Sounds that matter - Dynamiken des Hörens in Theater und Performance 9783839432501

The theater is, in no small measure, also a place of listening, an »auditorium«: the sonic landscape of contemporary the

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Sounds that matter - Dynamiken des Hörens in Theater und Performance
 9783839432501

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. Von-Gewicht-Sein. Zur Einleitung
II. Aufmerksamkeit in der Phänomenologie: Sphärische Differenzdynamik
III. Auditive Aufmerksamkeit in der Theaterwissenschaft: Eine Geschichte des Überhörens
IV. Vom Hören auf das Hören. Auditive Aufmerksamkeit im Gegenwartstheater
V. Resümee und Ausblick: Performativität der auditiven Aufmerksamkeit im Theater
VI. Literatur

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Katharina Rost Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance

Theater | Band 81

Katharina Rost (Dr. phil.) lehrt Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in Theorie und Ästhetik des Gegenwartstheaters, Musik, Sound und Hören im Theater, Aufmerksamkeit und Wahrnehmung, Performativität, Gender und Queer Theory, Popkultur und Mode.

Katharina Rost

Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance

Diese Arbeit wurde als Dissertation an der Freien Universität Berlin angefertigt und eingereicht (D 188).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © James Ewing/OTTO; The Murder of Crows by Janet Cardiff & George Bures Miller; Courtesy of the artist and Luhring Augustine, New York. Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3250-7 PDF-ISBN 978-3-8394-3250-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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1. 2. 3. 4.

Auditive Aufmerksamkeit im Theater | 9 Ziele | 19 Methodische Überlegungen | 19 Theoretischer Kontext: Das Auditive, das Attentionale und das Performative | 24 Forschungsstand | 37 Zum Aufbau | 47

5. 6.



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1. 2. 3. 4.

Konzentration, Klarheit, Intensität, Negation | 49 Sphärisch-differenzierende Bewusstseinsorganisation | 56 Spaltung, Bewusstwerdung, Materialisierung | 61 Resümee: Aufmerksamkeit als sphärische, stabilisierende Differenzdynamik | 72

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1. 2. 3. 4. 5.    

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Theaterhistoriografie, Raumakustik und Hörweisen | 79 Das Kubische und das Sphärische | 83 Von der Orchestra zur Scaenae frons: Vom Hören zum Sehen? | 87 Von der Orchestra zur Scaenae frons: Vom Zuhören zum ›spektakulären Hören‹? | 94 Weiterführende Überlegungen | 104

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1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8

Konzentriertes Zuhören als Ideal und Norm | 117 Konzentriertes Zuhören | 124 Verausgabung | 128 Abdriften | 139 Absorption und Immersion | 145 Gehorchen und Dissidenz | 167 Mithören, Belauschen und Abhören | 176 Resümee: Zur Produktivität der spontanen Umgewichtungen | 189

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2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7

Strukturelles Hören in der Kritik der gegenwärtigen Musiktheorie | 200 Plastische Hörzeiträume | 213 Hineinhören | 222 Aufhorchen | 240 Gespaltenes Hören | 248 Im-/Perfektes Hören | 268 Resümee: Zur Plastizität auditiver Phasen und Zonen | 283

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3.1 Koordinaten von Signifikanz und Annihilation: Signale und Rauschen | 294 3.2 Eindringlichkeit | 302 3.3 (Nicht) Stille-Hören: Nicht-Spektakularität | 312 3.4 (Nicht) Nichts: Körper-Hören | 324 3.5 Entrückt-Sein | 336 3.6 ›Nichts‹: Wachsamkeit, Schläfrigkeit, Achtsamkeit | 346 3.7 Resümee: Zur Kraft des Negativen, des Subtilen und des Subkutanen | 365

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Im Theater hören wir vieles. Meist sind Stimmen, musikalische Klänge, häufig auch elektronische Sounds und immer und überall auch Geräusche zu vernehmen. Im Theater ist es beizeiten laut, dann wiederum herrschen für längere Phasen mal Stille, Flüstern oder Rauschen vor. Dabei sagen Lautstärke und Intensität aber nicht viel aus über die Art, wie diese Laute gehört werden, denn von der Akustik zur Audition laufen Prozesse ab, die das Gehörte durchaus auch abweichend vom physikalisch Erklingenden konstituieren. Es reicht demnach nicht aus, raumakustische Messungen anzustellen oder Probenskripte und musikalische Notationen durchzusehen, um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, was in Aufführungen gehört werden kann. Hören ereignet sich während Aufführungen als dynamischer, flüchtiger Prozess. Die Methode, um den vielfältigen Hörweisen im Theater nachzugehen, liegt im Hören selbst begründet. In dieser Einsicht manifestierte sich die zentrale Herausforderung meines Vorhabens. Mein eigenes Hören war als ein Hören-auf-das-eigene-Hören zu schulen, d. h. es musste Abständigkeit gewonnen werden bei einer Sinnestätigkeit, für die Nähe und Unmittelbarkeit nach wie vor als elementar gelten – eine häufig immer noch recht einseitig formulierte Einschätzung, die zu differenzieren ist. Denn das Hören ist – dem Sehen hierin vergleichbar – in sich durchaus strukturiert und geordnet. Im Hören sind kulturell und historisch geprägte Hierarchien am Werk, die bewirken, worauf gehört und wem zugehört wird, und die im Theater auf diverse Art und Weise aufgezeigt, nachvollzogen, erfahrbar gemacht oder zu Bewusstsein gebracht werden. Für meine Arbeit war diesbezüglich entscheidend, dass ich das Hören neu erlernt, ein für mich neuartiges Horchen geübt und praktiziert habe. Dabei entwickelte sich das Theater für mich zu einer vlschichtigen Praxis dieses Hinhörens auf das eigene Hören und mein erster Dank gilt daher den Künstlerinnen und Künstlern, die mir die Ohren geöffnet haben für das, was sonst allzuleicht überhört worden wäre. Diese Arbeit wurde zunächst im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen« an der Freien Universität Berlin begonnen und im

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Kontext des Instituts für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin zu Ende geführt. Hier gebührt meiner Erstbetreuerin Doris Kolesch der größte Dank. Sie hat mich über all die Jahre hinweg engagiert betreut, mich durch ihre nachdenklichkritischen Einwände von manchem Irrweg abgehalten und mit ihrer nie versiegenden Gesprächsbereitschaft und Geduld zur Arbeit maßgeblich beigetragen. Besonderer Dank richtet sich ebenso an meine Zweitbetreuerin Erika Fischer-Lichte für ihre beständige Begleitung und wohlwollende Unterstützung. Für anregende und herausfordernde Diskussionen danke ich den ehemaligen Kolleginnen und Kollegen des Sonderforschungsbereichs sowie meinen nahen Kolleginnen und Kollegen aus dem Teilprojekt »Stimmen als Paradigmen des Performativen und dem Promotionscolloquium von Doris Kolesch am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin: Katrin Beushausen, Jenny Schrödl, Rainer Simon, Vito Pinto, Maxi Grotkopp, Kati Kroß, Mariko Harigai. Sie lasen Teile der Arbeit Korrektur und standen mir mit Kritik ebenso wie mit wertvollen Hinweisen kontinuierlich zur Seite. Ausdrücklich bedanken möchte ich mich bei meinen Freund*innen Simone Legner, Paulina Papenfuß, Anna-Maria Schneider, Björn Frers und Dorothea Tuch für ihre kritischen Lektüren, die produktiven Gespräche sowie ihre nie nachlassende Geduld und Fürsorge während der Hoch- und Tiefphasen dieser Jahre. Weiterhin gilt mein spezieller Dank Christin Freitag, Martina Neu, Britta und Jan Schönefeld für das aufmerksame Korrekturlesen des Manuskripts, ihre kritisch-produktiven Ideen und ihren sorgfältigen Blick für Details. Meinen Eltern Angelika und Andreas Rost sowie Dorothea Tuch danke ich von ganzem Herzen für ihre Begleitung und Ermutigung während der gesamten Zeit – ohne ihre stets uneingeschränkte Unterstützung und Liebe wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ihnen ist das Buch gewidmet.

   

  

Human subjectivity is attending activity. [...] We are a process, an attending process. What we make of ourselves, the ›essence‹ we identify ourselves as, is a function of attending. The sphere of attention is not a substantial essence, but it is formed and shaped, it grows, it is our unique existential style achieved through habits and consistencies in attending. P. SVEN ARVIDSON/THE SPHERE OF ATTENTION

                Nachdem zu Beginn der Aufführung von Meg Stuarts VIOLET für einen kurzen Moment das Licht aufblitzte, liegt die Bühne lange Zeit im Halbdunkel.1 Zu erkennen ist, dass am äußeren linken Bühnenrand der Musiker Brendan Dougherty vor einem Tisch sitzt, auf dem ein Computer, ein Mischgerät und diverse andere elektronische Geräte stehen. Seitlich dazu ist ein großes Schlagzeug aufgebaut. Fünf Performer*innen stehen in gleichmäßigen Abständen nebeneinander in einer Reihe nahe dem hinteren Bühnenrand, der von einer hohen, schwarz glänzenden, in sich leicht gewellten Plastikwand abgeschlossen wird. Sie blicken frontal in den Saal. Eine Zeit lang scheint sich nichts zu ereignen. Das Wahrgenommene wirkt statisch, denn es lässt sich keine Bewegung ausmachen. Zu hören ist scheinbar auch nichts. Nach einigen Momenten jedoch bemerke ich ein leichtes, kontinuierliches Rauschen, das den Raum mit seinem leisen Klang auf eine sanfte, ruhige Weise erfüllt. Dann werden Bewegungen der Performer*innen sichtbar, kleine Verrückungen der 1

Meg Stuarts VIOLET hatte am 07. Juli 2011 Uraufführung am PACT Zollverein in Essen. Erlebt habe ich die Aufführungen am 29. und am 30. Oktober 2013 am Hebbel am Ufer (HAU 2) in Berlin.

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Schultern, ein kurzes Zucken der Hände, die wie Pulsationen erscheinen und dann im Innehalten der Körper wieder verschwinden. Als die Bewegungen erneut aufkommen, zeigen sich bestimmte Muster, denn die zwei Tänzerinnen und drei Tänzer vollziehen ihre Bewegungen in steter Wiederholung. So lassen sich nach und nach jeweils eigene Bewegungs- und Körpersprachen erkennen. Gespreizte Hände zucken leicht, andere Hände ziehen sich zusammen und entspannen sich wieder. Arme werden gerade vom Körper ausgestreckt und geschwenkt, andere gehoben und gesenkt, ein Kopf von links nach rechts gedreht. Die Bewegungen steigern sich an Intensität, Tempo und Größe, als ein zweites Rauschen einsetzt, das sich durch seine Lautstärke über das erste legt und mittels seiner pulsierenden Dynamik stärker hervortritt. Sounds und Körper kommen durch diese vibrierenden Bewegungen zur Erscheinung. Die Steigerung hört hier nicht auf, sondern wächst im Wechsel von Dynamik und Innehalten immer weiter an, bis die auditive und visuelle Dichte als Materialität und Voluminösität spürbar wird. Die Hin- und Herbewegungen von Armen, Händen und Köpfen vollziehen sich in schnellerem Tempo. Immer weitere Variationen kommen hinzu und das bislang beibehaltene räumliche Nebeneinander der fünf Tänzer*innen verändert sich. Sie treten nun aus der Reihe und bewegen sich langsam im Raum. Unter dem Rauschen ist ein anderer Sound herangewachsen, der in seiner unveränderten und hohen Tonlage sowie seinem gepressten, dissonant ans Schrille grenzenden Klang die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Aufgrund seiner Intensität wird er nicht nur über die Ohren, sondern vielmehr mit dem gesamten Körper wahrgenommen. Seine Lautstärke versetzt alle Materialitäten in Schwingung, den Boden unter meinen Füßen ebenso wie mich selbst. Vor allem in der Magengegend wird dies spürbar. Auch das Licht verändert sich im Dort- und HierAufscheinen, im Dunkler- und wieder Heller-Werden. Die zunächst noch überschaubar wirkenden Bewegungsmuster brechen auf, die Positionen in der Reihe werden verlassen, und Variationen, Abweichungen, neue Impulse bestimmen fortan die wahrzunehmende Körperlichkeit der Performenden. Bleibend ist einzig das stete ›Hin-und-Her‹, das sich auch als ›Vor-und-Zurück‹ oder ›Auf-und-Ab‹ manifestiert, aber immer eine dynamische, sich in zwei Richtungen entfaltende Pendelbewegung darstellt. Was während Meg Stuarts VIOLET wahrnehmbar wird, ist ein Prozess des zunehmenden In-Erscheinung-Tretens und Auffällig-Werdens, der sich im Spannungsfeld von Stabilisierung und Destabilisierung als Zersetzung und Auflösung bestehender Ordnungen und als Austarieren und Wiederherstellen von Balance ereignet. Aus der Sphäre des Kaum-Merklichen geht das Wahrgenommene über ins Bemerkbare und gewinnt dabei an Intensität und Präsenz. Während der Aufführung von Meg Stuarts VIOLET war der Moment markant, in welchem die erste Bewegung auffällig wurde. Dabei handelte es sich höchstwahrscheinlich nicht um die erste Bewegung, die an diesem Abend von den Tänzer*innen vollzogen wurde,

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doch um die erste, die in meiner Aufführungswahrnehmung hervortrat und gleichsam als bedeutend registriert wurde. In der Aufführung zeigt sich das Wirken der Aufmerksamkeit nicht nur darin, dass sie durch die tänzerischen Bewegungen, dem mal intensiveren, mal langsameren Schwingen, Vibrieren und Pendeln visuell zur Darstellung kommt oder durch die erklingenden Soundpulsationen zu Gehör gebracht und auf diese verschiedenen Weisen repräsentiert wird, sondern auch daran, dass sie am eigenen Leib der Anwesenden spürbar und durch die Intensität der auditiven Einwirkung bewusst erfahrbar wird. Ausgehend von meinen Aufführungserfahrungen der letzten Jahre ist festzustellen, dass im Theater vielerlei zu Gehör kommt – und darüber hinaus nicht nur Vieles, sondern vor allem viel Unterschiedliches, Komplexes, Unfassbares, Ergreifendes, Eindringliches, Sich-Heran- und Aufdrängendes, gar nahezu Unerträgliches. Extrem Lautes oder Leises wie in Romeo Castelluccis The Four Seasons Restaurant, Geräuschhaftes und Stille in Thomas Ostermeiers Wunschkonzert oder umfassende technisch erzeugte und verstärkte, räumlich wirkende Sound-Arrangements wie in Falk Richters und Anouk van Dijks TRUST. Die Lautlichkeiten sind kein bloßes Beiwerk zu etwas ›eigentlich‹ Dargestelltem, sondern eigenständig wirksame, für die Aufführung wesentliche Komponenten. Das Gehörte dient dabei häufig nicht mehr einer mehr oder weniger realistischen Bühnenhandlung, wie dies noch in Bezug auf die historische Schauspielmusik festzustellen ist. Vielmehr wird es in seiner ihm eigenen phänomenalen Erscheinungsweise hervorgehoben, wahrgenommen und im Rahmen der Aufführung wirksam. Theater und auditive Wahrnehmung hängen auf besondere Weise zusammen – nicht nur, weil im Theater immer schon auch gehört wurde und wird, worauf die Theatertheorie der letzten Jahrzehnte in Bezug auf den – neben dem griechischen Begriff theatron für den ›Ort, von wo man schaut‹ wesentlichen – Begriff des auditoriums mit Nachdruck hingewiesen hat.2 Theater wird in diesem Kontext als Hör-

2

Vgl. Doris Kolesch: »Shakespeare hören: Theatrale Klangwelten in der griechischen Antike, zu Zeiten Shakespeares und in gegenwärtigen Shakespeare-Inszenierungen«, in: Sabine Schülting (Hg.), Shakespeare Jahrbuch, Bd. 144, Bochum 2008, S. 11-27, hier S. 11; Andreas Kotte: »Theaterbegriffe«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 337-344, hier S. 337; Doris Kolesch: »Stimmlichkeit«, in: ebd., S. 317-320, hier S. 317; Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, S. 210. Erika Fischer-Lichte setzt sich an anderer Stelle mit einem Verständnis von Theater als Resonanz-Raum auseinander, wobei ›Resonanz‹ von ihr im doppelten Wortsinn verwendet wird. ›Resonanz‹ meint in diesem Sinne einerseits das konkrete Nachhallen im Theaterraum, in dem verschiedene

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raum gekennzeichnet; im Theater ist auditive Wahrnehmung als eine wesentliche Dimension der Rezeption einzuschätzen. Darüber hinaus ist aber vor allem die immense Vielfalt und Komplexität der einzelnen Hörweisen zu betonen, die eine theaterwissenschaftliche Differenzierung der auditiv zu machenden Erfahrungen in gegenwärtigen Aufführungen nahelegt. Eben weil eine Vielfalt von Lautlichkeiten in Aufführungen des Gegenwartstheaters erfahrbar wird, ist eine zentrale Prämisse dieser Arbeit, dass nicht allein von einer gleichbleibenden Hörweise, sondern vielmehr von einer Pluralität und Komplexität der auditiven Wahrnehmung auszugehen ist. Der Ausgangspunkt dieser Arbeit findet sich dementsprechend in der Annahme, dass im Theater nicht nur viel, sondern vor allem jeweils anders gehört wird. Dabei ist sowohl die Historizität des Hörens im Theater zu betonen als auch die im zeitgenössischen Theater erfahrbare Auffächerung unterschiedlichster Hörweisen. Das Hören im Theater bleibt sich über die Jahrhunderte nicht gleich. Vielmehr ändern sich analog zur Theaterpraxis auch die Wahrnehmungsbedingungen und -weisen. Ideale, Normen und Konventionen der Wahrnehmung im Theater wandeln sich, so dass von einer in gegenwärtigen Theateraufführungen erfahrbaren Spezifik ›des Hörens‹ ausgegangen werden kann. Diesbezüglich ist vor allem auf die Veränderungen hinzuweisen, die sich aus den Schwerpunktverlagerungen in vielen Bereichen des Theaters hin auf eine verstärkte Ausstellung und Reflexion der eigenen Bedingungen und Verfasstheit seit den 1980er und 1990er Jahren ergeben. Durch einen modifizierten Umgang mit den Darstellungsmitteln und -weisen werden alternative Rezeptionsmodi hervorgebracht, die sich von konventionalisierten, idealisierten Formen unterscheiden. Bezugnehmend auf Hans-Thies Lehmanns Begriff des Postdramatischen Theaters sowie auf die von Erika Fischer-Lichte geprägte Ästhetik des Performativen wird von einem vielfältigen Theater-Hören ausgegangen, das sich seiner selbst bewusst werden kann, seine Bedingungen reflektiert, erörtert oder erfahrbar macht und sich im Rahmen alternativer Weisen der Darstellung und Rezeption ereignet. Aufführungen und Prozesse des Hörens sind durch die gleichen Parameter bestimmt. Die dem Hören zumeist zugewiesenen Qualitäten der Prozessualität, Immersivität, Ephemeralität und Immaterialität werden als grundlegende Dimensionen von Aufführungen angeführt und in diesem Sinne das Lautliche – von Erika FscherLichte – als Paradigma der Aufführung, das Stimmliche – bei Doris Kolesch – als

akustische Phänomene zu Gehör kommen, und fungiert andererseits als Metapher für die sich zwischen Inszenierungen und Aufführungserfahrungen ergebenden Bezüge. Vgl. Erika Fischer-Lichte: »Theater als Resonanz-Raum«, in: Karsten Lichau/Viktoria Tkaczyk/Rebecca Wolf (Hg.), Resonanz: Potentiale einer akustischen Figur, München 2007, S. 237-248.

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Paradigma des Theaters und des Performativen eingeschätzt.3 Auf ähnliche Weise zeigt sich dieser Zusammenhang in phänomenologischen Konzeptionen der Aufmerksamkeit, in denen das Wirken des Auffällig-Werdens durch eine Metaphorik des ›Auftritts‹ charakterisiert wird. Bernhard Waldenfels’ Hervorhebung des ›szenischen Charakters‹ der Erfahrung und der Aufmerksamkeitsprozesse als einer Dynamik des ›Auf- und Abtretens‹ lassen sich diesbezüglich exemplarisch anführen.4 Theater ist als ästhetische Praxis des Aufmerksam-Machens einzuschätzen, für die das dynamische Verhältnis von Zeigen und Verbergen grundlegend ist. Das Theater zeichnet sich dadurch aus, dass in Aufführungen das Situativ-Kontingente, das Performative, das Fluide, das Dynamische und das Ephemere der Theaterrezeption betont, ausgestellt, gesteigert und bewusstgemacht werden kann. Theater ist mit Bezug auf Jens Roselts Phänomenologie des Theaters als Kunst der ›markanten Momente‹ zu bestimmen, in der jene Augenblicke bedeutsam werden, die auf intensive Weise hervortreten und sich vom Hintergrund des Restlichen abheben.5 Es ist vorzuschlagen, dieses Geschehen durch die Begriffe der Entbergung und des Zeigens zu beschreiben. Beide Dimensionen stellen wesentliche Parameter auditiver Aufmerksamkeitsdynamiken dar. Im Prozess der Entbergung reduziert sich das Verdeckende, so dass etwas aus der Verborgenheit hervortritt und dabei zugleich den zuvor erlebten Zustand der Absenz und Unbemerktheit manifestiert, während im Modus des Zeigens die Aufmerksamkeit auf etwas gelenkt wird, das dann zentriert wahrgenommen und als Präsenz erfahren werden kann. Beide Dimensionen schließen sich nicht aus, sondern stellen im Gegenteil verschiedene Modi des gleichen Geschehens dar. D. h. sie vollziehen sich im Wirken der auditiven Aufmerksamkeit als ein zu- oder abnehmendes Merklich-Werden. Diese Prozesse sind sowohl für Dynamiken der auditiven Aufmerksamkeit als auch für Theateraufführungen paradigmatisch, insofern beide auf etwas hinweisen oder etwas zur Erscheinung bringen, indem es hervorgebracht, bewusst oder erfahrbar gemacht, markiert, ausgestellt oder in der Negation impliziert wird.6 Insbesondere solche Aufführun-

3

Fischer-Lichte 2004, S. 209; Doris Kolesch: »Ästhetik der Präsenz: Theater-Stimmen«, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hg.), Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt a.M. 2001, S. 260-275, hier S. 260.

4

Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a.M. 2004, S. 9 und S. 73.

5

Vgl. Jens Roselt: Phänomenologie des Theaters, München 2008, S. 13.

6

In diesem Sinne ist die von Doris Kolesch formulierte Ansetzung der Stimme als Paradigma des Theaters, die im erweiterten Sinn bereits das Auditive umfasst, auch wenn die für Stimmlichkeit besondere Verbindung zur Sprache sie von den anderen Lautlichkeiten abhebt, auf das Attentionale hin zu erweitern. Denn ausgehend von den in Kapitel II explizierten phänomenologischen Theorien der Aufmerksamkeit erweist sich diese als

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gen des Gegenwartstheaters, in denen durch postdramatische, performative, partizipative, immersive oder installative Ästhetiken eine Ausstellung, Erfahrbarmachung und Reflexion der eigenen Verfasstheit vollzogen wird, lassen sich im Rahmen einer ästhetischen Praxis des Entbergens und Zeigens verorten. In den Aufführungen wird nicht gesagt, was das aufmerkende Hören kennzeichnet; vielmehr wird es im Ereignis der Aufführung zeigend hervorgebracht. Gegenstände dieser Untersuchung stellen – ausgehend von dem im Theater präsenten umfassenden Spektrum unterschiedlicher Lautlichkeiten und Hörweisen – im Rahmen eines weit angesetzten Theaterbegriffs Aufführungen des eher frontal organisierten Guckkastentheaters, aber auch performative Installationen, immersives Theater, Audio-Installationen sowie Performances dar. Theater wird als Vielfalt möglicher, komplex oder reduziert-minimalistisch gestalteter Hybride des Sprech-, Musik- und Tanztheaters sowie der Performance-Kunst aufgefasst. Mit der Feststellung des vielfältigen Hörens im Theater geht die Erfahrung einher, dass die theaterwissenschaftliche Beschreibung der Hörerfahrungen schnell an ihre Grenzen stößt. Zur Erfassung der Komplexität und Wirkungsweisen der im Theater evozierten Hörweisen stehen seitens der Theatertheorie kaum adäquate Begriffe oder Konzepte zur Verfügung. Bezüglich der Beschreibung und Analyse von Prozessen auditiver Wahrnehmung und Aufmerksamkeit im Theater ist eine weitgehende Abwesenheit möglicher theatertheoretischer bzw. genauer gesagt, speziell aufführungsanalytischer Methoden, Terminologien, Konzepte oder Begriffe zu konstatieren. Wie im später folgenden Abschnitt zum Forschungsstand verdeutlicht wird, lässt sich vereinzelt auf theaterwissenschaftliche Untersuchungen, in denen Prozesse der Aufmerksamkeit oder des Hörens dargestellt und analysiert werden, sowie auf eine Bandbreite kulturwissenschaftlicher Theorien entweder zur Aufmerksamkeit oder zum Hören hinweisen.7 Doch fehlt eine systematische Herangehensweise an die verschiedenen im Theater erfahrbaren Hörweisen in ihrer Mannig-

situativ-dynamisches Geschehen, dem als differenzerzeugendes, das Hören hervorbringendes Wirken sowohl Präsenz als auch Absenz, Verkörperung, Situationsgebundenheit, Prozessualität, Ephemeralität bzw. Fluidität zuzuschreiben sind. Vgl. Kolesch: »Ästhetik der Präsenz: Theater-Stimmen« (2001), S. 260 ff. 7

Vgl. die Bestimmung des Theaters als einer ästhetischen Praxis des ›Staunen Machens‹ bei Jens Roselt, vgl. Roselt 2008, S. 17-21. Für die deutschsprachige Theaterwissenschaft sind in diesem Kontext vor allem die Arbeiten von Hans-Peter Bayerdörfer, Claudia Benthien, Regine Elzenheimer, Doris Kolesch, Hans-Thies Lehmann, Petra Maria Meyer, Patrick Primavesi, Clemens Risi, David Roesner, Jenny Schrödl, Vito Pinto und Viktoria Tkaczyk relevant. International sind diesbezüglich die Publikationen von Ross Brown, Lynne Kendrick, Jean-Marc Larrue, Marie-Madeleine Mervant-Roux, Jean-François Augoyard/Henry Torgue, Melissa Van Drie und Éric Vautrin von Bedeutung.

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faltigkeit und Komplexität. Insgesamt ist diesbezüglich eine eigentümliche Unaufmerksamkeit gegenüber der für das Theater wesentlichen Dimension des MerklichMachens und -Werdens festzustellen. Möglicherweise hat sich erst mit der theaterwissenschaftlichen Hinwendung zur Aufführung und den Dimensionen von Ereignishaftigkeit, Flüchtigkeit und Prozessualität eine Sensibilisierung für das Hören und für Aufmerksamkeit eingestellt. Eine Hypothese der folgenden Ausführungen ist, dass sich die Vielfalt der Hörweisen durch die Berücksichtigung von und Ausrichtung an einem Begriff auditiver Aufmerksamkeit erschließen, aufzeigen und in den jeweiligen Besonderheiten sowie Wirkungsweisen nachvollziehen lässt. Durch diesen Bezug lässt sich eine Perspektive auf die Aufführungserfahrungen einnehmen, über die sich die verschiedenen Verfasstheiten des Hörens verdeutlichen lassen – denn, so die damit einhergehende Prämisse meiner Überlegungen, es ist anzunehmen, dass sich die Hörweisen vorrangig durch die je verschiedenen Prozesse, Konstellationen und Wirkungen auditiver Aufmerksamkeit unterscheiden. Ich nehme an, dass sich die Dynamiken der Aufmerksamkeit als Umgewichtungen und Stabilisierungen ereignen. Dabei wird das Wirken der Aufmerksamkeit als Geschehen gradueller Verschiebungen und Ausrichtungen innerhalb verschiedener Spektren bestimmt. Die zentrale Setzung des Begriffs von auditiver Aufmerksamkeit ermöglicht es, die Differenzierung der unterschiedlichen Hörweisen an diesen Spektren auszurichten und das Hören jeweils durch seine – mittels der Aufmerksamkeitsdynamiken – hervorgebrachten Verfasstheiten zu verdeutlichen. Als weitere Prämisse gehe ich somit von einer Relevanz der Verhältnisse von Dichte und Diffusion, Nähe und Distanz, Ordnung und Chaos, Präsenz und Absenz sowie Relevanz und Irrelevanz hinsichtlich der Dynamiken und Gefüge auditiver Aufmerksamkeit aus. Ein wesentliches Wirkprinzip der Aufmerksamkeit lässt sich anhand folgender Performance beschreiben. Die Materialien der so genannten ›Sanddorn-Balance‹ sind dreizehn Palmblatt-Rispen unterschiedlicher Größe – von zwanzig Zentimetern bis zu nahezu zwei Metern, die während der Performance übereinandergelegt und im Gleichgewicht gehalten werden.8 In der Performance von Miyoko Shida Rigolo ist zu sehen, wie sie mit dem Balancieren einer großen, ca. dreißig Zentimeter langen Feder über dem Zeigefinger beginnt, die dann über einen der dünnsten Palmäs-

8

Nur sechs Artist*innen führen diesen Balance-Akt im Namen des Begründers Mädir Eugster Rigolo unter dem Namen RIGOLO weltweit auf. Vgl. zur Homepage der RIGOLO-Künstler*innen unter http://www.rigolo.ch/balance/artisten/, letzter Zugriff am 27. Juni 2016.

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te gelegt wird.9 Daraufhin werden zunehmend größere Äste jeweils schräg hinzugefügt, bis sich nach und nach ein nur durch das Gleichgewicht gehaltenes, mehrere Meter in den Raum stehendes, sich leicht bewegendes, fischgrätenartiges Arrangement ergibt. Schließlich hebt Shida in einer langsamen Bewegung das gesamte balancierte Gebilde hoch über ihren Kopf, stellt mit dem Fuß den letzten, dicksten Palmstrung auf und legt auf dessen Spitze das Gesamtgefüge ab. Es hält sich dort nun ohne ihr Zutun; die Performerin hält einen Moment inne und entfernt sich dann in langsamen Schritten ein wenig. Sie geht bis zur Spitze des freistehenden ›Mobiles‹, hebt vorsichtig ihren Arm, streckt die Hand zur Feder aus, ergreift sie mit einer schnellen Bewegung und zieht sie vom tragenden Ast herunter. Wasserfallartig rauschen die einzelnen Rispen, plötzlich ihres Halts und allen Gleichgewichts beraubt, auf den Boden, und fast wie in Zeitlupe ist mitanzusehen, wie das eben noch hoch aufgerichtete stabile Gebilde in sich zusammenfällt. Die Balance des Gebildes ist von einer Spannung getragen, bei der jeder Bestandteil in Relation zu den anderen Komponenten steht. Gespannte Ausdehnung, Aushalten, Relationssetzung, Balance – das sind die mit der stabilisierenden Funktion der Aufmerksamkeit verbundenen Dimensionen. Darüber hinaus zeigt sich im Lösen der Feder und im darauffolgenden Zusammenbrechen des Gebildes die Fragilität des immer nur temporären Zusammenhalts. Die Feder verdeutlicht, dass jedes auch noch so kleine Element innerhalb des Aufmerksamkeitsgeschehens von Relevanz ist, insofern es an dem ihm spezifischen ›Platz‹ innerhalb einer ›Ordnung‹ verortet wird und durch Verschiebungen eine Umgewichtung des Gesamtgefüges bewirken kann. Eine Verlagerung schon des kleinsten Elements – wie z. B. der Feder – kann eine Destabilisierung des Gesamten auslösen. Aufmerken stellt zumeist einen Prozess der Begegnung mit Außer-Gewöhnlichem dar, das gerade aufgrund seiner Unbestimmbarkeit, Plötzlichkeit, Direktheit oder Unordnung zu intensivierter Hinwendung und Zentrierung der Aufmerksamkeit führt. Aufmerksamkeitsdynamiken sind dementsprechend im Spannungsfeld von Ordnung und Chaos, von Stabilität und Bewegung zu verorten. Auditive Aufmerksamkeit wird daher als Dynamik sowie als temporär stabilisiertes Gefüge aufgefasst, innerhalb derer sich ständig und auf diverse Weise Verschiebungen des Gehörten und des Beachteten vollziehen. Die Begriffe der Umgewichtung und des Gefüges bilden die dynamische Verfasstheit der auditiven Aufmerksamkeit ab. Im Gefüge werden Komponenten nach raumzeitlichen Näheund Distanzverhältnissen wie nach Relevanzhierarchien differenziert. Gefüge stellen einzelne, temporär stabil bestehende, potentiell sich zersetzende Anordnungen und Gewichtungen verschiedener auditiver Komponenten dar, während mit Umge-

9

Vgl. zu einem Video der Sanddorn-Balance von Miyoko Shida Rigolo, https://youtu.be/ jSDGaQO4ssk, letzter Zugriff am 27. Juni 2016.

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wichtungen die Prozesse der Verlagerung der Aufmerksamkeit im Hören bezeichnet werden. Auf der Grundlage der in Theateraufführungen gemachten Hörerfahrungen zielen meine Ausführungen darauf, einen Begriff der auditiv-attentionalen sphärischen Differenzdynamik zu entwickeln, der die im Hören zumeist gegebene paradoxe Gleichzeitigkeit von Ferne und Nähe, von Dynamik und Stabilität und von Immersion und Differenzierung verdeutlicht. Das Wirken auditiver Aufmerksamkeitsdynamik wird als Prozess der Wahrnehmungskonstitution und damit einhergehender Organisation des Wahrgenommenen bestimmt. Dieser Prozess vollzieht sich wesentlich als von den Wahrnehmenden intendiertes ebenso wie durch Affektion bewirktes Modifizieren und Arrangieren verschiedener Areale und Intensitäten der Wahrnehmung. Auditive Aufmerksamkeitsdynamiken werden als performativ und ordnungskonstituierend eingeschätzt, insofern die jeweilige ›(An-)Ordnung‹ eines auditiven Gefüges kein feststehendes Resultat, sondern vielmehr eine ›Ordnung-im-Prozess‹ darstellt, mit der ein permanentes Austarieren einhergeht. In diesem Sinne ist die ›auditive Ordnung‹ als fragiles, stets im Wandel befindliches und neu zu erzeugendes dynamisches Gefüge zu konzeptualisieren. Dabei führen Meg Stuarts VIOLET sowie die SanddornPerformance Miyoko Shidas nicht nur visuell vor, wie Balance und Destabilisierung erzeugt werden, sondern sie bewirken den entsprechenden Prozess auch in der Aufmerksamkeitshaltung der Zuschauenden. Die Aufführungen können das Publikum dazu bringen, bestimmte Aufmerksamkeitsprozesse zu erleben, indem die Konstitution konzentriert-angespannter Hinwendung sowie im anschließenden plötzlichen Zusammenbrechen ein spontanes Nachlassen der Angespanntheit ausgelöst und dem Publikum zu Bewusstsein gebracht wird. Der theaterwissenschaftliche Gewinn einer solchen Frage nach Aufmerksamkeitsprozessen liegt im Aufzeigen, Ausdifferenzieren und detaillierten Klären verschiedener Hörweisen im Theater, die in Relation mit bestimmten Ästhetiken und Wirksamkeiten stehen. Hören im Theater ist eine wesentliche Dimension des Erlebnisses von Aufführungen. Bei den im Folgenden fokussierten Phänomenen und Prozessen erweist sich das Auditive auf eine Weise markant, die zur Bewusstwerdung und Reflexion grundlegender Dimensionen der auditiven Wahrnehmung führen. Zu konstatieren ist eine Auseinandersetzung mit wirkmächtigen kulturellen Idealen, Konventionen und Normen des Hörens, die auf verschiedene Weise verhandelt, verdeutlicht, übersteigert oder unterlaufen werden. Eine Analyse des TheaterHörens lässt sich daher nicht jenseits einer Berücksichtigung historischer und kultureller Prägungen eines ›richtigen‹ oder ›adäquaten‹ Hörens und Aufmerkens durchführen und steht im Zusammenhang mit historischen, diskursiven Konzeptionen dessen, was unter ›Hören‹ und ›Aufmerksamkeit‹ in verschiedenen Kontexten verstanden wurde und wird.

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Die Auseinandersetzung mit dem Hören im Theater führt darüber hinaus zu einem Gewinn für die Theorie des Auditiven, deren Begriffe und Konzeptionen des Hörens zu hinterfragen und ggf. zu modifizieren oder zu revidieren sind. Angestrebt wird ein differenziertes Verständnis der auditiven Wahrnehmung, in dessen Rahmen zu betonen ist, dass diese nicht ausschließlich im – häufig als wesentliche Qualität des Hörens herausgestellten – Immersiven aufgeht. Durch die Analyse des Hörens im Theater wird erkennbar, dass und inwiefern sich innerhalb des Gehörten bestimmte Organisationsweisen vollziehen, die im Widerspruch zu einer ausschließlich offenen oder immersiven Verfasstheit des Hörens stehen. Auf diese Weise lassen sich insbesondere auch solche Hörweisen hervorheben, die mit Abwendung, Absenz und Negation im Zusammenhang stehen. Zwar ist das Ohr als physiologisches Organ nicht verschließbar, doch übergeht eine Bestimmung, die darauf basierend eine grundlegende Offenheit des Hörens annimmt, die Dimension, dass das Gehör als Sinnestätigkeit durchaus Möglichkeiten der aufmerksamkeitsbedingten Differenzierung, Ordnung, Abwendung und des Ausschlusses besitzt. Ohne diese Möglichkeiten wäre die alltägliche auditive Orientierung an den wahrgenommenen Umgebungslauten kaum möglich. Die Organisationsweisen der auditiven Aufmerksamkeit entlang bestimmter teilweise subjektiv kontrollierbarer, teilweise historisch, kulturell und sozial geprägter Parameter stellt insofern eine alltägliche und trotz ihrer Permanenz kaum bemerkte, da als selbstverständlich erachtete, Dynamik der Gewichtung dar. Durch das Herausstellen und Nachvollziehen der Zeigeprozesse verschiedener Theateraufführungen werden diese Dimensionen ihres Wirkens erkennbar. Abschließend ist als letzte, den Horizont des Vorhabens erweiternde Hypothese anzuführen, dass die an den Aufführungserfahrungen gewonnenen Erkenntnisse in einen Zusammenhang mit philosophischen Theorien der Subjektivität, Performativität, Affektion und Materialität zu stellen sind. Verschiebungen in Wahrnehmung und Bewusstsein stehen nicht nur in einer Relation zu den performativen Prozessen der Subjektkonstitution, sondern sind – ausgehend von phänomenologischen Konzeptionen der Aufmerksamkeit – vielmehr mit diesen gleichzusetzen. In ihrem Wirken zeigt sich eine Parallele zwischen Vorgängen der Bewusstwerdung, Materialisierung und Bedeutsamkeit in der ihnen gemeinsamen Wirkungsweise als Prozesse des In-Erscheinung-Tretens einerseits und des Gewicht-Erhaltens andererseits. Auditive Aufmerksamkeitsdynamiken und -gefüge sind im Kontext der Subjektund Wirklichkeitskonstitution sowie als Gegenstand philosophisch-ethischer Fragen von Relevanz, da sie den Gegenständen, Prozessen und Personen Gewicht verleihen.

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      Ziele des Vorhabens stellen die Beschreibung, Analyse, Deutung und Kontextualisierung der in Theateraufführungen vielfältig erfahrbaren Hörweisen dar. Zu diesem Zweck ist es erforderlich – und als zweites Ziel der Arbeit zu markieren –, ein Verständnis auditiver Aufmerksamkeit sowie eine entsprechende Terminologie zu entwickeln, anhand derer die Hörerfahrungen für die theaterwissenschaftliche Analyse zugänglich gemacht werden können. Impliziert ist die Verdeutlichung der Signifikanz einer theaterwissenschaftlichen, insbesondere auch einer theaterhistoriografischen Auseinandersetzung mit Aufmerksamkeitsprozessen in Theateraufführungen bzw. theaterhistorischen Zusammenhängen. Eine weitere Anforderung stellt die Reflexion einer geeigneten Methode dar – sowohl was die Beschreibung als auch die Analyse betrifft. Denn zum einen ist die Fachliteratur dahingehend zu befragen und zu erweitern, ob und inwiefern eine Terminologie zur Erfassung des Auditiven bereits ausgearbeitet bzw. aus welchen Bereichen und auf welche Weise diese erschlossen wurde oder für dieses Vorhaben erst zu erschließen wäre. Zum anderen stellt Aufmerksamkeit einen wissenschaftlich schwer zu erfassenden Gegenstand dar. Bernhard Waldenfels weist darauf hin, dass eine Analyse von Aufmerksamkeit sich mit der Erscheinungsweise der Wahrnehmungen, also mit den Fragen des ›Wie‹, beschäftigt und daher nicht direkt nach der Aufmerksamkeit fragen kann, die sich nur implizit durch ihr Wirken zu erkennen gibt. Sie kann nur indirekt über die Auseinandersetzung mit Materialisierungen, in denen sie sich zeigt, analysiert werden.10 Aufmerksamkeit tritt nicht an sich, sondern nur an den durch sie hervorgebrachten Wahrnehmungsweisen, und zwar spezifisch an den sich im Hören manifestierenden Konstellationen, Differenzen, Relationen und Ordnungen der einzelnen gehörten Komponenten, in Erscheinung. Eine Voraussetzung des Vorhabens ist demnach in der Entwicklung einer adäquaten Begrifflichkeit zu verorten, mit der das organisierende und differenzierende Geschehen der Aufmerksamkeit erfasst und analysiert werden kann. Ein weiteres Ziel stellt ebenfalls die Konstitution einer Methode dar, deren Gewinn für die Theaterwissenschaft in einer Modifikation und Erweiterung aufführungsanalytischer Überlegungen, Fragen und Vorgehensweisen besteht.

            Die Analyse auditiver Aufmerksamkeit wirft eine Reihe wichtiger methodologischer Fragen auf. Wie lässt sich das sprachlich erfassen und schriftlich fixieren, was

10 Vgl. Waldenfels 2004, S. 12.

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während der Aufführung von Meg Stuarts VIOLET im HAU 2 zu erleben war? Wie kann im Rahmen einer aufführungsanalytischen Herangehensweise das komplexe Geschehen des aufmerkenden Hörens beschrieben und analysiert werden? Die Analyse auditiver Aufmerksamkeit in der Theaterwissenschaft erweist sich als problematisch, insofern weder geklärt ist, was mit diesem Begriff gemeint ist, noch entsprechende Methoden der Untersuchung entwickelt sind. Es lässt sich bei der Auseinandersetzung mit Aufmerksamkeit auf kein einzelnes bestimmtes Fach rekurrieren. Vielmehr erweist sie sich als Gegenstand einer Vielzahl unterschiedlicher Diszplinen. So ist ein umfassender Theoriekorpus zu rezipieren, der sich von der Philosophie, Psychologie, Neurologie über Kulturtheorie und -wissenschaft bis zur Kunstgeschichte und einer umfassenden Geschichte der Sinne erstreckt. In diesen Disziplinen werden jeweils unterschiedliche Methoden eingesetzt. Im Folgenden wird – ausgehend von einem entsprechenden Verständnis des Verhältnisses der Aufmerksamkeit zum Hören – primär von den in Theateraufführungen gemachten Wahrnehmungen als Gegenstände der Untersuchung ausgegangen, an denen sich das Aufmerksamkeitsgeschehen zeigt. Dementsprechend ist als ein erster Schritt der diesbezüglichen Methode die genaue ›Beobachtung‹ – in der Art einer ›Belauschung‹ – und die beschreibende Erfassung dieser Hörerfahrungen vorzunehmen. Dem schließen sich Prozesse der Analyse, Deutung und Kontextualisierung an, die sich an theoretischen Zusammenhängen, Begriffen und Konzepten der Theaterwissenschaft, Philosophie und Kulturwissenschaft orientieren und diese gleichermaßen anzuwenden wie zu modifizieren suchen. Meine Überlegungen orientieren sich methodisch grundlegend an einer phänomenologisch ausgerichteten Aufführungsanalyse. Auf die Flüchtigkeit, Dynamik, Ereignishaftigkeit, Situationsgebundenheit, Kontingenz und Performativität von Aufführungen weist die Theatertheorie dezidiert hin und problematisiert diese Parameter hinsichtlich der im Kontext der Aufführungsanalyse zu machenden Verschrift- und Versprachlichungen.11 Die Thematisierung von Aufmerksamkeit führt

11 Vgl. zur Problematik der Versprachlichung von Aufführungsereignissen und -erfahrungen die Tagung »Topografien des Flüchtigen«, die vom 24.-25.01.2014 durch den Sonderforschungsbereich 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« in den Uferstudios in Berlin veranstaltet wurde, sowie Denis Leifeld: Performances zur Sprache bringen. Zur Aufführungsanalyse von Performern in Theater und Kunst. Bielefeld 2014; Adam J. Ledger, Simon K. Ellis und Fiona Wright: »The Question of Documentation: Creative Strategies in Performance Research«, in: Baz Kershaw/ Helen Nicholson (Hg.), Research Methods in Theatre and Performance. Edinburgh 2011, S. 162-185; Erika Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft, Tübingen/Basel 2010, S. 79; Christopher Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft, 4. durchges. Aufl., Berlin 2008, S. 82; Jörg von Brincken/Andreas Englhart: Einführung in die moderne Theater-

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zu dem Problem, dass sich, sobald Theaterwissenschaftler*innen während einer Aufführung beginnen, das eigene Auf- und Bemerken registrierend zu verfolgen, dieses eben gerade aus letzterem Grund verschiebt und das Aufmerksamkeitsgeschehen selbst ins Zentrum der Wahrnehmung rückt. Die Problematik der Aufführungsanalyse, in der das Mit- und Nachvollziehen der eigenen Wahrnehmung der Analysierenden auf selbstreflexiven Bezügen beruht, liegt darin, dass sich Aufmerksamkeit einer solchen selbstreflexiven ›Belauschung‹ immer wieder gerade entzieht. Sie kann demnach nur im Sinne einer ›Selbstbelauschung‹ zweiten Grades erfolgen, zu deren Komponenten sowohl die Praxis eines nicht-analytischen Hörens und Erfahrens während der Aufführung sowie die nachträgliche analytische Rekonstruktion der Hörerfahrungen aus den Erinnerungen und Aufzeichnungen zu zählen sind. Die Analyse auditiver Aufmerksamkeit basiert des Weiteren auf der Beobachtung und Analyse des Publikumsverhaltens sowie den während der Aufführung spürbar werdenden Stimmungen, Atmosphären und Dynamiken zwischen Bühne und Publikum. Die folgenden Ausführungen werden sich methodologisch mit drei Aspekten auseinandersetzen, die durch das Vorhaben virulent werden und verschiedene Fragen aufwerfen: Erstens wird die Auseinandersetzung mit Fragen der Beschreibung und Beschreibbarkeit auditiver Erfahrung und Aufmerksamkeit immer wieder aufgenommen werden, zweitens stellt sich – mit dem ersten Punkt eng verknüpft – wiederkehrend die Frage nach einer oder mehreren möglichen ›Sprachen‹, d. h. nach Schreibweisen, rhetorischen Strategien, Terminologien oder einzelnen Begriffen. Der Verweis auf die Vielfalt möglicher theoretischer Bezugspunkte verdeutlicht, dass es hinsichtlich der theaterwissenschaftlichen Aufführungsanalyse »die einzige und für alle Theaterspielarten gültige Methode [nicht gibt]. Jede analytische Unternehmung hat auf die Besonderheiten des gewählten Gegenstandes flexibel und kreativ zu reagieren«12. Hinsichtlich der Frage nach einer jeweils adäquaten Methode manifestiert sich eine dritte Dimension, die für die vorliegende Thematik relevant ist, und zwar die Aktivität der eigenen, auf wissenschaftliche Erkenntnis gerichteten Aufmerksamkeit, deren potentielle ›blinde Flecken‹ bzw. ›überhörte Bereiche‹ ebenfalls zu reflektieren und zu hinterfragen sind.

wissenschaft, Darmstadt 2008, S. 108; Isa Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand – die Aufführung im Schriftzug der Aufzeichnung, Freiburg i. Br. 2006; Andreas Kotte: Theaterwissenschaft. Eine Einführung, Köln 2005, S. 11; Erika Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen 2001, S. 233265; Guido Hiß: Der theatralische Blick. Einführung in die Aufführungsanalyse, Berlin 1993, S. 128 sowie ders.: »Zur Aufführungsanalyse«, in: Renate Möhrmann (Hg.), Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung, Berlin 1990, S. 65-80, hier S. 65. 12 Guido Hiß: »Zur Aufführungsanalyse« (1990), S. 77.

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Die Methoden der Aufführungsanalyse sind hinsichtlich der Relationen des Gehörten zu den Dimensionen von Materialität, Medialität, Performativität und Semiotizität, die Erika Fischer-Lichte als wesentliche Parameter der Aufführungsanalyse im Sinne einer Ästhetik des Performativen hervorhebt, anzuwenden und für den spezifischen Bereich der Aufmerksamkeitsdynamik weiterzuentwickeln. Die Analyse verschiedener Aufmerksamkeitsdynamiken konzentriert sich auf das Geschehen zwischen Bühne und Publikum und verdeutlicht die Untrennbarkeit beider Bereiche, insofern sich die Korrelationen als relevant erweisen. Es handelt sich um eine Auseinandersetzung mit der Medialität von Aufführungen, bei der berücksichtigt wird, dass die zu analysierenden Prozesse sich zwar einerseits zwischen Bühne und Zuschauerraum und damit weitgehend in Relation zum Bühnengeschehen vollziehen, andererseits aber primär im Zuschauerraum, also in der Wahrnehmungsund Aufmerksamkeitshaltung des Publikums, in Erscheinung treten, wobei sie im Rahmen der ›autopoietischen Feedbackschleife‹ nach Fischer-Lichte ihrerseits auch wiederum Rückwirkungen auf die Akteur*innen besitzen.13 Zu erweitern ist die Aufführungsanalyse durch den Einbezug adäquater Methoden anderer Fachrichtungen. Insbesondere aus dem philosophischen Bereich der Phänomenologie lassen sich methodologische Überlegungen und Vorgaben übernehmen, insofern sie grundlegend mit der zuvor angesprochenen, durch den Gegenstand der Aufmerksamkeit begründeten Problematik zusammenhängen. Natalie Depraz vergleicht diese Art von Schreibbewegungen mit Variationen in der Musik, durch die sich nach und nach eine Melodie herausschält.14 Dementsprechend zielt das phänomenologische Schreiben auf ›Resonanz‹ in den Lesenden, durch welche die Theorie ›Lebendigkeit‹ erhält. Am Beispiel der Schreibweise Edmund Husserls kennzeichnet Depraz rhetorische Strategien z. B. des Oxymorons und der zirkulären Wiederholung, die bewirken, dass sich der Sinn des Geschriebenen erst beim Schreiben bzw. im lesenden Mitvollzug ergibt.15 Momente des Zögerns, Umkreisens und der Zurückhaltung eröffnen dabei einen Raum für Neues und zuvor Unvorhergesehenes, das so hervortreten kann.16 Ergänzend ist auf Konzeptionen des zeigenden, teilnehmenden ethnografischen Schreibens in der Sozial- und Kulturanthropologie, z. B. nach Stefan Hirschauer,

13 Vgl. Fischer-Lichte 2004. 14 Natalie Depraz: »Gibt es ein phänomenologisches Schreiben? Die Ambiguität der husserlschen Schreibweise«, in: Ekkehard Blattmann u.a. (Hg.), Sprache und Pathos. Zur Affektwirklichkeit als Grund des Wortes, Freiburg/München 2001, S. 83-105, hier S. 86. 15 Vgl. ebd., S. 83-105. 16 Vgl. ebd., S. 90.

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Bezug zu nehmen.17 Stefan Hirschauer fordert die Entwicklung spezifischer Vokabularien und vergleicht die ethnografische Tätigkeit mit derjenigen von Geschmackstestern, die »ihren Wortschatz in neuen Anwendungsbereichen aktivieren, um dort kategorial differenzierte Erfahrungen machen zu können, und zwar übereinstimmende Erfahrungen. Die Wörter sind basale analytische Instrumente.«18 Dabei stellen die situationsspezifische und konkrete Terminologie eines bestimmten Kontexts sowie – im Gegensatz dazu – die metaphorische Sprache ein Repertoire möglicher Schreibweisen bereit. Während Letztere zu einer Distanzierung qua Verschiebung des Blickwinkels auf ein ›von-woanders-her‹ führt, liegt in Ersterem die Möglichkeit, durch »Überzeichnung der Eigensinnlichkeiten des Feldes« 19 eine Manifestation der Besonderheiten dieser Situationen, Handlungen und Kontexte zu bewirken. Aus dem Vorangehenden lässt sich schließen, dass die vor allem im vierten Kapitel Vom Hören auf das Hören relevanten Schreibweisen sich an den Prozessen des Zeigens und Evozierens zu orientieren haben sowie die Herangehensweise insgesamt als eine Form der performativen Schreib- und Hörpraxis, des ›Hörens‹ und Sich-Verortens, vollzogen werden sollte, um einem phänomenologisch und ethnografisch geprägten Ansatz zu entsprechen. Die ins Geschehen involvierte Subjektivität stellt dabei gleichzeitig eine der wesentlichen, aber auch problematischen Dimensionen des Vorhabens dar. Über eine von phänomenologischen Aufmerksamkeitstheorien geprägte Annäherung ist die Involvierung der Schreibenden ins Aufführungsgeschehen zu berücksichtigen und wird sich in den Beschreibungen – und in den Analysen – manifestieren. Es lässt sich das von Natalie Depraz auf die phänomenologische Praxis bezogene Konzept eines involvierenden, evozierenden Schreibens, das seine ästhetische Dimension und die Subjektivität der Schreibenden

17 Vgl. Stefan Hirschauer: »Ethnografisches Schreiben und die Schweigsamkeit des Sozialen«, in: Zeitschrift für Soziologie 30 (6) 2001, S. 429-451, hier S. 437. In der Musikund Soundtheorie wird von manchen Autor*innen ein metaphorisches Schreiben gefordert. Vgl. Holger Schulze: »Hören des Hörens. Aporien und Utopien einer historischen Anthropologie des Klangs«, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift Historische Anthropologie 2 (16) 2007 (Klanganthropologie. Performativität – Imagination – Narration), S. 240-244, hier S. 244; Bernd Redmann: Entwurf einer Theorie und Methodologie der Musikanalyse, Laaber 2002, S. 200-206, hier S. 200; Hans H. Eggebrecht: »Musik und Sprache«, in: Albrecht Riethmüller (Hg.), Sprache und Musik. Perspektiven einer Beziehung, Laaber 1999, S. 9-14, hier S. 11; Jaroslav Jiránek: »Sprach- und Musiksemantik«, in: ebd., S. 49-65, hier S. 64 f. 18 Hirschauer: »Ethnografisches Schreiben und die Schweigsamkeit des Sozialen« (2001), S. 440. 19 Ebd., S. 445.

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nicht überdeckt, sondern im Gegenteil produktiv zu machen sucht, für die Analyse der auditiven Aufmerksamkeitsdynamiken übernehmen.20 Anzumerken ist zudem, dass keine einseitige Heraushebung und Aufwertung des Auditiven angestrebt wird, sondern das Hören in seiner Verflechtung mit den anderen Sinneswahrnehmungen zu verorten ist. Theater wird grundsätzlich multimodal wahrgenommen, so dass die Analyse auditiver Aufmerksamkeit nicht unabhängig von der Berücksichtigung der anderen Sinne durchzuführen ist. In den aufführungsanalytischen Teilen dieser Arbeit werden daher immer auch die visuellen und haptischen Wahrnehmungen dargelegt und in meine Überlegungen miteinbezogen. Mein Vorhaben versteht sich in diesem Sinne als auditives Pendant zur von Adam Czirak vorgelegten Untersuchung der Blickverhältnisse in Theater und Performance und orientiert sich darüber hinaus methodisch und konzeptionell an verschiedenen vorrangig visuell ausgerichteten historischen Untersuchungen, u. a. von Ulrike Haß und Jonathan Crary.21

                             Über den Titel Sounds that matter werden verschiedene Theoriebereiche zusammengeführt. So ergeben sich drei wesentliche Bezüge zu den mit dem Titel aufgerufenen Theorien von R. Murray Schafer, P. Sven Arvidson und Judith Butler. Durch sie werden die für diese Arbeit zentralen theoretischen Felder der Soundscape-Forschung, der Phänomenologie der Aufmerksamkeit sowie der performativen Subjektivitätstheorie aufgerufen. Über sie hinaus eröffnen sich grundlegende

20 Vgl. Natalie Depraz: Phänomenologie in der Praxis. Eine Einführung, aus d. Franz. v. Sebastian Knöpker, Freiburg 2012 [Original: Comprendre la phénoménologie, Paris 2006], S. 100 ff. Über die Subjektivität ihrer Schilderungen begründet sie die Wahl der ersten Person Singular, ergänzt um die direkte Anrede der Lesenden mit dem Personalpronomen ›tu‹: »Ainsi, avant de parler de l’attention, voire au moment précis où j’en parle, je forme l’espoir que ma façon d’en parler, en première personne, aura cette qualité très particulière qui te permettra d’en faire l’expérience.« Natalie Depraz: Attention et vigilance. À la croisée de la phénoménologie et des sciences cognitives, Paris 2013, S. 37. 21 Vgl. Adam Czirak: Partizipation der Blicke. Szenerien des Sehens und Gesehenwerdens in Theater und Performance, Bielefeld 2012; Ulrike Haß: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005; Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, aus d. Amerikanischen v. Heinz Jatho, Frankfurt a.M. 2002 [Original: Suspensions of Perception. Attention, Spectacle, and Modern Culture, Cambridge, Ma. 1999].

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Verbindungen zur Queer Theory sowie zur Affect Theory und zum New Materialism, die in den einzelnen Analysen aufgezeigt werden. Durch diese kontextualisierenden Referenzen lässt sich auf die Verbindung auditiver Aufmerksamkeit im Theater mit übergeordneten Themen von Subjektivität, Performativität, Affektion und Materialität eingehen. Grundlegend werden auch einzelne Ergebnisse der psychologischen und neurologischen Aufmerksamkeitsforschung einbezogen. 22 Der ›cocktail party‹-Effekt nach Colin Cherry und Forschungen zum räumlichen Hören nach Jens Blauert stel-

22 Zu einem ausführlichen Überblick über das Forschungsfeld in seiner historischen Entwicklung vgl. Odmar Neumann: »Theorien der Aufmerksamkeit«, in: Odmar Neumann/Andries Sanders (Hg.), Aufmerksamkeit. Enzyklopädie der Psychologie, Göttingen u. a. 1996, S. 559-643. Es wird betont, dass der Begriff der ›Aufmerksamkeit‹ in der Psychologie von Wichtigkeit war und ist, doch dass seine Popularität gewisse Höhen und Tiefen durchlaufen hat. So ist ›Aufmerksamkeit‹ in den ›klassischen‹ psychologischen Theorien vor Anfang des 20. Jahrhunderts wie beispielsweise bei William James präsent, während der Begriff von den 1910er bis 1950er Jahren im Behaviorismus als ›mentalistisch‹ und in der Gestaltpsychologie als ›nicht-existent‹ deklariert und damit einhergehend aus dem Fokus der Psychologie ausgeschlossen wurde. Erst mit der von Neumann so genannten ›kognitiven Wende‹ in den 1950er Jahren erlangt er dann im Zuge von Donald Broadbents ›Filtertheorie‹ wieder stark an Bedeutung. Des Weiteren vgl. Christian Ruff: »A Systems-Neuroscience View of Attention«, in: Christopher Mole/ Declan Smithies/Wayne Wu (Hg.), Attention. Philosophical and Psychological Essays, Oxford 2011, S. 1-23; Elizabeth A. Styles: The Psychology of Attention, 2. Aufl., Hove 2006; dies.: Attention, Perception and Memory. An integrated Introduction, Hove 2005; Laurent Itti/Geraint Rees/John K. Tsotsos (Hg.), Neurobiology of Attention, Amsterdam u. a. 2005; Raja Parasuraman (Hg.), The Attentive Brain, Cambridge, Ma./London 1998; Harold Pashler (Hg.), Attention, Hove 1998; Vgl. spezifisch zur auditiven Aufmerksamkeit vgl. Gert ten Hoopen: »Auditive Aufmerksamkeit«, in: Neumann/Sanders (Hg.), Aufmerksamkeit, Göttingen u. a. 1996, S. 115-161; Diana Deutsch: »Die Wahrnehmung auditiver Muster«, in: Prinz/Bridgeman (Hg.), Wahrnehmung, Göttingen u. a. 1994, S. 339-389; Wilhelm H. Vieregge: »Das Konzept der auditiven Aufmerksamkeitsspanne beim analytischen Hören«, in: Heinrich J. Dingeldein/Raphaela Lauf (Hg.), Phonetik und Dialektologie. Joachim Göschel zum 60. Geburtstag, Marburg 1992, S. 54-75; Stephen Handel: Listening. An Introduction to the Perception of Auditory Events, Cambridge, Ma./London 1989; Bertram Scharf: »Auditory Attention: The Psychoacoustical Approach«, in: Pashler (Hg.), Attention, Hove 1998, S. 75-117; Richard Warren: Auditory Perception. A New Synthesis, New York u. a. 1982; E. Colin Cherry: »Some Experiments on the Recognition of Speech, with One and with Two Ears«, in: The Journal of the Acoustical Society of America 25 (5) 1953, S. 975-979.

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len wesentliche Referenzen dieser Arbeit dar. Auch ist die aktuelle neurologische Forschung zur Wirksamkeit und Funktion der Spiegelneuronen in die Analyse von Hörprozessen einzubeziehen, da sich über sie ein Verständnis des Hörens von Geräuschen als Übertragungsdynamik der im Gehörten gegebenen ›Bewegungen‹ und Dynamiken gewinnen lässt. Denn in entsprechenden Studien wird betont, dass sich Spiegelneuronen auch im Auditiven als wirksam erweisen. Dabei wird von einer grundsätzlichen Verbindung von Arealen des Motorischen und des Lautlichen ausgegangen, insofern dem Gehörten im Hören Zuschreibungen von Bewegungen zugewiesen werden und sich simultan eine Aktivierung der für Motorik zuständigen neuronalen Gehirnareale bei den Hörenden ereignet.23 Insgesamt ist der Zugriff auf die neurologische und psychologische Forschung zur Aufmerksamkeit aus zwei Gründen jedoch nur eingeschränkt möglich: Zum einen zielt die zumeist experimentell durchgeführte Forschung wesentlich auf die Zusammenhänge auf der Mikroebene – sowohl hinsichtlich der zeitlichen Fokussierung auf Millisekunden als auch bezogen auf die untersuchten Phänomene. Häufig wird von einer stark reduzierten, singulären experimentellen Situation ausgegangen, die nur bedingt auf die komplexe Wahrnehmungssituation im Theater übertragen werden kann. 24 Zum anderen beschäftigen sich die Untersuchungen zumeist mit Fragen des Hörvermögens und der Aufmerksamkeitskapazität, d. h. mit quantitativ orientierten Fragen, was und vor allem wieviel wir – aufgrund der biologischen, quasi ›natürlichen‹ Konstitution – hören können. Demgegenüber stehen im Folgenden die Dimensionen des Erlebens und somit qualitative Fragen im Vordergrund, für welche die psychologische Forschung nur anhand einzelner Konzepte von Bedeutung ist. Grundlegend ist mit Bezug auf Psychologie und Neurologie die An-

23 Vgl. u. a. Alessandro d’Ausilio: »The Role of the Mirror System in Mapping Complex Sounds into Action«, in: The Journal of Neuroscience 27 (22) 2007, S. 5847-5848; Valerie Gazzola/Lisa Aziz-Zadeh/Christian Keysers: »Empathy and the Somatotopic Auditory Mirror System«, in: Current Biology 16/2006, S. 1824-1829; Kate Watkins/ Tomáš Paus: »Modulation of Motor Excitability during Speech Perception: The Role of Broca’s Area«, in: Journal of Cognitive Neuroscience 16 (6) 2004, S. 978-987; Evelyne Kohler u. a.: »Hearing Sounds, Understanding Actions: Action Representation in Mirror Neurons«, in: Science 297/2002, S. 846-847. 24 Einige Psycholog*innen merken dies kritisch gegenüber ihrer Disziplin an, so ist u. a. auf Diana Deutschs Kritik an der Konzentration der Psychoakustik auf sehr einfache Reize, Stephen Handels Kritik der Reduktion akustischer Begleiterscheinungen oder auch Richard Warrens Warnung vor der Übertragung von per Kopfhörer erzielten experimentellen Ergebnissen auf die alltägliche Wahrnehmungssituation ohne Kopfhörer zu verweisen. Vgl. Deutsch: »Die Wahrnehmung auditiver Muster« (1994), S. 340; Handel 1989, S. 105; Warren 1982, S. 49.

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nahme einer Vielfalt möglicher Hör- und Merkweisen zu untermauern, da in diesen Kontexten gegenwärtig immer wieder herausgestellt wird, dass eine Definition der auditiven Aufmerksamkeit problematisch ist und es sich vielmehr um eine Pluralität verschiedener und komplexer Organisationsprinzipien sowie um das Zusammenwirken einer größeren Anzahl beteiligter Gehirnareale handelt. Um diese Arbeit in ihrem übergreifenden, durch den Titel Sounds that matter implizierten theoretischen Kontext zu verorten, werden die drei dafür wesentlichen Bereiche des Auditiven, des Attentionalen und des Performativen im Folgenden zusammenfassend konturiert. I. Für die beschreibenden Analysen von Hörerfahrungen in Theateraufführungen wird auf Schafers klangökologische Soundscape-Forschung Bezug genommen, da in ihr und von ihr ausgehend Begriffe und Methoden zur Analyse umfassender Klanglandschaften entwickelt wurden und werden. Über den zentralen Begriff der Soundscape hinausgehend, der sich auf Theateraufführungen im Sinne einer Praxis des Erzeugens, Ausstellens und Wirksammachens von komplexen Lautlichkeiten übertragen lässt, ist Schafers Begriff des Tuning, also Prozesse der Ein- und Abstimmung zwischen einer lautlichen Umgebung und den Hörenden, relevant für den vorliegenden Kontext, da sich mit Aufmerksamkeitsdynamiken immer spezifische Ordnungs-, Austarierungs- und Stabilisierungsvorgänge verbinden. Des Weiteren weist Schafer auf die unterschiedliche Bedeutsamkeit der Laute innerhalb einer Soundscape hin; vor allem kulturell codierte Signale werden als bedeutsam bestimmt, insofern sie Informationen übermitteln. Dabei verdeutlicht sich eine für das Hören zentrale Hierarchie zwischen bedeutsamen – »sounds that matter«25 – und weniger bis gar nicht relevanten Lauten – »those which don’t«26. Meine Ausführungen verorten sich mit Referenz auf Schafers Soundscape-Forschung innerhalb eines philosophischen wie kultur- und medienwissenschaftlichen Theoriefeldes, das sich seit den 1960er Jahren und noch einmal verstärkt seit den 1990er Jahren im Sinne einer kritischen Reflexion der philosophischen wie kulturellen Dominanz des Visuellen herausbildet.27 Ausgehend von Schafer ist auf eine

25 R. Murray Schafer: The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World, Rochester, Vt. 1994 [Neuauflage von The Tuning of the World, New York 1977], S. 12. 26 Ebd. 27 In dieser Arbeit werde ich häufiger allgemein auf ›Theorien des Auditiven‹ verweisen, wenn ich das umfassende interdisziplinäre Konglomerat an Bestimmungen und Beschreibungen des Hörens meine, mit denen in verschiedenen Fachrichtungen seine Funktionalität, phänomenale Wirksamkeit und soziokulturelle sowie metaphorische Bedeutung erörtert wird. Die Theorien des Auditiven umfassen neben der Soundscape-Forschung

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gegenwärtig aktuelle und verbreitete Forschung zur Acoustic Ecology hinzuweisen, die einerseits darauf zielt, zu beschreiben und zu analysieren, was alltäglich zu Gehör kommt und auf welche Weise sich dies auswirkt, und die andererseits mögliche (An-)Ordnungsweisen innerhalb lautlicher Umgebungen reflektiert und Sensibilität für die Wirkmacht des – nach diesen Theorien – vernachlässigten Auditiven fordert.28 Parallel dazu wird in den Medientheorien von Marshall McLuhan, Derrick de Kerckhove und Walter J. Ong von den 1960er bis 1990er Jahren ein metaphorisches Verständnis des ›Hörens‹ geprägt, dessen Organisationsprinzipien und Wirkungsweisen den medial bedingten Veränderungen hinsichtlich der Kommunikation, Interaktion, Schnelligkeit, Simultaneität, Räumlichkeit o. Ä. eher entsprechen als die Parameter des historisch höher bewerteten Sehens.29 Begründet wird damit die Konzeption eines spezifisch ›auditiven Denkens‹, das anders verläuft als sein mit Logik, Rationalität, Linearität und Distanzierung assoziiertes visuelles Pendant. »In the same way that the sense of hearing apprehends details from all directions at once, within a 360-degree sphere, [...] so knowing itself is being recast and retrieved in acoustic form. As such, by the next century it will destroy all existing forms of school structures.«30

Fortgeführt wird eine solche paradigmatische Gleichsetzung der Qualitäten des Hörens mit denen der virtuellen, digitalen Medien gegenwärtig durch Frances Dyson, derzufolge sich im Auditiven »the very same qualities that media mediates: that feeling of being here now, of experiencing oneself as engulfed, enveloped, absor-

Schafers u. a. die in diesem Abschnitt erwähnten Forschungsfelder der Medien-, Kulturund Wahrnehmungstheorie sowie der Philosophie, der Sound Art-, Musik- und Theatertheorie, der Sound Studies und historisch ausgerichteter Untersuchungen zum Hören. 28 Vgl. u. a. Angus Carlyle/Cathy Lane (Hg.), On Listening, Axminster 2013; Brandon LaBelle: Acoustic Territories. Sound Culture and Everyday Life, New York 2010; Hans U. Werner: Soundscape-Dialog. Landschaften und Methoden des Hörens, hg. v. der Stiftung Zuhören, Göttingen 2006; Ambiances et espaces sonores, hg. v. Espaces et Sociétés, Paris 2004; Barry Truax: Acoustic Communication, 2. Aufl., Westport, Ca./London 2001. 29 Derrick de Kerckhove: The Skin of Culture. Investigating the New Electronic Reality, hg. v. Christopher Dewdney, Toronto 1995; Marshall McLuhan/Bruce R. Powers: The Global Village. Transformations in World Life and Media in the 21st Century, Oxford/New York 1989; Walter J. Ong: Orality and Literacy, London/New York 1982; Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy, Toronto 1962. 30 McLuhan/Powers 1989, S. 14.

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bed, enmeshed, in short, immersed in an environment«31 ergeben. Nach Dyson zeigt sich in der Dimension der Immersivität eine grundlegende Parallele zwischen auditiver Wahrnehmung und virtuellen Umgebungen. Im deutschsprachigen Raum beschäftigt sich Joachim-Ernst Berendt mit dem Hören als neuer Form des Wissens und Denkens, die darauf basiert, »die Möglichkeiten des Ohres und des Hörens endlich in gleichem Maße auszuloten, zu entwickeln und zu kultivieren, in dem das Potential des Sehens ohnehin seit Jahrhunderten in unserer Kultur entwickelt wurde«32 . Mit Referenz auf Berendt prägt Ross Brown den Begriff des ear thinking und verdeutlicht, inwiefern dieses ›auditive Denken‹ in engem Bezug zum Theater steht. »I propose that in the techne of the postmodern theatre soundscape, we might now be witnessing not only a new era of aurality in theatre but an exploratory modelling of new ways of ›ear‹ thinking which accept meaning in the coincidence of any phenomena that might once have been set in binary opposition as (wanted) signal and (unwanted) noise.«33

Nach Brown ist demnach nicht nur dem Hören im Theater – wieder – verstärkt Relevanz zuzuschreiben, sondern darüber hinaus erweisen sich Aufführungserlebnisse als eine das ›auditive Denken‹ formierende Praxis. Von einer im Hören erfahrbar werdenden besonderen Weise des ›Verstehens‹ geht auch die vorliegende Arbeit aus und folgt damit den Thesen Browns. Gegenüber Berendts euphorischem Verständnis des dominant werdenden ›auditiven Denkens‹ ist jedoch auf die sich mit einer metaphorischen Verwendung des Hörbegriffs einschleichende Verkürzung aufmerksam zu machen. Zu verdeutlichen sind die problematischen, mit einem ›Überhören‹ einhergehenden Implikationen, die sich aus der Bestimmung des ›Hörens‹ als Paradigma der omnidirektionalen, simultanen und sozial auf das Gegenüber hingewandten Wahrnehmungsweise ergeben. Denn häufig werden dabei wesentliche Dimensionen des Auditiven übergangen. Ein solches Verständnis des ›Hörens‹ ist zumeist und ausschließlich auf den folgenden fünf – das Hören nicht vollständig erfassenden – Aspekten basiert: erstens auf der immersiven Verfasstheit des Auditiven, durch welche die Hörenden vom Gehörten umhüllt sind, zweitens auf der Offenheit des Gehörs, das als unverschließbar dargestellt und darin als besonders anfällig eingeschätzt, aber auch als Weise der intersubjektiven Zu-

31 Frances Dyson: Sounding New Media. Immersion and Embodiment in the Arts and Culture, Berkeley u. a. 2009, S. 4. 32 Joachim-Ernst Berendt: Das dritte Ohr. Vom Hören der Welt, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 58. 33 Ross Brown: »The Theatre Soundscape and the End of Noise«, in: Performance Research 10 (4) 2005, S. 105-117, hier S. 105.

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wendung aufgewertet wird, und drittens auf der gemeinschaftserzeugenden Wirkmacht des Hörens, die sich aus der grundlegenden Offenheit und aus der kulturellen Bedeutsamkeit verschiedener Laute für eine bestimmte Kultur oder Gemeinschaft ergibt. »Das Hören auf die Stimme des anderen begründet – anders als das distanzierende Sehen – zwischenmenschliche Gesellschaft.« 34 Viertens wird häufig die spezifische Materialität des Gehörten als diffus, nebulös, unfassbar, geisterhaft und mysteriös beschrieben und fünftens die mit einem solchen Verständnis einhergehende unbändige, spirituelle, undisziplinierte, sich der Sprache entziehende und anarchische Dimension des Auditiven hervorgehoben.35 Das Vermögen einer präzisen Lokalisierung von Klängen wird häufig in Abrede gestellt und im Gegensatz dazu eine diffuse Form- und Objektlosigkeit, eine ausschließlich auf Prozesse gerichtete, unkontrollierbare und vor allem unverschließbare Offenheit behauptet, welche die hohe Empfänglichkeit, aber auch die potentielle Verletzlichkeit hörender Subjekte begründet. Nicht nur die Autor*innen, welche die Prinzipien des Hörens als neue Leitmotive von Kultur und Gesellschaft postulieren, sondern auch diejenigen, welche einem solchen Verständnis eher kritisch begegnen, äußern sich bezüglich der Organisations- und Wirkungsweisen des Auditiven auf ähnliche Weise: Vorrangig gilt das Hören als sozialer Sinn. Demnach wird durch Hören Nähe hergestellt, Zwischenräume werden gefüllt und Grenzen

34 Franz Mayr: »Wort gegen Bild. Zur Frühgeschichte der Symbolik des Hörens«, in: Robert Kuhn/Bernd Kreutz (Hg.), Das Buch vom Hören. Freiburg i. Br. 1991, S. 16-27, hier S. 16. 35 Nicht immer werden alle diese Eigenschaften genannt oder zugleich vertreten. Es kann sein, dass im Rahmen einer Theorie einzelne Dimensionen nicht enthalten sind. Dennoch stellt dieser Qualitäten-Katalog einen Überblick derjenigen Dimensionen dar, auf die verstärkt und immer wieder Bezug genommen wird. Vgl. z. B. die jeweilige Bestimmung des Auditiven in den folgenden Publikationen – zur Unverschließbarkeit des Ohrs und zur Eindringlichkeit des Hörens in Johannes Goebel: »Der Zu-Hörer«, in: Volker Bernius u. a. (Hg.), Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören, Göttingen 2006, S. 15-27, zur Unmittelbarkeit und Stärke der Wirkung von Klängen auf den gesamten Körper der Hörenden in Ute Bechdolf: »Ganz Ohr – Ganz Körper. Zuhörkultur in Bewegung«, in: ebd., S. 128-137. Christina Thürmer-Rohr differenziert zwei Hörmodi, die sich im Grad ihres aus-sich-Herausgehens unterscheiden, und plädiert für die Wiederkehr eines sich auf das Gegenüber einstellenden Zuhörens, welches sie zugleich politisch als Kritik an einer rücksichtslosen und egoistischen Gesellschaft des Weg-, Halb-, Vorbei- oder Nichthörens wertet. Sie entwirft eine von den anderen Hörtheorien zwar abweichende, aber nicht weniger utopische Vorstellung einer Kultur des offenen, annehmenden, aktiv auf den Anderen zugehenden Zuhörens. Vgl. Christina Thürmer-Rohr: »Achtlose Ohren – Zur Politisierung des Zuhörens«, in: ebd., S. 267-274, hier S. 267.

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überschritten. 36 Demgegenüber wird das Sehen als distanzierter, räumlicher, auf Objekte und somit Evidenz und Erkenntnis bezogener Sinn konfiguriert. 37 Es ist demzufolge ein Ungleichgewicht in der Konzeption des Hörens festzustellen, die sich insbesondere aus der häufig vorgenommenen Abgrenzung vom Sehen ergibt. Dies resultiert in einem Verständnis des Hörprozesses als intersubjektivem Verstehen-Wollen sowie der phänomenalen Qualität des Gehörten als einhüllend-immersiver, nebulös-diffuser Sphäre. Insgesamt zeigt sich an diesen Konzeptionen, dass die Einschätzungen des Auditiven die Verbindung mit gegenwärtigen soziokulturellen und medialen Veränderungen suchen und das Hören als Paradigma dieses Wandels auffassen. Deutlich wird, dass die kulturellen Verortungen auditiver Wahrnehmung häufig in umfassendere Bedeutungszuschreibungen und Symbolisierungstraditionen eingebettet sind, in denen bestimmte Dichotomien – z. B. das ›Weibliche‹ und das ›Männliche‹, das ›Passive‹ und das ›Aktive‹ – wirksam sind.38 Solche Zuschreibungen werden aktiviert, um das Hören innerhalb der kulturellen Ordnungen zu verorten und damit gerade das Andere des Sehens, der Vernunft und der Rationalität zu bestärken. Hören wird in diesem Rahmen zu einem allen anderen Wahrnehmungsweisen überlegenen und höher bewerteten Sinn stilisiert. Doch unter Berücksichtigung des Wirkens der auditiven Aufmerksamkeit lässt sich hervorheben, dass sowohl von graduellen Unterschieden der Intensität, Gerichtetheit und Verdichtung des Hörens als auch von Kontrasten, Strukturen, Ordnungen, Differenzen etc. innerhalb des sphärisch Gehörten auszugehen ist. Als simplifizierende »audiovisual litany«39 kritisiert Jonathan Sterne solche in binären Dichotomien vollzogenen Unterscheidungen und mahnt insbesondere den quasi religiösidealisierenden Tonfall an, der sich aus der permanent erfolgenden mantra-artigen Wiederholung der immer gleichen Zuschreibungen und der allgemeinen Absenz von Kritik und Hinterfragung ergibt. Wolfgang Welsch, der einerseits die Beendigung der ›Okulartyrannis‹ fordert, verdeutlicht andererseits die negativen Auswirkungen einer bloßen Umkehrung bestehender Sinneshierarchien, da diese zu unpro-

36 Vgl. Welsch 1996, S. 249; Berendt 1993 [1985], S. 55. 37 Vgl. u. a. Alice Lagaay: »Zwischen Klang und Stille. Gedanken zur Philosophie der Stimme«, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift Historische Anthropologie 17 (1) 2008 (Medien, Körper, Imagination), S. 168-181, S. 169. 38 Vgl. Berendt 1993 [1985], S. 53, und Mayr: »Wort gegen Bild. Zur Frühgeschichte der Symbolik des Hörens« (1991), S. 18. 39 Vgl. Jonathan Sterne: The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, 2. Aufl., Durham/London 2005, S. 15.

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duktiven Machtstrukturen führen kann – beispielsweise zu einer Idealisierung der mit dem Hören verwandten Eigenschaften der Hörigkeit und des Gehorsams.40 Die vorliegende Arbeit schreibt in gewissem Sinn gegen ein Verständnis des Hörens an, das dieses im Rahmen einer vorrangig metaphorischen Verwendung auf Immersivität, Homogenität und Diffusität reduziert. Dabei soll keinesfalls negiert werden, dass der auditiven Wahrnehmung diese Dimensionen zuzusprechen sind. Im Hören lässt sich Lautlichkeit zumeist als einhüllend und auf gewisse Weise omnidirektional erfahren, doch besitzt es zugleich auch präzise Lokalisierungsmöglichkeiten, Räumlichkeiten und eine materiell erfahrbare Ausdehnung. Des Weiteren sind Strukturen enthalten, die sich u. a. in Spaltungen, Tiefen oder zeitlichen Dauern etc. manifestieren. Entgegen der von Dyson suggerierten immersiven Gleichartigkeit auditiver Wahrnehmungen lassen sich durch das Aufzeigen der auditiven Aufmerksamkeitsdynamik die teilweise nur Nuancen umfassenden Differenzen der Wahrnehmungsweisen aufzeigen. So bedeutet es nicht jeweils dieselbe, sondern höchst unterschiedliche Erfahrungen, »engulfed, enveloped, absorbed, enmeshed, in short, immersed in an environment«41 zu sein. Unter Rückgriff auf Tim Ingolds Kritik am immersiven Soundscape-Begriff sind die Parameter von Nähe/ Distanz sowie von Präsenz/Absenz grundlegend auf die auditiv-attentionale Sphäre zu beziehen und der Verschiedenartigkeit der Erfahrungsweisen nachzugehen.42 Eine ähnliche kulturelle Umschichtung und philosophische Reflexion von Sinneshierarchisierungen lässt sich auch im Kontext der Aufmerksamkeit auffinden, wobei die Diskussion der bestehenden Wertungen verschiedener Aufmerksamkeitsformen in diesem Kontext weniger im Sinne einer Rehabilitierung, sondern durch die Feststellung – und Befürchtung – eines grundsätzlichen Verlusts motiviert ist. Vor allem seit den 1990er Jahren wird häufig die These geäußert, dass die Veränderungen der Kommunikation und Informationsübertragung durch die digitalen, portablen und ständig vernetzten Neuen Medien in ihren Auswirkungen auf Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsprozesse negativ zu bewerten seien, da sie zum Verfall und schließlich zum Verlust des Konzentrationsvermögens führten. Es ist anzunehmen, dass sich die neuen Weisen des Aufmerkens, d. h. des simultanen Multitaskings, des schnellen Wechselns zwischen Wahrnehmungseindrücken und den

40 Vgl. Wolfgang Welsch: »Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens?«, in: ders.: Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996 [zuerst veröffentlicht in A.-V. Langenmaier (Hg.), Der Klang der Dinge. Akustik – eine Aufgabe des Designs, München 1993, S. 86-111], S. 231-259, hier vor allem S. 233 ff. 41 Dyson 2009, S. 4. 42 Vgl. Tim Ingold: »Listening Against Soundscapes«, in: Anthropology News 12/2010, S. 10.

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immer nur kurzfristig aufrechtzuerhaltenden Intensitäten auf Kosten der Konzentration herausbilden. Im Zuge dieser Verlustängste verhärtet sich das Ideal der Konzentration und stellt einen begründenden Faktor verschiedener vermeintlich neuartiger Krankheiten dar, als deren Symptom – wie bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung – die chronische Zerstreutheit bestimmt wird. Zerstreuung, Unaufmerksamkeit, Ablenkung o. Ä. gelten in diesem Kontext als zu vermeidende, im Extremfall gesundheitsschädliche, vor allem aber auch die soziale Gemeinschaft beeinträchtigende und somit moralisch verwerfliche Aufmerksamkeitsprozesse. Seit den Nullerjahren setzte demgegenüber eine – historisch u. a. auf Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Guy Debord und Gilles Lipovetsky verweisende, aber seit den späten 1990er Jahren verstärkt auf die digitalen Medien rekurrierende – philosophische Auseinandersetzung um die Bedeutung und Wertung der Zerstreutheit ein. In ihrem Rahmen erhalten Begriffe wie Gelassenheit bei Thomas Strässle in Anlehnung an Martin Heideggers gleichnamige Schrift, distraction bei Damon Young, Lauheit, Zerstreuung und Unschärfe bei Philippe Garnier, Nichtstun in der Kulturanalyse von Billy Ehn und Orvar Löfgren oder das Verweilen im Denken Byung-Chul Hans zunehmend Bedeutung. Phänomene und Prozesse der Langeweile, des Wartens, Nichtstuns, Entspannens, Schlafens oder der Erschöpfung verzeichnen einen Zuwachs wissenschaftlichen Interesses und gesellschaftlich – teilweise – an Wert.43

43 Vgl. Thomas Strässle: Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt, München 2013; Billy Ehn/Orvar Löfgren: Nichtstun. Eine Kulturanalyse des Ereignislosen und Flüchtigen, Hamburg 2012 [Original: The Secret World of Doing Nothing, Berkeley/London 2010]; Byung-Chul Han: Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens, Bielefeld 2009; Damon Young: Distraction, Melbourne 2008; Philippe Garnier: Die Entdeckung der Unschärfe, Essay, München 2002 [Original: Une petite cure de flou, Paris 2002]. Ihnen gegenüberzustellen sind Publikationen, in denen der Verlust der Konzentrationsfähigkeit beklagt wird und die Auswirkungen einerseits z. B. von Multitasking, andererseits von Langeweile und Leere negativ bewertet werden. Vgl. u. a. Philippe Rothlin/Peter R. Werder: Unterfordert: Diagnose Boreout – wenn Langeweile krank macht, 3., überarbeitete Neuaufl., München 2014; Maggie Jackson: Distracted. The Erosion of Attention and the Coming Dark Age, Amherst, NY 2009. Vgl. die kunst- und kulturwissenschaftliche sowie philosophische Auseinandersetzung mit ›Zurückhaltung‹, ›Seinlassen‹ oder ›Erschöpfung‹ in Alice Lagaay/Barbara Gronau (Hg.), Ökonomien der Zurückhaltung: Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion, Bielefeld 2010; Jan Verwoert: »Exhaustion & Exuberance. Ways to Defy the Pressure to Perform« zur Ausstellung Sheffield 08: Yes, No and Other Options, online unter https://dl. dropboxusercontent.com/u/28345128/Jan-Verwoert-Exhaustion.pdf, letzter Zugriff am 27. Juni 2016.

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II. Im Rahmen der phänomenologischen Aufmerksamkeitskonzeption von P. Sven Arvidson erhält der Sphärenbegriff Bedeutung, da er die Verfasstheit der Aufmerksamkeit beschreibt. Gegenüber der Hörtheorie erweist sich die Verwendung im Kontext der Phänomenologie als differenzierter, insofern die Sphäre hier explizit mit Strukturierungsprozessen und dem Verhältnis unterschiedlicher Bereiche verbunden wird. Arvidsons Aufmerksamkeitskonzeption eröffnet neben Schafers Klangökologie den zweiten zentralen Theoriekontext dieser Arbeit, der sich in den phänomenologisch orientierten Theorien zur Aufmerksamkeit von Edmund Husserl, P. Sven Arvidson, Aron Gurwitsch, Bernhard Waldenfels und Natalie Depraz aufzeigen lässt. Wesentlich für das zugrundeliegende Aufmerksamkeitsverständnis ist der in Arvidsons Ausführungen wesentliche Begriff des mattering, durch welchen das prozessuale Geschehen der Aufmerksamkeit verdeutlicht wird. Durch das Gerundium des Verbs to matter (›von Gewicht sein‹, ›Bedeutung haben‹) werden zugleich die prozessuale, sich konstant vollziehende und die gewichtende Wirkungsweise der Aufmerksamkeit gekennzeichnet. Darüber hinaus besitzt der Begriff eine weitere Dimension, die für die vorliegende Arbeit von Relevanz ist. Sie steht in Verbindung mit der Bedeutung des Wortes matter im Sinne von ›Materie‹. Arvidson verbindet ein bestimmtes Konzept leiblicher Materialität mit ethischen Überlegungen zur Aufmerksamkeit in der intersubjektiven Begegnung. Im Rahmen von intersubjektiven Beziehungen wirkt sich mattering als gegenseitige Bezugnahme der Subjekte aufeinander im Sinne eines Einfühlens aus, in dessen Rahmen die eigenen Körpergrenzen an Deutlichkeit und Wirkmacht verlieren. Erfahrbar wird eine Verunsicherung der klaren Abgrenzbarkeit und eine Erweiterung der eigenen ›Ausgedehntheit‹ auf das Gegenüber. Bedeutsam ist die oder der Andere im Sinne einer »direct and immediate material relevancy (a ›mattering‹)«44, insofern das ›Gewicht‹ ihrer/seiner Relevanz zum ausschlaggebenden Faktor in der vom gewichtenden Subjekt frei zu treffenden Entscheidung wird. Jede Handlung besitzt im Gleichgewicht der Bezüge ein eigenes Gewicht, dessen Verlagerung konkret materielle Auswirkungen auf ›die Welt‹ hat. In Anlehnung an Jean-Paul Sartres Existentialphilosophie bestimmt Arvidson Freiheit als wesentliche Qualität von Subjektivität sowie Aufmerksamkeitsprozesse als den moralischen Charakter eines bestimmten Subjekts begründend. »[M]oral character and moral attention are effective in the world.« 45 Zugleich geht er indes nicht von einem Subjektbegriff der souveränen Kontrolle aus, sondern vielmehr von einer grundsätzlich performativen Verfasstheit der Subjektivität, die sich im prozessualen Wirken der Attentionalität manifestiert.46

44 Arvidson 2006, S. 174. 45 Ebd. 46 Vgl. ebd., S. 1 und zur Attentionalität (»attentionality«) vgl. S. 125-132. Darüber hinaus lehnt Arvidson auch den in der psychologischen Forschung gängigen Ausdruck des

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Mit dem in der Phänomenologie zentralen Begriff der Intentionalität verbindet sich, so Arvidson, eine zu überwindende Doktrin, die latent zur Beibehaltung eines essentialistischen Subjektbegriffs beiträgt. Im Verständnis von Subjektivität als einer attentionalen Dynamik zeigt sich demgegenüber vielmehr das Prozessuale und Performative des Auf- und Bemerkens sowie der resultierenden Subjekt- und Wirklichkeitskonstitution an.47 III. Mit Bezug auf Judith Butler verorten sich die folgenden Ausführungen im Ausgang von der Performativitätstheorie, die den Begriff des Performativen aus der Sprachphilosophie John L. Austins übernimmt und auf identitätskonstituierende, materialisierende Prozesse überträgt. In der Theaterwissenschaft wurde Butlers Theorie im Konzept der Performativität übernommen und am Gegenstand des Theaters weiterentwickelt.48 Der Bezug auf Butlers Theorie ermöglicht eine Konzeption von Aufmerksamkeit als performatives Geschehen, das sich zwischen subjektiver Intentionalität und Affektion vollzieht. Butlers Theorie wird im Folgenden vor allem als Philosophie der Subjektivität gelesen, in deren Rahmen weniger ihre wesentliche Kritik an Heteronormativität und normativer Geschlechtsidentitätsregulierung, als vielmehr die Auseinandersetzung mit Materialisierungsprozessen von Körpern und Subjekten im Kontext ethischer Fragen zur Bewertung von Subjekten, Lebensweisen und Körpern als ›bedeutsam‹, ›relevant‹ oder ›legitim‹ zentral ist. Wer darf sich zeigen, wer wird erhört, wer oder was beeinflusst, was andere wahrnehmen – solche Fragen sind es, die auch in den Aufmerksamkeits- und Hörtheorien aufgeworfen werden, insofern es in diesem Kontext auch um Modi des ›Sich-Zeigens‹, ›Zu-Sich-Kommens‹, ›Bei-SichSeins‹, ›Aufmerksam-Machens‹ bzw. ›Auf-den-Anderen-Achtens‹ geht. Im Vorwort zu Bodies That Matter beschreibt Butler die Schwierigkeit, der Materialität des Körpers durch Worte gerecht zu werden. Die zu erfassende Körperlichkeit entziehe sich einem sprachlichen Zugang letztendlich immer.49 In Butlers

attentional set ab, da dieser zu vage sei, um der Komplexität der Aufmerksamkeitsprozesse gerecht werden zu können und er zudem einfach eine andere Bezeichnung für das darstelle, was nach Arvidson klarer mit dem Begriff des Kontextbewusstseins beschrieben werden kann. Vgl. dazu ebd., S. 35. 47 Vgl. ebd., S. 185 ff. 48 Vgl. John L. Austin: How to do Things with Words, 2. Aufl., Oxford 1975; Erika FischerLichte: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012; Arbeitsgruppe Wahrnehmung: »Wahrnehmung und Performativität«, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 13 (1) 2004 (Praktiken des Performativen), S. 15-18. 49 Vgl. Judith Butler: Bodies That Matter. On the discursive Limits of ›Sex‹, London/New York 1993, S. viii.

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Konzept von Materialität werden Körper nicht als ausschließlich stabile, abgrenzbare und beschreibbare ›Objekte‹, sondern vielmehr als prozessuale Gebilde verstanden. Diese sind jedoch keineswegs als absolut fluide, offen verhandelbar und nur locker verbunden zu erachten. Im Gegensatz zu einer Ausgangsweise entweder von einem feststehenden und daher bindenden ›Resultatkörper‹ oder von einer steten, sich frei und neu herausbildenden ›Körperwandlung‹ betont Butler den Prozess der ›Materialisierung‹, der weder statisch ist, noch vollkommen unbestimmt verläuft, und durch den sich zwar eine gewisse Verfestigung vollzieht, die aber immer anfällig bleibt für weitere Verschiebungen. »What I would propose in place of these conceptions of construction is a return to the notion of matter not as site or surface, but as a process of materialization that stabilizes over time to produce the effect of boundary, fixity, and surface we call matter. [...] Construction not only takes place in time, but is itself a temporal process which operates through the reiteration of norms; sex is both produced and destabilized in the course of this reiteration.«50

Körper materialisieren sich nach Butler in einem Spannungsfeld von Wiederholung und Abweichung sowie von Stabilisierung und Destabilisierung. Im Rahmen dieses Prozesses kommen einerseits solche Körper zur Erscheinung, die bestimmten Normen und Idealen der Bedeutsamkeit bzw. des Von-Gewicht-Seins (to matter) entsprechen und die somit in materialisierender Fortführung dieser Normen und Ideale selbst bedeutsam werden, andererseits aber auch solche, die in ihrer Nicht-Erfüllung der normativen Ansprüche als ›ausgrenzbar‹ und ›unbedeutsam‹ gelten und deren Status als ›Verworfene‹ (the abject) auf prekäre Weise mit der Hinterfragung ihres Werts und ihrer Existenzlegitimierung verbunden ist. »The exclusionary matrix by which subjects are formed thus requires the simultaneous production of a domain of abject beings, those who are not yet ›subjects,‹ but who form the constitutive outside to the domain of the subject. The abject designates here precisely those ›unlivable‹ and ›uninhabitable‹ zones of social life which are nevertheless densely populated by those who do not enjoy the status of the subject, but whose living under the sign of the ›unlivable‹ is required to circumscribe the domain of the subject.«51

Die ethische Implikation ist ›gravierend‹ – in beiden Bedeutungsdimensionen dieses Adjektivs, das im Sinne von ›schwerwiegend‹ die einseitige Gewichtung der legitimierten Seinsweisen als ›schwerer‹ und damit als wertvoller herausstreicht sowie in der Bedeutung von ›erheblich‹ oder ›belastend‹ auf die fundamentale 50 Ebd., S. xix [Hervorhebung im Original; KR]. 51 Ebd., S. xiii.

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Reichweite dieser Bewertung hinweist, durch welche manche Körper/Subjekte von der Zusprechung von Lebensfähigkeit oder Existenzlegitimierung ausgeschlossen werden. Butler stellt heraus, dass und inwiefern sich die Existenzlegitimation an der Art und Weise der Materialisierung ausrichtet und wie verheerend eine Abweichung sein kann, da sie nicht allein zu ohnehin bereits fataler Unbedeutsamkeit und Nicht-Beachtung, sondern darüber hinaus gar zum Verlust jeglicher Möglichkeit von Teilhabe am soziokulturellen und politischen Geschehen führt. Geschlechtlichkeit fungiert innerhalb dieses heteronormativ organisierten Kontexts als eine der ausschlaggebenden Dimensionen des Materialisierungsvorgangs. Butler zeichnet sie insbesondere dadurch aus, dass ihr Ereignen die Subjektwerdung begleitet bzw. sogar bedingt.52 »›Sex‹ is, thus, not simply what one has, or a static description of what one is: it will be one of the norms by which the ›one‹ becomes viable at all, that which qualifies a body for life within the domain of cultural intelligibility.«53 Im Prozess der Materialisierung entscheidet sich demnach, wer als ›jemand‹ gehört wird, wer insofern eine Stimme besitzt und sprechen darf, d. h. wem Aufmerksamkeit entgegengebracht wird und wem nicht. An den Normen der heterosexuell angelegten Zweigeschlechtlichkeit bestimmen sich die legitimen Weisen, Körper und Subjekt zu sein, in allen anderen Formen zeigt sich das auszugrenzende Andere, das in seiner Andersartigkeit jedoch Möglichkeiten der Differenz und Subversion eröffnet. Welche Körper bedeutsam und ›von Gewicht‹ sind, ist demnach ebenso wie der einzelne Materialisierungsprozess kein statisches Resultat vorgängiger Strukturen, sondern wird von Butler als historische und veränderbare Dynamik eingeschätzt.54 Butlers später anschließende Frage zielt auf das Potential, das den verworfenen, ausgegrenzten, anderen Körpern gegeben ist, und verdeutlicht auf prägnante Weise ihre fundamentale ethische Kritik: »What challenge does that excluded and abjected realm produce to a symbolic hegemony that might force a radical rearticulation of what qualifies as bodies that matter, ways of living that count as ›life,‹ lives worth protecting, lives worth saving, lives worth grieving?«55

     

   Es ist festzustellen, dass bislang spezifisch zum Thema der auditiven Aufmerksamkeit in Theateraufführungen kaum gearbeitet wurde. Auch allgemein lässt sich eine

52 Vgl. ebd., S. xvii. 53 Ebd., S. xii. 54 Vgl. ebd., S. xxii. 55 Ebd., S. xxiv.

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grundlegende – und erstaunliche – Vernachlässigung des Themas der Aufmerksamkeit erkennen. Im Gegensatz zur Erwartung findet sich diesbezüglich in der theaterwissenschaftlichen Forschung nahezu keine relevante, sich explizit mit dynamischen Prozessen des Aufmerkens im Theater auseinandersetzende Studie. Als eine der wenigen Ausnahmen ist der von Erika Fischer-Lichte, Barbara Gronau, Sabine Schouten und Christel Weiler herausgegebene Band Wege der Wahrnehmung hervorzuheben. Der darin enthaltene Aufsatz von Erika FischerLichte befasst sich mit dem auf Aufführungserfahrungen übertragenen, wahrnehmungspsychologischen Begriff der perzeptiven Multistabilität und der damit verbundenen Ambivalenz zwischen semiotischer und performativer Wahrnehmungsweise, zwischen denen die Wahrnehmung der Zuschauenden hin- und herschwankt. Was Fischer-Lichte an dieser oszillierenden Dynamik der Wahrnehmung vor allem hervorhebt, ist, dass sich dabei auch in der performativen Wahrnehmung des phänomenalen Leibs der Schauspielenden ein besonderer Modus von Bedeutung erfahren lässt, und zwar insofern »die Materialität des Dings [...] in der Wahrnehmung des Subjekts die Bedeutung seiner Materialität [annimmt], das heißt seines phänomenalen Seins«56. Diese auf Emergenz basierende Bedeutungswahrnehmung sowie

56 Vgl. Erika Fischer-Lichte: »Perzeptive Multistabilität und ästhetische Wahrnehmung«, in: dies./Barbara Gronau/Sabine Schouten/Christel Weiler (Hg.), Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin 2006, S. 129-139, hier S. 131. Des Weiteren sind auch die im gleichen Band enthaltenen Texte von Christa Brüstle und Nina Tecklenburg zu erwähnen, in denen einerseits auf Prozesse des auditiven Aufmerksam-Gemacht-Werdens in der Erfahrung von Klanginstallationen sowie andererseits auf das dynamische Zusammenspiel von Angebot und Entzug, von Verlockung und Zurückweisung in ästhetischen Zusammenhängen als Dynamik des Aufmerkens zwischen Attraktion und Abstoßung erfahrbar wird. Vgl. Christa Brüstle: »Auf Klänge aufmerksam (gemacht) werden. Strategien der Klangkunst«, in: Wege der Wahrnehmung (2006), S. 140-152; Nina Tecklenburg: »Die Versuchungen des Ekels. Über Aufmerksamkeitsdynamiken in Herriët van Reeks und Geerten Ten Boschs FEMININE FOLLIES 2«, in: ebd., S. 153-165. Des Weiteren sind die 2015 publizierte Dissertation Theatre and Aural Attention. Stretching Ourselves sowie diverse Aufsätze von George Home-Cook anzuführen, vgl. u. a. »Wahrnehmen von Atmosphären: Zuhören, Stille und die Atmo-Sphäre von Aufmerksamkeit in Sound and Furys Kursk«, in: WolfDieter Ernst/Anno Mungen/Nora Niethammer/Berenika Szymanski-Düll (Hg.), Sound und Performance: Positionen – Methoden – Analysen. Würzburg 2015. Home-Cook arbeitet grundlegend mit dem Konzept der Atmosphäre, um die Komplexität des Hörens zu erfassen, und geht von einem philosophisch-metaphorischen Verständnis des Zuhörens als eines zeiträumlichen Sich-Dehnens (Stretching) der Zuhörenden aus. Meine Herangehensweise unterscheidet sich davon, insofern es mir insbesondere um das Aufzeigen

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der von Fischer-Lichte in dem Aufsatz herausgestellte zugehörige Ordnungsbegriff, der im Sinne einer ›Ordnung der Präsenz‹ von Offenheit und Kontingenz durchsetzt ist, bilden wesentliche Ausgangspunkte, an denen sich das durch Aufmerksamkeitsdynamiken konstituierte Verhältnis von Stabilität und Dynamik manifestiert. Da der spezifisch theaterwissenschaftliche Forschungsstand zur Aufmerksamkeit noch weitgehend ein Desiderat darstellt, ist auf bestehende kultur- und literaturwissenschaftliche, historische sowie philosophische Literatur Bezug zu nehmen, um ein Verständnis des Zusammenhangs von Aufmerksamkeit und Kultur sowie spezifischer von Aufmerksamkeit und Kunst gewinnen zu können. In diesen Theoriefeldern sind in den letzten Jahren grundlegende Publikationen erschienen, die Aufmerksamkeit in ihrer Dimension als historisches und kulturell geprägtes Phänomen verdeutlichen. 57 Fragen der kulturellen, gesellschaftlichen Prägung, Normierung und Veränderung von Aufmerksamkeit sind zentral. In dieser Hinsicht ist vor allem auf Jonathan Crarys historisch orientierte Studie zur Aufmerksamkeit zu verweisen, die eine zentrale Referenz dieser Arbeit darstellt, auch wenn sie im Wesentlichen auf visuelle Wahrnehmung und historische Veränderungen von Blickordnungen sowie Positionen der Beobachtung bezogen ist. Vor allem das von Crarys umfassender Studie entworfene Verständnis von Aufmerksamkeit als einer historisch wandelbaren Kulturtechnik, welche mit jeweils dominanten Wahrnehmungsordnungen und -weisen in Zusammenhang steht, stellt einen Ausgangspunkt meiner Überlegungen dar. Im philosophischen Kontext wird Aufmerksamkeit maßgeblich in zwei Bereichen bestimmt – einerseits durch phänomenologisch orientierte Konzeptionen, die maßgeblich in Frankreich und Deutschland verortet sind, andererseits im Rahmen

der vielfältigen verschiedenen Hörweisen im Theater sowie deren Beschreibung und Analyse geht, die durch die Umgewichtungen der auditiven Aufmerksamkeit hervorgebracht werden. 57 Vgl. Martin Baisch/Andreas Degen/Jana Lüdtke (Hg.), Wie gebannt. Ästhetische Verfahren der affektiven Bindung von Aufmerksamkeit, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2013; Barbara Thums: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche, München 2008; Jörn Steigerwald/Daniela Watzke (Hg.), Reiz, Imagination, Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680-1830), Würzburg 2003; Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, aus dem Amerikanischen von Heinz Jatho, Frankfurt a.M. 2002 [Original: Suspensions of Perception: Attention, Spectacle, and Modern Culture, Cambridge, Ma. 1999]; Aleida Assmann/Jan Assmann (Hg.), Aufmerksamkeiten. Reihe: Archäologie der literarischen Kommunikation VII, München 2001; Frank Kermode: Forms of Attention. Botticelli and Hamlet, Chicago/ London 1985.

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analytischer Philosophie an der Schnittstelle zu Psychologie und Neurologie vorrangig im angloamerikanischen Raum.58 Da es bei der Analyse der Hörerfahrungen im Theater primär um die Dimension des Erlebens geht, erweist sich vor allem die Phänomenologie der Aufmerksamkeit von besonderem Interesse. Gegenwärtig ist das Thema der Aufmerksamkeit im Kontext der Phänomenologie äußerst aktuell. So erschienen vor allem seit den Nullerjahren – ausgehend von Edmund Husserls grundlegenden Ausführungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts – verschiedene umfassende Aufmerksamkeitstheorien von P. Sven Arvidson, Natalie Depraz, Bernhard Waldenfels, Thiemo Breyer, Anthony Steinbeck und Pierre Vermersch. Sie manifestieren das anhaltende und gegenwärtig verstärkte philosophische Interesse für die Erscheinungs-, Wirkungs- und Funktionsweisen von Aufmerksamkeit im phänomenalen Erleben.59

58 Vgl. zur aktuellen Philosophie der Aufmerksamkeit Wayne Wu: Attention, London/ New York 2014; Sebastian Watzl: »Attentional Organization and the Unity of Consciousness«, in: Journal of Consciousness Studies 21 (7-8) 2014, S. 56-87; Christopher Mole: Attention is Cognitive Unison. An Essay in Philosophical Psychology, Oxford/New York 2011; Christopher Mole/Declan Smithies/Wayne Wu (Hg.), Attention. Philosophical and Psychological Essays, Oxford/New York 2011; Felipe De Brigard: »Consciousness, Attention and Commonsense«, in: Journal of Consciousness Studies 17 (9/10) 2010, S. 189-201; Christopher Mole: »Attention in the Absence of Consciousness?«, in: Trends in Cognitive Sciences 12 (2) 2008, S. 44. 59 Natalie Depraz: Attention et vigilance. À la croisée de la phénoménologie et des sciences cognitives, Paris 2013; dies.: Phänomenologie in der Praxis. Eine Einführung, Freiburg 2012 [Original: Comprendre la phénoménologie, Paris 2006]; Thiemo Breyer: Attentionalität und Intentionalität. Grundzüge einer phänomenologisch-kognitionswissenschaftlichen Theorie der Aufmerksamkeit, München 2011; Natalie Depraz: »Attention et conscience: à la croisée de la phénoménologie et des sciences cognitives«, in: Éditions ALTER 18/2010 (L’Attention), S. 203-226; Bernhard Waldenfels: »Attention suscitée et dirigée«, ebd., S. 33-44; Natalie Depraz: »La ›double attention‹: pour une pratique phénoménologique de l’antinomie«, in: Chan-Fai Cheung u. a. (Hg.), Essays in Celebration of the Founding of the Organization of Phenomenological Organizations, online unter www.o-p-o.net, 2003, Essay 49, S. 1-18; Natalie Depraz: »De l’›inter-attention‹ à l’attention relationnelle. Le croisement de l’attention et de l’intersubjectivité à la lumière de l’attention conjointe«, in: Symposium 14 (1) 2010, S. 104-118; Arvidson 2006; Natalie Depraz: »Where is the phenomenology of attention that Husserl intended to perform? A transcendental pragmatic-oriented description of attention«, in: Continental Philosophy Review 37/2004, S. 5-20; Waldenfels 2004; Anthony Steinbock: »Affection and attention. On the phenomenology of becoming aware«, in: Continental Philosophy Review 37 (1) 2004 (Attention), S. 21-43; Pierre Vermersch/Natalie Depraz/Francisco Varela (Hg.), On

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Der Forschungsstand zum Auditiven im Theater erweist sich gegenüber dem der Aufmerksamkeit als weitaus umfangreicher, wobei anzumerken ist, dass dieser maßgeblich in den vergangenen zwei Jahrzehnten entstanden ist. Im Zuge einer als performative turn oder gar acoustic turn bezeichneten Perspektivverschiebung in der Theaterwissenschaft werden Prozesse sinnlicher Wahrnehmung, Affektion und Energieübertragung ins Zentrum des Interesses gerückt.60 Neben den anderen Sinnen erhält auch das Hören in diesem Kontext zunehmend Relevanz und wird ausgehend von den verschiedenen akustischen Phänomenen, die im Theater zu Gehör kommen, wie – Musik, Stimmen, Sounds, Geräusche und Stille – analysiert.61 Im Folgenden wird ein kurzer Überblick der entsprechenden Forschung gegeben. In Bezug auf Stimmlichkeit im Theater werden vor allem die phänomenalen Erscheinungsweisen, d. h. die Klanglichkeiten und die durch unterschiedliche Ästhetiken hervorgebrachten affektiven Wirksamkeiten von Theater-Stimmen hervorgehoben und im Rahmen einer performativen Ästhetik analysiert.62 In diesem Sinne

Becoming Aware, Amsterdam 2003; Natalie Depraz: »Gibt es ein phänomenologisches Schreiben? Die Ambiguität der Husserlschen Schreibweise«, in: Ekkehard Blattmann u. a. (Hg.), Sprache und Pathos. Zur Affektwirklichkeit als Grund des Wortes, Freiburg/München 2001, S. 83-105; Natalie Depraz: »The Gesture of Awareness. An account of its structural dynamics«, in: M. Velmans (Hg.), Investigating Phenomenal Consciousness, Amsterdam 1999, S. 121-136; Aron Gurwitsch: Das Bewusstseinsfeld, übersetzt von Werner D. Fröhlich, Berlin/New York 1975 [Original: Théorie du champ de la conscience, Paris 1957]. 60 Vgl. Petra Maria Meyer (Hg.), Acoustic Turn. München 2008; dies. (Hg.), Performance im medialen Wandel, München 2006; Barbara Gronau (Hg.), Szenarien der Energie. Zur Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen, Bielefeld 2012. 61 Vgl. Wolf-Dieter Ernst/Anno Mungen/Nora Niethammer/Berenika Szymanski-Düll (Hg.), Sound und Performance: Positionen, Methoden, Analysen, Würzburg 2015; Mareile Gilles: Theater als akustischer Raum. Zeitgenössische Klanginszenierung in Deutschland und den USA, Diss., Berlin 1999. 62 Vgl. Vito Pinto: Stimmen auf der Spur. Zur technischen Realisierung der Stimme in Theater, Hörspiel und Film, Diss., Bielefeld 2012; Jenny Schrödl: Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater, Diss., Bielefeld 2012; Doris Kolesch/Vito Pinto/Jenny Schrödl (Hg.), Stimm-Welten. Philosphische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven, Bielefeld 2008; Doris Kolesch/Sybille Krämer (Hg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a.M. 2006; Doris Kolesch/Jenny Schrödl (Hg.), Kunst-Stimmen, Berlin 2004; Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Stimmen – Klänge – Töne. Synergien im szenischen Spiel, Tübingen 2002; Reinhard Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001; Ulrich Kühn: Sprech-TonKunst. Musikalisches Sprechen und Formen des Melodrams im Schauspiel- und Musik-

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ist zur Stimme im Gegenwartstheater wesentlich auf die Publikationen von Doris Kolesch einzugehen. Sie kennzeichnet die Stimme als Phänomen, das in seiner Fluidität, Atopik, Ereignishaftigkeit, leiblich-affektiven Wirksamkeit und ihrem gestischen Charakter als Paradigma des Performativen einzuschätzen ist. 63 In diesem Kontext verweist sie auf eine an die performative Ästhetik der Stimme anzuschließende Konzeptualisierung des Hörens, welche »das Hören nicht als bloß passives Empfangen, sondern als eine gerichtete Aktivität versteht«64. Nach einem solchen Verständnis des Hörens lassen sich die ordnungs- und differenzerzeugenden Leistungen der Aufmerksamkeitsdynamiken des Hörens aufzeigen und eine kritische Erweiterung eines Verständnisses des Gehörs als aussschließlich offenem, ungerichtetem, passiv reagierendem und daher grundsätzlich verletzbarem Sinn durch eine Differenzierung der responsiven Dimensionen anregen. Musik im Theater wurde von der theaterwissenschaftlichen Forschung in den letzten beiden Jahrzehnten verstärkt unter Aspekten der Schauspielmusik einerseits sowie andererseits in den Dimensionen des Chorischen, Rhythmischen und Musikalisierten als Gegenstand aufgegriffen. Es ist insbesondere auf den aktuellen Sammelband Theater mit Musik, herausgegeben von Ursula Kramer, hinzuweisen, der sich grundlegend mit der Geschichte der Schauspielmusik befasst. Sowohl von der Musikwissenschaft als auch von der Theaterwissenschaft lange Zeit vernachlässigt, stellt die Schauspielmusik einen Sonderbereich dar, der von beiden Disziplinen nicht als ein ihnen zugehöriger Gegenstand eingeschätzt worden ist. Zudem wird die Forschung der Schauspielmusik durch die historische Quellenlage erschwert, denn Schauspielmusiken wurden aufgrund ihres häufig als ›minderwertig‹ eingeschätzten Status meist nicht oder nur sporadisch und wenn, dann nicht systematisch

theater (1770–1933), Tübingen 2001; Karl-Heinz Göttert: Geschichte der Stimme, München 1998. Des Weiteren ist bezüglich einzelner Aufsätze zur Stimme im Theater auf die Publikationen von Miriam Dreysse, Helga Finter, Hans-Thies Lehmann, Petra Maria Meyer und Patrick Primavesi hinzuweisen. Vgl. darüber hinaus die Publikationen zur Stimme mit spezifisch medienwissenschaftlicher und philosophischer Ausrichtung Mladen Dolar: His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme, Frankfurt a.M. 2007 [Original: O glasu, Ljubljana 2003]; Alice Lagaay: »Züge und Entzüge der Stimme in der Philosophie«, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München 2004, S. 293-306; Brigitte Felderer (Hg.), Phonorama. Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium, Berlin 2004; Cornelia Epping-Jäger/Erika Linz (Hg.), Medien/Stimmen, Köln 2003; Friedrich Kittler/Thomas Macho/Sigrid Weigel (Hg.), Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Medien- und Kulturgeschichte der Stimme, Berlin 2002. 63 Vgl. Kolesch: »Ästhetik der Präsenz: Theater-Stimmen« (2001), S. 260. 64 Doris Kolesch: »Die Spur der Stimme. Überlegungen zu einer performativen Ästhetik«, in: Epping-Jäger/Linz (Hg.), Medien/Stimmen, S. 267-281, hier S. 272.

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archiviert und dokumentiert.65 Einzelne Theater stellen in diesem Kontext die Ausnahme dar, und so lassen sich über diese Einzelstudien Erkenntnisse über die historische Verwendung und Konzeption von Musik im Schauspiel gewinnen. Insbesondere die Analysen von Detlef Altenburg sind herauszustellen, insofern sie – neben dem Schwerpunkt der Schauspielmusikanalysen bezogen auf das 19. Jahrhundert – einen systematischen Überblick der historischen Funktionen von Schauspielmusik geben und sich vor diesem Hintergrund die gegenwärtigen Praktiken und Ästhetiken abheben und differenzieren lassen.66 Hier schließen die Studien von David Roesner zu Musik und Musikalisierung im Theater an, welche die im postdramatischen Gegenwartstheater festzustellende Strukturierung und Wirkungsweise von Theater im Sinne musikalischer Prinzipien verdeutlichen und unterstreichen. 67 In Bezug auf Inszenierungen u. a. von Einar Schleef, Christoph Marthaler, Robert Wilson und Heiner Goebbels verdeutlicht

65 Vgl. Ursula Kramer: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Theater mit Musik. 400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater. Bedingungen – Strategien – Wahrnehmungen, Bielefeld 2014, S. 9-16, hier insbesondere S. 10. 66 Vgl. Detlef Altenburg/Beate A. Schmidt (Hg.), Musik und Theater um 1800. Konzeptionen, Aufführungspraxis, Rezeption, Sinzig 2012; Klang zu Gang. Gedanken zur Musik in heutigen Theaterformen, hg. v. Bregenzer Festspiele, Berlin 2009; Detlef Altenburg: »Von Shakespeares Geistern zu den Chören des antiken Dramas. Goethes ›Faust‹ und seine Musikszenen«, in: Klaus Manger (Hg.), Goethe und die Weltkultur, Heidelberg 2003, S. 331-364; ders.: »Zur dramaturgischen Funktion der Musik in Schillers ›Wilhelm Tell‹«, in: Sabine Doering/Philipp Riedl (Hg.), Resonanzen. Festschrift für Hans Joachim Kreutzer. Würzburg 2000, S. 171-189; ders./Lorenz Jensen: »Schauspielmusik«, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil 8, Kassel u. a. 1998, Sp. 1035-1049. 67 Vgl. David Roesner: Musicality in Theatre. Music as Model, Method and Metaphor in Theatre Making, Ashgate, 2014; ders.: »Musicality as a Paradigm for the Theatre – a kind of Manifesto«, in: Studies in Musical Theatre 4 (3) 2010, S. 293-306; ders.: »Musikalisches Theater – Szenische Musik«, in: Anno Mungen (Hg.), Mitten im Leben. Musiktheater von der Oper bis zur Everyday-Performance mit Musik, Würzburg 2010, S. 193-211; ders.: »The Politics of the Polyphony of Performance. Musicalization in Contemporary German Theatre«, in: Contemporary Theatre Review 18 (1) 2008, S. 4455; ders.: »Musikalische Spiel-Räume«, in: ders./Geesche Wartemann/Volker Wortmann (Hg.), Szenische Orte – Mediale Räume, Hildesheim u. a. 2005, S. 129-147; ders.: »Musik mit den ›Mitteln der Bühne‹ – Aufführungsanalyse mit den Mitteln der Musik«, in: Hajo Kurzenberger/Annemarie Matzke (Hg.), TheorieTheaterPraxis, Berlin 2004, S. 107-116; ders.: Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson, Diss., Tübingen 2003.

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Roesner die Musikalisierung des Theaters im Sinne einer Strukturierung und Rhythmisierung des Dargestellten. In diesem Kontext ist anzumerken, dass das Gegenwartstheater von einer Durchmischung der Formen und einem Aufbrechen traditioneller Konventionen der Darstellungs- und Aufführungspraxis geprägt ist, die sich u. a. durch eine Verbindung von Elementen des Sprech-, Musik- und Tanztheaters auszeichnet. Zu Geräuschen im Theater ist auffallend wenig publiziert. Offenbar wird dieses Phänomen in seiner ästhetischen Dimension wenig ernst genommen. Ebenso wird die historische Forschung, wie schon in Bezug auf die Schauspielmusik, durch die problematische Quellenlage erschwert. Über Bezüge auf musikwissenschaftliche Darstellungen der Materialerweiterung im 20. Jahrhundert, in deren Kontext Geräusche sowie die Anerkennung der Geräuschhaftigkeit als ästhetische Qualität Eingang in den Bereich der Musik und die Musikwissenschaft gefunden haben, ließen sich möglicherweise Parallelen für die Theatergeschichte aufweisen. Der umfassende Band Unlaute: Noise/Geräusch in Kultur, Medien und Wissenschaften seit 1900 der Herausgeberinnen Sylvia Mieszkowski und Sigrid Nieberle bezieht sich zwar nicht explizit auf Geräusche im Theater, doch stellt er die erste deutschsprachige Publikation zu diesem aktuell weithin diskutierten Themengebiet dar. Unter dem Stichwort noise ist – vorrangig im angloamerikanischen Raum – in den letzten fünf Jahren eine Vielzahl an Veröffentlichungen erschienen, die sich sowohl mit dem konkreten Geräusch in seiner funktionalen und ästhetischen Wirksamkeit als auch mit Lärm als sozialem Anzeichen von Gemeinschaft und als Störphänomen sowie mit noise als allgemeiner Metapher für alles Störende, Unbestimmbare, Hereinbrechende, Undisziplinierte beschäftigen. 68 Diese Publikationen sind insofern relevant, als dass über sie zu verdeutlichen ist, dass und inwiefern Aufmerksamkeitsdynamiken mit historisch und kulturell geprägten Konzeptionen des auditiv Legitimen und Unerwünschten sowie Ordnungen des ›(Zu-)Hörbaren‹ oder, im Gegenteil dazu, des möglichst ›Zu-Überhörenden‹ verknüpft sind. Zum Sound im Theater finden sich ebenfalls nur wenige Publikationen. Jüngst erschienen ist der Sammelband Sound und Performance. Positionen, Methoden, Analysen, die von Wolf-Dieter Ernst, Anno Mungen, Nora Niethammer und Berenika Szymanski-Düll herausgegeben wird, in dem eine Auseinandersetzung mit dem Begriff Sound im Kontext des Theaters vorgenommen wird. Darüber hinaus

68 Vgl. u. a. David Hendy: Noise. A Human History of Sound and Listening, London 2013; Greg Hainge: Noise Matters: Towards an Ontology of Noise, London u. a. 2013; Mike Goldsmith: Discord. The Story of Noise, Oxford 2012; Michael Goddard/Benjamin Halligan/Paul Hegarty (Hg.), Reverberations: The Philosophy, Aesthetics and Politics of Noise, London/New York 2012; Hillel Schwartz: Making Noise – From Babel to the Big Bang and Beyond, New York 2011; Bart Kosko: Noise, New York u. a. 2006.

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finden sich einzelne Beiträge in dem von Lynne Kendrick und David Roesner 2011 herausgegebenen Band Theatre Noise. The Sound of Performance, so z. B. von John Collins, sowie in Ross Browns Studie Sound. A Reader in Theatre Practice entsprechende Thematisierungen.69 Zur Stille und zum Schweigen liegen aktuelle, grundlegende theaterwissenschaftliche Forschungen vor – so setzt sich Hans-Friedrich Bormann mit den Phänomenen Stille, Leere und Langeweile als ästhetische Erfahrungen im Theater auseinander. In seinem prägnanten Plädoyer Für ein Theater der Langeweile fasst Bormann das Potential dieser allgemein eher negativ bewerteten Zustände als Möglichkeit, wie »vermeintlich sinn-lose, un-sinnige Gedanken, die sich der Ökonomie von Frage und Antwort, von Angebot und Nachfrage entziehen [...] zur Ankündigung eines anderen, zukünftigen Sinns werden«70 können. Dieser Gedanke ist hinsichtlich der Frage nach der Produktivität von – zumeist negativ bestimmten – ›Ablenkungen‹, ›Störungen‹, ›Irritationen‹ u. a., die sich im Theater auch als ein ZuWenig, als Leere und Unterforderung manifestieren können, für die folgenden Überlegungen zentral. Mit anderen Momenten der produktiven Zersetzung, Abwesenheit und Negativität beschäftigen sich Regine Elzenheimer, Gerald Siegmund und André Eiermann durch Hervorhebung von Stille, Absenz und Nicht-Spektakularität.71 In der Kulturwissenschaft und -geschichte ist, wie bereits erwähnt, auf eine im deutschsprachigen wie internationalen Raum gleichermaßen aktuelle, vor allem seit den Nullerjahren stark anwachsende Forschung zur Kultur und Geschichte des Auditiven hinzuweisen. Es wird ein Begriff von auditiver Kultur entwickelt, durch den das Auditive in seiner Relevanz historisch und gegenwärtig hervorgehoben, diffe-

69 Vgl. Lynne Kendrick/David Roesner (Hg.), Theatre Noise. The Sound of Performance, Newcastle upon Tyne 2011; Ross Brown: Sound. A Reader in Theatre Practice, Basingstoke 2010. 70 Hans-Friedrich Bohrmann: »Für ein Theater der Langeweile«, in: dramaturgie. Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft 2/2007, S. 41. Vgl. ders.: »Unterwegs zur Aufmerksamkeit: Erzählen und (Zu-)Hören in John Cages ›Indeterminacy‹ und ›Variations VIII‹«, in: Holger Schulze/Christoph Wulf (Hg.), Paragrana 16 (2) 2007 (Klanganthropologie. Performativität – Imagination – Narration), S. 74-86. 71 Vgl. Regine Elzenheimer: Pause. Schweigen. Stille. Dramaturgien der Abwesenheit im postdramatischen Musik-Theater, Würzburg 2008; Marcel Cobussen: »Ethics and/in/as Silence«, in: ephemera 3(4) 2003, S. 277-285; Performance Research 4 (3) 1999 (On Silence); Claudia Benthien (Hg.), Barockes Schweigen. Rhetorik und Performativität des Sprachlosen im 17. Jahrhundert, München 2006.

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renziert und in seinem Verhältnis zur Dominanz des Visuellen neu verortet wird.72 Zudem ist auf eine im Kontext der Medien- und Musikwissenschaft sowie den Sound Studies entstehende Theorie des Sounds und des Sonischen hinzuweisen, die grundlegend im Journal of Sonic Studies sowie in den Sammelbänden der an der Berliner Universität der Künste verorteten Sound Studies und im von Harro Segeberg und Frank Schätzlein 2005 herausgegebenen Band Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien entfaltet wird.73 An der Schnittstelle zwischen Aufmerksamkeit und Auditivem gelagert sind darüber hinaus in den letzten Jahren wesentliche philosophische und phänomenologische Auseinandersetzungen zum Hören erschienen. Auf die Publikationen von Don Ihde, Daniel Schmicking und Peter Szendy ist in besonderem Maße einzuge-

72 Daniel Morat (Hg.), Sounds of Modern History. Auditory Cultures in 19th- and 20thCentury Europe, New York/Oxford 2014; Axel Volmar/Jens Schröter (Hg.), Auditive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung, Bielefeld 2013; Daniel Morat: »Der Klang der Zeitgeschichte. Eine Einleitung«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8 (2) 2011, S. 172-177; Diedrich Diederichsen/Constanze Ruhm (Hg.), Immediacy and Non-Simultaneity. Utopia of Sound, Wien 2010; Veit Erlmann: Reason and Resonance. A History of Modern Aurality, New York 2010; Petra Maria Meyer (Hg.), Acoustic Turn, München 2008; Peter Szendy: Sur Écoute. Esthétique de l’Espionnage, Paris 2007; Volker Bernius u. a. (Hg.), Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören, Göttingen 2006; Veit Erlmann (Hg.), Hearing Cultures. Essays on Sound, Listening and Modernity, Oxford/New York 2005; Michael Bull/ Les Back (Hg.), The Auditory Culture Reader, Oxford/New York 2003; Mark Smith (Hg.), Hearing History. A Reader, Athen/London 2004; Doris Kolesch: »Unerhörte Herausforderungen. Über die Transformation einer Kultur des Auges«, in: Theater der Zeit 10/2004, S. 7-9; Sabine Sanio: »Aspekte einer Theorie der auditiven Kultur. Ästhetische Praxis zwischen Kunst und Wissenschaft«, in: kunsttexte.de 4/2010; Jonathan Sterne: The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham/London 2003; Ganz Ohr. Interdisziplinäre Aspekte des Zuhörens, hg. v. Zuhören e. V., Göttingen 2002; Welt auf tönernen Füssen. Die Töne und das Hören, hg. v. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH, Göttingen 1994; Robert Kuhn/Bernd Kreutz (Hg.), Das Buch vom Hören, Freiburg i. Br. 1991. 73 Vgl. Harro Segeberg/Frank Schätzlein (Hg.), Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg 2005. Von den Bänden der Sound Studies-Reihe bei Transcript sind im Kontext der vorliegenden Arbeit vor allem hervorzuheben: Holger Schulze (Hg.), Gespür – Empfindung – Kleine Wahrnehmungen. Klanganthropologische Studien, Bielefeld 2012; Georg Spehr (Hg.), Funktionale Klänge. Hörbare Daten, klingende Geräte und gestaltete Hörerfahrungen, Bielefeld 2009; Holger Schulze (Hg.), Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld 2008.

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hen, da sie den theoretischen Rahmen dieser Arbeit hinsichtlich des Verständnisses des Auditiven wesentlich prägen.74

      Im folgenden zweiten Kapitel Aufmerksamkeit in der Phänomenologie: Sphärische Differenzdynamik wird eine Lektüre der zentralen phänomenologischen Bestimmungen der Aufmerksamkeit vollzogen und mit den äquivalenten phänomenologischen Theorien des Auditiven verbunden, um eine theoretische Fundierung und Kontextualisierung dieser Arbeit herzustellen. Das Kapitel zielt auf die Erarbeitung eines spezifischen und differenzierten Konzepts auditiver Aufmerksamkeit sowie eines begrifflichen Instrumentariums, das in den folgenden Analysen der Hörerfahrungen in Theateraufführungen einzubringen und produktiv zu machen ist. Das Potential des erarbeiteten Begriffs auditiver Aufmerksamkeit wird im dritten Kapitel Auditive Aufmerksamkeit und Theaterwissenschaft: Eine Geschichte des Überhörens für die theaterhistoriografische Arbeit aufgezeigt und damit die Relevanz sowohl des Hörens für das Theater als auch der erforderlichen Differenzierung verschiedener Hörweisen in ihrer Historizität und ihrem Zusammenhang mit der jeweiligen Theaterpraxis sowie der Ästhetik im Kontext der Theaterwissenschaft unterstrichen. Entgegen der festzustellenden Vernachlässigung der Dimension des Auditiven seitens der Theaterhistoriografie ist nicht nur die Bedeutung des Hörens, sondern vor allem auch der auditiven Aufmerksamkeit als einer Ausrichtung der Hörenden aufzuzeigen. Bezogen auf das hinsichtlich seiner hervorragenden akustischen Verhältnisse und der Relevanz des Auditiven seitens der Theaterwissenschaft zumeist herausgestellte antike griechische Theater wird der Frage nachgegangen, ob und inwiefern die Berücksichtigung des Hörens in der Theatergeschichte zu einem Erkenntnisgewinn führen kann. Grundlegende These dieser Arbeit im Kontext dieses Kapitels ist, dass sich – im Ausgang von der Historizität des Hörens im Theater – Verschiebungen und Verlagerungen innerhalb der auditiven Wahrnehmung kennzeichnen lassen, die anhand der Perspektivierung des Gegenstands durch den differenzierenden Begriff der auditiven Aufmerksamkeit erkennbar und im Gegensatz zu einer Ausrichtung auf Visuelles herausgestellt werden können.

74 Vgl. Don Ihde: Listening and Voice. Phenomenologies of Sound, 2. Aufl., Albany, NY 2007; Daniel Schmicking: Hören und Klang. Empirisch phänomenologische Untersuchungen, Würzburg 2003; Jean-Luc Nancy: Zum Gehör, Zürich/Berlin 2010 [Original: À l‹écoute, Paris 2002]; Peter Szendy: Écoute. Une Histoire de nos Oreilles, Paris 2001; Gemma Corradi Fiumara: The Other Side of Language. A Philosophy of Listening, London/New York 1990.

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Nach der Konstitution eines Verständnisses von auditiver Aufmerksamkeit und der Herausbildung entsprechender analytischer Begriffe wendet sich die vorliegende Arbeit im vierten Kapitel Vom Hören auf das Hören. Auditive Aufmerksamkeit im Gegenwartstheater der Theaterpraxis zu. In den drei umfangreichen Kapiteln werden die verschiedenen Hörweisen, die sich im Theater erfahren lassen, beschreibend nachvollzogen, in ihren Besonderheiten dargestellt und detailliert analysiert. Um auf diese Bezüge und Verhandlungen eingehen zu können, sind die drei Teile des vierten Kapitels an den sich aus den jeweiligen Diskursen zum Hören von Sprache, von Musik und von Geräuschen ergebenden Ideal- und Normvorstellungen des Zuhörens, des strukturellen Hörens und des Signale-Hörens ausgerichtet. Die Beschäftigung mit den unterschiedlichen Hörweisen wird sich aber weniger an einer Einteilung nach akustischen Phänomenen orientieren, insofern diese sich im Theater selten wirklich trennen lassen. Vielmehr werden die drei Teile sich an den mit den Höridealen verbundenen zentralen Dimensionen der Konzentration, des Verstehens und der Relevanz im Sinne von Leitmotiven ausrichten, um die jeweils relevanten Hörweisen und Aufmerksamkeitsdynamiken zu differenzieren. Die grundlegende These des vierten Kapitels ist, dass sich im Theater Hörweisen erfahren lassen, die sich mit den drei Idealen auseinandersetzen, indem diese übersteigert, unterlaufen, in einen anderen Kontext versetzt oder in einzelnen Dimensionen verstärkt werden, so dass es zu Verschiebungen und Verlagerungen innerhalb des idealen Gefüges kommt. Ziel ist es, die Vielfalt alternativer Hörweisen durch Analyse der einzelnen Verschiebungen gegenüber den Idealen zu veranschaulichen sowie der Erfassung der Hörweisen eine Systematik zu verleihen, an der sich grundsätzliche Dimensionen und Wirkungsweisen der auditiven Aufmerksamkeit erkennen lassen. Im letzten fünften Kapitel Resümee und Ausblick: Performativität der Aufmerksamkeit werden abschließend die Ergebnisse aller vorherigen und insbesondere der drei im Rahmen des vierten Kapitels erarbeiteten Hörweisen mitsamt ihren Implikationen zusammengefasst und im Rahmen eines Ausblicks im übergeordneten Zusammenhang von Subjektivität, Performativität, Materialität und Leiblichkeit verortet. Im Ausblick werden des Weiteren Anschlusspunkte für die mögliche weitere Forschungsarbeit aufgezeigt.

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Die folgende Darlegung verschiedener phänomenologischer Konzeptionen richtet sich sowohl nach dem chronologischen Verlauf der Entstehung der philosophischen Theorien als auch nach inhaltlichen Zusammenhängen. So steht Edmund Husserls Konzeption der Aufmerksamkeit für sich, während Aron Gurwitschs und P. Sven Arvidsons Philosophien der Aufmerksamkeit in einem Abschnitt zusammengefasst werden, da mir die zwischen ihnen aufzuzeigenden Bezüge relevant erscheinen. Auch zwischen Bernhard Waldenfels und Natalie Depraz sind viele Überschneidungen festzustellen, weshalb ihre Theorien ebenfalls in einem Abschnitt gemeinsam dargelegt werden. Die getroffene Auswahl begründet sich mit ihrer Relevanz im Kontext des zu erarbeitenden Aufmerksamkeitsbegriffs.

            )        Husserl bestimmt Aufmerksamkeit als die »merklich machende Kraft« 1 des Bewusstseins, welche sich maßgeblich durch das Zusammenwirken zweier Prozesse konstituiert, die zwar miteinander verwandt, aber doch in Nuancen zu unterscheiden sind: einerseits durch ein intendierendes Meinen im Sinne des identifizierenden Bemerkens beispielsweise eines bestimmten Objekts oder auch einer spezifischen Qualität dieses Gegenstandes, andererseits als Interesse, das durch Erkenntnisgerichtetheit und eine rhythmische Bewegung zwischen Spannung und Lösung charakterisiert ist.2 Im ›Meinen‹ impliziert das Aufmerken über die bloße Auffassung 1

Edmund Husserl: Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Texte aus dem Nachlass (18931912), Band XXXVIII der Husserliana, Gesammelte Werke, hg. v. Thomas Vongehr/ Regula Giuliani, Dordrecht 2004, §24, S. 101. Im Folgenden beziehe ich mich bei Zitaten auf die Angabe des Husserliana-Bandes mit ›Hua 38‹.

2

Vgl. ebd., §28, S. 119.

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hinausgehend ein ›Erfassen-Wollen‹, das mit der Klarheit und Deutlichkeit des Gegenstandes verbunden ist. »Das Beachtete ist das speziell Gemeinte im Gegensatz zum Unbeachteten.«3 Durch das ›speziell Gemeint-Sein‹ wird das Betreffende von seiner Umgebung, die nun zum Hintergrund wird, abgehoben.4 »Aufmerksam im prägnantesten Sinn sind wir auf dasjenige, womit wir speziell, in positiv auszeichnender Weise beschäftigt sind, auf das Übrige sind wir unaufmerksam. Aber Unaufmerksamkeit kann, wie wir sehen, etwas bezeichnen, was gattungsmäßig noch in die Sphäre des Interesses gehört, als vager Interessenhintergrund.«5

Mit dem Rayon des Bemerkens richtet sich das Subjekt auf die Dinge im Raum oder auf bestimmte Bewusstseinsinhalte und -prozesse.6 Der Rayon des Bemerkens, der an anderer Stelle auch als Blickstrahl bezeichnet wird, ist als eine erst sekundär hinzutretende Komponente der Wahrnehmung aufzufassen, durch welche die zuvor ›begrifflose‹ Wahrnehmung sich nun »partiell und meist sehr unvollkommen in ein klares Anschauen verwandelt.«7 Durch diesen wird in das Feld der Wahrnehmung, das nach Husserl über das bewusst Bemerkte hinausgeht, indem es auch Mitbemerktes, implizit Bemerktes und Übersehenes bzw. Überhörtes einschließt, eine Gliederung eingebracht.8 Meinende Aufmerksamkeit lässt sich innerhalb eines jeweils individuellen Blickfelds hin- und herbewegen. 9 Dabei stellt das Blickfeld kein unendliches, sondern ein durch räumliche, zeitliche und körperliche Horizonte umgrenztes Gebiet dar.10 Es ist definiert durch die Möglichkeit der Wahrnehmbar-

3

Ebd., §18, S. 73.

4

Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Hamburg 2009 [text- und seitengleich nach der kritischen Edition in Husserliana III/1, hg. v. Karl Schuhmann, Den Haag 1976; zuerst erschienen 1913 im Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Band 1, Teil 1, S. 1-323], §35, S. 71 ff. Im Folgenden beziehe ich mich bei Zitaten auf die Angabe des Husserliana-Bandes mit ›Hua 3/1‹. Vgl. Hua 38, §18, S. 74 zum ›bevorzugenden Meinen‹.

5 6

Hua 38, §28, S. 116 und vgl. auch zum ›dunklen Meinen‹ §29, S. 122. Husserl spricht diesbezüglich synonym auch vom Ichstrahl, vom geistigen Blick, vom achtenden Blick, vom erfassenden und theoretisch forschenden Blick. Vgl. Hua 3/1, §36, §45, §50, §92 u. a.

7

Hua 3/1, §27, S. 57 und vgl. auch §37, S. 75.

8

Vgl. Hua 38, §21, S. 89 ff.

9

Vgl. ebd., §21, S. 91.

10 Vgl. Hua 3/1, §45, S. 95 ff. und zum ›Zeithorizont‹ §81, S. 182. Es ist durch das Feld der Sicht- und Hörbarkeit wie durch die Dimensionen der erlebten Zeitlichkeit begrenzt, die sich aus den retentionalen und protentionalen Horizonten des ›Vorhin‹, des ›Nachher‹

        

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keit, nicht durch das tatsächlich Wahrgenommene zu einem bestimmten Zeitpunkt. Das Hintergründige kann durch eine Verschiebung der Aufmerksamkeit bzw. ihres erfassenden Blickstrahls jederzeit zu Vordergründigem umgewandelt werden. Das Herausheben eines Einzelnen vor einem umfassenden Hintergrund bezeichnet Husserl als ein Für-sich-Meinen, während er bezüglich des auf eine Vielheit, beispielsweise auf die Sterne am Nachthimmel, zielenden Meinens von einem einheitlichen, verknüpfenden Blick, der Einheit einer Vielheit, ausgeht.11 In diesem Fall verläuft das Erfassen simultan und augenblicklich, ›in einem Puls‹, doch Husserl weist auch auf die Möglichkeit der sukzessiven Verbindung durch Synthese hin, welche die grundlegende Weise darstellt, in der Wahrnehmung vollzogen wird. Von ihr ergeben sich nur partiell Ausnahmen, wie beispielsweise bei der Wahrnehmung eines Blitzes. 12 Die Möglichkeit solcher Verlagerungen erlaubt es, von Aufmerksamkeit als einer Dynamik auszugehen und begründet zugleich eine Vielzahl verschiedener Aufmerksamkeitsmodi.13 Zu diesen zählt Husserl beispielsweise die »verschiedenen spezifischen Weisen des Aufmerkens, Nebenbei-Bemerkens, Nicht-Bemerkens«14. Bezogen auf die Wahrnehmung eines Gegenstandes bedeutet eine Verschiebung innerhalb des Aufmerksamkeitsgefüges sogleich ein vollkommen anderes Bewusstseinserlebnis: »Der Gegenstand für sich ist nicht genau derselbe wie der Gegenstand im Zusammenhang.«15 Insofern hängt die Art und Weise, wie die Umgebung erfahren wird, nach Husserl grundsätzlich mit den sich verschiebenden Aufmerksamkeitsdynamiken und Modi des Meinens zusammen. Neben dem Meinen ist nach Husserl des Weiteren die Aufmerksamkeitsdimension des »positiv heraushebenden, sich konzentrierenden Interesses« relevant.16 Das Interesse lasse sich zwar als meinendes Erlebnis bestimmen, doch über das Meinen hinaus handele es sich um einen mit Gefühlen und Erwartungen verknüpften Pro-

und des ›gleichzeitig Gewesen‹ zusammensetzt. Vgl. Hua 3/1, §82, S. 184 f. Unter Retentionen versteht Husserl das noch als Spur bewusste, aber nach und nach zurücksinkende Vergangene, unter Protentionen die in der Empfindung von Gegenwart enthaltenen Erwartungen des Zukünftigen. Vgl. Edmund Husserl: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, hg. v. M. Heidegger, 3. Aufl., unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. 1928, Husserliana X, Tübingen 2000, S. 385 und S. 396. Im Folgenden beziehe ich mich bei Zitaten auf die Angabe des Husserliana-Bandes mit ›Hua 10‹. 11 Hua 38, §17, S. 71. 12 Vgl. ebd., §12, S. 44. 13 Vgl. Hua 3/1, §92, S. 213. 14 Ebd., §116, S. 268. 15 Hua 38, §16, S. 66. 16 Ebd., §28, S. 114, Fußnote 2.

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zess, der zudem Erfüllung anstrebt.17 Das Streben des Interesses richte sich auf die adäquate Erfassung eines Gegenstandes.18 In der »Lust an dem Rhythmus des sich spannenden und zugleich lösenden Interesses« 19 wird das Verhältnis zwischen Gerichtet-Sein und Erfüllung als kontinuierlich sich ergebende, rhythmisch ablaufende Korrelation von Spannungs- und Lösungszuständen bestimmt. Das aufmerkende Interesse werde durch speziell oder neuartig wirkende Eigenschaften in besonders starkem Maße angezogen. 20 Sind Phänomene demgegenüber bereits bekannt und hat sich eine Vertrautheit zwischen Subjekt und Gegenständen ergeben, dann reduziere sich die Intensität des Interesses, und gesetzt den Fall, es tun sich keine neuen und unbekannten Gegenstände auf, könne sich auch die Empfindung von Langeweile einstellen, welche mit Gefühlen der Unlust einhergehe. 21 Wie aus den vorangehenden Abschnitten zum Meinen und zum Interesse hervorgeht, bestimmt Husserl Aufmerksamkeit als dynamisch. Auf vielfältige Weise vollziehen sich Verschiebungen, Wechsel, Rhythmen und Bewegungen der Aufmerksamkeit. Ihre Prozessualität und Dynamik ist nur schwer durch Begriffe zu erfassen, da sie sich in ihrer Flüchtigkeit, Vielfalt und Variabilität einer Definition entzieht.22 Husserl begegnet dieser Herausforderung durch die Entfaltung vier verschiedener Spektren, in welchen sich die Dynamik der Aufmerksamkeit abbilden und ausdrücken lässt: Konzentration, Klarheit, Intensität und Negation. Verschiebungen innerhalb eines Spektrums bewirkten zugleich immer auch Veränderungen in den anderen Bereichen, die als zusammenhängend aufzufassen seien. Mit dem Spektrum der Konzentration bezieht sich Husserl auf Prozesse des Verdichtens und Erweiterns des vom Subjekt ausgehenden Rayons der Aufmerksamkeit.23 Der Prozess des Bemerkens erhalte durch erhöhte Konzentration mehr Klarheit und Deutlichkeit.24 Vollkommene Verdichtung sei jedoch nie gegeben – immer fließe bis zu einem gewissem Grad auch den Komponenten des Mitbemerkten und in noch kleinerem Maß auch dem im Umfeld gegebenen Unbemerkten Aufmerksamkeit zu. Hintergründige Bereiche blieben im Bewusstsein immer schwach präsent. Je nach Enge oder Weite umfasse der ›Strahl‹ weniger oder mehr Gegenstände, was sich wiederum auf die Intensität und Klarheit der Aufmerksamkeit auswirke. Ist der Radius ausgedehnt, verteilt sich nach Husserl die Aufmerk-

17 Vgl. ebd., §28, S. 118. 18 Vgl. ebd., §26, S. 109 f. 19 Ebd., §25, S. 108 und §28, S. 114 f. 20 Vgl. ebd., §25, S. 107. 21 Vgl. ebd., §25, S. 108. 22 Vgl. ebd., §27, S. 113. 23 Vgl. Hua 3/1, §92, S. 214. 24 Vgl. Hua 38, §22, S. 97.

        

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samkeit auf mehrere Gegenstände und ihr möglicher Intensitätsgrad verringert sich. Durch den Zusammenhang mit Intensität wirke sich die Abnahme der Konzentration in der Reduktion von Schärfe und Einzelheiten aus, während die Zunahme an Konzentration einen größeren Detailreichtum der Erscheinungen hervorbringt.25 Das Klarheitsspektrum verortet sich nach Husserl zwischen absoluter Klarheit und vollkommener Unklarheit, zwischen denen verschiedene Formen der ›Verworrenheit‹ oder ›Verschmolzenheit‹ bestehen. Auch handelt es sich um eine Klarheit, die sich auf den Akt der Hinwendung selbst bezieht, diese also im und für den Wahrnehmungsakt selbst zu generieren sucht. Husserl führt anhand der Beispiele eines verworrenen Gedankens oder einer fast verblassten Erinnerung aus, dass diese durch das Gerichtetsein der Aufmerksamkeit auf sie zu klaren und deutlichen Wahrnehmungen gewandelt, ja förmlich ›gemacht‹ werden können. 26 Als Nullpunkt der Klarheitsskala definiert Husserl nicht das Unmerkliche, das gar nicht bemerkt werden kann, da es außerhalb der Reichweite der Wahrnehmung liegt, sondern das ›Unbemerkte‹, das durch seinen ambivalenten Status des aktuell nicht Wahrgenommenen, aber potentiell Beachtbaren, zu kennzeichnen ist.27 Klar sei das Wahrgenommene, wenn es gegenüber seiner Umgebung durch das Meinen abgegrenzt und vom Interesse hervorgehoben ist, doch das Ideal vollkommener Klarheit lasse sich nicht erreichen.28 Vielmehr ergebe sich im Verlauf der erfassenden Klärung ein Wendepunkt, an dem die Klarheit wieder abnehme.29 Entscheidend ist, dass demnach auch Unklareres zum Bemerkten zu zählen sei. Weniger als Produzent von Klarheit per se, lasse sich Aufmerksamkeit demnach als »Quelle von Klarheitsunterschieden«30 einschätzen. Intensität ist eine Qualität, welche von Husserl der Aufmerksamkeitsdimension des Interesses zugeordnet wird. »Von einem brennenden Interesse sprechen wir oft genug, von einer brennenden Meinung zu reden, gibt keinen Sinn. Das Meinen, das

25 Vgl. ebd., §23, S. 99. 26 Vgl. Hua 3/1, §123, S. 284. Vgl. auch Hua 38, §12, S. 48: »Es erwächst so das phänomenologisch eigenartige Erlebnis fühlbarer Steigerung in gewissen ›Wahrnehmungsrichtungen‹ und mit Beziehung auf gewisse besonders beachtete Seiten oder Momente des Objektes.« 27 Vgl. Hua 38, §22, S. 98. 28 Vgl. ebd., §29, S. 121. 29 Vgl. ebd., §14, S. 53. Husserl bezeichnet diesen Punkt als ›Maximalpunkt der perzeptiven Klarheit‹ und bezieht sich dabei vor allem auf das Beispiel der Kante einer Schachtel, die sich aus bestimmter Perspektive sehr klar, aus einer veränderten Blickposition heraus aber weniger deutlich erkennen lässt. 30 Ebd., §22, S. 97.

