Performing Stories: Erzählen in Theater und Performance [2., unveränderte Auflage 2016] 9783839424315

Spuren lesen, Dinge sammeln, Erinnerungen kartografieren, um die Wette autobiografieren: In den performativen Künsten la

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Performing Stories: Erzählen in Theater und Performance [2., unveränderte Auflage 2016]
 9783839424315

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Nina Tecklenburg Performing Stories

Theater | Band 59

Nina Tecklenburg (Dr. phil.) ist Theaterwissenschaftlerin, Performerin, Regisseurin und Dramaturgin. Sie arbeitet freiberuflich mit den Performancegruppen Interrobang, She She Pop, Gob Squad und Lone Twin Theatre. Ihre Forschungsgebiete sind Performativitätstheorie, Erzählforschung, (Kunst-)Praxis als Forschung, Spieletheorie, Gegenwartstheater, Theorie und Geschichte der Performancekunst.

Nina Tecklenburg

Performing Stories Erzählen in Theater und Performance

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Diese Arbeit wurde als Dissertation an der Freien Universität Berlin angefertigt und eingereicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Nina Tecklenburg Umschlagabbildung: »Her Long Black Hair« von Janet Cardiff, 17. Juni - 13. September 2004, Foto: Courtesy Public Art Fund, NY Satz: Tina Ebert Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2431-1 PDF-ISBN 978-3-8394-2431-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9

I. Performing Stories. Eine Einleitung | 11

1. Ursprungserzählung. Die Erste | 11 2. Theater- und kulturhistorische Einordnung | 24 2.1 Illusion, Distanz, Präsenz, Interaktion. Stationen des Narrativen im Theater des 20. Jahrhunderts | 24 2.2 Vernetztes Erzählen und narrative Selbstinszenierung | 33 3. Begriffliche Voraussetzungen | 37 3.1 Erzählen: How to do Things With Stories | 37 3.2 Aufführung und Narration: Diesseits und jenseits von Ko-Präsenz und Stofflichkeit | 46 4. Protagonisten, Plot, Methodisches | 53

II. (Theoretische) Szenen des Narrativen | 61

1. Eine begehbare Mordgeschichte (Uwe Mengel) | 61 2. Theaterwissenschaftliche und erzähltheoretische Perspektiven | 63 2.1 Zwischen Drama und Aufführung. Das Narrative als Abweichung und Ausgegrenztes | 63 2.2 Zwischen Sprache und Abbild. Das Narrative als sprachliche Kommunikation und als Darstellung von Geschehnissen | 76 3. Perspektivenwechsel: Das Narrative als Prozess und Performanz | 92 3.1 Plotting, narratives Wissen, narrative Energie. Zur Offenheit des Erzählens | 98 3.2 Zwischenergebnis: Dynamisierung | 107 3.3 Verstricken, Erzählhandeln, Vermitteln. Erzählen als kulturelle und soziale Praktik | 109

III. Narrative Spiele | 117

1. Erzählen und Spielen | 117 2. Erzählen als (Sprach-)Spiel (Wittgenstein) | 124 3. ...und in der tausendsten Nacht. Ein Wettkampf (Forced Entertainment) | 129 3.1 fabula interrupta. Narratives Begehren | 130 3.2 Aufs Spiel gesetzt: Geschichtenkanon und Erzählpolitik | 135 4. Narrative Selbstlegitimierung des sozialen Bandes (Lyotard) | 138 5. Moralische Verstrickungen. Ein Rollenspiel (SIGNA) | 146 5.1 Vertrauensspiele und Geheimniskrämerei: Unter Zeugen | 148 5.2 Gerüchteküchen und Erzählschwärme. Von der Macht des fliegenden Erzählens | 156

IV. Dinggeschichten: (Auto-)Biografisches Sammeln, Schneidern und Basteln | 165

1. Wie Dinge uns erzählen | 165 2. (Auto-)biografische Materialschlacht (Bobby Baker) | 176 2.1 Sich selbst sammeln | 176 2.2 Undinge, Geschichtengemenge und der Versuch einer Selbstreinigung | 179 3. Identitätsschneiderei (She She Pop) | 186 3.1 Geschichten wie Kleider anprobieren | 192 3.2 Die Selbsterzählung als Fetisch | 195

V. Erzählbewegungen und Erzählräume | 203 

1. Narrative walks | 203 2. Spurenlesen – Spurenfolgen – Spurenlegen (Janet Cardiff, plan b) | 211 2.1 Zur Narrativität der Spur | 213 2.2 Durch die Stadt narrivieren | 217 3. Flynieren und Kartografieren (LIGNA, plan b) | 225 3.1 GPS-Flanerie | 225 3.2 Bewegung – Erzählen – Mapping | 235

