich auch, zukünftige Erfahrungen vorwegzunehmen, also vernünftige Schlüsse anzustellen. Durch diese niedrigschwellige und durchgängig naturalistische Vorstellung von ratio kann Telesio zwei virulente Probleme befriedigend lösen: Erstens kann er besser als das Aristotelische oder das (Neu)Platonische Modell erklären, worin Irrtum besteht. Denn wenn die Vernunft als unaffizierbar oder gar transzendent gilt, darf ihr streng genommen kein Fehler passieren. Ist sie jedoch verkörpert wie bei Telesio, unterliegt sie den Wechselfällen dynamischer Prozesse: The practical knowledge of the world – the virtue of wisdom – is rooted in the corporeal sense, i. e., in the embodied knowledge that organises and governs the universe […] One might say that the whole amount of knowledge and spirituous matter scattered in the universe is constantly affected by a powerful ‹butterfly effect›.87

85 Bernardino Telesio: Quod animal universum ab unica animae substantia gubernatur. In: Varii de naturalibus rebus libelli, hg. von Luigi De Franco. Florenz: La Nuova Italia 1981, S. 188: […]in cerebri ventriculis ut in principe sede, et reliquis in rebus, quae a semine constitutae et cerebro continuae similesque, albae nimirum exanguesque sunt, inhabitat omnibus, animal quodvis et homo etiam ipse gubernari [...]. 86 Siehe Kessler: Selbstorganisation; Bondì: Introduzione; Mulsow: Selbsterhaltung; Michaela Boenke: Körper, Spiritus, Geist. Psychologie vor Descartes. München: Beck 2005. 87 Giglioni: The First, S. 80.



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Umgekehrt lässt sich Telesios holistischer Ansatz als Basis für organische Kognitionsmodelle88 ebenso wie für Evolutionsmodelle nutzen, worauf ich am Ende des Kapitels zurückkommen werde. Ich habe hier einen der radikalsten Vertreter einer sensualistisch-­ materialistischen Naturphilosophie der Spätrenaissance so ausführlich vorgestellt um nachzuzeichnen, welche epistemologischen Frage- und ­Problemstellungen am Ende des 16. Jahrhunderts eine Nivellierung der anthropologischen Differenz nach sich ziehen. Wie aus den Textbeispielen hervorgeht, hat Telesio diese Position auch aktiv vertreten. Denn auch wenn die Grenzziehung zwischen Mensch und Tier kaum je explizit behandelt wird, ist die Konsequenz aus Telesios Vereinheitlichung der Seele, dass vor dem Horizont fakultativer Psychologie der Mensch als hierarisch höchstes Wesen ebenso wie die Unsterblichkeit fragwürdig wird. Daneben zeigt sich in seinem Werk aber auch die zu Beginn dieses Kapitels konstatierte Kehrseite eines beinahe egalitär anmutenden Ansatzes: Anthropomorphismus. Denn das Modell der Sinneswahrnehmung, aus dem sich sämtliche Naturgesetze ableiten, wurde gewissermaßen protoempirisch an der eigenen menschlichen Erfahrung entwickelt. Und auch wenn Telesio rhetorisches Ornament bewusst sparsam einsetzt, so ist die Terminologie doch entlarvend: Abgesehen von den zahlreichen Kampf- bzw. Wettbewerbsmetaphern, die das Wirken der naturae agentiae begleiten, erlangt der spiritus, wie es Giglioni treffend herausarbeitet, beinahe den Status eines innerweltlichen artifex: In De rerum natura, he described the spirit as being « most clever » (prudentissimus) in all its performances, acting as a fully developed self. […] if it is true that Telesio endowed nature with the power to justify and explain itself (iuxta propria principia), so much so that even the human mind could be seen as a by-product of nature, nevertheless, the way he characterised nature’s operations was too similar to the way one would have explained the actions of human beings.89

Ernst Cassirer, an dessen Argumentation dieses Zitat anknüpft, sieht Telesios Proto-Empirismus in einem frühneuzeitlichen Animismus verhaftet. Cassirer macht allerdings deutlich, dass es sich dabei um keinen Denkfehler im Telesianischen System handelt, sondern dass Animismus bzw. Panpsychismus als logische Konsequenz seiner epistemologischen Grundlagen resultiert:

88 Zur Position, dass Telesio gewissermaßen einen Gründungstext der Kognitionswissenschaften geschrieben hätte, vgl. Giovanni Gentile: Bernardino Telesio. In: Ders.: I problemi della scolastica e il pensiero italiano (Opere, xii). Florenz: Sansoni, 1963, S. 133–206. 89 Giglioni: The First, S. 86.

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Ein Ding «erkennen» – das ist das gemeinsame Prinzip, von dem sie überall ausgeht – heißt, mit ihm eins werden [...] Der Gegenstand wird wahrgenommen, wird in seinem eigentlichen, echten Sein nur dann erfaßt, wenn wir in ihm das gleiche Leben, dieselbe Art der Bewegung und Beseelung spüren, wie sie uns in der Selbsterfahrung unseres Ich unmittelbar gegeben und gegenwärtig ist. So ergibt sich der Panpsychismus hier als einfaches Korollar der Erkenntnislehre – wie umgekehrt diese von Anfang an die Farbe des Panpsychismus trägt.90

Telesio arbeitet sich an Aristoteles’ Naturphilosophie ab und reorganisiert diese grundlegend. Eine ähnliche Strategie lässt sich im folgenden Text nachzeichnen, jedoch mit einem gravierendem Unterschied in Bezug auf das Gendering der Naturkräfte: Telesios antagonistische – und damit im figurativen Sinn auch sehr maskuline – Naturen kontrastiere ich mit der philogynen holistischen Seelenkonzeption von Oliva Sabuco de Nantes y Barrera, welche durchaus auf ähnlichen Prinzipien basiert wie das Modell des Süditalieners. Dabei lässt sich überprüfen, ob Cassirers These, wonach ein sensualistisches Kognitionsmodell unweigerlich in eine Art Animismus führe, hält.

Oliva Sabuco und die mütterliche Trias Tatsächlich offenbart Oliva Sabucos91 eklektische Montage naturphilosophischer Theoreme eine proto-feministische Strategie, das androzentrische Weltbild frühneuzeitlicher Naturphilosophie unter Anwendung der sie begründenden Elemente und Rhetoriken zu dekonstruieren. In der Nueva filosofía de la naturaleza del hombre (1587) argumentiert sie zunächst ähnlich materialistisch wie Bernardino Telesio und reiht sich somit in jene Schule Intellektueller, die Aristoteles selbst gegen den scholastischen Aristotelismus wenden bzw. mit stoischen und/oder (neo)platonischen Theorien vermengen. Wie Telesio verzichtet Sabuco auf das trichotome Seelenmodell, das auch sie durch eine einheitliche anima mit Sitz im Gehirn ersetzt. Denn in der Nueva filosofía begegnet uns der Mensch als árbol del revés, als verkehrter Baum. Diese sehr eindringliche Trope ruft die Assoziation zur anima mundi wesentlich direkter ab, als dies einige am Text des Süditalieners festgemacht haben.92

90 Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd .14, hg. von Birgit Recki, bearbeitet von Friederike Plaga und Claus Rosenkranz. Hamburg: Meiner 2002, S. 1–201: hier S. 171. Zur Interpretation Cassirers siehe Giulio Raio: Telesio e la filosofia della natura in Cassirer. In: Raffaele Siiri/Maurizio Torrini (Hg.): Bernardino Telesio e la cultura napoletana. Neapel: Guida Editori, S. 431–443. 91 Teile der folgenden Argumentation finden sich in Marlen Bidwell-Steiner: Große Welt. 92 Siehe Seite 156 dieser Arbeit zum Befund von Mulsow: Selbsterhaltung, S. 285.



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Denn der Kopf als Wurzel des Menschen wendet sich dem Himmel zu und hat damit eine Affinität zu kosmischen Einflüssen. Da Sabuco die Metapher Platons Timaios entlehnt,93 könnte hier also durchaus eine neuplatonische Metaphysik intendiert sein. Aber wie bei Telesio besteht die Funktion der Wurzel des Menschenbaumes keineswegs nur in sublimen Kognitionsleistungen. Vielmehr fungieren die Gehirnventrikel als Umschlagplatz für sämtliche Vitalfunktionen des menschlichen Organismus. Mit kühlem Kopf Neben der Funktion des Gehirns klärt Sabuco auch die jener Organe, die in der Galenischen Medizin zu Trägern der untergeordneten Seelenanteile werden: Herz und Leber. Sie arbeiten nahezu mechanisch: «[...] porque la natural del higado, no sabe errar, es docta sin doctor».94 Zusammen mit der Milz fungieren Herz und Leber als die drei «Gluten», die mit ihrer Hitze das notwendige Gegengewicht zur Kälte des Gehirns ausüben. Das Prinzip der Antiperistasis, das Telesio seinem kosmologischen Kräfteverhältnis zugrunde legt, wird hier von Sabuco auf den menschlichen Organismus angewandt und gleichsam auf den Kopf gestellt: Die Hitze hält die umgebende Kälte in Schach, wodurch der menschliche Metabolismus klaglos funktionieren kann. Denn in der Nueva Filosofía kommt das ­teleologisch höhere Prinzip der Kälte zu. Deshalb ist auch der spiritus, der als Seelenvehikel sämtliche Lebensfunktionen steuert, von kalter Qualität. Diese Konzeption widerspricht nicht nur Telesios Modell, sondern sämtlichen bekannten Spirituslehren. Dennoch kann Sabuco ihre Argumentation systematisch aufbauen, denn bei Galen ebenso wie bei Aristoteles und Platon ist das Milieu des Gehirns kalt. Deshalb haben auch die meisten Naturphilosophen das Herz als Hegemonialorgan angenommen, das in der Trias der fakultativen Psychologie den – warmen – spiritus animalis ausbildet. Vor diesem Hintergrund scheint Sabucos Schluss zunächst tatsächlich konsequenter gedacht. Aber das ist nicht die einzige Differenz zwischen Telesios und Sabucos Spiritus-Konzeption: Sabuco verwendet für ihren Seelenstoff abwechselnd die Termini espirito, sangre blanco, und chilo. Das weiße Blut ist als Metapher zu verstehen, denn auch in der Nueva filosofía wirkt der spiritus in den Nervenbahnen und nicht etwa in Arterien. Noch irritierender ist die Bezeichung chylus.

93 Platon: Timaeus 90a-b. Die Baummetapher für den menschlichen Körper findet sich ­außerdem auch bei Leone Ebreo (1535): Dialoghi d’amore, hg. von Santino Caramella. Bari: Laterza 1929, S. 87. 94 Sabuco: Nveva filosofía, fol. 207 li.

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Seelischer Metabolismus Damit wird in der Galenischen Physiologie der gröbste aller Körpersäfte, nämlich jener, der im Verdauungsprozess aus der Nahrung gezogen wird, bezeichnet. Sabuco wertet demgegenüber diesen Verdauungssaft zu einem formfähigen Seelenvehikel auf. Ihre Beweisführung besticht dabei durch die schlüssige Anwendung des in der Frühen Neuzeit gültigen Analogiedenkens: Dem Gehirn ist die Kälte zugeordnet, gleichzeitig ist seine Substanz weiß, ebenso wie das formfähige Sperma und die nährende Muttermilch, die im Grund nur verschiedene «Aggregatzustände» des spiritus sind. Durch diese Umsemantisierung und Engführung traditioneller Denkfiguren gelingt es Sabuco, den materiellsten aller Körpersäfte gleichzeitig als formfähig und als nährend zu konzipieren: Es cosa de risa lo que dizen, que la esperma y la leche son sangre colorada, y que en sus vasos se buelue blanca: y desto que he dicho (señor Doctor) desta sangre blanca, y sus grandes obras deste xugo blanco del celebro, no os espanteys pues veys lo que haze caydo en el vtero de la hembra, que haze de nueuo todo el animal con el riego y sustento de la sangre de menstruo, que mas es hazer el cuerpo todo de nueuo, que aumentar lo hecho [...]95

Der Verweis auf den Uterus ist hier nicht zufällig gewählt, denn die von Sabuco aufgewertete Materie wird traditionell mit der Sphäre des Weiblichen assoziiert. Und um diese organisiert Sabuco ein erstaunlich kohärentes Programm, das die wichtigsten naturphilosophischen Paradigmen über Metaphern der Quelldomäne «Mutter» reformuliert: pia madre, luna madre und natura madre/natura madrastra sind jene Mutterfiguren, die scholastische Vorstellungen des Mikrokosmos ebenso wie Telesios implizit androzentrische Konzeption chiastisch durchkreuzen, wie wir noch sehen werden. Denn auch Sabuco geht im Wesentlichen von den Primärqualitäten Heiß und Kalt aus, die im menschlichen Körper mit dem calidum innatum und der humiditas radicalis korrespondieren. Doch das Gehirn als Hegemonialorgan unterliegt nicht der Einwirkung des Sonnenlichts und seiner Hitze, sondern – wie es in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Analogien durchaus gängig ist – dem Mond. Folgerichtig ist der spiritus auch kalt. Letztlich ist er nichts anderes als die Milch der luna madre, der Mutter Mond: De manera que el aire que nos cerca, con que respiramos, que es agua rara, es el principal alimento de la raíz, que es el cerebro...Dice Avicena, que los humores crecen con el aumento de la luna, y crece el cerebro en el cráneo (que es el casco) y el agua en los ríos, y mar. Esto todo hace la luna madre nutriz, con su leche chilo del mundo, que es el agua.96

95 Sabuco: Nueva Filosofía, fol. 243. 96 Sabuco: Nueva Filosofía, fol. 87–88.



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In ihrer Bestimmung des Idealzustands der Kopfseele folgt Sabuco eher antiken Texten als Telesio. Hier nähert sie sich dem Aristotelischen bzw. Thomistischen intellectus agens an, der eigentlich unbewegt bleibt. Eine der wenigen männlichen Metaphern trägt dieser Konzeption Rechnung: el príncipe, der Erste und Führer, ruht im álcazar, in der Festung des Schädels. Dennoch agiert er, da er – hier verfolgt Sabuco wiederum ähnlich Telesio eine taktile Konzeption – m ­ ateriell angestoßen wird. Denn die pía madre fungiert als eine Art sublunare Erstbewegerin, die den spiritus von den Gehirnventrikeln aus in beständigem Kreislauf durch den Körper fließen lässt und damit den Organismus im Gleichgewicht hält. In den klassischen Medizinschriften ist die Pia Mater neben der Dura Mater und dem Arachnoidea die innerste von drei Gehirnmembranen, die aus weichem Bindegewebe besteht und somit tatsächlich beweglich ist. Sabuco nutzt neben dieser faktischen Evidenz den semantischen Quellbereich, um diesen Terminus Technicus zu einer innerkörperlichen mütterlichen Fürsorgeinstanz umzudeuten: «la pía madre está firme haciendo su oficio, oculto (que es tomar, y dar) [...] esto hace el ánima con el movimiento de la pía madre, que es la mano del ánima».97 Wie bei Telesio zieht sich der spiritus bzw. chilo im Falle eines unangenehmen Kontaktes zusammen, bei förderlichen Einflüssen dehnt er sich aus. Im rhetorischen Verfahren, Tropen wörtlich zu nehmen, wird der Intertext für dieses «handgreifliche» Wirken der pía madre evident: die taktile Konzeption von Wahrnehmung bringt Aristoteles in De Anima mit Anaxagoras Postulat der Hand als wichtigstes Instrument des Menschen in Verbindung.98 Die pía madre ist die innerkörperliche Repräsentanz der kosmischen luna madre, zu ihnen gesellen sich als Pendant der Telesianischen naturae agentiae das Schwesternpaar natura madre und natura madrastra. In der mütterlichen Triade kommt ersterer der wichtigere Part zu: Denn natura madre steht in direkter Verbindung mit luna madre und pía madre, da sie die Prinzipien der Konservierung und der Selbsterhaltung repräsentiert, was durch ihre kühle Qualität gewährleistet wird. Die stiefmütterliche Natur der natura madrastra steht demgegenüber für das Prinzip der Hitze, das neues Leben verwirklicht, aber auch verwirkt: El natural (movimiento), o propio, diximos que tenia dos contrarios solos que le causauan el decremento mayor, que son tiempo, y simiente: la qual simiente es fin de natura madrastra perficiente, y principio de natura madre principiante: el qual principio da a la hermana para que lo ponga en forma para conseruacion de la especie que ella no puede conseruar, y dalo a su costa y daño: y con este principio que ésta el de la simiente le paga el que recibio mejor, y en mejor forma.99 97 Sabuco: Nueva Filosofía, fol. 67. 98 Aristoteles: De Anima, 431 b 29–31. 99 Sabuco: Nueva Filosofía, fol. 235 li.–re.

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Wir haben es also mit einer Rückkoppelung von Telesios allumspannendem Agens, der Hitze, an die ursprüngliche Entelechielehre Aristoteles zu tun: die individuelle Form der Natur wird durch die Sonne, das Sperma, die Hitze initiiert, aber auch wieder beendet, wenn nämlich die körpereigene Hitze, das calidum innatum, die eingeborene Feuchtigkeit, humiditas radicalis, tilgt. Die natura madrastra wird auch als jene Kraft definiert, die dem Menschen den Willen und den Appetit eingibt, die allerdings zwei fragwürdige, da fehleranfällige Attribute darstellen. Nachdem die natura madrastra ihren Erstimpuls ausgeübt hat, übernimmt die natura madre die weitere Formgebung und damit die Steuerung des Organismus. Sie ist die teleologisch höhere Figur, denn sie steht für die ewige Natur, die dank der Einwirkung ihrer «Schwester» zwar ihre Phänomenologie verändert, aber nie weniger oder mehr wird. Und in der Bezugnahme dieser Dynamik der Schwesternaturen auf Primärkörper ersehen wir dann die chiastische Kombination dieses gynozentrischen Weltmodells: […] y Luna y Sol, padre y madre, dieron las calidades: Los mouimientos dos, propio, y violento, como de todos los astros, y cielos, digo los dos mouimientos, el natural, o propio con vn cremento, y decremento solo mayor, y dos contrarios solos, tiempo, y simiente, y el violento de cada dia con muchos y muchos contrarios.100

In diesem Chiasmus wird klar dem Mond als Mutter und Trägerin der Eigenbewegung der erste Rang eingeräumt, Vater Sonne waltet über die heftigen Bewegungen. Wie bei Telesio ist die Leitvorstellung in Sabucos Psychophysiologie taktil: Körper reagieren im Sinne von Sympathie und Antipathie zum Zwecke der Selbsterhaltung. Deshalb weist auch Sabuco das Aristotelische Prinzip der Privation ab und ersetzt es durch Freundschaft: […] De manera que cada materia tiene amistad con su forma, y aquella toma, y no otra de que es priuada, sino a la que tiene amistad: y mejor dixeran los filosofos a la priuacion amicitia: y cierto erraron en poner este principio, sino materia amicitia, y forma, y quedan todos tres en el mixto: y assi dura segun dura la amicitia, que tiene la materia a aquella forma.101

Bevor ich auf den Status von Tieren in Sabucos Text eingehe, möchte ich nochmals die wichtigsten Parallelen und Differenzen zu Telesio herausarbeiten: Beide vereinfachen die fakultative Psychologie und nehmen nur mehr einen seelischen «Botenstoff» an, der sämtliche Lebensprozesse gestaltet. Während Telesio dessen

100 Sabuco: Nueva Filosofía, fol. 233 re. 101 Sabuco: Nueva Filosofía, fol. 250 li.–re.



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subtile und heiße Qualität untermauert, ist Sabucos chilo eine dezidiert materielle Substanz, die aber dennoch sehr beweglich ist. Bei Wohlbefinden sprudelt er in Mahlström-Wirbeln entlang des Rückenmarks zum Scheitelpunkt, um von dort aus den gesamten Organismus über das Nervensystem zu beleben. Wie Telesio bietet also auch Sabuco ein sehr dynamisches Modell an. Während ersteres von zwei antagonistischen Kräften getragen wird, setzt sich zweiteres aus freundschaftlich interagierenden Muttertropen zusammen. Nachdem beide auch ein holistisches, wenn nicht gar monistisches Modell vertreten, geben sie jeweils einer Primärkraft den Vorrang: Bei Telesio ist das – durchaus im Einklang mit der traditionellen Naturphilosophie – die Hitze. Sabuco nimmt hingegen eine sehr dissidente Position ein, denn außer auf Hippon, dessen Argumentation aber bereits Aristoteles als völlig abwegig diffamiert hatte,102 kann sie sich auf keine Autorität berufen, die der Kälte eine teleologische Dominanz einräumen würde. Eine protofeministische Logik Warum setzt sie sich einer derartigen Außenseiterinnenposition aus? Meiner Ansicht nach gibt es zumindest drei gute Gründe dafür. Alle drei sind im Einklang mit Sabucos virtuoser Rhetorik, mithin der in der Frühen Neuzeit üblichen Argumentationsform. Ausgerechnet da, wo sie in Bezug auf eine radikale Neuerung der Naturphilosophie hinter Telesio zurück bleibt, gelingt ihr nämlich eine verblüffend logische Beweisführung. Denn dadurch, dass sie dem Mond ein Primat in Bezug auf sublunares Leben einräumt, kann sie die Aristotelische Kosmologie im Wesentlichen unangetastet lassen. In der zeitgenössischen Signaturenlehre ist dem Mond die Farbe weiß, die Qualitäten kalt und feucht und als Organ das Gehirn zugeordnet. Wie erwähnt verortet Sabuco den kalten chilo im Gehirn. Dessen wässrig-weißliche Substanz untermauert die Affinität zum Mond ebenso wie zur Muttermilch. Die kühle Qualität des chilo hat überdies den Vorteil, dass Sabuco schlüssig argumentieren kann, warum dieser über das Nervensystem wirkt, das ebenfalls traditionell als kalt definiert wird. Damit erspart sich Sabuco umständliche Erklärungen, warum im Kontakt kühle Objekte dennoch von heißer Qualität seien, wie sie etwa Telesio für Edelsteine anstellt.103 Von diesen argumentationslogisch plausiblen Grundannahmen ausgehend spannt Sabuco in Analogieschlüssen zwischen Mond, Gehirn, Uterus, die in der Galenischen Temperamentenlehre allesamt als kalt gelten, eine «metaphorische Kohärenz»104 einer Kette von Mutterfiguren, wodurch metonymisch die Frau bzw. 102 Aristoteles: De Anima 405 b 24 ff. 103 Telesio: La natura, S. 88. 104 Begriff nach Lakoff/Johnson: Metaphors, S. 21 ff.

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Weiblichkeit erhöht wird. Deshalb gehe ich davon aus, dass diese originelle Neukonzeption auf ein gynozentrisches Weltbild zielt. Unschwer lässt sich daran Cassirers Befund des Animismus frühneuzeitlicher Reformen in der Naturphilosophie – diesmal ins Weibliche gewandt – bestätigen. Denn das Agieren der mütterlichen Hand – der pía madre – ist omnipräsent und mit der nährenden Mutter Mond ist dieses System trotz aller inneren Dynamik ein in sich geschlossener Mutterkosmos. Der emphatische Naturbegriff der Nueva filosofía wird performativ in Szene gesetzt, denn er wird als Dialog in einem locus amoenus entwickelt und es ist ein einfacher Schäfer, der einem pedantischen Schulmediziner die Naturgesetze ausbuchstabiert. Mehrfach betont er, dass er sein Wissen aus eigener Anschauung beziehe und letztlich ist es das Blöcken seiner Herde, das dem Gespräch mit dem Arzt ein Ende setzt. Für die These eines umfassenden Animismus in Sabucos Text spricht, dass sie zahlreiche Beispiele aus Plinius’ Naturgeschichte heranzieht, um die Wirkweise des spiritus zu erläutern. Ob nun die Trauer von Elefanten nach dem Koitus oder die List einer Spinne, die eine Schlange sticht, beschrieben wird, immer stehen die Narrative im Zeichen einer anthropomorphen Aneignung. Hier versagt die selbstbewusste eigene Anschauung des Schäfers Antonios. Während andernorts die empirische Überprüfung von naturphilosophischen Funktionshypothesen gefordert wird, bleiben die Anleihen aus der Zoologie durchgängig in der schillernden Beredsamkeit mittelalterlicher Fabeln verhaftet. Aber im Folgenden werde ich erneut Juan Huarte de San Juan heranziehen, um zu zeigen, dass auch der Umkehrschluss möglich ist: die Reduzierung der Frau auf eine animalische Natur.

Juan Huarte de San Juan und die Zoomorphisierung der Frau [...] aunque es verdad [...] que el ingenio y habilidad de la mujer sigue el temperamento del celebro y no de otro miembro ninguno, pero es de tanta fuerza y vigor el útero y sus testículos para alterar todo el cuerpo [...] Pero el miembro que más asido está de las alteraciones del útero, dicen todos los médicos que es el celebro, aunque no hallan razón en qué fundar tanta correspondencia. Verdad es que, por experiencia, prueba Galeno que, castrando una puerca, luego se amansa y engorda y hace la carne tierna y sabrosa; y, con los testículos, es de comer como carne de perro. Por donde se entiende que el útero y sus testículos son de grande eficacia para comunicar a todas las demás partes del cuerpo su temperamento; mayormente al celebro, por ser frío y húmido como ellos, entre los cuales (por la semejanza) es fácil el tránsito.105

105 Juan Huarte de San Juan (1575): Examen de ingenios para las ciencias. Madrid: Espasa-Calpe, 1991, S. 303.



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Diese Diatribe stammt aus dem XV. Kapitel des bereits im letzten Kapitel vorgestellten wirkmächtigen Examen de ingenios para las ciencias von Juan Huarte de San Juan. Wie ich zeigen konnte, ist dieser Text trotz seines sozialreformerischen Anspruchs in mehrfacher Hinsicht schon bei seinem Erscheinen konservativ: Er stützt seine Argumentation auf die gängige Hippokratisch-Galenische Humoralpathologie. Die medizinische Tradition der Säftelehre und der davon abgeleiteten Temperamente wurde gegen Ende des 16. Jahrhunderts wie ausgeführt mehrfach revidiert, vereinfacht und dynamisiert; selbst Philosophen, die nicht primär materialistisch argumentieren wie etwa Marsilio Ficino hatten die Bedeutung der vier Körpersäfte modifiziert. Warum rekurrierte der Arzt Huarte also auf ein überkommenes Konzept, wenn es doch bereits überzeugendere physiologische Ansätze gab? Meine Antwort lautet, dass Huarte eine politische Agenda verfolgte, die wesentlich besser im Rückgriff auf im kollektiven Gedächtnis gut abgesicherte Autoritäten wie Hippokrates argumentierbar war. Wäre es ihm um medizinische Reformen gegangen, hätte er zeitgenössische Innovationen stärker in den Blick genommen. Darüber hinaus lässt sich ab ca. 1560 europaweit eine gesellschaftspolitische Rücknahme von Freiräumen beobachten. So gesehen ist Huartes rigides Frauenbild eine willkommene Argumentationshilfe für derartige Bestrebungen. Seine erfolgreiche Rhetorik zwischen Innovation und Tradition lege ich kurz im close reading des einleitenden Zitats offen. Die Engführung von Frau und Natur ist ein Allgemeinplatz der westlichen Philosophie. Einer der Referenztexte ist Platons Timaios, dessen «Mutter Natur» signifikanter Weise auch als Folie für Sabucos gynozentrisches Modell dient. Im Gegensatz dazu stellt Huartes Annäherung der Frau an die Sau eine radikal materialistische Vulgarisierung der von Aristoteles postulierten Nähe der Frau zum Tier in der sogenannten Kette alles Seienden dar, die allerdings durch Huartes Betonung von experiencia in die neue protoempirische Wissenschaftsdoktrin passt. In Huartes Fokussierung auf eine neue Herrschaftstechnologie ist die misogyne Ausrichtung seines Textes schlüssig, da die Kontrolle über den Uterus unerlässlich wird, wenn dieser die Brutstätte einer neuen Generation wohltemperierter Professionisten darstellt. Fantasy Echos aus Aristoteles Konzept des weiblichen Unterleibs als fruchtbarer Boden dominieren das Kapitel XV des Examen, das Ratschläge zur richtigen Partnerinnenwahl gibt. Huartes Montage diskursiver Wiedergänger entbehrt aber bereits der argumentativen Grundlage, wenn er im angeführten Zitat den Uterus für den instabilen Säftehaushalt des weiblichen Gehirns verantwortlich macht. Denn 1575 ist das Paradigma der Suffokation bzw. umgangssprachlich des mal de madre, also der Idee, wonach die im Körper wandelnde Gebärmutter an andere Organe andockt, um deren Vitalkräfte abzuziehen, längst widerlegt. Diese argumentative Leerstelle gesteht er ja auch

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selber ein, wenn er meint, dass die Ärzte die Gründe für die Wirkung des Uterus auf andere Organe nicht recht zu benennen wüssten. Dennoch bleibt der Examen de ingenios ein wichtiger Meilenstein in der zunehmenden Tendenz, Menschen zu naturalisieren und zu essentialisieren. Er steht gleichsam paradigmatisch für einen Wendepunkt der europäischen Ideengeschichte: Die Menschen sind nicht länger entlang der Standesgrenzen für klar abgegrenzte Funktionen und Tätigkeiten göttlich prädestiniert, als artifex fungiert inzwischen vielmehr die Natur, die jedes Individuum mit spezifischen Talenten ausstattet und so für gewisse Aufgaben determiniert. Huartes Anspruch, kognitive Fähigkeiten griffig zu kategorisieren, wird mehr als ein Jahrhundert später vor allem jene Idealisten faszinieren, die Seelenadel vor Blutadel propagieren. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass mit Gottfried Ephraim Lessing ausgerechnet einer der herausragenden Dichter der deutschen Aufklärung den Examen ins Deutsche übersetzte. Allerdings spielt inzwischen die Säftelehre kaum mehr eine Rolle in anthropologischen Erklärungsmodellen. Hochkonjunktur hat dagegen die Physiognomie wie etwa Johann Caspar Lavaters Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1775–1778). Darin werden Einschreibungen in menschliche Körper als unveränderlicher Text entziffert, der das Schicksal seines Trägers oder seiner Trägerin determiniert. Diese veränderte Lesart des Zusammenspiels zwischen Körper und Seele korrespondiert mit dem veränderten Sozialkörper im postrevolutionären Europa. In einer Dynamik, der etablierte horizontale Ordnungsmuster immer mehr abhanden kommen, müssen neue verbindliche Normen geschaffen werden. Wie Michel Foucault zeigt, kommt dabei gerade medizinischem Expertenwissen eine privilegierte Rolle zu.106 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass dieses «Expertenwissen» sich allmählich von den Axiomen der Humoralpathologie löst, ohne aber die Annahme der Determiniertheit durch unterschiedliche Temperamente oder – bewusst anachronistisch ausgedrückt – durch unterschiedliche Codes ebenfalls zu überwinden. Im Gegenteil: dadurch, dass die basale Prämisse «vergessen» ist, erlangt das Konzept der Temperamente eine gleichsam unumstößliche Wahrheit, die durch immer neue wissenschaftliche Grundlagen bewiesen werden kann. Verglichen mit anthropologischen Temperamentelehren aus dem 18. oder 19. Jahrhundert nimmt sich der Examen de ingenios daher vergleichsweise offen aus. Zwar haben darin unterschiedliche Lebewesen von Natur aus unterschiedlich entwickeltes ingenio, die Grenzen zwischen ihnen sind aber graduell. Dementsprechend besteht für den brachialen Materialisten Huarte

106 Michel Foucault: Abnormal. Lectures at the Collège de France 1974–75. New York: Verso 2003, S. 32–33.



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z­ wischen Tieren und Menschen ontologisch auch kein größerer Unterschied als zwischen einzelnen Menschen.107 Dieses Argument ist letztlich nur logische Konsequenz eines durch und durch naturalistischen Programms, das keine Modalitäten anerkennt, die über die Determiniertheit einzelner Wesen hinausgehen. Indem die Seele sterblich und der Mensch ein Naturwesen unter anderen ist, wird die anthropologische Differenz aufgelöst. Daher haben wir es hier weniger mit einem Anthropomorphismus, als vielmehr mit einem selektiven Zoomorphismus zu tun.

Gómez Pereira und der tierische Mechanismus Ebendiese logische Konsequenz aus einer immanenten Seelenkonzeption scheint den kastilischen Arzt und Naturphilosophen Gómez Pereira dazu veranlasst zu haben, für Tiere eine von den Menschen gänzlich abweichende Wesenheit anzunehmen. Wie alle anderen Intellektuellen, deren Texte meiner Untersuchung von Grenzverschiebungen in der Spätrenaissance zugrunde liegen, hat Gómez Pereira nach seinem Studium in Salamanca keine universitäre Karriere verfolgt, war aber offenkundig dennoch mit dem naturphilosophischen Diskurs seiner Epoche bestens vertraut. Er wirkte erfolgreich als Arzt, was u. a. dadurch dokumentiert ist, dass er dem Königshaus nahe stand. Somit verfasste er seine Schriften wohl nicht im professionell-universitären Zusammenhang, sondern in der Freizeit. Den Eindruck, die Naturphilosophie sei nur eine Art Privatvergnügen, vermittelt zunächst auch der spielerische Titel seines Hauptwerks: «Antoniana Margarita» (1554) erweist den Eltern des Autors Referenz, da es deren Vornamen repräsentiert. Der Inhalt des Werkes freilich zeichnet sich durch eine ebenso selbstbewusste wie penibel geführte Argumentation aus, die eine solide Kenntnis scholastischer Begriffsbildung erkennen lässt. Wie ich zeigen werde, erscheint der Text aber gerade aufgrund seiner systematischen Schlussfolgerungen höchst ambivalent. Bestia sensu carent Schritt für Schritt wird in der Antoniana Margarita das Axiom entwickelt, dass Tiere nicht über Sinneswahrnehmung verfügen. Die Beweisführung erfolgt in stringenter Aristotelischer Logik. Zunächst erläutert der Autor, dass jede Kognition auf einer Sinneswahrnehmung beruht und jede Bewegung ein Urteil impliziere: 107 Vgl. dazu Huarte: Examen, S. 23.

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Erstens deshalb, weil sie die Ausübung ihres Verstandes ihrer Sinneswahrnehmung anpassen. Zweitens, weil den Tieren, wenn man ihnen diese [seelische] Operation zugesteht, sie nicht ausreichen würde, um ihre Bewegung auszuführen […] auch die zweite Operation des Verstandes, d. h. die Möglichkeit zu verbinden und zu trennen, ist den Tieren notwendigerweise zuzugestehen. Denn dass Tiere unterscheiden und trennen, das haben wir bewiesen. Darüberhinaus ist sogar klar, dass sie verbinden. Denn keine kognitive Kraft kann bekräftigen, man könne beschreiben, ohne vorher zu bestimmen, dass etwas sei, was es sei.108

Gómez Pereira wird noch mehrere alltägliche Beispiele für den Nachweis bemühen, dass jede Wahrnehmung immer schon mit einem Urteil einhergeht. Er untermauert damit die Bedeutung von nachprüfbarem Erfahrungswissen und entwickelt ein Erkenntnismodell, das Ähnlichkeiten zu Fracastoros Begriff der subnotio aufweist: Es gibt so etwas wie ein spontanes Vor-Urteil, das in einem Kontinuum zu dem eigentlichen rationalen Urteil steht. Pereira baut auf diese Argumentation sein rekurrentes Thema auf: die Unteilbarkeit der Seele. Deshalb wird nun schrittweise durchdekliniert, welche Schlüsse folgen, wenn den Tieren – wie in der kanonisierten Naturphilosophie Allgemeinplatz – Sinneswahrnehmung zugesprochen wird. Ist nämlich die Seele unteilbar, dann kann Sinneswahrnehmung qualitativ nicht mehr von Kognition unterschieden werden, da es sich um das Agieren der gleichen Seele handelt. Dies zeigt sich etwa im spontanen «Wissen» um Freund und Feind: Und falls einer das nicht zugeben und den Tieren so viel nicht zugestehen will, dann wird er doch nicht abstreiten können, dass Tiere, wenn sie Freunde oder Feinde sehen, sich im Geiste Vorstellungen bilden, durch welche ihre wahrnehmende Seele erkennt, die einen seien Freunde, jene anderen Feinde. Denn sie (die wahrnehmende Seele) begegnet den Freunden freundlich und flieht die Feinde. Das aber könnte nicht geschehen, würde sie nicht durch irgendeine innere Kraft – sei diese nun einschätzende oder die denkende; um Benennungen brauchen wir uns nicht kümmern, solange nur die Sache verstanden wird – das befehlen. Und wir machen an uns die Erfahrung, dass es diesen Befehl ohne Kognition nicht gibt, weil er nach einem Sinneseindruck erfolgt. Wenn also Tiere beim sinnlich Wahrnehmen auf einer Stufe mit uns stehen, dann müssen sie auch auf dieselbe Weise Freunde und Feinde fliehen bzw. nachahmen […] Man könnte unmöglich mit Recht behaupten, dass

108 Gómez Pereira: Antoniana Margarita: opus nempe physicis, medicis ac theologis non minus vtile quam necessarium. Medina de Campo: Guilielmus de Millis 1554, S. 14–15: Primò, ob id, que operationem intellectus sensui adaptant. Secundò, quia data illa operatione bestijs convenire, ea non suffecicet ad motum earum exequendum [...] Etiam operatio secunda intellectus, quea componendi, dividendíque; facultas est, necessarió bestijis concedetur. Nam que distinguant, dividantque bruta, probavimus. Quod etiam componant, patet. Nulla enim vis cognitiva potest affirmare hoc prosequendum est, quae prius non asseveraverit, hoc esse, id quod est:



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ein Lamm sein Mutterschaf erkennt, wenn dieses nicht in der Lage wäre, zwischen jenem und anderen, ihm ganz ähnlichen Schafen, zu unterscheiden.109

Er geht in diesem Zusammenhang der Frage nach, ob Tiere – wie Aristoteles es andeutet – das Muttertier aufgrund einer gewissen inhärenten prudentia erkennen und ob diese sie auch zu einfachen Lernprozessen befähigt. Wenn aber Schafe etwa den Wolf ohne vorangegangenen Lernprozess als Feind erkennen, vor dem ähnlich aussehenden Hund jedoch nicht fliehen, so verfügen sie logischer Weise über Universalia. Denn – so seine suggestive Rhetorik – niemand könne abstreiten, dass die Handlungen von Tieren von geradezu bestechender Rationalität zu sein scheinen: Drittens, wenn wir aufgrund von den äußeren Handlungen und Anzeichen der Affekte der Tieren auf ihre Neigungen schließen dürfen […] wer, der sich mit der Lektüre der ‹Naturgeschichte der Lebewesen’ beschäftigt, würde denn nicht den Tieren mehr Ratiocinatio zugestehen als so manchen Menschen? Aber muss man das Herumlaufen eines Hundes nicht als besonders rational einschätzen: Wenn er einen Hasen bis zu einer Weggabelung verfolgt, entscheidet er sich für einen von zwei Wegen, weil er beim anderen den Geruch des Hasen nicht wahrgenommen hat.110

Ähnlich zwingend ist seine Beweisführung in Bezug auf zwei weitere genuin menschliche Charakteristika, die Tiere besäßen. Beide beziehen sich auf das Bewusstsein für Zeitlichkeit, womit eine der wichtigsten Kategorien für Abstraktionsleistungen angesprochen ist. Am Beispiel von Vögeln erläutert Gómez Pereira, dass Tiere den Tod fürchteten. Und im nächsten – sechsten – Schritt spitzt er dieses Argument dahingehend zu, dass Tiere über die Gabe der Vorausschau verfügten, was ihre Vermögen gefährlich nahe an die Sphäre des Numinalen bzw. an den höheren Intellekt rückt. 109 Gómez Pereira: Antoniana Margarita, S. 7–8: Vel si aliquishoc fateri nolit, ne que brutis tantum tribuere, inficiari non poterit, bruta, visis amicis, aut inimicis, mentales propositiones formare, quibus eorundem anima sensitiua cognoscit hos amicos esse, illos inimicos, amicos enim amice prosequitur, inimicosq; fugit: sed hoc fieri nequit, nisi vi aliqua interiore, seu aestimatiua, aut cogitatiua appelletur (denominibus enim cura habenda non est, dum res intelligantur) id praecipiat, preceptúmque illud sine cognitione non fieri in nobis experimur, cu posteriorius sit sensatione. Bruta ergo si in sintiendo paria nobiscum sunt, eodem modo guere aut aemulari amicos aut inimicos debent [...] Nequaquam verè dici posset agnum cognoscere ovem matrem, si idem non valeret distinguere inter eam & alias oves simillimas. 110 Gómez Pereira: Antoniana Margarita, S. 17–18: Tertió, si ex operationibus ac signis affectuum brutorum nobis liceret coniectari de actibus exterioribus [...] quis vacans lectioni naturalis historie animalium, brutis non tribuisset plus ratiocinij, quám aliquibus hominibus? Nec enim valde rationalis existimabitur discursus canis: qui cum insequitur leporem, usque in bivium, per unam ex vijis arripit iter, quia alteram olfaciés, leporis odorem non sensit.

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Spätestens diese nahezu blasphemische Verortung der Tiere lässt die rhetorische Strategie hinter der Schullogik erkennen: Gómez Pereira führt uns eine Art reductio ad absurdum vor, da er sein ganzes scheinbar logisches Gebäude im Anschluss – wie wir heute sagen würden – dekonstruiert. Nachdem er nämlich über viele Seiten hindurch penibel aufgezeigt hat, dass sämtliche Syllogismen, die in der Naturphilosophie die menschliche Einzigartigkeit außer Streit stellen, streng genommen auch für Tiere gelten müssten, wenn wir die Prämisse der Sinneswahrnehmung für sie annehmen, bringt er seine eigene Argumentation zum Einsturz, indem er den Syllogismus gleichsam als Sophisterei darstellt, denn das Prinzip von Obersatz, Untersatz und Folgerung verschleiere das eigentliche Prinzip, das sie zusammenhält: Weiters wird niemand, der das erste Buch der Posteriora (Analytica) des Aristoteles durchgelesen hat, in Unkenntnis darüber sein, dass es erste, folgende und notwendige Prämissen des Beweises gibt sowie Behauptungen, die aus sich heraus auf ewig Bestand haben, so wie jenes Beweises, den wir führen. ‹Jedes vernünftige Lebewesen ist fähig, zu lachen’ und ‹Jeder Mensch ist ein vernünftiges Lebewesen›, daraus folgt: ‹Jeder Mensch ist fähig, zu lachen.› Obersatz und Untersatz, der eine zuerst und der andere folgend, sind für sich genommen notwendig. Sie lassen sich durch keine anderen klareren erklären, außer aus sich selbst heraus. Denn es lässt sich kein Grund dafür anführen, warum jedes vernünftige Lebewesen fähig ist, zu lachen, oder wie es kommt, dass jeder Mensch ein vernünftiges Wesen ist, außer der natürliche Lauf der Dinge, dem es gefallen hat, jene Gefühlsregung, die man ‹Fähigkeit zum Lachen› nennt, mit jenem Wesensmerkmal eines Lebewesens zu verbinden, das man ‹Vernünftigkeit› nennt. Wenn sie vorgebracht werden, so erklärt sich den Gelehrten die okkulte Eigenschaft (proprietas occulta) des vernünftigen Lebens.111

Es ist also die proprietas occulta, welche die ontologische Konstante hinter den unterschiedlichen Naturphänomenen bildet. Und die Wesenheit der Tiere wird – nun wiederum in stringenter Syllogistik – jener der unbeweglichen Natur gleichgesetzt: die proprietas occulta der Tiere funktioniert etwa so, wie das Verhältnis von Eisen zu Magneten, nichts anderes sei der vielzitierte tierische Instinkt, den Pereira aber gerade deshalb so nicht nennen will:

111 Gómez Pereira: Antoniana Margarita, S. 38: Porro nullus, qui primum posteriorum Aristotelis librum perlegit, ignorabit demostrationis praemissas primas, immediatas, necessarias, & de per se propositiones perpetuó futuras, veluti eius, quam ducimus, demostrationis. Omne animal rationale est risibile, & Omnis homo est animal rationale, ergo Omnis homo est risibilis. Maior & minor prime ac immediatae & de per sé ac necessarie propositiones sunt. Non enim notioribus propositionibus ipsae intelligi possunt, quae, ipsae sint. Nec cur omne animal rationale sit risibile, aut unde proveniat, quod omnis homo sit animal rationale causa ulla reddi potest, que, natura ipsa rerum, cui placuit iungere illam passionem risibilitatem dictam illi animalis differentiae rationalitati appellatae: quae cùm proferuntur, occulta proprietas animalis rationalis doctis explicatur.



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Denn entweder nennen sie diesen natürlichen Antrieb irgendeine Fähigkeit und Eigenschaft, welche dem Lamm und seiner Mutter innewohnt wie dem Eisen und dem M ­ agneten, der es anzieht, und dem Eisen und einem anderen Magneten, der es abstößt, oder (sie nennen es) irgendwie anders.112

Sämtliche tierische Lebensäußerungen beruhen laut Gómez Pereira also auf physikalischer Affinität. Diese begreift er als eine feine Übereinstimmung zwischen der okkulten inhärenten Eigenheit von Tieren mit den sie umgebenden Naturphänomenen, die sie entweder anziehen oder abweisen. Daraus resultieren im Wesentlichen sämtliche Bewegungen von Tieren. Auffallend ist, dass in der Naturphilosophie von Aristoteles die qualitas occulta bzw. die proprietas occulta keine Rolle spielt. Allerdings verhandeln wiederum die Stoiker, allen voran Seneca, die natürliche Disposition, die Tiere zu geordneten und scheinbar logischen Handlungen befähige, – als okkulte Fähigkeit. Gómez Pereiras Argumentation mutet wie der Umkehrschluss von Telesios Wirken der Primärkräfte an: Während das Prinzip von Abweisung und Abstoßung bei Telesio alle Bewegung – und daher auch jene der Vernunft – steuert, erlaubt das gleiche Prinzip Gómez Pereira, mechanische Bewegungen zu konzeptualisieren und in Folge Sinneswahrnehmung und Kognition als genuin menschliche Vermögen zu retten. Gómez Pereira könnte wie erwähnt mit seiner Konzeption unterschiedlicher Impulse auf stoische Texte Bezug nehmen. Die sinnliche Seele als Leitinstanz ist ja ein genuin stoisches Konzept. Dennoch war die Stoa dafür bekannt, Tiere an diesem Lebensprinzip nicht teilhaben zu lassen. Wie Gómez Pereira mussten sie daher ein anderes Bewegungsmodell für diese annehmen, wie ein prominentes Beispiel zeigt: […] Arius Didymus distinguishes between the impulses of rational beings and of irrational beings as two species of impulse. The difference is that whereas rational impulse is a movement of the rational mind (dianoia) towards something involved in practical action (pratein), impulse in general is rather a movement of the soul (psukhê) towards something.113

Wiewohl eine direkte Rezeption zwischen Telesio und Pereira in beide Richtungen unwahrscheinlich ist, könnte es sein, dass der Spanier Texte von Telesios Vorgänger, Girolamo Fracastoro, kannte und umgekehrt. Fracastoro beschäftigt sich jedenfalls eingehend mit den okkulten Qualitäten und postuliert dafür

112 Gómez Pereira: Antoniana Margarita, S. 15: Nam aut hunc naturalem instinctum appelant facultatem aliquam, ac proprietatem, quae agno & matri insita est, ut ferro & magneti trahenti idem, & ferro, & altero magneti abigenti, aut quid aliud. 113 Sorabji: Animal, Minds, S. 53.

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wie  Gómez Pereira keine magischen, sondern rein physikalische Kräfte der ­Anziehung.114 Descartes auf den Schultern Gómez Pereiras? Die Philosophiegeschichte bringt die Antoniana Margarita allerdings beinahe ausschließlich mit einem anderen nachfolgenden Neuerer der Naturphilosophie in Zusammenhang: René Descartes. Der Automatismus tierischen Lebens, wie ihn Gómez Pereira entwickelt, zeigt tatsächlich Parallelen zur cartesianischen res extensa auf. Diese Parallele schien auch Zeitgenossen nicht verborgen geblieben zu sein. Jedenfalls sah Descartes selbst sich offenbar genötigt, sich in einem Brief vom 23. Juni 1641 an seinen intimen Freund Marin Marsenne zu legitimieren: Je n’ai point vu Antoniana Margarita, ni ne croi pas avoir grand besoin de les voir, non plus que les théses de Louvain, ni le livre de Jansenius, mais je serais bien aise de savoir où u il à été ímprimé, à fin que, si j’en avais besoin, je le puisse trouver.115

Der Verdacht, Descartes habe Ideen des spanischen Arztes plagiiert, wird im außerspanischen Raum später weitgehend durch einen Eintrag in der Encyclopédie von Diderot und D’Alembert stillgelegt: Descartes suivi d’ un parti nombreux, est le premier Philosophe qui ait osé traiter les bêtes de pures machines: car à peine Gomesius Pereira, qui le dit quelque temps avant lui, méritet’ il qu’ on parle ici de lui; puisqu’ il tomba dans cette hypothèse par un pur hasard, & que selon la judicieuse réflexion de M. Bayle, il n’ avoit point tiré cette opinion de ses véritables principes.116

Wir können heute nur mutmaßen, wie die Rezeption der Antoniana Margarita verlaufen wäre, wäre sie nicht zwischen die Mühlen nationaler Erfolgsgeschichten geraten. In jenem Druckwerk, das paradigmatisch für die weitere europäische Wissensvermittlung der nächsten 400 Jahre steht, gewissermaßen als ‹blindes Huhn› dargestellt zu werden («pur hasard»), zog die weitgehende Verbannung aus den nachfolgenden Philosophiegeschichten unweigerlich nach sich. Wie Miguel Sánchez Vega als erster ausführlich erörtert, unterscheiden sich Descartes und Pereira vor allem in ihrer Methodik: Während Descartes eine

114 Siehe dazu S. 75–­83. 115 Zitat nach Miguel Sánchez Vega: Estudio comparativo de la concepción mecánica del animal y sus fundamentos en Gómez Pereyra y Renato Descartes. In: Revista de Filosofía del Instituto de Filosofía «Luis Vives», 50/1954, S. 452. 116 Denis Diderot/Jean d’Alembert: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de Gens de lettres, Bd. I. Paris: André le Breton 1751, S. 343.



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s­ ystematische rationalistische Epistemologie entwickelt, von der ausgehend er seine beiden unabhängigen Substanzen deduziert, verfolgt die Antoniana Margarita einen protoempirischen Ansatz: Von konkreten alltagsweltlichen Beobachtungen wird auf natürliche Gesetzmäßigkeiten rückgeschlossen. Gómez Pereira ersetzt damit den Syllogismus mit einem anderen Aristotelischen Element der Schlussbildung: dem Enthymem, also einem Wahrscheinlichkeitsschluss. Wegen dieser argumentativen Strategie wirkt Gómez Pereiras Text wesentlich ambivalenter und ergebnisoffener als der Descartes’. Dennoch lassen sich gewisse Parallelen nicht leugnen: Sánchez Vega führt in diesem Zusammenhang an, dass die sogenannten «Konfigurationen der Einzelteile», die laut Descartes die tierische Körperseele ausmachen, den propietates occultae von Gómez Pereiras nicht unähnlich seien.117 Aber vor allem eine auffällige Parallele zu Descartes’ wohl berühmtester Aussage, Cogito; ergo sum, in Pereiras Schriften lässt einige ForscherInnen an der Beteuerung Descartes’ zweifeln, die Antonia Margarita nicht gekannt zu haben. Darin findet sich nämlich im Hinblick auf die menschliche Abstraktionsleistung folgender prägnanter Satz: «Ich weiß, dass ich etwas weiß, und alles, das weiß, ist, also bin ich».118 Menéndez Pelayo versucht für die umstrittene Rezeptionsfrage, wie so oft, seinen Nationalstolz mit wissenschaftlicher Redlichkeit zu verbinden und schlägt eine indirekte Einflussnahme vor: Descartes habe wahrscheinlich von Gómez Pereiras Innovationen über deren Kritik in De Sacra Philosophia (1587) des berühmten spanischen Arztes und Naturphilosophen Francisco Valles bzw. über Francisco Suárez’ De Anima, das 1621 in Lyon publiziert wurde, erfahren.119 Suárez war wie Descartes ein Jesuit und innerhalb des Ordens als herausragender Lehrmeister sehr wirkmächtig. Angesichts derart virulenter Streitigkeiten um wissenschaftliches Erstrecht geraten zwei Passagen in Gómez Pereiras Text in den Hintergrund, die die Grenze zwischen Tier und Mensch nahezu dialektisch perspektivieren, da sie die beiden Pole, innerhalb derer sich die sinnliche und die kognitive Seele entfaltet, hinterfragt: Können Tiere sprechen? Und: Können Tiere leiden? Wie Montaigne und im

117 Sánchez Vega: Estudio comparativo, S. 448. 118 Gómez Pereira: Antoniana Margarita, S. 760: Nosco me aliquid noscere, & quicquid noscit est, ergo ego sum. 119 Die Rezeption der Antoniana Margarita lässt sich auch in den Niederlanden, Deutschland und England nachweisen, etwa bei so einflussreichen Philosophen wie Thomas Willis oder Leibniz. Zu den unterschiedlichen Einschätzungen des Nachlebens der Antoniana Margarita siehe: Rafael Llavona/Javier Bandrés: Gómez Pereira y la «Antoniana Margarita. In: Dolores Sáiz & Milagros Sáiz (Hg.): Personajes para una historia de la psicología en España. Madrid: Pirámide 1995, S. 79–93, hier: S. 89–92.