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für uns in Frage ist, hat kein Mehr und kein Minder.«31 Dieses ›Brennen‹ bezeichnet Husserl an anderer Stelle auch als ›Lebhaftigkeit‹.32 Eine Steigerung von Intensität werde durch das Neue, Unbekannte, Besondere bewirkt, während sich bei steter Bekanntheit, gar Vertrautheit, ein Gefühl der Unlust und der Langeweile einstellen könne. Intensitäten seien durch die Bewegungen des Interesses immer in Veränderung begriffen. »Wir sind bald lebhaft, bald minder lebhaft interessiert, aufmerksamer oder weniger aufmerksam.«33 Es gebe keinen Stillstand und keine Abwesenheit von Intensität – eine gewisse Regung sowie ein gewisses Interesse seien im Bewusstsein immer vorhanden. Einzige Ausnahme ist der Zustand des Schlafens, welchen Husserl dadurch charakterisiert, dass es in diesem Zustand »an jedem abgrenzenden Meinen, an jeder Apperzeption fehlt«34. Der Grad der Reizung und die Intensität der Intentionalität hingen eng zusammen, indem sie aufeinander einwirkten, doch verbände sie keine kausale Notwendigkeit – ein starker Reiz könne ignoriert werden, ein anderer Gegenstand trotz schwacher Reizung intensiv bemerkt werden.35 »Das Ich braucht sich einem starken Reiz nicht ganz hinzugeben, und es kann sich mit verschiedener Intensität in ihn einlassen.«36 Wenn Husserl vom möglichen Aufdrängen der Gegenstände spricht, betont er häufig die vom Subjekt noch zu gebende Hinwendung, durch welche es erst zu einer bewussten Auffassung dieser Gegenstände kommt. Zwar sei von bestimmten ›Merklichkeitsextremen‹ wie Blitzen oder Explosionen auszugehen, denen sich das wahrnehmende Subjekt kaum entziehen könne, doch bliebe immer noch ein gewisser Freiraum bestehen.37

31 Ebd., §28, S. 118. 32 Vgl. ebd., §23, S. 99 ff. Große Lebhaftigkeit bezieht sich auf die Qualität des intensiven Interesses, welches auf den Gegenstand gerichtet ist, der dadurch an Lebendigkeit gewinnt. Lebendigkeit wird durch Zuwendung der Aufmerksamkeit gesteigert, so dass die derart beachteten Gegenstände in ihrer Erscheinungsweise an Umfang und Detailreichtum zunehmen. 33 Ebd., §28, S. 115. 34 Ebd., §29, S. 121. 35 Vgl. ebd., §19, S. 82 f. 36 Vgl. Hua 3/1, §122, S. 283. 37 Vgl. Hua 38, §22, S. 93 f. Insbesondere hinsichtlich der Dimension von Aktivität und Passivität ist auf eine Schwerpunktverschiebung in Husserls Aufmerksamkeitskonzeption hinzuweisen, denn in den früheren Schriften, dem Vorlesungsmanuskript Wahrnehmung und Aufmerksamkeit (1893-1912) sowie den Ideen (1913), wird das wahrnehmende Subjekt eher als aktiv sich zuwendend konzeptualisiert. In den späteren Publikationen, z. B. in den Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten Analysen zur passiven Synthesis (19181926) sowie in Erfahrung und Urteil (1939) werden demgegenüber vorwiegend Prozesse

        

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Kontrollieren lasse sich das Herandrängen durch das Verstärken der Negation, eines vom Subjekt zu vollziehenden ›Absehens von‹ bestimmten auffällig werdenden Gegenständen.38 Unter dem ›Absehen von etwas‹ versteht Husserl »ein negatives Meinen, es hat die Eigenschaften all dieser Negativitäten: Es ist nicht eine bloße Privation, sondern ein positiver Akt, der aber in ausschließendem Gegensatz zu dem Korrelatum steht«39. Als negatives Meinen sei das Absehen von einem Gegenstand doch immer noch auf gewisse Weise eine Form des intentionalen Meinens, welche aber negiert wird. »Wir können im negierenden Bewußtsein leben, mit anderen Worten, die Negation ›vollziehen‹: der Blick des Ich ist dann gerichtet auf das, was Durchstreichung erfährt. Wir können den Blick aber auch als erfassenden auf das Durchstrichene als solches, auf das mit dem Strich Versehene richten: dann steht dieses als ein neues ›Objekt‹ da, und zwar da im schlichten doxischen Urmodus ›seiend‹.«40

Eine Sonderform dieses negativen Meinens zeige sich im Übersehen oder Überhören, bei denen das Wahrzunehmende »dem Wahrnehmen unmittelbar bereitliegen, [...] gewissermaßen gesehen und doch übersehen sein«41 müsse. Demnach könne etwas nur übersehen werden, wenn es dennoch paradoxerweise zugleich auf bestimmte Weise bemerkt werde. »Unbemerkt und zugleich merklich heißt auch übersehen (eventuell überhört).«42 Durch das Wirken der Aufmerksamkeit innerhalb der vier vorangehend ausgeführten Spektren von Konzentration, Klarheit, Intensität und Negation entsteht ein in sich strukturiertes und hierarchisiertes Gefüge, das Husserl mit dem Begriff des ›Merklichkeitsreliefs‹ oder des ›affektiven Reliefs‹ bezeichnet. Es stelle das – immer temporär bestehende – Resultat der Abhebungsprozesse dar, die sich mit den Aufmerksamkeitsverschiebungen vollziehen. Abgehoben sei ein Gegenstand von einem Hintergrund dann, wenn er sich durch einen Kontrast gegenüber den anderen im Bewusstsein enthaltenen Gegenständen auszeichne. Diese Abstände seien nicht nur als räumliche zu denken, sondern sie beruhten auf dem Grad von Merklichkeit der jeweiligen Phänomene. Die Organisation des Wahrnehmungsfeldes beschreibt

der Affektion und die grundsätzliche Rezeptivität des Subjekts hervorgehoben. Das Subjekt wird von Husserl jedoch nie als ausschließlich passiv dargestellt. 38 Vgl. ebd., §18, S. 77 f. 39 Ebd., §18, S. 78. 40 Hua 3/1, §106, S. 244. 41 Hua 38, §21, S. 89. 42 Ebd., §21, S. 92.

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Husserl als ein Merklichkeitsrelief, von dem die Wahrnehmenden umgeben sind.43 Im ›Unterschied der Lebendigkeit‹ zeige sich die Merklichkeit und Intensität der erscheinenden Gegenstände, die im Prozess der Affektion die Aufmerksamkeit des Subjekts erregen könnten.44 Weder sei dieser Prozess als ausschließlich passiv noch als rein aktiv zu begreifen, vielmehr sei von einem gegenseitigen Entgegenkommen zwischen affizierenden Gegenständen und subjektiver Hinwendung auszugehen. Genauer gesagt liege eine Wechselbeziehung vor, in der zunächst der Gegenstand das Subjekt reize, das grundlegend intentional auf die Gegenstände hin ausgerichtet sei und welches reagiere, indem es sich etwas Anderem zuwende oder aber diesem Reiz ›nachgebe‹. In letzterem Fall bestehe das Nachgeben zugleich in einem SichRichten auf den die Reizung ausübenden Gegenstand, so dass sich passive und aktive Dimensionen nicht eindeutig auseinanderhalten lassen und vielmehr als ineinander verflochten zu verstehen seien.

       

             Aron Gurwitsch setzt sich mit der Organisiertheit des Bewusstseins auseinander, im Bestreben »die Formen freizulegen, in denen sich die kopräsenten Gegebenheiten in ihrem gegenseitigen Bezug organisieren« 45 . Wesentliche Referenzen für sein Vorhaben stellen die Phänomenologie Edmund Husserls und die psychologische Bewusstseinstheorie von William James dar. Unter ›Bewusstseinsfeld‹ versteht Gurwitsch die zu einem bestimmten Zeitpunkt von einem Subjekt bewusst erfahrene »Gesamtheit der kopräsenten Gegebenheiten«46. Kopräsenz definiert er dabei auf besondere Weise nicht ausschließlich als die in der aktuellen Wahrnehmung ›simultan wahrgenommenen‹, sondern als ›simultan erlebte‹, welche die retentional oder protentional enthaltenen Gegebenheiten des Erinnerten oder Erwarteten einschließen. Die Zuwendung von Aufmerksamkeit wird als eine notwendige Bedingung von bewusster Wahrnehmung

43 Vgl. Husserl: Analysen zur passiven Synthesis, aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918-1926, Bd. XI der Husserliana, hg. v. M. Fleischer, Den Haag 1966, §35, S. 168. Im Folgenden verweise ich bei Zitaten auf diese Publikation mit ›Hua 11‹. 44 Vgl. Hua 11, §35, S. 167: »Das Null der Merklichkeit liegt in einer eventuell beträchtlichen Lebendigkeit des Bewußthabens, die aber keine besondere antwortende Tendenz im Ich erregt, bis zum Ichpol nicht vordringt.« 45 Aron Gurwitsch: Das Bewusstseinsfeld, übersetzt von Werner D. Fröhlich, Berlin/New York 1975 [im Original: Théorie du champ de la conscience, Paris 1957], S. 2. 46 Ebd., S. 2.

        

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dargestellt, da sie deren Organisation konstituiert. 47 Aufmerksamkeit wird von Gurwitsch zunächst in ihrer ausrichtenden Wirkung gekennzeichnet, insofern sie die bewusste Thematisierung eines bestimmten Gehalts hervorbringen kann: »Nennen wir Thema das, was durch den betreffenden Satz ausgedrückt wird. Es ist das, worauf wir uns gerade konzentrieren, wenn wir den betreffenden Satz mit Verständnis und Aufmerksamkeit hören oder lesen.«48 Demnach werde eine Sache zum Thema des Bewusstseins, wenn sie ›mit Verständnis und Aufmerksamkeit‹ aufgenommen werde. Dabei könne es Verschiebungen des Themas entweder auf Komponenten des thematischen Feldes oder auf Elemente des Randes geben, die dann jeweils zum neuen Thema würden.49 Mit dem Begriff der Organisiertheit der Wahrnehmung grenzt sich Gurwitsch von der traditionellen, dualistisch geprägten – auch bei Husserl und James gegebenen – Perspektive ab, welche von einer Zweiteilung zwischen einem ›reinen‹ Bewusstseinsstrom und den erst nachträglich ablaufenden strukturierenden Prozessen ausgeht.50 Gurwitschs Verständnis der Organisiertheit des Bewusstseins basiert demgegenüber auf der Annahme, dass jene als »autochthoner Zug des Bewußtseins«51 zu begreifen ist und nicht erst im Nachhinein zu einem zuvor ungeordneten Erlebnisstrom hinzukommt. »Ein Ton in einer Melodie ist wesentlich qualifiziert und bestimmt durch seine musikalische Bedeutsamkeit und besitzt diese nur in Verbindung mit anderen Tönen, das heißt in bezug auf die Melodie, der er angehört

47 Gurwitsch konzentrierte sich vor allem auf die Beschreibung des Bewusstseins und nicht in erster Linie auf das darin statthabende Wirken der Aufmerksamkeit, doch bringt er Aspekte ein, die von späteren Aufmerksamkeitstheorien zentral übernommen werden. Zudem lassen sich aus seinen Ausführungen wesentliche aufmerksamkeitsbezogene Kriterien und Prinzipien entnehmen, die für die vorliegende Frage relevant sind. Gurwitschs Bewusstseinstheorie geht von der Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung und Organisiertheit aus, insofern letztere durch das Wirken der Aufmerksamkeit vollzogen und konkrete Wahrnehmungen darin erkennbar werden. Aufmerksamkeit ist nach diesem nicht-dualistischen Verständnis kein zusätzlicher Prozess, sondern eine immanente Komponente des Bewusstseins und der Wahrnehmung. Verknüpft ist damit auch die Infragestellung der Existenz und Funktion einer ›selektiven Aufmerksamkeit‹. Denn dem Konzept der ›Aufmerksamkeitsselektion‹ inhäriert die Prämisse, dass zwischen einer bewusstseinsvorgängigen und einer späteren bewussten Dimension zu differenzieren ist, gegen die sich Gurwitsch explizit wendet. 48 Ebd., S. 258. 49 Vgl. ebd., S. 19. 50 Vgl. ebd., S. 36 f. und S. 76. 51 Ebd., S. 35.

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und zu deren Gestaltung er beiträgt.«52 Regeln der Nähe, der Ähnlichkeit, der Geschlossenheit und der guten Fortsetzung stellen wesentliche Organisationsmechanismen des Bewusstseins dar, die insbesondere von den Gestalttheoretikern formuliert worden sind und auf die Gurwitsch im Zusammenhang seiner These der grundlegenden und invarianten Organisiertheit des Bewusstseinsfeldes rekurriert.53 Das Bewusstseinsfeld sei durch drei verschiedene Bereiche strukturiert: Thema, thematisches Feld und Rand.54 Während Thema dasjenige bezeichnet, das sich, so Gurwitsch, »im ›Brennpunkt der Aufmerksamkeit‹ befindet«55, umfasst das thematische Feld die Faktoren, die zum jeweiligen Thema in einer Beziehung der Relevanz stehen. In diesem Sinne spricht Gurwitsch von der ›Einheit durch Relevanz‹, welche das thematische Feld zusammenhält. Der ›Rand‹ bestehe aus den Gegenständen, die zwar kopräsent, aber nicht thematisch zugehörig seien.56 Zu den Komponenten des Randes zählten sowohl Vorstellungen und Gedanken, die keinen sachlichen Bezug zum Thema aufweisen, als auch das Bewusstsein für die jeweilige Umgebung, für das Vergehen der Zeit und für die eigene Leiblichkeit, die sich im Spüren der eigenen Positionierung und Ausrichtung im Raum sowie der Befindlichkeit manifestieren.57 Gurwitsch beschreibt die Wahrnehmung der Hörenden als eine Handlungsentscheidung zwischen Nachgeben oder Abwehr, die den Wahrnehmenden im Moment des Hereinbrechens bewusst wird. Zumeist ist von ›Lenkung‹ und ›Richtungsgebung‹ die Rede, was impliziert, dass die Wahrnehmenden zumeist nicht von den Ereignissen und Dingen ihrer Umgebung ›angegangen‹ werden, sondern selbst entscheiden, welches Element der Umgebung in welchem Modus – z. B. intensiviert oder entspannt, vereinzelt oder gefüllt – dieser Inhalt wahrgenommen wird. Es bleibe den Wahrnehmenden überlassen und hänge ›gänzlich vom freien Willen‹ ab, ob eine Öffnung gegenüber dem auf Beachtung drängenden Äußeren vollzogen oder ob es abgewehrt werde, so dass die vorherige Thematisierung fortgesetzt werden könne und es zu keinem Themenwechsel komme. Dennoch gebe es Ausnahmen, denn vor allem die leibliche Befindlichkeit könne intensiv ins Bewusstsein vordringen, ohne dass die Wahrnehmenden dies zuvor bewirkt oder gewollt hätten.58 Solche Prozesse bezeichnet Gurwitsch als ›Auftauchen‹ oder ›Hervorsprin-

52 Ebd., S. 119. 53 Vgl. ebd., S. 123. 54 Vgl. ebd., S. 46. 55 Ebd., S. 4. 56 Vgl. ebd., S. 337. 57 Vgl. ebd., S. 340. 58 Vgl. ebd., S. 278. Auch Einzelheiten eines wahrgenommenen Objekts könnten sich als Thema festsetzen und die Aufmerksamkeit über längere Dauer in Beschlag nehmen:

        

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gen‹.59 Anzumerken ist dabei, dass der Prozess des Herausspringens von Gestalten und Gegenständen kein vollständiges Ablösen vom Hintergrund bedeutet. Auch sei der Prozess nicht notwendigerweise immer durch Plötzlichkeit gekennzeichnet, wie es der Begriff suggeriert. Vielmehr sei von einer starken Wirkmacht der einmal erfahrenen Abhebungen und Formationen im Sinne einer zukünftigen Habitualisierung auszugehen.60 In Anlehnung an die Phänomenologie von Edmund Husserl und Aron Gurwitsch entwickelt P. Sven Arvidson eine Konzeption der Aufmerksamkeit, die sich in wesentlichen Begriffen von den referierten Theorien abhebt. Ihre wesentliche Neuerung besteht darin, die häufig – auch von Husserl und Gurwitsch – zur Kennzeichnung der Verfasstheit und der verschiedenen Funktionen von Aufmerksamkeit verwendeten Metaphern des Feldes durch den Begriff der Sphäre zu ersetzen.61 Die Vorteile des Sphärenbegriffs verortet Arvidson in der von ihr mit Bezug auf die geometrische Figur einer Kugel betonten Dreidimensionalität und Einheitlichkeit der Aufmerksamkeit. Demgegenüber assoziiere der Begriff Feld eher eine plane Fläche von zweidimensionaler Ausdehnung, die dem omnidirektionalen Wirken der Aufmerksamkeit nicht gerecht werde. 62 Der Sphärenbegriff ermögliche die für Aufmerksamkeitsdynamiken zutreffende komplexe Vorstellung einer Nicht-Überschneidung bei gleichzeitiger Verbindung.63 Denn die einzelnen Dimensionen der

»Während wir so Gedächtnisbilder der unter den gegebenen Umständen unsichtbaren Seiten des Gebäudes wachrufen, kann es geschehen, daß unsere Aufmerksamkeit durch eine Einzelheit einer solchen Seite, z. B. das Schnitzwerk einer Tür, gefesselt wird.« Ebd., S. 300. 59 Vgl. ebd., S. 25. 60 Vgl. ebd., S. 88. 61 Vgl. P. Sven Arvidson: The Sphere of Attention. Context and Margin, Dordrecht 2006, S. 2 und S. 189. So ersetzt er beispielsweise den Begriff ›thematisches Feld‹ durch den Terminus ›Kontext‹ und plädiert bezüglich der Phänomenologie insgesamt für den grundsätzlichen Austausch des Konzepts der ›Intentionalität‹ durch dasjenige der ›Attentionalität‹. Vgl. ebd., S. 125-132. Obgleich seine Studie erst zwei Jahre nach Waldenfels‹ umfangreicher Phänomenologie der Aufmerksamkeit erschienen ist, nimmt er keinen Bezug auf sie. Überhaupt wird Waldenfels‹ phänomenologisches Denken insgesamt nicht berücksichtigt, was auffällt und zu bedauern ist, da die Zusammenführung beider Theorien produktiv wäre. 62 Vgl. ebd., S. 9-13 und ebd., S. 132: »In the sphere metaphor it is easier to understand how human existence is a unity since a sphere connotes unification in a way that two planes cannot.« 63 Vgl. ebd., S. 132.

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Aufmerksamkeit, das Thema, der Kontext und der Rand, sind, wie Arvidson ausführt, zugleich miteinander verbunden und bewegen sich doch unabhängig voneinander. Bezüglich der verschiedenen Bereiche der Aufmerksamkeit rekurriert Arvidson auf Gurwitschs Dreiteilung in Thema, thematisches ›Feld‹ bzw. Kontext und Rand.64 Thema und Kontext formen dabei nach Arvidson die Sphäre der Aufmerksamkeit, als deren ›Oberfläche‹ der sich ins Unendliche ausdehnende Rand gilt.65 Der Rand ist in seinen beiden Bestandteilen von Hof und Horizont immer hintergründig zum Thema präsent und dadurch konstant in geringem Maße bewusst. Dynamik manifestiert sich in Arvidsons Aufmerksamkeitskonzeption vor allem in den vielfältig möglichen Transformationen. 66 Dabei komme es im Verlauf einer subjektiven ›Geschichte des Bemerkens‹ zur Herausbildung von bestimmten, kulturell, historisch und individuell geprägten Mustern. Mit Bezug auf den in der Psychologie verwendeten Begriff sprite weist Arvidson auf solche Musterbildungen im Sinne von zur Routine gewordenen Wahrnehmungsschemata hin, die in dieser Weise ›abgespeichert‹ und zukünftig immer wieder ohne große Leistung wahrgenommen werden.67 Den Begriff sprite bestimmen die Psychologen Patrick Cavanagh, Angela Labianca und Ian Thornton wie folgt: »[W]e suggest that the visual system acquires and uses stored motion patterns, sprites, which are characteristic of familiar events or objects: the motion of a wheel, the jump of a fish out of water, the way a pencil bounces on the floor when dropped, and the way a fresh egg does

64 Vgl. ebd., S. 6 f. 65 Vgl. ebd., S. 132. Gurwitsch folgend unterteilt Arvidson den Rand in zwei verschiedene Bereiche, den ›Hof‹ und den ›Horizont‹. Arvidson verwendet das englische Wort ›halo‹, das sich ins Deutsche sowohl mit ›Heiligenschein‹ als auch mit ›Lichthof‹ oder ›Reflexionslichthof‹ übersetzen lässt. Da weder die Dimensionen des Heiligen noch des visuell markant werdenden Lichts gemeint sind, habe ich mich für die Übersetzung durch das Wort ›Hof‹ entschieden, welches weiterhin die Bedeutungsdimension des Jenseitsoder Vorgelagerten im Sinne eines nah am Haus befindlichen Vorhofs aufruft. Vgl. ebd., S. 7 ff. 66 Ebd., S. 57. Zu diesen sind Prozesse der Erweiterung, Verengung, Erhellung, Verdunklung und des Austauschs anzuführen, des Weiteren speziell Dynamiken der seriellen Verschiebung, Restrukturierung, Aussonderung und Synthese sowie schließlich die besondere Transformation der Rand-zu-Thema-Folge, bei welcher eine Komponente des Randes zum Thema wird. Vgl. zu detaillierten Ausführungen Arvidsons zu den einzelnen Transformationen des Kontexts S. 58-71, des Themas S. 71-77 und zur Rand-zu-ThemaFolge S. 78-84. 67 Vgl. ebd., S. 118 f.

        

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not. We use these stored patterns to recognize and then animate our perception of familiar events.«68

Gegenüber solchen sich herausbildenden Wahrnehmungsschemata betont Arvidson die Möglichkeit der Einflussnahme durch die Wahrnehmenden. 69 Denn es stehe dem Subjekt frei zu entscheiden, wie etwas bemerkt werde: »I am absolutely free to choose how I attend to these things, what they mean to me.«70 Nicht also durch das, was im Einzelnen beachtet oder nicht beachtet wird, sondern durch das Wie der Beachtung, deren Intensität und Bedeutung, in der Haltung, die zum Beachteten eingenommen wird, besteht die von Arvidson herausgestellte formierende ›Freiheit‹ des wahrnehmenden Subjekts. Arvidson schlägt vor, den phänomenologisch geprägten Begriff der Intentionalität durch den der Attentionalität zu ersetzen, der diese dynamisch-performativen Aufmerksamkeitsprozesse in ihrer Bedeutung für die Subjektkonstitution besser erfasst.71

                 Bernhard Waldenfels und Natalie Depraz prägen jeweils einen auf Spaltung und Verdopplung beruhenden Begriff von Aufmerksamkeit. Während Waldenfels das Wirken der Aufmerksamkeit im Doppelereignis von Auffallen und Aufmerken bzw. in der zwischen ihnen existenten Kluft verortet, lässt sich nach Depraz von einer Gabelung zwischen den simultan verlaufenden Prozessen der Neuausrichtung und Öffnung des wachsamen Subjekts ausgehen.

68 Patrick Cavanagh/Angela Labianca/Ian Thornton: »Attention-based visual routines: sprites«, in: Cognition 80/2001, S. 47-60, hier S. 59. In diesem Aufsatz verdeutlichen die Autor*innen anhand zwei verschiedener Experimente der visuellen Gestalterkennung, inwiefern das Vorhandensein der durch Erfahrung gewonnenen ›sprites‹ das Erkennen einer bestimmten Gestalt bzw. in diesem Fall von spezifischen Bewegungsmustern ermöglicht und unterstützt. So ergab sich aus den Experimenten die Erkenntnis, dass eine computererzeugte Animation einer gewissen Anzahl von Punkten, mit der ein gehender Mensch vergegenwärtigt werden sollte, deutlich schneller und mit weniger Anstrengung ›erkannt‹ wurde als ähnliche Animationen, in denen eine Anzahl verschiedener Rotationsmuster dargestellt wurden. 69 Vgl. Arvidson 2006, S. 118. 70 Ebd., S. 143. 71 Vgl. Arvidson: »Restructuring Attentionality and Intentionality«, in: Human Studies 36 (2) 2013, S. 199-216.

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Nach Waldenfels beruhen Aufmerksamkeitsprozesse auf einer ereignishaften, prozessualen Doppelbewegung von Auffallen und Aufmerken, zwischen denen immer eine Trennung bestehen bleibt.72 Sie zeichne sich dadurch aus, »daß zwei oder mehrere Bewegungen interferieren, ohne daß ihre Wirkungen gegeneinander aufgerechnet und ihre Orte vereinigt werden könnten«73. Somit bilde Aufmerksamkeit eine komplexe Figur, in der Komponenten zusammengefasst würden, welche dennoch keine Einheit bildeten. Auch handele es sich nicht einfach um eine Bewegung und eine ihr entsprechende Gegenbewegung, denn »dies ergäbe eben keine Doppelbewegung, sondern zwei Bewegungen, die keiner der Beteiligten gleichzeitig vollführen kann«74. Waldenfels geht von einer zwischen den Bewegungen sich ereignenden grundlegenden produktiven Ungleichheit und Differenz aus. 75 Diesen ›gebrochenen Zusammenhang‹ veranschaulicht er im Rückgriff auf akustischauditive Verhältnisse, indem sie als Doppelklang charakterisiert werden.76 »Es sieht so aus, als bedürfe es eines Doppelgriffs wie beim Streicher, dessen Bogen mehrere Saiten gleichzeitig berührt, ohne daß der Doppelklang zu einem einzigen Klang verschmilzt.«77 Meines Erachtens ist der Bezug auf den Bereich der Musik kein zufälliger, sondern steht in Verbindung mit einer grundlegenden Eigenschaft auditiver Wahrnehmung: Im Hören können Verhältnisse zur Erscheinung kommen, die sich durch – zumindest westliche – Sprachen nicht oder kaum abbilden lassen, denen eine paradox erscheinende Zueinander-Positioniertheit im Sinne einer ›Einheit in Differenz‹ inhäriert. Im Rahmen einer Kritik an der von Descartes ausgehenden rationalistischen und gegenwärtig dominierenden Konzeption und Idealisierung von Aufmerksamkeit als Konzentration stellt Natalie Depraz die Gleichsetzung von Aufmerksamkeit und Konzentration in Frage und weist mit den Begriffen von Verdopplung bzw. Antinomie auf eine Spaltung hin, die ihrer Meinung nach charakteristisch für Aufmerk-

72 Waldenfels verwendet diesbezüglich auch die Begriffe Kluft, Spalt, Hiatus oder Riss. Vgl. Waldenfels 2004, S. 23, 44, 153. 73 Ebd., S. 84 f. 74 Ebd., S. 80. 75 Vgl. ebd., S. 47, 107 und 114. 76 Vgl. ebd., S. 82 f. Im Kontext dieser Ausführungen verweist Waldenfels auch auf sprachliche Defizite, die es nicht ermöglichten, diese nur hinlänglich als ›Doppelbewegung‹ gekennzeichnete ›Figur‹ angemessen darzustellen. Den europäisch-westlichen Sprachen gegenüber sieht er im Japanischen durchaus Möglichkeiten dazu, die sich z. B. im Wort Ki manifestierten, das in seiner Bedeutungsvielfalt u. a. »eine gemeinsame zwischenmenschliche Atmosphäre [...], einmal mit der Subjektmarkierung ga, das andere Mal mit der ›Objektmarkierung‹ o« erfassen kann. 77 Ebd., S. 83. Vgl. ebd., S. 106 f. und ders.: Antwortregister, Frankfurt a.M. 1994, S. 266.

        

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samkeitsprozesse sei und über welche eine Neubestimmung von Aufmerksamkeit zu erreichen wäre. Entgegen der im Verständnis von Konzentration enthaltenen Einheitlichkeit bewirkt ihre Konzeption eine Vorstellung von Aufmerksamkeit als Gabelung (bifurcation), als Zwischenraum, der verbindet, was er zugleich trennt: »une attention qui tient ensemble ces deux possibilités sans les vivre comme une alternative imposant un choix«78. An anderer Stelle verwendet Depraz das Bild zweier umeinander geflochtener Achsen (braided axis), welche die beiden Prozesse darstellen, die zeitgleich auf die erste Aufmerkphase der Suspension folgen. Um die Doppelbewegung zu verdeutlichen differenziert Waldenfels zwischen einer primären und einer sekundären deutenden Aufmerksamkeit. Gerade auf der primären Ebene zeige sich das grundsätzliche Angesprochen-Sein der Aufmerkenden, welche durch ihr Aufmerken auf diese ›Ansprache‹ antworten, »und zwar geschieht dies, bevor die Deutungs- und Gebrauchsschemata unserer gewohnten Merk- und Wirkwelt greifen.«79 Primäre Aufmerksamkeit übersteige sämtliche Ermöglichungsbedingungen durch ihren ›Überschuss‹, in welchem sie sich einer eindeutigen Erfassbarkeit entziehe, da die Prozesse auf einer nicht- oder vorsprachlichen Ebene ablaufen. Zeitlich markiert Waldenfels das Aufeinandertreffen von Auffallen und Aufmerken als eine ›Ungleichzeitigkeit‹, insofern das dem Subjekt begegnende Widerfahrnis, »gemessen an den Erwartungen, die wir hegen, stets zu früh kommt, so wie jede Antwort, die wir geben, zu spät kommt«80. Es ist einer der markanten Aspekte in Waldenfels’ Philosophie, das Subjekt als responsives zu fassen, welches im pathischen Widerfahrnis ›zu sich kommt‹. Der Begriff der Antwort impliziert eine bestimmte Zeitverschränkung von Vorgängigkeit und Nachträglichkeit, da einer Antwort normalerweise eine Frage vorausgeht, auf die mit der Antwort reagiert wird. In diesem Fall sei das Antworten metaphorisch als Bewegung des Angesprochen-Worden-Seins, nicht als tatsächlich stimmlich-sprachliche Artikulation zu verstehen. Es kennzeichne den grundlegenden Modus, in welchem das Subjekt jeglichen ihm entgegenkommenden Ereignissen und Erlebnissen begegne und begegnen müsse. Diesem Verständnis nach könne sich das Subjekt dem Antworten nicht entziehen, denn auch die Verweigerungshaltung stelle eine Form des Antwortens dar.81 Es bestehe eine grundlegende Angegangenheit, die prägend ist

78 Natalie Depraz: »La ›double attention‹: pour une pratique phénoménologique de l’antinomie«, in: Essays in Celebration of the Founding of the Organization of Phenomenological Organizations, hg. v. Chan-Fai Cheung u. a., online unter www.o-p-o.net, Essay 49/2003, S. 1-18, hier S. 12. 79 Waldenfels 2004, S. 66 f. und vgl. ebd. S. 86. 80 Ebd., S. 47. 81 Vgl. ebd., S. 43 f.

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für die Erfahrungs- und Aufmerksamkeitsprozesse des Subjekts, weshalb »Aufmerksamkeit [...] durchaus etwas von einem Auf-der-Hut-Sein«82 hat. Auch Depraz bestimmt das Aufmerksam- und Bewusst-Werden als einen umfassenden Prozess, innerhalb dessen sich zwei Formen von Aufmerksamkeit differenzieren lassen. Nach Depraz ist eine Art ›unterbewusste‹, ›organische‹ von einer bewussten, reflexiven Aufmerksamkeit zu unterscheiden. Zu erfassen ist die erste Form durch den aus dem Deutschen übernommenen Begriff der Zuwendung: »Zuwendung répond au mode de conscience affective (processus d’émergence), Aufmerksamkeit à la notation consciente (remarquer, prêter attention). [...] Mais, dans les deux cas, il s’agit bien d’attention.«83 Zuwendung verläuft zwar unbewusst, ist aber nach Depraz dennoch als Aufmerksamkeitsform einzuschätzen, was durch den Bezug auf den Begriff der inattentional blindness nach Arien Mack und Irvin Rock verdeutlicht wird. In Anlehnung an Mack und Rock weist Depraz darauf hin, dass bei dieser Form des ›Sehens ohne Hinzusehen‹ von keiner vollständigen Absenz der Aufmerksamkeit auszugehen ist, sondern dass diese trotz verminderter Intensität und Bewusstheit präsent ist – und zwar in der Funktion eines ›Strukturgebers‹, der bei jeder Form der Wahrnehmung aktiviert ist. 84 Im Gegensatz zu einem Verständnis, das von Aufmerksamkeit vor oder jenseits des Bewussten ausgeht, negiert die Phänomenologin jede Form eines ›Davor‹- oder ›Jenseits‹-Gelagerten.85 Depraz entwickelt ihr Verständnis von Aufmerksamkeit durch die Auffassung der Phänomenologie als philosophischem Modus und einer bestimmten Haltung. Ihrer Ansicht nach ist Phänomenologie als eine Praxis des Aufmerkens und als Vorgang der Bewusstwerdung zu bestimmen.86 Bewusstwerdung wird als Prozess

82 Ebd., S. 243. 83 Natalie Depraz: »Attention et conscience: à la croisée de la phénoménologie et des sciences cognitives«, in: Éditions ALTER 18/2010 (L’Attention), S. 203-226, hier S. 222. 84 Vgl. ebd., S. 223 ff.; vgl. Arien Mack/Irvin Rock: Inattentional Blindness, Cambridge, Ma. 1998. 85 Depraz: »Attention et conscience: à la croisée de la phénoménologie et des sciences cognitives« (2010), S. 218: »Bref, mon idée est qu’il n’y a pas de processus pré-conscients à la source de l’attention, pas plus qu’il n’y a de dynamiques pré-attentionnelles qui la précéderaient et dont elle serait l’état subséquent.« 86 Interdisziplinär zu arbeiten stellt eine der wesentlichen Forderungen von Natalie Depraz im Kontext ihres Vorhabens einer Erneuerung und Erweiterung der Phänomenologie dar. Sie bezieht sich sowohl auf phänomenologische Schriften der Vergangenheit und Gegenwart, als auch auf Ergebnisse neurowissenschaftlicher und psychologischer Forschung sowie auf spirituelle Traditionen und Praktiken, so z. B. auf die Meditationstechniken des Buddhismus‹. Darüber hinaus gründete sie eine Arbeitsgruppe, deren Bezeichnung ›ALTER‹ nach dem lateinischen Wort alter auf die Begegnung mit dem Anderen verweist,

        

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der Affektion konzeptualisiert, der sich als dreistufiger und zirkulär verlaufender Vorgang vollziehe.87 Seine Struktur entspreche der phänomenologischen Reduktion: Zunächst erfolge eine bruchartig einsetzende Suspension, in der die Vorgänge des Denkens und Bewertens unterbrochen würden, gefolgt von einer Neuausrichtung des Subjekts, das seine Aufmerksamkeit nun von äußeren auf innere Prozesse wende sowie schließlich eine Öffnung und gleichzeitiges Sich-Aussetzen (lâcher-prise) gegenüber neuen Erfahrungen und Einsichten. 88 Nach Depraz fungiert Aufmerksamkeit als ein in den Bewusstseins- und Wahrnehmungsakten verkörperter Modulator (embodied modulator).89 Sie stellt heraus, dass sich in der Attentionalität die allgemeine Modifizierbarkeit des Bewusstseins anzeigt, so dass »attention winds up being defined as an intentional act by means of its changes«90. In ihrer Konzeption verwendet Depraz die Metapher der Störung (brouillage), um die destabilisierende Wirkung von Aufmerksamkeitsprozessen hervorzuheben und als kritische Ergänzung gegenüber dem cartesianisch-rationalistischen Verständnis von Bewusstsein und Aufmerksamkeit zu verdeutlichen.91 Dabei wird der zunächst negativ wirkende Begriff brouillage positiv gewertet, insofern die uneindeutige Positionierung und Variabilität der Aufmerksamkeit im Sinne eines produk-

und die sich in Arbeitstreffen, Konferenzen und vor allem in der jährlich erscheinenden Zeitschrift ›ALTER. Revue de Phénoménologie‹, von der auch eine Ausgabe dem Thema ›Aufmerksamkeit‹ gewidmet ist, mit phänomenologischen Begriffen, Konzepten und dem phänomenologischen Selbstverständnis auseinandersetzt. Weitere Ausführungen finden sich in Depraz’ 2008 veröffentlichter Publikation Le corps glorieux. Phénoménologie pratique de la philocalie des pères du désert et des pères de l’église, Louvain u. a. 2008, worin der Schwerpunkt allerdings auf Aufmerksamkeit in der christlichen Religion und Praxis gesetzt wird, weshalb sie für die vorliegende Arbeit im Verhältnis zu den anderen genannten Arbeiten weniger relevant ist. 87 Vgl. Natalie Depraz: Phänomenologie in der Praxis. Eine Einführung, Freiburg 2012 [im Original: Comprendre la phénoménologie, Paris 2006], S. 11. Neben dem Bezug auf Husserls Schriften hebt Depraz in mehreren Texten die Arbeiten von Bernhard Waldenfels als wichtige Referenz für ihr Denken hervor. Vgl. z. B. ebd., S. 78. 88 Vgl. Depraz: »Attention et conscience: à la croisée de la phénoménologie et des sciences cognitives« (2010), S. 215. 89 Vgl. Natalie Depraz: »Where is the phenomenology of attention that Husserl intended to perform? A transcendental pragmatic-oriented description of attention«, in: Continental Philosophy Review 37/2004, S. 5-20, hier S. 14 und S. 17. 90 Ebd., S. 14. 91 Vgl. Natalie Depraz: Attention et vigilance. À la croisée de la phénoménologie et des sciences cognitives, Paris 2013, S. 12 f. Vgl. auch dies.: »Attention et conscience: à la croisée de la phénoménologie et des sciences cognitives«, S. 208.

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tiven Potentials berücksichtigt wird. Die Wirkungsweise der Aufmerksamkeit lässt sich aufgrund der nicht-direktionalen, sondern globalen und integrativen Dimension als quer zur Intentionalität verlaufend bestimmen: »It is a sort of transversal qua vertical activity of my consciousness, perpendicular to the horizontal linearity of intentional directedness, since it gives us an access to the mobile depth of our consciousness as being a weave of vibrating variations.«92 Das Adjektiv perpendikular meint eine senkrechte Raumachse, die im rechten Winkel auf eine andere Linie trifft und somit – wie von Depraz hervorgehoben – quer zu ihr verläuft, aber zum anderen ebenso ein Gewicht, durch welches Angler ihr Gerät im Wasser senkrecht ausrichten. 93 In der als perpendikular bestimmten Wirkungsweise fungiere Aufmerksamkeit sowohl als störende, irritierende wie als auslotende, tarierende und gewichtgebende Instanz. Sie setze die Komponenten zueinander in Relation und bestimme ihr jeweiliges Verhältnis zueinander wie gleichzeitig auch zum Subjekt. In dieser perpendikularen Qualität zeige sich Aufmerksamkeit als Antinomie. Durch diese Herausstellung lässt sich ein System, das auf der strikten Trennung von Objekt und Subjekt sowie von Wahrnehmung und Selbstreflexion beruht, ins Wanken bringen. Zudem erlaubt es ein solches Verständnis von Aufmerksamkeit, weitere Formen des Aufmerksam-Seins hinzuzufügen. Auf ähnliche Weise konzeptualisiert Waldenfels Aufmerksamkeit metaphorisch als austarierenden Schiffskiel, betont dabei aber vor allem die stabilisierenden Dimensionen der Aufmerksamkeit. Im Sinne eines am Schiffsrumpf befestigten Kiels sorgten die Vorgänge der Aufmerksamkeit für den Ausgleich verschiedener Gegengewichte, für Umgewichtungen und Gewichtsverschiebungen. 94 Als balancierender Kiel besitzt Aufmerksamkeit ein gewisses Eigengewicht, das sich in den ordnungserzeugenden Abläufen zeigt, indem sich ihre Wirkungsweise nicht beliebig, sondern nach bestimmten mit ihr verbundenen Prinzipien vollzieht. Mit Bezug auf Husserl bestimmt Waldenfels diesen Prozess auch als Reliefbildung, bei welchem durch Vorgänge des Hervortretens/Vorziehens und Zurücktretens/Zurückstellens ein Beachtungsrelief durch räumlich-leibliche, aber auch durch Relevanz

92 Natalie Depraz: »Where is the phenomenology of attention that Husserl intended to perform?« (2004), S. 14. 93 Mit dem deutschen Wort Perpendikel wird in diesem Sinne auch das hin- und herschwingende Pendel einer Uhr bezeichnet. Etymologisch stammt der Begriff vom lateinischen Verb perpendere für abwägen, erwägen, untersuchen und von ›pendere‹, das neben den zuvor genannten Verben auch noch ›wiegen‹ in seiner Bedeutungsvielfalt einschließt. 94 Vgl. Waldenfels 2004, S. 28.

        

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begründete thematische Relationen der Nähe und Distanz entsteht.95 »Bei der Reliefbildung kommt es zu einem Kräftemessen, zu einem Widerstreit zwischen verschiedenen Organisationsweisen. [...] Was unsere Aufmerksamkeit gewinnt, drängt sich nicht nur auf, es drängt sich auch vor.«96 In dem als ›Kampfplatz‹ markierten Aufmerksamkeitsfeld stünden verschiedene Organisationsweisen nicht einfach in Konkurrenz zueinander, vielmehr entscheide sich über ihr jeweiliges Durchsetzen gegenüber den anderen auch eine mit ihnen verbundene Ausrichtung und Strukturierung von Umgebung und Leibkörper. 97 Je nachdem, welche Gewichtung am stärksten ›wiege‹, bestimme sich die Art und Weise, wie das Subjekt sich und sein Umfeld perzipiere.98 Aufmerksamkeit ist nach Depraz nicht als einheitlich und homogen, sondern als grundlegend gespalten einzuschätzen. 99 Aufzumerken bedeutet, zugleich auf ein Objekt und auf sich selbst ausgerichtet zu sein.100 Die Spaltung der Aufmerksamkeit sei nicht destruktiv – vielmehr zeige sich in ihr und gerade durch sie etwas, was nur auf diese Weise zur Erscheinung kommen könne. Aufmerksamkeit sei in diesem Sinne als Differenzierungsgeschehen zu verstehen, das in der Abweichung und im Kontrast produktiv ist und zugleich selbst wahrnehmbar werde. Anzunehmen sei eine graduelle Abstufung verschiedener Weisen des Aufmerkens, bei der schon die Ebene des undeutlichen, nicht klar erfassbaren Etwas (quelque chose) als ein bestimmter Aufmerkmodus zu bewerten ist. Diese Aufmerksamkeitsformen zeichneten sich insbesondere darüber aus, dass in ihnen die körperlich-leiblichen und hintergründigen Dimensionen stärker ausgeprägt seien.101 Leiblichkeit ist sowohl bei Waldenfels als auch bei Depraz von besonderer Relevanz für Aufmerksamkeitsdynamiken und wird sowohl mit dem Leib der Wahrnehmenden als auch mit Prozessen der Affektion verbunden, an denen sich Aufmerksamkeit materialisiert bzw. sich ›fleischlich‹ zeigt, wie Depraz es ausdrückt.

95

Vgl. ebd., S. 101 f. Durch die Rückführung der Begriffe Relief und Relevanz auf das lateinische Verb relevare verbindet Waldenfels die Prozesse der Abhebung mit denen der Vorrangigkeit.

96

Ebd., S. 103 und vgl. ebd., S. 228.

97

Vgl. ebd., S. 279.

98

Ebd.

99

Anzumerken ist dabei, dass die Autorin den in der psychologischen Forschung üblichen Begriff der geteilten Aufmerksamkeit (attention divisée und attention partagée) ablehnt und durch den Ausdruck der verdoppelten Aufmerksamkeit (double attention) ersetzt.

100

Vgl. Depraz: »Attention et conscience: à la croisée de la phénoménologie et des scien-

101

Vgl. Depraz 2012, S. 114.

ces cognitives« (2010), S. 208.

68         

Im Leib verortet Waldenfels die Sphäre des Umschlags vom Aufmerken ins Bemerken, d. h. den Übergang von primärer zu sekundärer Aufmerksamkeit. Leiblich manifestiert sich die Doppelbewegung vor allem in der Verschränkung von Selbst- und Fremderfahrungen. Denn weder ist der Leib als Instanz eines ausschließlichen ›Selbst‹ noch von der unmittelbaren Erfahrung einzuschätzen.102 Der Leib ist der Ausgangspunkt, an welchem die verschiedenen Bewegungen zusammenlaufen: »Das leibliche Hier fungiert als Nullpunkt, das heißt als aktuelles Zentrum, das einen Spielraum leiblicher Bewegungen eröffnet.« 103 Einstellungen und Habitualitäten, die sich jeweils in spezifischen Praktiken, Techniken und Symboliken manifestieren, begründen die grundlegende Disposition des antwortenden Subjekts, also dessen Antwortbereitschaften. Sie begründen die im Moment der Begegnung mit Unbekanntem zu (er-)findenden geeigneten Weisen des Antwortens. Prozesse der Kreation und Erfindung werden unabdingbar, um das Erscheinende aus seinem zunächst unfassbaren Zustand in etwas bewusst und begrifflich Fassbares zu überführen. 104 Dieser Schritt, von Waldenfels gleichermaßen als Umsetzung und kritisch als Gleichsetzung beschrieben, beruht grundlegend auf den als Zwischeninstanzen markierten Aufmerksamkeitstechniken, die verstärkt auch durch eine entsprechende – und von Waldenfels ebenfalls kritisch bewertete – Aufmerksamkeitsindustrie formiert und stabilisiert werden.105 Doch das Aufmerken entzieht sich in seiner Ereignishaftigkeit immer wieder dem umfassenden Zugriff von Techniken und Kulturpraktiken.106 Aus diesem Grund schreibt ihr Waldenfels anarchische und wilde Dimensionen zu.107 Vor allem in der Kunst könne gegenüber den habitualisierten Aufmerksamkeitsweisen durch Unterbrechungen und Aussetzung des Gewohnten und kulturell Normierten die zugrundeliegenden Prozesse zur Erscheinung gebracht werden. Durch bestimmte Strategien der Verzerrung, zu denen insbesondere Änderungen der Form, der Dichte und der Zeitlichkeit zu zählen seien, lasse sich das habitualisierte Aufmerken irritieren. Kunstwerke fungieren in diesem Sinne als »Aufmerksamkeitsstörer [...], die für Unauffälliges empfänglich machen«108. Depraz betont in verschiedenen Publikationen, dass Konzentration als ein antrainierter und statischer Extremfall der ansonsten sehr beweglichen und variablen Aufmerksamkeit einzuschätzen ist.109 »Bref, cet état ne nous est pas donné: il ne va

102

Vgl. Waldenfels 2004, S. 153.

103

Ebd., S. 84.

104

Ebd., S. 116.

105

Vgl. ebd., S. 126.

106

Vgl. ebd., S. 118, S. 121 und S. 132.

107

Vgl. ebd., S. 284.

108

Ebd., S. 285.

109

Vgl. Depraz 2012, S. 250.

        

    69 

pas du tout de soi pour nous. Nous avons à nous l’approprier, à le conquérir en nous à partir d’un terrain soumis aux distractions, aux angoisses et aux vagabondages de l’âme.«110 Ihr Anliegen ist es, diese von ihr als ›natürlich‹ beurteilte Mobilität durch die Verabschiedung vom idealisierten und normierten Zustand der Konzentration zurückzugewinnen und in ihrem Eigenwert zu rehabilitieren – in ihren Worten eine »épochè de la concentration« 111 , eine Enthaltung gegenüber der Konzentration durchzuführen und sie auf diese Weise einer phänomenologischen Hinterfragung und Analyse zu unterziehen.112 Zurückzuerlangen sei das Bewusstsein und die Anerkennung für Dimensionen der Aufmerksamkeit, die eher körperlich-leiblich und rezeptiv ausgerichtet seien. Paradigmatisch hierfür ist ein bestimmter Zustand der Vigilanz, den Depraz über Vergleiche mit der Haltung von Zuhörenden oder auch Wartenden erläutert.113 In dieser Art der Wachsamkeit zeige sich Aufmerksamkeit

110

Depraz: »La ›double attention‹: pour une pratique phénoménologique de l’antinomie«

111

Ebd., S. 6.

112

Depraz verwendet den Begriff des Natürlichen in einer Weise, die suggeriert, sie strebe

(2003), S. 5.

es an, jenseits der erlernten und kulturell überformten Konzentration eine andere, ›ursprünglichere‹ Aufmerksamkeitsform aufzufinden und zu aktivieren. Dabei scheint der Begriff des Natürlichen zu implizieren, diese diffusere und heterogene, flüchtige Aufmerksamkeitsform wäre von kulturellen Normen und Bedingungen vollkommen unberührt, was allerdings fraglich ist und eine unhaltbare Zweiteilung in eine ›natürliche‹ und eine kulturell geprägte Aufmerksamkeit suggeriert – vielmehr ist demgegenüber von der grundsätzlichen kulturellen Formiertheit von Aufmerksamkeit auszugehen. Dennoch ist allerdings Depraz’ Kritik an der Ineinssetzung von Aufmerksamkeit und Konzentration eine berechtigte, die eine starke Erweiterung der Varianten von Aufmerksamkeit erlaubt und generell eher die Dimensionen der Öffnung und Weite betont, was wiederum für die ethische Perspektive auf das Phänomen relevant ist. Auch geht es Depraz vorrangig um ein Zurückweisen des kulturell geprägten und normierten Ideals der Konzentration. Vgl. ebd., S. 4. 113

Problematisch ist der Vergleich mit dem Zuhören meines Erachtens insofern, als dass Depraz nicht deutlich genug bestimmt, welcher Art das Hören ist, von dem sie ausgeht und das sie als Bezugspunkt zur Veranschaulichung ihrer Aufmerksamkeits- bzw. Wachsamkeitskonzeption heranzieht. Indem sie den Begriff aufmerksames Zuhören (listening) verwendet, markiert sie eine Form des Hörens, die von Konzentration, Gerichtetheit und Verdichtung geprägt ist und eben gerade nicht ein solches Hören darstellt, das der von ihr gemeinten körperlich-leiblichen und in die Weite diffundierenden Aufmerkens entspricht. In diesem Sinne böten die im Deutschen vorhandenen Begriffe des ›Lauschens‹ oder ›Horchens‹ meiner Meinung nach produktivere Ver-

70         

jenseits der ›reflexiven Aufmerksamkeit‹ im Sinne einer »simple receptivity or an attitude of listening«114 bzw. eines »passive, receptive waiting«115 – Zustände also, die vor allem durch zwei Aspekte gekennzeichnet seien: durch das aushaltende Erleben einer als ›leer‹ empfundenen Zeitspanne, die zu durchqueren ist, und durch den Verlust einer Grenze zwischen Innen und Außen. »So it involves maintaining a tension between a supported act of attention and an immediate non-filling. [...] And so the gesture of letting-go presupposes a waiting, but is focused and open and so eventually void of content for a time, without any immediate discrimination other than ›there is nothing‹, ›it’s foggy‹, ›it’s blurred‹, ›it’s confused‹, ›nothing’s happening‹.«116

In diesem Vorgang sind Aufmerksamkeitsprozesse insofern als aktiv zu beurteilen, als sie eine besondere Form von passiver Aktivität darstellen, die Depraz als »engagement without action«117 umschreibt. Zur Erläuterung dieser paradox anmutenden Konstellation von Aktivität und Passivität verweist sie auf die Tätigkeit des achtsamen Lauschens, bei der die äußerlich stille Haltung mit aktivierter Wahrnehmung, Bewusstheit und Wachsamkeit verbunden ist. Dabei ist das Loslassen von Kontrolle, welches zur Aufgabe einer fokussierten Haltung und zur Öffnung der Aufmerksamkeit notwendig sei, ein Kommen-Lassen, d. h. es ist nicht bloß ein passives Geschehen, sondern vielmehr eine aktive Handlung – eine Handlung des Sich-Zurücknehmens. 118 In buddhistischen Meditationspraktiken z. B. lasse sich nach Depraz diese Art der Aufmerksamkeit bis zu einer gewissen Meisterschaft einüben, und auch psychotherapeutische Methoden lassen sich in Verbindung mit diesem Wachsam-Sein bringen. Auch nach Waldenfels ist Aufmerksamkeit als ›unabschließbarer Prozess des Bewusstwerdens‹ zu kennzeichnen.119 Das Aufmerken vollziehe sich jenseits von Normen, Codierungen und Bewertungen auf einer Ebene des Vorgänglichen, auf der jene Kriterien noch keine Geltung hätten.120 Waldenfels versteht sie als eine

gleiche an. Es zeigt sich hier auch die Problematik der von den verschiedenen Sprachen ermöglichten Begrifflichkeiten des Auditiven an, der weiterhin nachzugehen ist. 114

Depraz: »The Gesture of Awareness. An account of its structural dynamics« (1999), S.

115

Ebd., S. 126.

116

Vgl. ebd., S. 129 f.

117

Ebd. 129.

118

Vgl. ebd., S. 130.

119

Vgl. Waldenfels 2004, S. 22.

120

Vgl. ebd., S. 240.

125.

        

    71 

Weckung, die sich weder bezüglich des Aufmerksam-Machenden noch des Aufmerkenden auf vollkommen kontrollierte Akte und Intentionen zurückführen lässt, da sie sich vielmehr als Ereignis vollzieht.121 In der Weckung sei eine grundlegende Aufmerksamkeitsfunktion zu verorten, auf welche die Bewegungen der Zu- oder Abwendung folgten, die eng mit den Kräften von Anziehung und Abstoßung verknüpft sind. Schließlich generiere sich aus dem ersten Aufmerken, das sich in der Weckung vollzogen habe, das bewusste und deutende Bemerken. Die Prozesse des Aufmerkens werden von Waldenfels wie Depraz als jenseits der vollständigen Kontrolle sowohl der Aufmerkenden als auch der AufmerksamMachenden dargestellt. Vielmehr ist die Dynamik der Aufmerksamkeit als ereignishaftes Geschehen aufzufassen, das sich in den verschiedenen Wahrnehmungen auswirkt und gleichzeitig materialisiert. Grundlegend verweisen beide Philosoph_innen darauf, dass Aufmerksamkeit nicht selbst zur Erscheinung kommt, sondern nur an den Wahrnehmungen und ihrer Organisation erkennbar wird – Prozesse des Sich-Zeigens werden in diesem Sinne als wesentlich für Aufmerksamkeitsdynamiken hervorgehoben. Waldenfels bestimmt die entsprechenden Prozesse als Vorgänge des Aufzeigens, in denen etwas durch seine Thematisierung auffällig wird. »Dieses Zeigen, das erst ein Bezugsfeld schafft, ist durch keine Kennzeichnung zu ersetzen. In der Kennzeichnung wird die ostensive Selektion gleichsam quittiert.«122 Das Aufzeigen könne sich auf vielfältige Weise vollziehen, die sich sowohl nach der Art des Mediums als auch nach dem Grad ihrer Explizitheit differenzieren lässt.123 Vor allem aber manifestiert sich das Aufzeigen in der Sphäre des Leiblichen, indem der Leib im Modus des Sich-Zeigens auf sich selbst aufmerksam macht, wie Waldenfels an der Verführung aufweist, welche ›unbewusst‹ abläuft und zwar im Sinne eines fundamentalen Selbstentzugs, bei dem der Zugriff auf den eigenen Leib niemals vollständig kontrolliert oder garantiert wäre.124 Der Vorgang des Aufzeigens wird in

121

Vgl. ebd., S. 242.

122

Ebd., S. 243.

123

Waldenfels setzt sich mit bildlichen, sprachlichen und stimmlichen Aspekten auseinander und hebt diesbezüglich als Beispiele die Intonation des Gesagten oder den gewählten Satzbau hervor. Auch bestimmte sprachlich-rhetorische Formen, z. B. der Aufforderung, Warnung, Empfehlung, stellen Aufzeigeweisen dar. Waldenfels bezieht sich in diesem Kontext auf Austins Sprechakttheorie und merkt kritisch an, dass die von Austin markierten perlokutionären Wirkungen sprachlicher Wendungen in der intensiv erfolgenden theoretisch-philosophischen Auseinandersetzung in dieser Theorie nur wenig Berücksichtigung fanden. Vgl. ebd., S. 244.

124

Vgl. ebd., S. 249.

72         

diesem Sinne als ein ›Theater ohne Autor‹ gefasst, in welchem ›sich etwas in Szene setzt‹.125 Im Erscheinen und Erscheinen-lassen bewirkt Aufmerksamkeit nach Depraz die Manifestation dieser von ihr selbst hervorgebrachten Strukturen und Verschiebungen. Aufmerksamkeit sei grundlegend von Dimensionen des (Sich-)Zeigens und Ausstellens geprägt – indem sie wirke, werde sie selbst auch wahrnehmbar, da sie sich in den von ihr geschaffenen Strukturen anzeige und materialisiere. In Bezug auf letztere Dimension spricht Depraz häufig von Gesten (gesture) oder vom Fleisch (flesh) der Aufmerksamkeit, das in diesen Materialisierungen zur Erscheinung kommt. 126 Einer Konzeption von Aufmerksamkeit als einer rein geistigen Aktivität setzt sie eine Auffassung von Wachsamkeit entgegen, welche im Begriff des Fleisches der Aufmerksamkeit das Körperlich-Leibliche und Materielle dieser Prozesse markiert.127 Das Wirken der Aufmerksamkeit schlägt sich in fleischhaft materiellen und fragilen Materialisierungen nieder. Aus ihrem Verständnis eines materialisierten Hervortretens von Aufmerksamkeitsdynamiken entwickelt Depraz eine Ethik der plastischen Wachsamkeit, bei der das Dreidimensional-Werden des Beachteten nicht allein auf Gegenstände, sondern vielmehr auf die gegenüberstehende Person bezogen wird.128

   

     

                Ziel der vorangegangenen Abschnitte war es, einen Überblick über die verschiedenen phänomenologischen Bestimmungen der Aufmerksamkeit zu geben, um ein Instrumentarium zur Beschreibung und Analyse der im Gegenwartstheater zu machenden Hörweisen zu gewinnen. Im Folgenden werden zum einen die Ergebnisse 125

Vgl. ebd., S. 197.

126

Vgl. Natalie Depraz: »The Gesture of Awareness. An account of its structural dynamics« (1999), S. 130 und dies.: »Where is the phenomenology of attention that Husserl intended to perform?« (2004), S. 10.

127

Vgl. ebd. Vgl. in dieser Hinsicht auch die Betonung der leiblichen Affektion in Anthony Steinbock: »Affektion und Aufmerksamkeit«, in: H. Hüni/P. Trawny (Hg.), Die erscheinende Welt. Festschrift für Klaus Held. Berlin 2001, S. 241-273; Hilge Landweer: »Konzentration, Aufmerksamkeit und Ernst als leibliche Phänomene«, in: Christoph Jamme (Hg.), Leiblichkeit und Personalität. Gedenkschrift für Anna Blume. Lüneburg 2013, S. 49-61.

128

Vgl. Depraz: »Where is the phenomenology of attention that Husserl intended to perform?« (2004), S. 15.

        

    73 

der philosophischen Lektüren zusammengefasst, zum anderen darüber hinaus phänomenologische Konzeptionen des Hörens eingebunden, um auf dieser Basis einen spezifischen Begriff der auditiven Aufmerksamkeit zu konturieren. Es ist zu betonen, dass gerade die Kombination mit Aspekten der Theorie des Auditiven eine Hervorhebung anderer relevanter Dimensionen von Aufmerksamkeit ermöglicht und sich insofern eine Beschäftigung mit dem Zusammenwirken beider Bereiche – dem Attentionalen und dem Auditiven – als produktiv für ein Weiterdenken beider Konzeptionen anbietet. 129 Hör- und Aufmerksamkeitstheorien können in diesem Sinne als sich ergänzend eingeschätzt werden, denn durch ihre Verbindung im Konzept der auditiv-attentionalen Sphäre ergeben sich für beide Bereiche über traditionelle Einschätzungen hinausführende Erkenntnisse. Zentral in den zuvor angeführten phänomenologischen Konzeptionen ist die Beschreibung der Form und Organisation der Aufmerksamkeit, die in einem engen Zusammenhang mit ihrem funktionalen Wirken innerhalb der Wahrnehmung steht. Sie lässt sich als ein simultanes Geschehen der konstanten Verschiebung und Verengung diverser Bereiche – Thema, Kontext, Rand – auffassen. Insbesondere mit Bezug auf Arvidsons kritische Modifikation der Aufmerksamkeitskonzeptionen von Husserl und Gurwitsch lässt sich Aufmerksamkeit in einem ersten Schritt als Sphärendynamik bestimmen. Eine Konzeptualisierung von Aufmerksamkeitsprozessen als Sphärendynamik ermöglicht es, insbesondere die räumlichen, leiblichen und affektiven Aspekte von Aufmerksamkeit hervorzuheben und zu analysieren, wobei diese einzelnen Dimensionen nicht separat für sich, sondern nur im Verbund und innerhalb der herauszustellenden Spektren aufgezeigt werden können. Wird Aufmerksamkeit ausschließlich als sphärisch ausgedehnte, immersiv das Subjekt einhüllende Schicht verstanden, dann greift eine solche Konzeption zu kurz. Bestimmte Qualitäten des Aufmerkens und Hörens werden sich darin nicht beschreiben lassen. Vielmehr sind bezüglich der vorangehend dargestellten phäno-

129

Hören und Aufmerksamkeit besitzen eine Gemeinsamkeit in der omnidirektionalen Gegebenheit, so Ihde, wobei er in diesem Fall von Aufmerksamkeit als von awareness spricht, ein Begriff, der sich wohl eher mit Wachsamkeit oder Bewusstsein ins Deutsche übersetzen lässt und der verdeutlicht, dass sich die Omnidirektionalität ausschließlich auf diese spezifische Form von Aufmerksamkeit beziehen lässt, insofern im Fall von höchster Konzentration eher von gerichteter als von verstreuter Aufmerksamkeit auszugehen wäre. Vgl. Ihde 2007, S. 65. Die Verwendung des Sphärenbegriffs für die in der vorliegenden Arbeit analysierten Aufmerksamkeitsdynamiken und Hörprozesse ist dementsprechend nicht zufällig, sondern basiert auf der Feststellung, dass beide häufig als sphärisch bestimmt werden und ihnen in diesem Kontext eine bestimmte, kugelförmig in alle Richtungen laufende Ausdehnung und eine umhüllende Eigenschaft zugesprochen wird.

74         

menologischen Aufmerksamkeitstheorien noch weitere Aspekte aufzugreifen, die für das Wirken der auditiv-attentionalen Sphärendynamik relevant sind. Anstatt den Begriff der Sphäre vollständig zurückzuweisen, plädiere ich dafür, ihn beizubehalten, zu modifizieren und zu erweitern. Denn auch wenn der Begriff zunächst einseitig erscheint, bietet er sich zur Erfassung der untersuchten Wahrnehmungs- und Bewusstseinsprozesse an, da sich über ihn insbesondere die Dimensionen des Dynamischen, Räumlichen, Oszillierenden, Relationalen und Ephemeren der Aufmerksamkeits- und Hörsphäre markieren und hervorheben lassen. Zu modifizieren ist die Konzeption des Hörens als Sphäre dahingehend, dass sich gleichzeitig zur immersivierenden Einhüllung durch das Gehörte auch Differenzen, Strukturen, Ordnungen und Konstellationen im Hören ergeben. Die verschiedenen Aufmerksamkeitsphilosophien überschneiden sich darin, die Auswirkung von Aufmerksamkeitsdynamiken in Kontrasten, Hierarchien, Organisationen, Ordnungen und Strukturen zu betonen. Ihre jeweilige Formation beruht auf dem Zusammenspiel einerseits von direktionalen und einhüllenden sowie andererseits von simultanen und synchronen Dimensionen, d. h. auf der Entstehung sich verändernder Abständigkeiten zwischen den Hörenden und den Klängen sowie den einzelnen Klängen und Klangströmen untereinander. Wie insbesondere Gurwitsch und Arvidson unterstreichen, ist die Sphäre der Aufmerksamkeit in sich auf verschiedene Bereiche unterteilt, die hinsichtlich ihrer verschiedenen Grade der Abhebung im Verhältnis eines Vorder- zum Hintergründigen oder eines Zentrierten zum Randständigen zu unterscheiden sind. Auditive Aufmerksamkeit lässt das Gehörte weder nur nah, erfüllt, fragil, instabil, diffus, sondern gegebenenfalls genauso auch fern, aus bestimmter Richtung, präzise, kontinuierlich und somit stabil erfahrbar werden. Innerhalb der auditiv-attentionalen Sphäre ergeben sich Kontraste, Unregelmäßigkeiten, Perspektiven sowie Möglichkeiten der Ge- und Verschlossenheit, des Entzugs, der Abwendung und Gegenwehr. Daran zeigt sich neben dem Sphärischen eine weitere Dimension von Aufmerksamkeit. Vor allem mit Waldenfels und Depraz lässt sich von Aufmerksamkeit als einer strukturgebenden Differenzdynamik ausgehen, welche im Hervorbringen bestimmter Strukturen und Ordnungen sowie Muster und Gestalten selbst nicht in Erscheinung tritt. Aufmerksamkeit ist im Rahmen der von ihr bewirkten Wahrnehmungsorganisation das in den Relationen und Strukturen wirkende Gewichtungsprinzip. Die Dynamiken der Gewichtungsprozesse verorten sich nicht jenseits, vorgängig oder sekundär zum Wahrnehmungsgeschehen, sondern sie wohnen ihm inne und treten nur durch es – als dessen Organisationsweise – hervor. Mit Bezug auf eine Konzeption der Aufmerksamkeit als Differenzdynamik lassen sich die relevanten Aspekte des Hervorbringenden, Konstituierenden, Sich-Entziehenden und Negativen aufweisen. Sie sind in den Zwischenräumen und Abständigkeiten des Gehörten, nicht in einem erst sekundär hinzutretenden Ordnungsprozess verortet. Entscheidend ist, dass die einzelnen Gefüge innerhalb dieses Wirkens

        

    75 

vielfältige Formen von auditiver Aufmerksamkeit und damit hervorgebrachter Hörweisen darstellen. Als eine dritte Dimension der auditiv-attentionalen, sphärischen Differenzdynamik, die sich aus dem Vorangegangenen schließen lässt, ist das Aufmerksamkeitswirken als Stabilisierungsprozess zu beschreiben. Impliziert ist ein Verständnis von Aufmerksamkeit als Gewichtungsprozess, wie sich an den von ihm gewählten Begriffen anzeigt; Fokussierungen innerhalb des auditiven Feldes werden als ›Gewichtung‹ und deren Resultate als ›gravitationale Form‹ bezeichnet.130 Das Wirken der Sphäre stellt eine konstante Gewichtungs- und Stabilisierungsdynamik des Austarierens im Spannungsfeld von Ereignissen und Ordnungen dar. Die Sphäre ist durchlässig, da sie Neuem, Unbekanntem, Fremdem gegenüber grundsätzlich nicht verschlossen ist und heterogene Erfahrungen ermöglicht. In der Eindringlichkeit manch unerwarteter, unbekannter oder plötzlicher Klänge manifestiert sich das stabilisierende, ordnungserzeugende Wirken der auditiv-attentionalen Sphäre. Auszutarieren und auszuhalten sind häufig Situationen, in denen sich paradox wirkende Zustände simultan ergeben, insofern beispielsweise Klänge aus großer räumlicher Ferne auditiv extrem nahe-, gar ›unter die Haut‹ gehen, unerklärliche Geräusche zu vernehmen sind, die sich nicht einordnen lassen, oder die für das Auditive charakteristische Gleichzeitigkeit eines Mittendrin- und Dort-Seins, bzw. die omnidirektionalen Umhülltheit und präzise lokalisierbarer Direktionalität einzelner Klänge bemerkbar machen. Mit Ihde gesprochen, lässt sich die auditive Sphäre gleichzeitig als »an auditory stability«131 und als »not a static field«132 beschreiben. »This daily rhythmic quality to auditory presentation is an ordering of the first flux and flow that takes place within experience in terms of the background-foreground sounds in rhythm that are part of daily life.«133 Ordnung erzeugt Aufmerksamkeit u. a. aufgrund von Gewöhnung, Bekanntheit, Erwartung und hintergründiger Omnipräsenz. Auch Gurwitsch, Arvidson und Waldenfels akzentuieren in ihren Aufmerksamkeitskonzeptionen die Wirksamkeit der Habitualisierung von Wahrnehmungsmustern und -weisen. 134 Gegen ein Ideal von Konzentration wenden sich Waldenfels und Depraz in der Betonung der Vielfalt anderer Aufmerkweisen, die verstärkt aus ›unaufmerksamen‹ Momenten bestehen und in denen sich Aufmerken eher als unterbewusstes Gewahren oder leibliches Spüren vollzieht. In ihnen zeigt sich die Dynamik des Aufmerkens, die im – kulturell idealisierten und konventionalisierten – Zustand der Konzentration zum Stillstand kommt. Mit Betonung der au-

130

Vgl. Ihde 2007, S. 91 f.

131

Ebd., S. 87.

132

Ebd., S. 83.

133

Ebd., S. 87.

134

Vgl. Arvidson 2006, S. 116.

76         

ditiven Aufmerksamkeit lassen sich, so Ihde, demgegenüber verschiedene Hörweisen herausstellen und aufwerten, die grundlegend von Dynamik, Wandelbarkeit und Fluidität gekennzeichnet – und gegenüber der starren Konzentration bislang abgewertet – worden sind.135 Auditiv-attentionale Prozesse sind nicht ausschließlich momentbezogen zu erfassen, sondern anhand der Dimensionen von Simultaneität und Sequentialität in ihrem zeitlichen Wiren zu analysieren. Auditive Gestalten konstituieren sich nach Ihde im Gegensatz zum Visuellen vor allem über eine gewisse Dauer.136 Lautlichkeit ist kontinuierlich präsent. Gehört wird immer etwas, wie Ihde behauptet: »Sound is continuously present to experience.«137 Sehr häufig wird die Fülle und Erfülltheit des Hörens betont und in einen Zusammenhang mit der vermeintlichen Homogenität und Offenheit der auditiven Sphäre gebracht, doch stellen auch die Abwesenheit von Fülle sowie Differenzen, Kontraste und Unregelmäßigkeiten relevante Faktoren dar. Die vernommenen Klänge sind nicht immer gleichmäßig über den Raum verteilt, sondern besitzen je nach Ort und Art des Erklingens eine gewisse Richtung, Gerichtetheit, Geschwindigkeit, Dynamik, je nach Einsetzen, Verlauf und Abklingen eine gewisse Dauer sowie Gestalt – und insofern allgemein gesagt eine ihnen eigene Räumlichkeit und Zeitlichkeit –, durch welche sich eine in sich diverse und nicht-homogene auditive Umgebung ergibt. Auditiv-attentionale Sphären sind demnach auch hinsichtlich des Spektrums von Dichte und Verstreutheit zu differenzieren, durch welches sich die Unterscheidung einzelner Sphärenareale ermöglicht, in denen sich eine Vielzahl von Lauten bündeln und konzentrieren können. Statt eines umfassend-homogenen Klanggemisches stellt sich eine komplexe und heterogene auditive Klanglandschaft dar, von der die Hörenden sich umgeben fühlen, selbst wenn sie von den unterschiedlichen Klängen und Klangströmen aus verschiedensten Richtungen angegangen werden. Insgesamt resultiert aus den in diesem Kapitel vollzogenen Lektüren phänomenologischer Aufmerksamkeitstheorien ein Verständnis von Aufmerksamkeit als auditiv-attentionale, sphärische, stabilisierende Differenzdynamik. Sie stellt einen komplexen, sich konstant verschiebenden, aber dennoch gewisse Konstanzen aufweisenden Priorisierungs- und Organisationsprozess dar, der vor allem in der Austarierung innerhalb verschiedenster Spektren wirksam ist. Um sich die auditivattentionale Sphäre vorstellen zu können, ist weder von einer perfekt gerundeten Kugelform der Sphäre noch von einer reliefartig erhöhten und vertieften Fläche

135

Vgl. Ihde 2007, S. 96.

136

Ebd., S. 66: »A duration is needed to discriminate shape in this constant motion. Thus if ›extended,‹ temporal duration which persists in the flux and motion of sound in time is what appears as the main presentational mode of heard shape-aspects.«

137

Ebd., S. 81.

        

    77 

auszugehen, sondern von der Kombination beider Dimensionen, und zwar von der Form eines ungleichmäßig geformten dreidimensionalen ›Sterns‹.138 Die sternförmig-asymmetrische ›Kugel‹ der auditiv-attentionalen Sphäre auf die in ihr gemeinsam, wenn auch möglicherweise gegeneinander wirkenden Kräfte und auf die in den sich aufspannenden Spektren zu verortenden vielfältigen Dimensionen. Fülle/Leere, Dichte/Diffusion, Intensität/Nachlassen, Weite/Enge, Kontinuität/ Unterbrechung, Direktionalität/Umhüllung, Mittendrin-/Mit-Sein, Bei-Sich-/Außer-SichSein stellen wesentliche Kategorienpaare dar, an denen sich die Beschreibung und Analyse verschiedener Konstellationen und Dynamiken der auditiv-attentionalen Sphäre auszurichten hat.

138

Den vier Kepler-Poinsot-Körpern vergleichbar ist die auditiv-attentionale Sphäre gleichzeitig omnidirektional einhüllend und nach Nähe-, Distanz- und Relevanzverhältnissen strukturiert, wobei diese Formen immer noch zu regelmäßig und symmetrisch sind und in ihrer Statik auch die permanenten Verschiebungen nicht wiedergeben.

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              (   Die im Theater vernehmbaren Lautlichkeiten hingen und hängen noch heute von den gegebenen Bedingungen der konkreten Theaterräume, d. h. der Bauten und ihrer für Aufführungen vorgesehenen Innenräume, ab. Zwar ergeben sich durch die sich seit den 1990er Jahren entwickelnde und verbreitende Surround- und BinauralAudiotechnologie neue Möglichkeiten sowohl der akustischen ›Überformung‹ bestehender Räume als auch der digitalen Erzeugung von Soundscapes, Ambiences und ähnlicher dreidimensionaler auditiver Räumlichkeiten.1 Doch lässt sich die in einem Theater gehörte Lautlichkeit nicht unabhängig von den raumakustischen Parametern des spezifischen Theaterraums erzeugen; vielmehr wirken Raumgröße und -form, die Anzahl und Art von Rängen oder Logen, die gerade, konkave oder konvexe Gestaltung und die jeweiligen Materialien der Wände, des Bodens und der Decke sowie Öffnungen, Nischen, Säulen, Sitze, Kronleuchter und die Elemente 1

Vgl. beispielsweise das Konzept des wearable space in Johannes Birringer: »Audible Scenography«, in: Performance Research 18 (3) 2013, S. 192-193, sowie das Konzept der virtual sound-stages, welches von Charlotte Gruber an Arbeiten von Rimini Protokoll, Dries Verhoeven, Blast Theory und Duncan Speakman hervorgehoben wird. Vgl. Charlotte Gruber: »Scenography of Virtual Sound-Stages«, in: Performance Research 18 (3) 2013, S. 197. Vgl. auch zum Zusammenhang von Architektur und Musik in der von Luise Nerlich dargestellten Methode der Klangtektonik, bei der die musikalischen Verhältnisse von Xannis Xenakis‹ Metastaseis auf ein Gebäude – den Philips-Pavillon – übertragen wurden. Vgl. Luise Nerlich: »KLANGtektonik. Die Entwurfsmethode«, in: dies.: KLANGtektonik. Entwurfsgrammatik in Architektur und Musik, Weimar 2012, S. 131-146.

80         

eines evtl. vorhandenen Bühnenbildes wesentlich mit an dem, was und wie etwas zu Gehör kommen kann.2 Hören im Theater vollzieht sich weder in raumakustischphysiologischer noch in phänomenologischer Hinsicht unabhängig vom Umgebungsraum, insofern das Zu-Hörende durch den Raum akustisch geformt wird und die Hörenden sich beim Hören während der Aufführungen des Umgebungsraums zumeist bewusst sind und das auditiv Wahrgenommene zur sich im Zusammenspiel aller Sinne konstituierenden Räumlichkeit in Bezug setzen. Die bei der Konzeption von Theaterbauten zugrundegelegten Koordinaten lassen sich mit bestimmten idealisierten Wahrnehmungsweisen und Aufmerksamkeitshaltungen in Zusammenhang bringen, insofern sich über die Gestaltung des Raums bis zu einem gewissen Grad kontrollieren lässt, was und auf welche Weise in diesem Raum wahrgenommen bzw. beachtet wird. Raumentwürfe stellen in diesem Sinne implizit zugleich auch bestimmte Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitskonzeptionen dar.3 Theaterhistoriografisch bedeutet dies, dass sich in den bestehenden historischen Theaterhäusern und -anlagen mehr oder weniger latente Strategien, Konventionen und Konzepte der Beeinflussung von Wahrnehmungsund Aufmerksamkeitsprozessen manifestieren, was Ludger Schwarte als räumliche Präfiguration bezeichnet.4 In diesem Sinne konstatiert Ulrike Haß: »Bühnenform und Wahrnehmung gehören zusammen. Das eine ist ohne das andere nicht zu denken, genauso wie sich das eine ohne das andere nicht eingestellt, nicht hergestellt und nicht realisiert hätte. Sie bilden gemeinsam eine Form.«5 Bei der Anordnung der Bühne zum Zuschauerraum kommt sowohl visuellen Faktoren bezüglich der sich ergebenden Sichtlinien und der möglichen Bewegungsfreiheit der Zuschauenden als auch akustischen Parametern im Sinne guter Hörbarkeit und Verständlichkeit grundlegende Bedeutung zu. Da die bestmögliche Sicht- und Hörbarkeit nicht in jedem Aspekt den gleichen räumlichen Prinzipien unterliegen, kann der jeweils gesetzte architektonische Schwerpunkt Auskunft geben über die kulturelle und his-

2 3

Vgl. Robert Maconie: The Concept of Music, Oxford 1990, S. 149. Vgl. Marie-Laure Ryan: Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media, Baltimore/London 2001, S. 298: »As responses to dramatic performance, immersion and interactivity are strongly affected by the arrangement of theatrical space. It is because standard theaters are designed for immersion, not for interaction between the actors and the audience [...].«

4

Vgl. Ludger Schwarte: Philosophie der Architektur, München 2009, S. 10.

5

Vgl. Ulrike Haß: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, S. 15. Das vorliegende Kapitel orientiert sich an Haß’ Herangehensweise, die Bühnenform nicht allein in ihrer Form, sondern hinsichtlich der Manifestation bestimmter Konzepte von Wahrnehmung und Darstellung zu analyiseren. »Nicht Baugeschichte, sondern eine Geschichte des Sehens ist zu verfolgen.« Ebd., S. 17.

           

     81 

torische Priorität entweder auf dem Sehen oder auf dem Hören. Dabei zeigt sich in der Theaterarchitektur nicht an, wie tatsächlich gehört wurde, sondern wie gehört werden sollte, d. h. welche Normen, Konventionen, Ideale und Praktiken sich mit dem Theater aufgrund seiner räumlichen Anlage verbinden. Für die Theaterhistoriografie bedeutet dies, dass Theatergeschichte – mit Berücksichtigung des Auditiven als dem zentralen Ausgangspunkt der Forschung – in seiner Bezugsetzung von Raumform, Bedeutung, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit in gewissem Sinn neu zu schreiben wäre. Dabei wird nicht behauptet, die bisherigen Ergebnisse wären inkorrekt, sondern vielmehr scheint es erforderlich, die mit einem visuellen Fokus nicht erkennbaren Prozesse und Entwicklungen, die sich als Verschiebungen von Dominanzen und Bewertungen innerhalb des Bereichs des Auditiven zeigen, zur Darstellung zu bringen. Dies ist nicht in Form einer nachträglichen Ergänzung im Sinne eines Supplements der Geschichte des Sehens im Theater zu vollziehen, sondern vielmehr als gleichwertiger Gegenstand, der einer ebensolch großen Aufmerksamkeit und Detailliertheit der Analyse berechtigt ist wie das intermodale Verhältnis von Hören und Sehen bzw. zwischen den anderen Sinnen. Die Berücksichtigung auditiver Aufmerksamkeit in der Historiografie der Aufführungspraxis betont zugleich die Relevanz von auditiver Aufmerksamkeit – im Sinne einer Aufmerksamkeit für das Auditive – auf Seiten der Theatergeschichtsschreibenden. Bezugnehmend auf Ulrike Haß’ detaillierte Studie zur Geschichte des Sehens im Theater ist zu fragen, was demgegenüber die Ausrichtung auf eine Geschichte des Hörens für die Theaterwissenschaft erbringen kann. Meine Antwort darauf ist, dass eine solche Ausrichtung es ermöglicht, die Geschichte des Hörens im Theater nicht ausschließlich als eine von Verlust und Verfall, sondern ebenso als eine von Differenzierung und Spezialisierung aufzufassen. Die theaterhistoriografische Literatur legt es nahe, von einer sich zu verschiedenen Phasen ereignenden zunehmenden Priorisierung des Sehsinns auszugehen, während der Hörsinn zu diesen Zeiten an kultureller Relevanz verliert. Doch diese Verschiebung ist einer genaueren Analyse zu unterziehen – nicht jegliche Art des Hörens wird im Zuge der architektonischen und theaterpraktischen Veränderungen abgewertet; vielmehr erfährt vor allem der auditive Modus des räumlich ungerichteten Lauschens eine Abwertung. Das konzentrierte Zuhören wird jedoch, so meine These, parallel zum Sehen aufgewertet. Was sich hieran zeigt, ist die grundlegende Historizität auditiver und attentionaler Modi, die von der Theatergeschichtsschreibung bislang noch nicht in Bezug auf historische Veränderungen in Architektur, Ästhetik und Darstellungspraxis nachvollzogen worden ist.6 Orientiert an Haß’ Vorgehensweise in der Unter-

6

Bestimmte Studien befassen sich mit einzelnen Phänomenen und Epochen, vgl. z. B. John G. Landels: Music in Ancient Greece and Rome, New York 1999, doch eine Publikation, die all diese Elemente in einen historischen Bezug und in ihren jeweiligen

82         

suchung des Zusammenhangs von Architektur und visueller Wahrnehmung ließe sich für den Bereich des Auditiven im Theater herausstellen, welche räumlichen Kriterien mit welchen Hör- und Aufmerksamkeitsmodi in Verbindung gebracht werden, und ob und inwiefern sich innerhalb dieses Bereichs Verschiebungen ergeben haben – beispielsweise im Verhältnis unterschiedlicher auditiver Modi des Sprache- oder Musik-Hörens bzw. des Zu-, Hin-, Überhörens, Horchens etc. Eine Differenzierung der historischen Verschiebungen von Dominanzen innerhalb des Bereichs des Auditiven ist in diesem Sinne anzustreben, um die sonst häufig primär behandelte Relation zwischen dem Hören und dem Sehen zu erweitern und gegebenenfalls zu modifizieren. Da davon auszugehen ist, dass sprachliche oder musikalische Darbietungen aufgrund ihrer je verschiedenen Optimalbedingungen anders gestaltete Räume erforderlich machen, ist im Umkehrschluss von der räumlichen Gestaltung auf die jeweils priorisierte Weise auditiver Wahrnehmung zu schließen.7 Vor allem bezüglich der resultierenden akustischen Faktoren werden insbesondere zwei geometrische Formen in der Architekturtheorie immer wieder miteinander verglichen und in ihrer Wirkungsweise gegenübergestellt: Im Kreis bzw. der Sphäre sowie im Rechteck bzw. im Quader werden diejenigen Grundlagen baulicher Konzeptionen verortet, welche zu einer je anderen, mal für Sprache, mal für Musik

Veränderungen nachvollzieht, wie dies Haß’ Studie – vor allem für den Bereich des Visuellen – macht, lässt sich nicht aufzeigen. 7

Räume werden entweder im Sinn bestmöglicher sprachlicher Verständlichkeit oder für größtmögliche musikalische Klangfülle konstruiert, denn die akustischen Strategien zur Produktion von Verständlichkeit oder von Klangfülle stehen in einem Gegensatzverhältnis zueinander – Ersteres wird maßgeblich durch Absorption aller als überflüssig und störend kategorisierter Laute, Letzteres vor allem mittels der Verstärkung der zu hörenden musikalischen Laute erzielt. Durch die Gestaltung des Raums in seiner Form, seinem Volumen und den in ihm verwendeten Materialien lassen sich die für raumakustische Verhältnisse wesentlichen Faktoren der Nachhallzeit und des Diffusitätsgrades weitgehend beeinflussen. Vgl. Leo Beranek: »Concert Hall Acoustics«, in: Architectural Science Review 54/2011, S. 5-14, hier S. 7; Claus Römer: Schall und Raum. Eine kleine Einführung in die Welt der Akustik, Berlin/Offenbach 1994, S. 88; Michael Barron: Auditorium Acoustics and Architectural Design, London u. a. 1993, S. 293; Wilhelm Stauder: Einführung in die Akustik, Wilhelmshaven 1976, S. 175 f.; François Canac: L’Acoustique des Théâtres Antiques. Ses Enseignements, Paris 1967, S. 175. Die Bedeutung dieser Faktoren für die Theaterarchitektur zeigt sich auch am Umbau der Staatsoper Unter den Linden in Berlin, deren Decke um fünf Meter angehoben wird, wodurch die Nachhallzeit im Raum verlängert und die hörbare Klangfülle wesentlich vergrößert werden sollen. Vgl. die Homepage der Staatsoper unter http://www.staatsoper-berlin.de/ de_DE/sanierung#aktuell, letzter Zugriff am 16.06.2016.

           

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optimalen Akustik führen.8 Sie resultiert vor allem aus den durch die Beugung der Wandflächen bewirkten Reflexionsverhältnissen innerhalb des Raums. Während konkav gebeugte Wände zur Bündelung der Schallwellen führen, bewirken konvexe Flächen eine diffuse Verteilung des Schalls im Raum.9 Hervorzuheben sind des Weiteren die Zusammenhänge zwischen den geometrischen Formen und den symbolischen Aufladungen und Bedeutungen der nach ihnen gestalteten Räume. Die Relationen zwischen diesen Komponenten sind theaterhistoriografisch bei weitem nicht ausreichend erfasst. Zu analysieren ist das Material, d. h. die Spuren, Abbildungen, Beschreibungen, Deutungen und Theorien der historischen Theateranlagen und -bauten, unter Berücksichtigung der folgenden Fragen: Auf welche Weise könnte ein bestimmter Theaterbau in seiner Form, seiner Anordnung und seinen akustischen Bedingungen zur Hervorbringung spezifischer Lautlichkeiten und Präfigurationen der auditiven Aufmerksamkeit des Publikums konzipiert worden sein? Mit welchen Bedeutungen sind die Formen und Elemente der Theateranlagen und -räume sowie demgegenüber die damit intendierten ›Formationen‹ von Aufmerksamkeit jeweils aufgeladen, und welcher Zusammenhang ergibt sich demnach aus dieser Verbindung für die Konzeption auditiver Aufmerksamkeit zu einer bestimmten Zeit?

             Nach Étienne Souriaus theaterhistoriografischer und -philosophischer Theorie stellt sich Theatergeschichte als Wechselverhältnis zweier, vor allem räumlich konzeptualisierter Prinzipien dar.10 Während das kubische Prinzip im Theater auf einer realistischen, ausschnitthaften Bühnendarstellung und auf Kriterien der frontalen Gegenüberstellung, Grenzziehung, Perspektivierung und Rahmung beruht, wird dem

8

Vgl. Andreas Kotte: Theatergeschichte. Eine Einführung, Köln 2013, S. 65 f.; David Wiles: A Short History of Western Performance Space, Cambridge 2003, S. 163; Jochen Meyer: Theaterbautheorien zwischen Kunst und Wissenschaft, Zürich 1998, S. 232; Kindermann 1963, S. 18. Jochen Meyer zitiert in seiner Studie zu Theaterbautheorien den Architekten Gottfried Semper, der im Halbkreis die ideale Form des Theaterraums sieht, da diese sich aus der natürlichen Anordnung interessierter Menschen um den Gegenstand des Interesses herum ergibt. Heinz Kindermann unterscheidet in der Theaterarchitektur zwischen Theatern des ›Kreistyps‹ und des ›Konfrontationstyps‹.

9

Vgl. Website Baunetz Wissen, Artikel ›Akustik‹, www.baunetzwissen.de/standardartikel/ Akustik_Planung-von-Reflexionen_147771.html, letzter Zugriff am 16.06.2016.

10 Vgl. Étienne Souriau: »Le Cube et la Sphère«, in: Architecture et Dramaturgie, hg. v. A. Villiers, Paris 1950, S. 63-83.

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sphärischen Prinzip eine um einen Mittelpunkt herum angeordnete rundförmige, leere und von allen Seiten zugängliche Bühne, auf der alle Gegenstände, Räume und Handlungen sprachlich evoziert und nicht konkret dargestellt werden, zugeordnet.11 Daraus geht eine stärkere Tendenz des Sphärischen zu rundförmigen Theaterräumen hervor, was Souriau zudem mit einem Hinweis - »Je disais à l’instant: plateau rond.« 12 – und einer knappen Aufzählung entsprechender Theateranlagen – »scènes à la russe, ou bien tels amphithéâtres, telles arènes, tels spectacles en plein air«13 – auch entsprechend präzisiert und verdeutlicht, dass darunter nicht nur metaphorische Konzepte zu verstehen sind. Über die geometrischen Figuren des Kubus und der Sphäre ergeben sich die Achsen der diskursiven Verflechtung von Wahrnehmungssinn, Theaterprinzip und einem entsprechenden Raumkonzept, tendenziell also vom Sehen zu Guckkastenbühnen bzw. vom Hören zu Rundbühnen. Das Kubische hält das Publikum in räumlicher Distanz zum Geschehen, und der Modus der Wahrnehmung ähnelt eher der Betrachtung von gerahmten und auf diese Weise markierten und ausgestellten Bildern, ist also primär visuell konzipiert. Demgegenüber werden die Zuschauenden im Sphärischen zu Teilnehmenden, da sie durch ihre räumliche Position in der Nähe der Darstellenden auf einer nicht deutlich abgegrenzten Bühne ins Geschehen involviert sowie darüber hinaus aufgrund der evozierten Imaginations- und Deutungsprozesse am Vollzug des Aufführungsgeschehens in starkem Maße beteiligt sind.14 Die Zuschauenden »sont invités, pour ainsi dire, avec l’acteur dans l’univers qu’il s’agit de susciter. Ils sont dans la sphère dont les limites palpitent et peuvent se dilater à l’infini en les englobant, en les dépassant.«15 Der Modalität des räumlichen ›Davor‹ im Kubischen entspricht im

11 Vgl. ebd., S. 66-68. 12 Ebd., S. 69. Im Ausnahmefall kann sich sphärisches Theater offenbar auch innerhalb kastenförmiger Theaterräume vollziehen. Entscheidend dabei ist der dem Sphärischen zugewiesene Prozess der Grenzauflösung. David Wiles kritisiert die von Souriau betonte Verbindung des Sphärischen mit der Gleichwertigkeit aller seiner Bestandteile. Wiles verdeutlicht diesbezüglich, dass sich physikalische und philosophische Überzeugungen einer bestimmten Zeit – auf Souriau bezogen folglich der 1950er Jahre – in die dann gemachten Deutungen von Formen und Gestalten einschreiben. Wiles rekurriert demnach auf Souriaus Deutung der Sphäre als Symbol für Demokratie und Mitbestimmung im Kontext einer durch diese Konzepte maßgeblich geprägten Zeit. Vgl. Wiles 2003, S. 165. 13 Souriau 1950, S. 69. 14 Auf die Relation zwischen Wahrnehmenden und ihrer Umgebung bezogen charakterisiert Souriau die Ambivalenz menschlicher Existenz als Gleichzeitigkeit von sphärischem Inder-Welt-Sein und kubischem Ihr-Gegenüber-Stehen. Vgl. ebd., S. 73. 15 Ebd., S. 68 [Hervorhebung KR]. In dieser Beschreibung zeigt sich die Verbindung des sphärischen Prinzip mit der Kreisform. Im symbolischen Kontext gilt der Kreis mit seiner

           

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Sphärischen somit ein omnidirektional ausgerichtetes, distanzloses ›Mittendrin‹oder ›Dabei-Sein‹, welches häufig als charakteristisch für das Hören bezeichnet wird. Dementsprechend ergeben sich Verbindungen zwischen den Prinzipien des Kubischen und des Sphärischen zum Sehen und Hören nicht allein aus Souriaus Konzeption, sondern auch durch Bezugnahme auf Theorien des Hörens und der Aufmerksamkeit, in welchen diese jeweils als ›sphärisch‹ bestimmt werden. Das sphärische und das kubische Prinzip sind nach Souriau im Theater nie ausschließlich gegeben; vielmehr ist von einer gegenseitigen Verflechtung und Relation auszugehen. Als ›wahrste theatrale Bewegung‹ beschreibt Souriau das Durchund Aufbrechen kubischer Begrenzungen hin zu einer durch das Sphärische bewirkten ›Verzauberung‹ und einem Gefühl von Gemeinschaft.16 Der Bruch mit dem kubischen Prinzip des Frontalen findet demnach durch die sphärische Grenzüberschreitung und -auflösung statt, welche in der einhüllenden und involvierenden Vereinnahmung des Publikums vonstatten geht.17 Dieser Wirkungsweise des Sphärischen lässt sich nach Souriau die Musik zuordnen, da seines Erachtens auch sie als weniger verräumlicht und vielmehr als sich im Raum hin- und herbewegend einzuschätzen ist.18 Dies lässt folgern, dass eine historische Verbindung zwischen den Dominanzen des Kubischen oder des Sphärischen und einer kulturellen Höherwertung entweder des Visuellen oder des Auditiven anzunehmen ist. Nach diesem Verständnis verschiebt sich die Bevorzugung des jeweiligen Prinzips im Theater parallel zu einer historisch und kulturell gegebenen Präferenz eines der Sinne sowie der ihm zugewiesenen Qualitäten und Wirkungsweisen. Es handelt sich nach Souriau im Theater grundsätzlich um eine Doppelfigur, bei der immer beide Prinzipien präsent, doch unterschiedlich gewichtet sind. Theaterhistorisch zeigt sich das Spannungsverhältnis zwischen kubischen und sphärischen Elementen vorrangig in solchen Theateranlagen, welche in der architekturtheoretischen und theaterhistoriografischen Forschung häufig für ihre sehr gu-

sich nach allen Seiten gleichmäßig zum Zentrum verhaltenden, in sich ungeteilten und insofern gleichwertigen Weite als Zeichen des Spirituellen und der Unendlichkeit. Demgegenüber wird dem Quadrat und dem Rechteck aufgrund der vier Ecken, die im symbolischen Kontext den vier Himmelsrichtungen entsprechen, die Bedeutungen der räumlich-konkreten Verortung und einer irdischen Endlichkeit zugewiesen. 16 Ebd., S. 73. 17 Vgl. ebd., S. 74. 18 Vgl. ebd., S. 77. Dieser Zuordnung entsprechend geht auch David Wiles im Rahmen der Rekonstruktion antiker griechischer Harmonieverhältnisse von einer Verbindung zwischen Musik und sphärischer Kreisform aus: »It follows from these Platonist principles that a circular theatre is the space where the most perfect music can be created.« Wiles 2003, S. 183.

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ten akustischen Verhältnisse herausgestellt werden, insbesondere folglich im antiken griechischen Theater. Exemplarisch weist Souriau daran auf, inwiefern sich beide Prinzipien in den Theaterbauten zeigen – die kreisförmige Bühne der Orchestra, die dem Bereich des Sphärischen angehört, ist in diesen Anlagen mit dem hinter ihr befindlichen, erhöhten Bühnenplateau, dem Logeion, welcher dem Kubischen zuzurechnen ist, verbunden. 19 Die architektonischen Spuren vergangener Theaterpraxis verweisen auf die dynamische Relation zwischen den von Souriau genannten Prinzipien, bei denen weniger von harmonischer Gleichzeitigkeit als vielmehr von einer konstanten Verschiebung der Gewichtung zwischen beiden Prinzipien auszugehen ist. Souriaus Verständnis der Theatergeschichte als permanentes Alternieren zwischen zwei grundlegend verschiedenen Prinzipien voraussetzend stellen sich im Zusammenhang von Formsymbolik, Architektur, Raumakustik und Rezeptionsmodi vor allem solche historischen Zeiten als interessant heraus, in denen sich Veränderungen in der Theaterarchitektur und der Darstellungspraxis vollzogen haben. Denn anzunehmen ist, dass gerade aus den Umbrüchen und Modifikationen in der Bau- und Darstellungspraxis Erkenntnisse über die Weisen, wie auditive Aufmerksamkeit aufgefasst und welche Bedeutung ihr zugewiesen wurde, zu erhalten sind. Die architektonischen Umgestaltungen geben zu erkennen, welche Komponenten als verbesserungswürdig eingeschätzt wurden, um den Idealen bestimmter Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsmodi eher genügen bzw. diese verstärkt hervorrufen zu können. Dem Zusammenhang von Form, Raum, Wahrnehmung und Bedeutung wird im Folgenden anhand theaterhistoriografischer, archäologischer, architekturtheoretischer, akustischer und kulturwissenschaftlicher Studien und Untersuchungen nachgegangen und in seinen Implikationen für auditive Wahrnehmung und Aufmerksamkeit befragt, wobei der Schwerpunkt insbesondere auf dem zuvor erwähnten antiken griechischen Theater und auf möglichen Differenzierungen innerhalb des Auditiven liegt. Bei Souriau ist das Sphärische nicht mit dem gesamten auditiven Bereich gleichzusetzen, sondern vielmehr von einer Unterscheidung auditiver Modi

19 Vgl. Souriau 1950, S. 71. Ludger Schwarte weist auf die besondere Räumlichkeit der Theateranlage von Megalopolis hin, welche mit einem Amphitheater und einem angeschlossenen Odeon ein kreisförmiges und ein rechteckiges Theater direkt nebeneinander umfasst. Vgl. Ludger Schwarte: »Gleichheit und Theaterarchitektur: Voltaires Privattheater«, in: Erika Fischer-Lichte/Benjamin Wihstutz (Hg.), Politik des Raumes. Theater und Topologie, München 2010, S. 33-44, hier S. 36 f. Wiles kritisiert, dass in der Rede vom ›Guckkastentheater‹ zumeist übergangen wird, dass viele Auditorien nach dem Prinzip des Kreises bzw. des Halbkreises angelegt sind und sich somit eine Kombination von kubischen und sphärischen Komponenten auffinden lässt, welche in ihrem Verhältnis zueinander spezifischer zu analysieren wären. Vgl. Wiles 2003, S. 164 f.

           

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auszugehen. Neben der dem Sphärischen zugeordneten Musik ist z. B. die von Solokünstler*innen vorgetragene Vokal- oder Instrumentalmusik aufgrund ihrer spezifischen Darbietungsweise, die von Souriau als Gabe einer Person an das ihr gegenübertretende Publikum aufgefasst wird, dem Kubischen zuzuweisen. Dem Letzteren entspricht auch Wiles’ Verbindung von frontaler Anordnung mit Sprache, insofern sich Zuhörende dem oder der Sprechenden gegenüber positionieren.20 Solche Zuordnungen ergeben ein Schema, nach dem jeweils Musik mit der sphärischen und Sprache bzw. an eine einzelne Person gebundene Darstellungsweisen mit der kubischen Dimension assoziiert werden könnten. Bezogen auf theatergeschichtliche Zusammenhänge ließen sich demnach Verschiebungen der theaterästhetischen Prioritäten zwischen Musik und Sprache sowie zwischen verschiedenen musikalischen Genres an den jeweiligen Raumstrukturen und Bühne/Zuschauerraum-Konstellationen ablesen.

                          Relevante architektonische Veränderungen haben sich sowohl im antiken griechischen Theater als auch im Übergang zum römischen Theater ergeben. Es lassen sich drei besonders interessante Phasen hervorheben, die mit einem Wandel der räumlichen Aspekte einhergehen, und zwar erstens der dem 5. Jahrhundert v. Chr. zugeschriebene Wechsel von frühesten rectilinearen und trapezoiden Formen zur kreisförmigen Orchestra, zweitens die in der hellenistischen Zeit ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. vorgenommene deutliche Erhöhung der Skenenplattform sowie, drittens, die Übernahme und gleichzeitige Modifikation bestimmter theaterarchitektonischer Prinzipien der griechischen in die römische Theaterarchitektur ab ca. 6055 v. Chr. Es ist davon auszugehen, dass diese Veränderungen auch einen Wandel der Darstellungspraxis und Wahrnehmungsweisen mit sich brachten. Das Spannungsverhältnis zwischen kubischen und sphärischen Formen zeigt sich im antiken griechischen Theater im Übergang von einer rechteckigen oder trapezförmigen Orchestra, die von Zuschauerreihen in Hufeisenform umgeben ist, zur Kreisform.21 Eine rectilineare Orchestra lässt sich beispielsweise in den Theateran-

20 Vgl. Wiles 2003, S. 164. Bei Wiles ist das Gegenstück zur Sprache das Spektakel, d. h. körperlich vollzogene Aktionen, die zu einer räumlichen Positionierung der Zuschauenden um die Agierenden herum, also zu einer sphärischer Anordnung, führen. 21 Vgl. Kotte 2013, S. 69: »Die Forschung neigt dazu, die rectilineare Bauweise grundsätzlich als die Regel für die ältesten Baustufen griechischer Theater zu betrachten.« Vgl. auch Kalliopi Chourmourziadou und Jian Kang: »Acoustic Evolution of Ancient Theatres

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lagen von Thorikos, Ikaria, Rhamnous, Knossos, Isthmia, Argos u. v. a. nachweisen.22 Dass die rectilinearen Formen von Thorikos in Wilhelm Dörpfelds und Emil Reischs Beschreibung als »eigentümliche Gestalt«, »ungewöhnliche« und »einfachste Form«23 dargestellt werden, weist auf die Bewertungsmechanismen hin, die in theaterarchitektonischen Rekonstruktionen wirksam werden können, insofern sich Dörpfelds und Reischs These von der Priorität der zirkulären Orchestra in der griechischen Theaterarchitektur implizit als Höherwertung dieser Form in die Darstellung der rectilinearen Theaterbauweisen einschreibt. Es zeigt sich, dass es in der Theatergeschichtsschreibung eine Tendenz gibt, der Kreisform mehr Wert zuzusprechen, was möglicherweise in einem Zusammenhang mit den dieser Form zugewiesenen Qualitäten und Wirkungsweisen – demokratischer, ausgeglichener, involvierender, wirksamer zu sein – zu bringen ist. 24 So wird die architektonische Modifikation der Theater- und Bühnenform zu einem Kreis vor allem durch die dadurch zu erzielende größere Nähe aller Zuschauenden zum Bühnengeschehen und das vermeintlich stärkere Involviert-Sein des Publikums begründet.25 Der Stei-

and Effects of Scenery«, in: Benjamin N. Weiss (Hg.), New Research on Acoustics, New York 2008, S. 221-242, hier S. 222, und Richard und Helen Leacroft: Theatre and Playhouse. An Illustrated Survey of Theatre Building from Ancient Greece to the Present Day, London/New York 1984, S. 8. 22 Vgl. zu den Bauten in Ikaria und Rhamnous bei Richard und Helen Leacroft 1984, S. 4 f.; zu allen Bauten in Elizabeth Gebhard: »The Form of the Orchestra in the Early Greek Theater«, in: Hesperia 43/1979, S. 428-440; vgl. zu Thorikos in Wilhelm Dörpfeld und Emil Reisch: Das griechische Theater. Beiträge zur Geschichte des Dionysos-Theaters in Athen und anderer griechischer Theater, Athen 1896, S. 110. Gebhard vertritt in kritischer Haltung zu einer auf die Kreisform ausgerichteten Interpretationsweise, welche die theaterhistoriografische Forschung dominiert, die folgende Ansicht: »In conclusion, we see that there appears to have been no fixed shape for the orchestra in the early Greek theater. In no case is there evidence that the orchestra had a form different from that of the space defined by seats and terrace. This is most often a space with a slightly irregular rectilinear outline. [...] There is no incontrovertible evidence for an orchestra circle before the theater at Epidauros was built at the end of the fourth century B.C.« Gebhard 1979, S. 440. 23 Dörpfeld und Reisch 1896, S. 109 ff. 24 Darauf weist auch die Ermahnung Kottes hin, die rectilinearen Formen in der theaterhistoriografischen Auseiandersetzung mit Architektur weder zu vernachlässigen noch in ihrer Bedeutung zu unterschätzen. Vgl. Kotte 2013, S. 66. 25 Sie zielt, so die Auslegung von Umberto Papparlardo u. a., darauf ab, bessere Sicht- und Hörverhältnisse zu erreichen sowie – möglicherweise im Zusammenhang mit den verbesserten Wahrnehmungsbedingungen – das Gefühl der Teilhabe beim Publikum zu verstär-

           

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gungsgrad der Sitzreihen wird erhöht, häufig ist er auch in den weiter entfernten Reihen noch steiler angelegt, um größere Nähe zu erreichen.26 Heinz Kindermann bezeichnet diese räumliche Anordnung als ein »Gegenüber in der Form eines Umschließens«27, was – im Rückgriff auf die Ausführungen Souriaus zum griechischen Theater – des Weiteren auf die Komplexität der Verschränkung von kubischen und sphärischen Qualitäten in dieser Theateranlage verweist. Doch das Umschließen der Orchestra durch die Zuschauerreihen im Dreiviertelrund lässt sich nicht allein in Bezug zur größeren Nähe zum und Involvierung des Publikums in das Bühnengeschehen setzen, wie dies dem sphärischen Prinzip entspricht, sondern ist auch in Relation zu einer zunehmenden Fokussierung gegenüber den rectilinearen Anlagen zu verorten – eine Perspektive und Einschätzung, welche ohne die Berücksichtigung der früheren alternativen Formen nicht so deutlich hervortritt. Im Gegensatz zur weitgehend vertretenen Meinung der Theatergeschichtsschreibung, in der kreisförmigen Anlage der griechischen Theater auf das Sphärische und das Auditive verweisende Komponenten der Nähe, der Involviertheit und der Grenzauflösung zu bestimmen, stellt David Wiles diese räumliche Konstellation und Form als Manifestation zunehmender Fokussierung dar und betont: »The focal point of the orchestra was the centre.«28 Die räumliche Struktur und Ordnung des Kreises nach

ken. Vgl. Umberto Pappalardo: Antike Theater. Architektur, Kunst und Dichtung der Griechen und Römer, Petersberg 2007, S. 8, und Thanos Vovolis: »Acoustical Masks and Sound Aspects of Ancient Greek Theatre«, in: Classica. Revista Brasileira de Estudos Clássicos 25 (1/2) 2012, S. 149-174, hier S. 151. Doch es gibt auch andere Begründungen für die Modifikationen: Andreas Kotte geht im Anschluss an Dörpfeld davon aus, dass eher pragmatische Gründe ausschlaggebend gewesen sein könnten, insofern die rectilinearen und trapezoiden Formen möglicherweise finanziell günstigere bauliche Versionen darstellten. Vgl. Kotte 2013, S. 68 f. Vgl. zum Theater von Thorikos mit rectilinearer Orchestra und hufeisenförmigem Koilon in Dörpfeld und Reisch 1896, S. 110: »Seine eigentümliche Gestalt ist durch Sparsamkeitsrücksichten veranlasst.« Helen und Richard Leacroft führen den praktischen Grund, dass sich Stein besser als Holz in einen der Kreisform adäquaten Zuschnitt bringen lässt und die Mauern und Sitzreihen der frühesten Theater erst bei dem Umbau in Stein jene Form erhalten konnten, als Argument für die spätere Kreisform an. Vgl. Richard und Helen Leacroft 1984, S. 16. 26 Vgl. zum hohen Steigungsgrad der Zuschauerreihen bei Chourmourziadou 2008, S. 225; Canac 1967, S. 173. 27 Kindermann 1963, S. 8. 28 Vgl. David Wiles: Greek Theatre Performance. An Introduction, Cambridge 2000, S. 120, Wiles 1997, S. 66; Maconie 2005, S. 77. Im symbolischen Kontext wird der Kreis als integrierende, in allen Bestandteilen gleichwertige Figur bestimmt, bei welcher ausschließlich das Zentrum gegenüber dem Umfeld höhere Bedeutung besitzt. Zur Betonung

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Mittelpunkt und Umgebung bzw. Rand forciert andere Aufmerksamkeitsdynamiken als eine rectilineare Orchestra, denn der zentrale Ort des Mittelpunkts dominiert die Organisation der sich um ihn herum entfaltenden und auf ihn in ihren konzentrischen Linien hinstrebenden Zuschauerreihen sowie der dort ablaufenden Wahrnehmungsprozesse. Helen und Richard Leacroft deuten die architektonischen Modifikationen als einen Wandel von einer dreidimensionalen zu einer verstärkt direktionalen Ausrichtung von Bühne und Zuschauerbereich. Direktional ist die Kreisanordnung vor allem aufgrund der durch sie bewirkten starken räumlichen Ausrichtung des Publikums auf den Kreismittelpunkt, welche bei rectilinearen Formen der Orchestra nicht vorhanden ist.29 Demnach lässt sich die Veränderung von rectilinearen zu kreisförmigen Orchestra-Arealen theaterhistoriografisch als zunehmende Fokussierung der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit des Publikums deuten. In der hellenistischen Zeit ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. werden unter Lykurg diverse Umbauten an den Theatern vorgenommen, von denen vor allem die Veränderung der Skene für die Wahrnehmungsverhältnisse in den Anlagen relevant ist, insofern sie zu einem steinernen, erhöhten und länglichen Podest ausgebaut wird.30 Durch die Skene wird die Position der Schauspieler31 aus der Kreisfläche heraus auf ein quer zum Publikum stehendes, längliches Plateau bewegt, auf dem sie ihm gegenüber und nicht mehr in der Mitte platziert sind. Die architektonischen Veränderungen bewirken eine Verlagerung des Aufmerksamkeitsfokus’ von der Orchestra, welche an Bedeutung verliert, auf die dahinter befindliche Skeneplattform.32 Begründet wird dieser Wandel in der Forschung u. a. mit der erforderlich gewordenen deutlicheren Markierung und sichtbaren Unterscheidung der beiden am Bühnengeschehen beteiligten Gruppen des Chors auf der Orchestra und der Gruppe der Schauspieler, die nun drei Personen umfasst und als deren Position innerhalb des

der großen Bedeutung des Zentralpunkts lässt sich zudem der häufig hier befindliche Opferaltar anführen. Vgl. Arthur W. Pickard-Cambridge: The Theatre of Dionysus in Athens, Oxford 1946, S. 147. 29 Vgl. Leacroft/Leacroft 1984, S. 18. 30 Vgl. Chourmourziadou/Kang 2008, S. 223; Pappalardo 2007, S. 10; Shankland 1972, S. 201; Pickard-Cambridge 1946, S. 148. 31 In Bezug auf das antike griechische, römische und das Theater des Elisabethanischen Zeitalters verwende ich keine gegenderte Form, da im Theater nur Männer auf der Bühne zu erleben waren. Sie übernahmen auch die Rollen der weiblichen Figuren. 32 Vgl. z. B. Manfred Brauneck: Europas Theater. 2500 Jahre Geschichte – eine Einführung, Reinbek bei Hamburg 2012, S. 75, Leacroft/Leacroft 1984, S. 25; Canac 1967, S. 35; Joseph Gregor: Weltgeschichte des Theaters, Zürich 1933, S. 117.

           

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Theaters primär das Skenenpodest gilt.33 Die durch die kreisförmige Orchestra etablierte Fokussierung der Publikumsaufmerksamkeit auf den Zentralpunkt wird durch das Hinzufügen der Skeneplattform beeinträchtigt und durchbrochen. Die Skene, nach Souriau ein kubisches Element, führt die Bewegung der zunehmenden Fokussierung fort und wird generell in der Theatergeschichtsschreibung als Manifestation einer sich nach und nach durchsetzenden Aufwertung des Sehsinns bewertet.34 Die architektonischen Veränderungen im römischen Theaterbau werden als Fortführung dieser Entwicklung eingeschätzt, insofern vor allem die reduzierte Größe der Orchestra und die damit verbundene abnehmende Bedeutung gegenüber dem immer stärker ausgebauten, in die Breite und Höhe erweiterten und schmuckvoll ausgeführten Skenegebäude, als Hinweis auf die wachsende Prävalenz des Sehsinns aufgefasst wird. Die ehemals kreisförmige Orchestra wird in zwei Halbkreise geteilt, eine Hälfte von den Bühnenbauten, die andere teilweise von Zuschauenden besetzt, und ist insofern als Kreis nicht mehr wirklich wahrnehmbar. Das Skene-Element wird im römischen Theater ausgebaut und erhält mehr Bedeutung, so dass es, anstatt eine Hinzufügung zur Orchestra zu sein, die Wahrnehmungsordnung innerhalb der Anlage zunehmend dominiert. Das Publikum ist nicht mehr um die Bühne herum, sondern ihr – mit mehr oder weniger schräger Ausrichtung – gegenüber positioniert und stärker von ihr abgegrenzt. Nicht nur aufgrund der Frontalität, sondern auch durch die oben erläuterte Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das Bühnengeschehen wird theaterhistoriografisch vorwiegend von einer zunehmenden Priorisierung des Visuellen ausgegangen. Manfred Brauneck interpretiert die das Theater nun vollständig einfassende hohe Mauer als Bestandteil

33 Vgl. Chourmourziadou/Kang 2008, S. 223; Papparlardo 2007, S. 14; Leacroft/ Leacroft 1984, S. 18; Pickard-Cambridge I946, S. 175. Wiles kritisiert die in weiten Teilen der Forschung vertretene Meinung, schon vor der hellenistischen Zeit wäre es zu einer deutlichen räumlichen Trennung zwischen dem Chor – auf der Orchestra – und dem Akteur – vor oder auf einer Skene – gekommen. Stattdessen nimmt er an: »The separation of actors on stage from chorus below in the orchêstra belongs to the Hellenistic era, when democracy had become institutionalized, and the theatre was concerned with individuating human beings, whose existence had become sharply separable from that of the polis and of divinities.« Wiles 1997, S. 66. 34 Ludger Schwarte stellt die architektonische Entwicklung in einen Zusammenhang mit der abnehmenden Bedeutung der Demokratie, gegenüber der sich ein hierarchisches und auf Abgrenzungen beruhendes Denken durchsetzt. »Die Öffentlichkeit wurde segregiert und zerstreut.« Schwarte 2010, S. 38. Die architektonischen Maßnahmen im Theaterbau zielen dementsprechend auf »Signalbereinigung und -verstärkung«, was die damit einhergehende Unterscheidung von Wesentlichem und Nebensächlichem konstituiert und markiert. Ebd., S. 37.

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einer Strategie zur Ausrichtung und Lenkung des Blickfelds ausschließlich auf die Bühne.35 In der direkten Konfrontation mit der hohen und sich näher an den Zuschauerreihen befindlichen Wand des Szenengebäudes erlangt das Publikum, so wiederum Wiles, einen Sinn für das Unsichtbare, das sich hinter der Vorderfront verbirgt, über welche – im Gegensatz zu den griechischen Theaterbauten – kein Blick hinweg auf die umgebende Landschaft mehr möglich war.36 Insgesamt werden folgende Veränderungen als Manifestationen einer zunehmenden Bedeutsamkeit des Visuellen bewertet: über die Scaenae frons hinaus die Integration von Vorhängen, die ersten Szenografien mit bemalten Elementen, die nun stark verbreiterte Bühne sowie das flachere Proszenium, das die Sichtbarkeit des Bühnengeschehens für die vorderen Reihen erhöht.37 Als Fortsetzung dieser Entwicklung bewertet Ulrike Haß die theaterbaulichen Maßnahmen und Überlegungen der Renaissance, welche sich explizit auf die römischen Bauten und insbesondere auf Vitruvs Architekturtheorie beziehen: »Im inneren Zentrum beginnt mit dieser Mittelachse die Organisation einer Richtung, in der die allein auf das Schauspiel gerichtete Aufmerksamkeit eingeübt wird.«38 Sowohl im Übergang von der griechischen zur römischen Kultur als auch in den ersten Jahrhunderten der Renaissance vollzieht sich somit nach und nach eine DominantWerdung von Frontalität und Fokussierung, welche zum einen als typisch ›visuelle‹ Prinzipien bestimmt und zum anderen mit dem Verlust und Verfall des Auditiven verbunden werden. So stellt Heinz Kindermann bezüglich der antiken römischen

35 Vgl. Brauneck 2012, S. 75. Bei Helen und Richard Leacroft wird diese Ausrichtung von Bühnen- und Zuschauerbereich zueinander als »semi-directional relationship of actor and audience« der omnidirektional ausgerichteten räumlichen Anlage der Amphitheater gegenübergestellt. Leacroft/Leacroft 1984, S. 31. Während die Aktionen im Amphitheater durch Dreidimensionalität gekennzeichnet sind, wird die Handlung der Akteure auf der Theaterbühne als ein Hervortreten und Sich-Abheben von der Scaenae frons, vergleichbar mit dem Hervor- und Zurückstehen der Komponenten eines Reliefs, beschrieben. Heinz Kindermann spricht vom ›Frontalspiel‹ der antiken römischen Schauspieler. Vgl. Heinz Kindermann: Theatergeschichte Europas, Bd. 1 Antike und Mittelalter, Salzburg 1957, S. 184. 36 Vgl. Wiles 2003, S. 184; Haß 2005, 145. 37 Vgl. zur verbreiterten Bühne bei Chourmourziadou 2008, S. 225; Kindermann 1957, S. 184. Vgl. Kindermann 1963, S. 14 zum flacheren Proszenium, das gute Sichtbarkeit auch in den vorderen Reihen und von der nun mit Honoratioren besetzten Orchestra aus gewährleisten sollte. Vgl. zu Vorhängen und zur perspektivisch bemalten Fassade bei Brauneck 2012, S. 73 und 75 f.; Richard Beacham: The Roman Theatre and its Audience, London 1991, S. 163 und 171; Kindermann 1963, S. 14 f. 38 Haß 2005, S. 156.

           

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Kultur fest: »Nicht das Drama, sondern die Aufführung war wichtig – und das Optische hatte bei weitem den Vorrang vor dem Akustischen.«39 Ulrike Haß zufolge setzt sich diese Entwicklung bis in die Renaissance fort: »Je mehr sich die auditive Dimension aus dem Theater zurückzieht und in der Oper ihr eigenes Theater entfaltet, desto ausschließlicher wird in den Schauanlagen des Theaters die Idee der Frontalität betont.«40 Zu dieser Gegenüberstellung der griechischen und römischen Theaterkultur als einer des Hörens respektive des Sehens fügt Kindermann eine für die vorliegende Arbeit interessante weitere Differenz hinzu. Während sich die griechische Rezeption im Theater durch Konzentration, bzw. durch eine Haltung »atemloser Hinwendung zum theatralischen Symbolgeschehen«41, auszeichnet, lässt sich die römische demgegenüber ›nur‹ – nach Kindermann bedeutet der Unterschied einen Verlust und Abstand vom Ideal – als »zerstreuende Schaulust«42 bezeichnen. Hören ist nach diesem Schema mit dem durch die Rundform des Theaters offenbar noch verstärkten Aufmerksamkeitsmodus der Konzentration, Sehen demgegenüber mit einer Aufmerksamkeitsdynamik von Zerstreuung und Ablenkung verbunden.43

39 Kindermann 1957, S. 191. 40 Haß 2005, S. 155. 41 Kindermann 1963, S. 10. 42 Ebd. 43 Die sich hier manifestierenden Assoziationen des Hörens mit Reflexion, Verstehen, Ernsthaftigkeit und des Sehens mit Lust, Affektion, Unterhaltung stehen den Zuordnungen der traditionellen ›audiovisual litany‹ nach Sterne diametral entgegen, so dass an der Möglichkeit einer solchen alternativen Zuordnung erneut die Relevanz einer theaterhistoriografischen Berücksichtigung insbesondere des Auditiven und der Aufmerksamkeit deutlich wird. Auf diese Weise wird es möglich, solche Verschiebungen und alternativen Verknüpfungen aufzuzeigen, zu hinterfragen und den fort- und festgeschriebenen Schemata entgegenzusetzen. Anzumerken ist, dass Differenzierungen zwischen den Modi des Hörens und des Zuhörens in diesem Kontext von Belang sind, wobei vor allem und nahezu ausschließlich letzterem Qualitäten der Fokussierung, Gerichtetheit und Konzentration zugewiesen werden. Vgl. z. B. Margarete Imhof: Zuhören. Psychologische Aspekte auditiver Informationsverarbeitung, Göttingen 2003, S. 15 f.; Roland Barthes: »Zuhören«, in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Kritische Essays III, Frankfurt/M. 1990 [Original: »Écoute«, in: L’obvie et l’obtus, Essais critiques III, Paris 1982, S. 217-230], S. 249-263.

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                               Die zuvor ausgeführten Zusammenhänge lassen sich unter Berücksichtigung der auditiven Aufmerksamkeit und Wahrnehmung auch auf eine andere Weise beschreiben und deuten, und zwar indem Frontalität und Fokussierung nicht als Kategorien der Unterscheidung zwischen Visuellem und Auditivem, sondern vielmehr als Dimensionen verschiedener Modalitäten des Auditiven bestimmt werden. In diesem Sinne ist eine Fokussierung der Zuhörenden auf das gesprochene Wort mit einer räumlichen Anordnung der Frontalität verbunden, bei der sich Zuhörende und Sprechende gegenüberstehen. Wiles nimmt Bezug auf eine Art ›körperliche Logik‹, nach der sich die räumliche Ausrichtung von Wahrnehmenden gegenüber dem Wahrgenommenen vollzieht: »The Swedish designer Per Edström begins a manifesto for ›arena theatre‹ by observing that people form a circle when engaged in an important debate, and gather on all sides round a fight; they define a narrow angle when listening to and watching a monologue, but the angle widens when several actors play in front of a picture. Irrespective of symbolism, a certain physical logic thus governs theatrical form. Speeches generate frontality, whilst interaction and displays of physical action generate circularity. Western theatre has always had to negotiate these opposing impulses.«44

Entgegen der vereinfachenden Zuordnung des Hörens zur Kreisform und des Sehens zur Frontalausrichtung geht Wiles von einem Spektrum verschiedener Formationen aus, die sich nach der Art des wahrgenommenen Phänomens und der entsprechenden Modalität von Wahrnehmung richten. Eine Debatte, ein Kampf, ein vorgetragener Monolog sowie physische Aktionen eines oder mehrerer Menschen bewirken jeweils unterschiedlichste Formationen unter den Zuschauenden, welche sich dem Wahrnehmungsmodus entsprechend zum Geschehen positionieren. Eine Debatte basiert auf wechselnden Äußerungen, gegenseitigem Zuhören und körperlicher Nähe, während der Monolog ein auf das Gesprochene gerichtetes, verstehendes Zuhören fordert und Formen der Darstellung, wie sie das antike Theater aufweist, eine zirkulare, das Geschehen in jeder Richtung umgebende Publikumsanordnung hervorrufen. Prozesse des Verstehens sind nach Edströms ›körperlicher Logik‹ mit dem Kubisch-Frontalen, das Spektakuläre mit dem Sphärisch-Omnidirektionalen verknüpft.45

44 Wiles 2003, S. 163 f. 45 Auch Souriau weist der Rezeption eines Spektakels die räumliche Anordnung im Kreis zu, wobei der dabei berücksichtigte Modus der Wahrnehmung vor allem visuell ist, inso-

           

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In der unterschiedlichen räumlichen Ausrichtung verdeutlicht sich, dass zum einen ein Unterschied zwischen den Weisen des Zuhörens bei Musik und bei Gesprochenem besteht sowie zum anderen dass sich die Zuhörmodi von Sprache weiterhin differenzieren lassen, insofern eine Vortrags- und eine Debattensituation je verschiedene Arten des Zuhörens bewirken, was sich in den räumlich diversen Anordnungen der frontalen Gegenüberstellung oder den kreisförmigen Näheverhältnissen anzeigt. Dabei sind es insbesondere die diversen auditiven Aufmerksamkeitsdynamiken, welche die Unterschiede der Hörweisen und der Positionierung begründen.46 Denn diese resultieren aus der Gerichtetheit und Verdichtung der auditiven Aufmerksamkeit, die sich mal verengt auf den Sinn der gesprochenen Worte, mal erweitert auf die verschiedenen erklingenden Stimmen aller an einer Debatte Beteiligten oder aber auch auf den sich in der Musik eröffnenden weit offenen Klangraum richten kann. Die zuvor erwähnte Bauweise einer kreisförmigen Orchestra hängt demzufolge nicht allein mit visuellen Faktoren zusammen, auch wenn mit der Einführung des ersten Schauspielers – zusätzlich zum Chor – bessere Sichtlinien an Bedeutung gewinnen konnten, sondern ebenso mit einer Dominanzverschiebung unter den akustischen Phänomenen und dem Bestreben einer stärkeren Fokussierung der auditiven Aufmerksamkeit des Publikums auf die Orchestra.47 Sie bildet nicht allein in visuel-

fern die Rezipierenden das Geschehen vor allem gut sehen und nicht allein nur hören wollen. Vgl. Étienne Souriau: Vocabulaire d’esthétique, Paris 1990, S. 353: »La disposition en cercle peut s’établir spontanément quand un groupe d’individus s’agglomère autour de ce qu’il y a à regarder (faire le cercle), mais elle a été adoptée aussi, depuis l’Antiquité (arènes, cirques...) jusqu’au moderne théâtre en rond, comme dispositif architectural destiné à des spectacles.« 46 Dass dementsprechend Sprache mit starker Fokussierung auf die gesprochenen Worte mit dem Ziel des Verstehens und Musik eher als einhüllende, körperlich-leiblich sowie affektiv wirksame ›Sphäre‹ wahrgenommen wird, ist eine Annahme, die im vierten Kapitel zu auditiver Aufmerksamkeit im Gegenwartstheater noch einmal in Frage zu stellen ist. Es sollte in Betracht gezogen werden, dass alltägliches Sprechen und Sprechen im Theater zwei unterschiedliche Vorgänge sind, die verschiedene Hörweisen hervorrufen, insofern die vorrangige Ausrichtung auf Verständlichkeit in der Alltagskommunikation im Theater keine oder zumindest keine ausschließliche Vorrangigkeit besitzt, sondern sich in diesem Kontext auf den Klang und Rhythmus der erklingenden Stimmen richten kann. 47 Dass sich nach David Wiles im Theater von Thorikos, einer dem 5. Jahrhundert zugeschriebenen Anlage mit rectilinearer Orchestra und hufeisenförmigem Zuschauerbereich, kein einzelner Fokussierungspunkt hervorheben lässt, verweist meines Erachtens darauf, dass eine Veränderung der Bauform im Rahmen einer erwünschten stärkeren Fokussie-

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ler Hinsicht, sondern darüber hinaus auch im Auditiven der Fokuspunkt und das Machtzentrum dieser Anlage. Durch die Thespis zugeschriebene Einführung des ersten Schauspielers im 5. Jahrhundert verändert sich der auf Seiten des Publikums erforderliche Wahrnehmungsmodus, denn der dann vorwiegend hörbare Sologesang bzw. die rezitative Deklamation motiviert eine andere Art des Zuhörens als der Chorgesang. Auch mit der sich langsam vollziehenden Zunahme der Bedeutung des Sprechens gegenüber dem – im antiken griechischen Theater lange Zeit wesentlichen – Gesang verlagert sich das Ziel raumakustischer Modifikationen auf die Verständlichkeit des Gesagten. Die Kreisform ist ein erster Schritt in diese Richtung, indem den Sprechenden nah am Zentrum des runden Bühnenareals mehr Gewicht verliehen wird und die raumakustischen Verhältnisse in der kreisförmigen Theateranlage optimal für höchstmögliche Sprachverständlichkeit auch in den obersten Reihen sind. Doris Kolesch bezeichnet diese Theateranlagen daher als »Architektur der akustischen Verstärkung, da die Schauspieler nur unwesentlich lauter sprechen oder singen mußten als in einem normalen Gespräch, um vom gesamten Publikum deutlich vernommen zu werden.«48 Darüber hinaus bewirkt die später folgende Erhöhung der Skene neben der stärkeren Ausstellung und Sichtbarkeit der Schauspieler vor allem auch eine Veränderung der akustischen Bedingungen des Theaters, insofern durch die höhere Position der Darsteller eine Steigerung der Reichweite und die Optimierung der Reflexionsverhältnisse für die Schauspieler-Stimmen erreicht werden konnten. Akustische Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Modifikationen zu einer Erhöhung der Verständlichkeit des Gesprochenen führten, was auf eine sich ereignende Bedeutungsverlagerung von Musik und Gesang zum Sprechen hinweist.49 In diesem sorgfältig austarierten räumlichen

rung wichtig wurde. Vgl. David Wiles: Tragedy in Athens. Performance Space and Theatrical Meaning, Cambridge 1997, S. 66. 48 Doris Kolesch: »Shakespeare hören: Theatrale Klangwelten in der griechischen Antike, zu Zeiten Shakespeares und in gegenwärtigen Shakespeare-Inszenierungen« (2008), S. 14. 49 Vgl. Maconie 2005, S. 76; Wiles 2000, S. 109; Shankland 1972, S. 201; Canac 1967, S. 39; Beranek 1962, S.7. Der Skenemauer wird eine doppelte Funktion zugewiesen, denn einerseits diente sie – vor allem in ihrem unteren Teil aus Stein – der Reflexion und Verstärkung der Schauspielerstimmen, andererseits sollte sie im Idealfall, wie Canac ausführt, durch die im oberen Bereich verwendeten anderen Baumaterialien absorbierend auf die von der Cavea zurückgeworfenen und einer guten Verständlichkeit abträglichen Reflexionen wirken. Vgl. Canac 1967, S. 173. François Canac bestätigt in akustischen Messungen die im Theater von Epidauros nahezu auf jedem Platz vorhandene Sprachverständlichkeit von über 80% (nach seinen Messungen sind bis zur Diazoma 96,8% und darüber bis zur 45. Reihe noch 86% Verständlichkeit gegeben). Vgl. ebd., S. 167;

           

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Gefüge von Skenewand, -boden und Zuschauerreihen erhält die Position und Ausrichtung der Schauspieler große Bedeutung, insofern sich über sie die Nachhallverhältnisse im Theater tarieren und je spezifische Lautlichkeiten kontrolliert hervorbringen lassen. So verdeutlichen François Canac, dass die hintere, und Robin Maconie, dass die zentrierte Position auf der Skenenplattform zur Verständlichkeit förderlich und andere Standorte dieser eher abträglich sind.50 Unter Berücksichtigung des Auditiven ergibt sich demnach die zentrale, hintere Position auf der Bühne als derjenige Ort, von welchem aus die weitestmögliche Reichweite und höchste Verständlichkeit des Deklamierten gewährleistet werden konnten. Aus dem Vorangehenden lässt sich schließen, dass die Einführung und Verstärkung kubischer Elemente – der Skene in ihren diversen Entwicklungsstufen – nicht allein auf die zunehmende Relevanz visueller Abgrenzungen und Markierungen, sondern zudem auf eine Aufwertung des Sprechens, der Verständlichkeit, des Verstehens und der Reflexion hinweist. Auch weitere Modifikationen der Theaterbauten zielen darauf, die Bedingungen für das Verständnis des Gesprochenen zu verbessern – der stärkere Steigungsgrad der später in vielen Theateranlagen hinzugefügten äußeren Sitzreihen bewirkt eine gute akustische Verständlichkeit auch in diesem Bereich.51 Denn durch den Winkel des Anstiegs erreichen sowohl die direkten als auch die von Skenewand, Skeneplattform und Orchestra reflektierten Schallwellen die hinteren Reihen, ohne von den davor befindlichen Zuschauern absorbiert zu werden. Es sind immens große Distanzen, die in den Dreiviertelrundtheatern zu überbrücken sind, und die Größe bzw. das sich aus ihr ergebende Volumen eines Raums stellt einen der wichtigsten

Pickard-Cambridge 1946, S. 192. Neben den architektonischen Faktoren erhöht sich die Verständlichkeit des Gesprochenen vor allem durch die Lautstärke der Stimme, durch eine in mehrjährigem Stimmtraining erworbene deutliche Artikulationsweise sowie die durch die Lage und Ausrichtung der Theateranlage weitgehend gewährleisteten Eliminierung potentieller Störgeräusche. 50 Vgl. Canac 1967, S. 75; Chourmourziadou/Kang 2008, S. 225; Blesser/Salter 2007, S. 96; Maconie 2005, S. 77; Shankland 1972, S. 201. 51 Archäologisch-akustische Messungen von Robert S. Shankland, François Canac und Benjamin Hunningher bestätigen den Zusammenhang von guter Hörbarkeit und Verständlichkeit mit der Stärke des Steigungsgrades der Sitzreihen in der Cavea, der im Durchschnitt bei 30 Grad liegt und häufig bei den später hinzugefügten äußersten Sitzreihen noch höher konzipiert ist. Vgl. Shankland 1972, S. 201; Canac 1967, S. 35; Benjamin Hunningher: »Acoustics and Acting in the Theatre of Dionysos Eleuthereus«, in: Mededelingen der Koninklijke Nederlands Akademie van Wetenschappen, Amsterdam 1956, S. 303-338, hier S. 306. Vgl. auch Chourmourziadou/Kang 2008, S. 225.

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Faktoren raumakustischer Prozesse dar.52 Dabei wird die Cavea, so Ulrike Haß, als »Ergänzungsmedium der Stimme, als ihr mittönender Resonanzraum und Verstärker«53 aufgefasst und eingesetzt. Es lässt sich demnach davon ausgehen, dass primär akustische Parameter die Konstruktion und Modifikationen der Theateranlagen anleiten und begründen. Demgegenüber manifestieren sich in den römischen freistehenden, zumeist dreistöckigen, von einer steinernen Mauer eingefassten und nahezu in sich geschlossenen Theatergebäuden andere Prioritäten, insofern sie – nach archäologischakustischen Messungen – für die Verständlichkeit von Sprache deutlich schlechtere akustische Parameter aufweisen.54 Wie zuvor ausgeführt, wird theaterhistorisch betont, dass sich im antiken römischen Theater eine Verlagerung der Relevanz von akustischen zu optischen Darstellungsmodi vollzieht, in deren Kontext sich neben dem Bedeutungsverlust der Orchestra gegenüber der Skene auch die Erbauung von Amphitheatern anführen lässt. Hugh Denard spricht diesbezüglich vom »amphitheatrical turn«55 der antiken römischen Kultur, in der dem Spektakel der Gladiatorenkämpfe und Tiershows gegenüber dem Bühnentheater zunehmend Bedeutung zukommt. Doch die zuvor angeführten architektonischen Modifikationen lassen sich auch mit auditiven Zusammenhängen assoziieren – so geht Kindermann beispielsweise davon aus, dass erst die breitere Bühne es ermöglichte, Lauschszenen, wie sie z. B. in den plautinischen Dramen häufig vorkommen, umzusetzen und zur Darstellung zu bringen.56 Durch die Breite der Bühne wird es möglich, ambivalent mit der Sichtbarkeit der Darsteller, die sich gegenseitig in den Lauschszenen gerade nicht wahrnehmen, währenddessen sie aber vom Publikum beobachtet werden können, und dem Belauschen und Gehört-Werden der Sprechenden und Hörenden um-

52 Vgl. Chourmourziadou/Kang 2008, S. 225: »In a semi-free field, where there are no reflective boundaries, except for the ground, the listening conditions depend largely on the source-receiver distances.« Vgl. Blesser/Salter 2007, S. 97; Wiles 2000, S. 151. 53 Vgl. Haß 2005, S. 139. Maconie schlussfolgert, dass von der theaterbaulichen Orientierung am Kreis auf ein Verständnis der sphärischen Schallausdehnung zu schließen ist, das sich darin manifestiert. Vgl. Maconie 2005, S. 77. 54 So gingen die durch die spezifischen Proportionen der Theaterbauten bewirkten akustischen Vorteile beispielsweise durch die Verbreiterung, Vertiefung und Herabsenkung der Bühnenplattform verloren. Auch die Zunahme von Reflexionen aufgrund der veränderten Höhe der Skenenfront wirkt sich ungünstig auf die Sprachverständlichkeit aus. Vgl. Shankland 1972, S. 202 f. 55 Hugh Denard: »Lost theatre and performance traditions in Greece and Italy«, in: Marianne McDonald/Michael Walton (Hg.), The Cambridge Companion to Greek and Roman Theatre, Cambridge 2007, S. 139-160, hier S. 156. 56 Vgl. Kindermann 1957, S. 184.

           

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zugehen. Es entsteht eine Form fiktionaler Unsichtbarkeit bei gleichzeitiger Präsenz auf der Bühne, die noch dazu mit dem Vermögen, andere abzuhören und zu belauschen, verbunden ist. Der Umgang mit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit steht in einer Verbindung mit Thesen der Theaterhistoriografie, nach denen die Erhöhung der Skenenwand zu einer dreistöckigen Scaenae frons mit der Begrenzung und Lenkung von Blickrichtungen und Sichtmöglichkeiten assoziiert wird. Es zeigt sich daran ein sich nach Wiles erstmals konstituierender und manifestierender Sinn für das Unsichtbare im Sinn eines abstrakt bleibenden Gespürs für die immense, undarstellbare Größe des Römischen Reiches. Unter Berücksichtigung des Auditiven lässt sich aufweisen, dass in diesem Bereich – und möglicherweise schon vor dem römischen Zeitalter – ein Sinn für das Nicht-Sichtbare gegeben ist, insofern im Hören immer schon Nicht-Gegenständliches und Unsichtbares zur Erscheinung kommen kann. Die im griechischen Theater verwendeten Geräuscheffekte, darunter das mittels des Bronteion erzeugte Donnergeräusch, die Botenberichte und Chorpartien verweisen auf ein – im Auditiven – bereits vorhandenes Umgehen mit dem Absenten, Unsichtbaren. Es wird durch das Hörbar-Werden in der Imagination des Publikums zur Erscheinung gebracht.57 Dimensionen des Nicht-Gesehen-, aber GehörtWerdens werden unter theaterhistoriografischer Berücksichtigung des Auditiven in ihrer Komplexität deutlich und machen eine differenzierte Auseinandersetzung erforderlich. So lässt sich der im Rahmen einer Verfallsgeschichte des Akustischen aufgezeigte zunehmende Bedeutungsverlust der Orchestra durch eine Herangehensweise über das Auditive als eine Rückverlagerung von Sprache zu Musik bzw. vom Sprechen- zum Musik-Hören deuten. Denn im frühen römischen Theater nimmt die Verwendung von Musik gegenüber den gesprochenen Anteilen zu, nach Manfred

57 Auch andere mit dem Visuellen assoziierte Dimensionen wie beispielsweise Gegenüberstellung, Spiegelung, Perspektive lassen sich – vor allem für das griechische Theater – im Bereich des Auditiven aufzeigen. In diesem Sinne sind Robin Maconies Ausführungen zum offenbar bewusst einkalkulierten ›acoustic mirror effect‹ in den griechischen Theatern zu verstehen, welcher darin besteht, dass die Schallwellen der Stimme von einem seitlichen Reflektionsort auf den gegenüberliegenden Punkt reflektiert werden. Vgl. Maconie 2005, S. 77. Maconie vergleicht diesen Spiegelungseffekt mit den Seitenflügeln eines religiösen Altar-Triptychons, bei welchem Sünde und Tugend je auf einer der Seiten und im Zentrum Gott abgebildet wird. Kindermann spricht vom griechischen Theater metaphorisch als von einem Hör- und Resonanzraum, indem er die »Aufnahmeund Echobereitschaft eines Auditoriums, das ein ganzes Volk repräsentierte«, hervorhebt. Vgl. Kindermann 1963, S. 9.

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Brauneck und Gérard Schneilin lässt es sich gar als ›Musiktheater‹ klassifizieren.58 Die in den griechischen Vorlagen noch weitgehend als Sprechpartien angelegten Textteile werden zu Rezitativen, Arien und Duetten umgearbeitet, zu denen teilweise in der Tragödie noch die Lieder des Chores hinzukommen.59 Dementsprechend ist mit Mark Griffith anzunehmen, dass mehr als die Hälfte der Textzeilen gesungen und nicht mehr gesprochen werden.60 Die Flötenbegleitung wird bei den Präsentationen des Pantomimen Pylades durch ein Orchester ersetzt, so Andreas Kotte, woraus zu schließen ist, dass zumindest für die Pantomime im frühen römischen Theater seit 50 v. Chr. von einer verstärkten Relevanz des Musikalischen auszugehen ist, auch wenn Pantomime theaterhistoriografisch eher als visuelle Kunstform bewertet wird.61 Edith Hall nimmt

58 Vgl. Bernd Seidensticker: »Antikes Theater«, in: Manfred Brauneck/Gérard Schneilin (Hg.), Theaterlexikon 1. Begriffe und Epochen. Bühnen und Ensembles, 4. überarb. Auflage, Reinbek bei Hamburg 2001 (1986), S. 76-95, hier S. 91. Vgl. William J. Slater: »Features Beyond Spoken Drama: Pantomimes«, in: Didaskalia. The Journal for Ancient Performance, http://www.didaskalia.net/issues/vol1no2/wslater.html, letzter Zugriff am 16. Juni 2016. Slater bezeichnet die römische Tragödie als »a musical form of tragedy which was more like our high opera«. Es ist darauf hinzuweisen, dass sich das Verhältnis von Musik und Sprache hinsichtlich einer deutlichen Zunahme der gesprochenen Anteile im ersten Jahrhundert n. Chr. erneut veränderte; vor allem bezüglich Terenz’ Komödien und Senecas Tragödien weist Griffith auf die Reduktion musikalischer Komponenten hin, insofern nahezu keine Gesangspartien für Schauspieler mehr enthalten und die Chortexte möglicherweise auch gesprochen worden sein könnten. Vgl. Griffith 2007, S. 31. 59 Vgl. Brauneck 2001, S. 92. Die theaterhistoriografische Erschließung der musikalischen Anteile des antiken römischen Theaters erschwert sich aufgrund der kaum vorhandenen Überlieferung dieser Praxis. Vgl. ebd.; Edith Hall: »Introduction: Pantomime, A Lost Chord of Ancient Culture«, in: dies./Rosie Wyles (Hg), New Directions in Ancient Pantomime, Oxford 2008, S. 1-40, hier S. 25; Mark Griffith: »›Telling the Tale‹: a performing tradition from Homer to pantomime«, in: Marianne McDonald/J. Michael Walton (Hg.), The Cambridge Companion to Greek and Roman Theatre, Cambridge 2007, S. 13-35, hier S. 32; Enrico Fubini: Geschichte der Musikästhetik. Von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 2008, S. 33. 60 Griffith 2007, S. 31. 61 Vgl. Kotte 2013, S. 50. Vgl. zu Pantomime in Brauneck 2012, S. 84 f.; Griffith 2007, S. 31. Explizit weist Edith Hall darauf hin: »Pantomime trained its spectators in a sophisticated cognitive mode which was more concentrated on vision than on meanings inferred aurally, and thos spectators were to a significant degree coterminous with the public who commissioned and viewed funerary sculpture in the high Roman empire.« Hall: »Introduction: Pantomime, A Lost Chord of Ancient Culture« (2008), S. 22.

           

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dementsprechend an: »Pantomime could indeed be terrifically noisy.« 62 Demgegenüber verliert das Sprachliche im Theater an Bedeutung, was sich an der stagnierenden Produktion neuer Dramen, an der in der Theaterpraxis sich vollziehenden performativen Musealisierung der erfolgreichsten Tragödien und deren stetiger Abnahme – Brauneck gibt an, dass 29 v. Chr. die letzte Tragödienaufführung in Rom stattfand – sowie nicht zuletzt an der neben den Pantomimen sich durchsetzenden Gesangskunst der Tragoedi oder Tragoidoi, den mit einem Repertoire aus bekannten, zusammengestellten Tragödienpartien durch das Land fahrenden Sängern, manifestiert.63 Auf einen weiteren Aspekt weist der Erfolg der Pantomimen mit Orchester sowie der Tragoidoi mit ihrem Repertoire aus bekannten Tragödienpartien hin: Die römische Vorliebe für das Spektakel ist keineswegs auf visuelle Präsentationen beschränkt; vielmehr zeigt sich an diesen Phänomenen eine Art des spektakulären Hörens, d. h. eines Hörens, das weniger auf nachvollziehendes Verständnis und reflexive Distanz als vielmehr auf Ergriffenheit, Berührtwerden, Faszination – und in diesem Sinne weniger auf einen Inhalt als vielmehr auf das Ereignis, die Situation, den Klang oder die Virtuosität der akustischen Präsentation – ausgerichtet ist.64

62 Hall »Introduction: Pantomime, A Lost Chord of Ancient Culture« (2008), S. 27. Sie verweist an dieser Stelle auf das von Pylades eingesetzte Orchester sowie auf die von den Pantomimen bzw. den sie begleitenden Musikern eingesetzten Instrumente: eine ›Wasserorgel‹ bzw. ›hydraulis‹ und eine Art klappernde Sandale, das ›scabellum‹, das zum rhythmischen Schlagen zur Vorgabe des Tempos genutzt wurde. 63 Vgl. zur abnehmenden Bedeutung der Theaterbühne bei Kotte 2013, S. 55; Brauneck 2012, S. 83: »Öffentliche Aufführungen von Komödien und Tragödien, zumal von neu verfassten Werken, waren in der Kaiserzeit zu einer Randerscheinung im öffentlichen kulturellen Leben geworden.« Vgl. zur Dramatik und Theaterpraxis bei Griffith 2007, S. 31; Denard 2007, S. 156. Vgl. zu den Tragoidoi bei Edith Hall: »The Singing Actors of Antiquity«, in: Pat Easterling/dies. (Hg.), Greek and Roman Actors. Aspects of an Ancient Profession, Cambridge 2002, S. 3-38, hier S. 5. Neben den Pantomimen und Tragoidoi stellen die Mimen eine dritte wichtige Bühnenpraxis der antiken römischen Zeit dar. 64 Im Kontext von Theater bezieht sich der Begriff ›Spektakel‹ nicht nur auf das visuell, sondern ebenfalls auf das auditiv Beeindruckende bzw. Eindringliche – insgesamt auf ein Ereignis, dass auf verschiedene Weise auffällig wird. Vgl. Patrice Pavis: »Spectaculaire«, in: ders.: Dictionnaire du théâtre, überarb. Auflage, Paris 2009, S. 337. In diesem Sinne lassen sich die zuvor erwähnten Lauschszenen als Beispiele des ›spektakulären Hörens‹ anführen, da davon auszugehen ist, dass bei ihnen der Reiz mehr in der Darstellung als in dem tatsächlich Gesagten liegt.