VI. Erzählereignisse | 245

1. Erzählen über Aufführungen | 245 2. Antizipierte Nostalgie. Die Aufführung als große Erzählung (Lone Twin) | 251 2.1 Ereignis – Erzählen – Geschichten | 251 2.2 Odyssee auf dem Fahrrad. Über anekdotische Heldentaten | 259 2.3 Recycling: Gemeinschaftshistorie und wiederholtes Enden | 266 3. Performancekunst erzählen. Zur (Ent-)Mythisierung der Aufführung (Boryana Rossa) | 274 3.1 Mythos Ereignis – Mythos Aufführung | 274 3.2 Du sollst Dir (k)ein Bildnis machen. Mythos Performancekunst | 282 3.3 Es geht um Leben und Tod. Versteckte Narrative der Body Art | 287

VII. Schluss: Theater der Narration | 295

1. Nacherzählung | 295 2. Thesen | 308 2.1 Aufführungstheorie als narrative Wissenspraxis | 308 2.2 Für eine performativitätstheoretische Erzählforschung | 309 2.3 Semiosis und Aisthesis: Wechselseitig konstitutive Asymmetrie | 311 3. Ursprungserzählung. Die Zweite | 313

VIII. Bibliografie | 317

„Stellen Sie sich vor irgendwer hört dem zu wie Sie selbst irgend etwas erzählen und wie Sie selbst oder irgendwer zuhört während Sie selbst oder irgendwer irgend etwas erzählt. […] [D]as ist es wie das Leben gelebt wird die Art das ist es was einen jeden zu dem macht der er ist was er ist, selbstverständlich bewirkt es das denken Sie bloß an Ihr Leben wie es wirklich ist, Sie hören immer jemandem zu […] und Sie erzählen immer jemandem oder irgendwem etwas. Das ist Leben die Art wie es gelebt wird.“ Gertrude Stein: Erzählen, S. 62

Vorwort

Es gibt bestimmte Perioden in bestimmten Kontexten, in denen die Verwendung bestimmter Begriffe der Wirkungsmacht aktueller Diskurse unter Umständen abträglich ist. Auch der Theater(wissenschafts)betrieb ist von einer solchen Begriffspolitik nicht ausgeschlossen. Im Kontext einer Reflexion über postdramatische, nicht-literarische Theaterformen und Performances ist der Gebrauch von Begriffen wie Narration und Erzählen ebenso wie Empathie, Fiktion oder Illusion bisher eher zurückhaltend ausgefallen, sind diese Begriffe doch derartig stark mit den ästhetischen Prämissen und Konventionen traditioneller Theaterformen verbunden, dass ihre Verwendung im Zuge einer Diskussion um Postdramatik oder Performancekunst tendenziell rückständig anmutete oder bestenfalls Irritationen und Missverständnisse auslöste. Diese Studie ist zu einem Zeitpunkt entstanden, zu dem es nun möglich und auch erforderlich ist, sich jenen hartnäckig besetzten Begriffen offensiv zuzuwenden und diese jenseits ihres konnotativen Schwergewichts neu zu denken. Genau dies liegt mir in Bezug auf das Erzählen am Herzen: Das Erzählen im Theater jenseits dramatischer Handlung oder epischer Rede neu zu verstehen. Den Anlass dafür gibt das Theater selbst: Geschuldet ist mein Anliegen schlicht und ergreifend dem Umstand, dass auch in nicht-dramatischen, nicht-literarischen Theaterformen erzählt wird. In den vergangenen Jahren sind viele neue Erzählformen entstanden, die dazu herausfordern, das Verhältnis zwischen Theater und Erzählen nachhaltig zu überdenken. Ich musste erst passionierte Theatermacherin werden, um auf diesen Umstand aufmerksam zu werden. Mein erster Dank gilt deshalb allen Kolleginnen und Kollegen, die Teil dieser allerersten Inspiration für diese Studie waren. Dazu zählen die Mitglieder der Gruppen Lone Twin Theatre, Gob Squad, She She Pop und Baktruppen, mit denen ich das Glück hatte beziehungsweise habe, zu arbeiten. Meine zweite Passion gilt der Theatertheorie. Diese Passion zuallererst entfacht, von Beginn an gefördert und unterstützt hat meine Betreuerin Erika Fischer-Lichte, die mir den Spielraum gab, meine eigenen Positionen zu finden