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Übrigen ja auch Réne Descartes thematisiert Gómez Pereira zunächst die Sprachmächtigkeit der Tiere: Denn jene Worte von uns, von denen man glaubt, Tiere würden sie erkennen und verstehen, wie z. B. diese, mit denen Tiere zum Weitergehen oder zum Stehenbleiben aufgefordert werden, oder andere, durch die sie ausgelassen werden oder aber in Zorn geraten, die werden von den Tieren nicht so gehört wie bedeutungstragende Stimmen von Menschen, und Tiere gehorchen ihnen auch nicht so, als würden sie den Sinn des Befehlenden wahrnehmen, sondern sie werden auf natürliche Weise vom Gehabe bewegt, wobei der Klang die Ohren der Tiere trifft, so wie sich die Finger eines Kitharöden bewegen, wenn er über den Klang nachsinnt.120

Was uns also als kommunikative Fähigkeit unserer Haustiere erscheint, ist laut Gómez Pereira nichts anderes als ein einfaches Reiz-Reaktions-Schema. Irreführend ist der Vergleich mit dem Kithara-Spieler, das im Zitat anklingt, denn dessen habituelles Spiel ist ja Ergebnis eines Lernprozesses und nicht eines eingeborenen Instinkts. Hier versagt die sonst so akkurate Beweisführung des Autors und unterläuft das Argument des Tier-Automatismus. Unmittelbar darauf verlässt er dann überhaupt den naturphilosophischen Diskurs, um eine ebenso ethische wie affektiv aufgeladene Begründung anzuführen, warum Tiere keine sinnliche Seele haben könnten. Denn hätten Tiere ein Sensorium, dann müsse der Natur im Allgemeinen ihre prinzipielle Güte abgesprochen werden: Viertens, wenn es den Tieren gegeben wäre, in ihren äußeren Sinneswahrnehmungen und in ihren inneren Abläufen mit uns übereinzustimmen, dann müsste man zugeben, dass ihnen andauernd Unmenschliches, Wildes und Grausames von den Menschen geschieht. Denn was gäbe es Abscheulicheres als Lasttiere, die unter ihren schweren Bürden und von langen Wegstrecken ermüdet sind, noch mit Prügel zu schlagen und mit Eisen so grausam zu stechen, bis ihnen das Blut aus den Wunden rinnt, während sie selbst nicht selten durch ihr Stöhnen und durch eine Art von Worten (wenn man denn aus ihren Lauten ihre Gemütsstimmung erschließen darf) um Erbarmen bitten? Und über diese Unmenschlichkeit hinaus, die umso abscheulicher ist, je häufiger sie sich abspielt, würde die Qual der Stierhetzen die Spitze der Grausamkeit bedeuten, wenn sie mit Pfählen, Dolchen und Steinen geschlagen werden, und dies nicht zu einem anderen Nutzen für den Menschen, als dass sich das menschliche Gesicht an diesen Schandtaten ergötze, bei denen das Tier durch sein Muhen unterwürfig um seine Freilassung zu bitten scheint. Und nicht nur ist das verkommene Gefühl des Menschen zu beschuldigen, wenn man glaubt, dass die Stiere dies so wahrnehmen, wie ihre Bewegungen es anzeigen, vielmehr wird alle Gutartigkeit der Natur 120 Gómez Pereira: Antoniana Margarita, S. 20–21: Ea enim verba nostra, quae putantur agnosci, intelligíque à brutis, ut sunt quibus ad incessum, vel ad sistendum iter instigantur bestiae, aut alia, quibus lasciviunt, aut irascuntur, non sic à brutis audiuntur, ut ab hominibus voces significative, nec eisdem obtemperant bruta, ut quae percipiant mentem praeceptoris, sed naturaliter ex habitu moventur, sono aures bestiarum feriente, ut citharoedi digiti, ipso circa meditante.



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abgeschafft und beschuldigt, die jene Lebewesen und noch viele andere auch geschaffen hätte, damit sie ein Leben so voll von Leid und Plagen führen.121

Diese eindrucksvolle Schmähung des Stierkampfs ist meines Wissens neben einem von Francisco de Quevedo einer der wenigen westlichen’ frühneuzeitlichen Texte, der die Leidensfähigkeit von Tieren kritisch thematisiert.122 Damit zieht Gómez Pereira aus der Unteilbarkeit der Seele radikale Konsequenz. Denn sind Sinneswahrnehmung und Kognition Seelenvermögen, dann müssen ihre Träger Schmerz spüren und somit auch einen Begriff davon haben. Der empirische Befund, dass Menschen wissentlich einem anderen Wesen Schmerzen bloß zur eigenen Unterhaltung zufügen, scheint für Gómez Pereira aufgrund dieser Erkenntnis unzumutbar zu sein. Der Ausweg ist, Leidensfähigkeit zum Distinktionsmerkmal des Menschen als einzig sinnesbegabtem Wesen zu postulieren. Erst nachdem sich dieser Denkschritt in Nachfolge von Descartes sedimentiert, den spätestens Darwins «zweite narzisstischer Kränkung» aber widerlegt, wird die Leidensfähigkeit der Lebewesen von Bentham, Derrida und den rezenten Animal Studies als stichhaltiges Argument für eine gemeinsame Artgenossenschaft wieder aufgenommen werden.

121 Gómez Pereira: Antoniana Margarita, S. 21–22: Quartò, si bestijs datum esset sensationibus exterioribus & organicis interioribus nobiscum convenire, inhumanum, saevum ac crudele, fieri ab hominibus passim concedendum esset. Quid enim atrocius, quám, veterina animalia sub gravibus oneribus, & prolixis itineribus fessa, vapulis caedere, & ferro adeò crudeliter pungere, donec sanguis è vulneribus manet, ipsis non rarò gemitibus, ac vocibus quibusdam (si ex notibus eorum licet elicere animorum suorum affectus) miserationem petentibus? Ac ultra hanc immanitatem, quae tantò atrocior, quantò frequentior habetur, crudelitatis apicem obtineret, taurorum agitatorum tormentum, sudibus, ensibus, lapidibúsque caesis ipsis: nec in alium humanum usum, quám utijs flagitijs humanus visus delectetur, quibus bestia vindictam mugitu supplex poscere videtur. Atque non tantúm hominis pravus affectus cupandus offertur, dum haec ita percipi à tauris, ut nutus eorum indicant, creduntur, sed omnis benignitas naturae aboletur & culpatur, quae genuerit viventia illa, ac quamplurima alia, ut vitam adeó aerumnis & miserijs plenam agant. 122 Quevedos Kritik in seiner Epístola satírica y censoria contra las costumbres presentes de los castellanos, escrita a Don Gaspar de Guzmán, Conde de Olivares, en su valimiento steht im Zusammenhang mit einer generellen Satire auf die spanische Mentalität. Ein wichtiger Vorläufer in der Spätantike wäre Theophrastus, ein Schüler von Aristoteles, der in seiner Tierethik ganz andere Positionen vertritt als sein Lehrer: Tiere seien lebendige Wesen und Menschen dürften ihnen dieses Leben nicht rauben. Seine Argumente wurden vor allem von Porphyrius, einem weiteren Gegner des Tieropfers, überliefert. Wie Richard Sorabji richtig anmerkt, gehen diese über die Frage der Leidensfähigkeit hinaus und vertreten damit auch einen radikaleren Standpunkt als rezente Tierschutz-AktivistInnen. Vgl. dazu Sorabji: Animal, Minds, S. 176. Weitere literarische Zeugnisse in der Frühen Neuzeit zur Praxis des Stierkampfs finden sich etwa im Don Quijote, vor allem in den Kapiteln XLIX und LVII.

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Ich halte die Frage nach einer direkten Rezeptionslinie zwischen den beiden Automatentheorien für ebenso banal wie steril. Viel schlüssiger erscheint mir das Phänomen einer Zeitgenossenschaft an einer Epochenschwelle, an der Diskurse aufbrechen und sich in Folge neu formieren. Im Übrigen verfolgt die Argumentation der beiden Autoren unterschiedliche Innovationen: Während es Pereira ja explizit um die Unteilbarkeit der Seele als – verkörpertes – Lebensprinzip geht, zielt Descartes auf einen Dualismus. Auch die für Descartes in Anschlag gebrachte Maschinenmetapher geht in diesem Zusammenhang für Pereira ins Leere, denn innerhalb eines Substanzendualismus ist alles Körperliche maschinengleich organisiert, während jedwede menschliche Lebensregung in der Philosophie des spanischen Arztes der einen Seele geschuldet ist. Dies gilt zumindest, wenn wir Pereiras Argumentation Schritt für Schritt folgen. Doch scheinen mir hier Zweifel angebracht. Und Zweifel zeichnen auch die Haltung des Gesamttextes aus. Denn Gómez Pereiras Rückgriff auf okkulte proprietates erweist sich angesichts der seitenlangen logisch überzeugenden Denkbewegungen, die eine prinzipielle Gleichheit zwischen menschlicher und tierischer Seele durchexerzieren, als eher schwache rationale Krücke. Angesichts seiner virtuosen Handhabe logischer und rhetorischer Instrumentarien könnte die Textintention sogar ins Gegenteil gekehrt werden. Der Übersetzter des Textes ins Spanische, José Luis Barreiro Barreiro, kommt in seinem Vorwort unter dem Titel «la lectura verosímil o sospechada» in Bezug auf das letzte Kapitel zur Unsterblichkeit der Seele, das der Autor ebenso akribisch entfaltet, jedenfalls zu dem Befund: «El tratado de la inmortalidad no representa una ortodoxia, sino se mofa de la ortodoxia».123 Ich will damit keineswegs die These stark machen, Gómez Pereira entwerfe die mechanische Dynamik von Tieren als Spott auf dogmatische Thesen. Doch der rhetorische und vor allem der affektive Überschuss, der Passagen wie jene zum Stierkampf kennzeichnet, verdeutlicht, dass die ontologischen Grenzziehungen zwischen Menschen und Tieren in der Frühen Neuzeit in beide Richtungen verschiebbar werden. In diesem Sinne – und im Lichte der ausgefeilten Argumentation – sehe ich Pereira vielmehr in der Tradition der Skepsis. Eine der wenigen ForscherInnen, die sich dieser Passage aus einer ähnlichen Perspektive wie ich nähert, kommt zu einem ähnlichen Schluss: «[...] it seems to me that although the Antoniana argues for a disavowal of animal sentience [...] the sympathetic imagination it mobilizes at moments like this cannot be so neatly swept away.»124 123 José Luis Barreiro Barreiro: Estudio preliminar. In: Gómez Pereira: Antoniana Margarita, zweisprachig lateinisch-spanisch, übersetzt von José Luis Barreiro Barreiro. Santiago de Compostela: Fundación Gustavo Bueno 2000, S. 25. 124 Giorgina Dopico Black: The Ban and the Bull: Cultural Studies, Animal Studies, and Spain. In: Journal of Spanish Cultural Studies, 11, 3–4, S. 235–249, hier: S. 245.



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Indem Gómez Pereira die allgemein gültige Prämisse der Sinnesfähigkeit von Tieren in mehreren logischen Operationen mit dem unannehmbaren Schluss abweist, dass diese auch deren Rationalität nach sich ziehe, wird die kontradiktorische Option, mithin die zweite narzisstische Kränkung des Menschen, zumindest denkmöglich. Seine systematische Argumentation macht die weitreichenden Konsequenzen, die mit der Annahme einer tierischen Seele in dieser innovativen materialistischen Psychologie einhergehen, unmittelbar greifbar. Es entsteht eine Art Kippbild für das binäre Verhältnis von Mensch und Tier, das je nachdem, wie weit wir die Argumentationsschritte der Antoniana Margarita mitvollziehen, zur einen oder zur anderen Richtung hin pendelt. Diese Unentschiedenheit nach einer Offenlegung möglicher widersprüchlicher Urteilsbildungen im Hinblick auf die anthropologische Differenz deutet auf eine Nähe zur pyrrhonischen Skepsis, wie sie etwa Markus Wild für Michel de Montaigne veranschlagt.125

Tierischer Ventriloquismus als Diatribe? Vor den unterschiedlichen Inanspruchnahmen Gómez Pereiras als Vorläufer Descartes löste sein Hauptwerk aber auch unmittelbare Reaktionen aus. Der Theologieprofessor Miguel de Palacios kontert in seinen Objeciones (1555), dass die Antoniana Margarita einige epistemologische Mängel aufweise, was er vor allem mit Aristoteles’ Formbegriff argumentiert. Interessanter für meinen Zusammenhang ist aber eine Satire, die aller Wahrscheinlichkeit nach der ebenfalls in Medina ansässige Arzt Francisco Sosa zwei Jahre nach Erscheinen des Werkes herausbrachte: Im Endecálogo contra Antoniana Margarita (1556)126 rufen acht Tiere Jupiter an, er möge sie gegenüber jenem Autor, der ihnen jegliches Seelenvermögen abgesprochen hatte, wieder ins Recht setzen. Zunächst debattieren Affe, Fledermaus, Krokodil, Löwe, Adler, Wal, Fuchs, Elefant darüber, wer von ihnen sich am besten als Klagsführer eigne. Die tierischen personae performieren damit die Semantik der Antoniana Margarita, in der zunächst ja unter der Prämisse ihrer Sinnlichkeit in paradoxer Einkleidung ihre Ebenbürtigkeit an unterschiedlichen Seelenvermögen vorgeführt wird. Indem in der Schmähschrift nun Tiere ebenso

125 Siehe dazu das folgende Kapitel und Markus Wild: Die anthropologische Differenz: Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2007. 126 Francisco Sosa (1556): Endecálogo contra Antoniana Margarita, en el cual se tratan muchas y muy delicadas razones, y autoridades con que se prueba, que los brutos sienten y por sí se mueven. In: Pedro M. Cátedra u. a. (Hg.): Diálogos españoles del Renacimiento. Madrid: Biblioteca de literatura universal 2010, S. 523–582.

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sinnesbegabt wie rational auftreten, setzen sie das resultierende AutomatenAxiom des Referenztextes außer Kraft. Damit legt die Invektive – ungewollt, aber signifikant – die der Antoniana Margarita immanenten Vexierschlüsse offen und ermöglicht eine subversive Lesart des Textes von Gómez Pereira. Gleich zu Beginn des Endecálogo weist der Affe darauf hin, dass es wohl auch unter den antiken Philosophen solche gegeben hätte, welche die Emotionalität der Tiere bestreiten, wie etwa Chrysippus, wodurch meine Deutung des Referenztextes als Verfahren stoischer Vexierschlüsse zusätzlich genährt wird, denn Chrysippus ist einer der wichtigsten Vertreter der Stoa, die vehement gegen eine Seele der Tiere auftraten.127 Das ebenso methodische wie rationale Vorgehen der Tiere im Endecálogo untermauert die Wahl des Sprachrohrs: Das Krokodil ist wegen seiner drei Naturen – es legt Eier wie die Vögel, es kann schwimmen wie die Wassertiere und es lebt im gleichen Ambiente wie die Säugetiere – logisch prädestiniert dafür, für die Gesamtheit der Tiere zu sprechen.128 Unterstützt wird es vom Elefanten, der als «el mejor letrado que se halla en grandes partes [...] una criminal acusación en forma para la presentar ante Júpiter» verfassen soll.129 Tatsächlich legt der Elefant sofort einen formvollendeten Schriftsatz vor, der teilweise Thesen der Antonia Margarita neu montiert und durch Zirkelschlüsse ad absurdum führt: Es sei evident, dass Komplexion und Körperteile der Tiere ebenso wohl organisiert wie jene der Menschen seien und dass Tiere sich verteidigen und angreifen könnten, womit Sosa auf intentionale Bewegung insistiert. Diese bedingt eine sensitive Seele, woraus sich zweifelsfrei folgern lässt, dass Tier belebte Wesen sind. Im Anschluss werden dann einzelne sinnliche Reaktionen von Tieren angeführt. Ein interessantes Argument findet sich gegen Ende der Anklageschrift: [...] de hoy más, pues los animales no nos movemos, si es así verdad, naturalmente antes somos siempre movidos por las especies de las cosas violentamente y como relojes, a vuestra Majestad suplico ninguno sea condenado por daño que haga, [...] pues por las especies de la cosa dañada es el tal bruto guiado y movido [...] sin poder el tal bruto dejarle de hacer. Y esto que yo pido es muy justo, pues los hombres que aojan no hay ley por donde sean punidos por no ser en su poder dejar de aojar.130

Die mangelnde Rechtsfähigkeit der Tiere, die aus Gómez Pereiras Automatentheorie folgt, wird hier mit der mangelnden Rechtsfähigkeit von Menschen, die über den bösen Blick verfügen, gleichgesetzt. Das verbindende Element der 127 Sosa: Endecálogo, S. 537. 128 Sosa: Endecálogo, S. 539. 129 Sosa: Endecálogo, S. 541. 130 Sosa: Endecálogo, S. 546.



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­satirischen Schlitterlogik131 bildet einmal mehr jene der Antoniana Margarita nach, wobei Sosa die darin entfaltete species-Theorie freilich vulgarisiert: Wenn es die unvermeidlichen Eindrücke und passiven Impulse aus der Umwelt sind, welche die Tiere bewegen, dann sind jene phantasmata, die aojar, den bösen Blick, bewirken, ebenso unabwendbar. Nun gehen die schädlichen species in der traditionellen Naturphilosophie aber vielmehr vom Subjekt des bösen Blicks aus, das folglich ebenso machtvoll wie unheilvoll ist. Bei Fracastoro wird die magische Macht des malocchio wiederum als contaggio, als Ansteckung, konzeptualisiert, was durchaus im Sinne Gómez Pereiras wäre, aber nicht unbedingt eine Mainstream-Position repräsentiert. Im Übrigen muss es eine Art Affinität geben, damit es zur Ansteckung kommt. Unterschwellig gerät Gómez Pereira durch Sosas Umkehrschluss in die Nähe der Nekromantie, da der böse Blick ja Magiern und Hexen zugeschrieben wird. Da Sosa in seiner Widmung an Diego de Ribera, einem ebenfalls in der Stadt Medina de Campos ansässigen Aristokraten, auf die zweifelhafte Herkunft des Autors der Antoniana Margarita, mithin seines Status eines converso, anspielt, verbirgt sich hinter dieser Argumentation ein perfider Angriff.132 Die unfreiwillige Ironie, dass aojar in klassischen Texten (etwa bei Pindar, Demokrit und Plutarch) oftmals als Effekt unkontrollierten Neides definiert wird133 und so in der textimmanenten rhetorischen Verdrehung auf die Motivation Sosas selbst zurückfällt, dürfte diesem allerdings entgangen sein. Eine weitere Attacke auf die Person Gómez Pereiras besteht darin, ihn mit Epikur in Verbindung zu bringen, dessen Theorien in der orthodoxen Philosophie des posttridentinischen Spaniens der Häresie verdächtig waren.134 Nachdem das Krokodil die Anklage der Tiere vorgebracht hat, ruft Jupiter den Götterboten Merkur und beauftragt ihn, auf der Erde nach Indizien und Beweisen für die Vorwürfe zu suchen, nicht ohne zuvor selbst einen Beitrag zur tierischen Seele anzubieten, die sich als chiastischer Kommentar auf die ausführlich behandelte Passage zur Tierquälerei bei Gómez Pereira lesen lässt. Jupiter erinnert nämlich an Pythagoras, der von seinen Adepten Vegetarismus verlangte, da er von der Seelenwanderung ausging und es daher nicht auszuschließen sei,  dass man seinen eigenen Vater töte und esse. Den – wie er ausdrücklich

131 Hinsichtlich des Begriffs der Schlitterlogik vergleiche Aby Warburg: Mnemosyne I. Aufzeichnungen, 1927–29. In. Ders.: Werke in einem Band, S. 640–647, hier: S. 642, und S. 643. 132 Vgl. dazu Sosa: Endecálogo, S. 536 («[...] varón no menos prudente que de agudo ingenio e muy católico siervo de Jesucristo [...]») und Cátedra: Introducción. In: Sosa: Endecálogo, S. ­523–534, hier: S. 528. 133 Vgl. dazu Thomas Rakoczy: Böser Blick, Macht des Auges und Neid der Götter. Eine Untersuchung zur Kraft des Blickes in der griechischen Literatur. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1996. 134 Vgl. dazu Sosa: Endecálogo, S. 544 und cfr. 50 Cátedra.

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betont – Unsinn derartiger Thesen «untermauert» der Göttervater durch ebenso haarsträubende Thesen zur Beschaffenheit des Mondes, die laut Cátedra direkt aus dem Icaromenippus des Lukian stammen, der ja schon durch die Wahl des Genres als intertextueller Bezug anklingt. Vom Mond kommt Jupiter dann aber schnell wieder auf die Erde zu sprechen, wo Merkur den Gott Momus aufsuchen solle, der immer über alle Geschehnisse bestens informiert sei. Wie Cátedra in seinem Kommentar ausführt, ist das gleichnamige Werk Momus o del principe (um 1440) von Leon Battista Alberti nur drei Jahre vor Sosas Invektive in einer spanischen Adaptierung von Agustín de Almazán erschienen und erfreute sich großer Beliebtheit.135 Als Mercurio schließlich tatsächlich auf Momo trifft, wechselt Sosa unvermittelt das Genre: Im Modus des Dialogs bietet der Autor eine detailreiche Schilderung unmittelbarer spanischer Kriegsaktivitäten in Italien und im nördlichen Afrika. Zunächst hebt diese Chronik mit fabulösen fiktionalen Versatzstücken an, wie wir sie etwa aus dem Orlando Furioso des Ludovico Ariosto kennen: Riesen, Amazonen und seltsame magische Wesen kreuzen Momos Wanderung durch die Kriegsgebiete. Doch diese phantastischen Welten gewinnen immer realistischere Konturen und schließlich diskutieren die Dialogpartner die Leistungen konkreter spanischer Heeresführer, rekapitulieren Gewinne und Verluste an tatsächlichen Kriegsschauplätzen und erörtern mögliche Strategien bei der Belagerung von Städten. Diese sehr subjektive Chronik zeitgenössischen Geschehens nimmt nicht ganz die Hälfte des Gesamttextes ein und ist mit diesem nur lose verbunden. Die diegetische Klammer bildet die Persona des Momo. Mercurio findet ihn in der Nähe von Medina de Campo, doch dieser reagiert zunächst nicht auf den Zuruf des Götterboten. Merkur insistiert und Momus erzählt, er habe sich nach seiner Verbannung aus dem Götterhimmel auf der Erde in einen Fuchs verwandelt, um sich von den conversaciones der Menschen zu distanzieren, da diese nur aus Betrügereien, Hexereien und üblen Machenschaften bestünden. Der Subtext dieser Maske besagt, dass Tiere solcher Täuschungen nicht fähig seien. Wenn das nun ausgerechnet der Gott des Spottes propagiert, verkompliziert sich das Vexierspiel mit dem Referenztext. Nach dem Einschub der Chronik bietet Momo eine zweite Erklärung für seine Metamorphose zum Tier an: Er habe nämlich die Antoniana Margarita gelesen und deren haarsträubende Thesen aufgrund eigener körperliche Anschauung widerlegen wollen. Denn: «Yo no sé la verdad o falsedad que sus fundamentos tengan, mas sé que por solamente averiguar esta verdad me volví raposo e hallo ser falsedad cuanto dice».136 Wieder steht die Valenz von 135 Agustín de Almazán: Momo sive de principe de L.B.Alberti, 1553, zit. nach Cátedra: Introducción, S. 527. 136 Sosa: Endecálogo, S. 569.



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Erfahrungswissen gegenüber wissenschaftlicher Beweisführung im Zentrum. In diesem Fall mündet dieses jedoch nicht in ein eigenes innovatives Seelenmodell, sondern dient als tautologische Schutzbehauptung, um einem Antiintellektualismus das Wort zu reden und die althergebrachte Naturphilosophie am Ende in knappen Thesen, die an die Entgegnungen Palacios erinnern, zu zementieren. Mercurio berichtet Jupiter von Momos Lektüreeindrücken und der Göttervater gibt den Tieren in diesem Rekurs auf die kanonisierte Doktrin Recht – oder vielmehr – er legitimiert die scholastische Philosophie. Ganz offensichtlich ist Sosas Text ein Gelegenheitswerk, das nicht sehr sorgfältig gearbeitet ist. Die zwei eher disparaten Textteile erschweren die Rezeption, anstatt sie zu bereichern. Dennoch gibt es vereinzelt rhetorisch ausgefeilte Passagen, die in der Regel die eigene Textintention unterlaufen und in einen eigenartig ambivalenten Dialog mit dem Referenzwerk treten. So reagiert Mercurio etwa abwehrend, als Momo Gómez Pereiras species-Doktrin referiert: «En verdad, que falta poco para decir que son tan sabios y tan prudentes como la ánima racional, y que tienen más potencia que la complexión del hombre y del bruto».137 Hier scheint mir die wahre Provokation der Antoniana Margarita trefflich auf den Punkt gebracht: Denn die Verweigerung einer Seele für die Tiere ist darin nicht Selbstzweck, sondern Konsequenz einer radikal neuen Physiologie, die letztlich sehr ähnlich der Bernardino Telesios ist. Die erwähnten rhetorischen Elemente des Endecálogo ergeben sich aus der Textsorte, die in der Tradition Lukians steht und Mitte des 16. Jahrhunderts sehr beliebt war. Dies ist insofern interessant, als der spätantike Satiriker in der Gegenreformation zunehmend den Argwohn der Zensur hervorrief, vor allem, seit Erasmus viele seiner Schriften übersetzt hatte.138 Deshalb ist die Textintention des Endecálogo vielleicht doch etwas komplexer als in der

137 Sosa: Endecálogo, S. 570. 138 Ab 1590 stehen die Werke Lukians auf dem römischen Index. Ein weiterer möglicher Referenztext von Sosa könnte das Ichwan As-Safa der Lauteren Brüder von Basra gewesen sein (übersetzt aus dem Arabischen von Alma Giese: Mensch und Tier vor dem König der Dschinnen. Lenningen: Edition Erdmann 2005). Dieser arabische Text, der zwischen dem 9. und 10. Jahrhundert entstanden war (die genaue Datierung ist unklar), beinhaltet ebenfalls ein Streitgespräch zwischen Menschen und Tieren, in dem philosophische Fragestellungen verhandelt werden. Laut Lourdes María Álvarez ist es jedenfalls das Modell eines katalanischen Textes, in dem ein Esel und ein Mensch einen Disput austragen, und zwar La disputa de l’ase (1417) des zum Islam konvertierten Franziskaners Anselm Turmeda, der in Tunis lebte und auch in Arabisch geschrieben hatte. Der Text selbst ist in der katalanischen Urfassung nicht erhalten, er kursierte in Europa aber in französischer Übersetzung und gelangte im Jahr 1583 ebenfalls auf den Index. Vgl. dazu Lourdes María Álvarez: Beastly Colloquies: Of Plagiarism and Pluralism in two Medieval Disputations between Animals and Men. In: Comparative Literature Studies, 39/2002, S. 181–198.

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­ orschungsliteratur gemeinhin angenommen. Denn wenn wir die metaleptisch F eingeschobene ­Kriegschronik mit einem berühmten Vorbild engführen, das eine Generation früher entstand, lässt sich die wertkonservative Ausrichtung des Textes zumindest ­hinterfragen: Der Sekretär und enge Vertraute von Karl V., Alfonso de Valdés, hatte unmittelbar nach dem sogenannten Sacco di Roma seinen Diálogo de Mercurio y Carón (1529) geschrieben. Darin legitimiert er die grausame Plünderung Roms durch die deutschen und spanischen Kaisertruppen als Strafe für die D ­ ekadenz des Kirchenstaates.139 In seinem proemio gibt er für seine literarische Verarbeitung des Zeitgeschehens als Quellen Lukian, Pontano und Erasmus an. Die ­Apologie des Krieges wird im Endecálogo wieder aufgenommen, ­zwischenzeitlich gelten allerdings Lukian, Erasmus und Valdés als Häretiker. Somit könnte die Chronik, die der Gott des Spottes und der Gott der Gauner dialektisch entwerfen, auch ein Fingerzeig darauf sein, dass die Kriegsgeschehen weniger als heroische Akte gelten, sondern vielmehr Unmenschlichkeit maskieren. In diesem Fall wäre die Chronik einer ähnlich paradoxen Strategie geschuldet wie sie in der Antoniana Margarita zur Anwendung kommt: Benehmen sich Menschen wie Bestien, sind Tiere ethisch ranghöher. Die angeblich genuin menschliche Sprachfähigkeit wird uns hier im Modus der Schrift als ambivalentes Instrument der Täuschung vorgeführt, denn es lässt sich kein vernünftiger Schluss zweifelsfrei deduzieren. Neben dieser intertextuellen Verortung der Invektive mahnt aber Georgina Dopico Black auch eine alltagsweltliche ein: Tierprozesse waren im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Spanien eine durchaus übliche Praxis, etwa im Zusammenhang mit Heuschrecken- oder Rattenplagen. Dabei wurde einem einzelnen Tier metonymisch für seine Artgenossen der Prozess gemacht, der meist mit Bann aus dem jeweiligen Rechtshoheitsgebiet endete. Offensichtlich verliefen derartige Prozesse mit dem ganzen Ornat und Brimborium herkömmlicher Gerichtsverfahren. Ich lese diese aufwendige institutionelle Performanz aber weniger als Animismus, sondern als zivilisatorische Kompensation gegenüber der vermeintlich abergläubischen «Volksseele», wobei angesichts der kollektiven menschlichen Ohnmacht ein rationales Ordnungselement vormals magische Praktiken ersetzt und so tendenziell unkontrollierbare irrationale Massenphänomene bremst. Insofern wird das vermeintliche Distinktionsmerkmal des Menschen, die Ratio, gegen drohende – menschliche – Affektentladung eingesetzt. Die ludische Verkehrung im Endecálogo legt somit auch die Vergeblichkeit derartiger Interventionen offen.

139 Alfonso de Valdés: Diálogo de Mercurio y Carón, hg. und eingl. von Joseph V. Ricapito. Madrid: Castalia, 1993.



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Sprache & Differenz: Michel de Montaigne, Girolamo Fabrizio Die Institution Gericht gehört jedenfalls der Sphäre des Logos an, weshalb ich die bisher vorliegenden Textbeispiele kurz zusammenfassen möchte, um im Anschluss die vieldiskutierte Sprachfähigkeit der Tiere in den Blick zu nehmen und schlaglichtartig drei sehr avancierte Positionen dazu einzuführen. Telesio und Sabuco gehen prinzipiell von einer einheitlichen Seele aus, wobei Rationalität als eine ihrer Funktionen sich erst aus dem Zusammenspiel von Sinneswahrnehmung und Memoria entwickelt. Da auch Tiere von einer einheitlichen sinnlichen Seele belebt werden, verfügen sie über Rationalität, wenngleich Sabuco und Telesio graduelle Unterschiede konzedieren. Auch Huarte vertritt ein einheitliches Seelenmodell, das für Menschen und Tiere gleichermaßen gilt. Er nimmt aber individuell eingeborene gravierende Unterschiede an, die er aus der Temperamentedoktrin herleitet. Deshalb kann ein einzelnes Tier durchaus fallweise mehr Ratio, ja sogar mehr Eloquenz aufweisen als ein einzelner Mensch, wenn etwa klimatische Bedingungen und Körperbau die Qualitäten Heiß und Trocken gedeihen lassen. Allerdings scheint das Klima im Allgemeinen doch in bestechender Regelmäßigkeit den weißen spanischen Mann zu begünstigen. Gómez Pereira verficht wie die vorgenannten AutorInnen eine sensualistischmaterialistische Psychologie, die er scheinbar allerdings nur für den Menschen gelten lässt. Sobald die vormals mittlere sinnliche Fakultät zum Synonym einer einheitlichen und unteilbaren Seele wird, ist die Leidensfähigkeit der Tiere logische Konsequenz, da Passionen ja in den gängigen Seelenlehren Funktionen der anima sensitiva sind. Deshalb scheint es mir auch signifikant, dass Gómez Pereiras eindringlichstes Argument gegen eine Seele der Tiere darin gründet, dass wir diesen ungestraft so viele Qualen zufügen. Zwei der drei Marker der anthropologischen Differenz, die immer wieder ins Rennen geführt werden – Ratio und Leidensfähigkeit – sind unter der Prämisse einer für Tiere und Menschen gleichermaßen geltenden sensualistischen Psychologie in der Spätrenaissance somit obsolet. Wie sieht es nun aber mit der Sprachfähigkeit aus? Da es sich bei dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Textkorpus um (proto-) naturwissenschaftliche und nicht ethische Reflexionen handelt, wird Sprachfähigkeit nur im Hinblick auf die physiologische und anatomische Bedingtheit diskutiert. Vor allem Tiere, die über Zunge und Stimmbänder verfügen, werden daher als besonders sprachmächtig apostrophiert, weiter vertieft wird das Thema im naturphilosophischen Diskurs allerdings kaum. Allenfalls wird noch der Zweck tierischer Artikulation thematisiert:

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What were they expressing by their voices, sounds, and gestures? The universal answer that early modern philosophers gave to this question was: their passions. Animals used their voices to express the passions or «affections» of their souls.140

Sprache als Medium von Vergemeinschaftung und als artikuliertes (Selbst) Bewusstsein ist Gegenstand ethischer Auseinandersetzungen, die einen konkreten politischen Rahmen reflektieren. Wenngleich die einzelnen Wissensgebiete noch nicht so stark ausdifferenziert sind wie heute, werden ethische Fragen auch in der frühen Neuzeit in anderen, stärker institutionalisierten Diskursen erörtert. Ich beziehe sie in meine Untersuchung daher lediglich im Hinblick auf ihre epistemische Qualität ein, da diese implizit selbstverständlich auch medizinische und naturphilosophische Neuerungen perspektiviert. Sämtliche Aristotelische, stoische und (neu)platonische Positionen zur Sprache als Ausweis einer Zugehörigkeit zur societas iuris bzw. zur oikeiosis werden im 16. Jahrhundert vor allem deshalb aus dem intellektuellen Gedächtnis gehoben, weil die Kolonisierung Amerikas das drängende Problem des ontologischen Stellenwerts der indigenen Bevölkerung des ‹neuen› Kontinents aufwirft. Wenig verwunderlich stammen die elaboriertesten und auch radikalsten Stellungnahmen aus der Feder spanischer Theologen und Juristen. Einer der wichtigsten unter ihnen ist sicherlich Francisco Vitoria. Der Dominikaner trat gegen die gewalttätige Kolonisierung Amerikas auf. Seine systematische Argumentation gilt als einer der Gründungstexte zum Völkerrecht.141 Im Wesentlichen ging er davon aus, dass die Christianisierung der Urbevölkerung keine hinreichende Legitimation für die Eroberung sei. Dies obliege dem freien Willen der einzelnen Individuen der bereits sozial organisierten Ethnien, die im Übrigen selbstverständlich als rationale Wesen zu bezeichnen seien. Die einzige mögliche Intervention von Seiten der spanischen Krone, die Vitoria einräumt, ist der Schutz der von Kannibalismus und Menschenopfer Betroffenen. Mit dieser Thematik lassen sich antike Texte zur anthropologischen Differenz auch erneut aktualisieren, denn Porphyrius, Plutarch u. a. nehmen die Frage des Opfers als Ausgangspunkt für ihre Einebnung der Differenz zwischen Mensch und Tier. Ein Vordenker Vitorias war Bartolomé de las Casas, der als Missionar unmittelbar den

140 Richard W. Serjeantson: The Passions and Animal Language, 1540–1700. In: Journal of the History of Ideas, 62,3/2001, S. 425–444, hier: S. 434. 141 Seiner nachhaltigen Wirkung steht die Tatsache gegenüber, dass wir nur mittelbar, über studentische Mitschriften, über seine Texte verfügen. Sie wurden erstmals posthum 1557 in Lyon und dann erweitert 1565 in Salamanca herausgegeben. Vgl. dazu Francisco de Vitoria: Vorlesungen (Relectiones) Völkerrecht, Politik, Kirche. 2 Bände, herausgegeben von Ulrich Horst, HeinzGerhard Justenhoven, Joachim Stüben (Theologie und Frieden. 7/8). Stuttgart 1995/1997.



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brutalen Genozid an der amerikanischen Urbevölkerung miterlebte und mehrfach bei Karl V. intervenierte, damit dieser die weiteren Eroberungszüge und die Versklavung einstelle. Es folgten tatsächlich einschlägige Gesetze, die aber weitgehend totes Recht blieben.142 Neben diesen Texten, die auf konkrete Probleme in Nueva España reagieren, löst die Korrektur und Erweiterung des Weltbildes aber auch in anderen Teilen Europas Faszination, Angst und Verunsicherung sowie daraus resultierend einen epistemologischen Druck aus. Ich gehe hier auf zwei Theoretiker genauer ein, welche die kollektive Selbstvergewisserung über die menschliche Sprachfähigkeit als Distinktionsmerkmal (der Europäer) erschüttern. Beide argumentieren durchaus auch vor dem Hintergrund von Ethnien in der Neuen Welt, sie erweitern die Problemstellung aber explizit auf die anthropologische Differenz als solche, weshalb sie diesen Parcours durch ‹Renaissance Animal Studies› beschließen. Eine der berühmtesten Aufwertungen der Tiere findet sich in Michel de Montaignes L’ Apologie de Raimond Sebond, dessen vielzitierte Interaktion mit seiner Katze wohl auch modellbildend für die vielen Katzen der Philosophiegeschichte war: Quand je me joue à ma chatte, qui sait, si elle passe son temps de moi plus que je ne fais d’elle? Nous nous entretenons de singeries réciproques. Si j’ai mon heure de commencer ou de refuser, aussi a-t-elle la sienne.143

Auf annähernd 300 Seiten diskutiert Montaigne systematisch sämtliche vermeintlichen Vorzüge der Schöpfung Mensch, um diese im Anschluss unter Heranziehung zahlreicher Beispiele zur Überlegenheit bzw. Ebenbürtigkeit von Tieren zu demontieren. Er nimmt zunächst die körperliche Gestalt in den Blick um aufzuzeigen, dass der Begriff von Schönheit völlig arbiträr und affektiv unterlegt sei:

142 Bartolomé de las Casas (1552): Brevisima Relacion de la Destruccion de las Indias, herausgegeben von André Saint-Lu. Madrid: Cátedra 2003. 143 Michel de Montaigne (1595): Apologie de Raimond de Sebonde. In: Essais, Band II, Kap. 12, hg. von Denis u. a. Paris: Librairie Générale Française 2001 (Classiques Modernes), S. 689–932, hier: S. 710. Zur skeptischen Philosophie Montaignes siehe Jean Starobinski: Montaigne. Denken und Existenz. Frankfurt am Main: Fischer 1989; Andreas Kablitz: Montaignes Skeptizismus. Zur ‹Apologie de Raimond Sebond›. In: Gerhard Neumann (Hg.:) Poststrukturalismus. Herausforderungen an die Literaturwissenschaft. Stuttgart: Metzler 1997, S. 504–540. Marie-Luce Demonet: «À plaisir»: sémiotique et scepticisme chez Montaigne. Orleans: Paradigme 2002; Wild: Die anthropologische Differenz; Hans Peter Balmer: Montaigne und die Kunst der Frage: Grundzüge der «Essais». Tübingen: Francke 2008; John C. Laursen: The politics of skepticism in the ancients, Montaigne, Hume and Kant. Leiden: Brill 1992; Ullrich Langer: Skepticism and the Body in the Apologie: Montaigne’s ‹Blancheur de la nege›. In: Neophilologus, 69,4/1985, S. 525–532.

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Quant à la beauté du corps, avant passer outre, il me faudrait savoir si nous sommes d’accord de sa description: Il est vrai-semblable que nous ne savons guère, que c’est que beauté en nature et en général, puisque à l’humaine et notre beauté nous donnons tant de formes diverses [...] Nous en fantasions les formes à notre appétit.[...] Les Mexicanes comptent entre les beautés, la petitesse du front, et où elles se font le poil par tout le reste du corps, elles le nourrissent au front, et peuplent par art; et ont en si grande recommandation la grandeur des tétins, qu’elles affectent de pouvoir donner la mamelle à leurs enfans par dessus l’épaule. Nous formerions ainsi la laideur. Les Italiens la façonnent grosse et massive; les Espagnols vidée et étrillée; et entre nous, l’un la fait blanche, l’autre brune; [...]144

Doch stünde der Mensch gewissermaßen all dieser Geschmacksvarianten entkleidet nackt vor uns, trete seine Unterlegenheit gegenüber den Tieren klar zutage: [...] Certes quand j’imagine l’homme tout nu (oui en ce sexe qui semble avoir plus de part à la beauté) ses tares, sa sujétion naturelle, et ses imperfections, je trouve que nous avons eu plus de raison que nul autre animal, de nous couvrir. Nous avons été excusables d’emprunter ceux que nature avait favorisé en cela plus que nous, pour nous parer de leur beauté, et nous cacher sous leur dépouille, de laine, plume, poil, soie. Remarquons au demeurant, que nous sommes le seul animal, duquel le défaut offense nos propres compagnons, et seuls qui avons à nous dérober en nos actions naturelles, de notre espèce.[...] Ce n’est pas tant pudeur, qu’art et prudence, qui rend nos dames si circonspectes, à nous refuser l’entrée de leurs cabinets, avant qu’elles soient peintes et parées pour la montre publique.145

Montaigne erweist sich in dieser Argumentation als frühneuzeitlicher Materialist, der der Naturschönheit gegenüber kulturellem Raffinement klar den Vorrang gibt, wie dies etwa auch in Oliva Sabucos Verkörperung des Schäfers anklingt. Wie Richard Sorabji meint, bereitet Montaigne damit das Sujet des noblen Wilden vor, das im folgenden Jahrhundert von Aufklärern wie Jean-Jacques Rousseau propagiert wird.146 Diese Denkbewegung entwickelt Montaigne aus einer Verschränkung der Naturgeschichte des Plinius mit dissidenten Positionen der Antike wie etwa Porphyrius und aktuellen Berichten und Anschauungsmaterial aus Übersee.147 Der skeptische Befund bezüglich der zeitgenössischen Zivilisation dürfte durch die Religionskriege grundiert sein, deren Folgen Montaigne

144 Montaigne: Apologie, S. 753–754. 145 Montaigne: Apologie, S. 755–756. 146 Sorabji: Animal, Minds, S. 205. 147 Montaigne beschäftigte sich während der Arbeit an seinem zweiten Band der Essais u. a. mit der Primera y segunda parte de la historia general de las Indias (1552) von Francisco López de Gómara, des Sekretärs von Hernán Cortés, dessen Darstellung seines Dienstgebers allerdings sehr unkritisch ausfiel, was etwa den genannten Bernal Díaz del Castillo zu einer Gegendarstellung motivierte.



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auch persönlich ausgesetzt war.148 Dementsprechend erweisen sich in seinem Text die Tiere auch in Hinblick auf ihre ethische Grundausstattung und auf ihre Affekte als die bessere Schöpfung, da deren Aggression immer existentiell motiviert und damit eine sinnvolle Reaktion auf Gefahr sei. Und schließlich verfügen sie oftmals über schärfere Sinne, die wie schon bei den anderen vorgestellten DenkerInnen die – laut Montaigne jedoch fehleranfällige – Basis von Kognition und auch von Sprachfähigkeit darstellen. Montaigne dekliniert sämtliche kanonisierte Parameter angeblich genuin menschlicher Sprache durch, wobei er sich im Wesentlichen auf Sextus Empiricus’ Pyrrhoniae hypotyposes stützt: Tiere artikulierten sich sehr wohl wie wir in kommunikativer Sprache, die wir bloß nicht entschlüsseln könnten, so, wie wir auch die Sprachvarianten anderer Nationen nicht verstünden: Ce défaut qui empèche la communication d’entre elles et nous, pourquoi n’est il aussi bien à nous qu’à elles ? C’est à deviner à qui est la faute de ne nous entendre point: car nous ne les entendons non plus qu’elles nous. Par cette même raison elles nous peuvent estimer bêtes, comme nous les estimons. Ce n’est pas grande merveille, si nous ne les entendons pas, aussi ne faisons-nous les Basques et les Troglodytes.149

Dass sie auch einer abstrakten Sprache fähig seien, veranschaulichen laut Montaigne Tiere, die unsere Laute nachahmen, dabei ein erstaunliches Gedächtnis bewiesen und im Übrigen äußerst lernfreudig seien.150 Außerdem sei auch die Sprache der Menschen nicht ausschließlich abstrakt und – wie es seit Aristoteles sprachphilosophischer Mainstream ist – konventionell, sondern auch verkörpert. So sei die menschliche Körpersprache ebenso aussagekräftig wie Worte und letztere ohne diese undenkbar. Auch hier durchdringt Montaignes Naturalismus seine Epistemologie, wodurch er trotz aller grundsätzlichen Skepsis sprachphilosophisch eher Realist ist. Die Apologie nimmt die Ideen der Textvorlage der Theologia naturalis des katalanischen Arztes und Philosophen Ramon Sibiuda (lat. Raimundus Sabundus, 1385–1436) 148 Bordeaux, die Heimatstadt Montaignes, war eines der vielumkämpften Zentren der Religionskriege, in die sowohl er selbst als auch sein Vater mehrfach vermittelnd eingreifen konnten. Dennoch landete Michel de Montaigne im Jahr 1588 sogar kurzzeitig in der Bastille, wurde jedoch nach Intervention von Katharina de Medici befreit. 149 Montaigne: Apologie, S. 711. 150 Neben den hier vorgestellten Autoren vertritt übrigens auch der dalmatinische Philosoph Francisco Patrizi eine ähnlich affirmative Position zur Tiersprache in Pampsychia, in Nova de universis philosophia (Venedig, 1593), fols. 57v–58r. Die Ideen zur Sprache der Tiere werden dann aber vor allem im 17. Jahrhundert weiter verfolgt von Autoren wie Marin Cureau de la Chambre in seinem Traité de la connaissance des animaux (1648) und Pierre Gassendi in «Syntagma philosophicum II» in Opera omnia, Lyon 1658.

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auf und entwickelt daraus eine skeptische Ethik.151 Vor allem die bei Montaigne immer nur relationale ‹Lesbarkeit der Welt›152 modelliert den im Ausgangstext auf einer Augustinischen Metapher gründenden ontologischen Gottesbeweis: Das «Buch der Natur» ermöglicht für Montaigne unterschiedliche assoziative Deutungen und keine endgültigen Wahrheitsschlüsse, ist aber rationalen Spekulationen dennoch überlegen. Als «neuzeitlicher Skeptiker» stützt sich Montaigne laut Markus Wild auf die «Tropen der Zurückhaltung», die im Wesentlichen aus Widerstreit, Relativität in Bezug zur dogmatischen Voraussetzung und dem Zirkelschluss bestünden.153 Wild widerspricht damit auch einer gängigen These, wonach Montaignes Nobilitierung der Tiere eigentlich Ausdruck eines Fideismus sei. Es handle sich vielmehr um eine prononciert skeptische Haltung des «Sola fide», nämlich ausschließlich da, wo es um die Offenbarung ginge.154 Ich finde es schade, dass Wild ebenso wenig wie die meisten Descartes-Forscher Gómez Pereiras Text analysiert hat. Er nimmt ihn nur aus zweiter Hand wahr und tradiert deshalb unhinterfragt die Meinung, Gómez Pereira habe als erster die These aufgestellt, dass Tiere Maschinen seien, wodurch Pereira in einer Linie mit Descartes stünde. Abgesehen davon, dass die Maschinenmetapher meiner Ansicht nach für nicht mathematisch fundierte Philosophien des 16. Jahrhundert verfehlt ist und schon gar nicht zu Pereiras magnetgleicher Disposition der Tiere passt, ist ein Vergleich der Argumentationsstrukturen zwischen Pereira und Montaigne aufschlussreich, und zwar vielleicht gerade da, wo Pereira seine skeptische Argumentation mit okkulten Eigenschaften still legt. Im folgenden Zitat scheint Montaigne zu offenbaren, was Pereira (noch) nicht denken bzw. sagen kann: Les proprietez que nous apellons occultes en plusieres choses, comme à l’aimant d’attirer le fer, n’est-il pas vray-semblable qu’il y a des facultez sensitives en nature, propres à les juger et à les appercevoir, et que le defaut de telles facultez nous apporte l’ignorance de la vraye essences de telles choses?155

Im Vergleich der beiden Denker fällt auf, dass beide in unterschiedlicher Text­ sorte  Schritt für Schritt Aporien aufzeigen, die scheinbar unhinterfragbare «Wahrheiten» als wissenschaftliche Fiktionen entlarven. Während Pereira – halbherzig, wie ich meine – zu einer nicht beweisbaren These Zuflucht nimmt,

151 Montaigne hatte den Text des langjährigen Rektors der Universität von Toulouse auf Wunsch seines Vaters in seinen Jugendjahren ins Französische übersetzt. 152 Ich wende hier einen berühmten Titel eines Textes des deutschen Philosophen Hans Blumenberg auf Montaignes Denken an, da ihm die gleiche Metapher zugrunde liegt. 153 Vgl. dazu Wild: Die anthropologische Differenz, S. 55–56. 154 Wild: Die anthropologische Differenz, S. 60. 155 Montaigne: Apologie, S. 590.



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übt sich Montaigne in der epoché, der Urteilsenthaltung.156 Bei aller Aufwertung der Tierwelt zielt Montaigne letztlich aber doch auf eine Ethik für die Spezies Mensch. Sein emphatischer Naturbegriff ist dabei das eigentlich innovative Element. Meiner Meinung nach zieht Montaigne als umfassend gebildeter Bürger eine Synthese aus aktuellen naturphilosophischen Akzentuierungen einerseits und den chaotischen politischen Umwälzungen andererseits, somit eines sich umfassend ändernden Weltbildes, um einer maßvollen Enthierarchisierung das Wort zu reden. Von einer societas zwischen Menschen und Tieren nimmt er allerdings weitgehend Abstand, Tiere verdienten aber einen «humanen» Umgang.157 Noch umfassender rehabilitiert Girolamo Fabrizio bzw. Fabrici bzw. Hieronymus Fabricius ab Aquapendente die Tiere in seiner Schrift De brutorum loquela (1603). Der italienische Arzt hatte sich vor allem als Promotor des anatomischen Theaters in Padua und als Entdecker der Venenklappen einen Namen gemacht. Seine Reflexion zur Sprachfähigkeit der Tiere setzt denn auch bei anatomischen Voraussetzungen an und argumentiert gleich zu Beginn in Anlehnung an Porphyrius die prinzipielle Affinität zwischen menschlicher und tierischer Artikulation: Dass allerdings Tiere passende Instrumente besitzen (scil.: um sich auszudrücken), dient als Argument. Ein anderer Grund (ist), wenn Tiere eine bedeutungstragende Stimme haben, dann hat ihre Sprache umso mehr Bedeutung, deren Grundstoff doch die Stimme ist [...] So wie Menschen durch die Sprache ihren Gemütszustand ausdrücken, so werden Tiere zuerst in ihrer Seele betroffen und denken nach, dann drücken sie sich in Stimme und Sprache aus.158

Zunächst stellt Fabrizio also die materielle Grundlage des Sprechens sicher, um dann in eklektischer Montage der Argumente von Porphyrius und Aristoteles das

156 Diese Strategie bezeichnet Kablitz: Montaignes ‹Skeptizismus› als «Kernstück» der Apologie (S. 506). Dass dieses Offenhalten von Aporien von Seiten Montaignes manchmal zu anachronistischen Lesarten einlädt, gleichzeitig aber tatsächlich auch in Bezug auf Geschlechterverhältnisse heterodoxe Positionen aufmacht, zeigt Birgit Wagner: Montaigne queer lesen – ein Versuch. In: Comparatio 9, 2017 (in Druck). 157 Vgl. dazu Sorabji: Animal, Minds,, S. 205, allerdings mit Referenz auf Montaignes Text zu menschlicher Grausamkeit. 158 Hieronymus Fabricius ab Aquapendente: De brutorum loquela, Trac. III. Padua: Laurentius Pasquatus 1603, S. 3; die kursiven Textteile geben Argumente von Porphyrios wieder. Im Folgenden werde ich den Autor in seiner italienischen Schreibweise, Girolamo Fabrizio, wiedergeben und daher entsprechend mit Fabrizio: De brutorum zitieren: [...] instrumenta tamen apta bruta obtinere, argumento est. Alia ratio, si bruta vocem habent siginficantem, multò magis eorum loquela siginificabit, cuius materia vox est [...]Ut homines per loquelam exprimunt animi affectum: sic bruta prius in anima afficiuntur, atque cogitant, mox voce, seu loquela exprimunt.

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Sprechen zuallererst an die sinnliche Qualität der Affekte zu koppeln. Diese ist wie gezeigt – bis auf die Ausnahme Gómez Pereiras – innerhalb der Naturphilosophie den Tieren weitgehend unbestritten. Im Anschluss diskutiert Fabrizio die semantische Qualität der Sprache und bezieht sich dabei auf Aristoteles: «Denn wenn nach der Meinung des Aristoteles die Sprache des Menschen aus Buchstaben besteht, dann spricht zweifellos allein der Mensch auf diese Weise, denn es besteht ja keine Tiersprache aus Buchstaben.»159 Die Frage ist also, ob Tiere in einer Buchstabensprache miteinander kommunizieren, bzw. etwas weiter gefasst, in einer Zeichensprache. In Weiterführung Aristotelischer Argumente konzediert er, dass die Laute der Vögel tatsächlich ähnlich der Flöte keine Buchstaben artikulierten. Diese Beweisführung ist uns ja schon bei Gómez Pereira begegnet. Doch Fabrizio löst den Widerspruch, der dessen Herabwürdigung tierischer Artikulation innewohnt, auf: Die Finger des Instrumentalisten übersetzen die Buchstaben gleichsam in eine andere Zeichensprache: Eine Flöte bringt ja ohne Bewegung der Finger bloß eine Stimme hervor. Mit Bewegung der Finger aber, und durch abwechselndes Öffnen und Schließen ihrer Löcher bringt sie eine strukturierte und artikulierte Stimme hervor, gewissermaßen eine Sprache [...] wenn du sie mit einem Menschen vergleichst, wird Aristoteles in Analogie sagen, dass eine Flöte spricht.160

Die tierische Artikulation entspricht laut Fabrizio in dieser Analogie jener der Flöte, da sie durchaus gegliedert sei, aber eben der physiologischen und anatomischen Ausstattung der jeweiligen Tiere folgend unterschiedlich. Die Valenz seines Analogieschlusses untermauert der Autor mit einem bekannten Beispiel: Was bei Montaigne die Trogloditen, sind bei Fabrizio etwa Perser, oder im Rückgriff auf die antike Referenzstelle, Hunnen: [...] uns aber erscheint sie ohne Buchstaben zu sein und unartikuliert, z. B. jene der Syrer oder jene der Hebräer oder jene der Perser, weil wir in ihr die Artikel oder die Buchstaben nicht unterscheiden und wahrnehmen können. Deshalb berichten die Geschichtswerke zu Attila, die Hunnenvölker hätten den Italern den Eindruck erweckt, nicht zu sprechen, sondern zu bellen, und genau auf diese Weise ist vielleicht jenen auch unsere Sprache

159 Fabrizio: De brutorum, S. 3: Nam si ex suppositis ab Aristotele loquela hominis ex literis constat; dubio proctil solus homo hoc modo loquetur: siquidem nulla brutorum loquela ex literis constat. 160 Fabrizio: De brutorum, S. 5: Fistula namq; absq; digitorum motu vocem tantummodo promit; cum digitorum verò motu foraminumq; alterna tum apertione tum occlusione interceptam atq; articulatam vocem, & quodammmodo loquelam profert. [...] Eam enim si homini conferas, per similitudinem fistulam loqui dicet Aristoteles.



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erschienen. Da ist es billig, dass uns die Sprache aller übrigen Lebewesen noch viel unartikulierter erscheint.161

Doch Fabrizio geht dann doch nicht soweit, das Bellen der Hunde als der menschlichen Artikulation ebenbürtig zu bezeichnen. Im folgenden Kapitel erläutert er die Unterschiede zwischen menschlicher und tierischer Sprache näher. Dabei präzisiert er, dass die tierische loquela ausschließlich natürlich sei, während «hominum verò partim naturalis partim ad placitum, & arte facta».162 Der erworbene bzw. kunstfertige Anteil menschlicher Sprache betrifft laut Fabrizio die Rhetorik (dictiones, & orationem),163 gewissermaßen also jenen Überschuss, der über die im engeren Sinn kommunikative Qualität von Sprache hinausgeht. Diese Definition menschlicher Ausdrucksfähigkeit weist durchaus Anklänge an postmoderne Positionen auf, denn die loquela arte facta hat keine reale Entsprechung, sondern ist ein Kompositum, das zwar auf den natürlichen Buchstaben beruhe, diese aber willkürlich und zu unendlichen Variationen kombiniere. Doch ähnlich wie Derrida leitet Fabrizio daraus keine prinzipielle Überlegenheit der Menschen ab. Vielmehr hätten Tiere sogar den Vorteil, dass ihre Sprache aufgrund ihrer ausschließlich natürlichen Basis universell sei. Tiere könnten sich deshalb ungeachtet ihrer individuellen Herkunft – ja sogar über die Gattungsgrenzen hinaus – mitteilen, während Italiener, Franzosen, Juden etc. sich untereinander nicht verständigen könnten. Demzufolge ist die Naturangepasstheit der jeweiligen Spezies ein Indikator für deren Sprachreichtum. Würmer oder Spinnen verfügen nur über wenig Sprache. Nach Diskussion der unterschiedlichsten Ambientes – Wasser, Luft und Erde – kommt der Autor zum Schluss, dass Vierbeiner eine größere Vielfalt an Sprache hätten, allen voran wiederum die Menschen. Das erklärt sich aus Fabrizios sensualistischer Psychologie: Zweck der Sprache ist es nämlich, die Affekte auszudrücken. Diese resultieren wie nicht anders zu erwarten aus unserer Sinneswahrnehmung: Deshalb scheinen Gemütszustände nichts anderes zu sein als eine Art von Ergebnis der  ­Sinneswahrnehmung bzw. Ergebnis, das auf eine Sinneswahrnehmung folgt, und diesem Ergebnis folgt hernach der Drang, etwas entweder zu genießen, oder es zu fliehen. Aus diesem Grund soll ein Gemütszustand definiert werden als das Begreifen bzw.