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Die zuvor erwähnte, von Kindermann im Rahmen einer Unterscheidung des Auditiven in der griechischen und des Visuellen in der römischen Kultur eingeführte Dichotomie von Konzentration und Zerstreuung lässt sich auf den vorliegenden Kontext übertragen, insofern sich der Bereich des Auditiven in verschiedene Modi differenzieren lässt. Hervorzuheben sind ein fokussiertes Zuhören, das sich entweder auf das Verständnis des Gesagten oder auf den Mitvollzug der Melodie richtet, und ein eher räumlich diffuses, offenes Hören, in welchem der Klang, Rhythmus, die Atmosphäre und Sinnlichkeit der vernommenen Musik oder Worte in der auditiven Aufmerksamkeit im Vordergrund stehen. Der Erfolg der römischen Pantomimen, Sänger und Musiker steht in diesem Sinne in einer Verbindung zum Modus des sinnlichen Hörens, das sich affizieren lässt. Entscheidend ist demzufolge im Übergang von der griechischen zur römischen Kultur nicht ausschließlich die Verschiebung hin zum visuell wahrnehmbaren Sensationellen, sondern ebenfalls zum auditiv Spektakulären, wobei es insgesamt vor allem um eine Verschiebung auf der Ebene der Aufmerksamkeitsdynamik geht. Bei beiden Sinnestätigkeiten verlagert sich demnach der Schwerpunkt vom Sinn auf die Sinnlichkeit. Kindermann zufolge handelt es sich um eine Veränderung von der dem griechischen Theater als wesentlich zugeschriebenen »Erhebung« hin zu »Überzeugen, Überreden, Berauschen«65 im römischen Theater. Demnach verlagert sich die Aufmerksamkeitsdynamik von einer reflexiv-distanziert auf das Bühnengeschehen gerichteten Hinwendung zu einer in der Vielfalt der Eindrücke und Erfahrungen sich verteilenden und möglicherweise sich verlierenden Zerstreutheit. Mit dem letzten Punkt scheint Kindermanns Deutung solchen Einschätzungen gegenüberzustehen, die eher von einer durch die räumliche Anlage bedingten weiteren Verstärkung der fokussierten Ausrichtung des Publikums ausgehen, doch lassen sich paradoxerweise beide Annahmen vereinbaren, und zwar insbesondere unter Berücksichtigung des Räumlichen und des Auditiven. Denn auf diese Weise ist zu verdeutlichen, dass die Gegenüberstellung, Frontalität und Ausgerichtetheit der Zuschauenden auf die Bühne durch bestimmte architektonische Komponenten der römischen Theater zwar gesteigert wird, doch dass sich dennoch – vergleichbar mit dem Hören von Musik, bei welcher zugleich ein auf die Melodie gerichtetes Zuhören sowie ein eher im ›Raum‹ der Musik ›umherschweifendes‹ Hören möglich ist – eine geteilte Wahrnehmung vollziehen kann. Der Blick und das Gehör des Publikums sind insofern räumlich einerseits frontal nach vorne in Richtung der hohen Vorderwand des Szenengebäudes ausgerichtet, doch zugleich durch die präsentierten Elemente – eine durch vielfältige kleinere Elemente verzierte und zusammengesetzte bildhafte Wand einerseits, musikalische und stimmlich-klangliche Kompo-

65 Kindermann 1963, S. 11.

           

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nenten in verschiedenen Nuancen, Tonhöhen, Tempi andererseits – in sich geteilt und in der visuellen sowie auditiven Räumlichkeit ausgedehnt. Es zeigt sich, dass die zu erschließenden Wahrnehmungsweisen und Aufmerksamkeitsmodi komplexer sind, als sich durch eine ›Geschichte der zunehmenden Fokussierung‹ zeigen lässt. Fokussierende und diffundierende Tendenzen sind – der Verflechtung kubischer und sphärischer Prinzipien vergleichbar – in den räumlichen Anlagen immer beide enthalten, manifestieren sich aber in unterschiedlicher Gewichtung. Mit der Annahme einer zunehmenden Präsenz und Bedeutung von Musik ist daher keineswegs gemeint, dass ihr in der griechischen Kultur keine Bedeutung zukäme,66 sondern dass es bestimmte Hörweisen und Aufmerksamkeitsmodi sind, die sich zunehmend durchsetzen, während andere weniger präsent sind.67 Abschließend ist festzustellen, dass sich durch die theaterhistoriografische Orientierung am Auditiven zeigen lässt, dass und inwiefern das Hören im Theater eine eigene Geschichtlichkeit besitzt, die in ihren Spezifizierungen und Differenzierungen sowie in ihren Bezügen zum Kontext noch genauer zu analysieren ist. Durch eine solche Herangehensweise wird zudem deutlich, dass zu der relativ linear gezeichneten zunehmenden Bedeutung des Visuellen, welche vor allem an einer gesteigerten Frontalität der Theateranlage festgemacht wird, der Bereich des Auditiven in seiner Vielschichtigkeit und Nicht-Linearität zu ergänzen ist. Schließlich lässt sich mittels dieser Perspektivierung herausstellen, dass eine vermeintlich dem Kubischen zuzuordnende Raumgestaltung, wie sie beispielsweise im römischen Theaterbau durch die Teilung des Kreises in zwei Halbkreise und die damit vollzogene deutliche Abgrenzung der Bühne vom Publikumsbereich aufgezeigt wurde, über die Berücksichtigung des Auditiven als sphärisch eingeschätzt werden kann. Nicht allein erinnert die breite und tiefe Bühne der römischen Theater in ihrer Abwesenheit eines konkreten Fokalpunkts, wie sie die Orchestra in ihrer Mitte aufweist, eher an die frühesten griechischen rectilinearen Formen. Vielmehr manifestiert sich diese Ungerichtetheit darüber hinaus im Modus des leicht affizierbaren, fasziniert hin- und herschwenkenden Hörmodus des Spektakulären. Von den ersten griechischen Dreiviertelrundtheatern, in denen Musik und Tanz präsentiert werden, über die größer

66 Musik besitzt in der antiken griechischen Kultur einen sehr hohen Stellenwert. Vgl. John G. Landels: Music in Ancient Greece and Rome, New York 1999, S. 172. 67 Auch kann es sich bei der Differenzierung dieser Modi nicht um eindeutig abgrenzbare und sich gegenseitig vollkommen ausschließende Hörweisen handeln, insofern Gesprochenes auch als Klangphänomen und demgegenüber Musik ebenso als sprachähnlich wahrnehmbar sind. Es geht vielmehr um typisierte Ideale des Sprache- und MusikHörens, d. h. um Konzepte, die in später folgenden Kapiteln dieser Arbeit hinterfragt und in ihrer möglichen vielfältigen Komplexität aufgezeigt werden.

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werdenden Skenegebäude und -plateaus, durch welche die Sprache präsenter und dominanter wird, bis schließlich hin zu den römischen Halbrundbauten, in denen sich mit den Pantomimen und Tragoidoi eine Rückkehr zur Prävalenz von Musik und Tanz vollzieht, lässt sich die Geschichte der akustischen Phänomene und des Auditiven im Theater nicht als lineare Entwicklung, sondern vielmehr als schwankende, oszillierende, zwischen den Polen des klanglichen und des strukturellen, des faszinierten und des reflexiven Hörens sich verlagernde Bewegung darstellen.

             Bevor dieses Kapitel endet, ist auf drei weitere, im Zusammenhang einer – noch ausführlicher zu schreibenden – Geschichte des Hörens im Theater relevante Aspekte zu verweisen: Erstens lässt sich feststellen, dass die theaterhistoriografische sowie archäologischakustische Forschung einen bestimmten Typus von Theaterbauten bislang weitgehend außer acht gelassen hat: die seit der griechischen Antike zu den Dreiviertelrundtheatern parallel erbauten Odeen, denen die Funktion von Konzerthäusern zugeordnet wird. 68 Ihre architektonischen Besonderheiten sind eine rechteckige Grundform des die drei Elemente Orchestra, Zuschauerbereich und Skenengebäude einfassenden Raums sowie ihre Überdachung. Aufgrund dieser Kastenform besitzen die Odeen hervorragende akustische Verhältnisse für Musik, denn die Konstellation der Wände und des Daches führt zu einer längeren Nachhallzeit und besseren Diffusität des Schalls im Raum. Nicht ohne Grund werden moderne Konzerthäuser häufig in der Form eines länglichen Kastens konstruiert.69

68 Zwar werden Gebäude dieser Art in manchen Studien erwähnt und beschrieben, doch finden sich keine Darstellungen dieser Theater im Kontext von Darstellungspraxis und Wahrnehmungsmodalitäten. Vgl. die primär archäologisch ausgerichteten Studien von George C. Izenour: Roofed Theaters of Classical Antiquity, New Haven 1992; Rüdiger Meinel: Das Odeion. Untersuchungen an überdachten antiken Theatergebäuden, Frankfurt a.M. u. a. 1980; Richard Schillbach: Über das Odeion des Herodes Attikos, Jena 1858. Wie Richard Schillbach bezüglich des Odeons von Herodes Attikos ausführt, ist vor allem in der Überdachung ein Argument für die Annahme zu finden, dass die Odeen primär für musikalische Darbietungen konstruiert und erbaut wurden, denn durch die in sich geschlossene Kastenform des Raums ergeben sich Reflexionsverhältnisse, die insbesondere der Klarheit und Klangfülle von Musik zuträglich sind. Vgl. Schillbach 1858, S. 10 f. 69 Vgl. Beranek 2011, S. 5 f.; Spitzer (2002), S. 416; Barron 1993, S. 5.

           

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Die Odeen stehen damit den Dreiviertelrundtheatern gegenüber, welche optimale akustische Verhältnisse für die Verständlichkeit von Sprache aufweisen, woraus sich ein Spannungsverhältnis zu den mit Souriau und anderen aufgezeigten Verbindungsachsen von der Kreisform mit dem Sphärischen und der Musik sowie vom Rechteck mit dem Kubischen und Frontalität ergibt. Auch wenn sich die Kategorisierung von ausschließlich für bestimmte akustische Phänomene konzipierten Anlagen so strikt getrennt nicht aufrechterhalten lässt, da in den Theateraufführungen der Dreiviertelrundtheater Musik und Gesang wesentliche Elemente darstellen und in den Odeen z. B. im Rahmen von Gerichtsverhandlungen ebenfalls gesprochen wird, weisen die unterschiedlichen Formen der Anlagen doch auf jeweilige Schwerpunkte hin. Gerade die Unterschiede zwischen beiden Raumkonzepten stellen die für die Ausrichtung eines Theaters entweder auf Musik oder auf Sprechen verantwortlichen Komponenten dar: rechteckige oder kreisförmige Form, Einfassung oder Weite, Überdachung oder Offenheit. Deutlich wird, dass Musik als sphärische Kunstform vor allem in kubisch geformten Räumen am besten zur Geltung kommt und gerade nicht in Rundtheatern, welche jedoch häufig aufgrund ihrer guten akustischen Verhältnisse für musikalisch hochwertige Bauten gehalten werden. Hinzuzufügen ist, dass die Orchestra des Odeons von Herodes Attikos von Schillbach als »halbe Ellipse«70 beschrieben wird, wodurch eine dritte geometrische Figur eingebracht wird – eine Form, die über ihre Abrundung sowie in ihrer länglichen, zwei sich gegenüberstehende Pole aufweisenden Form jeweils Qualitäten sowohl vom Kreis als auch vom Rechteck aufweist. Sie wirft viele Fragen zu ihrer Bedeutung für die Theaterarchitektur hinsichtlich der Prägung von Wahrnehmungsweisen auf – darunter auch die im vorliegenden Kontext vorerst als Mutmaßung zu formulierende Überlegung, ob sich über die Form der Ellipse möglicherweise eine Verbindung zwischen den Odeen und den später entstehenden römischen Amphitheatern herstellen lässt, insofern in beiden eher spektakuläre, sinnliche und weniger sinnhafte künstlerische Darbietungen präsentiert werden. Des Weiteren schließt sich die Frage an, ob die römische Theaterarchitektur sich möglicherweise stärker von der charakteristischen Konstruktionsweise der Odeen herleiten lässt als von den Dreiviertelrundtheatern, insofern in den Odeen das Konzept der Einfassung und Geschlossenheit bereits gegeben ist. Zweitens lässt sich der Zusammenhang von akustischen Bedingungen und verschiedenen Raumformen auch auf andere Zeiten übertragen, insofern sich diesbezüglich ähnliche Relationen – wie in Bezug auf antike griechische und römische Theaterformen sowie auf unterschiedliche Bauweisen im Dreiviertelrund, in der Ellipse, dem Halbkreis oder dem Rechteck – herausstellen lassen. Im frühneuzeit-

70 Vgl. Schillbach 1858, S. 19.

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lichen England existieren vorwiegend zwei Arten von Theatergebäuden nebeneinander – der Typ des Rundtheaters, der sich im Swan oder im Globe Theatre manifestiert, und das Indoor-Theater, welches zumeist in rechteckiger Form konstruiert ist, wie z. B. das Blackfriars oder das Fortune Theatre. Die architektonische Anlage des Globe Theatre, einem an der Kreisform orientierten zwanzigseitigen, dreistöckigen und in sich geschlossenen, aber dachlosen Theaterbau aus dem Jahr 1599 in London, wird theaterhistoriografisch als Manifestation der dem Elisabethanischen Zeitalter zugewiesenen hohen Priorität des Hörens gedeutet, insofern es als riesiges Musikinstrument und das Publikum als primär ›hörendes‹ aufgefasst wird. 71 Diesem Musikinstrument steht das Publikum nicht gegenüber, sondern es ist von ihm umschlossen. Für das auditiv orientierte Publikum sind die bestmöglichen Sichtverhältnisse nicht von höchstem Wert. Anstatt sich frontal zur Bühne zu positionieren, wie dies nach Andrew Gurr im Sinn einer kulturellen Dominanz des Visuellen zu erwarten wäre, gelten für die Verteilung der Zuschauenden im Globe andere Prinzipien und Ideale. Wenn Sichtlinien nicht ausschlaggebend für die Positionierung innerhalb des Theaters sind, sondern die optimalen Bedingungen des Hörens, so ist zu fragen, wo und wie innerhalb des Theaters gehört wird und wie sich diese Verhältnisse zu der gesamten räumlichen Anlage verhalten. Nach Andrew Gurr und Mariko Ichikawa ist eine Positionierung des Publikums im Halbkreis zu erwarten, da sich diese räumliche Konstellation im Wahrnehmungsmodus des Zuhörens ergibt.72 Auch das räumliche Verhältnis von Bühne und Zuschauerbereich lässt auf eine solche Anordnung schließen, insofern das Theater durch das Zusammen- und Wechselspiel zwischen der fast bis zur Mitte des Theaters reichenden thrust stage und den an der Kreisform orientierten Außen-

71 Vgl. Doris Kolesch: »Shakespeare hören: Theatrale Klangwelten in der griechischen Antike, zu Zeiten Shakespeares und in gegenwärtigen Shakespeare-Inszenierungen« (2008), S. 17; Bruce R. Smith: The Acoustic World of Early Modern England. Attending to the O-Factor, Chicago/London 1999, S. 206 und 208. Ähnlich wird das Swan Theatre von Bernard Beckerman als ein Theatergebäude aufgefasst, das primär auditiv und weniger visuell bestimmt ist. Vgl. Bernard Beckerman: Shakespeare at the Globe 1599-1609, New York 1962, S. 129; Peter Thomson: Shakespeare‹s Theatre, 2. Aufl., London/New York 1992, S. 23: »Modern audiences are more properly spectators, and group themselves where they expect to get the best view of the stage spectacle. Elizabethans would not have positioned themselves anything like so readily at the ›front‹ of the stage for a play.« 72 Andrew Gurr und Mariko Ichigawa basieren ihre Annahme auf der These, dass Zuhören zu einer Positionierung der Hörenden in Kreisform und Zuschauen eher zur frontalen Ausrichtung dem Beobachteten gegenüber führt. Vgl. Andrew Gurr/Mariko Ichikawa: Staging in Shakespeare’s Theatres, Oxford u. a. 2000, S. 8.

           

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wänden bzw. Galerien charakterisiert ist. Die räumliche Gestaltung forciert ein Umschließen der Bühne von drei Seiten, so dass die Akteure sich, wie Gurr hervorhebt, inmitten unter den Zuschauenden befinden.73 Die große Nähe zwischen Publikum und Darstellenden, die nahezu kreisförmige Anlage des Theaters, das Umgeben-Sein der Bühne von mehreren Seiten, die Dreidimensionalität der Darstellung lassen sich als räumliche Faktoren hervorheben, die auf den sphärischen Charakter dieses Theaters hinweisen. Diese Aspekte bringen akustische Bedingungen hervor, die zu einer Markierung und Betonung des Zentrums führen. Nicht nur handelt es sich bei der zentralen Position innerhalb des Theaters um den akustisch wirksamsten Ort innerhalb des Theaters, insofern an der mittigen Stelle der vorderen Bühnenkante aufgrund des die Bühne überdeckenden Baldachins optimale akustische Bedingungen gegeben sind, wie akustische Forschungen ergeben haben.74 Vielmehr wird der Mittelpunkt des Globe Theatre auch dadurch hervorgehoben, dass es aufgrund der spezifischen nahezu runden Form zur Bündelung der Schallwellen im Zentrum kommt.75 Aus diesem Grund besitzt die Akustik des Globe Theatre eine weitere besondere Qualität, welche in einem Gegensatz zur sphärisch grenzauflösenden Wirkungsweise steht – das Theater erzeugt einen »›broad‹ as opposed to a ›round‹ sound«76. Dies bedeutet, dass die sich ergebende Lautlichkeit im Sinne einer auditiven ›Landschaft‹ nach Richtungs-, Distanz- und Näherelationen zum Hörenden wahrnehmbar wird und sich die verschiedenen Laute nach einer je spezifischen räumlichen Anordnung in rechts/links und nah/fern unterscheiden lassen. Auf diese Weise hören die Zuschauer Laute vor und neben sich, von denen sie nicht notwendigerweise um- und eingeschlossen oder besonders berührt werden, sondern die sich vielmehr um sie und neben ihnen ausbreiten. Die sich ergebende auditive Anordnung der verschiedenen Laute in bestimmte Richtungen und Distanzen lässt sich somit weder mit dem den Rundtheatern assoziierten sphärischen Prinzip der grenzenlos-undifferenzierten Weite und der Gleichwertigkeit aller Positionen innerhalb des Areals noch mit der im Verständnis des Theatergebäudes als eines

73 Vgl. Andrew Gurr: The Shakespearean Stage 1574–1642, Cambridge 1970, S. 221: »The players were closer for one thing, in the midst of the audience, and lacked the facilities for presenting the pictorial aspects of illusion because they were appearing in three dimensions, not the two which the proscenium-arch picture-frame establishes.« 74 Vgl. Smith 1999, S. 213 f.; Wiles 2000, S. 67. Die zentrale vordere Position auf der Bühne ist machtvoll, wie Wiles ausführt: »We can feel how the Globe stage, like the mountebank’s booth, was a tool for creating dominance, and allowed the actor to command the pit in a way that neither medieval theatre in the round nor Roman theatre architecture permitted.« Wiles 2003, S. 194. 75 Vgl. Smith 1999, S. 211 f. Smith spricht auch von sound concentration. 76 Ebd., S. 213 f.

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Musikinstruments implizierten Umhüllung der Anwesenden vereinbaren. Denn erstens begründet der jeweilige Standort der Personen innerhalb der Theateranlage einen großen Unterschied in Bezug auf das von dort aus Gehörte, da sich die räumlich-auditive Anordnung der Richtungen und Distanzen an den diversen Standorten verschieden darstellt. Zweitens ergibt sich in dem nahezu runden Theaterbau – entgegen der durch die Form des Theaters naheliegenden Erwartung und den der Kreisform sowie dem Sphärischen zugewiesenen Qualitäten – gerade keine einund umhüllende Lautlichkeit, sondern, wie bereits erwähnt, eine in sich klar strukturierte, auditive ›Landschaft‹, eine auditiv wahrnehmbare ›Ordnung‹ von näher, ferner oder seitlich erklingenden Lauten. In der Akustik ist daher die Rede von einem in kreisförmigen Räumen ›fokussierten Klang‹, der, wie Michael Barron konstatiert, als nicht optimal für Theater- oder Konzerträume bewertet wird.77 Umhüllende Lautlichkeit zeigt sich demgegenüber vielmehr in dem rechteckig angelegten und durch ein Dach in sich geschlossenen Blackfriars Theatre, dessen Bühne frontal zum Zuschauerbereich ausgerichtet ist. 78 Die Reflexions- und Absorptionsverhältnisse des Innenraums ergeben sich zum einen primär aus seiner rechteckigen Form, durch welche die Schallwellen von einer Seite auf die andere und von den Rückwänden an die Seitenwände geworfen werden, sowie aus der Überdachung, welche die Reflexion ebenfalls verstärkt und je nach Höhe sehr verschiedene Wirkungsweisen entfaltet, sowie aus den verwendeten Materialien, unter denen vor allem Stein, Gipsverputzung, Holz und Glas hervorzuheben sind. Steinerne Wände und gläserne Fenster bewirken einerseits zwar einen ›lebendigen‹, d. h. von starken und gleichmäßig verteilten Reflexionen geprägten Klangraum; er wird andererseits aber von den Absorptionen des Holzes und der Körper der Zuschauenden gedämpft. Die resultierenden akustischen Bedingungen des Blackfriars Theatre sind von denen des Globe Theatre grundsätzlich zu unterscheiden. Denn im rechteckigen Raum des Blackfriars werden die Schallwellen so verteilt, dass sie relativ gleichmäßig über den ganzen Raum zerstreut sind und sich dementsprechend eine von nahezu jedem Platz aus wahrnehmbare gleichwertig hohe Klangqualität ergibt.79 »Their acoustics are characterized by a basically diffuse sound, with a sense of later reverberation arriving from all directions.«80 Die entstehende Lautlichkeit wird als umhüllend und rund, als »enveloping«81 oder auch als »well-rounded sound«82, beschrieben. Doch einer einfachen Zuordnung des Sphärischen zu Rund-

77 Vgl. Barron 1993, S. 69. 78 Vgl. Smith 1999, S. 215. 79 Vgl. ebd., S. 216. 80 Barron 1993, S. 80. 81 Ebd., S. 71. 82 Ebd., S. 80.

           

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theatern ist aufgrund akustischer Verhältnisse zu widersprechen, insofern das rechteckig angelegte Blackfriars Theatre trotz seiner ›kantigen‹ Formation im Auditiven sphärisch umhüllend wirkt und an verschiedenen Positionen im Raum gleichwertig gute Wahrnehmungsbedingungen aufweist, während das Globe Theatre entgegen den der Kreisform assoziierten Dimensionen von Umhüllung, Gleichwertigkeit und Grenzauflösung auditiv von Perspektivierung, Ordnung, Struktur und Hierarchisierung geprägt ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Blackfriars Theatre ein Beispiel ist, das, vorausgesetzt es werden die akustischen Gegebenheiten analysiert, zu einer Neubeurteilung des zumeist mit Faktoren der Distanzierung, Perspektivierung und Disziplinierung verbundenen Guckkastenbühnen-Prinzips führen kann. Denn werden akustisch-auditive Wirkungsweisen berücksichtigt, so ergeben sich gerade für die rechteckigen Formen Erfahrungsweisen, die von Nähe, Involviertheit und Partizipation gekennzeichnet sind. Die Parameter der Frontalität und Grenzziehung sind daher für die Dimensionen des Visuellen und des Auditiven je differenziert zu behandeln. Während eine frontale Konstellation von Bühne und Zuschauerbereich eher auf eine visuelle Perspektivierung hinweist, so findet sich die entsprechende auditive Perspektivierung – im Sinne der die Hörenden umgebenden Anordnung in einer auditiv wahrnehmbaren ›Landschaft‹ – in Bauten, die nach dem Kreisprinzip konstruiert sind. In der theaterhistoriografischen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Hörens ist eine solche Differenzierung der den verschiedenen Gebäudetypen zugeschriebenen Wirkungsweisen stärker zu berücksichtigen und zu hinterfragen. Als dritten und letzten Punkt weiterführender Überlegungen ist die mit den vorhergehenden Ausführungen verbundene Relation zwischen der räumlichen Anlage, den Rezeptionsbedingungen und der Darstellungsweise bzw. Schauspieltechnik anzugeben. Über die Auswirkungen auf das in ihnen Hörbare hinaus stehen die akustischen Parameter eines Theaterinnenraums auch mit der visuellen Dimension der Darstellung in einem Zusammenhang, da die Position der Schauspieler*innen nicht allein von der besten Sichtbarkeit, sondern auch von der auditiven Wirksamkeit der verschiedenen Standorte auf der Bühne abhängt. Wie in den Ausführungen zum antiken griechischen Theater erwähnt wurde, bestimmen vor allem akustische Faktoren die beste Position auf der Bühne, da von dieser aus die höchste Reichweite der Stimme und optimale Reflexionsverhältnisse gegeben sind – im Dreiviertelrundtheater vor allem von der hinteren Bühnenmitte aus. Ein weiteres Beispiel ist anzuführen, das die Relevanz einer theaterhistoriografischen Rekonstruktion und Analyse dieser Zusammenhänge und ihrer Implikationen verdeutlicht: In der rekonstruierenden Untersuchung der mittelalterlichen englischen Theateranlagen des 14. und 15. Jahrhunderts, welche vor allem in Cornwall vorzufinden

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sind, führt Richard Southern die kreisrunde Form als charakteristisches Merkmal der räumlichen Anlage an. Innerhalb der oft aus Erdaufschüttungen erbauten Wälle befindet sich die rasenbedeckte, unter freiem Himmel liegende Spielfläche, die zugleich den Publikumsbereich darstellt.83 Gespielt wird vor allem auf Holzgerüsten, den scaffolds, welche an verschiedenen Stellen auf dem Wall sowie mittig auf der Rasenfläche erbaut sind. Auch der sie umgebende Bereich wird teilweise als Bühne genutzt, so dass sich Akteur*innen und Publikum häufig in unmittelbarer Nähe zueinander befinden. Unter Berücksichtigung der angenommenen Größe des Publikums – nach Southern an die Tausende –, ist von einer dicht gedrängten Menschenansammlung auf dem runden Areal auszugehen.84 Der Historiker nimmt an, dass sich die Zuschauenden den räumlichen Bedingungen der Präsentation anpassten, d. h. dass sie sich nach dem Gerüst, auf welchem gerade das Geschehen stattfindet, ausrichteten, sich auf dem Areal entsprechend drehten und auf dem Feld soweit möglich hin- und herbewegten.85 »It might be almost like the tilting of a drum of dried peas.«86 Erstaunlicherweise bezieht sich Southern in der Ausführung seiner

83 Vgl. Richard Southern: The Medieval Theatre in the Round, London 1957, S. 124 f. Zur Kreisform vermutet Wiles, dass sich die Entwicklung zu vollständig runden Theateranlagen im Mittelalter möglicherweise in einen Zusammenhang mit der durch das Christentum ausgelösten Verbannung der Theateraufführungen aus den Theatergebäuden und ihrer Verlagerung in die Hippodrome stellen lässt. Vgl. David Wiles: »Theatre in Roman and Christian Europe«, in: John Russell Brown (Hg.), The Oxford Illustrated History of the Theatre, Oxford 1995, S. 49-92, hier S. 64. 84 Vgl. Southern 1957, S. 140 und S. 63. 85 Vgl. ebd., S. 73. Vgl. auch S. 79 f. Southerns mit der Publikumsbewegung verbundene These ist, dass sich Ordner, die stytelerys, auf dem Feld befanden, welche die Ausrichtungsbewegungen anleiteten und nach bestimmten Prinzipien eingrenzten. 86 Ebd., S. 73. Zwei Aspekte sind an dem metaphorischen Vergleich der Publikumsbewegungen mit einem Instrument wie dem so genannten Regenmacher, einem zylindrigen Behälter, in welchem sich trockene Erbsen hin- und herbewegen, relevant für den vorliegenden Kontext: Zum einen weist er auf die Geräuschhaftigkeit der Prozesse hin – die Versammlung einer großen Menschenmenge auf engem Platz und die ständigen Bewegungen und Verschiebungen werden nicht geräuschlos ablaufen –, zum anderen manifestiert sich in dem Vergleich die Bedeutung des Aufmerksamkeitsprozesses als Gewichtung. Die Erbsen bewegen sich in dem Container von einer Seite in Richtung der anderen, bis eine Mehrheit auf der einen Seite ist und das Gewicht des Behälters herunterzieht; wird das Gehäuse leicht bewegt, kommen also Impulse, die ein erneutes Ingangsetzen und eine Verschiebung bewirken, so dass sich der Prozess in die andere Richtung wiederholt und eine andere Lage und Ausrichtung des Gefäßes resultiert. Insofern sich die Zuschauenden zum Geschehen hin orientieren und so positionieren,

           

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These ausschließlich auf visuelle Aspekte, insofern allein das Kriterium der bestmöglichen Sicht-, nicht aber das der bestmöglichen Hörverhältnisse als relevant erachtet und in die Überlegungen einbezogen wird. 87 Zugleich jedoch wird das in modernen Rundtheatern vorhandene Problem der akustischen Verständlichkeit erwähnt, welches sich ergibt, da aufgrund der räumlichen Anordnung ein Teil des Publikums sich im Rücken der jeweils Agierenden befindet. Hinter den Schauspieler*innen ist das Gesprochene deutlich schwerer zu hören und zu verstehen.88 Das für den Zusammenhang der räumlichen Bedingungen und der auditiven Wahrnehmung Entscheidende liegt meines Erachtens in der Schlussfolgerung Southerns, dass aufgrund der räumlichen Anordnung sowie der sich daraus ergebenden akustischen Problematik eine spezifische Darstellungsweise entwickelt worden ist: die zirkulare Technik, bei der ein Text aus vier Strophen in je eine der vier Himmelsrichtungen gesprochen wird.89 Dadurch, dass die Schauspieler*innen sich nach einzelnen Strophen um 90 Grad drehen, bekommen alle Anwesenden eine der Strophen frontal vorgetragen, so dass sich in der Darstellungs- und Vortragsweise eine Synthese aus omnidirektionaler und frontaler Präsentation ergibt. Nicht allein ist sie eine Zusammenführung der als entgegengesetzt geltenden räumlichen Prinzipien, sondern darüber hinaus zeigt sich zudem eine umgekehrte Zuordnung zwischen Omnidirektionalität und Frontalität zum Visuellen und Auditiven an, denn in der zirkularen Technik sind die Darstellenden von allen Seiten sichtbar, während das Frontale eher mit dem Hören und besseren akustischen Bedingungen verknüpft ist. Entgegen der traditionellen und in den vorher explizierten theaterhistoriografischen Darstellungen zumeist referierten Zuordnung wird Frontalität als ein Faktor des Auditiven und Omnidirektionalität als Eigenschaft visueller Wahrnehmung erkennbar. Es zeigt sich damit eine weitere Komplikation bestimmter dichotomisch organisierter Schemata, welche sich gerade mittels einer Berücksichtigung des Auditiven sowie der daraus resultierenden Problematiken anders darstellen und hinterfragen lassen und die daher die weitere theaterwissenschaftliche Beschäftigung mit einer Geschichte des Hörens im Theater nahelegen.

dass sie die bestmögliche Sicht auf das Dargestellte bekommen, lässt sich meiner Meinung von diesen Bewegungen als Manifestationen der Aufmerksamkeitsdynamik des Publikums ausgehen. Danach zeigt sich in der jeweiligen räumlichen und körperlichen Ausrichtung das Wirken der Aufmerksamkeit, welches diese Bewegungen motiviert. 87 Anders schildert dies Heinz Kindermann, der neben den idealen Sichtverhältnissen auch optimale Verständlichkeit als Grund für die Zuschauerbewegungen im Rundtheater annimmt. Vgl. Heinz Kindermann: Das Theaterpublikum des Mittelalters, Salzburg 1980, S. 158. 88 Vgl. Southern 1957, S. 139. 89 Vgl. ebd., S. 153 und S. 201.

             

Im Gegenwartstheater wird das Hören zu Gehör gegeben, z. B. indem der eigene Hörprozess während der Aufführung bewusstgemacht, irritiert, verstärkt oder auf andere Weise hervorgehoben und ›bearbeitet‹ wird. Wenn in Bezug auf das Theater von einem solchen Aufmerksamkeitsmodus des ›Horchens auf das (eigene) Hören‹ ausgegangen wird, dann ist die theaterwissenschaftliche Analyse dieser performativen Ausstellung des Auditiven dementsprechend als ein auf einer weiteren Ebene anzusiedelndes ›Hinhören auf das Horchen auf das (eigene) Hören‹ aufzufassen. Zu beschreiben, analysieren und deuten ist, wie im gegenwärtigen Theater – das neben Aufführungen des Schauspiels, d. h. primär des ›klassischen Sprechtheaters‹, auch musik- und tanztheatrale sowie musikalisierte Theaterformen und performative Installationen, Audio Walks und Live-Hörspiele umfasst – gehört wird bzw. wie das Publikum zu einer bewussten Hörhaltung gebracht wird. Zu untersuchen ist also, wie, nicht so sehr was, im Theater gehört wird. Die folgenden Analysen stellen nicht nur dar, wie das alltägliche Hören und ein theoretisches, philosophisches Verständnis des ›Hörens‹ zum Gegenstand der Aufführungserfahrungen wird, sondern darüber hinaus auch, was diese Auseinandersetzungen jeweils über das Hören und die Hörenden im Theater mitteilen können. Die theaterwissenschaftliche Beschäftigung mit den Strategien des Erfahrbar-Machens verschiedener Hörweisen zielt dementsprechend sowohl auf eine Erörterung der bestehenden kulturellen Konzepte und Techniken des Hörens, z. B. auf den Begriff und die mit ihm verbundene Kulturtechnik des Zuhörens, als auch auf eine Diskussion der Frage nach dem Wie des Hörens im Theater, d. h. nach den phänomenalen Qualitäten des Erlebens dieser Hörweisen. Die in Kapitel 3 anhand historischer Beispiele untersuchten Parameter von Theaterarchitektur und Raumakustik werden als Faktoren der Rahmung und Durchdringung je spezifisch ermöglichter und hervorgebrachter Hörweisen wirksam. In der Theatergeschichte lassen sich – zu bestimmten historischen Zeiten und in spezifischen kulturellen Kontexten – idealisierte, in der Materialität von Räumen und Praktiken sedimentierte Wahrneh-

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mungsordnungen aufzeigen. Die in zeitgenössischen Theateraufführungen erfahrbaren Weisen auditiver Wahrnehmung sind hinsichtlich der in ihnen manifest werdenden Aufmerksamkeitsdynamiken ähnlich einzuschätzen. Denn auch auditive Aufmerksamkeit kann nur ›rückwärts‹ erschlossen werden. Sie ist über die vielfältig sich herausbildende ›Materialität der Wahrnehmung‹ – im Sinne der phänomenal für die Hörenden zur Erscheinung kommenden Wahrnehmungen – herauszustellen. Von den Hörweisen und den je verschiedenen Ausprägungen des Gehörten aus ist auf die jeweiligen Prozesse der auditiven Aufmerksamkeit zu schließen. Die angeführten Beispiele explizieren das Wirken auditiver Aufmerksamkeit nicht dadurch, dass auf der Bühne über das Hören gesprochen, sondern indem das Publikum zu bestimmten Wahrnehmungsweisen gebracht wird. Es ist in diesem Sinne die aisthetische, nicht primär die ästhetische Dimension, in der die auditiven Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsprozesse hervortreten.1 Sie bewirkt, dass das Publikum bestimmte Aufmerksamkeiten in Konsonanz oder Dissonanz zu kulturellen Idealen, Konventionen und Praktiken am eigenen Leib erlebt, d. h. vor allem also mit den eigenen Ohren hört und spürt sowie sich dessen gleichzeitig bewusst wird. Die anderen Sinne sind dabei an der Rezeption der Aufführung zumeist maßgeblich beteiligt, so dass die Wechselwirkungen zwischen den Sinnen, die sich auf mannigfaltige Weise z. B. in gegenseitigen Verstärkungen, Störungen, Überlagerungen etc. ergeben können, zu thematisieren sind. Das Hörend-Merken-Machen entsteht im Zusammen- und Gegeneinanderwirken aller Sinne. An den Beispielen zeigt sich das Wirken der auditiven Aufmerksamkeit im Erfahrbar-Machen bestimmter Wahrnehmungsgefüge und -ordnungen und wird explizit als Strategie aisthetischer Wirksamkeit eingesetzt, um neben möglichen anderen Effekten eine Bewusstwerdung und Reflexion der im Erleben alternativer Aufmerksamkeiten umso stärker hervortretenden Aufmerksamkeitsideale und -konzepte zu forcieren. Die Unterteilung der drei folgenden Kapitel beruht auf bestimmten in den Theorien des Auditiven einerseits idealisierten, andererseits kritisierten auditiven Idealen des Zuhörens, des strukturellen Hörens sowie des Signale-Hörens. Eine konzentrierte Gerichtetheit der Hörenden, die sinnvolle Strukturierung des Gehörten und

1

Mit dem Begriff der ›Aisthesis‹ wird im ausgehenden 20. Jahrhundert in der Ästhetik und den Kunstwissenschaften auf die sinnlichen Dimensionen ästhetischer Erfahrung hingewiesen, deren Relevanz schon in Johann Gottlieb Baumgartens Schrift Aesthetica aus dem Jahre 1750 in der Bestimmung der Ästhetik im Sinne des griechischen Worts ›aisthesis‹ für ›Wahrnehmung‹ gegegeben war. Vgl. Peter Bernhard: »Aisthesis«, in: Eckart Liebau/Jörg Zirfas (Hg.), Die Sinne und die Künste. Perspektiven ästhetischer Bildung, Bielefeld 2008, S. 19-33; Doris Kolesch: »Ästhetik«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 6-13, hier S. 10 f.

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Zuschreibungen ›wesentlicher‹ Bedeutsamkeit des Beachteten stellen wesentliche Kriterien dieser Hörweisen dar. Sie markieren im philosophischen, kulturellen sowie im spezifisch musik- und theatertheoretischen Kontext historisch formierte, idealisierte und gegenüber anderen Formen des Hörens, Verstehens und Bedeutsam-Werdens ausschließende Konstrukte. Ausgehend von diesen Idealvorstellungen werden im Theater andere Hörweisen hervorgebracht, wodurch dieses sowohl zu einer Erweiterung des Spektrums möglicher Hör- und Zuhörweisen beiträgt als auch eine Kritik an den hierarchisierenden, ausschließenden Idealen bewirken kann. Des Weiteren orientiert sich die Dreiteilung – nicht strikt, aber leitmotivisch – an Hörweisen, die sich erstens auf Sprachliches, zweitens auf Musikalisches und drittens auf Geräuschhaftes bzw. auf Stilles richten. Es wird davon ausgegangen, dass diese Gegenstände des Hörens mit wirkmächtigen Idealisierungen und Hierarchisierungen von Hörweisen und Aufmerksamkeitsprozessen zusammenhängen, die am besten aufgezeigt werden können, wenn sie getrennt voneinander erörtert werden. Es ist anzunehmen, dass sich in der Rezeption der unterschiedlichen akustischen Phänomene verschiedene Verlagerungen innerhalb der auditiven Wahrnehmung ergeben und somit die Phänomene je unterschiedliche Hörweisen evozieren. Mit der Unterteilung ist keineswegs gemeint, dass sich das Sprache-, Musik-, Geräusche- und Stille-Hören getrennt voneinander vollzieht. Die Trennung ist eine heuristische, die dazu dient, die Bezüge zu den – in der Theorie getrennt konzeptualisierten Idealen des Hörens – zu verdeutlichen. In den Analysen werden die sich in Aufführungen zumeist ergebenden Überschneidungen aller akustischen Phänomene nicht nur grundlegend berücksichtigt, sondern stellen zumeist wesentliche Parameter der jeweiligen zu analysierenden Hörweisen dar.

!%!! " $  (!' Sitting in the dark we’re gifted the void space of the story that is missing in which to do our own telling.

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TIM ETCHELLS

     #         Als Ideal und Norm der Theaterwahrnehmung gilt weitgehend noch immer ein Modus des Zuhörens, der als konzentriert dem Bühnengeschehen zugewandt bestimmt werden kann.2 Das entsprechende auditive Aufmerksamkeitsgefüge ist im Optimalfall in seiner Dynamik soweit stillgestellt, dass das Zentrum der Aufmerksamkeit kontinuierlich auf das von der Bühne her Gesprochene und Gesehene gerichtet und in sich so verdichtet ist, dass nur das ›Wesentliche‹ bewusst wahrgenommen wird. Dies schließt neben intramodalen Hierarchisierungen, die festlegen, welchen Elementen des Gehörten oder Gesehenen der Vorrang vor anderen zukommt, auch intermodale Einflussfaktoren durch die intendierte Reduktion der bewussten Wahrnehmung taktiler, olfaktorischer oder gustatorischer Dimensionen ein. Das konzentrierte Zuhören entspricht damit im Idealfall der hierarchisierten Ord1

Tim Etchells, http://www.timetchells.com/blogsection/notebook vom 30.11.2012, letzter Zugriff am 8. Juli 2016.

2

Dieses Ideal war in der Theatergeschichte nicht immer in gleicher Weise gegeben. So lassen sich auch Phasen der eher zerstreuten Rezeption aufzeigen. Doch haben sich seit dem 18. Jahrhundert die konzentrierte Hinwendung und das Verstehen als präferierte Rezeptionsmodi herausgebildet, die bis heute – vor allem an den Stadt- und Staatstheatern – von großer Bedeutung sind. Auch für die griechische und römische Antike wird die Verwendung frontalräumlicher Anordnungen von Bühne und Publikumsbereich in der theaterhistorischen Forschung als Bestreben, konzentriertere und auf Verstehen gerichtete Rezeptionsmodi hervorzubringen, interpretiert.

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nung der wahrzunehmenden Phänomene und Wahrnehmungsprozesse, in der das Zeichenhafte in Form des Sprachlich-Stimmlichen und Dargestellten höchste Priorität besitzt.3 Andere akustische Phänomene wie Musik, Geräusche, Sounds oder spezifische Qualitäten und Dimensionen wie Stimmklang, Rhythmik oder Atmosphären sind nicht aufmerksam zu zentrieren, sondern randständig und als das Eigentliche begleitend wahrzunehmen. Weitere Komponenten wiederum sollen nach diesem Verständnis aus der bewussten Rezeption ausgeblendet werden – dazu zählen neben der visuellen Präsenz der anderen Zuschauenden auch die Publikumsgeräusche sowie eventuelle leibliche Empfindungen wie Schmerzen beim Sitzen, Gerüche z. B. des Parfüms der Sitznachbar*innen oder der Geschmack beim Verzehr von Bonbons und ähnlichen Speisen. Sie gelten als ›Störungen‹ und zu vermeidende ›Ablenkungen‹, durch die eine vollständige und ›korrekte‹ Erfassung der Inhalte gefährdet wird. Genau wie das idealisierte konzentriert-verstehende Zuhören stellt auch die Idee der ›Ablenkung‹ ein diskursiv und kulturell erzeugtes Konstrukt dar, dessen Wirksamkeit in der Verhinderung des Ziel-Verfolgens und -Erreichens verortet und negativ bewertet wird. Im Rahmen der binären Ordnung von Wesentlichem versus Unwichtigem wird dem ›Ablenkenden‹ die Abwendung vom Wichtigen zugeschrieben. ›Ablenkung‹ stellt in diesem Sinne ein kulturelles Phantasma dar, denn es lässt sich nicht von einer binären Opposition zwischen einem ›reinen‹ Zuhören und einer ›verunreinigenden‹ Ablenkung ausgehen, sondern ›Zuhören‹ und ›Ablenkung‹ sind demgegenüber als in sich verflochten, zusammenhängend und sich gegenseitig bedingend aufzufassen. Aus diesem Grund wird der Begriff der ›Ablenkung‹ von mir nicht verwendet, sondern – mit Bezug auf die phänomenologischen Konzepte der ›attentionalen Modifikationen‹ und der ›attentionalen Wandlungen‹ bei Husserl, Schmicking und Waldenfels – von Umgewichtungen des Hörens durch die auditive Aufmerksamkeit gesprochen. 4 Nicht nur gestaltet sich das Wirken der Aufmerksamkeit als Veränderung des Wahrzunehmenden in seiner Anordnung, sondern es konstituieren sich damit auch neue Ordnungen, Hierarchisierungen und Priorisierungen, was durch den in Anlehnung an Bernhard Waldenfels verwendeten Begriff der Gewichtung verdeutlicht werden soll.

3

Von einer anderen Seite her lässt sich, wie Jenny Schrödl dies in ihrer Studie zur Stimme im postdramatischen Theater vollzieht, die spezifische Gestaltung von Stimmlichkeit im Gegenwartstheater als eine sich an diesem Aufmerksamkeitsideal abarbeitende ästhetische Praxis verstehen. So bewirken die von Schrödl aufgezeigten Stimmlichkeiten, die sie mit dem Begriff der vokalen Intensitäten fasst, vor allem eine »Abkehr und Dekonstruktion von Stimmvorstellungen und -idealen des dramatischen Theaters« (Schrödl 2012, S. 107).

4

Vgl. Hua 38, S. 294 ff.; Schmicking 2003, S. 100 ff.; Waldenfels 2004, S. 284.

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»Zentrum und Rand sind keineswegs statische Größen, sondern Produkte einer ständig sich erneuernden Zentrierung und Marginalisierung. [...] Es geht nicht bloß um den Unterschied von Aktualität und Potentialität, [...] es geht vielmehr um die Möglichkeit einer Umorganisa5

tion des Erfahrungsfeldes, in deren Verlauf die Gewichte anders verteilt werden.«

Dynamiken der Umgewichtung erweisen sich als Prozesse, die durch den Begriff der ›Querbewegung‹ zu erfassen sind, insofern sich Wandlungen der Aufmerksamkeit sowohl ordnungszersetzend als auch neue Ordnungen konstituierend auswirken. 6 Das ›Quere‹ der Umgewichtung ergibt sich aus der Unterbrechung von Linearität und dem Aussetzen von Kontinuierlichkeit. Dynamiken auditiver Aufmerksamkeit sind in diesem Sinne als ›quer‹ zu bestehenden Ordnungen der Wahrnehmung aufzufassen. Gerade diese quer einschießenden, Ordnungen mobilisierenden und Umgewichtungen provozierenden Vorgänge sind es, die im Rahmen der Idealisierung von Konzentration, Verstehen und Hinwendung vom aufrechtzuerhaltenden Zuhörmodus auszuschließen sind. Einerseits ist dieses Ideal im Gegenwartstheater weiterhin präsent und durch bestehende theaterpraktische wie ästhetische Faktoren unterstützt, andererseits findet sich jedoch in weiten Bereichen insbesondere des postdramatischen, die performative Dimension betonenden Theaters eine vielfältige, kritische Auseinandersetzung speziell mit diesem Rezeptionsmodus und prinzipiell mit der Hierarchisierung verschiedener Wahrnehmungsweisen. Im Folgenden werden markante Beispiele dieser Beschäftigung, die sich vor allem durch die Eröffnung alternativer Weisen der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit vollziehen, aufgezeigt und in ihrer je spezifischen Ausrichtung und Art beschrieben sowie anhand der während der Aufführung gemachten Erfahrungen analysiert und in Bezug auf die Konzeption des Zuhörens kontextualisiert. Bevor diese Vielfalt aufgegriffen wird, beginne ich mit einer Beschreibung meiner Erfahrungen während einer Aufführung von Jean Genets Die Zofen in der Regie von Luc Bondy an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

5

Waldenfels 2004, S. 103.

6

Der Begriff der ›Querbewegung‹ verweist mit dem Begriff ›Bewegung‹ auf das Prozessuale und Ereignishafte der ausgelösten Umgewichtungen und mit der Komponente des ›Queren‹ auf einen Begriff von Queerness sowie die Relevanz der Queer Theory für die Aufmerksamkeitsverschiebungen. Aus diesem theoretischen Kontext wird ein Verständnis des ›Queerings‹ als Prozess der Verunsicherung und Aushebelung gewohnter und normierter Wahrnehmungsordnungen übernommen und auf Aufmerksamkeitsdynamiken bezogen. Diese Bezüge werden zum Ende des Kapitels noch einmal detaillierter aufgegriffen.

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in Berlin, da diese sich als Manifestation des idealisierten Zuhörens im Theater bestimmen lassen.7 Ich sitze im gut gefüllten Parkett und blicke frontal auf die mit einem realistisch wirkenden Bühnenbild eines Schlafzimmers ausgestattete und zunächst nur spärlich ausgeleuchtete Bühne, auf der die Zofen Claire (Caroline Peters) und Solange (Sophie Rois) damit beschäftigt sind, heimlich die besten Kleider ihrer Arbeitgeberin, der Gnädigen Frau (Edith Clever), anzuziehen und in einer Art Rollenspiel die Positionen von ›Herrin‹ und ›Dienerin‹ nachzuahmen. Beide nehmen dabei eine andere Rolle als die eigene an, denn während Claire sich als ›Gnädige Frau‹ ansprechen lässt, wird im Verlauf des Rollenspiels deutlich, dass Solange nicht als sie selbst, sondern in der Rolle von Claire agiert. Scheinbar den Zwist zwischen der ›Herrin‹ und ihrer ›Dienerin‹ nachspielend verhandeln die beiden Frauen auf einer subtileren Ebene zugleich auch solche Konflikte, die zwischen ihnen, Claire und Solange, schwelen, so dass immer wieder eine von ihnen mit verunsicherten Fragen, energischem Fluchen oder boshaften Seitenhieben aus der – in diesem Spiel im Spiel übernommenen – Rolle fällt. Zu hören sind in dieser Szene nur die Stimmen der beiden Schauspielerinnen, die den Dramentext Genets deutlich intonieren, dabei psychologisch kohärente Charaktere erzeugend, deren Realismus durch das überzogen dargestellte und in seiner Artifizialität gekennzeichnete Spiel mit den Rollen noch verstärkt wird. So markiert sich der Übergang zwischen Rollenspiel und Beziehungsaushandlung besonders in der stimmlichen Intonation, in der sich die verschiedenen Ebenen durch Übertreibung und Karikatur einerseits sowie durch ›echt‹ wirkende emotionale Ausbrüche andererseits manifestieren. An einer Stelle entfährt Claire der wütende Ausruf »Du dumme Kuh«, der, wie an der Intonation und der Anrede ›Du‹ erkennbar wird, nicht an Solange als ›Herrin‹ im Rahmen des Rollenspiels, sondern an Solange selbst gerichtet ist. Zu einem späteren Zeitpunkt wendet Solange die Wut Claires ab, indem sie in der gespielten Rolle als ergebene Dienerin antwortet und dabei mit der Art ihres Sprechens verdeutlicht, dass die wütenden Angriffe Claires ins Leere laufen, da sie das Ziel, Solange, verfehlen. An Veränderungen des Tonfalls und der Lautstärke, am plötzlichen Wechsel der Anrede zum ›Du‹ oder an den emotionalen Reaktionen der Angesprochenen, die kaum mehr ihre Verletztheit und Entrüstung verbergen, wird deutlich, dass es nicht nur um ein mimetisches Lächerlich-Machen der ›Gnädigen Frau‹ geht. Das Gesprochene ist während dieser Anfangsszene durchgängig ambivalent, da die Ebenen und Kontexte ständig variiert und allein über die Art des Sprechens und Intonierens an-

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Meine Ausführungen beziehen sich auf die Aufführung am 26. September 2008 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Die Inszenierung von Luc Bondy hatte zunächst bei den Wiener Festwochen am 4. Juni 2008 Premiere und kam dann an die Volksbühne nach Berlin – die erste Aufführung hier war am 19. September 2008.

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gezeigt werden. Aufgrund der vielschichtigen und dynamischen Mehrdeutigkeit des Gesagten ist eine Hörweise gefordert, die dem Gesprochenen genau folgt und versucht, das untergründig und implizit Mitgegebene ebenfalls aufzunehmen und im Kontext der dargestellten Situation zu bewerten. Über längere Zeit folge ich dem Schlagabtausch der beiden auf hochkonzentrierte Weise, um möglichst alle Dimensionen des Dargestellten zu registrieren. Nach einiger Zeit wende ich mich vom Bühnengeschehen, das weniger rasante Handlung als vielmehr ein kontinuierlich komplexes Sprechen ist, ab, da ich mir bewusst werde, dass eine extreme, für mich im Theater und noch dazu in der Volksbühne, ungewöhnliche Stille im Saal herrscht, die in ihrer Intensität fast körperlich zu spüren ist.8 Denn das vom Bühnengeschehen vollkommen gebannte Publikum sitzt still und reglos, die Körper zumeist leicht nach vorn in Richtung Bühne gebeugt, die Augen weit geöffnet. Was sich im Raum und in der Stille ausbreitet, ist eine in ihrer Dichte und Intensität fast greifbare Atmosphäre der Gespanntheit und des Gebannt-Seins. Es ist so ruhig im Saal, dass das geringste Geräusch extrem laut wirkt; ich wage es kaum, mich von einer Sitzposition in eine andere zu bewegen. Auf diese Weise wird die Konzentration der anderen Zuschauenden, die den Darstellerinnen Caroline Peters, Sophie Rois und Edith Clever zugewandt sind, am eigenen Leib spürbar durch eine sich in meinem Körper ausbreitende Anspannung im Bestreben, nicht zu stören. Denn sich – und wenn auch nur versehentlich – durch Geräusche kund zu tun, würde bedeuten, dass meine körperliche Anwesenheit auffällig wird, die Aufmerksamkeit der anderen Anwesenden möglicherweise vom Bühnengeschehen weg- und auf mich gezogen wird, so dass ihre Aufführungsrezeption für Momente beeinträchtigt wäre. Was ›Störung‹ in diesem Kontext bedeutet, wird mir in dieser Situation sehr bewusst. Es ist die Unterbrechung der Hinwendung auf die Bühne, auf das dort Gezeigte und Gesprochene sowie das Auffällig-Werden eines ›Jenseits‹, einer Abseitigkeit, welche die ungehinderte Wahrnehmung des ›Eigentlichen‹ beeinträchtigen kann. Jedes einzelne Wort fällt in diese Stille, die der Bühne vom Publikum entgegengebracht wird. Es ist weniger so, dass das Sprechen der Schauspielerinnen durch ihm inhärente Qualitäten dominiert, in-

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Die Inszenierung ist sowohl bezüglich der Produktions- als auch der Rezeptionsdimension ungewöhnlich für die Volksbühne, einem Ort, an welchem häufig auf verschiedene Weise mit Konventionen des Theaters gebrochen und die Erwartungshaltung des Publikums durchkreuzt wird, einem Ort auch, an dem sich das Publikum häufig zum dargestellten Geschehen verhält, indem es die Aufführung kommentiert, lacht, den Saal verlässt, spricht, unruhig ist, wodurch ein Rascheln hier und ein Knistern dort entstehen etc. Diese Geräusche gelten als Indikatoren einer abnehmenden oder nicht vorhandenen Konzentration, insofern die Zuschauenden unruhig werden, wenn sie aus diversen Gründen nicht mehr vollkommen ›bei der Sache‹ sind.

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sofern es beispielsweise durch eine besondere Modulation, Verzerrung, Musikalisierung o. Ä. auffällig wird, sondern vielmehr heben sich die Stimmen als einzige Laute von der sonst herrschenden allumfassenden Stille ab und kommen auf diese Weise zu Gehör. Weder Sound Design noch Geräuscheffekte oder ein andauernder Musikeinsatz, sondern eben Stille stellt den akustischen Hintergrund dar, von dem sich das Sprechen abhebt. Was in Die Zofen wahrzunehmen ist, lässt sich zunächst als ein besonderer Modus des Hörens und zwar eines konzentrierten, verstehenden Zuhörens bestimmen. Es handelt sich dabei um eine Weise des Hörens, die in Verbindung mit einem spezifischen Theaterverständnis idealisiert und als Norm der Rezeptionshaltung im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert etabliert wurde. Die Aufführung von Die Zofen produziert eine den Prinzipien des Guckkastentheaters entsprechende konzentrierte und ausschließlich auf das Bühnengeschehen gerichtete Hinwendung, indem sie die vierte Wand zwischen Bühne und Publikumsbereich nicht durchbricht, sondern stattdessen auf der Bühne eine in sich geschlossene Welt mit kohärenter Handlung und psychologisch fundierten Charakteren zur Erscheinung kommen lässt. Bondys Inszenierung verdeutlicht ein Verständnis von Theater, das weniger im Zeigen, als vielmehr im Sagen besteht und insofern nicht vorrangig performativ erfahrbar macht, sondern semiotisch und also über die Zeichen auf der Bühne vermittelt, was in der dort dargestellten Fiktion verhandelt, erörtert und reflektiert wird. Die Aufführung von Die Zofen ruft einen Rezeptionsmodus hervor, welcher der idealisierten Konzentration entspricht, weshalb ich ihn als Ausgangspunkt gewählt habe, um die verschiedenen Abweichungen und Auseinandersetzungen anderer Beispiele des Gegenwartstheaters zu verdeutlichen. Denn was im Folgenden aufgezeigt und erörtert wird, ist die Annahme, dass sich viele Inszenierungen mit diesem historisch und kulturell dominanten Aufmerksamkeitsideal beschäftigen, indem sie es zersetzen, übertreiben, unterlaufen oder verunmöglichen. Sie weisen somit auch implizit darauf hin, dass diese Risiken, Gefahren, Minderungen, Störungen, Überlagerungen etc. schon immer Teil des Zuhörprozesses sind und eine Konzeption von störungsfreier, allumfassender und allein auf das Verstehen gerichteter Aufmerksamkeit nicht nur ein konstruiertes Ideal und eine restriktive Norm darstellt, sondern darüber hinaus auch eine Verkürzung der Weisen, wie auditive Wahrnehmung verläuft und erfahren wird. Demgegenüber wird das konzentrierte Zuhören im Theater auf vielfältige Weise in seiner Konstruiertheit und Historizität ausgestellt und zu Bewusstsein gebracht sowie zugleich diverse Zuhörweisen erfahrbar gemacht. Was aufgezeigt wird, ist vor allem, dass es das Zuhören nicht gibt. Vielmehr existieren verschiedene Arten des Zuhörens, die in ihrer jeweils spezifischen Ausprägung noch nicht ausreichend berücksichtigt und erforscht sind. Sabine Breitsameter weist auf diese Vielzahl hin: »Zuhören ist nicht eine Methode, beruht nicht

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auf einer standardisierbaren Kulturtechnik, sondern realisiert sich in vielfältigen Strategien und Methoden.«9 Ziel dieses Kapitels zum Zuhören ist es, entlang der Analysen von verschiedenen Beispielen des Gegenwartstheaters sowohl die dekonstruierende Kraft der jeweiligen Aufführungserfahrung in Bezug auf das idealisierte Rezeptionsverhalten der konzentrierten Hinwendung und des verstehenden Zuhörens nachzuvollziehen als auch die je spezifische Zuhörweise in ihrer Besonderheit und Eigenart zu beschreiben und zu analysieren. Meine These ist, dass sich die Verschiedenheit der bewirkten Zuhörweisen aus der Differenz verschiedener Aufmerksamkeitsdynamiken ergibt und dass sich das Spektrum der verschiedenen Modi des Zuhörens daher über das Nachvollziehen der während der jeweiligen Aufführung bewirkten Umgewichtungen und Gefüge von auditiver Aufmerksamkeit erfassen lässt. Zumeist werden die zwischen Zuhören und Hören unterscheidenden Faktoren mit Aufmerksamkeitsprozessen in Verbindung gebracht – so verweist z. B. Andrew Wolvin in seiner Zusammenfassung des Forschungsstands zum Zuhören aus psychologischer und kommunikationstheoretischer Sicht auf die zentrale Bedeutung der Aufmerksamkeit für die im Zuhörprozess involvierten Gedächtnisleistungen.10 Ihre Unterscheidung zwischen dem Zuhören und dem Hören knüpft auch Sabine Breitsameter an den Modus der Aufmerksamkeit, der bei ersterem als ›konzentriert‹ und bei letzterem als ›zerstreut‹ angelegt sei.11 Insgesamt geht es darum, durch die Beschreibung, Deutung und Analyse verschiedener Aufmerksamkeitsgefüge, die im Verlauf einzelner Aufführungen erfahrbar werden, auf die mit ihnen verbundenen Zuhörweisen zu schließen. Dazu ist es zunächst wichtig genauer auszuführen, wie das konzentrierte Zuhören in der Psychologie, Philosophie, Pädagogik und der Kulturtheorie bestimmt wird. Diese Konzeptionen sind sowohl dem Ideal des konzentrierten, verstehenden Zuhörens als auch den in diversen Aufführungen erlebbaren Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsprozessen gegenüberzustellen, um anhand der jeweiligen Differenzen auf die

9

Sabine Breitsameter: »Methoden des Zuhörens. Zur Aneignung audiomedialer Kunstformen«, in: Paragrana 2 (16) 2007 (Klanganthropologie. Performativität – Imagination – Narration), S. 223-236, hier S. 224. Vgl. auch De Kerckhove 1995, S. 104. De Kerckhove weist darauf hin, dass jede dieser verschiedenen Zuhörweisen ein ihr zugehöriges »set of attitudes, postures, expectations, judgements [sic!] and storing and discarding measures« aufweist. Ebd.: »Each one can be called ›a mode‹. We switch on one mode or another depending upon our circumstances and our need.«

10 Vgl. Andrew D. Wolvin: »Listening Engagement: Intersecting Theoretical Perspectives«, in: ders. (Hg.), Listening and Human Communication in the 21st Century, Malden/ Oxford 2010, S. 7-30, hier S. 12. 11 Vgl. Breitsameter 2007, S. 225.

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Vielfalt möglicher Zuhörweisen und auf das Defizit des simplifizierenden Ideals hinzuweisen. Das Konzept des konzentrierten Zuhörens greift demnach zu kurz und macht die Ergänzung einer Reihe weiterer Konzepte von alternativen Zuhörweisen notwendig.

           Bestimmungen des auditiven Modus des Zuhörens finden sich vor allem in der Philosophie, der Psychologie und der Kommunikationstheorie. Die Definitionen dieser Disziplinen stimmen darin überein, dass sie das Zuhören als intentionalen, kontrollierten, zentrierten und energieverbrauchenden Prozess in Abgrenzung von einem allgemeiner gefassten und automatisch ablaufenden Hörmodus differenzieren.12 Das Zuhören wird meist als eine Sinnestätigkeit beschrieben, die auf ein einzelnes akustisches Phänomen – der stimmlich-sprachlichen Verlautbarung – gerichtet ist und in deren Verlauf sich durch kognitive Prozesse Bedeutungen herausbilden. Das Zuhören schließt die partielle Mitwahrnehmung anderer Aspekte wie der sprechenden Person, deren Gestik und Mimik sowie der Situation und den sozialen Relationen von Sprechenden und Zuhörenden ein.13 Im idealisierten Konzept des Zuhörens sind durch die Zentrierung, Intensität und Verdichtung der Aufmerksamkeit alle möglichen Störfaktoren wirkungslos, so dass die Intention, welche diesen Hörmodus begründet, erfolgreich an ihr Ziel gelangen kann, welches im Verstehen des Gesprochenen verortet wird. 14 Dabei wird das Zuhören weniger auf ein rein akustisches Verstehen-Können bezogen, das allein von der lautlichen Umgebung und physiologischen Vorgängen abhängt, sondern primär als ein das Sprachliche in seinem Sinn begreifendes und verarbeitendes Zuhören und somit vorrangig aus psychologischer Perspektive als kognitiver Prozess der Bedeutungszuweisung und

12 Vgl. z. B. Margarete Imhof: »What is Going on in the Mind of a Listener? The Cognitive Psychology of Listening«, in: Andrew D. Wolvin (Hg.), Listening and Human Communication in the 21st Century, Malden/Oxford 2010, S. 97-126, hier S. 98. 13 Vgl. Margarete Imhof: Zuhören. Psychologische Aspekte auditiver Informationsverarbeitung, Göttingen 2003, S. 11 f. Bezogen auf Gebärdensprache verschiebt sich der Schwerpunkt im Zuhören entsprechend fast vollständig auf die Wahrnehmung der Gesten und Mimik der solcherart Sprechenden. 14 Vgl. De Kerckhove 1995, S. 104: »Listening, in contrast to hearing, is a product of selective attention; it is driven not by inner processes but by outer ones.«

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Interpretation aufgefasst.15 Margarete Imhof definiert das Zuhören in diesem Sinne vor allem als Leistung und Anstrengung der Aktiviertheit und Konzentration.16 Da das Zuhören insofern als eine Weise des zwischenmenschlichen Verstehens und Verstehen-Wollens begriffen wird, lässt sich ihm darin eine Dimension von Sozietät zuweisen, die sich im Zuhören durch die Zugewandtheit und Konzentration zwischen Sprechenden und Zuhörenden manifestiert. 17 Zuhören bedeutet, die Sprechenden durch das ›Schenken‹ des eigenen Gehörs nicht nur zu bemerken, sondern – im wortwörtlichen Sinn des metaphorischen Ausdrucks – auch zu beschenken, und zwar mit einer im Zuhören mitgegebenen Aufmerksamkeit in der Form gegenseitiger (Be-)Achtung. Damit zu verbinden ist Barthes’ Beschreibung des Sprechens als einer Aufforderung an das Gegenüber, sich ihm zuhörend zuzuwenden und näherzukommen, so nah, bis sich eine Berührung ereignet, die sich nicht nur zwischen Stimme und Ohr, sondern auch als Berührt- und AngegangenWerden ereignet: »›Hör mir zu‹ heißt, ›Berühre mich, wisse, dass ich existiere‹ [...].«18 Es ist eine Berührung auf mehreren Ebenen, die sich im Zuhörprozess abspielt – erstens berühren die im Vokaltrakt der Sprechenden ausgelösten akustischen Schallwellen das Ohr und versetzen durch den Kontakt seine kleinteiligen Komponenten in Schwingungen, zweitens berührt das Gesagte die Zuhörenden im Sinne eines Angehens, das jedes Angesprochen-Werden in sich trägt, und drittens findet Berührung auf einer Metaebene durch die Zuwendung von Beachtung und die damit verbundene bewusste Wahrnehmung des anderen als gegenüberstehendes in seiner Intelligibilität ernstzunehmendes Subjekt statt. Diese zuhörende Hinwendung fasst Jean-Luc Nancy als »gespannt sein hin zu einem möglichen Sinn, der folglich nicht unmittelbar zugänglich ist.« 19 Es ist

15 Vgl. Imhof 2003, S. 11 f. 16 Vgl. ebd., S. 13. Vgl. Johannes Goebel: »Der Zu-Hörer«, in: Volker Bernius (Hg.), Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören, Göttingen 2006, S. 15-27, hier S. 17; Ute Bechdolf: »Ganz Ohr – Ganz Körper. Zuhörkultur in Bewegung«, in: ebd., S. 128-137, hier S. 129; Justin Winkler: »Umwelthören – Instrumente für eine ›kunstlose Kunst‹«, in: ebd., S. 153-158, hier S. 154. Der Psychologe und Therapeut Alfred Tomatis stellt die Beteiligung des gesamten Körpers am Zuhörvorgang heraus. Vgl. Alfred Tomatis: L’oreille et le langage, Neuauflage, Paris 1991, S. 14. 17 Vgl. Hans-Georg Gadamer: »Hören und Verstehen«, in: Volker Bernius (Hg.), Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören, Göttingen 2006, S. 51-58; ders.: »Über das Hören«, in: Thomas Vogel (Hg.), Über das Hören. Einem Phänomen auf der Spur, Tübingen 1998, S. 197-205. 18 Barthes 1990 [1982], S. 255. 19 Jean-Luc Nancy: Zum Gehör, Zürich/Berlin 2010 [Original: À l’écoute, Paris 2002], S. 13.

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ein ›Aufspannen‹ des Hörens, in dem sich die Beweglichkeit und Räumlichkeit des Gehörs manifestieren. Im Zuhören zeigt sich somit nicht nur ein funktional auf Kommunikation und Informationsaustausch gerichteter Prozess, sondern eine Zwischenräumlichkeit, die sich zwischen Sprechenden und Hörenden eröffnet und innerhalb derer sich das verstehende Zuhören sowie die damit einhergehende Anerkennung des anderen als eines ernstzunehmenden Subjekts ereignen kann. Darin ist die Aufmerksamkeit der Zuhörenden von sich selbst weg und auf den anderen gerichtet. Es ist demnach vor allem das aufmerksame Zuhören, das unter den verschiedenen Modi des Hörens als derjenige herausgehoben wird, der die Isolation einzelner Individuen verhindern und Gemeinschaft begründen kann.20 Nach Roland Barthes ist das Verhältnis zwischen Sprechenden und Zuhörenden kein einseitiges, bei dem auf der einen Seite ausgesandt und auf der anderen nur empfangen wird; vielmehr weist das Verständnis als ›Verflechtung‹ auf die wechselseitige Bezugnahme und die Dynamik des jeweiligen Gebens und Nehmens hin. »Das Ansprechen führt zu einem Gespräch, indem das Schweigen des Zuhörers genauso aktiv sein wird wie das Sprechen des Sprechers: Das Zuhören spricht, könnte man sagen [...].« 21 Es spricht, indem es sich als Hingewandtheit zu erkennen gibt und den Sprechenden signalisiert, dass ihnen und dem Gesprochenen offen, aufmerksam und mit der Bereitschaft zur Auseinandersetzung begegnet wird. Zuhören ist somit die Bezeichnung einer Hörweise, die als produktiver Prozess der Rezeption und Deutung von akustisch vermittelten sprachlichen Zeichen aufgefasst wird.22 Durch die Gerichtetheit und Verengung des Zentrums der auditiven Aufmerksamkeit auf das Sprachverstehen, was eine Hinwendung und Beachtung der sprechenden Person mit sich bringt, organisiert sich die auditive Wahrnehmung

20 Vgl. Wolvin 2012, S. 16. 21 Barthes 1990 [1982], S. 255. 22 Es zeigen sich diesbezüglich sprachliche Unterschiede, insofern in Bezug auf das französische Wort ›écouter‹ für ›zuhören‹ nach Roland Barthes drei verschiedene Hörweisen zu differenzieren sind: ein ›Zuhören‹ auf Indizien, was im Deutschen eher als Horchen oder Lauschen zu bestimmen ist, ein ›Zuhören‹ auf Zeichen, das dem deutschsprachigen Verb ›Zuhören‹ entspricht, und ein ›Zuhören‹ auf den ›intersubjektiven Raum‹, auf eine ›allgemeine Signifikanz‹, das eine Dimension beschreibt, die, wie ich meine und wie sich anhand entsprechender psychologischer und philosophischer Theorien belegen lässt, dem deutschen Verb ›Zuhören‹ inhäriert. Vgl. Barthes 1990 [1982], S. 249. Zu den sprachlichen Unterschieden vgl. Max Ackermann: »Hörwörter – etymologisch«, in: Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören (2006), S. 59-75, hier S. 60 ff. Ackermann hebt das französische Verb ›apprendre‹ für hörendes Lernen hervor sowie die für die deutsche Sprache besondere Verbindung zwischen ›hören‹ und ›gehorchen‹, die sich in der Zwischenform des ›Horchens‹ anzeigt.

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auf spezifische Weise und nach einer am Sprechvorgang orientierten Ordnung. Nach Barthes lässt sich diese als Rhythmus von Erklingendem und Stillephasen, als »Hin- und Herbewegung zwischen dem Merkmaltragenden und dem Merkmallosen«23 beschreiben. Im Zuhören vollzieht sich durch das Wirken der auditiven Aufmerksamkeit eine Abhebungsbewegung des Bedeutsamen vom Unbedeutenden. Mit Verweis auf Colin Cherrys einschlägiges ›Cocktailparty-Experiment‹, bei dem das auditiv-attentionale Vermögen, einzelne Stimmen und das Gesprochene innerhalb einer lautstarken Umgebung herauszuhören, untersucht wurde, sowie in Bezug auf die von Albert S. Bregman analysierten Prozesse des auditiven streaming, bei dem die verschiedenen akustischen Ereignisse im Hörprozess zu einzelnen zusammenhängenden und kontinuierlich sich fortsetzenden ›Strömen‹ gefasst werden, lässt sich die bedeutungserzeugende und produktive Abhebungsbewegung der Aufmerksamkeit näher fassen. 24 Diese vollzieht sich, so Bregman, bereits auf einer vorgängigen Stufe der Wahrnehmung, auf der noch keine bewussten Entscheidungen, sondern vielmehr sich nach bestimmten Prinzipien ergebende Organisationsweisen der Wahrnehmung, die Bregman als scene analysis bezeichnet, gegeben sind.25 Sie beruhen vor allem auf dem Erfassen von kontinuierlich relativ gleichbleibenden und sich im Sprechvorgang nur graduell verändernden Klangqualitäten der Tonhöhe, des Timbres und der Lokalisierung der Klangquelle. Des Weiteren betont Bregman, ohne allerdings näher darauf einzugehen, dass sich Sprachverstehen auch durch Bezugnahme auf ein erworbenes implizites Wissen ergibt. Diese Referenz vollzieht sich durch schematische Muster, Erwartungshaltungen und Antizipiationen des wahrscheinlich Nächstgesagten. Solche Verbindungen des Zuhörens einerseits mit bekannten und erinnerten Mustern, andererseits mit dem Unbekannten, Zukünftigen wird auch in der philosophischen und kulturwissenschaftlichen Theorie des Auditiven hervorgehoben – so gehen Joachim Kahlert und HansPeter Reinecke von einer im Zuhören gegebenen antizipativen Gerichtetheit auf das Zukünftige, auf das Noch-Nicht-Gehörte und -Gewusste, auf das Lernen im Sinne einer Lust am Neuen und einer »Begierde nach Unerwartetem« aus.26 Auch Barthes weist dem Zuhören diese Dimension zu: »Zuhören heißt, auf institutionelle Weise

23 Barthes 1990 [1982], S. 252. 24 Vgl. Colin Cherry: »Some Experiments on the Recognition of Speech, with One and with Two Ears«, in: The Journal of the Acoustical Society of America 25 (5) 1953, S. 975-979; Albert S. Bregman: Auditory Scene Analysis. The Perceptual Organization of Sound, Cambridge/MA. 1990, S. 529 ff. 25 Vgl. Bregman 1990, S. 530. 26 Vgl. Joachim Kahlert: »Hören, Denken, Sprechen – Die Rolle der Akustik in der Schule«, in: Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören (2006), S. 319-335, hier S. 324; Reinecke 2002, S. 37.

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herausfinden zu wollen, was geschehen wird [...].«27 Erwartung, Antizipation, Neugierde und Erkundung des Unbekannten stellen demnach charakteristische Aspekte des Zuhörens dar. Zuhören als aktive auditive Gerichtetheit umfasst daher zwei Dimensionen: eine eher räumlich und körperlich manifest werdende Ausrichtung zu etwas bzw. zu jemandem hin sowie eine zeitlich und imaginativ antizipierend vollzogene Gerichtetheit auf etwas hinaus. Dieses ›etwas‹ umfasst nach Barthes sowohl die antizipative Dimension des Zukünftigen als auch das ›Geheimnis‹ des Gesagten, seinen zu ergründenden Sinn. Die Bewegung des Zuhörens als ein Hinstreben erweist sich darin, dass es sich auf Unbekanntes richtet, als ein paradoxerweise zugleich zielstrebiges und zielloses ›Hin-Wollen‹. Das Streben des Zuhörens lässt sich ebenfalls sowohl als ein deutendes Voraus- als auch als ein Zurückhören verstehen, insofern es sich gleichzeitig auf die Zukunft, auf das Noch-Nicht-Gesagte wie auch auf das Vergangene, das Bereits-Gesagte richtet und in der Gegenwart diese drei zeitlichen Dimensionen zusammenführt. In der Unbekanntheit des Zukünftigen wie auch des Geheimnisvollen zeigt sich die Offenheit des Zuhörens, über die es z. B. durch überraschende Äußerungen, unpassend wirkende Einschübe, durch ein Misslingen des Sprechens oder unerwartete Bezüge im Gesprochenen u. a. auf eine Weise ›angegangen‹ werden kann, die sich primär im intendierten Sprachverstehen und in der Sinnzuschreibung vollzieht. Es liegt darin ein Bruch im reibungslosen Ablauf des idealen Zuhör- und Verstehensprozesses, der die Aufmerksamkeit vom Sinn des Gehörten weg auf den Zuhörvorgang selbst richtet und dabei Prozesse der Bewusstwerdung und der Reflexion, aber zugleich auch der Ablenkung, des Nicht-Verstehens oder der Komik in Gang setzen kann.

       Das Publikum betritt den Zuschauersaal des HAU 1, der frontal zur Bühne angeordnet ist, und nimmt nach und nach seine Plätze ein. Schon jetzt befinden sich die sieben Performer*innen auf der offenen Bühne, gehen langsam umher, nehmen sich etwas von den Dingen, die auf dem gedeckten Tisch im Hintergrund stehen, oder setzen sich auf den Stuhl, den sie alle mit sich herumtragen. Über den alltäglich wirkenden Outfits, z. B. dunkle Stoffhosen und T-Shirts, tragen sie rote Umhänge und auf den Köpfen je eine hohe Pappkrone. Nach einiger Zeit finden sie sich alle am vorderen Bühnenrand ein, nebeneinander auf ihren Stühlen Platz nehmend. Langsam wird der Publikumsbereich dunkel. »Once upon a time...«, so beginnt das Sprechen in Forced Entertainments mehr als sechsstündiger Erzählperformance And

27 Barthes 1990 [1982], S. 254.

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on the Thousandth Night... im HAU 1 am frühen Abend des 10. April 2010.28 »There was a King«, sagt die Performerin Claire Marshall mit ruhiger Stimme und fährt fort, »a very old King who was..., uh, ...at the end of his life...now this King didn’t have a Queen because she died some years before...he did have..., uh, ...three daughters...of whom he was very, very fond [...]«. Nach und nach lässt sich im Gesagten die Geschichte von Shakespeares King Lear erkennen – nur dass in diesem Fall die jüngste und vom Vater meistgeliebte Tochter nicht nichts zur Antwort gibt, sondern eine ungewöhnliche Liebesbezeugung äußert, die im Publikum zu lautem Gelächter führt: »Father, I love you... as salt loves ham«. Es handelt sich um eine erste Abwandlung der in der Erzählung angeeigneten Vorlage, auf die noch viele folgen werden. »Stop!« ruft plötzlich eine andere weibliche Stimme und unterbricht die bisherige Geschichte, deren Fortgang mit den neuen Figuren, zwei plötzlich in die Welt des Königs und seiner drei Töchter eintretenden Terroristen, vom Publikum nun nicht mehr weiterverfolgt werden kann. Cathy Naden leitet ihre dann folgende Geschichte nicht nur mit der gleichen Formel ein wie ihre Vorrednerin, »Once upon a time«, dabei der Inszenierungsvorgabe folgend, dass alle Erzählungen mit einem ›Stop‹-Ausruf und genau diesen Worten zu beginnen haben, sondern auch inhaltlich nimmt sie Bezug auf das Vorangegangene – mit leichter Variation: »Once upon a time, there was a Queen [...], she had three sons [...]«. Auch die folgenden Geschichten der anderen Performer*innen handeln von Monarchen mit schwieriger Verwandtschaft und problematischen Erbverhältnissen, doch werden Personal, Gegenstände und Zusammenhänge jeweils auf besondere und – gerade durch die Wiederholung und Abwandlung bereits bekannter Komponenten – markante Weise ausgetauscht und verändert: Aus den Töchtern werden Söhne, Alter wird zu Jugend, aus dem König wird eine Königin und später ein Klempner, der die Erbfrage unter seinen drei Söhnen anhand einer Toilettenreparatur klären will usw. Im Verlauf der Stunden treten die individuellen Erzählstile der Performer*innen in ihrer Eigenart deutlicher hervor. Sie wird sowohl an der Stimmführung, am Ausdruck – beispielsweise durch Übertreibungen und einen häufigen Gebrauch des Wortes ›very‹ – als auch an der Art des Erzählaufbaus und an einem sich nach einiger Zeit bei allen Performenden ergebenden Themenschwerpunkt, z. B. Horrorgeschichten, erkennbar. Nachdem die ersten Stunden der Aufführung vergangen sind, lässt sich neben, hinter oder vor mir die Bildung verschiedener Zonen der Unruhe wahrnehmen, die beim Verlassen des Saals oder durch Gespräche, auch durch ansteckend wirkendes Gelächter oder temporäres Desinteresse entstehen. Sie manifestieren sich u. a.

28 And on the Thousandth Night... hatte im September 2000 beim Festival Ayloul in Beirut Premiere. Ich habe die Aufführung am 10. April 2010 im HAU 1 in Berlin und den Internet-Livestream der Aufführung am 22. März 2014 im Culturgest in Lissabon erlebt.

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durch auffällig werdende Geräusche des Raschelns und Wisperns und durch eine spürbare Abnahme der zu beobachtenden körperlichen Spannung und Ausrichtung auf die Bühne. Nach ca. fünf Stunden habe ich viele Geschichten bzw. Fragmente und längere Ausschnitte gehört. An manchen habe ich Anteil genommen, war ›ganz dabei‹, habe die Gefühle der Figuren nachvollzogen, mitempfunden und die Ereignisse mal mit einer gewissen Spannung, die sich als körperliche Anspannung und als Bestreben zu erfahren, wie es weitergeht, äußerte, mal auch eher entspannt, im Sitz etwas heruntergerutscht, körperlich eher abgeschlafft, mental aber noch ›dabei‹ seiend, gehört. Wieder andere Erzählungen sind an mir vorbeigezogen, ohne dass ich die Worte wirklich verstanden habe – dann habe ich nur den Stimmen in ihrem klanglich-melodischen Verlauf und in ihrer Rhythmik gelauscht. Zumeist wird mit kräftiger Stimme in einem gut verständlichen Tempo gesprochen, dabei oft auf eine Weise intoniert, die den Modus des Erzählens selbst ausstellt. Es ist eine Stimmführung, die derjenigen von Hörbuchsprechenden ähnlich ist, wobei die Performenden aber im Gegensatz dazu häufig in einen Strudel der Ideen geraten, durch den sie schneller und aufgeregter sprechen. Auch vermittelt sich mir stimmklangliche Aufregung und Spannung in solchen Phasen, in denen die ›Stop‹-Rufe unter Gelächter in sehr kurzen Abständen aufeinander folgen und im Zuhören eigenständige rhythmisch-klangliche Muster entfalten. Die Stimmen sind dann lauter, die Worte folgen rasant aufeinander – deutlich lässt sich hören und spüren, dass die Erzählung auf etwas hinaus will, eine Pointe, ein Bild, ein witziger Bezug zu Vorherigem und dass dieses Ziel erreicht werden muss, bevor der nächste unterbrechende Ruf erklingt. Manchmal jedoch ›verheddern‹ sich die Erzählenden auch, insofern sie das Wort an sich reißen, um einen schnellen Witz zu machen, ohne dass damit eine umfassende Geschichte verbunden war. Wenn die anderen Performenden sie in dieser Situation nicht durch einen ›Stop‹-Ruf erlösen, dann tritt – im Stottern, im Worte-Suchen, in den verzögernden Füllworten der ›Äh‹- und ›Hm‹-Laute oder auch in der für kurze Momente eintretenden Stille – das hervor, was ›Erzählen‹ ist, ein performativ sich im Hier und Jetzt in gemeinsamer Anstrengung von Erzählenden und Zuhörenden vollziehender Prozess, in dem sich meine Aufmerksamkeit weniger auf das dann tatsächlich nach und nach sprachlich Hervorgebrachte, sondern vielmehr auf die körperlichen, situativen, klanglichen und energetischen Dimensionen des Vorgangs selbst richtet. Zu viel späterer Stunde nimmt der Zuhörmodus zu, bei dem ich immer noch auf die Stimmen und die Erzählung gerichtet bin, aber nicht mehr wirklich durchdringe, worum es gerade genau geht. Im Publikumsbereich kann ich sehen, dass zu dieser Zeit in der Nacht – es ist bereits weit nach Mitternacht – nicht mehr alle Sitze gefüllt sind, da viele Zuschauende das Theater bereits verlassen haben. Die noch Ausharrenden sitzen einzeln oder bilden Paare, Pärchen und kleine Gruppen, zumeist halb liegend, halb sitzend. Eine müde Stimmung liegt über dem Parkett, die aber

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immer wieder unterbrochen wird von plötzlichen Phasen des Interesses und der Spannung, die für mich an der wieder gesteigerten Ruhe und Gerichtetheit der anderen Zuhörenden deutlich werden. Nicht immer nimmt der gesamte Publikumsbereich teil an dieser Konzentrationszunahme; vielmehr sind Zonen der temporären Gerichtetheit auszumachen, die sich permanent im Saal verlagern sowie verkleinern oder ausbreiten können. Ich fühle mich erschöpft und folge der Dynamik des Erzählens, die sich weiterhin sowohl im Wechsel der Erzähler*innen als auch innerhalb der Geschichten zeigt, in diesen letzten Sequenzen der Aufführung nur noch mit wenig Kraft. Mein leibliches Befinden macht sich zunehmend bemerkbar, insofern sich ernstere Schmerzen vom Sitzen einstellen, meine Konzentrationsfähigkeit stark nachlässt und sich stattdessen ein tranceartiger Schwebezustand einstellt, in dem noch einige wenige der gehörten Worte registriert werden, die verschiedene, teilweise absurde Vorstellungen und Bilder auslösen und kaum mehr einen übergreifenden Sinnzusammenhang ermöglichen. Erst durch erneute Anstrengung und durch den Willen, dem Vernommenen weiterhin detailliert zu folgen, gelingt erneutes Verständnis. Am Ende der Aufführung mitten in der Nacht verlasse ich mit dem restlichen Publikum ermattet und ausgelaugt das Theater. Müdigkeit ist eine wesentliche Dimension der verschiedenen durationalen Arbeiten von Forced Entertainment. So äußert Tim Etchells die Intention der Gruppe, sich – und die Zuschauenden – im Verlauf der mehrstündigen Aufführung zur Verausgabung zu bringen: »Not actors, but tired people making something, tired people working, tired people making decisions. And the strange thing is that the more tired they get, the better their decisions become. It’s very beautiful to see.« 29 Diese Schönheit beschreibt Etchells aus Performer-Perspektive als einen Zustand des Deliriums, der sich nach sechs Stunden performten Erzählens durch ein ›fritiertes Gehirn‹, wenn nicht gar als ›hirnverbrannt‹, zu spüren gibt.30 Cathy Turner, Theater-

29 Tim Etchells: »Some thoughts on ›Who Can Sing A Song to Unfrighten Me?‹«, in: Theater etcetera. Zum Theaterfestival Spielart München 1999, hg. v. Tilmann Broszat und Gottfried Hattinger, München 1999, S. 73-78, hier S. 77. Vgl. auch im Blog von Tim Etchells »timetchells.com« dazu: »For instance, if a perfomance like Speak Bitterness or And on the Thousandth Night... is six hours long, the performers get tired and there is usually a certain hysteria by hour five. You are generally trying too hard in hour one. So you can say certain things about the shape and rhythm of those pieces, but it‹s not written or dramatically forced.« Tim Etchells, in: http://www.timetchells.com/?option= com_tag&tag=And%20on%20the%20Thousandth%20Night...&task=view&Itemid=9. 30 Tim Etchells: »Tim Etchells on performance: Improv storytelling’s peculiar joy«, in: http://www.theguardian.com/stage/2010/apr/13/tim-etchells-on-performance-improvstorytelling vom 13. April 2010.

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wissenschaftlerin und Gastperformerin während einer Aufführung dieser Arbeit, schildert ihre Erfahrung – über sich in der dritten Person sprechend – wie folgt: »She became aware, as she had never been before, of the effect of her physical tiredness on her ability to perform. She felt as if she were underwater. Ripples appeared in front of her eyes. Her brain felt sleep-sodden. Somehow stories still swam through this element, like strange fish, elusive and difficult to catch.«31

Müdigkeit und Erschöpfung als kreative Zustände einzuschätzen, in denen sich aus dem Gefühl, als wäre die Performende ›unter Wasser‹, also eingehüllt von einer sie von der Umgebung distanzierenden und alle klaren Konturen verzerrenden Schicht, stellt bei vielen der Arbeiten von Forced Entertainment eine der motivierenden Komponenten dar. Die angeführten Zitate von Etchells und Turner beschreiben Erfahrungen aus der Perspektive der Performenden. Sie haben Geschichten dargeboten, absurde, witzige, tragische und spannende Handlungen fantasiert und mitgeteilt, einen Erzählstrom fortgesetzt, der beizeiten ins Stocken gerät, zögert, suchend voranschreitet und offenbar erst im Artikuliert-Werden entsteht, ohne vorherige Idee oder Planung. Von Seiten der Performenden hat die Erfahrung während And on the Thousandth Night... vor allem durch die sich zunehmend ereignende Verausgabung mit Auslieferung zu tun, mit Risiken und Gefahren des Verstummens, des Regelbruchs, der Lächerlichkeit, wie Etchells ausführt: »Sometime towards midnight you could be treading the shallow water of a story that lacks purpose or direction, begging silently for the ›stop‹ to end your misery. More often than not, no such luck; there’s more amusement in letting you hang.« 32 Es ist Absicht der Gruppe, sich während der Aufführungen in eine Lage zu bringen, in der sich die Performenden aus der Sicherheit der Souveränität und Kontrolle hinausbegeben in einen Möglichkeitsraum, in dem eben auch Scheitern und Sich-Ausliefern grundsätzliche Dimensionen der Aktion darstellen. 33 Doch nicht nur die Erzählenden, auch die Zuhörenden verausgaben sich im Verlauf der mehrstündigen Performance. In meiner Erfahrung steigerte sich zunehmend das Maß an Verausgabung, so dass jede Fortsetzung und Aufrechterhaltung dieser auditiven Prozesse potentiell völlige Erschöp-

31 Cathy Turner: »Getting the ›Now‹ into the Written Text (and vice versa). Developing dramaturgies of process«, in: Performance Research 14 (1) 2009, S. 106-114, hier S. 110. 32 Tim Etchells: »Tim Etchells on performance: Improv storytelling’s peculiar joy«, in: http://www.theguardian.com/stage/2010/apr/13/tim-etchells-on-performance-improvstorytelling vom 13. April 2010. 33 Vgl. Jeremy M. Barker: »Interrupting the Narrative: A Talk With Tim Etchells«, in: www.culturebot.org/2013/01/15555/interrupting-the-narrative-a-talk-with-tim-etchells vom 26. Januar 2013.

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fung riskiert und sich somit als auf bestimmte Weise als gefährlich zu spüren gibt.34 Durch die anwachsende Ermüdung verschwimmen die Geschichten immer stärker ineinander. Fragmente schon erzählter Geschichten bleiben im Gedächtnis, über die sich die nachfolgenden Erzählungen legen. Absurde, fantastische, monströse, explizit pornografische Inhalte werden in ihrer Überspitztheit registriert und lösen eine Vervielfältigung und Verstärkung der dargestellten Handlungen und Zustände aus – das Zuhören und die von ihm produzierten Gedanken verselbständigen sich zunehmend in einem durch die Strukturen einer einzelnen Erzählung nicht mehr kontrollierbaren ›Wuchern‹. Performerin Terry O’Connor von Forced Entertainment beschreibt diesen Prozess als Einladung an das Publikum, »to make their own space to wander in, a game with the audience as witnesses and silent players.«35 Etchells nimmt an, dass sich die Erwartungshaltung der Zuschauenden durch das Vorwissen über die Aufführungsdauer von vornherein ändert: »[...] if you know that it’s twelve hours long and you can leave, I think your whole relation to the performance changes. Your expectations are very different.«36 Während im Rahmen einer ›Ökonomie der Aufführung‹, gegen die sich Etchells kritisch wendet, erwartet wird, dass permanent Unterhaltsames, Faszinierendes, Kluges etc. geliefert wird, forcieren durationale Aufführungen eher Haltungen eines entweder zurückgelehnten Auf-Sich-Zukommen-Lassens oder, so Etchells, eines engagierten Selbst-Findens.37 In diesem Sinne bieten in And on the Thousandth Night... auch die Zuhörenden etwas an, geben etwas hin und preis – und zwar nicht nur ihr Gehör, sondern vor allem ihre Aufmerksamkeit, ihr aufmerksames Zuhören. Es handelt sich um eine Gabe, nicht um einen erzwingbaren Vorgang – und je länger die Aufführung dauert, umso deutlicher zeigt sich dies, und zwar vor allem in der ›Veraus-Gabung‹ der Zuhörenden. Diese ergibt sich im Wesentlichen aus der Konzentration der Zuhörenden und aus der mehrstündigen Dauer der Aufführung, in deren Verlauf deutlich wird, dass das Zuhören eine Sinneswahrnehmung ist, die anstrengt, insofern sie einer mentalen – und körperlichen – Aktiviertheit und Hinwendung bedarf.

34 Vgl. Florian Malzacher: »There is a Word for People like you: Audience«, in: Jan Deck/ Angelika Sieburg (Hg.), Paradoxien des Zuschauens. Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater, Bielefeld 2008, S. 41-53, hier S. 46 f. 35 Terry O’Connor: »Virtuous Errors and the Fortune of Mistakes. A personal account of making and performing text with Forced Entertainment«, in: Performance Research 14 (1) 2009, S. 88-94, hier S. 92. 36 Tim Etchells im Interview mit Jonathan Kalb, »The Long and the Short of It: An Interview with Tim Etchells«, in: www.hotreview.org/articles/timetchellsint.htm, vom 08. September 2008. 37 Vgl. Tim Etchells: »Doing Time«, in: Performance Research 14 (3) 2009, S. 71-80, hier S. 73.

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Während der Aufführung vollziehen sich ausgehend von einem konzentrierten, auf die Sprechenden und das Gesprochene gerichteten Zuhörmodus zwei Prozesse: Zum einen findet – vor allem aufgrund der Dauer der Aufführung – ein Nachlassen der Intensität des Zuhörens statt. Zum anderen weitet sich der zentrierte engere Bereich und öffnet sich zunehmend gegenüber anderen, eher als ›Ränder‹ der Aufführung markierten Komponenten. Zunächst ist die auditive Aufmerksamkeit und Wahrnehmung vor allem im ›Dort‹ des Erzählten, in den imaginativ mitvollzogenen Geschichten ›dabei‹, absorbiert im imaginativen Mitvollzug des Gehörten. Marie-Laure Ryan konstatiert mit Rückgriff auf Richard Gerrigs Immersionstheorie in Bezug auf die Rezeption narrativ erzeugter Welten: »As is the case with any intense mental activity, a deep absorption in the construction/contemplation of the textual world causes our immediate surroundings and everyday concerns to disappear from consciousness.«38 Das Eintauchen in die andere, die imaginierte Welt vollzieht sich umso schneller und einfacher, je eher das Erzählte die Aufmerksamkeitshaltung einer ›unangestrengten Konzentration‹ forciert – ein Zustand, der nach Victor Nell mit der Automatisierung bestimmter Rezeptionsprozesse zusammenhängt.39 Danach wird Absorption durch die Bekanntheit von Mustern und Figurentypen gefördert, während ungewöhnliche Narrationen, z. B. solche, die formal von eingeführten Erzählmustern abweichen, schwieriger zu verarbeiten sind und weniger schnell oder stark zur Versenkung der Rezipierenden führen. Bei And on the Thousandth Night... werden bekannte Erzählmuster aufgegriffen, was über die auf Märchenstrukturen

38 Marie-Laure Ryan: Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media, Baltimore/London 2001, S. 94. Anzumerken ist, dass Ryan sich auf die lesende Rezeption bezieht, während die Rezeption der Erzählungen in And on the Thousandth Night... hörend vollzogen wird. Ich gehe davon aus, dass sich beide Rezeptionsweisen bezüglich des ausgelösten absorbierenden Prozesses vergleichen lassen, auch wenn, wie in aktuellen Zuhörtheorien z. B. von Margarete Imhof immer wieder betont wird, diese Erfahrungs- und Wahrnehmungsweisen natürlich nicht von derselben Art sind. Lesen und Zuhören sind dementsprechend als zwei verschiedene Modi der Rezeption sprachlicher Zusammenhänge aufzufassen, die aber beide dennoch auf ähnliche Weise absorbierend wirksam werden können. Was darüber hinaus an dem Zitat von Ryan deutlich wird, ist, dass die Begriffe der ›Immersion‹ und der ›Absorption‹ im Englischen oft synonym benutzt werden, während diesen Konzepten im Deutschen unterschiedliche Bedeutungen zugewiesen sind. Vor allem der Begriff der ›Immersion‹ wird in der Übertragung auf eine Form des Gegenwartstheaters, die in Anlehnung an den englischen Begriff ›immersive theatre‹ als ›Immersives Theater‹ bezeichnet wird, verändert, insofern die ›Rezentrierung‹ des Publikums dabei weniger durch Absorption als vielmehr durch das tatsächliche Betreten konkreter gestalteter Umgebungen geprägt ist. 39 Vgl. ebd., S. 96.

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und -inhalte verweisende jeweilige Anfangssequenz ›Once upon a Time...‹ hinaus auch eine Vielzahl anderer genre-typischer Formen umfasst. Den Übergang von der realen in die imaginierte Welt bestimmt Ryan als einen Prozess der Re-Zentrierung, bei dem sich das rezipierende Subjekt als ›inmitten‹ einer anderen räumlichen und zeitlichen Umgebung konstituiert und empfindet.40 Dieses geistig-emotionale Hineinversetzen kann aber gestört werden, wenn die Aufmerksamkeit der Zuhörenden auf das Medium selbst gelenkt wird, wenn die Sprachlichkeit also auf sich selbst verweist, wie es sich in And on the Thousandth Night... durch die Ausstellung der Prozessualität des Erzählens ergibt.41 Während jede einzelne Geschichte für sich genommen zwar das absorbierende Zuhören forcieren kann, werden demgegenüber durch die gegenseitigen Unterbrechungen, die inhaltlichen Sprünge und formalen Wechsel sowie die sich auf einer übergeordneten Ebene im Zuhören ergebenden Quer- und Rückbezüge zwischen den Erzählungen ein Aussetzen und Bewusstwerden der Absorption erwirkt. Dieses Bewusstsein, das auch in Selbstreflexion übergehen kann, reduziert die Intensität der erlebbaren Absorption. »The visibility [or audibility; KR] of language acted as a barrier that prevented readers from losing themselves in the story-world.«42 Zudem weitet sich im Verlauf der mehrstündigen Erzählperformance das Aufmerksamkeitszentrum, sobald es nicht mehr ausschließlich auf das Gesagte gerichtet ist, und führt dazu, dass eine Hin- und Herbewegung zwischen dem ›Dort‹ bzw. zwischen dem ›Darin/Dabei‹-43 und dem ›Hier‹-Sein entsteht, bei dem sich ein zunehmendes Bewusstsein für das eigene mentale wie leibliche Befinden und die Wahrnehmungssituation einstellt. Indem die Situation und der Theaterkontext auf diese Weise nach und nach zu Bewusstsein kommen, werden die Anwesenden im-

40 Vgl. Ryan 2001, S. 103 zum ›recentering‹ und S. 112 f. zur vierdimensional empfundenen Umgebung. 41 Vgl. ebd., S. 4: »In the literary domain, no less than in the visual arts, the rise and fall of immersive ideals are tied to the fortunes of an aesthetics of illusion, which implies transparency of the medium.« 42 Ebd., S. 4. Dass Ryans These auch auf Hörbares zu beziehen ist, zeigt sich an ihren Ausführungen zur Kunst der Avantgarde, in der sich die Abwendung von absorptiver Rezeption an der Ausstellung und Bearbeitung der Klanglichkeit von Sprache anzeige. Vgl. ebd., S. 5. 43 Dieser Modus des ›Darin‹-Seins unterscheidet sich vom zuvor erörterten raumakustischen oder phänomenologischen ›Darin‹, wie es u. a. von Tim Ingold als ein ›Im-SoundSein‹ beschrieben wird. Vgl. Tim Ingold: »Against Soundscape«, in: A. Carlyle (Hg.), Autumn Leaves: Sound and the Environment in Artistic Practice, Paris 2007, S. 10-13, hier S.11.

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mer weniger von den Geschichten absorbiert. Stattdessen erfahren sie sich bewusst als Zuhörende in Relation zu den auf der Bühne Sprechenden.44 Was im Verlauf des mehrstündigen Zuhörens deutlich wird, ist, dass eine wesentliche Dimension dieses auditiven Wahrnehmungsmodus’ nicht darin besteht, den Inhalt des Vernommenen vollständig und in jedem Detail zu hören, sondern dass sich Zuhören auch – und vielleicht vor allem – auf einer anderen Ebene ereignet, und zwar in der Hinwendung der Zuhörenden auf die Erzählenden und das Erzählte, in der sich – nicht ausschließlich intentional – die Bekundung des ZuhörenWollens verkörpert und zu erkennen gibt. Dies geschieht weniger als Ausdruck eines sich hingebenden Subjekts als vielmehr im Sinne des von Bernhard Waldenfels in Bezug auf Aufmerksamkeit umschriebenen Doppelereignisses von etwas, das sich zu Gehör gibt und somit auffällig wird, und etwas anderem, das im Zuhören ›antwortet‹, indem es aufmerkt.45 ›Zuhören‹ umfasst somit nicht allein die auditive Wahrnehmung, sondern bezieht sich ebenfalls auf die – responsive – Hinwendung des zuhörenden zum sprechenden Subjekt, also auf eine sich ereignende Verschiebung der Aufmerksamkeit, und die Herausbildung und Fixierung eines bestimmten Zentrums der Gerichtetheit. Nicht jedes Detail wird oder kann erfasst werden, nicht jede Geschichte wird auf gleich intensive und gespannte Weise erfahren, doch grundlegend bleibt – zumindest in der ersten Phase der Aufführung – eine Dimension des ›Dorthin‹-Gerichtet-Seins. Nina Tecklenburg bestimmt den Vorgang des Erzählens als einen »Prozess, der sich zwischen Rezipientin und ›Medium‹ zuallererst entfaltet. Rezeption und Produktion der Erzählung fallen damit in eins«46. In diesem Sinne wird das Theater, so Hans-Thies Lehmann, zum »Ort eines Erzählakts«47. Zu verbinden ist diese Konzeption einer Doppelfigur des subjektiv nicht vollständig kontrollierbaren Erzählens und Zuhörens mit einem von Doris Kolesch in Bezug auf eine andere Arbeit von Forced Entertainment, Emanuelle En-

44 Die Situation der Aufführung und ihre Ereignishaftigkeit werden auf diese Weise betont. Vgl. Terry O’Connor: »Virtuous Errors and the Fortune of Mistakes. A personal account of making and performing text with Forced Entertainment«, in: Performance Research 14 (1) 2009, S. 88-94, hier S. 92: »As a company we have talked a lot over the years about destabilizing the hierarchical position of text on stage, about starting our work from a different place, creating a visceral experience beyond literacy, valuing all the component elements on stage: a situation not an argument.« 45 Waldenfels 2004, S. 72. 46 Nina Tecklenburg: Performing Stories. Erzählen in Theater und Performance, Diss., Bielefeld 2014, S. 39. 47 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999, S. 196.

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chanted, geprägten Begriff des ›Potentials einer Situation‹.48 Sprechen ist nach diesem Verständnis nicht als Ausdruck vorgängiger abstrakter Sprache oder einer subjektiven Intention, sondern als unkontrollierbar hervortretende körperliche ›Geste der Stimme‹ zu kennzeichnen, der im Umkehrschluss ›Gesten des Zuhörens‹ entsprechen.49 Das in der Aufführung hervorgebrachte Zuhören ist nicht allein eines von Zeug*innen, womit sich eine von Etchells gegenüber dem Publikum von Forced Entertainment häufig gemachte Zuschreibung verbindet,50 sondern darüber hinaus eines von Sich-Einlassenden, von Einstehenden für das Zu-Hörende – nicht in seinem konkreten Inhalt, sondern im Prozess der Annahme des Gehörten.51 Denn es ist vor allem die Art des Zu-Hören-Gebens, die das Zuhören schließlich zur Verausgabung bringt.52 Die vielen Narrationen sind dabei weniger auf der jeweiligen inhaltlichen Ebene der Handlung und der einzelnen Figuren bedeutsam für die Aufführung als vielmehr in ihrem Zusammenspiel, ihrer überbordenden ›(Hör-)Masse‹, dem Rhythmus von Abbruch und Neubeginn, von Pausieren, Stocken, Zögern und Sprachfluss sowie in den vielfältigen Relationen, die sich zwischen ihnen im Verlauf der Stunden ergeben – z. B. in Form von leicht abgewandelten ›Wiederholungen‹, Aufzählungen, Variationen, Reihenfolgen, Leitmotiven, Figuren, Genres und atmosphärischen Stimmungen. Der Performerin Terry O’Connor zufolge geht es weniger um inhaltliche Details als um die Manifestation eines »expression gap, or a

48 Vgl. Doris Kolesch: »Gesten der Stimme. Zur Wirksamkeit theatraler Situationen am Beispiel von Emanuelle Enchanted und In Real Time«, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Stimmen – Klänge – Töne. Synergien im szenischen Spiel, Tübingen 2002, S. 153-163, hier S. 153 f. 49 Vgl. ebd., S. 163. Als eine solche Geste verdeutlicht Kolesch die sich gegenüber dem Sprechen bzw. Nicht-Sprechen in Emanuelle Enchanted ergebende auditive Erwartungshaltung, Fokussierung, Konzentration und die Momente später folgende Enttäuschung der Zuhörenden. 50 Vgl. z. B. Tim Etchells: »Introduction«, in: ders.: Certain Fragments. Contemporary Performance and Forced Entertainment, London u. a. 1999, S. 15-23, hier S. 17. 51 Vgl. Tim Etchells im Interview mit Jonathan Kalb, »The Long and the Short of It: An Interview with Tim Etchells«, in: www.hotreview.org/articles/timetchellsint.htm, vom 08. September 2008: »The durationals find a new shape each time they are presented, within the parameters that are possible. We’re not really interested in them as ways to create outrageous narrative or developmental arcs though! They tend to be quite flat in that sense – to travel is better than to arrive kind of thing. You might best think of them as landscapes of endless variation… but in which no change is permanent. It’s flux.« 52 Vgl. Jana Perkovic: »Being captive«, in: http://1000th.exeuntmagazine.com zum LiveStream der Aufführung von And on the Thousandth Night..., die am 22. März 2014 ab 18 Uhr aus Lissabon vom Culturgest übertragen wurde.

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number of them, layering through the performative elements; the mismatched insistence, emotion and urgency of the playing, its expression embodied in the physicality of the attempt«.53 Es wird etwas hervorgebracht, das weniger im Erzählten als vielmehr im Vorgang des Erzählens als performativer Akt zur Erscheinung kommt. Das von Waldenfels als ›Figur des Außer-Ordentlichen‹ gekennzeichnete Unerzählbare »bildet nicht etwa das Negat der Erzählbarkeit, sondern ihre Kehrseite und Hohlform. Das Unerzählbare wohnt der Erzählung inne, indem es diese zugleich übersteigt und sprengt.«54 Im und durch das Erzählen wird etwas Unsagbares, Körperliches, Sich-Entziehendes verkörpert, das sich im Zuhören zeigt, insofern erst in diesem Vorgang mögliche Bezüge hergestellt werden. Dieses verbindende Merken ist in Referenz auf die von Edmund Husserl dargelegten Wahrnehmungsprozesse des ›identifizierenden Verschmelzens‹ verschiedener Einzelteile zu einem Ganzen als Synthese zu beschreiben.55 Die Synthese stellt nach Husserl die grundlegende Weise dar, in der Wahrnehmung sich vollzieht und von der sich nur partiell Ausnahmen ergeben, wie dies beispielsweise bei der Wahrnehmung eines Blitzes geschieht.56 Die Bestandteile eines umfassenderen Phänomens – also beispielsweise die in einer Geschichte verwendeten Worte oder auch die Bezüge auf bekannte Märchen und Mythen – erlangen durch den betreffenden Kontext jeweils eine spezifische Bedeutung. Husserl führt zur Synthese aus: »Der Gegenstand für sich ist nicht genau derselbe wie der Gegenstand im Zusammenhang.«57 Wie das Phänomen wahrgenommen wird, hängt demnach von seiner Einbettung in einen bestimmten Kontext, aber auch von der diesen Kontext miterfassenden Aufmerksamkeit, also von der Gerichtetheit und Offenheit ihrer Zentrierung ab. Wie Husserl ausführt, lässt sich über eine Steigerung der Konzentrationsintensität zunehmende Detailfülle in der auditiven Wahrnehmung erreichen, so dass die Bestandteile der Geschichten bewusst aufgenommen und bemerkt werden. Einen Abbruch des Interesses schätzt Husserl dann als wahr-

53 Terry O’Connor: »Virtuous Errors and the Fortune of Mistakes: A personal account of making and performing text with Forced Entertainment«, in: Performance Research 14 (1) 2009, S. 88-94, hier S. 92. 54 Waldenfels 2004, S. 50. 55 Vgl. Hua 38, §§12, 15, S. 60, §16, S. 63, und §17, S. 70f. Husserl differenziert bezüglich der ›synthetisierenden‹ Wahrnehmung zwischen derjenigen, die aufgrund der Dauer einer sich gleichbleibenden Wahrnehmung zustande kommt und derjenigen, die sich durch das sukzessive Zueinander-Gruppieren einzelner Wahrnehmungen zu einer Gesamtwahrnehmung auszeichnet. 56 Vgl. ebd., §12, S. 44. 57 Ebd., §16, S. 66.

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scheinlich ein, wenn sich keine übergeordneten Relationen zwischen den Einzelobjekten mehr ergeben.58 Demgegenüber zeigt sich jedoch in And on the Thousandth Night..., dass Spannung im Zuhören auch gerade durch die zwischen den häufig fragmentarisch bleibenden Geschichten, in den bestehenden Lücken, Auslassungen, Andeutungen, Spuren etc. entsteht, und zwar insbesondere dadurch, dass aus den bereits vernommenen Komponenten Schlüsse auf Zukünftiges und in der Erzählung nicht erwähntes Vergangenes gezogen werden und somit Neugier dafür erzeugt wird, worum es geht und worauf es hinausläuft. Spannung beruht darauf, dass den Zuhörenden immer nur nach und nach offenbart wird, was das verborgene Geheimnis – das Rätsel, das die beschriebenen Handlungen vorantreibt – sein könnte, wobei die Erzählungen von And on the Thousandth Night... nie zu einer vollständigen Auflösung gebracht werden. Die auditive Aufmerksamkeit ist im Modus des Zuhörens demnach auf besonders starke Weise ›nicht-gegenwärtig‹, also grundlegend auf anderes als das Präsente, Gegenwärtige und die konkrete Situation des Zuhörens gerichtet. Da die Geschichten nie zu einem Ende kommen, wird diese spezifische Aufmerksamkeitsdynamik des Zuhörens permanent aufrechterhalten bzw. neu motiviert. Diese Dynamik von Enttäuschung und erneutem Anheben des Interesses, der Neugier und der Spannung ist es, die dann zur abnehmenden Konzentrationsfähigkeit und zur wachsenden Erschöpfung führen können. Hierbei weitet sich der Fokus der Aufmerksamkeit, so dass die nun erhöhte Menge und Dichte der erfassten Phänomene insgesamt zu einer Reduktion von Deutlichkeit und Details führen.59

      In Polleschs Ein Chor irrt sich gewaltig wird die erfolgreiche Durchführung eines verstehenden Zuhörens60 auf verschiedene Weisen ›gestört‹ – und zwar im Sinne einer von der Inszenierung konzeptionell nicht nur mitgedachten oder in Kauf genommenen und akzeptierten Störung, sondern vielmehr als ein grundlegender Modus des Zuhörens und eine während der Aufführung intendierte Verschiebungsbe-

58 Vgl. Hua 38, §23, S. 99. 59 Vgl. ebd., §23, S. 99: »So tritt nun im konzentrierten Interesse mancherlei auseinander, was im verteilten der Sonderung entbehrt, ja genau besehen, im aktuellen Erlebnis überhaupt nicht vorhanden ist.« 60 Imhof beschreibt das verstehende Zuhören als ein auf das Sprachverstehen und Bedeutungserzeugung gerichtetes, mit Erinnern und Weitergeben in Zusammenhang stehendes Hören. Sie grenzt den Begriff damit von einer Verwendungsweise im Sinne eines empathischen oder therapeutischen Hinwendens ab. Vgl. Imhof 2003, S. 41.

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wegung im Auditiven. Meines Erachtens wird diese Bewegung durch die besondere Sprechweise und die spezifische Sprachlichkeit der Aufführung bewirkt. Was sich beim Zuhören abspielt, ist, wie ich meine, als ein Abdriften zu bezeichnen. Abdriften findet im Allgemeinen statt, wenn ein eingeschlagener und insofern in bestimmter Richtung vorgezeichneter und erwarteter Kurs nicht eingehalten wird und die Bewegung stattdessen durch äußere Einwirkung in eine andere, vermeintlich richtige, aber sich dann doch als ›falsch‹ erweisende Richtung verlagert wird. Im maritimen Kontext bezieht sich der Begriff auf ein durch seitlichen Wind, durch Wellen und Strömung erfolgendes, allmähliches und fast unmerkliches Abtreiben vom Kurs, das erst auffällig wird, wenn die Differenz zwischen der erwünschten eigentlichen und der tatsächlichen Position deutlicher hervortritt.61 Driften bezeichnet zudem eine eher seitliche Versetzung, keine Biegung, die von einem starken Bruch mit dem Bisherigen gekennzeichnet wäre. Im Kontext des Wassersports wird diese Wind- und Strömungseinwirkung daher auch als Querkraft bezeichnet.62 Das Resultat dieser Bewegung ist insofern als eine Parallelposition zu bewerten, die sich auf einer ähnlichen, aber eben zur ehemaligen Ausgangs- und anvisierten Zielposition versetzten Linie befindet. Indem es der Wind oder die Wellen sind, die das Abdriften eines Schiffes oder Flugzeugs bewirken, impliziert der Begriff eine Bewegung, die durch externe Kräfte und nicht unbedingt durch einen Steuerfehler o. Ä. verursacht wird. Bei Pollesch verursacht die Sprechweise im Verhältnis zum Gesagten eine solche Bewegung. Ein verstehendes Zuhören, so es denn vorrangig auf den Sinn des Gesagten gerichtet ist,63 läuft ins Leere, da einerseits der Tonfall, das hohe Tempo und der melodische Verlauf des Sprechens und andererseits die voraussetzungsstarken, teilweise auch fragmentierten philosophischen Sequenzen ein Verständnis des Gehörten auf der Bedeutungsebene erschweren, ja nahezu unmöglich machen. Dennoch ist das Gesagte nicht vollkommen zusammenhangslos. Vielmehr ist die in Ein Chor irrt sich gewaltig erfahrbare Dynamik auditiver Aufmerksamkeit derjeni-

61 Vgl. Steve Sleight: Segeln. Das neue Praxishandbuch, London 2012, S. 32. 62 Vgl. ebd. 63 Hier sind mindestens zwei Begriffe des Verstehens zu unterscheiden, insofern ich beim verstehenden Zuhören primär ein auf den Sinn der Worte und Sätze gerichtetes Hinhören meine und weniger das von Philosophen wie Hans-Georg Gadamer betonte Verstehen im Sinne eines Füreinander-Offenseins und Aufeinander-Zugehens. Das Resultat dieser Verstehensprozesse ist Gemeinschaftlichkeit. Diese Art des verstehenden Zuhörens ereignet sich mehr in der Musik des Sprechens denn in den Worten. Vielmehr betont Gadamer gerade die »Schwierigkeit der wortsprachlichen Seite unseres gegenseitigen Verstehens«. Vgl. Hans-Georg Gadamer: »Über das Hören«, in: Thomas Vogel (Hg.), Über das Hören. Einem Phänomen auf der Spur, Tübingen: Attempto 1998, S. 197-205, hier S. 203.

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gen des konzentrierten Zuhörens verwandt. Zunächst legt es die Präsentationsweise nahe, den von den Akteur*innen gesprochenen Text als Figurenäußerung oder als Dialog aufzufassen. Doch das abdriftende Zuhören hängt noch enger als das konzentrierte oder das sich verausgabende Zuhören mit dem Sprechvorgang bzw. dem Verstehen von Sprache zusammen. Während das verstehende Zuhören sich auf die Aufnahme und Verarbeitung der sprachlichen Komponenten und ihrer Bedeutungen richtet, entsteht durch die Unmöglichkeit, dieses Vorhaben mit einem zufriedenstellenden Resultat durchzuführen, eine auditive Verschiebung im Sinne eines Abkommens und Verlassens der ›Spur‹, so dass sich als Resultat dieser Bewegungen ein anderer bzw. häufig gar kein schlüssiger Sinn ergibt. J (Jean Chaize), B (Brigitte Cuvelier) und S (Sophie Rois) befinden sich auf der Bühne vor einem geschlossenen Vorhang und sprechen, schnell wechselnd und unmittelbar aufeinander folgend bzw. teilweise auch durcheinander, kurze Sätze und Satzfragmente, unterbrochen vom empörten Aufschreien von S über ihre fehlenden, offenbar geklauten Möbel – »meine Möbel!«, »die Chaiselongue!«. In etwas beruhigterem Tonfall und Tempo fragt sie später nach dem Verbleib ihrer Möbel: »Aber wo sind sie denn hin, meine Möblie-..., ...Bequemlichkeiten der ›conversation‹?«, woran sich eine von B angeleitete Artikulationsübung der französischen Aussprache anschließt. »Ah, öh, oh, üh!« ermahnt B S, das Nasale der Wortendung von ›conversation‹ stärker zu berücksichtigen. Sie ruft: »conversation! ...-tion! ...oh! ...-on!« und stellt den französischen Laut ›on‹, zu dem es im Deutschen keine Entsprechung gibt, markant heraus. S folgt ihr mit einer von weiteren hektischen Aufschreien durchsetzten, lauten Kaskade an überbetont nasalierten Wiederholungen des Lautes ›on‹. B, unzufrieden damit, gibt energisch vor: »ongue! -on!« Sie führt mit belehrendem Tonfall fort: »Ah! Der Selbstlaut mit der größten Öffnung! Ah, öh, oh, üh!«. Es folgen einige Übungen der Vokalartikulation, in die S schließlich einstimmt, während T (Christine Groß) auf die Bühne kommt und mit ruhiger, fester Stimme, den Rhythmus und die Stimmung der Szene brechend, thesenartige Aussagen zu Sex, Liebe und Kapitalismuskritik zu hören gibt. Ohne den Tonfall zu verändern, verschiebt sich der Inhalt des von T Gesagten schließlich zurück auf den vorherigen Kontext der Szene, in dem weniger die übergreifenden politischen oder sozialen, sondern vielmehr die basalen emotionalen Zusammenhänge und im vorliegenden Fall vor allem die fehlenden Möbel relevant waren. Später wiederholen sich ähnlich strukturierte Szenen, in denen Übungen der nasalen Aussprache, diesmal beispielsweise bezogen auf das Wort ›Croissant‹ – »Croissant! Oh, -ang, oh, -ang!« – mit entrüsteten Exklamationen – »Mon Dieu!« – unter wildem Herumgefuchtel und einer auf der Bühne hin- und herlaufenden S gebrochen werden durch immer wieder eingefügte sexuelle Anspielungen und Mehrdeutigkeiten – »Sie wollen ja nur meinen Aal sehen!« – sowie eines zumeist zwar

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ebenso lautstarken, doch inhaltlich vollkommen anderen Sprechens, über das Bezüge zu philosophischen, kulturtheoretisch-kritischen Texten und politischen Manifesten hergestellt werden. Das abdriftende Zuhören erfolgt als Reaktion auf die besondere in sich versetzte Sprachlichkeit. Das schnelle und fast pausenlose Sprechen in Ein Chor irrt sich gewaltig ist von Überlagerungen und Wiederholungen gekennzeichnet. Sprünge, Brüche, Rückbezüge, Wiederholungen, Variationen und Einschübe bewirken die Versetzungsbewegung im Zuhören.64 Des Weiteren begründen die rasanten Wechsel zwischen den Sprechenden sowie das Hin- und Herbewegen auf verschiedenen inhaltlichen Ebenen die Veränderung. Auch die schnellen, durch das Gesagte kaum begründeten Wechsel zwischen den Tonlagen des Aufgeregten und des Nüchternen und die Figur des ›Chors‹, der als zwölfköpfige Gruppe auftritt, aber immer nur als eine Person spricht und angesprochen wird, verstärkt die Schwierigkeit, das Geschehen rational nachzuvollziehen.65 Im Grunde sind es zwei Bewegungen, die sich aufgrund dieser Sprechweisen ereignen: Zum einen verlagert sich die Aufmerksamkeit stärker auf die Stimmen in ihrer spezifischen Klanglichkeit und Musikalität. Zum anderen vollzieht sich eine sich vom zunächst möglicherweise konstituierten Sinn abkommende Versetzungsbewegung auf einen anderen Sinn hin – die sich im Tonfall anzeigenden emotionalen Prozesse zwischen den Figuren rücken in den Vordergrund und die sinnvolle Deutung des Gehörten als zusammenhängende Erzählung verliert an Relevanz. Vielmehr treten einzelne Satzfragmente stärker in der auditiven Aufmerksamkeit hervor und gewinnen an nachhaltiger Wirkung, wenn sie in leichten Variationen immer wieder – und von verschiedenen Figuren eingeworfen – in den Dialogen auftauchen. Zwar ergibt sich in vielen Szenen zwischen Sophie Rois und dem Chor eine Übereinstimmung zwischen dem Inhalt des Gesprochenen und dem in der Art des Sprechens manifestierten Gefühlsausdruck z. B. der Eifersucht und Wut, doch auch diejenigen Sequenzen, in denen philosophische und politische Theorien zitiert wer-

64 Zur Stimmlichkeit und zum Sprechen bei Pollesch, hier bezogen auf die Inszenierung Insourcing des Zuhause, vgl. Schrödl 2012, S. 175 ff. und S. 189. Jenny Schrödl geht auf die Wirkungsweise dieser Stimm- und Sprachlichkeit als Auslöser von Überforderung, Überreiztheit oder Formen des Weghörens ein. 65 Der Chor setzt sich zusammen aus den zwölf Schauspielstudentinnen Claudia A. Daiber, Betty Freudenberg, Jana Hampel, Lisa Hrdina, Marie Löcker, Marie Lucht, Silvana Schneider, Ninja Stangenberg, Nele Stuhler, Irina Sulaver, Lisa-Theres Wenzel und Anna Kubelik, teilweise sprechen auch Brigitte Cuvelier und Christine Groß die Chorpartien mit und haben während des Produktionsprozesses die Chorleitung übernommen.

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den, artikulieren die Sprechenden in einer gleichermaßen aufgebrachten Weise.66 Für die Zuhörenden stellt sich dann eine dissonant wirkende Versetztheit zwischen den vernommenen konstatierenden Äußerungen und den stimmlichen Klangqualitäten ein. Durch die Spaltung, die sich zwischen einer konventionell erwarteten Sprechweise – im Fall der theoretischen Texte vermutlich eher ein auf einen wissenschaftlichen Kontext verweisendes, nüchtern gehaltenes und auf größtmögliche Verständlichkeit bedachtes Intonieren67 – und der tatsächlichen Stimmlichkeit, die aufgewühlte Emotionen vermittelt, ist die auditive Aufmerksamkeit in ihrer normalerweise beide dieser Aspekte umfassenden Ausrichtung auf Bedeutung und Verstehen beeinträchtigt. ›Sprechen‹ besteht nicht nur aus Sprachlichem, sondern zugleich aus Klanglichem; zwischen beiden Dimensionen entsteht dann ein Konflikt, wenn die kulturell und historisch konventionalisierte Entsprechung nicht gegeben ist, so dass es zu einer komplexen, in sich gegensätzlichen Wirkung auf die Zuhörenden kommen kann. Dies erinnert an den in der Psychologie und Kommunikationstheorie untersuchten ›double bind-Effekt‹, der sich ereignet, wenn gleichzeitig zwei sich entgegenstehende Botschaften – sei es im Rahmen des Gesprochenen, sei es durch Sprache und Gestik o. Ä. – geäußert werden. Für die Rezipierenden solch einer paradoxalen Kommunikation bleibt unklar, auf welche der Botschaften zu reagieren, welche also bevorzugt zu behandeln ist.68 Das verstehende Zuhören bezieht beide, die inhaltliche und die klangliche Dimension mit ein, ergibt sich doch die sprachliche Bedeutung nicht allein durch die Wahrnehmung und die Verarbeitung phonetischer Einheiten, sondern ebenfalls in Relation zum Kontext, der u. a. die gefühlsbezogenen Anzeichen der Betonung, des Sprechtempos und der Lautstärke umfasst.69 In Bezug auf eine andere Inszenierung Polleschs, Insourcing des Zuhau-

66 Als ›Hysterie-Prinzip‹ bezeichnet Rüdiger Schaper in der Tagesspiegel-Kritik diese Sprech- und Spielweise, Anne Peter in der taz als kalkulierte Produktion einer bei Pollesch omnipräsenten ›übergroßen Empörung‹, ›Entrüstung‹ und ›Rage‹. Vgl. Rüdiger Schaper: »Bagage à troi«, Tagesspiegel vom 04.04.2009 und Anne Peter: »Fliegender Rollenwechsel«, taz vom 06.04.2009. Vgl. den Begriff der ›stimmlichen Exaltation‹ in Roselt 2008, S. 295. 67 Diese Dissonanz wirkt stärker in Bezug auf die in leidenschaftlichem Tonfall vorgetragenen philosophischen Theorien als bei den politischen Aussagen, bei denen der Ton auch im Sinne von Engagement und einem intendierten Aufruf der Zuhörenden gedeutet werden kann. 68 Vgl. zum ›double bind-Effekt‹ bei Gregory Bateson: »Toward a Theory of Schizophrenia«, in: Behavioral Science 1 (4) 1956, S. 251-254, und ders. u. a.: »A Note on the Double Bind«, in: Family Process 2 (1) 1963, S. 154-161. 69 Vgl. Imhof 2003, S. 11 f.

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se, beschreibt Jens Roselt das Zusammenwirken der sprachlichen und stimmlichen Dimensionen im Sprechen wie folgt: »Die stimmlich vermittelte Energie kann vom Zuschauer erfahren werden, auch wenn ihm im Einzelnen unklar ist, was die drei überhaupt sagen und worum es ›eigentlich‹ geht. Zwar werden einzelne Stichworte permanent wiederholt, aber ein kohärenter Zusammenhang kann nicht ermittelt werden. In den Sprechszenen wird keine Handlung vorgespielt, sondern das Sprechen selbst ist eine Handlung, die von den Schauspielerinnen vollzogen wird.«70

Der Kontrast führt dazu, dass das Ziel der Hinwendung unklar ist und die auditive Aufmerksamkeit dazu gebracht wird, zwischen den verschiedenen möglichen Foki des produzierten Gefühls und des inhaltlich Ausgesagten hin und her zu wechseln, während in der auditiven Wahrnehmung zugleich beide Dimensionen der Stimme aufgenommen werden. Nicht, was gehört wird, sondern was beachtet werden soll, unterliegt einer Verunsicherung und löst häufige Wechsel aus. Diese Oszillation der auditiven Aufmerksamkeit zwischen den verschiedenen Ebenen des Sprechens in Ein Chor irrt sich gewaltig führt zum Abdriften, da die Kohärenz des verstehenden Zuhörens im Kontrast zwischen dem linguistisch und klanglich Vermittelten verloren geht und stattdessen zwei parallel verlaufende ›Spuren‹ verfolgt werden müssen. Die Zuhörenden vernehmen die Worte, aber ihr Verständnis erschwert sich stark, wenn sich die auf Entrüstung hindeutenden Klangqualitäten durch eine entsprechende Ausrichtung der auditiven Aufmerksamkeit in den Vordergrund der Wahrnehmung schieben. Dass dies geschieht, erscheint insofern wahrscheinlich, als dass die Klangqualitäten des Sprechens in Ein Chor irrt sich gewaltig solche sind, welche die auditive Aufmerksamkeit verstärkt auf sich ziehen, da empörtes, aufgebrachtes Rufen die Neugier der Zuhörenden entfachen und implizit auf ungewöhnliche oder ungerechte Zusammenhänge hinweisen kann. Die hohe Tonlage, das schnelle Tempo sowie die große Lautstärke des Sprechens sind allesamt als solche stimmlich-klanglichen Qualitäten zu bewerten, die das Auffällig-Werden des Sprechens, also sein Hervortreten in einer bestimmten auditiven Umgebung bewirken – denn dieses Sprechen – hoch, schnell, laut – ist mit den Situationen verbunden, in denen auf Notlagen hingewiesen und die Zuhörenden zum eingreifenden Handeln animiert werden sollen. Solches Sprechen drängt auf Antwort; es löst in den Zuhörenden eine Aktiviertheit aus, die diese in einen Zustand von Wachsamkeit und Alarmbereitschaft versetzt. Zudem wirkt der schnelle Wechsel zwischen Empörung und Nüchternheit, zwischen aufgeregtem Geschrei und philosophischer Aussage oft auch witzig – das Publikum lacht häufig laut auf oder kichert während längerer Gefühlsausbrüche auf der Bühne vor sich hin. In diesem Lachen manifestiert sich das

70 Roselt 2008, S. 295 f.

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zuhörende Abdriften ebenfalls, insofern der nicht durchgängig erfassbare logische Sinn in eine Haltung des Amüsements übergehen kann, über die das Publikum sich einen Zugang zum Erlebten bewahrt.

       

  Im Gegensatz zur im Abdriften erfahrbaren Distanzierung vom Gesagten stellt Absorption eine Dynamik von Aufmerksamkeit dar, in der sich Prozesse der Zentrierung und Verdichtung auf einen Gegenstand und dessen Bedeutungen hin als wesentliche Qualitäten kennzeichnen lassen. In diesem Zustand werden bestimmte Qualitäten des konzentrierten, verstehenden Zuhörens verstärkt und andere wiederum gemindert, so dass sich eine abweichende Aufmerksamkeitskonstellation ergibt. Wirkt diese Verschiebung im Gefüge der Aufmerksamkeit zunächst zwar geringfügig und erscheint der Modus des Zuhörens während Die Zofen dem konzentrierten doch sehr verwandt zu sein, so sind die Unterschiede doch als wesentlich einzuschätzen und ernstzunehmen. Unter Berücksichtigung der vorhergehenden Ausführungen zum Konzept des Zuhörens, wie es sich aus diversen psychologischen, philosophischen und kulturwissenschaftlichen Theorien ergibt, zeigt sich, dass sich die auditive Wahrnehmung in Die Zofen als ein besonderer Modus des konzentrierten Zuhörens und zwar als Absorption auffassen lässt.71 Die Intensität der Gespanntheit, die auf Seiten des Publikums während der Aufführung zu spüren war, übersteigt den Modus des konzentrierten Zuhörens, denn hier wäre noch eine reflexive Distanz zum Gehörten gegeben, die den eigenen Gedanken sowie dem Bewusstsein für die leibliche Befindlichkeit und für die Wahrnehmungssituation Raum gibt. Demgegenüber ist Absorption von der Abwesenheit jeglicher Distanz zwischen dem Absorbierenden und den Absorbierten geprägt. Im Zuhören erweist sich der absorbierte Zustand als Abwesenheit einer selbstreflexiven Bezugnahme auf das Vernommene, auf die Umgebung und die eigene Situiertheit. Das in Die Zofen zu beobachtende Publikum um mich herum wirkte auf diese

71 Es finden sich weder Einträge zu ›Absorption‹ im Historischen Wörterbuch der Philosophie noch im Wörterbuch der Ästhetischen Grundbegriffe oder in Metzler Lexika z. B. Kultur der Gegenwart. Daher wird der Begriff der ›Absorption‹ im vorliegenden Kontext durch drei Aspekte eingegrenzt, bestimmt und problematisiert: erstens durch Beschreibungen solcher von mir gemachten Aufführungserfahrungen, die sich meines Erachtens als ›absorbiert‹ bestimmen lassen, zweitens vermittels der auf Beispiele der Bildenden Kunst bezogenen Verwendungsweise von Michael Fried und darüber hinaus im Rückgriff auf psychologische Theorien und Studien. Vgl. Michael Fried: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, Chicago/London 1980, S. 13.

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Art selbstvergessen und vertieft, aber zugleich auch nicht in sich selbst versunken, sondern körperlich wie mental nach vorne auf das Bühnengeschehen ausgerichtet. Es schien sich in diesen Momenten mit der Aufmerksamkeit weder ganz bei sich oder im tatsächlichen Theaterraum noch ganz auf der Bühne zu befinden, sondern vielmehr bei und in einer durch das Bühnengeschehen dargestellten Geschichte, also einer sich im Zusammenspiel von Bühne und Wahrnehmung konstituierenden, imaginierten ›Umgebung‹. Dass im Publikum nicht einmal kleine Bewegungen, die beim konzentrierten Zuhören aufgrund der reflexiven Distanz zum Gehörten noch eher vorkommen, zu sehen waren, ist ebenfalls als Hinweis auf Absorption zu deuten, insofern sich darin die besondere Art der Aufmerksamkeitskonstellation als einer vollständigen Hinwendung auf einen einzigen Gegenstand manifestiert. Je intensiver die Absorption, umso weniger stark werden leibliche Empfindungen wie beispielsweise eine unbequeme Sitzhaltung registriert und daher auch nicht verändert. So zeigt sich bei auditiver Absorption eine Verstärkung der statischen Dimensionen des konzentrierten Zuhörens in körperlicher Erstarrung und Immobilität, doch auch in Bezug auf die geistigen Prozesse ist dieser Zustand von Starre und Unbeweglichkeit gekennzeichnet. Psychologisch wird Absorption folgendermaßen beschrieben: »It consists of disconnecting from one’s current circumstances, both external and psychological, and becoming immersed in another focus [...].«72 Etymologisch stammt der Begriff der Absorption vom lateinischen Verb ›absorbere‹ für ›verschlucken‹ oder ›verschlingen‹ und vom Substantiv ›absorptio‹, das ›Aufsaugung‹ meint und auf die Intensität der Rezeption hindeutet. Im Gegensatz zur Konzentration, die als eine vom Subjekt willentlich und kontrolliert herbeigeführte Aufmerksamkeitsverdichtung und -intensivierung aufgefasst wird, stellt sich Absorption als ein sich aus dem Prozess der Wahrnehmung ergebender Zustand dar. Um die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Aufmerksamkeitszustand eintritt, zu erhöhen, lassen sich kontextuelle, körperlich-leibliche und kognitive Faktoren bis zu einem gewissen Grad beeinflussen, doch vollständig plan- und kontrollierbar ist das Absorbiert-Werden nicht. Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zum konzentrierten Zuhören, denn insofern das absorbierte Zuhören keine Haltung ist, die eingenommen werden kann, sondern die sich ereignet, stellen die im konzentrierten Zuhören wesentlichen Aspekte von Anstrengung, Anspannung, Hinwendung, Leis-

72 Brad E. Bowins: »Therapeutic Dissociation: Compartmentalization and Absorption«, in: Counselling Psychology Quarterly 25 (3) 2012, S. 307-317, hier S. 309. Teilweise wird Absorption in diesem Bereich als Teil einer dissoziativen Störung und also als Gegenstand therapeutischer Behandlung, teilweise aber auch als psychotherapeutische Behandlungsmethode dargestellt. Vgl. ebd., S. 311 ff. Dieser Ansatz Bowins geht davon aus, dass sich Absorption durch Übungspraxis erlernen und dann im Alltag in Stresssituationen einsetzen lässt.

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tung und Kontrolle diesbezüglich keine relevanten und auch keine bewusst erfahrenen Qualitäten dar. Durch die starke Intensivierung des Bezugs auf einen zentralen Gegenstand werden sämtliche Randbereiche in ihrer Bewusstheit abgeschwächt und überdies die bewusste Wahrnehmung der sprechenden Person und des Sprechens aus dem thematischen Feld an den Rand verlagert. So wird in einer Studie zur Hypnose, einem gesteigert absorbierten Zustand, beispielsweise das Vergehen von Zeit, das Gurwitsch zu den immer präsenten Randbereichen des Bewusstseins zählt, im Ausmaß seines Registriert-Werdens dermaßen stark reduziert, dass es fast nicht mehr wahrnehmbar ist und sich im Nachhinein das Gefühl von sehr schnell vergangener Zeit einstellt.73 Stattdessen sind andere Dimensionen des konzentrierten Zuhörens wesentlich verstärkt; neben der zuvor bereits erwähnten Ausrichtung auf etwas, das die Aufmerksamkeit der Zuhörenden über längere Dauer in Bann zieht, ist von einer damit einhergehenden ›Abwesenheit‹ und Nicht-Wachheit auszugehen. Konzentriertes Zuhören beruht auf einer wach das Vernommene mit- und nachvollziehenden sowie antizipierenden Wahrnehmungshaltung, während sich in der Absorption das auf die Gegenwart bezogene Mitvollziehen intensiviert und die auf eigenständige Reflexion und Distanz zum Gehörten verweisenden Aktivitäten des Nachvollziehens und Erwartens reduziert sind. Absorption ist trotz der Intensität und Gerichtetheit kein extrovertierter Zuhörmodus, der sich offen und wach nach außen hin manifestiert, sondern vielmehr von Geschlossenheit, In-sich-Ruhen und einer Distanz zur Außenwelt geprägt. Absorbiert Zuhörende sind nach innen gekehrt, ohne dass dies eine Steigerung des Selbst-Bewusstseins oder der Selbstreflexion bedeutete – vielmehr zeigt sich darin eher eine Abgrenzung sowohl nach Außen, insofern dieses die absorbiert Zuhörenden nicht berührt, als auch nach Innen an, da der Fluss der eigenen Gedanken, Erinnerungen und Imaginationen stark reduziert ist. Ryan differenziert vier Grade möglicher Absorptionsintensität: Konzentration auf der niedrigsten Stufe, in der Intensität zunehmend dann imaginative Involviertheit, ›Verzückung‹ (›entrancement‹) und Sucht.74 Während im Zustand der Konzentration noch ein Abstand zum Wahrgenommenen vorliegt, durch den sich eine kritische Reflexion des Gehörten ergeben kann, ist solch eine Distanzierung bei einer Abhängigkeit vollkommen abwesend und manifestiert sich in einer zunehmenden

73 Vgl. Richard St. Jean/Carrie MacLeod: »Hypnosis, Absorption, and Time Perception«, in: Journal of Abnormal Psychology 92 (1) 1983, S. 81-86, hier S. 81. Dass das Randbewusstsein für diese Dimensionen nur reduziert, aber nicht vollkommen verschwunden ist, betont Christiane Voss in ihrer Auseinandersetzung mit dem absorbierenden Prozess der filmischen Immersion. Vgl. Christiane Voss: »Fiktionale Immersion«, in: montage AV vom 17.02.2008, S. 69-86, hier S. 79. 74 Vgl. Ryan 2001, S. 98.

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Ununterscheidbarkeit von Realität und Fiktion. Demgegenüber zeigen sich sowohl in der imaginativen Involviertheit als auch in der Begeisterung Mischformen der Abständigkeit und Bewusstheit, die im ersten Fall noch eine ästhetische Analyse und Bewertung, im zweiten nur mehr ein begeistertes Auf- und Mitgehen im Wahrgenommenen ermöglichen und forcieren. »It is in this mode that language truly disappears.«75 Diesen vier von Ryan angeführten Kategorien ist meines Erachtens zwischen Verzückung und Abhängigkeit noch diejenige der Absorption hinzuzufügen. Sie geht in den genannten Begriffen nicht auf, da sie einen Zustand bezeichnet, welcher – der Verzückung bei Ryan ähnlich – zwar auch auf starker Versunkenheit und hoher Intensität beruht, doch ist das der Verzückung noch zugeschriebene Hintergrund-Bewusstsein für den Umgang mit fiktiven oder geistigen Gedankenwelten in der Absorption stark geschwächt bzw. gar nicht mehr vorhanden. Der Zustand des Absorbiertseins ist durch eine starke Versunkenheit und Selbstvergessenheit geprägt, die kaum mehr selbstreflexives Bewusstsein zulässt, doch auch noch nicht mit der auf permanenter Kontinuierlichkeit basierenden oder stete Wiederholungen anstrebenden Abhängigkeit gleichzusetzen ist. Im Begriff der Versunkenheit wird eine Gleichzeitigkeit von Tiefe und Intensität sowie Abwesenheit und Separatheit deutlich. Aus diesem Grund ist der Zustand der Absorption dem Traum und dem Schlaf verwandt, doch keineswegs dasselbe. Dem Träumerischen und Schläfrigen ist er ähnlich, da er von einer Selbstvergessenheit begleitet wird, die sich innerhalb der Formation der auditiven Wahrnehmung vor allem als Schwächung eines bewussten Gewahrens der leiblichen Befindlichkeit und der Umgebungswelt auswirkt.76 Doch eine wesentliche Differenz zum Traum oder zur Schläfrigkeit zeigt sich darin, dass Absorption die Gebanntheit durch einen einzelnen Gegenstand, von dem sie nur schwer abzubringen oder abzulenken ist, meint, während im träumenden und schläfrigen Zustand durch Verschiebungen der Aufmerksamkeit eine Weitung des Hörens erfolgt, die es sowohl für vielfältige Assoziationen als auch für andere akustische Phänomene öffnet. Die

75 Ebd., S. 98. 76 Im absorbierten Zuhören sind leibliche Zustände, Bedürfnisse oder Probleme weitgehend ausgeblendet, was auch Konsequenzen für die anderen randständigen Dimensionen hat. Denn da die eigene leibliche Anwesenheit in einer gegenwärtigen Situation fast nicht mehr bewusst ist, reduziert sich gleichzeitig das Gespür für die Umgebung und die Zeitlichkeit, die mit der leiblichen Einbettung in Raum und Zeit unmittelbar zusammenhängen. Gurwitsch betont zwar, dass das Bewusstsein dieser drei randständigen Dimensionen in keiner Situation vollständig abwesend ist, doch lässt sich, wie ich meine, im spezifischen Modus des Absorbiert-Seins von einer weiteren Verringerung der Intensität dieses Gewahrseins ausgehen. Vgl. Gurwitsch 1985, S. 31. Vgl. zur Selbstvergessenheit als einer Dimension von Absorption auch bei Fried 1980, S. 13.

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Aufmerksamkeitskonstellation ist insofern im Traumzustand – zumindest potentiell – durch Fülle gekennzeichnet, wogegen es in der Absorption meist nur ein einzelner Inhalt ist, der in sich zumeist konsistent und im zeitlichen Verlauf auf eine Weise kontinuierlich ist, dass im Normalfall keine ihm angehörenden Faktoren zu Unterbrechungen, Irritationen oder Distanzierungen führen. So ist dem Publikum im Verlauf der Aufführung von Die Zofen trotz seiner unbeweglichen Starre keineswegs Ermüdung und Schläfrigkeit zuzuschreiben, denn die weitgehend beobachtbare Körperspannung und -ausrichtung zeugt von einem gewissen Grad der Aktiviertheit und Wachheit, auch wenn diese zugleich aufgrund der Einseitigkeit der Zentrierung in ihrem Radius und ihrer Dynamik eingeschränkt sind. Absorption lässt sich somit als ein Zustand beschreiben, der von Versunkenheit, Konzentration und Zentrierung geprägt ist und damit zwischen einerseits Traum, Schläfrigkeit, körperlicher Schwere und Unbeweglichkeit sowie andererseits Wachheit, Dynamik, geistiger wie körperlicher Beweglichkeit und reflexiver Distanz steht.77 Es ist diesbezüglich auf ein weiteres Konzept einzugehen, das in der Medientheorie, Philosophie, Literatur- und Filmwissenschaft etabliert und dem Absorbiertsein in vielen Aspekten verwandt ist. Denn ›Immersion‹ wird ebenfalls als ein durch gesteigerte Aufmerksamkeit gekennzeichnetes Eintauchen und Sich-Versen-

77 Das Ausmaß der Wachheit ist dabei in einem weiten Spektrum zu verorten, denn zum einen wird Absorption mit einer konzentriert ausgeführten Beschäftigung, wie z. B. der Erfüllung einer bestimmten Aufgabe, zum anderen aber auch mit tranceartigen Zuständen der Meditation oder des Yoga verbunden. Letztere ist dem Schläfrigen zwar näher, aber keinesfalls mit ihm gleichzusetzen, da in der Meditation immer noch sehr waches, wenn auch inhaltlich möglichst leeres Bewusstsein vorhanden ist. Die Begriffe des Gebanntseins und der Faszination weisen auf ähnliche Aufmerksamkeitsdynamiken und Wahrnehmungsweisen wie die Absorption hin, insofern alle drei Begriffe die starke Nähe und hohe Intensität des Bezugs zwischen Wahrnehmenden und Wahrgenommenem betonen, die zudem bewirken, dass diese Zustände von anderen Faktoren kaum unterbrochen oder beeinträchtigt werden können. Gemeinsam ist ihnen auch der Aspekt der Selbstvergessenheit, der sich durch das intensivierte Hingezogen-Sein ergibt. Doch unterscheiden sie sich darin, dass in ihnen jeweils verschiedene Dimensionen des Aufmerksamkeitsprozesses betont werden: Während Absorption vor allem das Unzugängliche dieses Wahrnehmungszustands hervorhebt, weist der Zustand des Gebanntseins eher auf die räumliche Unbeweglichkeit, die sich auch etymologisch im Begriff des ›Banns‹ anzeigt, und derjenige der Faszination auf die Anziehungskraft des affizierenden Gegenstands hin. Ein weiterer Unterschied wird auch in den zugehörigen Präpositionen – fasziniert sein und gebannt sein von, absorbiert sein in etwas – deutlich, worin sich das mit dem AbsorbiertSein assoziierte und weniger als Zustand denn als Prozess aufgefasste Eintreten in eine neue Umgebung anzeigt.