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 und mir die Möglichkeit eröffnete, meine Dissertation in einem für meine Arbeit grundlegend bereichernden Umfeld zu schreiben, wofür ich ihr herzlich danke. Zu diesem Umfeld gehören die ehemaligen Mitglieder des DFG-Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performative“ an der Freien Universität Berlin und insbesondere meine nahen Kolleginnen und Kollegen aus dem Teilprojekt „Ästhetik des Performativen“: Adam Czirak, Barbara Gronau, Kristiane Hasselmann, Torsten Jost, Frank Richarz, Clemens Risi, Jens Roselt und Sabine Schouten, denen ich für zahlreiche anregende Diskussionen und eine wunderbare Zusammenarbeit danke. Auch meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen aus dem Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität und den angegliederten Forschungsprojekten sei gedankt, insbesondere Björn Frers, Joy Kristin Kalu, Sabine Krüger, Agnes Manier, Annemarie Matzke, Vito Pinto, Markus Rautzenberg, Jenny Schrödl, Viktoria Tkaczyk, Sandra Umathum, Matthias Warstat, Christel Weiler und Benjamin Wihstutz. Für ausführliche und wertvolle Beratungsgespräche möchte ich mich bei Gabriele Brandstetter und Doris Kolesch bedanken. Ein besonderer Dank gilt Irina Rajewsky für herausfordernde, intensive und begeisternde Grundsatzdiskussionen. Nicht genug danken kann ich meiner langjährigen Lektüre- und Denkerinnengruppe: Meine größten intellektuellen Freuden teile ich mit Kerstin Beyerlein, Claudia Hein, Barbara Natalie Nagel, Ulrike Schaper und Jenny Willner, die mir mit kritischen Lektüren, produktivem Feedback, herausragend gutem Essen und nötiger Ablenkung zur Seite standen. Ohne sie stünde in diesem Buch etwas anderes. Tina Ebert möchte ich für ihr mehrfaches Korrektorat danken. Meinen Eltern, meiner Familie und meinen Freunden danke ich für ihr Vertrauen und ihre Unterstützung. Und zu guter Letzt: Mein größter Dank geht an meinen Partner Till Müller-Klug, der wie kein anderer meine Leidenschaft fürs Spielen, Denken und Erzählen teilt.



I. Performing Stories. Eine Einleitung „Die Geschichten in uns spielen sich aber nicht ab wie abgerundete Theaterstücke. [...] In diesem Sinne mögen immer viele Geschichten, große und kleine, in die wir verstrickt sind, gleichzeitig laufen. Sie stehen also nicht abgegrenzt vor uns wie die Geschichten, die wir lesen.“

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WILHELM SCHAPP

 1. U RSPRUNGSERZÄHLUNG . D IE E RSTE Die allererste Probe der Performancegruppe Lone Twin Theatre im November 2005 begann mit einer Frage des Performers und Choreografen Paul Gazzola an die zwei Regisseure Gregg Whelan und Gary Winters: „What exactly are you planning to do in this piece?“ Paul Gazzola war – ebenso wie ich und weitere drei Performer – einer unspezifischen Einladung der Regisseure nach Südengland gefolgt, um dort an dem Performanceprojekt Alice Bell mitzuarbeiten.2 Die Antwort von Winters und Whelan auf Gazzolas Frage kam prompt und war überraschend kurz: „We want to tell a story.“ Auch wenn zu diesem Zeitpunkt völlig unklar war, um was für eine Geschichte es sich dabei handeln sollte, stand also fest, dass eine Geschichte in der Aufführung erzählt werden sollte – und dies zunächst unabhängig von der Frage, ob die Geschichte dabei fiktiv oder faktisch, geschlossen oder offen, groß oder klein sein sollte oder ob sie durch Dia-

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SCHAPP: In Geschichten verstrickt, S. 121.

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Die Premiere von Alice Bell fand im Mai 2006 in Brüssel auf dem KunstenFestivalDesArts statt. Alice Bell ist der erste Teil der Catastrophy Trilogy von Lone Twin Theatre, in der mit unterschiedlichen Erzählformen experimentiert wird.

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loge zwischen den Performern oder durch die Rede eines Geschichtenerzählers, durch Sprache, Bild, Gestik, Mimik oder durch technische Medien hervorgebracht werden sollte. Die Aufführung sollte also ‚narrativ‘ im weiteren Sinne sein. Diese Antwort fand ich radikal. Radikal deswegen, weil das Erzählen hier an den Ausgangspunkt einer experimentellen Theater- und Performancepraxis gestellt wurde, die gemeinhin als „postdramatisch“4 bezeichnet wird und deren primäres Anliegen mit Sicherheit eines nicht ist, nämlich eine Geschichte zu erzählen. Eine Neugier im Umgang mit narrativen Strukturen – wenn auch in einem weniger expliziten Sinne – war mir bereits zuvor während der Probenarbeiten der Produktion Super Night Shot des Performancekollektivs Gob Squad aufgefallen.5 In einem Kollektiv, dessen Mitglieder sich dem Darstellungsmotto „I am what I am“ verschrieben haben und lieber „Aufgaben“6 lösen, statt Rollen zu spielen, wurde zu meinem Erstaunen selbstverständlich von Heldinnen, Heldentaten, Bösewichten und happy endings gesprochen. Die Performance Super Night Shot ist ein geschickt mit stereotypen Erzählstrukturen jonglierender LiveFilm über eine fiktive Mission zur Errettung der Menschheit aus ihrer Einsamkeit: Vier Performer begeben sich, ausgerüstet mit Kameras, in die reale Umgebung rund um das Theatergebäude, um dort die Menschen aus ihrer vermeintlichen Einsamkeit zu erlösen. In Interaktion mit Passanten auf der Straße entsteht