161 Fabrizio: De brutorum, S. 5–6: [...] nobis tamen illiterata & inarticulata esse videtur, verbi gratia Syriorum, aut Haebreorum, aut Persarum, quod articulos seu literas in ea non distinguamus, neq; animaduertamus. Vnde ferunt historia Attilae populos Humnos ab Italis non loqui, sed latrare visos esse, quemadmodum forte illis nostra nihilominus apparuerit: quo magis nobis caeterorum animalium inarticulatam apparere par est. 162 Fabrizio: De brutorum, S. 7. 163 Fabrizio: De brutorum, S. 7.

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­ rkennen einer Erscheinung im Lichte des Angenehmen und des Unangenehmen bzw. von E Gut und Schlecht, sodass man das eine davon anstrebt, das andere aber flieht.164

Auch Fabrizio reduziert somit Kognition auf die Verarbeitung von Sinneseindrücken, die – wie schon bei Telesio, Fracastoro, u. a. – je nach angenehmem oder unangenehmem Stimulus zu unterschiedlichen Wahrnehmungsinhalten verarbeitet werden. Menschen haben nun deshalb ein reichhaltigeres Repertoire an Affekten, weil die einzelnen Sinne gleich gut entwickelt sind, während bei manchen Tieren etwa der Tastsinn gegenüber anderen Sinnen dominiert. Es folgt eine differenzierte Darstellung der Bewegungen der Seele, die auf stoische Einflüsse verweist, denn die vier Primäraffekte lauten voluptas, cupiditas, molestia und metus. Der Anatom Girolamo Fabrizio reiht sich mit dieser – späten – naturalistischen Schrift unter jene Renaissance-AutorInnen, die eine strikt materialistische Neuerung der Naturphilosophie vorantreiben. Sein Vorgehen, zunächst die anatomischen Grundlagen des Sprechens durchzuargumentieren, um dieses unter völliger Ausblendung der Ratio letztlich als Affektausdruck zu definieren, besticht gleichermaßen durch Originalität und Radikalität. Dies verdeutlicht die Konfrontation mit einem französischen Text, dessen Produktionskontext vergleichbar ist: Wie Fabrizio ist der Autor von Des animaux et de l’excellence de l’homme ein berühmter Anatom, der erst in fortgeschrittenem Alter sein Wissen verschriftete. Ambroise Paré verhandelt durchaus ähnliche Probleme wie Girolamo Fabrizio: Neben einem Überblickswerk chirurgischer Eingriffe betrifft das vor allem die Embryologie und eben die Beschaffenheit der Tiere. Parallelen im Werk beider Autoren betreffen auch die Detailkenntnis und den Pragmatismus der chirurgischen Schriften. Vor allem Paré verfolgt dabei eher einen handlungsorientierten Ansatz, in den seine langjährige Erfahrung als Militärchirurg einfließt. Theoretisch bleibt er im Rahmen des zeitgenössischen Wissens, hier liegt sein Verdienst allenfalls darin, die Terminologie im Vernakular bereichert zu haben, da er sämtliche Texte in Französisch schreibt. Paré hatte nämlich nicht an einer Universität studiert und daher auch nie Latein oder Griechisch gelernt, sondern als Barbier die menschliche Anatomie durchaus «handgreiflich» in unmittelbarer Anschauung erforscht. Der unterschiedliche Bildungsweg hilft auch die textuellen Abweichungen erklären: Des animaux et

164 Fabrizio: De brutorum, S. 19: Vnde animae affectus nil aliud esse videtur quam sensationis quidam effectus vel effectus, sensationem consequens quem effectum postea consequitur appetitus aut fruendi, aut fugiendi. Quamobrem Affectus animae definietur esse, comprehensio seu cognitio phantasmatis sub ratione iucundi & molesti siue boni & maili, vt alterum assequatur alterum fugiat.



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de l’excellence de l’homme ist ein sehr lebendiger und fabulierender Text, der ein Hybrid zwischen Naturgeschichte, Fabel und Enzyklopädie darstellt. Paré stützt sich wie die meisten Tierbeschreibungen hauptsächlich auf Plinius’ Historia naturalis, dessen Beispiele er aber immer wieder einen empirischen Anstrich gibt, indem er durch räumliche und zeitliche Präzisierungen bzw. durch weitere Literaturverweise Beglaubigungsstrategien einführt, die den fabulösen Tonfall von Mirabilia-Literatur unterwandern. Insgesamt entwirft er ein Bild eines wohlgeordneten Kosmos von Tieren, die von der Natur optimal für ihre Lebensbedingungen ausgestattet sind. Die Schilderung ihrer Fertigkeiten und Tugenden ­kulminiert freilich in einer Ansammlung von Anthropomorphismen: Si nous voulons contempler leurs façons de faire, nous trouverons qu’elles sont doüées de certaines vertus naturelles en chacune affection, de courage, prudence, force, clemence, discipline. Elles se cognoissent les unes les autres, discernent entre elles, appetent les choses qui leur sont utiles, fuyent le mal, evitent le peril, pourvoyent à l’advenir, amassent ce que leur est necessaire, presagent le beau & mauvais temps: elles ont monstré pluseurs choses aux hommes, elles ont un sentiment exquis, elles chantent en musique, elles ont une industrie & amitié à la conservation de leurs petits, elles ont intelligence du pays où elles naissent, elles gardent une singuliere chasteté, concorde & amour les unes envers les autres [...]165

Wie das Zitat zeigt, knüpft Paré die Wesensbestimmung der Tiere ähnlich Fabrizio an die Affekte. Es folgen die unterschiedlichsten Tugenden einzelner Tiere, wobei er immer wieder emphatisch darauf verweist, dass diese ihrem Platz in einer natürlichen Ordnung geschuldet sind. Ähnlich wie bei Sabuco fällt auf, dass Tiere offenbar weniger fehleranfällig sind als Menschen, wenngleich auch sie von Sympathien und Antipathien gesteuert sind. Doch entscheidend bleibt ihre natürliche Determinierung, während Menschen laut Paré natürliche Mängelwesen sind, da sie nackt und wehrlos in die Welt gesetzt sind: Maintenant nous viendrons à deduire la grande excellence de l’homme, & que ce grand Dieu facteur de l’Vnivers est grandement à admirer, qui n’a point attribué à l’homme certaines commoditez, comme il a faict aux animaux, sçachant que la sapience luy pouuoit rendre ce que la condition de nature luy auoit denié. Car encores qu’il vienne nud sur terre, & sans aucunes armes [...] il est pour son grand profit & avantage, armé d’entendement, & vestu de raison, non par dehors, mais par dedans: a mis sa defence, non au corps, mais en l’esprit.166

Parés Parallelkosmos von Gott und Natur wirkt beinahe wie eine pantheistische Konzeption bzw. wie die ungleichen Schwesternaturen in Sabucos Physiologie, 165 Ambroise Paré: Des animaux et de l’excellence de l’homme. In: Les oeuvres de Ambroise Paré, Lyon: Pierre Rigaud 1575, S. 39. 166 Paré: Des animaux, S. 53.

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wobei der französische Chirurg die gottgegebene Kompensation des Menschen offenbar deutlich positiver fasst als in den zuvor analysierten Texten. Außer den Beteuerungen, dass Menschen den anderen Tieren überlegen seien, wird allerdings nicht restlos klar, worin der große Unterschied besteht. Denn nicht nur bilden Tiere perfekte Sozietäten aus, sie können auch sprechen, sie sind lernfähig und sie können ihre Affekte modellieren. Hier bahnt sich wie bereits bei Montaigne konstatiert ein aufklärerisches Naturverständnis an, in dem das Numinose, das wilden Tieren etwa in mittelalterlichen Texten anhaftet, marginalisiert wird. Dabei schreibt Ambrois Paré aber beinahe zeitgleich Des monstres et prodiges (1573), worin er sich eben jenen Störfällen innerhalb der natürlichen Ordnung widmet: Monstres sont choses qui apparoissent outre le cours de Nature (et sont le plus souvent signes de quelque malheur à advenir) [...] Prodiges, ce sont choses qui viennent du tout contre Nature, comme une femme qui enfantera un serpent, ou un chien, ou autre chose du tout contre Nature.167

In diesem komplementären Werk ist gewissermaßen «the darker side of the Renaissance»168 katalogisiert. Die darin konstatierte Unterscheidung zwischen außernatürlich und widernatürlich wird mich im nächsten Kapitel näher beschäftigen, das sich der genannten Leitmetapher folgend mit monströsen Formationen und magischen Praktiken auseinandersetzt. Signifikant ist jedenfalls, dass Paré das Monströse hier gleich zu Beginn des Preface mit der Frau in Verbindung bringt. Wie ich noch zeigen werde, bietet der Autor darin auch eine Klassifizierung der unterschiedlichsten außer- und widernatürlichen Phänomene an, die er dann allerdings nicht wirklich durchhält. Generell lässt sich aber konstatieren, dass das Widernatürliche meist einem wirklichen Fehlverhalten von Mann oder Frau,169 das Außernatürliche dagegen oft der weiblichen Imagination geschuldet ist.170

Zusammenschau der Ergebnisse In den von mir behandelten Werken geraten mit je unterschiedlichen Akzenten alle menschlichen Distinktionsmerkmale ins Wanken. Wie bereits ­mehrfach

167 Ambroise Paré (1573): Des monstres et prodiges, hg. von Jean Céard. Genf: Droz 1971, S. 3. 168 Begriff nach Walter Mignolo: The darker side of the Renaissance: literacy, territoriality, and colonization. Ann Arbor: University of Michigan Press 1995. 169 Vgl. dazu Paré: Monstres, Chap. IX, Exemple de la commixtion et meslange de semence, S. 62 ff. 170 Vgl. dazu Paré: Monstres, Chap. IX, Exemple des monstres qui se font par imagination, S. 35.



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dargestellt, verfolgen AutorInnen wie Telesio, Huarte, Sabuco und letztlich auch Pereira die Herauslösung naturwissenschaftlichen Forschens aus einem zunehmend rigorosen teleologisch-christlichen System, ohne jedoch auf ein einheitliches Lebensprinzip zu verzichten. Daraus resultiert unabwendbar eine Nähe zum Tier, welche die drei erstgenannten AutorInnen auch ohne weitere Einwände in Kauf zu nehmen scheinen. Gómez Pereira problematisiert diese Position und nimmt dabei eine sehr ambivalente Haltung ein: Einerseits zieht er sich auf eine seit der Antike tradierte Position der okkulten Eigenschaften zurück, die er allerdings als physikalisch erklärbare Phänomene fasst. Diese monistische Erklärung für so unterschiedliche tierische Eigenschaften wie willentliche Bewegung, Affektsteuerung und ein Bewusstsein für Zeitlichkeit wischt die vorher schrittweise entfaltete Argumentation jedoch allzu einfach vom Tisch. Denn gäbe es diese okkulten proprietates nicht, dann verfügten Tiere prinzipiell über die gleichen Vermögen wie Menschen: Rationalität, abstraktes Denken und die Kenntnis der eigenen Sterblichkeit. Sterblichkeit macht verwundbar und damit ist der argumentative Brückenschlag hin zu einem ethischen Diskurs schlüssig. Für mich liegt Pereiras Vorreiterrolle daher weniger in der etwas holzschnittartigen Behauptung eines Tier-Automatismus, sondern in der Thematisierung der Leidensfähigkeit, die sich meiner Ansicht nach vor dem Hintergrund der Diskurse um eine Ontologie der in der Neuen Welt lebenden Ethnien implizit anbietet. Diesen ethischen Zuschnitt der Argumentation akzentuiert Montaigne, der sinnliche, rationale und abstrakte Vermögen in Hinblick auf eine Vormachtstellung des Menschen in einen produktiven Diskurs des Zweifels bringt. Stärker als Telesio oder Pereira stimmt Montaigne auch einen Naturalismus an, den die beiden nachfolgend diskutierten «Handwerker» Fabrizio und Paré zuallererst im Blick haben. In deren Schriften wird dann auch deutlich, dass die Mängel und Makel der Natur dadurch neu konzeptualisiert werden müssen. Diese werden in Folge meist dem Weiblichen zugeschlagen, wobei die unterschiedlichsten – und teilweise eben überwundenen – diskursiven Kontexte neu montiert werden, um Evidenzen wie etwa die monströsen Ausgeburten weiblicher Phantasie zu schaffen.

Fantastischer Furor & tierische Trauer: Orlando Grenzwesen zwischen Mensch, Tier und Artefakt bevölkern auch die wundersame Welt des Renaissance-Epos Orlando Furioso,171 das deshalb eine passende 171 Einzelne Gedanken dieses Kapitels finden sich in Marlen Bidwell-Steiner: In Quest of Beauty: Gender Trouble in the Orlando Furioso. In: Berthold Hub/Sergius Kodera (Hg.): ­Iconology, Essays and Studies. Toronto: Centre for Reformation and Renaissance Studies 2017 (in Vorbereitung), das sich allerdings thematisch nicht der «Vertierung» des Orlando widmet, sondern den strukturellen und inhaltlichen Doppelungen im Text.

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fiktionale Passage zwischen beiden Kapiteln ermöglicht. Welche Phänomene der  longue durée lassen sich aus meinem bisherigen diachronen Vergleich ­ableiten? – Trotz unterschiedlichster wissenschaftlicher Kontextualisierung wird die anthropologische Differenz über die Jahrhunderte entlang der gleichen drei Paradigmen ­verhandelt: Ratio, Sprachmächtigkeit und Leidensfähigkeit. In der Frühen Neuzeit verdichten sich diese drei seelischen Vermögen zu einem Faszinationstyp:172 dem amor hereos.173 Es verwundert wenig, dass der Topos des Liebeswahns als veritable psychische Krankheit in allen vernakularen Literaturen des Mittelmeers fiktional verarbeitet wird, denn offenbar lässt sich darüber verhandeln und wohl auch vermitteln, was Menschsein bedeutet. Im folgenden zeige ich an einem der wirkmächtigsten Texte der Renaissance, wie der liebestolle Held par excellence, Orlando Furioso, in seinem Liebeswahn vermeintlich zum Tier regrediert und seine Affektsteuerung weit hinter jener von Parés brutes zurückbleibt. Das zwischen 1516 und 1532 von Ludovico Ariosto verfasste gleichnamige Renaissanceepos ist ein intertextuelles Gewebe unterschiedlichster Motive und Stoffe und fungiert seinerseits wie wenige andere Werke der abendländischen Kunst- und Kulturproduktion als Steinbruch für Themen, Motive und Stilfiguren. Ariostos Zeitgenosse Niccolò Machiavelli etwa konnte das 46 Gesänge mit insgesamt an die 46.000 Verse umfassende Hybrid von Heldendichtung und Romanze über weite Strecken angeblich auswendig. Dies beeindruckt nicht nur aufgrund der Länge des Werks, sondern auch angesichts der äußerst verwirrenden Plotlinien, die sich einer Zusammenfassung verweigern. Grob gesagt handelt es sich um drei Hauptmotive: die der Rolandsage entnommenen Kriegshandlungen zwischen Christen und Andersgläubigen, eine Genealoge der Familie der Este aus Ferrara, welcher der Mäzen des Autors angehört, und die Liebeshändel der fahrenden Männer – und Frauen. Ich werde mich in meinen Ausführungen auf das Liebesmotiv konzentrieren.174 Denn darauf basiert der Titel gebende Furor, der Wahnsinn des Protagonisten Orlando, der dramaturgisch ebenso gewagt wie gelungen, genau in der Mitte des Epos, also mit Strophe 23 einsetzt. Aber kurz zur Vorgeschichte:

172 Begriff nach Hugo Kuhn, den ich folgendem Text verdanke: Hans Ulrich Gumbrecht: Faszinationstyp Hagiographie. Ein historisches Experiment zur Gattungstheorie. In: Christoph C ­ ormeau (Hg.): Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Stuttgart 1979, S. 37–84, v. a. S. 46, worin Gumbrecht die Semantik erläutert. 173 Zur kulturhistorischen Bedeutung des Topos der Liebesmelancholie siehe Wack: Lovesickness sowie Wells: Secret Wound. 174 Die Frage der Textgattung und deren Implikationen von Gender behandle ich ausführlicher in Bidwell-Steiner: In Quest.



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Orlando gilt als tapferster und kultiviertester Paladin in der Gefolgschaft Kaiser Karls und ist damit für das Gelingen des Projekts der christlichen Reconquista unverzichtbar. Symbolisch lässt sich das an seiner magischen und unüberwindbaren Rüstung ablesen: Sein Schwert Duridana und sein Pferd Brigliadoro gelten als unbesiegbar und so konnte Orlando sich zunächst in einem Beutezug im Orient den kostbarsten Anteil sichern: die indische Prinzessin Angelica. Angelica ist blond und wunderschön, da sie exakt dem petrarkistischen Ästhetikmodell entspricht. Vor allem aber – und darin liegt ihr eigentlicher Wert – ist sie Jungfrau. Auf sie richtet sich denn auch das Begehren der Ritter in beiden Lagern, denn Angelica besetzt damit das kollektive Phantasma der Reinheit, das in Ariostos fiktionaler Ritterwelt antithetisch das blutige Kriegsgeschäft in Schach hält. Albert Ascoli bezeichnet diese Konstellation etwa als […] key thematic configuration in which the ideally unpenetrated state of the chaste female body, that is, virginity, is paired off with an idealized projection of the impenetrable male body in the form of armour.175

Ein Wettstreit um dieses erlesene Beutegut bringt auch Orlandos weiteres Schicksal in Gang: Orlando und sein Vetter Rinaldo kämpfen um Angelica, woraufhin der Kaiser diese an den Grafen von Bayern verfügt, um seine beiden wertvoll­ sten Vasallen zu befrieden. Angelica gelingt es, dem Grafen zu entfliehen und sie streift daraufhin zwischen den Kriegslinien hin und her. Die hypertrophe Betonung ihrer Jungfräulichkeit wird angesichts ihrer Rastlosigkeit, die eher an eine Magetenderin im Stile der Mutter Courage als an die personifizierte Unschuld erinnert, zu einer ironischen Finte des Textes, wie auch der Erzähler gleich zu Beginn andeutet: «Forse era ver, ma non però credibile / a chi del senso suo fosse signore; / ma parve facilmente a lui possibile, / ch’era perduto in via più grave errore.»176

Traum und Wahn Orlando wird zunächst von diversen Kriegspflichten abgelenkt, bevor ein Traum in canto VIII seinen späteren amor hereos, den Liebeswahn, antizipiert. Von  Angelicas Traumbilde gerührt, wacht der Held in Tränen auf, verlässt das 175 Albert R. Ascoli: Like a Virgin. Male Fantasies of the Body in Orlando Furioso. In: Julia L. Hairston/ Walter Stephens (Hg.): The Body in Early Modern Italy. Baltimore: The Johns Hopkins University Press 2010, S. 142–158, hier: S. 143. 176 Ludovico Ariosto (1516–1532): Orlando Furioso, hg. von Edoardo Sanguineti/Marcello Turchi. Mailand: Garzanti 1964, 2 Bände, Canto I, 56, S. 19.

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Kriegslager und macht sich auf die Suche nach seinem blonden Engel. Als Prolepse seiner späteren Liebesmelancholie verzichtet er dabei auf seine Heldenrüstung und hüllt sich in einen dunklen heidnischen Harnisch. Er verliert Angelicas Spur, während jene sich ihrem ätherischen Wesen entsprechend und mithilfe eines magischen Rings den unterschiedlichsten und äußerst gewaltsamen Annäherungsversuchen diverser Ritter erfolgreich entzieht, um sich dann aber ihrerseits in canto XX zu verlieben. Ausgerechnet als sie beschließt, auf eigene Faust in ihre Heimat zurückzukehren, stolpert sie über den verletzten Medoro. Als indische Aristokratin ist sie in Kräuterheilkunde versiert und so pflegt sie den sarazenischen Ritter in der Hütte eines Schäfers gesund. Während sie seine Wunden heilt, wird sie aber selbst von der Wunde des amor hereos befallen. In diesem Penetrationsepos, in dem meist gepanzerte Ritter wehrlosen Jungfrauen antithetisch gegenüberstehen, stellt die Inszenierung der einzig erfüllten Liebesbeziehung eine chiastische Verkehrung dar: der männliche Part, Medoro, ist blond, schön und seinerseits wehrlos, da verwundet. Ausgerechnet dem Blick dieses androgynen Jünglings gelingt es, die Seele der bis dahin ungerührten Angelica zu penetrieren, wie der Text in Anspielung an eine wirkmächtige Referenzstelle für Liebesmagie ausführt: De Amore von Marsilio Ficino. Doch Ficinos Mythos des Narcissus bleibt selbstreferentiell,177 während Angelicas Liebeswunde durch Gegenliebe geheilt wird: «The play of words, wounds and gazes between the two lovers […] suggests a reciprocal, back-and-forth exchange of the subject and object position in desire.»178 Die Subversion ritterlicher Liebesökonomie mit einem verwundeten Mann und einer begehrenden Frau erfüllt sich auf allen Ebenen: Während der Rekonvaleszenz des Sarazenen Medoro in einem klassischen locus amoenus, der Herberge des Schäfers, genießen die beiden einander sinnlich, und sie erhöhen ihre körperliche Liebe, indem sie diese zu arabischen Versen verdichten, wie uns der auktoriale Erzähler in eindeutigen und äußerst derben Anspielungen wissen lässt: Angelica e Medor con cento nodi legati insieme, e in cento lochi vede. Quante lettere son, tanti son chiodi coi quali Amore il cor gli punge e fiede.

177 Ficino: De amore 6.17, S. 286: «Narcissus quidem adolescens, id est, temerarii / et imperiti hominis animus. Sui vultum non aspicit, propriam sui substantiam et virtutem nequaquam animadvertit. Sed eius umbram in aqua prosequitur et amplecti conatur, id es, pulchritudinem in fragili corpore et instar aque fluenti, que ipsius animi umbra est, ammiratur.» (Marcel 1956: 234–235). 178 Deanna Shemek: Ladies Errant: Wayward Women and Social Order in Early Modern Italy, London: Duke University Press 1998, S. 71.



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Va col pensier cercando in mille modi non creder quel ch’al suo dispetto crede: ch’altra Angelica sia creder si sforza, ch’abbia scritto il suo nome in quella scorza.179

Die hier symbolisch auf mehreren Ebenen ins Bild gesetzte Penetration ‹verwundet› denn auch Orlando. In der vergeblichen Suche nach seinem blonden Engel beschließt er, zu seinem Kriegsherrn zurückzukehren. Der Rückweg lässt ihn ausgerechnet an jener idyllischen Quelle innehalten, an der Angelica und Medoro die Bäume zu Zeichenträgern ihrer Liebe gemacht hatten: in sämtliche Rinden sind ihre Verse geschnitzt. Orlandos graduelles Abgleiten in den Liebeswahn korrespondiert mit der Vergeblichkeit seiner intellektuellen Kompetenzen, die innerhalb des vormodernen Interpretationshorizonts eines mehrfachen Schriftsinns aufgeboten werden. Als er das erste «Baumgraffiti» entdeckt, verweigert sich Orlando dem literalen Sinn und beschwichtigt sich damit, es könne nicht ‹seine› Angelica geschnitten haben, obwohl er doch deren kalligraphischen Eigenheiten bestens kennt, wie uns der Erzähler versichert. Die weitere Evidenz rationalisiert er dahingehend, dass Medoro nur eine Chiffre für ihn selber, Orlando, darstelle, ob zwecks erotischer Finesse oder um seinen Ruf nicht zu gefährden, bleibt unentschieden. Angesichts der von Medoro verfassten arabischen Liebesverse auf einer Höhlenwand, die Orlando problemlos entschlüsselt, wodurch selbst in diesem prekären Zustand seine Sprachkompetenz und Gelehrsamkeit noch ostentativ zur Schau gestellt werden, versagt allerdings seine hermeneutische Lesart. Dass der feindliche Ritter im Inneren der Höhle der tatsächlich stattgefundenen Penetration – wie wir gleich erfahren werden – Zeichen setzt, übersteigt nun aber die Selbstkontrolle des christlichen Helden: Drei-, ja viermal wiederholt er die Lektüre, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Sein Unvermögen, das Wahrgenommene in eine verkraftbare rationale Erklärung zu verarbeiten, führt zur ersten massiven physiologischen Krise: Tre volte e quattro e sei lesse lo scritto quello infelice, e pur cercando invano che non vi fosse quel che v’era scritto; e sempre lo vedea più chiaro e piano: et ogni volta in mezzo il petto afflitto stringersi il cor sentia con fredda mano. Rimase al fin con gli occhi e con la mente fissi nel sasso, al sasso indifferente.

179 Ariosto: Orlando Furioso, Canto XXIII, 103, S. 782.

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[…] L’impetuosa doglia entro rimase, che volea tutta uscir con troppa fretta. Così veggiàn restar l’acqua nel vase, che largo il ventre e la bocca abbia stretta; che nel voltar che si fa in su la base, l’umor che vorria uscir, tanto s’affretta, e ne l’angusta via tanto s’intrica, ch’a goccia a goccia fuore esce a fatica.180

Orlandos partielle Einsicht, oder anders ausgedrückt – das Einbrechen des Realen  – zeitigt gewissermaßen einen humoralen Stau ähnlich der Antiperistasis,181 wie er etwa auch in der frühneuzeitlichen Ätiologie von Schlaganfällen  beschrieben wird. Insgesamt steht Orlandos somatische Reaktion mit der  frühneuzeitlichen medizinischen Passionsdoktrin ebenso in Einklang wie mit neuplatonischer L ­ iebesphilosophie, die Marsilio Ficino in De Amore ­vermittelt.

Eifersucht als physiologischer Schock Seine Suche nach einer vernünftigen und affektmodellierenden Erklärung für das Wahrgenommene bzw. sein Bemühen um Sublimierung misslingt. Mit dem Versagen der Ratio rutscht die Lebensenergie, der spiritus, des Orlando gewissermaßen vom Hirn ins Herz, dem Sitz der Gefühle in den klassischen Körpertheorien. Bei unliebsamen und hassenswerten Affekten zieht sich das Herz zusammen, und da im vorliegenden Fall der Affekt besonders stark ist, bedrängt das die in diesem Zustand korrumpierten spiritus derart, dass sie ihre natürlichen Ableitkanäle verstopfen und nicht mehr austreten können. Dieser inwändige Überdruck mündet in Paralyse: Augen und Geist sind – so heißt es – erstarrt. Eine immer noch recht nachvollziehbare Beschreibung einer Schocksituation! Doch noch einmal taucht Orlando aus seiner Erstarrung, indem er eine letzte autosuggestive Zuflucht findet: Die Liebesverse seien nur fingiert worden, um ihn, Orlando, in die Eifersucht zu treiben und so als Krieger zu schwächen!

180 Ariosto: Orlando Furioso, Canto XXIII, 111 und 113, S. 784–785. 181 Der Begriff ist eine Wortschöpfung des Aristoteles, die laut Martin Mulsow etwa mit Gegenumständlichkeit übersetzt werden könnte. Es geht dabei um unerklärliche physikalische ­Phänomene wie etwa die angebliche Tatsache, dass sich Wärme bei umgebender Kälte zusammenziehen und dadurch nur noch konzentrierter wirken würde. Vgl. dazu Mulsow: Frühneuzeitliche Selbserhaltung, S. 47 ff.



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Hier haben wir es mit einer rhetorischen Lesart des Affekts zu tun: Sämtliche raffinierten Stilelemente des arabischen Gedichtes zielten demnach nur darauf, im exklusiven Leser Orlando eine ganz bestimmte Passion hervorzurufen! Dieser Selbstbetrug – der Text spricht ausdrücklich von fraude – beruhigt Orlando vorübergehend, er steigt auf sein Pferd und reitet zur nächstgelegenen Herberge, um dort die Nacht zu verbringen und sich zu erholen. Aufmerksame LeserInnen ahnen es: Bei seinem Refugium handelt es sich um das ehemalige Liebesnest von Angelica und Medoro. Überall sieht er denn auch Zeichen von deren Liebe, fragt aber bewusst nicht nach und hüllt sich in Nebel, so das poetische Bild für die Verdrängung der allgegenwärtigen Evidenz. Doch der wohlwollende Schäfer nutzt seine Zeugenschaft an der wundersamen Liebesgeschichte vermeintlich dafür, seinen sichtlich mitgenommenen neuen Gast aufzuheitern und offenbart Orlando, was dieser vergeblich zu verdrängen versucht. Als er ihm auch noch einen Armreif zeigt, den Angelica als Zeichen ihrer Dankbarkeit hinterlassen hat, steigt in Orlando eine blinde Wut auf. Unter Aufbringung letzter Selbstbeherrschung verlässt er die Herberge und zieht sich in den Wald zurück. Dort regrediert er in der ontologischen Hierarchie vom strahlenden Helden zum Tier. Wieder wird die medizinische Symptomatik der Liebesmelancholie nahezu pedantisch durchdekliniert.182 Allerdings – und darin bricht die naturphilosophisch-medizinische Argumentation – diagnostiziert diese Melancholie nicht der sonst omnipräsente Erzähler, sondern Orlando selbst. Orlando konstatiert: - Queste non son più lacrime, che fuore stillo dagli occhi con sì larga vena. Non suppliron le lacrime al dolore: finîr, ch’a mezzo era il dolore a pena. Dal fuoco spinto ora il vitale umore fugge per quella via ch’agli occhi mena; et è quel che si versa, e trarrà insieme e ’l dolore e la vita all’ore estreme. Questi ch’indizio fan del mio tormento, sospir non sono, né i sospir son tali. Quelli han triegua talora; io mai non sento che ’l petto mio men la sua pena esali. Amor che m’arde il cor, fa questo vento,

182 Für die naturphilosophische Symptomatik der Liebeskrankheit siehe Nancy G. Siraisi: History, Medicine, and the Traditions of Renaissance Learning. Michigan: University Press 2007; Daniel P. Walker: The Astral Body in Renaissance Medicine. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 21/1958, S. 119–133.

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mentre dibatte intorno al fuoco l’ali. Amor, con che miracolo lo fai, che ’n fuoco il tenghi, e nol consumi mai?183

Und die Umkehrung neuplatonischer Seelenlehre kulminiert in Orlandos letzten Worten, bevor er endgültig zum unartikulierten Tier wird: Non son, non sono io quel che paio in viso: quel ch’era Orlando è morto et è sotterra; la sua donna ingratissima l’ha ucciso: sì, mancando di fé, gli ha fatto guerra. Io son lo spirto suo da lui diviso, ch’in questo inferno tormentandosi erra, acciò con l’ombra sia, che sola avanza, esempio a chi in Amor pone speranza.184

Neben dem Gesicht, der Persona, ist mit viso der Sehsinn angesprochen, der hierarchisch wichtigste Sinn, über den die Sinneseindrücke einfallen und den Transmitterstoff der Seele, den spiritus, affizieren. Soweit ist Orlandos Selbstdiagnose im Einklang mit frühneuzeitlicher Naturphilosophie. Doch es folgt ein gravierender Bruch: denn wenn unmittelbar nach Ausbuchstabierung der medizinischen Passionslehre spirto statt als Seelenvehikel als ein in der Immanenz irrender Schatten erscheint, während die eigentliche Substanz des Orlando unter der Erde ist, wird die medizinische Doktrin ironisiert. Im neuplatonischen Melancholiediskurs könnten wir nun annehmen, dass der Schatten auf der Erde irrt, während die edleren Seelenanteile des Orlando in göttlicher Kontemplation in höheren Sphären weilen. Tatsächlich aber erfahren wir etwas später, dass Orlandos Geist auf dem Mond lagert. Dort befinden sich alle ideellen Dinge, die auf der Erde abhanden kommen: Vergessene Gedanken, gebrochene Liebesschwüre, aufgegebene Ideale, kurz: Hirngespinste. Der Mond als Altwarendepot subvertiert und persifliert die neuplatonische Ideenlehre ebenso wie die christliche Heilslehre, denn die zum Himmel gefahrenen Seelen sind in Flaschen auf dem Mond aufgehäuft, sie erfahren dort jedoch keinerlei Läuterung oder Verfeinerung.185 In Folge wird Orlando auf Erden für einen Schatten höchst effekt- und kraftvolle Gewalttaten vollbringen. Damit entspricht er wieder dem Extrembild des 183 Ariosto: Orlando Furioso, Canto XXIII, 125 und 127, S. 789–790. 184 Ariosto: Orlando Furioso, Canto XXIII, 128, S. 790. 185 Zur neuplatonischen Seelen- bzw. Ideenlehre und deren Aufstieg in der Stufenleiter des Seins siehe Michael J.B. Allen: At Variance: Marsilio Ficino, Platonism and Heresy. In: Douglas Hedley/Sarah Hutton (Hg.): Platonism at the Origins of Modernity: Studies on Platonism and Early Modern Philosophy. Dordrecht: Springer 2008, S. 31–45.



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frühneuzeitlichen Melancholikers, der lupinositas,186 dem Treiben eines wilden Wolfes. Er ist reduziert auf seine Primärtriebe; bleibt ihm die unmittelbare Triebbefriedigung versagt, so schlägt er zu. Nur einmal mischt sich in seine Primärtriebe noch so etwas wie menschliches Begehren: Am Strand von ­Barcelona begegnet er Angelica, etwas in ihm erkennt und er stellt ihr nach. Sie reitet davon, fällt dabei aber vom Pferd und rettet sich im letzten Augenblick, indem sie mithilfe des magischen Ringes unsichtbar wird. Orlando fängt das Pferd ein. Drastisch schildert der Erzähler, wie Orlando Angelicas Pferd schändet und anschließend darauf rastlos durch die Gegend reitet. Als das Tier wegen Hungers verendet, nimmt er es auf seine Schultern und schleppt es tagelang mit sich.187 Diese verschobene und verzerrte Trauerarbeit ist ein starkes und ergreifendes Bild. Sie lädt eine psychoanalytische Lesart ein, zumal Orlandos Ausnahmezustand ja auch mit einem Traum seinen Ausgang nimmt. Tatsächlich schlägt Marion Wells die Interpretation vor, Orlandos amor hereos weise alle Züge einer melancholischen Störung im Sinne der Psychoanalyse auf: Es handle sich um die Unfähigkeit, den Verlust des Liebesobjekts anzuerkennen, wie es etwa Julia Kristeva als konstitutiv für die Melancholie postuliert. Statt sich Verlassenheit und Trauer einzugestehen, werde das geliebte Objekt einverleibt: My argument thus far has suggested that romance as a mode is organized around an antielegiac refusal to acknowledge the loss of a beloved object and a subsequent internalization (incorporation) of the object within a powerful, but occluded, phantasmic world. Epic, by contrast, develops its closural strategies around the elaborate ritual acknowledgment of loss.188

Vieles an dieser Theorie ist überzeugend und anregend. Ich möchte aber auch Einwände und vor allem wichtige Ergänzungen anbringen: Objektiv betrachtet ist das Treiben des Schatten Orlandos nicht so einfach von dem des Helden Orlando zu unterscheiden. Beide devastieren brandschanzend und mordend die idyllischen Landstriche. Orlando der Held handelt für eine vermeintlich höhere Sache, aber sein König hat ihn betrogen, indem er ihm Angelica wegnahm. Freilich, und das ist mein zweiter Einwand, hatte Orlando auch nie eine lebendige Beziehung zu Angelica. Vielmehr war Angelica ein Fetisch, der die Dynamik des sinnentleerten Kriegstreibens aufrecht erhielt und diesem eine subvertierte transzendente Note verlieh. In der psychoanalytischen Theorie verschleiert ein Fetisch Differenz 186 Zu diesem Motiv im Orlando vgl. Marina Beer: Lupinositas. In: Diess.: Romanzi di cavalleria. Il ‹Furioso› e il romanzo del primo cinquecento. Roma: Bulzoni 1987, S. 83–108. 187 Ariosto: Orlando Furioso, Canto XXIX, 69–72, S. 1016–1018. 188 Wells: Secret Wound, S.127.

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und wehrt die Kastration ab.189 Tatsächlich erleidet Orlando aber eine Kastration, da ihm sein König Angelica wegnimmt. Mit dem Verlust des Fetischs, der unleugbaren Kastration, verliert Orlando auch sein Über-Ich bzw. ikonografisch seine Panzerung und damit seine Wertehaltung. Was Orlando also gewissermaßen abhanden kam, ist sein Phantasma. Die semantische Breite des Begriffs phantasma hilft auch, die eigenwilligen Adaptierungen in Bezug auf frühneuzeitliche Naturphilosophie zu fassen. Im Aristotelischen Sinn ist phantasma ein terminus technicus für das Abbild eines über den Sehsinn vermittelten Objekts im Gehirn des Sehenden. Dabei gehen vom Objekt gewissermaßen Strahlen aus, die über das pneuma bzw. den spiritus des Subjekts an das Gehirn weitergeleitet werden. Es besteht aber eine zwingende Verbindung zwischen dem tatsächlichen Objekt und der Wahrnehmung des Objektes im Sinne von Ursache und Wirkung.

Engelsgleiches Phantasma Inzwischen bezeichnet Phantasma vielmehr ein Trugbild bzw. einen Signifikanten ohne Signifikat. Und wirklich entspricht Orlandos Liebe zu Angelica eher einer Fixierung auf überkommene Ideale der Liebesminne, zielt nicht auf eine vitale Verbindung und bleibt letztlich selbstreferentiell. In diesem Sinne agiert der wahnsinnige Orlando in der Szene mit Angelicas Pferd wesentlich lebendiger und authentischer als die Persona Orlando, in seiner Triebbefriedigung ebenso wie in seiner verzögerten und verschobenen Trauerarbeit. Als Orlando das Phantasma seiner Angelica nicht mehr aufrechterhalten kann, bricht auch seine Identität als vorbildlicher Krieger ein und sein Tun bleibt ohne den symbolischen Überbau der milites christi das, was es ist: beliebiges Töten. Daher ist es nur folgerichtig, dass Orlandos Weltbild zunächst durch Schriftzeichen, also auf der symbolischen Ebene, zum Einsturz kommt. Wird hier im Rahmen des frühneuzeitlichen Streites um die Bedeutungsmacht von Bild versus Schrift klar die Dichtung favorisiert, so betont Ariostos auktorialer Erzähler im Text wiederholt den fiktionalen Charakter jeder schriftlichen Überlieferung, wodurch die kollektiv identitätsstiftende Gattung des Epos gewissermaßen als Geschichtsklitterung gelesen werden kann. Vielleicht bedarf es daher in der

189 Zur Fetischtheorie der Psychoanalyse siehe Sigmund Freud (1927): Fetischismus.In: Gesammelte Werke, Bd. XIV. Frankfurt/Main: Fischer 1987, S. 309–317; Jean-Bertrand Pontalis: Objets du fétichisme. Paris: Gallimard 1970.



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Schlüsselszene auch eines Augenzeugen, des Schäfers, der die Schriftzeichen durch seine Narration stützt, was den in Platons Phaidros Sokrates in den Mund gelegten Vorrang der oralen gegenüber der geschriebenen Rede anklingen lässt. Wenn ich meine psychoanalytische Lesart mit Lacan weiterführe, verliert Orlando mit dem Fetisch Angelica seinen Zugang zum Phallus, zum Metasignifikanten, da er seine Kastration nicht weiter leugnen kann. So ist er in Folge überhaupt unfähig zu signifizieren. Seine Umwandlung in ein wildes Tier ist denn auch als Entäußerung des Symbolischen in Szene gesetzt: Nachdem er die Sprache verliert, entledigt er sich seiner identitätsstiftenden Rüstung und seiner Kleider, seiner Persona also, und reißt nackt die phallischen Bäume aus, die jene unheilvollen Schriftzeichen tragen.190 Dabei bleibt das Wilde als Kehrseite greifbar, wie sie etwa Robert Folger für Diego de San Pedros Cárcel de amor herausgearbeitet hat: Während der Wilde Mann als Anderer das männliche Subjekt durch Inklusion stabilisiert, markiert er als Double die Gefahr der Entmenschlichung und der Desintegration des Subjekts.191

Ariosto führt in Orlandos Liebeswahn medizinische und neuplatonische Liebessemantiken eng, um letztlich beide Sinnhorizonte ins Leere laufen zu lassen. Wie er in seinem poetischen Programm auf Kontaminierung setzt, indem er etwa die Genres von Epos und Romanze mischt und überhaupt sämtliche Ein- und Reinheitsgebote der Aristotelischen Poetik außer Kraft setzt, so bietet er auch keine befriedigende Auflösung des Liebeswahns an: The Furioso is not a work of restoration but of simultaneity and inclusion, a varia tela that «shows» more than it «tells», and for that reason is both hospitable to «iconographic» examination and inimical to the exegete.192

Begehren ist der Kennfaden im Gewebe des Textes, der seine vermeintliche Historizität bzw. Historisierung ständig wieder unterläuft. Denn sämtliche Figuren des Orlando Furioso sind letztlich Getriebene auf der Suche nach irgendeinem Objekt ihrer Begierde; Glück und Scheitern sind dabei sehr ephimere Indikatoren von

190 Ariosto: Orlando Furioso, Canto XXIII, 134–135, S. 792–793. 191 Robert Folger: Bestialische Leidenschaft und ‹Anthropologische Maschine›: Cárcel de Amor, Grimalte y Gradissa und Grisel y Mirabella. In: Claudia Leitner/Christopher Laferl (Hg.): Über die Grenzen des natürlichen Lebens: Inszenierungsformen des Mensch-Tier-Maschine-Verhältnisses in der Iberoromania. Wien: LIT-Verl. 2009, S. 25–43, hier: S. 26. 192 Marianne Shapiro: From Atlas to Atlante. In: Comparative Literature 35/1983, S. 323–350, hier: 331.

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Macht- und Ohnmachtsverhältnissen, sie integrieren aber die Liebessemantik in Körperpolitiken. Im Orlando Furioso finden wir alle drei dafür relevanten Wissensformationen: Medizin bzw. Naturphilosophie, Rhetorik und Ethik. In Bezug auf die naturphilosophische Doktrin wird die Trennung von Kognition und Emotion ad absurdum geführt: Als Orlando seinen Geist am Ende wieder erlangt, ist er nicht weiser als zuvor und auch sein – wieder rationales – Handeln nicht weniger fehleranfällig. Die rhetorische Bewältigung der psychophysiologischen Krise, im Text als wiederholte Autosuggestion markiert, treibt den Verstand aus. Für die gepanzerten Kampfmaschinen scheinen Affekte immer nur Antriebe am Kriegsschauplatz zu sein. Letztlich legt Ariosto damit den Finger auf die offene Wunde der Melancholie, indem er die ethisch-politische Unangemessenheit der Kriegerwelt problematisiert: Wie sie paradiesische Landstriche devastieren, so jagen die heiligen Krieger dem Fetisch der Jungfräulichkeit nach, nur um auch diese zu penetrieren oder um sie, wie im Fall von Orlando, als Schild vor sich herzutragen. Dafür verrät der König seinen ersten Vasallen aber dann auch. Die psychophysiologische Dysbalance repräsentiert die politische, von der sie ausgeht. Meine These lautet also, dass der Orlando Furioso u. a. im Scheitern performativ ausagiert, was zeitgenössische – holistische – Körpertheorien beanspruchen: Eine Dynamik, in der Interaktionen sowohl aktiv als auch passiv sind. Eine Dynamik, die ohne politischen Kontext nicht in Gang kommen kann. Eine Dynamik, die gerade, da die individuelle Befindlichkeit immer auch eine öffentliche Äußerung darstellt, sprachlich vermittelt ist. Die in den Versen ausführlich inszenierte innerkörperliche Dynamik folgt weniger der neuplatonischen Philosophie Marsilio Ficinos als der materialistischen Strömung, der meine naturphilosophischen Quellentexte angehören. Ariostos Material dürfte dabei vor allem dem Werk des zeitgenössischen Arztes und Naturphilosophen Girolamo Fracastoro angelehnt sein, der einer der namentlich genannten persönlichen Freunde ist, zu denen der Ich-Erzähler am Ende des Epos aus den atemberaubenden fiktionalen Welten zurückkehrt. Eine Möglichkeit, wie aus heftigen Emotionen ein ganzheitlicher Kontakt erwächst, führt der Text am Beispiel von Angelica vor, gewissermaßen avant la lettre entlang der intersektionalen Achsen von race, class und gender: Angelica ist Inderin, Medoro Sarazene, damit unterliegen sie beide nicht der Logik der christlichen Liebessemantik. Angelica ist zunächst der aktive Part der Beziehung, diese Gendertransgression wird dadurch ausgeglichen, dass Medoro im Gegensatz zu ihr von bescheidener Herkunft ist. Mit dieser ausgewogenen Liebesökonomie verliert sich aber auch ihre textuelle Spur. Der Preis erfüllten Begehrens ist die Geschichtslosigkeit.



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Während Orlando sich entblößen muss, um als wildes Tier seine Triebe und Gefühle auszuleben, kommt auch sein «höheres Selbst» nicht ohne animalische Attribute aus: Seine heldenhafte Identität verdankt er nämlich vor allem seinem Pferd Brigliadoro und seinem ledernen Harnisch, die beide beinahe magische Qualitäten haben. Auch die anderen Helden – etwa Ruggiero, der Stammvater der Este und über lange Strecken des Epos der Gegenspieler des Orlando  – sind beinahe ausschließlich über ihre magischen und zugleich animalischen ­Rüstungen und Reittiere charakterisiert. Und selbst die wirklichen Magier im Text untermauern ihre Manipulationen mithilfe fabelhafter Tiere, wie etwa Atlantes Hyppogryph, ein Zwitterwesen zwischen Greif und Pferd, das die unterschiedlichsten Abenteuer des zweiten Protagonisten Ruggiero begleitet. Diese Emphase auf der Maske ließe sich nun mit Jacques Lacan weiter psychoanalytisch lesen. Doch wie Birgit Wagner kritisch anmerkt, handelt es sich bei der Psychoanalyse um eine «historisch überdeutlich situierte Theorie»,193 weshalb schon meine bisher vorgeschlagene Interpretation der Metamorphose des Orlando etwas anachronistisch wirkt. Auch Stephen Greenblatt artikuliert Bedenken in der Anwendung Freudscher Paradigmen auf Renaissance-Texte und meint, «psychoanalysis is, in more than one sense, the end of the Renaissance».194 Und spätestens die Auflösung von Orlandos «Drama» zeigt auch die Grenzen psychoanalytischer Lesart auf: Orlando wird wie bereits dargestellt durch die Intervention seiner Kameraden wieder in seine vorangegangene Persona zurückverwandelt, ohne dass die zwischenzeitliche Vertierung irgendwelche Spuren in seiner Identität hinterlassen hätte. Aber gerade diese prononcierte Zurschaustellung der heldenhaften Maske als gemeinschaftlich ins Recht gesetzte Persona, der auf Äußerlichkeiten basierenden Identität, die laut Greenblatt ganz wesentlich mit einem neuen Interesse an Besitzständen korreliert, verdeutlicht die Austauschbarkeit von Identität und Rolle, die den Verlust des «Eigenen» überhaupt erst artikulierbar macht.195 Insofern ist der Orlando Furioso eine Figur, die sich wie andere Meisternarrative, die Sigmund Freud ja auch vielfach in der Renaissance aufspürt, als Begründungsmythos der Psychoanalyse eignet. Gleichzeitigt bestätigt sich auf fiktionaler Ebene der Befund Ernst Cassirers, wonach die Frühe Neuzeit von Anthropomorphismus und Animismus gekennzeichnet ist. 193 Ich zitiere aus ihrem Gutachten zu meiner Habilitationsschrift, das am 27.07.2015 beim Dekanat der Philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien eingegangen ist. 194 Stephen Greenblatt: Psychoanalysis and Renaissance Culture. In: Ders.: Learning to Curse. New York/London: Routledge 1990, S. 176–196, hier: S. 176. 195 Greenblatt korreliert in diesem Zusammenhang «property» mit «proper names», vgl. dazu Greenblatt: Psychoanalysis, S. 89 ff.

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Die magischen Körperextensionen der Ritter im Orlando Furioso ermöglichen mir eine stimmige Überleitung zum folgenden Kapitel, in welchem ich mich mit Körpermanipulationen und Körperregulierungen beschäftige. Wie etwa Carolyn Merchant zeigt, bereitet die magische Naturphilosophie des ausgehenden 16. Jahrhunderts jenen Naturbegriff vor, der die Manipulation und Ausbeutung innerhalb einer sich ausbildenden kapitalistischen Ökonomie vorbereitet, auf die sich auch die Kritik von Derrida oder Haraway bezieht. Denn neben den tendenziell holistischen und dynamischen Naturvorstellungen, welche die bisher vorgestellten materialistischen Tendenzen der Frühen Neuzeit prägen, gibt es im 16. Jahrhundert auch Konzepte, die der Natur mittels gezielter Technologien ihre Geheimnisse entlocken und sie auf diese Weise gewissermaßen perfektionieren wollen. Es handelt sich dabei um ein Korpus, das die hermetische Tradition des Neuplatonismus mit der Aristotelischen Naturphilosophie legiert – um gleich einen passenden alchemistischen Terminus einzuführen – und dabei auch keine Berührungsängste gegenüber volkstümlichen Heilkunde- und Körpervorstellungen zeigen. In der Metaphorik dieser erfolgreichen Strömung der Spätrenaissance lassen sich daher auch viele Vorurteile und Stereotype herauspräparieren, weshalb sie in meiner Lesart auch die «darker side of the Renaissance» repräsentieren, ein Begriff, den ich im Folgenden auch in den Kontext der gleich lautenden Untersuchung von Walter Mignolo stellen werde: Kolonisierungsprozess der «Neuen Welt».

8 Umstrittene Grenzziehungen: Mensch & Artefakt Y me parece, con perdón, el colmo de la paradoja. Intervenimos en todo lo que nos rodea, la carne, la ropa, los vegetales, la fruta, ¡en todo! ¿Por qué no aprovechar los avances de la ciencia para mejorar nuestra especie? Ha pensado en la cantidad de enfermedades que podríamos curar con la transgénesis? ¿O las malformaciones genéticas que se podrían evitar?  Robert in «La piel que habito», P. Almodóvar 2011

Selbstoptimierung mittels diätetischer, kosmetischer, chirurgischer, sportlicher und biochemischer Interventionen ist ein unerlässliches Attribut postmoderner Körperkulturen. Sie zielt auf die Verwirklichung ästhetischer Korrektur und sexueller Performanz ebenso wie auf kognitive Leistungssteigerung oder aber auf die Übereinstimmung der sekundären Geschlechtsmerkmale mit der Geschlechts­ identität. Aus dieser Bandbreite wird deutlich, dass die einseitige Qualifizierung solcher Körperpraktiken als Akte der Normierung und der Disziplinierung zu kurz greift. Gleichwohl ist Michel Foucaults Analyse (post)moderner «Selbsttechnologien» auch innerhalb der Gender Studies ein wichtiger Ansatz für die wissenschaftliche Grenzvermessung zwischen Mensch und Artefakt oder – um es mit Marshall McLuhan präziser zu fassen – zwischen dem Körper und seinen Extensionen bzw. Prothesen. Der Begriff der Selbsttechnologie weist eine augenscheinliche Affinität zu self-fashioning auf, welches laut Stephen Greenblatt ein Distinktionsmerkmal der sich in der Renaissance ausbildenden protobürgerlichen Gesellschaft wird.1 Schon die Metaphern von Uhrwerken, Destillationsapparaturen u. ä., die in den bislang besprochenen naturphilosophischen Texten des 16. Jahrhunderts physiologische Prozesse veranschaulichen, zeigen, dass das «Wunder Mensch» zunehmend dechiffriert, kartographiert und rekonstruiert wird, wodurch nicht nur das Expertenwissen als Diskurs, sondern auch dessen Gegenstand eine Modellierung erfährt. Arkanes bzw. hermetisches Wissen wie die astrale Physiognomie oder magische Apparaturen und Prozeduren der populären Secreta-Literatur finden dabei Eingang in die naturphilosophische Epistemologie. Seit Francis Yates’2 vieldiskutierter These, wonach diese aus heutiger Sicht esoterischen Inhalte nicht unerheblich die Theorien, Methoden und Instrumente der modernen Naturwissenschaften begründeten, gibt es viele detailreiche Studien zu diesem Feld, doch die Frage nach dem gendering der sich neu formierenden Wissenschaftskultur ist auch heute noch wenig belichtet. Vor allem der Neuplatonismus, innerhalb dessen hermetisches 1 Stephen Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning: From More to Shakespeare. Chicago: University Press 1980. 2 Siehe dazu Francis Yates: Giordano Bruno and the Hermetic Tradition. London: Routledge & Kegan Paul 1964; weiters Francis Yates: The Art of Memory. London: Routledge and Kegan Paul 1966. DOI 10.1515/9783110521825-008

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Wissen zuallererst eine Aufwertung erfuhr, wird vielfach immer noch als besonders frauenfreundlich dargestellt. Gleichzeitig werden in jenen Schriften, die vordergründig eher auf der Aristotelischen Naturphilosophie beruhen, nach wie vor viele magische Elemente übersehen und damit deren Anteil an populärem Wissen, das – auch – von Frauen produziert, tradiert und praktiziert wurde, verschleiert. Um Geschlechtsmarkierungen und Potentiale im geheimen und verheimlichten Wissen ans Licht zu bringen, stütze ich mich in diesem Kapitel einer Anregung von Katharine Park folgend auf einen Text, der ebenfalls schon vor mehr als dreißig Jahren erschienen ist und explizit die Frage nach der Bedeutung der wissenschaftlichen Umbrüche der Spätrenaissance für die Geschlechterverhältnisse aufwirft: Carolyn Merchants The Death of Nature.3 Wie Park darlegt, wurde Merchants ökofeministische Studie zur Vorgeschichte der Scientific Revolution unmittelbar nach ihrer Publikation heftig kritisiert, gleichwohl bietet sie auch noch nach zwei Generationen von einschlägiger Forschung wichtige Anknüpfungspunkte.4 Vorrangig betrifft das ihre Rückbindung epistemologischer Umbrüche an ökonomische Veränderungen, woraus wiederum gravierende Umsemantisierungen von Natur im Allgemeinen und von Geschlechternaturen im Besonderen resultieren. Während Merchant sehr schlaglichtartig eine Reihe unterschiedlichster Texte im diachronen und diatopen Vergleich einander gegenüberstellt, um davon ausgehend die Royal Society und die Figur Francis Bacons zu analysieren, beschränke ich mich in der nachfolgenden Untersuchung auf frühneuzeitliche Texte, die im Einflussbereich der spanischen Krone entstanden sind. Gerade die Lektüre von Death of Nature verdeutlicht, dass ein allzu breites Korpus manchmal starke Thesen unterminiert. So lässt sich das Massenphänomen der Hexenverfolgung als Symbol eines zunehmend chaotischen und wilden Naturbegriffs für den katholischen mediterranen Raum kaum nachweisen.5 Die Mechanismen

3 Carolyn Merchant: The Death of Nature: Women, Ecology, and the Scientific Revolution. New York: Harper & Roe 1980. 4 Katharine Park: Women, Gender, and Utopia. In: Focus section «Getting Back to The Death of Nature: Rereading Carolyn Merchant», Isis 97 (2006), S. 48–95. 5 Vgl. dazu Merchant: Death, S. 127–149. Einer der ersten Wissenschaftler, die konstatierten, dass in Spanien die Hexenjagd ein eher marginales Phänomen darstellt, war Marcelino Menendez Pelayo, etwa in seinem Aufsatz Magia, hechicería y superstición en los siglos XVI y XVII. Inzwischen muss dieser Befund etwas relativiert werden, da die Archive der Episkopalterritorien erst allmählich geöffnet werden, die in diesen Belangen die Gerichtsbarkeit inne hatten, grosso modo dürfte es dennoch wesentlich weniger Fälle als in Nordeuropa gegeben haben. Der spanische Arzt Andrés Laguna, den ich in diesem Kapitel noch näher vorstellen werde, versuchte während eines Aufenthalts in Metz sogar durch wissenschaftliche Methoden vermeintliche Hexen vor der Hinrichtung zu retten. Sein Nachweis gelang, konnte die Autoritäten der Stadt aber dennoch nicht überzeugen.