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ken bestimmt, durch das eine starke Nähe zum Wahrgenommenen erzeugt wird.78 In Erweiterung des spezifisch literaturwissenschaftlichen und philosophischen Konzepts der ›Immersion‹, das diese als Imaginationsleistung konzeptualisiert, kennzeichnet Robin Curtis diesen Modus ästhetischer Erfahrung in Bezug auf die Rezeption von Filmen als eine Form der Einfühlung: »In diesem Sinne ist die Immersion eben nicht ausschließlich als Effekt der spezifischen Eigenschaften der Wahrnehmung oder lediglich als Wahrnehmungstäuschung zu fassen. Vielmehr ist Immersion als ästhetischer Effekt zu beschreiben, der gerade durch die Verlebendigungsimpulse der Einfühlung zu vielfältigen Möglichkeiten der Involvierung Anlass gibt – und das auch jenseits der naturalistischen Abbildstrategie.«79

Über das in der Medientheorie geprägte Verständnis von ›Immersion‹ hinaus, das diese Erfahrung in erster Linie an die jeweiligen Medien bindet, verortet Curtis den Prozess des Immersiviert-Werdens innerhalb der Erfahrung. Demnach vollzieht sich in der filmischen Rezeption die Erfahrung besonderer Räumlichkeit, Körperlichkeit und Emotionalität einerseits durch die Plastizität der filmischen Darstellung wie durch die Deplatzierungsfähigkeit der Wahrnehmenden, die sich an den dargestellten Ort imaginieren können, andererseits mittels der von Curtis akzentuierten Einfühlungsvorgänge, die als eine Verlagerung des Selbst in das wahrgenommene Geschehen und als damit einhergehende emotionale Involvierung expliziert werden.80 Es ist insofern bei ›Immersion‹ von zwei parallel verlaufenden und miteinan-

78 Vgl. bezüglich der Immersion durch die Filmrezeption bei Voss: »Fiktionale Immersion«, S. 71 und S. 79, und hinsichtlich der Immersion durch die Literaturrezeption bei Ryan 2001, S. 4 f. und S. 14. 79 Vgl. Robin Curtis: »Immersion und Einfühlung. Zwischen Repräsentationalität und Materialität bewegter Bilder«, in: montage AV vom 17.02.2008, S. 89-107, hier S. 97. 80 Vgl. ebd., S. 101. Für die vorliegende Arbeit ist darüber hinaus von besonderem Interesse, dass die immersive Erfahrung in dem von Curtis angeführten Beispiel, dem Film Nostalgia von Hollis Frampton, durch den Ton ausgelöst wird, da sie sich insbesondere aus den Überlagerungen der Off-Stimme im Zusammenhang mit den bildlichen Darstellungen ergibt. Während die gehörte Erzählstimme Geschichten darstellt, zeigen die Bilder das Verbrennen diverser Fotografien. Mögliche Relationen zwischen Gehörtem und Gesehenem stellen sich verzögert ein, da die vernommenen Erzählungen sich auf die jeweils nächstfolgende Fotografie beziehen und diese Verbindung, wie Curtis aufgrund ihrer eigenen Rezeptionserfahrung darlegt, erst verspätet erkannt wird. Sie schlussfolgert daraus: »Das Verlustgefühl, das hier angesichts des Verfalls solcher sich (noch) bewegender Abbildungen empfunden werden kann, legt eine Personifizierung des Trägermediums nahe. In diesem Sinne wird die immersive Kapazität dieser Filme (die durch

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der verflochtenen Prozessen auszugehen – desjenigen einer räumlich-körperlichen und desjenigen einer kognitiv-emotionalen Positionsverschiebung, wobei die entscheidenden Qualitäten des Immersiviert-Seins in einer neuen, teilweise abweichend organisierten Umgebung sowie in der Nähe und direkten Einwirkung der entstehenden Relationen und Verhältnisse auf die Wahrnehmenden verortet werden.81 Auch von der Theaterwissenschaft ist das Konzept der ›Immersion‹ in den letzten Jahren aufgegriffen und erörtert worden, um eine bestimmte Richtung des Theaters zu beschreiben, in der begehbare Räume erschaffen und von den ›Zuschauenden‹ erkundet werden können. Besonders ist auch, dass sich direkte Begegnungen mit den Darstellenden ereignen können.82 Aufgrund der häufig gegebenen Mobilität

ein ›going into‹ gekennzeichnet werden könnte) mit einer Einfühlung in die Materie der Bilder (ein ›feeling into‹) kombiniert und kontrastiert.« Ebd., S. 104. Vgl. Voss: »Fiktionale Immersion«, S. 74 f. 81 Vgl. in diesem Sinne auch bei Laura Bieger: Ästhetik der Immersion. Raum-Erleben zwischen Welt und Bild. Las Vegas, Washington und die White City, Bielefeld 2007, S. 9. Besonders hebt Bieger den Aspekt der Vermischung von Realität und Fiktion hervor, die sich bei den von ihr analysierten architektonischen Beispielen auf eine andere und der Theatererfahrung näherstehende Weise ergibt als in der Filmrezeption, weshalb dieser Aspekt von Curtis und Voss weniger zentral thematisiert wird. 82 Der Begriff war bislang vorrangig in der angloamerikanischen Theaterwissenschaft etabliert, wird aber mittlerweile immer stärker auch seitens der deutschsprachigen Theaterwissenschaft aufgegriffen. Vgl. das Teilprojekt »Reenacting Emotions« unter der Leitung von Prof. Dr. Kolesch im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereichs 1171 »Affective Societies«; Josephine Machon: Immersive Theatres: Intimacy and Immediacy in Contemporary Performance, Basingstoke/New York 2013; Adam Alston: »Audience Participation and Neoliberal Value. Risk, agency and responsibility in immersive theatre«, in: Performance Research 18 (2) 2013, S. 128-138, hier S. 130; Gareth White: »On Immersive Theatre«, in: Theatre Research International 37 (3) 2012, S. 221-235, hier S. 225. White setzt sich zunächst detailliert mit dem Begriff ›Immersive Theatre‹ auseinander und kommt dann zu dem Schluss, dass er bezüglich der Formen von Theater, die er bezeichnen soll, ungeeignet ist. Begründet wird dies vor allem mit der sich im Begriff des Immersiven fortschreibenden Separation von Außen- und Innenbereich, welche der Verflechtung dieser Bereiche und der Wirksamkeit auf leiblicher Ebene als eines Spürens nicht gerecht wird. Vgl. ebd., S. 228 ff. Aktuelle Publikationen sind häufig interdisziplinär angelegt, indem sie das Phänomen der Immersion hinsichtlich verschiedener Kunstformen und Medien betrachten. Vgl. Immersion in the Visual Arts and Media, hg. v. Burcu Dogramaci/Fabienne Liptay, Leiden 2016; Immersion and Distance. Aesthe-

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und der möglichen – und teilweise forcierten – Interaktion mit den Darstellenden werden die Zuschauenden zu Handelnden. 83 Dementsprechend meint der Begriff der ›Immersion‹ bzw. der ›Immersivität‹ bezogen auf Theater etwas anderes als im filmischen Kontext, denn im Theater wird er vorrangig für das Eintreten in konkrete, entweder eigens erschaffene oder standortbezogen genutzte und ästhetisch gestaltete Umgebungen sowie reale Begegnungen mit verschiedenen Personen, die zumeist fiktive Charaktere verkörpern, und weniger im Sinne des primär imaginativen und emotionalen Eingenommen- und Umhüllt-Seins verwendet.84 Zwar können diese Effekte im Rahmen des ›immersiven‹ Theaters auch eintreten, wenn sich der eine oder die andere Zuschauende innerhalb der neuen Umgebung auf die darin erzählte Geschichte einlässt und sie als ›real‹ erfährt, doch birgt gerade die Möglichkeit, sich – zumeist gleichzeitig mit anderen Teilnehmenden – in dieser anderen Welt zu bewegen, sie zu erkunden und sich ihr darin auf eine eher unalltägliche Weise zu nähern, einen Freiraum und eine Distanz zum Geschehen, über welche die Gemachtheit und Künstlichkeit der Umgebung stets im Bewusstsein bleibt. Demnach ist davon auszugehen und im Folgenden anhand von Beispielen nachzuvollziehen, dass sich immersiviertes und absorbiertes Zuhören voneinander – zumindest partiell – unterscheiden, ja, dass sie gar die jeweiligen Extrempole eines weiten Spektrums an möglichen Eintrittsweisen in eine andere ›Welt‹ darstellen. Aus diesem Grund ist im Rahmen einer Auseinandersetzung mit absorbierendem Zuhören und mit Aufmerksamkeitsprozessen näher auf den Begriff der Immersion einzuge-

tic Illusion in Literature and Other Media, hg. v. Werner Wolf, Walter Bernhart und Andreas Mahler, Amsterdam 2013. 83 Vgl. White: »On Immersive Theatre« (2012), S. 221; Jan Deck: »Zur Einleitung: Rollen des Zuschauers im postdramatischen Theater«, in: Paradoxien des Zuschauens (2008), S. 9-19, hier S. 17 f. Anzumerken ist, dass visuelle Wahrnehmung auch als eine Form des aktiven Handelns aufgefasst wird. Vgl. u. a. (aus sehr unterschiedlichen Perspektiven) Laura Cull: »Attention Training. Immanence and ontological participation in Kaprow, Deleuze and Bergson«, in: Performance Research 16 (4) 2011, S. 80-91; Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2010 [Original: Le spectateur émancipé, Paris 2008]; Alva Noë: Action in Perception, Cambridge, Ma. 2004. 84 Auf diese Differenz weist auch die synonyme Verwendung von Immersion und Absorption bei der Filmwissenschaftlerin Christiane Voss hin. Während beide Begriffe im Bereich des Theaters – zumindest partiell – unterschiedliche Ästhetiken und Wahrnehmungsweisen meinen, kann der Begriff der Immersion bezogen auf Film offenbar beide Dimensionen umfassen. Vgl. Voss: »Fiktionale Immersion«, S. 69 und 82.

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hen und das dementsprechende Verständnis des immersivierten bzw. absorbierten Zuhörens zu skizzieren.85 In der englischsprachigen Begriffsbestimmung von immersion nach Gareth White zeigt sich die Nähe zum Konzept der Absorption: »we talk of ›immersing ourselves‹ in other experiences – new situations, cultures, environments – as well as in more conventional artworks like books and films, when we want to commit to them wholeheartedly and without distraction.«86 Die Ähnlichkeiten zur Absorption resultieren demnach aus der Abwesenheit jeglicher Ablenkung, aus der vollständigen und intensiven Hinwendung sowie aus der Erfahrung einer neuen oder gar neuartigen, aber nicht unbedingt realen, sondern virtuell bzw. imaginiert vorhandenen

85 Auch Begriffe der Interaktion und der Partizipation stehen mit diesen Formen von Theater in Verbindung, doch werden durch sie aus einem historischen Diskurs um das Aufbrechen der strikten Trennung von Bühne und Publikum heraus vordringlich andere Dimensionen der ästhetischen Erfahrung markiert und betont, insofern Interaktion den Austausch, die Kommunikation, die Kontaktaufnahme und die Handlung zentriert und Partizipation demgegenüber vor allem im Rahmen sozialer und politischer Dimensionen von Theater erörtert wird. Vgl. zu Interaktion u. a. Wilmar Sauter: »Interaktion«, in: Metzler Lexikon ›Theatertheorie‹ (2005), S. 153-156; Friedrich Krotz: »Interaktives«, in: Hans-Otto Hügel (Hg.), Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, Stuttgart/Weimar 2003, S. 266-269, hier S. 267. Vgl. zu Partizipation z. B. Claire Bishop: Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship, London/New York, Verso 2012; Politik mit dem Körper. Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968, hg. v. Friedemann Kreuder/Michael Bachmann, Bielefeld 2009; The Art of Participation. 1950 to Now, hg. v. Rudolf Frieling/Boris Groys, London 2008; Susan Kattwinkel: »Introduction«, in: dies. (Hg.), Audience Participation. Essays on Inclusion in Performance, Westport u. a. 2003, S. ix-xviii. Deutlich wird, dass über die verschiedenen Begriffe, auch wenn sie teilweise auf die gleichen künstlerischen Arbeiten bezogen werden, in der Theaterwissenschaft höchst diverse Aspekte thematisiert werden. Während in interaktiven und partizipatorischen Theaterpraktiken häufig auch eine kritische Auseinandersetzung und ein Bruch mit der Form des Guckkastentheaters auszumachen ist, besitzt der Begriff der Immersion diese kritische Dimension weder in soziopolitischer noch in ästhetischer Hinsicht, sondern stellt sich vorrangig als wesentliches Kennzeichen einer spezifischen Wahrnehmungsweise dar. Vgl. Susan Kattwinkel: »Introduction« (2003), S. ix; Patrick Primavesi: »Zuschauer in Bewegung – Randgänge theatraler Praxis«, in: Paradoxien des Zuschauens (2008), S. 85-106, hier S. 85 f. 86 White: »On Immersive Theatre« (2012), S. 225; Machon 2013, S. 21: »There are several aspects to the word and its related forms: to ›immerse‹ is ›to dip or submerge in a liquid‹, whereas to ›immerse oneself‹ or ›be immersed‹, means to involve oneself deeply in a particular activity or interest.«

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Umgebung. Doch besteht ein Unterschied zwischen den beiden Begriffen darin, dass Absorption eher als ein sich ereignendes Ergriffen-Werden zu bestimmen ist, während Immersion ein intentional bewirktes Be- und Eintreten in eine andere Umgebung darstellt – was u. a. die von White gewählte Formulierung des prozessualen immersing ourselves zum Ausdruck bringt. Um diese beiden abstrakten Wahrnehmungsweisen stärker zu differenzieren und gleichzeitig zu klären, was mit absorbiertem und immersiviertem Zuhören im Theater jeweils gemeint sein kann, lässt sich auf eine Reihe performativer Installationen hinweisen, durch deren Vergleich sich meines Erachtens die spezifischen Qualitäten der Hörmodi und Aufmerksamkeitsdynamiken aufweisen lassen.87 Zu unterscheiden sind die verschiedenen Arbeiten nach Aspekten der Bewegungsmöglichkeit oder -einschränkung, der Raumgestaltung, der Lautlichkeit und speziell im Kontext des vorliegenden Kapitels der Stimmlichkeit und Sprachlichkeit sowie der Dauer. Als zentrales Beispiel ist dazu auf Janet Cardiffs und George Bures Millers performative Klanginstallation The Murder of Crows zu verweisen, die meines Erachtens beide Dimensionen des Absorbierenden sowie des Immersivierenden besitzt. Daneben lässt sich eine Reihe von Arbeiten anderer Künstler*innen und Kollektive anführen, in denen der Schwerpunkt zwischen diesen Dimensionen jeweils anders und eindeutiger gelagert ist – so z. B. Dries Verhoevens You Are Here, Thomas Bo Nilssons MEAT, Signas Schwarze Augen, Maria, Vegard Vinges und Ida Müllers 12-Spartenhaus, Edit Kaldors One Hour, machina ex’ Hedge Knights, Lose Combos Hydra’s Traces, Lynn Pooks und Julien Clauss’ Stimuline, Turbo Pascals 8 Stunden (mindestens) oder Janet Cardiffs und George Bures Millers Ghost Machine.88 In diesen sehr diversen Formen und Formaten immersiven Theaters, performativer Installationen und Audio Walks werden durch bestimmte Techniken Umgebungen und Räume geschaffen, die nicht dem klassischen Prinzip frontaler Anordnung zur Bühne und sitzender Haltung des Publikums folgen, sondern in denen entweder andere Arten der körperlichen Positionierung, z. B. in You Are Here, stimuline, Hydra’s Traces und One Hour statt der sitzenden eine liegende Haltung, oder weitgehende Bewegungsfreiheit wie in MEAT und Schwarze Augen, Maria ermöglicht sowie ein je verschiedener Grad an Isoliertheit oder direktem Kontakt mit den Darstellenden forciert werden. Wieder in anderen Arbeiten wird der Bewe-

87 Diese Differenzen zwischen den Konzeptionen von Absorption und Immersion ergeben sich im Besonderen hinsichtlich der Aufführungs- und nicht der Film- oder Literaturerfahrung, insofern sich bei Aufführungen, Installationen und Audio Walks das tatsächliche Betreten konkreter Räume mit den somatisch-imaginativ vollzogenen absorbierenden Prozessen überschneidet. 88 Einige dieser Arbeiten werden in späteren Abschnitten und Kapiteln näher besprochen, da an ihnen andere Modi und Dimensionen des Zuhörens und Hörens aufzuzeigen sind.

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gungs- und Interaktionsspielraum durch Regeln einschränkt, z. B. im 12-Spartenhaus, in dem der begehbare Raum an einen verschlossenen Bereich angrenzt, zu dem permanent Zugänglichkeit versprochen, aber nicht eingelöst wird, oder auch in Ghost Machine, der als Audio Walk einem vorher festgelegten Skript folgt und kaum Abweichungen von der geplanten Route und Struktur ermöglicht. Entscheidend ist bei all diesen formalen Differenzen aber die zunächst nicht sofort beantwortbare Frage nach den resultierenden Zuhörweisen, die nicht allein – und sozusagen automatisch – aus der jeweils anderen räumlichen und organisatorischen Anlage der Aufführung hervorgehen, sondern die auch wesentlich von anderen prozessualen, ereignishaften, kontingenten und subjektiven Faktoren während der Aufführung abhängen. Zunächst werde ich meine Rezeptionserfahrung von The Murder of Crows darstellen, die sich meiner Meinung nach als ein Oszillieren zwischen absorbiertem und immersiviertem Zuhören beschreiben lässt, und darauffolgend einige der genannten Beispiele in kurzen Vergleichen ergänzen, um zu verdeutlichen, inwiefern sie andere Dimensionen und Nuancen dieser Zuhörweise explizieren und welche diese sind. Als ich am 14.05.2009 den Hamburger Bahnhof besuchte, um Cardiffs und Millers The Murder of Crows zu erleben, waren schon Klänge zu vernehmen, bevor ich die große Historische Halle durch den immensen Samtvorhang betrat.89 Das Zuhören begann in diesem Fall also vor dem Betreten der Installation als ein gerichtetes Horchen auf ein nicht sichtbares, aber hörbares Geschehen. Dann konnte ich die im weiten Raum verteilte Installation mit ihren vielzähligen im Raum verteilten Lautsprechern erblicken. Die um einen Tisch, auf dem ein Grammophon-Schalltrichter positioniert war, in halbkreisförmigen Linien angeordneten, teilweise von Lautsprechern besetzten, teilweise leeren Stühle luden mich zum sitzenden Hören ein, doch strahlte der Raum in seiner Weite zugleich auch die Aufforderung aus, ihn gehend und lauschend zu erkunden. Die Laute, die ich in diesem Moment des Betretens hörte, wirkten auf mich zunächst wie ein Durcheinander von musikalischen und stimmlichen Klängen sowie verschiedener Geräusche, darunter auditiv herausstechend insbesondere markante Krähenschreie. Es waren außer mir nicht sehr viele weitere Besucher*innen vor Ort, einige andere Teilnehmende trafen später ein. Im Verlauf meiner Anwesenheit ließ sich bei fast allen Ankommenden ein ähnliches Verhalten beobachten: zunächst ein langsames Umhergehen zwischen den Lautsprechern, dann meist die Auswahl eines Sitzplatzes, von dem später noch zu einem anderen gewechselt wird. Es ist dann vor allem die aus dem Grammophontrichter erklingende weibliche Stimme, und zwar die Stimme Janet Cardiffs, die eine Ver-

89 Die Klanginstallation The Murder of Crows von Janet Cardiff und George Bures Miller war vom 14. März 2009 bis zum 17. Mai 2009 im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart Berlin in der Historischen Halle zu erleben.

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änderung meiner Körper- und Wahrnehmungshaltung bewirkt, denn um sie zu verstehen und ihr zu folgen, setze ich mich auf einen der Stühle und höre zu. Nicht nur meine Bewegung im Raum endet damit und geht in eine weitgehend stabilisierte Ausrichtung auf die Installation über, sondern auch eine Modifikation der auditiven Aufmerksamkeitsdynamik wird bewirkt, die aufgrund der intermodalen Verlagerung vom Sehen auf das Hören nun weniger wachsam in die Weite des Raums hin erstreckt, als vielmehr auf die Stimme Cardiffs gerichtet ist.90 Immer noch fallen die Lautsprecher vor und neben mir sowie die anderen Besucher*innen in mein Blickfeld, und ich spüre auch noch die Anwesenheit der Teilnehmenden hinter mir, doch ist die Intensität und Detailliertheit dieser Wahrnehmungen aufgrund der sich im Auditiven ereignenden Priorisierung der stimmlich-sprachlichen Zeichen vermindert. Demgegenüber intensiviert sich meine Konzentration auf das Sprachverstehen, und im Zuhören ergeben sich in meiner Imagination verschiedene und eher unheimlich wirkende Bilder und Handlungszusammenhänge – zu den Geräuschen tobenden Winds und rauschender Wellen entwirft die Erzählung das Bild eines Hauses am Meer, zu krachenden Maschinengeräuschen das Bild einer Fabrik, in der Menschen zermalmt werden, später das Bild von einem fehlenden Körperteil, einem Bein, das plötzlich nicht mehr da ist und noch später von einem Schlafzimmer, in dem sich unter der angehobenen Decke auf einmal ein einzelnes Bein auffindet. Es entsteht aufgrund des assoziativ-traumähnlichen Charakters der Erzählungen kein zusammenhängendes Narrativ, sondern vielmehr bilden sich den verschiedenen kurzen Sequenzen entsprechende brüchige Vorstellungen heraus, die weder kohärent noch hinsichtlich ihres Sinns sofort erschließbar sind und die in mir zugleich Gefühle von Verlorenheit und von gespannter Neugier erwecken. Cardiffs Stimme erzählt in langsamem Tempo, manchmal für Sekundenbruchteile innehaltend, teilweise um Worte ringend, leise und vorsichtig tastend – wie ein Schlafwandeln, das sich hier als stimmliche Verlautbarung verkörpert – von Begebenheiten, die traumähnlich inkonsistent keiner Logik folgen, sondern den unheimlichen, unberechenbaren, überraschenden und spannungsgeladenen Wendungen eines Horrorfilms verwandt sind. Die Art des Sprechens manifestiert im Stocken, Innehalten, nach Worten Suchen den Prozess des Erinnerns, während die Klangqualitäten der Stimme ein Befremden der Sprechenden gegenüber dem Erzählten anzeigen und darin eine Abständigkeit zum erzählten Geschehen erzeugen, als dessen Urheberin sich die Erzählerin zugleich aber auch inszeniert. Im Hören der Stimme werde ich der unsicheren Autorinnenposition gewahr, die sich in ihrem Sprechen äußert und habe

90 Verschiebungen innerhalb der auditiven Wahrnehmung können mit Verlagerungen auch im intermodalen Verhältnis der Sinne zueinander einhergehen, wie sich an diesem Beispiel nachvollziehen lässt, doch stellt dies keine notwendige Bedingung für intramodale Veränderungen von Aufmerksamkeitsgefügen dar.

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den Eindruck, dass das Erzählte von ihren Erzählintentionen unberührt und in gewisser Hinsicht unabhängig ist. Oft scheint ihr Sprechen dem Erzählten rast- und orientierungslos hinterherzuhängen, was sich in den wiederholt geäußerten, die einzelnen Ereignisse nur aufzählenden Worten »and then...« oder »and there was suddenly...« manifestiert, und auch mein imaginierendes Zuhören folgt diesen plötzlichen Sprüngen in neue Umgebungen und Kontexte, in denen eine Orientierung schon durch die Art des Erzählens erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht wird. Wo, wer, was und weshalb die Erzählerin sich an diesen Orten, z. B. am Meer oder in einer Fabrik, aufhält, bleibt mir vollkommen unklar. Dabei ist zumeist nicht nur die Stimme allein zu vernehmen; vielmehr sind oft auch Geräusche, Sounds oder Musik zu hören, die zunächst leiser und eher im Hintergrund erklingen, dann aber lauter und bei Verstummen der Erzählerin sehr laut werden und aus der Erzählung herausführen, indem oft zunächst geräuschhaft die Räumlichkeit oder die Atmosphäre der Erzählung aufgegriffen wird und dann im weiteren Verlauf aber daraus ein musikalisches Motiv erwächst, das sich von der Narration löst. Als ein russischsprachiger Männerchor einsetzt, waren zuvor bereits zusätzlich zur Stimme Cardiffs für längere Zeit langgezogene, sich übereinanderschichtende und auseinander hervorgehende Streichertöne zu hören. Während die Stimme leiser wird und vor dem Übergang zu einem sehr leisen und schließlich aussetzenden Murmeln zuletzt die Worte »and then, everything shifts...« artikuliert und sich damit die dann einsetzende Verschiebung zwischen den lautlichen Ebenen des Erzählens und der Musik auch sprachlich ankündigt, nehmen die Geigen an Lautstärke zu, werden kürzer und unruhiger. Schließlich ertönen auch dumpfe Pauken- und rasselnde Wirbeltrommelschläge, durch welche Rhythmus und Klang zunehmend marschartiger werden. Daraufhin ändert sich die Instrumentation, denn Trompeten setzen ein und übernehmen die Melodieführung, bis erst leise und dann zunehmend lauter der Chor hinzukommt. Mit einem Mal setzt die Musik aus, und es erklingen nur noch die energischen Männerstimmen im Raum, laut und scheinbar von überall herkommend. Anschließend bleibt diese Hörsituation länger unverändert. Die Chorstimmen nehmen somit nicht nur im Hörraum, sondern auch in der auditiven Zeitlichkeit eine zentrale und dominante Position ein. Der Modus des Zuhörens während meines teilnehmenden Besuchs von The Murder of Crows lässt sich als ein sich stets von Neuem vollziehender, hin- und hergehender Wechsel zwischen immersiviertem und absorbiertem Zuhören kennzeichnen. 91 Immersiviert sind die Besucher*innen der Installation auf zwei ver-

91 Vgl. Carolyn Christov-Bakargiev: »The Murder of Crows«, in: Janet Cardiff and George Bures Miller. The Murder of Crows, Ostfildern 2011, S. 29-44, hier S. 32: »[...] in The Murder of Crows the viewer/listener shifts constantly from being part of the cinematic or theatrical space to being a spectator seated on a chair in front of it – both within and in

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schiedenen Ebenen: Zum einen bewegt sich das Publikum durch das Betreten und Umhergehen in der Halle in einem besonderen, durch das Künstlerpaar gestalteten, in sich nach bestimmten Prinzipien organisierten räumlichen Arrangement mit eigenen akustischen Bedingungen, zum anderen betreten sie damit auch eine diesen Raum überlagernde und modifizierende auditive Räumlichkeit. 92 Mirjam Schaub beschreibt die Produktion von auditiver Räumlichkeit in Cardiffs und Millers installativen Arbeiten als eine Überschreibungstechnik, bei der eine »irritierende Überlagerung von Aktuellem und Virtuellem«93 erfahrbar wird. Pamela C. Scorzin hebt hervor, dass die Räumlichkeit des Vernehmbaren nicht allein mittels der räumlichen Wirkung von Musik, sondern einer »(pseudo-)narrativen Ausgestaltung der Szenerie«94 bewirkt wird. Besonders ist die von Cardiff und Miller häufiger verwendete Ambisonic-Technik, bei der die Aufzeichnung mit einem die gesamte lautliche Umgebung aufzeichnenden Spezialmikrofon durchgeführt wird und durch die der Höreindruck einer ausgedehnten und vielschichtigen Räumlichkeit erzeugt werden kann.95 Diese Räumlichkeit wirkt dadurch immersiv, dass die Rezipierenden sich in ihrem Zuhören als innerhalb dieser bestimmten lautlich erzeugten Umgebung empfinden. Erzeugt wird ein Gefühl des ›Mittendrin‹. In diesem Sinne spricht Scorzin auch von einer dem ›totalen Kunstwerk‹ Ilya Kabakovs vergleichbaren »totalen Installation« oder von »immersive[n] Illusionsmaschinerien«96. Zudem können die Geräusche aber darüber hinaus auch die Absorption der Zuhörenden auslösen, was sich durch eine Intensivierung des Gefühls, ›mittendrin‹ zu

front of the performance, in Brechtian terms. The shift is from spectatorship to participation, in and out.« Vgl. ebd., S. 42: »The Murder of Crows is geared towards this spatial geography, towards the elaboration of a possible geography on the level of the imaginary and, by implication, within the stage of the installation.« 92 Wie Cardiff und Bures Miller ausführen, wurde die Installation The Murder of Crows eher für sitzende Hörer*innen konzipiert. Vgl. Janet Cardiff in »Janet Cardiff and George Bures Miller interviewed by Catherine Crowston«, in: Catherine Crowston (Hg.), Janet Cardiff and George Bures Miller. The Murder of Crows, Ostfildern 2011, S. 50-82, hier S. 72. 93 Mirjam Schaub: »Extrem laut und unglaublich nah. Janet Cardiffs und George Bures Millers Feedback«, in: Karsten Lichau/Viktoria Tkaczyk/Rebecca Wolf (Hg.), Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur, München 2007, S. 276-289, hier S. 278. 94 Pamela C. Scorzin: »Mit den Ohren sehen«, in: Janet Cardiff & George Bures Miller. Künstler – Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, eine Edition der Zeitverlag Beteiligungs GmbH & Co. KG, Ausgabe 80, Heft 24, 4. Quartal 2007, S. 3-11, hier S. 3. 95 Vgl. George Bures Millers Erläuterungen zu dieser Technologie im Interview »Janet Cardiff and George Bures Miller interviewed by Catherine Crowston« (2011), S. 52 und 54. 96 Scorzin 2007, S. 3.

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sein, äußert – und zu einer in sich paradoxen Überschneidung von immersiv-räumlichen und absorbiert-hingewandten Dimensionen des Zuhörens führt. Die Modi des Zuhörens sind demnach nicht ganz so eindeutig zu trennen, wie es durch Begriffe wie ›Schwerpunktverschiebung‹ und ›Wechsel‹ suggeriert wird. Denn beide Zuhörweisen enthalten in ihren jeweils spezifischen Ausprägungen auch Qualitäten, die dem jeweils anderen Modus zuzuschreiben sind – im immersivierten Zuhören zeigen sich absorbierende Dimensionen daran, dass die gehörten Geräusche während The Murder of Crows so wahrgenommen werden, als würden sie tatsächlich in der unmittelbaren Umgebung und in räumlich sehr unterschiedlichen Richtungen lokalisiert sein. Der absorbierende Effekt besteht darin, dass die Zuhörenden mehr als im immersiven Modus, in dem ihnen eine gewisse reflexive Distanz zur neuen Umgebung verbleibt, in diese akustisch hervorgebrachte Räumlichkeit ›gezogen‹ werden und sich nun in ihrer auditiven Wahrnehmung und mit ihrem leiblichen Befinden ganz in ihr befinden. Die durch die besondere Aufnahmetechnik bewirkte Räumlichkeit und Plastizität der Geräusche verstärkt eine solche Rezeptionsweise, bei der die Zuhörenden von den Lauten affiziert werden. Auch wenn die zu hörenden Geräusche – Meeresrauschen, Krähenschreie, arbeitende Maschinen – keine an sich besonders auffälligen, also z. B. ungewöhnlichen, schrillen oder seltsamen Laute darstellen, so ziehen sie dennoch die auditive Aufmerksamkeit aufgrund der ihnen besonderen Räumlichkeit und auditiven Dreidimensionalität auf sich. An einer spezifischen Phase lässt sich dieser Effekt exemplarisch verdeutlichen: Es sind Schritte zu vernehmen, die sich hinter den Zuhörenden bzw. auf einer ihrer Seiten verorten lassen und sich aber von dort nach und nach zur anderen Seite ›bewegen‹. Tatsächlich bewegt sich zwar niemand und nichts im Raum des Museums; doch auditiv ergibt sich der Eindruck, als bewegte sich eine Person hinter oder seitlich zu den Zuhörenden und käme immer näher bzw. ginge über die Zuhörenden hinweg. Die gehörten Schritte bewirken eine Attraktion der auditiven Aufmerksamkeit, die nicht allein in ihrem Erklingen begründet ist, sondern in der Art ihrer plastischen Klanglichkeit, die bei mir eine von erhöhter Intensität und Offenheit gekennzeichnete Wachsamkeit auslöst. Ich empfinde mich in einem räumlichen Bezug zu den gehörten Schritten, die im Rahmen der je individuellen Hörperspektive genau zu lokalisieren und in ihrer Bewegung mitzuvollziehen sind. Anders als die Geräusche der Schritte der Museumsbesucher*innen neben mir, die ebenfalls in räumlicher Relation zu den Ohren der Hörenden stehen, sind die Geräusche dieser Schritte medial erzeugt und die Ursachen und Klangquellen nur in der Imagination der Hörenden existent.97 Es ist insofern von einer Skala unterschiedlicher Modi des

97

Die reale Klangquelle ist in diesem Moment das technische Gerät bzw. die in ihm ablaufenden Prozesse der Lauterzeugung, doch stellt diese Zuordnung meines Erachtens einen im Zuhören wenig relevanten Faktor dar – auditiv wahrgenommen bzw. ima-

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immersivierten Zuhörens auszugehen, die zwischen den Extremen des Hörens von Geräuschen der räumlichen Umgebung sowie des Hörens von reproduzierten Geräuschen mit imaginierten Klangquellen besteht. Deutlich wird, dass keiner der beiden einzelnen Zuhörmodi im Vordergrund der ästhetischen Erfahrung von The Murder of Crows steht, sondern dass beide und dass gerade die Übergänge zwischen ihnen wesentliche Komponenten der Rezeption darstellen. Janet Cardiff betont die Relevanz der Bewegung eines konstanten shifting.98 Einerseits eröffnen die auditiv um die Zuhörenden herum lokalisierbaren Geräusche einen Hörraum bestimmter Weite, Dichte und Atmosphäre, andererseits setzt die Erfahrung dieser Hörräume voraus, dass die Zuhörenden absorbiert sind und sich vom Gehörten so intensiv ergreifen lassen, dass diese Laute überhaupt erst imaginiert und konstituiert werden können. 99 Beide Dimensionen sind demzufolge darüber verbunden, dass sich die Wahrnehmenden als ›innerhalb‹ von etwas erfahren.100 Die entstehende auditiv perzipierte Räumlichkeit, z. B. durch die sich vermeintlich im Raum bewe-

giniert werden bei erkennbaren Geräuschen vielmehr unmittelbar die ihnen zuzuordnenden Klangquellen. Durch die hinter mir gehörten Schritte imaginiere ich insofern sofort eine hinter mir gehende Person. 98

Vgl. Janet Cardiff in »Janet Cardiff and George Bures Miller interviewed by Catherine Crowston« (2011), S. 78 f.: »What we wanted was the piece to shift and morph irrationally, much like dreams do. So we used the different genres to try to convey this... even to the point of having them competing with each other when the Russians march into the room.«

99

Laura Bieger weist in ihrer Studie zur immersiven Architektur verschiedener urbaner Zentren darauf hin, dass sich »das Erleben eines Eintauchens in alternative Realitäten zeitlich verlängern und emotional vertiefen [lässt], wenn es narrativ eingebettet wird, d. h. wenn das Erleben einer körperlichen Unmittelbarkeit um eine imaginative Dimension erweitert und Fiktion und Wirklichkeit überblendet werden«. Bieger 2007, S. 245.

100

Die Überschneidung hängt u. a. auch davon ab, wie der Begriff der Immersion auf den Bereich auditiver Wahrnehmung und Aufmerksamkeit übertragen wird, denn setzt man den filmwissenschaftlichen Begriff an und geht demnach von einem immersivierten Zuhören als Hören und mentalem ›Betreten‹ einer virtuellen Räumlichkeit aus, so besitzt dieser Modus immer schon auch absorptive Dimensionen – weshalb ja auch in der Filmwissenschaft offenbar kein Unterschied zwischen den beiden Wahrnehmungsmodi zu machen ist. Aber wenn der Zugang über den theaterwissenschaftlichen Immersionsbegriff erfolgt, der weniger auf das Virtuelle als vielmehr auf das Reale der betretenen Räume und die Interaktion mit den dort befindlichen Personen abzielt, dann ist das Konzept des immersivierten Zuhörens dahingehend zu modifizieren, dass damit nun eher das Hören auf Geräusche und Klänge der Umgebung und somit vorrangig Prozesse der auditiven Raumwahrnehmung gemeint sind.

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genden Schritte oder durch den räumlich erklingenden Chor, zieht die Zuhörenden förmlich in sich hinein. Während im immersivierten Zuhören eine die Rezipierenden umgebende Räumlichkeit hörbar und somit auch thematisch in der Aufmerksamkeit zentriert wird, also eine räumlich-situative Mittendrin-Erfahrung, bei der die eigene leibliche Positionierung neu hervorgebracht wird, handelt es sich beim absorbierten Zuhören demgegenüber vielmehr um einen Modus des Eintretens in eine nicht notwendigerweise räumlich strukturierte ›Umgebung‹, um ein InvolviertWerden im Rahmen eines über längere Dauer kontinuierlich und intensiv verlaufenden Prozesses der Wahrnehmung, der Imagination, der Reflexion, der Meditation, der sportlichen Betätigung, einer Aufgabenlösung oder einer Arbeitstätigkeit etc. Zwar lassen sich dem absorbierten Zuhören demnach auch immersivierende Qualitäten zuschreiben, da sich im Absorbiert-Sein eine spezifische Räumlichkeit, beispielsweise die imaginierte Räumlichkeit der verschiedenen Träume in The Murder of Crows, konstituiert, doch muss diese Räumlichkeit nicht in jedem Fall von Weite und dreidimensionaler Ausdehnung geprägt sein. Sie kann vielmehr auch eng sein wie dies beim konzentrierten Durchführen einer bestimmten Tätigkeit der Fall ist, da dabei durch die konzentrierte Hinwendung und die vollständige körperlichgeistige Beschäftigung die Distanz zwischen Ausführenden und Ausgeführtem stark reduziert ist. Die Absorbierten sind ›ganz bei der Sache‹, gehen demnach im Prozess der Beschäftigung vollkommen auf und sind sich ihrer selbst in diesem Zustand meist nicht bewusst. Fotos auf der Dokumentations-DVD zu The Murder of Crows zeigen viele Zuhörende auf den Stühlen in sich zusammengesunken sitzen, oft mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen – eine Haltung, die ihr absorbiertes In-Sich-Gekehrt-Sein anzeigt. 101 »The listener is drawn into the uncanny disorder of the dream state, where traumatic events are both remembered and imagined.«102 Am Übergang der Schritte zur einsetzenden Stimme lässt sich ein Wechsel im Zuhörmodus vom immersivierten zum absorbierten Zuhören nachvollziehen, insofern sich in der Hinwendung auf die erklingende Stimme eine Verschiebung innerhalb des Aufmerksamkeitsgefüges von einer offen in den Raum ausgedehnten Wachsamkeit hin zu einem auf die Stimme und das von ihr Gesprochene gerichteten, verstehenden Zuhören ergibt. Der Übergang vom immersivierten zum absorbierten Zuhören ist als graduell und nicht als durch eine eindeutige Grenze markiert aufzufassen. Im absorbierten Zuhören sind die imaginativen Dimensionen stärker wirksam als im immersivierten Zuhören, in dem eher die räumlichen Aspekte her-

101

Nach Michael Fried hängt diese Körperhaltung mit dem Zustand des Absorbiert-Seins

102

Catherine Crowston: »Foreword«, in: Janet Cardiff and George Bures Miller. The

zusammen. Vgl. Fried 1980, S. 14 f. Murder of Crows (2011), S. 18.

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vorgehoben sind. Vor allem die stimmlichen Verlautbarungen bewirken die Absorption der Zuhörenden, insofern durch sie – noch einmal stärker als bei den vernommenen räumlich arrangierten Geräuschen – die Imagination aktiviert wird.103 Auch die sich aus den Brüchen im Erzählen sowie aus der traumhaften Absurdität des Dargestellten ergebende Schwierigkeit, dem Gehörten einen kohärenten Sinn zuzuweisen, beeinflusst die Absorption, doch muss sich dies nicht notwendigerweise mindernd auf sie auswirken. Vielmehr kann gerade das Rätselhafte, Unverständliche zu einer Intensitätssteigerung des absorbierten Zuhörens führen. Unterbrochen oder gemindert wird der Absorptionsprozess dann, wenn die Aufmerksamkeit durch bestimmte Faktoren wieder stärker auf das Hier und Jetzt des Erlebens zurückgeworfen wird, sich also der Wahrnehmungssituation und der eigenen Situiertheit darin bewusst wird. Dieser Prozess kann sich plötzlich oder langsam vollziehen und wie ein Aufwachen erlebt werden. Der Absorptionsprozess in The Murder of Crows wird immer wieder unterbrochen, wenn weitere Besucher*innen die Museumshalle betreten und die Aufmerksamkeit auf sich ziehen oder die einzelnen Traumsequenzen zu einem Ende kommen und dann zunehmend Geräusche oder Musik zu hören sind. Diese Laute unterstützen das absorbierte Zuhören zunächst zwar noch, indem sie mit dem zuvor Gehörten assoziativ in Verbindung zu bringen sind, z. B. die Wellengeräusche mit dem Haus am Meer oder die Maschinengeräusche mit der Fabrik, doch im weiteren Verlauf erlangen die Geräusche und die Musik Eigenständigkeit gegenüber dem zuvor Gehörten und eine ihnen eigene Wirksamkeit.104 Während dieser Phasen sind die Zuhörenden meines Erachtens weniger absorbiert, da diese Dimension von anderen überlagert oder abgelöst wird, insofern die Geräusche, wie zuvor ausgeführt, eher ein räumlich-immersivierendes Zuhören begründen und die Musik ein musikalisch-atmosphärisches Hören bewirkt, in wel-

103

Auch Cardiffs Stimme besitzt durch die besondere Aufnahmetechnik eine auditiv zu erlebende Räumlichkeit, doch wird diese durch den Grammophontrichter, über den sie vorwiegend zu hören ist, auf eine bestimmte Lokalisierung der Sprechenden in Relation zu den Zuhörenden reduziert. Sie wird nicht wie die anderen Laute als räumliche Umgebung wahrgenommen, sondern wie eine an einem bestimmten Ort in spezifischer Distanz auszumachende Sprecherposition.

104

Geräusche und Musik werden insofern nicht nur illustrativ zur Verstärkung der sprachlich evozierten Vorstellungen, sondern vielmehr auch eigenständig zur Konstitution von Räumlichkeiten, Atmosphären, Stimmungen und Bewegungen eingesetzt. Vgl. Catherine Crowston: »Janet Cardiff and George Bures Miller interviewed by Catherine Crowston« (2011), S. 56: »There’s the text and narrative component, but the musical component is a whole other part of the work that brings in different references and different meanings.«

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chen die eigene leibliche Befindlichkeit sowie Positionierung im Raum bewusst erfahren werden. Alternativen zu dem in The Murder of Crows erfahrbaren Verhältnis von Absorption und Immersion lassen sich anhand von Analysen weiterer Beispiele aufzeigen. Im Folgenden werden in Kürze sowohl Dries Verhoevens You Are Here als auch Edit Kaldors One Hour betrachtet, um aufzuzeigen, auf welch unterschiedliche Weisen die Modi des absorbierten und immersivierten Zuhörens hervorgebracht und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können. Die beiden Beispiele stehen exemplarisch für markante alternative Umgangsweisen mit den Dimensionen von Räumlichkeit, Lautlichkeit und leiblicher Positionierung innerhalb des Settings der performativen Installationen und für dementsprechend andersgewichtete Zuhörmodi und Aufmerksamkeitsgefüge, die stärker als in The Murder of Crows von Schwerpunktsetzungen geprägt sind. In You Are Here von Dries Verhoeven wird vor allem der Modus des immersivierten Zuhörens evoziert. Immersivierend ist dieses Zuhören einerseits, weil es sich im Rahmen einer immersiven Aufführung ereignet, andererseits aber auch, weil in diesem Zuhören beide der bestimmenden Aspekte immersiven Theaters – die Kreation von Settings (Räumen und Situationen, welche die Partizipierenden umgeben) und die direkte Begegnung und Kommunikation mit den Akteur*innen innerhalb dieser Räume – gegeben sind. Nach einer ersten Zeit der Orientierung in einem kleinen, hölzernen Hotelzimmer, in dem ich mich nun als ›Hotelgast‹ befinde, erklingt aus einem Lautsprecher an der Wand eine weibliche Stimme, die langsam und ruhig einen tagebuchartigen Text spricht.105 Auf dem einzigen Möbelstück des Hotelzimmers, einem einfachen Bett liegend, höre ich in den Raum hinein und über das kleine Zimmer hinaus – Innen- und Außenräume werden für mich auditiv erfahrbar, als sich von außerhalb Geräusche vernehmen lassen, die zwar nicht einzuordnen sind, die aber anzeigen, dass dort draußen etwas geschieht. Als die Stimme aus dem kleinen Lautsprecher spricht, zentriere ich meine Aufmerksamkeit auf das von ihr Gesagte – meine auditive Wahrnehmung erfährt insofern durch die einsetzende Aufmerksamkeitsdynamik eine Verengung und spezifische Ausrichtung auf die gehörte Stimme. Eine direkte Begegnung mit der sprechenden Person im Zuhören ergibt sich in dem Moment, in dem ich vernehme, wie von der Stimme u. a. auch ein Satz ausgesprochen wird, den ich zuvor als Antwort auf einen Fragebogen geschrieben und diesen unter der Hoteltür hindurchgeschoben hatte. Im Zuhören gewahre ich darin plötzlich die reale und gegenwärtige Anwesenheit der sprechenden Person, die das von mir Geschriebene zuvor zur Kenntnis genommen haben musste, um es nun zu sagen – die-

105

Ich habe an You Are Here von Dries Verhoeven am 30. Mai 2011 im Gasometer in Berlin teilgenommen.

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se sich beim Zuhören ereignende Einsicht bringt ein Gefühl von Nähe, gar Intimität mit sich, die von mir als intensive und gleichzeitig unheimliche, da unsichtbare Anwesenheit und Kontaktaufnahme mit der Sprechenden empfunden wird. Zudem findet dadurch, dass sie meine Aussage auf sich bezieht, nicht nur ein Evozieren meiner persönlichen Biografie, sondern vielmehr eine Übertragung meiner Person auf die Sprechende statt – und ich begreife in dem Moment, dass sich die anderen Anwesenden in den Zimmern neben meinem ebenfalls in den anderen gesprochenen Sätzen ›spiegeln‹ müssten, dass ihre Anwesenheit also in dieser einen Stimme widerhallt und uns darüber verbindet, dass wir alle in diesem Augenblick von einer einzelnen Stimme zum Sprechen gebracht werden. Das durch solche Effekte hervorgerufene Zuhören lässt sich als immersiviert bestimmen und vom absorbierten Zuhören unterscheiden.106 Denn meine auditive Aufmerksamkeit richtet sich über die vernommene Stimme und das von ihr Geäußerte gerade auch auf die Wahrnehmungssituation und nicht von ihr weg in einen gespürten, gedachten oder imaginierten anderen ›Raum‹.107 Absorbiertes Zuhören innerhalb eines detailliert gestalteten Settings ist im Gegensatz zu Verhoevens Arbeit z. B. in Edit Kaldors One Hour erfahrbar, in deren – tatsächlich einstündigem – Verlauf die Teilnehmenden auf breiten, niedrigen gepolsterten Podesten liegen und auf an die Decke projizierte Bilder des menschlichen Gehirns und Blutkreislaufs blicken, während dazu verschiedene Stimmen zu hören sind. Die im Raum verteilten Performer*innen unterschiedlichen Alters erzählen mit ruhiger, langsam artikulierender Stimme biografisch erscheinende Erin-

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Mit Sicherheit besitzt auch You Are Here absorbierende Dimensionen, z. B. wenn sich das Spiegeldach des Hotelzimmers zu verschiedenen elektronisch klingenden Sounds mehrere Meter in die Höhe hebt und den Blick freigibt auf das eigene Spiegelbild und die Ansicht aller anderen Teilnehmenden in ihren an Bienenwaben erinnernden Räumen. Absorbiert sind die Teilnehmenden dann vor allem aber über das Gesehene und weniger über das Gehörte, auch wenn die Sounds maßgeblich zur Atmosphäre des Geschehens beitragen.

107

Dass Adam Alston in seiner Darstellung und Analyse des immersiven Theaters als einer ästhetischen Praxis, die neoliberale Werte befördert, betont, dass diese Theaterpraktiken zu einer nach innen gerichteten Aufmerksamkeitshaltung führten, steht meiner Meinung nach in keinem Widerspruch zu dem von mir Gesagten. Denn das von Alston hiermit gemeinte Trachten der Teilnehmenden nach einer Maximierung der gemachten Erfahrung hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Neuheit, Aufregung oder Risiken ist, wie er selbst im weiteren Verlauf seines Artikels ausführt, eines, das immer in Relation zu den gegebenen situativen Möglichkeiten stehen wird. Vgl. Alston: »Audience Participation and Neoliberal Value. Risk, Agency and Responsibility in Immersive Theatre« (2013), S. 130.

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nerungen, Anekdoten und Geschichten über das Sterben und erwähnen viele mit dem Tod zusammenhängende medizinische Fakten und Zusammenhänge.108 Durch die Dunkelheit und durch die liegende Position, in der die Blicke meist nach oben gerichtet sind, erfolgt eine Lenkung der visuellen Aufmerksamkeit auf die Projektionen und der weitgehende Ausschluss anderer möglicher visueller Wahrnehmungseindrücke. Zu diesen räumlich-körperlichen Faktoren kommen die stimmlichen Verlautbarungen der Performer*innen hinzu, die in kurzen Abständen viele Fragen stellen, welche die Teilnehmenden dazu auffordern, über die verschiedenen, immer nur still zu gebenden Antworten Szenarien des – u. a. auch eigenen – Sterbens zu kreieren. Durch diese mittels der Fragen ausgelösten Erinnerungs- und Imaginationsprozesse von Bildern, Sequenzen und Zukunftsvisionen wird die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden von der Wahrnehmungssituation weg- und auf den eigenen Leib in seiner Vergänglichkeit und Fragilität sowie auf damit verbundene imaginierte Gedanken- und Bildwelten gerichtet. Absorbiert sind die Zuhörenden in One Hour, wenn sie ihre Leiblichkeit nicht unbedingt in der während der Aufführung erfahrenen, sondern in einer imaginierten zukünftigen, von Krankheit und Alter gezeichneten Verfassung präsent haben und die Aufführungssituation gegenüber diesen Imaginationen zurücktritt. Bezüglich der Modi des immersivierten und des absorbierten Zuhörens, die beide das ›Mittendrin‹- und ›Darin‹-Sein betonen, ist abschließend zu fragen, wie dann jeweils das Herausgehen aus diesen stark involvierenden Wahrnehmungs- und Merkweisen stattfinden kann. Am je spezifischen Austritt aus der immersivierenden Umgebung oder den absorbierenden Vorstellungen und Beschäftigungen lassen sich die vielfältigen zuvor angeführten, künstlerischen Arbeiten dementsprechend ebenfalls unterscheiden. Während das Ende der Veranstaltung bei Turbo Pascals 8 Stunden (mindestens) tatsächlich in einem Prozess des Aufwachens besteht, nachdem das Publikum die vorherige Nacht im Festsaal der SOPHIENSÆLE in BerlinMitte verbracht hat, wird den Teilnehmenden das Ende der Veranstaltung in Kaldors One Hour und auch in Verhoevens You Are Here durch theaterkonventionelle Signale bewusstgemacht, ohne dass sich damit aber eine Aufforderung zum sofortigen Verlassen der Räume verbindet. Vielmehr werden die Teilnehmenden in One Hour durch die Performer*innen sogar ermuntert, sich Zeit zu nehmen beim – auch emotionalen – Herausgehen aus der Aufführung, bzw. genauer gesagt, aus der Absorption. Offenbar bedarf nicht nur die Thematik – Tod und Sterben –, sondern auch die besondere Wahrnehmungshaltung, d. h. die mittels der Parameter der Aufführung bewirkte, sehr intensive Absorption, ein langsames, schrittweises Sich-

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One Hour von Edit Kaldor hatte 2012 Premiere und war im November des gleichen Jahres am HAU 3 zu erleben. Dort habe ich die Aufführung vom 08. November 2012 besucht.

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Lösen und Loslassen. Die zuvor noch vollständig absorbierte Aufmerksamkeit wird durch die Entspannung wieder offener und lässt die räumliche Umgebung, die Wahrnehmungssituation, die anderen Teilnehmenden und die eigene leibliche Befindlichkeit wieder stärker gewahr werden. In der Klanginstallation The Murder of Crows müssen die Teilnehmenden ihren Weg aus dem immersivierten und absorbierten Zuhören ohne Unterstützung anleitender Akteur*innen finden, denn The Murder of Crows endet nicht im klassischen Sinn des Verstummens der Stimmen und des Eintretens von Stille. Stattdessen läuft der 30minütige Geräusch-, Musikund Stimmen-Soundtrack in einem ständigen Loop immer weiter.109 Die Entscheidung, wann das Zuhören beendet wird, obliegt vollständig den Teilnehmenden, die für sich individuell beschließen können und müssen, wann sie die Installation verlassen, ohne dass damit ein Ende der Präsentation verbunden wäre. Durch das Eröffnen dieser Möglichkeit wird den Zuschauenden nicht nur die Entscheidung überlassen, zu bleiben oder zu gehen, sondern es ist ihnen ebenfalls dadurch gegeben, im Bleiben Interesse, Neugier und Gespannt-Sein zu verkörpern. Dies ist im Theater grundlegender Bestandteil der Rezeptionserfahrung, da Aufführungen natürlich immer auch verlassen werden können, doch wird dieser Aspekt in durationalen Arbeiten z. B. von Forced Entertainment, Vegard Vinge und Ida Müller oder Jan Fabre u. a. sowie in Installationen z. B. von Cardiff und Bures Miller durch die Thematisierung der Frage und die Ausstellung der Entscheidungsfreiheit im besonderen Maße bewusst gemacht und kann sich insofern als Komponente dieser Aufführungserfahrungen mitauswirken. Die zu treffende Entscheidung über das Beenden der Rezeptionserfahrung ist zudem mit den Dimensionen von Gehorchen und Verweigerung hinsichtlich bestehender Theaterkonventionen verknüpft, die im Rahmen der jeweiligen Aufführungssituation jeweils neu auszuhandeln sind. Im Verlassen des Saals manifestiert sich eine den Zuhörenden mögliche und für alle anderen Anwesenden sichtbar werdende Verweigerungshandlung, die aber im Rahmen von The Murder of Crows notwendiger Bestandteil der ästhetischen Erfahrung darstellt, insofern diese Installation ohne den finalen Moment der Abwendung gar nicht rezipierbar ist.

109

Janet Cardiff weist darauf hin, dass sich bei mehrmaligem Hören des ›Soundtracks‹ auf den Anfang und das Ende schließen lässt, doch erwähnt sie zugleich auch, dass viele Besucher*innen über längere Dauer in der Installation bleiben und die Klangspur häufig hören, was impliziert, dass die Wahrnehmung eines solcherart markierten ›Endes‹ zumeist nicht als Aufforderung zur Beendigung der Rezeption aufgefasst wird. Vgl. Janet Cardiff in »Janet Cardiff and George Bures Miller interviewed by Catherine Crowston« (2011), S. 78.

               167 

             Max Ackermann weist darauf hin, dass das Wort hören in der deutschen Sprache mit ›gehorchen‹ und ›hörig‹ zusammenhängt, insofern alle den gleichen etymologischen Ursprung besitzen und darüber verbunden sind, dass wortgeschichtlich der Prozess des ›auf etwas Hörens‹ oder des ›einen Ratschlag Berücksichtigens‹ gemeint war.110 Diese Verknüpfung geht auf die indogermanische Wurzel keus zurück, die in ihren Bedeutungsdimensionen sowohl ›darauf achten‹ als auch ›hören‹ umfasst.111 Über die etymologische Herkunft des Wortes hören lässt sich demnach auf eine grundlegend gegebene Verbindung zu Aufmerksamkeitsprozessen hinweisen, die im Sinne von Vorgängen der Beachtung und des Bemerkens aufgefasst werden. Etwas zu beachten wird über die etymologische Prägung gleichgesetzt mit Berücksichtigen, d. h. dass – im Sinne von Waldenfels’ Konzept der Responsivität – die zugewandte Aufmerksamkeit im Sinne einer Antwort auf das affizierende Geschehen und Hören somit als Vorgang der Beachtung zu denken ist. Dies rückt die Sinneswahrnehmung in einen Kontext ethischer Fragen, die darum kreisen, auf wen oder was gehört wird, wer oder was also diese auditive Beachtung erlangt, verdient und bekommen soll. In LIGNAs Beitrag zum Festival ›Ciudades Paralelas‹, The First International of Shopping Malls, wird u. a. eine Weise des Zuhörens provoziert, in der ein Appell zum Gehorchen manifest wird und durch die eine reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung zu diesem Appell – im Befolgen oder Verweigern der gehörten Aufforderung – in Gang gesetzt werden kann. Vor dem Berliner Einkaufszentrum Alexa erhalten ich und alle anderen Teilnehmenden ein kleines, auf die gleiche Frequenz eingestelltes Radiogerät sowie ein Paar Kopfhörer mit der Aufforderung, sich damit auf den Weg in das Einkaufszentrum zu machen. Innerhalb des Gebäudes bewegen wir Teilnehmenden uns dann zumeist einzeln oder in Paaren, ohne unter den anderen vielzähligen Besucher*innen zunächst durch weitere Kennzeichen aufzufallen oder als zusammengehörige Gruppe erkennbar zu werden. In diesem Sinne betonen LIGNA die Relevanz des Konzepts der Zerstreuung für ihre Arbei-

110

Vgl. Max Ackermann: »Hörwörter – etymologisch«, in: Der Aufstand des Ohrs – die

111

Vgl. ebd., S. 61. Wie Ackermann an gleicher Stelle ausführt, besitzt auch das englische

neue Lust am Hören (2006), S. 59-75, hier S. 60. Wort to hear etymologisch diese mehrschichtige Bedeutung, welche die Sinneswahrnehmung mit der Aufmerksamkeit verbindet. Peter Szendy deutet auf solche eine Verbindung hinsichtlich des altfranzösischen Wortes escouter hin. Vgl. Szendy 2007, S. 24.

168         

ten.112 Zerstreuung wird hier weniger als Beschreibung von Aufmerksamkeitsprozessen aufgefasst, sondern primär auf die Organisation der Gruppe im Raum bezogen, für die Fragen der räumlichen Verteilung und der performativ hervorgebrachten Gemeinsamkeit in Gesten, Bewegungsmustern, Artikulationen und Interaktionen relevant ist.113 Dennoch lässt sich nach meinem Empfinden auch schon dann eine Gemeinsamkeit wahrnehmen, wenn noch keine Handlungen vollzogen worden sind. Wahrzunehmen war dies in der bei nahezu allen Teilnehmenden ähnlichen Aufmerksamkeitshaltung von Erwartung und Wachsamkeit. Mit ihr lässt sich auch das Auffällig-Werden erklären, das den Teilnehmenden widerfährt, insofern zu beobachten ist, das ihnen von den anderen Anwesenden im Einkaufszentrum längere, fragende Blicke zugeworfen werden. Nichts Sichtbares deutet auf ein geheimnisvolles Geschehen hin, sondern etwas Spürbares, das sich kaum begrifflich fassen lässt und das auch nicht unbedingt bewusst werden muss, sondern sich vielmehr als eine von den Teilnehmenden ausgehende Atmosphäre erfahren lässt. Als ich mich durch das Einkaufszentrum bewege und die Rolltreppe ansteuere, blicke ich mich wachsam um und erkenne, dass außer mir viele der anderen Personen auf der Rolltreppe ebenfalls Kopfhörer tragen. Ich sehe auch, dass sie verschiedene und nicht nur die von LIGNA verteilten Geräte benutzen und insofern nicht das Gleiche hören wie ich, sondern die von ihnen ausgesuchte Musik, möglicherweise auch Hörbücher, Sprachlernprogramme, Podcasts, Radio o. Ä. Wir fahren vor-, hinter- und nebeneinander die Rolltreppe hoch, während über unsere Ohren jeweils etwas anderes erklingt, das sich in die Wahrnehmung des umgebenden Raums mischen und die Stimmung der Hörenden beeinflussen kann. »Gebt euch geheime Zeichen – gähnt, wenn ihr einem anderen Internationalisten begegnet!«, »Nehmen Sie eine Ware.«, »Werdet bitte langsamer.«, »Bleibt stehen.« – So klingen einige der von verschiedenen Stimmen geäußerten Handlungsanweisungen oder ›Vorschläge‹, wie LIGNA diese Äußerungen bezeichnet, deren Ausführung für die Zuhörenden nun in Frage steht: erstens vielleicht im Bestreben, den gewünschten Handlungen gerecht zu werden und den Forderungen der Künstler nicht durch Verweigerung zu begegnen,

112

Vgl. LIGNA (Ole Frahm, Michael Hüners, Torsten Michaelsen): »Einladung zur Übung in nichtbestimmungsgemäßem Verhalten« (2003), in: LIGNA. An Alle! Radio, Theater, Stadt. Leipzig 2011, S. 44-48, hier S. 46.

113

Vgl. LIGNA: »Konstellation – Zerstreuung – Assoziation. Eine Historisierung gestischen Radiohörens«, in: Open House. Kunst und Öffentlichkeit / Art and the Public Sphere. o.k books 3/04, Wien/Bozen 2004, online auf der Homepage von LIGNA unter http:// ligna.blogspot.de/, letzter Zugriff am 18.06.2014. Vgl. dazu Wanda Wieczorek: »zerstreut radio hören«, 12/2002, eipcp – Europäisches Institut für Progressive Kulturpolitik, http://eipcp.net/transversal/1202/wieczorek/de, letzter Zugriff am 08.05.2014.

               169 

zweitens mit der möglichen Neugier und Lust darauf, die Grenzen der konventionalisierten Verhaltensweisen an diesem Ort auszutesten und schließlich drittens mit der ebenfalls naheliegenden Intention, die Kontrolle über die herbeigeführten Bewegungen und Interaktionen zu wahren und sich vor peinlichen Situationen zu schützen. »Nehmen Sie das rechte Bein vor das linke, kratzen Sie sich mit der rechten Hand am Ohr.« Die zunächst scheinbar einfache Mitteilung bewirkt, dass mir meine eigene Körperhaltung stärker bewusst wird und ich die gewünschten Bewegungen mit dem Anspruch, sie möglichst spontan wirkend auszuführen, übertrieben und gar nicht spontan wirkend vollziehe, sondern vielmehr leicht angespannt und in der Dauer und Anzahl ihrer Wiederholungen deutlich ausgestellt. Im Rahmen von The First International of Shopping Malls werden über die Medienverwendung und den Ort des Ereignisses verschiedene Zuhörweisen hervorgerufen, die im Verlauf des Ereignisses zur Reflexion gebracht werden, und zwar dadurch, dass gerade nicht alle Bedingungen für das ungehinderte Vollziehen dieser spezifischen Zuhörweisen erfüllt werden. Das Radio-Hören einerseits sowie das Musik-Hören über Kopfhörer und mp3-Player oder iPods im öffentlichen Raum andererseits bezeichnen zwei solchermaßen thematisierte Arten des Hörens bzw. des Zuhörens, die wiederum auf ihnen charakteristische Formationen und Intensitäten der auditiven Aufmerksamkeit beruhen. Während des Verlaufs von The First International of Shopping Malls wird das Radio-Hören als Zuhörweise aktiviert, dadurch dass den Teilnehmenden bewusst ist, dass sie zwar einzeln, aber doch gemeinsam mit anderen, also als Teil eines umfassenderen, aber virtuell bleibenden Kollektivs, die darauffolgenden Laute hören werden.114 Da jedoch kein Radioprogramm übermittelt wird und auch die Frage der Liveness des Gehörten, die im Radio häufig noch gegeben ist, ungeklärt bleibt, wird der einerseits evozierte Modus des Radio-Hörens andererseits zugleich auch unterlaufen. Ebenso geschieht dieser Prozess in Bezug auf das Hören von Musik über Kopfhörer im öffentlichen Raum, das ebenfalls zitiert wird, indem die entsprechenden Geräte verteilt und die Nutzung derselben ein Bestandteil des Ereignisses ist, aber zugleich eben nicht mit der von den Hörenden selbst gewählten Musik, sondern mit den Stimmen der Performer*innen. Somit handelt es sich beim Gehörten auch nicht um das Hervorbringen

114

Vgl. Ole Frahm im Interview mit Nicole Vrenegor in »Kollektive Zerstreuung. LIGNA experimentiert mit Formen der politischen Intervention«, in: analyse + kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 475 vom 15.08.2003: »Normalerweise sitzen Leute zuhause und hören Radio. Weil sie nicht miteinander in Beziehung treten, bleibt der Zusammenschluss der HörerInnen untereinander erst mal sehr abstrakt. Durch das Radio wird aber eine Verbindung zwischen den Leuten hergestellt. Uns interessiert, diese Konstellation in den öffentlichen Raum zu bringen und politisch wirksam zu machen.«

170         

einer von Michael Bull so genannten »auditory bubble«115, eines mobilen und auditiv geprägten Privatraums, der über mp3- und ipod-Geräte erzeugt und überallhin mitgenommen wird, vielmehr um eine in ihrer Gemeinschaftlichkeit nicht nur bewusste, sondern auch sichtbar werdende Rezeption. Üblicherweise konstituiert das Musik-Hören über Kopfhörer im öffentlichen Raum ein Gefühl der ›begleiteten Einsamkeit‹ (»accompanied solitude«116), doch in dieser Weise entsteht sie während The First International of Shopping Malls nicht. Sie wird aber, wie ich meine, auf andere Weise dennoch erfahrbar – denn das Zuhören ist hier durch eine ›begleitete Einsamkeit‹ geprägt, da jede*r Zuhörende mit der gehörten Stimme allein ist und die entstehende Gruppe, die auch einen Schutzraum bedeuten kann, so lange virtuell bleibt, bis sie durch die während der Performance ausgeführten Bewegungen in Erscheinung tritt und sichtbar wird.117 Im öffentlich zugänglichen Einkaufszentrum bewege ich mich zwischen anderen, von denen mich die Kopfhörer trennen – das als Sinn der Sozietät bestimmte Hören wird insofern umgeleitet auf das von den Performer*innen stimmlich verlautbarte auditive Geschehen, wodurch der Bezug zu ihnen gestärkt und der zur räumlichen Umgebung mit den anderen Anwesenden geschwächt wird. Doch gleichzeitig bin ich im Gegensatz zum gewöhnlichen Musik-Hören im öffentlichen Raum meiner Umgebung gegenüber nicht abgewandt, denn gerade der intensivierte Bezug zu den Stimmen der Performer*innen lenkt meine Aufmerksamkeit zurück auf die mich umgebende Situation.118 So bleibe ich den anderen Beteiligten und auch den weiteren, an LIGNAs Aktion nicht direkt partizipierenden Anwesenden gegenüber offen, indem ich deren Aktionen bzw. Reaktionen genau beobachte. Da wir, die Beteiligten, um die besondere Zusammengehörigkeit und auch um die Unkenntnis der anderen Anwesenden wissen und da auch über das Gehörte mehrfach betont wird, dass die Beteiligten es vermeiden sollen, sich den Unbeteiligten gegenüber als Gruppe zu zeigen, konstituiert sich auf

115

Michael Bull: Sound Moves. iPod Culture and Urban Experience, London/New York 2007, S. 3.

116

Ebd., S. 6.

117

Das Spektrum des potentiell Gehörten hat sich im Verlauf der letzten zehn bis fünfzehn Jahre – seit Entstehung der ersten digitalen Musikverarbeitungs-, speicher- und reproduktionsmedien sowie der damit einhergehenden Entwicklung verschiedener Abspielgeräte seit Anfang der 2000er Jahre ausgehend vom Vorläufer des Walkmans – stark erweitert. Durch die Medienverwendung sowie die Entwicklung und Erweiterung des möglichen Hörangebots haben sich Zuhörweisen herausgebildet, die sich von bisherigen durch den Mediengebrauch habitualisierten Modi des Radio-Hörens bzw. Musik-Hörens unterscheiden, da sie zumeist über Kopfhörer im öffentlichen Raum und nicht zuhause stattfinden.

118

Vgl. Bull 2007, S. 4.

               171 

diesem Weg und insbesondere über das Zuhören und die geteilte Aufmerksamkeitshaltung eine als Komplizenschaft empfundene, temporäre Form der kollektiven Bindung. So bewegen sich die Teilnehmenden durch den Raum des Einkaufszentrums im Wissen um die anderen, doch zugleich im Unklaren darüber, wer genau zu dieser Gruppe der Eingeweihten gehört. Prozesse der Hervorbringung eines Gemeinschaftsgefühls und der Konstitution eines virtuellen Kollektivs, das sich über die gemeinsame Rezeption z. B. eines Radio- oder Fernsehprogramms ergibt, werden aufgerufen und zugleich aber nicht bedient, so dass in dieser Figur der Zitation das Radio- oder mp3-Player-Hören als kulturelle Hörpraktiken ausgestellt und hervorgehoben werden. Beide Aspekte – das vereinzelt, doch kollektive Hören sowie das abgekapselte Hören im öffentlichen Raum eines von vielen Menschen frequentierten Einkaufszentrums – sind relevant, wenn es um die in The First International of Shopping Malls meines Erachtens wesentliche Auseinandersetzung mit den Dimensionen des Gehorchens oder Verweigerns geht. Denn das Bewusstsein um das anwesende und sich gegenseitig beobachtende Kollektiv kann als Anregung, Schutzraum, Provokation, Druck oder gar Zwang der Gruppe empfunden werden, sich adäquat zu verhalten. In Bezug auf die Angemessenheit können Teilnehmende in einen Konflikt geraten, denn die von den Performer*innen geforderten Bewegungen und Verhaltensweisen können beizeiten auch in einem Gegensatz zum konventionell an diesem Ort angemessenen Verhalten stehen. Die verschiedenen im Verlauf des Ereignisses an die Teilnehmenden gerichteten Aufforderungen, sich gegenseitig, aber unauffällig, z. B. durch das Berühren der Haare, durch einen langsameren Gang oder ein Kratzen der Nase, zu erkennen zu geben, werfen in diesem Sinne Fragen nach dem Befolgen dieser detaillierten Ansagen auf. Torsten Michaelsen und Ole Frahm von LIGNA heben das Loslassen von Konventionen als Frei- und Spielraum der Teilnehmenden explizit hervor: »Wir betonen, dass die Choreografie Vorschläge macht. [...] Der Spaß entsteht sicher auf Grund der kollektiven Abweichung von der Normalität im kontrollierten Raum. Die Choreografie übt ja Gesten ein, die von der Norm abweichen und deshalb nicht völlig normiert werden können, wie z.B. selbstvergessenes Tanzen: Da spielen wir ein Lied ein und jede/r findet genau seinen eigenen Ausdruck.«119

119

Ole Frahm im Interview mit Nicole Vrenegor in »Kollektive Zerstreuung. LIGNA experimentiert mit Formen der politischen Intervention«, analyse + kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 475 vom 15.08.2003. Vgl. auch Torsten Michaelsen in ebd.: »Der entscheidende Unterschied ist, dass wir, die Initiatoren des Radioballetts, die Ausführung der Gesten nicht kontrollieren. [...] Demgegenüber gehört zum

172         

Dass das Tanzen vor den Augen von anderen Personen im hellen Tageslicht nicht für jede*n Beteiligten eine einfach und zudem noch ›selbstvergessen‹ ausführbare Sache darstellt, scheint durch den Verweis auf diejenigen, die vor allem Spaß an den Aktionen haben, in diesem Kontext nicht von Bedeutung zu sein. Doch meines Erachtens werden darin Prozesse der Verunsicherung, Nervosität und Aufregung aktiviert, die grundlegend mit bestimmten Aufmerksamkeitsdynamiken von Wachsamkeit zusammenhängen und sich auf die eigene Leiblichkeit, aber auch die Körper der anderen im Einkaufszentrum anwesenden Personen beziehen. Matthias Warstat präzisiert den Zusammenhang: »Nervosität resultiert hier aus einer Erfahrung des Gesehenwerdens oder aus einem Sehen, das mit dem eigenen Gesehenwerden jederzeit rechnen muss.«120 Aus dieser Erfahrung des tatsächlichen oder potentiellen Auffällig-Werdens resultieren, so Mirjam Schaub in Auseinandersetzung mit der Klanginstallation Feedback von Janet Cardiff und George Bures Miller, Prozesse der Entblößung im Sinne der Manifestation des Charakters der entsprechenden Personen, die z. B. entweder mitmachen, eingreifen, hervortreten oder sich im Hintergrund halten können und sich damit als »Beugsame und Unbeugsame, Schamvolle und Hemmungslose, Blinde und Taube, Entschlossene und Unentschiedene« 121 zeigen oder inszenieren können. Ebenso tritt auch ein mit der Gegenwartskultur assoziierter Gedanke in Erscheinung, nach dem Leistung, Engagement und gewagtes Risiko hochgeschätzte Werte sind. Warstat weist in diesem Sinne mit Bezug auf Jon McKenzies Theorie der Performance-Gesellschaft darauf hin, dass im Theater eine Reflexion auf bestimmte gesellschaftliche Normen, Ideale und Werte stattfinden kann, indem die leistungsfordernden Verhältnisse beispielsweise wiederholt und den Teilnehmenden angeboten werden, so dass diese – durch den Rahmen des Theaters verfremdet – hinterfragt werden können.122 Dabei wird der – kritisch gemeinte, aber nicht immer kritisch wirkende – Bezug zum kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem in LIGNAs The First International of Shopping Malls nicht allein darin deutlich, dass das situative Setting in einem der neuesten und größten Einkaufszentren Berlins gewählt, dass die Aufmerksamkeit auf die ausgestellten Waren bzw. die Art der Präsentation des Angebots oder dass Interaktionen mit den Verkäufer*innen gefordert werden, sondern insbesondere da-

Radioballett, dass nicht kontrolliert wird, wie die Vorschläge, die über das Radio gegeben werden, durchgeführt werden.« 120

Matthias Warstat: »Vom Lampenfieber des Zuschauers. Nervosität als Wahrnehmungserlebnis im Theater«, in: Erika Fischer-Lichte/Barbara Gronau/Sabine Schouten/Christel Weiler (Hg.), Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin 2006, S. 86-97, hier S. 87.

121

Vgl. Schaub 2007, S. 289.

122

Vgl. ebd., S. 92 und 96.

               173 

rin, dass den Teilnehmenden durch die Anlage der Veranstaltung das Gefühl vermittelt wird, um all das ausschöpfen zu können, was diese Veranstaltung an Erlebnis zu versprechen scheint, sei es notwendig, den über die Kopfhörer gehörten Aufforderungen nachzukommen und die erwünschten Handlungen zu vollziehen. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit immersivem Theater hebt Adam Alston den Bezug zu neoliberalen Denkweisen und Strukturen hervor, in deren Rahmen sich die Zuschauenden bestimmten Risiken, Herausforderungen und Wagnissen stellen müssen und dabei zu unternehmerisch denkenden Teilnehmenden der Aufführung werden.123 Im Zuhören stellt sich dabei die Frage, bis zu welcher Grenze die Teilnahme mitgemacht und wann dem ein Ende gesetzt wird. Diese Frage stellt sich jede*r Teilnehmende individuell. Wenn über die Kopfhörer eine Stimme darum bittet, eine oder einen der Passant*innen nachzuahmen, laut einen bestimmten Satz auszusprechen, dann gehen diese Vorgaben über das hinaus, was mit einem demgegenüber noch recht unauffälligen Gähnen oder Kratzen der Nase gefordert wird. Gehorchen ist keine Qualität des Zuhörvorgangs selbst, sondern eine auf ihn folgende Handlung, doch sind bereits vorausweisende Aspekte im Gehörten durch die Imperativform und einen bestimmten Tonfall des Gesagten sowie im Zuhören als einer bereits auf diese Dimensionen reagierenden Antizipation und Reflexion des Gemeinten enthalten. In The First International of Shopping Malls erklingen die weiblichen und männlichen Stimmen über die Kopfhörer in einem ruhigen, freundlichen und nicht befehlsartigen Tonfall. Doch die ebenfalls von diesen Sprechenden vermittelte Deutung der Aktion als Widerstand gegen gesellschaftliche Verhaltensnormierung und Zwangskommerzialisierung legt es nahe, den Aufforderungen Folge zu leisten. Der Appell vollzieht sich somit durch ein komplexes Zusammenspiel der vom Tonfall und Inhalt fast entgegengesetzten stimmlichen und sprachlichen Ebenen. Wenn, wie zuvor ausgeführt wurde, Zuhören ein Prozess ist, dem die Gerichtetheit auf das Zukünftige, zu Erwartende inhäriert, dann stellt in diesem Fall die Imagination der angewiesenen Handlungen, Bewegungsmuster und Interaktionen einen wesentlichen Bestandteil dieser antizipativen Dimension des Zuhörens dar. Zuhören unterscheidet sich vom Hören in der Konstellation auditiver Aufmerksamkeit, da ihr Zentrum auf die Sprechenden und das Gesagte verengt ist und bei diesem hohen Grad an Konzentriertheit die anderen Dimensionen des Hörens, z. B. die Umgebungsgeräusche, weitgehend ausgeblendet sind. In diesem Kontext verdeutlicht die auditive Erfahrung in The First International of Shopping Malls die in der Relation zu den Sprechenden jeweils gegebene Abhängigkeit oder Autonomie der Zuhörenden. Ein solches Zuhören beruht auf einer spezifischen Dynamik der audi-

123

Vgl. Alston: »Audience Participation and Neoliberal Value« (2013), S. 134.

174         

tiven Aufmerksamkeit, in der die Hinwendung auf die Sprechenden verstärkt wird, da sich in der Beziehung der Zuhörenden zu den Sprechenden die Notwendigkeit des Befolgens oder die Freiheit der Verweigerung der vernommenen Instruktionen begründet. Im spezifischen Bezug, der zwischen Sprechenden und Zuhörenden besteht oder z. B. im Verlauf einer Aufführung auch erst entsteht, findet sich die Motivation, aus der heraus dem Gehörten Folge geleistet wird oder auch nicht – bzw. aus der heraus diese Zusammenhänge im ästhetischen Kontext als Fragen bewusst werden können. Von welcher Autoritätsposition aus wird zu den Zuhörenden gesprochen? Inwieweit will und muss ich mich darauf einlassen, wenn ich das in gewissem Sinne durch die Gruppe LIGNA angebotene Erlebnis einer performativen, kollektiven Intervention im öffentlichen Raum nicht missen will? Im Gehorchen wird der Abstand zwischen Zuhörenden und Gehörtem gering, da die gehörte Aufforderung in den Zuhörenden sowohl zu bestimmten Bewegungen als auch spezifischen Überlegungen führt und diese ein- und übernimmt. Das von den Instruktionen Angewiesene wird im Ausgeführt-Werden durch meine Bewegungen, mein Sprechen, mein Interagieren mit anderen Personen und meine Gedanken zu meiner Realität. Im Gehorchen entsteht das solcherart Realisierte aus der in der zuvor gehörten Anweisung bereits angelegten und antizipierten Zukunftserwartung, die analog zum Geforderten hervorgebracht und geprägt wird. In der Befolgung der Instruktion, langsamer und schließlich extrem langsam zu gehen, manifestiert sich gegenüber dem Verhalten der anderen Anwesenden, die zumeist in schnellem Schritt von einem Laden zum nächsten eilen, eine Abweichung und ein Ausscheren aus gewohnten und erwarteten Bewegungs- und Handlungsweisen. In diesem Sinne vollzieht die Verlangsamung der Gruppe eine Dissidenz vom für diesen Ort üblichen Bewegungsmuster und -tempo, eine Abweichung, die vor allem für die Teilnehmenden selbst erfahrbar, aber teilweise auch von den anderen Anwesenden bemerkt wird. Zu einer Aktion im Hamburger Hauptbahnhof äußert sich Torsten Michaelsen von LIGNA folgendermaßen: »In dieser Choreografie geht es hauptsächlich um Gesten, die in diesem Raum Tabu sind.«124 Auf diese Weise konstituiert The First International of Shopping Malls performativ kritische Distanz zur Umgebung, aus der heraus das beobachtete Geschehen exponiert und analysiert werden kann.125 Patrick Primavesi bringt diesen Prozess in seinem

124 Vgl. Torsten Michaelsen und Ole Frahm von LIGNA im Interview mit Nicole Vrenegor von analyse + kritik in »Kollektive Zerstreuung. LIGNA experimentiert mit Formen der politischen Intervention«, in: analyse + kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 475 vom 15.08.2003. 125 In dieser Hinsicht wird vielen der Arbeiten LIGNAs politisches Potential zugesprochen. Vgl. z. B. »Kollektive Zerstreuung. LIGNA experimentiert mit Formen der politischen

               175 

Vorwort zur Publikation der Skripte von LIGNA folgendermaßen auf den Punkt: »Die Inszenierung der Zerstreuung markiert daher eine Taktik, welche die im ›öffentlichen‹ Raum eingesetzten Strategien von Kontrolle und Manipulation unterlaufen kann.«126 Auf einer anderen Ebene aber – und diese ist hinsichtlich der erfahrbaren Zuhörweise von besonderem Interesse – lässt das bei allen Einzelnen permanent erzeugte Fragen nach den Grenzen des Mitgehens und dem Spielraum, den die Anweisungen in ihrer häufig sehr konkreten Detailliertheit einschränken, eine andere Möglichkeit der Dissidenz erkennbar werden. Die in der Frage ›Wie weit gehe ich mit?‹ angelegte und während des Ereignisses konstant bewusste Entscheidungsfreiheit der Teilnehmenden setzt eine das Zuhören begleitende Reflexion zu verschiedenen Dimensionen des potentiellen Verhaltens in Gang – Verweigerungsweisen, Erwartungshaltungen, Konventionen, Freiräume, der Spaß an der Komplizenschaft und der Schutz, den eine Gruppe bieten, aber gleichzeitig auch der Druck, der durch Gruppenzwang ausgelöst werden kann, die mögliche Gefahr der Auslieferung und Peinlichkeit, das Vergnügen der Unerkanntheit und Grenzüberschreitung etc. Diese Aspekte hängen wesentlich mit dem Thema von Gehorsam und Dissidenz zusammen und verdeutlichen eine Dimension der auditiven Wahrnehmung, die im Zuhören im Sinne des Verbs Gehorchen immer schon angelegt ist.127 Ein in diesem thematischen Kontext von Überwachung, Kontrolle, Gehorsam, Überschreitung von Grenzen durch Verweigerung, Abweichung, Veränderung wichtiger Aspekt ist der die Verhältnisse umkehrende Modus des geheimen Mithörens. Das Verhältnis der Zuhörenden zu den Sprechenden ist dabei eine unerklärte, unoffensichtliche, aber ebenfalls von Macht- und Gewaltprozessen durchsetzte Bezugnahme, die sich im Abhören, Mithören oder Belauschen manifestiert. Im Kontext des Theaters kann das Publikum dabei sowohl zu Abgehörten als auch zu Abhörenden werden.

Intervention«, in: analyse + kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 475 vom 15.08.2003. 126

Vgl. Patrick Primavesi: »LIGNA. Freies Radio und öffentlicher Raum«, in: LIGNA. An Alle! Radio, Theater, Stadt (2011), S. 7-16, hier S. 13.

127

Vgl. den Blog-Eintrag von Marcos Dias unter http://marcosdias.wordpress.com/2012/ 07/31/experiencing-ciudades-paralelas-part-3/ vom 31.07.2012, letzter Zugriff am 30. Mai 2014: »I found myself a bit embarrassed to carry out some of the demands. I also noticed the same on other participants. But at the same time, I wasn’t going to simply give up on it, so I went with the flow. [...] I particularly enjoyed the clapping, and the joining and rejoining other participants. They were clearly noticeable against the random trajectories of shoppers. These left both security and passers-by baffled.«

176         

        

        Die zunächst sehr ähnlich wirkenden Zuhörweisen des Mithörens, Belauschens und Abhörens sind bei genauerer Betrachtung als drei verschiedene Modi zu kennzeichnen, deren jeweils spezifische Ausprägung sich durch minimale Verschiebungen innerhalb des Aufmerksamkeitsgefüges ergibt. Sie stehen auch mit unterschiedlichen kulturellen Bewertungen und Zuschreibungen von Funktionen, Bedeutungen und Motivationen in Zusammenhang, welche die jeweils anders gelagerte Aufmerksamkeitsgewichtung bewirken. Der Begriff des Mithörens im Theater umfasst zwei in Nuancen verschiedene Zuhörprozesse: Zum einen entsteht eine Art des Nebenbei-Mithörens dann, wenn Zuhörende sich mehr oder weniger zufällig in räumlicher Nähe zu einer sprechenden Person, z. B. zu anderen Zuschauenden, befinden, so dass sie – entweder intendiert oder nicht, entweder unbemerkt oder nicht – hören können, was gesagt wird. Zum anderen umfasst das Mithören aber auch ein Simultanes-Mithören, das meint, dass bestimmte Laute wie z. B. einzelne Geräusche, die während des Sprechvorgangs erklingen, mitgehört werden.128 Im Büro könnte das möglicherweise die leise, aber kontinuierlich summende und insofern z. T. über-, aber auch mitgehörte Klimaanlage sein, im Theater wären dies beispielsweise die sich während der Aufführung ergebenden Schrittgeräusche der Schauspielenden.129 Während erstere Mithörweise eher ein auf räumlichen Verhältnissen beruhendes und nicht-intentionales, nicht-zentrierendes Registrieren von Lauten in der näheren Umgebung meint, bezeichnet die zweite Mithörweise ein durch die Gleichzeitigkeit des Erklingens begründetes Mitrezipieren eines lautlichen Hintergrunds, der sich dem eigentlich zentrierten Gesprochenen beimischt. Diese Ausprägungen des Mithörens stellen im Grunde keine dem Zuhören angehörenden Hörweisen dar, da sie weder auf intentionaler Hinwendung noch auf intensiver Konzentration oder einem VerstehenWollen basieren. Vielmehr begründen sie sich auf einem lautlichen und auditiv-

128

Eine grundlegende Weise des Mithörens im Theater ist die häufig über Lautsprecher in den Backstage-Bereich des Hauses vermittelte Lautlichkeit der Aufführung, die auf diese Weise von den Schauspieler*innen vernommen und mitverfolgt wird, um den richtigen Zeitpunkt für den weiteren Einsatz, aber auch die jeweils individuelle Stimmung, Energie und Dynamik einer einzelnen Aufführung erfassen und sich darauf einstellen zu können.

129

Es sei denn, das Erklingen der Schritte stellt ein im Rahmen der Aufführung hervorgehobenes, evtl. auch technisch bearbeitetes inszenatorisches Mittel dar. Dann handelt es sich auf Seiten der Wahrnehmenden wohl nicht mehr um einen Modus des zufälligen Mithörens, sondern vielmehr um ein intentional evoziertes Hin- und Zuhören.

               177 

attentional minimal registrierten Hintergrund, von dem sich das Zuhören durch Abwehr- und Ausschlussprozesse absetzt, und sie können in den Modus des Zuhörens übergehen, wenn diese Abwehrprozesse nicht vollständig greifen und Geräusche aus dem Hintergrund plötzlich ins Bewusstsein drängen, auffällig werden und Beachtung auf sich ziehen, was mit einer Umgewichtung der Zentrierung von auditiver Aufmerksamkeit einhergeht. Exemplarisch dafür kann das von Jens Roselt erwähnte Knistern eines überhitzten Scheinwerfers angeführt werden oder auch einzelne laute Huster aus dem Publikum, die aufgrund ihres plötzlichen Erklingens auffällig werden und in der auditiven Wahrnehmung durch Attraktion der Aufmerksamkeit zentriert werden.130 Was am Mithören für die Auseinandersetzung mit dem Zuhören relevant ist, sind somit diejenigen Faktoren und Prozesse, die sich im und als Moduswechsel ereignen. Bislang ist aber sowohl in der Philosophie wie auch in der Wahrnehmungspsychologie und Aufmerksamkeitstheorie weitgehend ungeklärt, wie es genau zu solchen Prozessen kommt bzw. aus welchen einzelnen Komponenten diese bestehen. Während der Begriff des Mithörens somit eher auf Formen des versehentlichen oder des neben einer anderen, eigentlichen Tätigkeit geschehenden Hörens zu beziehen ist, beruhen die Zuhörweisen des Belauschens und Abhörens demgegenüber auf einer besonders intensiven Zentrierung des Gehörten und auf der Intentionalität der Belauschenden und Abhörenden. Eine weitere Voraussetzung ist, dass diese Zuhörweisen ohne das Wissen der Sprechenden ablaufen, indem die Belauschenden oder Abhörenden von ihnen entweder nicht bemerkt werden oder nicht wahrgenommen werden können, es also entweder durch eine Lenkung der Aufmerksamkeit der Sprechenden auf etwas anderes oder durch räumliche Distanz und Abwesenheit verhindert wird, dass diese Hörvorgänge erkannt werden. Im Belauschen und Abhören zeigen sich demnach intendierte Zuhörweisen, die darauf abzielen, das Gesprochene aus dem Verborgenen heraus zu registrieren und anhand eines vorgängig existenten Normenkatalogs oder Wertmaßstabs zu beurteilen. Diese findet sich beim Abhören noch einmal verschärft, insofern es häufig in einem politischen Kontext zu verorten ist, zumeist unter Verwendung aktueller Audiotechnologie durchgeführt wird und der Sicherung eines politischen Systems dient.131 Insbe-

130

Vgl. Roselt 2008, S. 159.

131

In Deutschland ist 1998 ein Gesetz zur ›akustischen Wohnraumüberwachung‹ eingebracht und für gültig erklärt worden, das nach einer Modifizierung im Jahre 2005 als ›Großer Lauschangriff‹ bezeichnet und kritisiert worden ist, insofern danach die Abhörung privater Wohnräume durch die Polizei im Einverständnis mit der Staatsanwaltschaft und der Staatsschutzkammer, bzw. bei ›Gefahr im Verzuge‹ auch der oder des Vorsitzenden der Staatsschutzkammer, möglich ist. Informationen zur Gesetzreformulierung seit 2005 sind auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts unter

178         

sondere das Abhören ist somit ein zweckgebundenes, funktionales Zuhören, das in seinem Vollzug immer schon auf einen umfassenderen Kontext und darin verhandelte Bedeutungen und Bewertungen verweist. Bezüglich der entsprechenden Aufmerksamkeitsdynamiken ist bei diesen Zuhörweisen von einer Ausrichtung auf die Sprechenden und vor allem auf das Gesprochene auszugehen, wobei über die Bedeutung des Gehörten hinaus noch die wertende Dimension zu berücksichtigen ist, die während des gesamten Zuhörvorgangs aktiviert bleibt. Im Belauschen muss Sorge dafür getragen werden, nicht entdeckt zu werden, so dass eine in alle Richtungen orientierte, offene Wachsamkeit eine weitere Komponente dieser Zuhörweise ausmacht, während im Vergleich dazu das Abhören aufgrund der meist hierzu verwendeten Technologie aus einer geschützteren Position heraus erfolgen kann, indem es über Wanzen, Mikrofone oder Telefone erfolgt, und dadurch weniger Wachsamkeit als vielmehr Zielorientierung eine wesentliche Qualität dieser Zuhörweise darstellt. Denn im Abhören vielleicht noch stärker als im Belauschen findet der Abgleich des Gehörten mit einem präexistenten Wertekatalog, der innerhalb eines politischen oder ökonomischen Makro- oder Mikro-Systems, z. B. eines bestimmten Staates oder eines Unternehmens, existiert, entlang bestimmter Schlagworte statt, die entweder gesagt/gehört werden oder auch gerade nicht. Die Abhörenden sind darauf aus, im Gesagten nicht die Bedeutung des Gesprochenen verstehend zu hören, sondern auf einer Ebene darüber – oder darunter – in den gesprochenen Codeworten, Geheimsprachen oder in den Lücken des Nicht-Gesagten eine vermittelte Botschaft zu entdecken und zu entschlüsseln. Im Belauschen und Abhören manifestieren sich somit Aufmerksamkeitsgefüge, deren Zentrum nicht auf dem Gesagten, sondern auf dem ›Dahinter‹-Verborgenen oder ›Darin‹-Verschlüsselten liegt, also aus einer Entschlüsselung zweiten Grades besteht, und die folglich ein virtuelles Zentrum besitzt. Denn im Zentrum dieser Zuhörweisen kann zunächst nichts oder nur Spekulatives sein, insofern zumeist nicht gewusst wird, was am Gehörten bedeutsam ist und was nicht, bzw. worauf konkret aufzumerken ist. Das Zentrum der Aufmerksamkeit ist somit paradoxerweise auf Absentes gerichtet. Indem noch einmal auf die anfangs erwähnte Bestimmung des Zuhörens als antizipierender und decodierender Wahrnehmungsmodus zurückgegriffen wird, lässt sich das Abhören als eine Verstärkung dieser Aspekte auffassen. Dabei sind beim Abhö-

http:// www.bverfg.de/entscheidungen/rs20040303_1bvr237898.html zu finden. Letzter Zugriff am 12.06.2014. Unter der Bezeichnung der ›NSA-Affäre‹ ist 2013 durch Edward Snowden bekannt geworden, dass der US-amerikanische Geheimdienst NSA Kommunikationswege in Deutschland auf breiter Ebene abgehört und auch Handys der Bundeskanzlerin Angela Merkel und anderer Regierungsangehöriger überwacht hat. Vgl. z. B. dazu die Berichterstattung auf ZEIT Online unter http://www.zeit.de/themen/ politik/nsa-abhoerskandal/, letzter Zugriff am 12.06.2014.

               179 

ren primär die deutenden, entschlüsselnden, interpretierenden und weniger die zukunftsgewandten Aspekte intensiviert. Sämtliche anderen Dimensionen der auditiven Wahrnehmung sind im Grad ihrer Bewusstheit reduziert und vor allem die Randbereiche der eigenen Leiblichkeit der Abhörenden, ihre Wahrnehmungssituation und das Vergehen von Zeit sind gegenüber dem Gehörten und dem dabei Gesagten/Nicht-Gesagten von nur geringer Bedeutung. Im Kontext des Theaters lassen sich im Belauschen und Abhören grundlegende Qualitäten der auditiven Rezeption aufzeigen.132 So fragt Peter Szendy, ob nicht alles Hören und in besonderem Maße das Hören von Musik-, Opern- und Theateraufführungen einem Abhören gleicht.133 Denn hierbei aktiviere sich ein ästhetischer Wertemaßstab, der nicht allein zur Bewertung des Gehörten, sondern vor allem in der Beurteilung eines ›korrekten‹ Zuhörens verwendet werde. Diesen Wertemaßstab verortet Szendy in den nach wie vor wirksamen Auffassungen eines ›Werks‹ und eines kreativ aus sich heraus schaffenden ›Genies‹, was zur Konstruktion einer optimalen und angemessenen Zuhörweise beitrage.134 Indem das Hören als Abhören aufgefasst wird, weist Szendy auf die Verfasstheit der auditiven Rezeption im Theater hin: die in den Strukturen der Kunst angelegte idealisierte Hörweise wird im Abhören evoziert und schlägt sich als mitgehörte und sozusagen ›belauschte‹, ›abgehörte‹ Spur im aktuellen Hörvorgang nieder.135 Es handelt sich nicht einfach nur um ein Mithören, sondern eher um ein Belauschen und Abhören, insofern sich die kritisch-wertende, abgleichend prüfende Dimension jener idealisierten Hörweisen immer in die eigene ästhetische Rezeption einschreibt. Indem Szendy das Musik-Hören solcherart als immer in sich zweigeteilt und dissonant bestimmt, ist diesem die Annahme eines entsprechenden Aufmerksamkeitsgefüges zuzuweisen, bei dem die auditive Aufmerksamkeit auf zwei voneinander verschiedene Zentren gerichtet ist. Ein wesentlicher Prozess des Merkens stellt im Verlauf des Musik-Hörens dann das stete Abgleichen zwischen diesen beiden nicht notwendigerweise sofort harmonisierenden Zentren dar. Die Zuhörenden haben das kulturell geprägte Ideal als ein ihr eigenes Hören kontrollierendes und überwachendes Normativ verinnerlicht, was Szendy unter Bezug auf das von Foucault aufgegriffene Panopticon-Konzept von Jeremy Bentham als eine das Hö-

132

Die Theaterrezeption wird von manchen Theaterwissenschaftler*innen auch grundsätzlich als Belauschen und Abhören aufgefasst, so beispielsweise in Amy StrahlerHolzapfel: »Auditory Traces: The Medium of the Telephone in Ariana Reine’s Telephone and Sarah Ruhl’s Dead Man’s Cell Phone«, in: Contemporary Theatre Review 21 (2) 2011, S. 112-125, hier S. 113.

133

Vgl. Szendy 2007, S. 18.

134

Vgl. Kapitel IV.2 Strukturelles Hören und plastische Hörzeiträume.

135

Vgl. Szendy 2007, S. 30.

180         

ren immer begleitende Selbstüberwachung markiert.136 Die auditive Rezeption von Aufführungen vollzieht sich somit in zwei parallel verlaufenden Prozessen und ist der steten Überprüfung ihrer Äquivalenz ausgesetzt. In Janet Cardiffs partizipatorischer Klanginstallation Telephone/Time werden die Teilnehmenden zu Abhörenden, die einem Gespräch lauschen, ohne selbst bemerkt zu werden. Sie sind zunächst mit einem funktionalen Bürosetting im schnörkellosen Design der 1960er Jahre konfrontiert, das aus einem Schreibtisch, einem Stuhl, einer Tischlampe und einem Telefon auf einem Schwenkhalter zusammengesetzt ist.137 Heben sie den Hörer des Telefons ab, so können sie ein laufendes Gespräch einer weiblich und einer männlich klingenden Person hören, dessen Inhalt sich zunächst nicht sofort erschließt. Doch sofort erkennbar wird, dass es sich um einen Dialog handelt, und zwar um einen, in dem offenbar eine bestimmte Frage geklärt werden soll – denn eine der Personen, die männlich klingende, erklärt bestimmte Zusammenhänge, während von der anderen Seite häufig ein zustimmendes »Ah« oder »Right« zu vernehmen ist. Die Klangqualitäten ihrer Stimme – Janet Cardiffs Stimme – sind hier als solche zu beschreiben, die auf ein mit- und nachvollziehendes Verstehen hinweisen, indem sie suchend, fragend klingt und die Sprechgeschwindigkeit langsam und stockend ist. Ihre Stimme ist leise und wirkt weniger fest. Sie artikuliert oft gezielte Nachfragen oder kürzere, zusammenfassende Kommentare. Die männliche Stimme wirkt demgegenüber stabil, insofern die Tonhöhe kaum variiert, das Tempo fast durchgängig gleich langsam bleibt und der Fluss des Sprechens nicht durch auffälliges Innehalten unterbrochen wird.138 Sein Tonfall ist als erklärend zu beschreiben, insofern die Tonhöhe der Stimme am Ende der Sätze nicht erhöht wird, sondern der Prozess des Konstatierens, Bekräftigens und Abschließens durch eine absteigende Tonhöhe manifestiert wird. Für die am

136

Vgl. ebd., S. 60.

137

Vgl. die Informationen der Künstlerin zu Telephone/Time (2004) unter http://www. cardiffmiller.com/artworks/smaller_works/telephone.html, letzter Zugriff am 18.06. 2014. Alle Installationen der Telephone Series beziehen sich auf telefonische Kommunikation, z. B. Dreams, bei der verschiedene Telefone auf einzelnen Wandregalen stehen, über die Cardiffs Stimme beim Nacherzählen diverser Träume zu vernehmen ist, doch ist der Modus des Abhörens stärker in Telephone/Time erfahrbar, da dort ein Gespräch zweier Personen miteinander zu belauschen ist, was die Mithörenden als Adressat*innen auszuschließen scheint. Vgl. zu Dreams – Telephone Series (20082010) online unter www.cardiffmiller.com/artworks/smaller_works/dreams_telephone _series.html, letzter Zugriff am 18.06.2014.

138

Während Janet Cardiff in den Beschreibungen dieser Installation explizit als Sprecherin benannt wird, ist die männliche Stimme nur durch den Ausdruck ›the scientist‹ näher beschrieben und wird an keiner Stelle namentlich genannt.

               181 

Hörer Lauschenden stellt sich die Situation so dar, als wären sie zufällig und eher versehentlich einer anderen Leitung zugeschaltet worden, über die das vernehmbare Gespräch abhörbar wird. Weder von den Sprechenden bemerkt, noch am weiteren Belauschen gehindert, lässt sich dieses Zuhören als eine der voyeuristischen Erfahrung ähnliche Wahrnehmungshaltung des Abhörens bestimmen, die zugleich aber durch die Orientierungslosigkeit der Zuhörenden unterlaufen wird. 139 Die Belauschenden sind weniger in Kontrolle, als dies bei einem gewöhnlichen Abhörvorgang vorauszusetzen ist, da sie nicht wissen, worauf sie hören sollten oder wollen; vielmehr horchen und lauschen sie in das laufende Gespräch hinein, greifen Satzfetzen, einzelne Worte – »gravity«, »time« – und nach und nach auch thematische Zusammenhänge auf, was erst langsam ein Verständnis dessen, worum es hier eigentlich geht, ermöglicht.140 Anders und vom herkömmlichen Verständnis des Abhörens und der ihm eigenen Strukturen der Bewusstheit und Geheimhaltung abweichend gestaltet sich die Erfahrung in bzw. an Interrobangs ThAEtrofon. Diese performative Installation wird im Folgenden beschrieben und analysiert, da hier durch eine Verlagerung im Verhältnis des Abhörens und Abgehört-Werdens komplexe Wahrnehmungsprozesse in Gang gesetzt werden, denen es im Detail nachzuspüren lohnt, um die auditiven Dimensionen des Mithörens, Abhörens und Belauscht-Werdens in ihrer Verschränkung und ihre Verhandlung im Kontext des Gegenwartstheaters aufzuweisen. Im Foyer der SOPHIENSÆLE hängt für neun Tage ein Telefon an der Wand, links und rechts ein roter Samtvorhang, der aufgrund seiner Präsenz und Rahmung des Apparats schon darauf hinweist, dass sich an diesem Ort eine Art Mini-Bühne

139

Vgl. Barbara Sansone: »Cardiff/Miller. Suggestive Power of Sound«, in: Digimag 23/2007, online unter www.digicult.it/digimag/issue-023/cardiff-miller-suggestivepower-of-sound/, letzter Zugriff am 18.06.2014: »You will ineluctably feel guilty as voyeur, but it’s worth: the discussed subject is extremely interesting and concerns each of us. They are indeed speaking about perception of time and subjective concept of time.«

140

Das Verständnis wird auch dadurch erleichtert, dass sich nach einiger Zeit des Zuhörens die Erkenntnis einstellt, dass es sich um einen Loop handelt, bei dem die gleichen Äußerungen nach einiger Zeit wiederholt werden, so dass gezielt auf die Bedeutung des Verhandelten gelauscht werden kann. Zugleich findet damit eine Ausstellung und Bewusstmachung des reproduzierten und künstlichen Charakters des Vernommenen statt, das sich im Abhörvorgang nicht als Live-Situation, sondern eher als Zeitreise in die Vergangenheit und als Erfahrung von ambivalenter Zeugenschaft eines ›So-Gewesenen‹ – im Sinne des Begriffs ›a existé‹ von Roland Barthes in Bezug auf die Wahrnehmung von Fotografien – zu erfahren gibt. Vgl. Roland Barthes: La Chambre claire. Note sur la photografie. Paris 1980.

182         

versteckt. Auf dem länglichen Apparat ist ein Schild befestigt, auf dem ›ThAEtrofon‹ zu lesen ist. Das Gerät klingelt und jemand hebt ab. Zunächst erklingt eine weibliche Stimme, welche den Hintergrund dieses Apparats erläutert und schließlich eine Frage stellt, dann Stille. Es folgen 45 Sekunden Zeit für die Person am Telefonhörer, sich eine Antwort zu überlegen und zu äußern. In ihrem Projekt ThAEtrofon markiert die Gruppe Interrobang, bestehend aus Till Müller-Klug und Nina Tecklenburg, den zitathaften, aber differierenden Bezug auf das historische Theatrophon nicht nur über die Buchstabenvertauschung im Titel, sondern auch durch die Umkehrung der Verhältnisse in der Art seiner Benutzung, da die Sprechenden- und Zuhörendenrollen hier verändert wurden.141 Anstatt dass über dieses Theatertelefon, das an das Theatrophon aus dem 19. Jahrhundert erinnert, eine räumlich entfernte, zu diesem Zeitpunkt stattfindende Aufführung mitgehört wird, sind die Zuhörenden mit einem Positionswechsel konfrontiert – denn nach einer kurzen Ansage wird ihnen das Sprechen überlassen, ja, es wird sogar durch Fragen zur Zukunft des Theaters eingefordert. Auf diese Weise setzt sich die Arbeit u. a. mit der klassischen Theaterrezeption als normiertes, idealisiertes und nach einem Maßstab des Ge- oder Misslingens bewertetes verstehendes Zuhören auseinander, das hier auf zwei Weisen modifiziert wird. Zum einen hören die Teilnehmenden an dem Hörapparat nicht, sondern sie sprechen hinein und werden damit in Übernahme der Position der Sprechenden zu den eigentlich das Geschehen Gestaltenden, zu denjenigen, die den Wertmaßstab setzen und ihre eigenen Ideale formulieren und konstruieren können. Zum anderen verschiebt sich das Zuhören von den Teilnehmenden auf die – für diese nicht sichtbaren – Performer*innen, die dann zu Zuhörenden werden. Dabei ereignet sich das Mithören als zeitversetzte Suspension, nicht als simultaner Mitvollzug wie beim historischen Theatrophon von 1881.142 Mit der Veränderung der Positionen des Sprechens und des Hörens gegenüber dem historischen Theatrophon verändert sich auch die damit verbundene Machtdynamik, insofern es zwar die sprechenden Teilnehmenden sind, die nun die Situation gestalten können, doch es den anonym und nicht sichtbaren Hörenden, also den Künstler*innen, überlassen bleibt, die Aussagen auszuwerten und dement-

141

Vgl. Informationen zum Projekt ThAEtrofon von Interrobang unter www.interrobangperformance.com/projekte/das-ThAEtrofon/#content, Zugriff am 11.06. 2014.

142

Vgl. zum historischen Theatrophon in Melissa Van Drie: »Hearing through the théâtrophone: Sonically constructed spaces and embodied listening in the late nineteenthcentury French theatre«, in: Soundeffects. An Interdisciplinary Journal of Sound and Sound Experience 5 (1) 2015, S. 74-90; Giusi Pisano: »The Théâtrophone, an Anachronistic Hybrid Experiment or One of the First Immobile Traveler Devices?«, in: André Gaudreault/ Nicolas Dulac (Hg.), A Companion to Early Cinema, New York 2012, S. 80-98.

               183 

sprechend zu gewichten. Anders als beim historischen Theatrophon, bei dem die Zuhörenden für einige Minuten unsichtbare, wenn nicht gar geheime Mithörende des jeweiligen Aufführungsereignisses, bzw. genauer gesagt der von der Bühne und dem Publikum gemeinsam erzeugten Lautlichkeit, werden, ist es beim ThAEtrofon nun Schweigen und das Format eines Aufzeichnungsmediums, das die Sprechenden anregt und organisiert, während die Rezeption des Gesagten erst zu einem späteren Zeitpunkt mit dem Abhören der Speichermedien vollzogen wird. Das ThAEtrofon von Interrobang spielt auf diese Weise mit historischen und gegenwärtigen Kulturtechniken der Medienverwendung und Kommunikation. Das Telefon wird zitiert, doch auf ungewöhnliche Weise eingesetzt, insofern keine diesem Apparat zumeist zuzuschreibende dialogische Struktur und gegenseitiges Live-Sprechen und -Hören zu erleben ist.143 Vielmehr greift die Arbeit eine Verwendungsweise des Mediums auf, die an Callcenter mit ihren Wählmenü-Systemen und Automatenstimmen erinnert, indem die Teilnehmenden anfangs dazu aufgefordert werden, die Taste ›1‹ zu wählen und die Ansage sich dann auf die getroffene ›Auswahl‹ der ›Anrufenden‹ bezieht, als wäre dies eine tatsächlich freie Entscheidung zwischen verschiedenen Wahlmöglichkeiten gewesen. Auch bezüglich der verhandelten Inhalte zum Theater der Gegenwart sowie der Zukunft, bei denen Raum für Kritik, Beschwerden, Missfallen ebenso wie für Visionen, Ideen und Verbesserungsvorschläge gegeben wird, erinnert das Format an Störungshotlines, bei denen die Anrufenden Fehlfunktionen melden und auf das ›Band‹ sprechen können. So werden die Teilnehmenden zum Sprechen gebracht, indem die Stimme am anderen Ende der Leitung nach einer Frage verstummt und in der dann folgenden erwartungsvollen Stille die Dringlichkeit der Aufforderung, sich einzubringen, Ideen zu haben und diese auch gut zu formulieren, spürbar wird. Bei der Analyse der Antworten, die von Interrobang für ihre Arbeit Thaetermaschine dokumentiert und im Internet zugänglich gemacht wurden, interessieren im vorliegenden Zusammenhang weniger die Inhalte der gegebenen Antworten, als vielmehr die sich beim Beantworten zeigenden Dimensionen dieser Interaktionen, in denen die Teilnehmenden zu Produzierenden werden. Die Wirksamkeit der auditiven Aufmerksamkeit manifestiert sich am ehesten in den Momenten, in denen die Partizipation entweder gestört ist oder in denen in eher beiläufigen Kommentaren und in impliziten Formulierungen des teilnehmenden Publikums die Herausforderung, dieser Installation zu begegnen, aufscheint. Zumeist begegnen die Teilnehmenden diesem Möglichkeitsraum durch entsprechende Antworten und Vorschläge, doch in manchen Fällen unterlaufen und durchkreuzen sie diese Struktur auch, indem sie z. B. die Antwort verweigern – oft lautet

143

Vgl. Strahler-Holzapfel: »Auditory Traces: The Medium of the Telephone in Ariana Reine’s Telephone and Sarah Ruhl’s Dead Man’s Cell Phone« (2011), S. 115.

184         

ihre Antwort dann einfach: »Nein!«144. Auch ist an vielen der verschiedenen Antworten zu erkennen, dass die Situation für manche der Teilnehmenden in der plötzlich gegebenen Möglichkeit, die eigenen kritischen Anmerkungen und Wünsche für ein ideales Theater zu äußern, als Überforderung empfunden wird. Zwar zeigen einige Äußerungen auch Dankbarkeit darüber, dass der Raum für die Meinungen der Teilnehmenden in dieser Weise geöffnet wird, doch überwiegen Reaktionen, in denen sich eine gewisse Belustigung oder Befremdung über das Sprechen-Sollen offenbart.145 Teilweise zeigt sich hier Verunsicherung, teilweise reagieren die Teilnehmenden mit bündigen Ansagen und Statements, deren Format es offenbar als notwendig erscheinen lässt, das Ende der Aussage explizit zu markieren: »Das war’s schon.«146 Oft wird die Situation einerseits als eine des Dialogs empfunden, obwohl das Gegenüber sich in einer reproduzierten Stimmlichkeit manifestiert, andererseits werden die Probleme dieser imperfekten Kommunikationssituation dann mit leichter Verwunderung artikuliert und fließen in das Gesprochene ein. 147 Im

144

Kommentar Nr. 19: »Welche Inhalte und Formen haben meiner Meinung nach überlebt? Was möchte ich im Theater der Zukunft lieber nicht mehr sehn? Nein! [Auflegen].«, Nr. 30: » [Während der ersten Ansage] Hab ich gar nicht! Die will mir jetzt hier Arbeitsbedingungen und Finanzierungsthemen...«, Nr. 82: »Ungern [...]« (danach folgt dann doch noch eine Antwort auf die Frage), Nr. 91: »Ich will einen Job.« (als einziger

Kommentar

dieser

Person)

unter

http://thaetermaschine.tumblr.com/

ThAEtrofon, letzter Zugriff am 11.06.2014 (bei allen folgenden Bezügen auf diese Website). 145

Vgl. zur Dankbarkeit in Nr. 44: »Oh ja, jetzt bin ich dran, danke schön.« Zur Verunsicherung und Überforderung vgl. Kommentar 20: »Also ähm ich sehe immer äh als Theatergänger äh nur das Endergebnis und kann da leider nicht mitreden.«, Nr. 30: »Was sag ich ihr?«, Nr. 31: »Was sagen wir denn jetzt? [H: ich weiß ja gar nicht, worums geht]«, Nr. 47: »Oh, das ist jetzt aber schwierig.«, Nr. 53: »Oh Gott; 45 Sekunden! [...] Oh Gott, wie weit sind wir denn schon? 25 Sekunden, Ah!«, Nr. 57: »Keine Ahnung. [ähm] Ja, da muss ich erstmal drüber nachdenken. Kann ich jetzt so schnell nicht sagen.«, Nr. 70: »Weiß ich nich«, Nr. 72: »Hmmm…schwierig.«, Nr. 79: »Keene Ahnung.«, Nr. 93: »Mehr fällt mir nicht ein. 45 Sekunden sind ganz schön lang.«, Nr. 103: »[Gestammel] Herrjemine! Keine Ahnung.« unter ebd.

146

Vgl. Kommentar Nr. 17: »Das war’s schon.«, Nr. 22: »[...], das reicht dann auch schon aus. Vielen Dank, Tschüss«, Nr. 25: »Das war’s.«, Nr. 28: »So!«, Nr. 46: »Reicht!«, Nr. 61: »Ach, das war’s.«, Nr. 66: »So!«, Nr. 77: »Ende.«, Nr. 85: »…feddich.«, Nr. 90: »…das war’s…fertig!«, Nr. 92: »…das war’s schon.«, Nr. 93: »Das war’s.« unter ebd.

147

Vgl. zur dialogischen Reaktion in Kommentar Nr. 29: »[es klingelt erneut] Hallo?«, Nr. 30: »Hallo«, Nr. 36: »Hallo? Ich bin fertig. Soll ich jetzt einfach auflagen oder was?« und auch in Nr. 36: »Ja, sorry, ich muss auflegen, tschüß!«, Nr. 40: »[Ansage: Danke]

               185 

Bewusstsein für die problematische Kommunikationssituation, der es an Gegenseitigkeit mangelt, manifestiert sich auditive Aufmerksamkeit als gespalten, indem die mögliche Reaktion vorweggenommen und antizipiert wird – das Zentrum der Aufmerksamkeit ist somit auf Zukünftiges gerichtet, was der Dialog-, aber auch der Wahrnehmungssituation und ihrer Anlage geschuldet ist. Wie die Antworten zeigen, reagieren viele Teilnehmende wie bei einem Telefonat, also in der Erwartung einer irgendwie gearteten Reaktion, obwohl zugleich durch die Form der Installation, d. h. durch die Klanglichkeit der Stimme sowie durch den Inhalt ihrer Ansage, nicht versteckt wird, dass solch eine Reaktion im Moment des ›Telefonats‹ ausbleiben wird und sich wenn, dann erst später ergibt. Daher ist die auditive Aufmerksamkeit gleichzeitig – und sozusagen als zweitem Zentrum – in konstanter Überwachung des Gesagten auf das eigene Sprechen gerichtet. Das Gespräch ähnelt von der Form her eher dem Hinterlassen einer Nachricht auf einem Anrufbeantworter, bei dem das Risiko, das sich aus der Gegenwärtigkeit der Prozesse ergibt, für Sprechende und Hörende ungleich verteilt ist. Während das Gerät alles aufzeichnet, was gesagt wird, und sich dies auch in der sorgfältig dokumentierenden Transkription des Gesagten durch Angabe jedes Füllwortes, jedes einzelnen ›Ähm‹, ›Äh‹, ›Puh‹ oder ›Hm‹, jeden Beiseite-Sprechens, Gemurmels, Innehaltens, Lachens und aller Interaktionen mit anderen Personen zeigt, findet das zuhörende Auswerten und Bearbeiten des Gesprochenen in einem anderen, für die Sprechenden verborgenen und unzugänglichen Raum zu anderer Zeit durch die im Moment der Aufzeichnung nicht körperlich anwesenden Künstler*innen statt. 148

Aber gern!« und auch 40: »Mehr fällt mir jetzt nicht ein. Und Tschüss.«, Nr. 41: »Sind Sie noch dran?«, Nr. 55: »Wie im Phantasialand, wissen Sie?«, Nr. 64: »Ich glaub sie redet nimmer mit mir…ich wollt jetzt grad was sagen.«, Nr. 78: »[Ähh] wie lange hab ich Zeit? Hallo?«, Nr. 89: »Hallo! Hallo!« Vgl. zur Ambivalenz, die sich aus der mit dem Telefon assoziierten dialogischen Reaktion und dem Bewusstsein, es hier nicht mit einer Person, sondern mit einem Aufzeichnungsmedium zu tun zu haben, ergibt in Kommentar 13 spielerisch: »Piep.«, in Nr. 33: »Ja, das weiß ich doch schon alles, du Theatermaschine.«, in Nr. 36 eher als unheimlich empfunden: »[noch während der Ansage]: Die hat voll die Psycho-Stimme…Computer…«, die Ambivalenz durch direkte Anrede, aber zugleich durch das Personalpronomen ›es‹ manifestierend in Nr. 78: »Ich glaub es hat sich aufgehängt.«, ebenfalls das ›es‹ betonend in Nr. 115: »…es redet nicht mehr mit mir…«. 148

Vgl. Kommentar Nr. 30: »[Ähm]«, Nr. 31: »[Während der Ansage] Achso! [Aus dem Hintergrund] Achsoo, ach, sie erklärt grad noch die Welt]«, Nr. 3: »[Husten]«, Nr. 35: »[mürrisches Gemurmel]«, Nr. 36: »[Gebrummel während der Ansage]«, Nr. 5: »[lange Pause]«, Nr. 31: »[betrunkenes Kichern]«, Nr. 45: »[kichern]«, Nr. 44: »[Gespräch mit jemandem vor dem Hörer].«

186         

Das Gefühl, jetzt das Richtige sagen zu müssen und dabei in gewisser Hinsicht unter Beobachtung bzw. Belauschung zu stehen, verdeutlicht sich auch in den Zwischenbemerkungen, die auf die notwendige Erfüllung eines Anspruchs, der im Angesprochen-Werden vollzogen wird, anspielen. 149 In dieser fordernden Situation wird es offenbar als notwendig erachtet, konzentriert und wachsam zu sein – mehrere Teilnehmende äußern sich dazu ex negativo durch das Artikulieren des Bedauerns, die adäquate Aufmerksamkeitshaltung eben gerade nicht gehabt zu haben und daher auch den Anforderungen der Installation nicht genügen zu können.150 Es zeigt sich, dass, auch wenn die Teilnehmenden mit Sprechen beschäftigt sind, die Wahrnehmungssituation – und somit die von Gurwitsch als Randbereiche der Aufmerksamkeitsprozesse bestimmten Dimensionen – zugleich immer bewusst bleibt. Die entsprechende auditiv-attentionale Dynamik manifestiert sich als Wachsamkeit, die sich sowohl auf das eigene Sprechen – als Bestreben, nicht ›das Falsche‹ zu sagen – bezieht, als auch auf die räumliche Umgebung, in der andere Personen anwesend sein können. So erwähnen viele Teilnehmende das Gefühl, von den anderen Anwesenden im Theaterfoyer evtl. belauscht zu werden und sich somit in einer Überwachungssituation zu befinden. 151 Die vom ThAEtrofon hervorgebrachte Aufmerksamkeitsdynamik ist somit keine durch Absorption gekennzeichnete, sondern eine, die in ihrer Ausprägung und Intensität der Wachsamkeit verwandt räumlich weit und für äußere Einflüsse offen bleibt. Auch die eigene leibliche Befindlichkeit wird dabei nach wie vor berücksichtigt, was sich an diversen Nebenbemerkungen der Teilnehmenden manifestiert.152 Die Situation der Installation ist keineswegs diejenige eines Verhörs; vielmehr erinnert sie von ihrer Art her an telefonisch durchgeführte Marktforschungsinterviews. Dennoch weisen einige Kommentare implizit aber auf das scheinbar von den Antwortenden empfundene Gefühl hin, sich in einer Art ›Verhör‹ zu befinden, dem nur durch wachsames Selbst-Belauschen im Sprechen begegnet werden kann. Voll-

149

Nr. 53: »[Während der Ansage] Das ist ein Theatrofon…Nein…Ich soll das machen…das hat mir die Erfinderin gesagt…Hmmm [...].«, Nr. 62: »Dauert kurz…dauert kurz…da muss man was sagen.«, Nr. 112: »Hallo mitmachen!«

150

Kommentar Nr. 28: »Jetzt hab ich nicht aufgepasst…«, Nr. 77: »Ja, jetzt hab ich nicht ganz zugehört, aber…«, Nr. 112: »Oh Gott, jetzt hab ich nicht zugehört und ich muss was sagen. Ich hab leider nicht zugehört und ich habe 45 Sekunden Zeit und jetzt weiß ich nicht, was ich sagen soll. Ich geb das Telefon kurz weiter…« unter ebd.

151

Vgl. Kommentar Nr. 55: »Belauscht du mich?«, Nr. 98: »Ich bin hier am Apparat, bitte schließen Sie den Vorhang!«, Nr. 53: »Oh, ich glaube, mir hören hier Leute zu; egal [Kichern].«

152

Vgl. Kommentar 2: »Oh Mann ey, keine Ahnung jetzt grad. Ich bin total betrunken.«, Nr. 10: »Und mir klebt die Zunge am Gaumen.«, Nr. 28: »Super Zelle hier übrigens!«

               187 

zogen wird somit zunächst ein Modus des verstehenden Zuhörens, bei dem der Stimme der Ansagerin gelauscht wird. Dieser Vorgang modifiziert sich während des Sprechens dann zu einem Sich-Selbst-Belauschen, was vor allem durch das Bewusstsein oder die starke Vermutung des Aufgezeichnet-Werdens hervorgerufen und verstärkt wird.153 Ingeborg Zerbes betont, dass bei der rechtlichen Situation der Kommunikationsüberwachung das sonst gegebene Recht auf Kenntnis der Mitwirkung an einem Prozess der Straftatsaufklärung und das sonst garantierte ›rechtliche Gehör‹, das Betroffenen gegenüber zu garantieren ist, verweigert wird und der Vorgang des Abhörens definitorisch darauf basiert, unbemerkt und geheim vollzogen zu werden.154 Im ThAEtrofon der Gruppe Interrobang liegt eine andere Situation vor, da bei den Teilnehmenden ein Bewusstsein für das Aufgezeichnet-Werden besteht, was sich neben dem möglichen Gefühl, belauscht zu werden, möglicherweise auch in einer positiv besetzten Empfindung, endlich Gehör zu finden, auswirken kann. Hören wird damit als Belauscht-Werden einerseits und als Angehört-Werden andererseits zu einer wesentlichen Dimension des Sprechvorgangs im ThAEtrofon, und beide Formen des Gehört-Werdens sind an eine Aufmerksamkeitsdynamik der Wachsamkeit anzubinden. Als Selbstkontrolle der Sprechenden findet diese auf drei Ebenen statt: erstens als selbstkontrollierend-überwachendes Hinhören auf das Gesprochene, zweitens als antizipierendes Hineinhorchen auf die Stille der Leitung, an deren Ende sich in diesem Moment allerdings keine Person befindet, deren Hinzutreten in den Prozess aber bereits während des Sprechens ein bewusstes Moment dieses Vorgangs darstellt, und drittens als wachsames Horchen auf die räumliche Umgebung und die sich dort aufhaltenden Personen. Das Sprechen im und mit dem ThAEtrofon lässt sich somit als ein in sich dreifach gebrochenes, prekäres SichÄußern auffassen, das permanent von den Sprechenden selbst zu kontrollieren, überwachen, beschützen, ggfs. auch zu modifizieren, abzubrechen oder als Witz darzustellen und damit abzuschwächen ist. Sowohl in der Hinsicht, dass das Gesprochene einer Prüfung unterzogen werden könnte und insofern bestimmten Ansprüchen zu genügen hätte, als auch darin, dass dem Gesprochenen besondere Aufmerksamkeit und Neugier im Rahmen einer Verwertung für ein resultierendes ›Theater der Zukunft‹ zuteil werden könnte, manifestiert sich die Notwendig-

153

Vgl. Kommentar Nr. 28: »Ich trau mich nicht. Ich trau mich nichts zu sagen. Ich trau mich nicht.«, Nr. 29: »Missstände: Geld. [Aus dem Hintergrund: Oh Gott, ich hab Angst]«, Nr. 30: »Das nehmen die alles auf auch. Die nehmen das alles auf und werten das dann aus. [Ähm].«, Nr. 112: »Aber ich hab meinen Namen nicht angegeben und ich möchte den auch nicht nennen.«

154

Vgl. Ingeborg Zerbes: Spitzeln, Spähen, Spionieren. Sprengung strafprozessualer Grenzen durch geheime Zugriffe auf Kommunikation, Wien/New York 2010, S. 108112.

188         

keit, beim Sprechen besonders stark achtzugeben und die Worte sorgsam zu wählen. Der zur Verfügung gestellte Zeitraum ist durch die spezifische Anlage der Installation als ›wichtig‹ markiert – weshalb die Sprechenden in ihren Antworten darum ringen, dem Gesagten ein entsprechendes Gewicht zu geben. Wie zu zeigen war, manifestiert sich diese Wachsamkeit weniger im tatsächlich Gesagten, als vielmehr im Sprechprozess selbst, indem es gerade die Ausrutscher, Nebenbemerkungen und Interaktionen mit anderen Personen, das Stocken und Innehalten sind, die, wie sich aus der Art der Kommentierung ergibt, als Anzeichen von Anspannung, GefordertSein und Bemühen, das Richtige zu tun, deutbar sind. Im plötzlichen Abbruch, im hilflosen Weiterreichen des Hörers, im schamvollen Kichern, im artikulierten Überfordert-Sein zeigen sich die Ränder dieser Wachsamkeit dort, wo sie nicht mehr vollständig einzuhalten und an ihre Grenzen geraten ist. Weit mehr noch, als dies bei der Verwendung des Theatrophons zu vermuten ist, zielt die auditive Aufmerksamkeit der Teilnehmenden im ThAEtrofon auf sich selbst, auf das eigene Gestalten und Erfüllen eines zu füllenden ›Leerraums‹ und des damit einhergehenden Anspruchs. Zwar ist, wie zuvor ausgeführt wurde, auch beim historischen Theatrophon davon auszugehen, dass nicht allein das Gehörte, sondern auch das Ereignis der Medienpräsentation und -nutzung, also die Wahrnehmungssituation insgesamt, in der sich die Zuhörenden auch als Beobachtete erfahren, von Bedeutung war, doch steigert das ThAEtrofon die Intensität dieser Verhältnisse, insofern das Gerichtet-Sein auf Anderes reduziert und die Ermöglichung des Sprechen-Dürfens und Angehört-Werdens zu einem verstärkten Bewusstsein des Potentials der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten und somit auch der gegebenen Wahrnehmungssituation führen kann. Szendys Begriff der abhörenden und verdoppelten Rezeptionsweise von Musik lässt sich mit dem ThAEtrofon einerseits bestätigen, indem sich die auditive Wahrnehmung hier ebenfalls spaltet und in der Wachsamkeit ein Bewusstsein dafür mitschwingt, was idealerweise in solch einer Situation zu sagen wäre – z. B. im Sinne von konstruktiver Kritik, kreativer Ideen oder produktiver Vorschläge – und was sich somit als Ideal und Norm im Vorgang des Sich-Sprechen-Hörens etabliert. Andererseits jedoch lässt sich mit dem ThAEtrofon auch darauf hinweisen, dass sich für die Sprechenden im eröffneten Gestaltungsspielraum eine Zone der möglichen Abweichung von diesem Anspruch ergibt, die, wie die vielen zuvor angeführten Verweise zeigen, mehr oder weniger bewusst genutzt werden. Im abweichenden Sprechen, das nicht nur die Randbereiche auditiver Aufmerksamkeit markiert und zur Erscheinung bringt, verdeutlicht sich darüber hinaus die im Hören gegebene Möglichkeit, anderem, das eher als versehentliches, abweichendes, vielleicht auch störendes Ereignis markiert ist, Raum zu geben und

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einer sich durch strukturell vorgeprägte Hörweisen konstituierenden »politique de l’écoute«155 – zumindest in gewissem Maße – zu widersetzen.

                      At the point of exhaustion, the performance of the I Can’t interrupts the economy of expectations and throws its workings into relief, producing an empty moment of full awareness. Could we imagine a form of agency that consists in producing an ongoing series of such moments of interruption and awareness?156 JAN VERWOERT

Ausgangspunkt der verschiedenen vorangehenden Kapitel war es, aufzuzeigen, inwiefern das Ideal des konzentrierten, verstehenden Zuhörens, das sich vorwiegend im institutionalisierten Stadttheater Europas seit dem ausgehenden 18. und dem 19. Jahrhundert entwickelt hat, im Theater der Gegenwart aufgegriffen und durch verschiedene Strategien der Hervorbringung spezifischer Zuhörweisen oder der Verstärkung einzelner Dimensionen des Zuhörideals als Konstrukt erfahrbar gemacht, ausgestellt und zur Reflexion gebracht wird. Bewusst wird, dass es sich bei diesem Ideal um die diskursiv erzeugte Vereinheitlichung und Reduktion einer grundsätzlich vielfältigeren Pluralität an Zuhör- und Aufmerkweisen handelt. Alle zuvor angeführten Modi auditiver Wahrnehmung stellen Ausprägungen des Zuhörens dar, also des mehr oder weniger hingewandten, intentionalen, kontrollierten, zentrierten, verdichteten, intensiven, engagierten, gemeinschaftserzeugenden, berührenden, auf sprachliches Verstehen ausgerichteten, von Imagination begleiteten Hörens, weshalb sie häufig unter einem Begriff zusammengefasst und nicht im Detail voneinander differenziert werden. Doch unter Einbezug ihrer jeweiligen Aufmerksamkeitsgewichtungen treten die nuancierten Unterschiede in den Bezügen zwischen Sprechenden, Gesprochenem, Gehörtem und Zuhörenden deutlich hervor.

155

Szendy 2007, S. 58.

156

Jan Verwoert: »Exhaustion & Exuberance. Ways to Defy the Pressure to Perform« zur Ausstellung Sheffield 08: Yes, No and Other Options, online unter https://dl. dropboxusercontent.com/u/28345128/Jan-Verwoert-Exhaustion.pdf, letzter Zugriff am 02.09.2014.

190         

Zuhören wird im Theater in seiner Vielfalt erfahrbar, indem es z. B. durch Absorption übersteigert, durch Verausgabung ›ausgehöhlt‹, mittels des Abdriftens unterlaufen oder auch durch Betonung der Wahrnehmungssituation, wie es sich in immersiven Installationen ergibt, in seiner Räumlichkeit markiert wird. Im Gegensatz zu einem Verständnis der idealen Theaterrezeption als Konzentration, die als wahrnehmungsstrukturierende und -hierarchisierende Norm impliziert, dass nur das als ›wichtig‹, ›wesentlich‹ und ›zentral‹ Markierte rezipiert werden sollte, bringen die verschiedenen künstlerischen Arbeiten solche Wahrnehmungsweisen hervor, in denen demgegenüber gerade das Randständige, das Fragmentarische, das als ›unwesentlich‹ oder ›störend‹ Gekennzeichnete, das Prozessuale, das Fragile, das Ermüdende und das Erstarrte hervortritt. Dabei manifestieren sie sich sowohl als grundlegende Dimensionen des Zuhörens als auch in den verschiedenen einzelnen Modi als eigenständige Zuhörweisen. In der Verausgabung, dem Abdriften, der Absorption, der Immersion, der Antizipation von Gehorchen oder Dissidenz bzw. Übereinstimmung und Abweichung, dem Mithören, Belauschen und Abhören sowie schließlich auch der Selbst-Belauschung im Sprechen manifestieren sich demnach sowohl verschiedene für sich stehende Zuhörweisen als zugleich auch einzelne Qualitäten, die das konzentrierte Zuhören prägen. Die Unterschiede zwischen ihnen ergeben sich aus den verschiedenen Konstellationen und Intensitäten der Bezüge innerhalb des Gefüges der Aufmerksamkeit, das sich von den Zuhörenden hauptsächlich entlang dreier Achsen aufspannt: zur sprechenden Person, zum auf Basis des Gesprochenen konstruierten Verstandenen und zu den jeweils immer gegebenen Randfaktoren der eigenen leiblichen Befindlichkeit, der Zeitlichkeit der Vorgänge sowie der konkret-räumlichen Wahrnehmungssituation sowie dem weiteren kulturellen und sozialen Kontext. Die in den verschiedenen Aufführungen und Installationen erlebbaren Zuhörweisen und ›ablenkenden‹ Verschiebungen innerhalb der Aufmerksamkeitsgefüge sind nicht – dem kulturellen Ideal folgend – negativ als ›störend‹, sondern vielmehr als eigene, gleichwertige und auf ihre eigene Weise auch produktive Arten des Zuhörens einzuschätzen. Mit der Betonung der produktiven Qualitäten der Aufmerksamkeitsumgewichtungen wird auf das Potential hingewiesen, das sich in den verschiedenen Zuhör-Varianten jeweils erfahren lässt. Forced Entertainments And on the Thousandth Night... bewirkt eine Verschiebung innerhalb dieses Gefüges durch die Verausgabung der Zuhörenden, indem alle diejenigen Bezüge im Verlauf der Aufführung eine Verstärkung erfahren, die nicht auf das Gesagte gerichtet sind. Zuhören wird durch seine Verausgabung während der Performance von Forced Entertainment als Geste der Hinwendung und als Gabe von Aufmerksamkeit erfahrbar. Darüber hinaus tritt über die Verschiebungen innerhalb der auditiv-attentionalen Sphäre die Produktivität von großer Müdigkeit und Erschöpfung hervor, in denen – im Sinne von Francisco de Goyas bekannter

               191 

Radierung Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer – eine mit Vernunft und Rationalität verbundene ›Selbstzensur‹ reduziert oder ausgeschaltet ist, so dass sonst möglicherweise unterdrückte oder gar nicht erst konstituierte, ›ungebändigte‹ Ideen, Assoziationen und Vorstellungen entstehen und bewusst werden können. Zustände der Verausgabung, Müdigkeit, Trance, Umnebelung, Erschöpfung und des Deliriums werden nicht nur erfahrbar gemacht, sondern zudem in ihrer besonderen Produktivität ausgestellt. Während des Erzählens und Hörens vielzähliger Geschichtsfragmente bildet sich ein Netz aus – nicht notwendigerweise logischen – Bezügen, das die Produktivität von Fragmentarischem, von Rändern, Lücken, Auslassungen, von Überlagerungen sowie quer gezogenen Anschlüssen oder auch von randständig wirkenden Details manifestiert, die zunächst in keiner Beziehung zueinander stehen.157 Produktivität wird hier von einem meist mit dem Begriff verknüpften Effizienz- und Erfolgsdenken gelöst. Damit vollzieht sich in And on the Thousandth Night... eine Um- und Aufwertung der in einer kapitalistisch geprägten Leistungsgesellschaft weniger geschätzten Bewusstseins- und Wahrnehmungshaltungen. 158 Während es, wie Jonathan Crary konstatiert, ein Ziel neurowissenschaftlicher Forschung darstellt, die für den Menschen notwendigen Erholungspausen des Schlafens zu reduzieren oder gar abzuschaffen, eröffnet die Müdigkeit in And on the Thousandth Night... demgegenüber Möglichkeiten der Erfahrung von Widerstand gegenüber reiner Funktionalität, vollkommener Leistungsbereitschaft und zielgerichteter Instrumentalisierung.159 Auch in manchen der immersiven Installationen, so beispielsweise bei einem nächtlichen Besuch von Nilssons MEAT, kann die eigene Müdigkeit sich auf die Art der Aufmerksamkeitsdynamik und die auditive Wahrnehmung auswirken, wenn die erklingenden Sounds und die geführten Gespräche mit den Performer*innen auf andere, stärker von Assoziationen und Imaginationen geprägte Weise rezipiert werden. In Cardiffs und Millers The Murder of Crows wird Müdigkeit ebenfalls als kreativer Zustand der traumhaft-assoziativen Erzählung hör-, wenn auch nicht unbedingt am eigenen Leib der Teilnehmenden spürbar. Polleschs Ein Chor irrt sich gewaltig lässt das Zuhören demgegenüber in seiner Aufmerksamkeitsdynamik des intendierten Verstehen-Wollens und als ein Hinstreben erfahrbar werden. Die Produktivität manifestiert sich in dieser Aufführung durch das sich im Abdriften ereignende Konstituieren einer Vielzahl unterschiedlicher Bedeutungszuweisungen, die dem zuächst unverständlich wirkenden Gehörten

157

Im Kapitel IV.3.6 ›Nichts‹: Wachsamkeit, Schläfrigkeit, Achtsamkeit werden diese Aufmerksamkeitsgefüge aufgegriffen und in ihrer Vielfalt analysiert.

158 159

Vgl. Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft, 8. Aufl., Berlin 2013, S. 19. Vgl. Jonathan Crary: 24/7. Late Capitalism and the Ends of Sleep, London/New York 2013, S. 2.

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zugewiesen werden könnten und die in ihrem Nebeneinander einen Möglichkeitsraum verschiedener Bedeutungen eröffnen. Zuhören wird damit in seiner Prozessualität der Bedeutungsgeneration herausgestellt. Im Abdriften bleibt der Bezug zu den Sprechenden und dem Gesprochenen in seiner Intensität aufrechterhalten, während aber eine Verstärkung eines anderen Bezugs, und zwar desjenigen auf die Zuhörenden selbst, hinzukommen kann, der sich als selbstreflexive Wendung, Problematisierung und Hinterfragung des eigenen Verstehen-Wollens auszeichnet. Auf diese Weise wird der vom Ideal implizierte Anspruch des korrekten Verstehens vorgeführt und gleichzeitig unterlaufen, indem eine solche Rezeptionsweise immer wieder unterbrochen und im Abdriften verunmöglicht wird. Eine andere Art, das Zuhören in seiner Dimension eines Strebens aufzuzeigen, wird in der Absorption in Die Zofen deutlich, bei der die dem Zuhören inhärente Qualität von Statik und Stabilität als Erstarrung und Fixierung zu spüren ist.160 In dieser Haltung wird, so ist anzunehmen, das Hinstreben an sich weniger, dafür aber das ›Dort‹-Sein umso stärker empfunden. Die Konzentration übersteigend wird beim absorbierten Zuhören das Streben nicht bewusst registriert, da keine selbstreflexive Ebene vorhanden ist, sondern ausschließlich das Zentrierte. Die solcherart Zuhörenden befinden sich ›im‹ Geschehen der fiktiven Handlung. Sie sind bei den Darstellenden, die nicht als solche, sondern in ihren Rollen wahrgenommen werden, und von diesem ›Ort‹ aus wird auch das Gesprochene rezipiert. In der Installation The Murder of Crows von Cardiff und Miller oszillieren immersivierende und absorbierende Dimensionen im Zuhören. Leiblichkeit wird in diesen Momenten als ein ›Darin‹- und ›Dort‹-Sein empfunden, das gleichzeitig innerhalb verschiedener Umgebungen verortet ist. Gekennzeichnet ist die während The Murder of Crows phasenweise sich ergebende Absorption demnach in ihrem Verhältnis zur lautlich erzeugten Räumlichkeit, die mit einem immersivierenden Zuhören in Verbindung zu bringen ist. Im immersiven Zuhören zeigt sich, wie am Beispiel von Verhoevens You Are Here aufgezeigt wurde, ein Gefüge auditiver Aufmerksamkeit, das, ähnlich wie bei The Murder of Crows, auf einer Überlagerung räumlich-visueller und -auditiver Wahrnehmungen beruht, aber dabei noch stärker als ein leibliches ›Mittendrin‹- und ›Hier‹-Sein empfunden werden kann. Die Beachtung des Raumes um mich herum vollzieht sich in diesem Sinne verstärkt als auditive Selbst-Verortung innerhalb dieser mir bis dahin unbekannten Umgebung, in der die Theater-Konventionen einer Guckkastenbühne ausgehebelt und an-

160

Absorption ist zwar eine Form der Konzentration und insofern gegenüber den zuvor angeführten Modi weniger als Abweichung vom idealisierten Zuhören zu erkennen, doch hebt diese Form der Ablenkung vor allem darauf ab, dass das Konstrukt des verstehenden Zuhörens als eine auf Ausschlussmechanismen beruhende Reduktion der anderen Dimensionen aufzufassen ist.

               193 

dere Regeln gültig sind, die ich noch nicht kenne. Im Erspüren und Erhorchen der Umgebung zeigt sich eine Komponente der Aufmerksamkeit in der Wachsamkeit, die in die Weite des Raums hinausreicht und von hoher Intensität und Anspannung gekennzeichnet ist. Als produktive Ablenkung lässt sich in den beiden performativen Installationen vor allem die Verstärkung der Bezüge auf die vermeintlichen Randbereiche der räumlichen Umgebung und der leiblichen Befindlichkeit sowie des intersubjektiven Bezugs anführen. Demgegenüber werden mit den Zuhörmodi des Gehorchens oder Aus- und Abweichens, des Mithörens, Belauschens, Abhörens sowie des Ab- und AngehörtWerdens andere Relationen innerhalb des Gefüges der Aufmerksamkeit verstärkt. Als produktive ›Ablenkung‹ ist bei The First International of Shopping Malls von LIGNA der eigene Gestaltungsraum erfahrbar, der sich bei der Ausführung der gewünschten Bewegungen und Handlungen eröffnet. Auch weicht das geforderte Verhalten teilweise von dem Raster konventionell erlaubter oder erwünschter Bewegungen und Gesten an diesen Orten ab, was ebenfalls als eine produktive ›Ablenkung‹ zu bewerten ist. Denn durch das Hineintragen der Gesten in diese Räume und im damit bewirkten Durchqueren der konventionalisierten Ordnungen und Normen manifestieren sich die impliziten Verhaltenskodizes dieser öffentlichen Orte wie Einkaufszentren oder Bahnhöfe. Schließlich sind aber auch in den Möglichkeiten der Verweigerung und Unterlassung produktive Umgewichtungen zu verorten, die spezifisch mit der auditiven Aufmerksamkeit zusammenhängen, insofern der im Zuhören empfangene Appell, eine spezifische Handlung auszuführen, nicht durchgeführt und somit von einem dissidenten Zuhören auszugehen ist. In diesem Ausscheren verdeutlicht sich die Grundstruktur des Zuhörens als eines Antwortens auf einen grundsätzlich in jedem Sprechvorgang enthaltenen Appell, der sich zudem in The First International of Shopping Malls als konkrete Aufforderung zu erkennen gibt. Das Zentrum der auditiven Aufmerksamkeit liegt, geprägt von der vernommenen Aufforderung, auf der eigenen Anwesenheit an diesem spezifischen Ort, und dies weniger als Registrierung der eigenen leiblichen Befindlichkeit als vielmehr im Spüren starker Emotionen – beispielsweise des Herausgefordert-, Gespannt- und Neugierig-Seins, aber auch der Gefühle von Nervosität und Verunsicherung oder Freude, Spaß und Vergnügen etc. Die Möglichkeiten der produktiven ›Ablenkung‹ im Rahmen dieser Arbeit zeigen die im Ideal des konzentriertverstehenden Zuhörens enthaltenen Dimensionen des Mitgehens und Nachfolgens, die im nicht-dissidenten Zuhören in Befolgen und Gehorsam münden können. Sie verweisen zugleich auf die im Zuhören bei LIGNA eröffneten Verhandlungsspielräume, in denen die Teilnehmenden über den Grad der Partizipation selbst entscheiden und sich im Zuhören ein Raum der Abweichung eröffnen kann. Diese auf mehreren Ebenen ermöglichten Weisen der Entscheidung und Selbstgestaltung deuten indirekt – und erneut, aber auf andere Weise als die Ermüdung bei Forced En-

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tertainment – auf die Möglichkeit der Verweigerungshaltung innerhalb einer auf Leistung, Erfolg und Handeln setzenden Gesellschaft hin. Ähnlich ist dies bei Interrobangs ThAEtrofon erfahrbar, wobei die Selbstbeobachtung im Handeln hier zu einer Selbst-Belauschung im Sprechen wird, so dass noch einmal stärker und vorrangig die auditiven Dimensionen dieser selbstreflexiven Wendung in Erscheinung treten. Zudem wird das im Sprechen forcierte Selbst-Belauschen als ein in sich gespaltenes verdeutlicht, dass sich über die sprechende Person hinaus noch auf die antizipierten Erwartungen des unsichtbaren Gegenübers und der – abstrakt imaginierten – Gesellschaft sowie auf die anderen konkret anwesenden Personen bezieht. Der Zuhörmodus wird solcherart in den vorangehend dargelegten Aufführungen und Installationen nicht einfach nur ›gestört‹, unterbrochen und in einen vollkommen anderen Hörmodus überführt. Vielmehr werden innerhalb dieses Modus diverse Verschiebungen der Gewichtung von Aufmerksamkeit ausgelöst, die sich als unterschiedliche Zuhörweisen erfahren lassen. Deutlich wird, dass die Umgewichtungen nicht nur, wie es das Verständnis einer idealisierten und normierten Konzentration impliziert, als negativ und destruktiv einzuschätzen sind. Vielmehr wird in den zuvor vorgestellten Arbeiten das Abweichen von der idealisierten Variante des Zuhörens produktiv gemacht. In ihnen wird eine Vielfalt möglicher, gleichwertiger Arten des Zuhörens erfahrbar.161 Damit geht einher, dass die Umgewichtungen der auditiven Aufmerksamkeit keineswegs bedeuten müssen, dass die eng mit dem Zuhören verbundenen Faktoren von Narrativität und Sprachverstehen oder Intensität und Hinwendung an Bedeutung verlieren. Im Gegenteil zeigt sich an den Beispielen, inwiefern diese Aspekte und Dimensionen nach wie vor, aber auf modifizierte Weise Bestandteil der abweichenden Zuhörweisen sind. Alle Arbeiten setzen sich mit dem Sprachverstehen auseinander, indem es beispielsweise durch eine sehr lange Aufführungsdauer, durch ein Übermaß an Erzähltem, durch die Hervorbringung rhizomatischer Querbezüge innerhalb des vielstimmig Präsentierten, durch Sprünge, Brüche oder ›Versetzungen‹ als Dimension des Zuhörens vorgeführt und bewusst gemacht – und eben gerade nicht seiner Kraft und Wirksamkeit beraubt – wird. Zudem wird in den Beispielen auch mit den Qualitäten der räumlich-intersubjektiven Hinwendung, der körperlich-geistigen Ausgerichtetheit und dem hohen Maß an Verdichtung und Intensität umgegangen, und zwar nicht vorrangig, indem diese verhindert werden oder zum Verschwinden gebracht werden, sondern auch, indem sie übersteigert und auf ›Abwege‹ geführt werden. Die an den Aufführungen, Ereignissen und Installationen Teilnehmenden erfahren sich durch die Übersteigerungen und Interaktionen als (Hin-)Gebende, Antwortende, Angestrengte, Leistende,

161

Das Vorangehende stellt dabei keine auf Vollständigkeit zielende Liste aller möglichen Versionen des Zuhörens dar, sondern umfasst die grundlegenden Weisen des Zuhörens, wie sie sich – nach meiner Theatererfahrung – am Gegenwartstheater aufzeigen lassen.

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Sich-Zeigende und Auffällig-Werdende. Die entsprechenden Aufmerksamkeitsdynamiken wirken sich als Irritationen des unproblematischen Vollzugs eines sich selbst nicht reflektierenden Zuhörens aus. Wenn es auch keinen vollständigen Kollaps erleidet, so ereignen sich doch zumindest diverse Infarkte, in deren In-Erscheinung-Treten sich die grundsätzliche Anfälligkeit des Zuhörens manifestiert – nicht als Abschwächung oder Gegenteil, sondern als vorrangige Qualität dieser Hörweise, die im Gegensatz zu einem ständig gefährdeten und durch Strategien zu schützenden Ideal nun positiv gewandt und in ihren produktiven Möglichkeiten erfahrbar wird. Erringt indessen ausschließlich das produktive Potential – auch der negativen Dimensionen des Zuhörens – Betonung, findet weiterhin eine ausschließlich positive Deutung der Prozesse des Aussetzens, Innehaltens und Unterbrechens des Zuhörens statt, so dass wesentliche Aspekte dieser Zuhörweisen keine Beachtung finden. Denn dann setzt sich darin ein Denken fort, nach dem die Hervorbringung von Neuem, Anderem und Besserem ausschließlich positiv bewertet werden. Dies wäre beispielsweise auch im Rahmen des sich gegenwärtig verbreitenden Bewusstseins für die Notwendigkeit von Pausen und Entspannung im Dienste einer danach wiedergewonnenen, aufrechtzuerhaltenden oder neu zu erzeugenden Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit gegeben, insofern die Phasen der Abwendung, Ruhe und der entstehenden Möglichkeits- und Imaginationsräume darin funktionalisiert werden.162 Die ›Produktivität‹ der Umgewichtungen ist daher in Frage zu stellen und kann nur als eine bestimmt sein, die weniger als Neuerung, Abweichung oder Verbesserung, sondern als eine selbstreflexive Auf-Sich-Lenkung des Bewusstseins und als Re-Zentrierung oder Re-Perspektivierung der Wahrnehmung wirksam ist. Die Aufführungen, Installationen und weiteren künstlerischen Arbeiten bewirken das bewusste Erleben von kulturell eher abgewerteten, da den Idealen von Leistung, Effizienz und Funktionalität entgegengesetzten Zuhörweisen und Aufmerksamkeitsgefügen – wie beispielsweise solchen der Müdigkeit, des Nicht- oder AndersVerstehens, der Bewusstwerdung und Reflexion von Momenten möglicher Entscheidungen, von Überlagerungen verschiedener Räumlichkeiten oder von internalisierten Idealen und Normen des Zuhörens. Erfahrbar werden Zustände des Zögerns, Innehaltens, Aufschiebens, Ausweichens, Abwesend-Seins, Verloren-Gehens oder Verdoppelns, die eher als ›anti-produktiv‹ einzuschätzen sind, da sie den mit Produktivität und Leistungsfähigkeit verbundenen Prozessen des Erreichens, Umsetzens, Machens und Ankommens – zumindest auf den ersten Blick – nicht ent-

162

Vgl. De Kerckhove 1995, S. 100: »Most hearing and listening in our urban environment is functional. Even recreational listening tends towards the functional end, as we go to jazz, classical, pop concerts ›to relax,‹ to tell ourselves and others that this is the time to stop and listen.«

196         

sprechen. Was zur Erscheinung kommt, sind diejenigen Dimensionen des Zuhörens, die nicht unmittelbar einem Zweck oder einer Funktion dienen, aber dennoch Erlebensqualitäten dieser Art der auditiven Wahrnehmung darstellen. Sie bringen weniger etwas hervor, als dass sie das Prozessuale der Vorgänge markieren und die Ebene betonen, auf der sich die Aufmerksamkeitsumgewichtungen und Differenzierungen im Bewusstsein vollziehen. Die Markierungen und Bewusstmachungen sind insofern als Verschiebungen und Irritationen gewohnter Wahrnehmungsweisen einzuschätzen, und darin zeigt sich ein Kreuzungspunkt der phänomenologischen Theorien, die Aufmerksamkeit als einen – quer zu den Anforderungen der Leistungsgesellschaft stehenden – Differenzierungs- und Organisationsprozess von Wahrnehmung und Bewusstsein bestimmen, und solchen Theorien der Queer Theory, in denen Queerness als immaterielle und nur prozessual in seinem Wirken wahrnehmbares Geschehen aufgefasst wird – so in Lee Edelmans Konzept der queeren Negativität, das folgendermaßen expliziert wird: »To be queer, in fact, is not to be, except insofar as queerness serves as the name for the thing that is not, for the limit point of ontology, for the constitutive exclusion that registers the no, the not, the negation in being. Radically opposed to normativity and so to the order of identity, queerness confounds the notion of being as being at one with oneself. [...] Metabolized and abjected as the remainder of any identity procedure, its unincorporability alone permits the consolidation of form. Thus queerness, as I have argued elsewhere, occupies the place of the zero, the nothing, that invariably structures the logic of being but remains at once intolerable to and inconceivable within it.«163

Nicht Präsenz stellt demnach eine Qualität von Queer-Sein oder Queerness dar, sondern vielmehr Absenz – aber eine wirksame Abwesenheit, die aus ihrem SichEntziehen heraus wirksam wird und sich darin zeigt. Vergleichbar ist dies auf grundlegende Weise mit Aufmerksamkeitsprozessen, da diese auch nicht an sich in Erscheinung treten, sondern nur in ihrem Wirken und nur sozusagen von der Kehrseite des von ihnen Hervorgebrachten – also im vorliegenden Fall über die jeweiligen Zuhörweisen und Erfahrungen – erfasst werden können. Aufmerksamkeit ist nicht existent in dem Sinne, dass ihr eine eigene Materialität und Präsenz zukäme, doch lässt sie sich wie Edelmans Konzept von Queerness als Strukturprozess, in dem etwas auf spezifische Weise hervorgebracht wird, einschätzen. Darüber hinaus lassen sich die zuvor ausgeführten Dimensionen der Verausgabung, Erschöpfung, Verfehlung, Verzögerung und Verweigerung als Formen von Aufmerksamkeits-

163

Lee Edelman: »Against Survival: Queerness in a Time That‹s Out of Joint«, in: Shakespeare Quarterly Volume 62 (2) 2011, S. 148-169, hier S. 149.