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Ich veranschlage einen weiten, d.h. gattungs-, medien- und modiübergreifenden Erzählbegriff. Wenn ich die hier verhandelten Theater- und Performancepraktiken als narrativ bzw. als erzählerisch beschreibe (ich verwende diese Begriffe ähnlich wie im Englischen synonym), ist hier zunächst die einfache Tatsache gemeint, dass narrative Prozesse während der Aufführung aktiviert werden und dabei eine Geschichte hervorgebracht wird. Diese Bestimmung gilt unabhängig von den Mitteln und Modi des Erzählens ebenso wie unabhängig von der Frage, ob das Erzählte auf einen Wahrheitsanspruch zielt (wie z.B. bei Autobiografien oder Nachrichten) oder als fiktiv wahrgenommen wird (wie z.B. bei Märchen oder Mythen). Zur näheren Konturierung meiner Begrifflichkeit vgl. Punkt 3.1 in diesem Kapitel.

4

LEHMANN: Postdramatisches Theater. Zitiert wird wie folgt: Nachname des Autors oder Herausgebers, gefolgt von einem Kurztitel (kursiv geschrieben bei Buchtiteln, in Anführungszeichen gesetzt bei Aufsätzen, Lexikonartikeln, Zeitschriftenartikeln u.ä.) und Angabe der Seitenzahl. Die vollständigen Literaturangaben befinden sich in der Bibliografie.

5

Super Night Shot hatte im Dezember 2003 im Prater der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg Platz Premiere.

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Letzten beiden Zitate: GOB SQUAD: Lesebuch, S. 51 und 53.

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dabei jeden Abend ein neuer Film, der je nach Mitspiellaune der Passanten mal als Liebesromanze oder mal als Tragödie endet und der direkt im Anschluss an den Dreh dem Publikum im Theater präsentiert wird. Die Produktion des LiveFilms Super Night Shot folgt dabei stellenweise der Hollywood-stereotypischen Erzählstruktur einer Heldenreise, wie sie der Erzähltheoretiker Joseph Campbell beschrieben hat und die in Gob Squads Performance bewusst mit den spontanen Reaktionen der Passanten verwoben und in ein Spannungsverhältnis gesetzt wird.7 Spätestens die Zusammenarbeit mit Lone Twin Theatre brachte mich dazu, meiner Verwunderung über ein verstärktes Interesse am Erzählen näher auf den Grund zu gehen. Denn diesmal gab es kein Ausweichen. Vor mir lag ein dreiwöchiger Probenblock, in dem ich eher als Geschichtenerfinderin in einer Art B-movie-Drehbuch-Autorenkollektiv, denn als Performerin tätig werden sollte. Warum nur, so fragte ich mich, beschäftigen sich all diese postmodernen, postavantgardistischen und postdramatischen Theatermacherinnen 8 auf einmal mit dem Geschichtenerzählen? Ich dachte, das Ende der Geschichte(n) sei auf diesem künstlerischen Feld spätestens mit der Abwendung vom Drama eingetreten. Den grundlegenden Impuls diese Studie zu schreiben, haben mir eine Reihe von Theaterproduktionen gegeben, bei denen ich während der ersten Dekade des neuen Millenniums als Regieassistentin, Performerin, Ko-Regisseurin und Dramaturgin mitgearbeitet habe.9 In diesen Produktionen wurde ich wiederholt auf die Thematik des Erzählens gestoßen, was mich insofern irritierte, als ich das künstlerische Umfeld, innerhalb dessen diese Arbeiten entstanden, während meines Studiums vornehmlich im Rahmen einer theoretischen Perspektive untersucht hatte, in der das Narrative nur eine marginale Rolle spielte. Selbst eine

 7

Zur narrativen Struktur der Heldenreise vgl. CAMPBELL: The Hero with a Thousand Faces.

8

Zur Relativierung der maskulinen Form, deren vermeintliche Neutralität unbewusst einer männlichen Perspektive Vorschub leistet, verwende ich stellenweise die weibliche Form. Mit eingeschlossen in beide Schreibweisen sind alle Geschlechter inklusive Intersexuelle, Transgender und Transsexuelle.