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und Phantasien der Dominierung und Ausbeutung von Natur einerseits und der Konstruktion der Anderen andererseits nehmen hier abweichende Formen an und sind eng mit dem Kolonisierungsprozess in der Neuen Welt verbunden. Wie ich es schon im vorangegangen Kapitel angeschnitten habe, gibt es etwa eine verstärkte ethische Auseinandersetzung mit der Frage, welcher ontologische Status den «neuen» Ethnien zukomme. Daneben bringen die Entdeckungen (in) der Neuen Welt aber auch im engeren Sinne naturphilosophische und medizinische Schriften hervor. Durch amerikanische Heilpflanzen und Heilpraktiken erfährt etwa die Pharmakologie einen ungemeinen Aufschwung, für den spanischsprachigen Raum seien etwa folgende wirkmächtige Autoren genannt: Nicolás Monardes (1508–1588), Francisco Hernández (1517–1578), José de Acosta (1540–1600).6 Deren Werke tragen dazu bei, Körperkulturen allmählich zu verändern, da sie leiblichen Manipulationen bzw. Korrekturen eine neue Plausibilität verleihen. Insbesondere für alchemistische Praktiken, wie sie etwa der spanische Regent, Philip II, im Escorial initiierte, waren neue Heilfpflanzen von hohem Interesse. In diesem Zusammenhang werde ich die spezifisch iberische Aneignung alchemistischer Techniken einführen, die auf dem Llullismus basiert und die neuen biochemischen Thesen des Paracelsus nur sehr partiell rezipiert, was neben der eigenständigen Tradition vor allem auch auf den gegenreformatorischen Bann des Schweizers zurückzuführen ist. Ein Heilmittel aus Nueva España erlangt in der Frühen Neuzeit notorische Berühmtheit: Guayaco, eine Baumrinde, deren Wirkstoffe als Therapie gegen Syphilis eingesetzt wurde. Denn ein weiteres Textkorpus, das mit der neuen Mobilität im 16. Jahrhundert bedeutsam wird, betrifft die von José María López Piñero postulierten «nuevas enfermedades»:7 Neben der Syphilis ist das vor allem Typhus. Diese Texte sind teilweise überraschend pragmatisch und geben so wiederum ein recht lebendiges Bild frühneuzeitlicher Sexualitätsvorstellungen, wie dies etwa die frühen Beispiele von Juan Almenar, Francisco Franco, Pepe Pintor, und Gaspar Torrella veranschaulichen.8 Daneben zeichnen sich einige auch durch 6 Nicolás Monardes: Dos libros, el uno que trata de todas las cosas que se traen de nuestras Indias Occidentales, que sirven al uso de la medicina, y el otro que trata de la piedra bezaar, y de la yerva escuerçonera. Sevilla: Hernando Diaz 1569; Francisco Hernández: Rerum medicarum Novae Hispaniae Thesaurus, seu Plantarum, Animalium, Mineralium Mexicanorum Historia cum notis Joannis Terentii Lineæi. Rom: 1648; José de Acosta: Historia natural y moral de las Indias: en que se tratan las cosas notables del cielo y elementos, metales, plantas, y animales dellas y los ritos, y ceremonias, leyes y gobierno, y guerras de los indios. Sevilla: Juan de León 1590. 7 José María López Piñero: Medicina e historia natural en la sociedad española de los siglos XVI y XVII. Valencia: Universitat 2007, S. 145 ff. 8 Pere Pintor: De morbo foedo et occulto, his temporibus affligente. Rom: Eucharius Silber 1500; Juan Almenar: Libellus ad evitandum et expellendum morbum galicum. Venedig: B. V. de ­Vitalibus

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ihre literarisierte Form aus, wie etwa jene von Francisco López de Villalobos und Girolamo Fracastoro.9 Fracastoro untersteht zwar nicht unmittelbar spanischer Territorialgewalt, nimmt aber die durch die Kolonisierung Amerikas ausgelösten Paradigmenwechsel wahr und prägte schließlich die heute gebräuchliche Terminologie für die Krankheit, weshalb ich auf seinen Beitrag zu den «neuen Plagen» eingehen werde. Für Italien wäre außerdem der Universalgelehrte Girolamo Cardano ein weiterer bedeutender Theoretiker zur Syphilis.10 Als Mailänder wirkt er unmittelbarer im spanischen Einflussbereich und ist eine Schlüsselfigur frühneuzeitlicher Verwissenschaftlichung arkanen Gedankenguts. Wenngleich Epidemien wenig mit Magie zu tun haben, so offenbaren sie doch einiges von den dunklen Seiten der Renaissance, für die die von Spanien dominierte Hafenstadt Neapel paradigmatisch ist. Eine herausragende Gestalt der frühneuzeitlichen Naturmagie wirkte in der krisengeschüttelten Metropole: Giovan Battista della Porta (1535–1615). Vor allem seine Physiognomie erlangte europaweite Berühmtheit. Doch auch für diese wiederauflebende wissenschaftliche Gattung gibt es auf der iberischen Halbinsel eine eigenständige Tradition: So hat etwa Andrés Laguna die pseudoaristotelische Physiognomie in Paris bearbeitet,11 die von seinen spanischen Landsleuten wie etwa Montaña de Montserrate und Jeronimo Cortes wiederum mit der Llullischen Tradition verschnitten wird. All diese unterschiedlichen Texte verschreiben sich einem Wissenschaftsmodell, das eines (männlichen) Experten bedarf, der die Materie zunächst entschlüsselt, um sie daraufhin mithilfe astrologischer, alchemistischer oder ­pharmazeutischer Manipulation zu perfektionieren. Damit integrieren sie bislang marginalisierte Praktiken von «Kräuterhexen» und Quacksalbern in den wissenschaftlichen Kanon. Die neuen «professors of secrets»12 inszenieren sich ähnlich 1502; Francisco Franco: Libro de las enfermedades contagiosas y de la preservación dellas. Sevilla: Alonso de la Barrera 1569; Gaspar Torrella: Consilium de dolore in pudendagra. Rom: Bastikem 1500. 9 Francisco López de Villalobos (1498): El sumario de la medicina con un tratado de las pestíferas bubas, hg. von María Teresa Herrera. Salamanca: Universidad de Salamanca 1973 (Cuadernos de historia de la medicina española: Monografías 25); Girolamo Fracastoro (1530): Syphilis sive de morbo gallico. In: Latin Poetry (zweisprachig lateinisch, englisch), hg. und übersetzt von James Gardner, Cambridg e(USA)/London: Harvard University Press 2013 (The I Tatti Renaissance Library), S. 1–85. 10 Sein Beitrag zur Medizin der Frühen Neuzeit und besonders auch der Seuchenlehre wurde untersucht von Nancy Siraisi: The Clock and the Mirror: Girolamo Cardano and Renaissance Medicine. Princeton: University Press 1997. 11 Andrés Laguna: Aristotelis Stagirita De physiognomonicis liber unus. Paris: Calvarinus 1535. 12 Diese Terminologie entlehne ich dem gleichnamigen Buch von William Eamon: The Professor of Secrets: Mystery, Medicine, and Alchemy in Renaissance Italy. Washington DC: National Geographic Books 2010, womit die Forschung zur sogenannten Secreta-Literatur überhaupt erst initiiert und etabliert wurde, weshalb Eamon in diesem Kapitel ausführlich zu Wort kommt.



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wie Huarte mit seinem Begabungskatalog als Helfer im Dienste des Allgemeinwohls. Ihre vorgeblichen oder tatsächlichen Manipulationen suggerieren einen privilegierten Zugriff auf den Idealkörper, wodurch sie aber gleichzeitig die Be/ deutungsmacht über die Abweichung, über das Monströse, für sich reklamieren. Eine neue Bildkultur, die sich zunehmend aus dem rituellen Kontext ablöst und mit der (Wieder)Entdeckung der Zentralperspektive den Idealkörper auch visuell wirkmächtig installiert, trägt dazu bei, dass das Individuum in «Sorge um sich selbst»13 die veränderten Körperregimes verinnerlicht. Mit dem Terminus ‹Regime› unterstreiche ich die komplexe Interaktion von politischer Herrschaft und körperlicher Selbstbeherrschung, die Michel Foucault für der Schwelle zur Neuzeit als neues Machtdispositiv beschreibt. Wie etwa auch die im 16. Jahrhundert vom Gründer des Jesuitenordens, Ignacio de Loyola, detailliert beschriebenen Exerzitien verdeutlichen, unterliegt nunmehr sogar die «rechte» Beziehung zu Gott einer aufwändigen körperlichen Disziplinierungsprozedur.14 Von der Zurichtung durch Andere zur Selbststeuerung verläuft der schmale Grat vormoderner Subjektivierungsleistung, die seit der Renaissance als Erfolgsmodell europäischer Individuation gilt. Diese Dialektik ist dem Begriff ‹Subjekt› ja auch eingeschrieben: Einerseits bezieht er sich auf den grammatikalischen Satzgegenstand, also jene Instanz, die aussagt, die als ‹Person› an Rechten und Pflichten teilhat, andererseits erhärtet die lateinische Wortwurzel subiectum den Unterwerfungsakts, der dieser Teilhabe unabdingbar zugrunde liegt. Wie Merchant möchte ich diese Körperregimes auch als Körperökonomien in den Blick nehmen. Dabei lässt sich im Vergleich der Mobilitätsschübe zwischen dem  16. Jahrhundert und dem beginnenden 21. Jahrhundert eine gegenläufige Entwicklung konstatieren: Kommt es in der Spätrenaissance zu einer Ausdifferenzierung in eine öffentliche gegenüber der privaten Sphäre, die mit der ­Ausdifferenzierung von Produktionsarbeit und Reproduktionsarbeit korreliert, so erleben wir gegenwärtig in diesem Bereich eine Grenzauflösung. Die Politik wird zunehmend privatisiert und das Private zunehmend entäußert, die Arbeitswelten lassen sich immer weniger bestimmten Räumen zuordnen und generell erfährt Arbeit gegenüber den Kapitalflüssen eine Entwertung. S ­ ozialwissenschaftlerInnen fassen das Phänomen, dass immer mehr Berufsgruppen in prekäre Beschäftigungsverhältnisse rutschen, mit dem Begriff der «Feminisierung» von Arbeit. Aus den damit verbundenen, immer öfter auch Männer b ­ etreffenden ­existentiellen 13 Terminologie nach Michel Foucault: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. 14 Das Werk entstand 1534, wurde aber erst später gedruckt. Folgende Ausgabe geht auf den sogenannten Autograph Loyolas zurück: Ignacio de Loyola: Ejercicios Espirituales, herausgegeben, eingeleitet und annotiert von Candido de Dalmases, SJ. Santander: Sal Terrae 1987.

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Verunsicherungen lässt sich meiner Ansicht nach erklären, dass sich auch Männer verstärkt invasiven Körpertechnologien wie etwa ästhetisch-chirurgischen Eingriffen unterwerfen, die bislang eher Frauen vorbehalten waren. Mit feministischen Studien zu diesem lukrativen und expandierenden Markt beginne ich die folgende Sichtung postmoderner Körpertechnologien. Neben Michel Foucaults Gouvernamentalitätstheorie wird mir als theoretische Fundierung einmal mehr Donna Haraway dienen, die den Cyborg als die emblematische Daseinsform unserer posthumanen Ära begreift. Die Frage, ob und wie unter diesen Bedingungen der Begriff «Natur» überhaupt (noch) Sinn macht, soll dann die Vergleichsbasis für den «Tod der Natur» in der Frühen Neuzeit bilden, der die symbolische Voraussetzung für die Selbstermächtigung der sich neu formierenden Experten bildet. Am Ende dieser Gegenüberstellung von Reflexionen zur Selbstoptimierung zwischen Postmoderne und Früher Neuzeit werde ich eine faszinierende Spezialistin in Bezug auf Körpermanipulationen vom Beginn des 16. Jahrhundert vorstellen: La Celestina.15 Anhand dieser novela dialogada wird ersichtlich, dass fiktionale Welten manchmal schon viel früher und viel radikaler derartige Paradigmenwechsel vorbereiten.

Postmoderne Körperregimes Celestina, die Protagonistin eines der erfolgreichsten frühen narrativen Texte der iberischen Halbinsel, kann nämlich etwas, was Chirurgen heute als neues Terrain ihrer kosmetischen Interventionen in den weiblichen Körper wieder betreiben: Sie «repariert» die Vagina unehelicher Frauen, deren Jungfräulichkeit versehrt ist. Die Vaginaloperationen des 21. Jahrhunderts verfolgen freilich nicht mehr das Ziel, das in den Körper eingeschriebene moralische Gütesiegel für eine erfolgreiche Eheschließung zu gewährleisten. Doch mit dem Glücksversprechen einer befriedigenden Partnerschaft sind sie dennoch oft verknüpft. So hatte mir vor einigen Jahren eine sehr junge Frau berichtet, ihr Gynäkologe habe ihr mitgeteilt, dass Sex nach einem entsprechenden Eingriff viel lustvoller sei. Für wen, fügte er nicht hinzu. Was vielleicht als pervertiertes therapeutisches Verständnis eines männlichen Experten anmutet, ist tatsächlich nur Indiz für eine Entwicklung, die sich in den Biopolitiken unserer Zeit generell feststellen lässt. Mit der Auflösung der Grenzen zwischen Privat und Öffentlich dringt der Zugriff normativer (Selbst-) Kontrolle immer weiter ins Körperinnere vor und nichts, weder unsere erotischen Phantasien noch die Form unserer Vulva, bleibt vom Expertendiskurs unbelastet: 15 Fernando de Rojas (1499/1507): La Celestina, hg. von Dorothy S. Severin. Madrid: Cátedra (Colección Letras Hispanicas) 1987.



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We have arrived at the stage of regarding ourselves as both technological subject and object, transformable and literally creatable through biological engineering. The era of biotechnology is clearly upon us and is invading even the most private and formerly sequestered domains of human life, including women’s wombs.16

In der Regel werden Vaginalkorrekturen vorgeblich aus ästhetischen Überlegungen vorgenommen. Wobei jedoch die Begriffe des Schönen, des Guten und des Gesunden im medikalisierten Diskurs der kosmetischen Chirurgie verschmelzen: Genital cosmetic surgeries for women are being advertised as reconstructions for sexual health: vagina-tightening surgery to restore women to their pre-childbirth naturally ‹healthy› state.17

Die Fragen, die (feministische) ForscherInnen in diesem Zusammenhang daher beschäftigen, betreffen die Normen und Zwänge, auf denen solche medizinischen bzw. ästhetischen Werturteile basieren. Lange Zeit war es Konsens, dass Frauen Körpertransformationen vornehmen lassen, um einem eher unauffälligen – «natürlichen» – Standard zu entsprechen bzw. – wie der Terminus Rekonstruktion schon nahelegt – wiederherzustellen: ‹Passing› is thus moving into and becoming invisible within a desired ‹natural› group. The model of ‹passing› is the most fruitful to use in examining the history and efficacy of aesthetic surgery.18

Doch in den letzten zwanzig Jahren hat sich die Praxis der ästhetischen Chirurgie nicht nur weiter in immer intimere Körperregionen ausgedehnt, sie wird auch von mehr Menschen unterschiedlichsten sozialen Hintergrunds in Anspruch genommen. Damit einher geht einerseits die Beobachtung, dass die vormals beinahe ausschließlich auf Frauen beschränkte Klientel inzwischen eine Gendervielfalt aufweist. Andererseits lässt sich Gilmans Befund, Menschen durchliefen derartige Prozeduren nur, um als «normal» durchzugehen, nicht uneingeschränkt aufrechterhalten. In ihrer Zusammenschau ­feministischer Forschung zum Thema konstatieren Meredith Jones und Cressida Heyes:

16 Kathryn Pauly Morgan: Women and the Knife: Cosmetic Surgery and the Colonization of Women’s Bodies. In: Hypatia 6 (1991), S. 25–53, hier S. 30. 17 Victoria Pitts: The Surface and the Depth: Medicalization, Beauty, and Body Image in Cosmetic Surgery. In: Judith Lorber/Lisa Jean Moore (Hg.): Gendered Bodies. Feminist Perspectives. Los Angeles: Roxbury Publishing Company 2007, S. 99–103, hier: S. 101. 18 Sander L. Gilman: Making the Body Beautiful. A Cultural History of Aesthetic Surgery. Princeton: University Press 1999, S. 22.

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Thus it demonstrates how a big picture analysis in which body-transforming practices are understood as top-down pressures on women to conform to patriarchal ideals is giving way to the more fine-grained and multi-factoral analyses that are required to understand contemporary constraints and incitements.19

Zwei Pionierinnen feministischer Forschung zu postmodernen Körper transformationen repräsentieren komplementäre Positionen hinsichtlich der Ambiguität zwischen Druck und Handlungsmacht: Susan Bordo und Kathy Davis. Ich werde sie im Folgenden einander gegenüberstellen, um neuere Tendenzen besser fassen zu können.

Komplementäre Positionen Susan Bordo20 hat sich mit den unterschiedlichsten Transformationen des weiblichen Körpers beschäftigt: von Essstörungen über Brustimplantate bis zu Haarglättungen. Die Stärke ihrer Analysen liegt vor allem in einem an Foucault angelehnten diskurstheoretischen Zugang: «[...] the human body is itself a politically inscribed entity, its physiology and morphology shaped by histories and practices of containment and control.»21 Am Beispiel populärer Medien – von Frauenzeitschriften über Fernsehshows bis zu Repräsentationen von Models und Popstars – führt sie vor, wie technologisch generierte visuelle Artefakte unser aller Körperbilder nachhaltig prägen und verändern und gleichzeitig ihre Funktion als Machttechnologie gleichsam durch einen harmlosen Zeitgeist- und Modediskurs retouchieren. Die konsumorientierte Ausrichtung dieser Bilderwelten suggeriert eine neue Art medialer ­Egalität, da mit den Repräsentationen auch die zur Erreichung der ins Bild gesetzten Körperideale notwendigen Technologien geliefert werden: von Diäten über Fitnesstrends zu Schminktipps und chirurgischen Eingriffen. Bordo f­okussiert aber auf die marktförmigen Normen hinter dieser scheinbaren Egalität, denn es  werden Körper inszeniert, die eine hypertrophe Version des weißen «westlichen» Frauenideals repräsentieren, das «naturgemäß»22 überhaupt nur mittels 19 Meredith Jones/Cressida Heyes (Hg.): Cosmetic Surgery: A Feminist Primer. Farnham: Ashgate 2009, S. 4. 20 Susan Bordo: Unbearable Weight: Feminism, Western Culture, and the Body. Berkeley: University of California Press 1993. 21 Bordo: Unbearable Weight, S. 21. 22 Die Frage der Konstruktion von Natur werde ich in diesem Kapitel weiter entfalten, hier sei zunächst aber nochmals auf die Ontologie des Aristoteles verwiesen, der zwei unterschiedliche und zugleich komplementär beanspruchbare Natur-Begriffe anbietet.



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aufwändiger Technologien in Annäherung erreichbar ist. Da es sich um Repräsentationen eines überzogenen hegemonialen Frauenbildes handelt, eignet sich diese Kultur der Transformationen sehr gut dazu, postmoderne Körper entlang der intersektionalen Achsen von race, class, gender, age zu analysieren. Wie Sander Gilman ist auch Susan Bordo davon überzeugt, dass die Kategorie der ethnischen Alterität einen besonderen Stellenwert für die Motivation zu Körpertransformationen einnimmt. Gilman argumentiert seine Position historisch, da die ersten ästhetisch-chirurgischen Eingriffe die Nase betreffen – also einen Körperteil, der mit einer weitreichenden Geschichte rassistischer Stereotype behaftet ist. Abgesehen von der physiognomischen Zuschreibung ihrer langen gebogenen Morphologie an Juden ist die Nase aber auch sexuell konnotiert und steht für die unkontrollierte und daher gefährliche Sexualität der Anderen.23 Dieses Vorurteil mag mit ihrer erhabenen Position im Gesicht zusammenhängen, aufgrund derer ja auch der Volksmund eine Parallele zum männlichen Genital herstellt. Unmittelbar bedeutsamer für den Diskurs der ästhetischen Chirurgie ist aber die sogenannte syphilitische Nase, die sexuelle Transgression als Kainsmal unverhüllbar sichtbar machte. In der Renaissance kommt es denn im Zuge dieser Epidemie auch zu den ersten Versuchen einer Rekonstruktionschirurgie, die den Zustand ‹ante peccatum› wiederherstellen soll. Zeitgleich scheint das Abschneiden der Nase zu einer Disziplinierungsmaßnahme für Prostituierte avanciert zu sein.24 Bordo konzentriert sich ihrerseits auf rezente Biopolitiken und arbeitet heraus, wie der hegemoniale westliche Schönheits- und Konsumdiskurs nicht Chancengleichheit, sondern Gleichschaltung hervorbringt: statt Egalität also Homogenität, die allerdings Produkt einer risikoreichen und manchmal schmerzhaften Intervention ist. Denn die Zeichen der Körper, die akzentuiert oder eliminiert werden müssen, sind allesamt ethnisch, sexuell, geschlechtlich codiert und mit entsprechenden Werturteilen behaftet. Gegenwärtig lässt sich das laut Bordo vor allem an den Augenlid-«Korrekturen» von Menschen mit asiatischen ­Vorfahren zeigen, die in den USA eine der meist nachgefragten ästhetischen Operationen darstellt.25 Wie auch in anderen Bereichen g ­ esellschaftlicher ­Aushandlungsprozesse zeigt sich in der Praxis der Körpertransformation die

23 Vgl. dazu Gilmann: Making the Body, S. 49–111. 24 Zur Strafpraxis des Nasenabschneidens siehe Rojas: Celestina. Zur Rekonstruktionschirurgie, die aber auch schon den Status der im engeren Sinne ästhetischer Chirurgie diskutiert, siehe Gaspare Tagliacozzi (1545–1599), der in De curtorum chirurgia per insitionem (1597) von chirurgia curtorum und chirurgia decoratoria spricht. 25 Eine detaillierte Studie zur sogenannten Blepharoplastik bietet Eugenia Kaw: Medicalization of Racial Features: Asian American Women and Cosmetic Surgery. In: Medical Anthropology Quarterly 7,1/1993, S. 74–89.

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Verstärkerfunktion der sich überlappenden intersektionalen Achsen race und gender: Bordo weist darauf hin, wie der ethnische Marker bei Frauen schon im Kindesalter getilgt werden muss, um eine erfolgreiche Ehe mit einem Mann aus der gleichen Ethnie eingehen zu können, welcher an sich selbst eine derartige «Korrektur» nicht vornehmen ließe. Ich möchte es mit Joan Riviere26 fassen: Die Maskerade der Weiblichkeit unterliegt einem besonders aufwändigen Akt der Selbstdisziplinierung, der tendenziell unabgeschlossen bleibt und sich durch andere Ausschlusskategorien intensiviert. So gesehen muss die weibliche Natur(haftigkeit) immer wieder aufs Neue artifiziell konstruiert werden: Paradoxically, while femininity is regarded as the most ‹natural› of the genders (as women are biologically overdetermined) it also requires the most artifice to be considered successful, whilst those that are unsuccessful or refuse to take part in it are regarded as ‹unnatural›.27

Während Bordo in diesem Sinn die Konstruktion von Weiblichkeit in Bezug auf ihre Determinierung durch Biopolitiken beleuchtet, bietet Kathy Davis mit Reshaping the Female Body eine sozialwissenschaftliche Studien zur Frage der agency, der Handlungsmacht, von Patientinnen der ästhetischen Chirurgie an. In einer Serie von Interviews mit Frauen, die sich chirurgischen Eingriffen unterzogen hatten, versucht sie, deren vermeintlichen Status als Opfer einer postmodernen Konsumkultur zu relativieren. Sie ist sich dabei dessen bewusst, dass sie sich mit ihrem Plädoyer, sowohl das Leiden als auch die Entscheidungsmacht der Betroffenen ernst zu nehmen, in einen feministischen Balanceakt begibt, und zwar: [...] between a feminist critique of the cosmetic surgery craze [...] and an equally feminist desire to treat women as agents who negotiate their bodies and their lives within the cultural and structural constraints of a gendered social order. This has meant exploring cosmetic surgery as one of the most pernicious expressions of the Western beauty culture without relegating women who have it to the position of «cultural dope.»28

Obwohl sie das Dilemma, das die Praxis der Schönheitschirurgie für die Gender Studies darstellt, in ihrem Buch mehrfach benannte, handelte sie sich damit teilweise recht harsche Kritik von feministischen Forscherinnen ein, allen ­ voran von Susan Bordo. Diese warf Davis vor, die systemischen strukturellen Zwänge, die Frauen in die kosmetische Chirurgie trieben, nicht ausreichend zu 26 Joan Riviere: Womanliness as a Masquerade. In: International Journal of Psychoanalysis 10/1929, S. 303–313. 27 Angela King: The Prisoner of Gender: Foucault and the Disciplining of the Female Body. In: Journal of International Women’s Studies, 5,2/2004, S. 29–39, hier S. 33. 28 Kathy Davis: Reshaping the Female Body: The Dilemma of Cosmetic Surgery. New York: Routledge 1995, S. 5.



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­ erücksichtigen und mit einem Diskurs der Wahlfreiheit jenen ­Postfeministinnen b wie etwa Naomi Wolf zu folgen, die mit ihrem «power feminism» das für ­Feministinnen unabwendbare Paradigma der strukturellen Ungleichheit hegemonialer Geschlechterverhältnisse preisgäben.29 Es gehört für mich zu einer der herausragenden Qualitäten feministischer Forschung, dass sie ein hohes Niveau an Streitkultur entwickelt hat. Im vorliegenden Fall führte die Kontroverse auf beiden Seiten etwa zu sehr interessanten Weiterentwicklungen oder besser gesagt theoretischen Annäherungen, die ich kurz nachzeichne. Davis legt 2003 mit Dubious Equalities & Embodied Differences einen Band vor, der die vorangegangene Kritik Bordos schon im Titel aufnimmt und sich auch explizit damit auseinandersetzt. Als theoretisches Missverständnis der Kollegin macht Davis deren Lesart des soziologischen Begriffs agency aus, der eben nicht einfach bloß Wahlfreiheit meine. Vielmehr handle es sich um ein soziologisches Konzept, das die aktive Partizipation des Individuums im Wechselspiel zwischen sozialer Interaktion und strukturellem Determinismus fokussiere. So gelingt es Davis, jenseits des offensichtlichen Regulierungsdrucks, der die feministische Diskussion um die ästhetische Chirurgie dominiert, diese auch um Phänomene zu ergänzen, die bislang davon ausgeblendet waren. Wie ich noch darlegen werde, beschäftigt sie sich etwa mit der Rolle und dem Selbstbild der ausführenden ChirurgInnen. Und in ihrer streitbaren Offenheit für die Ambivalenz dieser Körpertransformationen widmet sie sich auch dem Wandel im Körperdiskurs, durch den invasive Eingriffe zu neutralen Technologien verniedlicht werden: Difference has become a «commodity», with none of the negative associations with which «abnormality» is imbued. [...] «Race» and «sex», once markers of inequality, have now become a matter of stylistic outfits. The body is simply a vehicle for recognizing our individual desires and projects. In short, the Benetton ideal reigns supreme.30

Intersektionale Fallstricke feministischer Analyse Doch die Suggestion der unerschöpflichen Möglichkeiten uns täglich neu und anders zu erfinden, ist u. a. ob scharfer ethischer Urteile, mit denen unterschiedlichste Körperpraktiken belegt sind, nicht haltbar. Das zeigt sich an den

29 Zu Bordos Kritik siehe Susan Bordo: Twilight Zones: The Hidden Life of Cultural Images from Plato to O.J. Berkeley: University of California Press, S. 35–36. 30 Kathy Davis: Dubious Equalities & Embodied Differences. Cultural Studies on Cosmetic Surgery. Lanham: Rowman & Littlefield Publishers 2003.

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­ iskussionen einschlägiger feministischer Tagungen, die Davis rekonstruiert. D Während die meisten ForscherInnen die ästhetische Chirurgie im allgemeinen als eine patriarchale Herrschaftstechnologie über den Frauenkörper kritisch beurteilen, konzedieren sie in einzelnen Fallgeschichten den Entscheidungen der Frauen zu chirurgischen Körpertransformationen dennoch Handlungsmacht. Mit einer Ausnahme: Völlig inakzeptabel scheint den meisten WissenschaftlerInnen die Eliminierung ethnischer Körpermerkmale wie die bereits erwähnten «Lidkorrekturen».31 Der Befund der feministischen ExpertInnen trifft sich hier signifikant mit dem Urteil der breiten Öffentlichkeit: Unisono wird davon ausgegangen, dass eine – «westliche» – Frau einzelne Körperattribute durch chirurgische Eingriffe perfektionieren wolle, während AsiatInnen, AfroamerikanerInnen – mithin die ethnisch Anderen – damit ethnische Körpermerkmale tilgen wollten. Im ersten Fall unterliegt das Urteil – scheinbar einfachen – ästhetischen Gesichtspunkten, im zweiten Fall steht die Identität der Individuen auf dem Spiel, die in dieser scheinbar antirassistischen Kritik jedoch ausschließlich auf die Kategorie race reduziert wird. Wenn aber einzelne Frauen das Instrument hegemonialer Unterdrückung, die  das weibliche Schönheitsideal repräsentiert, in ihrer Aneignung technologischer Kunstgriffe angeblich unterlaufen können, die Diskriminierung ethnischer Alterität durch den technologischen Kunstgriff aber umso stärker ­hervortritt, reifizieren kritische Forscherinnen die rassistische Segregation und verlieren die subtile Überschneidung der Achsen race, sex und gender aus dem Blick. Bel hooks diffamiert etwa das Haarglätten und Hautbleichen, das viele AfroamerikanerInnen praktizieren, als «colonized black mind set» und spricht von schwarzem Selbsthass; laut Elisabeth Haiken werden diese Frauen innerhalb afroamerikanischer Communities oftmals als «race traitors» zusätzlich stigmatisiert.32 Die F ­ allstricke der moralisch geführten Debatten, die auf Seiten «weißer» Wissenschaftlerinnen überdies manchmal von latenten Schuldgefühlen zeugen, demonstriert Davis am Beispiel Michael Jacksons. Dessen vielfache ­Körpertransformationen  – mehrere Nasenoperationen, Lippenkorrekturen, Wangenimplantate und ­Hautbleichungen  – werden in der Öffentlichkeit als «deracializing sell-out»33 diskutiert. Diese reduzierte Lesart des Kunstkörpers als deformierte Repräsentation einer missglückten Identitätsflucht erweitert Davis um jene einer kreativen Identitätstransformation. Denn Jackson sei nicht nur 31 Davis: Dubious Equalities, S. 87 ff. 32 bel hooks: Outlaw Culture: Resisting Representation. New York: Routledge 1994, S. 179; Elisabeth Haiken: Venus Envy: A History of Cosmetic Surgery. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1997, S. 189. 33 Greg Tate 1992, zit. nach Davis: Dubious Equalities, S. 97.



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«weißer», sondern auch femininer und kindlicher geworden, was der Assimilierung an eine hegemoniale Männlichkeit34 widerspricht: Jackson’s experiment with androgyny and sexual ambiguity are reminiscent of the playful sexual border crossings of white male icons in popular culture like David Bowie, Mick Jaggar, and Boy George [...] His ethereal, almost deathlike demeanour makes one wonder whether he isn’t attempting to transcend the material body altogether [...].35

Zusammenfassend schlägt Davis vor, die Analysekategorien nicht je nach Akteur­ Innen zu wechseln, sondern deren Motivation zum kosmetischen Eingriff ­generell unter dem Aspekt von Identitätspolitiken zu untersuchen, da so die Bandbreite unterschiedlicher Identitätsmerkmale ebenso wie die Ambivalenz von Fremdbestimmung und Eigenmacht besser zutage tritt. Ihr Appell nach größerer Offenheit feministischer Forschung ist von der Mahnung unterlegt, sich als ForscherInnenpersönlichkeit nicht außerhalb der Welt der Analyse zu installieren und so einen patriarchalen Wissenschaftsduktus zu reproduzieren. Susan Bordo dürfte diese subtile Kritik Davis’ ernst genommen haben. In einem jüngeren Aufsatz zum Thema kosmetischer Körpertransformationen reflektiert sie ihre eigene Position als «weiße» Mutter ihrer (Adoptiv-)Tochter Cassie, deren leiblicher Vater Afroamerikaner ist.36 Sie beschreibt, wie ihre private Erfahrung mit ihrer Expertise als Wissenschaftlerin, die sich seit Jahren mit Körperpolitiken und Körperpraktiken aus feministischer Sicht auseinandersetzte, kollidiert. Die Wissenschaftlerin hatte zunächst das Flechten von Zöpfen und Dreads afroamerikanischer Frauen als Affirmation einer «schwarzen» Identität betrachtet, während sie deren Haarglätten als Indiz für den Anpassungsdruck an «weiße» Idealkörper las. Doch angesichts ihrer eigenen Hilflosigkeit, das Haar ihrer Tochter zu frisieren, das ansonsten unwiderruflich verfilzt und nur mehr abgeschnitten werden kann, lernt sie einen anderen – recht pragmatischen  – Aspekt der extensiven Haarpflege kennen, die afroamerikanischen Frauen zuteil wird bzw. die sie praktizieren. Diese Pragmatik hat aber auch einen Mehrwert, welcher der Kritikerin marktförmiger neoliberaler Körperregimes bislang e­ ntgangen war: Bordo entdeckt, dass in den zeitintensiven Sitzungen, in denen Mütter oder Schwestern das Haar der kleinen Mädchen bzw. einander pflegen, eine Intimität unter Frauen entsteht, die ihr in der eigenen Kindheit verwehrt blieb. Dabei werde nicht nur eine weibliche Verbundenheit entwickelt, sondern auch eine ganz spezifische Körperlichkeit, da das Frisieren, Flechten und Formieren des 34 Begriff nach Raewyn Connell: Masculinities. Berkeley: University of California Press 1995. 35 Davis: Dubious Equalities, S. 96. 36 Susan Bordo: Cassie’s Hair. In: Stacy Alaimo/Susan Hekman (Hg.): Material Feminisms. Bloomington: Indiana University Press 2008, S. 400–425.

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Haars körperliche Berührung und Nähe der interagierenden Frauen verlange. Aus diesen Schilderungen Bordos lässt sich folgern, dass «doing hair» immer auch «doing gender» und «doing race» ist, welches aber paradoxerweise einen Raum für Handlungsmacht, agency, eröffnet. Denn beim Haar-Styling dieser Frauen handelt es sich um eine Technologie, die privat tradiert und erlernt wird und sich so einer homogenisierenden Hegemonialkultur ein Stück weit entziehen kann. Doch Bordo verbleibt nicht in einer verklärenden Perspektive, sondern koppelt ihre «teilnehmende Beobachtung» an ihre bisherigen Forschungen. Gerade die Möglichkeit, ihre Tochter könnte auf das Glätten ihrer Haare insistieren, konfrontiert sie mit dem von Davis konstatierten Dilemma. Denn ein mütterliches Verbot käme der Reifizierung ethnischer Marker gleich. Sie würde meiner Meinung nach überdies die komplexe identitäre Konstruktion der Tochter («zweier» «weißer» Mütter) leugnen. Diese Situation nutzt Bordo, um ihr eigenes Haarstyling in einem biopolitischen Rahmen zu analysieren: Als Tochter jüdischer Einwanderer ist sie selbst mit dem Thema des Nivellierens ethnischer otherness bestens vertraut, als Genderforscherin weiß sie um die Konstruktion geschlechtlicher otherness. In ihrem eigenen roten lockigen Haar sieht sie die beiden Kategorien race und gender codiert und kann das Haarglätten, das sie selbst manchmal praktiziert, in eben jener Spannung zwischen spielerischer agency und strukturellen Zwängen fassen. Aus dieser wissenschaftlichen Reflexion persönlicher Erfahrungen resultiert nun eine Annäherung an Davis’ Standpunkt, da Bordo zu dem Schluss kommt, dass diese Spannung prinzipiell für alle Körpertransformationen in Geltung zu bringen sei, diese aber im jeweils spezifischen Kontext auf ihre kulturelle und individualpsychologische Bedeutung analysiert werden müssten.

Wann ist ein Mann ein Mann? Einer dieser Kontexte, die in der Analyse von Körpertransformationen neu zu berücksichtigen sind und der im Fall von Michael Jackson schon angeklungen ist, betrifft den Status der zunehmenden Inanspruchnahme chirurgischer Technologien von Männern. Noch gibt es kaum qualitative Studien dazu, doch alle ExpertInnen konstatieren, dass es in Europa und in Amerika seit einigen Jahren einen Trend zur Geschlechteregalität in Bezug auf kosmetische bzw. ästhetische Selbstoptimierung gebe. Mike Featherstone37 kritisiert dieses sowohl faktische als auch diskursive Phänomen als Indiz für eine neoliberale Konsumorientierung, während andere ForscherInnen darin eine tatsächliche Aufweichung und 37 Mike Featherstone: The Body in Consumer Culture. In: Mike Featherstone/Mike Hepworth/ Bryan S. Turner (Hg.): The Body. London: Sage 1991, S. 170–196.



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Ausweitung von Geschlechterrollenmodellen festmachen. Michael Atkinson wiederum warnt vor vorschnellen und einseitigen Schlüssen und stellt einer eindimensional gefassten hegemonialen Männlichkeit sich zunehmend ausdifferenzierende und pluralisierende Sinn- und Identitätskonstrukte gegenüber: Dominant constructions of masculinity are either interpreted as rigidly hegemonic /traditional or drastically alternative and deeply marginalized. Neither of these polar positions accurately captures how clusters of men often wrestle with and negotiate established constructions of masculinity in novel ways.38

In Bezug auf die betroffenen Männer muss also einmal mehr die von Davis eingemahnte Mehrdeutigkeit sozialen Handelns berücksichtigt werden. Ich bin dennoch davon überzeugt, dass die konstatierte Feminisierung der Arbeitswelt und ein politischer Diskurs, der die Verantwortung für prekäre Situationen den einzelnen Individuen zuschreibt, immer mehr Männer zu «weiblichen» Selbsttechnologien greifen lässt. Daraus abzuleiten, dass sich dadurch gewissermaßen als erwünschter Seiteneffekt an der Geschlechterordnung etwas ändere, halte ich indes für verkürzt. Denn der mediale Egalitätsdiskurs, wonach sich alle mit entsprechender Anstrengung einen Idealkörper schaffen und dank diesem dann auch sozial reüssieren könnten, hat ja vor allem die Funktion, die zugrundeliegenden Achsen von Ungleichheit und Ausschluss zu verschleiern. Insofern muss meiner Ansicht nach der Befund, dass der «ethnisch kosmetische» Eingriff das auszumerzende Merkmal nur umso stärker hervortreten lässt, eigentlich auf sämtliche kosmetisch-chirurgische Interventionen ausgedehnt werden. Zeugen diese postmodernen Körperextensionen nicht von einer Versehrtheit, die das mit dem Subjektivierungsprozess verbundene Leiden unmittelbar greifbar machen? Abgesehen von dem Risiko und den physischen Schmerzen im Zuge des chirurgischen Eingriffes wird das Phantasma der persönlichen Integrität, der physischen und psychischen Ganzheit, durch Prothesen, Nähte und Narben zerstört. Der damit verbundene «Amputationsschmerz»39 wird im Setting des operativen Eingriffs am männlichen Körper durch einen – in der Regel männlichen – Chirurgen symbolisch eindringlich als Kastrationsakt in Szene gesetzt. Tatsächlich ist der Diskurs über den Chirurgen im Umgang mit seinen gleichgeschlechtlichen Kunden von einer derartigen Semantik durchsetzt. Männer sind angeblich generell die schwierigeren Patienten, meist mit den Resultaten des chirurgischen Eingriffs unzufrieden, was ihren «homosexual conflicts, unconscious 38 Michael Atkinson: Exploring Male Femininity in the ‹Crisis›: Men and Cosmetic Surgery. In: Body and Society 14/2008, S. 67–87, hier: S. 68. 39 Vgl. dazu Marshall McLuhan: Understanding Media. The Extensions of Man. Cambridge: MIT Press 1964.

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castration wishes, and fears of emasculation» gegenüber dem als «the prototypical and primordial castrating father of the patient’s childhood» imaginierten Chirurgen geschuldet sei.40 Frauen, die ihre Brüste vergrößern lassen, «helfen der Natur nach»,41 während Männer, die ihren Penis vergrößern lassen, zwanghaft neurotische Wesen von uneindeutiger sexueller Orientierung sind, so ließe sich der dominante Diskurs der kosmetischen Chirurgie zusammenfassen.42 Somit bleibt die Frau – zumindest aus Sicht der Experten – in ihrer passiven Geschlechternatur, die im doppelten Sinne Natur ist, fixiert. Was mir daran signifikant erscheint, ist die Tatsache, dass die Semantik des Begriffs ‹Natur› problemlos Artefakte jeglicher Art integrieren kann, solange er auf der richtigen Seite der Geschlechterordnung verankert bleibt. Die «Transgression» von Männern wird folgerichtig feminisiert, was dann mit eben jener Pathologisierung einhergeht, wie sie seit Jahrhunderten im weiteren medizinischen Kontext die Frau charakterisiert. Hypertrophe Männlichkeit lässt sich dagegen auf Seiten der Macher dieser Machbarkeitswünsche konstatieren; laut Cassell handelt es sich beim Chirurgen um einen durch und durch maskulinistischen Beruf.43 Das Phantasma des aktiven und (omni)potenten Übermannes wird als symbolische Penetration im Akt des den passiven Frauenkörper modellierenden Chirurgen immer wieder aufs Neue performativ eingelöst: […] insofar as conventional heterosexual male and female sexualities are experienced psychically and represented culturewide as the relationship between the one who penetrates and the one penetrated, surgical interventions can function as very eroticized version of the sexual act.44

40 Stanford Gifford: Cosmetic Surgery and Personality Change: A Review and Some Clinical Observations. In: Robert M. Goldwyn (Hg.): The Unfavorable Result in Plastic Surgery. Boston: Little, Brown 1984, S. 21–43, hier: S. 41, zit. nach Davis: Dubious Equalities, S. 125. 41 Die Kontingenz dieser «Natur» führt Gilmans Kapitel zu den Transformationen der weiblichen Brust gut vor Augen: Waren in der Frühgeschichte der ästhetischen Chirurgie vor allem große Brüste, die besonders rassistisch konnotiert waren, Objekte chirurgischer Manipulation, löste ab den 1960er Jahren mit dem Wandel des weiblichen Schönheitsideals die Brustvergrößerung die wünschenswerten und «naturnahen» Interventionen ab. Vgl. dazu Gilmann: Making the Body, S. 218–250. 42 Davis: Dubious Equalities, S. 127. 43 Joan Cassell: The Woman in the Surgeon’s Body. Cambridge: Harvard University Press 1998, S. 15 ff. 44 Virginia Blum: Flesh Wounds: The Culture of Cosmetic Surgery. Berkeley: University of California Press 2003, S. 45.



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Diese erotische Überformung der sozialen Interaktion zwischen Chirurg und Klientel wird angesichts männlicher Patienten problematisch. Denn mit der Arbeit am männlichen Körper geraten die sexuelle Identität und die Unversehrtheit des Chirurgen selbst ins Wanken. Wie auch Davis bemerkt, dürfte diese unbewusste Identifikation dafür verantwortlich sein, dass Experten generell Transformationswünschen von Männern wesentlich skeptischer gegenüberstehen bzw. diese als medizinisch bedenklicher einstufen.45

Ästhetische Chirurgen – moderne Demiurgen? Gleichzeitig offenbart das «Reparieren» des Männerkörpers die traditionell zweifelhafte ethische Situierung der ästhetischen Chirurgie innerhalb der medizinischen Zunft, womit nicht nur die Männlichkeit, sondern auch die professionelle Reputation des Chirurgen auf dem Spiel steht. Denn das erst in den letzten Jahren seriösere Image der kosmetischen Chirurgie ist Ergebnis eines langen Kampfes um Anerkennung, weshalb es erstaunlich viele Egodokumente und Reflexionen zum Selbstbild des Berufsstandes gibt. Im Zentrum des Legitimierungsdiskurses der ästhetischen Chirurgie steht das Paradigma der Rekonstruktion. Dieses Paradigma hält die enge «genetische» Verflechtung des Berufsstandes mit den Devastierungen des Kriegs unangenehm lebendig: Nicht nur erfuhren die Techniken der morphologischen  Wiederherstellung vor allem durch Operationen von Kriegsverwundeten der beiden Weltkriege einen Entwicklungsschub, auch die verwendeten Materialien und Technologien wurden maßgeblich von der Waffenindustrie befördert. «Rekonstruktion» soll also den therapeutischen Anspruch außer Streit stellen und offenbart gleichzeitig die symbolische Nähe des Metiers zu dem wohl am männlichsten konnotierten Handwerk, dem Krieg. Wenn nun aber die Legitimation des ästhetischen Chirurgen auf der Rekonstruktionsmedizin basiert, muss jede noch so gewagte Intervention in einen Naturalisierungsdiskurs eingepasst werden, um nicht der unseriösen Quacksalberei ­anheimzufallen: Quackery lay not in being a ‹beauty› doctor, but in making it possible for others to disguise themselves through surgery. Such a role put the aesthetic surgeon, no matter how skilled or how well trained, beyond the pale of the new field of reconstructive surgery.46

45 Davis: Dubious Equalities, S. 128. 46 Gilman: Making the Body, S. 21.

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Damit die mit der Rekonstruktion verbundene Rhetorik der Naturalisierung gelingt, muss die Definitionsmacht darüber, was «natürlich» ist, dem Expertenwissen des Chirurgen überantwortet werden. Denn mit zunehmender Medikalisierung verlangt die geheime «Natur» der Natur geradezu danach, mithilfe der Kunst des Experten verbessert zu werden. Der Experte liest die Zeichen des Körpers und bringt gleichsam dessen «wahre» Natur zur Geltung. So erfährt der Chirurg als Mann nun seine eigene – übernatürliche – Erhöhung, die eklatante Parallelen zur Figur des frühneuzeitlichen Naturmagiers aufweist, wie ich noch zeigen werde. Chirurgen stilisieren sich selbst häufig als Künstler, wie etwa aus der folgenden Beschreibung zur Technologie der Liposuktion hervorgeht: This work is, in truth, a very high type of sculpture – surgical sculpture – and the surgeon who undertakes it must possess the artistic sense of a sculptor besides being a thoroughly trained surgeon.47

Doch im Unterschied zum traditionellen Bildhauer modelliert der surgical sculptor den lebendigen Körper, oder vielmehr: er verhilft diesem zu wundersamem neuen Leben, wie es aus der Autobiographie des New Yorker Schönheitschirurgen Maxwell Maltz hervorgeht, die den bezeichnenden Titel Doctor Pygmalion trägt: «I could whisk new noses out of the air [...] just about everything lay within the compass of my magical powers», die sogar soweit reichen, dass sie der ­PatientInnen «scars of the mind»48 entfernen können. Das self-fashioning des Chirurgen, dessen einzelne Stadien dieses Selbstzeugnis nachzeichnet, nimmt die männlichen Identitätsangebote des Pioniers, des Wissenschaftlers, des Idealisten und schließlich des Schöpfers in sich auf.49 Frauen, die diesem gottgleichen «male gaze»50 des Experten anheimfallen, bleiben in einem doppelten Regime der Pathologisierung verhaftet, das interessanter Weise die Dichotomie zwischen Körper und Seele aufbricht: Denn

47 Max Thorek: A Surgeon’s World: An Autobiography. Philadelphia: Lippincott 1943, S. 167, zit. nach Gilman: Making the Body, S. 235. 48 Maxwell Maltz: Doctor Pygmalion, S. 209 und S. 220, zit. nach Davis: Dubious Equalities, S. 49. 49 Davis: Dubious Equalities, S. 37–49. 50 Der Begriff «male gaze» wurde von Laura Mulvey für die Blickregimes des klassischen Hollywood-Kinos geprägt, in welchem das Publikum die Protagonistinnen durch eine von männlichen Begehrensstrukturen gesteuerte Linse wahrnehmen und die dargestellten Frauen selbst nicht Subjekte des Blicks werden. Da die kosmetische Chirurgie sich ja zentral mit Transformationen des Aussehens beschäftigt, wurde der Begriff von Kulturwissenschaftlerinnen für den Bereich adaptiert, etwa von Bernadette Wegenstein, deren jüngstes Buch den Terminus spielerisch im Titel adaptiert: The Cosmetic Gaze. Body Modification and the Construction of Beauty. Cambridge/ London: MIT Press 2012.



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der Wunsch nach einer Verbesserung der physischen Performanz muss mit der Emphase auf psychisches Leid artikuliert werden. Victoria Pitts verweist etwa darauf, dass die Diagnose «Minderwertigkeitskomplex» erstaunlich vielen Fallgeschichten der kosmetischen Chirurgie zugrunde liegt.51 Somit erhalten Experten in den Belangen der Ideal- bzw. Normkörper zusätzlich die Fähigkeit, ­psychisches Leid zu klassifizieren und in Folge zu therapieren: «In aesthetic surgery it [a neurotic society] has simply found a form of external psychotherapy».52 Die Glücksverheißung ist erstaunlich einfach und als solche radikal materialistisch: Lass die Zeichen deines Körpers eliminieren oder umschreiben, dein Leiden hat ein Ende, dein Selbstwertgefühl steigt und du bist ein neuer Mensch! Ich werde im nächsten Abschnitt einen Vorläufer einer solchen Radikalphysiognomie aus der Spätrenaissance vorstellen, dessen Allmachtsphantasien heute eher Unterhaltungswert aufweisen – vorausgesetzt, wir blenden den eben diskutierten Kontext aus. Die Umsetzung dieser Verheißungen wird mittlerweile auch medial aufwändig in Szene gesetzt. Eine besonders erfolgreiche Repräsentation der «Wunder» ästhetischer Chirurgie war die Fernsehshow «Extreme Makeover», die zwischen 2002 und 2007 vom Fernsehsender ABC ausgetragen wurde und am Beispiel – vor allem weiblicher –Freiwilliger Körpertransformationen vor dem Bildschirm miterlebbar machte. Diese Shows tragen dazu bei, zunehmend gewagte und raffinierte Körpereingriffe zu normalisieren. Dadurch werden dann paradoxerweise auch individuellere und subversive Körpermodellierungen tolerierbar: […] we can also consider the number of «non-normative» surgeries that are increasingly taking place – transsexual surgery, operations to make the patient more like a tiger, amputations, as well as breast implants in men or shaped collarbone implants adding interest to any body.53

Derartige Identitätsprojekte haben zweifellos für einzelne Menschen ein liberatorisches Potential, da sie die ästhetische Chirurgie dazu nutzen, ein außergewöhnliches Selbstbild jenseits ästhetischer Ideale in Szene zu setzen. Nicht zuletzt feministische Performance-Künstlerinnen versuchen auf diese Weise, normative Disziplinierungstechnologien in ihr Gegenteil zu verkehren.54

51 Pitts: The Surface, S. 100. 52 Gilman: Making the Body, S. 227. 53 Ruth Holliday/Jacqueline Sanchez Taylor: Cosmetic Surgery as False Beauty. In: Feminist Theory 7/2006, S. 179–195, hier: S. 189. 54 In diesem Sinne agieren etwa feministische Performance-Künstlerinnen wie Orlan oder ­Marina Abramović.

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Doch es wäre naiv zu glauben, dass diese Selbstentwürfe außerhalb eines omnipräsenten Ästhetikdispositivs, das letztlich eine globalisierte neoliberale Konsumkultur aufrecht erhält, zu haben wären. Vielmehr muss die subversive Aneignung der normativen Körpertechnologien auch in ihrer Funktion als paradoxe Bestätigung der Logik der Selbstoptimierung gesehen werden. Die Freakshow als die Kehrseite des Erhabenen, Wahren und Schönen setzt diese umso mehr in ihr Recht, je überzeugender sie vermeintliche Freiheiten suggeriert. Doch die öffentliche Toleranz gegenüber devianten Körperpraktiken generiert für die neoliberale Ökonomie durchaus auch einen ästhetischen Mehrwert: Die visuelle Präsenz devianter Stile und Formen ermöglicht in ihrer abgeschwächten und marktförmigen Aneignung Modifizierungen und neue Einkleidungen des dominanten ästhetischen Ideals, wodurch das Begehren und damit die Konsumbereitschaft kontinuierlich erweitert werden kann. So gesehen haben subversive Körperpraktiken immer auch eine Avantgarde-Wirkung auf die Semantik von Körpernormen.