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dynamiken beschreiben, die einem Bereich des Negativen angehören, indem sie negativ wirken, weil sie auf Abwesenheit, Nicht-Ausführung, Nicht-Erreichen etc. beruhen, und kulturell als negativ eingeschätzt werden. In diesem Kontext lässt sich Gerald Siegmunds Konzept der Abwesenheit, die er u. a. an den Arbeiten von Meg Stuart hervorhebt, mit der negativen Wirkungsweise von Aufmerksamkeitsdynamiken verbinden, insofern Absenz und Negation konstitutive Komponenten von Aufmerksamkeitsdynamiken darstellen.164 Zudem sind damit die von J. Jack Halberstam in Bezug auf Edelman herausgestellten Hierarchisierungen verschiedener Wissensformen zu verbinden, von denen bestimmte Ausprägungen aus dem Bereich des Legitimen ausgeschlossen werden – wie beispielsweise ›Dummheit‹ gegenüber ›Weisheit‹, Scheitern gegenüber Erfolg und Vergesslichkeit gegenüber einem guten Gedächtnis. Es lässt sich bei den Aufmerksamkeitsdynamiken auf Grenzziehungen und Bewertungen hinweisen, durch die ein Bereich des Negativen ausgewiesen und abgewertet wird.165 Wie Halberstam zu Edelman ausführt, »the queer subject, he argues, has been bound epistemologically, to negativity, to nonsense, to anti-production, to unintelligibility [...]«166. Die ›Produktivität‹ der Querverlagerungen der Aufmerksamkeit, die in ihren Dynamiken zu Umgewichtungen des Zuhörens führen, ist im Kontext negativer Queerness als eine ›anti-produktive‹ zu kennzeichnen, insofern in ihr eben gerade nicht notwendigerweise Strategien der Erfindung, der Erzeugung oder des Fortschritts, sondern das Gegenteil, Stillstand, Zirkularität, Sackgassen, Umwege ›produziert‹ werden. Halberstam bezeichnet diese Gegenhaltung mit Rückgriff auf Edelmans und Leo Bersanis Theorien als eine anti-soziale. Für das anti-soziale Subjekt stellen Formen der radikalen Passivität Weisen des Widerstands dar. In Marina Abramovićs Performance Rhythm 0 verortet Halberstam den Vollzug radikaler Passivität als eine Verweigerung des Seins bzw. als Prozess der Nicht-Werdung: »In a performance of radical passivity, we witness the willingness of the subject to actually come undone, to dramatize unbecoming for the other so that the viewer does not have to witness unbecoming as a function of her own body.«167 Ähnlich wie Bartleby, die bekannte Figur aus Herman Melvilles Kurzgeschichte Bartleby, the Scrivener: A Story of Wall Street, der seine Haltung mit den Worten »I would prefer not to« verdeutlicht, wird im Theater über Dynamiken auditiver Aufmerksamkeit Subjektivität im Nicht-Können, zwei-

164

Vgl. ebd., S. 152.

165

Vgl. Judith Halberstam: »The Anti-Social Turn in Queer Studies«, in: Graduate Jour-

166

Ebd. [Hervorhebung KR].

167

Ebd., S. 151.

nal of Social Science 5 (2) 2008, S. 140-156, hier S. 141.

198         

felhaften Wollen oder Nicht-Leisten als Figuration des Negativen erfahrbar und als widerständige Phasen und Zonen innerhalb der Leistungsgesellschaft manifest.168

168

Vgl. Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roi, Meg Stuart, Bielefeld 2006.

 

        Wir sind Bildhauer mit Sound. Es ist wie körperliches, skulpturales Storytelling. JANET CARDIFF

Ähnlich wie das konzentriert-verstehende Zuhören als Ideal des Sprache-Hörens lässt sich für den Bereich des Musik-Hörens eine die auditive Wahrnehmung normativ anleitende Konzeption der idealisierten Hörweise aufzeigen. Im musiktheoretischen Konzept des strukturellen Hörens wird die adäquate Hörweise von Musik beschrieben. Sie bezieht sich vor allem auf die innermusikalischen Strukturen und Relationen. Ihre Wirkungsweise wird im Gegenwartstheater durch Inszenierungen aufgegriffen und verhandelt, in denen Musikalisches zu Gehör kommt und das Aufführungsgeschehen wesentlich prägt. Zunächst lege ich das Konzept des ›strukturellen Hörens‹ dar, um von diesem Hintergrund auf die sich davon abhebenden Umgangsweisen im Theater einzugehen. In den dann folgenden Analysen der Phänomene wird in einem ersten Schritt ein Konzept plastischer Hörzeiträume entwickelt, das die Klanglichkeit des Gehörten in seiner spezifischen Materialität und Ausdehnung verdeutlicht. Hören ist als grundsätzlich plastisch einzuschätzen, d. h. raumzeitlich ausgedehnt, potentiell in Berührung mit der Leiblichkeit der Hörenden tretend. Wie sich in ihm Prozesse des Hineinhörens und Eintauchens, des Abhebens und Aufhorchens sowie Spaltungen und Schichtungen vollziehen, wird daraufhin näher an Beispielen dargelegt. In einem zweiten Schritt ist auf dieser Basis herauszustellen, dass und inwiefern sich innerhalb dieses Hörzeitraums Bewegungen des jeweils Zentrierten und Hintergründigen ergeben können. Deutlich wird, dass sich mittels einer Berücksichtigung der auditiven Aufmerksamkeitsdynamiken verschiedene Hörweisen herausstellen lassen, die sich in der Art ihrer Verfasstheiten sowie in den Erfahrungen von Ausdehnung, Abständigkeit, Struktur und Verschiebungsbewegungen unterscheiden.

200         

                   In der Musiktheorie und -wissenschaft wird bis in die Gegenwart nicht nur darüber diskutiert, was genau ›Musik‹ ist, sondern auch, wie sie zu hören ist, um das ihr Wesentliche zu erfassen. In verschiedenen Konzeptionen haben Musiktheoretiker_innen immer wieder versucht, diese Vorgänge zu beschreiben und die für die Musikanalyse relevanten Hörweisen als Ideale zu etablieren. Ein Konzept – das strukturelle Hören bei Theodor W. Adorno – erscheint mir dabei für den vorliegenden Kontext von besonderer Bedeutung. Einerseits enthält es Komponenten, die für die folgenden Ausführungen produktiv zu machen sind, andererseits hat es in der Kritik seitens der gegenwärtigen Musiktheorie zu weiterführenden oder entgegengesetzten Konzepten geführt, die ebenfalls relevant sind, um die Plastizität des Hörens zu erörtern. Bevor das musikwissenschaftlich zentrale Konzept der adäquaten Hörweise nach Adorno erläutert und anschließend die Kritik von Rose Rosengard Subotnik, Tia DeNora, Peter Szendy und Nicholas Cook gegenübergestellt wird, ist ein Beispiel des Gegenwartstheaters anzuführen, an dem sich die entsprechenden Zusammenhänge in ihrer Problematik veranschaulichen lassen. In Falk Richters und Anouk van Dijks TRUST lässt sich das Hören im Spannungsverhältnis zwischen strukturellem Hören einerseits und plastischem Hören andererseits aufzeigen. Doch der Versuch, das Gehörte in Worte zu fassen, stößt schnell an seine Grenzen und bleibt weitgehend abstrakt: Zu Gehör kamen elektronisch erzeugte Sounds, welche die im Publikumsbereich frontal zur Bühne angeordneten Zuschau-/hörenden vor allem von den seitlichen Lautsprechern her um- und einhüllten und deren auditive Klangqualität sich als tief-dumpf beschreiben lässt. Die grundlegende Tonhöhe des komplexen Klanggemischs variierte leicht, blieb aber zumeist im Bass-Bereich. Kein Rhythmus, sondern eher unregelmäßige Verschiebungen waren zu hören. Das kontinuierlich Erklingende war durchsetzt von anderen Sounds, die sehr hoch klangen und von kurzer Dauer waren. Das während TRUST Gehörte war Musik oder musikähnlich, doch helfen etablierte musikanalytische Parameter wie Tonhöhe, Lautstärke, Dauer oder Tempo nur bedingt weiter, da diese das Gehörte an einem übergeordneten Maß oder einer bestimmten Metrik ausrichten, was bezüglich der zu hörenden Laute kaum aussagekräftig ist. Wenn ich versuche, das wiederzugeben, was ich während der Aufführung von TRUST gehört habe, bemerke ich, dass mir ein adäquates Vokabular fehlt. 1 Die gehörten Laute lassen sich zwar im auditiven Gedächtnis vergegen-

1

Ich habe die Aufführungen von TRUST an der Schaubühne am Lehniner Platz am 19. Oktober 2009, 31. Januar 2010 und 11. November 2012 erlebt. Die Ausführungen bezie-

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wärtigen und auf diese Weise ›wieder-hören‹, doch lassen sie sich nur schwer beschreiben, so dass mein Vorhaben der Darlegung des in TRUST Gehörten vor dem Problem nicht nur der optimalen, sondern überhaupt irgendeiner verfügbaren adäquaten Terminologie steht.2 Zunächst ist daher ein spezifischer Begriff zu entwickeln und einzuführen, mit dem sich das Spektrum der potentiell vernehmbaren akustischen Phänomene um eine für TRUST entscheidende Dimension erweitern lässt. Dementsprechend möchte ich den Begriff des Soundstroms verwenden, um dauerhafte, komplexe und variable, vor allem elektronisch erzeugte Laute zu bezeichnen. Einerseits wird damit allgemein auf die im Auditiven verbreitete Metaphorik des Flusses, in der die Dimensionen von Kontinuierlichkeit bei gleichzeitiger Vielschichtigkeit und Wandelbarkeit ausgedrückt werden, Bezug genommen und andererseits der spezifische Begriff des auditory streaming von Albert S. Bregman aufgegriffen. 3 Bregman be-

hen sich vor allem auf meine Erfahrung in und nach der Aufführung am letztgenannten Datum. Premiere war am 10. Oktober 2009. 2

In der Publikation zu TRUST, die von Nicole Gronemeyer bei Theater der Zeit herausgegeben wurde, wird die akustische Dimension der Aufführung nicht erwähnt. Die Perspektive der Erörterungen und Beiträge konzentriert sich auf die inhaltlich und tänzerisch verhandelten Wut- und Erschöpfungszustände, auf die Themen der gesellschaftlichen Finanz- und Vertrauenskrise und Möglichkeiten des Protests und der Veränderung, ohne dabei in Betracht zu ziehen, dass neben dem Sprachlichen und dem Körperlichen auch das Musikalische noch seinen Teil zur Aufführung und zur Thematik beiträgt. Allein Hans-Thies Lehmann erwähnt diese Dimension in seinem Text kurz, allerdings in diesem Fall nur, um sie bezüglich seiner Ausführungen als ›irrelevant‹ auszuschließen. Vgl. Hans-Thies Lehmann: »Ra(s)t/Lose/Erschöpfung, Halbruhe«, in: Falk Richter: TRUST, hg. v. Nicole Gronemeyer, Berlin 2011 (2010), S. 31-40, hier S. 31. In den meisten Kritiken wird die akustische Dimension ebenfalls nicht erwähnt, was hinsichtlich der weitgehend geringen Aufmerksamkeit der Theaterkritik für diesen Bereich an sich nicht, aber bezüglich der in TRUST sehr präsenten und wirkungsvollen Sounds dann doch überrascht. Erwähnung findet sie in einem Satz bei Anne Peter: »Am Rande des Systemzusammenbruchs«, taz vom 12.10.2009, online unter http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/ artikel/?ressort=ku&dig=2009/10/12/a0069&cHash=674dedd926 und in Andreas Schäfer: »Das Geld geht fremd«, Tagesspiegel vom 12.10.2009, online unter http://www. tagesspiegel.de/kultur/buehne-alt/theater-das-geld-geht-fremd/1614378.html, letzter Zugriff am 02.08.2016 (beide Links).

3

Vgl. die Betonung des Dynamischen und Fließenden des Auditiven in Ihde 2007, S. 81. An dieser Stelle bezeichnet Ihde solche Geräusche und Sounds, die über längere Dauer erklingen, mit dem Gerundium des Verbs ›to sound‹ als ›sounding‹ – ein passender Begriff, der sich aber kaum ins Deutsche übersetzen lässt und für den insofern eine adäquate

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stimmt es wie folgt: »I refer to the perceptual unit that represents a single happening as an auditory stream. [...] It is useful to reserve the word ›stream‹ for a perceptual representation, and the phrase ›acoustic event‹ or the word ›sound‹ for the physical cause.«4 Der Begriff des auditiven Stroms ist insofern eine Bezeichnung für die sich in der Wahrnehmung ereignenden Organisationen, d. h. den Bündelungen verschiedener Komponenten zu einer zusammenhängenden Lautwahrnehmung, die u. a. auf den gestalttheoretischen Prinzipien der Mustererkennung basieren.5 Des Weiteren sind diese Überlegungen um spezifisch aus der Aufführungserfahrung resultierende Dimensionen zu ergänzen, denn das Gehörte in TRUST war vor allem in seiner Räumlichkeit markant. Dieser Aspekt sollte daher auch in der entsprechenden Terminologie manifest werden. Innerhalb der lautlichen Umgebung werden einerseits Nähe- und Distanzverhältnisse, andererseits aber auch Höhenund Tiefenrelationen, Zonen der Fülle und Leere, ein plötzliches Abfallen, Verfestigen und Verflüssigen hör- und spürbar, die insgesamt nahelegen, das Vokabular in den Bereichen zu suchen, wo es um Räumlichkeit im konkreten Sinn geht: in der Geografie, der Architektur und vor allem der Geologie. Denn das Sprechen von Gesteinsschichten, Bodenverfasstheiten, Materialgemengen und -konzentrationen, Aufbauten, Öffnungen, Erhebungen und Vertiefungen sowie Aushöhlungen lässt sich produktiv machen, um auf die sich im Hören zeigenden Relationen und Dimensionen von Räumlichkeit hinzuweisen. Dieser schreibende Rückgriff – oder Querschritt – eröffnet der Versprachlichung Möglichkeiten, auf musikanalytisch schwer darstellbare Qualitäten, Dimensionen und Zusammenhänge einzugehen und sie in ihrer Plastizität sprachlich abzubilden. Die Aufführung von TRUST beginnt mit einem Pulsieren, das aus Lauten hervorgeht, die den Geräuschen einer dumpfen, vielleicht unterirdischen Eruption ähneln. Dann klingt es, als würden in weiter Ferne verschiedene Gebäude gesprengt und unter Staubwolken in sich zusammenkrachen. Während die Bühne noch im Dunkeln liegt und nur schemenhaft verschiedene Personen und ein meterhohes Metallgerüst zu erkennen gibt, dröhnt dazu ein tiefes Rauschen, ein vibrierender Bass-Sound von allen Seiten her und scheint die Luft in Beben zu versetzen. Zugleich ist die Nähe dieser Soundströme so stark, dass ich sie auf meiner Haut spüren kann, auf der sich die vibrierenden Schallwellen durch ein deutlicher werdendes leichtes Kribbeln bemerkbar machen. Weiterhin vernehme ich simultan das Dumpfe in weiter Ferne und mit großer Tiefe – ein nachhallendes Grollen, Donnern und Rollen, als verschöben sich in der Ferne große Gesteinsschichten gegeneinander

Übertragung ins Deutsche zu finden ist, was meines Erachtens durch den Begriff des Soundstroms hinsichtlich des in TRUST Gehörten gewährleistet ist. 4

Bregman 1990, S. 10.

5

Vgl. ebd., S. 11 f.

              203 

und ließen die Erde erbeben. Es ist eine Entfaltung, Ausdehnung und dann wieder ein Sich-Zusammenziehen. Zu den grollenden Geräuschen bewegen sich die auf der Bühne schon präsenten, aber bis dahin immobilen Akteur*innen plötzlich: Ihre Körper zucken und sinken dann in sich zusammen. 6 Geräusche, die klingen wie aufbrausende Windböen, fahren mir um die Ohren. Zur Assoziation der ›Windartigkeit‹ der gehörten Geräusche lassen sich noch Bedeutungszuschreibungen von ›Hitze‹, ›Staubwolken‹, ›Verwüstung‹ oder ›Sturm‹, des Weiteren abstrakte Empfindungen von ›Bedrohlichkeit‹, ›Gewalt‹, ›Zerstörung‹, ›Wut‹ und – im Sinne räumlich-leiblicher Empfindungen – von gehörter ›Tiefe‹, ›Härte‹, ›Reibung‹ und ›Zermalmung‹ hinzufügen. Aus den Bass-Lauten erhebt sich dann ein in unregelmäßigen, aber kurzen Abständen stattfindendes Pulsieren kürzerer Sounds, die im Einzelnen aus einem tiefer tönenden Wummern und einer kurzen, sich sofort anschließenden Sequenz verschiedener bliepender7 Sounds bestehen. Die Bühne ist nun beleuchtet, und auf ihr werden die Akteur*innen sichtbar, wie sie über die Bühne verteilt auf und hinter dem Gerüst stehen, sitzen und liegen. Als das Pulsieren einsetzt, werden ihre Körper erneut von einem Rucken durchzogen. Es sind Bewegungen, als würde ein Blitz durch sie hindurchfahren und ihnen einen kurzen Energieschub geben, nur um sie ihnen anschließend vollständig zu entziehen, so dass ihre Körper in sich zusammensacken. Mit dieser Bewegung beginnt das Pulsieren der Soundströme nun wie ein kontinuierliches maschinelles ›Atmen‹, das über seinen Rhythmus und seine verlässliche Kontinuität zu Stabilität führt und im vorantreibenden Beat den ›Organismus‹ auf der Bühne, der weniger auf einzelnen Figuren als einem polyphonen Stimmen-Arrangement beruht, am ›Leben‹ erhält. Die Darsteller*innen beginnen, sich über die Bühne zu bewegen, anfangs noch mehrmals unterbrochen von plötzlich einsetzendem Innehalten, Schütteln, Zusammensinken und Aufrichten, als wäre ihnen durch ein Erdbeben für Sekunden der Boden unter den Füßen entzogen worden. Meine Aufmerksamkeit ist während dieser Hörprozesse weniger auf ein spezifisches akustisches Phänomen, als vielmehr auf die sich in meiner gesamten Umge-

6

Das Motiv des Zusammenbruchs wird während der Aufführung noch häufiger und sowohl auf tänzerischer als auch auf inhaltlicher Ebene in verschiedenen Bedeutungszusammenhängen – wie der Finanz-, aber auch einer Beziehungskrise – verhandelt.

7

Mit diesem von den englischen Verben to bleep und to blip abgeleiteten Neologismus ist auf eine Art von Sound hinzuweisen, dessen Klangqualität nicht den deutschen Bezeichnungen – und Übersetzungen von to bleep und to blip – eines Piepens oder Piepsens entspricht, sondern etwas tiefere Tonhöhen besitzt und das Technisch-Artifizielle seiner elektronischen, an frühe Synthesizer-Laute erinnernden Klangfarbe nicht verdeckt. Im Begriff des Bliepens lässt sich diese besondere Klangqualität meines Erachtens gut herausstellen.

204         

bung verteilenden und in sich komplex geschichteten Soundströme gerichtet. Auch wenn ich in meiner visuellen Wahrnehmung frontal in Richtung der Bühne fokussiert bin, stellt diese Ausrichtung nicht die einzige räumliche Dimension meiner Aufmersamkeit dar, insofern sich die visuell und auditiv wahrgenommenen Räumlichkeiten nicht notwendigerweise entsprechen müssen und eine solche Zentrierung deshalb nicht forciert wird. Meine auditive Wahrnehmung ist durch eine sphärisch in alle Richtungen ausgehende Offenheit geprägt, die sich von den omnidirektional auf mich zukommenden Soundströmen affizieren lässt. Die auditive Aufmerksamkeit ist insofern von großer Weite und Ausdehnung gekennzeichnet, durch welche das Hören in alle Richtungen gleichermaßen bestärkt wird. Aufgrund des Umgeben-Seins vom Gehörten wird mir meine eigene leibliche Positionierung als ›Mittendrin‹ und das Gehörte als ein räumlich sich im Verlauf der Zeit unterschiedlich entfaltendes Geschehen bewusst. Doch dieses Gefühl, auf gewisse Weise am Nullpunkt des Gehörten zu stehen, bedeutet keineswegs, dass die vernommenen Laute alle die gleiche auditive Distanz zu mir aufweisen – wie dies aus einer kreisförmig konzeptualisierten auditiv-attentionalen Sphäre resultieren könnte. Vielmehr gibt sich das Gehörte als eine differenzierte auditive Umgebung, die mir in manchen Teilen extrem nah kommt, in anderen wiederum sehr weit von mir entfernt ist, aber dabei die Empfindung starker Tiefe begründet. Deutlich wird, dass die gehörte Räumlichkeit eine andere ist als die visuell anhand des architektonisch erfahrbaren Raums der Schaubühne und dem Bühnengeschehen konstituierte, denn die gehörten Dimensionen von Nähe, Distanz, Weite, Tiefe etc. weichen vom Gesehenen weitgehend ab und erzeugen vielmehr eine eigenständige, nur auditiv erlebbare räumlich-zeitliche ›Welt‹, die sich der von mir als ›real‹ eingeschätzten Umgebung hinzufügt. Das Gehörte überlagert nicht das Gesehene, doch es führt zu einem sich parallel einstellenden Gespür bestimmter Verortungen, die das Gesehene und auch das Haptische – ich spüre permanent meine Verortung im Raum und auf dem Theatersessel – ergänzen, aber auch verunsichern oder gar unterlaufen. Der besonderen Lautlichkeit in TRUST, deren charakteristische Merkmale sich aus der Verwendung elektronisch verstärkter Instrumente und digitaler Soundkompositionen ergaben, ist in einer Beschreibung und Analyse nur näherzukommen, wenn ihre spezifischen räumlichen und zeitlichen Verhältnisse berücksichtigt werden. Sie bestand zumeist aus Arrangements verschiedener Sounds tieferer und höherer Tonlage sowie häufig auch von noch darüber zu hörenden, paradoxerweise aber sehr leise klingenden Geräuschsequenzen eines Klickens, Klackens, Rauschens, Rasselns, Piepens oder Bliepens. Von TRUST ist mir vor allem das über längere Phasen hörbare Pulsieren und Wabern verschiedener Soundströme im auditiven Gedächtnis geblieben. Dabei waren nicht immer alle zugleich erklingenden Soundströme durch eine solche Dynamik geprägt, vielmehr war es so, dass einzelne Komponenten pulsierten, während andere unverändert weiterklangen und auf diese

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Weise einen Kontrapunkt zu den ständig wechselnden Soundströmen darstellten. Vor allem während des Pulsierens ließen sich verschiedene Komponenten von neben-, über- oder untereinander erklingenden ›Schichten‹ heraushören, die sich zudem konstant zueinander verschoben und darin jeweils eine andere Lautlichkeit hervorbrachten und andere Bedeutungszuschreibungen evozierten. In der Beschreibung meiner Hörerfahrungen manifestiert sich dieses Verhältnis darin, dass es für mich ›intuitiv‹ näherlag, bei den Soundströmen auf die – strukturellen – Bezüge, auf ihre Höhen und Tiefen, ihre Dauerhaftigkeit und schnellen oder langsamen Abfolgen einzugehen, in der Intention darin eine Art Muster, Gestalt oder Rhythmus zu erkennen, anstatt primär die spezifische Klanglichkeit in der Ausgedehntheit ihrer Soundströme zu beschreiben. Die entsprechenden Syntheseprozesse erfasst Schmicking als auditive Konstanzleistungen, von denen sich eine Reihe verschiedener Arten unterscheiden lassen: die Konstanzen der Abstrahlrichtung, der Richtung, der Geschwindigkeit, des Timbres, der Tonhöhe, der Lautheit und der Klanggestalt. In Bezug auf die auditive Wahrnehmung in TRUST erweisen sich indes die meisten dieser Kategorien nicht als hilfreich, um die sich ständig verändernden Soundströme zu beschreiben. Einzig die Konstanz der Klanggestalt erscheint zur Beschreibung des sich im Hören ergebenden Zusammenhangs der durch verschiedenste Klangqualitäten geprägten Soundkomponenten anwendbar, wobei anzumerken ist, dass Gestalten zumeist auf einem definierbaren Beginn und Ende beruhen, was im Fall der kontinuierlich sich wandelnden Soundströme insgesamt so nicht gegeben war. Doch ließen sich einzelne Komponenten, die sich wie Eruptionen in der Tiefe anhörten und sich zunehmend weiter nach unten ausdehnten, jede für sich genommen als solche in sich erkennbare Gestalt auffassen. Sie heben sich von der ersten ›Explosion‹ durch Abschattungsverhältnisse ab und werden gleichzeitig – wie ›Melodiegestalten‹ innerhalb länger erklingender Musik – in einem größeren Zusammenhang stehend rezipiert.8 ›Intuitiv‹ im Sinne eines auf ›natürlichen‹ Hörweisen basierenden Vorgangs ist dies jedoch mitnichten; vielmehr sind dabei wirkmächtige historisch, kulturell sowie musiktheoretisch-diskursiv geprägte Konventionen, Ideale, Normen und Hierarchisierungen des Hörens im Gange, die das Wirken der auditiven Aufmerksamkeit einerseits sowie die im Nachhinein anzuwendenden sprachlichen Beschreibungsmöglichkeiten andererseits auf spezifische Weise hervorbringen. Dass es ›intuitiv‹ wirkt, bestimmte Laute auf eine Weise

8

Vgl. Schmicking 2003, S. 166 und S. 170: »Musikalische Gestalten werden ebenso wie Wortgestalten durch mannigfache Abschattungstypen wieder erkannt. Die Definition der musikalischen Gestalt wirft jedoch Probleme auf, und es herrscht unter Psychologen, Musikwissenschaftlern und Komponisten kein Konsens darüber, bis zu welchem Komplexitätsgrad sich Mustererkennung qua Konstanzleistung in der Region der Musik erstreckt.«

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zu rezipieren und zu beschreiben, liegt daran, dass sich diese Hierarchisierungen und Wertesysteme nicht unbedingt bewusst, sondern vermittels der auditiven Aufmerksamkeit strukturgebend vollziehen. Das durch das Hören der Soundströme in TRUST aufgerufene Spannungsverhältnis umfasst fünf wesentliche Dimensionen von auditiver Hierarchisierung: Erstens lässt sich bezüglich eines analytischen Hörens von einer wirkmächtigen, historisch, kulturell und musiktheoretisch geprägten Konventionalisierung einer auf Tonstrukturen basierenden Bezugsetzung ausgehen, innerhalb welcher die jeweilige Klangfarbe von nebensächlicher Bedeutung ist. Albrecht Riethmüller weist auf die in der Musiktheorie bis heute nachweisbare Höherbewertung von Tönen gegenüber der Klangfarbe oder dem Timbre hin, die bei den analytischen Arbeiten zu einer überwiegenden Ausrichtung auf Tonrelationen führt. 9 Søren Møller Sørensen betont, dass ein solches Musikverständnis paradox ist, insofern es auf der Vorstellung eines ›klanglosen Klangs‹ basiert, in welchem Musikalisches jenseits von der charakteristischen instrumentalen Klangfarbe und den individuellen Stimm-Timbres der Sänger*innen verortet wird.10 Das maßgeblich auf Theodor W. Adorno zurückgehende Konzept des ›strukturellen Hörens‹ erweist sich im Kontext der Musikwissenschaft bis heute wirksam, wenn auch häufig im Rahmen kritischer Erörterungen und Absetzungen. Es wird aufgrund seiner Relevanz für neuere musiktheoretische und philosophische Konzeptionen des Musik-Hörens im Anschluss an diese Übersicht näher expliziert werden. Zweitens manifestiert sich dabei die Problematik der Beschreibung, die aus der Sprachlichkeit resultiert, welche in einem Zusammenhang mit den konventionalisierten Hör- und Analyseweisen – d. h. in Bezug auf Musik die Bezüge und Relationen der Töne und bei Geräuschen eher die Bedeutungen hervorzuheben – steht. Solange in der Musiktheorie die Klangfarbe weniger wichtig als die Struktur der Musik bewertet wurde, bestand kaum Bedarf, eine Terminologie zur Klangfarbendifferenzierung oder zur Beschreibung der Geräuschklänge als solcher zu entwickeln. Bis in die Gegenwart fehlt ein entsprechendes deskriptives Vokabular, um die Klangqualitäten, vor allem auch die Klangfarben der geräuschhaften oder der

9

Vgl. Albrecht Riethmüller: »Wie über Klang sprechen? – Exposition in der Antike«, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift Historische Anthropologie 16 (2) 2007, S. 13-23, hier S. 14, Søren Møller Sørensen: »Sound without Properties? German 19th Century Discourses on the Parametrical Hierarchy«, in: ebd., S. 44-55, hier S. 46 ff. Vgl. Helmut Rösing: »Klangfarbe. Wahrnehmungspsychologische Aspekte – Klangfarbe und Sound in der ›westlichen‹ Musik«, in: Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil Bd. 5. Hg. v. Ludwig Finscher. Kassel-Stuttgart 1996, Sp. 152-159, hier Sp. 152.

10 Vgl. Sørensen: »Sound without Properties?« (2007), S. 49.

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elektronischen Laute näher zu bestimmen.11 Ein erster Versuch der Beschreibung und Klassifizierung wird in Jean-François Augoyards und Henry Torgues lexikonartiger Publikation sonic experience durchgeführt, deren umfassende Analysen verschiedenster vorwiegend alltäglicher sonischer Effekte detaillierte Beschreibungen darbieten. Doch sind diese nur bedingt auf die Erfahrungen und Aufmerksamkeitsdynamiken in TRUST zu übertragen, da sie vor allem auf die Wirkungsweise einzelner Sounds und weniger auf komplexe Soundzusammenhänge abzielen.12 Drittens deutet sich in den kulturell geprägten, auditiven Kategorien des ›Musikalischen‹ und ›Geräuschhaften‹ ebenso ein Wertesystem an, nach dem ihnen der Status von ›Kunst‹ zugewiesen oder verweigert wird und innerhalb dessen das Musikalische gegenüber dem Geräuschhaften aufgewertet wird. Erst im 20. Jahrhundert erlangt das Geräuschhafte, ausgehend von den modernen Avantgarden des Futurismus, Bruitismus und Dadaismus, eine eigene Legitimation als Kunst und auch spezifisch als explizit musikalische Dimension. Viertens hängt das Musikverständnis, das die strukturellen Bezüge als Ausgangspunkt der kunsthaften Einschätzung ansetzt, eng mit einer Bestimmung von Musik als wesentlich zeitlicher Kunstform zusammen, insofern sich die Relationen über die einzelnen Akkorde hinaus erst im zeitlichen Verlauf ergeben. Demgegenüber gilt Räumlichkeit als wesentliche Dimension des Visuellen. Erst im Zuge einer veränderten Bestimmung des Musikalischen, die sich sowohl hinsichtlich des Geräuschhaften als einer musikalischen Kompontente als auch im Rahmen einer Anerkennung des auditiv erfahrbaren Räumlichen vollzieht, werden die klanglichen Dimensionen von Musik und ihre sinnliche, leiblich-affektive Wirkungsweise von Teilen der Musiktheorie ins Zentrum der Auseinandersetzung gerückt. Fünftens schließlich ist noch anzufügen, dass in der Beschreibung auch die Unterschiede zwischen den Hörweisen verschiedener Laute zu berücksichtigen und zu differenzieren sind, für deren Kennzeichnung bislang noch kaum ein adäquates Vokabular existiert. Aufgerufen wird in TRUST über die phänomenale Erscheinungsweise der geräuschhaften Soundsequenzen eine auf Geräusche gerichtete Hörweise, die im Gehörten schon immer auch Bedeutungszuweisungen im Sinne der Lautquellenbestimmung und der Verortung in einem soziokulturellen Kontext bzw. einer kulturell bestehenden Symbolik vollzieht. Sie wird durch die Art der Präsentation der Geräusche und Soundströme in TRUST dahingehend erweitert, dass nun über die vermeintliche Lautquelle hinaus – und z. T. auch stärker als diese

11 Vgl. Augoyard/Torgue 2005, S. 5 ff. 12 Auf den von Augoyard und Torgue gegebenen Überblick wird in den folgenden Analysen Bezug genommen, um einzelne Laute jenseits traditioneller musikalischer Bestimmungen in ihren spezifischen Qualitäten darzustellen.

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– die je spezifische Klanglichkeit der Geräusche in den Vordergrund des Auditiven tritt. Das vorliegende Kapitel setzt sich mit den zuvor angegebenen musiktheoretischen Hierarchisierungen insofern auseinander, als dass die im Gegenwartstheater durch die konkrete Verwendung von Musik sowie durch einen theoretischdramaturgischen Rückgriff auf musikalische Strukturen und Theoreme vielfältige Auseinandersetzung mit den Spannungsverhältnissen von Struktur und Klang, von Zeitlichkeit und Räumlichkeit, von Bedeutung und primär sinnlicher Wirksamkeit aufzuzeigen sind. Dabei wird oft von der üblichen Verwendung von Musik als nur begleitender, stimmungserzeugender Komponente oder als dramatisch begründetes Realitätszitat abgewichen, indem das Musikalische aufgewertet und den anderen Aufführungsdimensionen gleichgestellt wird.13 Es geht nicht darum, sämtliche Arten der Musikverwendung im Theater aufzuzeigen – dies wurde bereits weitgehend in der Forschung getan und zwar sowohl theaterhistorisch u. a. von Detlef Altenburg, Ursula Kramer, Hedwig Meier und Adolf Aber als auch bezogen auf das Gegenwartstheater u. a. von Erika FischerLichte, David Roesner und Hans-Thies Lehmann.14 Vielmehr ist herauszustellen, inwiefern die für Aufmerksamkeitsdynamiken relevanten Hierarchisierungs-, Wertungs-, Ordnungs- und Störungsprozesse zur Erscheinung und Wirksamkeit gebracht werden. Zu deren Erörterung sind vorab theoretische Klärungen notwendig – denn ihre Wirksamkeit lässt sich vor allem durch einen Bezug auf ein nach wie vor wirkmächtiges musiktheoretisches Konzept der Musikrezeption aufzeigen, das auf einem Struktur- und Wahrheitsbegriff im Ausgang von Theodor W. Adornos soziologisch orientiertem Konzept des strukturellen Hörens und auf einem Verständnis von Musik als Materialisierung vorgängiger, kultureller (Un-)Werte beruht. An die Erörterung von Adornos strukturellem Hören anschließend ist die seit den 1970er Jahren und verstärkt auch gegenwärtig geäußerte Kritik mit Bezug auf die Musik-

13 Vgl. zur historischen Bedeutung von Musik im Schauspiel als Inzidenz- oder als Bühnenmusik in Detlef Altenburg: »Zwischen Theaterroutine und Experiment. Zur Praxis der Schauspielmusik im 18. und 19. Jahrhundert«, in: Anno Mungen (Hg.), Mitten im Leben. Musiktheater von der Oper zur Everyday Performance, Würzburg 2011, S. 175-191, hier insbesondere S. 179 f. und 182 f. 14 Vgl. David Roesner/Lynne Kendrick (Hg.), Theatre Noise. The Sound of Performance, Newcastle 2011; Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004, S. 209-227; David Roesner: Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson, Tübingen 2003; Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Ein Essay, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2001 (1999), S. 155-158.

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theorie von Rose Rosengard Subotnik aufzuzeigen, die von einem anderen Hören, dem stylistic listening, ausgeht, sowie von Nicholas Cook und Peter Szendy mit der Hervorhebung der performativ-situativen wie klanglich-sinnlichen Dimension der Musikrezeption. Die kritischen Perspektiven von Subotnik, Cook und Szendy setzen sich mit einem musikalischen Werkbegriff auseinander, nach welchem Musik als ein schriftlich in der Partitur fixiertes, logisches System gefasst wird. Im soziologisch geprägten Musikverständnis des Philosophen sowie Kultur- und Musiktheoretikers Theodor W. Adorno wird eine grundsätzliche Beziehung zwischen Musik und sozialem Kontext zugrundegelegt. Auf dieser Relation gründen nicht allein historisch bedingte Veränderungen von Kompositionsstil und Ästhetik, sondern auch entsprechende Bewertungsmaßstäbe, die das Ideal einer sich in der Musik vermittelnden ›Wahrheit‹ ansetzen.15 Um diese Wahrheit darzustellen, kann auf das musikalische Material in seiner Vielfalt – u. a. »Tonbeziehungen, Klänge, Konsonanz- und Dissonanzgrade«16 – in gleicher Weise zurückgegriffen werden. Vorrang hat die Vermittlung des Wahrheitsgehalts, weniger die Weise der Darstellung, wobei aufgrund der zeitgenössischen Situation von Adorno die Dissonanz des Atonalen als einzig legitime musikalische Erscheinungsweise seiner Gegenwart eingeschätzt wird, die zudem eine bestimmte wache Hörweise forciert: »Erst das zerrüttete Kunstwerk gibt mit seiner Geschlossenheit die Anschaulichkeit preis und den Schein mit dieser. Es ist als Gegenstand des Denkens gesetzt und hat am Denken selber Anteil: es wird zum Mittel des Subjekts, dessen Intentionen es trägt und festhält, während im geschlossenen das Subjekt der Intention nach untertaucht.«17

Im Gegensatz zu einem von Absorption, Versenkung und damit einhergehendem Vergessen gekennzeichneten Hören spricht sich Adorno somit für eine von Reflexion durchsetzte Hörweise aus. Die Zwölftonmusik Arnold Schönbergs gilt für ihn als musikalisches Ideal, insofern alle anderen Formen des Komponierens unter Berücksichtigung der zeitgenössischen sozialen Umstände in ihrer Freiheit unmöglich geworden sind. Demgegenüber stellt die Methode Schönbergs eine gleichermaßen

15 Vgl. Adolf Nowak: »Musikästhetik«, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil Bd. 6., hg. v. Ludwig Finscher, 2. Aufl., Kassel/Stuttgart 1997, Sp. 968-998, hier Sp. 996: »Nicht in harmonischen, abgerundeten Werken, sondern in problematischen, brüchigen, ist Wahrheit zu erfahren.« 16 Fubini 2007 (1964), S. 273. 17 Theodor W. Adorno: Die Philosophie der Neuen Musik, Frankfurt a.M. 2003 [Erstveröffentlichung ohne die Notiz vom April 1969, Tübingen 1949], S. 118.

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durch bestimmte Prinzipien formal geregelte als auch in gewissem Maße weiterhin offene Kompositionstechnik dar.18 Der Rezeption tonaler Musik weist Adorno zwei Hörmodi zu, die als ›expressiv-dramatisch‹ sowie ›rhythmisch-räumlich‹ gekennzeichnet werden. Während sie durch zeitgenössische Entwicklungen in der Musik – u. a. durch die von Adorno angegriffenen Formen der Neuen Musik z. B. von Igor Strawinsky – auseinandertreten und, wie Adorno bemerkt, daher »mit Unwahrheit zu zahlen«19 haben, bildet sich an der atonalen, dem Wahrheitscharakter verpflichteten Musik Schönbergs eine ›sensible‹ Hörweise aus, die auf jeden systementsprechend inadäquaten Ton reagiert. »Wer immer mit freier Atonalität umging, weiß von der ablenkenden Kraft eines Melodie- oder Baßtons, der zum zweitenmal auftritt, ehe alle andern da waren.« 20 Die der Zwölftontechnik entsprechende Hörweise geht einher mit »einer Sehnsucht aus der bürgerlichen Urzeit: was immer klingt, ordnend zu ›erfassen‹, und das magische Wesen der Musik in menschliche Vernunft aufzulösen«21. Die Hörenden vollziehen die Ordnung mit, die sich innerhalb des Zwölftonsystems im Verlauf des Erklingens einer Reihe ergibt und aus der sich für sie eine »Art von Perspektive«22 im auditiven Antizipieren der bislang nicht erklungenen, aber nach der Reihensystematik noch anstehenden Töne ergibt. Doch diese Musik geht nicht in Harmonie auf: »Es sind Werke des großartigen Mißlingens.«23 Die Brüche sind bei dieser Musik keine eigentlich zu vermeidenden Fehler, sondern vielmehr stellen sie im Rahmen eines grundsätzlichen Scheiterns ihre wesentliche Qualität dar. »Anzuleiten wäre dazu, Kompositionen strukturell aufzufassen, also ihre Momente derart miteinander zu vermitteln, daß ein Sinnzusammenhang erhellt.«24 So äußert sich Adorno zu seiner Auffassung des adäquaten Musik-Hörens, das unter dem Begriff des strukturellen Hörens in die Musiktheorie eingegangen ist. Es beruht auf einem Verständnis des Musik-Hörens als eines Prozesses der »notwendigen Entfaltung von Musik aus dem Einzelnen zum Ganzen, das seinerseits erst das Einzelne bestimmt«25. Im Begriff der Entfaltung sind die wesentlichen Faktoren des strukturellen Hörens angelegt – er verweist auf die Vorgängigkeit des in der Musik

18 Vgl. Adorno 2003 (1949), S. 63 f., 68 und 72 f. 19 Ebd., S. 181. 20 Ebd., S. 65 und 80. 21 Ebd., S. 66. 22 Ebd., S. 81. 23 Ebd., S. 96. 24 Theodor W. Adorno: »Der getreue Korrepetitor. Lehrschriften zur musikalischen Praxis«, in: Gesammelte Schriften, Band 15, hg. v. Rolf Tiedemann, 1. Aufl., Frankfurt a.M. 2003, S. 157-401, hier S. 184. 25 Ebd.

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bzw. genauer gesagt, in ihren Strukturen angelegten Sinns, welcher in der Rezeption zur Erscheinung gebracht wird. Zudem strebt das strukturelle Hören im Vernehmen der Details immer auf das Ganze hin, also auf den umfassenden Gesamtzusammenhang. Die ›Balance‹ des Gehörten zu erkennen stellt dabei das zentrale Ziel dar, dessen Erreichung durch Konzentration gefördert wird. Sind die Hörenden unkonzentriert, erschwert sich diese Hörweise und führt dazu, dass sie sich durch erhöhte geistige Anstrengung an das zuvor Vernommene erinnern und es in den Zusammenhang mit dem gegenwärtig Erklingenden bringen müssen, um den Sinn angemessen zu erfassen.26 Das strukturelle Hören ist ein Ideal, welches im Sinne eines ›Expert*innen-Hörens‹ den höchsten Wert besitzt und von dem sich im Rahmen einer ›Hörtypologie‹ verschiedene Weisen minder adäquaten Hörens differenzieren lassen. Adorno unterscheidet dabei in absteigender Wertigkeit die Expert*innen von den guten Zuhörenden, Bildungskonsumierenden, emotional Hörenden, Ressentiment-Hörenden, Unterhaltungshörenden, Gleichgültigen, Un- und, schließlich, Antimusikalischen. 27 Das an oberster Position verortete Expert*innenhören kennzeichnet Adorno durch Zuschreibung der Qualitäten vollsten Bewusstseins, hoher Aufmerksamkeit, Offenheit, Wachheit sowie ebenso der reflexiven Distanz.28 Diese Hörer*innen hören nicht einfach alles, sondern sie hören genau all das, was relevant ist, um die gehörte Musik angemessen zu rezipieren, d. h. dass z. B. die einzelnen Bestandteile herausgesondert und benannt werden können oder dass der übergeordnete Sinnzusammenhang, welcher der Intention der Komponist*innen zugeschrieben wird, erkannt werden kann. Dieses Expert*innenhören ist das, was Adorno auch als strukturelles Hören bezeichnet: »Die voll adäquate Verhaltensweise wäre als strukturelles Hören zu bezeichnen. Sein Horizont ist die konkrete musikalische Logik: man versteht, was man in seiner freilich nie buchstäblich-kausalen Notwendigkeit wahrnimmt. Ort dieser Logik ist die Technik; dem, dessen

26 Vgl. ebd., S. 186. 27 Vgl. Theodor W. Adorno: »I. Typen musikalischen Verhaltens« (1962), in: ders.: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, 1. Aufl., Frankfurt a.M. 2003, S. 178-198, hier insbesondere S. 181-196. In früheren Veröffentlichungen differenziert Adorno ebenfalls bereits verschiedene Hörer*innentypen, vgl. z. B. Theodor W. Adorno: »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens« (1938), in: ebd., S. 14-50, hier S. 42 f. Hier unterscheidet Adorno zwischen den ›Enthusiasten‹, die das sinnlich befriedigende Hören nur simulieren, den ›Eifrigen‹, denen nicht die Musik wichtig ist, sondern das Teilnehmen und Dabei-Sein, ohne eine Wirkung zu beabsichtigen, und die ›patenten Kerle‹, die nebenbei Musik hören, Lieder vor sich hinsummen oder auch sich als ›Hörexperten‹ ausgeben, indem sie sich durch Faktenwissen auszeichnen. 28 Vgl. Adorno 2003 (1962), S. 182.

212          Ohr mitdenkt, sind die einzelnen Elemente des Gehörten meist sogleich als technische gegenwärtig, und in technischen Kategorien enthüllt sich wesentlich der Sinnzusammenhang.«29

Dem Expert*innenhören entgegengesetzt ist das von Adorno missbilligte unterhaltende Hören, da es sich primär als Suche nach Zerstreuung darstellt. Musik wird im Modus der Unterhaltung nur dann bewusst rezipiert, wenn sie auffällig wird – so beispielsweise dadurch, dass sie im Nachhinein bemerkt wird, weil die auf ihr Ausbleiben folgende Stille mit einem Mal präsent ist. Häufig findet diese Hörweise nebenbei statt, was die für sie charakteristische dekonzentrierte Aufmerksamkeitshaltung begründet.30 Dieses Hörverhalten ist nach Adorno auch durch eine große Passivität gekennzeichnet, welche die Hörenden davon abhält, sich mit solcher Musik zu beschäftigen, die ihre Hörgewohnheiten herausfordern könnte. »Die spezifische Hörweise ist die der Zerstreuung und Dekonzentration, unterbrochen wohl von jähen Augenblicken der Aufmerksamkeit und des Wiedererkennens [...].« 31 Wiedererkennen des Altbekannten, Gewohnheit, passives, unreflektiertes Aufnehmen des nur nebenbei und halb bewusst Gehörten sind Dimensionen dieses Hörens zur Unterhaltung, dessen Gegenstand Adorno als ›leichte Musik‹ degradiert. Wie er konstatiert, dient diese Musik allein der Ablenkung der Hörenden, durch welche eine ruhiggestellte, gesellschaftliche Zustände nicht hinterfragende Hörer*innenschaft konstituiert wird.32 Adorno stellt fest, dass das Hörvermögen, also die Fähigkeit des Musik-Verstehens im Sinne eines adäquaten strukturellen Hörens, permanent abnimmt und dass somit zu den Expert*innen nur mehr wenige Personengruppen und höchstens noch Berufsmusizierende zu rechnen sind. Sie weisen ein durch die professionelle Ausbildung gut trainiertes Gehör auf und können dementsprechend ein Bewusstsein für die in der Musik enthaltenen Strukturen und Bezüge entfalten.33 Auch wenn dieser Zuhörmodus zunächst auf logische Strukturen und damit auf eine eher rationale Haltung gegenüber Musik verweist, betont Adorno, dass die affektive Dimension für das strukturelle Hören auf spezifische Weise relevant ist. Denn die strukturell Hörenden beziehen sich mit ihren Empfindungen tatsächlich auf die gehörte Musik, während die emotional Hörenden das Gehörte nur als »Medium bloßer Projektion«34 ihrer eigenen Gefühle nutzen.

29 Vgl. ebd., S. 182. 30 Vgl. ebd., S. 194. 31 Ebd., S. 195. 32 Vgl. Theodor W. Adorno: »III. Funktion«, in: ders.: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, 1. Aufl., Frankfurt a.M. 2003, S. 219-235, hier S. 222. 33 Vgl. Adorno 2003 (1962), S. 182 f. 34 Ebd., S. 187.

              213 

         Adornos Konzept des strukturellen Hörens hat in der Musiktheorie vielfältige kritische Debatten ausgelöst.35 Die Kritik richtet sich auf verschiedene Aspekte der Theorie und ist so umfassend, dass sie an dieser Stelle nicht vollständig wiedergegeben werden kann. Daher wird eine Auswahl der Aspekte, die für die vorliegende Arbeit relevant sind, fokussiert. So wird auf die Begriffe des stilistischen Zuhörens bei Rose Rosengard Subotnik, der Affordanz in der Musiksoziologie Tia DeNoras, des plastischen Hörens in der Philosophie Peter Szendys und der Betonung des Aufführungscharakters und des Performativen von Musik bei Nicholas Cook eingegangen.36 Die darin im Wesentlichen artikulierte Kritik richtet sich auf die mit dem Strukturbegriff einhergehende Vernachlässigung – wenn nicht gar Ignoranz – der Dimensionen von Klanglichkeit, Performativität/Performance und alternativer Hörweisen. Über die spezifisch an Adorno adressierte Kritik, die Musikhörenden und ihre Hörweisen weder empirisch noch phänomenologisch untersucht, sondern die soziologische Zusammensetzung und die Art des Hörens allein aus den Strukturen der jeweils analysierten Musik abgeleitet zu haben, konzentrieren sich die Debatten vor allem auf die in beiden Konzeptionen impliziten Hierarchisierungen.37 Rose Rosengard Subotnik hinterfragt die Vorrangstellung des Strukturellen und mahnt an, dass nicht alle musikalischen Arbeiten, sondern nur ein Teil, und zwar derjenige, der einem auf bestimmte Weise ausgerichteten westlich geprägten Kanon entspricht, durch diese Methode gut zu erschließen ist. »The choice of this method, as well as the identity of the music it prefers, reflects our own culturally conditioned stylistic orientation as its users.«38 Sie verortet die Präferenz für strukturelle

35 Anzumerken ist, dass im Rahmen dieser kritischen Auseinandersetzung häufig betont wird, dass Adorno in seinen eigenen Musikanalysen und -beschreibungen über das vom Konzept der strukturellen Musik geforderte ausschließliche Hören von Strukturen hinausging und viel umfassende Analysen auch der Klanglichkeit und der Wirkung des Gehörten vorlegte. Vgl. z. B. Brian Kane: »Review of Peter Szendy, Listen: a history of our ears«, in: Current Musicology 86/2009, S. 145-155, hier S. 153. 36 Übersetzungen, K. R. Im Original stylistic listening, affordance, l‹écoute plastique, music as performance. Vgl. Rose Rosengard Subotnik: »Toward a Deconstruction of Structural Listening« (1988), in: dies.: Deconstructive Variations. Music and Reason in Western Society, Minneapolis/London 1996, S. 148-176, hier S. 170; Tia DeNora: After Adorno. Rethinking Music Sociology, Cambridge/New York 2003, S. 58 sowie S. 154 ff.; Szendy 2001, S. 155 ff.; Nicholas Cook: Beyond the Score. Music as Performance, Oxford/New York 2013, S. 1. 37 Vgl. DeNora 2003, S. 32. 38 Subotnik: »Toward a Deconstruction of Structural Listening« (1996 [1988]), S. 158.

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Zusammenhänge im Kontext der Aufklärung, in deren Rahmen das logische Denken und rationale Nachvollziehen im Bestreben des Verstehens des Gehörten sich auch hinsichtlich der idealen Rezeption von Musik als Norm etabliert hat. Doch eine solche Herangehensweise führt dazu, so Subotnik, dass große Teile von Musik und viele Dimensionen innerhalb der analysierten Musik ignoriert und übergangen werden. Sie konstatiert, dass eine Idealisierung des strukturellen Hörens in einer Vernachlässigung des grundlegenden Mediums der Musik, ihrer je besonderen Klanglichkeit, resultiert.39 Die Auffassung strukturellen Zuhörens beruht demnach im Idealfall auf einer vollständigen Kongruenz von kompositorischer Intention und gehörter sowie verstandener Bedeutung, so dass daraus die Annahme einer im musikalischen Werk angelegten idealen und demnach ›richtigen‹ Hörweise hervorgeht. Sie erfordert höchste Konzentration und Achtsamkeit – Aufmerksamkeitsprozesse, die durch ein hohes Maß an Verdichtung, Intensität und Bewusstheit gekennzeichnet sind. 40 Klanglichkeit, Kontingenz, Ambivalenz oder Momente des Exzesses und der Absenz von Bedeutung bleiben in diesem Fall unberücksichtigt. 41 Im Rahmen der im Konzept des strukturellen Zuhörens implizierten Ausschlussmechanismen manifestiert sich nach Subotnik ein bestimmtes Paradigma der westlichen Kultur und Denktraditon, in welcher Objektivität und Berechenbarkeit mit wissenschaftlichen Methoden und Herangehensweisen der Beobachtung und Analyse verbunden werden.42 Demnach gilt nur dasjenige als von Wert, das sich in eine nach logischen Prinzipien organisierte Ordnung einfügt. In diesem Sinne beschreibt Subotnik die gegenüber der Musik einzunehmende Haltung der strukturell Hörenden als externe und relativ unberührte Beobachterposition, die derjenigen der durch Affektion oder Partizipation Involvierten entgegensteht.43 Strukturelles Hören begründet eine Herangehensweise, die durch Zuschreibung wissenschaftlich-analytischer Strenge und eines Anspruchs an Objektivität und Distanz ausgezeichnet ist und sich – nach Subotniks Deutung – eher in Verbindung mit visuell gewonnenen denn auditiv erfahrenen Erkenntnissen bringen lässt. Denn die Partitur wird gegen-

39 Vgl. ebd., S. 161 f. 40 Ebd., S. 154 f. 41 Ebd., S. 170 und zur Tradition in der Musiktheorie S. 162. 42 Subotnik kritisiert die Theorie des strukturellen Zuhörens dafür, dass sie ihre eigene Historizität und kulturelle Eingebundenheit ignoriere, indem sie genau jenen Zusammenhang von vermeintlicher Objektivität und distanziert-nüchternem Zuhören nicht selbstreflexiv thematisiere. Vgl. ebd., S. 157 und S. 166. 43 Vgl. ebd., S. 157.

              215 

über der Hörerfahrung so stark aufgewertet, dass Musikanalyse primär als Prozess des Lesens, nicht des Hörens stattfindet.44 Solchem Verständnis idealer Musikrezeption stellt Subotnik mit dem Konzept des stilistischen Hörens eine andere Form der musikanalytischen Hörweise entgegen. Sie bezieht sowohl die klanglichen Dimensionen als auch die affektive Wirkung der Musik unter Berücksichtigung des sich wandelnden historischen, kulturellen und sozialen Kontexts und der von ihm geprägten Bedeutungszuschreibungen mit ein. Subotniks These lautet, dass Struktur und ›Stil‹, also je spezifische, gehörte Klanglichkeiten, nicht getrennt voneinander vernehmbar, sondern im Hören eng miteinander verwoben sind, weshalb die Herausforderung der Musikanalyse gerade darin besteht, dieses Zusammenwirken, das mal ein Mit- und mal ein Gegenwirken bedeuten kann, zu beschreiben und zu untersuchen. »Such an emphasis does require a constant effort to recognize and interpret relationships between the elements of a musical configuration and the history, conventions, technology, social conditions, characteristic patterns, responses, and values of the various cultures involved in that music. And such an effort almost invariably requires a willingness to recognize at least the possibility of some positive value in the kinds of immediate, though often diffuse and fragmented, sense that sound and style have for nearly all musical listeners.«45

Subotnik beschreibt das stilistische Hören von Musik demnach als ein umfassenderes Konzept als das enge auf Strukturen bezogene Selektieren.46 In ihm sind auch die sonst vernachlässigten und als potentiell ›irrational‹ abgewerteten Dimensionen von Klang, Stil, kulturellen Zuschreibungen und bekannten Mustern relevant und werden in ihrer unmittelbaren Wirksamkeit auf die Hörenden anerkannt und als Gegenstände der Musikwissenschaft legitimiert. Zu beachten ist demnach alles, was für die Hörenden bedeutsam erscheint. Fixe und vorgängig festgelegte Vorgaben, worauf die Aufmerksamkeit der Hörenden zu zentrieren ist, werden ausgeschlossen. Eine große Herausforderung – und weitere Begründung für ihre vorherige Vernach-

44 Vgl. Subotnik: »Toward a Deconstruction of Structural Listening« (1996 [1988]), S. 161. Vgl. Rose Rosengard Subotnik: »The Challenge of Contemporary Music«, in: dies.: Developing Variations. Style and Ideology in Western Music. Minneapolis/Oxford 1991, S. 265-293, hier insbesondere S. 279: »In a sense, [...] structural listening could take place through intelligent score-reading, without the physical experience of an external sound source.« 45 Subotnik: »Toward a Deconstruction of Structural Listening« (1996 [1988]), S. 172. 46 Vgl. ebd., S. 175: »Only some music strives for autonomy. All music has sound and a style. Only some people listen structurally. Everyone has cultural and emotional responses to music.«

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lässigung – besteht darin, dass diese Dimensionen schwer zugänglich und zu beschreiben sowie subjektiv, situativ und kulturell höchst variabel sind. 47 Ihre Integration in die Musikanalyse provoziert daher den Vorwurf der Beliebigkeit und vor allem auch Fragen nach Möglichkeiten der Bewertung, da sich für die Dimensionen jenseits der Struktur kein Maßstab anführen lässt, der ästhetische Urteile begründen könnte. Subotniks Konzeption erkennt die Subjektivität des Hörens an und zielt darauf, diese Dimension als wichtigen Faktor in den Methoden der Musikanalyse zu berücksichtigen: »This means acknowledging the ability of any listener to regard as highlighted ›foreground‹ elements of music that others have dismissed or ignored as inconsequential ›background.‹ And it therefore means acknowledging the possibility of legitimate differences in the ultimately moral values that can be ascribed to the same music.«48

Was für die eine Hörerin demnach strukturell im Vordergrund zu hören ist, stellt sich für einen anderen Hörer möglicherweise im Hintergrund dar. Das heißt, es ist nicht grundlegend alles Strukturelle bereits in der Musik selbst angelegt und wird von den Hörenden bloß passiv rezipiert, auch wenn die Anordnung in Haupt- und Nebenstimmen auf eine Formation des Hörens hin angelegt ist. »Such a tactic is tellingly futile, for even such explicit stage directions cannot guarantee that the listener will be able, even with strenuous effort, to share the composer’s own perception of a structure.«49 Die jeweils gehörte Musik beeinflusst den Hörvorgang, doch kann sie ihn nie vollständig lenken, so dass sich Hören auch als individueller, kulturell, historisch, biografisch und situativ bedingter Prozess vollzieht, in dem Kontingenzen, Befindlichkeiten, Umstände und Variationen relevant sind. Um zu erklären, auf welche Weise Musik durch ihre jeweilige Verfasstheit unterschiedliche Hörmodi hervorrufen kann, schlägt die Musiksoziologin Tia DeNora den Begriff der musical affordance vor. 50 Dieser Begriff lässt sich nur schwer ins Deutsche übersetzen; doch stammt er aus der in Deutschland geprägten Gestalttheorie, in der mit dem Begriff des Aufforderungscharakters darauf abgehoben wird, dass Gegenstände durch ihre Form und Materialität eine bestimmte Art der Handhabung nahelegen bzw. gar erforderlich machen. Mit Bezug auf die Gestaltphilosophie verwendet James J. Gibson den Begriff der affordance in seiner

47 Vgl. Subotnik: »Toward a Deconstruction of Structural Listening« (1996 [1988]), S. 172: »A medium, as the word implies, tends to elude the possession, control, and to some extent even the conscious awareness of any single individual who makes use of it.« 48 Vgl. ebd., S. 173. 49 Ebd. 50 Vgl. DeNora 2003, S. 46.

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ökologischen Theorie, differenziert ihn aber dadurch vom Ursprungskonzept, dass sein Auffällig-Werden nicht wie in der Gestalttheorie allein vom Vorhandensein eines entsprechenden Bedürfnisses bei den Wahrnehmenden abhängig, sondern immer wahrnehmbar ist.51 Der Aufforderungs- oder Angebotscharakter resultiert dabei aus der Wahrnehmung einer symptomatischen, als ›bedeutungsvoll‹ erlebten Kombination verschiedener Komponenten und Eigenschaften und ist insofern weder vollständig dem Gegenstand noch allein dem Wahrnehmungsprozess zuzuordnen. »An affordance cuts across the dichotomy of subjective-objective and helps us to understand its inadequacy.«52 Ein solcher Angebotscharakter ist nicht mit den einzelnen phänomenologischen Qualitäten eines Gegenstands zu verwechseln, sondern steht – z. B. als Materialisierung seiner Funktion – mit seiner wesentlichen Bedeutung in Verbindung und wird nur von Subjekten rezipiert, die für diese Angebote sensibilisiert oder zu ihrer Ausführung befähigt sind.53 Die Wahrnehmung der Aufforderung ist mit propriozeptiver Wahrnehmung der eigenen Leiblichkeit insofern assoziiert, als dass die diversen Vermögen des eigenen Körpers ins Verhältnis zu den perzipierten Angeboten gesetzt werden. Dabei kann es in diesem Prozess auch zu Fehlinterpretationen der Umwelt kommen, was Gibson aber als grundlegenden Bestandteil der Wahrnehmungsvorgänge bewertet, die immer Missdeutungen aufgrund ähnlicher Aufforderungen enthalten können. Aufmerksamkeitsprozesse besitzen dabei eine besondere Relevanz, denn das Bemerken bestimmter Angebote schließt gleichzeitig andere aus dem Radius der bewussten Wahrnehmung aus. 54 Während der Aufforderungscharakter bei Gibson primär visuell dargestellt wird, überträgt DeNora ihn auf die auditive Wahrnehmung, indem sie ausführt, inwiefern von Musik bestimmte Aufforderungen und Bedeutungszuweisungen ausgehen können. In dem von ihr angeführten Beispiel stellt eine Chorsängerin dar, inwiefern sie ausgehend von den ›Lücken‹ des

51 Vgl. James J. Gibson: »The Theory of Affordances«, in: Robert Shaw/John Bransford (Hg.), Perceiving, Acting, and Knowing. Toward an Ecological Psychology. Hillsdale/NJ 1977, S. 67-82, hier S. 78. 52 Ebd., S. 70. 53 Vgl. ebd., S. 79: »An object is valuable relative to a given action system, one with claws or another with hands.« In diesem Kontext ist mit De Kerckhove auf die Veränderung des Hörsinns im Sinne eines zunehmenden Verlierens von Sensibilität hinzuweisen, da seiner Ansicht nach davon auszugehen ist, dass die Herausbildung von auditiven Mustern im Gehirn, wie sie beispielsweise das Sprachverstehen voraussetzt, auf dem Verlernen anderer Hörmöglichkeiten basiert und mit Jacques Mehler als learning by unlearning zu bezeichnen ist. Vgl. De Kerckhove 1995, S. 103. 54 Vgl. Gibson: »The Theory of Affordances« (1977), S. 81: »To see what is there implies not seeing what is not there.«

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Gesangs das Bestreben spürt, diese durch den eigenen Gesang zu schließen. Hören und Singen wirken in diesem Fall also zusammen am Prozess der Ausführung der rezipierten Aufforderung – hier: die Lücken zu füllen.55 Musik wird in diesem Sinne als eine Art Setting verstanden, das eine spezifische Dramaturgie und Klanglichkeit aufweist und die Hörenden aufgrund dieser Verfasstheit, die auch die im Modus des strukturellen Zuhörens betonten Strukturen und Relationen einschließt, zu bestimmten individuellen, aber immer zugleich kulturell und historisch geprägten Hörweisen animiert. Mit dem Konzept des plastischen Hörens weist Szendy auf Dimensionen des leiblichen Spürens, der Berührung und des Mitvollzugs hin, die jedem Hören inhärent, aber häufig in der Musiktheorie ignoriert worden sind. Dem traditionellen – und vor allem dem strukturellen – Verständnis von Musik entsprechend verkörpert jedes musikalische Kunstwerk einen bestimmten Hörvorgang, und zwar denjenigen des oder der Komponierenden im Vorgang des Komponierens. Diese vorgängige Hörweise materialisiert sich in der entsprechenden Komposition und wird nicht nur als Ideal, sondern auch als Norm des angemessenen Hörens dieser Komposition in der Aufführung etabliert. Die Plastizität des Hörens zeigt sich dabei im relationalen Abstand, der sich von den vielfältigen, individuellen tatsächlichen Hörweisen der verschiedenen Hörenden aus zu dieser vorgängigen und in der Komposition materialisierten auditiven Norm eröffnet. Sowohl im Rahmen dieser Relation als auch im einzelnen Hören selbst, das sich innerhalb des Gehörten ›bewegt‹, ergeben sich die dreidimensional-plastischen Qualitäten des Hörens.56 Plastisch zuzuhören meint, jenseits bestimmter habitualisierter Hörkonventionen im Hören zu einer eigenen Form und Figur des Zuhörens (une figure d’écoute) zu gelangen und durch den Vollzug eines alternativen Hörens auch performativ Kritik an bestehenden Hörregimes zu üben.57 Szendy verbindet mit einem solchen Regime eine bestimmte Hörweise, die von Konzentration, Intensität und Anspannung geprägt ist, und somit Adornos Konzeption des strukturellen Hörens von Musik entspricht, gegen das er sich mit der Konzeption des plastischen Hörens explizit wendet. Denn der Begriff der Plastizität impliziert dreidimensionale Räum-

55 Vgl. DeNora 2003, S. 67. 56 Vgl. Szendy 2001, S. 22 f. 57 Vgl. ebd., S. 169. Brian Kane kritisiert in seiner Rezension von Szendys Publikation, dass der Philosoph, entgegen seiner zentralen Kritikpunkte gegenüber Adorno selbst an keiner Stelle eigene Hörweisen mitteilt bzw. nachvollziehbar und erfahrbar macht, so dass die Konzeption des plastischen Hörens im Detail abstrakt bleibt und selbst wenig ›plastisch‹ – im Sinne eines sich in der Darstellung ereignenden In-Erscheinung-Tretens – ist. Vgl. Brian Kane: »Review of Peter Szendy, Listen: a history of our ears«, in: Current Musicology 86/2009, S. 145-155, hier vor allem S. 153 f.

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lichkeit und relationale Bezüge des Hörens zum Gehörten. Diese Dimensionen manifestieren sich zum einen im zuvor erwähnten Abstand der Hörweisen, aber auch in der Beweglichkeit des einzelnen Hörprozesses, der dynamisch und nichtlinear verfasst ist und zwischen verschiedenen Gewichtungen changiert, von denen eine auch mit der idealisierten Ausrichtung übereinstimmen kann, aber nicht muss. Das Plädoyer für die Vielfalt möglicher Hörweisen im plastischen Hören begründet Szendys Kritik an Adornos Konzept des strukturellen Zuhörens, welchem ein Hörmodus entgegengestellt wird, der zwischen Konzentration und Ablenkung schwankt und in dieser Bewegung des Schwankens, Flatterns, Zögerns (flottements) eher Dimensionen der Unruhe, Uneindeutigkeit und Destabilisierung betont, der aber nichtsdestotrotz als gleichwertiger Zugang zu Musik zu beurteilen ist.58 Szendy deutet auf Freuds Vorstellung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit als motivierenden Impuls hin, die Idee eines Hörmodus zwischen Aufmerksamkeit und Unaufmerksamkeit weiterzuentwickeln. Im unaufmerksam-aufmerksam-flottierenden Zuhören können sich Zusammenhänge aufzeigen, die ansonsten nicht wahrnehmbar wären und verloren gehen würden. Das flottierende Hören bewirkt ein In-Erscheinung-Treten von Relationen, die sich nur als Antwort auf diese Hörweise zeigen. Unaufmerksamkeit wird somit als konstitutive Komponente des plastischen Musik-Hörens eingeschätzt und von Szendy in Kritik eines Konzentration und Fokussierung idealisierenden und seine eigene Historizität überdeckenden Hörregimes im Rahmen des flottierenden Hörens legitimiert.59 An anderer Stelle bezeichnet Szendy diese Hörweise auch als queres Hören (écouter de travers), das sich zu Ansprüchen eines ›korrekten‹, normativ geregelten Hörens in kritischer Abweichung verhält und dazu führt, dass sich etablierte Bewertungskriterien von Expertise und Ignoranz in Bewegung versetzen, woraufhin sich das quere als das ›verantwortlichere‹ Hören bestimmen lässt: »Écouter de travers devient ici, sinon impossible, du moins impardonnable en droit. Or, puisque le signe d’équivalence que Wagner trace implicitement entre surdité et écoute totale

58 Vgl. ebd., S. 128. 59 Ebd., S. 143: »Après avoir assisté à l’un des actes de naissance possibles de l’écoute attentive, il est une question qui reste, persiste, s’amplifie et résonne à mes oreilles, depuis notre lecture d’Adorno: si l’on comprend la nécessité historique selon laquelle se sont conjointement imposées la notion d’œuvre et une politique de l’écoute y répondant, n’y a-t-il pas quelque chose qui s’est aussi perdu dans la bataille quant à la possibilité d’un art de l’écoute distraite? Autrement dit: les auditeurs dissolus sont-ils toujours et nécessairement des sourds, musicalement parlant? N’y a-t-il pas aussi une part de surdité (peut-être plus grande qu’on ne le soupçonnerait) dans la plénitude, voire la totalité qu’appelle l’écoute structurelle?«

220          est réversible, on est en droit de se demander, à notre tour, si ladite écoute totale n’est pas précisément une forme de surdité de la part de l’auditeur. Écouter sans divagation aucune, sans se laisser jamais distraire par ›les bruits de la vie‹, est-ce encore écouter? [...] Une écoute responsable (qui puisse répondre d’elle-même comme de l’œuvre, plutôt que simplement répondre à une loi magistrale), une telle écoute ne doit-elle pas être toujours flottante?«60

Wieder ist es die markante Bewegung des Vertikalen, Transversalen, Queren, durch welche sich Verschiebungen der konventionellen Ordnung ergeben und aufzeigen lassen. Auch wird dieser Querbewegung ein kritisches Potential zugeschrieben, durch welches sich normierte Bewertungskriterien verschieben und sich die Begegnung mit den in musikalischen Arbeiten materialisierten Hörweisen zwar als eine des ›Folgens‹ (je te suis), aber zugleich auch als eine der antwortenden Überlagerung und Transformation (répondre d’elle-même) gestaltet. Abweichenden Hörweisen ist demzufolge gegenüber dem idealisierten Hören Gleichwertigkeit zuzuschreiben, auch wenn in ihnen durch die Dynamiken des Schwankens, Flatterns und Zögerns eher Dimensionen der Uneindeutigkeit, Destabilisierung und Unruhe erfahrbar werden.61 Dass das Hören ein situationsbedingt fragiler Prozess ist, betont auch Nicholas Cook im Rahmen seiner musikanalytischen Ausführungen zur Performativität der Musik, welche er der in der Musikwissenschaft weiterhin verbreiteten Gleichsetzung von ›Musik‹ und Partitur entgegenstellt. »The experience of live or recorded performance is a primary form of music’s existence, not just the reflection of a notated text.« 62 Ist die Partitur dominant gesetzt, lassen sich die für die Musikrezeption und -deutung wesentlichen musikalischen Aufführungen immer nur als Reproduktionen einer vorgängig-abstrakten Vorlage auffassen, so dass der aufgeführten gehörten Musik ein bloß sekundärer Status gegenüber dem schriftlich fixierten Primären, Vorgängigen, Eigentlichen zukommen kann. Dies impliziert ein

60 Ebd., S. 146. 61 Vgl. ebd., S. 128. Wie diese flottierenden Wechsel, Bewegungen und Ambivalenzen in ihrem Vollzug zu beschreiben sind, führt Szendy allerdings nicht näher aus, insofern es ihm auch weniger um Erklärungen dieser Vorgänge als um das Formulieren einer philosophischen Kritik gegenüber einem Hörverständnis geht, in welchem durch Bezugnahme auf die Struktur oder einen vorgängigen und von den Komponierenden intendierten Sinn eine ideale Hörweise konstruiert und als Norm gesetzt wird. Für die vorliegende Arbeit ist es demgegenüber aber von großem Interesse, näher zu analysieren, wie und wodurch sich die Plastizität des Hörens ergibt und verändert, um das Konzept auf die auditiven Wahrnehmungen in verschiedenen Aufführungen anwenden zu können. 62 Nicholas Cook: Beyond the Score. Music as Performance. Oxford/New York 2013, S. 1.

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Verständnis von Musik als schriftlich fixierter Text, in dessen Rahmen die performativen Dimensionen von Konzerten nicht berücksichtigt werden: »In a nutshell, musicology was set up around the idea of music as writing rather than music as performance. To think of music as writing is to see its meaning as inscribed within the score, and accordingly to see performance as the reproduction of this meaning.«63

Cook kritisiert an Adornos Theorie des Weiteren die Uneindeutigkeit der Beziehung zwischen Musik und Kontext.64 Er schlussfolgert, dass diese Beziehung arbiträr sein muss, insofern sie jeweils vom historischen Umfeld abhängt, das in ihr ja auf bestimmte Weise enthalten und zum Erklingen gebracht worden sein soll. »Wenn allerdings die Beziehung zwischen Musik und Bedeutung bloß arbiträr ist, gänzlich abhängig von historischer Kontingenz, dann gibt es nichts in der Musik, das die Interpretation einschränkt.« 65 In der Fortführung dieses Gedankens zeigt sich in Cooks Theorie eine Verbindung zu Subotniks Konzept des stilistischen Zuhörens, insofern im Rahmen der ungebundeneren, kreativen Interpretation der Musik durch die Performenden auch ihr spezifischer Stil ins Zentrum der musikanalytischen Beschäftigung zu rücken ist.66 Auch das Kriterium der Struktur ist in Cooks methodologischer Überlegung relevant, stellt es doch eines der wesentlichen Merkmale von Konzerten dar, in sich nach bestimmten Prinzipien geordnet zu sein, doch immer ist auch auf die jeweils konkrete Aufführungssituation und die Bedeu-

63 Vgl. ebd., S. 1. Cooks Forderung einer stärkeren Einbeziehung der Aufführungsdimensionen von Musik findet in der deutschsprachigen Musikwissenschaft in den Publikationen von Christa Brüstle ein Echo. Sie plädiert für eine musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den aus den Performance Studies zu übernehmenden Performanz- und Performativitätskonzepten, durch die das weiterhin aktuelle Verständnis von Musik als Text abzulösen ist. Sie ermöglichen es, auch solche Dimensionen zu berücksichtigen, die in den auf Partituren oder auf einem Musik-als-Text-Verständnis konzentrierten Analysen nicht erfasst werden – möglich wird es, die Ereignishaftigkeit, Situationsbedingtheit und Kontingenz der sich erst im Aufführungsprozess konstituierenden Musik gerecht zu werden und sie angemessen in die Analyse einzubeziehen. Vgl. Christa Brüstle: »›Performance studies‹ – Impulse für die Musikwissenschaft«, in: Corinna Herr/Monika Woitas (Hg.), Musik mit Methode: Neue kulturwissenschaftliche Perspektiven, Köln 2006, S. 253-268, hier S. 256 ff. und S. 261. 64 Nicholas Cook: »Musikalische Bedeutung und Theorie«, in: Alexander Becker/Matthias Vogel (Hg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, Frankfurt a.M. 2007, S. 80-128, hier S. 85. 65 Ebd., S. 86. 66 Vgl. Cook 2013, S. 3.

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tung des Kontextes einzugehen.67 In Ablehnung einer Herangehensweise an Musik als ›Kommunikation‹, die auf der Vorstellung einer Vermittlung der Ideen der Komponierenden durch die Performenden an das Publikum basiert, betont Cook mit dem Begriff der interpretativen Mobilität die kreative Freiheit der Performenden, die ihre eigene Hörweise der zu spielenden Musik im musikalischen Vollzug zur Erscheinung bringen können.68 So lassen sich beispielsweise, wie Cook ausführt, auch ›geheime Melodien‹, die möglicherweise von den Komponierenden selbst nicht bemerkt oder intendiert wurden, hervorheben und zu Gehör geben. Die zeitlichen und räumlichen Besonderheiten des in TRUST über längere Phasen Hörbare machen es erforderlich, adäquate Beschreibungsweisen zu entwickeln, um die spezifische Verfasstheit des Gehörten sprachlich angemessen berücksichtigen und analysieren zu können. In diesem Sinne ist es wichtig, ein entsprechendes Verständnis des Hörens, nach welchem dieses nicht ausschließlich oder vorrangig durch den Verlauf von Zeit, sondern maßgeblich auch von räumlicher Ausdehnung geprägt ist, darzulegen und es für die Analyse durch Bezugnahme auf entsprechende Begriffe produktiv zu machen. Der nun gewählte Ansatz bezieht sich auf die von verschiedenen Disziplinen entwickelten Konzepte auditiver Räumlichkeit, die mit diversen Begriffen – wie z. B. Hör- und Klangraum in der Musikwissenschaft und Sound Art-Theorie, Soundscape in der Acoustic Ecology, auditives Feld in der Phänomenologie – erfasst wird. Ich möchte sie mit Konzepten auditiver Zeitlichkeit im Begriff des Hörzeitraums verbinden, denn es zeigt sich, z. B. an der Wahrnehmung der Soundströme in TRUST, dass räumliche Dimensionen im Hören vorrangig über den Verlauf von Zeit und als Gestaltung von Zeit manifest werden. Räumliche und zeitliche Qualitäten werden simultan erfahren und bilden ein mit Leiblichkeit zusammenhängendes und sich auf diese auswirkendes Gesamtgefüge.

      Ausgehend von der auditiven Wahrnehmung, die sich in TRUST ergeben hat, ist die Hörweise während der beschriebenen Szene als Hineinhören zu bestimmen. Grundlegend für das Hineinhören ist die Annahme der Räumlichkeit des Gehörten, die von Parametern der Nähe, Ausdehnung, Schichtung, Tiefe, Überlagerung, Vermischung u. a. geprägt ist. Sie wird im Folgenden anhand des zu veranschaulichenden Begriffs der plastischen Hörzeiträume am konkreten Beispiel des Hörens in TRUST dargestellt. Darüber hinaus impliziert der Begriff des Hineinhörens eine Beweglichkeit des Hörens, das durch Verschiebungen von auditiv-attentionalem Zentrum,

67 Vgl. ebd., S. 91. 68 Vgl. Cook: »Musikalische Bedeutung und Theorie« (2007), S. 82.

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Rand und Horizonten innerhalb der auditiven Räumlichkeit variieren kann. Die Analyse des Hörens in TRUST verdeutlicht, dass und inwiefern es durch verschiedene Aufmerksamkeitsdynamiken zu dem Eindruck kommen kann, die Hörenden könnten im Gehörten nachgerade ›umherwandern‹. Bei Peter Szendy findet sich diesbezüglich – in der englischsprachigen Übersetzung von Écoute. Une Histoire de nos Oreilles durch Charlotte Mandell – der metaphorische Ausdruck des wandering im Sinne einer auditiven Beweglichkeit, deren Bedeutungsspektrum sowohl ein mobiles Hin- und Herwandern als auch ein Abwandern, also ein Sich-Verlieren in der Zerstreuung umfasst.69 Die Möglichkeit auditiv-attentionaler Mobilität wird im Rahmen von Konzeptionen des Auditiven als immersiver Hülle bislang weitgehend vernachlässigt. Entsprechende Theorien sind im Folgenden anzuführen, um die Problematik zu veranschaulichen, auf welche das Hören in TRUST und der dafür einzuführende Begriff des Hineinhörens hindeutet. Im Anschluss daran – und im Gegensatz dazu – ist schließlich aufzuzeigen, inwiefern die in TRUST evozierte Hörweise nicht nur die Räumlichkeit, sondern auch die Beweglichkeit des Hörens erfahrbar macht. In der Theorie des Auditiven ist das Phänomen der auditiven Zentrierung bestimmter Komponenten innerhalb eines umfassenderen Klangraums umstritten, wird teilweise gar vollständig negiert, so durch Bertram Scharf in der Psychologie oder in der Phänomenologie von Hermann Schmitz. Die Annahme der NichtExistenz solcher Hörweisen begründet sich maßgeblich im Rahmen der von Jonathan Sterne als audiovisuelle Litanei bezeichneten, simplifiziert binären Dichotomie von Hören und Sehen. Innerhalb dieser vor allem die Gegensätze der Wahrnehmungsmodalitäten betonenden Struktur wird gegen die Möglichkeit des Hinoder Hineinhörens aufgrund der vermeintlichen ›Blicklosigkeit‹ der von Immersivität und Nähe geprägten auditiven Wahrnehmung im Gegensatz zur Direktionalität und Distanzierung des Sehens argumentiert. Schmitz betont die grundsätzliche Offenheit und Unverschließbarkeit des Hörens ebenso wie die im Gegensatz zum Sehen beim Hören grundlegende und nicht zu hintergehende Ungerichtetheit, das demzufolge immer räumlich weit ist und alle Laute der Umgebung aufnimmt, gar aufnehmen muss: »Das Sehen hat im Blick eine Waffe motorischer Selbstbehauptung; dem Gehörten ist man ohne solche Waffe ausgeliefert: Man wird von ihm getroffen wie vom fremden Blick, der

69 Vgl. Szendy: Listen. A History of Our Ears, New York 2008, S. 122. Im Original ist die Rede von divagations, was sich mit ›Abschweifen‹ übersetzen lässt. Vgl. Szendy 2001, S. 146.

224          aber wenigstens mit dem eigenen zurückgeworfen werden kann, während das Hören auch in der Beziehung blicklos bleibt.«70

Auditive Wahrnehmung zeichnet sich demnach nicht durch Gerichtetheit, sondern vielmehr durch eine in sich nicht weiter differenzierte, ›flächenlose‹ Räumlichkeit, eine ›Weite‹ aus, in der die Hörenden den auf sie eindringenden Lauten konstant ausgesetzt sind. 71 Im speziellen Fall des Musik-Hörens allerdings weist Schmitz dem Gehörten zumindest eine ›schwache‹ Richtungsunterscheidung verschiedener Laute und in diesem Sinne entsprechende Auswirkungen auf die Hörenden zu, insofern »die Richtungen der Bewegungssuggestionen des Schalls nicht nur der Musik den Charakter geben, sondern auch den hörenden Leib führen und in dessen Bewegungen – z. B. beim Tanzen – einfließen.«72 Das Verhältnis zwischen Gehörtem und Hörenden wird von Schmitz einseitig als Affizierung dargestellt, die sich in und aufgrund der Weite des Hörens ereignet und dem Gehör keine Möglichkeiten des Hin- und Herschweifens oder der zentrierenden Heraushebung innerhalb der auditiven Räumlichkeit zugesteht.73 Auffällig an Schmitz’ Bestimmungen ist neben der Bezugnahme auf die traditionelle Gegenüberstellung von Vision und Audition vor allem, dass durch Verwendung der entsprechenden metaphorischen Terminologie das Hören als potentiell das Subjekt ›ausliefernd‹ und ›gefährdend‹ dargestellt wird. Deutlich wird erneut, dass über die Beschreibung der sinnlichen Wahrnehmungsprozesse diese durch die Begriffswahl implizit auch bewertet und innerhalb eines bestehenden dichotomischen Schemas verortet werden können. Zwar mag es sein, dass die Augen durch die Augenlider verschließbar sind und die Ohren kein entsprechendes Verschlussorgan besitzen, doch werden die entsprechenden Gegenüberstellungen häufig anhand von Beispielen aufgezeigt, die im Grunde nicht miteinander zu vergleichen sind. Ereignet sich in unmittelbarer Umgebung plötzlich ein lauter Knall, so werden Hörende kaum die Möglichkeiten haben, diesen Laut zu überhören oder währenddessen wegzuhören; vielmehr ist davon auszugehen, dass sie von dem extrem lauten und unerwarteten Geräusch ›getroffen‹ werden. In dieser Extremsituation – die auch im Theater vorkommt, wobei die Zuschauenden im Vorhinein auf verschiedene Weise gewarnt sein können 74 – ist Schmitz’ Bestim-

70 Hermann Schmitz: »Leibliche Kommunikation im Medium des Schalls«, in: Petra Maria Meyer (Hg.), Acoustic Turn, München 2008, S. 75-88, hier S. 85. 71 Vgl. ebd., S. 83. 72 Ebd. 73 Vgl. ebd., S. 86. 74 Dieses Gewarnt-Sein manifestiert sich als Antizipation und Erwartung des lauten Geräuschs, was dessen eindringliche und überfallartige Wirkungsweise teilweise vorwegnimmt und somit reduziert. Es kann z. B. wie bei Romeo Castelluccis The Four Seasons

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mung und Bewertung sicher rechtzugeben, doch vergleicht er dies nicht mit äquivalenten Beispielen aus dem Bereich der visuellen Wahrnehmung, insofern diesbezüglich vor allem die durch Bewegungen des Blicks vollzogene Orientierung im Raum angeführt wird. Vielmehr ist einerseits zu fragen, ob nicht durch sehr große Helligkeit das Abwenden des Blicks trotz verschlossener Lider auch problematisch werden könnte und warum dieser Fall nicht analog zum schrillen Geräusch erörtert wird. So hört das Sehen, wie Ihde konstatiert, bei geschlossenen Augen nicht einfach auf: »Continuity of presence is not restricted to auditory presence but is a field characteristic of all perceptual experience. I continue to ›see‹ even when my eyes are closed, for, while I have closed out the things before me, my field does not become empty or disappear but merely turns dark (black or reddish).«75

Andererseits ist zu überlegen, welche Bedeutung den mit diesen Wahrnehmungsprozessen verbundenen Aufmerksamkeitsdynamiken zuzuweisen ist, denn über sie findet, wie ich meine, bezogen auf beide Sinne, vorrangig jedoch im Hören, eine Erweiterung oder Verengung des innerhalb der Wahrnehmung Zentrierten statt. Es ist somit das Wirken der auditiven Aufmerksamkeit, in welcher sich die Funktion, die beim Auge das Augenlid übernimmt, weitgehend auffinden lässt. Zu unterscheiden sind sie aufgrund der jeweils gegebenen verschiedenen Kontrollmöglichkeiten – Augenlider schließen sich vor Schreck zwar aus einem Reflex heraus, doch können sie auch intendiert und kontrolliert vom Subjekt geschlossen werden, während diese subjektiven Steuerungsmöglichkeiten bezüglich eines Anders-, Überoder Weghörens als weniger stark intentional oder kontrolliert zu bestimmen sind.76 Von dieser These geht auch Bertram Scharf aus, dessen Argumentation allerdings dazu dient, auf die ›Blicklosigkeit‹ des Hörens hinzuweisen. So nimmt Scharf an, dass die Ohren nicht gezielt auf ein einzelnes Phänomen hin ausgerichtet werden können, weil das Gehör grundsätzlich immer offen und empfangend ist. 77

Restaurant 2012 im Haus der Berliner Festspiele durch die Verteilung von Ohrstöpseln und der Ansage, dass es laut wird, vor der Aufführung geschehen, aber auch dadurch, dass die Zuschauenden die Klangquelle bereits sehen und das Geräusch erwarten können wie beispielsweise in Thomas Ostermeiers Inszenierung von Hedda Gabler von 2005 einen Revolver, der dann geladen und auf eine Vase gerichtet wird. 75 Vgl. Ihde 2007, S. 81. 76 Mit diesen Aufmerksamkeitsdynamiken und Hörweisen beschäftigt sich das folgende Kapitel 4.3 Signale-Hören und die Eindringlichkeit des ›Nicht-Signifikanten‹. 77 Bertram Scharf: »Auditory Attention: The Psychoacoustical Approach«, in: Harold Pashler (Hg.), Attention, Hove 1998, S. 75-117, hier S. 75.

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Vielmehr seien es demnach die – in Scharfs Konzeption offenbar vom Hören zu trennenden – Prozesse der Aufmerksamkeit, über die durch Fokussierung, Bündelung, Selektion und Ausschlussmechanismen die wesentlichen und wichtigen Informationen der akustischen Umwelt herausgefiltert und an das Gehirn weitergeleitet werden. Zwar sind diese Ausführungen einerseits zu bekräftigen, insofern sie die Relevanz der auditiven Aufmerksamkeit für die Konstitutionsprozesse des Gehörten betonen, doch andererseits kommen sie zu dieser Aussage über Prämissen und Schlussfolgerungen, die kritisch zu hinterfragen sind. Denn meiner Meinung nach ist die Trennung zwischen auditiver Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, von der Scharfs Studien ausgehen, nicht – und noch nicht einmal nur im heuristischen Sinne – aufrechtzuerhalten. In der Annahme einer Separatheit von Wahrnehmung und Aufmerksamkeitsprozessen werden Dimensionen voneinander getrennt, die wie Form und Materie aneinandergebunden sind. Wenn Aufmerksamkeit, wie in der vorliegenden Arbeit entwickelt und im zweiten Kapitel Aufmerksamkeit in der Phänomenologie: Sphärische Differenzdynamik ausgeführt wurde, als differenzerzeugendes, strukturgebendes, das Hervor- und Zurücktreten bestimmter Komponenten herbeiführendes Wirkprinzip aufgefasst wird, lässt es sich in keinem Fall vom Hören und vom Gehörten trennen, denn diese Prozesse beruhen nicht nur wesentlich, sondern vollständig auf Dynamiken der auditiven Aufmerksamkeit. Hören ohne Aufmerksamkeitsgewichtung ist nicht möglich, vielmehr gestaltet sich Hören – auch in seinen offenen, anfälligen Dimensionen – immer über ein bestimmtes Wirken der Aufmerksamkeit, die selbst gar nicht, sondern nur im Resultat des von ihr konstituierten Gehörten in Erscheinung tritt.78 Auch im Affiziert-Werden, Aufmerken oder in extremer Offenheit und Weite ist es demnach die Gewichtung der Aufmerksamkeit, welche diese Prozesse ermöglicht und Haltungen hervorbringt. In den folgenden Abschnitten zum Hören in TRUST werden gleichermaßen Möglichkeiten auditiver Zentrierung und auditiver Weite erörtert, um zu verdeutlichen, dass die sich hartnäckig in der Theorie des Auditiven haltende Annahme einer prinzipiellen Offenheit und Verletzbarkeit des Hörens unter Berücksichtigung der auditiven Aufmerksamkeit zu differenzieren ist. In Bezug auf die Plastizität des Hörens ist zwischen dem Raum des Hörens und dem Hörraum zu differenzieren sowie die spezielle Prägung musiktheoretischer Begriffe des Ton- oder Klangraums hervorzuheben. Es handelt sich hierbei allerdings um eine heuristische Trennung, da diese Dimensionen im Hören zumeist in ihrem Zusammenwirken wahrgenommen werden. Teilweise kann es aber auch zu

78 Es läge demnach nahe, Aufmerksamkeit nur als eine bestimmte Qualität oder als eine Gruppe von Qualitäten des Gehörten aufzufassen, doch das griffe zu kurz, denn nicht berücksichtigt wäre damit, dass ohne Gewichtungsprozesse der Aufmerksamkeit nichts bewusst gehört werden könnte.

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Differenzen zwischen den räumlichen Parametern kommen, so dass einzelne Dimensionen stärker hervortreten.79 Die begriffliche Differenzierung dient insgesamt dazu, das Aufzeigen der spezifischen Hörweise des Hineinhörens anhand der diversen möglichen Einflüsse, Bedingungen und Prägungen zu veranschaulichen. Mit dem Raum des Hörens wird die spezifische räumlich-leibliche Wahrnehmungssituation im Theater bezeichnet, während der Begriff des Hörraums sich auf die phänomenal erfahrbare auditive Wahrnehmung bezieht. Beide können, müssen aber nicht übereinstimmen. Bei meinem letzten Besuch der Aufführung von TRUST am 11. November 2012 saß ich frontal zur Bühne im ranglosen Zuschauerraum der Schaubühne. Meine Positionierung innerhalb des Raums – zur Bühne in einem mittleren Abstand, aber auch in einer stark seitlichen Versetztheit – stellten zwei Faktoren dar, die meine auditive Wahrnehmung insofern beeinflussten, als dass die von der Bühne her und die über die Lautsprecher kommenden Laute sich aufgrund der diversen Distanzen und Richtungen zu einer bestimmten gehörten Lautlichkeit vermischten. Das heißt, an jeder Position im Raum konstituiert sich im Auditiven eine besondere Lautlichkeit, die, noch vor jeglicher Einbeziehung subjektiver und kontextuell-kultureller Parameter, nur an genau dieser Stelle auf diese Art zu hören ist. Zwischen der Lautlichkeit, die ich an meinem Platz rezipieren kann, und derjenigen meines direkten Sitznachbarn ist die Differenz dabei zwar möglicherweise nicht besonders signifikant, doch ergeben sich zwischen einem Sitzplatz in der letzten oder ersten Reihe und einer Position in der Mitte des Publikumsbereichs oder an der Außenseite durchaus starke Unterschiede.80 Aufgrund meiner Platzierung in dieser Aufführung nahm mein Gehör am stärksten diejenigen Lautsprecher auf, die sich auf der entsprechenden Seite des Saals unmittelbar in meiner Nähe befanden, vor allem also

79 Clemens Risi hebt in der Auseinandersetzung mit der Aufführungserfahrung in Heiner Goebbels Eraritjaritjaka hervor, wie sich die Prozesse des Hörens, Sehens und Spürens mit- und gegeneinander verschieben, was Auswirkungen auf die jeweils entstehenden Räumlichkeiten hat. Clemens Risi: »Der Rhythmus des Zwiebelhackens als RaumErfahrung. Raum der Musik und Musik des Raumes in Heiner Goebbels‹ Eraritjaritjaka«, in: Kati Röttger (Hg.), Welt – Bild – Theater. Bildästhetik im Bühnenraum, Forum Modernes Theater, Band 38, Tübingen 2012, S. 243-249. 80 In einem Gespräch im WAU am 04.02.2011 sagte mir Matthias Grübel, Theatermusiker für Falk Richters und Anouk van Dijks dritte Produktion Protect Me, deren Premiere am 27.10.2010 an der Schaubühne am Lehniner Platz stattfand, dass bei der Produktion der Theatermusik von einem für die auditive Wahrnehmung idealen Sitzplatz, oder besser, von einer idealen Sitz-Zone ausgegangen wird, die sich zentral im Publikumsbereich befindet und auf die hin die Kanäle der jeweils einzelnen Soundspuren über die im Raum verteilten Lautsprecher austariert wird.

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den einen etwas schräg oberhalb von mir hängenden, über den eine bestimmte Soundsequenz zu hören war. Diese Nähe hing nicht von Prozessen der auditiven Aufmerksamkeit ab, sondern ergab sich über die tatsächliche Distanz zwischen dem Lautsprecher und meiner Positionierung im Raum und den sich daraus im Soundmix ergebenden Lautstärkeverhältnissen. Solche räumlichen Abstände zu verschiedenen Lautquellen begründen im binauralen Hörvorgang die Herausbildung einer – in Psychologie und Neurologie konzeptualisierten und erforschten – auditory space map, eines Hörraums, der zwar mit der visuellen Wahrnehmung abgeglichen wird, aber zu einer primär auditiv fundierten kognitiven Repräsentation der räumlichen Umgebung führt.81 Wie in der Psychologie betont wird, dient der alltägliche Hörvorgang der Orientierung und somit zum einen der auditiven ›Kartografierung‹ der räumlichen Umgebung, zum anderen der eigenen Verortung innerhalb dieses Raums.82 Räumliches Hören verläuft dabei weniger als Prozess einer z. B. echolotartigen über Schallaussendungen vollzogenen Lokalisierung, sondern als Berechnung der räumlichen Position des Gehörten, basierend auf der sich durch das binaurale Hören ergebenden zeitlichen Differenz zwischen den Wahrnehmungen beider Ohren. Wie die Psychologin Diana Deutsch betont, entsteht auditive Räumlichkeit demnach als Resultat eines kognitiv vollzogenen Bemessungsprozesses verschiedener Zeiten und Lautstärken.83 In der Hörerfahrung in TRUST manifestiert sich die auditiv-attentionale Sphäre in ihren omnidirektional erfahrbaren Nähe- und Distanzverhältnissen, deren Bezüge untereinander und auf die Hörenden sich durch die variierende Lautlichkeit der Aufführung stets im Wandel befinden. Spezifische räumliche Verhältnisse kamen zu Gehör, die als auditive Empfindung von räumlicher Tiefe aufzufassen waren. Die pochenden, wabernden, dröhnenden Bässe wirkten auditiv wie eine Vertiefung und Ausdehnung der Räumlichkeit nach unten. Nicht nur wird sie im Vibrieren des

81 Vgl. z. B. Catherine Carr: »Sounds, Signals and Space Maps«, in: Nature 415 (3) 2002, S. 29-31. Vgl. zum binauralen Hören und zur Bedeutung der zwischen beiden Ohren entstehenden ›Interaural Time Difference‹ (ITD) für die räumliche Umgebungswahrnehmung in David McAlpine: »Creating a Sense of Auditory Space«, in: The Journal of Physiology 566 (1) 2005, S. 21-28. 82 Vgl. grundlegend Jens Blauert und Jonas Braasch: »Räumliches Hören«, in: Stefan Weinzierl (Hg.), Handbuch der Audiotechnik, Berlin/Heidelberg 2008, S. 87-121, Jens Blauert: Räumliches Hören, Stuttgart 1974; Räume zum Hören, hg. v. J.-M. Schneider, Köln 1989; Ernst Terhardt: »Physiologische Aspekte des Hörens in Räumen«, in: Räume zum Hören, Köln 1989, S. 16-23. 83 Vgl. Deutsch 1994, S. 349. Zur weniger ausgeprägten Genauigkeit der Richtungsbestimmung u. a. in Bertram Scharf: »Auditory Attention: The Psychoacoustical Approach«, in: Pashler (Hg.), Attention, East Sussex 1998, S. 75-117, hier S. 100.

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Bodens und des Parkettgerüsts tatsächlich an den eigenen Füßen spürbar, die leicht zu kribbeln anfangen, wenn die Bässe das Material zum Schwingen bringen, sondern es wird eine Tiefe hörbar, die im Hören eine eigenständige räumliche Ausdehnung besitzt und erfahrbar macht. Sie ist nicht begehbar und auch nicht sichtbar, und dennoch ist sie da und auf gewisse Weise auditiv zu erkunden. Allein im Hören zeigt sich diese Tiefe in all ihrer Weite und Unermesslichkeit, die sich einer Erfassung mithilfe quantitativer Maßstäbe entzieht. In der zuvor beschriebenen Anfangsszene von TRUST hörte ich bestimmte Soundströme in ihren je spezifischen klanglichen Qualitäten, z. B. Klangfarben des Metallischen, ›Bliependen‹ oder Klickenden, die zudem auf unterschiedliche Prozesse der gehörten Reibung und Bewegung hinweisen von spezifischer Dauer und stark variierender Tonhöhe waren.84 Doch nehme ich dabei nicht diese einzelnen Klangqualitäten wahr und registriere sie bewusst innerhalb eines messbaren Maßstabs, vielmehr konstituiert sich um mich herum eine Art auditive Landschaft 85 . Die Zusammensetzung des Gehörten aus mehreren, für sich jeweils einzeln hörbaren, aber zusammenwirkenden Soundströmen führte dazu, dass sie wie räumliche Gebilde wirkten, die ich mit dem Begriff des Sound-Gewölbes beschreiben möchte, das sich um mich als Hörende eröffnete und mich dabei – je nach Pulsationsphase – mal enger oder mal weiter – um- und einschloss.86 Das Gehörte ist insofern als ein sich im Hören herausbildendes relationales Gefüge zu begreifen, in dem zum einen verschiedene Komponenten innerhalb des Gehörten und zum anderen diese mit den Hörenden in Bezug gesetzt werden. In der Psychologie werden diese auditiv-räumlichen Relationen mit dem Begriff des Hörraums erfasst. Insofern dieser Begriff die potentiell gehörte Räumlichkeit

84 Was vor allem gehört wird, sind Bewegungen, Prozesse und Energien, wie Albert Bregman konstatiert. Vgl. Bregman 1990, S. 37: »For humans, sound serves to supplement vision by supplying information about the nature of events, defining the ›energetics‹ of a situation.« 85 Während in der Soundscape-Forschung von bestehenden Räumen ausgegangen und deren spezifische Lautlichkeit durch genaues Hin- und Abhören untersucht und dokumentiert wird, geht es mir im Vorliegenden um die Räumlichkeit im Gehörten, die zwar durch raumakustische Faktoren beeinflusst ist, die sich aber zugleich auch in den innerlautlichen Bezügen des Wahrgenommenen manifestiert. Vgl. zum Begriff der Landschaft in Bezug auf Klangräume auch in Marcus Maeder: »Klang, Raum und Virtualität – Einleitung«, in: Marcus Maeder (Hg.), Klangliche Milieus. Klang, Raum und Virtualität, Bielefeld 2010, S. 9-15, hier S. 11. 86 Vgl. Waldenfels 2004, S. 199: »Klänge, Geräusche und Stimmen kommen aus einer bestimmten Richtung, aber sie begegnen uns niemals frontal wie das, was wir ins Auge fassen.«

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bezeichnet, stellt er nach Jens Blauert »die Gesamtheit aller möglichen Hörereignisorte«87 dar. Psychologische Studien lassen darauf schließen, dass sich über die in einem Raum tatsächlich gegebenen Distanzen zu bestimmten Lautquellen hinaus auch weitere Faktoren – wie z. B. Wiedererkennung oder Erwartung im räumlichen Hören – gleichermaßen auswirken, insofern bekannte Laute beispielsweise als näherliegend wahrgenommen werden könnten als unbekannte. Dabei werden die verschiedenen Lautquellen aber nicht im Einzelnen, sondern immer in Relation zu den anderen wahrgenommenen Lauten und als umfassende, vielschichtige Umgebungswahrnehmung rezipiert, deren verschiedene Komponenten simultan gegeben sind. Nach Stephen Handel manifestiert sich daher im Hören ein ›Sinn für den Raum‹, »a sense of space«88. Neben der Psychologie finden sich auch in der phänomenologischen Philosophie Konzeptionen des Hörraums – bei Schmicking gibt es den Begriff eines primären Hörraums, der unabhängig von der visuellen oder taktilen Erschließung der räumlichen Umgebung durch die Lokalisierung einzelner Lautquellen entsteht. 89 Schon bei Neugeborenen bildet sich »über alle Sinnesfelder ein gemeinsamer, amodaler perzeptiver Raum [aus], der sich im Laufe der Ontogenese erst in die modalitätsspezifischen ›Sinnes-Räume‹ differenziert« 90 . Wie genau dieser primäre Hörraum entsteht bzw. konstituiert wird, sei zwar bislang noch ungeklärt, doch gebe es zahlreiche Hinweise empirischer Forschung, die auf die Existenz eines solchen hindeuteten.91 Schmicking bezeichnet diesen Hörraum auch als Sphäre und hyletische Fülle, welche die Hörenden umgibt.92 »Aus allen Richtungen dringen Klänge, nach allen Richtungen kann ich lauschen, nirgends sind da ›blinde Flecken‹.«93 Die Hörenden sind auf diese Weise umhüllt und, wie Bernhard Waldenfels darstellt, ›eingetaucht‹ in das Gehörte, so dass schon vor jeder Körper- und Kopfbewegung die hörbaren Laute simultan und omnidirektional gegeben sind. »Ferner können wir in eine Klangwelt eintauchen wie in ein Element. Diese Immersion ist ein Spezifikum

87 Blauert 1974, S. 3. 88 Stephen Handel: Listening. An Introduction to the Perception of Auditory Events, Cambridge, Ma./London 1989, S. 107. 89 Vgl. Schmicking 2003, S. 129 ff. Es geht Schmicking an dieser Stelle um eine Erörterung der Argumente, ob der Erfahrung eines Hörraums die Entwicklung des Tast- und Sehsinns vorausgehen muss, wie Husserl und andere annehmen, Schmicking jedoch in Frage stellt. 90 Ebd., S. 131. 91 Vgl. ebd., S. 129 f. 92 Vgl. ebd., S. 122. 93 Ebd., S. 124.

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der Hörsphäre; darin kommt sie der diffusen Geruchsatmosphäre näher als dem Anblick, den uns etwas oder jemand gewährt.«94 Aufgrund der zuvor dargelegten Bezüge des räumlichen Hörens zur Zeitlichkeit ist der Begriff des Hörraums um die zeitliche Komponente zu ergänzen und wird demzufolge im weiteren Verlauf als Hörzeitraum verwendet. Der Begriff der plastischen Hörzeiträume bezieht sich auf jeweils temporär erfahrene Gefüge und Dynamiken innerhalb der auditiv-attentionalen Sphäre. Mit ihm lassen sich temporär stabile Anordnungen oder auch Verschiebungsbewegungen erfassen, während die auditiv-attentionale Sphäre auf die grundlegende Verfasstheit der auditiven Aufmerksamkeit zielt. Plastische Hörzeiträume sind insofern die jeweils konkreten Formen, welche die auditiv-attentionale Sphäre zu einem bestimmten Zeitpunkt oder Zeitraum besitzt. Der Hörzeitraum, der sich im Hören ergibt, steht in einem Spannungsverhältnis zum Raum der Umgebung und zur Dauer der Aufführung, insofern sich wahrgenommene und nach bestimmten Maßstäben messbare Faktoren nicht entsprechen müssen. Die konkrete Umgebung besitzt zwar Auswirkungen auf das Hörereignis, das sich in ihr ergibt. Sie fungiert als formierendes Konstituens der auditiven Wahrnehmung. So wirkt beispielsweise ein Geräusch, das in einem stark hallenden Raum wie einer Kirche erklingt, viel weiter entfernt als dasselbe Geräusch in einer schalltoten Kammer.95 Die Laute der Umgebung ›konkurrieren‹ um sinnliche Zuwendung, indem sie erklingen und darin auffällig werden, auch gegen die Intention der Hörenden. Auditive Hinwendung ist in diesem Sinne immer schon durchsetzt von Hierarchien der Auffälligkeit und Relevanz sowie kulturell geprägten Strukturen der Beachtung, die sich beispielsweise vor allem auf Hochgeschätztes, auf Unbekanntes, Neues oder Ungewöhnliches etc. beziehen. Dennoch folgt daraus nicht zwangsläufig die perfekte Kongruenz zwischen räumlicher Gegebenheit und auditiv perzipierter Räumlichkeit bzw. erfahrenem Hörraum.96 Auditive Räumlichkeit und Zeitlicheit ergeben sich nicht allein durch die konkreten Umgebungsqualitäten, sondern nach Prinzipien der Wahrnehmung –

94 Waldenfels 2004, S. 199. 95 Vgl. Warren 1982, S. 56. 96 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es ähnlich optischen Täuschungen auch auditive Täuschungen gibt, d. h. dass das auditive Hörereignis vom akustischen Schallereignis abweicht und es nicht in einer Weise ›repräsentiert‹, die dem Hörenden direkt vermittelt, welcher Art die präsentierten Schallschwingungen genau waren. Diverse Psychologen haben sich mit diesen auditiven Täuschungen beschäftigt. Vgl. Diana Deutsch: »Grouping Mechanisms in Music«, in: dies. (Hg.), The Psychology of Music, 2. Aufl., San Diego, Ca./London 1999, S. 299-348, hier S. 321 ff. zur ›Scale Illusion‹ und S. 332 ff. zur ›Octave Illusion‹.

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z. B. den Gestaltprinzipien – und aufgrund des Wirkens der Aufmerksamkeit, das zu bestimmten Priorisierungen und Hervorhebungen führt. So kann, aber muss sich die Nähe zum Lautsprecher während der Aufführung von TRUST nicht auf meine Wahrnehmung auswirken, auch wenn eine Affizierung meines Gehörs durch die Nähe und die damit verbundene Intensität des von diesem Lautsprecher Erklingenden höchstwahrscheinlich ist. Vielmehr können Prozesse der Andersgewichtung von Aufmerksamkeit auch zu vollkommen anderen Zentrierungen und Rändern führen. Jens Blauert differenziert daher zwischen ›Schall‹- und ›Hörereignissen‹ und stellt heraus, das zwischen beiden Dimensionen nicht notwendigerweise kausale Bezüge vorliegen müssen, auch wenn sie grundsätzlich in einem Zusammenhang stehen.97 Das Hörereignis ist demnach grundsätzlich als ein eigenständiger, nicht einfach durch die ausgelösten Schallwellen vollständig determinierter Prozess zu verstehen. Dementsprechend konstatiert Handel in Bezug auf die auditive Wahrnehmung von räumlicher Nähe, die sich häufig unabhängig von der tatsächlichen Position der Lautquelle ergibt: »Experience tends to dominate physical variables.«98 Durch die vorangehenden Beschreibungen meiner eigenen Hörerfahrungen und die gegenwärtigen musiktheoretischen und philosophischen Diskurse des MusikHörens wird erkennbar, dass nicht von einer komplementären Entsprechung des Erklingenden und des Gehörten, sondern vielmehr von einer räumlichen und zeitlichen Ausdehnung des Erklingenden und einer Art ›Beweglichkeit‹ des Hörens darin auszugehen ist. Diese Mobilität des Hörens beruht weitgehend auf Prozessen der sich stets verschiebenden und neu arrangierenden auditiven Aufmerksamkeit. Erst durch diese Verschiebungen der Prioritäten und Intensitäten konstituiert sich das Gehörte. Die in TRUST gehörten Soundströme waren in ihrer Schichtung und ihrer räumlichen Lokalisiertheit hinter, neben oder vor mir so arrangiert, dass sie – im Sinne des ›Gewölbes‹ – mich weit umgaben und es meiner auditiven Wahrnehmung ermöglichten, sich durch Umgewichtungen der auditiven Aufmerksamkeit in ihnen zu ›bewegen‹. Durch die Veränderungen im Gefüge der Aufmerksamkeit, die teilweise durch die erklingenden Laute, aber teilweise auch durch andere Faktoren ausgelöst werden, zentriert sich das bewusste Hören auf das Gesamte oder auf einzelne darin gehörte Sounds. So ließe sich beispielsweise bei den zuvor näher beschriebenen explosionsartigen Geräuschen einer der verschiedenen daran beteiligten Soundströme einzeln heraushören und im Hören in seinem weiteren Verlauf verfolgen. Die phänomenologisch geprägte Philosophie zum Hören verweist auf den Körper der Hörenden als Ausgangs- bzw. als ›Nullpunkt‹ der gemachten auditiven

97 Vgl. Blauert 1974, S. 2. 98 Handel 1989, S. 108.

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Wahrnehmungen.99 Don Ihde spricht daher von einem die Hörenden umgebenden und von diesen ausgehenden auditiven Feld, dem er eine omnidirektionale Ausdehnung in der Form einer Sphäre zuweist.100 Sie ist geprägt von der Simultaneität der Erscheinungen in ihr, die aber in verschiedenem Grad der Fülle oder Leere und von unterschiedlichen Richtungen her gegeben sein bzw. vielmehr erfahren werden können.101 Auditive Wahrnehmung ist in diesem Sinne als eine Bezugsetzung zwischen dem Ausgangspunkt des Ohres und Leibs der Hörenden und den gehörten Lauten zu beschreiben. Die räumliche Umgebung wird immer in Relation zum eigenen Körper wahrgenommen und erst anhand dieser Ausrichtung werden die Veränderungen im Umfeld erkennbar. Hierzu zählen z. B. diverse Lageverschiebungen wie Richtungs- oder Seitenwechsel, Wendungen und Drehungen, Steigungen, Senkungen und Neigungen sowie Höhen und Tiefen, Distanzierungen und Annäherungen, Weitungen und Verengungen, Öffnungen, Begrenzungen und Geschlossenheit, aber auch andere Dimensionen wie Beschleunigungen und Verlangsamungen, Schwungkräfte und mögliche oder auch tatsächliche Kollisionen. Auch über den sich im Innenohr befindenden Gleichgewichtssinn werden, kombiniert mit optischen und somatosensorischen Eindrücken, Informationen über die Lage und Ausrichtung des eigenen Leibs in einer bestimmten räumlichen Umgebung erzielt. Zu verbinden sind die plastischen Hörzeiträume mit dem durch Theo Van Leeuwen aufgezeigten filmtheoretischen Konzept der akustischen Perspektive, mit dem ebenfalls die strukturgebende Funktion der Aufmerksamkeit betont wird, aber in enger Relation zur kompositorisch-dramaturgisch arrangierten Lautlichkeit von Soundtrack und Sound Design. 102 Mit Bezug auf die Soundscape-Forschung R. Murray Schafers sind bezüglich der auditiven Perspektive die verschiedenen räumlichen Ebenen von Figur, Feld und Grund zu differenzieren. 103 Innerhalb dieser

99

Vgl. u. a. Schmitz 2008, S. 83; Ihde 2007, S. 75; Waldenfels 2004, S. 84.

100

Vgl. ebd., S. 73.

101

In der Differenz zeigt sich die besondere Perspektive der Phänomenologie, nicht primär darauf abzuzielen, was in einer als ›Wirklichkeit‹ bezeichneten Dimension ›tatsächlich‹ gegeben ist, sondern darauf, wie die Wahrnehmungen insgesamt verfasst sind und auf welche Weise sie gemacht werden. Die Phänomenologie ist nur daran interessiert, was zu Gehör kommt, nicht wie die Laute – von einer raumakustischen oder lauterzeugenden Herangehensweise her – arrangiert sind.

102

Vgl. Theo Van Leeuwen: Speech, Music, Sound, Hampshire 1999, S. 12-34. Der Begriff akustische Perspektive steht mit dem von Joseph Maxfield bereits Anfang der 1930er Jahre dargestellten Begriff der sound perspective in Verbindung, der in den 1930er Jahren im Rahmen seiner Arbeit mit Film-Musik und -Sounds entwickelt wurde.

103

Vgl. Van Leeuwen 1999, S. 22 f.: »In my workroom the tapping of the keys of my computer keyboard and the hum of my computer are Figure, a car starting up outside

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Anordnung stellt die Figur dasjenige dar, das auf jeden Fall von den Filmzuschauenden gehört werden soll, während Feld die nähere Umgebung konkretisiert und Grund eher den allgemeinen Hintergrund des zu Hörenden darstellt. Konventionen des Musik-Hörens ergeben eine grundsätzliche Zuordnung der Melodie als Figur und der Begleitung als Grund. 104 Daher lässt sich das musikalische Genre des ›Drum and Bass‹ von Van Leeuwen als Beispiel für umgekehrte Verhältnisse zwischen Figur und Grund anführen, da in dieser Musik die rhythmischen Perkussionsklänge im Vordergrund, also als Figur, und die Keyboard- und Vokal-Sounds im Hintergrund und insofern als Grund zu hören sind.105 Während der auditive Eindruck größerer Nähe über eine Erhöhung der Lautstärke der Laute erreicht werden kann, stellt sich die Wahrnehmung räumlicher Weite durch einen längeren Nachhall der Geräusche und Klänge her.106 Die auditive Räumlichkeit von Weite und Tiefe in der Anfangsszene von TRUST steht insofern mit den gehörten Nachhallzeiten der Soundströme in Verbindung, wobei sie in diesem Fall nicht durch raumakustische Verhältnisse, sondern über elektronische Gestaltung entstehen. Kritisch zu bewerten ist der Perspektive-Begriff Van Leeuwens dahingehend, dass er den Schwerpunkt ausschließlich auf die kompositorische Dimension der Hervorbringung setzt, indem er von akustischen – statt auditiven – Perspektiven spricht. Das Auditive wird von Van Leeuwen als sekundär und bloß nachfolgend konzeptualisiert. Zu hinterfragen ist die unterstellte absolute Kohärenz zwischen filmischem Sound Design und den Hörweisen der Filmrezipierenden, durch die sich das Konzept der gestaltbaren Lautlichkeit des Films als eines darstellt, das von einer vollständigen Kontrollier- und Lenkbarkeit der auditiven Aufmerksamkeit der Wahrnehmenden auszugehen scheint.

and the sometimes raucous voices of the men drinking beer outside the pub across the road are Ground, while the ›swash of traffic noise‹ in the High Street, a little further away, is Field.« Mit Bezug auf Edward T. Halls Konzept der sozialen Distanz expliziert Van Leeuwen diese bezüglich der lautlich erzeugbaren Perspektive als Unterscheidung von ›intim‹ konnotierten Lauten wie Flüstern, von ›informalen‹ Lauten, z. B. der entspannten Sprechstimme, und schließlich von ›formalen‹ Lauten, für die er sich exemplarisch auf laute, hohe oder angespannte Stimmen bezieht. Vgl. R. Murray Schafers Begriff der auditiven Perspektive in Schafer 1994, S. 155. 104 Vgl. Van Leeuwen 1999, S. 21. 105 Vgl. ebd., S. 22. 106 Augoyard und Torgue beschreiben den so genannten Kathedralen-Effekt, der bei Lauten mit langen Nachhallzeiten entsteht und sich im Hören als räumliche Weite, Höhe und Tiefe einstellt. Vgl. Augoyard/Torgue 2005, S. 111.

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»What is made important in this way will vary, but it will always be treated as a ›signal‹, as something the listener must attend to and/or react to and/or act upon, while background sounds are ›heard but not listened to‹, disattended, treated as something listeners do not need to react or act upon.«107

Mit der gestalteten filmischen Lautlichkeit wird demnach nicht nur eine akustische Perspektive hergestellt, die als Angebot und mögliche Hörweise an die Zuschauenden gerichtet ist, sondern vielmehr impliziert Van Leeuwens Konzeption eine vollständige Kontrolle der Aufmerksamkeitsdynamiken und eine direkte Bewirkung der intendierten Hörweise bei den Rezipierenden. Dass es sich hierbei aber um ein idealisiertes und nie vollständig zu erreichendes – und möglicherweise auch von den Künstler*innen gar nicht angestrebtes – Verständnis des Verhältnisses zwischen der im Sound Design angelegten und der tatsächlich im Hören eingenommenen Perspektive handelt, verdeutlicht sich anhand des Hineinhörens in TRUST, insofern die Lautlichkeit im Sinne von DeNoras Affordanz-Konzept als Angebot wirksam wird, aber keineswegs das ›antwortende‹ Hören vollständig kontrolliert. In diesem Sinne lässt sich auf den bereits erwähnten cocktailparty-Effekt nach Colin Cherry hinweisen, nach dem im Hören einzelne auditive Phänomene stärker gewichtet und intensiver wahrgenommen werden können als andere. Cherry eliminiert in seiner Studie alle äußeren Faktoren, die bei der Deutung des Gehörten unterstützend wirksam werden könnten, so z. B. die räumliche Anordnung und Ausrichtung der Sprechenden zueinander sowie ihre das Verstehen erleichternde Mimik und Gestik. Er gab den Teilnehmenden simultan zwei verschiedene sprachliche Mitteilungen zu Gehör, von denen eine ›verfolgt‹ und durch Nachsprechen bzw. schriftliches Notieren nachvollzogen werden sollte.108 »The result is a babel, but nevertheless the messages may be separated.«109 Die auditive Hervorhebung bezieht sich in Cherrys Experiment auf stimmlich-sprachliche Verlautbarungen und ist mithin nicht direkt auf das im vorliegenden Kapitel zentrale Hinhören als Hineinhören in oder Aufmerken auf komplexe Soundstromschichtungen oder Geräusche zu übertragen, da davon auszugehen ist, dass Sprachliches aufgrund seiner Bedeutungszusammenhänge auf spezifisch sprachlogische Weise als zusammenhängend rezipiert wird. In diesem Sinne kennzeichnet Cherry vor allem das Vermögen der Antizipation von potentiell Nächstgesagtem als wesentliche Voraussetzung der Un-

107 Van Leeuwen 1999, S. 16 [Hervorhebung KR]. 108 Vgl. Cherry, E. Colin: »Some Experiments on the Recognition of Speech, with One and with Two Ears«, in: The Journal of the Acoustical Society of America 25 (5) 1953, S. 975-979, S. 976. 109 Ebd.

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terscheidung verschiedener Stimmlaute.110 Doch ist für das vorliegende Kapitel insbesondere das Resultat des dritten in der Studie durchgeführten Experiments von Interesse, bei dem im Gegensatz zu den vorherigen Teilen verschiedene Aufnahmen über Kopfhörer gehört wurden. Denn dieses Experiment lässt die geringe Bedeutung oder gar störende Wirkung einer körperlichen Hinwendung durch Kopfbewegungen oder Körperausrichtungen deutlich werden, indem die Abhebung des einzelnen Lautstroms gegenüber anderen Lauten ausschließlich durch eine entsprechende Umgewichtung der auditiven Aufmerksamkeit, nicht durch körperliche Bewegungen, vollzogen wird.111 Schmicking übernimmt diese Erkenntnis in seine Argumentation für den im Hören aktivierten, ausschließlich über Aufmerksamkeitsdynamiken vollzogenen attentionalen Fokus, der vom hörenden Subjekt modifiziert und sowohl räumlich als auch zeitlich innerhalb des Gehörten bewegt werden kann.112 Ebenfalls von einer gewissen, wenn auch nur kurzzeitig stabilen Anordnung und Relationalität der Klänge ausgehend differenziert Ihde zwischen Horizont, Rand und dem Fokussierten, wobei er insbesondere die Bezüge zwischen den verschiedenen Bereichen als entscheidende Organisationsprinzipien der auditiv-

110 Eine Annahme derjenigen Richtung in der Musiktheorie, die Musik als sprachähnlich auffasst und vor allem auf ein den Strukturen der Partitur folgendes Hören abhebt, ist es demzufolge, dass auch in der Musik auf die nach gewissen musiklogischen Prinzipien möglichen nächstfolgenden Töne zu schließen ist. Vgl. zum ›Musikverstehen‹ und zur ›Bedeutung von Musik‹ u. a. in Alexander Becker: »Paradoxien des Musikverstehens«, in: Musik & Ästhetik 56/2010, S. 5-25; Albrecht Wellmer: Versuch über Musik und Sprache, München 2009; Margret Kaiser-el-Safti/Matthias Ballod (Hg.), Musik und Sprache, Würzburg 2003; Helga de la Motte Haber: »Erklärungsmodelle des Musikverstehens und ihre Geschiche«, in: ders./Günther Rötter (Hg.), Handbuch der Musikpsychologie, Laaber 1985, S. 402-453. Doch ein Verständnis von Musik-Hören, das keine musikalische Logik voraussetzt, wird nicht davon ausgehen, dass geahnt werden kann, welche Laute als nächstes folgen müssten. 111 Vgl. Cherry 1953, S. 977: »The subject experiences no difficulty in listening to either speech at will and ›rejecting‹ the unwanted one. Note that aural directivity does not arise here; the earphones are fixed to the head in the normal way. To use a loose expression, the ›processes of recognition may apparently be switched to either ear at will.‹« Demgegenüber betonen allerdings Jens Blauert und Jonas Braasch, dass im alltäglichen Hören die Kopfbewegung häufig als erfolgreiches Mittel eingesetzt wird, um über solche Art der ›Peilung‹ zu weiteren Informationen über die räumliche Umgebung zu gelangen. Vgl. Jens Blauert/Jonas Braasch: »Räumliches Hören«, in: Stefan Weinzierl (Hg.), Handbuch der Audiotechnik, Berlin/Heidelberg 2008, S. 87-121, hier S. 88. 112 Vgl. Schmicking 2003, S. 123.

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attentionalen Sphäre hervorhebt. 113 Damit gäbe es im Auditiven doch etwas mit dem Blick Vergleichbares, wobei der attentionale Fokus – entsprechend der psychologischen Experimente Cherrys – weder durch Kopf- oder Körperdrehungen noch durch das Sinnesorgan selbst, wie es beim Sehen durch Ausrichtung des Körpers, Drehung des Kopfes und Bewegung der Augen der Fall ist, sondern durch die verschiedenen Dynamiken der auditiven Aufmerksamkeit bewegt wird. Während der Aufführung von TRUST ist es weder notwendig noch hilfreich, den Kopf oder Körper zur Seite zu wenden, um die Räumlichkeit des Gehörten wahrzunehmen und einzelne Komponenten hervorzuheben. Die auditive Dominanz des in der Nähe befindlichen Lautsprechers lässt sich durch solche Bewegungen nicht ausgleichen; über die audiotechnische Anlage des Schaubühnensaales wird vielmehr eine den gesamten Raum erfüllende Lautlichkeit erzeugt, die so umfassend ist, dass potentielle Neuausrichtungen der Hörenden in ihr – solange es sich nicht um ein Annähern oder Entfernen gegenüber den direkten Lautquellen, also in diesem Fall den Lautsprechern handelt – keinen großen Unterschied machen. Vielmehr lässt sich das dieserart sich vollziehende räumliche Hören als eine grundlegende Funktion der auditiven Aufmerksamkeit bestimmen. Es ist das Wirken der auditiven Aufmerksamkeit, das die auditiven Eindrücke räumlicher Distanz, Nähe, Richtung und Bewegung sowie der Form und Geschlossenheit gegebener Räume und Umgebungen hervorbringt. Aufzuzeigen ist diese dynamische Wirkungsweise der differenzierenden, hierarchisierenden, räumlich und zeitlich anordnenden, in Bezug zur Leiblichkeit der Hörenden setzenden Aufmerksamkeit nur über eine Analyse des Gehörten, in dem diese Prozesse sich manifestieren, indem sie sich in ihnen bzw. im ›Zwischen‹ und an den Grenzen ihrer sich stets wandelnden Ordnungen und Relationen ›materialisieren‹. Die Dynamiken der Aufmerksamkeit wirken sich, so Ihde, vor allem in der Hervorbringung verschiedener Verhältnisse von auditivem Zentrum und Randbereich innerhalb des insgesamt Gehörten, des ›auditiven Feldes‹,

113 Vgl. Ihde 2007, S. 77. Ein technisches Aufnahmegerät registriert zwar alle Laute, kann jedoch nicht die gleiche ›Fokus-Feld-Relation‹ abbilden, da es keine dem Hörsinn vergleichbare Gerichtetheit und Organisiertheit besitzt. Vgl. ebd., S. 75; Schafer 2010, S. 43; Bregman 1990, S. 3. Ihdes Ausführungen zur Organisation des Hörens beziehen sich auf die spezifischen Konzeptionen der Aufmerksamkeit nach Husserl, Gurwitsch und Arvidson, in denen die entsprechende Dreiteilung in Zentrum, Rand- und Grenzbereich ausgearbeitet worden ist und welche Ihde auf die auditive Wahrnehmung überträgt. Damit verbunden ist auch die Annahme, dass nicht Aufmerksamkeit selbst in drei verschiedene Bereiche unterteilt ist, sondern dass mit Aufmerksamkeit der Prozess der Anordnung, der Differenzierung, der Hervorhebung und damit also die Teilung und Differenzierung als Vorgang innerhalb der Wahrnehmung bezeichnet wird. Vgl. zur Heterogenität der Sphäre auch bei Arvidson 2006, S. 4.

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aus.114 Dieses ›Feld‹ wird von Ihde als sphärenartig beschrieben, weshalb es sich, auch unter Bezug auf die Aufmerksamkeitsphänomenologie von Arvidson, die von Ihde erstaunlicherweise an dieser Stelle nicht rezipiert wird, anbietet, von einer ›auditiven Sphäre‹ zu sprechen. Um den Vorteil des Sphärenbegriffs zu unterstreichen, mit dem ich Ihdes – auf Husserl zurückgehenden – Feldbegriff ersetzen möchte, ist erneut darauf zu verweisen, dass die spezifische Räumlichkeit des Auditiven in ihrer gleichzeitigen Omnidirektionalität und Reliefähnlichkeit durch ihn besser erfasst wird als durch den Feldbegriff, der eine zweidimensionale Räumlichkeit impliziert. Die auditive Sphäre ist demnach das, was insgesamt gehört wird. In ihr ist die Positionierung des hörenden Subjekts am Nullpunkt der Wahrnehmung, was eine der visuellen Perspektivierung bis zu einem gewissen Grad vergleichbare Ausrichtung des Auditiven von einem bestimmten Ort aus impliziert. Zudem weist sie sich als begrenzt aus, auch wenn die Grenzen im Sinne subjektiver Horizonte variieren und nicht eindeutig bestimmbar sind. Zumeist sind die in ihr wahrgenommenen Phänomene nach ihrer Intensität zu unterscheiden, was vor allem die grundlegende Differenzierung von Fokus und Randzone ergibt, wobei der visuell geprägte und in der Tradition von Husserls Blick-Metapher stehende Begriff Fokus durch den für die auditiven Aufmerksamkeitsdynamiken aussagekräftigeren Begriff des Zentrums zu ersetzen ist. Eine Ausrichtung entsteht, so Ihde, durch das konstituierende Wirken der Aufmerksamkeit: »Attention is turned to what is indirect and implicit when compared to the ordinary involvements with focal things.«115 Gegenüber Ihdes Formulierung lässt sich präzisieren, dass nicht Aufmerksamkeit selbst zugewandt wird, sondern vielmehr das Gehör – durch das implizite Wirken der Aufmerksamkeit wird das Hören auf bestimmte Weise ausgerichtet. Das im Auditiven entstehende Verhältnis kann, aber muss dabei nicht den Bezügen in der visuellen Wahrnehmung entsprechen, in welcher ebenfalls ein solches Ausloten von Fokussiertem und Rand stattfindet, sondern es folgt Prinzipien und geht aus Prozessen hervor, die z. T. für das Hören spezifisch sind. Für das Sehen und Hören vergleichbar verläuft der Prozess des Herausstellens eines Phänomens innerhalb eines umfassenderen, beispielsweise musikalischen Kontexts. »In listening to a symphony, if for some special reason I care to do so, I find I can focus on the strains of the oboe in spite of the louder blaring of the trombones (at least within limits). [...] I can select a focal phenomenon such that other phenomena become background or fringe phenomena without their disappearing.«116

114 Vgl. Ihde 2007, S. 73 ff. 115 Ebd. 116 Ebd., S. 74.

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Während Ihde es als eine intentional vom Subjekt getroffene Entscheidung darstellt, im Rahmen eines vernommenen Instrumentalkonzerts einer einzelnen Klangspur zu folgen, obwohl andere lauter sind und sich insofern gewissermaßen den Hörenden aufdrängen, ist demgegenüber bezüglich der Hörweise in TRUST zu verdeutlichen, dass es sich um ambivalente Dynamiken der Verschränkung von Affektion und (Re-)Aktion handelt. Denn auch wenn sich in meiner Erinnerung der Verlauf der auditiven Wahrnehmung zunächst auf ähnliche Weise darstellt, wie Ihde es exemplarisch ausführt, ist das Hineinhören in TRUST bei genauerem nachträglichen ›Belauschen‹ als Reaktion auf die Einladung durch das Gehörte zu verstehen. Die von Malte Beckenbach auf der Bühne am Computer erzeugten Soundströme, die nicht nur Tiefe und Ausgedehntheit vermitteln, sondern auch in sich komplex geschichtet sind, initiieren Hörweisen, die diesen räumlichen Verhältnissen in ihrem ständigen Wandel ›antworten‹. Diese ›Antworten‹ manifestieren sich darin, dass die auditive Sphäre sich in ihrer Anordnung der je gehörten Räumlichkeit ›anschmiegt‹. Ihr Zentrum lässt sich, wie von Ihde verdeutlicht, dann im Gehörten verschieben, wobei das Gehörte durch seine spezifische Struktur bestimmte Angebote macht – wie z. B. die in der Anfangsszene von TRUST zu hörenden dumpfen Eruptionsgeräusche, bei denen aus zunehmend tieferen Bereichen weitere Sounds ›hervorquellen‹ und in ihrem langsamen Verklingen wirken wie sich ausdehnende dichte Staubwolken. Eine in den Soundschichtungen angelegte mögliche ›antwortende‹ Hörweise stellt es in diesem Sinne dar, durch entsprechende Verschiebungen des Aufmerksamkeitszentrums den immer neuen Lauten in die Tiefe zu folgen. Eine andere Möglichkeit wäre das Mitvollziehen des jeweiligen langsamen Ver- und Ausklingens einzelner Sounds. Wieder eine andere Hörweise, in der sich die Relevanz der innerklanglichen – und innerauditiven – Bezüge verdeutlicht, könnte sich im Zentrieren der hohen, pulsierenden Pieptonsequenzen vollziehen, gegenüber denen das Klanggeschehen in der Tiefe weniger stark, aber dennoch als Hintergrund auch und insbesondere in Hervorhebung der Höhe der Piep-Sequenzen registriert werden würde. In diesen Hörweisen bildet sich ab, was Husserl mit dem Begriff des Merklichkeits- oder affektiven Reliefs bezeichnet. Das Bild des Reliefs verweist auf die Dynamiken der auditiv-attentionalen Sphäre, durch deren Verschiebungen und Gewichtungen sich – jeweils temporäre – Anordnungen des Hervorstehenden und Zurücktretenden ergeben, wobei das auditive Merklichkeitsrelief sphärisch mehrdimensional zu konzeptualisieren ist. 117 Relevante Merkmale der auditiv-räumlichen wie zeitlichen Umgebung stellen dabei nicht allein die Differenzen von ›vorne/nah‹ und ›hinten/fern‹, sondern auch von ›links/rechts‹, ›oben/unten‹, ›eng/

117 Vgl. Hua 11, §35, S. 167, sowie ders.: Ding und Raum. Vorlesungen 1907. Husserliana XVI, hg. v. Hahnengress & Rapic, Hamburg 1991 [1973], S. 228 f.

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weit‹, ›direktional/einhüllend‹, ›erwartet/unerwartet‹, ›kurz/kontinuierlich‹, ›singulär/wiederholt‹ u. a. dar. Aus diesem Grund ist der visuell geprägte Begriff des Reliefs in seiner Übertragung auf das Hören doch eher irreführend und sollte, vergleichbar mit dem Feldbegriff, durch Sphäre ersetzt werden, wie dies Arvidson im Rahmen seiner Aufmerksamkeitstheorie vollzieht und für weitere phänomenologische Beschreibungen einfordert. Zwar ist die Sphäre darin reliefartig, dass sich in ihr eine Nähe-Distanz-Konfiguration ergibt, doch reicht diese Bestimmung allein nicht aus, um die vielfältigen Relationen des Gehörten zu den Hörenden zu erfassen. Während der Aufführung von TRUST war es mir zeitweilig möglich, innerhalb des Gehörten einen einzelnen Soundstrom, z. B. die Bass-Pulsationen, kontinuierlich zu ›verfolgen‹ und ihn über längere Phasen primär zu setzen. Demnach nahm ich diesen Sound bewusster und intensiver wahr, während die anderen Laute sich allmählich aus meiner bewussten Wahrnehmung schoben. In diesem Fall habe ich mich als Hörende entschlossen, ein einzelnes lautliches Phänomen vor den anderen besonders hervorzuheben und bewirke durch meine intentionale Ausrichtung des Aufmerksamkeitszentrums auf diesen Sound eine entsprechende Umgewichtung innerhalb meines Hörvorgangs. Das zuvor noch geweitete und mehrere lautliche Phänomene gleichermaßen umfassende Zentrum wird demzufolge verdichtet, in seiner Fülle reduziert und zielt nunmehr auf diesen einen Laut, während alle anderen an den Rand der auditiven Wahrnehmung verschoben werden. Im nächsten Abschnitt wird demgegenüber eine Hörweise erörtert, in der sich durch Prozesse der Affektion die Hörweise eher als eine stärker von der Lautlichkeit der Aufführung gelenkte erfahren lässt, wobei sich aber auch hier Zwischenund Freiräume der Abweichung und des Widerstands ergeben. Im Spannungsverhältnis von Affektion und Antwort lässt sich in Christoph Marthalers Inszenierung Die Fruchtfliege eine Hörweise des langsamen Aufhorchens erfahren, in welcher das Hören von rätselhaften Lauten angezogen wird. Im intensiven Hinhorchen, das meist auf ein sich langsam vollziehendes Aufhorchen folgt, verläuft die Wahrnehmung eher schrittweise ergründend denn vollständig gebannt.

       Während der Aufführung von Christoph Marthalers Die Fruchtfliege war eine besondere Art der Umgewichtung der auditiven Aufmerksamkeit zu erfahren, die weniger meiner Kontrolle und Intention unterlag, sondern vielmehr von äußeren Einwirkungen ausgelöst wurde.118 Die Langsamkeit, die häufigen Wiederholungen,

118 Die Premiere von Die Fruchtfliege war am 16. Dezember 2005 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Ich habe die Aufführung am 11. Januar 2009 erlebt.

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die Absurdität der dargestellten Situationen sowie die Ziellosigkeit der gezeigten Handlungen führten zur Erfahrung einer ›gedehnten‹ Zeitlichkeit. Mit dieser Erfahrung von Dauer verknüpfte sich ein Nachlassen der Konzentration und ein Eintreten von Entspannung, was sich im Hören durch eine Aufmerksamkeitsdynamik der Zentrumserweiterung auswirkte.119 Die Öffnung ging einher mit einer Reduktion der starken Ausgerichtetheit und der Verdichtung der auditiven Aufmerksamkeit auf ein oder wenige Phänomene, wie sie den Modus der Konzentration auszeichnen. Dies bewirkte dann, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Laute aufgenommen und simultan rezipiert werden konnten. Die Lautlichkeit der Aufführung setzte sich aus diversen Lauten zusammen: Sprechen, Solo- und Chorgesänge, Musik, d. h. klavier- und teilweise auch violinenbegleitete Opernarien, Chansons oder Volkslieder und vielfältige durch die Bewegungen der Akteur*innen hervorgebrachte Geräusche. Im nach und nach einsetzenden entspannten Zustand begann mein Blick von den sprechenden Akteur*innen weg über das Bühnenbild zu schweifen und Einzelheiten näher zu betrachten. In dieser ungerichteten Offenheit machte sich nach einiger Zeit ein bestimmter, kontinuierlich zu hörender, sehr leiser und daher auch nahezu unmerklicher Laut bemerkbar, den ich zuvor noch nicht beachtet hatte. Denn der von Gesang und Klaviermusik verursachte Geräuschpegel war weitgehend recht hoch gewesen. Erst in einer der wiederkehrenden Phasen relativer Stille drang das Geräusch vor und machte sich in seinen Klangqualitäten bemerkbar. Zunächst registrierte ich, dass es klang wie ein leises Rauschen, dann bemerkte ich die immer wiederkehrenden kurzen Pausen. Noch verstärkt wurde dieses Bemerken, als sich das Geräusch nicht eindeutig und unmittelbar einer Klangquelle zuweisen ließ. In gesteigertem Erstaunen und Interesse wandte ich mich zunehmend diesen Lauten zu. Das Geräusch ähnelte in seiner Materialität dem Klang von sehr langsamen, gleichmäßigen Atemgeräuschen, da es ein kaum vernehmliches Rauschen war, das zunehmend an Intensität gewann, bis es mit einem Mal abbrach, um dann wenige Sekunden später erneut einzusetzen. Ausgelöst von diesem Höreindruck begann mein Blick, die Bühne nach möglichen Klangquellen abzusuchen, um einerseits zu prüfen, ob diese Deutung des Gehörten stimmte, und andererseits, um besser verstehen zu können, warum solch ein Geräusch von der Bühne her zu hören war. Mich irritierte vorrangig, dass das Geräusch in keine direkte Relation zur Bühnenhandlung zu bringen war. Es waren zwar fast durchgängig Schauspieler*innen auf der Bühne sichtbar, doch

119 Marthalers Theater ist von besonderer Komik geprägt, die häufig zu Gelächter im Publikum führt. Insbesondere Slapstick-Szenen begründen das Lachen, das anzeigt, dass das Wahrgenommene in diesen Momenten und kurzen Phasen möglicherweise eher als ›kurzweilig‹ empfunden wird, wodurch sich die Empfindung einer ›gedehnten‹ Zeitlichkeit phasenweise abschwächen kann.

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ließen sich ihre Bewegungen und Äußerungen keineswegs mit dem Geräusch in Verbindung bringen. Nach einiger Zeit fiel mein Blick auf ein Teil des Bühnenbildes, das ich zuvor zwar wahrgenommen, von dem aus sich aber nicht unmittelbar eine Verknüpfung mit dem Geräusch ergeben hatte. Von einer in der Mitte der Bühne befindlichen hölzernen Umkleidebank hing an einem der oberen Haken eine Art Beutel, klein und glitzernd wie eine in sich zusammengefallene Diskokugel oder Papierlaterne, die sich zeitweilig aufblähte und wieder zusammenzog. Wie ein wächserner dicker Tropfen hing das Objekt an prominenter Stelle in der Mitte der Bühne auf Sichthöhe der Darstellenden von einem Balken herab, funkelte häufig und leuchtete während einiger Szenen hell und goldfarben auf. Die mal pulsierenden, mal eher nur zuckenden Bewegungen dieses auf der ansonsten weitgehend realistisch gestalteten Bühne wie ein Fremdkörper wirkenden Objekts zogen von diesem Zeitpunkt an meinen Blick auf sich – vor allem im Bestreben, einen Zusammenhang zwischen dem gehörten Rauschen und den beobachtbaren Bewegungen herzustellen. Dieser ergab sich in meiner Wahrnehmung der Aufführung im weiteren Verlauf darüber, dass sich dem ›Tropfen‹ aufgrund seiner Bewegungen etwas Lebendiges, Organisches und Eigenständiges zuweisen ließ, was die Zuschreibung der Atemgeräusche zu diesem ›Ding‹, das auch an Körperorgane wie ein pumpendes Herz oder ein Lungenflügel erinnerte, nahelegte.120 Vom sonstigen Bühnengeschehen aus ergab sich auch weiterhin keine Erklärung für das pulsierende Rauschen, das nun, obwohl ich es in den Szenen zu Anfang der Aufführung nicht bewusst wahrgenommen hatte, für mich nicht mehr zu überhören war. Bis zum Ende der Aufführung zog der immer wieder pulsierende Lampion sowohl meine visuelle als auch auditive Aufmerksamkeit auf sich und führte dazu, dass von mir zwei Geschehen parallel in ihrem jeweiligen Verlauf und in ihrem unkommentierten Nebeneinander-Bestehen verfolgt wurden: die Aktionen und Interaktionen der Schauspieler*innen einerseits und das, wie sich dann herausstellte, zeitweise aussetzende und dann zu bestimmten Zeitpunkten wieder beginnende Atmen des pulsierenden Objekts.121

120 Das Geräusch könnte auch einfach durch die Luftzufuhr in den schlaffen Behälter und aus ihm heraus entstanden sein. Doch wirkt es durch sein Erklingen unabhängig davon, ob es aus ästhetischen oder aus technischen Gründen entsteht, mit an der performativ und in der Wahrnehmung der Hörenden sich herausbildenden Lautlichkeit der Aufführung. 121 In einer Szene, die gegen Ende der Aufführung erfolgt, wird eine Passage aus Stendhals Über die Liebe (1882) rezitiert, in welcher von einem in die Salzburger Salzgrube geworfenen blattlosen Ast die Rede ist, welcher nach dem Herausholen dann vollständig und in einer dicken Schicht mit funkelnden Kristallen überzogen ist. Deutlich wird, dass das am Umkleideständer hängende Objekt ein solcher über und über mit glitzern-

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An diesen markanten Momenten während der Aufführungen von TRUST und Die Fruchtfliege zeigt sich eine Hörweise, die sich zunächst als Hinhören bestimmen lässt, insofern sie von einer räumlichen Gerichtetheit des Hörens auf ein einzelnes Phänomen – der Bass-Pulsationen oder dem Atem-Geräusch – ausgeht. Sie ist darüber hinaus aber in verschiedene Modi zu differenzieren, die sich mit den Begriffen des – zuvor erörterten – Hineinhörens und Aufhorchens beschreiben lassen. Beide Modi wiederum können auf verschiedene Arten vollzogen werden bzw. sich ereignen. An den zuvor angeführten Beispielen manifestiert sich das Hineinhören als eine Ausprägung des plastischen Hörens im Sinne Szendys, wobei in diesem Fall zwischen kontinuierlich einem Soundstrom folgenden und häufig wechselnden Modi des Hineinhörens zu unterscheiden ist. Auch beim Aufhorchen liegt eine Hörweise vor, die sich durch ihre räumliche Gerichtetheit auszeichnet, doch unterscheidet sie sich vom Hineinhören grundlegend dadurch, dass in ihr zunächst keine Fixierung auf ein bestimmtes Phänomen gegeben ist und aufrechterhalten wird und dass sie nicht als intentional vom Subjekt ausgehender Prozess, sondern vielmehr als Affektion durch das Hörbare zu bestimmen ist. »Man hört auf, etwas anderes zu tun, wenn man ›aufhorcht‹ und mit dem Hören beginnt.«122 Im Aufhorchen erreicht die Hörenden ein Laut und zieht aus Gründen, die z. B. in seiner Eigenart, Plötzlichkeit, Nähe, Inadäquatheit o. Ä. liegen können, das Aufmerksamkeitszentrum auf sich, so dass daraufhin der Laut in seiner Erscheinungsweise detailliert und bewusst registriert wird. Den affektiven Charakter des Aufmerkens ebenfalls betonend spricht P. Sven Arvidson von einem Vorgang der attentional capture, des ›Gefangennehmens‹ der Aufmerksamkeit, die auf einzelne Phänomene gezogen und von ihnen für einige längere oder kürzere Zeit festgehalten wird.123 Dabei führt er den in diesem Kontext zunächst überraschenden Begriff der Leistung (achievement) ein, mit dem sich seiner Ansicht nach explizieren lässt, aus welchen Gründen bestimmte Phänomene unsere Aufmerksamkeit anziehen und andere nicht. Denn über den längeren Verlauf des Auf- und Bemerkens wächst ein subjektives, vor allem vom kulturellen und historischen Kontext geprägtes, Repertoire des Merklichen an, das sich in individuellen Biografien abweichend gestalten kann. Arvidson prägt den Begriff des attentional character, um auf dieses – weitgehend automatisch und unbewusst wirksame, aber durch selbstreflexives Bewusstsein auch subjektiv zu beeinflussende – Anwachsen und

den Steinen bedeckter Zweig sein könnte – und damit im Sinne Stendhals als Symbol für die Liebe aufgefasst werden kann. 122 Ackermann: »Hörwörter – etymologisch« (2006), S. 62. 123 P. Sven Arvidson: »Attentional Capture and Attentional Character«, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 7 (4) 2008, S. 539-562, hier vor allem S. 543 f.