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Neben den erwähnten Produktionen waren dies die folgenden Arbeiten, in denen allesamt das Erzählen eine zentrale Rolle spielt: DANIEL HIT BY A TRAIN (Wien 2008) und The Festival (London 2010) von Lone Twin Theatre, Saga 3. In diesem Kiez ist der Teufel eine Goldmine (Berlin 2004) von Gob Squad mit Texten von René Pollesch und Gob Squad’s Kitchen (You’ve Never Had It So Good) (Berlin 2007), Der innere Innenminister und Deutschlandmärchen von Till Müller-Klug und Bernadette La Hengst (Berlin 2009 und 2010) sowie Schubladen von She She Pop (Berlin 2012).

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Dekade später gibt es keine umfassende Untersuchung, die sich mit den Erzählformen der weitestgehend europäischen und anglo-amerikanischen experimentellen Theater- und Performanceszene (Performancetheater, Live Art, Performancekunst, zeitgenössischer Tanz) der Jahrtausendwende auseinandersetzt. 10 Mit diesem Buch möchte ich diese Forschungslücke schließen, indem ich folgende Fragen beantworte: Mit welchen Erzählformen haben wir es hier zu tun? Welche Funktionen haben sie? Warum sind diese narrativen Praktiken so lange aus dem Raster eines theoretischen Interesses gefallen? Wie lassen sie sich adäquat untersuchen? Welchen Erzählbegriff gilt es zu veranschlagen? Welche Konsequenzen ergeben sich dabei für eine Wissenschaft von Aufführungen? Meine Ausgangsthese ist, dass in den narrativen Aufführungsformaten der Nullerjahre nicht einfach nur Geschichten erzählt werden, sondern dass das Erzählen – bewusst oder unbewusst – in seinen situativen Effekten, Vollzugsmechanismen und kulturellen wie sozialen Funktionen zum Thema gemacht wird. Ins Zentrum rückt die wirklichkeitsstiftende Kraft jener besonderen, aber dennoch alltäglichen Kulturtechnik narrativer Sinngebung, mittels derer Menschen vergehende Zeit konfigurieren und dabei die unverständliche Tatsache fassbar zu machen versuchen, dass Zeit vergeht und sich damit entzieht, dass Ereignisse einem zustoßen, dass der Mensch – wie der Kulturtheoretiker Wolfgang MüllerFunk es ausgedrückt hat – „handelnd in der Welt ist und daß er ein Wesen auf Zeit und in der Zeit ist, abgestellt auf den Horizont von Anfang und Ende.“11 Vor dem Hintergrund der hier untersuchten Erzählpraktiken bedarf es, so viel sei vorweggenommen, der Revision einer Konzeptualisierung des Erzählens im Theater. Diese Studie steht im Zeichen einer Arbeit am Begriff, das heißt einer Um-Konnotierung des Erzählens in Bezug auf das Theater: Vorgenommen wird eine Ent-Dramatisierung, eine Ent-Episierung und schließlich eine Neupositionierung des Erzählens im Kontext von Aufführungstheorie und kulturwissenschaftlicher Performativitätstheorie. Zwei Narrative zum Narrativen im Theater Zwei Narrative dominieren die Thematik des Erzählens im Theater. Das erste Narrativ handelt vom Theater als einem unverwüstlichen Ort der Wiederbelebung von Geschichten. Das zweite erzählt von einem postmodernen Theater, das sich vornehmlich auf seine eigenen Theatermittel bezieht und in dem Geschich-

 10 Für einen umfassenden Forschungsstand vgl. Kapitel II/2.1, Abschnitt „An den Rändern der Performance- und Aufführungstheorie“. 11 MÜLLER-FUNK: Die Kultur und ihre Narrative, S. 19.