Authentizität als Maßarbeit In diesem Zusammenhang finde ich die zwar schleichend verlaufende, aber umso folgenreichere Metamorphose, die der Begriff Natur erfahren hat, von zentraler Bedeutung: Als «Natur» gilt nicht mehr die gleichsam rohe Materie und deren Eigengesetze, also das, was ich andernorts unter Bezugnahme auf Aristoteles als Natur erster Ordnung bezeichnet habe. Vielmehr wird der zweite Naturbegriff Aristoteles’ aus dem historischen Gedächtnis gehoben. Denn inzwischen bezieht sich der Begriff auf eine geheime Kraft, die erst durch technologische Zurichtungen entfaltet werden muss. Die neue (Zauber)Formel für Natur lautet: Authentizität. Diese semantische Verschiebung ermöglicht aber zugleich einen partizipativeren Zugang zur plastischen Chirurgie, wie es am eindringlichsten Transsex- und Transgender-Personen verdeutlichen. Während die ersten SexReassigment-Operationen aufgrund der medizinischen Analyse des Arztes ­erfolgten, gibt es inzwischen eine sich ausdifferenzierende Trans-Kultur, die individuelle Selbstermächtigung durch kollektive Narrationsangebote unterstützt. Wie Sander L. Gilman darlegt, folgen die ersten chirurgischen Eingriffe zur Modifizierung der sexuellen Identität noch recht ungebrochen dem Paradigma der Rekonstruktion: Entweder es liegt tatsächlicher Hermaphroditismus vor, d. h. es finden sich eindeutige physische Merkmale beider Geschlechter. In diesem Fall muss dann laut medizinischem Diskurs jenem Geschlecht zur vollständigen Repräsentation verholfen werden, das sich – meist in der Pubertät – stärker herausbildet. Oder aber es handelt sich um verdeckten Hermaphroditismus, der



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sich zunächst vor allem psychisch manifestiert, laut medizinischem Diskurs aber durch eine entsprechende hormonelle oder chromosomenbedingte Disposition verursacht wird. Hier lässt sich wieder Pitts Beobachtung verifizieren, wonach seelisches Leiden auf eine gestörte Ordnung der Natur schließen lässt, die der Chirurg heilen kann. So beschreibt Gilman die Position von John Money, der im Übrigen als einer der ersten den Begriff gender geprägt hat, um seine – wie wir heute wissen – oft sehr zweifelhaften Geschlechtsmanipulationen zu ­legitimieren: Surgery is the path to happiness, and for Money transgender surgery is reconstructive along a spectrum running from the resolution of the ambiguous morphology present in fetal deformation to adult transsexual surgery. Surgery becomes the means of restoring order and making the psyche happy through the establishment of a unitary identity.55

Mit der neuen Losung «Authentizität» ist die einseitige Deutungsmacht auf Seiten  des Experten aber nicht länger haltbar, aus PatientInnen werden ­AuftraggeberInnen, die ihre eigenen Wünsche realisieren lassen. Derartige Subkulturen nehmen die sozialen Ausschlusskriterien vielfach affirmativ auf und deuten sie zu einer eigenmächtigen Identität um, die Anleihen bei einer Ästhetik des ­Grotesken nimmt, also einem Stil, der ebenfalls in der Frühen Neuzeit entwickelt wird. Im Hinblick auf Trans-Kulturen finde ich für diese Strategien eine Szene aus Pedro Almodóvars 1999 erschienenen und mit einem Auslands-Oscar preisgekrönten Film Todo sobre mi madre besonders indikativ, in der eine Transsexuelle ihre Körpertransformationen vor Publikum als gelungenes Identitätsprojekt darlegt: Me llaman la Agrado, porque toda mi vida sólo he pretendido hacerles la vida agradable a los demás. Además de agradable, soy muy auténtica. Miren qué cuerpo, todo hecho a medida: rasgado de ojos 80.000; nariz 200, tiradas a la basura porque un año después me la pusieron así de otro palizón [...] Ya sé que me da mucha personalidad, pero si llego a saberlo no me la toco. Tetas, 2, porque no soy ningún monstruo, 70 cada una pero estas las tengo ya superamortizás. Silicona en labios, frente, pómulos, caderas y culo [...] Limadura de mandíbula 75.000; depilación definitiva en láser, porque la mujer también viene del mono, bueno, tanto o más que el hombre [...] bueno, lo que les estaba diciendo, que cuesta mucho ser auténtica, señora, y en estas cosas no hay que ser rácana, porque una es más auténtica cuanto más se parece a lo que ha soñado de sí misma.56

55 Gilman: Making the Body, S. 270. Money experimentierte in den 1960er Jahren mit der Geschlechtsumwandlung eines zweijährigen Jungen, dessen Penis bei einer Beschneidung ­verstümmelt worden war. Der Betroffene litt in seiner neuen Rolle als Mädchen und ließ die Operation in der Pubertät rückgängig machen. Später beging er Selbstmord. Der Fall «John/Joan» wurde vielfach als Indiz gegen die Theorie der Konstruiertheit von Geschlecht vorgebracht, worauf u. a. Judith Butler: Undoing Gender. New York/London: Routledge 2004, S. 59 ff., repliziert. 56 Monolog der Agrado in Pedro Almodóvars Film Todo sobre mi madre, 101’ (1999).

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Träume kleiden sich in Bilder. Und tatsächlich hat sich in unserer zunehmend von Bildern dominierten Medienwelt ein Paradigmenwechsel vollzogen, der ähnlich weitreichende Folgen nach sich zieht wie die Durchsetzung von Buchdruck und Zentralperspektive in der Renaissance. Denn die globale Ökonomie des Konsums hat nicht nur eine Bilderflut an artifiziellen «Role Models» hervorgebracht, sondern darüber hinaus neue Medien, die es erlauben, digitale Idealrepräsentationen des imaginierten Selbst eigenhändig zu kreieren. Dieser technologische Wandel von Medien, die über uns walten,57 zu solchen, die uns das Simulacrum des Spielleiters erlauben, verändert unsere Interpretation von Authentizität qua Natur. Daraus resultiert ein vermeintlich erweiterter Spielraum im Einlösen authentischer Verkörperung, die die technologische Intervention nicht mehr schamhaft camouflieren muss, sondern als individuelle Errungenschaft performiert. Es hat also den Anschein, dass nicht länger der Chirurg als Künstler firmiert, sondern die vormals machtlosen PatientInnen ihren Körper zum einmaligen Kunstwerk umgestalten. Folgerichtig ist das Ästhetikprogramm nicht mehr einer Mimesis verpflichtet, vielmehr wird die Körperextension, Prothese etc. zur Schau gestellt. Tatsächlich verdankt sich die neue Authentizität ja einer zweifachen technologischen Steuerung: Zunächst heften sich Begehrlichkeiten an neue – technologisch veränderte – Bilder, die dann mittels ausgeklügelter Biotechnologien dem menschlichen Körper einverleibt werden. Doch dieser neue, personalisierte Idealleib verdankt sich einer Technologie des Seriellen, das sich per definitionem einer wie immer gearteten Authentizität verweigert. Denn die Angebotspalette der Schönheitschirurgie umfasst einen Katalog an Nasen, Brüsten etc., der den Gestaltungsspielraum determiniert. Der Befund von Walter Benjamin, wonach «Aura» im Zeitalter der technologischen Reproduzierbarkeit nicht mehr einlösbar ist, erfährt mit der Praxis der ästhetischen Chirurgie eine Zuspitzung. Benjamin selbst stellt in seiner Analyse einer medialen Massenkultur die Figur des Chirurgen jener des Magiers gegenüber: Der Magier erhält die natürliche Distanz zwischen sich und dem Behandelten aufrecht; genauer gesagt: er vermindert sie – kraft seiner aufgelegten Hand – nur wenig und steigert sie – kraft seiner Autorität – sehr. Der Chirurg verfährt umgekehrt: er vermindert die Distanz zu dem Behandelten sehr – indem er in dessen Inneres dringt – und er vermehrt sie nur wenig – durch die Behutsamkeit, mit der seine Hand sich unter den Organen bewegt [...] zum Unterschied vom Magier [...] verzichtet der Chirurg im entscheidenden Augenblick darauf, seinem Kranken von Mensch zu Mensch sich gegenüber zu stellen; er dringt vielmehr operativ in ihn ein. – Magier und Chirurg verhalten sich wie Maler und Kameramann.58 57 Stanley Cavell: Die Tatsache des Fernsehens. In: Ralf Adelmann u. a.. (Hg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz: UVK 2002, S. 25–164. 58 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 31977, S. 32.



Postmoderne Körperregimes 

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In der ästhetischen Chirurgie geriert sich der Operateur nun aber meiner Meinung nach gleichzeitig als Magier. Und wie in Benjamins Analogon zum Film, multipliziert sich im operativen Eingriff der Einsatz von Technologien ebenso wie die Beteiligung (unsichtbarer) AkteurInnen. Daraus resultiert die Frage, wer denn nun KünstlerIn ist, bzw. – um terminologisch schon zum nächsten Kapitel überzuleiten – wer denn nun den Status des Demiurgen für sich beanspruchen kann: die KundInnen, die ChirurgInnen oder die ComputerspezialistInnen, die das Bilderrepertoire und dessen Manipulierbarkeit bereitstellen? In diesem Kontext lässt sich Foucaults Figuration des Dispositivs besonders eindringlich veranschaulichen: Gerade das komplexe Geflecht von AkteurInnen und Technologien lässt die Positionen verschwimmen; in der Uneindeutigkeit von Verantwortlichkeit und Autorität maskiert sich eine wirkmächtige hegemoniale Technologie als individuelle kulturelle Spielart. Und mit Benjamin kann der vorläufige Schluss gezogen werden, dass die Ästhetisierung der (Körper-)Politik die Politisierung des Ästhetischen – wie sie etwa in Performancekunst aufspürbar ist – ersetzt. Denn inzwischen ist die ästhetische Chirurgie nicht nur ein Massenphänomen, in vielen Schwellenländern wie z. B. Brasilien steht sie auch im Dienste des Strebens nach sozialem Aufstieg – womit sie sich als Substitut politischer Aktion darstellt. Die weitreichenden Folgen dieser Biotechnologien manifestieren sich leiblich, im phänomenologischen Körperspüren bzw. im Körperschema.59 Denn mit den Grenzen zwischen Artefakt und lebendiger Materie verschwimmen auch jene zwischen Geist und Körper, mit dem neuen Körper verändert sich auch die Selbstwahrnehmung: Through somaesthetic projects we not only think ourselves differently, but we also make ourselves differently, changing our embodied selves in ways that quickly become not readily separable into physical and cognitive components.60

Mit Implantaten, Tätowierungen und Umfärbungen bieten sich postmoderne Körper zum Studium ihrer Einschreibungen und Einverleibungen dar. Im Cyborg verschwimmen nicht nur physische und kognitive Komponenten, seine Analyse verlangt nach einer Verknüpfung von ästhetischen, politischen und ­wissenschaftlichen Kategorien. Auch diese Durchdringung von Kunst und Wissenschaften beschreibt Benjamin als Merkmal serieller Medien, verweist aber auf eine ähnliche Situation in der Renaissance:

59 Begriff nach Shaun Gallagher: How the Body Shapes the Mind. New York: Oxford University Press 2005. 60 Cressida J. Heyes: Self-Transformations. Foucault, Ethics, and Normalized Bodies. New York: Oxford University Press 2009, S. 135.

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Auch da begegnen wir einer Kunst, deren unvergleichlicher Aufschwung und deren Bedeutung nicht zum wenigsten darauf beruht, daß sie eine Anzahl von neuen Wissenschaften oder doch von neuen Daten der Wissenschaft integriert. Sie beansprucht die Anatomie und die Perspektive, die Mathematik, die Meteorologie und die Farbenlehre.61

Im Folgenden werde ich darlegen, wie sich im Zuge der medialen Umbrüche im 16. Jahrhundert die Figur des Scharlatans bzw. des Quacksalbers zum Magier modelliert, der für sich wiederum eine neue Art von Wissenschaft reklamiert.

Entzauberung des Okkulten oder Magie der Wissenschaft? Was wir heute – wie auch Benjamin im letztgenannten Zitat – als avancierte wissenschaftliche Praktiken ansehen, nahm bis zum 16. Jahrhundert im wissenschaftlichen Kanon einen marginalisierten Status ein. Die Anatomie war keine akademische Disziplin, sondern vielmehr eine Art Hilfstechnologie, die in der christlichen Tradition stigmatisiert und manchmal sogar sanktioniert wurde, da die Unversehrtheit des Leibes trotz der Doktrin der vom Körper unabhängigen unsterblichen Seele für den rite de passage als wichtig galt. Darüber hinaus favorisierte die medizinische Lehre ein holistisches Menschenbild, in dem die humoralpathologische Vorstellung vom Gleichgewicht der vier Körpersäfte Gesundheit definierte. Im Zentrum stand das physiologische Zusammenspiel der unterschiedlichen Körpersysteme; die Morphologie und die Funktion einzelner Organe nahm daher während des gesamten Mittelalters einen untergeordneten Stellenwert ein. Chirurgische Eingriffe oblagen folgerichtig neben Zahnziehen, Rasieren und anderen hygienischen Körperpraktiken der marginalisierten Zunft der Barbiere und Quacksalber. Auch weitere anatomische Forschungen wurden bis zur Renaissance eher vernachlässigt; eine Ausnahme bildeten allenfalls Fragen der Wundversorgung, der in der Schule von Salerno große Aufmerksamkeit eingeräumt wurde, sowie die Gynäkologie, die im Rahmen der Obstetrik basale anatomische Kenntnisse vermittelte.62 61 Benjamin: Das Kunstwerk, S. 35 n. 24. 62 Die Salernitanische Wissensproduktion findet auch Eingang in die Grande Chirurgie (1363) der Franzosen Henri de Mondeville und Guy de Chauliac, dazu sowie zum Stellenwert der Chirurgie im Allgemeinen siehe Roy Porter. Hospitals and Surgery. In: The Cambridge Illustrated History of ­Medicine, hg. von Roy Porter. Cambridge: University Press 32006, S. 202–246; zu den anatomischen Studien im Rahmen der Gynäkologie siehe Katharine Park: Secrets of Women. Gender, Generation and the Origins of Human Dissection. New York: Zone 2006. In diesem bahnbrechenden Buch weist Park nach, dass außerhalb der Akademien Dissektionen in unterschiedlichsten Kontexten vor allem an Frauen ausgeführt wurden, um der ihren Körper innewohnenden Secreta habhaft zu werden.



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Erst an der Wende zwischen dem 15. Jahrhundert und dem 16. Jahrhundert erwachte ein erneutes systematisches Interesse an der Kartographie der einzelnen Körperteile. Dieses verfolgte jedoch keineswegs ausschließlich medizinische Zielsetzungen, sondern wurde maßgeblich von handwerklichen und ästhetischen Visualsierungsstrategien im Rahmen neuer Bildprogramme motiviert, was etwa Andreas Vesalius’ Anatomieatlas De humani corporis fabrica libri septem (Basel 1543) oder dessen spanischer Epigone Juan Valverde de Amusco mit seiner Historia de la composición del cuerpo humano (Rom 1556) durch eindrucksvolle großformatige Holzschnittillustrationen belegen. Wie ja auch das Zitat Benjamins nahelegt, sind Studien zu Anatomie und Perspektive in der Renaissance eng verflochten, denn es geht um eine neue Sicht und um eine neue Sichtbarmachung des menschlichen Körpers. Im Rahmen dieser innovativen Ikonologie wird auch die von Benjamin aufgeworfene Frage der Farbgebung reformiert. Farbenlehre und Meteorologie lassen sich dem Korpus der Alchemie zuordnen, einer aus heutiger Sicht esoterischen und rabulistisch anmutenden Geheimlehre. In der Frühen Neuzeit verstanden sich AlchemistInnen aber vielmehr als EmpirikerInnen, die aus der detaillierten Kenntnis der Materie Wissen generierten: «Virtually all alchemists manipulated various materials and substances to produce new effects. It was a manual art, not a contemplative exercise.»63 Alchemie und Anatomie bzw. Chirurgie galten also nicht als Schulwissen, sondern schöpften vielmehr verkörpertes Wissen aus täglicher Praxis. Dessen Aufschwung ist eng mit jenen Pluralisierungsphänomenen verknüpft, die ich in Kapitel 3 diskutiert habe.

Stigma der Anderen oder Gottesstrafe Eine Begleiterscheinung der zunehmenden Mobilität und der Eroberungs- und Expansionsbewegungen in der Frühen Neuzeit stellten die verheerenden Epidemien dar, die sich über ganz Europa ausbreiteten, neben Typhus war das vor allem die Syphilis. Die symbolische Aufladung dieser Plagen vermittelt ein tieferes Verständnis für die soziokulturellen Veränderungen an der Schwelle zur Neuzeit. Notwendige hygienische Maßnahmen folgen nämlich regelhaft Ausgrenzungsphantasien sozialer Art und moralischen Restriktionen im Sinne der Gegenreformation, da die Ursprünge der Epidemien mit der Konstruktion des Anderen verknüpft werden: «It was a disease connected with the Other».64 63 William Eamon: Professor of Secrets, S. 78. 64 William Eamon: Cannibalism and Contagion: Framing Syphilis in Counter-Reformation Italy. In: Early Science and Medicine 3,1/1998, S. 1–31, hier: S. 5.

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Das Andere, das Abjekte, modelliert sich über die Kategorien race, class und gender, wodurch die Kolonisierungstendenzen nach Innen und nach Außen im Zirkelschluss legitimiert werden. Die «ethnische» Konstruktion der Krankheit ist schon ihrem Namen eingeschrieben: Die von Girolamo Fracastoro eingeführte Bezeichnung Syphilis setzt sich erst im 18. Jahrhundert durch, zunächst wird sie in Italien mal francese, in Spanien mal frances bzw. in den ersten medizinischen Schriften morbus gallicus genannt; bei ihrem Auftreten in Frankreich mutiert sie zur neapolitanischen, in Polen zur deutschen und in Russland zur polnischen Krankheit.65 Das Einfallstor des Übels befindet sich also unmittelbar zum Feind bzw. zum Nachbarn hin. Freilich gibt die ursprüngliche Bezeichnung der Krankheit auch Aufschluss über ihre ersten Lokalisierungen. Die Anfänge der Epidemie lassen sich auf 1494/5 zurückverfolgen, als die Soldaten des französischen Königs Karl VIII. in Neapel einmarschierten. Für den Kirchenstaat und später auch für die reyes católicos, die ihre Herrschaftsansprüche über Süditalien verteidigten, kam die Plage daher nicht ungelegen: als Schwächung des feindlichen Heeres und als moralische Denunzierung des als häretisch geltenden Frankreich. Eine weitere sich bis heute haltende Ursprungslegende in Hinblick auf die Syphilis wiederum basiert auf der Koinzidenz ihres Ausbruchs mit der Eroberung des «neuen» Kontinents und liefert Argumente für die Kolonisierung Amerikas. Denn bis vor kurzem wurde das Auftreten der Syphilis mit den sexuellen Kontakten zwischen den spanischen Besetzern und der indigenen Bevölkerung in Nueva España in Verbindung gebracht. Diese Theorie stammt zunächst von Gonzalo Fernández de Oviedo y Valdes (1478–1557) und wurde von spanischen und italienischen Intellektuellen weiter kolportiert.66 Tatsächlich dürfte die Virulenz der Epidemie am Ende des 16. Jahrhunderts auf eine Mutation zurückzuführen sein, wie sie häufig beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher ­genetischer Resistenzen entsteht. Soziokulturell ermöglichte diese These allerdings, die ­ ethischen Bedenken gegen die Unterwerfung der indigenen Bevölkerung von Theologen wie Francisco Vitoria zu konterkarieren, da die angeblichen sexuellen Ausschweifungen der Indios deren Zwangsmissionierung zu katholischen 65 Zur Geschichte der Syphilis in der Frühen Neuzeit siehe: Jon Arrizabalaga/John Henderson/ Roger French: The Great Pox: The French Disease in Renaissance Europe. New Haven/London 1997. Eine interessante Etymologie des Begriffs Syphilis als kontaminierte Übersetzung von Vergils “melissophylon” bietet Katharina N. Piechocki: Syphilologies: Fracastoro’s Cure and the Creation of Immunopoetics. In: Comparative Literature 68(1)/2016, S. 1–16. 66 Gonzalo Fernández de Oviedo y Valdés: Historia general y natural de las Indias Occidentales, islas y tierra firme del Mar Oceano. Sevilla: Juan Cromberger 1535. Vor dieser ersten Fassung gab Fernándenz de Oviedo bereits 1526 eine Kurzversion heraus, den Sumario de la Natural Historia de las Indias, der 1532 ins Italienische und weiters ins Lateinische und Englische übersetzt wurde.



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Keuschheitsidealen rechtfertigte. Zuweilen zeitigte die Stigmatisierung der Ureinwohner dabei bizarre Ausformungen. William Eamon etwa stellt die These des italienischen Vielschreibers Leonardo Fioravanti vor, wonach die Krankheit eine Folge des in der indigenen Bevölkerung angeblich verbreiteten Kannibalismus sei.67 Auch Fracastoros Lehrgedicht Syphilis sive de morbo gallico verortet die Genese der Epidemie in Amerika und bestimmt deren Funktion gleich als doppelte göttliche Strafe. Gegen Ende des Poems wird dem General der spanischen Flotte von einem paradiesischen Vogel folgende Prophezeiung zuteil: But you will not be permitted to subdue these new regions and a peaceful people long accustomed to freedom, nor to found cities and establish rites and religion, before you have suffered unspeakable calamities on sea and land, before you have battled many nations and laid high your dead bodies in a strange land [...] And that day is night when an unknown affliction will defile your bodies and, in your misery, you will seek remedy in these woods, until you come to repent of your crimes.68

Der Vogel steht wohl für die religiösen Symbole der Azteken, repräsentiert etwa in der Federkrone. Wenig später wohnen die Spanier einem alljährlichen Opferritual bei, bei dem eine Gruppe von Siechen eine Abkochung der Guaiacumrinde verabreicht bekommt. Auf Nachfrage des Generals erläutert der Häuptling die Hintergründe der Krankheit: Der Hirte Syphilis hatte sich versündigt, weil er dem Sonnengott die Verehrung verweigerte und stattdessen seinen König als Gott verehrte. Tatsächlich galt der Legende nach der Sonnengott Huitzilopochtli als Hauptgott der Azteken. Er war der Patron des Machtzentrums Tenochtitlán, das Hernán Cortés und seine Soldaten zerstört hatten. In Fracastors Gedicht wird dieser Gott mit Apollo gleichgesetzt, der wie sein aztekisches Pendant auch Kriegsgott war. Im Subtext klingt so auch hier Kannibalismus an, denn – wie Berichte spanischer Eroberer kundtaten – wurden in Mesoamerika dem Sonnengott regelmäßig Kriegsgefangene geopfert. Dem letzten großen Herrscher der Azteken, Moctezuma, wird nachgesagt, er habe sich eine nahezu göttliche Macht arrogiert, worauf die erste Gottesstrafe in Fracastoros Gedicht anspielen könnte. Darin haben sie aber ihrem Götzendienst entsagt, nachdem ihnen die Götter die Epidemie geschickt hatten. Seither opfern sie Stiere und Schafe und – lediglich

67 William Eamon: Cannibalism. Er bezieht sich auf die Capricci medicinali (Venedig 1561) von Leonardo Fioravanti. Zur Person des Autors siehe nächstes Kapitel. 68 Girolamo Fracastoro: Syphilis, Übersetzung James Gardner, S. 70–71: Sed non ante novas dabitur summittere terras/et longa populos in libertate quietos,/ molirique urbes, ritusque ac sacra novare,/quam vos, infandos pelagi terraeque labores/perpessi, diversa hominum post proelia, multi/mortua in externa tumuletis corpora terra./[...] nec sera manet vos/illa dies, foedi ignoto cum corpora morbo/auxilium silva miseri poscetis ab ista,/donec paeniteat scelerum [...]

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symbolisch, wie Fracastoro mehrmals betont – einen Schäfer: «[...] and a shepherd, led to the sacred altars as a fictitious victim, attests to your crime, Syphilus».69 Verknüpft man diese verschachtelte Gottesstrafe mit dem Anfang des Gedichts, der allgemein eine Hypothese zum Ausbruch von Epidemien anbietet, ergibt sich eine Synthese aus Fracastoros nüchterner medizinisch-naturphilosophischer Haltung mit einer metaphysischen Sinngebung: Seuchen werden nämlich über Keime, die feinstofflich in der Luft strömen, übertragen. Diese These wird er 1546 in De Contagione seinem Paradigma des Kontakts folgend weiter ausbauen. Im wesentlich früher entstandenen Gedicht – allgemein geht die Forschung trotz des Publikationsdatums 1530 davon aus, dass es zwischen 1510 und 1515 verfasst wurde – spricht er zwar von semina morbi, führt aber nicht weiter aus, wie diese sich «entzünden», sondern erläutert, dass jeweils astrale Einflüsse die Epidemie aktualisieren. Denn er stellt außer Streit, dass eine Seuche, wenn sie einmal in der Welt ist, immer wieder ausbrechen kann, auch wenn dazwischen Generationen verschont werden. Astrale Einflüsse korrelieren nun in Syphilis mit göttlichen Strafen und deshalb wird die Krankheit in dem Moment wieder virulent, als die Spanier sich fremde Länder aneignen und sich damit die Rolle der Eroberer anmaßen. Diese Konklusion obliegt freilich aufmerksamen LeserInnen, denn über lange Strecken widmet sich der Text lediglich der Ätiologie und der Therapie der Syphilis. Auffallend ist, wie wenig Raum die zur Entstehungszeit des Gedichts bekannte Hauptansteckungsform, der sexuelle Kontakt, einnimmt. Denn erst, nachdem er sämtliche Diätvorschläge auflistet, rät Fracastoro: «But forgo the pleasures of Venus and, above all, avoid soft dalliances. Nothing is more harmful. Beautiful Venus herself and all lovely maidens beside hate disease.»70 Dennoch ließe sich aus dem Ursprungsmythos von Fracastoro eine Allusion auf die moralische Minderwertigkeit der Ureinwohner Mesoamerikas ableiten, denn darin ist der Namenspatron der Krankheit ein Schäfer, womit das Delikt der Sodomie (im heutigen Sinne) im Raum steht. Die Unterwerfung der Indios wurde durch die doppelte Verfehlung – sexuelle Exzesse und Kannibalismus – in den meisten frühen Texten zur Syphilis hinreichend legitimiert, konnte es sich doch bei jenen, die derartig basale moralische Werte verletzten, nicht um vollwertige Menschen handeln. Die Rolle der Eroberer 69 Fracastoro: Syphilis, Übersetzung James Gardner, S. 81–82: Ille tuum testatur, Syphile, crimen, victima vana, sacras deductus pastor ad aras. 70 Fracastoro: Syphilis, Übersetzung James Gardner, S. 38–39: Parce tamen Veneri, mollesque ante omnia vita/concubitus: nihil est nocuum magis, odit et ipsa/pulchra Venus, tenerae contagem odere puellae.



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als die eigentlichen Träger der Kontamination nach Europa wurde bis auf die nur bei Fracastoro unterschwellig anklingende Gottesstrafe weitgehend ausgeblendet. Dass diese der Verführung durch die «Wilden» anheimfielen, war ob deren entblößter Leiber und lasziver Bewegungen lässlich.71 Ähnliches gilt für den europäischen Kontext. Neben den marranos, den aus Spanien vertriebenen Juden, und später auch den Mauren, sind es hier zunehmend die Frauen und deren «natürlicher» Hang zur Lasterhaftigkeit, die tödliche Epidemien verantworten. Krankheit als Strafe Gottes wurde analog zur Erbsünde von Eva metaphorisiert. Frauen sind als Opfer der Syphilis im öffentlichen Raum weniger sichtbar, was sie zusätzlich verdächtig macht, da sie angeblich trotz Kontaminierung keine Leiden entwickelten. Einer der ersten, der die Ätiologie der Syphilis detailliert beschreibt, ist der Valencianische Arzt Gaspar Torella. Laut José María Lopez Piñero verdankte er seine Kenntnisse einem illustren Patienten: César Borja bzw. Borgia, der Sohn von Rodrigo Borja, dem späteren Papst Alexander VI.72 Auf die Frage, warum die Frauen, mit denen der infizierte junge Adelige schläft, keine Symptome des Übels zeigten, bietet Torella eine humoralpathologische These, mit der über die Jahrhunderte auch die weibliche Minderwertigkeit in Bezug auf intellektuelle Leistungen erklärt wurde: Man hätte sich nicht wundern brauchen. Denn Männer waren wärmer als Frauen, und sie haben passende Poren auf dem männlichen Glied und die aus dem Uterus aufsteigenden Dämpfe verderben ihn schneller. Deshalb müssen sie sich vor dem Beischlaf mit einer infizierten Frau hüten. Die Frau aber ist kälter und infiziert sich daher nicht, außer durch wiederholten Umgang mit einem infizierten Mann. Denn ihr Uterus ist kalt, trocken, dicht und kaum empfänglich für Verletzung. Auch wird der Samen eines infizierten Mannes nach der Aufnahme rascher wieder von ihr ausgestoßen [...]73

Die Frau als feuchtes Mängelwesen sei also scheinbar gegen die Seuche gefeit und – so wohl der Folgeschluss – kann daher unbehelligt dem Laster frönen. Dass der Generalverdacht der Sittenwidrigkeit gegen Frauen deren Freiräume gegen Ende des Jahrhunderts zusätzlich einschränkte, ist aus zahlreichen Studien

71 Siehe dazu Asunción Lavrin (Hg.): Sexuality and Marriage in Colonial Latin America. Lincoln: University of Nebraska Press 1992. 72 José María Lopez Piñero: Medicina e historia natural en la sociedad española de los siglos XVI y XVII. Valencia: Universidad de Valencia, S. 146. 73 Gaspar Torrella: Tractatus cum consiliis contra pudendagram seu morbum gallicum, Rom: Pietro de la Torre (Inkunabel, fol. 13): [...] Non debebat admirari nam viri erant calidiores mulieribus et habent poros aptos in membro virili et vaporos a matrice corrupti eleuati eum celerius coprrumpunt quare cauendum est a cohitu cum muliere infecta mulier vero que frigidior non sic inficitur nisi fortasse excrebro usu cum viro infecto nam matrix est frigidam sicca densa minimeque lesionis receptiva semen etiam viri infecti ab ea susceptum celerius eicitur […]

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belegt. In diesen Zeitraum fallen etwa in Spanien auch die ersten strukturellen Regulierungen der Prostitution, die zunehmend ghettoisiert stattfand.74 Außerdem wurden mit der Epidemie auch jene Kranken, die sich im Gegensatz zu César Borja keine Privatärzte leisten konnten und deren Unterernährung und mangelnde Hygiene den Krankheitsverlauf verschärfte, in eigene Asyle abgesondert, wie etwa das berüchtigte Ospedale degli Incurabili in Neapel.75 Die Hafengegend dieser Stadt führt die Konstruktion des Anderen in der Frühen Neuzeit emblematisch vor Augen: Arme, Prostituierte und Andersgläubige bzw. Andersdenkende unterschiedlichster Provenienz belasten Kirche und Machthaber gleichermaßen und repräsentieren doch nur die logische Kehrseite von Urbanisierung und protokapitalistischer Ökonomie. Doch nicht nur restriktive Politiken, sondern auch Selbstregulierung als eine Reaktion auf die von den neuen Plagen ausgelösten Ängste etablierte sich als Verhaltenskodex unter den Bedingungen eines zunehmend niedrigschwelligen Zugangs zu Wissen. So erfasste die «Sorge um sich selbst», das mit dem «gnóthi seautón», dem «Erkenne dich selbst» verschmilzt, welches in Anlehnung an die Inschrift auf dem mythischen Tempel von Delphi vielen medizinphilosophischen Traktaten als Leitspruch diente, immer weitere Bevölkerungsgruppen, die daher nach Selbsthilfe-Anleitungen Ausschau hielten. In diesem Zusammenhang erlangte die sogenannte Secreta-Literatur eine bis dahin ungeahnte Nachfrage.

«Professori de’ segreti» oder Geheimwissen als Bestsellerliteratur Dabei handelt es sich um eine Textsorte, die für die unterschiedlichsten hygienischen, medizinischen, ästhetischen, diätetischen etc. Bedürfnisse Rezepturen bereithielt. William Eamon sieht sie daher als eine frühe Ausformung der «How to»-Bücher,76 die ja nach wie vor für Verkaufserfolge des Buchhandels sorgen. Doch im Unterschied zu den populären und populistischen Publikationen 74 Zu dem Schwinden weiblicher Freiräume im 17. Jahrhundert siehe Mary E. Perry: Gender and Disorder in Early Modern Seville. Princeton: University Press: 1990; zur restriktiven Politik in Bezug auf Prostitution siehe Isabel Ramos Vázquez: La represión de la prostitución en la Castilla del siglo XVII. In: Historia, instituciones, documentos, 32/2005, S. 263–286. 75 Zu diesen Einrichtungen siehe Arrizabalaga u. a.: The Great Pox, Kapitel 7–8. Eamon berichtet in Professor of Secrets, S. 74, darüber, dass Fioravanti von Eleonora de la Vega, der Frau des Spanischen Vizekönigs beauftragt worden war, sich um die Heilung der dort Hospitalisierten zu kümmern. 76 Diese Gattungszuordnung entnehme ich William Eamon: Science and the Secrets of Nature. Princeton: University Press 1994, S. 4.



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­ eutigen Zuschnitts, die wissenschaftliche Erkenntnisse für den Alltagsgebrauch h übersetzen und mit Folklore versetzen, lässt sich für «i professori de’ segreti»77 eine andere, beinahe gegenläufige Textintention beobachten. Denn sie beziehen sich auf vorher mündlich tradierte Rezepturen und Techniken der Volksmedizin, die sie systematisch erfassen, weiterentwickeln, verfeinern, die sie aber gleichzeitig in eine innovative Epistemologie hinsichtlich ihrer Prinzipien und Effekte einpassen, um sich innerhalb der anti-scholastischen Naturphilosophie zu verorten. Dies ist insofern bemerkenswert, als der Prototyp der Textsorte, das Secretum secretorum in Mittelalter und Früher Neuzeit Aristoteles zugeschrieben wurde. Dieser habe die darin enthaltenen «Geheimnisse» an seinen Schüler, Alexander den Großen, weitergegeben. Ausgerechnet im gleichen Jahr, in welchem mit dem extrem erfolgreichen Werk I Secreti del reverendo donno Allessio Piemontese (1555) die Secreta-Literatur neu erfunden wurde, gab es auch eine Neuauflage des «Urtexts», wodurch der Unterschied zwischen Original und Neuansatz offenkundig wird: Although both were books of secrets, they advanced radically different ideologies concerning scientific discovery and the dissemination of knowledge [...] One defended an esotericist doctrine, while the other championed the ideals of empiricism and public science. As one tradition of secrets-literature came to a close in 1555, another opened.78

Tatsächlich stilisiert sich der fiktive Autor der Secreti – bald wird sich der venezianische Universalgelehrte Girolamo Ruscelli als Urheber des Textes zu erkennen geben – nicht als Hüter des Elfenbeinturms, sondern vielmehr als Handlungsreisender von Geheimrezepten, die er auf ausgedehnten Reisen durch Italien, Deutschland, aber auch Syrien, Palästina etc. gesammelt habe. Dabei kennt er auch keine Berührungsängste gegenüber der Populärkultur, stammen seine Rezepturen doch «[...] non solamente da grandi huomini per dottrina, & da gran Signori, ma ancora da pouere feminelle, d’artegiani, da contadini, & da ogni sorte di persone.»79 77 Diesen Begriff prägte Tommaso Garzoni, der 1585 ein Kompendium zeitgenössischer Berufsbilder vorlegte, die Piazza universale di tutte le professioni del mondo. Von dem Werk gibt es eine kritische Ausgabe, die von P. Cherchi und B. Collina herausgegeben und bei Einaudi in Turin im Jahr 1996 erschienen ist. Eamon, der sich eingehend mit Secreta-Literatur beschäftigt hat, entlehnt den Terminus für seine erste Monographie zum Thema. 78 William Eamon: How to Read a Book of Secrets. In: Elaine Leong/Alisha Rankin: Secrets and Knowledge in Medicine and Science 1500–1800. Ashgate 2011, S. 23–46, hier: S. 26. Zur Ausgabe des pseudoaristotelischen Secretum secretorum siehe Charles B. Schmitt: Francesco Storella and the Last Printed Edition of the Secretum Secretorum. In: Pseudo-Aristotle «The Secretum Secretorum, hg. von W.F. Ryan und Charles B. Schmitt. London: Warburg Institute 1983, S. 124–131. 79 Girolamo Ruscelli: I Secreti del reverendo donno Allessio Piemontese. Venedig 31557, fol. A2v.

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Dennoch wäre es verfehlt zu glauben, die AutorInnen der Secreta-Bücher würden ausschließlich therapeutische Ziele verfolgen und sich mit der Rolle der Kompilatoren bescheiden. Wie Eamon am Beispiel der Figur von Leonardo Fioravanti, einem weiteren «professore de’ segreti», zeigt, lassen sich der antiakademische Gestus und die Emphase auf Erfahrungswissen eher als mehr oder weniger erfolgreiche Strategien des self-fashioning einer neuen Intellektuellenzunft verstehen.80 Unzweifelhaft geht mit der Technologie des Buchdrucks eine weitreichende Veränderung der Gelehrtenkultur einher, und zwar in Hinblick auf ökonomische, ästhetische und methodologische Fragen. Denn Texte erreichen – trotz einer nach wie vor großen Analphabetenrate – plötzlich viel mehr Menschen und neben ihrer Funktion der Wissensvermittlung sowie der kollektiven Selbstversicherung auf gewisse Werte stellen sie nun begehrte Konsumgüter dar. Mit ihrer ökonomischen Bedeutung verändert sich auch ihre Verfasstheit: Eine Rhetorik der Innovation, sprachliche Eleganz sowie die anspruchsvolle ästhetische Aufbereitung durch ebenfalls neue Visualisierungstechnologien wie etwa den Kupferstich kennzeichnen die neue Schriftkultur. Der narrative Schub, der von der Fülle neuer fiktionaler Texte ausgeht, erfasst auch die gelehrte Literatur, die ihre Wissensproduktion in elaborierte (oft autobiographisch durchsetzte) Geschichten packt. In diesem Zusammenhang ist der scheinbare Widerspruch zu verstehen, dass angebliches Geheimwissen veröffentlicht wird: Denn die sich ausdifferenzierende Ökonomie des Hygiene- und Gesundheitssektors stellt sich als Verteilungskampf dar, in dem neu definiert wird, was als seriös und was als sektiererisch oder aber als altbacken zu gelten hat. In diese Zeit fällt denn auch die Abwertung des Begriffs Quacksalber, der bis dahin eine durchaus geschätzte Ergänzung am Marktplatz der Gesundheitsfürsorge darstellte.81 Die Aufmerksamkeit der KonsumentInnen wird also von jenen Mitteln und Praktiken, die gerade kraft ihrer Geheimhaltung und magischer Aufladung wirken, abgezogen und auf Rezepturen gelenkt, die – theoretisch – nachvollziehbar sind, deren Produktion aber nach langjähriger Expertise verlangt, wie die AutorInnen nicht müde werden zu betonen. William Eamon konnte in seiner Sichtung englischer Secreta-Bücher aufgrund von Marginalia zwar feststellen, dass es auch nicht wenige LeserInnen gab, die die Rezepte ausprobierten und teilweise korrigierten.82 Im Allgemeinen bemühten sich die AutorInnen jedoch, die LeserInnen von Selbstversuchen generell abzuhalten 80 Eamon: Professor of Secrets, S. 55 ff. 81 Vgl. dazu Piero Gambaccini: I mercanti della salute. Le segrete virtù dell’imbroglio in medicina. Florenz: Le Lettere 2000. 82 Vgl. dazu Eamon: Science, S. 93 ff.



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oder aber warnten vor einem Abweichen der Zutaten und ihrer genauen Mengenverhältnisse. Denn sie reklamierten die Deutungsmacht und Expertise für sich und untermauerten damit die Professionalisierung eines Wissens, das vormals mündlich tradiert worden war. Pamela Smith sieht die teilweise recht komplizierten und fabulösen Verfahren, die in vielen Secreta-Texten beschrieben werden, auch als verkürzte und formelhafte Darstellungen und rhetorische Verweise auf Methoden und Techniken, die sich eigentlich nur im täglichen learning by doing – dem Beobachten und Nachahmen präziser Fertigkeiten – erwerben lassen. Sie postuliert eine Affinität zur Tradition von Handwerkszünften, die ebenfalls eine Symbolik und Rhetorik der Achtsamkeit für habituelle Praxen entwickelt hätten und in der einzelne Beschreibungen nicht wortwörtlich, sondern als Codes für konkretes Handeln zu verstehen seien. In Weiterentwicklung dieses Gedankens sehe ich die Textsorte der Secreta als eine eklektische Kombination der Ars einzelner Zünfte mit Versatzstücken der gelehrten Naturphilosophie. Smith bezeichnet die hybride Textform folgerichtig als «vernacular philosophy».83 Im Folgenden gehe ich auf ein Beispiel dieser neuen Textsorte genauer ein: I Secreti von Isabella Cortese aus dem Jahr 1561. Am Beispiel der umstrittenen Autorschaft des Werkes werde ich zeigen, wie das self-fashioning der männlichen Autoren auch mit einem Prozess der patriarchalen Aneignung weiblicher Wissens­traditionen einhergeht, deren Auslöschung in den Texten der neuen Professoren manchmal durchaus auch performativ aufscheint.

Isabella Cortese – gelehrte Giftmischerin oder Anagram männlichen Geheimwissens? Die Secreti della Signora Isabella Cortese sind nach wie vor wenig beforscht, obwohl es sich um einen der kommerziell erfolgreichsten Texte seiner Art handelte, wurde er doch während des 16. und 17. Jahrhunderts insgesamt fünfzehn Mal neu aufgelegt. Neben den gattungsimmanenten Rezeptbeschreibungen gab er auch als einer der ersten die im engeren Sinne alchemistischen Praktiken preis. Wie bei vielen frühneuzeitlichen Autorinnen liegt die Biographie von Signora Cortese völlig im Dunkeln, sämtliche Daten zu ihrer Person stammen bisher ausschließlich aus dem Text selber. Da nimmt es nicht wunder, dass, wie aus vergleichbaren Fällen sattsam bekannt, schnell der Verdacht aufkommt, es handle sich um das Pseudonym eines männlichen Autors, der sich mit der ­weiblichen

83 Pamela Smith: What is a Secret? Secrets and Craft Knowledge in Early Modern Europe. In: Leong/Rankin: Secrets and Knowledge, S. 47–66, hier: S. 54.

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Signatur die Rezeption von Frauen sichern hätte wollen. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Girolamo Ruscelli angesichts des nachhaltigen Erfolges, den die Secreti del reverendo donno Alessio Piemontese einbrachten, effektvoll seine Autorschaft offenlegte,84 bleibt das angeblich aufrecht erhaltene Pseudonym Cortese doch zumindest fragwürdig. Das Phänomen der bestrittenen weiblichen Autorschaft, das in den feministischen Geschichtswissenschaften als «Mathilda-Effekt» diskutiert wird, hat mich bereits im Bezug auf die Nueva Filosofía beschäftigt.85 Wie schon im Fall von Oliva Sabuco kommen auch die Zweifel über die weibliche Autorschaft Corteses in einer Zeit der Hochkonjunktur patriarchaler Historiographie auf, nämlich im Jahr 1865. Allerdings scheint mir im Fall der Secreti die Argumentation der neueren Forschung gegen die autorisierte Urheberschaft wesentlich differenzierter zu sein. Die Diskussion um Autorschaft scheint sich jedenfalls in signifikanter Weise bei jedem frühneuzeitlichen Werk weiblicher Signatur aufzudrängen. Ich finde diese zwar ermüdend, scheue sie allerdings nicht, möchte aber zuvor auf den eigentlichen Text eingehen. Bei den Secreti della Signora Isabelle Cortese handelt es sich um ein klar strukturiertes Werk, das in vier Bücher unterteilt ist. Vorangestellt ist dem Text eine Widmung an Mario Chaboga, Erzdiakon von Ragusa, dem heutigen Dubrovnik, das in der Entstehungszeit der Secreti venezianisches Dominium war. Die Rhetorik dieses Paratextes steht ganz im Geiste der neuen professori: Vom hervorragenden menschlichen Intellekt ist da die Rede, welcher der Natur nicht nur ihre Geheimnisse abringe, sondern diese durch seine Experimente sogar überflügle. Cortese betont, dass das neue Expertenwissen den antiken Doktrinen aufgrund seiner empirischen Ausrichtung überlegen sei. Der zweite Paratext ist ein Inhaltsverzeichnis, das offenkundig die alltägliche Nutzung des Textes und – wie Elizabeth Eisenstein für derartige Anleitungen konstatiert – auch die Verkäuflichkeit erleichtern soll.86 Das folgende erste Buch enthält im engeren Sinn medizinische Rezepte, die beinahe ausschließlich äußerlich anwendbar sind. Es handelt sich um Lotionen, Öle und Salben gegen die gängigsten Übel der Zeit: Wunden, Gicht, Skrofeln,87 Ausschläge, Vergiftungen, aber auch die äußerlichen Symptome der

84 Im Vorwort seiner Secreti Nuovi (1567) auf Seite 7 gibt er sich als Autor des 1555 erschienenen und angeblich auf den Experimenten eines in Neapel ansässigen Kollektivs, dem er einige Zeit angehört habe, basierenden Werkes zu erkennen. 85 Margaret W. Rossiter: Der Mathilda Effekt in der Wissenschaft. In: Theresa Wobbe (Hg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld: transcript 2003, S. 191 ff. 86 Vgl. dazu Elizabeth Eisenstein: Printing Revolution, S. 80–90. 87 Skrofeln, ital. scrofole, ist ein frühneuzeitlicher Sammelbegriff für eitrige Hautgeschwülste, hauptsächlich im Gesicht und am Hals.



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neuen Seuchen Pest und Syphilis. Die Rezepturen ähneln in ihrer Pragmatik und in ihrer Präzision Kochanleitungen, allerdings sind die meisten sehr aufwändig: Contra peste & veneno del Re Ferdinando»88 etwa verlangt nach mehr als zwanzig genau zu bemessenden Zutaten, die wiederholt verkocht und destilliert werden müssen. Auch eine vorausschauende Haushaltsplanung scheint für die Produktion der meisten Rezepturen unabdingbar, wie es etwa der Olio di scorpione contra peste, & altri mali nahelegt: Dafür sammelt man 100 bzw. 140 lebende Skorpione – es werden zwei Varianten angegeben – im Zeichen des Löwen, die in Öl gelagert werden, bis das astrologische Zeichen sich wandelt. Hernach wird das Öl unter Beifügung mehrerer Zutaten und nach mehreren Kochprozessen vierzig Tage lang gut verschlossen an der Sonne stehen gelassen.89 Insgesamt handelt es sich also um zwar sehr präzise Angaben, die allerdings ob ihrer elaborierten Technologien und der oft teuren bzw. schwierig zu beschaffenden Zutaten in einer durchschnittlich ausgestatteten Küche wohl nur bedingt befolgt werden konnten. Die Verlockung dürfte dennoch groß gewesen sein, denn der aufwändigen Zubereitung stand in allen Fällen die versprochene sofortige Wirkung gegenüber, sará miracoli,90 wie es mehrfach heißt. Im Vergleich zu einigen anderen Texten sind allerdings die Zutaten keineswegs mirakulös: Die Pillen gegen il mal Francioso, also Syphilis, enthalten etwa neben dem scheinbar unverzichtbaren Panazee Theriak91 die pflanzlichen Wirkstoffe von Nieswurz, Wiesenknöterich, Rhabarber, Purgierwinde92 sowie Terpentin und Agaricus, einer Champignonart, die heute noch in der Alternativmedizin als Immunregulator eingesetzt wird. Diese Pille stellt das einzige oral zu verabreichende Heilmittel des ersten Buches dar. In Bezug auf Syphilis gibt es noch zwei weitere Rezepturen, eine Salbe gegen die Deformationen der Hände und eine Quecksilber haltige Mundspülung gegen die Infektion der Schleimhäute.

88 Isabella Cortese: I secreti della Signora Isabella Cortese, ne quali si contengono cose minerali medicinali, arteficiose ed alchimiche. Venedig: Bariletto 31565, S. 4. Ich zitiere aus dieser dritten Auflage, da sie in der Wiener Nationalbibliothek vorhanden ist und inhaltlich mit der zweiten, gegenüber der Editio Princeps erweiterten, Ausgabe wie alle weiteren ident ist. 89 Cortese: Secreti, S. 6. 90 etwa Cortese: Secreti, S. 10. 91 Theriak ist ein Allheilmittel, das schon in antiken Texten beschrieben wird und seinerseits eine Unmenge an – teilweise fabulösen – Zutaten verlangt, die sich im Verlauf der Jahrhunderte wandeln. In der Renaissance ist der venezianische Theriak am kostbarsten und erfährt in einem Festakt eine mehrtägige öffentliche und von den Behörden streng überwachte Zubereitung. Vgl. dazu Bernt Karger-Decker: Gifte, Hexensalben, Liebestränke. Düsseldorf 2002. 92 Der italienische Terminus turbitto bezeichnet heute das stark abführende, aus Mexiko stammende jalape; vermutlich bezieht sich Cortese aber noch auf eine orientalische Trichterwinde, da die Purgierwinde erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts in Europa als Heilpflanze benutzt wurde.

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Das zweite Buch eröffnet Einblicke in die alchemistische Praxis. Die folgenden 75 Rezepte stellen allesamt chemische Operationen dar, von der Kalzinierung über die Fusion bis zur Sublimation werden die gängigen Verfahren exemplifiziert. Gleich zu Beginn wird die Quintessenz bzw. das Lebenselixier vorgestellt. Angeblich hat Cortese diese Rezepte auf ihren Reisen durch Mittel- und Osteuropa von einem Wiener Priester erworben. Dieser sei in Olmütz in ihrem Quartier verstorben und habe einen Brief an einen befreundeten Geistlichen aus Krakau hinterlassen, in dem er besagte Geheimrezepturen kundtut. Es handelt sich also um eine Mise en abyme, welche durch ihre mysteriöse Beglaubigungsstrategie den Innovations- und Mirabilia-Charakter der Secreta gekonnt in Szene setzt. Der abenteuerliche Gestus ist ein genreimmanentes Stilmittel, wie Eamon an den Texten von Girolamo Ruscelli und von Leonardo Fioravanti herausarbeitet. Dass Eamon im Falle von Cortese nicht an der Wahrhaftigkeit der etwas unglaubwürdigen Genese des zweiten Buches zweifelt, könnte vielleicht damit zu tun haben, dass der Historiker unhinterfragt von der weiblichen Autorschaft ausgeht und einer Frau diesen Fiktionalisierungsgrad nicht unterstellen will. Bevor Cortese das «particulare di Chirico abbate di Colonia» preisgibt, erläutert sie ihren pragmatischen Zugang zur Alchemie: Dico a te fratel Carissimo, che se vuoi seguir l’arte dell’Alchimia, & in quella operare, non bisogna che piu seguiti l’opere di Geber, ne di Raimondo, ne di Arnaldo, o d’altri Filosofi, perche non hanno detto verità alcuna nei libri loro, se non con figure & enigmati [...] Et ho studiato in tali libri piu di trenta anni, e mai non ho trouato cosa alcuna buona, & ho consumato il tempo e persa quasi la vita mia, e li denari. Ma per la misericordia di Dio ho ritrovato un particulare buono e uero, e certo, fatto per me, qual m’ha ristaurato non solamente nella robba, ma nell’honore, e nella vita.93

Und um ihrem charissimo fratello,94 also ihrem Adressaten Mario Chaboga, ein ähnliches Schicksal zu ersparen, offenbart sie das alchemistische Elixier des mysteriösen Chirico. Doch nicht ohne noch ein paar Warnungen bezüglich der alchemistischen Praxis anzubringen: Die zehn Ratschläge betreffen etwa den Topos der Geheimhaltung, die Mahnung bezüglich der genauen Kenntnis der Materialien und bezüglich der Qualität der Apparaturen. Nach derartigen Anleitungen und Warnungen, wie sie tatsächlich in jeder spezialisierten Werkstätte anzutreffen sind, erläutert sie die philosophischen Grundprinzipien, auf denen die alchemistischen Prozeduren beruhten: Fratel carissimo tre cose scriuo che sono principij delle cose naturali secondo il Filosofo cioè materia, forma, e priuazione. E per tanto noi faremo questa nostra medicina di tre cose 93 Cortese: Secreti, S. 19–20. 94 Cortese: Secreti, S. 20.



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naturali cioè materia, forma, e priuazione che sono, corpo, anima, e spirito, per la materia s’intende il corpo, per la forma s’intende l’anima per la priuazione s’intende lo spirito, perche secondo che per la priuazione si fà ogni generatione, e corruttione cosi mediante lo spirito si fa l’unione, e si compone del corpo e dell’anima e questo uediamo del lo huomo.95

Während sich Cortese also gegen die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoritäten der Alchemie, Arnaldus de Villanova, Raimundus Lullus96 und Geber97 abgrenzt, übernimmt sie doch Fachbegriffe aus der Aristotelischen Naturphilosophie. Allerdings bürstet sie diese geradezu gegen deren ursprüngliche und auch innerhalb der Scholastik etablierte Bedeutung: Denn Aristoteles’ Begriff der Privation bezeichnet eigentlich den Zustand der Materie in ihrer Potentialität, oder anders gesagt, das bloße Substrat, das seine Form noch nicht aktualisiert hat, während der Spiritus eine Mittlerfunktion in der aktualisierten Substanz einnimmt. In der neuplatonischen Tradition, innerhalb derer die Alchemie erhebliche Bedeutung erlangt, ist der Spiritus hingegen die sublimste Materie, was sich ja auch mit der Zweitbedeutung von Spiritus im Sinne von Weingeist in Destillierprozessen veranschaulichen lässt. Cortese dürfte hier gemäß ihres Bekenntnisses zur Empirie ihre eigene eklektische Philosophie begründen, indem sie die Verfahren der Mazaration – der Lösung von Kräuterwirkstoffen in Alkohol – und der Destillation in abstrakte Prinzipien übersetzt. Dass diese sich als Referenz auf die unhintergehbare philosophische Instanz, Aristoteles, verkleiden, mag den Versuch darstellen, sowohl den Verdacht der Häresie als auch den der Scharlatanerie zu zerstreuen. Doch zeugt diese sehr verquere Lesart der wichtigsten naturphilosophischen Begriffe Aristoteles’ nicht gerade von einer fundierten akademischen Ausbildung: «Un’ 95 Cortese: Secreti, S. 21. 96 Arnaldus de Villanova (1235–1311) war ein Valencianischer Arzt, der später auch Rektor der Universität Montpellier wurde. Er gilt wie sein Landsmann Raimundus Lullus als einer der beiden wichtigsten Ahnherrn der europäischen Alchemie, wenngleich die alchemistischen Schriften von Ramon Llull (1232–1316), so die katalanische Version, heute als pseudellulistisch gelten. Arnau de Vilanova hingegen betrieb tatsächlich alchemistische Studien und entwickelte einschlägige Verfahren, u. a. die Mazeration, wie sie auch Cortese im ersten Buch mehrfach beschreibt. 97 Geber ist der latinisierte Namen eines arabischen Autors aus dem 8. Jahrhundert, Abū Mūsā Dschābir ibn Hayyān bzw. Gābir ibn Ḥayyān, der umfangreiche alchemistische Schriften hinterlassen hatte und dessen Werk in der Renaissance große Beliebtheit erlangte. Allerdings scheint es sich dabei wie bei Aristoteles’ Secreta um einen «Pseudo-Geber» zu handeln, die ChemieHistoriographie unterscheidet nämlich zwischen dem eigentlichen Corpus Gabirianum und dem Corpus Geberi, das in der Frührenaissance in Italien entstanden sein soll. Vgl. dazu William R. Newman: The Summa perfectionis of Pseudo-Geber: A Critical Edition, Translation, and Study. Leiden: Brill 1991 (Collection des travaux de l’Académie Internationale d’Histoire des Sciences, 35).