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Formieren der individuellen Beachtungsprozesse hinzuweisen.124 Dies impliziert im Rahmen einer optimistischen Einschätzung der sonst häufig ausschließlich negativ als Ergreifen beschriebenen affektiven Prozesse, dass die Wahrnehmenden hinsichtlich dessen, was sie potentiell affiziert, einen gewissen Einfluss haben. »Attentional character is formed through a life-time of attending. In general, the sphere of attention is a dynamic, embodied attending in the world, and attentional character is the relatively stable style of this attending. Stability and style are closely related. By style here I mean a particular manner of opening onto the world, an idiosyncratic, describable way of letting things appear as salient in attending.«125

Arvidsons in dieser Hinsicht einzigartige These besagt, dass das einzelne Subjekt im Gestalten ihrer gegenwärtigen Wahrnehmungen und Aufmerksamkeitsgefüge die zukünftig zu erwartenden Affektionen gestalten und dadurch seine affektive Umgebung – und sich selbst in Relation dazu – auf markante Weise hervorbringen und prägen kann. Diese Annahme steht in Kontrast zur Verortung von Aufmerksamkeitsdynamiken als weitgehend allein durch äußere Zusammenhänge bestimmt. Dass dem Aufhorchen im Sinne eines hinhörenden Aufmerkens grundsätzlich Dimensionen angehören, die vom Subjekt weder kontrolliert noch bewusst wahrgenommen werden, bevor das Hinhören eingesetzt hat, betont Bernhard Waldenfels mit seinem Konzept der ereignishaften Doppelbewegung von Auffallen und Aufmerken. »Mir widerfährt etwas, wenn mir etwas auffällt oder ich von Anderen auf etwas aufmerksam gemacht werde, und zwar geschieht dies, bevor die Deutungsund Gebrauchsschemata unserer gewohnten Merk- und Wirkwelt greifen.«126 Deutlich wird, dass dem Aufhorchen eine bestimmte Zeitlichkeit zuzuweisen ist, die auf einer nicht durchgängig gegebenen Simultaneität, sondern vielmehr auf partieller zeitlicher Differenz basiert. Ihm inhäriert nach Waldenfels eine spezifische Zeitlichkeit der Sequentialität: »Wenn wir aufmerken auf das, was uns auffällt, begegnet uns nie alles zugleich.«127 Wie im Hineinhören lässt sich auch bezüglich des Aufhorchens von einer weiteren Differenzierungsmöglichkeit ausgehen, die sich aus der besonderen Zeitlichkeit dieser Aufmerksamkeitsdynamik ergibt. So lassen sich verschiedene Arten des Aufmerkens dadurch unterscheiden, dass sich ein Spektrum hinsichtlich der Zeitlichkeit zwischen plötzlichen oder intensiven und, wie im Fall meiner auditiven Wahrnehmung in Die Fruchtfliege, eher langsamen und zunehmend sich steigernden Modi aufzeigen lässt. Im ersten Fall verändert sich

124 Vgl. ebd., S. 551. 125 Ebd., S. 552. 126 Waldenfels 2004, S. 67. 127 Ebd., S. 88.

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die zeitliche Versetztheit, insofern zwischen dem Auffällig-Werden und Aufmerken weniger Zeit vergeht – diese Art des Aufhorchens ereignet sich innerhalb von wenigen Momenten, vielleicht weniger als einer Sekunde. »Wenn etwas sich aufdrängt oder sich auferlegt, so verringert sich der Spielraum des Aufmerkens.« 128 Wenn beispielsweise während einer Aufführung eine Akteurin einen Revolver abfeuert, wie Hedda Tesman (Katharina Schüttler) in Thomas Ostermeiers Hedda Gabler an der Schaubühne, wäre als auditive Reaktion der meisten Anwesenden eine spontane Umgewichtung im auditiven Aufmerksamkeitsgefüge zu erwarten, in welcher das Knallen – nachträglich – ins Zentrum der entsprechend ausgerichteten und verdichteten Aufmerksamkeit gerückt und somit auf diese Weise registriert wird. Auch wenn die Waffe bereits zuvor ins Blickfeld des Publikums geraten ist, fällt der Schuss dennoch plötzlich und in dieser Sekunde nicht exakt vorhersehbar. Waldenfels erfasst auch diese Art des Aufhorchens mit Bezug auf die zusammenwirkenden Prozesse des Auffällig-Werdens und Aufmerkens, wobei dementsprechend der Grad der Auffälligkeit variiert und – wie im Fall des plötzlichen und unerwarteten Knallgeräuschs – bis zur Aufdringlichkeit 129 reichen kann. Der ihr gegenüberliegende Pol des Spektrums manifestiert sich nach Waldenfels in verschieden starken Formen von Versunkenheit, zu denen auch hypnoseähnliche Zustände gezählt wer-

128 Ebd., S. 97. 129 Der von Waldenfels eingebrachte Begriff der Aufdringlichkeit umfasst auch Prozesse der Eindringlichkeit, die sich im Gegensatz zu den aufdringlich spektakulären Lauten wie ›schreienden‹ Farben oder penetranten Gerüchen z. B. in Form ›einlullender‹, ›sanfter‹ Melodien zeigt. Vgl. ebd. Es ist zu überlegen, ob sich eine Differenzierung zwischen Auf- und Eindringlichkeit nicht produktiv machen ließe im Sinne einer entsprechenden Unterscheidung von Arten des Aufmerkens und Hörens, die im Grad des beteiligten ›leiblichen Affiziert-Seins‹ und ›Körper-Hörens‹ variieren. Denn durch die Berücksichtigung von Eindringlichkeit als eigene Kategorie auditiver Affektion lässt sich auf eine Differenz hinweisen, die sonst nicht erkennbar wird. Während beide Begriffe darin übereinstimmen, dass sie die starke und direkte Wirksamkeit von Lauten betonen, impliziert der Begriff des Aufdringlichen eine Verbindung dieser Wirkungsweise mit Qualitäten des Auffälligen, Hervorstehenden, wie sie sich beispielsweise in besonders lauten oder schrillen bzw. unerwarteten Geräuschen ergeben. Das Konzept des Eindringlichen besitzt diese Verknüpfung nicht notwendigerweise und stellt somit die intensive Wirkungsweise von solchen Lauten heraus, die nicht über herkömmlich auffällige – im Sinne von spektakulären – Qualitäten verfügen, sondern eher über andere Dimensionen wirksam sind.

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den.130 Das Aufhorchen auf das über weite Strecken fast unmerkliche und sich dann bemerkbar machende Atemgeräusch vollzieht sich aus solch einer Versunkenheit heraus in Form eines langsamen Bemerkens, das verbunden mit einer Steigerung des Bewusstheitsgrades zu wacheren Wahrnehmungs- und Bewusstheitsprozessen führen kann. Wenn ein Laut auffällig wird und das Zentrum der Aufmerksamkeit auf sich zieht, wie es in meiner Hörerfahrung von Die Fruchtfliege mit dem Geräusch des Atmens der Fall war, dann spricht Schmicking von affektiver Weckung.131 Der Begriff der Weckung impliziert, dass die Hörenden sich dem Laut bewusst zuwenden und ihm besondere Beachtung schenken. Bewirkt wird dieser langsame Modus des Aufhorchens durch die spezifische Zeitlichkeit der Aufführung, die sich als »Warten, Erschöpfung, Langsamkeit und leere Dauer, Wiederholung«132 zu erfahren geben kann. Durch diese Dimensionen von Zeitlichkeit bringt die Aufführung bestimmte Aufmerksamkeitsdynamiken der Weite, Offenheit und schwebenden Ungerichtetheit hervor, aus denen heraus erst ein langsames Aufhorchen möglich wird, da sie die durch Langsamkeit und Wiederholung entstehende auditive ›Leere‹ voraussetzt. Wird alles als ›randständig‹ präsentiert, dann kann das Unauffällige ins Zentrum rücken, wie Patrick Primavesi darlegt: »Die Zeit wird zur Gärung gebracht, wenn auf den ersten Blick nichts Substanzielles geschieht, sondern sich nur am Rande diese oder jene Nebenhandlung abspielt, die sich aber irgendwann mit großem Effekt entlädt, die szenische Situation plötzlich zu beherrschen vermag.«133

Das rauschende Geräusch ist ein solches sich im Auditiven vollziehendes Nebengeschehen, das kontinuierlich präsent, aber unbemerkt, mit einem Mal im Hören hervortritt und das Zentrum der Aufmerksamkeit einnimmt. Das Wirken der auditiven Aufmerksamkeit, durch welches sich die jeweiligen Verhältnisse von Zentrum und Randzone konstituieren, entzieht sich aufgrund seiner dynamischen und strukturgebenden Verfasstheit einer direkten Erschließung. Insofern wird es zumeist vom Resultat her beschrieben, worin aber die Gefahr liegt, dass die sich im Auditiven vollziehenden Prozesse wie statische, abgeschlossene Konstrukte erscheinen. Im Ge-

130 Es zeigt sich an dieser Stelle eine Verbindung zu den im vorherigen Kapitel dargestellten Hörweisen der Immersion und Absorption, die z. T. als Zustände der Versunkenheit erfahren werden. 131 Vgl. Schmicking 2003, S. 100. 132 Patrick Primavesi: »Gärungsstudien zwischen Liederabend und Performance. Der Regisseur Christoph Marthaler«, in: Marion Tiedtke/Philipp Schulte (Hg.), Die Kunst der Bühne. Positionen des zeitgenössischen Theaters, Berlin 2011, S. 122-134, hier S. 130. 133 Ebd.

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gensatz dazu handelt es sich bei den bezeichneten Abhebungen und Differenzierungen um stets veränderliche und in ihrer potentiellen temporären Statik äußerst fragile Prozesse. Die konstante Zentrierung eines einzelnen Lautes über längere Zeit stellt eher eine Ausnahme dar, deren dauerhafte Aufrechterhaltung, wie in 4.1 bezüglich des konzentrierten, verstehenden Zuhörens aufgezeigt wurde, zumeist von Anstrengung und Ermüdung geprägt ist. In Die Fruchtfliege zeigt sich im Aufhorchen eine nicht willentlich erfahrene Umgewichtung der auditiven Aufmerksamkeit, die aber, einmal geschehen, immer noch durch meinen Willen verschiebbar ist, die aber aufgrund ihrer – visuellen und auditiven – Rätselhaftigkeit und Ambivalenz innerhalb des Beachtungsgefüges immer wieder ins Zentrum rückt, da sich mit ihr viele offene Fragen verbinden.134 Zwar erfolgen diese Hörweisen in Relation zum Gehörten und lassen sich insofern durch inszenatorische Strategien erschweren oder eröffnen, z. B. im Zusammenspiel mit den in TRUST durch die Klangqualitäten der Soundströme bewirkten Klangräumen, doch werden in ihnen weitere Dimensionen erfahrbar, die auf das Wirken der auditiven Aufmerksamkeit hinweisen: Zum einen verdeutlicht sich im Hineinhören die Relevanz der Plastizität des Gehörten als eines auditiven Möglichkeitsraums, innerhalb dessen unterschiedliche Phänomene vom Aufmerksamkeitszentrum hervorgehoben werden können, zum anderen manifestiert sich im Aufhorchen die Bedeutung der Ereignishaftigkeit und Kontingenz auditiver Prozesse, die weder durch inszenatorisch angelegte Hörperspektiven noch durch die subjektive Hörintention vollkommen zu kontrollieren sind. Das von Ingo Kottkamp angenommene auditive Vermögen, Laute durch einen Moduswechsel im Sinne eines Umschaltens auf verschiedene Weise wahrnehmen zu können, ist kritisch in seiner Implikation eines vollständig die Kontrolle über sein Hören besitzenden Subjekts zu hinterfragen, auch wenn demgegenüber die Dynamik des Hörens zu bekräftigen ist und die damit einhergehenden Begriffe des mehrschichtigen und mehrspurigen

134 Laute könnten in diesem Sinne auch danach unterschieden werden, wie leicht oder schwer es ist, ihnen durch Zentrierung der auditiven Aufmerksamkeit innerhalb einer lautlich komplexen Umgebung über längere Zeit zu ›folgen‹. Bislang stellt diese Dimension keine anerkannte Klangqualität dar, doch begründet die Analyse der Aufmerksamkeitsdynamiken eine entsprechende Differenzierung verschiedener Grade der Eindringlichkeit von Lauten. Diese hängt immer auch vom jeweiligen kulturellen und historischen Kontext ab, doch unterscheidet sie sich darin nicht von den anderen Klangqualitäten, die – im Empfinden der Hörenden – ebenfalls relational verfasst sind. Gehörte Lautstärke, Tonhöhe und Intensität werden von Hörenden je nach ihrem kulturellen wie situativen Umfeld und nicht nach messbaren Skalen beurteilt. Was in der einen Situation als leise bewertet wird, kann in einer anderen sehr laut wirken.

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Hörens sich für die folgenden Ausführungen zentral erweisen.135 Einzuwenden ist aber, dass die Prozesse der auditiven Aufmerksamkeit sich auf eine Weise vollziehen, die weder durch die Lauterzeugenden noch durch die Hörenden vollständig lenkbar sind. Der performative Ereignischarakter des Hörprozesses bringt es mit sich, dass nicht vorhergeplant werden kann, was gehört werden wird, auch wenn mittels der lautlichen Gestaltung entlang auditiver Organisations- und Gestaltprinzipien dafür gesorgt werden kann, dass bestimmte Hörweisen gegenüber anderen wahrscheinlicher werden. Insofern ist auch Van Leeuwens zuvor erörterte These der Kontrollierbarkeit von auditiver Aufmerksamkeit durch Bezugnahme auf Theorien der auditiven Aufmerksamkeit zu relativieren, da sich die entsprechenden Dynamiken zwar entlang des potentiell Hörbaren, aber keineswegs in vollständiger Übereinstimmung dazu verhalten. Gehört wird nicht in direkter Übertragung des Hörbaren, sondern vielmehr wird das gehört, was innerhalb des potentiell Hörbaren durch die Gewichtungen und Zentrumsverschiebungen der auditiven Aufmerksamkeit hervorgehoben und zurückgestellt wird. Es zeigt sich daran ein Problem des spezifisch filmtheoretisch geprägten Perspektive-Begriffs, insofern er dazu verleiten kann, Strategien visueller Darstellungs- und Perspektivierungsweisen im Filmbild durch Ausschnittsetzung und Kameraführung auf die lautliche Dimension zu übertragen, ohne die Differenzen von Filmbild und Soundtrack/Sound Design oder auch die Unterschiede zwischen visueller und auditiver Wahrnehmung zu reflektieren und zu problematisieren. Aus diesem Grund ist der Perspektive-Begriff in der speziellen Verwendung durch Van Leeuwen besser durch den Begriff des Gefüges zu ersetzen, der ebenfalls die Relationalität und Ordnung, aber zugleich auch den temporären und wandelbaren Charakter des Wahrgenommenen markiert.

           Die bisherigen Darstellungen bezogen sich vor allem auf solche Phänomene, in denen sich auditive Weite, Tiefe oder Nähe durch den gehörten Abstand zwischen den Lauten und den Hörenden ergab. Nun stellt sich demgegenüber die Frage, ob auch andere Formen der auditiv-attentionalen Dynamik denkbar und auf gleiche

135 Vgl. Ingo Kottkamp: »Umschalten beim Hören«, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift Historische Anthropologie 2 (16) 2007 (Klanganthropologie. Performativität – Imagination – Narration), S. 215-222, hier S. 215-217. Es ist erstaunlich und hier kritisch anzumerken, dass Kottkamp seine Theorie des auditiven Umschaltens ohne Bezug auf die auditive Aufmerksamkeitstheorie der Psychologie und Phänomenologie darlegt, in der gerade die verschiedenen Modi und Dynamiken des Hörens zentral untersucht, beschrieben und analysiert werden.

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Weise durch den Begriff der plastischen Hörzeiträume erfassbar sind. Dabei steht eine von Van Leeuwen zentral gesetzte, aber nicht weiter begründete These im Zentrum der Auseinandersetzung. Seiner Einschätzung nach handelt es sich im Fall einer Absenz von Figur-Grund-Konstellationen um eine andere Art der Abweichung von der Norm, welche im Gegensatz zur Perspektive nicht von Distanzen, sondern von Nähe und Immersivität gekennzeichnet ist. »The opposite of perspective is immersion, wrap-around sound.«136 Wichtig ist, dass hier zwischen verschiedenen Immersions-Begriffen unterschieden werden muss, insofern in der Theorie des Auditiven häufig konstatiert wird, dass das Hören im Gegensatz zum Sehen ein grundlegend immersiver Sinn ist, bei dem die Wahrnehmenden vom Wahrgenommenen umgeben und eingehüllt sind, was häufig durch die Metapher des ›Eintauchens‹ beschrieben wird. Immersion stellt demnach keinen Sonderfall auditiver Wahrnehmung dar, sondern wird als prinzipielle Qualität dieser Sinneswahrnehmungen angenommen. Demgegenüber definiert Van Leeuwen den Immersions-Begriff aber über spezifische Klangqualitäten einer ästhetisch gestalteten Lautlichkeit – als Beispiel nennt er sehr tief klingende Laute, deren räumliche Lokalisierung nahezu unmöglich ist: »Perspective and hierarchization disappear. The individual no longer feels separate from the crowd, but becomes fully integrated and immersed in the environment.«137 Das Fehlen von Differenzen und hierarchisierenden Anordnungen einzelner Laute bewirkt demnach eine Hörweise, die von Immersion und Involvierung gekennzeichnet ist und Prozesse der sozialen Vergemeinschaftlichung und der Kollektivität bewirken kann. Der Unterschied zur grundsätzlichen auditiven Immersivität ergibt sich daraus, dass die von Van Leeuwen ausgewiesene immersive Hörweise auf einem spezifischen Aufmerksamkeitsgefüge beruht, innerhalb dessen – im Sinne einer extremen Form von Perspektive – das Zentrum so weit ist, dass es mit dem Rand übereinstimmt und somit kein Unterschied mehr zwischen beiden Bereichen vorhanden ist. Gegeben ist dies in Umgebungen, die nach Schafer als lofi-soundscapes bestimmbar sind. Im Gegensatz zur Plastizität, die auf Differenzen beruht und bei der angenommen wird, dass das Gehörte sich räumlich ergibt und sich durch Aufmerksamkeitsumgewichtungen darin verschiedene Anordnungen des Hörens konstituieren, lassen sich im Gegenwartstheater auch Formen auditiver Räumlichkeit erfahren, in denen diese Dimensionen nicht gegeben sind. Das Wirken der auditiven Aufmerksamkeit lässt sich demnach für diese Aufführungserfahrungen nicht unbedingt als ein sich ständig neu austarierendes Priorisieren und Gewichten beschreiben, sondern ist insgesamt als weniger dynamisch einzuschätzen. Im Gegenwartstheater zeigen sich diverse Weisen, durch ambient- oder noise-artige Soundströme eine besondere

136 Van Leeuwen 1999, S. 28. 137 Ebd.

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Lautlichkeit zu produzieren und die Aufführung auf diese Weise atmosphärisch aufzuladen. Neben vielen von Meg Stuarts Arbeiten sind diesbezüglich u. a. auch die Arbeiten von Gisèle Vienne, Romeo Castellucci sowie Vincent Dupont und Lose Combo anzuführen, die jeweils durch verschiedene Einflüsse der Bildenden Kunst, des Puppentheaters, des zeitgenössischen Tanzes oder des Neuen Musiktheaters geprägt sind und in denen den zumeist elektronisch erzeugten oder verstärkten Lautlichkeiten große Relevanz zukommt. Sabine Schouten schildert ihre Empfindung während der Eingangsszene von Meg Stuarts VISITORS ONLY, die sie als ›energetisierend‹ erinnert und als ›Clubatmosphäre‹ beschreibt. Sie zitiert eine befragte Zuschauerin, die angibt, sie wäre von der Aufführung ›gerockt‹, also in besonders intensiver Weise angegangen und affiziert worden.138 Im Alltag dient das Austarieren des Verhältnisses Zentrum/Randzone der grundlegenden Funktion, sich entlang räumlicher, zeitlicher und sozialer Koordinaten zu orientieren, und darüber hinaus wichtige Signale ein- und auszublenden, über die das in dem Moment verfolgte Ziel erreicht werden kann. Im Theater hingegen ist das Hören aus einem solchen funktionalen Hören weitgehend entbunden – auch hier orientieren sich die Anwesenden u. a. über ihr Gehör, doch des Weiteren eröffnen sich verstärkt Weisen des ästhetischen Hörens, die im Alltag auch gegeben, aber weniger zweckdienlich und daher nicht in gleichem Maße naheliegend sind. Was im ästhetischen Kontext insbesondere erfahren wird, ist eine von Ihde als auditive Aura bezeichnete Präsenz des Gehörten, die distanzüberschreitend oder gar distanzauflösend wirkt und die Hörenden affiziert, angeht, berührt, kurzum ihnen so stark nahekommt, dass, wie Ihde ausführt, »sound ›physically‹ invades my own body«139. Die Eindringlichkeit von Soundströmen ließ sich während der Aufführung von TRUST durch die von den wummernden Bässen ausgelösten Vibrationen am eigenen Leib erfahren. Die Sounds waren extrem nah, insofern sie meinen Körper in Schwingung versetzten, und paradoxerweise klangen sie zugleich aber, als wären sie entfernt und dehnten sich zunehmend in die Weite aus. Auch in Marthalers Die Fruchtfliege wirkte das Geräusch, das mein Aufmerken provozierte, eindringlich, im Unterschied zu TRUST aber nicht vorrangig durch auffällige Eigenschaften, sondern durch seine kontinuierliche und im Kontext der Bühnenhandlung unerklärliche Präsenz. Über diese Qualitäten bewirkte es Irritationen, die zu einer Zuwendung des Aufmerksamkeitszentrums und einer intensiveren Beachtung führten. Eindringlichkeit manifestiert sich darin als Auslöser von Umgewichtungen innerhalb des Hörens.

138 Vgl. Sabine Schouten: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Diss., Berlin 2007, S. 71. 139 Ihde 2007, S. 79.

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Es ist nun auf das konkrete Beispiel der Sound-Lautlichkeit in Gisèle Viennes Kindertotenlieder als einer speziellen Variante der auditiv perspektivierenden Figur-Grund-Beziehung einzugehen, wobei auch in Frage steht, welche Art der Hörweise sich dann ergibt, wenn die ›Figur‹ ausbleibt und nur ›Grund‹ zu hören ist, da nach Van Leeuwen in diesen Phasen die Abwesenheit jeglicher auditiven Perspektive anzunehmen wäre. Die Ausführungen zu Kindertotenlieder zielen darauf ab, das Verhältnis zwischen Hörenden und ihrer auditiv rezipierten Umgebung – unter Rückgriff auf verwandte Hörweisen der musikalischen Genres Ambient und Noise – genauer zu analysieren und im Sinne ihrer vermeintlichen Perspektivlosigkeit zu befragen.140 Angenommen wird, dass sich in der Begegnung mit den Ambient- und Noise-Soundströmen ein je spezifisches auditives Gefüge ergibt, dessen bloße Beschreibung als ›perspektivlos‹ zu verkürzend wäre, da diese Hörweise durch wesentliche Differenzen und Bezüge charakterisiert ist. Um die spezifischen Eigenschaften und Merkmale des Gehörten schriftlich angemessen wiedergeben zu können, bietet es sich auch in diesem Fall an, auf eine Terminologie zurückzugreifen, die geologisch orientiert ist und dies nicht nur, weil durch sie die räumliche Gestaltung hinsichtlich von Abhebungen und Vertiefungen erfasst werden kann, sondern ebenso und vor allem weil in ihr auch die für die Lautlichkeit in Kindertotenlieder relevante Materialität des Gehörten berücksichtigt, herausgestellt und in ihrer Eigenart zur Darstellung gebracht werden kann. In Gisèle Viennes Kindertotenlieder, das im Rahmen des Festivals Tanz im August 2007 an den Berliner SOPHIENSÆLEN gastierte, erklang über die gesamte eineinviertelstündige Dauer der Aufführung die eigens für diese Inszenierung komponierte Musik von KTL, einem nach dem Titel der Inszenierung benannten Musikerduo, bestehend aus Stephen O’Malley, der für seine Black- und Doom-MetalGitarrenklänge bekannt ist, und Peter Rehberg, der vorwiegend experimentelle Computermusik komponiert.141 Die Musik wurde von den beiden für das Publikum

140

Zur charakteristischen Klanglichkeit beider Genres wird im Verlauf des Abschnitts noch Genaueres ausgeführt.

141 Die Uraufführung von Viennes Kindertotenlieder war im Februar 2007. Erlebt habe ich die Aufführung am 27. August 2007 in den SOPHIENSÆLEN in Berlin. Die Musik von KTL, die im Rahmen der Inszenierung entstand, wurde auf den Alben KTL 1, KTL 2 und KTL 3 auf Rehbergs Label Mego veröffentlicht. Anzumerken ist, dass Viennes Theater oft aufgrund seiner Verwendung von einprägsamen, nahezu statischen Bildern und Tableaux als ›visuelles Theater‹ charakterisiert wird, doch führt dies zu einer stark reduzierten Beschreibung der Ästhetik Viennes, insofern den von ihr in Zusammenarbeit mit diversen Musiker*innen produzierten Sound Designs vieler Arbeiten aufgrund deren Extremität in Intensität, Lautstärke, Dissonanz, Geräuschhaftigkeit, Auf-

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sichtbar an diversen technischen Geräten und elektronischen Instrumenten auf der kaum beleuchteten Bühne performt, eingehüllt in Nebelschwaden, durch welche die Tiefe der Bühne nur zu erahnen war. Nahe der Bühnenmitte war ein Standmikrofon aufgestellt, an dem zeitweilig – mit Playback – von einem der schwarz gekleideten Akteur*innen auf der dunklen, nur beidseitig von Scheinwerfern beleuchteten und mit Kunstschnee bedeckten Bühne gesungen wurde. Die Regisseurin und ausgebildete Puppenmacherin Gisèle Vienne verwendet in den meisten ihrer Theaterarbeiten selbst hergestellte Puppen in Lebensgröße, die neben den lebendigen Performer*innen auf der Bühne stehen und sich teilweise auch bewegen, meist zumindest zusammenzucken, ihren Brustkorb heben und senken sowie die Augenlider schließen können. So blieb in den Nebelschwaden der finsteren Winterlandschaft für längere Zeit unklar, welche der nur schemenhaft erkennbaren Gestalten Puppen oder Menschen waren, und auch die jeweilige Geschlechtsidentität war uneindeutig. Allein das Alter schien erkennbar zu sein, insofern ihre kleine, schmale Statur, ihre auf Gothic und Black Metal-Subkulturen hinweisenden schwarzen Outfits, vor allem die mit Bandnamen und Szene-Emblemen bedruckten Kapuzenpullover, die von diesen Kapuzen bedeckten Gesichter und die trotzig wirkenden Körperhaltungen auf Jugendliche hindeuteten. Über lange Dauer blieb das Gesehene weitgehend statisch, insofern die Personen an ihren Positionen verharrten und sich wie vor Kälte erstarrt kaum rührten. Nach längerem Hinsehen bemerkte ich, wie doch einzelne Bewegungen in sehr langsamem Tempo vollzogen wurden, dabei das Ziel und den Zweck der körperlichen Verschiebungen nicht offenbarten und so die von mir empfundene Zeitlichkeit in die Länge dehnten. Einige der Schwarzgekleideten schritten wie in Zeitlupe voran, andere neigten sich kaum merklich zur Seite oder bewegten langsam den Kopf ein wenig nach vorn, so dass unter der Kapuze lange Haare zum Vorschein kamen, welche die Gesichter noch mehr verdeckten. Doch auch wenn wenig sichtbar Wahrnehmbares geschah, empfand ich keine Leere, sondern im Gegenteil, eine bedrängende atmosphärische Dichte, die mit der Bewegungslosigkeit, den dichten Nebelschwaden und vor allem einer kontinuierlich präsenten, extrem lauten und langsam sich herausbildenden auditiven ›Schwere‹ zusammenhing. Manche der Soundströme lagen wie Blei – oder besser, wie hart gefrorene Schneeschichten – auf der Bühne, schienen die Figuren sowie das Publikum erdrücken zu wollen mit ihrer immensen, raumeinnehmenden ›Konsistenz‹. Solcher Art waren die über weite Zeiträume konstant hörbaren Soundströme des Brummens, Dröhnens und Summens, die phasenweise ohrenbetäubend laut erklangen und mich gleichermaßen von allen Seiten einhüllten. Manch andere Soundströme wiederum schienen vor mir über der Bühne, aber auch neben und hinter mir in der Luft zu schweben.

fälligkeit, Besonderheit und Alltagsuntauglichkeit großen Anteil an der Wirkungsweise der gesamten Aufführung zuzuweisen ist.

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Diese ließen sich eher als Sirren, Schwirren oder Flirren bezeichnen und mit etwas Diffusem, Schwebendem, Leichtem, Nebulösem, das sich auf der Bühne in dem weißen Dunst manifestiert, assoziieren. Ihre Tonhöhe war verhältnismäßig hoch, sie klangen eher schrill und wiesen aber eine ähnliche Dauerhaftigkeit, Kontinuität und Unveränderlichkeit auf wie die ›schwereren‹ Soundströme. Aufgrund der spezifischen Klanglichkeit der Soundströme ergab sich in meinem Hören eine Lautlichkeit, die auf paradoxe Weise räumlich ausgedehnt und zugleich in sich gleichförmig war, worin sich ein Unterschied dieser elektronischen Soundströme zu denen in TRUST manifestierte.142 Denn auch wenn meine Empfindung der Soundströme von großer Nähe und Umhüllt-Sein, andererseits von räumlicher Tiefe und Weite geprägt war und somit in beiden Dimensionen mit der auditiven Wahrnehmung in TRUST vergleichbar schien, zeigte sich eine Differenz beider Hörweisen darin, dass die elektronischen Klänge in Kindertotenlieder innerhalb der einzelnen Soundströme nicht weiter differenzierbar, sondern vielmehr in sich weitgehend homogen und auch im zeitlichen Verlauf gleichbleibend waren. Anders als in TRUST, bei dem eher wummernde143 und stark pulsierende oder sich im Raum ausbreitende, sich gegenseitig überlagernde und aufschichtende

142 Es sind hier solche Soundströme zu differenzieren, die in sich so gleichförmig sind, dass sie, wie R. Murray Schafer konstatiert, auditiv wie eine ›flache Linie‹ wirken, insofern die Amplitude ihrer Schallwelle sehr gering und somit eine sich innerhalb des Soundstroms ergebende klangliche Differenz reduziert bzw. nahezu nicht vorhanden ist. Es ist demzufolge anzunehmen, dass Effekte auditiver Räumlichkeit mit der Amplitudenstärke insofern zusammenhängen, als dass sich durch eine größere Amplitude und einer daraus resultierenden Soundstruktur verstärkt ein Hören von Räumlichkeit ergibt. 143 Wie zuvor in Bezug auf die Soundströme in TRUST bereits erwähnt, steht die Herausbildung einer systematischen und disziplinübergreifend verbindlichen Terminologie für elektronisch erzeugte Sounds, Soundströme und die immense Vielfalt der Klangfarben noch aus. Daher versuche ich im vorliegenden Abschnitt, das Charakteristische des Gehörten durch metaphorische Sprache und nicht allein über musikalische Parameter, die nicht ausreichen würden, zu beschreiben. Ein solches spezielles Problem der bestehenden Sprache stellt es beispielsweise dar, dass z. B. mit dem Begriff des ›Wummerns‹ zwar auf einen Soundstrom hingewiesen werden kann, der kontinuierlich erklingt und dabei pulsierende Intensitätsunterschiede aufweist, doch lässt es die deutsche Sprache darüber hinaus nicht zu, zwischen verschiedenen Stärken der ›Wummer‹Amplitude zu differenzieren und dadurch die sich im Hören dieser Sounds ergebenden Klanglichkeiten im Detail und in ihrer jeweiligen Spezifik zu erfassen. Das Vorhaben, Geräusche, Sounds und Soundströme durch Entwicklung einer adäquaten Terminologie besser bestimmen und differenzieren zu können, ernst zu nehmen, heißt in diesem

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Soundströme vernehmbar sind, wurden in Viennes Kindertotenlieder von Peter Rehberg diverse Arten des Dröhngeräuschs verwendet. Geräusche des Dröhnens, Brummens und Summens stellen dauerhafte und im Alltag häufig präsente Geräusche dar, die von Augoyard und Torgue als drone bestimmt werden. Drones sind zumeist tiefe Bassklänge, deren Bezeichnung vom Brummen der männlichen Biene, den Drohnen, herrührt.144 Ihre Klanglichkeit wird als ein »constant layer of stable pitch in a sound ensemble with no noticeable variation in intensity«145 beschrieben, der insbesondere im tiefen Frequenzbereich, wie es häufig in Kindertotenlieder zu hören ist, mit den Bedeutungen von Gefahr, Traurigkeit oder Melancholie assoziiert werden. 146 Ihr Effekt auf das Hören wird von R. Murray Schafer als »antiintellectual narcotic«147 vor allem in seinen berauschenden oder betäubenden Wirkungen beschrieben. Zudem sind es Soundströme, die in ihrer homogenen und im zeitlichen Verlauf kontinuierlich gleichbleibenden Form weder eine bewusste Erfahrung von Dauer noch von ausgedehnter Räumlichkeit erlauben. Vielmehr besitzen sie eine Wirkung, für die im Folgenden der Begriff der Soundwand verwendet wird. Die Soundwand stellt sich den Hörenden entgegen und verhindert jede Differenzierung.148 Der Wand-Effekt ist ein in der Psychoakustik und in der Phänomenologie des Auditiven anerkannter Begriff, der einen auditiven Eindruck von dichter Flächigkeit meint, welche den Hörenden gegenübersteht oder von der sie getroffen werden können. Augoyard und Torgue definieren diesen Effekt wie folgt: »A composite effect in which a continuous high intensity sound gives the listener an impression of facing an ensemble of sound materialized in the shape of a wall. This feelings of solidified sound, accompanied by a feeling of powerlessness and crushing, can be easily experienced at a rock show or when facing an urban street with multiple lanes of dense traffic.«149

Sinne auch, solche minimalen Nuancen nicht zu übergehen, sondern sie in ihren Auswirkungen auf das Gehörte zu berücksichtigen. 144 Vgl. Marcus Maeder: »Ambient«, in: ders. (Hg.), Klangliche Milieus. Klang, Raum und Virtualität, Bielefeld 2010, S. 95-120, S. 107. 145 Augoyard/Torgue 2005, S. 40. Vgl. auch Artikel »drone«, in: Oxford Dictionary of Musical Terms, hg. v. Alison Latham, Oxford/New York 2004, S. 57: »A steady or constantly reiterated note, usually on the keynote. It is the simplest of all accompaniments.« 146 Vgl. ebd., S. 42. 147 Schafer 1994 [1977], S. 79. 148 Vgl. ebd., S. 158. 149 Augoyard und Torgue 2005, S. 145.

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Eine Soundwand kann offenbar so massiv und so dicht sein, dass sie kaum durchdrungen werden kann und auch im Überlagern keine anderen Laute mehr hörbar werden lässt. 150 Steve Goodman, der zur Wirkmächtigkeit elektronisch erzeugter Sounds und deren Verwendungsweisen im Rahmen gegenwärtiger Kriegsführung forscht, stellt das Phänomen der sonic wall als besonders intensiven Soundeffekt heraus, durch den bestimmte Gebiete regelrecht abgeschottet werden können.151 Drones gelten zudem als charakteristische Klanglichkeiten von Ambient, einem musikalischen Genre, das sich vorrangig auf elektronisch erzeugte Musik bezieht, die durch langsame klangliche Veränderungen, durch die Dauerhaftigkeit der einzelnen Soundströme sowie zumeist durch eher harmonische, konsonante Klanglichkeiten und die Absenz starker Rhythmik geprägt ist.152 In der Kritik von Jens Balzer für die Berliner Zeitung wird der Sound von Kindertotenlieder durch Bezugnahme auf die beiden durch die Musiker in die Inszenierung eingebrachten Genres einerseits des gitarrenlastigen ›Metal‹ und andererseits des elektronischen ›Ambient‹ beschrieben und in ihrer Besonderheit erfasst. »Sphärischer elektronischer Ambient wird von katakombentiefen Bassverstärkerrückkopplungen unterwühlt; 20.000-Hertz-hoch kreischende Glitch-Geräusche umschwirren ein metabolismusgefährdendes Pulsen.«153 Die Feststellung eines Spannungsverhältnisses zwischen

150 Vgl. ebd., S. 17. 151 Vgl. Steve Goodman: Sonic Warfare. Sound, Affect, and the Ecology of Fear, Cambridge, Ma./London 2010, S. 17. 152 Vgl. Maeder: »Ambient« (2010), S. 103 f. Maeder weist außerdem darauf hin, dass sich seit der Begriffskreation durch Brian Eno in den 1970er Jahren die Bedeutungszuschreibungen von Ambient insofern verschoben haben, als dass damit nicht mehr nur auf eine spezifische Musik, sondern auch auf Bildende Kunst und bestimmte Kunstkonzepte Bezug genommen wird, um performative Installationen und environmentale Arbeiten zu beschreiben. Vgl. ebd., S. 101; Sabine Gebhardt-Fink: »Ambient in der Kunst der Gegenwart«, in: ebd., S. 121-136; Ludwig Fromm: »Atmosphärisches Rauschen«, in: Meyer (Hg.), acoustic turn (2008), S. 705-717, insbesondere S. 713: »Es dominieren sanfte, langgezogene, warme Akkorde, räumliche Effekte, Geräusche.« Der Begriff ambient oder ambient noise kann im Englischen aber auch einfach die sich in einer bestimmten Umgebung ergebende Lautlichkeit bezeichnen und somit nicht speziell auf das Künstlerisch-Gestaltete abheben. Vgl. Reinhard Lerch u. a. (Hg.), Technische Akustik. Grundlagen und Anwendungen, Berlin/Heidelberg 2009, S. 566; Schafer 1994, S. 185 ff. 153 Vgl. Jens Balzer: »Tanz mir Kindertotenlieder«, Berliner Zeitung vom 22.08.2007, online unter www.berliner-zeitung.de/archiv/ktl--sunn0----meister-stephen-o-malley-undpeter-rehberg-duettieren-in-berlin-tanz-mir-kindertotenlieder,10810590,10499166. html, letzter Zugriff am 05.08.2016.

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unterschiedlichen Musikgenres, die in Kindertotenlieder zu einem Gesamtsoundgemisch verbunden werden, ist relevant, um die auditiven Aufmerksamkeitsdynamiken und die mit diesen einhergehenden Hörweisen der Lautlichkeit dieser Aufführung zu verstehen. Im Ambient einerseits und im Noise andererseits lassen sich zwei Pole des Spektrums elektronischer, geräuschhafter Musik aufgreifen, deren spezifische Klanggestaltung relevant ist für die Art des Hörens in Kindertotenlieder, die meines Erachtens aus der Verbindung beider Genres – im Dröhnen, Surren und Brummen des Ambient und im Kreischen, Kratzen und Knistern des Noise – resultiert. Insgesamt sind beide Genres darin vergleichbar, dass sie aufgrund ihrer spezifischen Klanglichkeit bewirken, dass sich im Hören durch die Erweiterung des Aufmerksamkeitszentrums eine auditive Weite erfahren lässt, die auf eine besondere Weise gestimmt und affektiv ›gefärbt‹ ist, ohne dabei sehr konkret zu sein. Kein benennbares Gefühl, z. B. von Freude oder Trauer, sondern Stimmungen, Färbungen, Atmosphären werden durch diese Formen elektronischer Musik erzeugt. Es ist zudem hervorzuheben, dass die Klanglichkeit von Drones »weniger eine Erzählung, eine narrative Abfolge von Klängen aufbaut, als vielmehr eine Art klingenden Zustand herstellt« 154 . Die von Rehberg produzierten dröhnenden Geräusche weisen keine vielschichtige Struktur auf, sondern sind vor allem durch ihr konstantes Gleichbleiben geprägt und provozieren dadurch entsprechende Aufmerksamkeitsdynamiken und Hörweisen. Sie verändern so nicht nur die räumlichen, sondern auch die zeitlichen Verhältnisse. Mit dem Begriff der flächigen Zeit beschreibt Christiane Berger die Wahrnehmung von Zeitlichkeit in Saburo Teshigawaras Tanzperformance Absolute Zero, deren ›Flächigkeit‹ aus ihrer Unteilbarkeit und einem dadurch evozierten Gefühl der Zeitlosigkeit entsteht.155 Im Rahmen des sich somit herausbildenden spezifischen und individuellen ErlebnisZeitRaums ergab sich, so Berger, für die Dauer der Aufführung »nur noch Gegenwart«156. Auf eine solche Wirkungsweise zielt das Einsetzen leiser Geräusche des Brummens157 z. B. in Großraumbüros, in-

154 Ebd. David Toop beschreibt Ambient als eine Art ›sonic theatre‹, wobei er aber betont, dass diese Musik keiner dramatischen Entwicklung folgt und eher driftet oder sogar stillsteht. Vgl. Toop 1995 (ohne Seitenangabe, im Prolog). 155 Vgl. Christiane Berger: Körper denken in Bewegung. Zur Wahrnehmung tänzerischen Sinns bei William Forsythe und Saburo Teshigawara, Bielefeld 2006, S. 125 f. 156 Ebd., S. 127. 157 Augoyard und Torgue sprechen von drone, was ins Deutsche mit ›Dröhnen‹ zu übersetzen ist, aber da dem deutschen Begriff negative Konnotationen des eindringlich Störenden, Unangenehmen anhaften, ist das entsprechende Geräusch im Kontext der angenehmen Atmosphären eher als ein ›Brummen‹, ›Surren‹ oder ›Summen‹ zu bestimmen, die weniger stark mit negativen Assoziationen belegt sind. Mit dem Be-

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dem durch sie die dort häufig entstehende Geräuschvielfalt maskiert und die Hörenden weniger gestört werden, da ihre Kontinuität und Stabilität beruhigend wirkt und sie zudem aufgrund von Gewöhnung nach einiger Zeit ›ausgeblendet‹ wird.158 Wird ihnen konzentriert zugehört, können sie zudem eine Art hypnotisierenden Effekt haben, bei dem die Hörenden in einen meditativen Zustand versetzt werden, weshalb Drones meist in Trance-Musik verwendet werden.159 Über Brian Enos letztes Ambient-Album LUX aus dem Jahre 2012 wurde in einer Kritik sein Potential als ›Musik zum Einschlafen‹ konstatiert.160 Tatsächlich bewertet Eno selbst es als positive Auszeichnung seiner Musik, wenn sie die Hörenden auf gewisse Weise ›einlullt‹ und schläfrig stimmt.161 Durch Ambient will Eno auditive Eindrücke von »stillness and non-chaoticness«162 hervorbringen. Weder Bässe noch Geräusche wie ein Klacken oder Knistern und auch kein rhythmisches Element sind zu hören – die Tracks bestehen nahezu ausschließlich aus sich langsam entfaltenden, hoch und hell klingenden Soundströmen. Der einzige tiefere Klang kommt von den sanften Klavier- und Harfentönen, die langsam und leise zu den mal an Violinen, mal an Hörner erinnernden Soundströmen erklingen. Durch diese Unauffälligkeit des Einzelnen provoziert Ambient verschiedene Hörweisen, die weniger auf Details gerichtet, als vielmehr für das Gesamte offen sind. Das Hören von Ambient ist demnach räumlich diffus; die Hörenden sind von Ambient-Musik eingehüllt, doch auf eine unaufdringliche Weise, so dass ihr Hören sich in den von der Musik belassenen ›Freiräumen‹ entfalten und innerhalb des Gehörten bewegen kann. Dementsprechend wird Eno von David Toop wie folgt zitiert: »Ambient Music must be

griff ›Brummen‹ werden eher tiefere, mit ›Summen‹ vielmehr mittlere und mit ›Surren‹ eher höhere Tonhöhenbereiche gemeint. 158 Vgl. Van Leeuwen 1999, S. 17. In Kindertotenlieder wird dieser Effekt kaum eintreten, da die Soundströme des Brummens sehr laut sind und doch im Verlauf der Aufführung auch in der Tonhöhe variieren. Dennoch kommt dieser Art von Klanglichkeit auch im Kontext von Theater, einem Ort, an dem zumeist wenigstens zu Anfang der Aufführung von erhöhter Aufmerksamkeitsintensität ausgegangen werden kann, eine im Verlauf einer Aufführung sich ergebende ›einschläfernde‹ Wirkung zu, insofern ihre Monotonie ein Abnehmen der Intensität und Wachsamkeit zur Folge haben kann. 159 Vgl. Augoyard/Torgue 2005, S. 44. 160 Vgl. Geeta Dayal: »Music To Sleep to«, Slate vom 16.11.2012, http://www.slate.com/ articles/arts/music_box/2012/11/brian_eno_s_lux_reviewed.html, letzter Zugriff am 05.08.2016. 161 Vgl. Toop 1995, S. 138: »[...] I played an improvised duo on percussion, flutes, and electric guitar. Brian fell asleep, but claimed this was a compliment.« 162 Vgl. Laurie Anderson spricht mit Brian Eno für das Magazin interview, http://www. interviewmagazine.com/music/brian-eno/#, letzter Zugriff am 05.08.2016.

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able to accomodate many levels of listening attention without enforcing one in particular: it must be as ignorable as it is interesting.« 163 Toop schlussfolgert, dass Ambient somit einem Kunstverständnis entgegensteht, das fordert, dass Musik durch eine Besetzung des Zentrums der Aufmerksamkeit der Hörenden deren Wahrnehmung bündelt, fokussiert und ausrichtet. »Rather than standing out from its environment, like a ship on an ocean, the music became part of that ocean, alongside all the other transient effects of light, shade, colour, scent, taste and sound.«164 Ambient legt Hörweisen nahe, die entweder hintergründig – und damit nicht bewusst – vollzogen werden, so dass das Zentrum des Hörens über die Dynamik der Aufmerksamkeit auf andere Komponenten gelegt ist und insofern einzelne Bestandteile der Musik nicht registriert werden, oder sie wird vertieft gehört, in einem Zustand des deep listening, das auf tiefer Versenkung in einen meditativen Zustand beruht. In beiden Fällen variiert zwar die Intensität der durch Ambient ausgelösten Hörweisen, insofern in der einen nebenbei und in der anderen konzentriert gehört wird, doch sind beide darin vergleichbar, dass in ihnen kein einzelnes Element des insgesamt Gehörten von der Aufmerksamkeit zentriert wird.165 Toop beschreibt Ambient als »sound which rests us from our intense compulsion to focus, to analyse, to frame, to catagorise [sic!], to isolate«166. Tatsächlich hat das Brummen und Dröhnen in Kindertotenlieder aufgrund der fast durchgängigen Präsenz über die gesamte Aufführungsdauer und die kaum merklichen, langsamen Klangveränderungen eine solche Wirkung auf mich, doch wirkte sie hypnotisierend nicht im Sinne von ›beruhigend‹, sondern von ›ruhigstellend‹. Die atmosphärische Wirkung des Gehörten ist daher eher als beunruhigend zu bestimmen, was insbesondere durch die auf mehreren Ebenen aufzuzeigenden Kontraste erreicht wird. Die Gleichmäßigkeit des Brummens, Summens und Dröhnens steht mit der statischen Immobilität des Bühnengeschehens in Verbindung, während beide aber durch die Atmosphäre des Unheimlichen, des Unberechenbaren und des Geisterhaften durchkreuzt werden und somit nicht mehr entspannend wirken. Trotz der sich vor allem über die Dissonanzen der Soundströme und über das Bühnen(nicht)geschehen einstellenden Unheimlichkeit entsteht kein Impuls zu einer Aktivität in mir; vielmehr besitzen die über lange Zeit kontinuierlich erklingenden Soundströme eine ›einlullende‹ Wirkung.

163 Toop 1995, S. 9. 164 Ebd., S. 139. 165 Vgl. zum Hintergrund-Hören die entsprechenden Zitate von Brian Eno in Toop 1995, S. 8 f. Zur Meditationsmethode und Bezeichnung ›deep listening‹, für die es (noch) keine deutsche Übersetzung gibt, vgl. Pauline Oliveros: Deep Listening. A Composer’s Sound Practice, Lincoln 2005. 166 Toop 1995, S. 140.

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Doch die Lautlichkeit in Kindertotenlieder besteht nicht ausschließlich aus diesen kontinuierlichen Dröhn- und Brumm-Soundströmen. Vielmehr sind in den ersten Szenen zwei männliche Stimmen aus dem Off zu hören, die von ihren Gewalt-, Mord- und Sexfantasien sprechen.167 Dann verstummen sie, und es mischen sich zu den tiefen Drones die kreischenden, brüllenden ›Klangstöße‹ einer EGitarre, die im Gegensatz zu den gleichförmigen Dröhn- und Brummsounds sehr in ihrer Lautstärke und Dauer variieren. In einem Moment, in dem zuvor nur leises, langsam moduliertes Brummen zu hören war, schreit die E-Gitarre plötzlich und laut auf, klingt dabei dauerhaft weiter, so dass die tieferen Töne des kontinuierlichen Dröhnens überlagert werden und es erst wieder hörbar wird, wenn der extreme Sound der E-Gitarre langsam verklingt. Im Gegensatz zur Soundwand der Drones lassen sich diese in sich sehr unterschiedlichen, nach Höhen und Tiefen differenzierten Klänge den nach Schafer besonders herausstechenden lautlichen ›Gesten‹ zuordnen. »Gesture is the name we can give to the unique event, the solo, the specific, the noticeable; texture is then the generalized aggregate, the mottled effect, the imprecise anarchy of conflicting actions.« 168 Diese von Schafer explizierte Dichotomie von hervortretenden Lautgesten und anarchisch ungeordneter Textur findet sich in der auditiven Wahrnehmung von Kindertotenlieder wieder, wobei die lautlichen Gesten der E-Gitarre zusätzlich aber in einem komplexen Soundkontinuum miteinander verbunden sind. Der Unterschied zu den Drones ergibt sich durch ihre Struktur und Komplexität, insofern sie in den Höhen- und Tiefendifferenzen immer wieder plötzlich Auffälliges markant werden lässt.

167 Der Text zu Kindertotenlieder stammt vom US-amerikanischen Schriftsteller Dennis Cooper, der schon häufig mit Gisèle Vienne zusammenarbeitete. Im weiten Sinne basiert das in dieser Arbeit Gezeigte auf dem fünfteiligen Romanzyklus George Miles Cycle. Die beiden Stimmen besitzen auditiv eine sehr unterschiedliche Klanglichkeit, insofern die eine Stimme nah, laut und in dieser guten Klangqualität wie aus dem Off, die andere nicht ganz so klar, aber wie unmittelbar auf der Bühne gesprochen klingt. Dass eine*r der Darstellenden auf der Bühne den Text spricht, ist nicht zu erkennen, vielmehr ist z. B. das Standmikro während der stimmlichen Verlautbarungen oft unbenutzt. In der häufigen Arbeit mit reproduzierten Stimmenaufzeichnungen und Puppen oder auch mit Bauchrednern wie in Jerk, in dem ein Schauspieler mit dieser speziellen Technik für diverse Puppen spricht, zeigt sich, dass Stimme und Körper in Viennes Ästhetik nicht notwendigerweise zusammengedacht werden. Vielmehr besitzt gerade die Verunsicherung ob der eindeutigen Verortung von Stimmen und Körpern zueinander das Potential der Unheimlichkeit, das Vienne in ihren Arbeiten oft einsetzt und verhandelt. Vgl. zu Jerk auf der Homepage von Gisèle Vienne unter http://www.gv.fr/creations/jerk/ve-jerk.htm, letzter Zugriff am 05.08.2016. 168 Vgl. Schafer 1994 [1977], S. 159.

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Die Sounds der E-Gitarre verweisen zudem auf das musikalische Genre der Noise-Musik, die neben dem zuvor erwähnten Ambient an der Lautlichkeit von Kindertotenlieder maßgeblich beteiligt ist. Im Noise stellen ebenfalls Langsamkeit und Dauerhaftigkeit wichtige Qualitäten der Musik dar, doch überwiegen in ihr gegenüber dem Ambient eher dissonante, geräuschhafte, teilweise sehr brachiale Klanglichkeiten, die von Reibe-, Schleif- und Knattergeräuschen durchsetzt sind und auf diese Weise im Hören statt harmonischem Zusammenklang eher Spannungen provozieren. Chris Atton beschreibt die Klanglichkeit von Noise folgendermaßen: »The term noise music is generally used to refer to contemporary musical practices that have dispensed with melody, harmony, and at times even rhythm or pulse.«169 Des Weiteren lässt sie sich als eine ›Musik des Exzesses‹ beschreiben, deren Überschuss nicht bezüglich einer komplexen Vielschichtigkeit, sondern in einer immensen Klanglichkeit besteht, »in undifferentiated din, in nothing more than a continuous squall of ear-splitting feedback that seems to have little expressive power«170. O’Malleys E-Gitarrenriffs in Kindertotenlieder bewirken eine Hörweise, die als angespannt zu charakterisieren ist, denn die Klänge bringen eine Dissonanz zu den brummenden Soundströmen hervor, die nicht aufgehoben wird. Die in den Relationen zwischen den einzelnen Soundströmen entstehenden Spannungen lösen sich nicht in harmonischem Zusammenklang auf, sondern verbleiben zumeist in dissonanter Mehrstimmigkeit, was in diesen Phasen an den Hörenden zerrt, anstatt sie zu beruhigen. Sie besitzen ausgeprägte Höhen und Tiefen, weshalb sie als Soundschluchten zu bestimmen sind. In Bezug auf die mit diesen Genres verbundenen Hörweisen lässt sich hinsichtlich der verschiedenen Aufmerksamkeitsdynamiken auf Unterschiede hinweisen, denn während Ambient eher auf Unauffälligkeit und Hintergründigkeit basiert, inhärieren der Noise-Musik vielmehr spektakuläre, auffällige und vordergründige Dimensionen.171 Enos erstes Ambient-Album aus dem Jahre 1978 trug den Titel Am-

169 Chris Atton: »Fan Discourse and the Construction of Noise Music as Genre«, in: Journal of Popular Music Studies 23 (3) 2011, S. 324-342, hier S. 325. 170 Ebd., S. 326. 171 Beide Genres sind von anderen Richtungen in der elektronischen Musik, wie z. B. der sich ebenfalls seit den späten 1970er und den 1980er Jahren herausbildenden Formen von Detroit Techno oder Acid House zu unterscheiden, denn diese affizieren die Hörenden zumeist auf eine andere und zwar so starke Weise, dass ein Nebenbei-Hören weitgehend verunmöglicht wird. Denn auch wenn Stücke wie Autobahn (1974) von Kraftwerk, Cosmic Cars (1982) von Cybotron oder Acid Tracks (1987) von Phuture u. a. in dem Sinne als ›fließend‹ beschrieben werden können, dass sich im Verlauf einzelner Tracks der zumeist schnelle, harte Beat kaum verändert und keine Strophen-RefrainStruktur verfolgt wird, sind in ihnen doch zumeist die rhythmischen Elemente stärker

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bient 1: Music for Airports, was auf die intendierte Hörsituation – nicht in einem Konzertsaal, sondern an einem öffentlichen, sehr geräuschintensiven Ort – verweist und im Kontext eines Musikverständnisses zu verorten ist, in dem Musik nicht notwendigerweise mit höchster Konzentration, sondern auch nebenbei gehört werden kann. Während Ambient demnach dadurch charakterisiert ist, dass es die Hörenden nicht auf besondere Weise angehen muss, ist beim Hören von Noise kein solch entspanntes oder distanziertes Verhältnis möglich, im Gegenteil, die Nähe zwischen Gehörtem und Hörendem wird bis ins Extrem gesteigert und die Hörenden körperlich und emotional affiziert, insofern die Vibrationen der Bass-, Dröhnund Rauschklänge Wände, Böden und die Haut der Hörenden zum Beben bringen und die Musik nicht nur nah, sondern raumgreifend und körperlich in Berührung tretend wahrgenommen wird. Beide musikalischen Genres sind Komponenten der Lautlichkeit von Viennes Kindertotenlieder und ebenso stellen beide Aufmerksamkeitsdynamiken, obwohl sie sich im Grad ihrer Auf- und Eindringlichkeit unterscheiden, wesentliche Faktoren der auditiven Wahrnehmung dar. Meines Erachtens bewirkt die Lautlichkeit in Kindertotenlieder eine ambivalente Hörweise, die gleichzeitig als simultanes und doch in sich gespaltenes Hören aufzufassen ist. Denn die Ambient- und NoiseSoundströme, die Rehberg und O’Malley mit dem Soundsystem oder der E-Gitarre erzeugen, erklingen gleichzeitig und doch vermischen sie sich in der auditiven Wahrnehmung nicht. Vielmehr vollziehen sich zwei auditiv erfahrbare ›Welten‹ ohne Bezüge parallel zueinander, wobei sich im Hören gerade durch die Eröffnung des ›Abstands‹ zwischen ihnen bestimmte Relationen der Soundströme zueinander konstituieren. Diese Relationen gingen in einer Vermischung der Soundströme möglicherweise unter und wären auditiv nicht im Einzelnen wahrzunehmen. Während der Aufführung von Kindertotenlieder lässt sich aber fast durchgängig zwischen den eher Ambient- und den Noise-artigen Soundströmen unterscheiden, wenn sie gleichzeitig erklingen. Entsprechend dieser Lautlichkeit, die sich als Zweiklang auffassen lässt, ist die sich herausbildende Hörweise als eine der auditiven Spaltung und Dopplung zu bezeichnen, in der verschiedene Soundströme in ihrem gleichzeitigen Erklingen und ihrer je zu hörenden Besonderheit rezipiert werden. Die Aufmerksamkeitsdynamik ist dabei ebenfalls weder einseitig als meditativ im Sinne von Ambient noch als wachsam durch Noise zu beschreiben. Vielmehr bewirkt sie die spezifische Hörweise dadurch, dass das Zentrum der auditiven Aufmerksamkeit gleichzeitig beide Soundströme umfasst und insofern in sich gespalten ist. An der

betont. Durch Techniken des Samplings sind wiedererkennbare melodische oder vokale Sequenzen eingefügt, welche die Hörenden anders affizieren als es die ruhigen, langsamen Klänge des Ambient und selbst die wummernden, dröhnenden oder klirrenden Soundströme des Noise bewirken.

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Hörerfahrung in Kindertotenlieder manifestiert sich das auditive Vermögen, nicht allein ein lautliches Phänomen zu zentrieren, sondern mehrere Laute gleichzeitig wahrzunehmen. Es ist das Spektrum der Dichte des attentionalen Zentrums, das sich in unterschiedlichen Graden der Fülle oder Leere manifestiert. Die Besonderheit dieser Hörweise liegt darin, dass die verschiedenen auditiven Wahrnehmungen nicht miteinander zu einem Gesamthöreindruck verschmolzen werden, sondern für sich weitgehend bestehen bleiben und in ihren jeweiligen Klangqualitäten gesondert wahrgenommen werden. Prozesse der Musterbildung greifen jeweils nur für die einzelnen Soundströme, deren Komponenten zusammengehört werden, während die Relationen zwischen ihnen sich auf einer anderen Ebene konstituieren, die weniger von Verschmelzung und Überlagerung, sondern von konsonanten oder dissonanten Bezügen, kleineren oder größeren klanglichen Abständen oder auch ähnlich-rhythmischen oder gegen-rhythmischen Faktoren abhängt. Die Intensität der Wirkungsweise in Viennes Kindertotenlieder beruht auf der Spannung zwischen entgegengesetzt wirkenden, aber doch ähnliche Klangqualitäten aufweisenden Soundströmen des fließenden Ambient und des aufwühlenden Noise. In diesem gespaltenen Zusammenklang erweist sich die spezifische Wirkungsweise der Lautlichkeit in Kindertotenlieder als eine der Atmosphäre der Unheimlichkeit und Bedrohlichkeit. Die Ambivalenz des Dissonanten, Abständig-Uneindeutigen, die Klanglichkeit tief brummender Soundströme oder fauchender E-Gitarren einerseits wie die Abwesenheit von klarer Melodieführung oder Rhythmik andererseits eröffnet einen Hörzeitraum, in dem das Hören kaum Anhaltspunkte findet und durch den im Gegensatz zur plastischen Hörerfahrung in TRUST, die sich in meinem Empfinden als ein Erkunden unterschiedlicher auditiver Räumlichkeiten gab, eher ein Gefühl des Verloren-Seins inmitten der von den Soundströmen eröffneten Klangräumlichkeit entsteht. Jenseits der an die Subkultur des Gothic angelehnten düsteren Ästhetik und der Thematik jugendlicher Todessehnsucht und Gewalt manifestiert sich bezogen auf Aufmerksamkeitsdynamiken das Unheimliche, Gewaltbereite, Bedrohliche in der spannungsgeladenen Gleichzeitigkeit ›zurückhaltender‹ und ›aufdringlicher‹ Lautlichkeitsdimensionen, die in ihrem jeweiligen Extrem und Exzess ein auf Rationalität und Logik basierendes, Harmonie und Balance idealisierendes Hören und Verständnis aushebeln. In Bezug auf beide musikalischen Genres ist der von Gernot Böhme geprägte Begriff der akustischen Atmosphäre relevant, insofern sich im Ambient und im Noise weniger Melodien, sondern eher Hörzeiträume mit Atmosphären und Stimmungen ergeben. Atmosphären konstituieren sich im ›Zwischen‹ von Wahrnehmenden und Wahrgenommenem auf der Basis von subjektiven und objektiven

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Dimensionen.172 Akustische Atmosphären wiederum sind speziell über die lautliche Dimension produzierte oder sich konstituierende und auditiv wahrgenommene Gestimmtheiten der Umgebung. Zwischen Musik und Atmosphären konstatiert Böhme einen engen Zusammenhang, insofern Musik sich als »die grundlegende atmosphärische Kunst«173 und vice versa, akustische Atmosphären »zum Wesentlichen der Musik«174 bestimmen lassen. »Es ist gerade diese Tendenz der Musik zur Raumkunst, die sie in den Bereich einer Ästhetik der Atmosphären gebracht hat.«175 Ambient und Noise sind insofern u. a. als verschiedene Möglichkeiten des Umgangs mit Aufmerksamkeitsdynamiken einzuschätzen und manifestieren in ihrer Unterschiedlichkeit das Spektrum möglicher Atmosphären zwischen wirkmächtiger Ergreifung und subtiler Affizierung. Während Ambient von weitmöglicher Unauffälligkeit und Unaufdringlichkeit geprägt ist, wirkt Noise dem entgegengesetzt über starke Auf- und Eindringlichkeit sowie Merkbarkeit. Böhme betont, dass Räume nicht nur durch musikalische Mittel gestaltet und insofern ›gefärbt‹ oder ›gestimmt‹ sind, sondern durch die akustischen Atmosphären in bestimmter Gestimmtheit überhaupt hervorgebracht werden. Meines Erachtens lässt sich eine Unterscheidung der verschieden intensiven Atmosphären wesentlich durch eine stärkere Berücksichtigung der Gefüge und Dynamiken von auditiver Aufmerksamkeit durchführen, da es diese Prozesse sind, die sich im Kontext von Aufmerken und Beachten abspielen, wenn von ›Affizierung‹ und ›Ergreifung‹ oder ›Unauffällig-Bleiben‹ die Rede ist. Dinge, die sichtbar werden, genauso wie Laute, die hörbar sind, wirken mit an der Entstehung von bestimmten Atmosphären, indem sie »durch ihre Eigenschaften – als Ekstasen gedacht – die Sphären ihrer Anwesenheit artikulieren«176 , d. h., bezogen auf Aufmerksamkeitsprozesse, indem sie hervortreten und bemerkt werden. Dabei weisen Atmosphären eine bestimmte als ›Stimmung‹, ›Färbung‹ oder ›Tönung‹ markierte affizierende, emotionale Wirksamkeit auf, die sich z. B. als ›melancholisch‹ oder ›fröhlich‹ beschreiben lassen, doch die zumeist, wie Sabine Schouten in ihrer Auseinandersetzung mit dem Atmosphären-Konzept von Böhme aufzeigt, gerade nicht explizit durch psy-

172 Vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M. 1995, S. 22 f. 173 Gernot Böhme: »Akustische Atmosphären. Ein Beitrag zur ökologischen Ästhetik«, in: Institut für Neue Musik und Musikerziehung (Hg.), Klang und Wahrnehmung. Komponist – Interpret – Hörer, Darmstadt. Mainz 2001, S. 38-48, hier S. 43. 174 Ebd., S. 48. 175 Ebd., S. 42. 176 Ebd., S. 33.

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chologisch geprägte Kategorien eindeutig bestimmbarer Gefühlszustände wie Hass, Liebe oder Stress erfasst werden können.177 Während diese Konzepte zwar insofern auf die Hörerfahrungen in Kindertotenlieder anwendbar sind, als dass sich während der Aufführung bestimmte Atmosphären der sirrenden Unheimlichkeit, der brachial klingenden Melancholie sowie einer dumpf-wummernden Todesromantik ergeben, ist zugleich einzuwenden, dass die räumlichen Dimensionen des Atmosphärischen durch die spezifische Lautlichkeit in ihrer dreidimensionalen Ausdehnung reduziert sind. In Viennes Kindertotenlieder begegnen die Hörenden dichten Soundwänden, die zwar zerklüftet, aber doch massiv sind. Einkerbungen und Vertiefungen ergeben sich dabei nur durch die phasenweise hinzukommenden noise-artigen Soundschluchten der E-Gitarre. Zwar wurde zuvor bereits Husserls Begriff des affektiven Reliefs durch den von Arvidson geprägten und für auditive Aufmerksamkeitsdynamiken adäquateren der Sphäre ersetzt, doch erscheint es im vorliegenden Zusammenhang passend, ihn doch speziell für die Hörerfahrung gegenüber den Klangwänden und -schluchten beizubehalten, da die Flächigkeit und Einkerbung des Gehörten tatsächlich reliefartig ist. Als eine weitere Variante des gespaltenen Hörens ist auf Katie Mitchells und Leo Warners Fräulein Julie hinzuweisen, das hier durch die live an einem Extrapult erzeugten Geräusche in Synchronisation zum Bühnengeschehen und zur über der Bühne gezeigten Projektion dieses Geschehens hervorgebracht wird.178 Im Gegensatz zu Kindertotenlieder beruht es auf dem Prinzip der Synchronisierung und der Überlagerung. Die gehörten Geräusche und Klänge sind ebenfalls sehr laut und meist sehr nah, sie übertönen die unmittelbar von der Bühne her erklingenden Laute. Die Spaltung wird durch die Hervorhebung der künstlichen Erzeugung der Geräusche prominent ausgestellt – an einem länglichen Pult am vorderen rechten Bühnenrand agieren zwei Geräuschemacher*innen, Maria Aschauer sowie Stefan Nagel, 179 und produzieren mit bestimmten Alltagsgegenständen wie z. B. einer gefüllten Glaskaraffe, einem Korb, Gläsern, Pinsel, Bürsten, einem Bügeleisen, einer Metallstange u. a. im Rahmen traditioneller Geräuschmacherei-Techniken die Klangspur zum projizierten Film. Unter der Leinwand sind zum Publikum hin geöffnete Innenräume eines Hauses zu sehen. Verschiedene Zimmer sind durch dünne Wände mit Türen oder Sprossenfenster abgeteilt. Während der Aufführung

177 Schouten 2007, S. 68. 178 Katie Mitchells Fräulein Julie hatte am 25. September 2010 Premiere an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin. Das Sound Design ist von Gareth Fry und Adrienne Quartly, die Musik von Paul Clark. 179 Stefan Nagel hat Lisa Guth, die noch in den Credits auf der Schaubühnen-Homepage verzeichnet ist, inzwischen abgelöst.

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werden diverse Kameras auf der Bühne bewegt und von verschiedenen Mitwirkenden bedient, so dass im Live-Schnitt auf der Leinwand eine Art Film zu sehen ist, der sich aus dem Geschehen auf der Bühne herstellt, aber dieses nicht vollständig abbildet. Auf der Bühne agieren simultan Schauspieler*innen, Kameraleute, Geräuschemacher*innen und eine Musikerin am Violoncello. Nahezu alle Agierenden übernehmen jeweils wechselnd verschiedene Funktionen, zu denen u. a. Darstellung, Kameraführung, kleinere Umbauten und Requisitenbeschaffung zählen. Die Spaltung findet bei Fräulein Julie durch komplexe Wechselbezüge zwischen der visuellen und der auditiven Wahrnehmung statt. Durch die über ein Mikrofon-Lautsprecher-System vollzogene Verstärkung der am Geräuschpult erzeugten Geräusche klingen diese sehr nah und in dieser Nähe gar hyper-real, insofern sich die einzelnen klanglichen Komponenten in ihrer fast materiell spürbaren Klanglichkeit und Körperlichkeit zu Gehör geben. Hörbar wird auf diese Weise u. a. das Widerständige des Haut-Reibens, das Stoffliche des Kleider-Raschelns, das Harte und Kraftvolle des Fleisch-Hackens oder auch das Knirschende des Gehens auf Kies. Die Klanglichkeit der verschiedenen Geräusche wird zum einen in ihrer je spezifischen Materialität herausgestellt und zum anderen wird sie dem Visuellen im Hörprozess nicht nur ergänzend hinzugefügt, sondern aufgrund der starken Präsenz kommt es zu Überlagerungsprozessen. Dabei werden die durch die Bewegungen auf der Bühne hervorgebrachten leisen Geräusche ebenso auditiv überdeckt, wie das Gesehene durch das Gehörte beeinflusst und gestimmt. Jeder durch laute Geräusche detailliert vernehmbare Schritt wird gewichtiger, die Sinnlichkeit des Gesehenen stärker spürbar. Im Spannungsfeld der verschiedenen sich simultan vor meinen Augen entfaltenden und genau aufeinander abgestimmten Ebenen zwischen der Live-Geräuscherzeugung, den schauspielerischen Darstellungen einzelner Sequenzen der Dramenhandlung, der technischen Kameraführung und dem live hervorgebrachten Film führen die vernehmbaren Geräusche zu einer Hörweise, die in sich gespalten ist. Denn aufgrund der Lautstärke und Eindringlichkeit der mechanischen Geräusche drängt sich einerseits das dieserart synchronisierte Filmbild und andererseits gleichzeitig auch die bei ihren perfekt getimten Aktionen beobachtbaren Geräuschemacher*innen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In dieser gespaltenen Gewichtung wird in Fräulein Julie auf die technisch-mechanische Arbeit der Bühnenvorgänge wie auf den Aspekt der Gemachtheit der Aufführung geachtet. Ein zusätzlicher Aspekt wird von dieser Aufführung aufgeworfen, der für den vorliegenden Kontext im weiteren Sinne relevant und daher im Folgenden kurz anzusprechen ist. Er untermauert die These des an dieser Stelle thematisierten gespaltenen Hörens im Modus der synchronisierenden Überlagerung und stellt einzelne Aspekte dieser Hörweise stärker heraus. Denn durch die Art der Lautlichkeit in Fräulein Julie wird das mit dem philosophisch sowie musiktheoretisch geprägten Begriff der Akusmatik verknüpfte Konzept des ›reinen‹ Hörens aufgegriffen und je-

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doch durch die ungewohnte Sichtbarmachung der sonst im Verborgenen stattfindenden Lauterzeugungsprozesse auf gewisse Weise ad absurdum geführt. Die Ausgestelltheit wirkt bezüglich des akusmatischen Hörens kontrapunktisch, da das Erklingende gleichzeitig sichtbar wird – das akusmatische Hören geht philosophiehistorisch auf die Lehrpraktiken des Pythagoras zurück, der sich gegenüber seinen neuen Schülern hinter einer Stellwand verbarg und somit nicht zu sehen, sondern nur zu hören war. Die Situation des Nicht-Sehens und Nur-Hören-Könnens diente zur Hervorbringung von Aufmerksamkeitsdynamiken des intensiven Hin- und Zuhörens. Das Konzept der Akusmatik steht mit zwei ästhetischen Diskursen des 20. und 21. Jahrhunderts in Zusammenhang: Zum einen wird es musiktheoretisch im Rahmen der geräuschhaften Musique Concrète von Pierre Schaeffer in den 1960er Jahren aufgegriffen und im Rahmen neuer technischer Bearbeitungs-, Reproduktions- und Verfremdungsmöglichkeiten dahingehend modifiziert, dass nicht die Lautquelle des Gehörten, sondern vielmehr das Klangliche von Bedeutung ist. Zum anderen findet es sich in dem umstrittenen filmtheoretischen Konzept des Abbildungsverhältnisses zwischen Bild und Ton fortgesetzt, das Barbara Flückiger kritisch betrachtet. 180 Sie stellt die vor allem in den 1950er und 60er Jahren im Mainstream-Film vorherrschende Verwendung des filmischen Sound Designs nach dem Motto See a dog, hear a dog heraus, bei der die Funktion der »handlungsgebundenen Geräusche«181 in der lautlichen Verdopplung und Illustration der Filmbilder verortet wurde.182 Seitdem wurde indes das weitere Potential der Tonspur darin entdeckt, dass sich mit den Geräuschen über eine bloße Verdopplung des Gesehenen hinaus auch Nicht-Gesehenes anzeigen und für die Filmrezipierenden hervorheben ließ. Auf der gegenseitigen Ergänzung von Sehen und Hören beruht das Konzept der Synchrese, das Michel Chion in den 1970er Jahren aus den Begriffen

180 Nach wie vor werden im Gegenwartsfilm die meisten der Geräusche nicht aus einer entsprechenden digital verfügbaren, standardisierten Sound Design-Bibliothek entnommen, sondern von Geräuschemachenden, so genannten foley artists durch zumeist manuelle bzw. ganzkörperliche Lauterzeugungspraktiken synchron zu den Filmbildern hergestellt. Vgl. die Reportage zu Joo Fürst, einem der bekanntesten deutschen FoleyKünstler, von Radio TV Schwaben, unter http://www.youtube.com/watch?v=iK0BRZ dbnKU&list=PLGkuqNyUlstiwjxgZmxsfUk_3WH2Pmriq, letzter Zugriff am 05.08. 2016. 181 Barbara Flückiger: Sound Design. Die virtuelle Klangwelt des Films, 2. Aufl., Marburg 2002, S. 137. 182 Vgl. ebd., S. 135 f. Flückiger merkt kritisch bezüglich des Abbildungsverhältnisses zwischen Bild und Ton an, dass die »Ansicht, das ausschlaggebende Qualitätsmerkmal einer Tonaufnahme sei die getreuliche Reproduktion eines akustischen Ereignisses in der Wirklichkeit, [...] implizit eine aktive kreative Tätigkeit aus[schließt]«. Ebd., S. 69.

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der Synthese und der Synchronizität formulierte.183 Aus der sich in der Wahrnehmung ergebenden Verbindung auditiver und visueller Eindrücke formiert sich die Filmrezeption als audiovisuelles Gesamtwahrnehmungsereignis. Im Rahmen der von Chion als kausales Hören bestimmten Rezeption ergänzen die Rezipierenden das Gesehene durch gehörte, aber nicht sichtbare Elemente.184 Den Modus audiovisueller Wahrnehmung, in welchem Gegenstände und Prozesse durch die gehörten Geräusche in der Filmrezeption ergänzt werden, bezeichnet Chion als kausales Hören, während die mit der Musique Concrète verbundene Hörweise, die sich ausschließlich auf die Klanglichkeit und Musikalität der Geräusche bezieht, mit dem Begriff des reduzierten Hörens erfasst wird. Das Konzept der Akusmatik veränderte sich demnach im Verlauf seiner Geschichte zwar hinsichtlich der betreffenden Laute, von Stimmklängen zu geräuschhafter Musik und Sound Design, doch als wesentlicher Faktor bleibt die Spaltung zwischen Laut und Lautquelle konstant, die sich auch in den entsprechenden Hörweisen auswirkt. Das präzise Timing der Geräuschemachenden in Fräulein Julie führt zur nahezu perfekten Synchronisation zwischen filmischem Geschehen und Gehörtem. Doch während im Film die Geräuscherzeugungstechniken der FoleyKünstler*innen nicht sichtbar sind – und auch in ihren Details weitgehend als Berufsgeheimnis gewahrt bleiben –, findet während der Aufführung eine überdeutliche visuelle und auditive Ausstellung dieser Praxis statt, indem sie prominent am vorderen Bühnenrand und durch die Audioanlage verstärkt durchgeführt wird. Auf diese Weise als performative Praxis kenntlich gemacht, treten die Dimensionen der Rhythmizität, Musikalität und der sorgfältigen Feinabstimmung umso stärker hervor. Das sonst Nicht-Bemerkbare wird durch die Präsentation in der Aufführung zur Beachtung gebracht. Chion weist auf den Zusammenhang zwischen (Un-)Sichtbarkeit und der akusmatischen Dimension hinsichtlich der resultierenden Hörweisen hin. Im Gegensatz zu Schaeffers Annahme geht Chion davon aus, dass sich durch akusmatische Verhältnisse, also durch das Verhindern der visuellen Wahrnehmung des Gehörten, keine intensivierte Beachtung der klanglichen Dimension, sondern vielmehr eine Aktivierung des kausalen Hörens im Bestreben der Lautquellen-Klärung vollziehe. Demgegenüber werde das reduzierte, allein auf die Klanglichkeit der Geräusche gerichtete Hören gerade durch die entlastende Sichtbarkeit des Gehörten ermöglicht.185 Gerade im Spalt zwischen den Sichtbarkeiten von Bühne und Film findet das Hören in Fräulein Julie statt, dessen auditives Aufmerksamkeitszentrum im Span-

183 Vgl. Michel Chion: Audio-Vision. Sound on Screen, New York 1994 [Original: L’Audio-Vision, Paris 1990], S. 5. 184 Vgl. ebd., S. 26 f. 185 Vgl. Chion 1994 [1990], S. 32.

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nungsfeld verschiedenster Überlagerungsprozesse liegt. In diesem Sinne oszilliert das zugleich kausale und reduzierte Hören sowohl erstens zwischen vermeintlicher und realer Lautquelle, fiktivem und realem Lauterzeugungsvorgang, Bühnen- und Filmgeschehen als auch zweitens zwischen der illustrativen Funktionalität der Geräusche und ihrer Musikalität sowie schließlich drittens auch zwischen Bühne und Zuschauerraum, insofern durch die Ausstellung der Gemachtheit der Geräusche immer auch die Dimension der realen Wahrnehmungssituation bewusst gemacht wird.

       In Inszenierungen wie Tosca nach Giacomo Puccini von Sebastian Baumgarten (2008, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin), Die Kameliendame nach Giuseppe Verdis La Traviata von Clemens Schönborn (2011, ebenfalls Volksbühne) oder Wozzeck (2007, ebenfalls Volksbühne) und Die Heimkehr des Odysseus (2011, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin) von David Marton werden Elemente des Schauspiels und der Oper zusammengebracht, so dass hybride Aufführungen zwischen Sprech- und Musiktheater entstehen, die keiner Sparte mehr eindeutig zuzuordnen sind. Dabei stellt diese Verbindung an sich keine erst rezente Entwicklung dar, insofern Theater und Musik bzw. Sprechen und Gesang theaterhistorisch eng verbunden sind und sich von einer grundlegenden Verflochtenheit der Bereiche ausgehen lässt. 186 Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Gattungstrennung jedoch zeigt sich die Besonderheit dieser Herangehensweise der Regisseure. Im Folgenden ist nachzuvollziehen, inwiefern sich in den Arbeiten eine besondere Form der Zusammenstellung von Schauspiel und Oper erfahren lässt und welche Hörweisen aus dieser ›Begegnung‹ resultieren. Historisch ist darauf hinzuweisen, dass bezüglich der Darstellungsweisen im Theater immer schon Mischformen des Sprechgesangs und für beide Arten der Ver-

186 Vgl. Eric Salzman/Thomas Desi: The New Music Theater. Seeing the Voice, Hearing the Body, Oxford/New York 2008, S. 7; Hermann Danuser: »Einleitung«, in: Musiktheater heute. Internationales Symposion der Paul Sacher Stiftung, Basel 2001, S. 1-29, hier S. 12 f.; Hans-Peter Bayerdörfer: »Spiel-Räume der Stimme. Kleine Streifzüge zwischen den Fächern«, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft, Tübingen 1999, S. 1-39, hier S. 8; Arne Langer: »Musiktheater versus Oper – Eine Provokation?«, in: Mitten im Leben. Musiktheater von der Oper zur Everyday Performance (2011), S. 105-117, hier S. 106 f. Langer weist darauf hin, dass sich erst im 19. Jahrhundert eine Trennung zwischen den Kategorien Oper, Schauspiel und Ballett vollzog.

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lautbarung vorgesehene, wenn nicht gar ausgebildete Darstellende nachzuweisen sind.187 Viele Regisseur*innen der Gegenwart – z. B. Frank Castorf mit Wagners Ring der Nibelungen 2013 am Bayreuther Festspielhaus – inszenieren sowohl im Bereich des Schauspiels als auch der Oper. Während das Theater in der Antike und für Jahrhunderte danach gesprochene, gesungene und musikalische Partien enthielt und es insofern mit dem Begriff des Sprechtheaters nicht hinlänglich erfasst wird, ist wiederum das Schauspielelement in der sich erst im 17. Jahrhundert herausbildenden Oper durch die visuellen und theatralen Elemente sowie im dialog- und handlungsführenden Rezitativ gegeben, weshalb der Begriff Musiktheater ebenfalls zu vereinfachend ist. In seiner Kritik weist Hans-Peter Bayerdörfer auf die Problematik hin, nicht genau bestimmen zu können, ab wann die für die Bezeichnung Musiktheater vorausgesetzte Dominanz musikalischer Elemente gegeben ist bzw. wo also die Grenze zwischen beiden Gattungskategorien anzusetzen wäre.188 »Die überwiegende Fülle theatergeschichtlicher Phänomene umfaßt Sprech- und Singstimme in unterschiedlichem ästhetischen Mischungsverhältnis, verbunden mit der verbal und der gesanglich gesteuerten Bewegung, mit der von der Stimme abgelösten Bewegung usw.« 189

Die Trennung der Theaterpraxis in Sprech- respektive Musiktheater hat auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu einer nachteiligen Separation und Spezialisierung der Theater- und der Musikwissenschaft geführt, wie Bayerdörfer des Weiteren kritisch feststellt, wobei in letzterer primär der »reinen, der absoluten Musik«190, weniger der theatralen Dimension Beachtung geschenkt wird. Um eine Öffnung der Musikwissenschaft gegenüber den theatralen Dimensionen des Musiktheaters zu erreichen, schlägt Anno Mungen ein grundlegend erweitertes Verständnis von Musiktheater vor, zu dem neben solchen Formen mit hohem Musikanteil und Aktualitätsbezug auch »Sprechtheater mit Musik, die Revue, das Vaudeville, das Kabarett, die Performancekunst, audiovisuelle Medien wie der Film und das

187 Vgl. Salzman/Desi 2008, S. 17, und Hans-Peter Bayerdörfer: »Vorwort«, in: Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft (1999), S. VII-XII, hier S. VIII f. Als Regisseure beider Fächer ließen sich u. a. Christoph Marthaler, Sebastian Baumgarten, David Marton oder Frank Castorf nennen. 188 Vgl. Bayerdörfer: »Vorwort« (1999), S. X f. 189 Bayerdörfer: »Spiel-Räume der Stimme« (1999), S. 8. 190 Bayerdörfer: »Vorwort« (1999), S. VII. Salzman und Desi heben die in der Musikpraxis und -theorie verbreitete Hierarchisierung hervor, die bezüglich Oper und Instrumentalmusik letzterer den Vorzug gibt, da die theatralen Aspekte der Oper als minderwertig eingeschätzt werden. Vgl. Salzman/Desi 2008, S. 9.

270         

Fernsehen sowie Konstellationen der Alltagskultur«191 gerechnet werden. Demzufolge müsste die häufig mit diesem Begriff synonym verwendete Spartenbezeichnung Oper auf einen viel enger gefassten Phänomenbereich bezogen werden.192 Mit dem Begriff des new music theater beschreiben Eric Salzman und Thomas Desi das experimentellere Musiktheater des 20. Jahrhunderts, das als »theater that is music driven (i.e., decisively linked to musical timing and organization)« 193 bestimmt wird. Definiert wird diese Gattungsbezeichnung ex negativo »by what it is not: notopera and not-musical« 194 . Sie beziehen sich auf so diverse Künstler*innen wie John Cage, Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel, György Ligeti, Laurie Anderson, Meredith Monk und Diamanda Galás, die vor allem im Kontext einer erweiterten musikalischen Stimmlichkeit – durch Einbeziehung einer geräuschhaften oder technisch verfremdeten Klanglichkeit – angeführt werden: »Speech-derived sounds and rough singing challenge the tradition of bel canto or beautiful projected song.«195 Auf das Theater der letzten zwei Jahrzehnte bezogen heben Salzman und Desi die Arbeiten von Christoph Marthaler und Robert Wilson hervor. Auch wenn Martons und Baumgartens Theater-Hybride in einem Bezug zu diesen historischen Entwicklungen zu sehen sind, verhandeln sie das Verhältnis von Schauspiel und Oper in gewisser Weise aber doch anders als die genannten Künstler*innen. Es werden eigenständige und eigenartige Mischformen hervorgebracht, die sich einer klaren Verortung entziehen. Es ist weniger so, dass das jeweils ›Andere‹ eingesetzt wird, um es im Sinne einer Optimierung der jeweiligen Theaterform Schauspiel oder Oper durch ihr Gegenstück produktiv zu machen. Vielmehr geht die Zusammenführung bei den zuvor genannten Inszenierungen gerade nicht in einer Verschmelzung und Synthese der einzelnen Komponenten auf. Sprechtheater und Oper werden in diesen Arbeiten nicht ›versöhnt‹, sondern im Gegeneinanderreiben, das im Aufgreifen wesentlicher formaler Aspekte beider Gattungskategorien stattfindet, in ihren jeweiligen diskursiven und praxisbezogenen Prägungen, Konventionen und Normierungen ausgestellt, reflektiert und hinterfragt. Mit der Übernahme bekannter Opern in den Kontext des Schauspiels – die Häuser, an denen die

191 Mungen: »Wem gehört die Oper?«, in: Mitten im Leben. Musiktheater von der Oper zur Everyday Performance (2011), S. 19. 192 Vgl. Mungen 2011, S. 14 f.; Langer 2011, S. 116; Bayerdörfer: »Vorwort« (1999), S. X (Fußnote 3) sowie Erik Fischer: »›Die Oper‹. Der problematische Anweg zum Problem ihrer gattungstheoretischen Definition«, in: Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft (1999), S. 92-100, hier S. 92f. 193 Salzman/Desi 2008, S. 5. 194 Ebd. 195 Ebd., S. 28.

              271 

betreffenden Inszenierungen gezeigt wurden, sind primär Schauspieltheater – werden die Darstellungsmittel in ihrer konventionalisierten und normierten Form durch die Strategie der Fragmentierung und Collage, die auf den Kontext des postdramatischen Theaters verweist, verändert, erweitert und unterlaufen. Rainer Simon deutet auf die musikwissenschaftlichen Termini hin, die das Besondere der gegenwärtigen Opernästhetiken als »›Opernrecycling‹, ›Stückezertrümmerung‹ oder auch ›Dekonstruktion‹«196 beschreiben sowie in ihrem sparten- und genreübergreifenden »Experimentieren an den Genregrenzen«197 aufzeigen. So vollzieht Clemens Risi am Beispiel der Aufführungserfahrung in Calixto Bieitos Inszenierung von Mozarts Entführung aus dem Serail (2004, Komische Oper Berlin) nach, wie sich eine veränderte Opernästhetik durch dekonstruierende Produktionsweisen – bei denen »die Partitur [...] als eines von verschiedenen Materialien zur Hervorbringung einer Aufführung«198 einzuschätzen ist – auf die Aufführungsdynamik auswirke, und zwar in lautstarkem Protest des Publikums. Nach Risis Ansicht empfanden viele der Anwesenden die Art der Darstellung offenbar als »Angriff auf den eigenen Körper in seiner Wahrnehmung«199. Deutlich wird, dass an Opernhäusern traditionelle Ideale einer bestimmten Darstellungsweise und einer Klanglichkeit – der klanglichen und stimmlichen Perfektion – erwartet und zumeist auch bedient werden. An den Opernhäusern stellt der Faktor ›Werktreue‹ nach wie vor – zumindest in der angestrebten klanglichen Perfektion – weitgehend ein Ideal dar, an dem die Aufführung sich auszurichten hat, was den Gestaltungsfreiraum sowohl der Inszenierenden wie auch der Performenden stark einschränkt. Offenbar ist zudem anzunehmen, wie Stephan Mösch konstatiert, dass in der Musikpraxis die dekonstruktiven Verfahren vieler Regisseur*innen nach wie vor umstritten sind und dass dementsprechend »Werktreue [...] das Selbstverständnis der meisten Musiker leiten [dürfte]«200. Es

196

Rainer Simon: Labor oder Fließband. Produktionsbedingungen freier Musiktheater-

197

Ebd.

198

Vgl. Clemens Risi: »Die Stimme in der Oper zwischen Mittel des Ausdrucks und leib-

projekte an Opernhäusern, Berlin 2013, S. 14.

licher Affizierung«, in: Barbara Beyer/Susanne Kogler/Roman Lemberg (Hg.), Die Zukunft der Oper. Zwischen Hermeneutik und Performativität, Berlin 2014, S. 267-275, hier S. 269. 199

Ebd., S. 270.

200

Stephan Mösch: »Geistes Gegenwart? Überlegungen zur Ästhetik des Regietheaters in der Oper«, in: Mitten im Leben. Musiktheater von der Oper zur Everyday Performance (2011), S. 85-103, hier S. 89. Vgl. auch ebd., S. 101: »Wirkliche Dekonstruktion wird in der Oper ohnehin kaum angewandt. Zu ihr würden Eingriffe in die musikalischen Verläufe gehören und das wiederum würde die Mitarbeit eines Komponisten erfordern.« Vgl. Bayerdörfer: »Spiel-Räume der Stimme« (1999), S. 10 f.

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zeigt sich daran eine von der Sprech- und Musiktheater-Praxis ausgehende Differenz im Verständnis und in der Bewertung von Aufführung und Werk, die sich auch in der Theater- bzw. Musikwissenschaft widerspiegelt. Dies ist gerade in Hinblick auf die zuvor erwähnte Strategie des Collagierens relevant, insofern die Spezialisierung und gegenseitige Abgrenzung der theater- und musikwissenschaftlichen Disziplinen dazu führt, dass nur die jeweils eindeutig dem eigenen Gegenstandsbereich zugehörigen Komponenten analysiert und alle anderen übergangen werden. So wird nach Gernot Gruber beispielsweise das Fragmentarische nur auf der Ebene der Komposition im Sinne einer nicht fertiggestellten Partitur anerkannt und erörtert, doch eine musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Fragment als eigenständiges ästhetisches Mittel findet nicht statt.201 Seiner Ansicht nach liegt das Problem darin begründet, dass das Fragment in der Musik, im Gegensatz beispielsweise zu Torso-Statuen in der Bildenden Kunst, nicht leicht erkennbar ist, was auf den grundlegenden Unterschieden zwischen visueller und auditiver Wahrnehmung beruht. Während der Torso sofort als solcher deutlich wird, gestaltet sich das Verhältnis von Teil und Ganzem beim Hören von Musik anders, da die Bezugsgröße des musikalischen Werkbegriffs uneindeutig ist.202 Demgegenüber begreift Stephan Mösch es als Vorteil des Regie-Musiktheaters, dass mit Methoden des Fragmentarischen, Collagierten oder Dekonstruierten gearbeitet werden kann, die mit einem Verständnis der Aufführung als »kreative[r] Gemengelage«203 verknüpft sind. Insbesondere in Martons Inszenierung Die Heimkehr des Odysseus lässt sich ein solcher Umgang mit dem Fragmentarischen und die Methode der Collage in ihrer Umsetzung erleben. In Martons Adaption der Oper Il ritorno d’Ulisse in patria von Claudio Monteverdi, Die Heimkehr des Odysseus, wird auf Italienisch und Deutsch gesungen sowie über längere Phasen auch gesprochen. Sprech- und Gesangsrollen werden nicht getrennt, so dass bei den Akteur*innen auf der Bühne keine Zuordnung zu dem einen oder anderen Fach vorgenommen werden kann – zumindest anfangs nicht. Des Weiteren werden Partien, die bei Monteverdi für Sologesang vorgesehen sind, chorisch gesungen sowie auch im Wechselgesang, bei dem jede Zeile

201

Vgl. Gernot Gruber: »Das Fragment in der Musik und im Musiktheater«, in: Peter Csobádi u. a. (Hg.), Das Fragment im (Musik-)Theater. Zufall und/oder Notwendigkeit? Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposions 2002, Anif/Salzburg 2005, S. 3745, hier S. 37.

202

Vgl. ebd., S. 40. Vgl. zur Problematik des Werkbegriffs auch Mösch: »Geistes Gegenwart?« (2011), S. 87.

203

Mösch 2011, S. 97. Als Beispiele für solch eine gelungene Auseinandersetzung nennt Mösch verschiedene Arbeiten von Sebastian Baumgarten, Christoph Marthaler und Alain Platel.

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einer Arie von je anderen Darstellenden gesungen wird.204 Phasenweise erklingen Popsong-Partien laut aus dem Off und überlagern die auf der Bühne erzeugte Musik.205 Das finale Duett der Opernvorlage, in dem sich Penelope und Ulisse wiedersehen, erkennen und diese Begegnung freudig feiern, findet in Martons Bearbeitung bereits nach der Hälfte der Aufführung statt, und zwar während Penelope – immer noch auf Odysseus’ Rückkehr wartend – auf einem Fitnessrad masturbiert, dem zunehmenden Tempo des Gesungenen entsprechend immer schneller tretend. Auch die professionellen Bereiche von Schauspiel, Musik und Operngesang werden in ihrer Abgrenzung hinterfragt, so musizieren die Schauspieler*innen, spricht die Sängerin und schauspielern die Musiker*innen. Insgesamt wird deutlich, dass die Oper Monteverdis als dramatische und klangliche Materialgeberin verwendet, nicht aber als werktreu, d. h. in diesem Fall partiturtreu umzusetzende Vorlage bewertet wird. Denn durch die Verbindung von Schauspiel und Oper sowie die postdramatische Dekonstruktion der Vorlage und die Anreicherung des Darzustellenden mit Fragmenten und Versatzstücken aus anderen Zusammenhängen wird mit einem vermeintlichen Ideal der Werktreue formal wie klanglich gebrochen.206 Der sonst im Rahmen der Oper streng formale Rahmen wird auf diese Weise nicht einfach nur aufgesprengt, sondern er wird im Umgang an und mit seinen Grenzen zur Erscheinung gebracht. Die Dekonstruktion erweist sich als produktive Strategie des gegenwärtigen Musiktheaters. Gleichzeitig erfährt auch die Musik im Schauspiel, der historisch zwar eine wichtige, aber weitgehend nur eine begleitende und untergeordnete Funktion zugewiesen wird, eine Aufwertung und Gleichstellung mit den anderen Inszenierungsmitteln. Welche Wirkung diesen Brüchen und Verschiebungen auf das Hören zuzu-

204

Der erste Fall bezieht sich auf Ulisses/Odysseus’ Arie ›Dormo ancora‹ in der siebten Szene des ersten Akts, der zweite auf das Duett ›Nettuno sorge dal mare, poi Giove‹ von Melanto und Eurimaco in der fünften Szene im ersten Akt.

205

So wird der Song Our House von Crosby, Stills, Nash & Young in einer Szene mehrmals über Lautsprecher eingespielt.

206

Das Libretto wird teilweise im italienischen Original gesungen, häufig aber auch in ein modernes Deutsch übersetzt gesprochen oder auch durch andere Texte ersetzt und ergänzt, u. a. durch Texte von Péter Esterházy. Vgl. zur Frage, ob sich das Musiktheater nicht schon immer als ›postdramatisch‹ bestimmen ließe, da es aufgrund seiner durch die Musik bewirkten besonderen Zeitlichkeit, in welcher die Handlung immer wieder aufgehalten wird, keiner primär handlungsorientierten Dramaturgie folgt. Danuser 2001, S. 18.

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sprechen ist, wird in den nächsten Absätzen insbesondere anhand der Anfangsszene dieser Form des Neuen Musiktheaters ausgeführt.207 Während des Einlasses in den kleineren Saal der Schaubühne sind die Akteur*innen auf der mit diversen Möbeln und Gegenständen gefüllten Bühne bereits zu sehen. Vor der kahlbelassenen Betonrückwand des Bühnenraums sind eine Duschkabine, ein mächtiger Holzschreibtisch, beladen mit Papieren und Büromaterialien, ein Fitness-Rad, eine schwarzlederne Couchgarnitur, mehrere Musikinstrumente – darunter ein schwarzer Flügel –, ein gedeckter großer Esstisch und eine kleine Küchenecke zu sehen. Zu Beginn der Aufführung sitzt Königin Penelope (Jule Böwe) schlaff auf einem Sessel in der Mitte der Bühne, innerhalb eines mit weißrotem Absperrband eng abgesteckten quadratischen Areals, und scheint zu schlafen. Die anderen Akteur*innen, auch die Musiker, sitzen am Esstisch und rezitieren den Text des Prologs, der ersten Arie der Oper ›Morta Cosa Son Io‹, sich Vers für Vers abwechselnd. Schließlich kündigt L’Umana Fragilitá (Niels Bormann) mit feierlichem Tonfall an, dass nun eine Sinfonia im Allegretto-Stil folgen werde, während der die Göttin Minerva in Gestalt des Mentors erscheinen werde. Tatsächlich kommt in diesem Augenblick Minerva/Penelope (Theresa Kronthaler)208 unter dem Tisch hervorgekrochen, währenddessen der Gesang allerdings von der Bühnenmitte her einsetzt. In der Arie Di Misera Regina beklagt die Figur der Penelope ihr Unglück und ihre Einsamkeit: Seit zwanzig Jahren wartet sie auf die Rückkehr ihres Mannes Odysseus (Ernst Stötzner) und ist ihm seitdem in Abwehr zahlreicher Verehrer treu geblieben. Brüchig und mit tiefer Stimme singt Böwe als Penelope die ersten Worte der Arie, dann stockt sie, hält inne, setzt erneut an und wiederholt das zuvor Gesungene in etwas höherer Tonlage, fährt fort, bricht abrupt ab und setzt dann an einer anderen Stelle der Arie wieder ein. Dabei zeigt sie bei jeder weiteren Phrase mit ausgestrecktem Arm energisch in bestimmte Richtungen, als vermutete sie ihren Mann an diesem oder jenem Ort – offenbar könnte er sich überall aufhalten, nur nicht im gekennzeichneten Bereich um sie herum. Dann werden orgelähnliche Klänge auf dem E-Piano durch den Musiker Michael Wilhemi hervorgebracht, die Tischrunde intoniert chorisch summend die Stimme von Euryklea, ei-

207

Die Heimkehr des Odysseus von David Marton hatte am 22. Januar 2011 an der Schaubühne am Lehniner Platz unter der musikalischen Leitung von Marton, Kalle Kalima und Michael Wilhelmi in einer Fassung des Ensembles Premiere. Ich habe die Aufführung am 25. September 2013 erlebt. Monteverdis Il ritorno d’Ulisse in patria wurde 1640 mit einem Libretto von Giacomo Badoaro in Venedig uraufgeführt. Vgl. The Oxford Dictionary of Opera, hg. v. John Warrack und Ewan West, Oxford/New York 1992, S. 481.

208

Theresa Kronthaler singt z. B. auch Partien der Figur Minerva aus Il ritorno d’Ulisse da patria.

              275 

ner Hofdame und Freundin Penelopes. Böwe alias Penelope fährt mit der Arie fort bis zur Zeile »non promette più pace o salute«, nach der sie mit einem nüchternen »Guten Appetit« abbricht und verstummt. Auf ihre Aufforderung hin beginnt die Gruppe um den Tisch mit dem ›Essen‹, d. h. alle reiben quietschend ihr Besteck über die Porzellanteller. Zu einem späteren Moment, nachdem sie bereits einige italienische Sätze gesprochen hat, hebt Theresa Kronthaler laut an zu singen. Zu Gehör kommt die ausgebildete Stimme einer professionellen Mezzosopransängerin. Das Gesungene ist der zweite Teil der von Böwe zuvor begonnenen Arie Di Misera Regina, in dem weiterhin beklagt wird, dass überall in der Welt ein Heimkehren sich vollzieht und nur Odysseus die Rückkehr offenbar verweigert. Kronthaler übernimmt in diesem Moment die Rolle der Penelope, die somit auf zwei Akteurinnen aufgeteilt ist – auf eine Schauspielerin und eine Opernsängerin. Ihre hörbar professionell ausgebildete Stimme klingt weich, harmonisch, dunkel und auch in den hohen Tonlagen kräftig. Sie klettert mühelos immer höher, der Melodie der Arie folgend. Die Lautlichkeit der Aufführung von Die Heimkehr des Odysseus besteht aus einer Vielzahl diverser Komponenten, von denen der Gesang nur eine darstellt. Doch im Hören des Gesangs ergibt sich auf intensive Weise das, was ich als im-/ perfektes Hören kennzeichnen möchte und was die charakteristische Hörweise dieser Aufführung ausmacht. Dabei sind insbesondere die Stimmlichkeiten von Jule Böwe und Theresa Kronthaler in ihrer direkten Aufeinanderfolge und ihrer Verschiedenheit zentral herauszustellen. Im-/Perfektes wird auf verschiedene Weise während der Aufführung gehört, manifestiert sich aber besonders im Gesang Böwes, ohne dass sich damit notwendigerweise eine Bewertung verbindet. Imperfektion ergibt sich nicht aus einer Bewertung z. B. eines vermeintlich ›ungenügenden‹ oder ›schlechten‹ Gesangs, sondern vielmehr aus dem etymologischen Sinn des Wortes als ›unvollendet‹ im Sinne des Fragmentarischen, Unvollständigen, Brüchigen. Zudem manifestiert sich Imperfektion immer vor dem Hintergrund eines Perfekten, das kontextabhängig bestimmt ist und während der Aufführung in seiner konkreten Bedeutung variiert. So ist Kronthalers virtuos vollzogener Gesang hier als das Perfekte bestimmbar, das in direkter zeitlicher Folge nach oder vor Böwes Gesang zu hören ist, was eine Überlagerung beider Stimmen und Gesangsweisen im auditiven Gedächtnis forciert. So schieben sich die Stimmlichkeiten im Hören durch das Wirken des auditiven Gedächtnisses, der auditiven Imagination und bestimmter Hörkonventionen übereinander, obgleich sie konkret während der Aufführung immer nur nacheinander und nie simultan zu hören sind. Sie bilden im Auditiven eine in sich gespaltene Figur der duettartigen Beziehung, in der sich die eine Stimme in der anderen reflektiert. Somit ist das Perfekte auch in einer nicht konkret hörbaren, sondern imaginierten Klangspur zu verorten, die sich aus dem Verneh-

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men von Böwes gekrächzten, geseufzten, gejammerten oder kieksenden Stimmklängen ergibt, indem sie sich zum tatsächlich Gehörten hinzufügt. Auf Szendys Konzeption des plastischen Hörens bezogen stellt sich das im-/ perfekte Hören in Die Heimkehr des Odysseus als auditiv-imaginative Manifestation der Abständigkeit verschiedener Hörweisen dar. Die Spur der idealisierten Hörweise wird durch das gehörte Imperfekte evoziert. Sie ergibt sich als zweite Spur oder als eine Art nicht-identisches Echo simultan zur tatsächlich erklingenden Stimmlichkeit. Hervorgehoben wird dieser Zweiklang von Ideal und Aktualisierung zudem noch, da der Gesang Böwes unmittelbar auf die Ansage folgt: das weiterhin zu Hörende wäre im ›Allegretto‹-Stil gesungen, der hinsichtlich seiner Klanglichkeit als »graziöse und leichte Bewegung«209 definiert wird. Zwar scheint der Gesang Böwes häufig ›leicht‹ im Sinne eines weniger strikten Formvollzugs, doch lässt er sich nur schwerlich als ›graziös‹ beschreiben und auch nicht ›leicht‹ in der Gestimmtheit, denn die Tonlage ist durchgängig melancholisch wehleidiges Moll bzw. in ihrer Atonalität durch keine Tonart zu erfassen. Wenn Böwe singt, ist deutlich zu vernehmen, dass sie die meisten der durch musikalische Harmonien im Allgemeinen und die Monteverdi-Partitur im Besonderen festgelegten Töne nicht trifft – ihr Gesang ist ›schräg‹, ›quer‹ zum erwarteten Klang, der im Kontext der Oper reguliert und hinsichtlich des Gesangs konventionalisiert und idealisiert ist. Doch gleichzeitig erfüllt sich in Böwes Gesang nahezu perfekt die auch bei Monteverdi schon angelegte Funktion des frühen Rezitativs, musikalisch »den Sinn und die Affekte zu deuten und verständlich wiederzugeben, indem das affektgeladene Sprechen eines in seelischer Erregung befindlichen Menschen musikalisch und rhythmisch nachgeahmt werde«210. Ähnlich wie in Kindertotenlieder vollzieht sich auditive Wahrnehmung hier als ein Hören von Spaltungen, Dissonanzen und Differenzen, doch unterscheidet sich Die Heimkehr des Odysseus durch die spezifische Art seiner Verfasstheit. Während bei Vienne verschiedene Musikgenres in ihrer entgegengesetzten Verfasstheit und Wirkungsweise gleichzeitig erklingen, so dass sich im Hören ein unvereinbares Neben- und Auseinander ergibt, ist die Spaltung im Hören von Böwes Sprechgesang eine des disparaten zweispurigen Übereinanders von idealer und realer Klanglichkeit. Somit beruht das im-/perfekte Hören auf einem Gefüge auditiver Aufmerksamkeit, das in sich geschichtet und abständig ist. Das Zentrum der Aufmerksamkeit ist im Modus des im-/perfekten Hörens dividiert, insofern sowohl das in einem Augenblick tatsächlich Gesungene als auch die darin impliziten Klangideale, die sich mit den Arien durch die historische Opernästhetik verbinden, gehört werden.

209

Artikel »Allegretto«, in: Musik, Stuttgart/Weimar 2005, S. 5.

210

Artikel »Monodie«, in: Musik, Stuttgart/Weimar 2005, S. 154 f., hier S. 155.

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Opern-Stimmlichkeit resoniert in der gehörten Gesangsstimme Böwes.211 Das, was zu hören sein sollte, wird im Gehörten zugleich wahrgenommen, ohne dass es aktuell erklingt. Die Im-/Perfektion des Gehörten ist den Hörenden bewusst. Sie vollzieht sich nicht subtil oder implizit, sondern lässt sich im Hörprozess als deutlich erkennbare und nicht unproblematische Herausforderung erfahren, mit der die Hörenden umzugehen haben. Auditive Gebrochenheit ergibt sich in der Begegnung mit der Im-/Perfektion des Gehörten, die aus der besonderen Umgangsweise mit den Opern und ihren charakteristischen ästhetischen Elementen, der Musik, den Arien und Rezitativen, resultiert. Wie Salzman und Desi ausführen, lässt sich in Bezug auf die frühe Oper, zu der Monteverdis Arbeiten zählen, eine Präferenz für hohe Stimmen, große Klarheit, klangliche Bündelung sowie eine sich in den Improvisationen manifestierende Virtuosität feststellen.212 Demgegenüber beschreiben die beiden Autoren die Stimmlichkeit, die sich im 20. Jahrhundert als »natural voice singing, that is, singing in chest registers and close to the speaking voice«213 herausbildete und verbreitete. An der Musik von Benjamin Britton oder Alban Berg zeige sich eine andere Ästhetik der Stimme, die nicht mehr dem historischen Ideal verpflichtet, aber dennoch als ›perfekt‹ erachtet werde. Im new music theater werden nach Desi und Salzman verschiedene Stimmlichkeiten parallel zu Gehör gegeben, um assoziative Zuschreibungen verschiedener kultureller Bedeutungen und historischer Epochen zur Charakterisierung der Figuren zu verwenden.214 Eine solche Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Stimmlichkeiten lässt sich in Die Heimkehr des Odysseus wahrnehmen, insofern die Stimmklanglichkeiten von Böwes und Kronthalers Gesang grundlegend verschieden sind.215 Während Kronthaler

211

Mit dem Begriff der Resonanz ließe sich das In-Erscheinung-Treten der zweiten Spur vielleicht zugleich als Imaginationsprozess wie auch als Materialisierung der Spuren vergangener Hörpraxis und habitualisierter Hörhaltungen deuten. Diese Begriffsverwendung rekurriert auf Erika Fischer-Lichtes Deutung der Resonanz als PräsentWerden von Etwas »als Nachhall oder Widerhall« am Gezeigten, durch welches das Wahrgenommene wie durch eine zweite Schicht ergänzt und erweitert wird. FischerLichte führt diese Zusammenhänge am Beispiel von Rimini Protokolls Wallenstein. Eine dokumentarische Inszenierung aus. Vgl. Fischer-Lichte: »Theater als ResonanzRaum« (2007), S. 238.

212

Vgl. ebd., S. 15.

213

Ebd., S. 21.

214

Vgl. ebd., S. 28.

215

Nach der Definition Salzmans und Desis des new music theater ließen sich Martons Arbeiten dieser Kategorie zuordnen. Marton selbst bezeichnet sein Theater als musikalisches Theater. Vgl. »Angriffe aus der Gegenwelt. Die Regisseure David Marton

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als ausgebildete Opernsängerin und Ensembleangehörige der Komischen Oper nicht nur die professionelle Gesangsstimme in ihrer Virtuosität zur Erscheinung bringt, sondern auch auf perfekte Weise dem Vokalstil des 17. Jahrhunderts Ausdruck verleiht, lässt sich Böwes Stimmlichkeit als intendierte Präsentation des Geräuschhaften, Schrägen und Nicht-Virtuosen deuten. Die beiden Darstellerinnen bringen demzufolge die je verschiedenen Ideale und Techniken der Stimme des 17. sowie des 20. Jahrhunderts zur Erscheinung. Die spezifische Hörweise der Schichtung vollzieht sich auf zwei Ebenen: zum einen repräsentational, insofern das Verhältnis zwischen den Stimmlichkeiten Böwes und Kronthalers im Verhältnis zu den von ihnen dargestellten Figuren relevant wird, zum anderen in Bezug auf die phänomenal-performative Dimension. In ihr ist vor allem das Verhältnis der Stimmklanglichkeiten zueinander bzw. zu den Hörerwartungen, die an das Format der Arie geknüpft sind, wichtig. In dieser Relation ist das im-/perfekte Hören maßgeblich zu erfahren. Zunächst ist festzustellen, dass Böwe ausschließlich Penelope verkörpert, während Kronthaler auch noch andere Figuren darstellt. Während die Stimmlichkeit Böwes also mit einer einzelnen Figur verbunden wird, ist Kronthalers Stimmlichkeit unabhängiger und gibt sich im Kontext der Aufführung von Martons Die Heimkehr des Odysseus demnach weniger als klanglich-musikalische Figurenzeichnung, sondern eher hinsichtlich ihrer gesangstechnisch professionellen Virtuosität zu bemerken. Im Sinne zweier alternativer Lebensentwürfe geben die beiden Figuren je eigene Antworten auf die verhandelten Fragen nach dem Zusammenhang von Liebe und Treue bzw. Loyalität. Während Böwes Penelope an einem Ort ausharrt, wartet und leidet, ist Kronthalers Penelope/Minerva scheinbar auf Reisen und offen für – gelegentliche sexuelle – Begegnungen, wie dies in einer Szene zwischen ihr und Odysseus angedeutet wird. Die mit ihnen aufgerufenen klischeehaften Vorstellungen von Weiblichkeit werden nicht nur durch die visuelle Darstellung, sondern auch im wechselseitigen Verhältnis ihrer Stimmen gegenübergestellt und wie sich ›spiegelnde‹, oder besser, sich gegenseitig ›reflektierende‹ Alter Egos präsentiert, ohne dass dies auf der Bühne explizit thematisiert würde. Vielmehr zeigt sich dies im Zusammentreffen ihrer verschiedenen Stimmlichkeiten. Klanglichkeit, Figurenzeichnung durch Affektdarstellung wie -auslösung sind Phänomene und Prozesse, die auch in der Oper und insbesondere für Arien eine große Bedeutung besitzen, doch vollzieht sich die Wirkungsweise von Böwes Gesang davon abweichend, da im Nicht-Erfüllen des Opernideals die theatralen Dimensionen verstärkt werden. Im Zweiklang von Böwes und Kronthalers Penelope-Gesang entsteht eine Verstärkung und Hervorhebung des Spannungsverhältnisses zwischen der Mehrdeutigkeit und evokativen

und Sebastian Baumgarten über Musik, Theater und die Zukunft der Oper«, in: Theater der Zeit 3/2012, S. 12-15, hier S. 13.

              279 

Wirkmacht der Musik und der demgegenüber relativ konkreten Sprache bzw. dem Schauspiel. Der Schwerpunkt verschiebt sich durch die andere Stimmlichkeit aus dem primär Musikalischen und von einer auf Komposition gerichteten Rezeptionsweise hin zum Theatralen und in eine Rezeptionsweise, die das Gewicht eher auf andere Faktoren legt. In ihrer vergleichenden Betrachtung der Stimmlichkeiten von Schauspiel und Oper konstatiert Julia Liebscher dementsprechend: »Für den ausführenden Sänger bedeutet dies, daß er jene Parameter, die der Schauspieler eigenschöpferisch gestalten kann, aus der Partitur übernehmen muß, d. h. er ist vollkommen dem Willen des Komponisten unterworfen.«216 Während Kronthalers Gesang das Verhältnis zwischen Gesang und Partitur im Erklingen aktualisiert und durch die Kongruenz nicht auffällig werden lässt, ergibt sich im Hören von Böwes Verlautbarungen eine auditive Spaltung zwischen dem erwarteten Klangideal und dem tatsächlich Erklingenden. So weist Böwes Gesang implizit auf die Vorgaben hin, indem sie ihnen gerade nicht entspricht, obwohl deutlich ist, dass sie im Rahmen einer Opernadaption eine Art von Arie singt. Zudem manifestiert sie in ihrer Penelope-Darstellung die Gefühle von Melancholie und Frustration durch die Gestaltung des stimmlichen Klangs und ihre Stimmführung. Dass sie ihre Stimme brechen lässt, stockt, wieder anhebt, erneut abbricht oder indem sie die Intensität der Intonation übertreibt und die italienischen Worte extrem gepresst singt, führt dazu, dass innerhalb der klanglichen Dimension weniger gesangliche Virtuosität, als vielmehr der Gefühlsausdruck im auditiven Zentrum steht. Sebastian Baumgarten konstatiert: »Gerade durch die Musik entfernt sich ein Sprechtext wieder von seiner Botschaft. Dadurch wird er fremd und interessant. Das Eindeutige fällt weg und die Ahnung setzt wieder ein.«217 Umgedreht ließe sich dann annehmen, dass eine Reduktion des Musikalischen der ›Botschaft‹ wiederum zu neuem Recht verhilft. Mit dieser Annahme ist Martons Einschätzung einer spezifischen, positiv gewerteten Form des im-/perfekten Gesangs zu verbinden, der meiner Meinung eine ebensolche im-/perfekte Hörweise entspricht: »Wenn man Leute singen hört, die das nicht gelernt haben, kann das sehr viel erzählen. Viel wichtiger ist aber die Frage der Musikalität. Wenn jemand etwas mit Musik sagen kann, interessiert es mich nicht so sehr, ob die Stimme ausgebildet ist. Ebenso wie eine unmusikalische

216

Julia Liebscher: »Schauspieler – Sängerdarsteller. Zur unterschiedlichen Aufführungssituation im Sprech- und Musiktheater, dargestellt am Beispiel der paralinguistischen Zeichen«, in: Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft (1999), S. 55-70, hier S. 61.

217

Sebastian Baumgarten im Interview mit Theater der Zeit, »Angriffe aus der Gegenwelt. Die Regisseure David Marton und Sebastian Baumgarten über Musik, Theater und die Zukunft der Oper«, in: Theater der Zeit 3/2012, S. 12-15, hier S. 13.

280          Virtuosität belanglos ist. Es geht nicht um den Gegensatz Können oder Nichtkönnen. Sondern: Wer hat etwas zu sagen?«218

Im Vordergrund steht demnach die Wirkungsweise der Stimmlichkeit nicht als Erfüllung eines virtuosen Klangideals, sondern als Mittel der Erzählung und der damit verbundenen Evokation von Stimmungen und Empfindungen. Auch wenn Opernsänger*innen gewisse Freiräume bei der Interpretation der musikalischen Zusammenhänge besitzen, ist die Stimmlichkeit der Oper doch stärker an gesangliches Können und weniger an die jeweilige Figur oder Handlung gebunden – auch weil sie eher musikalisch und nicht sprachlich gehört wird.219 So merkt Erik Fischer kritisch an, dass die Oper trotz ihrer theatralen Dimensionen traditionell und bis in die Gegenwart als eine vorrangig musikalische Kunstform eingeschätzt wird, als »eine letztlich doch zumeist von der Musik dominierte Gattung«220, deren Künstlichkeit dem auf mimetische Realitätsabbildung zielenden Sprechtheater gegenübergestellt werde, insofern es jenem allein zukäme, »auf der Bühne tatsächlich ›Wirklichkeit‹ vorzuführen«221. Mit der berechtigten Kritik Fischers an einer derart schematischen Kategorisierung der verschiedenen Gattungen lässt sich eine Unterscheidung von Stimmlichkeiten verbinden, die ebenfalls bis in die Gegenwart Geltung besitzt. Diese Differenzierung findet sich weniger im Rahmen des Sprechens gegenüber dem Singen, da beide Formen der stimmlichen Verlautbarung sowohl in der Oper als auch im Theater enthalten sind, vorausgesetzt, das deklamierende Opernrezitativ wird als Sprechformat aufgefasst.222 Vielmehr zeigt sich die

218

David Marton im Interview mit Theater der Zeit, ebd., S. 14.

219

Vgl. Mösch: »Geistes Gegenwart« (2011), S. 99: »Der Repräsentation im Sinne eines

220

Erik Fischer: »›Die Oper‹. Der problematische Anweg zum Problem ihrer gattungs-

mimetischen Imperativs war die Sängerstimme nie unterzuordnen.« theoretischen Definition«, in: Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft (1999), S. 92-100, hier S. 96. 221

Ebd.

222

Vgl. Artikel »Rezitativ«, in: Musik, Stuttgart/Weimar 2005, S. 237-239, hier S. 237 f.: »Als Substantiv ist der italienische Terminus seit der Mitte des 17. Jh. gebräuchlich, vorher in erster Linie als Adjektiv in der Wortverbindung Stile recitativo, nachdem bei der Entstehung der Oper der diese konstituierende neuartige monodische Sprechgesang (Monodie) als ›recitar cantando‹ bezeichnet wurde.«, Artikel »Monodie«, in: ebd., S. 154 f., hier S. 154: »Solistischen Schauspielergesang hat es in der antiken Tragödie immer gegeben; monōdein bedeutete dabei soviel wie thrēnein (= klagen, trauern), also Klagegesang.«; Artikel »recitative«, in: Alison Latham (Hg.), Oxford Dictionary of Musical Terms. Oxford/New York 2004, S. 149: »A form of speech-like solo singing, free in rhythm and lacking in structured melodies. It was invented in Italy shortly be-

              281 

Differenz in der Möglichkeit, von einem Klangideal abweichen zu dürfen, die Dauer, die Variationen und die Rhythmisierungen nach eigenem Ermessen und in diesem Sinne insgesamt stimmlich-geräuschhaften Klang in seiner jeweiligen Materialität einzusetzen. Figuren, Stimmungen und Gefühle werden hervorgebracht und im Sinne gestimmter Klanglichkeiten auffällig, durch welche die auditive Aufmerksamkeit der Hörenden auf diese Faktoren hin verschoben wird.223 Während Theresa Kronthaler in ihrer dem Opernideal der klanglichen Perfektion entsprechenden Stimmführung eng an gattungsspezifische Vorgaben gebunden ist, eröffnet sich für Jule Böwes nach dem Opern-Maßstab ›imperfekten‹ Gesang ein erweiterter Gestaltungsspielraum ihrer Stimme. Diese lässt sich im Rahmen einer semiotischen Lesart zwar noch an Prozesse psychologischer Figurenzeichnung anbinden, insofern Böwe der Trauer Penelopes nun nicht nur in den gesungenen Worten, sondern auch im Stimmklang Ausdruck verleiht, doch ist darüber hinaus festzustellen, dass diese Art der Stimmführung gerade auch jenseits repräsentationaler Vorgänge wirksam wird. Jens Roselt setzt sich mit der spezifischen Klanglichkeit der Klage auseinander und stellt heraus, »dass die stimmlichen Laute nicht lediglich die Soundkulisse des Sprechtextes sind [...], sondern dass der Vernehmbarkeit der Stimmphänomene ein eigener Raum gegeben wird«224. Nicht im Gesprochenen, sondern über den Klang der Stimme wird das Klagen manifest. Die Stimmlichkeit Böwes ist in ihrer Wirkungsweise nicht als realistisch oder naturalistisch einzuschätzen, auch wenn die Klangqualitäten des Jammerns mit dem der Figur zuzuweisenden Gefühlszustand auf der Darstellungsebene vereinbar wären. Denn weit mehr als ein einfaches Jam-

fore 1600 as a way for music to be more subservient to the text; basso continuo, or figured bass, was the means by which the accompaniment could follow a singer’s spontaneous expression in the absence of a strict beat. In early 17th-century opera, recitative was the principal mode of expression and was often freely mixed with short passages of arioso.«; Artikel »recitative«, in: John Warrack/Ewan West (Hg.), The Oxford Dictionary of Opera, Oxford/New York 1992, S. 588 f.: »The name given to the declamatory portions of opera, in which the plot is generally advanced, as opposed to the more static or reflective lyrical settings; it developed during the 17th cent. from the branching of stile rappresentativo into two distinct styles, the other of which became aria.« 223

Vgl. Liebscher: »Schauspieler – Sängerdarsteller« (1999), S. 65: »Eine Profilierung des Sängerdarstellers als aktiver Rollengestalter ist folglich überhaupt nur bedingt möglich. So übernimmt oder präformiert die Musik als polyphones Zeichensystem eine Vielzahl theatraler Funktionen.«

224

Jens Roselt: »Monströse Gefühle. Die Kunst der Klage«, in: Doris Kolesch/Vito Pinto/ Jenny Schrödl (Hg.), Stimm-Welten. Philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld 2009, S. 157-169, hier S. 162.

282         

mern vollzieht Böwe hier eine Art performatives ›Sing-Jammern‹, das eine Zuordnung und Separation der Dimensionen von Fiktion und Realismus durchkreuzt und zu einer Ausstellung der stimmlichen Qualitäten sowie der implizierten Gesangstechniken führt.225 In Abgrenzung zu einer auf realistische Figurendarstellung zielenden Darstellungs- und Intonationsweise einerseits sowie im Spannungsverhältnis zum Opernkontext andererseits stellt Böwes Gesang zugleich sowohl ein ›Mehr‹ als auch ein ›Weniger‹ gegenüber dem Erwarteten und Konventionalisierten dar. Stephan Mösch weist darauf hin, dass ein Verständnis von Oper, das dem Schauspiel bzw. dem Regietheater vergleichbar wäre, Musik als Klangmaterial, aus dem zu schöpfen und das neu zusammenzustellen wäre, aufzufassen hätte. »Im Kunstgesang als anatomischem, akustischem und psychischem Vorgang lässt sich dergleichen interpretatorisch ausformen, kaum aber in die Voraussetzungen der Kunstentäußerung übernehmen.«226 Schmerzäußerung ist demnach traditionell in der Oper repräsentierbar, aber nicht performativ stimmklanglich hervorzubringen. Meines Erachtens bewirkt Martons Umgang mit Monteverdis Il ritorno d’Ulisse da patria in der Verbindung von Oper und Schauspiel genau solch eine sinnlich-affektive, performative Wirkung, und zwar nicht allein auf der Ebene der Dramaturgie, sondern mit Böwes Stimmlichkeit vor allem im performativen Vollzug und damit in der von Mösch als ›Kunstentäußerung‹ ausgeschlossenen Dimension. Im Rückgriff auf die Trennung von Musik- und Sprechtheater entlang einer diskursiv geprägten – und simplifizierenden – Schwerpunktsetzung entweder auf die Betonung von Illusion oder von Realem lässt sich in Bezug auf Die Heimkehr des Odysseus von einer hybriden Vermischung beider Dimensionen ausgehen. Sie unterscheidet sich von anderen Arten der im Gegenwartstheater stattfindenden Auseinandersetzung mit diesen Ebenen vor allem in der Dimension der jeweiligen Stimmlichkeiten und im Modus des im-/perfekten Hörens. Das ›Illusionistische‹ der Oper manifestiert sich an der Musikalität und spezifischen ›Gesanglichkeit‹ der Stimme Böwes, das ›Realistische‹ des Schauspiels zeigt sich in den evozierten performativen Prozessen des Auffällig-Werdens von Körperlichkeit, Stimmlichkeit

225

Mit der performativen Hervorhebung ihrer Stimmklanglichkeit gibt sich in den spezifischen Klangqualitäten der klagend-gelangweilt wirkenden Intonation und dem etwas quäkend-nasalen Timbre die Schauspielerin-Persona ›Jule Böwe‹ an ihren Markenzeichen zu hören. Dies steht indes nicht in Differenz zur Oper, in welcher die einzelnen Sänger*innen-Personae sich ebenfalls durch das individuelle Timbre und gewisse Eigenheiten in der Stimmführung auszeichnen. Tatsächlich sind die Stimmlichkeiten der Sänger*innen in der Oper gerade auch aufgrund dieser Eigenschaften relevant, wie Hans-Peter Bayerdörfer betont. Vgl. Bayerdörfer: »Spiel-Räume der Stimme« (1999), S. 15 und S. 19.

226

Mösch: »Geistes Gegenwart« (2011), S. 99.

              283 

und Im-/Perfektion. Im Spannungsverhältnis zwischen dem Klangideal der Oper und der schauspielerischen Stimmgestaltung entsteht eine hybride Stimmklanglichkeit, die zugleich von musikalischen Prinzipien wie auch von performativ-evozierenden Dimensionen des postdramatischen – es wäre anzufügen, ›postoperalen‹ – Musik-/Sprechtheaters geprägt ist.

                         Queer becomes a matter of how things appear, how they gather, how they perform, to create the edges of spaces and worlds.227 SARA AHMED

Im vorangehenden Kapitel stand die Auseinandersetzung mit dem Hören hinsichtlich solcher Aufführungen im Vordergrund, in denen sich die Plastizität des Hörens auf verschiedene Weise erfahren ließ. Mit der Plastizität nach Peter Szendy wurde eingangs ein Konzept aufgegriffen, das im Kontext der Musiktheorie gegen ein spezifisches Hörverständnis gerichtet ist, nach dem sich das Wesentliche der Musik allein in den Strukturen oder formalen Tonbezügen zeigt. Es wendet sich zudem auch gegen ein mit diesen idealisierten Hörweisen verbundenes Aufmerksamkeitsverständnis, bei dem die auf ein verstehendes Mit- und Nachvollziehen gerichtete Konzentration als höchste und meist adäquate Aufmersamkeitsdynamik gilt. Solch eine Auffassung des idealen Zuhörens lässt sich in der historischen Musiktheorie nach Adorno, deren Aktualität bis in die Gegenwart reicht, aufweisen und entlang der binären Gegensatzpaare von Form und Gefühl, von Struktur und Stil, von Tonrelationen und Klanglichkeit oder von Ton und Geräusch jeweils nachvollziehen. Fragen der Priorisierung und Wertung stehen im Zentrum dieser Debatten, die mit auditiver Aufmerksamkeit auch normativ zusammenhängen, insofern in ihnen verhandelt wird, worauf beim Musikhören zu achten ist bzw. in welchen Dimensionen und Qualitäten des Gehörten das eigentlich ›Musikalische‹ enthalten ist. Einer Idealisierung des formalen oder strukturellen Hörens stellt Szendy solche Hörweisen gegenüber, in denen Abweichungen, Verfehlungen, Verspätungen, uneindeutige Hin- und Herbewegungen sowie Zerstreuung Komponenten der Musikrezeption ausmachen. Sie sind als gleichwertige und legitime Musikhörweisen gegenüber den

227

Sara Ahmed: Queer Phenomenology. Orientations, Objects, Others, Durham/London 2006, S. 167.

284         

dominierenden Konzeptionen des konzentrierten, ›richtigen‹ Musikhörens zu rehabilitieren. Dass diese Hörweisen sich in ihren diversen Formen im Gegenwartstheater erfahren lassen, wurde im Vorangehenden dargestellt und – insbesondere anhand der Hörweise des Hineinhörens in TRUST – auf die diesen Hörweisen inhärenten räumlich-zeitlichen Dimensionen von Plastizität abgehoben. Denn die im Rahmen der musiktheoretischen Debatten historisch und diskursiv konstituierten Ideale und Normen der auditiven Aufmerksamkeit werden im Kontext des Musikhörens auf eine andere Weise wirksam, als dies beim vorrangig auf Sprachliches gerichteten konzentriert-verstehenden Zuhören der Fall ist, wie im vorherigen Kapitel ausgeführt wurde. Die in den Theorien des Musikhörens und des Zuhörens konzeptualisierten und idealisierten Hörweisen werden jeweils durch ähnliche Qualitäten bestimmt, doch unterscheiden sich die jeweiligen Debatten und künstlerischen Auseinandersetzungen in ihren gewählten Schwerpunkten. In Bezug auf das Musikhören im Gegenwartstheater lässt sich aus dem in diesem Kapitel Erarbeiteten schließen, dass vor allem die Dimension der Räumlichkeit von Musik, Sound und Geräusch betont und auf divergente Weise erfahrbar gemacht wird. Dabei wird Räumlichkeit auditiv vor allem nicht als Gegenüberstellung, sondern im Spüren eines ›Mittendrin-Seins‹ erfahren. Die besonderen Qualitäten dieser Hörweisen legten es nahe, sich ihnen über einen Rückgriff auf andere Formen der Begrifflichkeiten anzunähern, um diese Dimensionen in der Beschreibung der Hörerfahrungen angemessen zur Darstellung zu bringen. Wie Jim Samson verdeutlicht, ist eine metaphorische Umschreibung des Gehörten dabei nicht nur unumgänglich, sondern vielmehr hilfreich und produktiv zu machen.228 Dementsprechend wurde der Plastizität des Gehörten durch Bezüge auf die Terminologie einer auf Räumlichkeit spezialisierten Disziplin, und zwar der Geologie, begegnet. Die dabei verwendeten spezifischen Begriffe der Abständigkeit, Spaltung, Schichtung sowie des Soundgewölbes, der Soundwände und -schluchten verweisen jeweils auf verschieden hervorgebrachte, ausgedehnte und in sich auf bestimmte Weise strukturierte Hörzeiträumlichkeiten. Die bisher angeführten Beispiele verdeutlichen die Vielfalt möglicher Zentrierungsprozesse und Perspektivverschiebungen der auditiven Aufmerksamkeit, die sich im Rahmen eines in sich räumlich und zeitlich strukturierten Gefüges zu bemerken geben. Auditive Räumlichkeit wurde durch den Begriff der Abständigkeit gekennzeichnet. In Richters und Van Dijks TRUST manifestiert sich das Gehörte in seiner Ausgedehntheit als Soundgewölbe auch im Sinne einer ›Einladung‹, es auditiv zu erkunden, so dass sich durch die Verschiebungen des Aufmerksamkeitszentrums stets neu ausgerichtete räumliche und zeitliche Gefüge des plastischen Hör-

228

Vgl. Jim Samson: »Analysis in Context«, in: Nicholas Cook/Mark Everist (Hg.), Rethinking Music, Oxford 2001, S. 35-54, hier S. 46.

              285 

zeitraums ergeben. Im Begriff der Affordanz übernimmt die Musiktheorie ein Verständnis der gehörten Umgebung, nach dem diese durchsetzt ist von Angebots- und Aufforderungscharakteren des Hörens. Das Hören in Die Fruchtfliege war als eine sich im langsamen Aufmerken vollziehende Umgewichtung der auditiven Aufmerksamkeitszentrierung zu erfahren. Der Moment des Umschlagens vom zuvor diffus wahrgenommenen zum bewusst registrierten und reflektierten Geräusch wird als markanter Moment der Aufführung erfahrbar und wirkt sich grundlegend auf die darauffolgende Ausrichtung der Aufmerksamkeit aus. Das bemerkte Geräusch steht im Zentrum der Aufführungswahrnehmung und ordnet somit alles weiterhin Gehörte um sich. Insbesondere an der Erfahrung des Aufmerkens in Die Fruchtfliege zeigt sich auch die besondere Relevanz von Zeitlichkeit für die Plastizität des Hörens, die nicht allein räumlich zu konzeptualisieren ist. Im langsamen Vollzug des prozessual zu konzeptualisierenden Aufmerkens wird das zunächst randständig gehörte Phänomen zunehmend ins Zentrum gerückt, wobei seine ›Herkunft‹ aus dem Randbereich dabei bewusst bleibt und sich als zeitliche Spur in die Wahrnehmung einschreibt. Neben auditiver Weite, Dichte oder Nähe lassen sich noch andere Weisen der relationalen Abständigkeit aufzeigen, deren Räumlichkeit z. B. durch dissonante Brüche im Gehörten und weniger in räumlich-relationaler Ausdehnung oder Verdichtung konstituiert ist. Sie manifestiert sich beispielsweise in Viennes Kindertotenlieder als auditive Spaltung zwischen den flachen Ambient- und den hervortretenden Noise-Soundströmen, in Mitchells Fräulein Julie im Sinne einer auditiven Dopplung durch die gleichzeitig gegebenen Ebenen des Sicht- und Hörbaren oder in Martons Die Heimkehr des Odysseus als auditive Schichtung der verschiedenen idealisiert-virtuosen und wirkmächtig-performativen Stimmlichkeiten der Opernsängerin Theresa Kronthaler und der Schauspielerin Jule Böwe. Auffällig ist, dass sich die Plastizität des Gehörten zumeist im Rahmen einer überbrückenden Verbindung zweier disparater Orte oder parallel verlaufender Spuren als eine paradoxe Figur des Verbunden-Disparaten oder des konstant Auseinandertretenden ergibt, woraus neben den Bezügen des im Einzelnen Gehörten und der Leiblichkeit des Hörenden weitere Arten der relationalen Abständigkeit resultieren. »Das Rätselhafte liegt in der Kluft, die das Auffallen von meinem Aufmerken und Bemerken trennt. Klüfte verlocken zu Brückenbauten.«229 Besonders ist, dass sich entgegen der für auditive Phänomene üblicherweise einstellenden Überlagerung im Sinne der Maskierung oder der Vermischung beider Klanglichkeiten alle Komponenten in ihrer jeweiligen Singularität und Lokalisierung erhalten. Abständigkeit, Spaltung, Dopplung, Schichtung sind als Verbindungen-in-Differenzen zu bestimmen, bei denen die einzelnen Komponenten vor allem in Relation zu jeweils ande-

229

Waldenfels 2004, S. 67.

286         

ren bestehen. Die sich im Auditiven ergebende Grundkonstellation der Plastizität ist demnach eine des Zweiklangs, die aufgrund der Hervorhebung des Abstands und der Differenz zudem vorwiegend als Dissonanz erfahren wird. Die hervorgebrachten Aufmerksamkeitsgefüge sind in sich nicht kohärent geordnet, sondern es ziehen sich im Prozess der Spaltungen, des Auseinandertretens und der übereinander gelagerten Schichtungen verschiedene kluftartige ›Schneisen‹ durch das Gehörte und den Hörprozess, so dass diese weder räumlich noch im zeitlichen Verlauf als homogen, zusammengehörig oder geradlinig stringent zu erfahren sind. Vielmehr sind es dividierte und aussetzende Hörweisen, die räumlich ausgedehnt und gespalten sind. In diesen ›Schneisen‹ und Aussetzern des plastischen Hörzeitraums manifestiert sich das Wirken der auditiven Aufmerksamkeit. Im Hören ist das Subjekt nicht als in sich einheitlich oder mit sich in vollständiger Übereinstimmung, sondern vielmehr als gespalten und zugleich im Hier und Dort befindlich zu begreifen. So beschreibt Toop die Position des hörenden Subjekts als gedoppelt und in sich gespalten: »the self is doubled, or split, or dispersed: a sound is over there, very specifically, but around here and in here (also very specifically), within the physical and cerebral self, a fluctuation between these vectors and all around, all at the same time.«230 Es wird ein Außer-Mir-Sein erfahrbar, durch welches das hörende Subjekt auditiv-attentional nicht – oder nicht allein – im Zentrum der Sphäre, sondern zumeist auch anderswo innerhalb der Sphäre ›ist‹. Die Spannung zwischen der sphärischen Umhüllung und Direktionalität findet sich im Verhältnis zwischen einem Gefühl des Mittendrin- und Dort-Seins der Hörenden wieder. Bei Szendy wird das Außer-Mir durch eine reflexive Dimension bewirkt, die sich sowohl auf das eigene Hören als auch auf das Gehört-Werden durch andere bezieht, insofern sich im Hören ein Begehren äußert, »notre désir que quelqu’un, toujours un de plus, nous entende entendre«, das sich demnach auf das subjektive Gegenüber richtet bzw. die Beziehung zwischen beiden Subjekten umfasst: »Je veux, moi, que tu m’écoutes écouter; et nous voulons qu’il(s) nous écoute(nt) à l’écoute«231. Im gleichzeitig gegebenen Hier und Dort spannt sich ein Raum auf, der insgesamt die auditive Sphäre ausmacht – sie ist nicht durch einzelne Orte, sondern vielmehr durch Beziehungen, vor allem auch durch Einbezug und Simultaneität geprägt. Ihde beschreibt einen durch Musik bewirkten Zustand des ekstatischen Außer-sich-Seins, Nancy spricht von einem ›Strecken‹ des Ohrs hinaus in die Weite des umgebenden Raums und bei Søren Møller Sørensen ist die Rede von Musik- und Hörtheorien des 19. Jahrhunderts, in denen das Musik hörende Subjekt

230

Toop 2010, S. 47; LaBelle 2006, S. xi: »To speak then is to live in more than one head,

231

Szendy 2001, S. 170.

beyond an individual mind.«

              287 

einer möglichen Aussetzung und Transformation unterliegt.232 Spaltungen des Gehörten beschreibt Ihde durch den Begriff der Bi-Dimensionalität, bei dem sich in der Dualität der Vorsilbe ›Bi-‹ die Simultaneität von Einhüllung und Perspektive ausdrückt.233 Meines Erachtens lässt sich dieser Begriff übernehmen, wobei er im Sinne des Vorangehenden noch zu präzisieren ist, insofern sich die gehörte BiDimensionalität auf zwei verschiedene Weisen manifestieren kann: zum einen als harmonisches Verhältnis der ›Zweiheit‹, zum anderen als Spaltung und Dissonanz im Sinn einer Art ›Zwieheit‹. Was sich insbesondere durch den Hinweis und die Beschreibungen der Hörerfahrungen in den entsprechenden Beispielen des Theaters hervorheben lässt, ist, dass im Hören nicht allein Gehörtes in Form von auditiver Räumlichkeit zur Erscheinung kommt, sondern dass auch die Hörenden selbst sich als leiblich in den Raum hinausstehende und -wirkende ›Phänomene‹ erfahren. Wie Brandon LaBelle betont, bedeutet Hören in diesem Sinne vor allem eine leibliche Verflochtenheit mit der Umgebung: »Listening is thus a form of participation in the sharing of a sound event, however banal.«234 In der Zwieheit wird diese Plastizität der Hörenden deutlich, insofern das Hören gerade nicht vollkommen reibungslos und wie gewohnt verläuft. Vielmehr ergeben sich echoartige Dopplungen, unvereinbare Schichtungen und nicht einzuholende Spaltungen, in denen sich die stabilisierende Wirkung der auditiv-attentionalen Sphärendynamik nicht durch Herstellung von Ausgeglichenheit beruhigen kann, sondern in der sie weiterhin und konstant gefordert und aktiviert ist. Zugleich formiert sich nicht nur das eigene auf bestimmte Weise sich organisierende Hören, sondern auch das eigene Selbst als Hörende*r. In solchem Hören erlangen Hörende nicht nur ein eigenes Hören, sondern sie kommen darüber hinaus als Hörende mit und im Gehörten erst zu sich und zur Erscheinung: »L’auditeur que je suis n’est rien, n’existe pas tant que tu n’es pas là. Là ou ailleurs, peu importe, si mon écoute t’est adressée. L’auditeur que je suis n’advient que lorsque je te suis, toi,

232

Vgl. Sloterdijk 1998, S. 515; Ihde 2007 [1976], S. 78; Jean-Luc Nancy: À l’Écoute,

233

Ihde 2007, S. 77: »The field-shapes of sound include both directionality and surround

Paris 2002, S. 18; Sørensen: »Sound without Properties?« (2007), S. 52. ability.« Dem vergleichbar nimmt Toop ein zweipoliges Spannungsverhältnis zwischen den auditiven Dimensionen des Umhüllenden und des Direktionalen, dem Global-Umfassenden und dem Lokal-Speziellen an, das sich beispielsweise in der Situation eines Konzerts darin manifestieren kann, dass zugleich ein spezifisches Instrument herausgehört sowie die von allen Instrumenten hervorgebrachte, den Raum erfüllende Musik in ihrer Gesamtheit vernommen wird. Vgl. Toop 2010, S. 49. 234

Vgl. LaBelle 2006, S. ix.

288          je te poursuis. Je n’écouterais pas sans toi, sans ce désir de t’écouter m’écouter, à défaut de pouvoir m’écouter écouter.«235

Vor allem manifestiert sich, so Szendy, im Hören als plastischem Tun das Begehren nach Anerkennung durch den anderen. »Prête l’oreille à cette syntaxe que je malmène à peine: ce qui nous somme d’écouter, ce qui fait que nous sommes deux, un plus un, ce qui fait de nous cette addition ouverte, cette somme que nous sommes, c’est notre désir que quelqu’un, toujour un de plus, nous entende entendre. Je veux, moi, que tu m’écoutes écouter; et nous voulons qu’il(s) nous écoute(nt) à l’écoute...«236

Nicht darüber, dass über gleiches Hören eine Gemeinschaft hergestellt würde, sondern im Begehren nach einer Anerkennung der jeweiligen Singularität aller Hörweisen besteht die intersubjektive Dimension des plastischen Hörens, das nicht nur auf den Inhalt des Gehörten, sondern gleichzeitig und tiefgreifender an die Instanz des Anderen gerichtet ist. Zuzuhören ist gleichzeitig singulär – in der Einzigartigkeit der jeweiligen Hörweise – und plural, insofern es das einzelne Subjekt im Streben auf die Bestätigung des anderen hin immer schon überschreitet. »Nous sommes une addition infinie de singularités qui veulent chacune se faire entendre entendre. Donc sans sommation possible. Nous n’écoutons pas comme un seul corps: nous sommes deux, et (donc) toujours un de plus.«237 In Peter Sloterdijks Sphärenkonzeption wird die Sphäre als dual im Sinne einer ›Zwei-Einigkeit‹ »des Hier-Pols und des Dort-Pols, also aus Selbst und MitSelbst«238 aufgefasst, wobei die Harmonie und Ausgeglichenheit, die sich über dieses Bild zu vermitteln scheint, nicht zutrifft, denn das zur Balance notwendige Gegenüber fehlt. Mit dem Begriff der Perichorese, der im christlichen Kontext die gleichzeitige Einheit und selbständige Identität der Trinität bezeichnet, erklärt Sloterdijk sein sphärisches Subjektverständnis als eines der Zweihälftigkeit, das im Abstand zum ›Anderen‹ raum-, und wie hinzuzufügen ist, zeitbildend wirksam ist. »Wer unter Perichorese sich das Ineinandersein von unzertrennlich Verbundenen vorstellt, denkt zwar nichts Falsches, ist aber weit davon entfernt, das Wesentliche zu erfassen. Der seltsame Ausdruck steht für nicht weniger als für den anspruchsvollen Gedanken, daß die

235

Szendy 2001, S. 169.

236

Ebd., S. 170.

237

Ebd.

238

Peter Sloterdijk: Sphären I - III. Band I: Mikrosphärologie: Blasen, Frankfurt a.M. 1998, S. 446.

              289 

Personen nicht in äußeren bei der Physik geliehenen Räumen lokalisierbar sind, sondern daß sie den Ort, an dem sie sind, selber durch ihre Beziehung zueinander stiften. Durch gegenseitige Beherbergung eröffnen die göttlichen Beziehungswesen, die Hypostasen oder Personen, den Raum, dem sie gemeinsam einwohnen und in dem sie sich gegenseitig ins Leben rufen, durchdringen und anerkennen.«239

Die Abwesenheit wird zum Auslöser von Ungleichgewicht, Destabilisierung und verschiedenen Suchbewegungen, mit denen das Subjekt die leere Stelle zu füllen sucht. Aus diesem Grund ist es grundlegend intentional und nach außen gerichtet verfasst.240 Abständigkeit stellt somit einen wesentlichen Modus des In-der-WeltSeins dar. Dimensionen ekstatischen Außer-Sich-Seins, des Selbstverlusts und von Dezentralität kennzeichnet die auditiv-attentionale Sphärendynamik nach dieser Darstellung Sloterdijks. Durch das ekstatische Außer-Sich-Sein eröffnet sich die Gefahr eines Selbst-Verlusts, die mit Desorientierung und Verwirrung einhergehen kann. Desorientierung ist der zentrale Begriff von Sara Ahmeds Queer Phenomenology. »Moments of disorientation are vital. They are bodily experiences that throw the world up, or throw the body from its ground. Disorientation as a bodily feeling can be unsettling [...].«241 Desorientierung lässt sich als ein queerender Prozess einschätzen, da er bewirkt, dass Dinge in der Wahrnehmung aus ihrem Ordnungsgefüge geraten, dass »›things‹ [are] becoming oblique«242. Das englische Wort oblique besitzt in diesem Kontext besondere Bedeutung und lässt sich nur in mehreren Bedeutungen – ›schräg‹, ›indirekt‹ wie auch ›versteckt‹ – ins Deutsche übersetzen. Meiner Ansicht nach lässt es sich in einen engen Bezug zu den Begriffen der Vertikalität und des Perpendikularen in den Aufmerksamkeitsphänomenologien von Waldenfels und Depraz setzen. Aus diesem Zusammenhang heraus begründet sich die Beschreibung der Aufmerksamkeitsdynamik als Querbewegung, die im Auslösen spontaner Umgewichtungen zu Desorientierung führen kann. Orientierung wird bei Ahmed demgegenüber in Verhandlungsprozessen von Leiblichkeit und Räumlichkeit hergestellt: »[...] orientation depends on the bodily inhabitance of that space. We can only find our way in a dark room if we know the difference between the sides of the body [...].«243 Ahmed vertritt eine Interpretation von Orientierung aus phänomenologischer Perspektive, die sich als prozessuale

239

Ebd., S. 619.

240

Vgl. ebd., S. 45 f.

241

Sara Ahmed: Queer Phenomenology. Orientations, Objects, Others, Durham/London

242

Ebd., S. 162.

243

Ebd., S. 6.

2006, S. 157.