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ten keinen Platz mehr haben. Wenn dieses Theater (noch) etwas erzählt, dann höchstens von sich selbst. Beide Narrative haben ihre Wurzeln in unterschiedlichen Theaterformen und entsprechenden Auffassungen darüber, was unter ‚Theater‘ zu verstehen sei. Speist sich das erste Narrativ aus einem Verständnis von Theater als Repräsentation eines (dramatischen) Geschehens, geht das zweite mit einer postdramatischen Theaterpraxis einher, in der verschiedenste Elemente einer Aufführung (zum Beispiel Raum, Körper, Akustik, Sprache) gleichberechtigt nebeneinander stehen und als aufführungskonstitutive Produktionsmittel zum Thema gemacht werden.12 Bildet im dramatischen Theater das Hervorbringen einer Geschichte die Grundlage, die so selbstverständlich zu sein scheint, dass darüber jenseits dramen- und erzähltheoretischer und damit vornehmlich gattungstheoretischer Fragestellungen kaum diskutiert wird,13 zeichnet sich das postdramatische Theater gerade durch eine Abgrenzung von der dramatischen Fabel aus, was viele an jenen Aufführungsformen interessierte Theater- und Performancetheoretiker dazu veranlasste, Fragen rund um das Erzählen weitestgehend aus ihrem Gegenstandsbereich auszuklammern. Paradigmatisch zeigt sich dies an der Haltung von Peggy Phelan, wenn diese argumentiert: „performance lives in the now, while narrative histories describe it later“.14 Das Narrative hat hiernach seinen Bezugspunkt in der Vergangenheit. Es beinhaltet eine Zeitlichkeit, die – folgt man Phelan – derjenigen von „performance“ als flüchtiger Gegenwärtigkeit entgegensteht. Wird das Narrative in dieser Lesart mit Wiederholung und Reproduktion assoziiert, stehen dem gegenüber die ephemere Präsenz und Unwiederholbarkeit von „performance“. Dramatisches Theater als Archiv, als Geschichten-Reservoir auf der einen Seite; postdramatisches, ‚performatives‘ Theater als (ko-)präsentisches Ereignis, 15 als ‚absolute Gegenwärtigkeit‘ 16 auf der anderen Seite. So findet man das Narrative in einer dichotomischen Konzeption gefangen – Narration versus Performance –, die jedoch den Witz vieler derzeitiger narrativer Aufführungsformen verfehlt. Obgleich sich diese Formen zwar noch im Fahrwasser der Prämissen eines postdramatischen Theaters tummeln, haben die

 12 Vgl. LEHMANN: Postdramatisches Theater, S. 26ff. 13 Zur theoretischen Vertiefung der im Folgenden nur kurz skizzierten Thesen vgl. Kapitel II/2.1. 14 PHELAN: „Shards of a History of Performance Art“, S. 500. 15 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 47f. 16 Über den Topos der absoluten Gegenwärtigkeit in der Theaterwissenschaft seit den 1990er Jahren vgl. DREYER: „Die Leere der Geschichte“.

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Macherinnen jener Theaterformen doch längst begonnen, den für Postdramatik typischen Abgrenzungsgestus zum dramatischen Theater abzulegen und stattdessen einen durchmediatisierten Alltag samt dessen Erzählformen zum Bezugspunkt zu machen. Denn das Besondere an den narrativen Praktiken, wie sie sich in vielen Aufführungsformen um die Jahrtausendwende beobachten lassen, liegt gerade darin, sich von der Dramatik und überhaupt von jeglicher schriftsprachlicher Literatur als primärem Ort des Narrativen zu lösen. Das derzeitige Interesse am Erzählen, um das es mir geht und das Ende 2010 in der Zeitschrift The Drama Review von Paige McGinley mit dem Slogan „storytelling is back in“17 verkündet wurde, hat daher nichts mit jener dramatischen Neuorientierung zu tun, wie sie in den späten 1990ern unter dem Schlagwort eines ‚Neuen Realismus‘ gefasst wurde.18 Vielmehr stehen die in dieser Studie untersuchten narrativen Praktiken in der Tradition einer Entliterarisierung des Theaters19 und gehen aber zugleich über jene postdramatischen Theaterformen hinaus, die sich, wie Hans-Thies Lehmann und Gerda Poschmann hervorgehoben haben, von „Prinzipien von Narration und Figuration“20 abgrenzen. Entsprechend lassen sich derzeitige Erzählpraktiken weder auf der dramatischen noch auf einer sich davon distanzierenden postdramatischen Seite verorten. Denn weder erschöpft sich das Narrative hier in einem dramatischen Geschehen, noch ist es, wie zu zeigen sein wird, mit dem Topos einer ‚absoluten Gegenwärtigkeit‘ vereinbar. Auch ein ein-

 17 MCGINLEY: „Next Up Downtown“, S. 37. 18 Zum ‚Neuen Realismus‘ im deutschsprachigen Raum vgl. SCHRÖDER: „‚Postdramatisches Theater‘ oder ‚Neuer Realismus‘?“ Schröder verweist auf die Autoren Marius von Mayenburg, Albert Ostermaier, Moritz Rinke, Dea Loher, Roland Schimmelpfennig, Oliver Bukowski und Theresia Walser, die den „postdramatischen Spurenlegern Heiner Müller, Elfriede Jelinek, Rainald Goetz und Gisela von Wysocki und den zugehörigen theoretischen Wegweisern (wie Erika Fischer-Lichte, Gerda Poschmann und Hans-Thies Lehmann) nicht länger mehr folgen, sondern, ermutigt durch das zeitgenössische anglo-amerikanische Drama und Theater, auf den Weg eines einfallsreichen dramatischen Theaters zurückkehren.“ Ebd., S. 1080f. 19 Das bedeutet nicht, dass in jenen narrativen Aufführungsformen keinerlei schriftsprachliche Texte Verwendung finden. Nur bildet der schriftsprachliche Text hier, ähnlich wie im postdramatischen Theater, keine notwendige und letztlich unumgängliche ‚Grundlage‘ für Theater. Zur Tendenz der Entliterarisierung des Theaters, wie sie sich seit Beginn des 20. Jh. beobachten lässt, vgl. VON HERRMANN: Das Archiv der Bühne, S. 145ff. 20 POSCHMANN: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 177, vgl. auch LEHMANN: Postdramatisches Theater, S. 14.