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empiria ruvida, ma non ingenua» nennt etwa Massimo Rizzardini ganz allgemein die wissenschaftliche Ausrichtung des Textes.98 Das dritte Buch enthält 80 Rezepturen, deren Kompilation sich im Deutschen am treffendsten als Haushaltsbuch umschreiben ließe: Farbzubereitungen (vor allem das begehrte Himmelblau), Goldpolituren, Kleisterfabrikation, Fleckenentfernung u. ä. werden diesmal in relativ einfachen und praktikablen Anleitungen vermittelt. Die einzige Kuriosität in diesem Teil stellt das Kapitel 63 dar: A far drizzar il membro verrät ein recht unaufwändiges Allheilmittel gegen Impotenz. Das Problem mangelnder sexueller Performanz wird also nicht erst in unserem Zeitalter akut, in dem laut Foucault Sexualität omnipräsent99 und Stress ein kollektives Leiden ist. Valeria Finucci berichtet etwa von Vicenzo Gonzaga, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts einen Apotheker auf Expedition schickt, um seinem ermatteten Gemächt wieder zu vormaliger Manneskraft zu verhelfen, denn schließlich hatte der Herr von Mantua seine Reputation als Schwerenöter zu verteidigen. Dem Apotheker gelang es schließlich, mit einer spanischen Flotte nach Neuspanien zu reisen und einige Heil- und Wundermittel mitzubringen. Doch die Unternehmung endete tragisch: Vicenzo Gonzaga verstarb vor der Rückkehr des Apothekers nach Europa und dieser wurde von Piraten als Sklave nach Algier verkauft.100 Abgesehen vom novellesken Unterhaltungswert der historischen Begebenheit lese ich diese auch als ein Indiz dafür, wie die Secreta-Literatur rezipiert wurde – nämlich zumindest in diesem Fall mimetisch: Wer Wundermittel erwerben will, muss sich auf Expeditionen in fremde Länder begeben. Der umfangreichste Abschnitt von Corteses Secreti folgt zum Schluss: Die 221 Secreta des vierten Buches wenden sich wie schon der dritte Teil an ein weibliches Publikum, enthält es doch hauptsächlich Kosmetikrezepte. Die Schönheits- und Körperpflege von Cortese erweist sich allerdings als recht limitiert, da die Rezepte beinahe ausschließlich das Gesicht, das Haar, die Zähne und die Hände betreffen. Claire Lesage sieht darin einen Hinweis auf die rudimentären weiblichen Hygienepraktiken in der Renaissance und führt auch zeitgenössische humanistische Klagen, etwa von Piccolomini an, der den misogynen Topos einer attraktiven äußeren Erscheinung, welche nach innen hin stinkt, bemüht.101 Ich denke 98 Massimo Rizzardini: Lo strano caso della Signora Isabella Cortese. In: Philosophia II,1/2010, S. 45–84, hier S. 60. 99 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 10 f. 100 Valeria Finucci: ‹There’s the Rub›: Searching for Sexual Remedies in the New World. In: Journal of Medieval and Early Modern Studies 38,3/2008, S. 523–557. 101 Claire Lesage: La littérature des ‹Secrets› et i Secreti d’Isabella Cortese. In: Croniques italiennes 3/1992, S. 146–178, hier: S. 176. Sie bezieht sich dabei auf Alessandro Piccolominis La Raffaella overo Dialogo della bella creanza delle donne. Venedig: Curtio Navò 1539, S. 20 ff.



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aber, dass Körperpflege im engeren Sinne nicht Gegenstand von Schönheitsrezepten ist, da sie ja keiner spektakulären Prozeduren bedarf bzw. sich diesbezügliche Ratschläge nicht für alle ersichtlich manifestierten. Der These mangelnder Hygiene widerspricht auch die Tatsache, dass der Text mehrere Rezepturen für Seifen und Waschlösungen offeriert. Und ein spezielles Problem des weiblichen Körpers wird systematisch korrekt im medizinischen ersten Teil des Textes verhandelt, nämlich die Beseitigung von Schwangerschaftsstreifen. Ich sehe die Schwerpunktsetzungen im vierten Buch vielmehr im Rahmen einer petrarkistischen Ästhetik, welche Weiblichkeit den Repräsentationsgesetzen des Porträtbildes entsprechend verhandelt: Haare, Gesicht, Hände, Büste und gegebenenfalls die Arme müssen makellos sein, der Rest ist Stasis: Bianca la faccia, bianchi i denti e le mani: la donna di Cortese doveva trasmettere purezza in ogni parte del corpo, esibirlo con fierezza, mostrarlo senza colpa e senza macchia. L’immagine di una donna curata, che non rinunciasse alla propria femminilità e alla vita sociale e amorosa, passava nondimeno dalla bellezza del sorriso e dalla maila dello sguardo.102

Kosmetikrezepturen, die dem ätherischen Frauenbild petrarkistischer Liebeslyrik zur Umsetzung gereichten, boomten jedenfalls im 16. Jahrhundert: Die sagenumwobene Herrin von Mantua, Caterina Sforza, war eine der stilbildenden Autorinnen, ihre Esperimenti kursierten laut Pier Desiderio Pasolini, der das Werk im Jahr 1894 in Imola herausgegeben hat, im höfischen Ambiente in Manuskriptform.103 Lesage berichtet von weiteren Kosmetikratgebern, die im zeitlichen Umfeld der Secreti verfasst worden waren: dem Ricettario galante, der ebenfalls bis ins 19. Jahrhundert nur in Manuskriptform vorlag, als erste gedruckte Texte dieser Art nennt sie die Opera nuova piacevole von Eustacchio Celebrino sowie die wesentlich erfolgreicheren Notandissimi secreti dell’arte profumatoria.104 Deren Autor, Giovan Ventura Rosetti, lobt die Serenissima und ihre Frauen und gibt sich als stolzer «provisionato» des Arsenale von Venedig zu erkennen: [...]ho conseguita la presente opera virtuosa, la quale tratta integralmente de l’arte di profumieri secondo l’ordine di tutte le investigatione di lei [...] la quale è uscita dal’arte di noi artisti plebei.105

102 Rizzardini: Lo strano, S. 62. 103 Gli Esperimenti wurden zwischen 1490 und 1509 verfasst, es existiert eine kürzlich kommentierte Edition des Textes: Elio Caruso: Ricette d’amore e di bellezza di Caterina Sforza, signora di Imola e di Forlì. Florenz: Il Ponte Vecchio 2009. 104 Lesage: La littérature, S. 154–155. 105 Giovan Ventura Rosetti: I Notandissimi Secreti dell’arte profumatoria, hg. von F. Brunello und F. Facchetti. Vicenza: Neri Pozza Ed. 1973, S. 28, zit. nach Lesage: La littérature, S. 155.

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Die selbstbewusste Inszenierung des Kunsthandwerkers ist tatsächlich nur im Kontext der Stadt Venedig zu verstehen: Wie kein anderer Ort war die Republik Venedig bekannt für ihre Luxusgüter und zog die unterschiedlichsten Reisenden an, die an diesem Überfluss von bildender Kunst, Schmuck, prunkvollen Roben, Parfums und Schminke teilhaben wollten. Venedig ist aber auch ein Zentrum des Buchdrucks und zog aufgrund seiner relativ liberalen Atmosphäre intellektuelle Außenseiter – und Prostituierte an. Einige von ihnen konnten im 16. Jahrhundert auch an der intellektuellen Kultur partizipieren. Schreibende – oder vielmehr – publizierende Frauen galten freilich selbst als Mirabilia, der Ruhm einer Moderata Fonte oder einer Laura Cereta findet sich denn auch in den unterschiedlichsten Texten wieder. Bevor ich die Schönheitsrezepte des wohl berühmtesten italienischen professore de’ segreti, Giovan Battista della Porta, mit jenen von Cortese vergleiche, möchte ich daher in diesem Kontext auf die umstrittene Autorschaft eingehen. Das wichtigste Indiz gegen die genuine Autorschaft von Cortese besteht darin, dass ihr Name in keinen der relativ gut erhaltenen Archive von Venedig auftaucht. Wenn Texte von Frauen ein Novum darstellten, verwundert es tatsächlich, dass trotz der vielen Auflagen der Secreti deren Verfasserin offenbar keine Spur öffentlicher Aufmerksamkeit hinterlassen hat. Dies könnte allenfalls ihrem baldigen Tod geschuldet sein. Massimo Rizzardini, der am vehementesten gegen die Autorschaft Corteses anschreibt, führt ein weiteres wichtiges Indiz an: Nel 1583, Tomaso Garzoni, ovvero colui che per primo riconobbe l’esistenza di una nuova categoria professionale che chiamò professore de’secreti, sapeva con esattezza da ricerche proprie o da altre fonti – evidentemente ritenute attendibili – che i nomi di Isabella Cortese e Alessio Piemontese erano stati creati ad hoc dal fiuto editoriale e dall’intuito di Girolamo Ruscelli, legittimo inventore, a questo punto, dell’esperienza letteraria.106

Tatsächlich deutetet Garzoni in seiner Piazza universale di tutte le professioni del mondo an, dass Isabelle Cortese ebenso wie Alessio Piemontese ein fingierter Name sei, ohne die Frage der Autorschaft jedoch weiter zu erörtern.107 Dies spricht eher gegen eine fundierte These, denn bei der auch von Rizzardini konstatierten Nähe und Bekanntschaft mit einigen der Secreta-Literaten müsste Garzoni ein Nachweis der männlichen Autorschaft doch leicht gefallen sein. Erst im 19. Jahrhundert bieten die beiden Franzosen Armand Baschet und Félix Sébastien Veuillet de Conches in ihrem Werk Femmes blondes selon les peitres de l’école de Venice eine Erklärung dafür an: Die Secreta der Cortese stammten ebenso wie 106 Massimo Rizzardini: Lo strano, S. 79. 107 Tommaso Garzoni: Piazza universale di tutte le professioni del mondo (1585), hg. von Paolo Cherchi. Turin: Einaudi 1996, S. 350 ff.



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jene von Piemontese und das 1559 erschienene Della summa dei Secreti universali von Timoteo Rossello allesamt vom Meister dieser Textsorte, nämlich Girolamo Ruscelli.108 Lesage überprüfte diese Hypothese textimmanent. Dabei stellte sie fest, dass die Werke von Rossello und Cortese inhaltlich viele Übereinstimmungen zeigen: Nicht nur seien einige Rezepturen nahezu identisch – was allerdings in dieser Textsorte wohl kaum verwundert – auch der Adressat der Widmung, der Erzdiakon von Ragusa, sowie der Venezianische Verleger Giovanni Bariletto stimmen überein. Weiters wurden sie in einer nachfolgenden Ausgabe zusammengebunden und das dazu gehörige Druckansuchen vom selben Buchhändler, Curtio Troiano di Navó, gelegt. Völlig unterschiedlich markieren die beiden Texte aber ihre jeweilige Autorität: Während Rossello freimütige bekundete, keinerlei eigene Forschungen angestellt und lediglich die besten Rezepte anderer speziali kompiliert zu haben, pocht Cortese auf die eigene Expertise. Lesage zeichnet weiters eine Reihe eklatanter orthographischer, syntaktischer und semantischer Unterschiede zwischen den Texten nach und konstatiert, dass die symbolische Geschlechtstransgression in der Frühen Neuzeit immer gegenläufig sei, also Frauen unter einem männlichen Pseudonym schrieben und nicht umgekehrt. Wenngleich ich diesem Befund grosso modo zustimme, so gab es doch in der italienischen Renaissance Autoren, die im Dienste der Querelle des Femmes weibliche Bildungsfähigkeit und Autorschaft propagierten und dabei Texthybride mit schwierig identifizierbaren Urheberschaften hervorbrachten. Meredith K. Ray beschreibt etwa die Kollaboration von Ortensio Lando und Lucrezia Gonzaga.109 Sie rekonstruiert die wechselseitigen (inter)textuellen Verweise und huldvollen Referenzen zwischen Landos Werk und den Epistolari von Lucrezia Gonzaga, die freilich später ebenfalls Lando zugeschrieben wurden. Ray arbeitet dabei sehr überzeugend heraus, dass die beiden Intellektuellen die Verschleierung der Urheberschaft als beiderseitige Ermächtigungsstrategie einsetzten: Die innerhalb Italiens als Ikone der Standhaftigkeit und der Gelehrsamkeit berühmte und dank ihres Namens auch mächtigere Frau verhilft dem gesellschaftlich vergleichsweise marginalisierten Schriftsteller zu öffentlicher Anerkennung, der im Gegenzug in seinen Texten hyperbolisch den intellektuellen Austausch mit Gonzaga anpreist. Man könnte also von einer platonischen love companionship im besten Sinne sprechen, einem schöpferischen Bündnis, wie es etwa in der Romantik Clemens Brentano seiner Partnerin Sophie Mereau anträgt mit den Worten: «ich sehne 108 Armand Baschet/Félix Sébastien Veuillet de Conches: Femmes blondes selon les peitres de l’école de Venice. Paris: Aubry 1865, S. 181–183. 109 Meredith K. Ray: Textual Collaboration and Spiritual Partnership in Sixteenth-Century Italy: The Case of Ortensio Lando and Lucrezia Gonzaga. In: Renaissance Quarterly 62/2009, S. 694–747.

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mich mit einem Liebevollen romantischen Weib, einen poetischen Bund zu schließen [...] und waß dein ist, soll mein sein».110 Derartige intellektuelle Gemeinschaften machen jedoch nur Sinn, wenn sie effektvoll in der Öffentlichkeit inszeniert werden, was bei der Autorschaft Corteses eben gerade nicht der Fall ist. Ähnliches gilt für das Pseudonym Alessio Piemontese, der in jenem Augenblick als Fiktion entlarvt wird, als seine Figur sagenumwobene Fama erlangt hat. Dennoch ist Rizzardini davon überzeugt, dass wir es bei den Secreti mit dem Werk eines Mannes zu tun haben: Eppure gli indizi sono sufficienti per poter affermare, con un certo imbarazzo, che in verità Isabella Cortese non solo non è mai esistita, ma che con ogni probabilità non è stata nemmeno una donna a compilare il ricettario.111

Doch welche Motivation hätte ein Mann, die durchwegs soliden Rezepte als das Werk einer Frau auszugeben? Manchmal werden Pseudonyme gewählt, um dem Verdacht auf Häresie zu entgehen, was jedoch angesichts des bewusst konventionell präsentierten Inhalts unwahrscheinlich ist. Außerdem stellte in diesem Fall eine weibliche Signatur ein zusätzliches Risiko dar, da diese ja schon für sich genommen Interesse weckt. Genau das sei laut Rizzardini die Absicht gewesen: Una vita vissuta probabilmente entro lo spazio letterario di un esperto poligrafo, sapiente nell’intuire la necessità e il rilievo commerciale di una pubblicazione divulgativa che si voleva destinata, in modo particolare, al pubblico femminile.112

Doch wenn die intentio operis auf Frauen zielt, warum ist es dann einem Mann in Ragusa gewidmet? Eine der schillernden und attraktiven Frauen Italiens als Adressatin hätte den Schönheitsrezepten doch gleich sehr viel mehr Glaubwürdigkeit verliehen. Dieser erfolgreichen Strategie bedienten sich eine Vielzahl von Texten, die zwischen Frauenlob und Frauenermahnung oszillierten, etwa das erwähnte Raffaella von Alessandro Piccolomini, wie Meredith Ray in einem neueren Text, The Daughters of Alchemy, schildert. Leider enthält sie sich im darin befindlichen Kapitel zu Corteses Secreti auch einer Positionierung in Bezug auf die Autorschaft und so bietet ihr Buch, dessen Titel so vielversprechend klingt, dazu kaum Neues.113 Jedenfalls gilt in einer patriarchalen Buchkultur, 110 Brief vom 8.9.1803. Zit nach Clemens Brentano (1802–1807): «Briefe III» in Jürgen Behrens u. a.: Clemens Brentano. Sämtliche Werke und Briefe (HKA), Bd. 31. Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer 1991, S. 175–176. 111 Rizzardini: Lo Strano, S. 64. 112 Rizzardini: Lo Strano, S. 81. 113 Meredith K. Ray: Daughters of Alchemy. Women and Scientific Culture in Early Modern Italy. Cambridge (Mass.)/London: Harvard University Press 2015, S. 46 ff.



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in der sämtliche Positionen männlich dominiert sind, die Urheberschaft eines bekannten poligrafo in der Regel auch für Frauen als größerer Autoritätsausweis als der einer unbekannten Frau. Dennoch kann ich der abschließenden Frage Rizzardinis etwas abgewinnen: «In altri termini, è solo un caso che l’anagramma perfetto di Cortese sia secreto?»114 Allerdings halte ich es für wahrscheinlicher, dass es sich um das Pseudonym einer Frau handelt. Wie Eamon richtig feststellt, weist Alchemie durchaus Affinitäten zur Erfahrungswelt von Frauen auf: That a woman should have practiced alchemy was not in itself unusual. Cooking, distilling, and baking – all the province of women – were considered alchemical processes.115

Doch diese «handgreiflichen Tätigkeiten» werden von einfachen Frauen verrichtet, die vielfach nicht lesen und schreiben konnten. Handelt es sich bei der Autorin der Secreti womöglich um eine Frau öffentlichen Interesses vom Rang der Lucrezia Gonzaga, der wohl die Publikation gelehrter Gespräche oder psychologisierender Epistola zur Ehre gereicht hätten, nicht aber Zeugnisse einer arte plebe, der die Secreta-Literatur verpflichtet ist? In diesem Fall wäre der Name Cortese nicht nur ein Anagramm, sondern auch eine Metonymie, ein Fingerzeig auf eine «donna cortese». Jedenfalls wissen wir, dass vereinzelt auch priviligierte Frauen zu den Mitgliedern der diversen Akademien, aus denen viele der Secreta-Texte hervorgehen, zählten. Angeblich haben Ruscelli und Chaboga eine Zeitlang in der Academia de’ Confusi von Viterbo gemeinsam Experimente durchgeführt.116 Ruscelli war aber auch mit Lucrezia Gonzaga und deren Schwester Isabella gut bekannt. Vielleicht verbirgt sich hinter dem Pseudonym eine von ihnen? Signifikant ist das komplexe Netz an Referenzen, Paradoxa und Verschleierungen der Urheberschaft, das sich um den neuen Typus der poligrafi legt: Ruscelli und vor allem auch Ortensio Lando traten wiederholt als Fürsprecher und Verleger weiblicher Autorschaft auf. Landos Lettere di molte valorose donne (Vendig: Gabriel G. di Ferrari 1559) etwa versammelt Briefe von Frauen, die Castigliones Ideal der cortegiana zur Ehre gereicht hätten. Neben Isabella Gonzaga tritt darin eine weitere Isabella in Erscheinung, die als Verfasserin der Secreti von Cortese in Frage kommt: Isabella Sforza, die außer den genannten Episteln in Landos Sammlung auch als Autorin zweier Monographien firmiert: Dello stato femminile, das allerdings nicht gedruckt worden sein dürfte, und Della vera tranquillità dell’animo (1544, Venedig: Aldus Manutius) das – wie könnte es anders sein – wie auch die genannte Briefsammlung Ortensio Lando zugeschrieben wird. Eine der

114 Rizzardini: Lo Strano, S. 84. 115 Eamon: Professor of Secrets, S. 117. 116 Lesage: la littérature, S. 159.

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­ dressatinnen der Briefe Isabella Sforzas ist ihre weitschichtige Verwandte Bona A Sforza. Sie war Königin von Polen und eine schillernde und politisch umtriebige Figur, die wegen ihres Anspruchs auf das Vizekönigreich Neapel angeblich ebendort im Jahr 1557 auf Geheiß von Phillip II vergiftet wurde. Zuvor hatte sie nicht nur selbst durch einige undurchsichtige Intrigen von sich Reden gemacht, sie setzte sich auch erfolgreich und vehement für die Verbreitung der Renaissancekultur in Polen ein. So erhielte etwa das textuelle Geheimnis um den Brief, den die Erzählerin von Corteses Secreti in Olmütz auffindet, eine gewisse außertextuelle Plausibilität. Von Isabella Sforza gibt es freilich keine direkte Referenz auf die Secreti – sie stirbt im Erscheinungsjahr 1561 in Rom. Ich denke nicht, dass sich die tatsächliche Autorschaft heute zweifelsfrei beweisen lässt. Textimmanente Indizien für das Gendering der Autorschaft sind naturgemäß nicht wirklich auszumachen. Auffällig ist allerdings, dass bis auf die in Vorwort und im zweiten Buch angewandte Rhetorik der Innovation und den genretypischen Topos der Wanderschaft die Inszenierung der auktorialen Stimme völlig ausbleibt. Die Anleitungen sind kurz und präzise, ohne jegliche Untermauerung der eigenen Ingeniosität. Weiters zeigt ein Vergleich mit anderen Secreta-Texten, dass moralisch fragwürdige Rezepte wie etwa jene zur Wiederherstellung von Jungfräulichkeit fehlen. Diese Kunst war traditionell den Hebammen zugeschrieben, passt aber wohl nicht in die Haushaltstipps einer ehrbaren Frau. Nachdem das Werk offensichtlich sehr erfolgreich war, hätte sich der wahre Autor sicherlich nicht weiter hinter dem weiblichen Pseudonym versteckt. Dass Garzoni, der ja mit seinem Berufsbild der professori de’ segreti selbst entscheidend Ansehen und Etablierung der neuen Intellektuellen befördert, dennoch die Autorschaft Isabella Corteses anzweifelt, scheint mir charakteristisch für die im Rahmen ökonomischer Verteilungskämpfe angewandten patriarchalen Strategien. Diese hier auf mediale Umbrüche bezogene These vertrat im engeren Sinn für die Medizin und deren zunehmende Institutionalisierung wirkmächtig Katharine Park.117 Für den iberischen Raum kommt die Historikerin Montserrat Cabré innerhalb der Secreta-Literatur zu einem ähnlichen Befund, da sie eine zunehmende Weitung des Publikums auf Männer hin konstatiert, die mit einer zunehmenden männlichen Autorschaft einherginge.118 Wie sich dieser Paradigmenwechsel auf der Ebene des Textes manifestiert, wird mein zweites Beispiel zeigen.

117 Vgl. dazu Katharine Park: Secrets if Women. 118 Montserrat Cabré: Keeping Beauty Secrets in Early Modern Iberia. In: Elaine Leong/Alisha Rankin (Hg.): Secrets and Knowledge in Medicine and Science, 1500 – 1800. Farnham/Burlington: Ashgate 2011, S. 167–191.



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Giovan Battista della Porta – ein demiurgischer Naturmagier als Vorläufer moderner Wissenschaft? Wie kein anderer der professori de’ segreti entspricht der Neapolitanische Aristokrat Giovan Battista della Porta dem neuen Typus des universellen Naturphilosophen. Wobei er selbst vermutlich den Begriff Naturmagier vorgezogen hätte. Denn er war von der Idee getrieben, Herr über sämtliche Lebensprozesse zu werden, indem er die der Natur innewohnenden Kräfte gezielt manipulierte. Seine Neugierde und sein Gestaltungswille widmeten sich den unterschiedlichsten Gebieten: Er setzte sich mit physikalischen Phänomenen wie Spiegelungen ebenso auseinander wie mit alchemistischen Operationen, entwickelte bildgebende Technologien wie die Camera Obscura weiter und vertrat auch sehr spektakuläre Thesen zur Genetik. Della Porta unterhielt einen der wichtigsten der neuen experimentellen Gelehrtenzirkel innerhalb Italiens, die Academia dei Segreti, und korrespondierte mit Intellektuellen aus ganz Europa, die auf ihren Italienreisen seine Sammlungen wundersamer Apparaturen bestaunten und begeistert davon berichteten. Neben seinen naturphilosophischen Texten hat della Porta auch einige Theaterstücke verfasst; laut Sergius Kodera stehen die beiden Corpora in einer Beziehung wechselseitiger Verweise. Dadurch lässt sich die Intention der wissenschaftlichen Forschungen des Brachialmagiers viel präziser erschließen: als effektvolle Kunst der Manipulation.119 Im Rahmen meiner Untersuchungen kann ich freilich nur einen kleinen Teil des umfassenden Oeuvres von della Porta berücksichtigen. Zunächst möchte ich jene Abschnitte seiner Magia Naturalis (1589) in den Blick nehmen, die sich wie das vierte Buch Corteses mit Schönheitsrezepten beschäftigen.120 Dazu ziehe ich die italienische Zweitausgabe des Textes heran, da erst diese dem Thema einen eigenen Abschnitt widmet: Es handelt sich um 31 Kapitel des neunten Buches, dessen Vorwort bereits den gravierenden Unterschied zu Cortese verdeutlicht: Perche il ragionamento di belleti delle donne segue il trattato della Medicina, cosi dopò hauer trattato di quella, ragionaremo di gli ornamenti delle donne, dalla testa infin, a piedi, en’ insegnaremo molti. Ma accioche non paia ad alcuno vanità traporre in questi libri quelle cose, che appartengono a’ i belletti delle donne, desidererei, che considerassino, che noi non habbiamo scritto questi secreti, que i giouani per questo attendessero a i vani, e dishonesti piaceri, ma che l dio autor dell’ universo, ha dato alla natura delle cose, che tutte in se

119 Sergius Kodera: Giambattista Della Porta’s Histrionic Science. In: California Italian Studies, 3/2012, S. 1–27. 120 Ich habe mich entschlossen, die italienische Ausgabe der Magia Naturalis aus 1589 zu untersuchen, da diese mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit von della Porta selbst aus dem Lateinischen übersetzt worden war und von einem weiteren Personenkreis gelesen wurde.

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hauessero perpetuità, creò il maschio, e la femina, accioche con feconda generatione non haueße giamai a mancar la spetie, e che il maschio fusse chiamato all’ atto della generazione, allettato da questa bellezza, e creò la donna molle, delicata, e bella, accioche alletatto da questa, quasi costretto fusse sollecitato. Noi dunque accioche la moglie piacesse al suo marito, ne offesi dalla loro brutezza andassero ad infestare, e macchiare gli altrui letti, habbiamo hauuto pensiero di prouedere alle donne, come con il ruffianesmo della bellezza, & allettamento de’colori se fußero nere, ruuide, macchiate, e brutte, e se vergognassero della loro bruttezza, diuventassero bianche, liscie, bionde, & bellissime.121

Die nachfolgenden Kosmetikanleitungen haben also nur einen Zweck: die Institution der Ehe und deren die Gesellschaft stabilisierende Funktion der Fortpflanzung aufrechtzuerhalten. Bedürfnisse, Wünsche oder Leiden der Frauen finden keinen Eingang in die Abhandlung. Eigentlicher Adressat der Rezepte ist nämlich der Ehemann, welcher in den Stand gesetzt wird, seine Frau nach seinem Wunsch ummodellieren zu lassen, damit er sich nicht in fremden Betten amüsieren muss und so das patriarchale System stört. Und sollte sich Gott, autor dell’ universo, womöglich in der Kreation der weiblichen Schönheit irren, darf der Naturmagier schon mal in die Trickkiste der Zuhälter, ruffianesmo, greifen und mit seiner Kunst die korrumpierte Natur veredeln. Denn wenngleich es bereits seit der Antike Schönheitsrezepte gibt, entstammen die eigentlich wirksamen doch dem Ingenium des Naturmagiers Della Porta, wie uns dieser am Ende des Vorwortes zweifelsfrei versichert: Noi habbiamo raccolte alcune cose raccolte da’ i scritti de gli antichi delle migliori, che ci pareuano, l’habbiamo sperimentate, e le buone l’habbiamo portate qui, mai assai sono migliori quelle della nostra inuentione, e de’ ritrouati de’ i più moderni, che anchora non sono state stampate, aggiongeremo all’ultimo […].122

Die folgenden Rezepte ähneln freilich eklatant jenen der Signora Isabella Cortese, was angesichts von deren weitgehendem Fehlen in der Erstausgabe der Magia Naturalis doch auch eine Antwort auf die Bedürfnisse des Buchmarktes sein dürfte. Die Anordnung der Rezepte della Portas weicht allerdings von jener Corteses ab: Er geht gewissermaßen von außen nach innen vor und beginnt mit diversen Haarfärbemitteln, die in Corteses Secreti erst weiter hinten vorkommen. Das Schönheitsprogramm der beiden bleibt dennoch dem gleichen petrarkistischen Ideal makelloser Reinheit verpflichtet, das in della Portas wiederkehrendem patriarchalen Gestus allerdings noch stärker an den – in spanischen Kronlanden obsessiven – Kult der unbefleckten Jungfrau Maria gemahnt. Dabei möchte ich

121 Giovan Battista della Porta: Della Magia Naturale, Libro IX. Neapel: Vitale 1615, S. 387. 122 Della Porta: Della Magia, S. 388.



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keineswegs suggerieren, dass della Porta eine religiöse Ethik verfolge. Im Gegenteil: Seinem Status eines Adeligen entsprechend geht es ihm um eine elaborierte Kunst des Scheins. Die radikale Modernität des neapolitanischen Naturmagiers liegt darin, dass die Essenz der von ihm verhandelten Körper in ihrer Zeichenhaftigkeit aufgeht. Es gibt kein Inneres des Körpers oder vielmehr ist dieses mit den der Körperoberfläche eingeschriebenen Zeichen identisch, und als solches jederzeit vom Naturmagier korrigier- und veränderbar.123 Bevor ich das in Zusammenschau mit der Erstgabe und seiner Physiognomie noch näher erörtere, sei nochmals untermauert, dass Frauen in dieser Sammlung von Rezepten für die weibliche Schönheit ausschließlich als Objekte repräsentiert sind: Naturdinge, die durch die demiurgische Kunst della Portas perfektioniert werden können. Doch gelingt das anscheinend nur, wenn der Mann den Prozess überwacht, gewissermaßen als Platzhalter des omnipräsenten Naturmagiers. Denn die Handlungsanleitungen richten sich niemals direkt an Frauen, sondern an den pater familias, wie sich in Kapitel XXVI zeigt, das dem Thema der Brustkorrektur gewidmet ist: Fra gli ornamenti delle donne non ci appar cosa più bella, che veder le mammelle picciole, rotonde e sode, e non rilassate, o piene di rughe come quelle, che non han parterito. Ma noi cosi possiamo Prohibir il crescer delle mammelle. Si volemo. Pestesi la cicuta, e quella mistura maschiata con aceto si ponga sù le mammelle delle donzelle, perche cosi si restringono in se steße, che non le lasciaranno piú crescere, e questo val molto, mentre sono vergini. Se ven poi al suo tempo non lascia venir il latte. Ma se vuoi Le rilassate, e molli farle ritirate. […] Noi del succo dell’ alchimilla, e bagnati in quello i panni di limo, e posti soura le mammelle, e rinuouati di nuouo, si fanno sempre seruitio perche non solamente non le fa crescere, ma ristringe le rilassate delle matrone, e le fa più sode.124

Wie Giovan Battista della Porta setzt auch Isabella Cortese durchaus invasive Mittel zur Glättung, Bleichung und (D)Epilation ein, wie etwa Merkursulfat. Die Venezianerin beschränkt ihre Intervention aber auf jene Körperoberflächen, die auch ikonologisch von Interesse sind bzw. in der petrarkistischen Liebeslyrik besungen werden. Die Farbgebung des Porträtbildes korrespondiert dabei teilweise mit jenem der leibhaften Frau, etwa wenn es um das Purpurrot der Lippen geht. Della Porta verfolgt mit seinen Rezepturen aber offenkundig noch eine weitere, keineswegs ausschließlich ästhetische Zielsetzung: Auch die Frau als 123 Vgl. dazu Sergius Kodera: Disreputable Bodies. Magic, Gender, and Medicine in Renaissance Natural Philosophy. Toronto: University Press 2010 (CRRS Centre for Reformation and Renaissance Studies), S. 251–275. 124 Della Porta: Della Magia, S. 422.

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Lustobjekt muss verbessert werden. Im Falle der Brustkorrektur ist die Grenze zwischen Ästhetikanspruch und jenem nach sexueller Attraktivität fließend, im vorletzten 31. Kapitel125 wird der Körper der Frau aber nur mehr der männliche Befriedigung unterworfen: Dice Trotula Medico, che è cosa molto honesta, e diceuole trattarsi dell’restringimento della natura quando per i parti sia molto rilassata, perche per tal cagione alcuna volta si viene ad impedir la concettione, onde bisogna souvenir a questo diffetto, perche ad alcune s’apre molto questa pata al partorire, e suol molto dispiacere a lor mariti, la onde accioche non siano abhorrite da loro, cosi rimediaremo a tal difetto. […] La decottione dell’ alchimilla, il succo, ouer l’acqua destillata, posto nell’luogho, cosi stringe, & attarca, che non conoscerai una meretrice da una vergine, ouero si sedano sopra la decottione di queste e principalmente si vi aggiongeranno a queste altre cose astringeti: te bagneremo i luochi delle donne. L’acqua stillara dell’ aster attico buttato spesso in detti luoghi, farà, ch non si conoscano le corrotte dall’ incorrotte.126

Die Natur der Frau, im Zitat metonymisch reduziert auf ihre Vulva, nützt sich durch ihre doch scheinbar so natürliche Bestimmung, das Gebären des Nachwuchses, also derart ab, dass die Herren über diese Natur von ihr abgestoßen werden könnten. Unfreiwillig gibt dieses Zitat preis, warum die Kontrolle des Mannes – als Stellvertreter für den eigentlichen Demiurgen, den Naturmagier («bagneremo»), – so unabdingbar ist: Wenn nämlich nach derartigen Manipulationen die Prostituierte nicht mehr von der Jungfrau unterschieden werden kann, darf dieses Wissen nicht von den Frauen selbst praktiziert werden. Gleichzeitig markiert der Text auch, dass es sich ursprünglich eigentlich um genuin weiblich tradierte Secreta handelt, denn Trotula oder vielmehr die Ärztin Trota von Salerno hinterließ mit Passionibus Mulierum Curandorum einen der fundiertesten mittelalterlichen Texte zur Gynäkologie, der an der Schwelle vom 11. zum 12. Jahrhundert geschrieben und im 15. Jahrhundert erstmals ediert worden war.127 Der  Wortlaut des Zitats deutet darauf hin, dass die Scheidenverengung, die im Urtext thematisiert wird, 125 Bei der Nummerierung der Kapitel gibt es in der von mir benutzten Ausgabe ein paar Unstimmigkeiten, so folgt etwa das Kapitel 31 unmittelbar auf das 29. 126 Della Porta: Della Magia, S. 426–427. 127 Trotula mayor wird meist das gesammelte Werk der Trota von Salerno genannt, dem neben den gynäkologischen Schriften auch ein Kosmetik- und Hygienetraktat angeschlossen war. Wie ihre Nachfolgerinnen des 16. Jahrhunderts unterlag auch die Ärztin der wichtigsten mittelalterlichen Medizinakademie – zumindest im deutschen Sprachraum – dem «Matilda-Effekt»: Karl Sudhoff geht davon aus, dass eine Frau des 12. Jahrhunderts keinesfalls fundierte medizinische und chirurgische Kenntnisse erwerben hätte können und schreibt die Textsammlung deshalb einem Mann zu. Zu Person und Werk der Trot(ul)a siehe: Monica H. Green: The Trotula: An English Translation of the Medieval Compendium of Women’s Medicine. Philadelphia: University of Philadelphia Press 2001.



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als Mittel gegen ein medizinisches Problem, die mangelnde Retention des Samens im Uterus, empfohlen wird. Für della Porta ist demgegenüber das Lustempfinden des Mannes zentral, wie auch die Anschlussstelle des Textes offenlegt: Ma si ti piace Far ch’una c’habbi partorito paia vergine. […] Le comadri, e quelle che hanno caro del partorire, cosi fanno il medesimo effetto. Fanno una decottione delle cose già dette, e cosi la stringono poi fanno, ch’ una sanguisuga morda dall’una, & l’altra parte, e le togliono poi fatto il morso. Perche iui si farà una crusta, le quali essendo tocche, si rompono, e mandano sangue fuori.128

Wenn es also um die Rekonstruktion der weiblichen Unbeflecktheit im engeren Sinn geht, kann der Text den Ursprung dieser Kunst nicht verleugnen: Es sind die Hebammen, die um die eigentliche Geheimnisse des weiblichen Körpers wissen. Übrigens enthält auch die Trotula ein entsprechendes Rezept, das aber im Kontext einer vorangegangenen Vergewaltigung empfohlen wird. Nachdem della Porta noch auf eine ebenso bestialische wie riskante Methode zur «Wiederherstellung» der Jungfräulichkeit eingeht, nämlich Blut eines Hasen oder eines Schweins in die Scheide zu injizieren, untermauert er seine wesentlich wissenschaftlich raffinierte Expertise in dieser delikaten Körpermanipulation: Noi n’habbiamo trouato una. Facciamo il litargio in sottilissima poluere, lo cocemo in aceto sinche diuenghi torbido, poi lo colamo, e ci buttamo dentro le medesime poluere, l’aceto di nuouo si coce, e si cola finche possi tutto, poi sfumamo l’aceto, e qualche resta, è un linimento eccellentissimo per stringere.129

Litargio ist ein Bleioxid, das in Zusammenhang mit der Säure vermutlich schwere Verätzungen hervorgerufen hat; der «jungfräuliche» Cyborg della Portas erweist sich also als chemisch induziertes Artefakt, die daraus resultierenden Schmerzen lassen sich allerdings wohl eher seiner animalischen Komponente zuschlagen. Della Porta beendet seine Rezeptsammlung, mittels derer Männer ihre Frauen attraktiver machen können, mit Alcune burle, che si fanno alle donne. Dabei geht es um chemische Substanzen, die im Gesicht aufgetragene Schminke verderben, die Hautbleichungen zu unschönen Verfärbungen modifizieren, die akuten Haarausfall verursachen, u. ä. Wenngleich aus heutiger Sicht das Gelingen derartiger «Scherze» bezweifelt werden muss, so dürfte die darin für Frauen enthaltene 128 Della Porta: della Magia, S. 427–428. 129 Della Porta, della Magia, S. 428. Zur Engführung von Tier, Monster und Frau siehe auch Juliana Schiesari: Della Porta and the Face of Domestication: Physiognomy, Gender Politics, and Humanism’s Others. In: Dies.: Beasts and Beauties: Animals, Gender, and Domestication in the Italian Renaissance. Toronto: University Press 2010, S. 54‒72.

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Warnung wohl angekommen sein: Die Schönheit der Frau obliegt der Überwachung des Magus – und der ist ein Mann. Er kann sie durch seine Rezepturen hervorbringen, er kann aber auch die durch eigenmächtige weibliche Finesse erlangte Schönheit zerstören. Implizit geht aus diesem letzten Kapitel des neunten Buches hervor, dass das Schönheitsideal des 16. Jahrhunderts im Zeichen inhärenter Natürlichkeit stand. Denn der Witz, kosmetische Kunstgriffe zu entlarven, gelingt ja bloß, wenn diese dem Effekt von Natürlichkeit verpflichtet sind; eine Pointe, die etwa angesichts der gepuderten Gesichter und der hochgetürmten Perücken des Rokoko ins Leere greifen würde. Dennoch ist della Portas Naturbegriff keineswegs naiv. Anders als sein Landsmann Bernardino Telesio geht er nicht davon aus, dass Lebensprozesse dann am besten gedeihen, wenn sie möglichst störungsfrei vonstatten gehen. Bei della Porta kommt das Potential der Natur vielmehr ausdrücklich erst durch die kunstvolle Intervention des Magiers, sprich: durch della Porta, zur Entfaltung. Neben den vergleichsweise einfachen Operationen, die den Schönheitsrezepten zugrunde liegen, beschäftigt er sich denn auch mit Phänomenen, die den Bauplan der Schöpfung an sich betreffen. Erst im Kontext seines Gesamtwerkes wird klar, dass della Porta keineswegs philanthropische oder ethische Ziele verfolgt. Vor allem die erste italienische Ausgabe seiner Magia kann ihren «Sitz» in der Halbwelt der meretrice, ruffiani und ladri nicht leugnen.130 Während die Jahrzehnte später herausgegebene erweiterte Ausgabe in Volgare schon durch die klare Struktur in einzelne Wissensgebiete einen wesentlich akademischeren Anstrich bekommt, handelt es sich bei der ersten auf weite Strecken um eine Ansammlung von Trickbetrügereien und Illusionstheater: «Delle arte con lequali si puo schiuare il ueneno»; «Cosi a fare un’huomo leproso»; «A fare che le persone facilmente escano di sentimento che paiano pazzi»; «A fare anco uenire una persona hetica», etc.131 Freilich kehren einzelne der ethisch fragwürdigen Rezepte auch in der überarbeiteten Ausgabe wieder, ihre Einbettung suggeriert aber manchmal gewissermaßen eine «höheren» Zweck: Während die Erstausgabe etwa eine Reihe von Anleitungen, wie man Menschen in den Wahnsinn treibt, recht reißerisch aneinander reiht, wird in der erweiterten Ausgabe eingeschränkt, dass es sich lediglich um temporären Wahnsinn handle, der unter gewissen Umständen sinnvoll sein könnte. 130 Vgl. dazu Sergius Kodera: Der Magus und die Stripperinnen. Giambattista della Portas indiskrete Renaissance-Magie. In: Brigitte Felderer/Ernst Strouhal (Hg.): Rare Künste. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Zauberkunst. Wien: Springer 2006, S. 55–78. 131 Giovan Battista della Porta: I miracoli et meravigliosi effete dalla natura prodotti libri IIII. Venedig: Avanzi 1560 (ital. Fassung von Magiae Naturalis sive de miraculis rerum naturalium libri IIII. Neapel 1558), fol. 81–83.



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In meinem Kontext interessiert mich aber vor allem der textimmanente Naturbegriff, der sich innerhalb der Zeitspanne, die zwischen der Konzeption der beiden Texte liegt, erheblich wandelt. 1558 präsentiert uns der Autor einen vitalistischen Kosmos, der ganz im Sinne von Telesio oder Fracastoro von einem Netzwerk der Sympathien und Antipathien durchzogen wird. Doch während diese von einer grundsätzlich funktionierenden Dynamik ausgehen, pulsieren die natürlichen Kräfte in della Portas Kosmos beinahe bedrohlich; nur dem Naturmagier gelingt es diese zu steuern aufgrund seiner «consumata cognitione delle cose naturali & una perfetta Filosofia.»132 Die Emphase auf die natürliche Basis seiner Magie bei gleichzeitiger Abgrenzung gegen eine sogenannte «[magia] nefandissima» ist zunächst sicherlich der Legitimation gegenüber der Inquisition geschuldet, mit der della Porta Zeit seines Lebens Probleme hatte. Gleichzeitig scheint diese Natur der Erstausgabe wie eine für den Laien unberechenbare Übermacht Wunder – bzw. als Kehrseite Monster – hervorzubringen, wobei sie der Magier kenntnisreich unterstützt: «[...] che la Magia era ministra della natura, & il Mago ministro, & non artefice.»133 Diese bescheidene Selbstverortung überwindet della Porta freilich gleich im nächsten Kapitel, denn da wird er – zwar von der Natur, aber doch recht e­ xklusiv – selbst als Schöpfer der Wunder eingesetzt: Sia il Mago per dono della natura artefice, e molto pieno di scienza; impero que il sapiente senza l’artificio, o pure artefice senza scienza, si per auentura egli non ha un certo naturale, per esser cosi congionte queste due cose [...] Ma sono alcuni per fauore della natura cosi atti à queste cose, che ne sanno, e par che sieno fatti à posta da Dio per questo mestiero.134

Erst die Kunst des Magiers kann der Natur wahre Wunder entlocken. Mit diesem Naturverständnis ist Giovan Battista della Porta keineswegs allein. Wie Lorraine Daston und Katharine Park in ihrer diachronen Studie zeigen, greift im 16. Jahrhundert in Europa eine Epistemologie des Wunders um sich. Darin verschmelzen die beiden Bedeutungsachsen des Begriffs: die unerklärbaren Naturerscheinungen werden erst durch eine Haltung des professionellen Staunens, des philosophischen Wunderns, zugänglich: In this sense, the aim of the naturalist’s collection of marvels […] was to transfer the emotion of wonder from the objects themselves to their erudite and discriminating owner.135

132 Della Porta: I miracoli, fol. 2 vs. 133 Della Porta: I miracoli, fol. 2 re. 134 Della Porta: I miracoli, fol. 3 re. 135 Lorraine Daston/Katharine Park: Wonders and the Order of Nature 1150–1750. New York: Zone 1998, S. 158.

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Dieser Paradigmenwechsel innerhalb der Naturphilosophie wird aber weniger von der Schulphilosophie vollzogen, sondern von dem neu sich formierenden Typus unabhängiger Intellektueller, die Daston und Park «preternatural philosophers» nennen: These authors shifted the marvels of nature from the periphery to the center. In the process, they reclaimed for natural philosophy not only wonderful phenomena but also the emotion of wonder itself.136

Die Rhetorik des Wunders gewinnt jedoch bei della Porta eine ganz spezifische Einkleidung, da sie die Semantik des Geheimnisses und des Okkulten überdeterminiert und dabei offenbar von Penetrationsphantasien geleitet wird: Sono occulte, perche con demostrationi euidente no si possano sapere [...] essendo molte cose nel intimo della natura, che sono occulte, piene di uirtu la cagione delle quali l’animo, e l’intelletto nostro, non le puo comprendere: percioche stanno nascoste nella maiesta e grauita della natura la ondè di natura ha uoluto piu tosto che queste cose simili s ammirino, che le si sappino.137

Wenn wie oben dargestellt in den Rezepten zur Wiederherstellung der Jungfräulichkeit die Vulva metonymisch als «natura» bezeichnet wird, so entspricht das völlig della Portas Konzeption von der Natur als Ganzes: Die Natur ist wie ein großes wildes [weibliches] Tier, dem unsichtbare und ungeordnete Kräfte von Sympathien und Antipathien innewohnen, die ihr der Magier entreißen oder die er durch seine Kunst perfektionieren muss. Die Engführung von Natur und Weiblichkeit wird hier epistemologisch relevant: Wie eine Hebamme neues Leben aus dem Inneren des weiblichen Körpers holt, so bringt der Magier die Geheimnisse der Natur ans Licht. Gleichzeitig nimmt er ihr durch seine Penetration das Ungezähmte, das Wilde und das Gefährliche. Wir haben es mit einem besonders signifikanten Beispiel eines wiederkehrenden Phänomens patriarchaler Wissenschaft zu tun: Die Matrix für die Allmachtsphantasien des Naturmagiers ist der Uterus. Seine metaphorische Inanspruchnahme zieht eine Spur der longue durée durch die Wissenschaftsgeschichte als eine «‹his-story› of male fear», wie es G. S. Rousseau treffend formuliert.138 So lässt sich an della Porta paradigmatisch zeigen, welche Ängste die Fortschrittsbewegungen an der Schwelle zur Moderne antreiben: Die ­zunehmende 136 Daston/Park: Wonders and the Order, S. 160. 137 Della Porta: I miracoli, fol. 10 vs–re. 138 Georges S. Rousseau: ‹A Strange Pathology›: Hysteria in the Early Modern World, 1500– 1800. In: Sander L. Gilman (Hg.): Hysteria Beyond Freud. Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1993, S. 91–225, hier S. 94.



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Mobilität und Pluralisierung der Gesellschaft sowie die sich ausdifferenzierende protobürgerliche Ökonomie ziehen neue Macht- und Herrschaftsstrategien nach sich. In einer patriarchalen Gesellschaft bedeutet das auch, auf die Umbrüche mit neuen Mechanismen des Ausschlusses von Frauen aus der Sphäre des Öffentlichen zu reagieren. Durch die Technologie des Buchdrucks wird Wissen zum Marktgut und damit für dessen Träger zu einer Möglichkeit sozialer Mobilität. Die Stilisierung des Naturmagiers in Analogie zur Figur der Hebamme ist in diesem Zusammenhang eine Chiffre für die Enteignung des von Frauen tradierten Wissens und evoziert gleichzeitig einen wirkmächtigen philosophischen Text Platons, den Theaitetos, in dem die Hebammenkunst als Sokrates’ Metapher für eine avancierte Pädagogik durchdekliniert wird.139 Die scheinbar gegensätzliche Metapher der Penetration erweist sich bei näherer Betrachtung als komplementär zur männlichen Mäeutik und zementiert so die Überlegenheit des europäischen weißen Mannes: Die heimische Mutter Erde kultiviert er, ihre Bodenschätze veredelt er durch seine alchemistischen Operationen; der ungestümen und jungfräulichen Natur des neuen Kontinents entringt er gewaltvoll wertvolle Geheimnisse. Somit produziert der sich modellierende wissenschaftliche Habitus gleich zweifach den Ausschluss von Frauen, da nicht mehr die Kontemplation im Studierzimmer, sondern die Expedition in unwirtliche Regionen und das effektvolle Experiment im öffentlichen Raum zum neuen Wissenschaftsparadigma erhoben wird. An della Porta lässt sich exemplarisch zeigen, wie sich der Naturbegriff im Laufe der Ausdifferenzierung der modernen Wissenschaften weiter wandelt. Denn in der Zweitausgabe präsentiert er uns nicht mehr einen unberechenbaren Tierkosmos, sondern eine Welt, die nach einer universellen Gesetzmäßigkeit strukturiert ist. Überspitzt formuliert überlagert sich die Matrix des Uterus, die ich für die Epistemologie der Erstausgabe herausgearbeitet habe, durch eine heterosexuelle Matrix, freilich ohne erstere völlig aufzugeben. In der Zweitausgabe ist della Porta zunächst offenbar bemüht, jedweden Häresieverdacht von sich zu wenden. Im Vorwort wehrt er sich gegen Missinterpretationen Fremder, hauptsächlich «francesi», die ihn als Magier bezeichnet und damit eigentlich als Nekromant diffamiert hätten. Dies alles gründe etwa in dem Missverständnis, welches die «Hexensalbe», die er in der lateinischen Erstfassung beschrieben hatte, ausgelöst habe. Dabei hätte er diese in jugendlichem Übereifer vom

139 Zur Mäeutik des Sokrates in den platonischen Dialogen siehe David Halperin: Why is Diotima a Woman? In: Ders.: One Hundred Years of Homosexuality and Other Essays on Greek Love. New York: Routledge 1990, S. 113–151.

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Malleus Maleficarum kopiert, der doch von einem seriösen Theologen verfasst worden sei.140 Erwartungsgemäß nimmt er im Vergleich zur editio princeps die Verweise auf hermetische Traditionen zurück und naturalisiert astrologische Kausalzusammenhänge. Denn die astralen Einflüsse auf die Welt gehen nicht mehr auf ­magische Urkräfte zurück, sondern auf ein universelles Gesetz der Zweigeschlechtlichkeit, exemplarisch an Sonne und Mond nachvollziehbar. Doch was hier zunächst wie Telesios abstrahierter Widerstreit der Kräfte von Kalt und Warm bzw. wie Fracastoros Energiefeld der Anziehung und Abstoßung klingt, gerät bei della Porta zu einer einzigen großen Kopulationsdynamik: La natura è grande e maestosa in ogni luogo: cioè che aletta & inesca con certi cibi le cose non altrimente, che il centro della terra aletta e tira a se le cose graui, e le leggiere al concauo della Luna, co’l caldo le frondi, con l’humore le radici dell’herebe, e cosi le cose restanti. Con le quali attrationi dicono i Filosofi dell’india il mondo si collega & unisce se stesso, dicendo il mondo esser un’animal in parte maschio, & in parte femina, e co’l vicendeuole amore delle sue membra s’unisce a se stesso, e si regge, e questo ligamento delle membra l’haue in se per la mente, ouer anima, la qual diffondendosi per tutte le membra, come habbiamo prima detto, si muoue la sua gran mole, e si meschia nel suo corpo. E di quà Orfeo ciama la natura del mondo maschia & femina, cosi il mondo è auido, e disioso del matrimonio vicendeule delle sue parti.141

Dass dieses Naturgesetz einer heterosexuellen Erotik das eigentliche Fundament der Philosophie della Portas darstellt, hat Sergius Kodera überzeugend dargestellt. Übertragen auf ein Modell des Menschen leite ich davon ab, dass der neapolitanische Naturmagier, dessen naturphilosophische Grundlagen – zunehmend – konservativ sind, damit paradoxerweise an vorderster Linie einer Neuorientierung der Lebenswissenschaften steht, welche laut Thomas Laqueur die Scientific Revolution kennzeichnet: Die Umstellung von einem one- auf ein two-sex-model.142 Dieser Paradigmenwechsel ließe sich daher folgendermaßen deuten: Die Aneignung weiblicher Wissenstraditionen zum menschlichen Körper von Seiten der neuen «vernacular/praeternatural philosopher» wird in deren Neukonzeptionen gewissermaßen als Leerstelle performiert, indem sie den weiblichen Körpers als das radikal Andere der männlichen/menschlichen Norm konstruieren. 140 Della Porta: Magia, Prefatione a’ Lettori, nicht paginiert (S. 5); bei dem Franzosen handelt es sich um Jean Bodin, der mit seiner Diatribe Démonomanie des sorciers aus dem Jahr 1580 eigentlich den deutschen Arzt Johann Wier attackiert, da dieser aber mit Della Portas Hexensalbe gegen die Verfolgung von Hexen argumentiert, bekommt auch della Porta Schwierigkeiten mit der Inquisition. Vgl. dazu Eamon: Science, S. 202. 141 Della Porta: Magia, S. 24. 142 Thomas Laqueur: Making Sex.



Entzauberung des Okkulten oder Magie der Wissenschaft? 

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Della Porta vollzieht also den semantischen Wandel von einer per se magischen Vitalität der Natur hin zu einer, die nach gewissen Gesetzmäßigkeiten ­funktioniert. Folgerichtig betont er in der überarbeiteten späteren Fassung den Stellenwert von Mathematik für die Erkenntnis des Materiellen. Wunder sind daher nicht genuines Attribut der Natur, sondern Produkte der artifiziellen Intervention des «Vernakularphilosophen». Eine weitere folgenreiche Umstellung, auf der die modernen Natur- und Lebenswissenschaften basieren, lässt sich in della Portas Schriften allerdings noch nicht feststellen: der von Merchant konstatierte «Tod der Natur». Bei seinen unheimlich anmutenden Experimenten mit abgetrennten Körperteilen frisch Exekutierter geht er etwa explizit davon aus, dass diesen über den Tod hinaus noch eine gewisse Lebenskraft innewohne, die sich der Naturmagier dienstbar machen kann.143 Seine kontinuierliche vitalistische Auffassung lässt den neapolitanischen Aristokraten offenbar aber keineswegs vor ethisch fragwürdigen Versuchsreihen zurückschrecken. Ganz im Gegenteil: In seiner Physiognomie buchstabiert er die oben anklingenden Kopulationsphantasien aus, indem er genetische Experimente über die Gattungsgrenzen hinweg beschreibt. Zumindest im Fall einer Hühnerart können wir annehmen, dass er diesen Phantasien durch reale Versuche zu Leben verhelfen wollte.144 Letztlich stellt er auch – freilich in verschleiernder Form – die Kreuzung von Mensch und Tier in den Raum. Spätestens hier klingen wieder die Monster eines Ambroise Paré oder eines Girolamo Fabrizio an. Und im Vergleich zu ihnen tritt schließlich die Radikalität della Portas deutlich hervor: Während die beiden Chirurgen in der Regel beunruhigende Phänomene beschreiben, um sie mit natürlichen Kausalitäten zu erklären und ihnen so den Schrecken zu nehmen, verfolgt della Porta das Ziel, diese eigenmächtig erst hervorzubringen. Das Staunen angesichts monströser Körper nimmt hier den ästhetischen Reiz barocker Formationen vorweg; die Skopophilie angesichts des Unheimlichen wird zu einem wichtigen Motor des Artifex, als die sich der Naturmagier begreift. In diesem Sinne ist das physiognomische Illusionstheater della Portas durchaus mit dem klassischen Kino zu vergleichen, wenn wir Laura Mulveys feministische Filmtheorie heranziehen: Denn der Blick auf die Körper ist ein genuin männlicher, der in jedem Augenblick ausschließlich vom Magus gesteuert wird. Bezogen auf della Portas Vorstellungen zur Produktion von Monstern ließe sich denn auch eine weitere Enteignung von 143 Giovan Battista della Porta: De ea naturalis physiognomoniae parte que ad manuum lineas spectat.Chirophysiognomia. In: Edizione nationale delle Opere di Giovan Battista della Porta, hg. von Oreste Trabucco. Neapel: Edizioni Scientifiche Italiane 2003, S. 6. Das Werk wurde erst nach della Portas Tod im Jahr 1677 erstmals verlegt. 144 Giovan Battista della Porta: Della Fisonomia dell’ huomo libri sei. Padua: Tozzi 1613, fol. 38 r.