290         

leibliche Relationalität verstehen lässt. Sie beschreibt Praktiken des leiblichen SichEinrichtens (»settling«244) in einer neuartigen, befremdlichen Umgebung und setzt diese Vorgänge als Denkfigur für die grundlegenden Verhandlungsprozesse der Orientierung an. In der Begegnung von leiblicher Ausdehnung und räumlichem Gefüge ergibt sich Leibräumlichkeit als »a second skin that unfolds in the folds of the body«245. Das sich hier andeutende Bild einer Membran, das der Berührungsschicht der Haut mit ihrer Umgebung zukommt, ist nur im übertragenen Sinn zu verstehen, insofern der Begriff der (Ent-)Faltungen nicht ausschließlich die konkreten Erhöhungen und Vertiefungen des Körpers, der sich in den Luftumgebungsraum einschmiegt, meint, sondern vielmehr die empfundenen Vorsprünge und Schluchten zwischen eigenleiblicher Ausdehnung und der umgebenden Räumlichkeit. Der Begriff der Leiblichkeit von Hermann Schmitz klingt darin an, insofern Leibräumlichkeit hier als Ausdehnung des leiblichen Empfindens aufgefasst wird: »[...] durch seinen Leib ist der Mensch von vornherein in den Raum als Weite eingeweiht«246. Als Einleibung beschreibt Schmitz eine Art Orientierungsprozess, der sich in den entscheidenden Faktoren aber vom herkömmlichen Zurechtfinden im Raum unterscheidet. Nicht als eine »Orientierung an Flächen«247 wird dieses Geschehen aufgefasst, sondern Orientierung vollzieht sich durch »teils leibliche, teils Bewegungssuggestionen von Partnern der Einleibung, teils abgründige Richtungen«248. Unter letzteren versteht er keiner konkreten Herkunft oder Ursache zuzuweisende Empfindungen, beispielsweise von ›reißender Schwere‹. Zu Bewusstsein kommt Leiblichkeit dabei vor allem in Momenten der Irritation, d. h. wenn die durch sie gewährleistete spürbare Orientierung ins Ungleichgewicht gerät, was sich nach Schmitz vor allem in Vorgängen des Aufwachens, Zu-Sich-Kommens und Aufmerkens, also Aktivierungen der Selbstbewusstwerdung, ergibt: »Ein Mensch lebt träge und gedankenlos, entweder dösend oder in Routinetätigkeiten versunken, dahin, da schreckt ihn plötzlich ein aggressives Geräusch, vielleicht Hundegebell oder ein schriller Pfiff, oder er stürzt zu Boden und kann sich gerade vor dem Aufprall noch fangen, oder er verliert den Boden unter den Füßen, weil er eine Treppenstufe übersehen hat, oder er erhält unvermittelt einen Schlag vor den Kopf. [...] Dabei erlebt er sich an einer Stelle, die ebenso hier wie jetzt, räumlich und zeitlich, bestimmt ist, aber nicht relativ in einem Ord-

244

Ebd., S. 10.

245

Ahmed 2006, S. 9.

246

Hermann Schmitz: Der Leib, Berlin/Boston 2011, S. 121. Zwar rezipiert Ahmed die Schmitzsche Phänomenologie nicht explizit, dennoch lassen sich einige Übereinstimmungen aufzeigen.

247

Ebd., S. 123.

248

Ebd.

              291 

nungsrahmen von Orten und Daten, sondern nur in der noch ungesichteten Situation, nur gegenüber dem erschreckenden Neuen, das sich auf ihn zu ereignet.«249

Es sind demnach vor allem Situationen der Desorientierung, in denen sich Leiblichkeit bewusst erfahren lässt. Aus ihnen heraus ergibt sich das Gewahren der Dimensionen von Hier und Jetzt ebenso wie ein Bewusstsein der eigenen leiblichen Ekstase im Raum – Ekstase im doppelten Sinn einer berauscht-betäubten, temporären Sinnenthobenheit und mit Bezug auf das altgriechische Wort ›ekstasis‹ als einer räumlichen Abständigkeit, die sich zwischen dem Abgehobenen und dem Zurückstehenden ergibt. Aus der Ekstase kommt das Subjekt zu sich, so dass in diesem Moment »unbezweifelbar klar [ist], dass wirklich er selbst sich dort befindet« 250. Auch für Ahmed sind die Prozesse der Desorientierung vor allem Auslöser einer – neuartigen – Orientierung und somit positiv zu bewerten als Chance, habitualisierte und konventionalisierte Denk- und Verhaltensweisen abzulegen. »The point is what we do with such moments of disorientation, as well as what such moments can do – whether they can offer us the hope of new directions, and whether new directions are reason enough for hope.«251 Optimistisch verortet Ahmed im Scheitern der Orientierung die positive Möglichkeit, über Um- und Abwege zu anderen Anordnungen und somit auch zu veränderten raum-, körper- und letztendlich identitätsbildenden Dynamiken zu gelangen. »Disorientation occurs when we fail to sink into the ground, which means that the ›ground‹ itself is disturbed, which also disturbs what gathers ›on the ground‹.«252 Im Aussetzen gültiger Ordnungsstrukturen, die Ahmed metaphorisch als Erfahrungen des Ungleichgewichts und eines Verlusts an Bodenhaftung beschreibt, wird Absenz erfahrbar, die verwirrt, Fragen sowie Gefühle der Aggression und Wut auslöst und das Vermögen des Subjekts, derartige Situationen auszuhalten, herausfordern kann. »Shifting grounds« 253 und die im zentralen Begriff oblique – in der Bedeutungsdimension des Schrägen, Diagonalen, Schiefen – implizierten Neigungen sind auszutarieren und abzuwägen. »To be at an oblique angle to what coheres does matter, where the ›point‹ of this coherence unfolds as the gift of the straight line.«254 In der Absenzerfahrung tritt zugleich jedoch

249

Ebd., S. 2. Hier ergeben sich wesentliche Verbindungen zwischen Schmitz’ Leibphilosophie und Ahmeds queerer Phänomenologie, insofern Ahmed ihren Begriff der Desorientierung ebenfalls an Vorgängen des Aufschreckens, Hochfahrens und Aufmerkens exemplifiziert. Vgl. Ahmed 2006, S. 158.

250

Schmitz 2011, S. 2.

251

Ahmed 2006, S. 158.

252

Ebd., S. 160.

253

Ebd., S. 171.

254

Ebd., S. 172.

292         

auch eine zuvor nicht registrierte Fülle hervor, die zum einen im Verdeutlichen der zuvor greifenden Ordnungsstrukturen – »You experience the moment as loss, as the making present of something that is now absent (the presence of an absence)«255 – und zum anderen aber auch in einer überbordenden, unfassbaren Präsenz manifest wird. In der aufgrund ihrer Desorientierung queeren Situation ist diese Fülle nicht nur wahrzunehmen, sondern auch auszuhalten und zu schätzen.256 Der Begriff des Aushaltens verweist auf das folgende Kapitel. Denn was sich in den Analysen der verschiedenen Hörweisen der Plastizität und Spaltung ergeben hat, ist, dass sich darin vor allem Erfahrungen von räumlicher Ausdehnung im Sinne einer sich räumlich oder zeitlich erstreckenden Abständigkeit ergeben haben, die ausgehalten sein wollen. Wie Waldenfels angemerkt hat, verleiten Klüfte zum Brücken-Bauen, doch in den angeführten Theateraufführungen sind die Brücken instabil und ständig vom Einsturz gefährdet. Auszuhalten ist die Absenz verlässlicher Verortungen, Messbarkeiten, Bestimmtheiten gleichermaßen wie die Präsenz verschiedenster unsortierter Phänomene. Ahmed fasst diesen Zustand als Engagement des Sich-Einlassens auf Perspektivlosigkeiten und Abwesenheiten, ohne diese in irgendeiner Weise als negativ oder jenseitig zu verstehen: »It would be a commitment not to presume that lives have to follow certain lines in order to count as lives, rather than being a commitment to a line of deviation.«257 In der Auffassung von auditiver Aufmerksamkeit als Phase des Aushaltens einer unüberbrückbaren Gespaltenheit erweist sich die besondere Zeitlichkeit der Dauer und die leiblich-affektive Anspannung als wesentliche Qualitäten dieser Erfahrungen. Im damit verwandten Begriff der Ausdauer manifestieren sich Verbindungen sowohl im Rückblick auf die im vorangehenden Kapitel dargelegten Erfahrungen der auditiven Verausgabung als auch als Ausblick auf das nächste Kapitel, für das Formen auditiver Eindringlichkeit zentral sind.

255

Ebd., S. 158.

256

Vgl. Ahmed 2006: »They are moments in which you lose one perspective, but the ›loss‹ itself is not empty or waiting; it is an object, thick with presence.« Anzumerken ist, dass Ahmed den Begriff queer, wie sie anmerkt, in zwei verschiedenen, aber in Relation zueinanderstehenden Bedeutungsdimensionen verwendet, insofern sie ihn zum einen auf das Schräge, Unordentliche, Abweichende und zum anderen auf von normativer Sexualität abweichende Identitäten und Praktiken bezieht. Vgl. ebd., S. 161.

257

Ebd., S. 178.

               Créer, c’est enlever. L’absence est un moteur.

1

Tout doit disparaître, le langage, l’artiste, le corps et même l’image de fin.2 ROMEO CASTELLUCCI

Nachdem in den vorangehenden Kapiteln jeweils das Zuhören und das strukturelle Hören bezüglich der entsprechenden Ideale und den im Theater erfahrbaren abweichenden Ausprägungen thematisiert und damit einhergehend die Relevanz sowohl von Engagement als Verhältnis von Aktivität und Passivität sowie Hingabe und Nachlassen als auch von Abständigkeit als Verhältnis von Ausdehung und Nähe sowie von Kohärenz und Spaltung aufgezeigt wurde, ist im Folgenden das SignaleHören als eine auf Geräusche, Sounds und Stille bezogene, ebenfalls normierte Hörweise zu erörtern. In diesem Kontext werden Prozesse der auditiven Hierarchisierung nach Relevanz und Bedeutsamkeit analysiert, nach denen sich das SignaleHören ausrichtet. Die im Theater erfahrbaren Hörweisen lassen alternative Möglichkeiten des Hörens von Bedeutsamem zur Erscheinung kommen. Sie weisen auf die Wirksamkeit der affektiven Prozesse hin, welche die Leiblichkeit der Hörenden betreffen, prägen und hervorbringen, aber auch beeinträchtigen, bedrängen oder gar schädigen können. Dabei wird im vorliegenden Kapitel ein Schwerpunkt auf die erfahrbar werdenden Dimensionen des Auffälligen, Spektakulären, Lauten, Präsenten, Berauschenden einerseits und des Unauffälligen, nahezu Unmerklichen, Leisen, Verschwin1

Romeo Castellucci in einem Interview mit Fabienne Pascaud für Télérama am 7. Juli 2012, online unter http://www.telerama.fr/scenes/romeo-castellucci-au-theatre-l-interditc-est-la-realite,83898.php, letzter Zugriff am 18.10.2016.

2

Castellucci im Interview mit René Solis für Libération am 5. Juli 2014, online unter next.liberation.fr/theatre/2012/07/05/romeo-castellucci-tout-doit-disparaitre_831406, letzter Zugriff am 18.10.2016.

294         

denden, Betäubenden andererseits gelegt. Ebenfalls in diesem Kontext relevant sind die Begriffspaare von Kommunikation und Störung, Kontinuität und Unterbrechung, Ordnung und Chaos, Affirmation und Negation sowie – im weitesten Sinn – auch von Sein und Nichts. Im Rauschen oder in der Stille, im Exzess oder im Nichts, in der überbordenden Fülle oder der weiten Leere zeigen sich die Extreme der Über- und Unterschreitung an Bedeutsamkeit. Sie führen nicht allein dazu, dass Prozesse der mit Bedeutsamkeit eng verknüpften Bedeutungsübertragung, die auf codierten Zeichen- und Symbolsystemen beruhen, gestört oder gar verhindert werden, sondern sie bringen andere Formen des Bedeutsam-Seins und somit Bedeutens zu Bewusstsein, die ich mit dem Begriff der Eindringlichkeit des ›Nicht-Signifikanten‹ erfasse. Der Vorsilbe des ›Nicht-‹ kommt besondere Bedeutung zu, da die betreffenden Lautlichkeiten die Abwertung von Geräusch, Geräuschhaftem, Rauschen und Lärm über eine Aktivierung und Aufwertung des negativen Potentials verhandeln. Das ›Negative‹ hieran wird mit Verweigerung, Scheitern, Verzögerung, Sinnlosigkeit, Trance, Leere, Stillstand in der permanenten Wiederholung des Immergleichen und mit Zuständen des Dösens, Schlummerns oder Schlafens assoziiert.

       

              Mit dem in der Medien-, Kultur- und Musiktheorie hervorgehobenen Hören von Signalen ist eine weitere wirkmächtige Hierarchisierung von Hörweisen aufzuzeigen. Sie beruht auf Zuschreibungen der Bedeutsamkeit im Sinne einer historisch, kulturell, situativ und individuell geprägten Wertigkeit und Relevanz des Hörbaren. Die Unterscheidung nach dem Grad der Bedeutsamkeit von Geräuschen richtet sich an einer grundlegenden Klassifizierung dieser Laute in zwei Kategorien aus: den Signalen und dem Rauschen. Diese Begriffe stellen weniger inhaltliche Bestimmungen als vielmehr formale, kontext- und situationsabhängige Variable dar, die sich in den verschiedenen Hörsituationen jeweils unterschiedlich mit Inhalten füllen. Sie werden im Verhältnis zueinander bewertet, d. h. im Signal-Rausch-Abstand, der sich aus der jeweiligen Differenzierung der bedeutsameren Signale von den weniger relevanten Geräuschen, dem Rauschen, ergibt und sich auditiv in spezifischen Zentrum-Rand-Ordnungen manifestiert.3 Es geht bei der Relation zwischen Signal

3

Vgl. Karl M. Slavik: »Anschlusstechnik, Interfaces, Vernetzung«, in: Handbuch der Audiotechnik (2008), S. 945-1031, hier S. 951 und S. 1121-1125, und Sören Ingwersen: »Sonifikation. Zwischen Information und Rauschen«, in: Harro Segeberg/Frank Schätzlein (Hg.), Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg 2005, S. 332-346, hier S. 336 ff. Vgl. die Begründung der Gegenüberstellung von infor-

         



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und Rauschen nicht um eine vollständige Eliminierung des Letzteren, da dieses beim Verständnis des Signals unterstützend wirksam ist – denn vor dem Hintergrund des Rauschens tritt das Signal umso deutlicher hervor. Allerdings muss dazu das Verhältnis zwischen beiden, also die gehörte Abständigkeit, optimal und angemessen sein. Signale stellen zumeist gestaltete, oft durch elektronische oder digitale Medien erzeugte, funktional eingesetzte und kulturell oder kontextspezifisch codierte Geräusche und Sounds dar, die den Hörenden bestimmte Informationen vermitteln.4 In diesem Sinne sind sie nach Ansicht des Begründers der Acoustic Ecology und Soundscape-Forschung R. Murray Schafer als spezifische Formen lautlicher ›Gesten‹ zu beschreiben, da sie hervortreten, auffällig werden und interpretiert werden können. Nebelhörner, die Schiffen bei schlechter Sicht die Nähe zur Küste anzeigen, Warntöne beim Schließen der U-Bahntüren oder auch viele Sounds von Computern stellen solche historisch und kulturell codierten, als signifikant bewerteten akustischen Zeichen dar. Neben den Signalen sind auch keynote-sounds, im Sinne der klanglich-atmosphärischen Grundtöne einer Umgebung, und soundmarks, spezielle Laute einer Gemeinschaft oder Kultur, in der Umgebung zu hören, die zu Verschiebungen innerhalb der auditiven Aufmerksamkeitsgefüge führen können, doch sind sie nicht in gleichem Maße gewichtig.5 Rauschen steht in der Hierarchie der Umgebungsklänge an unterster Stelle und gilt als das Andere, Unbestimmbare, Rauschhafte, Störend-Hereinbrechende, das »als Nicht-Diskretes weder Struktur noch Zeichencharakter besitzt – und damit schlechterdings das Gegenteil seiner sprachlichen Bezeichnung ist«6. Den Signalen entspricht eine vordergründige und bewusste Hörweise: »Signals are foreground sounds and they are listened to consciously.«7 Das Signal drängt demnach ins Zentrum der auditiven Aufmerksamkeit. Die biologische Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Nahrung, Gefahr und Fortpflanzung verstärkend, aber diese auch überformend stellen auditive Normen und Ideale ein hierarchisch strukturiertes auditives Wertesystem im Sinne einer Beachtungsskala dar, die auch in ein Beachtungsregime umschlagen kann, innerhalb derer beispielsweise Stimmen eine

mativen Signalen und störendem Noise in Claude E. Shannon: »A mathematical Theory of Communication«, in: Bell System Technical Journal 27/1948, Teil 1, S. 379-423 und Teil 2, S. 623-656. 4

Bart Kosko: Noise, New York u. a. 2006, S. 4.

5

Vgl. Schafer 1994 [1977], S. 9 ff.

6

Andreas Hiepko und Katja Stopka: »Einleitung«; in: ders./dies. (Hg.), Rauschen: Seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung, Würzburg 2001, S. 9-18, hier S. 10.

7

Schafer 1994 [1977], S. 10.

296         

höhere Priorität besitzen als tierische Laute oder Gefahren signalisierende Geräusche Vorrang bekommen vor anderen Lauten. Diese Alarmsignale sind nach Schafer von höchster Priorität. Sie lassen den Hörenden kaum eine Wahl, sondern drängen sich so stark auf, dass sie registriert werden müssen: »those signals which must be listened to«8. Eine Strategie, um Signale stärker hervortreten zu lassen, ist es, die als ›Nebengeräusche‹ abgewerteten sonstigen Laute der Umgebung zu reduzieren. In einer auf Kommunikation, Verstehen und Informationsübertragung ausgerichteten Gesellschaft werden das Rauschen und seine in der Intensität der ›Störung‹ noch gesteigerte Form des Lärms zu Gegnern stilisiert, deren Regulierung notwendig ist. In diesem Sinne führt Derrick De Kerckhove die mit dem auf Signale achtenden Hören verbundene Aufmerksamkeitsdynamik näher aus: »A trained mind is a mind whose principal task is to eliminate noise, that is, unnecessary information, to make room for specialized responses.«9 Barry Truax differenziert Signale vom Rauschen durch den Grad ihrer Erwünschtheit: »The signal is intentional and desired, and should be distinguishable from the ›noise‹, which is both inevitable and undesired.«10 Tatsächlich ist der Grad der (Un-)Erwünschtheit in der Lärmforschung zu einer festen Größe geworden, die sich allerdings kaum quantitativ messen lässt, sondern die je nach Kontext und durch die individuellen Hörenden verschieden bestimmt wird. Was ›Lärm‹ ist, unterscheidet sich somit je nach Hörsituation mitunter stark. Das deutsche Wort ›Lärm‹ ist im Vergleich zu entsprechenden Worten anderer europäischer Sprachen besonders, da es speziell auf das in seiner extremen Lautstärke oder Eindringlichkeit als unangenehm und störend Empfundene gerichtet ist und sich darin von der neutraleren Bezeichnung ›Geräusch‹ unterscheidet.11

8

Ebd., S. 10. Keynote Sounds verdeutlichen – dem Grundton musikalischer Intervalle ähnlich – den grundlegenden ›Ton‹ einer Umgebung, ihr stimmungsbezogenes Getönt-Sein und die Laute, aus denen sich die gesamte Umgebung ergibt. Sie werden habituell und nicht unbedingt bewusst wahrgenommen. Mit soundmarks bezieht sich Schafer auf die für eine Gegend oder einen Kontext typischen Laute, die in ihrer Eigenart bemerkt und positiv bewertet werden. Vgl. ebd., S. 9 f. Vgl. zum musikpsychologischen Begriff der Hörgewohnheiten bei Klaus-Ernst Behne: »Musikalische Hörgewohnheiten«, in: Welt auf tönernen Füßen. Die Töne und das Hören, Göttingen 1994, S. 234-249.

9

Vgl. De Kerckhove 1995, S. 110.

10 Barry Truax: Acoustic Communication, 2. Aufl., Westport, Ct./London 2001, S. 9. 11 So wird im Englischen mit noise, im Französischen mit bruit, im Portugiesischen mit barulho sowohl der unerwünschte Lärm als auch das einzelne Geräusch bezeichnet. Der Unterschied in der Bedeutung wird erst im Plural erkennbar: Eine Vielfalt von Geräuschen wird mit den Worten noises, bruits, ruídos bezeichnet.

         



               297 

In der Acoustic Ecology, der Soundscape-Forschung sowie in den Sound Studies wird die Wirkungsweise von Geräuschen und Sounds in diversen Umgebungen dokumentiert, beschrieben und analysiert.12 Die Forschungen werden mit den Zielen durchgeführt, einerseits mittels eines fundierten Fachwissens eine Verbesserung der lautlichen Gestaltung in den dicht besiedelten und daher zumeist von ›Lärm‹ belasteten urbanen Umgebungen herbeizuführen, andererseits durch die Optimierung der Klangqualitäten hinsichtlich der von den Lauten zu erfüllenden Funktionalität eine bessere, d. h. reibungslosere Kommunikation zwischen Umwelt und Subjekt bewirken und gestalten zu können. So wird in der Acoustic Ecology eine Verbesserung der akustischen Balance und Ausgewogenheit angestrebt, die durch eine positive Bewusstseinssteigerung für den Schutz, die Pflege und den Wert einer akustisch ausgewogenen Umwelt erreicht werden soll. Sabine Breitsameter expliziert die Herangehensweise Schafers wie folgt: »Nicht das Eliminieren und Ersetzen von Lauten ist sein Ansatzpunkt, sondern das Proportionieren der vorhandenen Laute: das – wie er es anschaulich nennt – Orchestrieren der weltumspannenden Komposition.«13 Aus diesem Grund stellt der Begriff des tuning in Schafers Konzeption einen wesentlichen Prozess dar: im Austarieren der Klanglichkeiten verschiedener akustischer Umwelten zueinander ist die ideale, d. h. nicht bloß erträgliche, sondern sogar angenehm wirkende Balance der adäquaten Soundscapes zu finden. Der in der historischen Theaterpraxis nachweisbaren Idealisierung der Austariertheit lautlicher Komponenten einer Aufführung ist die Vielfalt möglicher Lautlichkeiten des Gegenwartstheaters entgegenzustellen. Statt einer Ausrichtung auf eine angemessene Balance des Gehörten lässt sich in vielen Aufführungen eine Prävalenz des Überbordenden, Exzessiven, Maßlosen wahrnehmen, die sich auf verschiedene Weise – als ohrenbetäubender Lärm, als Kakophonie, Unordnung und Chaos sowie jedoch auch als Stille und Absenz von Lauten – zeigen kann. Als zentrales Beispiel ist The Four Seasons Restaurant, untertitelt mit ›Verweigerungsakt als Hommage an Mark Rothko‹, von Romeo Castellucci zu nennen.14 Den Beginn der Aufführung an den Berliner Festspielen erlebte ich im Oktober 2012 wie folgt:

12 Vgl. u. a. Holger Schulze (Hg.), Sound Studies: Traditonen – Methoden – Desiderate, Bielefeld 2008; Bruce R. Smith: »Listening to the Wild Blue Yonder: The Challenges of Acoustic Ecology«, in: Veit Erlmann (Hg.), Hearing Cultures. Essays on Sound, Listening and Modernity, Oxford/New York 2004, S. 21-41; Kendall Wrightson: »An Introduction to Acoustic Ecology«, in: Journal of Electroacoustic Music 12/2002, S. 11-15; Böhme: »Akustische Atmosphären« (2001); Schafer 1994, vor allem S. 205 f. 13 Breitsameter: »Hörgestalt und Denkfigur« (2010), S. 9. 14 Ich habe die Aufführung von The Four Seasons Restaurant am 26. Oktober 2012 im Rahmen von Foreign Affairs im Großen Saal der Berliner Festspiele erlebt.

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Vor Beginn der Aufführung wurden dem Publikum Ohrstöpsel mit der nachdrücklichen Warnung, es würde sehr laut werden, verteilt. Bei vollkommener Dunkelheit – sogar die Notbeleuchtungssignale über den Eingangstüren waren während dieser Sequenz ausgeschaltet – erklang dann etwas von mir zuvor noch nie Gehörtes. Es handelte sich laut Programmheft um das extrem laute Rauschen eines mehr als 250 Millionen Lichtjahre entfernten Schwarzen Lochs, das die NASA offenbar aufzeichnen und in den von Menschen hörbaren Frequenzbereich transferieren konnte. Zu hören waren brachiale, mal knisternde oder knackende, aber zugleich auch tief-dumpfe Geräusche, die so laut waren, dass sie sowohl den Boden unter meinen Füßen sowie meinen Körper in Vibrationen versetzten. Die vor mir ausgebreitete dichte Finsternis und das mich direkt angehende, in akustische Schwingungen versetzende Rauschen waren sich ähnlich in ihrer Dichte und ihrer paradoxalen Gleichzeitigkeit von weiter Ausdehnung und leiblich spürbarer Nähe. Es war, als würde der gesamte Raum um alle Anwesenden herum von beiden wie von dichter Materie erfüllt sein – in jede Pore dringend und mit jedem Luftzug weiter in den Körper fließend. Wie Stoffliches, so unergründlich dicht erschien mir beides, das gesehene Schwarz und das gehörte Rauschen. Auge und Ohr konstituierten nach einiger Zeit vermeintliche Muster – doch dass dies Täuschungen der Sinne waren, zeigte sich nach kurzen Momenten, als alles sich auflöste in der ordnungslosen ausgedehnten Farb- und Sound-Dichte. Zu wissen, was zu hören war, veränderte zudem die Weise, wie ich die Geräusche wahrnahm, insofern sich mit ihnen Bedrohlichkeit und Unfassbarkeit assoziieren ließ, was durch den Zusammenhang mit dem unbegreiflichen Phänomen der Schwarzen Löcher begründet war. Das Gefühl, von den tosenden Geräuschen in das Schwarz hineingezogen zu werden, stellte sich ein und verwirrte für einige Momente meinen Gleichgewichtssinn. Das Rauschen wirkte sich in diesem Sinne wahrlich ›berauschend‹ aus, so dass ich den Eindruck nicht abwehren konnte, in das Nichts des Schwarzen Loches zu fallen und dabei nichts zu hören, nicht zu hören, nichts mehr hören zu können, obwohl um mich herum derart Tobendes zu Gehör kam. Romeo Castellucci präsentiert mit dieser Arbeit den dritten Teil einer Trilogie, die außerdem aus Sul concetto di volto nel figlio di Dio und Le Voile noir du pasteur besteht. Letztere Inszenierung basiert auf der Novelle The Minister’s Black Veil von Nathaniel Hawthorne, in der es um einen Geistlichen geht, der die Entscheidung trifft, sein Gesicht für die Dauer seines restlichen Lebens mit einem schwarzen Tuch zu verdecken. Auch darin ist demnach die Farbe Schwarz, die durch die vollständige Absorption von Licht hervorgerufen wird, und eine damit einhergehende Verweigerung von Wahrnehmung und Wahrgenommen-Werden relevant, die auch in The Four Seasons Restaurant thematisiert wird. Abwesenheit im Sinne einer Verhinderung oder Auflösung von Wahrnehmbarkeit ist für den Regisseur von zentraler Bedeutung. Das Schwarze Loch in The Four Seasons Restaurant

         



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kann als Gegenbild zu all dem eingeschätzt werden, was Castellucci als »kontinuierlicher Strom von Bildern [...], die keine tiefere Bedeutung mehr haben«15, kritisiert. Seiner Meinung nach führten in der gegenwärtigen medialen Überflutung Bilder dazu, dass Wesentliches und Nebensächliches verschwimme bzw. auf eine Weise verschoben werde, an der er nicht beteiligt sein wolle.16 Daher kreiere er Bilder, die auf eine gewisse Art zurück ins Publikum ›blickten‹ – entweder konkret wie in Sul concetto di volto nel figlio di Dio mit einem riesigen Ausschnitt des Gemäldes Christo von Antonello da Messina aus dem 15. Jahrhundert an der Rückwand der Bühne, von wo aus die großen schwarzen Augen des Dargestellten während der gesamten Aufführung auf dem Publikum liegen, oder abstrakt wie in The Four Seasons Restaurant durch die Dunkelheit während einzelner Szenen. Schwarze Löcher besitzen eine so starke Anziehungskraft, dass noch nicht einmal Lichtsignale entstehen können. Licht wird in der Philosophie mit Erkenntnis und mit dem Sehsinn verbunden. 17 Im Zusammenhang von ›Licht – Sehen – Erkenntnis‹ verorten sich weite Teile der abendländischen Philosophie und konzeptualisieren das Visuelle als primäre Möglichkeit, sich einem Wissen von der Wirklichkeit anzunähern. Insofern im Schwarzen Loch also kein Licht – und damit auch keine mit Licht und dem Sehsinn traditionell verbundene Erkenntnis – möglich ist, kann es als Symbol für die von Castellucci angestrebte alternative Weise des Weltzugangs fungieren. Dabei führt Castelluccis Skepsis gegenüber Bildern nicht zu einer Entgegensetzung von Visualität und Audition oder gar zu einer Höherbewertung des Hörens. Vielmehr richtet es sich auf eine bestimmte Qualität des Bildes, die sich

15 Romeo Castellucci im Gespräch mit den Berliner Festspielen im Heft zu Foreign Affairs 2012, online unter https://www.berlinerfestspiele.de/media/2012/foreign_affairs/fa12_ interviews/fa12_interview_castellucci.pdf, letzter Zugriff am 18.10.2016. 16 Romeo Castellucci, in: Télérama (2012): »Les images sont devenues des outils de pouvoir, il faut s’en méfier.«, siehe Fußnote 1 dieses Kapitels. 17 Vgl. u. a. Steffen Ducheyne: »Whewell’s metaphorical usage of light and the ultimate reality underlying it«, in: Semiotica 172 (1/4) 2008, S. 269-278; Luigi Borzacchini: »Light as a metaphor of science: A pre-established disharmony«, in: Semiotica 136 (1/4) 2001, S. 151-171; Thomas Leinkauf: »Licht als unendlicher Selbstbezug und als Prinzip von Differenz. Zur Wirkungsgeschichte der spekulativen Licht-Metaphorik und zur Bedeutung des Begriffes Licht in der Philosophie des Deutschen Idealismus«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 1 (38) 1995, S. 150-177; Hans Blumenberg: »Light as a Metaphor for Truth. At the Preliminary Stage of Philosophical Concept Formation«, in: David Michael Levin (Hg.), Modernity and the Hegemony of Vision, Berkely/Los Angeles/London 1993, S. 30-62; George Lakoff/Mark Johnson: Metaphors We Live By, Chicago/London 1980, S. 48 und S. 103.

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auch am Gehörten zeigen kann: auf den positiven, spektakulären und überbordenden Charakter einer exzessiven Präsenz. In The Four Seasons Restaurant manifestiert sich dieses Misstrauen im Rauschen und im über weite Strecken präsenten Schweigen, d. h. grundsätzlich als Verunmöglichung von Prozessen der Kommunikation. Wahrzunehmen sind nur konturlose Dunkelheit und unzugängliches Weißes Rauschen18 – dennoch seien hier, so Castellucci, bereits signifikante Konturen enthalten. »The contours remain interior, unexpressed; they are interior shapes of rhythm.«19 Er bezieht sich dabei auf den antiken griechischen Begriff des katéchon, mit dem im Neuen Testament auf die Figur verwiesen wird, die das Kommen des Antichristen und damit auch die Wiederkehr des Erlösers aufhält und insofern im Allgemeinen als Sinnbild für Prozesse des Aufschubs, der Verzögerung und der Suspension gedeutet werden kann.20 Das Erkennen der Konturen ist in diesem Sinne aufgehalten; um sie erkennen zu können, ist ein anderes Sehen und Hören erforderlich. Das Denken, das sich mit dieser Art von Seh- und Hörverweigerung verbindet, ist dekonstruierend, insofern es im Destruieren zugleich etwas Neues erzeugt und damit auf Strukturen hinweist, die im Konstruierten zuvor verborgen und nicht bemerkbar waren. Es geht somit um eine Verfahrens- und Erlebensweise der Entbergung. Verschwinden, Absenz, Nichts, Leere, Tod, Vernichtung, Verweigerung, Verzögerung und Stille stellen in diesem Kontext wesentliche Zustände, Prozesse und Qualitäten in Castelluccis Theaterarbeiten dar. Hier sind es produktive Begriffe, während sie einem Bereich des Negativen entstammen, der herkömmlicherweise nicht mit Konstruktivität verbunden wird. In The Four Seasons Restaurant soll, so Castellucci im Programmheft der Berliner Festspiele, das Publikum dazu herausgefordert werden, durch das Rauschen und die Dunkelheit, d. h. durch das Nicht(s)-Erkennen-Können, hindurchzugehen, um daraufhin auf andere Weise wahrzunehmen. »Es ist, als ob wir durch ein Schwarzes Loch in den Geist der Inszenierung eintreten, durch etwas, das die Dinge anzieht und sie verschwinden lässt – dadurch entsteht eine ganz andere Art der Aufmerksamkeit gegenüber der Realität der Phänomene.«21 Die Aufführung von The Four Seasons Restaurant zeigt zunächst ›nichts‹, und das Relevante hieran ist nicht primär das ›Nichts‹ – die Dunkelheit, das Rauschen – an sich, sondern die Geste des Zeigens des ›Nichts‹. Deut-

18 Als Weißes Rauschen wird das Rauschen bezeichnet, das sich durch Gleichmaß und Klangqualitäten des Monotonen auszeichnet und klingt wie ein anhaltendes, in sich nicht differenzierbares Zischen. Vgl. Hall 2008, S. 150. 19 Romeo Castellucci im Gespräch mit FringeArts 2013, online unter http://www.archiveorg-2014.com/org/l/2014-02-01_3617347_3/FringeArts/, letzter Zugriff am 18.10.2016. 20 Vgl. ebd. 21 Romeo Castellucci, in: Berliner Festspiele-Heft zu Foreign Affairs 2012, siehe Fußnote 15 dieses Kapitels.

         



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lich wird, dass die Dunkelheit sowie das Rauschen keineswegs nur Absenz, sondern darin – paradoxerweise – zugleich auch eine überbordende Fülle darstellen. Es erfordert eine modifizierte Wahrnehmungshaltung, um diese Fülle erkennen und herkömmliche Wahrnehmungsmuster ablegen zu können, und diese Umschichtung stellt einen Prozess der Aufmerksamkeit dar. In Bezug auf den englischen Begriff noise, der sowohl auf das einzelne Geräusch als auch auf Lärm und darüber hinaus allgemein für Störungen sämtlicher, auch nicht-auditiver Art angewandt werden kann, bildet sich seit den letzten drei bis fünf Jahren insbesondere im angloamerikanischen Raum eine zwischen Musik-, Medien- und Kulturwissenschaft verortete Theorie heraus, die den mit den drei zuvor genannten Bedeutungszuschreibungen – Geräusch, Lärm, Störungen – verbundenen Hierarchisierungen nachgeht.22 In diesem Kontext differenziert Schafer vier Definitionen von noise, die mit dem Unmusikalischen, dem Lauten, dem Störenden und dem Unerwünschten auf das ihm innewohnende negative Potential hinweisen.23 Noise stellt somit erstens musiktheoretisch das Andere des musikalischen oder stimmlichen Klangs dar, zweitens kulturhistorisch und philosophisch das Andere der mit Unlebendigkeit, Stillstand und Tod assoziierten Stille, drittens medientheoretisch das störend Andere von Signalen und schließlich viertens kulturtheoretisch das Andere einer ›guten‹ und legitimen, erwünschten Lautlichkeit und ihren Hörweisen des konzentriert-verstehenden Hinhörens und Kommunizierens. So wird der Begriff vorrangig ex negativo zur Abgrenzung des von ihm Abgehobenen verwendet; noise ist dasjenige, das nicht gehört werden soll oder nicht gehört werden will. »Noise is a nuisance. [...] It is a signal that does not belong there. Noise is a signal we don’t like.«24 Entscheidend ist, dass das bezeichnete Phänomen nicht allein auditiv, sondern primär auditiv-attentional sowie qualitativ und subjektiv über die Zuschreibung der für alle vier Bereiche relevanten ›Unerwünschtheit‹ – als NichtKlang, als Exzess, als Untragbarkeit und als Unerträglichkeit – bestimmt wird. In

22 Im Folgenden wird diesbezüglich weiterhin der englische Begriff noise verwendet, da die deutschen Übersetzungen jeweils nicht die gleiche Bedeutungsvielfalt aufweisen, sondern jeweils nur eine spezifische Dimension – Geräusch, Lärm, Störung – akzentuieren. Der Begriff noise umfasst in diesen Theorien zwar auch das ebenfalls als Noise bezeichnete musikalische Genre elektronisch-geräuschhafter Musik, doch ist dieser Bezug nicht primär und wird selten explizit erörtert. Stattdessen ist der noise-Begriff umfassender und abstrakter gefasst. Er bezieht sich zumeist vorrangig auf die Dimension des Störenden, Irritierenden, Nervenden, Unangenehmen und nicht konkret auf spezifische, definierbare Klangqualitäten oder musikalische Strukturen. Zur Forschungslage vgl. Fußnote 68 der Einleitung. 23 Schafer 1994, S. 182 f. 24 Kosko 2006, S. 3.

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Abwesenheit einer Definition von Noise über quantifizierbare oder qualitativ beschreibbare Klangqualitäten resultiert eine Bewertungsstruktur, die nach anderen Kriterien verfährt und in deren Rahmen subjektive Einschätzungen gegenüber objektiven Messungen aufgewertet werden. Die anschließenden Ausführungen folgen den Negativbestimmungen nach Schafer, um Einblicke in die jeweils verhandelten Zusammenhänge zu geben. Anhand der vier Aspekte Nicht-Klang, Unordnung, Nicht-Stille und Nicht-Zuhörbarkeit wird der Begriff von noise und ein Verständnis des Geräuschaften in den nächsten Abschnitten konturiert.

           Spezifische Laute werden dadurch gekennzeichnet – und im musiktheoretischen Kontext abgewertet bzw. ignoriert –, dass ihre Klanglichkeit nicht dem bevorzugten Ideal der Regelmäßigkeit entspricht. Durch seine unregelmäßigen Schwingungen unterscheidet sich das Geräusch vom regelmäßig verfassten musikalischen Klang, und aufgrund dieser Verfasstheit ist das Geräusch mittels musikalischer Parameter kaum zu erfassen. So begründet William W. Gaver das kaum vorhandene Wissen über Geräuschwahrnehmung durch die in der Akustik, Psychologie und Musikwissenschaft dominante Konzentration auf spezifisch musikalische Laute. »But an account of hearing based on the sounds and perceptions of musical instruments often seems biased and difficult to generalize. Musical sounds are harmonic; most everyday sounds are inharmonic or noisy.«25 Die Klanglichkeit von Geräuschen ist häufig komplex und vielschichtig, da in ihnen verschiedene Timbres und Rhythmen enthalten sind. Ihre Wirkungsweise im Hören wird mit Hinweis auf alltägliche Zweckdienlichkeiten wie beispielsweise der auditiven Orientierung in einer Umgebung und der Deutung räumlicher wie sozialer Kontexte ›erklärt‹, dabei aber auf die Dimension der Funktionalität reduziert und mit der Lautquelle gleichgesetzt. Mit Bezug auf die Funktion der auditiven Zentrierung und Beachtung von Geräuschen lässt sich auf die enge Verbindung zwischen Geräuschklang und den in die-

25 William W. Gaver: »What in the World Do We hear? An Ecological Approach to Auditory Event Perception«, in: Ecological Psychology 5 (1) 1993, S. 1-29, hier S. 3. Vgl. Donald E. Hall: Musikalische Akustik. Ein Handbuch, Mainz u. a. 2008 [Original: Musical Acoustics, Pacific Grove, Ca. 1991], S. 19: »Mit Geräusch bezeichnen wir gewöhnlich etwas vage alle anderen Schallereignisse, aber meistens meinen wir damit solche, die als ungeordnet oder auch als unangenehm oder unerwünscht erscheinen; laute Geräusche bezeichnen wir als Lärm.«

         



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sen Geräuschen hörbar werdenden Lautquellen verweisen – im Alltag klingt das Rascheln nicht nach einem bestimmten Geräusch, sondern, je nach situativem Kontext, z. B. nach Papier, Gras, Kleidung, nach fallenden Blättern o. Ä. Zumeist werden Geräusche im alltäglichen Hören nicht bewusst und explizit in ihrer Klanglichkeit wahrgenommen, sondern vorrangig in ihrer Funktion. Zugleich entspricht der geräuschhaften Umgebung eine Hörweise, die räumlich weit und offen ist, wie Sabine Breitsameter in ihrem einführenden Essay zur 2010 erschienenen deutschsprachigen Übersetzung von R. Murray Schafers The Tuning of the World herausstellt.26 Die Hierarchisierungen und Ausschlussmechanismen innerhalb der Musik aufbrechend hat seit dem Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere mit Luigi Russolos Schrift L’arte dei rumori (1913) und den von ihm entwickelten Lärminstrumenten, den Intonarumori, eine Entdeckung der Geräusche als musikalisches Material eingesetzt, die eine umfassende Rehabilitation und Aufwertung ihrer Klanglichkeit bewirkte. Seit der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert durch die künstlerischen Avantgarden der Moderne im Dadaismus, Futurismus und Bruitismus, seit den 1960er Jahren in der Musique Concrète vor allem durch Pierre Schaeffer, in der Neuen Musik sowie in der Sound und Performance Art wesentlich durch John Cage sowie seit den 1990er Jahren in technisch komplexen Soundinstallationen wird die geräuschhafte Klanglichkeit in Kompositionen verwendet, zerteilt und collagiert, ausgestellt und in ihrem Status als legitimes musikalisches Material unterstrichen.27

26 Vgl. Sabine Breitsameter: »Hörgestalt und Denkfigur. Zur Geschichte und Perspektive von R. Murray Schafers Die Ordnung der Klänge«, in: R. Murray Schafer: Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Mainz 2010, S. 7-32, hier S. 9. Vgl. dazu auch Schafer 1994 [1977], S. 238. 27 Vgl. Douglas Kahn: »Noises of the Avant-Garde«, in: Jonathan Sterne (Hg.), The Sound Studies Reader, London/New York 2012, S. 427-448; Dieter Daniels/Inke Arns (Hg.), Sounds like Silence (Cage – 4‹33‹‹ – Stille / 1912 – 1952 – 2012), Leipzig 2012; Caleb Kelly (Hg.), Sound (Documents of Contemporary Art), London 2011; Salomé Voegelin: Listening to Noise and Silence. Towards a Philosophy of Sound Art, New York/London 2010; José Manuel Costa: Sound Art / ARTe SONoro, Madrid 2010; Seth Kim-Cohen: In the Blink of an Ear. Toward a Non-Cochlear Sonic Art, New York/London 2009; Frances Dyson: Sounding New Media. Immersion and Embodiment in the Arts and Culture, Berkeley, Ca./London 2009; Brandon LaBelle: Background Noise. Perspektives on Sound Art, New York/London 2006; Alan Licht: Sound Art. Beyond Music, Between Categories, New York 2007; Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation, Diss., Frankfurt/M. 2003, S. 220-231, Douglas Kahn: Noise, Water, Meat. A History of Sound in the Arts, Cambridge, Ma./London 1999, Erika Fischer-Lichte: »Einleitung«, in: Erika Fischer-Lichte (Hg.), TheaterAvantgarde, Tübingen/Basel 1995, S. 1-14; Klaus Schöning: »Sound Mind Sound. Klangreise zur akustischen Kunst«, in: Welt auf tönernen Füssen.

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Die zuvor noch den Ausschluss aus dem Bereich des Musikalischen bzw. des legitimen Hörbaren begründenden Faktoren werden im Kontext der neueren Klangkünste nun zu Stärken umgewertet. Nicht allein werden dabei die Bestimmungen der ›Musik‹ und des musikalisch ›Legitimen‹ verunsichert und erweitert, vielmehr wird noch grundlegender nach musikalischen Hierarchisierungen von Klängen – Vokal- über Instrumentalklang, Töne über Geräuschen, Struktur über Klang – gefragt und das bislang Abgewertete nun ins Zentrum gesetzt.28 Helga de la MotteHaber verdeutlicht in diesem Zusammenhang die Relevanz von Reduktion und Minimalismus sowie die damit einhergehenden veränderten Aufmerksamkeitsdynamiken: »In der Neuen Musik hat eher das Zu-Leise seinen Platz gefunden. In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts üblich geworden sind Dynamikpegel an der untersten Schwelle der Wahrnehmung; sie bürden dem Hörer größte Konzentration auf: Nimmt sie ab, scheinen die Töne sich zu entfernen oder zu verstummen und wecken den Wunsch, sie durch erneute Anstrengung wieder in die Nähe zu rücken. [...] Zu fragen ist, wie viel Anstrengung dem Hörer zugemutet werden kann und auch wie sehr er seine Sinnesorgane zu schärfen vermag.«29

Durch die Integration geräuschhafter Klanglichkeiten, die stimmlich, instrumentell sowie durch das Publikum erzeugt werden können, wird nicht allein die musikalische Klangvielfalt erweitert, bestehende Grenzziehungen überschritten und Hierarchisierungen aufgelöst, sondern des Weiteren kommt es auch zu einer Variation der bewirkten Hörweisen und Aufmerksamkeitsgefüge.

Die Töne und das Hören, Göttingen 1994, S. 64-78; Douglas Kahn (Hg.), The Wireless Imagination. Sound, Radio and the Avant-garde, Cambridge, Ma./London 1992. 28 Vgl. Elena Ungeheuer: »Das Sonische – Musik oder Klang«, in: PopScriptum 10/2008, online unter http://www2.hu-berlin.de/fpm/popscrip/themen/pst10/index.htm, letzter Zugriff am 21.08.2015; Albrecht Riethmüller: »Zum vokalen Prinzip in der Musikgeschichte«, in: Christa Brüstle/Albrecht Riethmüller (Hg.), Klang und Bewegung. Beiträge zu einer Grundkonstellation, Aachen 2004, S. 11-39; Christoph Reuter: »Wie und warum in der Geschichte der Klangfarbenforschung meistenteils am Klang vorbeigeforscht wurde«, in: Wolfgang Niemöller (Hg.), Systematische Musikwissenschaft. Festschrift Jobst Peter Fricke zum 65. Geburtstag. Frankfurt a.M. 2003, S. 293-301; Bernhard Waldenfels: »Stimme am Leitfaden des Leibes«, in: Cornelia Epping-Jäger/Erika Linz (Hg.), Medien/ Stimmen. Köln 2003, S. 19-35. 29 Helga de la Motte-Haber: »Neue Hörformen. Ein Essay zur Notwendigkeit einer Wahrnehmungsästhetik«, in: Claudia Bullerjahn/Heiner Gembris/Andreas C. Lehmann (Hg.), Musik: gehört, gesehen und erlebt. Festschrift Klaus-Ernst Behne zum 65. Geburtstag, Hannover 2005, S. 81-88, hier S. 86.

         



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    Claire MacDonald unterstreicht die Relevanz von Stille insbesondere als künstlerischer und wissenschaftlicher Gegenstand: »It seems paradoxical that in this noisiest of centuries silence should have emerged as such a significant area of critical enquiry and artistic expression. But the very presence of the technologies of noise gives silence particular meanings, sharpening our sense of the acoustic and helping to define silence as a category – and a very complex category it is for, as Susan Sontag says in her essay ›The Aesthetics of Silence‹ [...], it exists not in a literal sense, but as experience.«30

In ihrem Aufsatz The Aesthetics of Silence beschreibt Susan Sontag das sich während der 1960er Jahre wandelnde Kunstverständnis im Kontext von ›Spiritualität‹. Kunst sei weniger auf den Ausdruck des künstlerischen Bewusstseins oder die Materialisierung einer konkreten ›Aussage‹, sondern vielmehr auf das Zur-Erscheinung-Bringen des Transzendenten gerichtet, welches das Materielle übersteigt und sich somit durch simple ›Aussagen‹ nicht präsentieren lasse. Kunst verorte sich daher zwischen ihrer eigenen Materialität und dem angestrebten Manifestieren und Evozieren des Nicht-Darstellbaren, was erforderlich mache, dass sie ihre Konkretheit, Präsenz und ihren Positivismus überwindet. »As the activity of the mystic must end in a via negativa, a theology of God’s absence, a craving for the cloud of unknowing beyond knowledge and for the silence beyond speech, so art must tend toward anti-art, the elimination of the ›subject‹ (the ›object‹, the ›image‹), the substitution of chance for intention, and the pursuit of silence.«31

Stille, die hier vorwiegend als Metapher der (Selbst-)Negation und Abwesenheit verstanden wird, ermöglicht es der Kunst, das Undarstellbare ex negativo zur Erscheinung zu bringen und ihre eigene Materialität hinter sich zu lassen. Die Erfahrung von Stille vollzieht sich wesentlich in der Wahrnehmung, die durch Dimensionen von Ereignishaftigkeit und Kontingenz geprägt ist – so stellt Sontag heraus, dass zwar auch konkrete Stille, die beispielsweise im Theater erfahrbar werden kann, solche Wirkung besitzt, doch betont sie zugleich, dass sich diese Erfahrung

30 Claire MacDonald: »Editorial: Sounding Out«, in: Performance Research 4 (3) 1999, S. iii-iv, hier S. iii. 31 Vgl. Susan Sontag: »The Aesthetics of Silence« (1966), in: dies.: Styles of Radical Will, London 2009, S.3-34, hier S. 4 f.

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nicht intentional herbeiführen lässt. Vielmehr ereignet sie sich ›von selbst‹.32 Der Wahrnehmung von Stille ist ein Moment des Scheiterns eingeschrieben, da sie mit verhinderter und unmöglicher Kommunikation einhergeht oder auf Prozessen des Missverstehens beruht. Sie kann, zumal wenn sie als konkrete Eigenschaft oder Bestandteil von Kunst auftritt, nur als nie zu erreichende, »ever-receding horizon of silence«33 erfahren werden. Denn Stille im Sinne einer spezifischen Klanglichkeit steht im Zusammenhang mit etwas positiv Hervortretendem und präsentisch SichZeigendem und nicht, wie Sontag akzentuiert, mit Abwesenheit. Sowohl konkret als auch als abstraktes Konzept fungiert Stille als Leitmotiv einer künstlerischen Praxis, die zu keinem Stillstand kommen wird, da sie stets auf neue Weise versuchen muss, ihr unerreichbares Ziel umzusetzen. Sie ist in dem Sinne nicht nur als eine auf Präsenz, sondern eine ebenfalls auf sich selbst bezogene Negation zu verstehen. Stille im Sinne von Neutralität oder Leere kann nicht existieren. Stattdessen ist sie nur an und in der Fülle mithervorzubringen – eine in sich verschränkte Figur, die Sontag mit dem Oxymoron der »full void«34 umschreibt. Von Sontags Konzeption der Stille als eine auf Unvollständigkeit und Unerreichbarkeit basierende erfüllte Leere ergibt sich eine direkte Verbindung zu Castelluccis Theaterästhetik, in der, wie zuvor ausgeführt wurde, die Vorstellung einer erfüllten Leere und die Ästhetik der Verweigerung relevant sind. Diesem Denken entsprechend ist Kunst als präsentisch sich Zeigende gerade nur darin wirksam, dass sie fragmentarische, unvollständige und unverständliche Dimensionen besitzt: »[...] 35 la tragédie est l’art du silence. Et pas celui de la catastrophe.« Die Katastrophe lässt sich mit Geräuschen auf zwei Weisen in Verbindung bringen: zum einen auf der konkreten Ebene, dass sich Katastrophen zumeist durch eine lautstarke Geräuschhaftigkeit bemerkbar machen, zum anderen auf einer abstrakten Ebene in der Verbindung zum Phänomen und Konzept noise als einer Störung. Noise wird in diesem Sinne als zerstörerisches, chaosbewirkendes, zersetzendes Geschehen markiert, dem die Stille – in der Form einer ›Schwester-Erscheinung‹ – entspricht, da beide durch Negation, Abwesenheit und Verweigerung zersetzen. Während Stille sich im Stillstand und im Tod manifestiert, wirkt noise durch Unerträglichkeit. Während Stille als erfüllte Leere wirksam ist, erweist sich noise als leerer Exzess.

32 Ebd., S. 9. 33 Ebd., S. 10. 34 Ebd., S. 11. 35 Castellucci, in: Télérama (2012), siehe Fußnote 1 dieses Kapitels.

         



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       In Verbindung der beiden vorherigen negativen Bestimmungen existiert eine dritte Bedeutungsdimension von noise, die sich explizit auf Aufmerksamkeitsdynamiken bezieht und aus der heraus dieser Begriff für die Bewegung einer hereinbrechenden Störung verwendet wird, der im Idealfall durch Nicht-Beachtung zu begegnen ist. In diesem Kontext werden Geräusche und Lärm als Nicht-Zuhörbares bestimmt, d. h. als Lautlichkeiten, die weder der Förderung, Bildung und besseren Ausprägung des Gehörs dienen noch ästhetischen Bedürfnissen nach entweder Harmonie oder Interessantheit genügen. Auf diese Weise entsteht eine Gruppe von Lauten, die nicht gehört werden sollen oder dürfen. Sie kennzeichnet sich nicht positiv durch besondere Klangqualitäten, sondern negativ in der grundlegenden Verweigerung legitimer Zuhörbarkeit. Im Zuge der Aufwertung von Stille, deren Einsetzen sich kulturhistorisch bis in die Moderne zurückverfolgen lässt und deren metaphorische Bedeutung, wie zuvor dargestellt, vor allem seit den 1960er Jahren relevant ist, wird die zunehmende Geräuschhaftigkeit und Lautstärke der Städte und urbanen Regionen weitgehend negativ bestimmt. Es wurde zwar die positive Bedeutung des zunehmenden Geräuschpegels als Manifestation zivilisatorischer Prozesse insbesondere von der historisch orientierten Kulturtheorie herausgestellt. Dementsprechend lässt sich nach Helga de la Motte-Haber die Tatsache, dass viele Geräte mittlerweile auch in geräuschloser Variante produzierbar wären, diese sich aber am Markt nicht durchsetzen könnten und stattdessen ein ausgeklügeltes Acoustic Design betrieben wird, in der Hinsicht deuten, dass die Bevorzugung hörbarer Apparate die in den westlichen Gesellschaften verbreitete Hochschätzung einer lautlich sich manifestierenden maschinellen Leistungskraft zum Ausdruck bringt.36 Damit ist auch die These Schafers zu verbinden, dass sich aufgrund ihrer gemeinsam hervorgebrachten Lautlichkeiten akustische Gemeinschaften bilden und den je kulturspezifischen Soundscapes eine gemeinschaftserzeugende Wirkung zuzusprechen ist.37 Jacques Attali betont, dass

36 Vgl. Helga de la Motte-Haber: »Experiment Kunst – Neue Klangökologie«, in: Paragrana 2 (16) 2007 (Klanganthropologie. Performativität – Imagination – Narration), S. 67-73, hier S. 67. 37 Vgl. z. B. Schafer 1994, S. 214 ff. Für den noise-Theoretiker David Hendy bringt die Geräuschhaftigkeit ›Menschlichkeit‹ zum Ausdruck. Vgl. Hendy 2013, S. vii: »We’re supposed to hate cacophony, but a few years ago on a cold Sunday in Berlin I was struck by the horror that sometimes lurks in silence and by the warm humanity that often emanates from noise.« Vgl. Emily Thompson: The Soundscape of Modernity. Architectural Acoustics and the Culture of Listening in America, 1900-1933, Cambridge, Ma. 2004. Kate Lacey beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Hören und der Entste-

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Geräusche auf die Anwesenheit von Gemeinschaft hinweisen, da sich überall dort, wo Menschen zusammenkommen, ein ›lebendiger‹ Geräuschpegel erhebt.38 Positiv gesehen bedeuten Geräusche und sogar Lärm demnach Manifestationen menschlicher Anwesenheit, Gemeinschaft, Aktion und Lebendigkeit.39 Doch entscheidend ist, dass im Unterschied zu den vorher angeführten Theorien nun von Extremsituationen die Rede ist – von einem ohrenbetäubenden Lärm, der bewirkt, dass nichts Anderes oder Vernünftiges mehr hörbar ist, so dass die Hörenden versuchen, die Offenheit ihres Gehörs weitgehend einzuschränken. Beschrieben wird dieser Wandel als ein durch die nicht mehr nur unerwünschte, sondern unerträgliche Lautlichkeit ausgelöster Verfalls- oder gar Verlustprozess bestimmter auditiver Vermögen der Konzentration, Hinwendung und des gegenseitigen Verstehens. Die Lärmforschung stellt einen besonderen Bereich der klangökologischen Forschung dar, in dem über die lautliche Vermessung von Regionen oder Stadtteile und die Verhinderung des Überschreitens eines gesetzlich festgelegten, in Dezibel angegebenen Lautstärkepegels hinaus ebenfalls die Eindringlichkeit bestimmter Laute analysiert wird.40 ›Lärm‹ ist dementsprechend nicht mehr einfach mit einer lauten oder dichten Umgebung gleichzusetzen, sondern vielmehr auch in den kleinen leisen und dennoch sich aufdrängenden Geräuschen zu verorten. Diese Art von Lautlichkeit macht sich demnach über die jeweilige Lautstärke hinaus primär am Grad der Eindringlichkeit fest. Doch diese zusätzliche Dimension bedeutet hinsichtlich der Definition von ›Lärm‹ eine Erschwernis, da für die auf der jeweils konkreten Hörsituation und subjektiven Einschätzung beruhende Eindringlichkeit kein verbindlicher Maßstab angesetzt werden kann – im Gegensatz zu der in Dezibel

hung von Gemeinschaft, Kollektivität und Öffentlichkeit. Ihrer Meinung nach lässt sich das Hören als Aktivität und als politisches Handeln auffassen. Vgl. Kate Lacey: Listening Publics. The Politics and Experience of Listening in the Media Age, Cambridge/Malden, Ma. 2013, S. 8 f. 38 Vgl. Jacques Attali: Bruits. Essai sur l’économie politique de la musique, Neuausgabe, Paris 2001 [1977], S. 11: »Notre science a toujours voulu surveiller, compter, abstraire, castrer les sens, oubliant que la vie est bruyante et que seule la mort est silencieuse [...].« 39 In diesem Kontext ist auf die Zunahme der Möglichkeiten und Bedürfnisse hinzuweisen, durch den Download oder Kauf entsprechender Sounddateien für eine ›belebt‹ wirkende Umgebung zu sorgen. Vgl. z. B. http://shop.prosoundeffects.com/collections/household; http://soundbible.com/1664-Restaurant-Ambiance.html; http://www.audiomicro.com/free -sound-effects/free-household, letzter Zugriff 12.10.2016. 40 Vgl. z. B. die Lärmschutzaktionen des Berliner Senats und die EU-Richtlinien online unter www.stadtentwicklung.berlin.de/umwelt/laerm/, letzter Zugriff am 12.10.2016.

         



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quantifizierbaren Lautstärke.41 Offizielle Versuche der Definition von ›Lärm‹ liegen demzufolge kaum vor. Bislang ist diesbezüglich nach wie vor eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2002 entscheidend, die sich auf Zuweisungen des Attributs der Unerwünschtheit beschränkt, aber dies ansonsten nicht weiter ausführt. 42 Damit fehlt nach wie vor eine nähere Beschreibung und Analyse der mit auditiver Eindringlichkeit verbundenen Qualitäten – über extreme Lautstärke hinaus. Metaphorische Beschreibungen der Wirkungsweise von Lärm, z. B. die Rede von einem »sound of excess«, von einer »wall of sound« oder der »Brandung der Großstadt«, zielen bislang vor allem darauf ab, das Kraftvolle, Harte, Überbordende, Unausweichliche, ungewollt Überwältigende und Einnehmende dieser Lautlichkeiten hervorzuheben. 43 Dabei werden die Qualitäten der Grenzüberschreitung, Omnipräsenz und Unausweichlichkeit negativ beurteilt im Sinne des metaphorischen Bildes von kriminell ›Eindringendem‹, das sich illegitim Präsenz an einem Ort verschafft, der ihm nicht zugänglich sein sollte. Gängige Metaphern zur Umschreibung von Lärm stellen diese Lautlichkeit als ›Schmutz‹, ›Gewalt‹ oder auch als ›imperialistischen Übergriff‹ dar.44 An der auffälligen, sich der Ordnung entzie-

41 Die resultierende Herausforderung, einen solchen Maßstab der auditiven Eindringlichkeit zu entwickeln, ist von besonderem Interesse, da solch ein Vorhaben aufgrund der nicht quantitativen, sondern nur qualitativen Bestimmbarkeit dieser Klangeigenschaft notwendigerweise auf Beschreibungs- und Definitionskriterien hinausläuft, die auch für die Theaterwissenschaft im Rahmen der phänomenologisch orientierten Deskription und Analyse der auditiven Wahrnehmungsprozesse relevant sein könnten. Für die theaterwissenschaftliche Analyse stellt das Geräusche-Hören eine Herausforderung dar, insofern über das zuvor erwähnte lautmalerische Vokabular des alltäglichen Sprechens kaum ein Instrumentarium der Beschreibung und Analyse dieser Laute existiert. Die Problemlage gestaltet sich demnach ähnlich wie bei der zuvor durchgeführten Analyse von Hörweisen in Aufführungen, in denen die Lautlichkeit wesentlich aus Soundströmen besteht. 42 Vgl. Artikel 3a der EU-Richtlinie ›Richtlinie 2002/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Juni 2002 über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm‹ vom 18. Juli 2002 unter http://www.stadtentwicklung.berlin.de/umwelt/service/ gesetzestexte/de/download/umwelt/eu_umgebungslaerm_2002_49_eg.pdf, S. 2. Neben der Unerwünschtheit als subjektivem Maß wird zudem die Gesundheitsschädlichkeit angegeben, die durch Messverfahren quantifizierbar und anhand von Grenzwerten limitierbar ist. 43 Zum Begriff »sound of excess« vgl. Hendy 2013› S. 311, zum Begriff »wall of sound« vgl. Schafer 1994, S. 158, und zu »Brandung der Großstadt« vgl. Payer 2006, S. 108. 44 Vgl. zum Begriff des ear cleaning in Schafer 1994, S. 208 f., zum Begriff des Eindringlings, vgl. ebd., S. 214, und des Imperialismus, vgl. ebd., S. 77. Diese negative Einschätzung der Eindringlichkeit bestimmter Lautlichkeiten führt Steve Goodman weiter, wenn

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henden bzw. sie überschreitend auflösenden Dimension von Lärm sind Aufmerksamkeitsdynamiken maßgeblich beteiligt, insofern lärmende Geräusche und Sounds alle anderen Laute übertönen, das Aufmerksamkeitszentrum besetzen und ein differenziertes Hören unmöglich machen. Somit lassen sich Laute, die der Kategorie ›Lärm‹ zugerechnet werden, als »attention-getter«45 beschreiben. Der Intensität, mit dem Lärm die auditive Aufmerksamkeit von Hörenden angeht, entsprechend bzw. ihr entgegen bilden sich bestimmte Hörweisen heraus, die weniger im Hören, als vielmehr im Nicht-Hinhören bestehen, insofern »Menschen, um sich gegen Lärm zu schützen, einfach verlernen zu hören«46. Deutlich wird, dass auditive Aufmerksamkeitsprozesse wesentlich an der Konstruktion von ›Lärm‹ als störend und auch an den Umgangsweisen mit dieser Eindringlichkeit durch strategisches Überoder Weghören beteiligt sind. Befürchtet wird, dass durch die Extreme des Lärms wesentliche Schäden entstehen, die nicht aufgefangen oder revidiert werden können. Dies betrifft einerseits konkrete sowohl körperlich als auch psychisch nachweisbare gesundheitsschädliche Effekte sowie andererseits eher abstrakte und nicht direkt messbare Prozesse der Vereinzelung, Distanzierung, Befremdung, Betäubung u. a. 47 In seiner extremen Form als ›Lärm‹ besitzt noise demnach eine gemeinschaftszersetzende Dynamik.48 Aus diesem Grund steht die Vorstellung von ›Lärm‹ in Zusammenhang mit ethischen Fragen des Zusammenlebens, der Rücksichtnahme und mit Machtverhältnissen, insofern die Entscheidung darüber, wer wann wo wie laut sein darf, nicht unabhängig von dominanten oder subordinierten sozialen Positionen innerhalb einer Gesellschaft getroffen wird. Im Rahmen einer Kulturgeschichte machtvoll-signifikanter Geräusche hat Alain Corbin vor allem das Läuten der Kirchenglocken in ihrer die Kirche über das einzelne Gebäude ausdehnenden lautlichen Präsenz herausgestellt.49 Auch in der Gegenwart regelt diese Fragen nicht ausschließlich das

er die Verwendung von Sounds als ›Waffen‹ untersucht und aufzeigt, inwiefern die Effekte bestimmter Laute zur Erzeugung von Einschüchterung und Angst eingesetzt werden. Vgl. Goodman 2010. 45 Vgl. Schafer 1994, S. 77 f. 46 Motte-Haber 2007, S. 68; Truax 2001, S. 15. 47 Vgl. zu Gesundheitsschäden in Kosko 2006, S. 48-59; Rüdiger Liedtke: »Die Vertreibung der Stille – Gefahren durch Lärm und laute Musik«, in: Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören (2006), S. 184-195; Truax 2001, S. 16. 48 Vgl. Hendy 2013; Peter Payer: »Vom Geräusch zum Lärm – Zur Geschichte des Hörens im 19. und frühen 20. Jahrhundert«, in: Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören (2006), S. 106-118; Schafer 1994 [1977], S. 214 ff. 49 Vgl. Alain Corbin: Les Cloches de la Terre. Paysage Sonore et Culture Sensible dans les Campagnes au XIXe Siècle, Paris 1994.

         



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Gesetz, von dem die Lautstärke-Höchstgrenzen in Dezibel vorgegeben werden, sondern ebenso werden sie durch soziokulturelle Prozesse bestimmt, in denen bezüglich der erwünschten Lautlichkeit im Idealfall miteinander verhandelt, im Normalfall aber wahrscheinlich einfach entschieden und gehandelt wird, bis Protest aufkommt. Neubauten von Flughäfen, Autobahnen, Schnellstraßen oder Eisenbahntrassen sind exemplarische Anlässe solcher Aushandlungen, die sich aber alltäglich ebenso ›im Kleinen‹, d. h. im komplexen nachbarschaftlichen und gemeinschaftlichen Miteinander vollziehen. In dieser Hinsicht betont Garret Keizer die negative Wirkmacht des ›Lärms‹ über das Unerwünschte oder Unerträgliche hinaus in ihrer sozial determinierten Untragbarkeit, welche die Verantwortung jedes Einzelnen und der Gemeinschaft für lautliche Ausgewogenheit und Balance herausfordert. »Noise, we could say, is the sound of the unsustainable.«50 Anhand verschiedener Beispiele des Theaters lässt sich auf die große Vielfalt der in einem breiten Spektrum von sehr auffälligen bis kaum merklichen Lautlichkeiten einzuordnenden Hörweisen hinweisen und die mit ihnen jeweils verbundenen Dynamiken auditiver Aufmerksamkeit erörtern. Die Zuschreibungen von und Bewertungen als ›un-/bedeutsam‹ stehen mit kulturell je besonderen Kriterien in Verbindung, die im Rahmen der jeweils geltenden Wertmaßstäbe über die Relevanz entscheiden und zu hierarchisierten Differenzierungen zwischen Bedeutsamem, weniger Bedeutendem und Unbedeutendem führen. In diesen Wahrnehmungsprozessen sind kulturell konventionalisierte und individuell habitualisierte Hierarchien des Bemerkens am Wirken, die das Hören auf spezifische und von den hörenden Subjekten nicht bewusst kontrollierbare Weise formieren.51 Das Verhältnis zwischen Aufmerken und Hinhören, das zuvor in Bezug auf die Erfahrung des Atemgeräuschs in Die Fruchtfliege hinsichtlich seiner affektiven Wirkungsweise aufgegriffen wurde, ist im vorliegenden Kontext demnach ebenfalls relevant, wird aber noch gesteigert, da die folgenden Beispiele auch solche Affektionsprozesse aufzeigen, in denen sich die Anziehung, Zentrierung und Lenkung der Aufmerksamkeit unabhängig vom oder gar gegen den Willen der Hörenden ereignen kann. Im übersteigerten oder unterlaufenen Aufgreifen der auf- und abwertenden Bestimmungen lassen sich – die anarchisch-außerordentliche Dimension von Geräuschen und noise produktiv machend – Ordnungen durcheinanderbringen und Bewertungen aushebeln. Darin weisen die künstlerischen Arbeiten auf Zusammenhänge hin, die innerhalb der traditonellen Ordnungen und Konzeptionen des Hörens nicht wahrnehmbar sind, und sie tun dies vor allem wenn sich in ihnen paradoxal

50 Garret Keizer: The Unwanted Sound of Everything We Want: A Book about Noise, New York 2010, S. 30. 51 Vgl. Søren Møller Sørensen: »Sound without Properties? German 19th Century Discourses on the Parametrical Hierarchy« (2007), S. 52.

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wirkende Verbindungen von Fülle und Leere als höchst wirkungsvoll manifestieren. Zu Beginn werden solche Lautlichkeiten aufgezeigt, in denen Geräusche, Klänge und Sounds im Gehört-Werden in den Vordergrund treten und in dieser Hinsicht als Signale gedeutet werden können. Zugleich erfüllen sie vorrangig keine informative, kommunikative Funktion, sondern affizieren die Hörenden leiblich wie emotional und bewirken Weisen des spektakulären Hörens, die sich durch spezielle Kontraste zwischen Anziehung und Abstoßung auszeichnen. Anschließend werden andere Arten des Umgangs mit Auffälligkeit von Lautlichkeiten oder lautlichen Komponenten angeführt, um auf die Vielfalt der möglichen Arten von Verhandlung, Ausstellung und des Erfahrbar-Machens einzugehen. Zugleich ist anzumerken, dass auch in all diesen Formen doch zumeist noch eine einzelne Hierarchisierung unangetastet bleibt, die für das Verständnis von ›Aufführung‹ grundlegend ist, da ihr entsprechend Elemente als ›wesentlich‹ vom unwichtigen ›Rand‹ differenziert werden. So gelten Publikumsgeräusche während des Einlasses sowie während der Aufführung, Geräusche von außerhalb des Theatergebäudes wie Alarmsirenen, Donnergrollen o. Ä. und der Applaus nach wie vor häufig als ›Störungen‹, solche Einschätzungen werden bislang kaum hinterfragt. Meines Erachtens sind sie aber in ihrem Erklingen während der Aufführung zumindest als Komponente der Lautlichkeit zu thematisieren, wenn nicht im Zuge von Aufmerksamkeitsdynamiken gar zu analysieren. Sie können als Indikator bestimmter Aufmerksamkeitsdynamiken interpretiert und daher im Rahmen der subjektiv geprägten Höranalysen zu Erweiterungen durch Beobachtungen der Publikumsreaktionen führen.52

                 

    Bewegen sich Schauspieler*innen über die Bühne, so entstehen zumeist Geräusche. Sie sind akzeptierte Begleiterscheinungen des Bühnengeschehens und zeugen von der Bühnendynamik, da sie lauter oder leiser zu hören sind, wenn die Bewegungen schneller oder langsamer ausgeführt werden, was je nach Bühnensituation variiert.

52 Ich orientiere mich an Ross Browns Forderung, die Publikumsgeräusche nicht mehr als ›Störung‹, sondern als wesentlichen Bestandteil der Lautlichkeit einer Aufführung, der theatre soundscape, aufzufassen. Vgl. Ross Brown: »The Theatre Soundscape and the End of Noise«, in: Performance Research 10 (4) 2005 (On Technē), S. 105-117, hier S. 117; Marie-Madeleine Mervant-Roux hat in einer Vielzahl von Aufführungen den Geräuschpegel gemessen und auf dieser Basis bestimmte auditive Dynamiken beschrieben. Vgl. Marie-Madeleine Mervant-Roux: L’Assise du théâtre. Pour une étude du spectateur, Paris 1998.

         



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Diese Art der Geräusche wird vorwiegend unbewusst registriert, da sie dem alltäglichen Hören und einem allgemeinen Verständnis davon, was ›Realität‹ ist und wie sie klingt, entspricht. Wenn Sophie Rois sich während der Aufführung von Die Zofen von der Bühnenrampe zu dem im Hintergrund der Bühne aufgestellten Kleiderschrank bewegt, dann erzeugt sie dadurch Geräusche, die je nach Bewegungstempo und -weise variieren und Informationen über die Dynamik der gehörten Prozesse enthalten – wesentliche Unterschiede ergeben sich dabei im Hören je nachdem, ob sie läuft, marschiert, aufstampft, hüpft, trippelt, schreitet, geht, gleitet o. Ä. Über diesen auditiv rezipierbaren Energiepegel wirken die Geräusche an der Stimmung und der Bedeutung einzelner Handlungen der Aufführung mit. So können sie bei einer übertriebenen Ausführung der Bewegungen – z. B. wenn Rois in Ein Chor irrt sich gewaltig wild stampfend nach vorne an die Rampe prescht – situationskomische Wirkungen unterstützen oder durch die ihnen zugewiesenen kulturellen Konnotationen an der Bedeutung einzelner Szenen beteiligt sein, beispielsweise durch das während der Aufführung von Mozarts Die Hochzeit des Figaro in der Regie von Barrie Kosky (2005, Komische Oper Berlin) für einige Sekunden ertönende Handy in der Hand des Grafen Almaviva (Dominik Köninger), das dem Publikum diverse Hinweise auf die Verortung der dargestellten Handlung in zeitlicher, räumlicher und kultureller Hinsicht vermittelt. Auch können Geräusche durch vielfältige Lauterzeugungsweisen hervorgebracht und mit dem Bühnengeschehen synchronisiert werden. Auf diese Weise lässt sich Lautlichkeit unabhängig von der visuellen Ebene gestalten bzw. über diese Dimension bestimmte Akzente setzen. Solch eine Verwendung von Geräuschen steht im Gegensatz zu einem Theaterverständnis, nach dem Geräusche als illustrative, aber mithin überflüssige Ausschmückung der Aufführung abgewertet werden. Nach dieser Auffassung dienen Geräusche nur zur Verstärkung der realistischen Illusion und verdeutlichen z. B. die Wetterlage durch Donnergrollen und Regenprasseln oder lassen alltäglich-konventionelle Lautsignale zu Gehör kommen. In Frank Napiers Übersicht der hervorzubringenden Geräusche werden die Kategorien von Haushalts-, Maschinen-, Natur-, Tier-, Kriegsgeräuschen sowie Sonstige angegeben, darunter ein Sammelsurium aus Hörnern, Sirenen, Glocken, umfallenden Bäumen, Fußschritten, Varianten des Knarzens und Quietschens sowie dem berühmten Klang der reißenden Saite in Anton Tschechows Der Kirschgarten – der, wie Napier unterstreicht, für die Kunst der Geräuschemacherei eine große Herausforderung darstellt. Aufgrund der ihnen zugewiesenen Funktionalität werden diese Geräusche zumeist hinsichtlich der in ihnen manifest werdenden Lautquelle gehört. Überhört wird dann ihr spezifischer Klang, denn worauf geachtet wird, sind nicht die einzelnen Komponenten dieser Klanglichkeit, sondern das von ihnen Angezeigte – sowohl die Lautquelle als auch die soziokulturelle Bedeutung des Gehörten. Tatsächlich aber wurden manche der Geräuscheffekte vom Publikum als so

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spektakulär empfunden, dass von Seiten der entsprechenden Handbücher für Geräuschemacherei und Theater-Sound Design davor gewarnt wurde, nicht die Aufmerksamkeit des Publikums vom ›Eigentlichen‹ der Aufführung – also der Dramenhandlung und ihrer realistischen Darstellung auf der Bühne – abzuziehen und auf ›Unwesentliches‹ zu lenken. Auffällig an der Liste der aufgezählten Geräuscheffekte ist der in Tschechows Dramentext vorgegebene Klang der reißenden Saite, da er keine realistische Einbindung auf der Handlungsebene ermöglicht und kaum illustrativ wirksam ist. 53 Vielmehr fungiert er als Störung und Einbruch in die dargestellte Welt: Er ist keiner Lautquelle zuzuordnen und führt aus diesem Grund zu Irritation unter den Hörenden – sowohl auf der Bühne als auch im Zuschauerraum. Seine besondere Klanglichkeit wird vernommen, nicht die von ihm repräsentierte Bedeutung, und aufgrund der Unbestimmbarkeit dieses Klangs lässt er sich dem Nicht-Menschlichen, Übersinnlichen, Animalischen oder Unheimlichen zuordnen. Es ist der Einbruch einer unbekannten Ordnung, vielleicht auch einer ›Nicht-Ordnung‹, die sich durch ihn vollzieht und das Gewohnte durcheinanderbringt. Im Verlauf des vorliegenden Kapitels wird sich zeigen, dass diese Dimensionen von besonderer Bedeutung für die Theoretisierung von Geräuschen im Kontext der Sound Art Theory, den Sound Studies und der Acoustic Ecology sind, insofern ihnen häufig eine ›übersinnlich‹ scheinende Verbindung mit physikalischen Prozessen der vibrierend sich vollziehenden Materiekonstitution, ungebändigte Wild- und Rohheit sowie eine dem Geisterhaften verwandte Halbpräsenz, in der die Absenz von gleichwertiger oder fast übergeordneter Relevanz ist, zugeschrieben werden. Im Verlauf des Kapitels werden diese drei Punkte – Materialisierung, Anarchie, Halbpräsenz – an verschiedenen Stellen aufgegriffen und näher erörtert. Im Theater ist ein breites Spektrum verschiedener Umgangsweisen mit Geräuschen und dem Geräuschhaften aufzufinden. Abweichend von den historischen Hierarchisierungen werden sie häufig aufgewertet und als eines der wesentlichen Elemente der Aufführung eingesetzt. So wird an den Stimmen der Schauspieler*innen, die sonst Träger der in der traditonellen Aufführungshierarchie vorrangigen Sprache sind, das Geräuschhafte betont, indem sie als Klangmaterial genutzt, durch Microports oder Mikrofone aufgezeichnet, reproduziert, verfremdet, verzerrt, übersteigert oder in einen Flüsterton versetzt wer-

53 Vgl. Frank Napier: Noises Off. A Handbook of Sound Effects, 3. Aufl., London 1948 [1936], S. vii-x und S. 85 f. Vgl. Anton Tschechow: Der Kirschgarten, Stuttgart 1984, S. 40: »Alle sitzen reglos, in Gedanken versunken. Stille. Man hört nur, daß Firs leise vor sich hinbrabbelt. Plötzlich ertönt von weither ein Laut, der vom Himmel zu kommen scheint: der Laut einer zerspringenden Saite, verklingend, traurig.« Der Klang ist zweimal zu hören, im 2. Akt und noch einmal im 4. Akt.

         



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den.54 Auch verschiedene Gegenstände und die Körper der Darstellenden werden als geräuscherzeugende Mittel verwendet, wie beispielsweise die Fitnessräder in Katie Mitchells Atmen (2013, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin), die rauschenden Lautsprecher in Christoph Marthalers Glaube Liebe Hoffnung (2012, Wiener Festwochen) oder das Beatboxing in Jette Steckels Othello-Inszenierung (2009, Deutsches Theater Berlin). Es werden Hörweisen ermöglicht, die konträr zu einem alltäglichen, aber auch durch Hörordnungen habitualisierten Umgang mit Geräuschen als nicht-klanglichen Phänomenen stehen. Unterschiede zwischen den Hörweisen ergeben sich über die mit den Geräuschen jeweils konnotierten Bedeutungen sowie die bewirkten Effekte, d. h. über die Art der Ausstellung, womit nicht die Weise der technisch bewirkten Modifikation gemeint ist, da in vielen Aufführungen ein Mikrofon/Microport-Lautsprecher-System zur Verstärkung eingesetzt und auf diese Weise die Klanglichkeit der an sich nicht sehr lauten Geräusche im Detail hörbar gemacht wird. Vielmehr beziehe ich mich auf eine besondere Dimension des Hörens, die sich durch den Begriff auditive Spektakularität im Sinne der Bedeutsamkeit und Faszination des Gehörten beschreiben lässt. Sie zeigt sich in der Wirkungsweise dieser Geräuschklanglichkeit, insbesondere in der Konstitution von Dynamiken des Timings sowie im durch zeitliche Dehnung, Steigerung der Lautstärke oder andere Weisen der Exposition markierten und akzentuierten artifiziellen und theatralen Charakter des Gehörten. In den nächsten Absätzen wird an Thomas Ostermeiers Inszenierung von Franz Xaver Kroetz’ Wunschkonzert aufgezeigt, wie gehörte Geräusche in ihrer Klanglichkeit erfahrbar werden.55 In der Aufführung erklingen die Geräusche durch die audiotechnische Verstärkung einerseits im Sinne der von Vito Pinto mit dem Begriff der akustischen Großaufnahme explizierten auditiven Wirkung einer stärkeren Nähe, Deutlichkeit und Eindringlichkeit des Gehörten. Dabei ist, wie Pinto mit Bezug auf Walter Benjamin betont, dieser Vorgang nicht einfach als Intensivierung des ohnehin Hörbaren, sondern vielmehr als grundlegende Transformation und Produktion des Erklingenden einzuschätzen.56 Meines Erachtens erklingen die Geräu-

54 Zur Wirksamkeit der Stimmen vor allem über ihre Geräuschhaftigkeit, z. B. in Bezug auf Sophie Rois’ raue, markante Stimme, vgl. Jenny Schrödl: »Stimme und Emotion. Affektive Wirksamkeiten im postdramatischen Theater«, in: Forum Modernes Theater 24 (2) 2009, S. 169-182, sowie zur geräuschhaften Flüsterstimme dies.: »Schreiarien und Flüsterorgien. Stimmen als Oberflächenphänomene im Theater René Polleschs«, in: Hans Georg von Arburg (Hg.), Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater, Zürich 2007, S. 117-129. 55 Die Premiere von Wunschkonzert war am 07. Februar 2003 an der Schaubühne. 56 Vgl. Vito Pinto: Stimmen auf der Spur. Zur technischen Realisierung der Stimme in Theater, Hörspiel und Film, Bielefeld 2012, S. 25 und S. 46 ff.

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sche in Wunschkonzert trotz dieser auditiven Vergrößerung andererseits jedoch in einer paradox anmutenden auffälligen Nicht-Spektakularität – das heißt, sie werden gerade in ihrer Alltäglichkeit und Nicht-Besonderheit vorgeführt und in dieser Eigenart bedeutsam. Ich sitze im Parkett eines der Säle der Schaubühne und blicke auf die Innenräume einer voll möblierten Wohnung. Wohnzimmer, Küche und Bad sind deutlich erkennbar. Die Haustür ist verschlossen und führt zum Offstage-Bereich. Ein großes Fenster, hinter dem aufgrund einer Jalousie nichts zu erkennen ist, öffnet sich ebenfalls vom Wohnzimmer aus auf die Bühnenrückseite hin. Die Wohnung ist mit einfachen Sperrholz-Möbeln, Klappstühlen, einer kleinen Nischenküche hinter einem sie kaschierenden karierten Vorhang und dem winzigen Badezimmer funktional, reduziert und markant unauffällig gestaltet. Demgegenüber tritt eine in der peniblen Ordnung der wenigen Dinge enthaltene Leere markant hervor – nichts verrät, dass an diesem Ort ein Mensch seinen Alltag verbringt, hier lebt und dabei Dinge benutzt, die nach der Benutzung zumindest leicht schräg stehen würden. Die einzelnen sichtbaren Gegenstände stehen an einem – ›ihrem‹ – Platz, an dem sie wohl immer schon standen und auch immer stehen werden. Dann öffnet sich die Haustür und Fräulein Rasch, die Bewohnerin dieser Wohnung, kommt nach Hause, offenbar von der Arbeit. Nach sorgfältigem Aufhängen ihres beigen Mantels wechselt sie aus den Halb- in die Hausschuhe, bereitet sich ein kleines Abendessen – eine Scheibe Brot –, setzt sich auf die beige Couch, schaut etwas fern, steht auf und setzt sich an den Esstisch, hört Radio, schaltet das Radio aus und den Computer an und spielt damit eine Patience. Immer wenn sie etwas benutzt, rückt sie am Ende alles wieder so hin, wie es zuvor aussah, so dass es wirkt, als hätte sie nichts berührt. Der Tisch wird abgewischt, die benutzten Geschirr- und Besteckteile unmittelbar abgewaschen. Fräulein Rasch scheint es nicht zu ertragen, auch nur für einige Minuten Spuren ihrer Anwesenheit und Lebendigkeit zu sehen. In einer Szene gegen Ende der Aufführung, während im Radio-Wunschkonzert Herbert Grönemeyers Der Weg erklingt, geht Fräulein Rasch – für das Publikum sicht- und hörbar – auf die Toilette. Dabei gerät sie vollkommen aus der Fassung; in die Äußerungen körperlicher Anstrengung bei der Bewältigung offenbar starker Verdauungsprobleme – sie stöhnt, drückt und presst, bis ihr Gesicht rot anläuft – mischen sich Geräusche der Verzweiflung, ein tiefes, unbeherrschtes Schluchzen. Als schließlich die – körperliche – Erlösung kommt und über die Lautsprecher überdeutlich zu hören ist, wie ihre Fäkalien in die Toilette ›plumpsen‹, gibt sie ein lustvolles Stöhnen von sich, das unmittelbar durch eine penible Körper- und Toilettenreinigung unterbrochen wird. Die von Fräulein Rasch in ihrer Wohnung verursachten Geräusche – des TürAufschließens, des Abwaschens, Zähne-Putzens u. a. – sind teilweise sehr laut und nah zu hören. Es wirkt, als überschreiten sie die Grenze der vierten Wand, die sich visuell aus der frontalen Anordnung des Publikumsbereichs zur Bühne und durch

         



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die weitgehend realistische Ästhetik markiert. Einerseits werden die Geräusche in Wunschkonzert zwar illustrierend, da sie die auf der Bühne vollzogenen Handlungen realistisch unterstreichen, und tragen damit zu einer auf Repräsentation bezogenen Rezeption bei. Andererseits aber erscheinen die Geräsuche aufgrund ihrer starken audiotechnisch erzeugten Vergrößerung hyper-realistisch und stehen in einem Spannungsverhältnis zwischen ihrer Alltäglichkeit und ihrer technisch sowie durch die Wahrnehmungssituation im Rahmen der Aufführung erwirkten Spektakularität. Außer den von Fräulein Rasch mit ihren Bewegungen und Handlungen ausgelösten Geräuschen kommt – geräuschhaft – nichts zu Gehör. Gesprochen wird, bis auf die nur mühsam verständlichen Äußerungen des Radiomoderators der Wunschkonzert-Sendung, kein Wort. Jenseits der ›Toiletten‹-Szene sind nur hier und da leise Geräusche des Räusperns, Seufzens oder Stöhnens von Fräulein Rasch zu hören, z. B. wenn sie sich bückt und energisch einen im Vorbeigehen entdeckten Fleck von der Heizung reibt. Der Klang der Schritte auf dem Boden, das Klappern und Klirren des Geschirrs, das abgewaschen wird, das Plätschern des Wassers, das Knarren der geöffneten Schranktüren, das Klimpern des Schlüssels wird auf eine Weise vernommen, die weniger auf die betreffende Lautquelle gerichtet ist – zum einen, da diese aufgrund ihrer permanenten Sichtbarkeit kaum Fragen aufwirft und in diesem Sinne selbsterklärend ist, zum anderen, weil eine Aufmerksamkeitsdynamik provoziert wird, die zu einer Zentrierung der Geräuschklanglichkeit führt und die bewirkt, dass den Geräuschen zugehört bzw. gelauscht wird. Durch die audiotechnische Verstärkung der Geräusche über kleine in der Bühnenbild-Wohnung angebrachte Mikrofone findet eine Ausstellung dieser sonst überhörten Klanglichkeiten einzelner alltäglicher Geräusche statt. Thomas Ostermeier streicht in einem Interview das KlanglichKomponierte der Geräusche heraus: »[I]n Wunschkonzert ist jeder einzelne Gang, jedes Türzumachen, jedes Rücken von einem Gegenstand, das Klappern mit dem Geschirr beim Abwaschen – all diese Klänge, die durch Bewegung entstehen, sind komponiert. Sie sind nicht aufnotiert, denn ich versuche da intuitiv vorzugehen, aber ich habe – wie ich das nenne – eine Bewegungspartitur hergestellt, und die Schauspielerin, von der man denkt, die macht das einfach so, hält sich an das Gerüst dieser Klänge.«57

Doch trotz ihrer vollen Klanglichkeit entfalten die Geräusche in Wunschkonzert auditiv keine ›Fülle‹ – vielmehr ist ihre Klanglichkeit als hohl zu beschreiben, und

57 Thomas Ostermeier im Interview mit Gerburg Treusch-Dieter, »Formal das Alltägliche betonen«, in: Freitag am 31.10.2003, online unter https://www. freitag.de/autoren/derfreitag/formal-das-alltagliche-betonen, letzter Zugriff am 21.08.2015.

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zwar nicht im Sinne des auditiven Wahrnehmens eines erklingenden hohlen Gegenstands, sondern darin, dass an ihnen und gerade in ihrer deutlich hervorgehobenen Klanglichkeit Stille und Absenz hörbar wird. Nicht als absolute Stille – deren Existenzmöglichkeit ohnehin anzuzweifeln ist –, sondern als sich in der Relation zum Gehörten offenbarende Stille, an der hörbar wird, dass und inwiefern Geräusche und Stille in untrennbarer Verflechtung miteinander verbunden sind. Wie Susan Sontag zum Verhältnis zwischen Fülle und Leere betont, sind sie – im Sinne des Verhältnisses von Yin und Yang – als sich gegenseitig formgebend zu konzeptualisieren: »In order to perceive fullness, one must retain an acute sense of the emptiness which marks it off; conversely, in order to perceive emptiness, one must apprehend other zones of the world as full.«58 Nicht als jeweiliges Gegenteil zeigt sich dieses Miteinander, sondern als ein simultaner Gleichklang, der verstärkend wirken kann, insofern sie sich gegenseitig hervorheben. Stille wird durch die gehörten Geräusche nicht unhörbar, vielmehr manifestiert sie sich in und an ihnen. In diesem Sinne lässt sich das Hören in Wunschkonzert als eine auffällig werdende Nicht-Spektakularität und als (Nicht-) Stille-Hören auffassen. In dieser Hörweise lässt sich erfahren, wie im Theater – der Kunst der markanten Momente, des Staunens und des hervorhebenden Zeigens – auch Unauffälligkeit, Kaum-Merkliches, Überhörtes und Unbeachtetes gewichtig werden kann. Bedeutsam werden die Geräusche durch die Konstitution einer Atmosphäre der Einsamkeit, in der die auditive Aufmerksamkeit der Hörenden auf die Tatsache gelenkt wird, dass nur Geräusche zu hören sind, die allein Fräulein Rasch verursacht. Zwischen den Geräuschen und auf bestimmte Weise auch an ihnen wird eine dichte Stille hörbar, die manifestiert, dass keine andere Person anwesend ist. Indem die Hörenden dazu gebracht werden, den Geräuschen in ihrer spezifischen Klanglichkeit zuzuhören, wird ihnen eine Hörperspektive nahegelegt, die derjenigen Fräulein Raschs entspricht, insofern sie in ihrem Alleinsein die Laute anders – intensiver – hört, die ihr begegnen und die doch immer nur ihre eigene Präsenz anzeigen. Sowohl die Geräusche als auch die Stille markieren auditiv die Einsamkeit, der die Figur ausgeliefert ist. Dies kommt auch daran zu Gehör, dass immer wieder die gleichen Bewegungsfolgen und Gänge vollzogen werden und sich dadurch im Gehörten eine oftmalige Wiederholung von Sequenzen ergibt, was auf Erstarrung, Ordnung und auf die Ereignislosigkeit des Alltags von Fräulein Rasch hinweist. Dargestellt wird ein – zunächst scheinbar gewöhnlicher – Abend im Leben der Protagonistin, der aus eher unspektakulär alltäglichen Handlungen besteht. Die verschiedenen Bewegungen wirken routiniert, und mehr als das, eher zwanghaft sich wiederholend. Immer wieder folgt sie denselben ›Pfaden‹ innerhalb der kleinen Wohnung. Die Bewegungen verraten auch kleine Ticks – ständig wiederholt sie das

58 Vgl. Sontag: »The Aesthetics of Silence« (2009 [1966]), S. 10.

         



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leichte Bücken und die Berührung des Heizkörpers, wenn sie an der Heizung vorbeikommt. Offensichtlich ist diese einstmals funktionale Bewegung zur Prüfung der Temperatur, möglicherweise um den Verbrauch zu kontrollieren, zu einer leeren Geste geworden, die nun primär von dem ihr inhärenten Automatismus zeugt. Gegenüber der Einschätzung, dass Geräusche mit Lebendigkeit und menschlicher Gemeinschaft zusammenhängen, bewirkt die Hörweise in Wunschkonzert eine geradezu gegenteilige Bedeutung. Denn diese Lautlichkeit deutet auf Isoliertheit und – insofern es sich bei dem miterlebten Abend von Fräulein Rasch um ihren letzten handelt, an dessen Ende sie sich das Leben nehmen wird – auch auf Verzweiflung, Sterblichkeit und den Tod hin. Ablenkung von den selbst verursachten Geräuschen – und der damit einhergehenden Echowirkung der eigenen Einsamkeit – scheint Fräulein Rasch im Erklingen von Musik zu finden. Immer wieder ist daher im Verlauf der Aufführung Musik zu hören – so schaltet sie das ›Wunschkonzert‹ im Radio oder den Fernseher an und wieder aus und lauscht versunken den traurigen Klängen einer Spieluhr, bricht es dann aber plötzlich ab und lässt das kleine Gerät mit einem lauten Knall zuklappen. In der Musik verorten sich Fräulein Raschs Sehnsuchtsräume, was sich vor allem in der Art zeigt, wie sie der Spieluhr und der Opernsängerin lauscht: hingewandt, in Gedanken versunken, für kurze Momente in ihrer Unruhe innehaltend, doch zugleich auch mit einem Anflug von Scham darüber, sich diese kurzen gefühlsbetonten Ausflüchte aus der von Pflichten des Haushalts und der Körperpflege durchsetzten, in ihrer penibel strukturierten Ordentlichkeit überschau- und kontrollierbaren Umgebung zu leisten. Dieses Gefühl manifestiert sich im Zuschlagen der Spieluhr ebenso wie in der leichten Verlegenheit bei der Begegnung mit der Sängerin, die sich in der Körperhaltung Tismers zwischen Staunen und Ratlosigkeit ausdrückt. Vielmehr erklingt häufiger auch Musik. Zwei Szenen sind diesbezüglich besonders herauszustellen, da deren Art der Darstellung und der Musikverwendung – wie die zerspringende Saite in Tschechows Der Kirschgarten – als fremde Elemente ›störend‹ in die bisherige Ordnung einbrechen. In der ersten der beiden Szenen sitzt Fräulein Rasch am Computer und spielt Solitaire. Das Klicken der Maus ist leise zu hören, und der Song Sex Bomb von Tom Jones erklingt aus dem Radio. Während einer längeren Phase geschieht nichts weiter – das Publikum kann den Bildschirm des Computers sehen und aus der Distanz mehr oder weniger gut beobachten, wie Fräulein Rasch einzelne Kartensymbole verschiebt. Als der Song endet, weicht das Verhalten Fräulein Raschs nicht von der bisherigen Handlung ab, doch die Sounds aus dem Radio verändern sich grundlegend – anstatt des Moderators oder eines weiteren Popsongs sind plötzlich Klänge einer vollkommen anderen Art zu hören. Die Instrumentation zeigt einen Wechsel des Genres an, da nun mit langgezogenen Tönen von Klavier, Streichern und Bass

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eine der klassischen Musik zugehörige Klanglichkeit erzeugt wird und die Art der emotionsgeladen-melancholischen Melodie wie ein Film-Soundtrack klingt. Zu den über längere Zeit wiederholten musikalischen Sequenzen verdunkelt sich die Bühne langsam, was zunächst eher unmerklich war und erst auffällig wird, als die Bühne bereits im Halbdunkel liegt. Noch leuchten einzelne Lichtquellen – die Neonröhre über der Spüle, der Computerbildschirm, das kleine Radiodisplay, eine Wandleuchte im Bad und das jalousienverdeckte Fenster, durch das der Mondschein blaues Licht zu werfen scheint. Schließlich lassen sich keine Umrisse mehr erkennen, und auch die vorherigen einzelnen Lichtquellen gehen nacheinander langsam aus – einzig der Computerbildschirm mit dem Solitaire-Spiel leuchtet weiter, während die restliche Bühne in Dunkelheit getaucht wird. Zeitgleich nimmt die Lautstärke der traurig-dramatischen Musik zu, ihre Klanglichkeit wird raumfüllend und dehnt sich von der zunächst auditiv noch eindeutig zu lokalisierenden Lautquelle des Radios im gesamten Raum zwischen Bühne und Zuschauerraum aus. Für eine längere Phase bleibt die Situation unverändert – die dunkle Bühne mit dem einzelnen Lichtschein des Computerbildschirms und dazu, für uns Zuschauer*innen nun ganz nah und laut zu hören, die melancholischen Streicher- und Klavierklänge. In der zweiten ähnlich tagtraumähnlichen Szene erscheint eine Opernsängerin hinter dem Fenster und intoniert die Arie Quando me’n vo aus Gicaomo Puccinis La Bohème – wieder erfüllen Musik und Gesang den gesamten Theaterraum.59 In der Arie erzählt das lyrische Ich von dem Begehren, das ihr von diversen männlichen Verehrern entgegengebracht wird.60 In der Arie beschreibt das lyrische Ich die mit der eigenen Schönheit verbundenen Vorgänge des Auffällig-, Beachtet- und Nicht-Übersehen-Werdens. Diese Art der Spektakularität wird demnach mit Aufmerksamkeitsökonomien entlang kulturell geprägter Maßstäbe von ›Attraktivität‹ begründet, nach denen die begehrende Beachtung verteilt wird. In diesen beiden Szenen verhält sich Fräulein Rasch ambivalent zu den Perspektivverschiebungen, denn während sie in der ersten Verdunklungs- und Musikszene die Veränderungen nicht zu bemerken scheint und weiterhin mit dem Kartenspiel der Patience beschäftigt ist, vollzieht sich der Einbruch ihrer Sehnsuchtswelt beim zweiten Mal auf eine andere Weise. Denn nun hört sie die gesungene Arie offenbar. Über ihre Körperhaltung – der Sängerin zugewandt, still und regungslos,

59 Zuvor war die Musik aus der Richtung der jeweiligen Geräte gekommen und durch die jeweils typische Klanglichkeit gekennzeichnet. 60 Im 2. Akt der Oper La Bohème von Giacomo Puccini nach einem Libretto von Giuseppe Giacosa singt Musetta in der Arie Quando me’n vo, die auch als Musetta’s Walzer bekannt ist, davon, wie attraktiv und begehrt sie ist, um in der kurzen Zeitspanne der Abwesenheit ihres aktuellen Liebhabers beim vorherigen Geliebten, Marcello, Eifersucht auszulösen und ihn auf diese Weise zurückzugewinnen, womit sie schließlich Erfolg hat.

         



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den Kopf schräg haltend – vermittelt sie den Eindruck aufmerksamer zuhörender Hinwendung. Den musikalischen Klängen ist – ebenso wie den Geräuschen – eine Dimension von Stille inhärent, die sich an ihnen in der Vielfalt des Negativen manifestiert. Im Fernsehen läuft ein Kinderlied der ›Schlümpfe‹, das in seiner albernen Komik im Kontrast zur ernsthaften Wahrnehmungshaltung des Fräulein Rasch steht, im Radio-Wunschkonzert erscheint die durch die Ansagen des Moderators evozierte Anwesenheit anderer Personen entfernt und unerreichbar, was vor allem durch den blechernen, die eigene imperfekte Technizität ausstellenden Sound des kleinen Radios hervorgerufen wird. Die Songs – z. B. Leonard Cohens I’m Your Man oder Tom Jones’ Sex Bomb – sprechen möglicherweise Sehnsüchte Fräulein Raschs an, doch tritt in der Distanz zwischen den in den Lyrics zum Ausdruck gebrachten Gefühlen und der gelebten Alltagsrealität der Figur die Diskrepanz zwischen den Dimensionen von Traumwelt und Alltag nur umso stärker hervor. Fräulein Rasch findet in der Musik nicht die Erfüllung, die sie in ihrem rastlosen Hin und Her zu suchen scheint. Vielmehr erweisen sich alle möglichen Zufluchtsorte als leere Versprechen. Vor allem in der Opernszene verdeutlicht sich die entsprechende Dynamik der Auflösung, Zersetzung und Negation, wenn der Gesang an einem hohen Ton hängen bleibt, während sich die Bühne verdunkelt und dann das Gehörte mit leichtem Hall in der Stille verklingt und gleichzeitig das Gesehene in der eintretenden Finsternis verschwindet. In der Dunkelheit löst sich das Gesehene auf, in der Stille verliert sich der verheißungsvolle Klang der Arie. In den beiden zuvor näher ausgeführten Szenen vollzieht sich eine Art Zersetzung des visuell und auditiv Wahrnehmbaren durch Prozesse des stetigen, langsamen Zunehmens von Dunkelheit und einer Steigerung der Lautstärke und einer räumlichen Ausdehnung der gehörten Musik, die eine besondere und von der restlichen Musik und Geräuschhaftigkeit abgehobene Klanglichkeit aufweist. Während die Finsternis auf der Bühne das Sehen verunmöglicht, werden die Wahrnehmenden von der nun laut und nah klingenden Musik eingehüllt. Der Effekt dieser Veränderungen ist eine paradoxe Distanzierungs- und Einfühlungsbewegung, da diese Prozesse nicht auf der Handlungsebene stattfinden, sondern aus dieser Ordnung zu ›fallen‹ und in ihrer Besonderheit andere Zugangsweisen zum Wahrgenommenen zu ermöglichen scheinen. Die Unterschiede zwischen den beiden Weisen des Hereinbrechens der anderen Welt führt zu einem leicht abweichenden Perspektivwechsel in meiner Rezeption, da sich bei der ersten Verdunklung mit dem leuchtenden Computerbildschirm zunächst nicht unbedingt eine stärkere Nähe zu Fräulein Rasch einstellt, sondern durch die Art der Musik – stimmungserzeugend und dabei das Visuelle kommentierend – eher Gefühle der Distanzierung ausgelöst werden. Der leuchtende Bildschirm fungiert hier als Symbol der Einsamkeit inmitten einer alltäglich monotonen Welt, die mittels der Dunkelheit als leere Fülle manifest

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wird. Dies wird zudem durch das Ein-Personen-Spiel Solitaire, was ins Deutsche übersetzt so viel heißt wie ›Einzelgänger‹ oder ›Einsiedler‹, noch verstärkt. Andererseits erklingt dort eine Musik, der ich traurige, wehmütige, aber auch dramatisch-angespannte Stimmungen zuschreibe. In der Musikpsychologie wird u. a. die Beziehung zwischen Musik und Bedeutung analysiert und u. a. empirisch erforscht. 61 Es handelt sich somit um komplexe Lautlichkeiten, denen sich Bedeutungen im Sinne von Stimmungen, Assoziationen und leiblich-affektiven Empfindungen zuweisen lassen. In der Forschung wird der – auch in Wunschkonzert relevante – Zusammenhang zwischen der Moll-Tonart und dem auditiven Eindruck von Traurigkeit hervorgehoben.62 Die Art der Tonart erweist sich, wie Kate Hevner als ein zentrales Ergebnis ihrer experimentellen Untersuchungen zur Bedeutung von Musik angibt, als wesentlich den affektiven Charakter der Musik bestimmende Dimension. Sie wird mit »sadness, and with sentimental yearning, tender effects«63 verbunden. Demgegenüber zeigte sich in ihren Studien, dass die anderen untersuchten Dimensionen von Rhythmus, Harmonie oder ab- und aufsteigendem Melodieverlauf weniger bis nahezu irrelevant waren. In Verbindung mit dem Begriff des Musikverstehens wird in der Musikpsychologie und -theorie diskutiert, wie sich die Rezeption von Musik in Bezug auf die an ihr erfahrbaren Arten des Bedeutens verhält. Von Sprache unterschieden, aber ähnlichen Prinzipien folgend scheint Musik eine eigene Art des Verstehens zu evozieren, die Alexander Becker als Nachvollzug im Rahmen einer sich hineinversetzenden Simulation darstellt. »Wer ein Musikstück nachvollzieht, macht durch sein eigenes Tun wiederum eine Erfahrung. Es ist zwar die Wiederholung einer anderen Erfahrung, aber diese Wiederholung ist eine

61 Kate Hevner hat in den 1930er Jahren grundlegende experimentelle Forschungen zur Wahrnehmung bzw. Zuschreibung von musikalischen Bedeutungen durchgeführt und fasst diese mit dem Begriff der suggestiveness, der mit Angebothaftigkeit zu übersetzen ist. Des Weiteren spricht sie vom Symbolismus der Musik. Vgl. Kate Hevner: »Elements of Expression in Music«, in: The American Journal of Psychology 48 (2) 1936, S. 246268, hier S. 247. In ihren Experimenten hat sie zwei Gruppen – musikalisch vorgebildete Personen und Personen ohne Vorbildung – Musikbeispiele vorgespielt und sie aus einer vorgefertigten Liste von 66 Adjektiven in vierzehn Kategorien auswählen lassen, welche der Adjektive das Gehörte am besten beschreiben. Ein Ergebnis ihrer Studien war, dass beide Gruppen in ihren Zuschreibungen keine großen Unterschiede aufwiesen. Eingesetzt hat sie Musikwerke von Claude Debussy, Felix Mendelssohn-Bartholdy (Scherzo aus der Schauspielmusik für Sommernachtstraum), Wagner u. v. a. 62 Ebd., S. 248. 63 Ebd., S. 264.

         



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gegenwärtige Erfahrung.«64 Das Verstehen im Sinne des Nachvollziehens beruht vor allem auf der Wirkung der Musik, die sich aus ihren verschiedenen strukturellen Bezügen und dynamischen Unterschieden ergibt. Jenseits von sprachlichen Zeichen erweist sich damit Musik zwar ebenfalls als Bedeutungsträgerin, doch bewirkt sie ein anderes Verstehen als die mit Sprache verbundenen Prozesse der Informationsübertragung und Kommunikation. Die Prozesse der Verdunklung und die raumgreifende Musik, welche die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum überschreiten, ermöglichen es, dass das Publikum der Figur sehr nah kommt, insofern ihre Gefühlswelt in diesen Szenen nicht mehr äußerlich betrachtbar, sondern durch die Dunkelheit und die traurig gestimmte Musik evoziert und spürbar wird. Die Musik aus dem Radio, die noch der Inzidenzmusik im Sinne des handlungszugehörigen und für die Figuren hörbaren Realitätszitats angehörte, verändert sich durch die Zunahme der Lautstärke und vor allem durch die räumlich erzeugte Nähe zum Publikum mittels der Verlagerung der Musik auf die Lautsprecher im Zuschauerraum in den Bereich der Inzidenzmusik im Sinne der Heraushebung einzelner Szenen, denen auf diese Weise ein anderer Modus von ›Realität‹ zugewiesen wird. Wie Detlef Altenburg darstellt, liegt eine Funktion der von der Rahmenmusik zu unterscheidenden Inzidenzmusik darin, »im Spiel eine eigene, durch die Musik charakterisierte Sphäre zu schaffen«65. Besonders der Übergang in Welten des Traums oder des Übernatürlichen wird durch diese Art der Schauspielmusik markiert, was sich auf die Musik in dieser Szene von Wunschkonzert beziehen lässt, insofern die Zuschauenden durch sie nun in die Traum- und Gefühlswelt Fräulein Raschs hineingezogen werden. Im Gegensatz zu den Traumsequenzen kommt es in der Toiletten-Szene zu einem Einbruch vermeintlicher Realität – als negative Störung im Zusammenhang von noise –, die sich weniger in Anne Tismers betonter und fast übertriebener, aber nie ironischer Darstellungsweise manifestiert, als vielmehr in dem Tabubruch, der mit dem Zu-Gehör-Geben der sonst ins Private verbannten Geräusche vollzogen wird. Deutlich zeigt sich daran eine kulturell geprägte Ordnungsstruktur von solchen Geräuschen, die zu hören sein dürfen und solchen, die aus diesem legitimen Bereich verbannt sind, weil sie die Grenze des historisch und kulturell geprägten ›Anstands‹ verletzen – die Diskussion um das Stöhnen der Tennisspielerin Monica Seles ist ein Beispiel für solche soziokulturellen Ordnungen des auditiv ›Zumutbaren‹. Es zeigt sich in Wunschkonzert die besondere Kraft derjenigen Laute, die als nicht-zuhörbar markiert und aus dem Bereich des aufmerksam Zu-Hörenden

64 Alexander Becker: »Paradox des Musikverstehens«, in: Musik & Ästhetik 56/2010, S. 525, hier S. 15. 65 Detlef Altenburg/Lorenz Jensen, »Schauspielmusik«, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil 8, Kassel 1998, Sp. 1035–1049, hier Sp. 1038.

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ausgeschlossen werden. Hörbar sind hier sowohl Stille als eine leere Fülle als auch noise im Sinne eines störungsähnlichen Einbruchs, der bewirkt, dass in der Durchkreuzung bestehender Ordnungen diese gerade ausgestellt und zu Bewusstsein gebracht werden. Auf andere Weise war ein solches In-Erscheinung-Treten von Ordnungen und kulturell bedingten Idealen eines konventionell nach dem Grad von ›Zumutbarkeit‹ regulierten Zuhörbaren in Lynn Pooks und Julien Clauss’ audio-taktilem Konzert STiMULiNE zu erfahren, was im Folgenden erörtert wird.66

                Die performative Soundinstallation STiMULiNE beginnt bereits im Vorraum zum eigentlichen Aufführungsort im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, als vor dem Saal zunächst Jacken und Taschen abzulegen, Schuhe auszuziehen sowie Schutzüberzieher an die Füße anzulegen sind. Nach einigen gespannten Momenten des Wartens wird die überschaubare Gruppe der Teilnehmer*innen in den knapp dreißig Quadratmeter großen, im Halbdunkel liegenden, kahlwandigen und kubusförmigen Saal eingelassen. Mir fällt sofort die in ihrer Funktion unklare, eimerförmige Konstruktion in der Mitte des Raums auf, von wo Kabel ausgehen, die zu den sternförmig arrangierten Matten zulaufen. Zudem registriere ich unmittelbar darauf ein den Raum auf einer Seite abgrenzendes und visuell dominierendes längliches Pult, an dem sich ebenfalls viele Kabel befinden und worauf Computerbildschirme sowie eine Reihe weiterer technischer Geräte positioniert sind. Von den Geräten geht ein heller Lichtschein aus, der über die materielle Präsenz des Pults hinaus verstärkt auf die Relevanz dieses Ortes und seiner Funktion im Rahmen des kommenden Ereignisses hinzudeuten scheint. Mit der Hilfe der Künstler*innen und einer kleinen Gruppe von Assistent*innen ist nun ein komplexes, den ganzen Körper einfassendes Kabel- und Gurte-Kostüm anzulegen, das an mehreren Stellen auf dem Körper, z. B. an den Füßen, Händen, am Kopf und auf der Brust, durch Gummipfropfen mit Minilautsprechern direkt auf der Haut der Teilnehmenden befestigt wird. Die Kabel führen direkt von mir zu dem zentral platzierten kleinen Sammelpunkt und werden von dort aus weiter in Richtung des Pultes geleitet. Dann wird mir der ›Ausstieg‹ erklärt, der zwar möglich, aber weder ganz unkompliziert noch ungefährlich ist, insofern Knöpfe mit Warnaufdruck in einer strikt festgelegten Reihenfolge zu drücken sind, um den Stromkreislauf gefahrlos zu unterbrechen und damit die Performance für die Betreffenden zu beenden. Schließlich sind die Ohren noch mit

66 STiMULiNE war bei der clubtransmediale im Januar 2009 im Haus Bethanien in Berlin zu erleben. Ich habe das Konzert in diesem Rahmen besucht.

         



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Ohrstöpseln zu verschließen, um das leibliche Spüren der Vibrationen gegenüber der auditiven Wahrnehmung der Geräusche im Raum zu verstärken. Auf der Matte platziert, blicke ich noch einmal nach links und rechts – auch die anderen Teilnehmenden liegen nun ganzkörperverkabelt auf den im Kreis arrangierten Matten –, dann erwartungsvoll zum Pult, an dem Lynn Pook und Julien Clauss sich hinter den Geräten aufgestellt haben, ihre Gesichter konzentriert aussehend im Schein der Bildschirme, schließlich an die kahle Decke im Schattenspiel der verschiedenen matten Lichtquellen im Raum. Dann setzt ›es‹ ein und gibt sich zunächst als ein sanftes Kribbeln an den mit Minilautsprechern versehenen Körperstellen zu spüren, dann im weiteren Verlauf des Geschehens in Intensität modifiziert und auch in der Form variabel – mal ist das Gespürte sehr deutlich verortbar, am linken Fuß oder an der rechten Kopfhälfte, mal hingegen ist es aufgrund seiner Dynamik auch kaum zu lokalisieren, sondern zieht sich in spielerischer Wellenform über mich hinweg bzw., genauer gesagt, durch meinen Körper hindurch, von den Füßen bis zum Kopf und zurück. Phasenweise ist es auch so, dass die Vibrationen kaum – und nur als eine Art ›Lufthauch‹ – zu spüren sind; dann wiederum steigert sich die Intensität des Gespürten zu einem stark auf meine Haut einwirkenden Beben. In diesen Phasen ist es trotz der Ohrstöpsel auch als Rauschen im Raum über die Ohren vernehmbar. Schließlich kulminiert diese Steigerung in einem für einige Momente höchst intensiven und an über die angestöpselten Stellen hinaus am ganzen Körper, besonders am gesamten Oberkörper, heftig spürbaren Druck, unter dem sich mein Brustkorb zusammenzuschieben scheint. Hervorgebracht werden leibliche Empfindungen von bedrängender Enge und einer immens dichten Materialität des Gespürten, das auf mir lastet wie ein schweres Gewicht, das ich durch eigene Körperkraft nicht bewegen kann. Um der Enge zu entkommen, öffne ich meine Augen und schaue an die Decke, so weit wie es geht, um mich der leiblichen Bedrängnis durch diesen in die Ferne strebenden Blick zu entziehen. Nach einiger mir ewig erscheinenden Zeit lässt der Druck nach und wandelt sich erneut in leichtere Vibrationen. Die geschilderten besonderen Hörerfahrungen werden durch die extreme Nähe zwischen den Lautquellen und den Körpern der Wahrnehmenden erzeugt. »The body becomes a resonance box with a spatialized diffusion.«67 In diesem Sinne lässt sich die Hörweise, die von STiMULiNE hervorgebracht wird, als Körper-Hören kennzeichnen. Die Körper der Hörenden werden über die elektronisch transportierten und verstärkten Laute direkt angegangen. Kein Abstand liegt zwischen den bis zu fünfzehn kleinen Lautsprechern und der Haut der Hörenden, die grundsätzlich an allen Hörprozessen, aber an diesen auf besonders intensive Weise involviert ist.

67 Lynn Pooks Ausführungen zum Audio-Taktilen von STiMULiNE auf ihrer Homepage online unter http://www.lynnpook.net/english/stimuline/readmore.html, letzter Zugriff am 21.08.2015.

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Über die Ohrstöpsel werden die Empfindungen für räumliche Ausdehnung und Weite eingeschränkt sowie die Aufmerksamkeit der Hörenden auf ihr Gespür ausgerichtet. Durch die Verdunklung des Raums werden visuelle Impulse weitgehend begrenzt, ohne dass das Erblicken der futuristisch anmutenden Aufbauten und der anderen Teilnehmenden vollkommen verhindert würde – und in seiner Wirkungsweise so auch eine Komponente der Aufführung darstellt. In der alle Teilnehmenden – sowohl die Lauterzeugenden als auch die Rezipierenden – einschließenden Verkabelung wird ein cyborg-artiges Mensch-MaschineNetzwerk kreiert, innerhalb dessen die einzelnen Hörenden zwar für sich isoliert hören, darin aber zugleich um die simultane Wahrnehmung der anderen Anwesenden und die direkte Beziehung zu den live performenden Musiker*innen Pook und Clauss wissen. »The link is visible and the network structure appears clearly. The connection of an individual to a complex system refers to the anticipation novel and the cyberpunk culture that treated it in various ways.«68 Das Visuelle ist Teil der Aufführungserfahrung; es ergänzt das Gehörte und Gespürte um eine fiktive Komponente, in der sich die Partizipierenden als Teil eines größeren Ganzen fühlen können – eine Dimension der Arbeit, die sich im Auditiven nicht vermittelt, da die anderen Anwesenden in ihren Reaktionen auf das körperlich gehörte Geschehen weder zu hören sind noch sich eine reziproke Beziehung zu den Lauterzeugenden herstellen lässt. Indem die Hörenden den Lauten auf extreme Weise ausgesetzt sind und sich dem Gehörten auditiv nicht entziehen können, werden in der Hörerfahrung von STiMULiNE solche Aspekte des Hörens verstärkt, die im Rahmen von wahrnehmungsphilosophischen wie kulturtheoretisch geprägten Sinnesdifferenzierungen und -hierarchisierungen meist zur Abwertung des Hörens, zu Warnungen vor seiner unkontrollierbaren Offenheit und zu Maßnahmen seiner bestmöglichen Kontrolle und Lenkung geführt haben. Demgegenüber bat sich mir während der intensiv bedrängenden Phase von STiMULiNE das Sehen in seiner distanzierenden Dimension als ›Ausweg‹ aus einer auditiv und leiblich höchst unangenehmen Situation an, womit wiederum auch diskursive Qualitätszuschreibungen und Bestimmungen aufgerufen werden, nach denen das Sehen traditionell als Sinn der Distanz und der kritischen Reflexion gilt. Gleichzeitig jedoch kehrt sich im Erleben dieses Lautgeschehens eine andere kulturelle Zuschreibung um – nicht im Auditiven, sondern im Visuellen ist die Verbindung in einer Art von Gemeinschaftlichkeit mit den anderen Anwesenden erfahrbar. Das auf der Homepage als ein ›audio-tactile concert‹ bezeichnete Geschehen von STiMULiNE betont die an der potentiellen Gemeinschaftserfahrung als ›Publikum‹ in Konzertsituationen immer mitwirkende visuelle

68 Lynn Pook im Interview mit Maxence Grugier von Digital Art & Innovation vom 10.05.2009, online unter http://www.digitalarti.com/blog/mcd/lynn_pook_julien_clauss_ audio_tactile_stimulations, letzter Zugriff am 21.08.2015.

         



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Dimension, die nicht allein distanzierend, sondern ebenso verbindend wirksam sein kann. Das Erblicken der anderen Teilnehmenden kann in der bedrängenden Situation beruhigend und gerade nicht isolierend wirken. Darüber hinaus werden durch die Ausstellung und Erfahrbar-Machung der Vibrationen auf der Haut Dimensionen des Musik-Hörens verstärkt, die sonst im Rahmen von Konzertsituationen zwar ebenfalls an der auditiven Wahrnehmung beteiligt sind, aber nicht in gleichem Maße bewusst wahrgenommen werden. Gemeint sind die haptisch spürbar werdenden und durch die Intensität sowie die Anlage der Aufführungssituation ins Bewusstsein gerückten Vibrationen auf der Haut, die sich in einer Vielfalt unterschiedlicher Weisen zu erleben geben. Auch bei einem ›regulären‹ Konzert schwingen die Körper der Hörenden mit. Das Ohr ist ein im Allgemeinen auf Vibrationsempfang und -verarbeitung angelegtes Organ.69 Doch stellt sich das ›Resonieren‹ in der Konzerterfahrung zumeist eher als ein metaphorisch beschreibbarer auditiver und affektiver Mitvollzug des Gehörten oder als Reaktion auf das Vernommene durch lautliches Feedback und Interaktionen – wie z. B. Klatschen, ›Bravo‹- oder ›Buh‹-Rufe o. Ä. – dar. In Pooks und Clauss’ Soundinstallation lässt sich hingegen sowohl die Einwirkung als auch die antwortende Reaktion auf das Gehörte im Sinne einer tatsächlich akustisch geprägten ›Resonanz‹ und eines Mitschwingens des eigenen Leibs erfahren, die sich auch darin von der metaphorisch gemeinten ›Resonanz‹ unterscheidet, dass sie keinesfalls subjektiv kontrollierbar ist. Die elektronische Anlage weist zwanzig verschiedene Kanäle für die genaue Modulation und lokal spezifische Steuerung der Laute auf den Körpern der Hörenden auf und stellt eine besondere von Julien Clauss spezialisierte Vorrichtung zur Austarierung feinster Mikrosound-Variationen dar. Pook und Clauss spielen in diesem Sinne über die Technologie auf den Körpern der Hörenden wie Instrumente, die über die Ganzkörper-Gurt-Kostüme von Sarah Veillon unmittelbar zugänglich sind. Unter den technischen Hilfsmitteln auf dem Pult der Musiker*innen findet sich auch eine mit Sensoren ausgestattete kleine Puppe, mit der sich die Laute mittels Berührung über die Körper der Teilnehmenden dirigieren lassen. Zudem erklingt während der Installation über vier Lautsprecher zeitweilig aus verschiedenen Richtungen im Raum noch ein tief klingender anhaltender Soundstrom, der primär leiblich, zudem aber über die verstöpselten Ohren wahrgenommen wird und als

69 Vgl. zu übersichtlichen Darstellungen der Physiologie und Akustik des Hörens in Technische Akustik. Grundlagen und Anwendungen, hg. v. Reinhard Lerch u. a., Berlin/Heidelberg 2009, S. 189-214, Manfred Spitzer: Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk, 8. Aufl., Stuttgart 2008, S. 49-80 und Stephen Handel: Listening. An Introduction to the Perception of Auditory Events, Cambridge, Ma./London 1989, S. 461 f.

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räumlich ausgedehnte Fundierung der sehr nah ›klingenden‹ Lautvibrationen fungiert. Dieser Bass-Soundstrom unterstreicht die zur Erscheinung kommenden leiblichen Empfindungen und führt zu einer Überlagerung von auditiven und leiblichen Aufmerksamkeitsdynamiken, insofern zugleich gehört und gespürt wird und das bewusste, zentrierte Bemerken des einen oder anderen zwischen beiden Wahrnehmungsprozessen oszilliert. Doch sind diese Bass-Sounds nur phasenweise sowie durch die verschlossenen Ohren weitgehend gedämpft hörbar. Aufgrund dieser spezifischen Hörsituation wird eine auditive Räumlichkeit in der Weise, wie sie sich in TRUST oder Kindertotenlieder erfahren lässt, in STiMULiNE nicht ermöglicht. Ausdehnung wird weder durch raumakustische Verhältnisse, die aufgrund der Ohrstöpsel in ihrer Wahrnehmbarkeit stark reduziert sind, noch durch klanglich sich ergebende Räumlichkeiten des Gehörten, wie sie in Bezug auf die Soundströme in TRUST und Kindertotenlieder beschrieben wurden, hervorgebracht. Weite, Ausdehnung oder Distanz sind keine Qualitäten des Gehörten im Rahmen dieser Aufführung. Vielmehr ist demgegenüber von einer anderen Art der Konstitution auditiver Wahrnehmungsgefüge auszugehen. Michel Serres stellt die grundsätzlich am Hören beteiligte haptisch-leibliche Dimension heraus: »Wir hören mit der Haut und den Füßen. [...] Unser mit Saiten bespannter Korpus umgibt sich mit einem globalen Trommelfell.«70 Über das Bild des ›globalen Trommelfells‹ lässt sich das Hören als ganzheitlicher Vorgang darstellen sowie durch die Metaphorik des ›Tanzes‹ mit Prozessen räumlicher Orientierung verbinden. »Der Körper steht und geht im Raum der Botschaften, er orientiert sich in Rauschen und Sinn, unter Rhythmen und Geräuschen. Er hört mit den Sohlen und über jene Stellen, an denen Muskeln, Sehnen und Knochen miteinander verbunden sind, und in jenem Bereich, wo das Innenohr in die Gleichgewichtsorgane übergeht, hängt die ganze Körperhaltung mit dem Gehör zusammen. Noch unsere geheimsten Gesten folgen den Tönen, wir tanzen.«71

Im ›Tanzen‹ manifestiert sich das körperliche Austarieren des Gleichgewichts und der Lage im Raum, welche die Hörenden im vibrierenden Mitschwingen vollziehen. Im Verlauf von STiMULiNE wird weder gestanden noch gegangen, so dass angenommen werden könnte, dass keine Orientierung im Raum notwendig wäre, doch auch in Situationen der körperlichen Immobilität, z. B. des Liegens, vollzieht sich eine vom Leib ausgehende Bestimmung der räumlichen Lage und Ausrichtung. Dabei wirken das Gleichgewichtsorgan und das Gehör mit visuellen sowie hapti-

70 Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt a.M. 1993 [Original: Les Cinq Sens. Philosophie des corpes mêlés, Paris 1985], S. 187. 71 Ebd.

         



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schen Wahrnehmungen zusammen und erzeugen die Empfindungen der räumlichleiblichen Verortung. Das in STiMULiNE erfahrene leibliche Spüren bringt im Rahmen dieser Prozesse ein spezifisch ›auditiv‹-leibliches Wahrnehmungsgefüge hervor, über das die rezipierten Laute in ihrer jeweiligen Beziehung zu den Hörenden und ihrer leiblichen Ausrichtung erfahren werden. Diese Erfahrung ist extrem, da sogar die – von dem Phänomenologen Daniel Schmicking in ihrer Relevanz für die leibliche Erfahrung unterstrichene – Differenzierung in Außen- und Innenbereich nicht mehr greift. Er konstatiert: »Laute tiefe Klänge füllen die gesamte auditive Nahsphäre des Hörers, aber auch hier findet eine Lokalisation statt. Solche Klänge ›ohne Richtung‹ werden als außerhalb des Leibs erzeugt und auf diesen von dort einwirkend apperzipiert.«72 Demnach wäre diese Lautlichkeit als extreme Eindringlichkeit einzuschätzen, was auch in Verbindung mit Jean-Luc Nancys Ausführungen zur Figur des ›Eindringlings‹ zu bringen ist: »L’intrus s’introduit de force, par surprise ou par ruse, en tout cas sans droit ni sans avoir été d’abord admis. Il faut qu’il y ait de l’intrus dans l’étranger, sans quoi il perd son étrangeté.«73 Doch gerade dieser Fremdheitscharakter, der die Laute als andrängende ›Eindringlinge‹ kennzeichnet, ist in STiMULiNE nicht mehr gegeben – es lässt sich meist nicht sagen, woher die gehört-gespürten Laute kommen. Wie Lynn Pook beschreibt, sind diese Laute so nah zu hör-/spüren, dass die Vibrationen eher wie körpereigene Empfindungen, z. B. wie intensives Erschauern oder Erbeben, wahrgenommen werden: »These sounds have no localization in space and are perceived like coming from inside the body.«74 Ihre Nähe ermöglicht weder Distanzierung und Abständigkeit noch Differenzierung, welche die Grundlagen eines räumlichen Gefüges auditiver Aufmerksamkeit darstellen. Dennoch kann ebenso nicht einfach von einer homogenen Lautlichkeit ausgegangen werden, denn die einzelnen Laute werden sehr verschieden und zumeist lokalisiert wahrgenommen. In Zusammenführung der zuvor erwähnten Faktoren, dass die Körper der Hörenden wie Instrumente bespielt werden und dass das leibliche Spüren eine wesentliche Komponente jeglicher Hörerfahrung sowie insbesondere des Hör-/Spürens in STiMULiNE darstellt, lässt sich auf eine spezifische Form ›auditiv‹-leiblicher Wahrnehmung hinweisen, die als Körper-Hören ein spezifisches attentionales Gefüge durch Verortung des Gehörten am eigenen Leib aufweist. Das zuvor ausschließlich als räumliche Weite gekennzeichnete auditive Gefüge ist hier auf die leibliche Ausgedehntheit zu übertragen, denn es wird primär an und in ihr empfunden. Damit findet eine Umverlagerung der Schwerpunkte statt – während in den in anderen alltäglichen oder künstlerischen

72 Schmicking 2003, S. 131. 73 Jean-Luc Nancy: L’Intrus, Paris 2010, S. 11. 74 Lynn Pooks Ausführungen zur taktilen Dimension von STiMULiNE online unter http:// www.lynnpook.net/english/stimuline/readmore.html, letzter Zugriff am 21.08.2015.

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Kontexten wahrzunehmenden auditiven Gefügen und Dynamiken vor allem die räumliche Ausdehnung und Verortung der Hörenden am Nullpunkt dieser Weite erfahren wird, vollzieht sich das Körper-Hören in STiMULiNE im Sinn eines auf Nähe, Dichte und Enge beruhenden Mikrokosmos an und im Leib der Hörenden, als Hören-am-Leib. Bezüglich dieser speziellen ›auditiv‹-leiblichen Hörweise sind zusätzliche Aspekte hervorzuheben, da die Hör-/Spürenden durch das lautliche Bespielt-Werden an ihrem Leib verschiedene Muster, Formen, Verläufe, singulär lokalisierte Hervorhebungen, Intensivierungen etc. wahrnehmen können. Diese Formen ergeben sich als räumliche Phänomene von spezifischer Ausdehnung oder Verdichtung, Schwere und Form. In ihnen zeigt sich neben dem Hören-am-Leib ein zweiter wesentlicher Aspekt des Körper-Hörens, der sich als Hör-/Spüren von Körpern bezeichnen lässt. Verdeutlichen lässt sich diese Dimension exemplarisch an der zuvor dargestellten Phase von STiMULiNE, in der sich das Gehört-Gespürte als immenser Druck und Schwere auf meinem Brustkorb auswirkte. Auf diese Weise wird die jeglichem Hörvorgang inhärente Plastizität über die Leiblichkeit des Hörens verstärkt wahrnehmbar. Dem vorherigen Kapitel ist demzufolge hinzuzufügen, dass die Plastizität des Hörens nicht allein im Vernehmen von räumlicher Weite, sondern wesentlich auch im Hör-/Spüren von Materialität, Voluminösität und Dichtegraden besteht, mit dem sich wiederum auditive Formen, Muster, Oberflächen oder Gewichte verbinden lassen. In der Theorie des Auditiven ist die Räumlichkeit des Hörens u. a. aufgrund der Studien von Jens Blauert mittlerweile anerkannt, doch wird sie zumeist als omnidirektionale Ausdehnung beschrieben. Anhand der Analyse der Hörerfahrungen in STiMULiNE lässt sich dieses Verständnis dahingehend erweitern, dass der Räumlichkeit des Hörens auch eine Materialität des Gehörten entspricht, die höchst unterschiedlich verfasst sein kann. Schwere oder dichte ›Laute‹ können sich durch ein auditiv-leiblich wahrnehmbares Herandrängen oder Herunterdrücken zu bemerken geben. Hier ist auf Ihdes Kritik zu rekurrieren, nach der voreilig und ausschließlich das Visuelle mit Objektwahrnehmung verbunden worden ist, ohne die sich im Auditiven ebenfalls ergebenden Qualitäten des Voluminösen, Dichten oder Schweren zu berücksichtigen.75 Lautliches wird in jenem Kontext als ›reiner‹ Klang gefasst, der durch Homogenität, Omnidirektionalität und Ungreifbarkeit gekennzeichnet ist. Im Gegensatz dazu beschreibt Ihde hörbare Formen, Oberflächen, Texturen, Konsistenzen und Hohlräume, deren Wahrnehmung sich im zeitlichen Verlauf und im Zusammenwirken mit dem leiblichen Gespür entfaltet. 76 Das Aufeinandertreffen von festen Objekten, verschieden dichten gasförmigen Stoffen oder unterschiedli-

75 Vgl. Ihde 2007, S. 59. 76 Vgl. ebd., S. 66.

         



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chen Druckverhältnissen in der Luft sowie die Einwirkung auf die Oberfläche von Flüssigkeiten sind auditiv differenzierbare Phänomene.77 Spürbar wird das Gehörte als Einschneidung, Schwere oder Druck, dem eine bestimmte ›Schärfe‹ oder Eindringlichkeit, ein spezifisches Gewicht oder eine besondere Intensität inhäriert. In der Phänomenologie wird schon länger auf die besonders starke Eindringlichkeit des Hörens hingewiesen. Ihde konstatiert dementsprechend: »Sound penetrates my awareness. As noise this penetrability may be shattering, ultimately even painful.«78 Schmitz spricht in diesem Sinne von der stechenden Eindringlichkeit von ›Lärm‹.79 Der Klangökologe William G. Gaver geht in seiner Theorie auditiver Ereigniswahrnehmung davon aus, dass ein gehörter Laut Aufschluss über eine Reihe verschiedener Faktoren gibt, genauer gesagt »about an interaction of materials at a location in an environment«80. Denn über die den gehörten Geräuschen zumeist unmittelbar assoziierten Lautquellen sowie räumliche Faktoren von Distanzen, Richtungen, Bewegungen und Orte hinaus vermittelt sich ebenfalls das in Vibrationen versetzte Material in seiner stofflichen Beschaffenheit, d. h. seinen mit diversen Aggregatzuständen verbundenen Dimensionen von Dichte, Spannung, Elastizität, Härte, Zähigkeit, Glätte oder Schwere, und zwar insbesondere über die zeitlich sich herausbildenden Muster. »For example, the regularity of a bouncing sound provides information about the symmetry of the bouncing object, and variations in the scraping sounds produced by filing might indicate the general configuration of the object being filed.«81 Basiert ist diese Art der Wahrnehmung auf einer ganzheitlichen, körperliche wie kognitive Prozesse einbeziehenden Form der menschlichen binauralen wie leiblichen ›Echo-Ortung‹, durch die sich im Hall-Effekt des Gehörten die Härte oder Elastizität sowie das Volumen der an der Lauterzeugung beteiligten Materialitäten erfassen lässt. Gerade der letzte Punkt ist von großer Bedeutung, insofern sich an ihm eine besondere Differenz zwischen Hören und Sehen manifestiert, »because with the hearing of interiors the auditory capacity of making present the invisible begins to stand out dramatically«82. Was Ihde damit hervorhebt, ist das auditive Vermögen, Materialitäten in ihren Aggregatzuständen und Formen zu erfassen und auf diese Weise in Verbindung mit einem spezifisch leiblichen Wissen um Härte-

77 Vgl. Gaver: »What in the World Do We Hear?« (1993), S. 9-13 zu soliden Objekten, S. 13-15 zu gasförmigen Stoffen und S. 15-17 zu flüssigen Stoffen. 78 Ihde 2007, S. 81. 79 Vgl. Schmitz 2008, S. 81. 80 Gaver: »What in the World Do We Hear?« (1993), S. 6; Bregman 1990, S. 10: »Acoustic information, therefore, tells us about physical ›happenings‹.« 81 Ebd., S. 23. 82 Ebd., S. 70.

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grade, Verdichtungen und Raumvolumina auch Eigenschaften der gehörten Gegenstände zu erkennen, die dem Sehen unzugänglich sind. Die Wahrnehmung des Unsichtbaren hängt daher mit dem Hören bzw. Spüren zusammen und wird häufig in diversen Hör- und Soundtheorien als besondere Qualität des Auditiven genannt, die sich auch in einer mit dem Unheimlichen assoziierten Erfahrungsweise äußern kann, wenn das Gehörte sich dem visuell Erschlossenen nicht adäquat zu deuten gibt. So charakterisiert Salomé Voegelin das Hören als geisterhaft, was sie mit der Fluidität und Formlosigkeit des Gehörten begründet. »Sounds are like ghosts. They slink around the visual object, moving in on it from all directions, forming its contours and content in a formless breeze. The spectre of sound unsettles the idea of visual stability and involves us as listeners in the production of an invisible world.«83

Dementsprechend stellt auch David Toop fest: »In many circumstances, sound and silence are uncanny.«84 Zu differenzieren ist, dass es sich um zwei verschiedene Arten der Materialität handelt, die zu Gehör kommen – zum einen wird mit Ihde und Gaver eine Dimension des Hörens kenntlich, in der über die spezifische Klanglichkeit der Geräusche vorrangig Prozesse der Reibung, Konfrontation und Einwirkung erfasst werden. Daran schließen Voegelins Ausführungen, die insbesondere auf das Verhältnis zwischen Hör- und Sichtbarem bezogen sind, an, doch geht ihre Einschätzung des möglichen Körper-Hörens noch darüber hinaus, indem sie auch von der Materialität der Klanglichkeit an sich spricht. Betont wird, dass das Gehörte eine – von den visuell wahrnehmbaren räumlichen Verhältnissen zwar beeinflusste, aber in ihrer Erscheinung zunächst unabhängige – eigene Form besitzt. Speziell bezogen auf Musik hatte Helmuth Plessner schon vor fast einem Jahrhundert bereits das Volumen eines Klangs herausgestellt: »ein Ton ist wesensmäßig voluminös gegeben«85. Darunter versteht er die an- und abschwellende Ausbreitung des auditiven Phänomens in Bezug auf die Hörenden, die dessen Verortung anhand ihres leiblichen Gespürs ausrichten.86 Zwar rekurriert Frances Dyson nicht direkt auf Plessners Ausführungen, doch verortet sich ihre Bestimmung der Klangmaterialität ebenfalls im Kontext der angestrebten näheren Erfassung dessen, was ›Musik‹ bzw. ›Klang‹ ist. Die Verfasstheit des Gehörten vergleicht sie mit der visuell unbestimmbaren,

83 Voegelin 2010, S. 12. 84 Toop 2010, S. xii. 85 Helmuth Plessner: »Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes« (1923), in: ders.: Anthropologie der Sinne, Gesammelte Schriften III, Frankfurt a.M. 2003, S. 13-315, hier S. 231. 86 Vgl. ebd., S. 234.

         



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diffus ausgedehnten Form von dichtem Nebel: »[...] like a dense fog, it disappears when approached, falling beyond discourse as it settles within the skin.«87 Die zuvor mit den Ausführungen von Ihde, Schmitz und Gaver erörterten klangmateriellen Qualitäten der Schärfe, des Stechens oder der Schwere werden bei Dyson nicht betont; vielmehr stellt sich Klangmaterialität hier grundlegend als relativ harmlos wirkende, sich bei Berührung mit dem Körper der Hörenden schnell verflüchtigende, nur eine geringe Dichte aufweisende Diffusität dar. Dies verwundert nicht, scheint dies doch vor allem durch die in ihrer Theorie stark akzentuierten immersivierenden, einhüllenden Qualitäten der Klangmaterialität begründet zu sein. Diese Auffassung führt zu einem Verständnis, nach dem Klang als potentiell täuschendes, ungreifbares und wesentlich mit Ungewissheit zusammenhängendes Phänomen, als »never quite an object, never a full guarantor of knowledge«88 eingeschätzt wird. Dyson geht in diesem Kontext sogar so weit, Klang in seiner Materialität nicht nur durch Unsichtbarkeit, sondern insbesondere auch durch Ungreifbarkeit und NichtBerührung als »being neither visible nor tangible«89 zu charakterisieren. Dem ist mit Bezug auf die zuvor ausgeführten phänomenologisch orientierten Theorien des Auditiven zu widersprechen. Zwar ist Klangmaterialität sicher nicht mit Händen greifbar, und Dysons Verwendung des Adjektivs ›tangible‹ mag sich primär auf diese manuelle Ungreifbarkeit beziehen, doch setzt dies ein verengtes und naives Verständnis von ›Greifen‹ voraus. Denn – und dies schwingt in der Bedeutung des Adjektivs ebenfalls im Sinne von Berührung und Berührt-Werden mit – auch der Leib besitzt ein Verhältnis zu seiner Umgebung, das sich als eine Art Ineinandergreifen beschreiben lässt. Klangmaterialität weist nicht nur eine durch einen gewissen Grad an Diffusität ausgezeichnete Voluminösität auf, sondern berührt die Hörenden auch grundlegend und kann sie sogar gewaltsam treffen, kraftvoll auf sie einwirken, sie zum Zuhören forcieren und verschiedene, stark geprägte Leibräumlichkeiten erzeugen, indem sich Begegnungen der Konfrontation und des Zusammenpralls mit Gehörtem oder der starken Einwirkung, Eindringlichkeit oder der Einschneidung ereignen können. Bei Dyson klingt dieses Ineinander von leiblicher und klanglicher Materialität zwar an, wenn sie, wie zuvor zitiert, von der Eindrücklichkeit im Sinne einer Einnistung des Klangs in der Haut (»it settles within the skin«90) ausgeht, doch führt sie dies nicht weiter hinsichtlich seiner potentiell beeinträchtigenden, gar schädlichen oder stark die Lebensqualität mindernden Einwirksamkeit aus, worauf die aktuellen Diskurse zu Lärm und noise aber verstärkt hinweisen.

87 Dyson 2009, S. 4. 88 Ebd., S. 5. 89 Vgl. ebd. 90 Dyson 2009, S. 4.

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Lynn Pook legt in einem Interview dar, dass sie Sound als eine formbare Materie auffasst, was nicht allein im kompositorischen, sondern in einem skulpturalen Sinn gemeint ist.91 Auch ihr künstlerischer Partner Julien Clauss, der sich intensiv mit den Möglichkeiten der Erzeugung dreidimensionaler Lauträumlichkeiten und der genauen Platzierung von Lauten im Raum beschäftigt, vergleicht seine Arbeit mit der Bildhauerei. »I develop sound structures that are not organized on successions of events, but on densities, progressive variations, disruptions that are probably related to climate and landscapes.«92 Als Material der Skulptur dienen die Körper der Teilnehmenden, denn auf und an diesen wird die Soundinstallation vollzogen, wie Lynn Pook betont: »[...] distance between the audience and the object is abolished and the individual is invested as place and material of a temporal sculpture.«93 Dabei wird die Bedeutung und Legitimität jedweder Einwirkung auf Körper bzw. genauer gesagt auf die Haut verhandelt. Ethische Fragen setzen ein, wenn diese Abstände verringert oder gar mutwillig durchbrochen werden. STiMULiNE macht mit den Aspekten der affektiv-leiblichen Einwirkung von Sound, der Immobilität der Teilnehmenden und der weitgehenden Unmöglichkeit von Entzugsweisen sowie den futuristisch anmutenden Aufbauten der Installation auf Zusammenhänge aufmerksam, die aus einer ethischen Perspektive von größter Relevanz und noch nicht im Bewusstsein der Öffentlichkeit angekommen sind. Steve Goodman weist mit dem Begriff der vibrational force darauf hin, dass ein Bewusstsein für die Wirkmacht der Vibrationen zu entwickeln ist, deren Kraft unterschätzt und weithin ignoriert wird. Übergangen wird sie auch, weil diese Wirkmacht nicht spektakulär, sondern subkutan verläuft, weshalb Goodman ein Konzept der affektiven Mikropolitik entwirft, das auf die sich bereits in Verwendung befindlichen, aber kaum bekannten oder im öffentlichen Diskurs debattierten Sound-Bomben hinweisen

91 Lynn Pook im Interview mit Alter1fo vom 13.06.2013, unter http://alter1fo.com/ metropole-electronik-maison-retraite-cleunay-lavez-jamais-entendue-interview-lynnpook -82270, letzter Zugriff am 21.08.2015: »Je pense que l’initiation aux formes radiophoniques et à la musique expérimentale dont j’ai pu profiter à Berlin, m’ont donné envie de travailler la matière sonore et ici le texte comme une matière plastique.« 92 Lynn Pook und Julien Clauss im Interview mit Maxence Grugier von Digital Art & Innovation vom 10.05.2009, online unter http://www.digitalarti.com/blog/mcd/lynn_pook _julien_clauss_audio_tactile_ stimulations, letzter Zugriff am 30.07.2014. 93 Ebd.

         



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will.94 Auch Bart Kosko erwähnt eine solche Umgangsweise mit Schallwellen, die als noise guns oder sonic bullets beschrieben werden.95 Im Kontext der Noise-Theorie wird u. a. von David Hendy betont, dass es relevant ist, im Zusammenhang mit dem Hören auch auf die Geschichte der auditiven Machtverhältnisse und vor allem auf ethische Fragen nach Machtungleichheiten einzugehen.96 Die Hörenden in STiMULiNE haben kaum eine Chance, sich dem Gehört-/Gespürten zu entziehen, auch Aufmerksamkeitsverlagerungen innerhalb des Hörens – vom konzentrierten zum zerstreuteren, intensiven zum minder starken oder auch vom eher leiblichen zum aurikularen Hören – bewirken keine Veränderung der Empfindungen von Schwere, Druck und Einwirkung. Die von Husserl noch unterstrichene Möglichkeit der Hörenden, dem Auf- und Herandrängen der Gegenstände durch die Art des Zulassens und Sich-Einlassens kontrolliert zu ›antworten‹, sind ausgehebelt.97 Der Modus des Absehens von, den Husserl als negatives Meinen und als ›Durchstreichung‹ des Wahrzunehmenden fasst, ist zunächst nicht möglich.98 Vielmehr wird den Hörenden ihr potentielles Ausgeliefertsein als eine Situation bewusst, in der keine sozialen Regelungen von angemessenen und rücksichtsvollen Abständen oder Distanzen mehr gültig sind. In STiMULiNE wird das Zentrum der auditiven Aufmerksamkeit auf die von Aron Gurwitsch als Rand gekennzeichnete Dimension der Leiblichkeit gelenkt und dauerhaft neu ausgerichtet, ohne dass das hörende Subjekt sich dessen erwehren kann. Allein über das Sehen war für mich eine Abständigkeit zur einnehmenden Eindrücklichkeit des Gehört-/Gespürten zu erwirken, und zwar, wie ich meine, nicht allein aufgrunddessen, dass das Sehen wirksamer darin wäre, Distanzierungen hervorzubringen, wie dies in der von einer binären Entgegensetzung des Hörens und Sehens ausgehenden Theorie angenommen wird. Vielmehr ermöglichten die intramodalen Aufmerksamkeitsverlagerungen zwischen verschiedenen Hörweisen auch eine intermodale Verlagerung, die von der auditiven zur visuellen Aufmerksamkeit übergeht und die auditive Zentrierung durch die visuelle sozusagen überschreibt oder, in auditiven Begriffen ausgedrückt, maskiert. Es sind insofern Prozesse, bei

94 Goodman 2010, S. xiii. Vgl. auch Steve Goodman: »The Ontology of Vibrational Force«, in: Jonathan Sterne (Hg.), The Sound Studies Reader, London/New York 2012, S. 70-72, hier vor allem S. 70. 95 Vgl. Kosko 2006, S. 4. 96 Vgl. Hendy 2013, S. xiv. 97 Vgl. beispielsweise Hua 3/1, §113, S. 257 zum ›Sich Herandrängen‹ der Protentionen und Retentionen und §115, S. 263 zum ›Empordrängen‹ und ›Absinken‹ bestimmter Gedanken. Vgl. Hua 38, §18, S. 77 und §22, S. 93 und S. 97 zum ›Sich Aufdrängen‹ mancher Gegenstände. 98 Vgl. Hua 38, §18, S. 77 f.