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faches Kurzschließen beider Auffassungen, wie etwa die dramentheoretische Formel von der ‚Vergegenwärtigung eines dramatischen Geschehens‘ zu suggerieren vermag, greift in Bezug auf die hier untersuchten Erzählpraktiken zu kurz. Wenn jedoch die Literatur samt ihres vornehmlich kontemplativen Wahrnehmungsdispositivs, dessen theaterästhetisches Komplementär traditionellerweise das dramatische Illusionstheater darstellt, nicht mehr den Ausgangspunkt des Narrativen bildet, wo ist dieser dann anzusiedeln? Wodurch zeichnen sich die narrativen Aufführungsformen der Jahrtausendwende aus? Und weiter gedacht: Wie muss ein Erzählbegriff beschaffen sein, um diese narrativtheatralen Praktiken näher beschreiben zu können? Und noch weiter gedacht: Welcher Konzeptualisierung von Theater wird in jenen narrativen Praktiken Vorschub geleistet, wenn das „contemporary performance’s reinvestment in narrative“ 21 weder als dramatisch noch als postdramatisch beschrieben werden kann? Wie ich mit dieser Studie zeigen möchte, fordern die hier untersuchten erzählerischen Aufführungsformen zu einem Nachdenken über das Erzählen als Performanz auf, durch das nicht nur ein blinder Fleck theaterwissenschaftlicher Überlegungen zum Gegenwartstheater freigelegt werden soll, sondern das darüber hinaus Anlass bietet, vorherrschende Auffassungen darüber, was unter ‚Aufführung‘ sowie unter ‚Narration‘ zu verstehen sei, nachhaltig zu prüfen und zu erweitern. Obgleich diese Arbeit sich auf einem theaterwissenschaftlichen Desiderat gründet, bietet sie damit auch Anschlussmöglichkeiten für eine Erzählforschung. Im Folgenden möchte ich einige prägnante Aufführungsbeispiele anführen und damit die variantenreiche Szenerie narrativer Praktiken in den performativen Künsten der Nullerjahre eröffnen. Erzählaufführungen „The Dorine Chaikin Institute, good afternoon, can I help you?“, dröhnt es durch’s Telefon. Ich spreche mit Frau Dr. Chaikin und verabrede mit ihr einen Termin für den Besuch ihres Instituts. Das Dorine Chaikin Institute ist ein interaktives Rollenspiel der Künstlergruppe SIGNA, das 2007 im Ballhaus Ost in Berlin realisiert wurde. In diesem Spiel wird den Zuschauern die Rolle von unter Amnesie leidenden Patienten einer psychiatrischen Anstalt zugewiesen. 22 Bei

 21 MCGINLEY: „Next Up Downtown“, S. 37. 22 Das interaktive Rollenspiel The Dorine Chaikin Institute wurde über einen Zeitraum von vierzehn Tagen im November und Dezember 2007 realisiert. Gespielt wurde zwölf Stunden pro Tag. Den Zuschauern wurde empfohlen, mindestens vier Stunden zu bleiben und mit zu spielen.