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Frauen konstatieren: Traditionell entstehen hybride Körper vor allem durch die Imagination der begehrenden bzw. schwangeren Frau, doch nun entspringen sie der erotisch-künstlerischen Intervention des Magus: Nicht der Schlaf der Vernunft und nicht das Begehren der Frau, sondern das Kalkül des omnipotenten Artifex della Porta kreiert die eigentlich interessanten Monster.145 Wenn nun die Frau als das metonymische Naturwesen traditionell dauerhafter kognitiver Leistungen nicht fähig, zusehends ihres genuinen Erfahrungswissen und in Folge auch ihrer gefährlichen Imagination beraubt ist, ist in Fortführung heuristischer Rhetorik der Tod der Natur eine logische Folge. Denn die Engführung von Natur und Frau bedingt, dass mit der Entmystifizierung des Weiblichen auch die der Natur einhergeht und damit ihre Vitalität an den Wissenschaftler abgibt. Diese doppelte Enteignung von Frauen – ihres Wissens um Körperkulturen einerseits und der Kraft ihrer magischen Imagination andererseits – zieht eine weitere nach sich, nämlich die der weiblichen Autorschaft. Wenngleich sich im Fall von Isabella Cortese nicht eindeutig die Signatur einer Frau nachweisen lässt, so ist ihr Text in jedem Fall eine gewichtige historische Spur für die Partizipation von Frauen an einer Textsorte, die im fraglichen Zeitraum beginnt, sowohl symbolisches als auch ökonomischen Kapital einzubringen. Im Prozess dieser Enteignungen auf mehreren Ebenen werden Wissen, Imagination und Autorschaft aber nicht einfach in analoger Weise von Männern usurpiert. Vielmehr erfolgt eine radikale Umsemantisierung, wie das Beispiel von Giovan Batista della Porta eindrucksvoll vor Augen führt: Mäeutik, Rezepturen und alchemistische Verfahren zur Pflege und Erhaltung der Gesundheit werden – zumindest theoretisch – zum veritablen Body Engineering; die unheimliche und unkontrollierbare weibliche Phantasie zum eigentlichen Ingenium des Naturmagiers, der dieses nicht nur beherrscht, sondern gezielt einsetzt; die Autorschaft schließlich sichert nicht nur zusätzliche Einkommensquellen im Diesseits, sondern auch das Nachleben des Demiurgen. Dass dieser wie im Falle von della Porta im 17. Jahrhundert selbst «beraubt» wird, etwa von Francis Bacon, entspricht durchaus der Logik, der die von ihm mit initiierte Wissensproduktion der Frühen Neuzeit gehorcht. Spuren dieser intellektuellen Beraubung der Frauen finden sich in fiktionalen Verarbeitungen, wie ich im Folgenden zeigen werde.

145 Mit diesem Zitat beziehe ich mich auf Francisco de Goyas «El sueño de la razón produce monstruos», einer Radierung aus seiner Serie Caprichos aus dem Jahr 1799. Wenn wir bedenken, dass della Portas Schaustellerkunst später von Wissenschaftlern aus der Royal Society für ihren Zugang zur Empirie affirmativ aufgenommen wird, bestätigt sich Goyas Lema in unheimlichironischer Weise.



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Celestina: Himmlische Erhöhung des Höllisch Abjekten Die Regulierung von Sexualität und damit auch die Domestizierung der Frauen ist eines der zentralen Themen im ersten großen Prosatext der spanischen Literatur, der Tragicomedia de Calisto y Melibea (1499/1507), bzw. La Celestina. Dieses von Fernando de Rojas an der Schwelle zur Neuzeit verfasste Werk vermittelt ein äußerst lebendiges Porträt der wohl imposantesten Sexarbeiterin der spanischen Literatur, Celestina.146 Tatsächlich ist die Figur im kollektiven Gedächtnis Spaniens so tief verankert, dass der Name der Protagonistin, Celestina, nicht nur Synekdoche für die novela dialogada, sondern im Spanischen auch eine Metonymie für Kupplerin ist. Kein anderes literarisches Werk außer vielleicht der Don Quijote wurde in der Hispanistik so eingehend beforscht wie die Celestina, doch bis heute gibt es keine konsensuale Lesart des Textes, sondern zahlreiche sehr widersprüchliche Interpretationen. Damit ist seine Komplexität und Vielstimmigkeit, der eine Einzelanalyse nicht gerecht werden kann, hinreichend dokumentiert. Ich werde den Text im Folgenden auf das Geheimwissen der Frauen befragen und lese das tragische Ende der Protagonistin bei ihrer gleichzeitigen Hypostasierung zur Ikone einer Kupplerin als eine Hommage an ihre historischen Vorbilder in einem Augenblick, als diese an sozialer Bedeutung verlieren. In meiner selektiven Lesart sollen auch die zwei Hauptströmungen der Celestina-Forschung berücksichtigt werden: Vereinfacht dargestellt handelt es sich einerseits um eine Tradition von ForscherInnen, die den Text als pessimistischen Sozialrealismus eines Autors sehen, der den sozialen und politischen Wandel aus der Perspektive eines converso reflektiert.147 Dem steht andererseits ein analytischer Ansatz gegenüber, welcher das Werk als Travestie mittelalterlicher Literaturkonventionen wie etwa der reprobatio amoris begreift.148 Tatsächlich müssen 146 Tatsächlich ist die Autorschaft des Werks nicht gänzlich geklärt, da die Paratexte am Anfang der novela dialogada nahelegen, dass der erste Akt von jemand anderem verfasst worden sei. Zudem wurde die erste Fassung einer comedia bestehend aus 16 Akten zu einer tragicomedia mit 21 Akten erweitert. Zur Frage der Texttransformationen und der Autorschaft siehe Keith Whinnom: The Textual History and Authorship of Celestina. London: Queen Mary University 2007. 147 Herausragender Repräsentant dieser Forschungstradition ist ein Wissenschaftler, der sowohl Werk als auch Autor in bahnbrechenden Monographien gewürdigt hat: Stephen Gilman: The Spain of Fernando de Rojas: The Intellectual and Social Landscape of La Celestina. Princeton: University Press 1972; Stephen Gilman: The Art of ‹La Celestina›. Madison: University of Wisconsin Press 1956; Repr. Westport: Greenwood Press 1976. 148 Zu diesem Topos im Text siehe Eukene Lacarra Lanz: Enfermedad y concupiscencia: los amores de Calisto y Melibea. In: Felipe B. Pedraza Jiménez/Rafael González Cañal/Gema Rubio (Hg.): La Celestina V Centenario (1499–1999). Actas del Congreso internacional. Cuenca: Ediciones de la Universidad de Castilla-La Mancha 2001, S. 193–215, insbesondere S. 208, wo die Autorin die Doppelbödigkeit von Calistos Liebeskrankheit aufzeigt.

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die Inversionen mittelalterlicher Topoi auf ein zeitgenössisches Publikum ausnehmend burlesk gewirkt haben, gleichzeitig offenbaren sie aber auch die Probleme einer Gesellschaft im Umbruch. Die Fiktion nutzt die Leerstellen im sich neu formierenden Wertesystem vor dem Hintergrund einer aufstrebenden urbanen Ökonomie und gibt so einen Einblick in die Dynamik sozialer Räume, die den Aufstieg einer neuen intellektuellen Kaste im Zeichen einer zunehmenden Professionalisierung ermöglicht.149 Im folgenden Close Reading ausgewählter Szenen der 21 autos werde ich herausarbeiten, wie die Protagonistin Celestina als Inkarnation patriarchaler Ängste fiktional ins Magisch-Monströse erhöht und damit als reale Identifikationsoption erfolgreich stillgelegt wird. Zur Figur bzw. zum Topos erstarrt lebt sie weiter in zahlreichen Theaterstücken und Novellen, womit ihr angesichts der gleichzeitig stattfindenden Hexenprozesse, welche reale Hebammen und Heilerinnen verfolgen, eine wichtige kulturelle Katalysatorfunktion zukommt.150

Parodie auf die Liebesmelancholie Zu Beginn der novela dialogada begegnet uns Calisto, der die schöne Melibea im Garten des herrschaftlichen Hauses ihrer Eltern heimsucht, um ihr seine Liebe zu erklären.151 Melibea kokettiert trotz dieser unstatthaften Transgression des jungen 149 Zum Kontext von Prostitution und urbaner Ökonomie in der Celestina und ihren realen Vorbildern im frühneuzeitlichen Spanien siehe María Eugenia Lacarra: La evolución de la prostitución en la Castilla del siglo XV y la mancebía de Salamanca en tiempos de Fernando de Rojas. In: Ivy A Corfis /Joseph T. Snow (Hg.): Fernando de Rojas and ‹Celestina›: Approaching the Fifth Centenary. Madison: Hispanic Seminary of Medieval Studies 1993, S. 33–78; María del Carmen García Herrero: El mundo de la prostitución en las ciudades Bajomedievales. In: Cuadernos del Centro de Estudios Medievales Y Renacentistas 4/1998, S. 67–100; Denis Menjot: Prostitutas y rufianes en las ciudades castellanas a fines de la Edad Media. In: Temas medievales 4/1994, S. 189–204. 150 Beispiele intertextueller Inanspruchnahmen der Kupplerin finden sich etwa in Pietro Aretinos Cortegiana (1534), die eine ganz ähnliche Charakterisierung erhält, oder Lope de Vegas Dorotea (1632), in der sie wesentlich harmloser und lebensnaher gezeichnet ist, was angesichts der ca. 150 Jahre, die zwischen Original und Lopes Werk liegen, auch als Indiz für den teilweise erfolgreichen Vollzug der Domestizierung von Frauen gelesen werden kann. 151 Wie auch an anderen Stellen erschwert die Inkongruenz des Textes hier eine Rekonstruktion der Handlung, da der Terminus huerta eigentlich einen Obstgarten in ländlichem Umfeld meint, während huerto ein Blumengarten im städtischen Raum ist. Deshalb ist es für Calisto zu Beginn offenbar einfach, zur Geliebten vorzudringen, während er in den späteren Kapiteln eine Mauer überwinden muss. Wie Patrizia Botta meint, handelt es sich entweder um zwei verschiedene Szenarien oder um ein Haus mit eingeschlossenem Blumengarten zur Stadt hin und Obstplantage zur anderen Seite hin. In jedem Fall stellt das Eindringen und die Kontaktaufnahme mit Melibea



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Adligen ein wenig, weist seine hypertrophe Performanz höfischer Liebe dann aber zurück, woraufhin Calisto in einen veritablen amor hereos verfällt. Damit er diesem Liebeswahn entgehe, rät ihm sein Diener Sempronio, sich der Künste Celestinas zu bedienen. Sempronio kommt mit der stadtbekannten Kupplerin und ehemaligen Prostituierten überein, seinen Herrn dabei finanziell maximal auszubeuten. Dieser ebenso einfache wie erfolgversprechende Plan wird allerdings von Calistos jüngerem Lakaien, Pármeno, beinahe vereitelt, der seinen Herrn eindringlich vor «la puta vieja» warnt, die er als Sohn ihrer früheren engen Freundin und Kollegin aus eigener Erfahrung kennt. Doch Celestina gelingt es schnell, Pármeno für ihr Vorhaben zu gewinnen, indem sie ihm verspricht, ein sexuelles Abenteuer mit ihrer «Schülerin», der jungen Prostituierten Areúsa, zu arrangieren. In der Folge verschafft sich Celestina mit einer List Zutritt in den vornehmen Haushalt von Pleberio, Melibeas Vater, und bald darauf zu deren Gefühlen. Die Strategien, mit denen sie Melibea umgarnt, damit diese der «Krankheit» eines jungen Mannes Linderung verschaffe, ist an rhetorischer Virtuosität kaum zu überbieten, da sie ein metaphorisches Netz ausbreitet – «urdió una tela»152 –, das gleichsam die ganze Handlung zusammenhält: Zunächst täuscht sie vor, «hilado», Garn, verkaufen zu wollen, was ihr angesichts ihres Mitleidsdiskurses von Melibeas Mutter auch gewährt wird. Als diese sie mit der Tochter allein lässt, legt Celestina ihre eigentlichen Fallstricke aus und verknüpft antithetisch ihre eigene Misere mit Melibeas vielversprechender Jugend, denn ihr selbst bleibe nach verbrauchter Schönheit nur mehr Wein als Trost, da sie keinen Mann mehr hätte: «Así que donde no hay varón todo bien fallece: con mal está el huso cuando la barva no anda de suso.»153 Von dieser recht offensichtlich erotischen Konnotation leitet sie unvermittelt über zur christlichen Agape, denn: ¿Por qué no daremos parte de nuestras gracias y personas a los próximos? Mayormente cuando están embueltos en secretas enfermedades, y tales que, donde está la melezina, salió la causa de la enfermedad?154

eine Transgression von Calisto dar. Vgl. dazu Patrizia Botta: Las (¿dos?) casas de Melibea. In: Patrizia Botta/Fernando Cantalapiedra/Kurt Reichenberger /Joseph T. Snow (Hg.): Tras los pasos de ‹La Celestina›. Kassel: Reichenberger 2001, S. 157–182; Antonio Sánchez Sánchez-Serrano/­ Remedios Prieto de la Iglesia: Sobre la ‚composición» de La Celestina y su anónimo ‹auctor›. In: Celestinesca 33/2009, S.143–171. 152 Fernando de Rojas: La Celestina, hg. von Dorothy S. Severin. Madrid: Cátedra 1987 (Colección Letras Hispanicas), S. 151. 153 Rojas: La Celestina, S. 159. 154 Rojas: La Celestina, S. 161.

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Nachdem sie nun Melibea in einen Diskurs christlicher Nächstenliebe verstrickt hat, offenbart sie ihr den Namen des Kranken. Melibea reagiert aufgebracht und beschimpft die «alcahueta falsa, hechizera, enemiga de honestidad, causadora de secretos yerros»,155 aber ihre Ablehnung mutet wie schon in der Eröffnungsszene mit Calisto eigenartig ambivalent an, da Melibea die Kupplerin nötigt, ihre Dreistigkeit zu erklären, statt ihr einfach die Tür zu weisen.156 Die alte Frau ist in medizinischen und psychologischen Belangen freilich erfahren genug, um sich angesichts Melibeas Aufruhrs halb am Ziel zu wähnen: «[...] y no me maravillo, que la sangre nueva poco calor ha menester para hervir.»157 Scheinbar arglos setzt sie nach, dass es sich bei dem Leiden Calistos um Zahnschmerzen handle und dass sie Melibea um ein Gebet an Santa Apolonia, der Schutzheiligen der Zähne, sowie um ihren «cordón», ein Band, bitte. Dieses stehe im Ruf «que ha tocado las reliquias que ay en Roma y Hierusalem».158 Abgesehen davon, dass hier eine weitere Metapher des Quellbereichs «Garn; Faden» eingebracht wird, handelt es sich bei cordón um das Strumpfband der jungen Frau, was wiederum auf die ursprüngliche Erotik des Diskurses zurück verweist. Durch die List des Zahnwehs kippt diese ins Frivole, denn die Metapher umschreibt in der Frühen Neuzeit einen Allgemeinplatz für sexuelles Verlangen.159 Melibea gibt nach, gewährt ihr den cordón und bestellt sie für den folgenden Tag zu sich, um die erbetene oración nachzuliefern.

Petrarkistischer Ästhetikcode versus handgreifliche Schönheit Celestina kann also befriedigt von ihrer ersten Mission zu Calisto zurückkehren und von diesem auch einen Vorschusslohn erwarten; tatsächlich verspricht er

155 Rojas: La Celestina, S. 161. 156 Melibeas hier zur Schau gestelltes Wissen um die magischen Fähigkeiten ihres Gegenübers lässt mich auch an jenen Lesarten zweifeln, die Melibeas nachfolgende Verliebtheit ausschließlich der Magie Celestinas zuschreiben und dabei keinerlei Ironie oder Doppelsinn verorten, wie etwa Peter E. Russell: La magia como tema integral de la Tragicomedia de Calisto y Melibea. In: Studia Philologica: homenaje a Dámaso Alonso. Madrid: Gredos 1963, S. 334–354. Auch die allzu holzschnittartige Reduzierung ihres Zustandes auf Ursache-Wirkprinzipien einer immergleichen fakultativen Psychologie, wie sie folgender Text vorschlägt, greifen meiner Ansicht nach zu kurz: Robert Folger: Passion and Persuasion: Philocaption in la Celestina. In: La corónica 34,1/2005, S. 5–29. 157 Rojas: La Celestina, S. 163. 158 Rojas: La Celestina, S. 164. 159 Zu diesem Motiv siehe Geoffrey West: The Unseemliness of Calisto’s Touthaches. In: Celestinesca III,I/1979, S. 3–10.



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sie neu einzukleiden, nachdem er das kostbare Erotikum erhält. Und trotz seiner hypertrophen Symptomatik fortgeschrittenen Liebeswahns gibt sich Calisto in dieser Unterredung als recht kompetent in Hinblick auf weibliche Kosmetiktricks zu erkennen. Er stellt nämlich die natürliche Schönheit Melibeas jenen defizienten Konsumentinnen der ästhetischen Secreta, die bei Cortese, Alesio, della Porta und anderen vorkommen, gegenüber: Consumen sus vidas, comen sus carnes con enbidia, danles siempre crudos martirios, pensando con artificio ygualar con la perfeción, que sin trabajo dotó a ella natura. Dellas, pelan sus cejas con tenazicas y pegones y a cordelejos. Dellas, buscan las doradas yervas, rayzes, ramas y flores para hazer lexías con que sus cabellos semejassen a los della. Las caras martillando, envistiéndolas en diversos matizes, con ungüentos y unturas, aguas fuertes, posturas blancas y coloradas, que por evitar prolixidad no las cuento.160

Calisto repräsentiert in der novela dialogada einen völlig überzeichneten petrarkistischen Liebenden, der seine Angebetete in den Rang einer Göttin hebt: «¿Yo? Melibeo só, y a Melibea adoro, y en Melibea creo, y a Melibea amo.»161 Deshalb markiert seine Diatribe gegen die Kunstgriffe der anderen doncellas auch die Antinomie, aus welcher der Text wiederholt Ironie herstellt. Denn in Kontemplation seiner gottgleichen Melibea sollte Calisto von jeglichem profanen Vergleich absehen. Sein Lob auf die natürliche Schönheit Melibeas steht aber auch in auffälligem Kontrast zum Urteil von Celestinas «Schülerinnen», den Prostituierten Areúsa und Elisia, welche Melibeas optische Vorzüge einzig auf ihre wohlhabende Ausstaffierung zurückführen. Diese Diskrepanz verschärft sich dadurch, dass die LeserInnen vorher mit einem konträren Schönheitsmodell konfrontiert werden: Während Calisto Melibeas Schönheit gleichsam auf eine ikonographische Betrachtung reduziert («cuánta era la grandeza de su pintor.»),162 scheint die alte erfahrene Celestina aus den Reizen Areúsas einen ganzheitlichen sinnlichen Genuss zu schöpfen, weshalb Jean Dangler sie als «masculine seducer of women»163 apostrophiert. Denn für die Kupplerin ist das Erlebnis von Schönheit ein Riechen, ein Schmecken und vor allem ein Tasten, das den neuplatonischen Liebestopos, der eng an den Sehsinn gekoppelt ist, zu einer Penetrationsphantasie transkribiert, denn in Celestinas Worten fungiert ganz offenkundig das männliche Genital als Sinnesorgan der vista:

160 Rojas: La Celestina, S. 190. 161 Rojas: La Celestina, S. 93. 162 Rojas: La Celestina, S. 92. 163 Jean Dangler: Transgendered Sex and Healing in Celestina. In: Celestinesca 25,1–2/2001, S. 69.

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!Bendígate Dios y el señor Sant Miguel Ángel, y qué gorda y fresca que estás; qué pechos y qué gentileza! Por hermosa te tenía hasta agora, viendo lo que todos podían ver. Pero agora te digo que no ay en la cibdad tres cuerpos tales como el tuyo en quanto yo conozco; no paresce que ayas quinze anos.!O quién fuera hombre y tanta parte alcançara de ti para gozar tal vista!164

Abgesehen von der Verkehrung der Hierarchie der Sinne ist dieses Lob der Schönheit jedoch frei von Ironie, da Rojas Celestina durchaus als Expertin inszeniert: Schließlich hat sie als Hebamme nicht nur sämtliche Kinder ans Licht der fiktiven Stadt geholt und darüber außerdem Buch geführt, ihr fachkundiger Blick in die intimen Kammern von Frauen jeglichen Alters ist die solide Geschäftsgrundlage ihrer Secreta-Gemischtwaren, wie etwa die Szene verdeutlicht, in der sie Melibeas skeptische Dienerin Lucrecia mit einer List entwaffnet: !Hija Lucrecia, ce! yrás a casa y darte he una lexía con que pares essos cabellos más que el oro; no lo digas a tu señora. Y aun darte he unos polvos para quitarte esse olor de la boca, que te huele un poco. Que en el reyno no lo sabe hazer otro sino yo, y no ay cosa que peor en la mujer parezca.165

Aber nicht nur Laugen und Pulver dokumentieren Celestinas Kunst, als Hebamme weiß sie auch um die delikateren Bedürfnisse der weiblichen Natur, wie die bereits eingeführte Szene verdeutlicht, in der sie Areúsa spätabends zu Hause aufsucht. Anlass des Besuchs ist die sexuelle Initiation des noch immer misstrauischen jungen Dieners Pármeno. Und tatsächlich unterliegt Celestinas diesbezügliche Bitte an Areúsa der Gunst der Stunde,166 da die junge Frau gerade von einem schlimmen Leiden heimgesucht wird, dem mal de madre: «Mal gozo vea de mí si burlo, sino que ha quatro horas que muero de la madre, que la tengo subida en los pechos, que me quiere sacar del mundo».167 Die Metapher beschreibt in der Frühen Neuzeit ein Krankheitsbild, auf dem dann später der Hysteriediskurs aufsitzen wird: Suffokation durch den Uterus. Die antike Ätiologie dieses Leidens besagt, dass der Uterus wegen des Ungleichgewichts der Säfte, welches aus sexueller Erregung resultiert, aufsteigt, an andere Organe andockt und so zu Erstickung bzw. mangelnder Sauerstoffzufuhr führt. Zur Entstehungszeit der Celestina ist eigentlich bereits bekannt, dass die

164 Rojas: La Celestina, S. 202. 165 Rojas: La Celestina, S. 169. 166 Zum Leitmotiv der Fortuna und des carpe diem, das in dieser und vielen anderen Szenen zentral ist, siehe Marlen Bidwell-Steiner: Sex Acts in the Celestina: An Ars Combinatoria of Desire. In: Amyrose McCue Gill/Vanessa McCarthy (Hg.): Sex Acts in the Early Modern World. Renaissance and Reformation Journal 38,4/2015, S. 121–144. 167 Rojas: La Celestina, S. 202.



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Gebärmutter durch Bänder fest im Bauchraum verankert ist, die Vorstellung einer krankhaften Lüsternheit der Frau überdauert allerdings als travelling concept die Genese der Symptomatik.168 Kuren gegen dieses vor allem junge Frauen befallende Leiden gehören deshalb auch zum Repertoire der Hebammen und Heilerinnen, die – wie Celestina darlegt – über einen zweifach privilegierten Zugang zu diesem Wissen verfügen, da sie ja selber Frauen sind: «De este tan común dolor todas somos, mal pecado, maestras.»169 Celestinas folgender Tipp, den sie aus der Praxis anderer Frauen kennt, ähnelt den in der Secreta-Literatur verschrifteten Rezepten: Todo olor fuerte es bueno: assí como poleo, ruda, axiensos, humo de plumas de perdiz, de romero, de moxquete, de encienço. Recibido con mucha diligencia, aprovecha y afloxa el dolor y buelve poco a poco la madre a su lugar. Pero otra cosa hallava yo siempre mejor que todas, y ésta no te quiero decir, pues tan santa te me hazes.170

Die am Ende des Zitats anklingende radikalere Kur ist von bestechender Schlichtheit und findet sich tatsächlich über die Jahrhunderte in medizinischen Texten konstant wieder: Das sexuelle Begehren als Auslöser des Übels muss getilgt werden. Neben Geschlechtsverkehr kann das etwa durch eine Massage geschehen, wie sie Celestina zunächst auch Areúsa angedeihen lässt. Im Text soll diese die junge Frau aber auf das eigentlich effektivere Mittel einstimmen: den sexuellen Akt mit Pármeno, der aufgrund seiner Jugend (und wohl auch aufgrund seiner Herkunft) geradezu prädestiniert dazu ist, den mal de madre zu lindern: Mas como es un putillo, gallillo, barviponiente, entiendo que en tres noches no se le demude la cresta; déstos me mandavan a mí comer en mi tiempo los médicos de mi tierra quando tenía mejores dientes.171

Hier wird die Metapher der Zähne für sexuelles Begehren wieder aufgenommen und mit der ebenfalls topischen Potenz des Hahns verknüpft, was eine sehr karnale Spielart körperlicher Lust evoziert. Und an dieser Stelle bestätigt sich auch Danglers Befund, wonach Celestina ihre Geschlechtsidentität transgrediert, denn die Gesundheit ihrer Zähne verweist hier wiederum auf das männliche penetrierende Genital. Auch der Abschied Celestinas von dem kopulierenden

168 Zum Thema der Suffokation siehe Katharine Park: Medicine and Society in Medieval Europe, 500–1500. In: Andrew Wear (Hg.): Medicine in Society: Historical Essays. Cambridge: University Press 1992; Helen King: Midwifery, Obstetrics and the Rise of Gynaecology: The Uses of a Sixteenth-Century Compendium. Aldershot: Ashgate 2007. 169 Rojas: La Celestina, S. 203. 170 Rojas: La Celestina, S. 203. 171 Rojas: La Celestina, S. 208.

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Paar steht im Zeichen dieses metaphorischen Konzepts, wodurch die alte Kupplerin selbst erneut als äußerst sinneslustige Frau gezeichnet ist: «Quedaos a Dios, que voyme sólo porque me hazes dentera con vuestro besar y retoçar, que aún el sabor en las enzías me quedó; no le perdí con las muelas.»172 Nach dieser insgesamt sehr lebendigen und sinnlichen Begegnung geht Celestina dann aber den dunkleren Seiten ihres Geschäfts nach: In ihrem Haus wartet eine junge Frau, der sie, wie Elicia kundtut, «la [virginidad] avías renovado siete vezes»173 und die nun erneut diesen Dienst in Anspruch nimmt. Auf den voyeuristischen Genuss am Geschlechtsverkehr des jungen Paares folgt also mit bestechender Logik die Auseinandersetzung mit dem schmerzhaften Preis für derlei Vergnügungen.

Das Rad der Fortuna In einer Verfilmung würden diese beiden Szenen der gleichen Sequenz durch einen harten Schnitt getrennt. Und tatsächlich vereint die Protagonistin widersprüchliche Züge, die sie gleichermaßen ambivalent wie mächtig erscheinen lassen. Bevor ich auf die diabolischen Attribute der «Himmlischen» – so die Assoziation ihres Namens – näher eingehe, sei noch kurz der weitere Plot zusammengefasst. In der Mitte des Textes dreht sich das Rad der Fortuna nach unten, womit eine weitere rekurrente Trope benannt ist. Als Höhepunkt der Lebensfreude und Sinneslust treffen sich die unterprivilegierten AkteurInnen Pármeno, Sempronio, Areúsa, Elicia und Celestina in deren Haus zu einem Festessen, das sowohl als eine Travestie des Platonischen Symposium174 als auch auf das Letzte Abendmahl gelesen werden kann, denn nach dem Bettlerbankett verketten sich die Ereignisse gleichsam zu einer Todesspirale, um in der Bildsprache des Textes zu bleiben. Melibea lässt Celestina rufen, um ihr nun ihre eigene Liebeskrankheit drastisch offenzulegen, damit diese sie kuriere. Gleichsam als hyperbolische ärztliche Anamnese versucht Celestina durch gezielte Fragen eine Diagnose zu erstellen, wodurch die Darstellung des amor hereos zur medizinischen Parodie mutiert.

172 Rojas: La Celestina, S. 208. 173 Rojas: La Celestina, S. 209. 174 Befürworter dieser These wären etwa Kevin S. Larsen: Bed and Board: Significant Parallels between Plato’s Symposium and Rojas’ La Celestina. In: Neohelicon: Acta Comparatinis Litterarum Universarum, 21,1/1994, S. 247–268; Luis Galván: Intertexto, sentido, autoridad: ‹el lobo viendo ganado› (Celestina, XIX). In: Bulletin of Spanish Studies, LXXXIV,6/2007, S. 677–700; dagegen spricht sich aus: Nicholas G. Round: Celestina, Aucto I: A Platonic Echo and Its Resonances. In: Corfis/Snow, Fernando de Rojas, S. 93–112.



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Nicht von ungefähr öffnet der Name Melibea den Assoziationsraum zu Honig und damit auch zu Wachs: Die Patientin wandelt sich ihrerseits scheinbar zur Wachsfigur, die der Heilerin wehrlos ausgeliefert ist: Amiga Celestina, muger bien sabia y maestra grande, mucho has abierto el camino por donde mi mal te pueda specificar. Por cierto, tú lo pides como mujer bien esperta en curar tales enfermedades. Mi mal es de coraçón, la yzquierda teta es su aposentamiento, tiende sus rayos a todas partes. Lo segundo, es nuevamente nascido en mi cuerpo, que no pensé jamás que podía dolor privar el seso como éste haze; túrbame la cara, quítame el comer, no puedo dormir; ningún género de risa querría ver.175

Diese topische Symptomatik der Liebesmelancholie ließe eigentlich eine ebensolche Kur erwarten, wie sie etwa in Marsilio Ficinos De amore beschrieben wird.176 Doch statt Musik, frischer Luft und geistreichen Gesprächen hat Celestina eine wesentlich materiellere Therapie im Sinn, die sie jedoch angesichts Melibeas Emphase auf honra, dem im frühneuzeitlichen Spanien obsessiven Ehrkodex, nicht ausspricht: Véote, señora, por una parte quexar el dolor, por otra temer la melezina. Tu temor me pone miedo, el miedo, silencio, el silencio tregua entre tu llaga y mi melezina; assí que será causa que ni tu dolor cesse, ni mi venida aproveche.177

Doch mit der wiederholten Nennung des «Krankheitserregers», Calisto, bricht sie die letzten Vorbehalte der jungen Frau, die daraufhin stilgerecht in Ohnmacht fällt. An dieser Stelle werden die beiden Aktivitäten der Celestina – als Kupplerin und als Restaurateurin von Jungfräulichkeit – als metaphorische Kohärenz lesbar: Pues si tú quieres ser sana, y que te descubra la punta de mi sutil aguja sin temor, haz para tus manos y pies una ligadura de sosiego apra tus ojos una cobertura de piedad, para tu lengua un freno de silencio, para tus oídos unos algodones de sufrimiento y paciencia, y versa obrar a la Antigua maestro de estas llagas.178

Zum Quellbereich «Garn» wird nunmehr das Instrument, die Nadel, nachgereicht und Celestinas Bildersprache deutet durchaus eine invasive Intervention an, da sie gleich darauf von «[…] las grandes curas, delante los animosos cirujanos […]»179 175 Rojas: La Celestina, S. 241. 176 Marsilio Ficino: Commentarium in convivium Platonis de amore, Florenz 1468; vgl. dazu Kapitel 4 dieser Arbeit. 177 Rojas: La Celestina, S. 241. 178 Rojas: La Celestina, S. 179 Rojas: La Celestina, S.

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spricht. Der Liebeszauber wird traditionell auch an Wachspuppen vollzogen, hier zielen die Stiche aber direkt auf die Substanz des begehrten Objekts: Celestinas Künste betreffen also weder Substitute noch die Körperoberflächen, ihre Nadelstiche dringen in Körper und Seele gleichermaßen ein. Aus diesem Grund befolgt Melibea schließlich Celestinas Therapie, die darin besteht, den Geliebten um Mitternacht am Gartentor zu sprechen und die sie im weiteren Verlauf des Texts schließlich in den Tod führen wird. Doch auch Celestinas Lohn für ihre persuasive Kunst wird gleichzeitig ihr Untergang sein: Calisto überreicht ihr eine kostbare goldene Kette, also ein weiteres Dingsymbol, das in das metaphorische Netz der Celestina passt. Nachdem sie ihren Herrn bei seinem nächtlichen Abenteuer begleitet und einige Furcht ausgestanden hatten, begeben sich Sempronio und Pármeno zu Celestina, um ihren Anteil an der Belohnung zu fordern. Diese denkt jedoch gar nicht daran, die beiden zu entschädigen, woraufhin die Diener Celestina erstechen und aus dem Fenster ihres Hauses stürzen um zu fliehen. Der Lärm, den sie dabei verursachen, ruft zunächst Elicia und dann die Ordnungskräfte auf den Plan, die beiden werden gefasst und schließlich öffentlich exekutiert. Calisto und Melibea treffen sich mittlerweile in deren Garten und – ganz im Zeichen der Inversion, die die zweite Hälfte des Textes kennzeichnet – begegnet uns der neuplatonische (Liebes)Melancholiker dabei als grober Lüstling, wie eine der Liebesszenen im locus amoenus verdeutlicht: M: Holguemos y burlemos de otros mil modos que yo te mostraré; no me destroces ni maltrates como sueles. ¿Qué provecho te trae dañar mis vestiduras? C: Señora, el que quiere comer el ave, quita primero las plumas.180

Entsprechend groß ist die Fallhöhe des jungen Helden, was hier durchaus wörtlich zu verstehen ist: Die beiden Liebenden werden durch Stimmen von der Straße aufgeschreckt, Calisto versucht zu fliehen, fällt dabei von der Leiter und stirbt. Dem absteigenden Rad der Fortuna entsprechend stirbt auch Melibea, die sich nach ihrer Konfession an den Vater vom Turm des elterlichen Hauses in den Garten ihrer Lüste stürzt. Wie ich andernorts zeigen konnte, lassen sich die vertikalen Elemente des Texts – Türme, Mauern und Leitern – antithetisch mit der goldenen Kette verknüpfen. Denn die cadena de oro verweist auf die catena aurea, die goldene Kette alles Seienden, die ähnlich der bzw. in Zusammespiel mit der scala naturae in frühneuzeitlichen – vor allem magischen – Traditionen ein beliebtes Motiv für

180 Rojas: La Celestina, S. 323–324.



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die göttliche Ordnung darstellt.181 Doch diese eigentlich metaphysische und daher vertikale Ordnung erweist sich in der Celestina im doppelten Sinn als horizontal, bleibt die goldene Kette doch im Besitz der jungen Prostituierten Elicia, zusammen mit Areúsa und Lucrecia ist sie eine der wenigen ProtagonistInnen, die am Leben bleiben – sieht man von Melibeas Eltern ab.182

Vergänglichkeit ohne Aussicht auf ein Jenseits Während Melibeas Mutter im Text eine völlig marginale Rolle spielt,183 hat ihr Vater Pleberio mit einem langen Schlussmonolog auf die Vergänglichkeit des Seins einen starken Abgang. Die wenigen Informationen, die wir vorher über ihn erhalten, stützen meine These, dass Rojas eine verändernde Ökonomie – des Geldes, aber auch der Körper – im Blick hat. Pleberio wird als reicher Adeliger dargestellt, der durch Handel zu Wohlstand gelangt war; u. a. besitzt er Schiffe, wie sein Lamento mit Blick aus seinem Herrschaftshaus auf den nahen Fluss offenbart. Aber seine auf der Textoberfläche untadelhafte soziale Verortung scheint mir doch etwas fragwürdig: Folgen wir Gilmans These, dass der Autor Fernando de Rojas selber der Gruppe der conversos angehört und deshalb deren zunehmend prekäre Situation thematisiert, so könnte Melibeas Vater ein aufstrebender converso sein. Schon sein Name, Pleberio, widerspricht der edlen Herkunft und auch zwei Erwähnungen von Melibeas sozialer Zugehörigkeit lassen Zweifel aufkommen: Sempronio nennt Melibea im neunten Akt eine hijadalgo, während er Calisto als cavallero bezeichnet.184 Hidalgo ist eine relativ unspezifische Bezeichnung für Adel und sagt nichts darüber aus, ob es sich um Erbaristokratie oder Nobilitierung durch Privileg handelt; erst im Zuge der wirtschaftlichen Krisen in den folgenden Jahrhunderten charakterisiert die Bezeichnung den niedrigen bzw. verarmten Adel. Es könnte also durchaus sein, dass Pleberio aufgrund seiner Verdienste um den Handel, etwa in Neuspanien, geadelt wurde. Seine merkantile Orientierung

181 Zur Bedeutung der catena aurea siehe David Mikics: A New Handbook of Literary Terms. New Haven/London: Yale University Press 2007, S. 138, sowie Arthur O. Lovejoy: Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea. Cambridge: Harvard University Press 1936, Reprint 2009. 182 Siehe dazu Bidwell-Steiner: Sex Acts. 183 Einige ForscherInnen sehen die traditionellen Elternrollen in der Interaktion von Alisa und Pleberio mit ihrer Tochter sogar als «vertauscht» an. Siehe dazu etwa: Yolanda Iglesias: Una nueva mirada a la parodia de la novela sentimental en La Celestina. Madrid/Frankfurt: Iberoamericana/Vervuert 2009, S. 103 ff. 184 Rojas: La Celestina, S. 229.

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und seine Geschäftstüchtigkeit passen so gar nicht zu einer christlichen Ethik, weshalb sie traditionell eher den wenigen beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten der cristianos nuevos entsprechen und nicht dem in der Spanischen Aristokratie ostentativ zur Schau gestelltem ocio, also Müßiggang. Calisto scheint allerdings meine These zu konterkarieren, da er in seiner Unterredung mit Melibea diese folgendermaßen adressiert: «Pero como soy cierto de tu limpieza de sangre y hechos, me estoy remirando si soy yo Calisto, a quien tanto bien se haze.»185 Doch der liebestolle Calisto hat sich in seinem Urteil schon mehrfach als unzuverlässig herausgestellt und lässt sich den Expertinnen der Kunst des Scheins zufolge auch einfach durch Schminke täuschen. Eine derart explizite Erwähnung  der Blutreinheit spricht vielmehr für eine ironische Inversion, da sich Melibeas folgende Taten, hechos, ja alles andere als rein erweisen werden. Überdies ist in einem Zitat Celestinas, das ich zu Beginn dieses Abschnitts wiedergegeben habe,186 von Melibeas sangre nueva die Rede, was zunächst auf deren zartes Alter anzuspielen scheint, gleichzeitig aber in der für den Text so typischen Polysemie auch darauf anspielen könnte, dass die junge Frau die Tochter von conversos ist. Celestina – deren Expertise im Text gemeinhin unfehlbar ist – liefert zu Beginn der Handlung auch ein Indiz für einen erst rezenten Aufstieg Pleberios, der mit der sich verändernden urbanen Ökonomie in Zusammenhang stehen könnte. Sie scheint nämlich noch eine Rechnung mit ihm offen zu haben: «Más quiero offender a Pleberio que enojar a Calisto».187 Gegenüber Lucrecia, die sie am Tor zu Pleberios Haus in Empfang nimmt, offenbart sie, dass sie früher in der Nähe gewohnt habe. Diese ist freilich im Bilde, denn sie wird Alisa, Pleberios Frau, daran erinnern, dass die alte Kupplerin früher unten am Fluss bei den Ledergerbereien gehaust habe.188 Inzwischen dürfte das Viertel «gentrifiziert» worden sein, und vielleicht hat Pleberios Geschäftssinn zur Aufwertung des Stadtteils und der Vertreibung Celestinas beigetragen. Signifikanter Weise sind die scheinbaren Antipoden des Werkes – Celestina und Pleberio – in einigen Charakterisierungen parallel gestaltet: Beide sind 60 Jahre alt;189 beide repräsentieren produktive Mitglieder der urbanen Ökonomie; beide sind als Figuren gezeichnet, die keine Ambivalenz aufweisen, da sie gemäß ihren klar zum Ausdruck gebrachten Werten leben. Die beiden verkörpern schließlich auch am eindringlichsten die mangelnde Transzendenz, die 185 Rojas: La Celestina, S. 261. 186 Rojas: La Celestina, S. 163. 187 Rojas: La Celestina, S. 150. 188 Rojas: La Celestina, S. 152. 189 vgl. dazu Rojas: La Celestina, Akt 3, Akt 9, Akt 21.



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­ onsolación Baranda dem Werk attestiert.190 Celestina betont wiederholt, wie C wichtig das Leben im Hier und Jetzt ist; ja sie schöpft ihre sinnliche Lust geradezu aus dem Wissen um die eigene Endlichkeit. Pleberio wiederum scheint lediglich an ein Nachleben in der nächsten Generation zu glauben und daraus seinen Sinn zu beziehen, was der Suizid Melibeas vereitelt: «¿Para quién edifiqué torres? ¿Para quién adquirí honrras? ¿Para quién planté árboles? ¿Para quién fabriqué navíos?»191 Während Pleberio am Ende einen so tiefgreifenden engaño erfährt, dass er lieber tot wäre, muss Celestina sterben, obwohl sie von Anfang an frei von Illusionen ist und sowohl um die Schlechtigkeit der Menschen, als auch um deren schlechte Meinung von ihr weiß: Propondrá [Calisto] mil inconvientes que mi deliberación presta le puso, diziendo: Tú, puta vieja, ¿por qué acrecentaste mis passiones con tus promesas? Alcahueta falsa, para todo el mundo tienes pies, para mí, lengua; para todos obra, para mí palabras; para todos remedio; para mí, pena; para todos esfuerço, para mí te faltó; para todos luz, para mí tiniebla; pues, vieja traydora, ¿por qué te me ofreciste?192

Celestinas Menschenkenntnis resultiert aus eigenen bitteren Erfahrungen und der lange Monolog, aus dem dieses Zitat stammt, offenbart den Druck, unter dem die alte Frau steht. Die subjektive Not und die Zwänge, denen die Empirikerin der dunklen Künste ausgeliefert ist, stehen in hartem Kontrast zu der diabolischen Aufladung, die sie durch ihre Umgebung erfährt. Die Diatribe Pármenos, mit der er seinen Herrn vor Celestina warnt, erstreckt sich etwa über fast drei Textseiten, auf deren eindringlichste Charakterisierungen ich eingehen werde, um ihre Übertreibung ins Dämonische als Diskrepanz zur eigentlichen Realität alter Prostituierter und Kupplerinnen aufzuzeigen: «Ella tenía seys officios; conviene saber: labrandera, perfumera, maestra de hazer afeytes y de hazer virgos, alcahueta y un poquito hechizera.»193 Wenngleich hier zunächst nur von ein wenig Hexerei die Rede ist, so legt die Zahl sechs doch nahe, dass Celestina mit dem Teufel im Bunde ist. Laut Pármeno verfügt sie auch über sämtliche Apparaturen der Alchemie und Ingredienzien der schwarzen Magie:

190 Consolación Baranda: Cambio social en La Celestina y las ideas jurídico-políticas en la Universidad de Salamanca. In: Ignacio Arellano/Jesús M. Usunáriz (Hg.): El Mundo social y cultural de la Celestina. Actas del congreso internacional, Universidad de Navarra, junio, 2001. Madrid: Iberoamericana; Vervuert 2003, S. 12. 191 Rojas: La Celestina, S. 337. 192 Rojas: La Celestina, S. 150. 193 Rojas: La Celestina, S. 110.

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Y en su casa hazía perfumes, falsava estoraques, menjuy, ánimes, ámbar, algalia, polvillos, almizcles, mosquetes. Tenía una cámara llena de alambiques, de redomillas, de barrilejos de barro, de vidrio, de arambre, de estaño, hechos de mil facciones; hazía solimán, afeyte cosido, argentadas, […] Adelgasava los cueros con çumos de limones […] y otras confaciones. Sacaba agua para oler […] Los azeytes que sacava para el rostro no es cosa de creer […] y un poquillo de bálsamo tenía ella en una redomilla que guardava para aquel rascuño que tiene por las narizes. Esto de los virgos, unos hazía de bexiga y otros curava de punto […] tenía huessos de coraçón de ciervo, lengua de bívora, cabeças de codornizes, sesos de asno, tela de caballo, mantillo de niño, hava morisca, guija marina, soga de ahorcado[…] y otras mil cosas.194

Wenn die Schilderung Pármenos stimmt, handelt es sich bei Celestina also um eine veritable Naturmagierin. Denn nicht nur die materiellen Grundlagen von Schminke und Parfums, sondern auch die Zauberutensilien finden sich in der einschlägigen Secreta-Literatur. Der Strick und vor allem auch abgetrennte Finger  von Erhängten etwa sind auch für della Porta höchst wirksame Zutaten seiner magischen Interventionen.195 Als professora dei secreti geht Celestina freilich nicht durch, denn es mangelt ihr an etwas Entscheidendem, der Literalität. Damit scheint auch die Frage geklärt, weshalb die gerissene und skrupellose Magierin im Vergleich zu den realen Secreta-Schreibern und -Herstellern so wenig Profit aus ihren Machenschaften schöpft. War dieses Metier vielleicht hundert Jahre vor della Porta oder Fioravanti weniger einträglich? Oder handelt es sich bei Pármenos Beschreibung vielleicht doch eher um die Projektion männlicher Ängste, denen der Zugang zur weiblichen Sphäre und zum weiblichen Körper ­verwehrt ist? Darauf verweist die Erwähnung der Schramme auf Celestinas Nase, die entweder eine Syphilis-Erkrankung der Magierin selbst nahelegt und/oder auf eine gängige Bestrafungspraxis für Prostituierte verweist: dem Naseabschneiden.196 Schließlich konterkariert das Ende von Pármenos Aufzählung die diabolischen Attribute der alten Frau: «Y todo era burla y mentira».197 Aufgrund der durchgängigen Dialogform hält Rojas die Welt der Fiktion gekonnt in der Schwebe; ob die Charakterisierung der alten Frau mehr der Psychologie des Sprechers Pármeno oder den wirklichen Machenschaften der Celestina zuzuschreiben ist, bleibt offen. Allerdings bedient sich Celestina tatsächlich magischer Praktiken, bevor sie daran geht, Melibea gezielt zu manipulieren: 194 Rojas: La Celestina, S. 112. 195 Vgl. della Porta: De i miracoli, fol. 86 re. und Luise George Clubb: Gianbattista della Porta, Dramatist. Princeton: Univeristy Press 1964. 196 Edward Muir: Fiesta y rito en la Europa moderna. Madrid: Editorial Complutense 2001, S. 133. 197 Rojas: La Celestina, S. 113.



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Conjúrote, triste Plutón, señor de la profundidad infernal, emperador de la corte dañada, capitán sobervio de los condenados ángeles […] Yo, Celestina, tu más conoscida cliéntula, te conjuro por la virtud y fuerça destas bermejas letras; por la sangre de aquella nocturna ave con que están scritas […] por la áspera ponçoña de la bívoras de que este azeyte fue hecho, con el qual unto este hilado […]198

Ein vielschichtiges Fiktionsgewebe Durch diesen Pakt scheint also das Netz, das letztlich zum Untergang sämtlicher ProtagonistInnen führt, die mit Zwirn, Band oder Kette in Berührung kamen, ein Teufelswerk zu sein. Vor dem Hintergrund eines Auditoriums, das einer Kultur des mehrfachen Schriftsinns angehört, mag diese Erklärung die oberste Interpretationsfalte eines mehrschichtigen Werks bieten: An die jungen männlichen Leser/Hörer, die angeblich das erstintendierte Publikum darstellten, richtet sich somit jene Warnung, welche die Paratexte ja auch explizit ausbuchstabieren: sich von alten Hexen und disloyalen Dienern fernzuhalten.199 Doch die Veränderungen der Stadtgeographie, mit der Celestinas Umzug und ihre existentielle Verschlechterung einhergehen, zeichnen vor dem historischen Hintergrund der Regulierung von Prostitution und der zunehmenden juristischen Verfolgung von HäretikerInnen und Hexe(r)n auch ein Bild der Körperregimes, die in einer sich pluralisierenden Gesellschaft einem verstärkten und neuartigen Ordnungsdruck unterliegen. Die damit verbundenen Macht- und Verteilungskämpfe treffen die Anderen auf der Achse von race, class und gender: conversos – oder wie sie pejorativ genannt werden – marranos, unterprivilegierte Lakaien und die Frauen. In diesem Prozess wird der weibliche Körper zum Schauplatz von Expertenwissen. Wenn Frauen nicht mehr untereinander Schönheit und Hygiene aushandeln, sondern männliche Experten darüber Deutungs- und Gestaltungsmacht reklamieren, lässt sich der unheimliche weiblich Körper endlich besser kontrollieren. Doch der metaphorische Kosmos Rojas’ offenbart wesentlich mehr: Gute Fiktion verdichtet die unterschiedlichsten Erzählfäden und kann daher auch jene Elemente lebendig halten, die in gesellschaftlichen Transformationsprozessen 198 Rojas: La Celestina, S. 147–148. 199 Zur Frage der intention lectoris siehe Dorothy S. Severin: Celestina’s Audience, from Manuscript to Print. In: Ottavio Di Camillo/John O’Neill (Hg.): Selected Papers from the International Congress in Commemoration of the Quincentennial Anniversary of La Celestina. Madison: Hispanic Seminary of Medieval Studies 2005, S.197–205; sowie José Luis Canet Vallés: La Celestina en la ‹contienda› intellectual y universitaria de principios del s. XVI. In: Celestinesca, 32/2008, S. 85–107.

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verdrängt werden. Deshalb ist die alte abjekte Magierin trotz all ihrer monströsen Züge eine ebenso vitale wie faszinierende Persona. Diese ist keineswegs realistisch, sondern in ihren Fähigkeiten völlig überzeichnet. Gerade dadurch wird sie aber zur glaubwürdigen, da vitalen Figur, die unsere Wahrnehmung für ein ganzheitlicheres Bild weiblicher Randexistenzen an der Schwelle zur Neuzeit schärft: für ihre Lebenslust und ihre Sinnesfreude, für ihre Berechnung und ihre listige Menschenkenntnis, für ihr Elend und ihr Ausgeliefertsein.200 So gesehen haben Rojas’ Text und dessen intertextuelle Inanspruchnahme gleichermaßen Anteil an den Enteignungsprozessen wie am Weiterleben genuin weiblicher Wissensformationen und Lebensentwürfe. Denn auch wenn es nicht die vorrangige oder gar ausschließliche Intention des Textes sein mag, schöpft dieser doch seinen Zauber aus der performativen Zurschaustellung einer Trägerin des geheimen Wissens der Frauen, welches im zunehmend ungeordneten sozialen Feld Hoffnungen und Ängste gleichermaßen auf sich zieht und dadurch patriarchale Kontrollmechanismen nach sich zieht.

200 Zu dieser eigentümlichen Ambivalenz in der Rezeption der Protagonistin siehe Emilio De Miguel Martínez: Celestina en la sociedad de fines del XV: protagonista, testigo, juez, víctima. In: Ignacio Arellano/Jesús M. Usunáriz (Hg.): El Mundo social, S. 253–73.