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denen sich der sonst zwischen den synästhetisch wirkenden Sinnen und ihren Aufmerksamkeitsdynamiken austarierenden Dominanzen nun der Schwerpunkt vom Hören und Spüren vollständig auf das Sehen verlagert, um den zu nahen Empfindungen auf diese Weise zu entkommen. Vollzogen wird die Umgewichtung der Aufmerksamkeit daher weniger in dem Sinn, das Sehen als Fernsinn zu intendieren, als vielmehr das Hören in seiner leiblich-affektiven Dimension als Nahsinn zu mindern. Eine Aufmerksamkeitsdynamik, die sich umgekehrt – vom Visuellen zum Auditiven – vollzieht, wäre ebenso denkbar, trifft aber nicht auf STiMULiNE zu und würde sich, speziell bezogen auf die auditive Wahrnehmung, auch anders auswirken als das hier Geschilderte.99

  

     Die attentionale Affektion und Dynamik in Michael Thalheimers Inszenierung von Gerhart Hauptmanns Die Ratten ist als eine Form des Entrückt-Seins einzuordnen.100 Sie wird als spezifisches Aufmerksamkeitsgefüge aufgefasst, das einerseits durch eine starke vom Wahrgenommenen ausgehende Hingezogenheit, andererseits durch die Absenz von Wachheit geprägt ist.101

99

Denkbar ist, dass in Aufführungen, in denen das Sehen über- oder unterfordert ist, verstärkt auf das Hören geachtet wird, wobei insbesondere die Unterforderung, die sich aus einer Leere, Starre oder Monotonie des Visuellen ergeben kann, zu einer solchen Verlagerung führt, indem die sich im Gehörten ergebenden Veränderungen durch Geräusche oder Klänge gegenüber dem Gesehehen – und immer im Verhältnis zu ihm – an Bedeutung gewinnen. Ich denke dabei exemplarisch an Luk Percevals Andromache (2003, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin), bei der die Schauspieler*innen sich während der gesamten Aufführungsdauer auf einem schmalen, länglichen Podest befanden, der den Radius und die Art ihrer Bewegungen stark einschränkte. Das Gesehene wirkte statisch, während die Geräusche ihrer Bewegungen, die durch Microports und Lautsprecher verstärkt wurden, sehr dynamisch klangen.

100

Die Inszenierung Die Ratten von Michael Thalheimer hatte am 06. Oktober 2007 am Deutschen Theater Berlin Premiere. Ich habe die Aufführungen am 2. März und 4. April 2009 und am 30. März 2010 erlebt.

101

Zum Entrückt-Sein wird der Sammelband Wie gebannt von Martin Baisch, Andreas Degen und Jana Lüdtke rezipiert und als eine der wenigen Publikationen zum Thema der Aufmerksamkeit im ästhetischen Kontext geschätzt, doch ist kritisch anzumerken, dass die Herausgeber*innen die Begriffe des Entrückt-Seins, der Faszination und des Staunens synonym verwenden. Aus einer phänomenologischen Perspektive heraus erscheint es mir jedoch wichtig, die Nuancen der Differenz zwischen diesen unterschied-

         



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Für Thalheimers Die Ratten ist das Bühnenbild von grundlegender Bedeutung. Es besteht aus einem erhöhten Boden und einer tief herabgezogenen Decke, so dass ein niedriger, sich in die Tiefe erstreckender Spalt entsteht, in dem die Schauspieler*innen sich nur gebückt bewegen können. Sind sie nicht an einer Szene beteiligt, stehen sie im dunklen Hintergrund der Bühne, wo ihre Beine schemenhaft zu sehen sind. Vorne ducken sie sich oder kommen manchmal mit den Köpfen unter dem tiefreichenden oberen Teil des Bühnenbilds hervor, blinzelnd und leicht geblendet von den auf die Bühnenrampe gerichteten Scheinwerfern. Die erleuchteten Gesichter stehen dann in einem starken Kontrast zur sonst auf der Bühne herrschenden Dunkelheit, die nur von einem im Hintergrund hier und dort aufscheinenden Lichtstrahl durchbrochen wird. Mit Bezug auf die historische, lokale und soziale Verortung der Dramenhandlung im ausgehenden 19. Jahrhundert in Berlin im Kontext der ärmsten sozialen Schichten sprechen die Figuren mit starkem Berliner Dialekt oder, im Fall von Pauline Piperkarka (Regine Zimmermann), mit polnischem Akzent. Das Sprechen findet immer vorne an der Bühnenrampe und weitgehend – auch während der Dialoge – mit einem in Richtung des Publikums gerichteten Blick statt. So scheinen die Figuren immer sehnsüchtig in die Ferne zu schauen, wie in eine erträumte Zukunft und in der Hoffnung auf eine dort im Ungewissen verortete bessere Welt. Gleichzeitig sind sie dem Publikum zugewandt – es wird niemand direkt fixiert, dennoch zeigt sich in der körperlichen Ausrichtung eine konstant wortlose Adressierung der Zuschauenden. Die Körper bleiben weitgehend starr und oft in Posen verharrend, in denen sie im Gesamtbild fast tableauartig bewegungslos wirken.102 Hin und wieder werden jedoch einzelne Gesten auffällig in Szene gesetzt z. B. in den geballten Fäusten Brunos (Nikolas Korth)103, im plötzlich einsetzenden Sich-Kratzen von Herrn John (Sven Lehmann) und im zumeist auf den Boden oder in die Ferne gerichteten Blick der Frau John (Constanze Becker), die auf grundlegende Stimmungen der Aufführung verweisen: nervöse Angespanntheit, unterdrückte Wut, Verzweiflung, Sehnsucht nach Besserem. Die Lautlichkeit der Aufführung besteht neben den Stimmen der Darstellenden vor allem aus zwei unterschiedlichen, während verschiedener Phasen der Aufführung aus dem Off erklingenden, zum Ende hin aber auch stärker ineinanderübergehenden Elementen: einer melodischen Sequenz aus einigen sehr langsam aufeinanderfolgenden Harmonium-, Streicher- und Klavierakkorden sowie ein in sich ei-

lichen Formen der Hingezogenheit zu unterstreichen. Vgl. Martin Baisch/Andreas Degen/Jana Lüdtke: »Vorbemerkung«, in: dies. (Hg.), Wie gebannt. Ästhetische Verfahren der affektiven Bindung von Aufmerksamkeit, Freiburg 2013, S. 7-18. 102 Zur besonderen (des-)integrierenden Ästhetik des Tableaus bei Michael Thalheimer vgl. Adam Czirak 2012, S. 122. 103

Diese Figur wurde wechselweise auch von Mirko Kreibich dargestellt.

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genartig unruhiger Soundstrom aus einzelnen, aber zu einem Kontinuum zusammengefügten, elektronisch bearbeiteten Harmoniumklängen. Die melodischen Sequenzen bestehen aus zwei das Grundmotiv stets wiederholenden Teilen. Mit längerem zeitlichen Abstand sind drei nach Klavier und Akkordeon klingende Akkorde zu vernehmen, die in den ersten beiden aufsteigenden Tönen wie eine Frage klingen, die zunächst mit dem dritten nur leicht abfallenden Ton im ersten Teil noch unentschieden, bei der Wiederholung der ›Frage‹-Akkorde jedoch in einem Zweierschritt in der Tonhöhe stark absteigend beantwortet wird. Es scheint mir, als bringen die musikalischen Sequenzen eine Haltung des Fragenden, Hoffenden, Wartenden hervor, die dem ins Ungewisse gerichteten Blick verwandt ist. Zwar scheint sie im absteigenden Ende des zweiten Teils der Sequenz eine Antwort, und zwar keine positive, zu geben, doch deutet das ständige Anheben zu erneutem ›Fragen‹ darauf hin, dass die Antwort offenbar keine Relevanz besitzt – vielmehr können die steten Wiederholungen als Ausdruck einer Hoffnung gedeutet werden, die nicht nachlässt, auch wenn die ständig erhaltenen Antworten kaum Anlass dazu geben. Mit dem später einsetzenden elektronisch erzeugten Soundstrom wird eine andere Dimension von Lautlichkeit hörbar, die eher Unruhe und Anspannung vermittelt. Der Sound erklingt leise in hoher Tonlage und insgesamt zwar mit wenig Variationen der Tonhöhe, doch mit schnellen, minimalen Verschiebungen eines konstant gehaltenen Tons nach oben und unten, die wie Vibrationen oder ›Zuckungen‹ wirken. Zu Gehör kommt ein kontinuierlicher Sound, der in sich nicht stillsteht, sondern unruhig flackert. Diese Laute sind fast während der gesamten Aufführungsdauer präsent, variieren aber stark in Lautstärke und Tempo. Stillephasen gibt es wenige, auch wird der Unterschied zwischen Stille und dem flackernden Soundstrom häufig nicht bewusst, da die Lautstärke in Die Ratten zeitweilig in einen Extrembereich des Leisen übergeht, der an der Grenze des Kaum- oder NichtMerklichen ist und dazu führt, dass beides – Stille und Sound – ununterscheidbar ineinanderverläuft. Am Ende der Aufführung, als Frau John Selbstmord begangen und Herr John vor Verzweiflung über alles Geschehene nurmehr stimm- und sprachlos den Mund öffnet und schließt, mischt sich zu den lauten Klavierklängen nach und nach ein Laut, der zuvor nicht hörbar war: ein zunächst leises und sich in der Lautstärke dann steigerndes Rauschen, das schließlich, als die melodische Sequenz abbricht, einzig für kurze Zeit noch zu hören ist. Dann endet das Rauschen schließlich abrupt, als von einem Moment auf den anderen das Licht erlischt. Am Schluss ist nichts mehr zu hören als Stille, nichts zu sehen außer dichter Dunkelheit. In Die Ratten lässt sich durch den nahezu während der gesamten Aufführungsdauer wiederholten musikalischen Loop der gleichen sieben Klavierakkorde eine Dynamik auditiver Aufmerksamkeit erfahren, die sich als Entrückt-Sein charakterisieren lässt. Sie wird durch die spezifische Lautlichkeit der Aufführung, die der Musiker Bert Wrede erschaffen hat, im Sinne eines tranceartigen Zustands bewirkt

         



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und verstärkt durch Langsamkeit, Kontinuität sowie durch Momente der Verzögerung und der auditiven Unschärfe eines ›flackernden‹ Soundstroms. Entrückt-Sein ist mit der Aufmerksamkeitsdynamik verwandt, die zuvor mit dem Begriff der Absorption bestimmt wurde. Ein Unterschied liegt meines Erachtens jedoch darin, dass es im Entrückt-Sein im Gegensatz zur Absorption gerade kein Wohin der Abwesenheit gibt, kein Anderswo, sondern allein ein unbestimmbares ›Nicht-Hier‹. Einigen Klängen wird die Kraft zugewiesen, die Hörenden auf eine solche Weise einzunehmen, dass sie kaum noch an etwas Anderes denken, geschweige denn handeln können. Dabei geht es um eine Aufmerksamkeitsdynamik, die als Prozess der Affizierung im Sinne des Pathischen zu konzeptualisieren ist. Kathrin Busch und Iris Därmann führen den Begriff Pathos auf seine etymologischen griechischen Wurzeln als ›Leidenschaft‹ zurück und heben damit die Bedeutungsdimension als Widerfahrnis hervor. 104 Historisch bezieht sich das Pathetische demnach auf die Bedeutungsdimensionen sowohl der leidvollen Erfahrung als auch des leiblichaffektiven Angegangenwerdens. Pathos bezeichnet nicht nur Schmerz, Leid und Unglück, so unterstreichen auch Martin Harbsmeier und Sebastian Möckel, »das Wort kann neben solchen – für uns emotionalen Erfahrungen auch jede weitere Art von passiven Widerfahrnissen oder Eindrücken bezeichnen, wie z. B. die Wahrnehmung von Licht oder Wärme, die wir nicht als emotionales Phänomen betrachten würden«105. Pathos zu erfahren meint in diesem Sinne ein passives ErgriffenSein durch ›Patheme‹, d. h. affizierende Ereignisse. »Der Affekt hat etwas von einem Einfall, der mir kommt und mich überkommt.«106 In Die Ratten erzeugen vor allem die Musik-Loops einen solchen Zustand, indem sie erstens durch ihre Kontinuität ein Gefühl von Dauer, zweitens durch die ständigen Wiederholungen Empfindungen einer Art des perpetuellen Stillstands und des Immer-Gleichen, drittens durch ihren harmonischen Klang und die Langsamkeit ihres Erklingens eine beruhigende Wirkung hervorrufen und schließlich viertens in den sich langsam vollziehenden Veränderungen ihrer Dynamik – im Auf- und Absinken – zu einer leicht betäubenden ›Einlullung‹ führen. Drei Dimensionen dieser Wirkungen halte ich für besonders relevant: erstens die Spannung zwischen der beruhigenden, melodischen und der unruhig flackernden Klanglichkeit der Musiksequenzen einerseits und des

104

Vgl. Kathrin Busch/Iris Därmann: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), ›pathos‹. Konturen ei-

105

Martin Harbsmeier/Sebastian Möckel: »Antike Gefühle im Wandel. Eine Einleitung«,

nes kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs. Bielefeld 2007, S. 7-31, hier S. 7. in: dies. (Hg.), Pathos, Affekt, Emotion. Transformationen der Antike. Frankfurt/M. 2009, S. 9-24, hier S. 11. 106

Busch/Därmann: »Einleitung« (2007), S. 13. Die Autorinnen rezipieren an dieser Stelle Bernhard Waldenfels’ Begriff der Affektion, die als »ein An-tun und An-gehen« gedeutet wird.

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Soundstroms andererseits, zweitens die Dynamik des Lauten oder Leisen im Bewusstwerden und Absinken des Gehörten sowie drittens die besondere Zeitlichkeit des Gehörten. Durch diese drei im Folgenden näher ausgeführten Dimensionen werden Spannungsverhältnisse zwischen An- und Entspannung, Wachheit und Schläfrigkeit sowie der Aushebelung zeitlich strukturierter Wahrnehmung bewirkt. Das Gehörte steht in Die Ratten auf eine Weise in Relation zum Dargestellten, die nicht nur auf einzelne Szenen bezogen kommentierend und stimmungserzeugend wirksam ist – im Sinne der Erzeugung einer klanglichen Atmosphäre von Melancholie und Hoffnungslosigkeit –, sondern die sich darüber hinaus auf einer übergeordneten energetischen Ebene vollzieht, die nicht mit den einzelnen Szenen, sondern mit der Grundstimmung des Dargestellten insgesamt zusammenhängt.107 Das Spannungsverhältnis zwischen dem Angespannten des Soundstroms und dem Betäubt-Stillstehenden der in ständigen Loops ›gefangenen‹ Musik ist mit der Verlorenheit und den zwischen Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit schwankenden Gefühlen der zentralen Figuren – vor allem von Frau und Herrn John, aber auch mit der brodelnden Wut Brunos und Erich Spittas sowie der Ängstlichkeit von Frau Hassenreuter – verflochten. Die Verbindung zwischen der energetischen Dynamik des Gehörten und des Dargestellten beruht dabei nicht auf einer Parallelität zwischen dem Visuellen und dem Auditiven; häufig wird vielmehr gerade kontrapunktisch gearbeitet. So erklingen die Klavierakkorde zu den eher dramatischen Szenen in besonders langsamem Tempo – wie beispielsweise während der Szene, in der Frau Johns Sprechen sich, zunehmend in Erinnerung und Fantasie abdriftend, in einen Anfall von Verzweiflung hineinsteigert. So sind die Melodie-Sequenzen keineswegs bloße Illustration oder Unterstreichung dessen, was auf der Bühne ohnehin zu sehen ist; sie fungieren nicht als Bühnenmusik im herkömmlichen Sinn, insofern sie weder als Realitätszitat noch als nur stimmungserzeugende oder den Eintritt in übersinnliche Sphären anzeigende Inzidenzmusik wirksam werden. Vielmehr konstituieren sie als eine zweite Spur zum Gesprochenen und Visuellen eine eigene Dynamik, die sich ›unter‹ das Wahrgenommene wie ein ›Teppich‹ zu legen scheint und die gleichzeitig aufgrund ihrer Artifizialität vom Bühnengeschehen distanzierend sowie vermittels der permanenten Wiederholung der melodischen Sequenzen auf eigene – und fast hypnotisierende – Weise in Bann ziehend wirksam ist.

107

Die lautlich bewirkte Dynamik des Wahrgenommenen steht auch in Relation zur Konstitution von Atmosphären und prägt diese wesentlich mit, doch ist ein Unterschied in der näheren Bestimmbarkeit hervorzuheben; während sich die erscheinende Atmosphäre als eine ›traurige‹, ›melancholische‹, ›wehmütige‹, ›sehnsuchtsvolle‹ etc. beschreiben lässt, ist bezüglich der Dynamik der Lautstärkenvariation keine derartige Bedeutungszuordnung zu machen, zumindest fehlt dazu noch eine geeignete Terminologie.

         



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Durch das Gehörte stellt sich im Auditiven ein übergreifender Zusammenhang zwischen den unterschiedlich gestimmten Szenen her, der auf einer übergeordneten, abstrakten Ebene hörbar macht, was auf der Bühne präsentiert wird bzw. was sich am Präsentierten mit zeigt, ohne dass es selbst zur Erscheinung kommt. Gehört wird das, was die dargestellte Handlung über sich hinaus – energetisch – impliziert: einerseits eine dem Zerreißen nahe und aufgrund des hohen Drucks in Vibrationen geratene Angespanntheit, anderseits das konstante Aushalten dieser Spannung bei ständigem Gleich-Bleiben und grundlegender Abwesenheit möglicher Veränderung. Das Flackern des Soundstroms steht auch mit einem Phänomen in Verbindung, das auf der Bühne mehrmals sichtbar wird: zu Beginn der Aufführung liegt die Bühne in völliger Dunkelheit und das erste, was sich zeigt, ist eine auflodernde kleine Flamme. Im Dunkel der Bühne blitzen noch weitere Male kleine Flammen auf, denn es wird viel geraucht und bei jedem Zug glühen die Zigarettenspitzen leuchtend auf. Sowohl der Soundstrom als auch die Flammen zeichnen sich durch Bewegungen des Flackerns aus, was im Gegensatz zum Lodern, In-Flammen-Stehen oder Lichterloh-Brennen eine kleine, fast unmerkliche Bewegung ist. Die Beweglichkeit des Soundstroms besteht nicht aus Melodieverläufen, sondern ergibt sich als ein gleichbleibendes Flackern oder Zittern eines Tons und lässt sich demzufolge als eine statische Bewegung beschreiben. Entscheidend ist bei beiden lautlichen Elementen die weitgehende Variationslosigkeit in Tonhöhe, Tempo und Kontinuität bei gleichzeitig starker Varianz der Dynamik, d. h. einer Zu- und Abnahme der Lautstärke des Gehörten. Insbesondere diese sehr langsam zwischen den Extremen des Lauten und Leisen changierende, kontinuierliche Dynamik ist für die auditive Wahrnehmung in Die Ratten grundlegend. Sie bewirkt über die Dimensionen des Subtilen, Langsamen, Hintergründigen eine Einstimmung der Hörenden, die zumeist nicht bewusste, aber wirkmächtige Prozesse des ›Mitschwingens‹ auslösen. Dies entsteht aufgrund der extremen Langsamkeit und der auffälligen Verzögerung, welche die melodischen Sequenzen prägt. Denn die einzelnen Akkorde scheinen immer eine Millisekunde zu spät einzutreten, so dass sich der Effekt einer zeitlichen Dehnung und einer Art ›Streckung des Gehörs‹ ergibt, die sich – auch wenn nicht bewusst zu- oder hingehört wird – als eine geahnte Vorwegnahme des erwarteten nächstfolgenden Klangs gibt. In der Verzögerung wirken diese Sequenzen – trotz der ›Streckung‹ – beruhigend, denn das sich im Verlauf der Aufführung einstellende Muster wird konstant bestätigt. Nur während weniger Szenen gegen Ende der Aufführung finden Abweichungen im Tempo und leichte Verschiebungen in der Melodie statt, doch stellen diese keine Brüche mit dem zuvor Gehörten dar. Stärker unterscheidet sich davon der unruhige und beunruhigend wirkende Soundstrom, der in seinen schnellen Hin- und Herbewegungen innerhalb einer nur geringen Amplitude nach einer Spannung klingt, die sich unter großem Druck aufbaut. So lassen sich die Langsamkeit und die zeitlichen

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Abstände zwischen den einzelnen Harmoniumakkorden sowie ihre traurige Stimmung zunächst zwar in einem Gegensatzverhältnis zur Spannung und Unruhe des Soundstroms verorten, doch werden sie verbunden, da sie im Rahmen der Dynamik von Lautstärke und auditiver Präsenz im Raum zu einer gemeinsamen Wirksamkeit gebracht werden. 108 Denn in dieser Dynamik verhalten sich die melodischen Sequenzen und der Soundstrom auf ähnliche Weise, bei der sie nicht nur leiser und lauter werden, sondern damit einhergehend ebenfalls näherkommen und sich wieder entfernen: oft, wenn die Figuren aus der Dunkelheit nach vorne ans Licht treten, vollzieht sich parallel eine Steigerung der Lautstärke des Gehörten, das sich durch die Zunahme des Volumens und eine damit erreichte auditive Nähe zum Publikum von seiner sonstigen Hintergründigkeit abhebt.109 Auf diese Weise manifestiert sich eine stete Dynamik des lautlichen Auftretens und Verschwindens, in deren Rahmen sich die melodischen Sequenzen oder der Soundstrom immer wieder zu erkennen geben und auffällig werden, woraufhin sie sich aber häufig bald wieder langsam im Hintergrund verlieren. Sowohl im Visuellen als auch im Auditiven vollzieht sich somit ein steter Prozess des Hervor- und Zurücktretens, des Auftauchens und Absinkens – Vorgänge, die Bernhard Waldenfels als grundlegende Dimensionen von Aufmerksamkeitsprozessen hervorhebt und durch geometrische Achsen des Horizontalen und des Vertikalen differenziert. Im Ausgang von Waldenfels’ Bestimmungen lässt sich – mit einem Verweis auf das Kapitel Strukturelles Hören und plastische Hörzeiträume, das die Plastizität und Mobilität des Hörens herausstellt – die Wahrnehmung der Dynamik in Die Ratten als ein Entgegenkommen verorten, insofern die Klänge auditiv näherkommen und sich wieder entfernen.110 Wichtig erweist sich für das Entrückt-Sein in Die Ratten die zeitliche Dimension, in der das Gehörte zur Erscheinung kommt. Ihre vertikal orientierte Dynamik des Auftauchens und Absinkens verbindet Waldenfels mit verschiedenen Graden der Wachheit und Schläfrigkeit: »Beides zählt zu den Urbewegungen, weil im Wachen das Selbst als es selbst da ist, so wie im aufrechten Gang seine Stellung und Bewegung in der Welt vorgezeichnet ist. Schließlich

108

Zugleich ist ihr Gegensatzverhältnis nicht irrelevant, denn nur durch ihr Nebeneinander ergibt sich die besondere Atmosphäre des Melancholisch-Angespannten – und gerade nicht nur das eine oder das andere.

109

Die Bewegung nach vorne an die Bühnenrampe setzt oft erst ein, wenn die vorherige Szene beendet ist, so dass der einsetzende Gang selbst markant wird und in seiner Dauer für einige Sekunden das Hervortreten als solches zeigt.

110

Vgl. Waldenfels 2004, S. 84 ff.

         



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haben diese originären Bewegungsweisen auch einen Bezug zum Anderen, der uns weckt oder einschläfert, der uns aufrichtet oder herabzieht.«111

Dieses Einschläfern ist es, was sich grundsätzlich mit der Wirkungsweise der auditiven Dynamik in Die Ratten verbindet und eine wesentliche Dimension dieser Form des auditiv-attentionalen Entrückt-Seins darstellt. Bert Wrede komponiert Klänge, die in ihrer Präsenz nicht hervorstechen, sondern sich weitgehend im Bereich nahe des Unmerklichen bewegen und erst über längere Zeit ins Gehör einsinken. Sie entfalten ihre Wirkung auf einer Ebene des kaum Merklichen und nahezu Unbewussten. Darin ist das Entrückt-Sein anderen weniger wachen Formen der Aufmerksamkeit wie z. B. der Versunkenheit, der Trance, dem Dösen oder der Schläfrigkeit verwandt. Prozesse des Aufmerkens werden durch die ständigen Wiederholungen, die Langsamkeit des Gehörten und durch eine im Erscheinen und Verschwinden provozierte auditive Aufmerksamkeitsdynamik des Auftauchens und Absinkens ausgebremst und nahezu stillgelegt. In Relation zum Gehörten bilden sich im Hören ähnliche, aber nicht dieselben Dynamiken ab – taucht ein Laut nach einiger Zeit im Zentrum der Aufmerksamkeit auf, dann setzt dies nicht zwangsläufig voraus, dass er einen Deut lauter oder anders erklang als die vorherigen, sondern dass die in Gang gesetzte Dynamik des Hörens sich im Auftauchen und Absinken am steten Steigern und Mindern des Gehörten orientiert und verselbständigt hat. In einigen Phasen der Aufführung wird die Präsenz des Gehörten auf besondere Weise nachträglich empfunden, da es in den Momenten, in denen der Klang nach einer längeren Leise- oder Stillephase unvermittelt während der Dialoge wieder einsetzt, so scheint, als wäre er immer da gewesen – und als würde er auch immerfort da sein. So wird – erst – im Nachhinein bemerkbar, dass da vorher Lautliches zu hören war. Einzelne Szenen werden auf diese Weise durch Stille markiert und von den anderen Szenen abgehoben. Dann erklingt aber nicht nichts, denn es wird meist gesprochen, aber durch die Abwesenheit des sonst kontinuierlich und hintergründig präsenten Klanggeschehens erscheinen diese Szenen auffällig ›still‹. Stille wird auf diese – und von der Stille in Wunschkonzert differierende – Weise in einer Art ›(Nicht-)Klanglichkeit‹ auffällig und hörbar gemacht. In Wunschkonzert klingt Stille ständig mit, d. h. sie ist auf eigenartige Weise während der gesamten Dauer der Aufführung präsent und hörbar dadurch, dass die einzelnen Geräusche nicht wie Laute wirken, sondern wie Unterbrechungen der Stille. In Die Ratten ist Stille tatsächlich eher nur dann auditiv bemerkbar, wenn die akustische Einspielung in ihrer Lautstärke und ihrem räumlichen Rückzug fast unhörbar wird oder in wenigen Passagen der Aufführung wirklich abwesend ist. Häufig geschieht dies in Szenen, während derer sich die für die Protagonistin Frau John zentralen Ereignisse abspie-

111

Vgl. ebd., S. 75 f.

344         

len.112 So brechen die zuvor noch leise erklingenden langsamen Klavierakkorde abrupt ab, als Frau John an die Rampe kommt und erklärt, sie habe gerade ein »Büschelchen Haar jefund’n, wat mein Jungeken, wat mein Adelbertchen, schon in’ Sarg mit Vaters Papierschere abjeschnitt’n is und jetzt liegt det doch wieder in’ Kinderwajen«. Dieser für die Bühnenhandlung wichtige Moment, in dem sich verdeutlicht, dass sich in Frau Johns Wahrnehmung die Grenzen zwischen Erinnertem, Gegenwärtigem und Imaginiert-Gewünschtem vermischen, wird durch das plötzliche, mitten im Ablauf der Melodiesequenz sich ereignende Verklingen stark herausgestellt. Darüber hinaus vollzieht sich auditiv-attentional durch die jähe Abwesenheit der Klänge ein Bewusstwerden ihrer vorherigen Präsenz. Zudem wird eine Verschmelzung der zeitlichen Ebenen spürbar, da die Zeitlichkeit des Soundstroms die Überlagerungen der Gegenwart mit – vermeintlich – Vergangenem und Zukünftigem verstärkt. Die Empfindung von Gegenwärtigkeit gerät in ein Fliessen; nicht Präsenz des Jetzt und Hier, sondern das Ahnen und Spüren eines Anderswann und -wo werden durch die Dynamik des Lautlichen und der auditiven Aufmerksamkeit sowie die Blicke der Schauspielenden evoziert. Die sich im Verlauf der Aufführung erst konstituierende Dynamik des Hörens in Die Ratten lässt sich in ihrer Wirksamkeit mit Bezug auf das psychologische Konzept der Abstimmung nach John A. Michon veranschaulichen, das ins Verhältnis zu phänomenologischen Konzepten der Konstitution von Zeitlichkeit zu setzen und – insbesondere hinsichtlich der affektiven Dimension zeitlicher Prozesse – zu verschärfen ist. Mit dem aus der Elektrotechnik entnommenen Begriff der Abstimmung (»syntonisation«113), der die Gleichschaltung der Frequenzen zweier verschiedener Systeme meint, umschreibt Michon den Prozess der Anpassung eines Organismus an seine Umgebung zur Vergrößerung seiner Überlebenschancen und zur Entlastung seiner mentalen Aktivität. Dementsprechend beschreibt Michon Wahrnehmungsprozesse als eine Art Feinabstimmung im Sinne eines tuning, durch das sich das wahrnehmende Subjekt an der »régularité du cours des événements actuels«114 ausrichtet. »The perception of temporal pattern enables the organism to tune in on the flow of

112

So beispielsweise in den Szenen, in denen Frau John das Haarbüschel findet, bei ihrem Streit mit Pauline Piperkarcka, in welchem sich die Bedrohung, das Kind zu verlieren, zuspitzt, beim letzten Gespräch mit ihrem Bruder, in dem Frau John vom Mord an der Piperkarcka durch ihren Bruder erfährt und auch am Schluss, als sich die Verwicklungen aufklären und deutlich wird, dass das Kind der Frau John nicht ihr eigenes, sondern ein – durch Geld und Mord – erkauftes ist.

113 Vgl. John A. Michon: »Le traitement de l’information temporelle«, in: Paul Fraisse u. a. (Hg.), Du Temps Biologique au Temps Psychologique, Paris 1979, S. 255-287, hier S. 259. 114

Michon: »Le traitement de l’information temporelle« (1979), S. 259.

         



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information, thus making it possible to optimalize its processing activity.«115 Michon geht davon aus, dass der Abstimmungsprozess auf der Konstitution einer mentalen Repräsentation des Zeitverlaufs basiert, auf dessen Grundlage sich wiederum antizipierende Erwartungen des zukünftig Erwartbaren bilden lassen.116 Bei Michon stellt sich Zeitlichkeit als ein relationales Gefüge sowie als eine stets veränderliche subjektive, aber nicht autonom konstituierbare, sondern von »temporal affordances«117 abhängige Zeitempfindung dar. »The relation between time experience and information processing in general determines the most dramatic confrontation with time that we know: the variability of the subjective speed of time.« 118 Daniel Schmicking betont die affektive Wirkmacht zeitlicher Prozesse durch die Metapher des Herzschrittmachers. Dessen stetes Voranschreiten sei ›unerbittlich‹, denn nur durch das ›Mitgehen‹ der Hörenden und ›Behalten‹ im retentionalen Bewusstsein lasse sich das zumeist komplexere Gehörte – eine Melodie, ein Rhythmus, eine sprachliche Mitteilung etc. – angemessen aufnehmen, da auditive Gestalten sich allein im Zeitverlauf ergäben.119 Dabei wird aber die Intention, Gestalten und Strukturen erkennen und verstehen zu wollen, vorausgesetzt. Anders ist die zeitliche Dimension des Hörens zu beschreiben, wenn diese Prämisse wegfällt. In dieser Hinsicht ist die Zeitwahrnehmung periodischer Phänomene hervorzuheben, wie sie sich auch im ständig wiederkehrenden Thema der sieben Töne in Die Ratten ergibt. Dieses Hören bestimmt Michon als einfachste Stufe der Abstimmung, insofern sie keiner mentalen Repräsentation des Zeitlichen bedarf, sondern sich vielmehr als »implicit timing«120 vollzieht. Das permanent wiederholte Motiv ließe sich somit als hintergründig affizierend beschreiben, da es in der auditiven Aufmerksamkeit nicht zentriert wird. Dem vergleichbar verortet Schmicking Rhythmus als eine im Hintergrund wirkende, die Hörerfahrung strukturierende und stabilisierende Dimension des Gehörten. »As a field background, rhythm is a repetition that is the index

115

John A. Michon: »The Making of the Present: A Tutorial Review«, in: J. Requin (Hg.), Attention and Performance VII. Proceedings of the Seventh International Symposium on Attention and Performance, Sénanque, France, August 1-6, 1976, Hillsdale/New Jersey 1978, S. 89-111, hier S. 99.

116

Vgl. John A. Michon: »The compleat Time Experiencer«, in: J. A. Michon/J. L. Jack-

117

John A. Michon: »Introduction. Representing Time«, in: Françoise Macar/Viviane

son (Hg.), Time, Mind, and Behavior, Berlin 1985, S. 20-54, hier S. 9. Pouthas/William J. Friedman (Hg.), Time, Action and Cognition. Towards Bridging the Gap, Dordrecht 1992, S. 303-307, hier S. 304. 118

Michon: »The Making of the Present« (1978), S. 106.

119

Vgl. Schmicking 2003, S. 109.

120

Michon: »Introduction. Representing Time« (1992), S. 304.

346         

for auditory ›sameness‹ or stability.«121 Stabilität ergibt sich dabei durch die Wiederholung, d. h. durch die Präsenz der gleichen Rhythmen und Geräusche, die in dieser kontinuierlichen Anwesenheit zwar in gewisser Weise registriert, aber nicht unbedingt bewusst bemerkt werden. In Bezug auf das in Die Ratten Zu-Hörende ist demgegenüber begrifflich eher von Dynamik und nicht von Rhythmus zu sprechen, doch lässt sich diesen auf verschiedene Weisen sich vollziehenden Dynamiken die gleiche Wirkungsweise zuschreiben: Aufgrund ihrer Wiederholungen und ihrer zumeist gegebenen Hintergründigkeit, von der aus ihr Intensitätsgrad – durch Lautstärkepegel und räumliche Präsenz – immer wieder auf- und absteigt, dabei aber weitgehend in einem Bereich des Nicht-Vordergründigen bleibt und auf diese Weise eine Versunkenheit der Hörenden produziert, bewirken sie, dass die Zuschauenden in ihrem Eingelullt-Sein nicht mehr bei sich, sondern auf eigenartige Weise ›neben sich‹ und in diesem Sinne ›ent-rückt‹ sind.

                          Abschließend ist auf ein Spektrum verschiedener auditiver Aufmerksamkeitsgefüge und -dynamiken einzugehen, das sich an den Extremen des wachsamen und des schläfrigen Hörens ausrichtet. Während das wachsame Hören als höchste Form der Außengerichtetheit und demgegenüber Schläfrigkeit als deren Reduktion bzw. Umkehrung zu kennzeichnen ist, zeichnet sich die dritte Form des achtsamen Hörens durch seine Nicht-Intentionalität aus. Mit dem achtsamen Hören verbindet sich eine besondere Aufmerksamkeitsdynamik, die durch Praktiken der Meditation, der Besinnung, des Yoga u. a. hervorgebracht werden kann und aus einem spezifischen Verhältnis von Wachheit/Schläfrigkeit resultiert. Zu den in IV.1 angeführten Hörweisen der graduellen Konzentriertheit sowie Verdichtungs- und Ausrichtungsstärke stehen diese drei Hörmodi in einer Verbindung, da sie ebenso von unterschiedlichen Graden der Intensität, Konzentration und Intentionalität gekennzeichnet sind, doch lassen sie sich dadurch von den anderen Modi abgrenzen, dass sie nicht primär über ein scheiterndes Verstehen oder Verdichten hervorgebracht werden. Vielmehr stellt die starke Weitung und Offenheit des Aufmerksamkeitszentrums eine grundlegende Komponente dar. Daran wiederum zeigen sich Anschlusspunkte an die in IV.2 dargestellten plastischen und mobilen Hörweisen, denn aufgrund der Erweiterung des Aufmerksamkeitszentrums handelt es sich grundsätzlich um räumlich offene Hörweisen. Doch sind Wachsamkeit, Schläfrigkeit und Achtsamkeit Aufmerksamkeitsgefüge, in denen hinsichtlich der Differenz- und Abhebungsdy-

121

Ihde 2007, S. 87.

         



               347 

namik Prozesse der Verflachung und Dehierarchisierung stattfinden, so dass das sonst markant Hervortretende in seiner Auffälligkeit reduziert und vom Hintergründigen nahezu oder gänzlich ununterscheidbar wird. Es zeigt sich damit neben den Aspekten der Verdichtung, Intensität, Plastizität, Mobilität, Spektakularität, Eindringlichkeit und Verschiebung eine weitere relevante Wirkungsweise der auditiven Aufmerksamkeit, die sich als Einebnung raumzeitlicher wie relevanzbezogener Anordnungen und Hierarchisierungen umschreiben lässt. Die drei fokussierten Hörweisen variieren entlang einer Achse der zunehmenden bzw. sich in ihrem Gegenstandsbezug verschiebenden Indifferenz. Während im wachsamen Hören einzig die Signale einer spezifischen Ordnung relevant sind und daher im Hören alles das unwichtig wird, was nicht dieser Ordnung entspricht, vollzieht sich bei zunehmender Schläfrigkeit die Abnahme der Abhebung einzelner Komponenten nach ihrer Nähe oder Relevanz. Im achtsamen Hören wird die gleichmütige Indifferenz und eine mit Abwendung und Innenkehr verbundene Enthebung aus sämtlichen Ordnungen und Wertehierarchien angestrebt. Die Formen des wachsamen, schläfrigen und achtsamen Hörens sind – nicht abwechselnd, sondern in verschiedenen Dominanzverschiebungen – während der performativ-partizipatorischen Installation 8 Stunden (mindestens). Ein Schlaflabor für die Müdigkeitsgesellschaft des Theaterkollektivs Turbo Pascal zu erleben.122 Da alle drei auditive Modi am folgenden Beispiel aufgezeigt werden, wird der Verlauf des Abends ausführlicher geschildert.

122

Die Aufführung von 8 Stunden (mindestens) – ein Schlaflabor für die Müdigkeitsgesellschaft von Turbo Pascal war vom 13.-16. März 2013 an den SOPHIENSÆLEN zu erleben. Mitwirkende waren bei Turbo Pascal bei dieser Installation Golschan Ahmad Haschemi, Thorsten Bihegue, Verena Lobert, Veit Merkle, Frank Oberhäußer. Ich habe in der Nacht vom 14. auf den 15. März daran teilgenommen. Im Folgenden wird der Titel abgekürzt auf 8 Stunden (mindestens). Weitere relevante Arbeiten, die nicht ausführlicher erörtert werden können, aber im gleichen Kontext anzuführen sind, ist das wachsame Hören in den performativen Installationen You Made Me a Monster und Human Writes von William Forsythe und der Forsythe Company, The Quiet Volume von Tim Etchells und Ant Hampton, das schläfrige Hören in Alpinarium_3 von theaterkonstellationen sowie das wachsame und schläfrig-träumerische Hören während des Audio Walks Ghost Machine von Janet Cardiff und George Bures Miller, wobei bei allen auch achtsame Hörweisen zu erleben sind, da die Sprecher*inneninstanzen die Hörenden direkt ansprechen, ihnen Fragen stellen oder sie auf ihre aktuelle Wahrnehmungssituation hinweisen. Es lässt sich in der darin sich manifestierenden selbstbewussten und -reflexiven Wendung ein wesentliches Moment von Achtsamkeit aufzeigen.

348         

8 Stunden (mindestens) von Turbo Pascal wird auf der SOPHIENSÆLE-Homepage als Abend des ›Ineffizient-Seins‹ angekündigt. Das Theater wird zum »Möglichkeitsort des gemeinsamen Müde-Seins«123, die Teilnehmenden sind aufgefordert, »Zahnbürste, Schlafanzug und was man sonst noch braucht«124 mitzubringen, denn geplant ist eine länger dauernde, nächtliche Veranstaltung: Aufführungsbeginn ist um 21 Uhr, das Ende ist für sieben Uhr am nächsten Morgen angekündigt. Zunächst werden wir Teilnehmenden aus dem Foyer in den Festsaal zu den Sitzreihen geleitet, die mit Grünpflanzen und Sitzkissen ausgestattet sind und dadurch vom regulären Theaterbesuch abgehoben werden. Wir setzen uns. Mein Blick fällt auf den im Halbdunkel liegenden, nahezu leeren Saal. Gegenüber in der Mitte ist eine breitere podestartige Erhöhung zu erkennen, auf der in Längsrichtung einige Stühle und zwei Schreibtische aneinandergestellt stehen, darauf eine Vielzahl technischer Geräte, Computerbildschirme, Mikrofone, Kabel, aber auch ein Stativ, ein Notenständer sowie Musikinstrumente, z. B. ein Keyboard und eine Gitarre. Hinter diesen Aufbauten befindet sich eine große Leinwand, die fast die gesamte Breite der hinteren Saalwand abdeckt. Vorne links nahe den Sitzreihen steht eine weitere kleine, mobile Leinwand. Hinten rechts ist ein weißer ca. zweieinhalb Meter hoher Kubus zu sehen, offenbar ein begehbarer kleiner Raum mit einem jalousienverschlossenen Fenster in unsere Richtung, aus dem nun einer der Performenden tritt und mit einem weißen Klebeband auf dem Boden Markierungen setzt, während er in unsere Richtung spricht und Informationen über das Schlafen in seiner gesundheitlichen Relevanz sowie über das sozial, kulturell und historisch geprägte Schlafverhalten mitteilt. Andere Performer*innen treten aus verschiedenen Türen im Bühnenhintergrund und kleben ebenfalls – jedes Mal laute Geräusche des Zerrens und Reißens verursachend – weitere Markierungen ab, während sie Anekdoten zum Schlaf erzählen. Immer mehr angedeutete Rechtecke werden auf dem Bühnenboden erkennbar, während die Geräusch- und Stimmklanglichkeit den Raum erfüllt. Ohne genau zu wissen, was mich als nächstes erwartet, erscheint mir zunächst jeder Laut von Bedeutung und wird auf intensive Weise registriert. Auf die dann folgende Demonstration des Aufbaus der im Bühnenhintergrund in großen Mengen gestapelten Holzpritschen wird uns jeweils eine davon mit der Aufforderung ausgehändigt, sie entlang der Bodenmarkierungen aufzustellen. Es wird laut, als die nun über den Raum verteilte Gruppe von ca. vierzig Teilnehmenden mit Hilfestellung der Performer*innen ihre Liegen aufklappt. Dabei werden Teile geräuschvoll ineinandergerastet, aufgestellte Liegen verschoben, so dass die Füße über den Boden schrammen, und Decken aufgeworfen. Die Teilnehmenden stellen Fragen, lachen leise,

123

Vgl. die Archivseite der sophiensaele unter http://www.sophiensaele.com/archiv.php?

124

Ebd.

IDstueck=1103&hl=de, letzter Zugriff am 19.08.2016.

         



               349 

flüstern, setzen sich auf die knarrenden Liegen, ziehen Schuhe aus oder gehen im Raum hin und her. Eine Vielzahl verschiedener Geräusche erklingt durcheinander in dem hohen Saal, dessen Nachhalleffekt durch seine nahezu quadratische Form, die hohe Decke und die kahlen Stein- und Betonwände, von denen der Putz sich in großen Flächen abschält, verstärkt wird. Dazu mischt sich eine über das Keyboard hervorgebrachte unterhaltsam beschwingte Musik mit eingängigem Easy-ListeningRhythmus und improvisiert wirkenden Klaviermelodien. Die Stimmung ist weitgehend ausgelassen, teilweise aber auch nervös-angespannt. Einige Teilnehmende sitzen bereits auf ihren Liegen und schauen zumeist entweder etwas verloren vor sich hin oder anderen dabei zu, wie sie noch die letzten Teile ihrer Pritsche zurechtrücken. Andere machen es sich gemütlich, legen sich hin, ziehen die Decke über sich und schließen die Augen. Die von den Bodenmarkierungen vorgegebenen Abstände zwischen den Liegen sind mit ca. einem halben Meter im Durchschnitt nicht sehr weit, so dass sich die Teilnehmenden in unmittelbarer Nähe zueinander befinden und sich insofern nicht nur sehen, sondern die Anwesenheit der anderen ebenso spüren können, zudem sie durch Blicke, Bitten um Hilfe oder einsetzende Kennenlern-Gespräche oft auch direkt adressiert werden. ›Drei-Minuten-Speeddating‹ heißt der nächste Punkt des Abendprogramms – im Bestreben um einen, wie es das Performance-Kollektiv formuliert, ›Abbau von Fremdheitsgefühlen‹. Wir werden aufgefordert, uns mit unseren Bettnachbar*innen im Rahmen einer gegenseitigen dreiminütigen Befragung zum jeweiligen Schlafverhalten näher kennenzulernen. Neben mir sitzt eine mir unbekannte Frau, älter als ich, sympathisch wirkend, und einige Minuten später weiß ich, dass sie unbedingt bei offenem Fenster und in einem weiten Doppelbett schläft und gerne früh aufsteht. Im weiteren Verlauf des Abends und der Nacht nimmt die Lautstärke des Gehörten ab, der Grundton wird ruhiger und nach den eingangs präsentierten Fakten, Daten und Diagrammen werden die sich in längeren zeitlichen Abständen vollziehenden Interventionen der Performer*innen assoziativer und traumähnlicher. Mittlerweile haben viele Teilnehmende das Angebot, sich in der geschlossenen Box umziehen zu können genutzt, sich gar die Zähne geputzt und liegen nun zugedeckt auf den Pritschen, während Einzelne noch hin und wieder im Raum umhergehen oder sich leise mit Turbo Pascal unterhalten. Wir hören Songs, die performt werden, Stimmen der Performenden, die von verschiedensten Träumen erzählen und immer wieder die Geräusche der Bewegungen im Raum. Als später das Licht heruntergefahren wird und nun fast alle Teilnehmenden in den ›Betten‹ sind, ist auf den Leinwänden für längere Zeit eine Live-PapercutProjektion zu sehen, die mit diversen Utensilien und einer kleinen Handkamera am mittigen Podest erzeugt wird. Zu den leicht verschwommenen Bildern von Lichtund Schattenwelten, von lichten Bäumen und wirrem Gestrüpp, durch das hier und da gleißendes Sonnenlicht fällt, von Schnee- und Eislandschaften, von verschlossenen Türen, von Gebäudefassaden und von Treppen, die ins Nichts führen, von ei-

350         

genartigen Wesen mit Schafsköpfen erklingen die Stimmen der Künstler*innen in ruhigem, leicht verwundertem Tonfall und nach Worten suchendem langsamen Tempo, wobei es scheint, als wäre dies ein langer, sich in seinen einzelnen Zusammenhängen nicht erschließender Traum. Alles im Saal ist jetzt ruhig, die Stimmung durch die Art des Sprechens, die unergründlichen Bilder und das Halbdunkel gedämpft – ich schlafe ein, und alles entschwindet meinem Bewusstsein. Irgendwann werde ich durch laute Musik und eine Berührung an der Schulter aufgeweckt, Unruhe herrscht im Saal, aber es ist noch dunkel. Wir werden aufgefordert, an einem Nachtspaziergang durch Berlin-Mitte teilzunehmen, für den wir in die noch winterliche Kälte treten und durch die leeren Straßen und die nächtliche Stille zur nahegelegenen Sophienkirche gehen, in der wir schließlich Platz nehmen. Die Kirche ist zunächst von festlicher Orgelmusik erfüllt, dann singen wir gemeinsam Lieder zu den Themen ›Schlaf‹, ›Nacht‹, ›Abschied‹ und ›Tod‹. Die noch winterliche Kälte ist sehr präsent – viele der Anwesenden haben ihre Decken umgeschlungen und die Jackenkragen hochgeschlagen. Aufgrund der unalltäglichen Situation um vier Uhr morgens in der kleinen Kirche in Berlin-Mitte entsteht eine positiv gestimmte Atmosphäre des Abenteuerlichen und zugleich Absurden. Schließlich werden wir zurück ins Theater gebracht und ›dürfen‹ noch einmal für einige Stunden weiterschlafen. Am Morgen wecken uns die Geräusche des Klapperns der Liegen und der Duft von Kaffee. An langen Tischen gibt es ein kleines Frühstück, die restlichen Pritschen werden in die Ecke geschoben, und schließlich verlassen alle Teilnehmenden das Theater. Wachsames, schläfriges und achtsames Hören sind keine eindeutig voneinander trennbaren Weisen der Wahrnehmung, vielmehr bezeichnen sie besonders dominante Ausprägungen von Dimensionen, die im Hören immer gegeben und miteinander verschränkt sind. Wachsames, schläfriges und achtsames Hören sind darin verwandt, dass das Aufmerksamkeitszentrum in diesen Modi stark geweitet ist. Ihr wesentliches Unterscheidungsmerkmal ist der je verschiedene Wachheitsgrad, insofern das wachsame von höchst angespannter, das schläfrige von reduzierter und das achtsame Hören von einer besonderen, später noch genauer zu erörternden Wachheit geprägt ist. Darin weisen die drei Modi jeweils verschiedene Grade der Intensität, der Stärke der Gerichtetheit und deren Direktionalität sowie der Mobilität auf. Grundlegend geht der Wachheits- und Bewusstseinsgrad auch mit Unterschieden in der Gerichtetheit der Hörenden einher, denn während das wachsame Hören die basale Intentionalität des Subjekts im Sinne eines ungerichtet suchenden Horchens verstärkt, nimmt sie in der Schläfrigkeit so stark ab, dass sie kaum noch vorhanden ist, und im achtsamen Hören erfährt sie dahingehend eine Modifikation, dass sie in ihrer Gerichtetheit – sozusagen ›ausgebremst‹ oder ›ausgehöhlt‹ – auf das bloße Sein und Wirken gewendet und nicht auf ein konkretes Ziel hin erlebbar wird.

         



               351 

Für längere Zeit ist zu Beginn von 8 Stunden (mindestens) vor allem wachsames Horchen zu erfahren, insofern die Situation aufgrund ihrer Unbestimmtheit und Offenheit unberechenbar ist. Weder herkömmliche Konventionen des Theaters noch ein soziokulturell habitualisiertes (Schlaf-)Verhalten sind in dieser Situation angebracht, vielmehr ist in der jeweiligen sich konstant verändernden Situation zu entscheiden, was und wie dies nun gemacht wird. Wachsamkeit beruht auf einer sich in alle Richtungen von den Wahrnehmenden aus vollzogenen Öffnung und Intensitätssteigerung. Das wachsame Hören ist als auditiv-attentionaler Modus des Horchens zu bestimmen, in dem das Zentrum geweitet ist und leiblich-affektive Prozesse des Spürens, Ahnens und Registrierens im Sinne der Antizipation des potentiell Hörbaren die wesentlichen Komponenten darstellen. Insbesondere wenn zu Beginn der Veranstaltung von allen Teilnehmenden die Liegen aufgestellt werden und es visuell und auditiv zu einer ungeordneten Unruhe kommt, wird eine Hörweise forciert, die sich nicht auf ein einzelnes Geräusch, sondern mit hoher Intensität auf alles Erklingende richtet. Im Rahmen der von Roland Barthes vollzogenen Differenzierung verschiedener Hörtypen stellt das wachsame Horchen125 den ersten Modus des Hörens dar, ein noch vor jedem Zeichenverstehen mögliches ›Indizien-Hören‹, durch das die Hörenden sich in ihrer Umgebung orientieren. »Das Horchen ist jene vorausgehende Aufmerksamkeit, durch die sich alles erfassen läßt, was das territoriale System stören kann; es ist eine Weise, sich gegen Überraschungen zu schützen; sein Objekt (worauf es sich richtet) ist die Bedrohung oder, umgekehrt, das Bedürfnis; das Material des Horchens ist das Indiz, das entweder die Gefahr offenbart oder die Befriedigung des Bedürfnisses verheißt.«126

125

Anzumerken ist, dass in der Übersetzung von Dieter Hornig drei verschiedene Begriffe verwendet werden, um Roland Barthes’ Begriff der première écoute darzustellen: Horchen, Lauschen und Hinhören. Auch wenn sich diese Modi zunächst nicht grundsätzlich unterscheiden, so ist es angesichts der Nuancen der zu differenzierenden Hörweisen besser und ihrer Vielfalt und Spezifizität angemessener, einen einzelnen Begriff zu wählen und bei diesem zu bleiben, um ihn in der entsprechenden Weise zu prägen – vom Horchen sind, so ist anzunehmen, die Modi des Lauschens und Hinhörens bei genauerer Analyse eines entsprechenden Beispiels zu unterscheiden. Die Berücksichtigung der auditiven Aufmerksamkeitsdynamik erfordert durch die Betonung der verschiedenen möglichen Hörweisen eine entsprechende Sensibilität und Sorgfalt im Umgang mit Begrifflichkeiten, weshalb im Folgenden ausschließlich der Begriff des wachsamen Horchens für diese Hörweise verwendet wird.

126

Barthes: »Zuhören« (1990 [1982]), S. 251.

352         

Die Weite des Aufmerksamkeitszentrums dient dazu, in der von verschiedenen Geräuschen und Lauten durchsetzten Umgebung möglichst Vieles aufnehmen zu können. Barthes betont, dass das Ziel dieser grundlegenden, aber auch funktionalen Hörweise der Orientierung und Verortung im Hörzeitraum dient und darüber hinaus zudem die Abwendung von Gefahren oder die Befriedigung von Bedürfnissen gewährleistet. Die in IV.1.1 angegebene Unterscheidung zwischen dem einfachen, physiologisch bedingten Hören und dem Zuhören als gerichtetem und konzentriertem Hörmodus ist in diesem Kontext relevant, denn mit dem wachsamen Horchen lässt sich dieser Binarität eine weitere Hörweise hinzufügen. Keineswegs ist das wachsame Horchen mit dem physiologisch bedingten Hören zu verwechseln; vielmehr erweist sich das Horchen auf ähnliche Weise intensiviert, konzentriert und gerichtet wie das Zuhören, doch im Unterschied zu diesem durch seine omnidirektionale Offenheit weniger auf einzelne Phänomene, wie z. B. auf das Sprechen eines Gegenübers, fokussiert. Zudem stellt es eine höchst aktive Tätigkeit dar, bei der, wie Barthes anmerkt, das Wahrgenommene nicht als homogene ›Masse‹ aufgenommen, sondern in Gestalten differenziert wird, ohne dass damit ein dem zweiten Barthes’schen Modus des Entzifferns vergleichbarer Zeichendeutungsprozess einhergeht. Die Unterschiede zwischen einem auf physiologischen Bedingungen basierenden Hören und einem auf Zeichendeutung und Verstehen hinzielenden Zuhören ergeben sich nach Barry Truax aufgrund ihrer unterschiedlichen Aufmerksamkeitsdynamiken.127 So hebt sich der Modus des Listening-In-Search von anderen auditiven Modi als »most active, involving a conscious search of the environment for cues« 128 ab, während das Listening-In-Readiness habitualisierte und automatisch ablaufende Prozesse der auditiven Muster- und Gestalterkennung meint, die keine bewusste Aufmerksamkeitszentrierung mit sich bringt. Sie ist auch während des Schlafens aktiviert: »Perhaps the most extreme case in which such listening operates is when one is sleeping.«129 Der dritte Modus des Background Listening stellt das unbewusste, bloße Registrieren des Gehörten dar, bei dem erst im Nachhinein erkannt wird, dass dieser Laut vernommen wurde. 130 Jener dritte Modus ist im Grunde, entgegen der von Truax aufgestellten Differenzierung, nicht auf der gleichen Ebene wie die anderen beiden zu verorten, denn in ihm kommt der zeitlichen Dimension der Nachträglichkeit verstärkt Relevanz zu – es ist eine Form des Überhörens randständiger Komponenten. Es handelt sich hierbei weniger um einen einzelnen Modus, als vielmehr um eine grundsätzliche Dimension, die den Formen des weniger stark gerichteten und weniger bewussten Hörens wie z. B. beim zuvor an-

127

Vgl. Truax 2001, S. 18.

128

Ebd., S. 22.

129

Ebd.

130

Vgl. ebd., S. 24 f.

         



               353 

geführten Modus des Listening-In-Readiness zu eigen ist. Die Gestalten werden ohne Zentrierung und also randständig gehört, aber im Nachhinein ließe sich häufig sicher angeben, dass diese Laute präsent gewesen waren. Während die Modi des Listening-In-Search und -In-Readiness sich durch ihre Gerichtetheit und Zentrierung unterscheiden, bezieht sich die Dimension des Überhörens auf die zeitliche Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart sowie auf den Grad der Bewusstheit des Rezipierten. Durch die von Barthes und Truax vorgenommene Differenzierung verschiedener Hörweisen lässt sich das Hören während des Verlaufs von 8 Stunden (mindestens) insbesondere während der geräuschhaften, unruhigen Anfangsphase, aber auch später während des ungewohnten und in seinem Ablauf nicht überschaubaren Nachtspaziergangs in die Kirche als wachsames Horchen einordnen. Diese von Barthes beschriebene Hörweise wird durch die Offenheit und Unberechenbarkeit der Wahrnehmungssituation hervorgerufen, in der sich die Teilnehmenden zurechtfinden müssen und in der sie diversen Unsicherheiten ausgesetzt sind. Auch die drei von Truax differenzierten Hörweisen erfolgen simultan während dieser Zeit. Nach Truax’ Konzeption unterscheiden sie sich im Grad des Automatismus und der Möglichkeit, auf Neues zu reagieren – während im Listening-In-Search-Modus aktiv, bewusst und intentional auf Neues und Bestimmtes gehorcht wird, vollzieht sich das Listening-In-Readiness durch Vorerfahrung und Konventionalisierung ohne die Notwendigkeit einer bewussten Verarbeitung und intentionalen Gerichtetheit. Scheinbar entgegengesetzt stellen sie doch beide jeweils eine Dimension des wachsamen Horchens in 8 Stunden (mindestens) dar, da einerseits auf Neues oder Bedeutsames gehorcht wird, das zur Orientierung in dieser Situation beiträgt, andererseits die verschiedensten Geräusche ohne bewusste Hinwendung des Aufmerksamkeitszentrums erkannt und hinsichtlich ihrer Lautquelle, Direktionalität sowie ihres Kontexts verortet werden. Veränderungen, die zur Erfahrung des schläfrigen Hörens führen, vollziehen sich im weiteren Verlauf der Nacht durch die stets zunehmende Müdigkeit und die allgemeine Beruhigung, die durch Stille, Dunkelheit, Abnahme von Bewegungen sowie die ruhiger, leiser und traumähnlicher werdenden Präsentationen bewirkt wird. Im Rahmen von 8 Stunden (mindestens) ist neben dem Schlafen vor allem das Einschlafen und das gemeinsame Aufwachen in seiner Ritualhaftigkeit, Prozessualität, Dauer und Unberechenbarkeit erfahrbar. In der Erinnerung ist die Phase des traumlosen Schlafens von den aktiveren Phasen des bewussten Wahrnehmens und des Zulassens der Einschlafprozesse umrahmt wie ein kurzer Moment des Aussetzens, der Dunkelheit, der Nicht-Bewusstheit oder wie ein Leerzeichen, das die verschiedenen Zeiten des Wach-Seins unterteilt und hervorbringt. Im Kontext von 8 Stunden (mindestens) ist das Schlafen im Theater kein randständiges Zufallsprodukt einer Aufführung, sondern deren Zentrum und erklärtes Ziel. Die Teilnehmenden

354         

von 8 Stunden (mindestens) können an diesem Abend nichts verpassen; denn gerade im intendierten Verpassen vollzieht sich diese Aufführung. Im schläfrigen Hören werden grundsätzlich Einzelheiten verpasst, denn auch wenn es sich, wie anfangs ausgeführt, um einen Hörmodus handelt, der in seinem Zentrum nicht fixiert oder verdichtet ist, so bewirkt die resultierende Offenheit zugleich im Gegenzug keineswegs, dass alles wahrgenommen wird, was erklingt. Gegenüber dem wachsamen Hören vollzieht sich eine Schwerpunktverlagerung, die mit einer Abnahme nicht der Weite des Hörens, sondern der Bewusstheit einhergeht. Das schläfrige Hören ist grundlegend durch die von Truax hervorgehobenen Modi des Background Listening und Listening-In-Readiness geprägt, bei denen die Geräusche automatisch registriert, aber nicht bewusst verarbeitet oder wahrgenommen werden. Aufgrund des stark verminderten Wachheits- und Bewusstheitsgrades vollziehen sich im schläfrigen Hören Prozesse der Reduktion und Verwischung von Abgrenzungen, Differenzierungen und Kontrasten sowie damit einhergehend auch Auflösungserscheinungen eines als ›bei sich seiend‹ bestimmbaren Subjekts, für das die Ebenen der Imagination und der leibräumlichen Umgebung sowie der Erinnerung, Gegenwart und Antizipation nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Jim Horne konstatiert im Rahmen seiner experimentellen Schlafforschung, dass sich das Einschlafen vom Wachheitszustand über Benommenheit bis zum Schlafen vollzieht. 131 Jean-Luc Nancy schildert den Vorgang des Einschlafens als eine Auflösungsbewegung der Grenzen zwischen Innen und Außen: »Mehr als alles werde ich selbst ununterschieden. Ich unterscheide mich nicht mehr eigentlich von der Welt noch von den anderen, noch von meinem Körper und auch nicht mehr von meinem Geist. Denn ich kann nichts mehr für einen Gegenstand, eine Wahrnehmung oder einen Gedanken halten, ohne dass sich diese Sache selbst als zur selben Zeit ich selbst und etwas anderes als ich selbst seiend spürbar macht. Es entsteht eine Gleichzeitigkeit des Eigenen und des Uneigenen, so dass diese Unterscheidung fällt.«132

Durch die zunehmende Müdigkeit in 8 Stunden (mindestens) lassen sich die Bereiche von Außen und Innen, von Fremdem und Eigenem nicht mehr eindeutig differenzieren; für die Schläfrigen dehnt sich die Empfindung der eigenen Leiblichkeit aus, und zugleich ebnen sich Abhebungen der Aufmerksamkeit ein. »Alles kommt sich selbst und dem Rest der Welt gleich.«133 Wachsende Indifferenz charakterisiert

131

Vgl. Jim Horne: Sleepfaring. A Journey through the Science of Sleep, Oxford/New York 2006, S. 128 f.

132

Jean-Luc Nancy: Vom Schlaf, Zürich/Berlin 2013 [Original: Tombe de Sommeil, Paris 2007], S. 15.

133

Ebd., S. 25.

         



               355 

diese Prozesse, wie Nancy hervorhebt und den subjektiven Zustand als Bei-sichSein in dem Sinne bestimmt, dass die Distanzen und Abstände sich nicht nur zur Außenwelt verringern, sondern auch im Inneren abnehmen, so dass schließlich im traumlosen Schlaf kein selbstreflexives Bewusstsein der eigenen Subjektivität mehr gegeben ist. Nach Nancy erfährt das Subjekt im Zustand des Schlafens sich ›selbst‹, während zugleich die Empfindung, ein bestimmtes ›Ich‹ zu sein, abnimmt und verschwindet. »Ohnmächtig ist er nur Selbst gewesen, unmittelbar auf sich selbst bezogenes Selbst, und zwar so weitgehend, dass dieser Bezug selbst, diese Rückkehr von sich zu sich als Rückkehr annulliert wird, denn sie ist alles in allem im Schlaf gegeben, als Abkürzung, ja als Kurzschluss jeder Art von ›Rückkehr‹.«134

In Zuständen der Schläfrigkeit bis hin zum Schlafen bzw. insbesondere zum Träumen vollzieht sich Wahrnehmung auf eine andere Weise, als dies während wacher oder wachsamer Phasen der Fall ist, denn nicht die Figuren, Formen und Gestalten der Erscheinungen, sondern – metaphorisch gesprochen – ihre Kehr- und Unterseiten, ihr Anderes, zeigt sich als ihre sich in Unschärfe auflösende ›Substanz‹. 135 »Das Licht hat das Nichts als Finsternis geformt: Es hat es als das Gestaltlose, das Figurlose konfiguriert, als das allen Dingen entzogene Ding.« 136 Im Traum zeigt sich der Schlaf als Nichts im Sinn einer »Präsenz einer Abwesenheit«137, als »Ausdehnung des Nirgendwo«138 und als »Anwachsen unserer Welt [...], das der Nacht eines Außerhalb der Welt gleichkommt, in dessen Schoß wir schweben wie Kosmonauten«139. Darin ereignet sich das Träumen, das in diversen Formen – während des Schlafens als eine Art Wachen im Schlaf oder als Tagträumen im Sinne eines Schlafens im Wach-Sein – verschiedene Übergangsstufen zwischen traumlosem Schlaf und wachsamer Wachheit umfasst. Unterschiede zwischen ihnen ergeben sich vor allem im Grad der Bewusstheit dieser Zustände. In Turbo Pascals 8 Stunden (mindestens) verschwimmt der Unterschied zwischen Wachen und Träumen während der langen Phase der Papercut-Projektion, die durch die langen Bildeinstellungen, die langsamen Bewegungen und den monotonen Tonfall der leisen Stimme einschläfernd wirkt. Es besteht dann keine Notwendigkeit mehr, zwischen den Ebenen der vermeintlichen ›Realität‹ und ›Irreali-

134

Nancy 2013 [2007], S. 20.

135

Vgl. ebd., S. 33.

136

Ebd., S. 34.

137

Ebd., S. 23.

138

Ebd., S. 35.

139

Ebd., S. 39.

356         

tät‹ zu differenzieren; das Ineinanderübergehen konnte zugelassen werden. Auf andere Weise schoben sich die Zustände von Schlaf und Wachheit übereinander, als die Performenden alle Schlafenden weckten, um den gemeinsamen Nachtspaziergang durch die nächtliche Stadt zu unternehmen. Auch wenn sich zunächst aufgrund des plötzlichen Geweckt-Werdens um vier Uhr nachts ein wachsames Horchen einstellte, das auf Orientierung inmitten der unbekannten Umgebung zielte, ließ diese auf das Äußere gerichtete, intensive Wahrnehmungsweise im Verlauf des Gruppenspaziergangs langsam nach und ging in andere schläfrige Hörweisen über, die noch verstärkt wurden von dem tragenden Rhythmus der gesungenen Schlafund Nachtlieder in der Kirche. Im Nachhinein erscheinen mir die Unterschiede zwischen den schläfrig wahrgenommenen Projektionen und den ebenso schläfrig registrierten leeren Straßen Berlins wenig prägnant. Vielmehr scheinen sie auf ähnliche Weise von einem Schleier überdeckt, durch den das Gehörte nur undeutlich drang. Sie sind von Entrücktheit geprägt, wie sie im vorherigen Beispiel von Thalheimers Die Ratten in der Variante der tranceartigen Einstimmung aufgezeigt wurde, insofern sich die Hörenden nicht ›bei sich‹ befinden. Ihr hörendes Merken richtet sich in der Wachsamkeit aber auf Signale der äußeren Umgebung, zu der in diesem Fall auf einmal auch die eigenen Körpergeräusche zählen. Beide Zustände lassen sich demnach eher als Phasen des Einschlafens und der Schläfrigkeit denn als Wachheit beschreiben, da die leibliche Befindlichkeit von Schwere und dem Verlangen, sich hinzulegen, gekennzeichnet ist. Da der Körper während des Einschlafens zunehmend schwerer wird, spricht Nancy von Vorgängen des Versinkens oder gar des Fallens. »All dieses Fallen fasst der Schlaf zusammen, er versammelt es. Der Schlaf kündigt sich an und versinnbildlicht sich im Zeichen des Falls, des mehr oder weniger raschen Niedergangs oder des Absackens, der Erschlaffung.«140 Etymologisch stammt das Wort Schlaf vom althochdeutschen slafan und indogermanischen släb für ›schwach werden‹ ab und steht darin in enger Verbindung zu althochdeutsch slaf für ›schlaff‹.141 Nach Jim Horne zeichnen sich die REM-Schlafphasen durch eine auffällige Schlaffheit der Muskeln aus, die Atonia oder Schlaflähmung genannt wird. Ihre Funktion besteht darin, die Schlafenden vom körperlichen Ausagieren ihrer Träume abzuhalten. Sie ist darin speziell, dass sie die sich beim Einschlafen einstellende Erschlaffung der Muskeln noch übersteigt, insofern diese im Zustand der Atonia tatsächlich gelähmt und unbeweglich sind. Desgleichen ist offenbar eine Art emotionaler Blockade aktiviert, die dazu führt, dass die geträumten Gefühle keine körperlichen Reaktionen wie Steigerungen

140

Nancy 2013 [2007], S. 9.

141

Vgl. Lemmata »schlafen« und »schlaff« in Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearbeitet von Elmar Seebold, 25. Aufl., Berlin/Boston 2011, S. 807.

         



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des Herzschlags, der Atemfrequenz, des Hormonausstoßes oder des Blutdrucks hervorrufen. In diesem Zustand spielt die potentielle Bedeutsamkeit des Wahrgenommenen eine wichtige Rolle, woran deutlich wird, dass im Zusammenhang mit hierarchisierten Ordnungen der Bedeutsamkeit zwischen verschiedenen Modi zu unterscheiden ist. Wachsamkeit und Schläfrigkeit stellen Hör- und Merkweisen dar, die mit Formen der Ordnungskonstitution umzugehen haben, sei es, dass sie sie in eine Ordnung zurückführen, sei es, dass sie sie aufrechterhalten oder modifizieren. REM-Schlaf, dessen Name von den sich in ihm ereignenden schnellen Augenbewegungen, den rapid eye movements, abgeleitet ist, gilt als eine besondere Phase der Verflechtung von Schlaf und Wachheit, die im Allgemeinen als paradoxer Schlaf bezeichnet wird und die Horne speziell als eine Art der ›Nicht-Wachheit‹ kennzeichnet.142 Dass während dieser Zeit häufig geträumt wird, entspricht Hornes These, dass im REM-Schlaf eine Stimulation des präfrontalen Gehirnareals – dem Zentrum der Bewegungs- und Handlungsentscheidungen sowie des Bewusstseins – vollzogen wird, bei der Reize der äußeren Umgebung simuliert werden. Das Besondere an diesem zyklisch alle 90 Minuten eintretenden Schlafzustand und der Grund, weshalb Horne ihn als eine spezielle Form der Wachheit einschätzt, ist, dass in ihm Dimensionen von Wachsamkeit aktiviert sind, durch welche die Schlafenden nicht – wie im Tiefschlaf – vollkommen unbewusst und dadurch getrennt von ihrer Außenwelt sind. Als entscheidend erwies sich in den experimentellen Untersuchungen Hornes dabei der Faktor der Bedeutsamkeit des potentiell Hörbaren: »Whispering a familiar name or providing some other meaningful sound to someone slumbering in REM sleep will usually produce an instant awakening, whereas a fairly loud and meaningless noise, even a train thundering past (if you live beside a railway), will be ignored, provided that it is not annoying.«143

Der Zustand des REM-Schlafs sei auch deshalb der Wachheit verwandt, da sich die zuvor angesprochenen Prozesse des Aufwachens ohne Irritationen durch Desorientierung vollzögen. Vielmehr geschehe der Wechsel ins Wach-Sein zumeist schnell und problemlos. Dabei erweisen sich die Zustände der Wachheit und des Träumens während der REM-Phase darin vergleichbar, dass in ihnen die Bedeutsamkeit des Gehörten von vorrangiger Relevanz ist. Wird ein bedeutsames Signal empfangen, können Schlafende während der fragilen REM-Phase erwachen, da in diesem Zustand immer noch zwischen unbedeutsamen und bedeutsamen Signalen unterschieden wird – im Gegensatz zur Tiefschlafphase, in der die Schlafenden nichts mehr

142

Vgl. Horne 2006, S. 138. Das EEG des Gehirns in diesem Zustand ähnelt stark dem-

143

Ebd., S. 140.

jenigen im Wachzustand, wie Horne herausstellt. Vgl. ebd., S. 128.

358         

registrieren, so dass keine Spur von Bewusstsein und keine Wahrnehmungsordnung mehr aktiviert ist. Dies unterstützt die in der Lärmforschung bestehende Tendenz, der Eindringlichkeit von Geräuschen mehr Beachtung zu schenken und diese weniger mit ihrer Lautstärke als vielmehr mit den spezifischen Klangqualitäten und Bedeutungen zu verbinden. Zudem wird an den Varianten des Träumens erkennbar, dass das Spektrum von Wachsamkeit als höchster Wachheit zum traumlosen Schlafen als tiefster Versenkung graduell zu konzipieren ist. Anzunehmen ist, dass es im Spektrum zwischen Wachheit und Schlaf sowie zwischen Fülle und Leere eine Vielzahl an Mischformen zwischen den genannten Aufmerksamkeitsgefügen gibt, die sich indes kaum durch bestehende Begriffe erfassen lassen. REM-Schlafphasen gelten aufgrund ihrer Nähe zur Wachheit und ihres Auftretens nur nach längeren Schlafzeiten als eine besondere Form der ›Erholung vom Schlaf‹, der als Rückzug vom ›Nichts‹ des Tiefschlafs und als Entspannung gegenüber seiner Intensität wie ein ›Schlafen im Schlaf‹ wirksam wird.144 Mit ihrer performativ-partizipatorischen Installation 8 Stunden (mindestens) nehmen Turbo Pascal Bezug auf die von Byung-Chul Han – im Weiterdenken von Foucault – geäußerte Beschreibung der gegenwärtigen westlich-abendländischen, kapitalistisch geprägten Kultur als Müdigkeitsgesellschaft.145 Das Theaterkollektiv stellt mit seinem Schlaflabor einen heterotopischen Raum bereit, in dem Müdigkeit, Schläfrigkeit und Schlafen exponiert und erfahrbar werden, womit sich gleichzeitig eine Aufwertung dieser Zustände verbinden lässt. Von der Müdigkeitsgesellschaft werden Vorgänge des Schlafens, Pausierens und Nichtstuns grundsätzlich abgewertet, da sie als Phasen des Aussetzens von Schaffens-, Produktions- und Leistungsprozessen gelten. Im Denk- und Wertesystem der sich an die Disziplinargesellschaft anschließenden Leistungsgesellschaft stehen Effizienz, Produktivität, Positivität und eine kontinuierliche Intensitätssteigerung sowie Optimierung hoch im Kurs. In einer solchen Umgebung entwickelt sich Müdigkeit nach Han zum Normalzustand, da immer weniger geschlafen wird. Jean-Luc Nancy nimmt an, dass »die heutige Welt eine ohne Schlaf und ohne Wachen ist [...], eine Welt die sich den Rhythmus genommen hat, die sich die Möglichkeit entzogen hat, ihre Tage und Nächte der Ordnung einer Natur oder einer Geschichte entsprechen zu sehen.«146 Auch Jonathan Crary spricht vom »global system that never sleeps«147. Das vom US-Militär vorangetriebene Forschungsziel, die Notwendigkeit des Schlafens vollständig eliminieren zu können, beschreibt Crary anhand des für die Gegenwartskultur wesentlichen Mottos 24/7, das die angestrebte allzeitliche Verfüg- und Erreich-

144

Vgl. Horne 2006, S. 132.

145

Vgl. Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft, 8. Aufl., Berlin 2013 [2010], S. 5.

146

Nancy 2013 [2007], S. 50.

147

Crary 2013, S. 24.

         



               359 

barkeit zum Ausdruck bringt. 148 Schlaf erhalte in diesem Kontext widerständige Bedeutung und anarchistische Wirksamkeit: »Sleep poses the idea of a human need and interval of time that cannot be colonized and harnessed to a massive engine of profitability, and thus remains an incongruous anomaly and site of crisis in the global present. In spite of all the scientific research in this area, it frustrates and confounds any strategies to exploit or reshape it.«149

Turbo Pascal bietet mit dem Schlaflabor einen Raum – und Zeitraum – an, innerhalb dessen es den Teilnehmenden freigestellt ist, was sie tun oder lassen, wobei das Schlafen immer als Alternative zu anderen Handlungsoptionen möglich ist. 8 Stunden (mindestens) hält dazu an, Ineffizienz zu praktizieren und sich dieses Innehaltens, Aussetzens und Nicht-Leistens als besonderen Erfahrensprozessen bewusst zu werden – die teilweise verloren oder desorientiert wirkenden Reaktionen und meine sich in erhöhter Wachsamkeit auswirkende Unsicherheit ob des zu erwartenden Geschehens sind Anzeichen der Internalisierung bestimmter Leistungsprinzipien, aufgrund derer mit Phasen der Leere und Ziellosigkeit nur schwer umzugehen ist. Die von den Neuen Medien verstärkte Simultaneität von Wahrnehmungsweisen und Tätigkeiten, die mit dem Schlagwort des Multitasking als neue Aufmerksamkeitsform bezeichnet wird, kritisert Han in der Ausformung einer »breite[n], aber flache[n] Aufmerksamkeit« 150 als Rückschritt in eine Zeit, in der grundlegende Wachsamkeit gegenüber der gesamten Umgebung und bei allen Tätigkeiten notwendig war. Wahrnehmungs- und Merkweisen verändern sich grundlegend, wie Han konstatiert: »Das Übermaß an Positivität äußert sich auch als Übermaß an Reizen, Informationen und Impulsen. Es verändert radikal die Struktur und Ökonomie der Aufmerksamkeit. Dadurch wird die Wahrnehmung fragmentarisiert und zerstreut.«151 Zu kritisieren sei demnach bezüglich der entstehenden ›neuen‹ Aufmerksamkeitsformen die Abnahme an Tiefe und der Verlust von möglichen Phasen der Versenkung, die sich durch die von Han als Hyperaufmerksamkeit gefasste Oberflächenfokussierung mit ihren schnellen Wechseln vollziehen würden. Grundsätzlich geht damit eine Merkweise verloren, die Han – mit Bezug auf Walter Benjamin – im Rückgriff auf eine auditive Metaphorik als Gabe des Lauschens beschreibt.152

148

Ebd., S. 9.

149

Ebd., S. 11.

150

Ebd., S. 27.

151

Han 2013 [2010], S. 26.

152

Vgl. ebd., S. 29: »Die ›Gabe des Lauschens‹ beruht gerade auf der Fähigkeit zur tiefen, kontemplativen Aufmerksamkeit, zu der das hyperaktive Ego keinen Zugang hat.«

360         

»Gerade das Schwebende, das Unscheinbare oder das Flüchtige erschließen sich allein einer tiefen, kontemplativen Aufmerksamkeit. Auch den Zugang zu dem Langen und Langsamen hat nur das kontemplative Verweilen.«153 In 8 Stunden (mindestens) wird mit dem achtsamen Hören eine spezifische Wahrnehmungsweise und ein besonderes Aufmerksamkeitsgefüge erfahrbar, das der nach Han gegenwärtig forcierten Hyperaufmerksamkeit entgegensteht, da in ihm vor allem Besinnung, Innehalten, Dauer, Ineffizienz und Ungerichtetheit wesentliche Dimensionen darstellen. Achtsamkeit ist ein mit Bewusstseinszuständen der Meditation verbundenes, intensives und hoch konzentriertes Gewahren der eigenen Leiblichkeit und Bewusstheit sowie der Umgebung. Diese Form des Beachtens vollzieht sich während der mehrstündigen Veranstaltung von 8 Stunden (mindestens) mehrfach, ohne dass eine spezifische meditative Praxis aufgerufen und praktiziert wird. Der von einzelnen Performer*innen während der Papercut-Projektion stimmlich verlautbarte Bewusstseinsstrom stößt durch das suchende, stockende, zögernde Aufeinanderfolgen mehr oder weniger kohärenter Gedanken eigene Reflexionen an, die sich u. a. auch auf die Art des schläfrigen Denkens selbst, d. h. seinen verzögerten, langsamen Verlauf, beziehen können. Vor allem aber auch im Verlauf des nächsten Tages, der aufgrund des Schlafmangels in der Theaternacht von Müdigkeit geprägt ist, stellen sich immer wieder selbstreflexive Gedanken über den eigenen Bewusst- und Wachheitszustand ein. In ihnen wird der eigene Zustand wahrgenommen, ohne dahingehend zu urteilen, dass diese Müdigkeit in irgendeiner Weise negativ einzuschätzen wäre. Ich empfinde mich an diesem Tag zwar als ›gebremst‹ oder ›gedämpft‹, so dass meine Entscheidungen und Handlungen langsamer vollzogen werden, doch zugleich nehme ich alles bewusster wahr. Deutlich wird, dass sich mit diesem Spektrum der weniger wachen Hörweisen eine kritische Haltung gegenüber einem spezifischen Konzept des Bei-Sich-Seins verbindet, das dieses – auch im Sinne der zuvor verhandelten Ideale von höchster Konzentration und Bedeutsamkeit – auf bestimmte Vorstellungen von Handlung, Erkenntnis, Interaktion, Selbstbewusstsein und Bei-Sinnen-Sein festlegt. Insbesondere das achtsame Hören weist darauf hin, dass andere Arten des Bei-Sich-Seins möglich sind, bei denen die Bezüglichkeit des Sich anderweitig verfasst ist, und zwar im Sinne einer Entrücktheit und eines Neben-Sich-Seins. Das achtsame Hören bewirkt Bei-Sich-Sein somit auf eine andere Weise als im herkömmlichen Sinn des vernünftig agierenden Subjekts, und zwar als eine Reduktion des Handlungs- und Erkenntnisstrebens und als nicht wertende, akzeptierende Besinnung auf sich als einfach seiende Präsenz. Das hintergründige Gewahrsein wird dabei bewusst wahrgenommen und ins – dadurch geweitete – Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. »Achtsamkeit ist das Gegenteil von ›auf Autopilot sein‹, das Gegenteil von Tag-

153

Han 2013 [2010], S. 30.

         



               361 

träumen. Achtsamkeit bedeutet, aufmerksam sein für das, was im gegenwärtigen Moment hervortritt.«154 Im Kontext einer von buddhistischen oder hinduistischen Praktiken beeinflussten philosophischen Theorie der Meditation wird auf das Hören als Paradigma des meditativ-versunkenen Zustands der Praktizierenden rekurriert. 155 So werden Zustände der Meditation und des Yoga häufig mit Metaphern des Hörens umschrieben: »Among Eastern philosophies and traditions, listening inwardly is important as a practice. [...] The focus of one’s awareness is an aspect of listening.«156 Stabilisierung und Ausgeglichenheit ist das Ziel dieser Aufmerksamkeitshaltung. In der buddhistischen Praxis des shamatha, was auf Sanskrit ›Ruhe‹ bedeutet und sich auf meditative Übungen in Konzentration und Versenkung bezieht, streben Meditierende in neun verschiedenen Stufen und Intensitätsgraden das Erreichen des höchsten Ziels an, das in der Ausgeglichenheit und Balance von Aufmerksamkeit verortet wird. »Śamatha is a serene attentional state in which the hindrances of excitation and laxity have been thoroughly calmed. The central goals of its cultivation are the development of attentional stability and acuity.«157 Auch in den vielfältigen hinduistisch orientierten Meditationsweisen, zu denen neben besonderen Formen des sadhana-Meditierens und Mantra-Singens auch die Atemübungen des pranayama zu zählen sind, werden ähnliche Bewusstseins- und Aufmerksamkeitszustände praktiziert und »Bewusstsein im Gleichgewicht«158 angestrebt. Die Sanskrit-Bezeichnung dhyana für ›Versenkung‹ und ›Meditation‹ weist auf den angestrebten Zustand der inhaltslosen Präsenz-Empfindung hin, der in Patañjalis Yogasutra als samādhi be-

154

Christopher K. Germer: »Achtsamkeit. Was ist das? Wozu dient sie?«, in: ders. u. a. (Hg.), Achtsamkeit in der Psychotherapie, Freiamt im Schwarzwald 2009 [Original: Mindfulness and Psychotherapy, New York 2005], S. 15-49, hier S. 19.

155

Vgl. Diana Corley Schnapp: »Listening in Spirituality and Religion«, in: Listening and Human Communication in the 21st Century (2010), S. 239-265, hier vor allem S. 243: »The articles published to date focus the listening behaviors in three different areas: listening to a higher power or spirits; listening to ›inner voices‹; and listening to other people.«

156

Corley Schnapp: »Listening in Spirituality and Religion« (2010), S. 247. Formen des aufmerksamen, achtungsvollen Hörens werden in der Bibel als christlich hervorgehoben: »Jesus and the writers of the New Testament books refer numerous times to hearing and listening, implying that listening is an important part of one’s functioning as a Christian [...].« Ebd., S. 244.

157

Vgl. B. Allan Wallace: Contemplative Science: Where Buddhism and Neuroscience converge, New York 2009, S. 137.

158

Patañjali: Das Yogasutra, Einführung, Übersetzung und Erläuterung von R. Sriram, Bielefeld 2006, S. 45.

362         

schrieben wird, als ein »Zustand, in dem die Spuren bekannter Wahrnehmungen gar keine Wirkung mehr haben«159 oder auch als ein Bewusstsein, das in seiner Intensität sprachliche Beschreibungsmöglichkeiten übersteigt: »Ein Gewahrsein, das so unbegreiflich, unbeschreiblich, großartig und erlösend ist, dass manche Bücher allein davon handeln, wie es wohl sein mag, in diesem Zustand zu leben, so zum Beispiel die wundervolle Ashtavakra Gita: ›Jenseits aller Form. Für immer still. Genau so bin ich.‹ (Kap. 7, Vers 3).«160

Der höchste Bewusstseinszustand, der durch beharrliche meditative Übungen anzustreben ist, wird demnach durch Ruhe, Stille, Leere und die Abwesenheit jeglicher Formen charakterisiert. Nichts ist mehr zu hören, weil die Gedanken stillstehen und auf die leere ›Präsenz‹ gerichtet sind. Verhindert wird eine Absorption durch das Gedachte oder Wahrgenommene.161 Erreicht wird dieser Zustand durch vairāgya, Gleichmut oder Wunschlosigkeit, und die übende Praxis der konzentrierten Ausrichtung aller Gedanken und Gefühle auf ein einzelnes, gleichbleibendes Thema.162 Er ist paradoxerweise gleichermaßen durch höchste Bewusstheit, größte Konzentration und Intensität einerseits sowie andererseits durch eine gewisse ›Abwesenheit‹, Distanziertheit, Leere und Versunkenheit geprägt. Auch in Bezug auf das Christentum wird diese Kombination zunächst entgegengesetzt scheinender Zustände hervorgehoben und als Erfahrung von wakefulness163 beschrieben.164 Wakefulness um-

159

Patañjali: Das Yogasutra (2006), S. 81. Vgl. auch Artikel »Samādhi«, in: Wilfried Huchzermeyer: Das Yoga Wörterbuch: Sanskrit-Begriffe – Übungsstile – Biografien, 2. Aufl., Karlsruhe 2007, S. 163 f. Samādhi wird hier als »Sammlung, Versenkung, Ekstase, Einheitserfahrung, überbewusster Zustand« beschrieben und von »sam-ā-dhā, die ganze Aufmerksamkeit auf etwas richten« abgeleitet. Ebd., S. 136.

160

Ralph Skuban: Patañjalis Yogasutra: Der Königsweg zu einem weisen Leben, München 2011, S. 36.

161

Vgl. Germer: »Achtsamkeit. Was ist das? Wozu dient sie?« (2009), S. 23.

162

Vgl. Patañjali: Das Yogasutra (2006), S. 23, 42 f. und 45.

163

Der Begriff wakefulness lässt sich nicht eindeutig ins Deutsche übersetzen; am naheliegendsten erscheint der Begriff der Wachsamkeit, wobei anzumerken ist, dass im Kontext der Yoga- und Meditationspraktiken im Englischen aber eher von mindfulness und im Deutschen von Achtsamkeit gesprochen wird und dass zwischen diesen Begriffen wesentliche Unterschiede bestehen, so dass eine Begriffsklärung notwendig erscheint.

164 Vgl. Moshe Barasch: »Waking: A Form of Attention in Ritual and in Religious Art«, in: Aleida Assmann/Jan Assmann (Hg.), Aufmerksamkeiten. Archäologie der literarischen Kommunikation VII, München 2001, S. 227-240, hier S. 228.

         



               363 

fasst eine Vielzahl von Bedeutungen im Deutschen, die von ›Wachheit‹ und ›Wachsamkeit‹ bis zu ›Schlaflosigkeit‹ reichen und keineswegs dasselbe meinen. Während Wachheit sich auf den Intensitäts- und Reflexionsgrad des Bewusstseins bezieht und ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein einschließt, betont der Begriff Wachsamkeit über die Intensität hinaus insbesondere die leibliche Dimension der starken Anspannung im Zustand der Alarmbereitschaft gegenüber einer potentiell abzuwehrenden Gefahr oder im Sinne einer schnelleren Reaktionsfähigkeit im Kontext positiv konnotierter Handlungsmöglichkeiten. Ersteres wird im Englischen auch mit dem Wort awareness ausgedrückt, während Letzteres primär als alertness gefasst wird. Im Rahmen der religiös-meditativen Praktiken und Theorien ist vorrangig das Konzept der Wachheit, also der awareness, von Bedeutung.165 Aufmerksamkeitsdynamiken der Wachheit sind als besonders intensive Art des Gewahr-Seins zu bestimmen. Die zuvor in Bezug auf Turbo Pascals 8 Stunden (mindestens) beschriebenen Hörweisen und Aufmerksamkeitsgefüge der Wachsamkeit, Schläfrigkeit und der Achtsamkeit hängen mit einer gewissen Leere und Absenz zusammen – während in der Wachsamkeit alles, was nicht das erlauschte Signal ist, als unwichtig ignoriert und somit eher offen in die Weite gehorcht wird, dabei potentielle Signale jederzeit erwartend, aber nicht aktuell hörend, ist in der Achtsamkeit bei einem hohen Grad an Wachheit die Gerichtetheit nach außen verringert, dafür aber nach innen umso stärker, um einen Zustand der Leere und des bloßen Seins zu erzeugen. Bei der Schläfrigkeit schließlich vollzieht sich eine grundlegende Aushebelung der Relevanzverhältnisse: Nichts ist mehr so wichtig wie der angestrebte Schlaf. Insofern geht es bei den drei Formen auch in der Hinsicht um extreme Unterschiede, dass in ihnen die Hierarchien der Bedeutsamkeit, Relevanz und Wertigkeit sehr unterschiedlich gewichtet und gelagert sind. Die Wachsamkeit geht von der impliziten Wichtigkeit des potentiell Hörbaren aus, während die Achtsamkeit zwar keine einzelnen Personen, Gegenstände, Gefühle oder Gedanken für relevant befindet, doch insgesamt auf das Erreichen des idealisierten Zustands des ›Nichts‹-Denkens abhebt. Demgegenüber besitzt in der Schläfrigkeit zumeist nichts mehr wirkliche Relevanz, bis auf das erwünschte Eintreten des Schlafs, wobei dieser als körperliche Notwendigkeit irgendwann ohnehin einsetzt, unabhängig davon, ob er gewünscht

165

Schlaflosigkeit wiederum weist auf einen vollkommen anderen Zusammenhang hin, und zwar auf die Abwesenheit von Schlaf bzw. auf Schlafprobleme, die z. T. gerade im Extremfall zu Zuständen der wachen Nicht-Wachheit und der nervösen Wachsamkeit führen können und damit den im religiösen oder spirituellen Kontext zentralen ruhigen, entspannten, in die Weite geöffneten Formen von Achtsamkeit entgegenstehen.

364         

oder wie hoch er geschätzt wurde.166 Daran wird ein Aspekt deutlich, der für alle drei Gefüge gilt, aber für Achtsamkeit am deutlichsten, für Wachsamkeit weniger und für Schlaf am wenigsten eingängig ist: dass es sich bei allen um Prozesse des Zulassens handelt, unabhängig davon, wie unterschiedlich stark sie jeweils auf bestimmte Ereignisse gerichtet sind. Während im wachsamen Horchen ein Zulassen im Sinne der Weitung des Aufmerksamkeitszentrums auf alle wahrzunehmenden Laute erfolgt, ist dieser Prozess in der Schläfrigkeit eher als Nachlassen von Anspannung, Gerichtetheit und Widerständigkeit und als ein Zulassen zunehmender Langsamkeit, Undeutlichkeit und Gleichwertigkeit einzuschätzen. In der meditativen Achtsamkeit wiederum ist es das Vorbeiziehen des Bewusstseinsstroms mit all den vielfältigen Gedanken, Empfindungen, Wünschen und Bedürfnissen etc., was durch das Aufmerksamkeitsgefüge der Selbst-Abständigkeit ermöglicht und verstärkt wird. Wie Han unterstreicht, handelt es sich um eine höchst aktive Form des Aufrechterhaltens einer konstanten Abweisungshaltung: »In der Zen-Meditation z. B. wird versucht, die reine Negativität des nicht-zu, d. h. die Leere zu erreichen, indem man sich von dem andrängenden, sich aufdrängenden Etwas befreit.«167 Durch das Verneinen, das in 8 Stunden (mindestens) von Turbo Pascal durch die Anlage des Abends als Verweigerung einer kohärenten Aufführung und als weitgehende Nicht-Erfüllung konventionalisierter Ansprüche an die Präsentations- und Wahrnehmungsweise erlebbar wird, lässt sich während dieser nächtlichen Veranstaltung der Prozess des inneren Stiller-Werdens im Einschlafen und eine sich aus der Abnahme von Angeboten ergebende, zunächst desorientierend sich auswirkende Freiheit erfahren.



166

Es sei denn, eine Person leidet unter chronischer Schlaflosigkeit, wobei ein Mensch ganz ohne Schlaf nicht lange überleben kann. Vgl. zum Zusammenhang zwischen Schlaflosigkeit und gesundheitlichen Gefahren bei Laugsand, Lars E. et al.: »Insomnia and the Risk of Acute Myocardial Infarction: A Population Study«, in: Circulation 124 (19) 2011, S. 2073–2081; Everson, C.A., Bergmann, B.M., Rechtschaffen, A.: »Sleep deprivation in the rat: III. total sleep deprivation«, in: Sleep 12 (1) 1989, S. 13-21.

167

Han 2013 [2010], S. 47.

         



               365 

   

                          Gemeinsam mit dem Zuschauer schweigen. Zwei Stunden lang. Das wäre ein Traum für mich. Bilderfluten haben wir eh. Wir wissen ja gar nicht mehr, wie wir diese Bilder loswerden sollen.168 MICHAEL THALHEIMER

Insgesamt war mit den vorangehenden Beispielen aufzuzeigen, wie sich das Hören im Gegenwartstheater bezüglich der mit Lautlichkeit und Bedeutsamkeit zusammenhängenden Hierarchisierungen und Ausschlussmechanismen des Nicht-Klangs, der Nicht-Stille sowie des Nicht-Zuhörbaren verhält und wie die Ab- und Aufwertungsprozesse umgekehrt oder unterlaufen werden. In der Entgegensetzung von Signalen und Rauschen besteht eine wirksame Unterscheidung aufgrund des Informationsgehalts, in der Gegenüberstellung von erträglichen Geräuschen und unerträglichem Lärm begründet sich eine Hierarchisierung anhand der mehr oder weniger starken Eindringlichkeit des Gehörten. Beide Ordnungen unterstehen dem Gebot und Ideal der Kommunikation, die eine störungsfreie Übertragung und Rezeption von Informationen umfasst. Alles, was dieses System durchkreuzt und in seinem Ablauf auf irgendeine Weise behindert, wird mit dem Begriff des noise als Störung abgewertet und ist durch Optimierungsstrategien zu eliminieren. Noise lässt sich in seiner Bedeutungsvielfalt vor allem als das bestehende Ordnungen durchkreuzende Element bestimmen – konkret also als Störgeräusch wie Rauschen oder Lärm, abstrakt aber auch als das jeweils auffällig werdende Randständige, Hintergründige, Unspektakuläre oder Unmerkliche. Auch Stille könnte nach letzterer Definition als noise gelten, insofern hier von einer Absenz der Signale auszugehen ist. In ihr zeigt sich eine Unterbrechung des kontinuierlichen Informationsflusses, die als Hintergrund zur Abhebung der Signale zwar zunächst notwendig, doch bei exzessiver Dauer oder in bestimmten Kontexten ›störend‹ wirkt. Zu zeigen war, dass die Theater-Hörweisen auf verschiedene Weise erfahrbar machen, dass Leere, Stille oder noise nicht vollkommene Absenz bedeuten, sondern dass in ihnen auf eigenartige Weise Abwesenheit als solche zur Erscheinung

168

»Der Traum vom Schweigen« vom 31.03.2004, Michael Thalheimer, Andreas Kriegenburg, Stephan Kimmig und Armin Petras im Gespräch mit den WELTJournalist*innen Hella Kemper und Stefan Grund, online unter http://www.welt.de/ print-welt/article303589/Der-Traum-vom-Schweigen.html, letzter Zugriff am 12.09. 2016.

366         

kommt. Es ist auf das eingangs angeführte Zitat von Romeo Castellucci zurück zu verweisen, nach dem Nichts nicht nichts ist, sondern etwas. Verschiedene Arten der Verflochtenheit und der Erscheinungsweise von Absenz und Präsenz, Leere und Fülle, Stille und Geräusch, Ordnung und noise sind in den angeführten Aufführungen erfahrbar geworden. Während in Ostermeiers Wunschkonzert die auffällig werdende, aber gerade nicht spektakuläre Verschränkung von Geräuschklanglichkeit und Stille einerseits sowie das Verhältnis von Ordnung und diese Ordnung durchquerenden Einschüben andererseits hörbar werden, zeigt sich in Michael Thalheimers Die Ratten, gleichermaßen in Lynn Pooks und Julien Clauss’ sowie in Turbo Pascals performativ-partizipatorischen Installationen STiMULiNE und 8 Stunden (mindestens) die eindringliche Wirksamkeit des Nicht-Signifikanten im Sinne erstens des Hintergründigen, zweitens des Leiblich-Affektiven und drittens des Beruhigend-Einschläfernden. Das Gehört-Gespürte wirkt in ihnen insbesondere über seine Dauerhaftigkeit, Eindringlichkeit und Affektion, wobei zu betonen ist, dass die Wirksamkeiten des Gehörten als Dynamik zur Erscheinung kommt – im Vordergründig-Werden, im leiblichen Gespürt-Werden oder auch im Nachlassen der Wachheit. Mit dem Begriff der Affektion ist eine wesentliche Wirkungsweise von Lauten thematisiert, die sich untergründig zur, aber auch jenseits von der Dimension der Bedeutsamkeit vollzieht, d. h. dass das Gehörte unabhängig von seinem semantischen Gehalt Relevanz und Bedeutung erhält, indem es hervortritt, sich aufdrängt, eindringt, berührt, kurz gesagt, indem es die Hörenden affiziert. Affekt stammt etymologisch vom – zuvor bereits im Kontext von Die Ratten erwähnten – griechischen Wort páthos für ›Leiden‹ oder auch ›Leidenschaft‹ und wurde im Lateinischen dann zu affectus für ›Einwirkung‹, ›Erleiden‹.169 »Affekte sind so als etwas begriffen, was dem Menschen ›angetan‹ wird, was er durch seine Abhängigkeit von der Außenwelt ›erleidet‹.«170 Der Begriff besitzt historisch in Philosophie und Ästhetik bis ins 19. Jahrhundert große Bedeutung, verliert dann an Relevanz, aber wird verstärkt wieder seit den 1970er Jahren in der Kunst-, Film- und Musikästhetik sowie insbesondere in den letzten Jahren im Rahmen einer sich vorwiegend im angloamerikanischen Raum entwickelnden Affect Theory aufgegriffen.171 Als Antwort auf Roland Barthes’ Forderung einer Patho-logie im Sinne einer Erforschung des affektiven Minimums, das sich als Schimmern manifestiere, beschreiben Melissa Gregg und Gregory J. Seigworth in ihrer Einführung zu The Affect Theory Rea-

169

Hartmut Grimm: »Affekt«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 1, Stuttgart/Weimar 2000, S. 16-49, hier S. 16.

170

Ebd., S. 19.

171

Vgl. ebd., S. 47.

         



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der Affekttheorie als »passion for differences as continuous, shimmering gradations of intensities«172. Die gegenwärtige Affekttheorie bewege sich nicht entlang einer einzelnen zentralen Linie, sondern entstehe vielmehr in Form einer plural verzweigten Ausuferung, so dass Affektion nicht eindeutig zu definieren, sondern nur durch Bezugnahme auf die aktuell vielfältige Theoriebildung in verschiedenen Bedeutungsdimensionen zu konturieren sei. Als wesentliche Punkte nennen die Autor*innen die Verortung der Affektion im ›Zwischen‹ von Subjekt und Umgebung bzw. von Aktivität und Passivität. In der Affektion zeigen sich die auf Körper einwirkenden Prozesse, Kräfte und Intensitäten als Resonanzen, Übergänge und als subkutane Eindringlichkeiten: »Affect, at its most anthropomorphic, is the name we give to those forces – visceral forces beneath, alongside, or generally other than conscious knowing, vital forces insisting beyond emotion – that can serve to drive us toward movement, toward thought and extension, that can likewise suspend us (as if in neutral) across a barely registering accretion of forcerelations, or that can even leave us overwhelmed by the world’s apparent intractability.«173

Affektion steht in einem engen Zusammenhang mit dem Auditiven, da im Gespür wie im Gehör die leibliche Eingebundenheit und Verflochtenheit mit der Umgebung verstärkt erfahrbar wird. Bezüglich der Einwirkung der Umwelt auf die Körper der Wahrnehmenden wird in der Affekttheorie vor allem das nahezu Unmerkliche, Kleine und Subtile in seiner Wirkmacht hervorgehoben. »In fact, it is quite likely that affect more often transpires within and across the subtlest of shuttling intensities: all the minuscule or molecular events of the unnoticed.«174 Weniger visuell gedacht als vielmehr auf die Dimension der Auffälligkeit und Abhebung hinweisend ist das Affizierende in Spektren von auffälligem Glitzern und nachlassendem Verblassen, von lebhafter Pulsation und eintöniger Dauerhaftigkeit einzuordnen. Wie kleine Vibrationen oder ein Schimmern wird die eindringliche, doch oft kaum bewusste Wirkungsweise der Affektion in diesem Kontext beschrieben. Durch sie verdeutlicht sich das Ineinandergreifen von Körper und Welt als ein Feld von Kräfterelationen, Vermischungen und unzähligen Implikationen, innerhalb dessen Kör-

172

Melissa Gregg/Gregory J. Seigworth: »An Inventory of Shimmers«, in: dies./ders. (Hg.), The Affect Theory Reader, Durham/London 2010, S. 1-25, hier S. 11. Vgl. Roland Barthes: »Die Patho-logie«, in: ders.: Das Neutrum, Frankfurt a. M.2005 [Original: Le Neutre. Notes de cours au Collège de France, 1977-1978, Paris 2002], S. 139f.

173

Gregg/Seigworth 2010, S. 1.

174

Ebd., S. 2.

368         

per als offen, prozessual und stets im Wandel zu konzeptualisieren sind.175 Die körperliche Materialität der Wahrnehmenden ist demnach nicht grundsätzlich von derjenigen anderer Materie zu unterscheiden, sondern vielmehr in stetem Austausch und in Relation mit dieser stehend und ihr in der Verfasstheit gleichend. Mit dem Begriff des Affektiven als eines Vibrierens oder Schimmerns wird die ihm zugeschriebene konstante, kleine und schnelle Bewegung unterstrichen, mit der sich des Weiteren ein Verständnis von Materialität als einer prozessualen, wandelbaren und fragilen verbindet. Gregg und Seigworth fassen dies als »ever-processual materiality«176. Wie maßgeblich in STiMULiNE, aber auch in Die Ratten und 8 Stunden (mindestens) erfahrbar wurde, sind die Hörenden den Einwirkungen der Umgebung über ihren Körper – in diesen Fällen den vibrierenden, synchronisierenden und beruhigend-entspannenden Lauten – in gewissem Maß ausgesetzt. »Affect is in many ways synonymous with force or forces of encounter.«177 Während einerseits in der Affektion die leibliche Dimension sich zu Gespür gibt und somit auffällig wird, inhäriert diesem Prozess zugleich die Möglichkeit, irritierend, distanzierend, befremdend o. Ä. zu wirken, insofern sich zwischen dem Affizierenden und dem Affizierten entscheidende Diskrepanzen ergeben können. »Affect marks a body’s belonging to a world of encounters [...] but also, in non-belonging, through all those far sadder (de)compositions of mutual in-compossibilities. Always there are ambiguous or ›mixed‹ encounters that impinge and extrude for worse and for better, but (most usually) in-between.«178

In der Erfahrung der Nicht-Zugehörigkeit, die aus irritierenden Einwirkungen hervorgehen kann, manifestiert sich als wesentliche Komponente der leiblichen Befindlichkeit in der Welt diese negative Dimension der Dissonanz und NichtKohärenz. Sie ergibt sich intensiv in der Wahrnehmung von STiMULiNE, in der einerseits zwar die Offenheit des Körpers gegenüber der Umgebung am stärksten und sehr bewusst erfahren, in der andererseits zugleich aber auch die Etablierung und Aufrechterhaltung eines ›Innenraums‹ und ›Eigenen‹ verstärkt vollzogen wird, um sich gerade – und vergeblicherweise – gegen diese Eindringlichkeit zu schützen. Im Prozess der Affektion wird das Zwischen der Haut/Luft-Berührung als durchlässige Membran spürbar; die sonst hinter der Ordnung von Subjekt versus Objekt zurücktretende ›Grenze‹ tritt im Prozess des Affiziertwerdens hervor. Noch einmal im

175

Vgl. ebd., S. 3 ff.

176

Gregg/Seigworth: »An Inventory of Shimmers« (2010), S. 9.

177

Ebd., S. 2.

178

Ebd.

         



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Rückgriff auf Barthes verweisen Gregg und Seigworth auf das Neutrale des Affekts, das nicht im Sinne eines politisch Neutralen, sondern in der neutralen Position gegenüber eines auf binären Dichotomien basierenden Denksystems zu verorten ist. Das Neutrale der Affektion geht in Denkschemata von Körper und Umwelt, von Subjekt und Objekt, von Wahrnehmungsprozess und Wahrnehmungsgegenstand nicht auf. Vielmehr ist das Affizierende immer schon »›only intervals, only the relation between two moments, two spaces or objects‹«179. Ähnlich wird Aufmerksamkeit in den phänomenologischen Konzeptionen von Bernhard Waldenfels und Natalie Depraz dargestellt – als dasjenige, das im Rückzug das Erscheinende hervortreten lässt und es auf bestimmte Weise formiert. In diesem Sinne ist ein Zusammendenken der Affect Theory mit phänomenologischen Aufmerksamkeitstheorien zu befürworten – auf die produktiv zu machenden Überschneidungen beider Theoriebereiche weisen die vorangehenden Analysen der Aufmerksamkeitsdynamiken der Affektion grundlegend hin. In der Ausrichtung beider Bereiche auf die Sphäre des Unauffälligen, Kaum- oder Nicht-Merklichen und auf den Zwischenraum zwischen Einwirkung und Wahrnehmung, zwischen Geschehen und Erscheinung, zwischen Absenz und Präsenz finden sich wesentliche und für ein Zusammendenken vielversprechende gemeinsame Bezüge. Affektion stellt insbesondere in Waldenfels’ und Depraz’ Konzeption der Aufmerksamkeitsdynamik eine grundlegende Dimension dar, die jedem Aufmerkvorgang inhäriert. Beide kritisieren eine in der westlich-abendländischen und rationalistisch geprägten Philosophie festzustellende Bevorzugung des Klar-Bemerkten, wie sie sich in Begriffen der Konzentration, Fokussierung und Selektion anzeigt.180 Würde nur das genauer behandelt, worauf sich Aufmerksamkeit richtet, lässt sich wenig bis nichts über das Wie der Erscheinung sagen, und damit wird nach Waldenfels im Grunde das Wesentliche der Aufmerksamkeit verpasst, das er in ihrem »spezifischen Beitrag zur genetisch und dynamisch zu verstehenden Organisation der Erfahrung [verortet]. Es geht nicht um die Frage, was Erfahrungen ermöglicht, sondern darum, wie sie sich selbst verwirklicht.«181 Unaufmerksamkeit ist nach Waldenfels und Depraz als Teil der dieserart als Konzentriertheit idealisierten Aufmerksamkeit einzuschätzen, nicht als deren Gegenteil. Es handelt sich um eine Verschränkung ›wie in der Haßliebe‹, durch die ›Lebendigkeit‹ erzeugt wird, der klaren Abhebung von Gestalten

179 Roland Barthes, zit. nach Gregg/Seigworth: »An Inventory of Shimmers« (2010), S. 10. Vgl. Barthes 2005, S. 246. 180

Vgl. Waldenfels 2004, S. 103 ff.

181

Ebd., S. 95. Waldenfels erklärt die einseitige Ausrichtung der Philosophie auf das klar Erkennbare auch damit, dass sich die Prozesse der Aufmerksamkeit in ihrem Wirken einer begrifflichen oder deutenden Erfassung weitgehend entziehen und sie vorrangig in ihren Auswirkungen und Resultaten greifbar sind. Vgl. ebd., S. 99.

370         

eher zuträglich.182 In der Dynamik von Zu- und Abwendung »drückt sich ein unhintergehbares, naturgeschichtlich vorbereitetes Wohl- und Mißbefinden aus; ohne eine solche Lebenslust und Lebensunlust gäbe es kein leibliches und lebendiges Selbst.«183 Waldenfels fordert, verschiedene Weisen der Aufmerksamkeit anzuerkennen und zu berücksichtigen. Sie reicht vom Extrem von Schockerfahrungen und Überkonzentration über Aufdringlichkeiten und Auffälligkeiten bzw. Konzentration und Ablenkung bis hin zu Zerstreutheit, Versunkenheit und Schläfrigkeit.184 Als besondere Formen hebt Waldenfels die Zustände des Wachtraums, des ›Traumwachens‹, der Ekstase und Hypnose als Varianten der Zerstreuung und Abgelenktheit hervor und betont zugleich, dass der Bereich der Zerstreutheit noch viel stärker differenziert und analysiert werden könnte, als dies gegenwärtig in der Forschung der Fall ist, insofern Formen der Nicht-Konzentration bislang eher ignoriert werden. Die Aufmerksamkeitsphänomenologien von Waldenfels und Depraz stellen heraus, dass sich Gegensätze zwischen Aktivität und Passivität, Ordnung und außerordentlichem Ereignis, Selbst und Anderem, Subjekt und Objekt, Vergangenheit und Zukunft nicht mehr aufrechterhalten lassen. In diesem Kontext spricht Waldenfels auch von einem laisser faire, das dem Prozess des Aufmerkens angehört und bei dem sich der Aufmerkende in einer Art Wartehaltung befindet – so enthält der französische Begriff attention diese Bedeutungsnuance von Aufmerksamkeit in seiner Nähe zum Wort attente.185 Im Los- und Zulassen erfährt das Subjekt sich als nicht absolut separat von seiner Umgebung, sondern vielmehr treten die Austausch- und Einwirkprozesse deutlich hervor. In den zuvor angeführten Beispielen wird diese Dimension zu Bewusstsein gebracht, insofern sie auf besondere Weise markiert, betont, erfahrbar gemacht oder gar forciert wird – in Wunschkonzert durch die sich über alles legende Stille, bei STiMULiNE durch die leiblich erfahrbare Schwere und Dichte der einwirkenden Klangmaterialität, während der Aufführung von Die Ratten im synchronisierend-mitschwingenden Geschehen und im Verlauf von 8 Stunden (mindestens) durch die stets zunehmende Schläfrigkeit. Gegenwart, Präsenz, Wachheit, Leiblichkeit und Bewusstsein werden nicht als vollständig mit sich übereinstimmend und als stabil erlebt, sondern vielmehr in ihrer Offenheit, ihrem Ausfransen und ihren Rändern sowie zugleich auch in ihren absentischen Dimensionen hervorgehoben. Es kommt indes »die Sprache der Anwesenheit oder der Abwesenheit, der metaphysische Dis-

182

Vgl. ebd., S. 130.

183

Waldenfels 2004, S. 99.

184

Vgl. ebd., S. 97 f. und 103 ff.

185

Vgl. Waldenfels: »Attention suscitée et dirigée«, S. 41 und 43.

         



               371 

kurs der Phänomenologie«186 an ihre Grenzen, so dass andere Weisen der Beschreibung und Analyse erforderlich werden. Diese lassen sich, so der abschließende Vorschlag des vorliegenden Kapitels, über einen Rückgriff auf Jacques Derridas Begriff der différance sowie durch Bezüge auf die Affect Theory konstituieren, insofern mit ihnen das Unmerkliche, Unbewusste, Kleine, Absente und Sich-Entziehende betont werden kann. Mit Bezug auf Derridas différance-Begriff, auf den im Sinne eines konzeptionellen ›Scharniers‹ zwischen Aufmerksamkeitsphänomenologie und Affect Theory rekurriert wird, ist die in den Theateraufführungen gemachte Erfahrung primär als eine des Neben-Sich-Seins zu verdeutlichen, die sowohl für Prozesse der Affektion als auch überhaupt für das Aufmerksamkeitsgeschehen relevant ist. Dabei ist die Wirkungsweise der sich im Unauffälligen, Unscharf-Verschwommenen, Unbestimmbaren vollziehenden Affektion als ›symptomatisch‹ zu beschreiben. Sein Ereignen bringt die bestehende Ordnung zunächst aufgrund der Unbestimmbarkeit und Plötzlichkeit in Unordnung. Derrida beschreibt das Ereignis im Rückgriff auf den Begriff des Hereinbrechens und mit Bezug auf das Konzept der Vertikalität, insofern das Ereignis als das Andere, Fremde, Neue, Plötzliche und Unbestimmbare die Wahrnehmenden angeht, ja nahezu überfällt. »Das Ereignis als Ankömmling ist das, was vertikal über mich hereinbricht, ohne dass ich es kommen sehen kann: Bevor es sich ereignet, kann das Ereignis mir nur als unmögliches erscheinen. Das heißt aber nicht, dass es nicht stattfinden kann, dass es nicht existiert: es heißt nur, dass ich es weder auf theoretische Weise aussagen noch es vorhersagen kann.«187

Das Aufmerken, das den Wahrnehmungen der Symptome, Vibrationen und dem Schimmern gilt, vollzieht sich zunächst außerhalb jeglicher Ordnung und Bestimmbarkeit. Das Gespürt-Gehörte findet im Bereich jenseits des sprachlich Benennbaren und semiotisch Deutbaren statt. Es erhält Bedeutsamkeit – und darin zumeist auch Bedeutung – durch seine unmittelbare Einwirkung auf die Leiblichkeit der Wahrnehmenden. Ein Krankheitssymptom befindet sich am und im Leib, ist Teil des Leibes und nicht von ihm lösbar; es besitzt keine Fremdheit dem Körper gegenüber, sondern ist eine mehr oder weniger deutliche Markierung und ein teilwei-

186

Jacques Derrida: »Die différance«, in: ders.: Die différance. Ausgewählte Texte, Stuttgart 2004 [Original: »La différance«, in: Bulletin de la société française de la philosophie LXII, Nr. 3/1968, S. 73-101], S. 110-149, hier S. 137.

187

Jacques Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003 [Original: »Une certaine possibilité impossible de dire l’événement«, in: Dire l’événement, est-ce possible? Seminaire autour de J. Derrida (avec J. Derrida et G. Soussana), Paris 2001, S. 79-112], S. 35.

372         

se rätselhaftes Anzeichen einer Veränderung bzw. eines sich in und mit ihm vollziehenden Prozesses. Die Rätselhaftigkeit des Symptoms verortet Derrida als »Geheimnis im Sinne dessen, was nicht erscheint«188. Der Begriff des Symptoms wird von Derrida als ein zwischen dem Erscheinenden und dem Abwesenden einzufügendes und ihre eindeutige Trennung unterlaufendes Drittes eingeführt, um auf das besondere Verhältnis von Präsenz und Absenz des Ereignishaften hinzuweisen. Dabei ist dieses Dritte kein jenseitiges und hinzukommendes Extra, sondern »in der Zweiheit, im Von-Angesicht-zu-Angesicht, immer schon enthalten«, d. h. es zeigt sich im und am Differenzierungsgeschehen durch und im Prozess der Teilung, Strukturierung und Hervorbringung. Hervortretend Erscheinendem eignet in diesem Sinne zunächst ein grundsätzlich positives ›Ja‹ der Anwesenheit, wie Derrida am Beispiel der Performativa darlegt: »Ein Satz beginnt damit, ›ja‹ zu sagen. Selbst die negativsten, kritischsten, destruktivsten Sätze implizieren dieses ›Ja‹.«189 Die sich im Prozess des zurücktretenden Hervortreten-Lassens eröffnende Abständigkeit beschreibt Derrida mit dem Begriff der différance, der sowohl hinsichtlich Aufmerksamkeitsdynamiken als auch Prozessen der Affektion relevant ist und nur ex negativo zu definieren ist: »Wenn aber die différance das ist (ich streiche auch das ist durch), was die Gegenwärtigung des gegenwärtig Seienden ermöglicht, so gegenwärtigt sie sich nie als solche. [...] In jeder Exposition wäre sie dazu exponiert, als Verschwinden zu verschwinden. Sie liefe Gefahr zu erscheinen: zu verschwinden.«190

Nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich konzipiert Derrida différance, und zwar als eine Verzögerung, als das nachträglich – über den Umweg der repräsentierenden Zeichen – erst mögliche Bewusstwerden der zuvor und gegenwärtig bestehenden Ordnung sowie der im Hervortreten sich zeigenden Bedeutsamkeiten und ihrer möglichen Bedeutungen. »Das Zeichen stellt das Gegenwärtige in seiner Abwesenheit dar.«191 Ordnungen und Bedeutsamkeiten ergeben sich durch die in gegensätzliche Richtungen, aber immer simultan verlaufende Dynamik des Erscheinens und Verschwindens. Absenz ist eine grundsätzliche Dimension von Präsentischem und bringt dieses hervor. Vor einem Hintergrund kann Vordergründiges überhaupt erst zur Erscheinung kommen; ohne Stille lässt sich auditiv kein Laut abheben. Différance ist in diesem Sinne als produktiv einzuschätzen, kommt aber selbst nicht zur Erscheinung und wirkt auch nicht einfach aus dem Verborgenen heraus, son-

188

Ebd., S. 49.

189

Derrida 2003 [ 2001], S. 12.

190

Derrida: »Die différance« (2004 [1968]), S. 114.

191

Ebd., S. 119.

         



               373 

dern ist im Sich-Verbergen als »Prozeß von Spaltung und Teilung« 192 wirksam. »Das a der différance markiert die Bewegung dieser Entfaltung.«193 Die différance selbst wird nicht wahrnehmbar – ihre Differenzierung ist unhörbar und wird in der Stille unmerklich. Différance ist grundsätzlich nicht definierbar, denn sie entzieht sich aufgrund ihrer absentischen Verfasstheit, die von Leere, Zwischenräumlichkeit und Abständigkeit geprägt ist, einem sprachlichen Zugriff. Sie ist prozessual, nicht gegenständlich; darin ergeben sich Verbindungen zur Affektion, die ebenso vorrangig als Bewegung und nicht als Zustand oder konkrete Position bestimmt wird.194 Mit Bezug auf Karen Barads – in Anlehnung an Derrida entwickelten – Begriff des spacetimemattering ist schließlich auf das im Kontext von Queer Theory und New Materialism hervorgehobene prozessuale Wirken und Agieren performativer Prozesse der Materialisierung, an denen sich Absentisches manifestiert, hinzuweisen.195 Unter spacetimemattering versteht Barad in diesem Sinne die – als queer bestimmte – Performativität der konstitutiven Prozesse von ›Natur‹ und ›Dasein‹. Im Zusammenschluss von poststrukturalistischer, dekonstruktiver Philosophie mit Erkenntnissen der Quantenphysik und der Biologie konstituiert Barad einen Begriff von ›Natur‹ als ein sich konstant verschiebendes, sich dabei neu erzeugendes und permanent seine eigenen Ordnungen quer durchkreuzendes Geschehen. Insbesondere in der Quantenphysik lassen sich, so Barad, Prozesse aufzeigen, die eine Annahme von Identitäten im Sinne stabiler Formen unterlaufen. An der Grenze dessen, was als ›human‹ gilt und dabei konstruiert sowie idealisiert wird, treten die wirkmächtigen Ordnungs- und Abgrenzungsmechanismen hervor. Gegenüber einer Betonung von Abgrenzung ist nach Barad vielmehr von einem grundsätzlichen entanglement von Subjekt und Objekt sowie überhaupt von aller Materie auszugehen. »Matter is not figured as a mere effect or product of discursive practices, but rather as an agentive factor in its iterative materialization, and identity and difference are radically reworked. I have argued that what we commonly take to be individual entities are not separate determinately bounded and propertied objects, but rather are (entangled ›parts of‹) phenomena (material-discursive intra-actions) that extend across (what we commonly take to be separate places and moments in) space and time (where the notions of ›material‹ and ›discursive‹

192

Ebd., S. 118.

193

Ebd., S. 139.

194

Vgl. Derrida: »Die différance« (2004 [1968]), S. 125 f. und Gregg/Seigworth: »An In-

195

Vgl. Karen Barad: »Nature’s Queer Performativity (the authorized version)«, in: Kvin-

ventory of Shimmers« (2010), S. 4. der, Køn og forskning/Women, Gender and Research 1-2/2012, S. 25-53, hier S. 30.

374          and the relationship between them are unmoored from their anti/humanist foundations and reworked).«196

Mit ihrer Forderung, weiterhin verstärkt die Grenze zwischen Subjekt/Objekt zu hinterfragen, verbindet sich für Barad zudem ein Verständnis von Natur/Kultur, das auch in dieser Hinsicht von einer Zusammengehörigkeit und Gleichartigkeit ausgeht, insofern beide Dimensionen als Prozesse des »matter(ings)/materialization«197 aufzufassen sind. Meine Arbeit fasst auditive Aufmerksamkeitsprozesse als ein Geschehen der performativen Materialisierung, die sich mit Bezug auf Derridas différance-Begriff und Barads Verständnis des spacetimemattering als wirklichkeitskonstituierende, das wahrnehmende Subjekt in seiner Existenz grundlegend – sowohl leiblich als auch in der ethischen Relevanz – angehende Dynamiken, Manifestationen und Durchkreuzungen bestehender Ordnungen bestimmen lässt. Die Perspektive, die mit dem Begriff auditiver Aufmerksamkeit eingenommen wird, ist dabei aber von Barads insofern zu unterscheiden, als es mir um die – in den Theateraufführungen im Auditiven erfahrbar gemachte – subjektive Perspektive einer leiblichen Verortung in der ›Welt‹ im Sinne eines grundlegenden Ineinandergreifens, EindrücklichWerdens oder Verschmelzens ging. Diese ist aber unmittelbar mit dem von Barad Dargestellten zu verbinden, insofern sich für das Subjekt durch performative Materialisierungsprozesse ›Welt‹ konstituiert, und stellt sozusagen die ›Kehrseite‹ oder die subjektive ›Perspektive‹, die immer schon involviert ist, auf diese sich in der Welt vollziehenden Vorgänge dar.

196

Ebd., S. 32.

197

Barad: »Nature’s Queer Performativity (the authorized version)« (2012), S. 31.

 

               Wir wollen immer eine Lösung. Die Wahrheit ist: Wir müssen aushalten, dass es keine gibt.1 RENÉ POLLESCH

Ausgangspunkt dieser Arbeit waren die diversen, komplexen und sich einem sprachlichen Zugriff zunächst entziehenden Hörerfahrungen in zeitgenössischen Theateraufführungen. Ziel war es, die Vielfalt der Hörweisen im Theater zu erschließen und durch die Entwicklung und Reflexion einer entsprechenden Terminologie zu kennzeichnen, in ihren Strukturen und Wirkungsweisen zu analysieren und im Rahmen übergeordneter Kontexte zu verorten. Im Theater wird das Publikum auf unterschiedliche Weise zum Hören gebracht, durch Musik, Stimmen, Geräusche, Sounds oder Stille, doch ergibt sich auditive Wahrnehmung in Aufführungen nicht allein als ein Zuhören oder Hören dieser akustischen Phänomene. Auch ereignet sich auditive Wahrnehmung nicht in direkter Übereinstimmung zu den akustisch in einem Raum erklingenden Lauten, sondern vielmehr konstituieren sich im Prozess der Wahrnehmung spezifisch verfasste Lautlichkeiten durch das Zusammenspiel von akustisch Erklingendem und auditiver Rezeption. Das Gehörte kann in diesem Sinne auch im Widerspruch zum akustisch nachweisbar Erklingenden stehen, z. B. indem Stille als extrem laut erfahren wird, weshalb es erforderlich ist, bei der Beschreibung des Erklingenden vor allem auf die Prozesse der auditiven Wahrnehmung und Aufmerksamkeit einzugehen. Auditive Aufmerksamkeit wird als sphärische Differenzdynamik bestimmt, deren Wirken zur Organisation der Wahrnehmung und des Bewusstseins führt. Anhand dieses Begriffs lassen sich die verschiedenen Gefüge und Dynamiken der auditiven Wahrnehmung im Theater greifbar machen. Im Vorangehenden wurde aufgezeigt, dass 1

René Pollesch im Interview mit Tobias Haberl vom SZ-Magazin, Ausgabe 17/2012, online unter http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/37453/1/1, letzter Zugriff am 12.09.2016.

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diese sich innerhalb verschiedener Spektren bewegen, die zwischen Konzentration und Zerstreuung, Tiefe und Hervortreten, Hin- und Abwendung, Bedrängnis und Distanziertheit, Wachheit und Schläfrigkeit, gegenwärtigem Bei-Sich- und absorbiertem Außer- oder Neben-Sich-Sein zu verorten sind. Dabei ist hinsichtlich der auditiven Wahrnehmung von wirkmächtigen historisch, kulturell, sozial und individuell geprägten Normierungen und Hierarchisierungen des Zu-Hörenden und Zu-Bemerkenden auszugehen. Nicht alles potentiell Hörbare wird bewusst gehört, sondern das Hören ist durch Techniken, Normen und Praktiken des Auditiven grundlegend geprägt. So stellt die Konzentration in ihrer höchsten Verdichtung, Intensität und Ausschließlichkeit sowie ihrem Ziel des Verstehens ein solches Ideal dar, das sich im Auditiven in der Konzeption des konzentriert-verstehenden Zuhörens manifestiert. Über eine Perspektivierung der auditiven Aufmerksamkeitsdynamiken zeigt sich, dass die normativen Ideale sich durch ein je charakteristisches Aufmerksamkeitsgefüge ausweisen, das zum einen anhand diverser Spektren aufgezeigt werden kann und aus dem die spezifische Verfasstheit – z. B. der Gerichtetheit, Verdichtung, Fülle etc. – herauszuarbeiten ist, von der sich die weiteren angeführten Hörweisen abheben. Deutlich wird zum anderen, dass manche Gefüge als Idealisierungen innerhalb eines graduell verfassten Spektrums möglicher ähnlicher Hörweisen einzuschätzen sind. Die Ausgangsweise von diversen Spektren erlaubt es, die im Theater erfahrbaren alternativen Prozesse auditiver Wahrnehmung nicht im Gegensatzverhältnis zum Ideal, sondern als dessen Spezifizierung aufzufassen. Die Vielfalt des Auditiven im Theater steht nicht so sehr darin in einem kritischen Verhältnis zum Ideal, dass es dieses vollkommen negiert, sondern darin, dass – einzelne oder mehrere – Dimensionen verstärkt, markiert, ausgestellt und zu Bewusstsein gebracht werden, die der idealisierten Hörweise inhärieren, ohne als solche kenntlich gemacht zu werden. Das Hören im Theater lässt erfahrbar werden, dass und inwiefern die verschiedenen auditiven Ideale historisch und kulturell spezifische, abstrakte Konstruktionen sind, deren diskursive Verfasstheit Reduktionen und Verkürzungen beinhaltet. Im performativen Vollzug des Hörens ereignen sich Prozesse – der Verausgabung, der Verfehlung, des Sich-Verlierens, aber auch der Kreation, der Erweiterung, der Verflechtung, der Inspiration –, die in ihrer besonderen Wirksamkeit und Ausprägung mit einer Revision der Ideale sowie einer differenzierteren Bestimmung des Hörens als Vielfalt einhergehen. Gegenstand der Untersuchung waren zeitgenössische Theateraufführungen und performativ-partizipatorische Installationen, in denen markante Hörweisen und spezifische Aufmerksamkeitsgefüge und -dynamiken erfahrbar wurden. Ausgerichtet war der Fokus vorrangig auf eine Hervorhebung der Spezifika und eine Differenzierung der Nuancen dieser verschiedenen Formen auditiver Wahrnehmung. Bei dieser Beschreibung und Analyse war aber grundlegend auch die Verflechtung des Hörens mit den anderen Sinnen, vor allem dem Sehen und dem Spüren, zu berück-

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sichtigen. Häufig, aber nicht immer, war bei den angeführten Beispielen von einem Markant-Werden des Auditiven auszugehen, insofern die Lautlichkeit nicht nur eine beiläufige oder unterstützende, sondern die wesentliche Komponente der inszenatorischen Gestaltung und der Wirkung der Aufführung darstellt, doch immer ist das Hören in Relation zu den anderen Sinnen zu untersuchen, was in den Analysen durch Beschreibung und Analyse der Verhältnisse des Gehörten zum Gesehenen oder Gespürten jeweils nachvollzogen und in den sich ergebenden Besonderheiten hervorgehoben wurde. 2 Verstärkende oder störende, wechselnde oder simultane Prozesse sind aufzuzeigen und wurden im Vorangehenden als Körper-Hören, als vor allem leiblich spürbare Verausgabung oder als visuell und auditiv erfahrbares Entrückt-Sein gekennzeichnet. Hören findet im Theater nicht getrennt vom Sehen oder Spüren statt, sondern ist grundlegend in dieser Verflechtung aufzuzeigen. Was gegenüber dieser Arbeit mit ihrem Bezug auf den Begriff der auditiven Aufmerksamkeit einzuwenden ist und weiteres Forschen erfordert, ist die Konzentration auf einzelne Gefüge und Dynamiken der auditiven Wahrnehmung. Zwar wurden hinsichtlich der Dynamiken u. a. auch Verschiebungs- und Überlagerungsprozesse verdeutlicht, insofern es zwischen Absorption und Immersion oder Entrückt-Sein und Schläfrigkeit zu Wechselverhältnissen kommen kann, doch ist eine weitere gezielte Beschäftigung mit den komplexen Bezügen zwischen den aufgezeigten Hörweisen – auch in ihrer Historizität, wie dies am Beispiel des antiken griechischen und römischen Theaters durchgeführt wurde – wichtig. Das zuvor Erarbeitete verstehe ich als Grundlagenarbeit, auf die nun eine mit dieser Arbeit zu motivierende Forschung und weitere Ausarbeitung folgen sollte. Abschließend werde ich die Ergebnisse der beschreibenden und analytischen Differenzierung verschiedener Hörweisen im Gegenwartstheater thesenartig zusammenfassen und im Kontext übergreifender Theoriezusammenhänge verorten, um aufzuzeigen, dass und inwiefern auditive Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Materialität, Performativität, Subjektivität und Queerness über wesentliche Parameter miteinander verbunden sind.

2

Der Schwerpunkt meiner Betrachtungen lag auf dem Verhältnis des Auditiven zum Visuellen oder zum Haptischen; den anderen Sinnen kam geringere Bedeutung zu, weil sie im Rahmen der Theateraufführungen seltener explizit hervorgehoben werden. Als wesentliche Ausnahme ist diesbezüglich Romeo Castelluccis Sul concetto di volto nel figlio di Dio anzuführen, da sich durch den starken Gestank während der Aufführung Modifikationen der Aufmerksamkeit ergeben können. Solche Zusammenhänge sind als Fortführung der Analysen der vorliegenden Arbeit denkbar.

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I.Hören vollzieht sich als performatives Wirken einer sphärischen Differenzdynamik auditiver Aufmerksamkeit. Durch die Perspektivierung der auditiven Aufmerksamkeit zeigt sich, dass die verschiedenen Hörweisen im zeitgenössischen Theater durch unterschiedliche Gefüge und Dynamiken des Auf- und Bemerkens zu bestimmen sind. Zentral für die Analyse der Hörweisen im Theater erwies sich das Wirken der auditiven Aufmerksamkeit, die als Prozess der Organisation von Wahrnehmung und Bewusstsein aufgefasst wurde. Aufgrund ihrer Wandelbarkeit und ständigen Veränderung wurde sie als eine Dynamik konzeptualisiert, die in Bewegung und nur temporär gleichbleibend ist. Diese Phasen, in denen sich für die Hörenden ein bestimmtes, über längeren Zeitverlauf konstantes Hören ergibt, wurden durch den Begriff des Gefüges erfasst. Mit einer solchen Herangehensweise ließen sich die bei den spezifischen Hörweisen gegebenen Relationen zwischen Zentrum, Kontext und Randzonen sowie die sich herausbildende Gewichtung und Konstellation der räumlichen, zeitlichen und leiblichen Dimensionen hervorheben. In den attentionalen Verschiebungen, Teilungen und insbesondere in den Abhebungen entstehen Kontraste und Abständigkeiten im Gehörten, welche die spezifischen Hörweisen bewirken. Durch den Bezug auf phänomenologische Konzeptionen der Aufmerksamkeit ließ sich die Dynamik der auditiven Aufmerksamkeit als Differenzierungs-, Gewichtungs- und Stabilisierungsprozess bestimmen. Ausgehend von diesem Verständnis wurde ein Begriff von auditiver Aufmerksamkeit als sphärischer Differenzdynamik entwickelt, mit dem zum einen die Immersivität und Omnidirektionalität der auditiven Wahrnehmung und zum anderen die jeweils sich konstituierenden Abhebungen berücksichtigt werden können. Mit einem Verständnis der auditiven Aufmerksamkeit als einer strukturierten, stets in Veränderung seienden Differenzdynamik lässt sich ein vorrangig medienund kulturwissenschaftlich geprägtes – metaphorisches und konkretes – Verständnis des Auditiven als Paradigma des einhüllend Immersiven begegnen und dahingehend erweitern, dass dem Hören – ebenso wie dem ihm oft entgegengesetzten Sehen – Ordnungen, Strukturen und Distanzen zuzuweisen sind. Gehört wird nicht eine homogene Masse an Lauten, sondern eine Vielzahl verschiedener Komponenten in Relation zueinander und zu den Hörenden. Mit Berücksichtigung der auditiven Differenzdynamik lässt sich das an den verschiedenen Hörweisen manifest werdende, von den Hörenden nicht vollständig kontrollierbare, aber auch nicht durch die Lauterzeugung vollkommen lenkbare Geschehen innerhalb der Bereiche von Zentrum, Hintergrund und Rand detailliert und nuanciert aufzeigen. Die Analyse der Hörweisen in verschiedenen Theateraufführungen machte deutlich, dass auditive Aufmerksamkeit als performatives Wirken zu bestimmen ist, welches durch die Dimensionen der Prozessualität, Kontingenz, Ereignishaftigkeit,

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Fragilität und Leiblichkeit geprägt ist und in einem Zusammenhang mit Prozessen der Wirklichkeits- und Subjektkonstitution zu verorten ist. Zudem erweist sich die performative Differenzdynamik auditiver Aufmerksamkeit als von Absenz und Negation durchsetzt, indem sie ein Ordnungs- und Stabilisierungsgeschehen darstellt, das sich selbst entzieht und nur am und im von ihm Hervorgebrachten manifest wird. Auditive Gefüge sind in diesem Sinne als stabilisierte Dynamiken aufzufassen, die ein temporäres Stillstehen und eine ausgewogene Balance zwischen verschiedenen auszutarierenden Komponenten darstellt. Der Begriff des Aushaltens von Spannungen ist wesentlich für die Beschreibung auditiver Aufmerksamkeitsgefüge. Auditive Aufmerksamkeit ereignet sich als performativ wirklichkeitskonstituierendes Wirken, indem sich durch die Nähe- und Distanzverhältnisse der gehört-bemerkten Laute für die Hörenden komplexe plastische Hörzeiträume ergeben, innerhalb derer sie sich verorten und in einer Relation der Abständigkeit zum Gehörten stehen. Die Analyse plastischer Hörzeiträume in zeitgenössischen Theateraufführungen hat vier Aspekte ergeben, die für ein differenziertes Verständnis der Plastizität des Hörens – im Theater sowie im Alltag – relevant sind und eine Erweiterung der Forschung zur Räumlichkeit des Auditiven darstellen. Erstens erwies sich – den Theorien des Auditiven entsprechend, die sich kritisch gegen die verbreitete Bestimmung des Auditiven als ausschließlich zeitlichem Sinn richten – im Hören während der Aufführungen die Dimension des Räumlichen als eine wesentliche Komponente der Wahrnehmung. Räumlich manifestierte sich das Plastische des Gehörten dabei in Dimensionen der Ausdehnung und Tiefe, zeitlich in der Konstitution von Mustern, Rhythmen, Dauern, Phasen und Momenten in der Wahrnehmung der Hörenden. In Modifikation eines allein auf Tonrelationen basierenden Verständnisses klanglicher Räume ergaben sich die auditiven Räumlichkeiten als wirkmächtige Klanglandschaften und sind als Formen des räumlich-klanglich ausgerichteten strukturellen Hörens einzuschätzen. Die Grenzen der bestehenden Forschung markierend ergibt die Analyse des Theater-Hörens darüber hinaus als zweiten relevanten Aspekt weitere verschiedene besondere Verfasstheiten des plastisch Gehörten. Sie zeigten sich in Divisionen, Spaltungen und Schichtungen des Gehörten, die durch aus der Geologie entlehnte und auf Klangliches übertragene Begriffe des Soundgewölbes, der Soundwände und Soundschluchten erfasst wurden. Über das Hören bestimmter gegenständlicher Eigenschaften der Größe, Dichte, Schwere, Hohlräumigkeit, Distanz und Materialität hinaus lässt das Theater Hörweisen erfahrbar werden, in denen das Plastische des Gehörten die Umgebung der Hörenden wesentlich konstituiert. Der Theaterraum

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wird überlagert vom Hörraum, in dem sich das Plastische des Gehörten als raumgreifende ›Masse‹ von immenser Größe, einer gewichtigen Schwere oder sich eröffnenden Untiefen manifestieren kann. Nicht nur ergaben sich in den Hörerfahrungen statisch wirkende Gebilde, sondern es war vielmehr als dritter Aspekt von tektonischen Verschiebungen, Um- und Aufeinanderschichtungen, Überlagerungen sowie von räumlich wie zeitlich verfassten Formen des Entgegenkommens und Sich-Entfernens auszugehen. Sie manifestieren sich beispielsweise im räumlichen Näherkommen oder Entfernen sowie in der Vereinnahmung durch eine zeitlich sich konstituierende Dynamik der Intensität. Gehörtes ist demnach nicht nur darin dynamisch verfasst, dass sich in Melodien, Dauern und Rhythmen die An- oder Abwesenheit von Bewegungen – im Sinne von Veränderungen der Tonhöhe – ergeben können, sondern zudem darin, dass sich das Hervortretende als Heran- oder Hinwegdrängendes zeigt, welches die Hörenden im Extremfall größter Nähe auch in ›Bedrängnis‹ bringen kann. Viertens zeigte sich als weitere Dimension des plastischen Hörens im Theater die Mobilität des Hörens im Gehörten. Über die mit der Aufmerksamkeitsdynamik verbundenen Verschiebungen des Zentrums, d. h. des intensiviert und bewusst Wahrgenommenen in Abhebung vom Hintergründigen und Randständigen, lassen sich Umgewichtungen im Gefüge des Gehörten bewirken, durch die der Eindruck entsteht, die Hörenden bewegten sich im Gehörten. Auditiv ist es demnach möglich, die gehörten plastischen Umgebungen auf diese Weise zu erkunden. Dabei werden Destabilisierungen des Gefüges nicht ausschließlich durch das wahrnehmende Subjekt ausgelöst und kontrolliert; vielmehr verschiebt es sich durch das Wirken der auditiven Aufmerksamkeit weitgehend unabhängig vom bewussten Willen des Subjekts. Durch die zuvor erwähnten klangtektonischen Verschiebungen können sich die Wahrnehmenden desorientiert und verloren fühlen. Erfahrungen des SichVerlierens im Gehörten hängen demnach grundlegend mit der Plastizität des Hörens zusammen und können im Extremfall zu Empfindungen eines ›Außer-SichSeins‹ und einer Auflösung im Gehörten führen. Einerseits kann somit bei der Konfrontation mit klanglichen ›Wänden‹ die ›Härte‹ des Gehörten spürbar werden; andererseits wirken sich plötzliche oder länger anhaltende Destabilisierungen wie ›Erdbeben‹ oder ›Lawinen‹ aus, durch welche die Hörenden den Boden unter den Füßen verlieren können. Eine Betrachtung der Gefüge und Dynamiken auditiver Aufmerksamkeit im Theater verdeutlicht die grundlegend fragile und offene Verfasstheit des Subjekts, das in seiner Leiblichkeit über Prozesse der Affektion mit der Umgebung verflochten ist und mit ihr in einem Austauschverhältnis des Ineinandergreifens und der Durchdringung steht.

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Auditive Aufmerksamkeit vollzieht sich als leiblicher Prozess im Spektrum von Anspannung und Entspannung, Wachheit und Schläfrigkeit sowie Hingabe und Verausgabung. Deutlich wurde an der auditiven Wahrnehmung im Theater, dass auch Unaufmerksamkeit als konstitutiver Bestandteil von Aufmerksamkeit zu bestimmen ist. Eine solche Aufmerksamkeitskonzeption betont insbesondere die spektrale Verfasstheit der Aufmerksamkeit, die in ihren graduellen Abstufungen zu verschiedenartigen Wahrnehmungsweisen führt. Konzentriertes Zuhören vollzieht sich demnach nicht in Abgrenzung zu, sondern nachgerade durch die Wirksamkeit der Unaufmerksamkeit, die zum einen als Abhebungshintergrund fungiert, zum anderen aber auch alternative Zuhörmodi begründet. Ausgehend von den Analysen der Theater-Hörerfahrungen ist auf die produktive Wirkung des Nachlassens, der Diffusion und Zerstreuung, der Ungerichtetheit und Verweigerung, der ›Ablenkungen‹ und ›Störungen‹ hinzuweisen. Es verbindet sich damit eine Kritik an den – sich in allen drei aufgegriffenen normativen Hör- und Aufmerkweisen des konzentrierten Zuhörens, strukturellen Hörens und Signale-Hörens manifestierenden – Idealen der Konzentration, der im Verstehen-Wollen fokussierten, verdichteten Hinwendung sowie einer ausschließlich als vollkommen ›bei-sich-seiend‹ konzeptualisierten Wachheit. Mit dem Begriff der auditiven Aufmerksamkeit ließ sich auf Theatererfahrungen eingehen, in denen alternative Weisen des Bei-Sich-Seins erfahrbar wurden und die in diesem Sinne als kritische Auseinandersetzung mit einem auf Wachheit, Anwesenheit und Kontrolle verbundenen Subjektbegriff einzuschätzen waren. So wurden diese Weisen des Bei-Sich-Seins eher prozessual als Zu-Sich-Kommen erfahrbar. Weniger das Resultat der Bewusstheit als vielmehr die vielen graduellen Abstufungen zwischen Schlaf als Unbewusstheit und Wachheit waren von Interesse. An den Hörerfahrungen im Theater wurde zudem deutlich, dass das konzentrierte Zuhören, das in der Philosophie und Psychologie als primär geistiger Prozess bestimmt wird, sich in vielen Aufführungen als ein leiblich hervorgebrachtes und aufrechterhaltenes Geschehen vollzog. Im Begriff der Gabe verdeutlicht sich diese Dimension des Zuhörens, insofern sie das aufmerksame Gehör als ein ›Geschenk‹ der Hörenden an die Sprechenden erstens als aktiver Akt und zweitens als Entäußerung markiert. Darin waren Prozesse der Desorientierung, des SichVerlierens und Entrückt-Seins erfahrbar, welche als Abständigkeit sowohl zum plastisch Gehörten als auch zu ›sich selbst‹ und der eigenen Leiblichkeit markant wurden. Deutlich wurde die in Theateraufführungen durch das Hören zu machende Erfahrung der eigenen leiblichen Plastizität. Der plastischen Dimension des Gehörten entspricht die Plastizität des Hörens bzw. der Hörenden als in ihrer Körperlichkeit – und vor allem auch in ihrer zentrierenden Hinwendung – dreidimensional in den Raum hinausstehend. Mit Berücksichtigung der auditiven Aufmerksamkeitsdynamiken wird in diesem Sinne erkennbar, dass Abständigkeit nicht nur im Sinne

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der Distanz der Hörenden zu den gehörten Klängen oder als im Gehörten gegebene Spaltungen, Teilungen und Kontraste, sondern vielmehr auch als ekstatische Abständigkeit von sich zu konzeptualisieren ist. Mit dem Hervortreten des Hörens werden zudem ethische Fragen aufgerufen, die mit Bezug auf Philosophie, Phänomenologie, Queer und Affect Theory erörtert und in ihren Implikationen für das hörend sich spürende Subjekt – in Theaterauführungen – aufgezeigt wurden. Die theaterwissenschaftliche Aufführungs- und Wahrnehmungsanalyse ist in diesem Kontext eng mit Phänomenologie, Affect sowie Queer und New Materialism Theory zu verbinden, um ein Verständnis der dynamisch und performativ verfassten Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsprozesse gewinnen und diese Erkenntnisse im Kontext umfassenderer Zusammenhänge verorten zu können. Im theoretischen Kontext hat sich diese Arbeit über den Titel Sounds that matter im Rahmen von R. Murray Schafers Soundscape-Forschung, von P. Sven Arvidsons Aufmerksamkeitskonzept und in Relation zu Judith Butlers Performativitäts- und Subjektivitätstheorie verortet. Die Auseinandersetzung mit auditiver Aufmerksamkeit in zeitgenössischen Theateraufführungen hat gezeigt, dass sich ausgehend von aufführungsanalytischen Überlegungen und Vollzügen ein interdisziplinäres Arbeiten in der Theaterwissenschaft nicht nur anbietet, sondern dass es erforderlich ist, um konkrete Zusammenhänge aufzeigen zu können. Ausgehend von der in dieser Arbeit vollzogenen Grundlagenforschung ergaben sich zu diesen – gegenwärtig aktuellen – Theoriefeldern weitreichende Anschlussstellen, die in den Resümees der aufführungsanalytisch orientierten Kapitel ausgeführt wurden. So ließen sich mit Lee Edelmans Konzept der Negativität, Sara Ahmeds Queer Phenomenology, Melissa Greggs und Gregory J. Seigworths affekttheoretischem Begriff des Schimmerns und Karen Barads Verständnis von Materialisierung zentrale Querverweise von den theaterwissenschaftlichen zu philosophischen und kulturwissenschaftlichen Theorien aufzeigen. Die Analyse der Hörerfahrungen und Aufmerksamkeitsprozesse in Theateraufführungen profitiert dabei nicht nur von den rezipierten Theorien, sondern kann im Umkehrschluss zur Konkretisierung, Erweiterung und Präzisierung der betreffenden Theorien führen. Theater lässt sich als ästhetische Praxis der Aufmerksamkeit und des HörbarMachens verstehen. Hören zeigt sich dabei nicht als einzelner kohärenter Wahrnehmungsprozess, sondern ist über den Begriff der auditiven Aufmerksamkeit und die Bezüge insbesondere zur Phänomenologie als plural, divers, different, inkohärent und paradox hervorzuheben. Aufmerksamkeitsdynamiken sind, ein Verständnis von Queerness als destabilisierend, dekonstruktiv und identitäts- sowie ordnungsdynamisierend vorausgesetzt, in ihrer grundlegend als quer, vertikal oder perpendikular beschriebenen Wirkungsweise als queerende Vorgänge zu verstehen,

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bei denen nicht eine konkrete Identität, sondern das Konzept von dauerhafter Identität und Stabilität überhaupt in Frage gestellt wird. Aus den Analysen des Hörens in den Theateraufführungen ging hervor, dass nicht Stabilität, sondern das stabilisierende Wirken – in Dynamiken der Umgewichtung, Austarierung, Verschiebung –, das als Manifestation von permanenter Destabilisierung einzuschätzen ist, als grundlegende Kraft und Wirkungsweise von Aufmerksamkeit im Vollzug der – subjekt- wie wirklichkeitsbezogenen – Materialisierungen im Sinne des mattering bestimmt werden kann.

   

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Marc Wagenbach, Pina Bausch Foundation (eds.) Inheriting Dance An Invitation from Pina 2014, 192 p., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2785-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2785-9

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Theater- und Tanzwissenschaft Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß, Judith Schäfer (Hg.) Episteme des Theaters Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit (unter Mitarbeit von Sarah Wessels) Oktober 2016, 664 S., kart., zahlr. Abb., 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3603-1 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3603-5

Katharina Kelter, Timo Skrandies (Hg.) Bewegungsmaterial Produktion und Materialität in Tanz und Performance Juni 2016, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3420-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3420-8

Tania Meyer Gegenstimmbildung Strategien rassismuskritischer Theaterarbeit April 2016, 414 S., kart., zahlr. Abb., 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3520-1 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3520-5

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