9 Zusammenfassung der Ergebnisse Wie entlang der drei Transversalen Affekt, Animalisches und Artefakt herausgearbeitet, verhandeln beide von mir untersuchten Textkorpora die Wesenhaftigkeit des Menschen neu. In der Gegenüberstellung von Positionen der Naturphilosophie der frühen Neuzeit mit jenen rezenter feministischer bzw. Gender Forschung sind Parallelen, aber auch Divergenzen zutage getreten, die ich zum Abschluss nochmals diskutieren möchte, um auf epistemologische Aporien in der neueren feministischen Theorienbildung hinzuweisen. Doch zuvor sollen hier nochmals gleichsam in einer Vogelschau die wichtigsten Ergebnisse aus den drei Großkapiteln betrachtet werden. Im Vergleich der Affekttheorien besteht die augenscheinlichste Affinität der zwei Textkorpora darin, dass beide für Emotionen eine Verarbeitungsinstanz annehmen, die dem Bewusstsein vorgeschaltet ist. Meist rekurrieren GenderforscherInnen dabei indirekt auf das Konzept des conatus, das in den wissenschaftlichen Kanon vor allem durch Spinoza Eingang fand, aber bereits in den von mir analysierten Texten des 16. Jahrhunderts zu einem Leitparadigma in Bezug auf die Bewegungen der Seele wurde, wobei Fracastoro dafür etwa auch den Begriff subnotio verwendet. Als direkte Anleihe eignet sich dieses travelling concept besonders gut dafür, die unterschiedliche Motivation der jeweiligen Neuformulierungen von Affekttheorien des 16. und des 21. Jahrhunderts zu erfassen. Zeitgenössische TheoretikerInnen versprechen sich von diesem vorrationalen kognitiven Vermögen eine besonders unkorrumpierbare Wahrhaftigkeitsinstanz, die gleichsam von allen zivilisatorischen Zurichtungen unbehelligt und daher uneingeschränkt lebensbejahend agiert. Die frühneuzeitlichen DenkerInnen betonen demgegenüber stärker, dass dieses Unterbewusste, wie sich das Konzept etwa in Aneignung von Fracastoros Terminologie übersetzen ließe, in einem Kontinuum mit dem Bewusstsein steht, welches seinerseits ebenfalls ausschließlich physiologisch determiniert ist und der Modellierung lebenslanger Erfahrungen unterliegt. Als Lust- bzw. Unlustprinzip funktioniert der frühneuzeitliche conatus zwar ohne unmittelbare rationale Prüfung, wird aber von vormaligen bewussten Entscheidungen und Wertehaltungen geprägt. Im Zusammenspiel von diesen Überlebenstrieben und rationalen Nachbearbeitungen gestaltet sich der freie Wille, der für die Affekttheorien der Frühen Neuzeit von zentralem Interesse ist. Denn würden Affekte immer korrekt im Sinne von Lebenserhaltung und Lebenserweiterung wirken, gäbe es keinen Irrtum, keine falsche Reaktion und – für die Analyse heutiger Affekttheorien besonders wichtig – auch keine Verantwortung. Ich habe hier absichtlich Begriffe verwendet, die an die Psychoanalyse erinnern. Denn das Agieren des Affekts in rezenten Theorien scheint mir letztlich nichts anderes zu beanspruchen, als die DOI 10.1515/9783110521825-009

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 9 Zusammenfassung der Ergebnisse

Sphäre des Realen, die Lacan von jenen des Symbolischen und des Imaginären unterscheidet. Diese ist uns aber nicht zugänglich, da eben auch die Triebe «wie eine Sprache» organisiert sind, letztlich also durchaus zeichenhaft durchformt sind. Und wenn wir psychoanalytischen Forschungen Glauben schenken, ist das auch gut so, denn traumatische Sprachlosigkeit kommt laut Paul Verhaegen einem Amoklauf nahe, da sich Konflikte, die nicht mehr artikulierbar sind, in destruktivem Ausagieren Bahn brechen.1 In diesem Zusammenhang erweist sich die Hinwendung der neueren feministischen Forschung zu den sogenannten antihumanistischen Strömungen des 20. Jahrhunderts als irritierend. Wie ich im 6. Kapitel zeigen konnte, schöpfen etwa Deleuze und Guattari ihre vitalistischen Entgrenzungsphantasien aus der Negation bzw. aus der Hinwendung zum Abjekten bzw. zum Animalischen. Doch ihr Programm des devenir setzt Affekt und Aggression ineins, wenn die ungebremste und auffällig maskulinistische Energie der «Meuten» an die Stelle des Politischen tritt. Dieses ‹antiödipale› Menschentier scheint sich das Andere, das Monströse einzuverleiben, um eine männlich-aktive Lebensenergie ins Destruktive zu steigern. Ich werde auf dieses Problem am Ende nochmals zurückkommen. Doch zuvor möchte ich diese Ausprägung des devenir animal nochmals mit den Figurationen des Tiers Mensch kontrastieren, wie sie die feministischen Animal Studies entwerfen. In der Gegenüberstellung der beiden Textkorpora haben sich zwei entscheidende Parameter herauskristallisiert, entlang derer die Grenzziehung zwischen Menschen und (anderen) Tieren erfolgt: Sprach- und Leidensfähigkeit. Dass Tiere sprechen, wird von beinahe allen TheorektikerInnen konzediert und meist werden die Unterschiede zur menschlichen Sprache als graduelle Anpassungsphänomene interpretiert. In diesem Zusammenhang ist die von mir analysierte Ausnahme von Gómez Pereira besonders aufschlussreich. Er verneint nicht nur die Sprachfähigkeit von Tieren, er ist auch einer der ersten Philosophen, die deren Leidensfähigkeit thematisieren. Denn eine seiner zentralen Beweisführungen gegen ein Schmerzempfinden der Tiere ist die allgegenwärtige bedenkenlose Grausamkeit, mit denen Menschen ihnen begegnen. Wie ich zeigen konnte, erweist sich die Argumentation dieses angeblichen Vordenkers der mechanistischen Theorie von Descartes als höchst ambivalent. Denn Gómez Pereiras ‹logischer› Schluss basiert auf seitenlangen Erwägungen einer prinzipiellen Affinität zwischen menschlicher und tierischer Seele, die ausgerechnet zugunsten okkulter proprietates abrupt in Abrede gestellt wird. Somit scheint durch das rhetorisch aufwändige Gewebe der Antoniana Margarita auch die absolute Verkehrung der

1 Vgl. dazu Paul Verhaeghe: Auf der Suche nach der verlorenen Liebe: Alexithymie versus Romantik. In: Texte. Psychoanalyse, Aesthetik, Kulturkritik 3,27/2007, S. 37–54.



9 Zusammenfassung der Ergebnisse 

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Argumentation in ihr Gegenteil. Und diese Lesart als textuelle List hält ein weiteres mögliches Distinktionsmerkmal zwischen Tier und Mensch lebendig: die Täuschung. Schon die Replik auf die Antoniana Margarita von Francisco Sosa spielt darauf an, dass Tiere wahrhaftiger seien, da sie niemanden vorsätzlich in die Irre führten. Diese Position werden in Folge nicht nur TheoretikerInnen wie Lacan vertreten, die ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen propagieren, sondern auch AnthropologInnen wie Smuts, die darin die ethische Überlegenheit der Tiere festmachen. Auffällig ist daran, dass die gegensätzlichen Standpunkte jeweils ähnlich rhetorisch ausgefeilt vorgebracht werden, also in einer in Bezug auf das Argument im mehrfachen Sinn uneigentlichen Rede. Deshalb kann ich nicht umhin, das umstrittene Distinktionsmerkmal der Täuschung mit Hans Blumenbergs Metaphorologie engzuführen. Blumenberg sieht in der Fähigkeit, unsere neuen Erfahrungen in übertragene Begriffe, also Metaphern, zu kleiden, eine Technologie des «Fallenstellens» am Werk, die unserer unfertigen Umweltaustattung, dem Mensch als Mängelwesen, geschuldet ist:2 Da wir nicht instinktiv richtig auf kontingente Situationen reagieren, müssen wir uns durch die Übersetzung geläufiger Worte in neue Sinnzusammenhänge Kohärenz vortäuschen. Somit wären Sprach- und Täuschungskompetenz nur zwei Seiten ­derselben Charakteristik, was zumindest in der Textgestaltung alle AutorInnen gleichermaßen bestätigen. Die ethische Beurteilung des Täuschungsvermögens ist aber kontextabhängig, bleibt also Erwägungssache und bildet keinen Wert an sich. Die Frage der Leidensfähigkeit von Tieren wird freilich erst wieder aktuell, als diese angeblich genuin menschliche Eigenschaft nach dem nationalsozialistischen Genozid den Begriff der Unmenschlichkeit als eklatantes Distinktionsmerkmal des Menschen erscheinen ließ. Die epistemologische Arbeit an der Grenzverschiebung ist bei diesem Thema daher nicht nur im Bereich der Gender Studies vornehmlich ethisch motiviert. Darin unterscheiden sich die Texte des 21. Jahrhundert von jenen des 16. Jahrhunderts, welche mit der Nivellierung des Unterschieds zwischen Tier und Mensch letzteren als unbedingtes Naturwesen außer Streit stellen wollten. Dennoch zeigt sich in beiden Textkorpora Ernst ­Cassirers Befund, wonach die Suche nach einem integralen holistischen Lebensprinzip, das für Menschen und (andere) Tiere gleichermaßen gelten soll, unweigerlich in einen Anthropomorphismus führt. Denn unser «Fallenstellen» orientiert sich nun mal an unseren genuinen Körpererfahrungen. Eine der Bewältigung durch Sprache gewissermaßen analoge Technologie zur Aufwertung des Mängelwesens Mensch konnte ich im letzten Großkapitel herausarbeiten: Unmittelbar, nachdem sich das Paradigma durchsetzte, dass

2 Blumenberg: Unbegrifflichkeit, S. 10 ff.

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 9 Zusammenfassung der Ergebnisse

der Mensch ein reines Naturwesen sei, musste diese Natur mit chemischen und chirurgischen Artefakten aufwändig perfektioniert werden. Wie dargelegt, geht diese Machbarkeitsphantasie mit dem Siegeszug des – männlichen – Expertentums und der Verabschiedung einer machtvollen, lebendigen Natur einher. Beide Phänomene sind einer kapitalistischen Ökonomie geschuldet. Daher ist es wenig verwunderlich, dass im 21. Jahrhundert die feministische ‹Wiederentdeckung› des Körpers eine veränderte Terminologie in Anspruch nehmen muss. Schon die Schlagworte new materialism und material feminism legen nahe, dass das Erkenntnisinteresse dieser Denkbewegungen dem menschlichen Körper als unhintergehbare räumlich und zeitlich gebundene Materialität gilt. Vom naturwissenschaftlichen Mainstream unterscheiden sich gegenwärtige feministische Forschungen insofern, als sie ein vitalistisches und dynamisches Körpermodell zugrunde legen. Daraus resultiert eine verstärkte Fokussierung auf dessen sinnliche Qualität. Diese Hinwendung zum Dynamischen, zum Taktilen und zum Affektiven – zur Phänomenologie des Körpers – scheint beinahe unvermeidlich eine Abwendung vom Kognitiven zu bedingen. Dass diese Logik allerdings nur Effekt einer modernen Dialektik ist, offenbart der Vergleich mit meinem frühneuzeitlichen Korpus. Bernardino Telesio etwa, dem zwischen antiken binären Denksystemen und dem dialektischen Materialismus durchaus eine Mittlerfunktion zugestanden werden kann, hat kein Problem damit, auch rationale bzw. kognitive Prozesse als materielle Funktionen zu begreifen, die prinzipiell sinnlichen Impulsen unterliegen. Die Opposition von Diskursivität und Materialität fällt in sich zusammen, wenn Sprache – genauer: Sprechen und Denken – als verkörperter Akt konzeptualisiert wird. Es scheint mir signifikant, dass dieses Postulat von Intellektuellen des 16. Jahrhunderts viel problemloser akzeptiert wird als von GenderforscherInnen des 21. Jahrhunderts. In einer grundsätzlich belebten – oder um nochmals die Leitmetapher der Renaissance-Philosophie heranzuziehen – in einer taktilen, pulsierenden Welt ist eine vor- oder außerdiskursive Realität, wie sie etwa (feministische) AffekttheoretikerInnen annehmen, von geringem Erkenntniswert, da materielle P ­ hänomene in einem konsequent vitalistischen Weltbild in gewisser Weise immer sprechen, kommunizieren, interagieren. Wenn Barad die angebliche Diskurslastigkeit der Genderforschung damit überwinden will, dass sie diskursive Suggestionen wie «Intra-aktion» oder «agentionaler Realismus» beschwört, so offenbart das lediglich den tiefgreifenden Paradigmenwechsel, der zwischen Renaissance und ­Postmoderne stattgefunden hat. Denn erst der «Tod der Natur», laut Merchant die Voraussetzung für den Siegeszug der «objektiven» und leidenschaftlosen Fragmentierung, Sequenzierung und Sezierung von natürlichen Körpern, verlangt nach einem Form und Dynamik verleihenden Agenten, der res cogitans bzw. der menschlichen Vernunft, einer



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Instanz, der als travelling concept die metaphorische Aufladung des Weltenlenkers eingeschrieben wird und die somit zutiefst patriarchal konnotiert ist. Insofern ist der Impuls Rationalität zu unterminieren, nachvollziehbares Movens eines feministisch-liberatorischen Programms. Die Demontage einer lenkenden Gottesfigur wurde innerhalb der Naturphilosophie im 16. Jahrhundert vollzogen. Daher ist es wenig verwunderlich, dass auch die Argumentationslinien des feministischen Materialismus durchaus Ähnlichkeiten mit dem Bestreben frühneuzeitlicher NaturphilosophInnen zeitigen, natürliche Prozesse aus einer vormals providentiellen Kausalität zu lösen. So konnten NaturphilosophInnen eine göttliche Determinierung irdischen Geschehens weitgehend entkräften; die Frage nach dem Ursprung und der Gesetzmäßigkeit lebendiger Dynamiken wurde allerdings stillgelegt bzw. musste sich weiterhin auf einen  – inzwischen lediglich einmaligen – Schöpfungsakt berufen. Dabei blieben die stilbildenden Leitvorstellungen eines patriarchalen Schöpfergottes intakt und wurden gleichsam metonymisch auf physikalische Wirkkräfte übertragen. Beispielsweise nimmt schließlich auch Telesio zwar eine prinzipiell formfähige Materie an, die eigentliche Gestaltung obliegt aber den aktiven Kräften von Hitze und Kälte. Paradoxerweise führten diese vitalistischen Konzepte des 16. Jahrhunderts, die universelle Wirkkräfte von Bewegung und organischen Strukturen postulierten, in der weiteren Entwicklung der Naturwissenschaften zu einer Abstraktion der physikalischen Energien von einer prinzipiell inerten Materie. Dies liegt meines Erachtens daran, dass die vitalististischen Modelle der Spätrenaissance holistisch ausgerichtet waren, was sich tendenziell einer systematischen Erfassung widersetzt. Viele der Schlussfolgerungen von Fracastoro, Telesio, Sabuco, Pereira u. a. waren für Folgegenerationen daher von hohem heuristischen Wert, gelangten aber mit der Vereinfachung und Vereinheitlichung physikalischer und medizinischer Erklärungsmodelle an ein ‹natürliches› Ende. Die Operationalisierung experimenteller Forschung im Rahmen der Scientific Revolution würde im Anschluss viele der spekulativen Axiome der Naturphilosophie des 16. Jahrhunderts bestätigen, allerdings um den Preis, dass einzelne Phänomene aus ihrem ganzheitlichen Zusammenhang isoliert wurden. Diese methodische Fragmentierung führte im weiteren Verlauf nicht nur zu einer ebenso fragmentierten Organisation der Wissenschaften, sondern zu einer Überwindung des holistischen Ansatzes. Die so gewonnenen Detailkenntnisse waren wiederholbar und kontrollierbar. Damit nähren sie aber auch Allmachtsphantasien, die die Tropen des Schöpferischen für die Figur des – männlichen – Wissenschaftlers beanspruchten, um als Gegenüber eine passive Materie zu imaginieren, wie ich das im letzten Großkapitel herausgearbeitet habe. Das dringendste Problem, dem sich material feminisms daher stellen müssen, lautet: Wie lässt sich ein holistischer Anspruch angesichts der ­zunehmenden

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Spezialisierung und der damit verbundenen Verteilungskämpfe in den Wissenschaften einlösen? Wie kann naturwissenschaftliche Forschung den komplexen Zusammenhängen ganzheitlicher Körpermodelle gerecht werden? In den vorgestellten feministischen Texten bleiben auch Expertinnen der einschlägigen Fachgebiete sehr vage oder programmatisch, ohne konkrete Forschungsansätze zu formulieren. Ihre insgesamt sehr stichhaltigen Argumente bilden dabei vielfach den heuristischen Gestus der frühneuzeitlichen Naturphilosophie ab. Eine Möglichkeit der Umsetzung bestünde meiner Meinung nach in inter- und transdisziplinären Projekten. VertreterInnen der Gender Studies haben mit ihrem Selbstverständnis, eine Querschnittsmaterie zu bearbeiten, ja zu Recht ihr Potential zu fachübergreifenden Kooperationen untermauert. Einzelne Ansätze gibt es, aber in der Regel bleiben Forschungsprojekte in ihren Fachtraditionen verhaftet, um – meist aus strategischen Gründen – punktuell WissenschaftlerInnen aus «que(e)ren» Disziplinen als KommentatorInnen oder StichwortgeberInnen einzuladen. Das ist durchaus verständlich, da Interdisziplinarität herausfordernd, anstregend, zeitaufwändig und teuer ist. Doch um ganzheitliche Modelle operationalisierbar zu machen, bedarf es eines umfassenden Paradigmenwechsels, der ohne entsprechende Ressourcen nicht leistbar ist. Eine Chance, konkrete Projekte zu realisieren, bieten sicherlich die neuen Technologien, die zwangsläufig fachübergreifende Kooperationen bedingen, da die Programmierung komplexer Netzwerkmodelle, die mit holistischen Körpervorstellungen einhergehen, hochspezialisierte Kompetenzen erfordert. Damit komme ich zu einer meiner Thesen für die in den einzelnen Kapiteln herauspräparierten Parallelen der Forschungsansätze in meinen beiden Textcorpora. Wie zu Beginn dieser Arbeit dargestellt, eint die beiden Epochen eine im umfassenden Sinne neue Mobilität: Gesellschaften, Gewissheiten, Grenzen werden beweglich und erfordern daher neue Erklärungsmodelle. Nach der eingehenden Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Texten scheinen mir vor allem die medialen Umbrüche, die die beiden Epochen erlebten, für die Hinwendung zu ganzheitlichen und materiellen Modellen entscheidend zu sein. Wie Hans Blumenberg überzeugend darlegte, gilt eine Leitmetapher der frühneuzeitlichen Naturforschung der «Lesbarkeit der Welt»: Die Frage, wie denn in diesem Buch der Natur gelesen werden könne, in welcher Sprache es geschrieben sei und wie man ihre Grammatik herauszufinden hätte, schiebt sich erst über die metaphorische Grundschicht der Bücherkonkurrenz, in der primär Buch neben Buch, sekundär Buch gegen Buch steht.3

3 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt/Main Suhrkamp 1979, S. 18–19.



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Meiner Ansicht nach basiert diese Kombinatorik der Einzelphänomene, anhand derer NaturphilosophInnen des 16. Jahrhunderts eine ganzheitliche semantische Kohärenz generierten, auf einer Analogie zur materiellen Matrix der Bleisätze des Buchdrucks, innerhalb derer ebenfalls aus Einzelbuchstaben Satzzusammenhänge erzeugt werden. Und wie diese prinzipiell unabhängig von den örtlichen und räumlichen Gegebenheiten identisch reproduzierbar sind, so schien es auch möglich, die Semantik natürlicher Prozesse nachzubauen oder – wie bei della Porta – zu ‹verbessern›, wenn nur die Grammatik hinter den Einzelphänomenen ebenso effizienten Instrumenten obliege wie die beweglichen Lettern in ihren Setzkästen. Doch die analogen Methoden der Folgezeit erlaubten es lediglich, für dynamische Prozesse lineare Gesetzmäßigkeiten zu operationalisieren. Demgegenüber ist es im 21. Jahrhundert möglich, diskontinulierliche, vielgestalte und chaotische Vorgänge in speziell adaptierten Computerprogrammen zu visualisieren. Symbolisch lässt sich der im Zuge zeit- und raumabstrahierender Technologien sich verändernde Denkstil in der neuen Leitmetapher des ‹Netzwerks› ablesen; das ‹Buch der Natur› wurde vom ‹World Wide Web› abgelöst. Allerdings bleibt die konkrete Umsetzung differenzierterer wissenschaftlicher Netzwerkmodelle meist immer noch hinter der prinzipiellen Machbarkeit zurück, da die Kompetenz des Programmierens nicht mit der Kompetenz wissenschaftlicher Hypothesenbildung – und schon gar nicht mit jenem ethischen Anspruch, den die materialistischen Ansätze innerhalb der feministischen und Gender Forschung verfolgen – korreliert. Deshalb können komplexe K ­ örpermodelle, die feministische Ethikvorstellungen einlösen, nur in einem interdisziplinären Team realisiert werden, in dem diskursive und materielle bzw. technologische Kompetenzen von Beginn an gleichrangig repräsentiert sind. Gegenwärtig finden GenderforscherInnen, PhilosophInnen und KulturwissenschaftlerInnen allerdings lediglich in Ethik-Beiräten Mitsprache bzw. Einspruchsmöglichkeiten in Bezug auf naturwissenschaftliche Forschung. Die Diskussionen zur plastischen Chirurgie habe ich stellenweise wiedergegeben, jene zu Reproduktionstechnologien sind in Bezug auf ihre ethischen und gesellschaftlichen Transformationsund Erosionspotentiale noch wesentlich virulenter. Aus diesem Grund müssen ExpertInnen einer intersektionalen Kulturforschung ins Zentrum der Projekte der «harten» Wissenschaften, um die Herausforderungen der ungebrochenen Machbarkeitsphantasien effizient mitgestalten zu können. Dieser wissenschaftlichen Utopie stehen aber nicht nur die etablierten Wissenschaften ablehnend gegenüber, viele VertreterInnen des material feminism laufen meiner Ansicht nach Gefahr, in eine selbst konstruierte epistemologische Falle zu geraten: Die emphatische Aneignung einer Ontologie der (Geschlechts) Körper verhärtet die Binarität von Diskursivem und Materiellem und suggeriert, es gäbe eine Leiblichkeit jenseits des diskursiv oder kulturell Gestalteten. Oder

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anders formuliert: die Überzeugung, dass menschliche Körper immer schon diskursiv durchformt sind, unterminiere deren Materialität. Damit wird nicht nur die postulierte Komplexität zurückgenommen, GenderforscherInnen begeben sich so auf ein Terrain, das ihre feministischen VordenkerInnen bereits überwunden hatten: die Metaphysik. Ontologie ist letztlich aber nichts anderes als Metaphysik, denn wenn die (Da-)Seinsbedingungen im Zentrum des Interesses stehen, kommen unausweichlich Letztbegründungen ins Spiel. Die große Stärke der Gender Studies besteht darin, Wissen und Handeln immer als situierte Akte zu begreifen, wie ich das etwa am Beispiel von Donna Haraways ‹Tierphilosophie› nachgezeichnet habe. Die Begründung einer ‹neuen› Ontologie bürdet sich dagegen die Last auf, überzeitliche und immergültige Seinskontexte zu definieren. Damit wird aber lediglich die patriarchale Allmachtsidee, die ich im Kapitel «Mensch & Artefakt» beschrieben habe, genährt. In diesem Sinne erscheint es mir paradox, wenn etwa Rosi Braidotti in einem Vortrag meinte, dass die Metaphysik den Frauen noch nie Gutes gebracht habe,4 sie in ihren Texten aber eine neue Ontologie einfordert. Gerade angesichts der von Donna Haraway so wirkmächtig konzeptualisierten Cyborg-Leiblichkeiten scheint mir das Konzept der Ontologie gleichzeitig zu weit und zu kurz zu greifen. Oder haben wir es dabei überhaupt mit einem leeren Begriff zu tun? Denn wenn Reproduktionstechnologien ebenso wie Primärphantasien5 unserer eigentlichen Materialität vorgängig sind, welchen Erkenntniswert verspricht dann die Emphase auf eine Ontologie des Körpers? Doch womöglich ist der Begriff Ontologie lediglich eine Metapher für die Überwindung wissenschaftlicher Fragmentierung und Ethikabsenz, auf die holistische Ansätze des material feminism zielen. Beansprucht die ‹neue Ontologie› einen gleichwertigen Seinsstatus für die Sphären des Affektiven, des Leiblichen, des Artifiziellen und vielleicht sogar des Diskursiven? Doch selbst wenn damit Emotionen, Alltagsverrichtungen und technologischen Einverleibungen zu einem besonderen Realitätseffekt verholfen werden soll, so stammt der Begriff doch aus einer zutiefst patriarchalen und hierarchisch organisierten Philosophietradition, der es doch eigentlich darum zu tun war, die Einzigartigkeit und Überlegenheit des Menschen zu einem Zeitpunkt außer Streit zu stellen, als die

4 Rosi Braidotti in einem Vortrag am Institut für die Wissenschaft von Menschen in Wien am 21.3.2007. 5 Dieser von Laplanche weiter ausgearbeitete psychoanalytische Begriff besagt, dass uns die – unbewussten – Vorstellungen und Wünsche unserer ersten Bezugspersonen bereits formen, bevor wir ein Bewusstsein ausgebildet haben. Vgl. dazu Jean Laplanche: Der Trieb und sein Quell-Objekt; sein Schicksal in der Übertragung. In: Ders.: Die Allgemeine Verführungstheorie und andere Aufsätze. Tübingen: edition diskord 1988, S. 121–147.



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metaphysische Basis der Gottesebenbildlichkeit angesichts weitreichender materieller Kausalitäten für natürliche Phänomene erodierte. Denn ein tatsächlich konsequenter Materialismus bedürfte eigentlich keines speziellen Seinsbegriffs, da ja jedem Phänomen ohnehin ein realer Status zukommt. Die Frage nach dem Nutzen der material feminisms berührt also wesentlich die Konzeption des Materialismus an sich. Dieses Problem kristallisierte sich auch in den naturphilosophischen Texten des 16. Jahrhunderts heraus und tritt in meiner ambivalenten Charakterisierung des Korpus als naturalistische, vitalistische und schließlich materialistische Strömung zutage. Ich habe mich trotz einiger wichtiger Gegenargumente dazu entschlossen, die von mir behandelten NaturphilosophInnen dem Materialismus zuzuordnen, da es ihnen meiner Meinung nach zentral darum ging, sämtliche natürlichen Phänomene als stofflich determiniert zu begreifen. Aus dieser Prämisse resultiert das Problem bestimmen zu müssen, welche Phänomene in welcher Art belebt sind bzw. welches Leben lebensfähiger, lebensnaher, lebenswerter ist. Wie ich gezeigt habe, tendieren die AutorInnen des 16. Jahrhunderts dazu, prinzipiell die Hierarchie des Seienden einzuebnen. Das Universum der Einzelphänomene wird nun durch die – physikalische – Kraft wechselseitiger Sympathien zusammengehalten, weshalb der Materialismus des 16. Jahrhunderts vitalistisch und holistisch ist. Aus dieser fließenden Interdependenz unterschiedlichster Wesenheiten resultiert logisch die Notwendigkeit eines sorgsamen und schonenden Umgangs mit der Umwelt. Dabei handelt es sich vorrangig um ein Gesetz der Vernunft und weniger um eine ausgeklügelte Wertehaltung, denn streng genommen lässt sich aus einer materialistischen Konzeption keine spezifische Ethik ableiten. Letztlich fehlt dem Gesetz der Sympathie, das Körper ebenso wie Sozietäten determiniert, jedoch die Fundierung. Und deshalb ist es möglich, dass die gleichen materialistischen Paradigmen – etwa im Vergleich von Sabuco und Huarte – zu völlig gegensätzlichen Schlussfolgerungen führen. Ein materialistisches Weltbild stellt keine Prinzipien von Gut und Böse bereit, sondern bedingt einen Spielraum des Aushandelns und verlangt damit nach der Sphäre des Politischen. Nicht von ungefähr hat sich diese mit dem Einbruch der Kontingenz und der Absage an metaphysische Letztbegrüundungen in Nachfolge der Renaissance zunehmend ausdifferenziert, allerdings als durch und durch patriarchale Ordnung. Als besonders destruktiv haben sich dabei jene maskulinistischen Ausrichtungen erwiesen, die einer bedingungslosen Aktion und damit dem Gesetz des Stärkeren verpflichtet waren. Gegenwärtig erleben wir allerdings eine gegenläufige Grenzverschiebung, da das Private und das Politische immer mehr verschwimmen und die etablierten patriarchalen Orte des politischen (Aus-)Handelns an Bedeutung verlieren,

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während virtuelle «Meuten» – etwa als sogenannter shit-storm im Netz – zu wichtigen und schwer kontrollierbaren Agenten der Meinungsbildung werden. Dass daraus eine (geschlechter)gerechtere Gesellschaft hervorgeht, bleibt eine sehr optimistische Spekulation. Doch wie meine Arbeit hoffentlich darlegen konnte, ist Spekulation ein notwendiger und wichtiger Schritt in der Verarbeitung von Rupturen. Und was gibt es – im besten Sinne des Wortes – Spekulativeres als Fiktion? Wir schmunzeln und wähnen uns in nüchterner akademischer Distanz, wenn wir einige der Rezepturen der Secreta-Literatur oder humoralpathologische Beweisführungen lesen. Doch Historikerinnen und Historikern verweisen zu Recht auf unser schmuddeliges Erbe, zeigen sich die mythologisch und magisch durchsetzten Epistemologien der Frühen Neuzeit doch als ganz wesentliche Vorbedingung unserer hoch geschätzten Wissenschaft(en). Wie überdies die Analyse der jeweiligen Narrative heutiger Lebens- und Naturwissenschaften in den drei Kapiteln der Umstrittenen Grenzziehungen offenlegt, sind deren Grundannahmen keineswegs frei von Spekulation und Metaphysik. Vielleicht mussten die Kulturwissenschaften und Künste ja deshalb von den Natur- und Lebenswissenschaften isoliert werden, damit die Fiktion der Reinheit und Wahrheit von Wissenschaft überhaupt erst entstehen konnte. Doch solange diese Fiktion der Wissenschaft erhalten bleiben soll, kann deren unbewältiger kontaminierender Rest aber vielleicht auch umso effektiver künstlerisch verarbeitet werden. Ich schließe daher mit einem Plädoyer für die Literatur und für die Literaturwissenschaft: die Literatur lässt uns auch das erleben, was die Wissenschaft verschweigt, die Literaturwissenschaft offenbart die beredten Erzählmuster dieses Schweigens.

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Index Acosta, José de 213, 293 Adam, Birgit:  19 (Fn.), 293 Adams, Carol 129 Adorno, Theodor W.:  128 (Fn.), 293 Aelianus, Claudius 104 (Fn.) Ahmed, Sara 61–63, 293 Aichinger, Wolfram:  106 (Fn.), 293 Alaimo, Stacy  40 (Fn.), 293 Alberti, Leon Battista 182 Alexander von Aphrodisias 69 (Fn.) Allen, Michael J.B. 30 (Fn.), 204 (Fn.), 293 Almazán, Agustin de 182 Almenar, Juan 213, 293 Almodóvar, Pedro 211, 231, 312 Álvarez, Lourdes María 183 (Fn.), 293 Anaxagoras 111 (Fn.), 163 Anscombe, Elizabeth 50, 293 Aquin, Thomas von 27, 69, 75, 80 (Fn.), 110, 146, 293 Ariosto, Ludovico 6, 182, 198, 199, 201, 202, 204–208, 293 Aristoteles 8, 9, 27–28, 48, 68, 69, 70, 72, 76, 83, 91, 97, 101–103, 124, 126, 131, 147, 149, 151, 152, 155, 160, 161, 163–165, 167, 171–173, 177 (Fn.), 179, 189, 191, 192, 202 (Fn.), 218 (Fn.), 230, 241, 247, 295 Armendáriz Aramendía, Ana 115 (Fn.), 293 Arrizabalaga, Jon 236 (Fn.), 240 (Fn.), 293 Ascoli, Albert R. 199, 293 Atkinson, Michael 225, 293 Augustinus 30, 88, 111 (Fn.), 146 Averroes 69 (Fn.), 70, 156 Avicenna 70 Avilés Icedo, César 116 (Fn.), 293 Babka, Anna 15 (Fn.), 16 (Fn.), 293 Bachmann-Medick, Doris 35, 45 (Fn.), 294 Bacon, Francis 2, 17, 30 (Fn.), 150, 212, 266, 294 Bal, Mieke 2, 8, 11–13, 21 (Fn.), 33, 294 Balizet, Ariane M. 116 (Fn.), 294 Balmer, Hans Peter 187 (Fn.), 294 Bandrés, Javier 175 (Fn.), 305

DOI 10.1515/9783110521825-011

Barad, Karen 3, 38, 39 (Fn.), 41, 140, 286, 294 Baranda, Consolación 279, 294 Barona, Josep Lluís 23, 294 Barreiro Barreiro, José Luis  178, 294 Bartky, Sandra Lee 8 (Fn.), 294 Baschet, Armand 250, 251 (Fn.), 294 Bashevis Singer, Isaac 134, 135 Bäumler, Ernst 19 (Fn.), 294 Beer, Marina 205 (Fn.), 294 bel hooks 222, 294 Bembo, Pietro 69 Benjamin, Walter 232–235, 294 Bentham, Jeremy 135, 137, 177, 294 Bergson, Henri 54 Bidwell-Steiner, Marlen 10 (Fn.), 15 (Fn.), 17 (Fn.), 39 (Fn.), 44 (Fn.), 91 (Fn.), 94 (Fn.), 95 (Fn.), 103 (Fn.), 114 (Fn.), 128 (Fn.), 160 (Fn.), 197 (Fn.), 198 (Fn.), 272 (Fn.), 277 (Fn.), 295 Biurrun Lizarazu, José Javier 95 (Fn.), 295 Bloch, Iwan 19 (Fn.), 295 Blue, William R. 118 (Fn.), 295 Blum, Elisabeth 149 (Fn.), 295 Blum, Paul Richard 108 (Fn.), 149 (Fn.), 150, 295 Blumenberg, Hans 10, 11, 33, 57, 190 (Fn.), 285, 288, 295 Boccaccio, Giovanni 12 (Fn.) Boenke, Michaela 78 (Fn.), 80 (Fn.), 81, 158 (Fn.), 295 Bondì, Roberto 150, 151 (Fn.), 152 (Fn.), 158 (Fn.), 295 Bordo, Susan 38, 218–224, 295 Borgia (Borja), Césare 239 Borja, Rodrigo (Papst Alexander VI) 239 Botta, Patrizia 268 (Fn.), 269 (Fn.), 296 Braidotti, Rosi 3, 37–40, 56 (Fn.), 141, 290, 296 Brann, Eva T.H. 71 (Fn.), 296 Brentano, Clemens 251, 252 (Fn.), 296 Brentano, Franz 49 (Fn.), 50, 296 Bruno, Giordano  38, 154 (Fn.) Butler, Judith 8 (Fn.), 35–38, 41, 65 (Fn.), 128 (Fn.), 140, 231 (Fn.), 296 Bylebyl, Jerome J. 70, 296

314 

 Index

Cabré, Montserrat 254, 296 Calcidius 72 (Fn.) Calderón de la Barca, Pedro 5, 47, 103–123, 296 Campos Díez, María Soledad 25 (Fn.), 296 Canet Vallés, José Luis 281 (Fn.),296 Cardano, Girolamo 214 Carlino, Andrea 34 (Fn.), 296 Carpio, Alejandro 119, 296 Carrión, María M. 116 (Fn.), 296 Caruso, Elio 249 (Fn.), 296 Cassell, Joan 226, 296 Cassirer, Ernst 101–103, 113, 159, 160, 166, 209, 285, 296 Castro, Américo 24, 296 Cavell, Stanley 8 (Fn.), 12 (Fn.), 136 (Fn.), 232 (Fn.), 296 Cecchetto, David 54, 297 Celebrino, Eustacchio 249 Cervantes, Miguel de 101, 127 Chaboga, Mario 244, 246, 253 Chauliac, Guy de  234 (Fn.) Chrysippus 72, 180 Cicero 70, 71, 73, 80 (Fn.), 146, 297 Cixous, Hélène 129, 297 Clubb, Luise George: 280 (Fn.), 297 Coetzee, John M. 133–137, 297 Cohen, Walter 47, 297 Colebrook, Claire 43 (Fn.), 297 Colish, Marcia l.: 80 (Fn.), 297 Comín Comín, Francisco 102 (Fn.), 297 Congdon, Matthew 132 (Fn.), 133, 297 Connell, Raewyn 223 (Fn.), 297 Conrad, Christoph 35 (Fn.), 297 Coole, Diana 40 (Fn.), 41 (Fn.), 43, 143 (Fn.), 297 Cortes, Jeronimo 214 Cortese, Isabella 243–257, 266, 271, 297 Coseriu, Eugenio 86 (Fn.), 297 Cox, Virginia 20 (Fn.), 297 Cranz, Edward F. 27 (Fn.), 297 Cureau de la Chambre, Marin 189 (Fn.), 297 D’Alembert, Jean 174, 298 Dangler, Jean 271, 273, 297 Darwin, Charles 50, 177 Daston, Lorraine 148 (Fn.), 261, 262, 297

Davie, Surekha 19 (Fn.), 297 Davis, Kathy 129 (Fn.), 218, 220–228, 298 De las Casas, Bartolomé 186, 187 (Fn.), 298 De Martínez, Miguel 282 (Fn.), 298 Demokrit 181 Del Nero, Valerio 86 (Fn.), 88 (Fn.), 298 Deleuze, Gilles 38, 41, 43, 51, 54–56, 59, 62, 63, 65, 66, 86, 141, 142, 284, 298 Della Porta, Giovan Battista 19 (Fn.), 214, 250, 255–267, 271, 280, 289, 298 Demonet, Marie-Luce 187 (Fn.), 298 Derrida, Jacques 52 (Fn.), 59 (Fn.), 125, 126, 129, 130–147, 177, 193, 210, 298 Descartes, René 2, 25, 26, 45, 48, 49, 67, 85, 126, 131, 174–179, 190, 284, 298 Diamond, Cora 134, 136–137, 140, 298 Diaz del Castillo, Bernal 188 (Fn.) Diderot, Denis 174, 298 Diodorus Siculus 104 (Fn.), 105 Diogenes Laertios 70, 71 (Fn.), 298 Dodds, Jerrilyn D. 24 (Fn.), 298 Doniger, Wendy 134–136, 138 Dopico Black, Giorgina 114 (Fn.), 178 (Fn.), 184, 298 Döring, Sabine A. 48, 50 (Fn.), 298 Douglas, Mary 124, 299 Duden, Barbara 36 (Fn.), 299 Eamon, William 214 (Fn.), 235 (Fn.), 237, 240, 241 (Fn.), 242, 246, 253, 264 (Fn.), 299 Ebeling, Smilla 38, 39 (Fn.), 299 Ebreo, Leone 161 (Fn.), 299 Eco, Umberto 7 (Fn.), 98 (Fn.), 299 Eisenstein, Elizabeth 20, 244, 299 El Saffar, Ruth 121, 299 Elias, Norbert 46, 299 Ette, Ottmar 17 (Fn.), 299 Erasmus von Rotterdam 88 (Fn.), 183, 184 Fabrizio, Girolamo d’Acquapendente 127, 185, 191–195, 197, 265, 299 Fannon, Frantz 61 (Fn.), 299 Fausto-Sterling, Anne 3, 37, 39, 44 (Fn.), 299 Featherstone, Mike 224, 299 Fernández de Oviedo y Valdés, Gonzalo 236, 299

Index 

Fernel, Jean  26, 154 (Fn.) Ficino, Marsilio 29 (Fn.), 30–32, 70, 80, 107, 108, 111 (Fn.), 149 (Fn.), 154, 155, 167, 200, 202, 204 (Fn.), 208, 275, 299 Finucci, Valeria 248, 299 Fludernik, Monika 13 (Fn.), 299 Folger, Robert 29 (Fn.), 207, 270 (Fn.), 300 Foucault, Michel 4, 8, 41, 42, 46, 168, 211, 215, 216, 218, 233, 248, 300 Fox Keller, Evelyn 14, 39, 300 Fox, Dian 116 (Fn.), 300 Fracastoro, Girolamo 2, 69, 75–83, 84, 85, 89, 92, 94, 97–101, 154 (Fn.), 155, 170, 173, 181, 194, 208, 214, 236–239, 261, 264, 283, 287, 300 Franco, Francisco 213, 214 (Fn.), 300 Fraser, Nancy 36 (Fn.), 300 French, Roger 236 (Fn.), 293 Freud, Sigmund 9, 55, 62, 63, 74, 79, 99, 206 (Fn.), 209, 300 Frost, Samantha 40 (Fn.), 41 (Fn.), 43, 143 (Fn.), 297 Galiani, Ferdinando 122 Galilei, Galileo 25, 150 Gallagher, Shaun 233 (Fn.), 300 Galván, Luis 274 (Fn.), 300 Gambaccini, Piero 242 (Fn.), 300 Garber, Marjorie 14 (Fn.), 134 García Herrero, María del Carmen 268 (Fn.), 300 Garzoni, Tommaso 241 (Fn.), 250, 254, 301 Gassendi, Pierre 189 (Fn.), 301 Geber 247 Gentile, Giovanni 159 (Fn.), 301 Giese, Alma  183 (Fn.) Gifford, Stanford 226 (Fn.), 301 Giglioni, Guido 30 (Fn.), 152 (Fn.), 153 (Fn.), 155 (Fn.), 158 (Fn.), 159, 301 Gilman, Sander L. 217, 219, 226, 231, 262 (Fn.), 301 Gilman, Stephen 267 (Fn.), 277, 301 Glick,Thomas F.  24 (Fn.), 298 Goldie, Peter 48 (Fn.), 50, 301 Gómez, Fernando 106 (Fn.), 109, 301 Gómez-Martínez, José Luis 24 (Fn.), 301 Gonzaga, Isabella 253

 315

Gonzaga, Lucrezia 251, 253 Gonzaga, Vicenzo 248 Goya, Francisco de 266 (Fn.) Gracián, Baltasar  108, 112, 301 Grafton, Anthony 20 (Fn.), 301 Graver, Margaret R. 72 (Fn.), 301 Greco, Monica 52 (Fn.), 301 Green, Monica H. 258 (Fn.), 301 Greenblatt, Stephen 209, 211, 301 Gregg, Melissa 51, 59, 309 Griffith, Paul 50, 51 (Fn.), 301 Gross, Daniel M. 49 (Fn.), 301 Grosz, Elisabeth 3 (Fn.), 36–38, 40, 58, 301, 302 Guattari, Félix 38, 55, 56, 62, 63, 65, 66, 86, 141, 142, 284, 298 Gumbrecht, Hans Ulrich 102, 198 (Fn.), 302 Guthrie, William K. Ch. 111 (Fn.), 302 Hacker, Hanna 35 (Fn.), 297 Haeckel, Ernst 25, 302 Haiken, Elisabeth 222, 302 Halperin, David 137, 263 (Fn.), 302 Hankinson, Robert J. 27 (Fn.), 151 (Fn.), 302 Hansen, Mark 52–54, 302 Haraway, Donna 3, 5, 39, 40, 41, 43, 125, 126, 130, 134–136, 139–147, 210, 216, 290, 302 Hartsock, Nancy 38, 302 Haskell, Yasmin 30 (Fn.), 122 (Fn.), 302 Häsner, Bernd 1 (Fn.), 302 Hayles, Nancy Katherine 65, 66, 86, 302 Heidegger, Martin 126, 132 Hekman, Susan 40 (Fn.), 293 Hemmings, Clare 61, 302 Henderson, John 236 (Fn.), 240 (Fn.), 293 Hernández, Francisco 213, 302 Hesse, Everett 105, 302 Heyes, Cressida J. 217, 218 (Fn.), 233 (Fn.), 302, 303 Hippokrates 70, 167 Hirschauer, Stefan 128 (Fn.), 303 Hobbes, Thomas 45, 77 (Fn.), 138 (Fn.), 303 Hoeniger, F. David 47 (Fn.), 303 Hoffmann, Thomas Sören 82 (Fn.), 303 Holbein, Hans 53, 54 Holliday, Ruth 229 (Fn.), 303

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 Index

Homi Bhabha 7, 303 Hossenfelder, Malte 74 (Fn.), 303 Howard, Todd 46 (Fn.), 303 Huarte de San Juan, Juan 95–100, 113, 122, 166–169, 185, 197, 215, 291, 303 Hume, David 46, 48 Inwood, Brian 154 (Fn.), 303 Isidor von Sevilla 147, 148 (Fn.), 303 Jackson, Michael 222–224 James, Susan 67, 303 Johnson, Mark 9, 10, 14, 15, 33, 37, 57 (Fn.), 58 (Fn.), 104 (Fn.), 165 (Fn.), 304 Jones, Meredith 217, 218 (Fn.), 303 Juan de la Cruz 120 Kablitz, Andreas 187 (Fn.), 191 (Fn.), 303 Kail, Aubrey C. 47 (Fn.), 303 Kant, Immanuel 2, 87, 126, 131, 133, 303 Karger-Decker, Bernt 245, 303 Kaw, Eugenia 219, 303 Kheel, Marti 129, 140, 303 King, Angela 220 (Fn.), 303 King, Helen 30 (Fn.), 273 (Fn.), 303 Klier, Gerhard 26 (Fn.), 154 (Fn.), 303 Knapp, Gudrun-Axeli 129 (Fn.), 304 Kodera, Sergius 30 (Fn.), 120 (Fn.), 255, 257 (Fn.), 260 (Fn.), 264, 304 Kristeva, Julia 8, 205, 304 Krois, John Michael 101 (Fn.), 304 Labanyi, Jo 47 (Fn.), 304 Lacan, Jacques 55, 59, 60, 89, 90, 126, 131, 132, 143, 145, 207, 209, 284, 285, 304 Lacarra Lanz, Eukene 267 (Fn.), 304 Lacarra, María Eugenia 268 (Fn.), 304 Laguna, Andrés 212 (Fn.), 214, 304 Lakoff, George 9, 10, 14, 15, 33, 37, 57 (Fn.), 58 (Fn.), 104 (Fn.), 165 (Fn.), 304 Lando, Ortensio 251, 253 Langer, Ullrich 187 (Fn.), 304 Laplanche, Jean 290 (Fn.), 304 Laqueur, Thomas 12 (Fn.), 127 (Fn.), 264, 304 Lara, Jaime 120 (Fn.), 304 Larsen, Kevin S. 274 (Fn.), 304

Lauer, Robert 117 (Fn.), 304 Lauretis, Teresa de 38, 305 Lavrin, Asunción 239 (Fn.), 305 Lazzarini, Roberto 52 LeDoux, Joseph 51, 56, 305 Leijdenhorst, Cees 77 (Fn.), 150, 305 Leitner, Claudia 127, 207 (Fn.), 300, 305 Lesage, Claire 248, 249, 251, 253 (Fn.), 305 Levinas, Emmanuel 126, 132–133, 135, 305 Leys, Ruth 64, 305 Lidz, Joel Warren 33 (Fn.), 305 Lindhoff, Lena 90 (Fn.), 305 List, Eveline 62 (Fn.), 305 Llavona, Rafael 175 (Fn.), 305 Lloyd, Genevieve 38, 305 Locke, John 45 Long, Antony A. 154 (Fn.), 305 Lope de Vega, Felix 103, 113, 268 (Fn.), 305 López de Gómara, Francisco 188 (Fn.), 305 López de Villalobos, Francisco 214, 305 López Piñero, José María 213, 239, 305 López-Peláez Casellas, Jesús 114 (Fn.), 305 Lorber, Judith 38, 128 (Fn.), 305 Lovejoy, Arthur O. 277 (Fn.), 305 Loyola, Ignacio de 122, 215, 306 Lukian 182–184 Lukretius 111 (Fn.) Lullus, Raimundus 213, 214, 247 Lüthi, Barbara 35 (Fn.), 297 Machiavelli, Niccolò 198 Mann, Vivian B. 24 (Fn.), 298 Marsenne, Marin 174 Marshall McLuhan, Herbert 211, 225 (Fn.), 306 Massumi, Brian 48 (Fn.), 56–59, 62–64, 306 Maturana, Humberto 53, 311 Matzat, Wolfgang 98 (Fn.), 307 McKendrick, Melveena 114 (Fn.), 116, 117, 306 Menjot, Denis 268 (Fn.), 306 Merchant, Carolyn 100 (Fn.), 210, 212, 215, 265, 286, 306 Mereau, Sophie 251 Metzeltin, Michael 10, 24 (Fn.), 306 Mignolo, Walter 196 (Fn.), 210, 306 Mikics, David 277 (Fn.), 306

Index 

Monardes, Nicolás 213, 306 Mondeville, Henri de 234 (Fn.) Money, John 231 Montaigne, Michel de 126, 175, 179, 185–192, 196, 197, 306 Montana de Montserrate 214 Moore, Lisa 38, 305 Müller-Funk, Wolfgang  16 (Fn.) Muir, Edward 280 (Fn.), 306 Mulsow, Martin 80 (Fn.), 156, 158 (Fn.), 160 (Fn.), 202 (Fn.), 306 Mulvey, Laura 130, 228 (Fn.), 265, 306 Newman, William R. 247 (Fn.), 306 Newmark, Catherine 68 (Fn.), 306 Newmyer, Stephen 146 (Fn.), 306 Nigianni, Chrysanthi 63 (Fn.), 306 Nietzsche, Friedrich 38, 42, 43 Noreña, Carlos G. 87, 88 (Fn.), 306 Nouvet, Claire 15 (Fn.), 306 Nussbaum, Martha C. 36 (Fn.), 65 (Fn.), 70 (Fn.), 123, 306, 307 Orlie, Melissa A. 42, 307 Ovid 104 Palacio, Miguel de 179, 183 Palm, Kerstin 44 (Fn.), 307 Paré, Ambroise 127, 194–198, 265, 307 Park, Katherine 29 (Fn.), 76 (Fn.), 148 (Fn.), 154, 212, 234 (Fn.), 254, 261, 262, 273 (Fn.), 297, 307 Parker, Alexander A. 116 (Fn.), 307 Paster, Gail Kern 84, 307 Patrizi, Francisco 189 (Fn.), 307 Pauly Morgan, Kathryn 217 (Fn.), 307 Pechriggl, Alice 104 (Fn.), 307 Pedwell, Carolyn 59 (Fn.), 307 Pennuto, Concetta 78, 307 Penzkofer, Gerhard 98 (Fn.), 307 Pereira, Gómez 2, 5, 125, 126, 169–185, 190, 192, 197, 284, 287, 307 Perler, Dominik 48 (Fn.), 307 Perry, Mary E. 240 (Fn.), 307 Peset, José Luis 95 (Fn.), 307 Peterson, Kaara L. 46 (Fn.), 307

 317

Pettigrew, James cf. 46, 303 Piccolomini, Alessandro 248, 252 Pico della Mirandola, Giovanni 88, 308 Piechocki, Katharina N. 236 (Fn.), 308 Pindar 181 Pinet, Simone 138 (Fn.), 308 Pintor, Pere 213, 308 Pitts, Victoria 217 (Fn.), 229, 231, 308 Platon 8, 30, 33, 58, 70–72, 92, 109, 110 (Fn.), 124, 137, 143, 147, 158, 161, 167, 186, 207, 263, 274, 308 Plinius 166, 188, 195 Plutarch 104 (Fn.), 181, 186 Pomponazzi, Pietro 68, 69, 76, 308 Pontalis, Jean-Bertrand 206 (Fn.), 308 Porphyrius 146, 147, 177 (Fn.), 186, 188, 191 Porter, Roy 234 (Fn.), 308 Prendergast, Ryan 118 (Fn.), 308 Prieto de la Iglesia, Remedios 269 (Fn.), 309 Quétel, Claude 19 (Fn.), 308 Raio, Giulio 160 (Fn.), 308 Rakoczy, Thomas 181 (Fn.), 308 Ramos Vázquez, Isabel 240 (Fn.), 308 Ray, Meredith K. 251, 252, 308 Reddy, William M. 115 (Fn.), 308 Richards, Ivor A. 57 (Fn.), 308 Riviere, Joan 220, 308 Rizzardini, Massimo 248, 249 (Fn.), 250, 252, 253, 308 Rojas, Fernando de 6, 216 (Fn.), 219 (Fn.), 267–282, 308 Roling, Bernd 69 (Fn.), 308 Rossiter, Margaret W. 244 (Fn.), 309 Rossello, Timoteo 251 Rothe, Mathias 48 (Fn.), 309 Round, Nicholas G. 274 (Fn.), 309 Rousseau, Georges S. 262, 309 Rousseau, Jean-jacques 188 Ruggiero, Guido de 150, 309 Ruiz Ramón, Francisco 103, 104 (Fn.), 309 Ruscelli, Girolamo 241, 244, 246, 250, 251, 253, 309 Russell, Peter E. 270 (Fn.), 309 Ryder, Richard D. 135 (Fn.), 309

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 Index

Sabuco de Nantes y Barrera, Oliva 2, 90–94, 97–100, 106, 107, 111–113, 160–167, 185, 188, 195, 197, 244, 287, 291, 309 San Pedro, Diego de 207 Sánchez Sánchez-Serrano, Antonio 269 (Fn.), 309 Sanchez Taylor, Jacqueline 229 (Fn.), 303 Sánchez Vega, Miguel 174, 175, 309 Sawicki, Jana 8 (Fn.), 309 Schmitt, Charles B. 29 (Fn.), 30 (Fn.), 241 (Fn.), 307, 309 Schöner, Erich 99 (Fn.), 309 Schuhmann, Karl 152, 309 Scott, Joan W. 15, 309 Seigworth, Gregory J. 51, 59, 309 Seneca 173 Serjeantson, Richard W. 186 (Fn.), 309 Servet, Miguel 154 (Fn.) Severin, Dorothy S. 216 (Fn.), 269 (Fn.), 281 (Fn.), 309 Sextus Empiricus 189 Sforza, Bona 254 Sforza, Caterina 249 Sforza, Isabella 253, 254 Sgarbi, Marco 69 (Fn.), 309 Shakespeare, William 46, 84, 101 Shapin, Steven 17 (Fn.), 310 Shapiro, Marianne 207 (Fn.), 310 Sharp, Hasana 38 (Fn.), 310 Shemek, Deanna 200 (Fn.), 310 Sibiuda, Ramon (Raimundus Sabundus) 189 Singer, Peter 134–137, 310 Siraisi, Nancy G. 28, 68 (Fn.), 203 (Fn.), 214 (Fn.), 310 Smith, Pamela 243, 310 Smuts, Barbara 134, 136, 142–143, 285, 310 Sokrates 109, 207, 263 Sorabji, Richard 72, 73 (Fn.), 146, 147 (Fn.), 173 (Fn.), 177 (Fn.), 188, 191 (Fn.), 310 Sosa, Francisco 179–184, 285, 310 Spinoza, Baruch 26 (Fn.), 38, 45, 51, 54, 67, 283 Spivak, Gayatri Chakravorty 136, 310 Spruit, Leen 28 (Fn.), 76 (Fn.), 80, 150, 155 (Fn.), 310 Starobinski, Jean 187 (Fn.), 310 Steigerwald, Jörn 12 (Fn.), 310 Stenner, Paul 52 (Fn.), 301 Storr, Merl 63 (Fn.), 306

Striker, Gisela 154 (Fn.), 310 Stroud, Matthew D. 114 (Fn.), 310 Suárez, Francisco 175 Sudhoff, Karl 19 (Fn.), 258 (Fn.), 311 Swan, Elaine 60, 311 Telesio, Bernardino 2, 25 (Fn.), 69, 149–165, 173, 183, 185, 194, 197, 260, 261, 264, 286, 287, 311 Teresa de Jesús (Ávila) 120 Theophrastus 147, 177 (Fn.) Thorek, Max 228 (Fn.), 311 Ticineto Clough, Patricia 45 (Fn.), 59 (Fn.), 311 Timm, Elisabeth 35 (Fn.), 297 Trota von Salerno 258 Torrella, Gaspar 213, 214 (Fn.), 239 (Fn.), 311 Tomkins, Silvan 51 Tuana, Nancy 38, 311 Tucholsky, Kurt 45 Valdés, Alfonso de 184, 311 Valverde de Amusco, Juan 235 Varela, Francisco 53, 311 Ventura Rosetti, Giovan 249, 311 Verhaeghe, Paul 284 (Fn.), 311 Vesalius, Andreas 235 Veuillet de Conches, Félix Sébastien 250, 251 (Fn.), 294 Vilches, Elvira 148 (Fn.), 311 Villanova, Arnaldus de 247 Vitoria, Francisco de 186, 236, 311 Vives, Juan Luis 83–90, 91, 97–100, 107, 108, 112, 113, 311 Wack, Mary Frances 117 (Fn.), 198 (Fn.), 311 Wagner, Birgit 7, 191 (Fn.), 209, 311, 312 Walker, Daniel P. 30 (Fn.), 203 (Fn.), 311 Warburg, Aby 181 (Fn.), 311 Watson, Irvine A. 116 (Fn.), 312 Wegenstein, Bernadette 228 (Fn.) Weigand, Wilhelm 123 (Fn.), 312 Wells, Marion A. 29 (Fn.), 117 (Fn.), 198 (Fn.), 205, 312 Werner, Sylwia 1 (Fn.), 312 West, Candace 128 (Fn.), 312 West, Geoffrey 270 (Fn.), 312 Whinnom, Keith 267 (Fn.), 312

Index 

White, Hayden 9 (Fn.), 312 Whitehead, Anne 59 (Fn.), 307 Wild, Markus 179, 187 (Fn.), 190, 312 Wolf, Naomi 221 Wolfe, Cary 137, 312 Xuan, Jing 105, 312

Yarbro-Bejarano, Yvonne 114 (Fn.), 312 Yates, Francis 211, 312 Yun Casalilla, Bartolomé 102 (Fn.), 297 Zenon: 71 Zimmerman, Don 128 (Fn.), 312 Zittel Claus 1 (Fn.), 312

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