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meiner Ankunft im Institut muss ich meine Garderobe gegen Krankenhauskleidung eintauschen. Ich bekomme ein Namensschild mit der Aufschrift „Verity Rezna“ angeheftet und werde einem Krankenbett zugeteilt. Ein Arzt setzt sich an den Rand meines Bettes und fragt mich, wie es mir in der Zwischenzeit ergangen sei, warum ich damals weggelaufen sei aus dem Institut, ob meine Eltern immer noch so viel unterwegs seien. Er erzählt mir, dass der Patient Tom immer noch sehr darunter leide, dass ich ihn damals einfach verlassen hätte. Der Arzt zeigt auf einen Mann, der am anderen Ende des Saals von einem Hochbett zu mir herüber winkt. Ich muss schmunzeln und mache den Arzt auf meinen Lebensgefährten aufmerksam, mit dem ich gemeinsam zu der Performance von SIGNA gekommen bin und der gerade, sehr zu meiner Verärgerung, in meinem Nebenbett von einer ziemlich gut aussehenden ‚Krankenschwester‘ eine ausgiebige Nackenmassage bekommt. „That’s so typical!“, unterbricht mich der Arzt, „Every week you fall in love with somebody else and you invent some crazy stories around it. Don’t you remember Tom?“ Ich bin verunsichert. „Don’t worry if you can’t remember“, beruhigt mich der Arzt. „We all know that this is why you are here, Verity!“ In der Performance The Dorine Chaikin Institute werden die Besucher in eine fiktive Geschichte samt Biografie eingeschlossen. Jegliche Handlung und Äußerung der Besucher wird von der behaupteten Spielwelt inkorporiert. Dabei erlaubt es gerade der fiktionale Rahmen einer geschlossenen Psychiatrie, welche der Soziologe Erving Goffman bezeichnenderweise als „totale Institution“ 23 beschrieben hat, jede die Fiktion sprengende Äußerung und Handlung der Besucher als Teil ihrer vermeintlichen Krankheit zu interpretieren. In SIGNAS Rollenspiel gibt es kein Außerhalb einer angedichteten Biografie, die nach und nach zur Zwangsjacke wird. Denn in Bezug auf diese Biografie, die ich als Teilnehmerin selbst zwangsläufig mitproduziere, können die Performer von SIGNA eine Wahrheit über mich behaupten und mich damit in die realen Verhaltensschranken einer ‚nur vorgespielten‘ Institution weisen. Zum Thema wird dabei die wirklichkeitskonstitutive Macht von Selbsterzählungen, die hier im Spiel um Fiktion und Realität und in der Negation meiner ‚echten‘ Biografie erfahrbar gemacht wird. Die Macht des Erzählens, soziale Beziehungen zu stiften, wurde in der Performance Dein Reich komme von Dries Verhoeven zur Aufführung gebracht.24 Die Performance fand in einem geschlossenen Container statt, in dem ich, abge-

 23 GOFFMAN: Asyle, S. 11. 24 Die englische Version Thy Kingdom Come wurde erstmals 2003 auf dem Festival Noorderzon in Groningen realisiert.

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trennt von einer schalldichten Glasschreibe, einem anderen, männlichen und mir unbekannten Zuschauer gegenüber saß. Über Lautsprecher ertönte eine Männerstimme, die sich als die laut gewordenen Gedanken meines Gegenübers ausgab und die in Rekurs auf allerhand heterosexuell geprägter Narrative und Handlungsanweisungen einen Flirt zwischen mir und meinem ‚Partner‘ zu veranlassen suchte. Dieser hörte eine ähnlich flirtlustige Frauenstimme, wie ich jedoch während der Performance aufgrund der schalldichten Scheibe nur erahnen konnte. Jedes ironisch distanzierende und peinlich berührte Lächeln, das sich zwischen uns durch die Glasscheibe aufgrund der Klischeehaftigkeit der Situation entfachte, unterwanderte und bestätigte doch zugleich die emotionale Kraft jener ebenso klischeehaften, mündlich erzählten Liebesgeschichte, die uns – ob wir wollten oder nicht – in eine zwischen Peinlichkeit, Scham, Ablehnung und Anziehung changierende Beziehung zueinander brachte. Auf andere Weise zum Thema wird das Erzählen in der Performance And on the Thousandth Night von Forced Entertainment. 25 Während der Aufführung wird ein sechsstündiger mündlicher Erzählimprovisationswettkampf ausgetragen, bei dem acht Performer erzählend um die Gunst des Publikums buhlen, das jederzeit den Saal verlassen kann. Die Performance spielt mit dem verführerischen Prinzip des Erzählens, nämlich dem Begehren eines Endes, das auch schon das Mädchen Scheherazade aus dem orientalischen Märchen Tausendundeine Nacht zu nutzen wusste, auf das Forced Entertainment anspielen. Scheherazade überlebte nur, weil sie ihre Geschichten niemals zu Ende erzählte und damit ihren potentiellen Mörder gefesselt hielt. Ebenso versuchen Forced Entertainment ihre Zuhörer um den Finger zu wickeln: Die einzige Spielregel für die Performer besteht darin, die mündliche Erzählung eines Performerkollegen und Nebenbuhlers nicht an ihr Ende kommen zu lassen, sondern den Erzählprozess in einem dramaturgisch geschickt gewählten Moment mit einem „Stop!“ zu unterbrechen und selbst eine neue Erzählung zu beginnen. Diese muss so lange erzählt werden, bis man selbst wieder von einer Kollegin unterbrochen wird und so fort. Durch die Unterbrechungen konfrontieren Forced Entertainment ihre Zuschauer mit den emotionalen Antriebskräften und kompositorischen Mechanismen des Erzählens, die auf einen Aus- und Weitergang der erzählten Geschichten zielen. Dabei entsteht im Verlauf des sechsstündigen Abends eine Erzählgemeinschaft aus Performern und Publikum, die gemeinsam erzählend und zuhörend einen eigenen Geschichtenkanon generieren.

 25 And on the Thousandth Night hatte im September 2000 auf dem Festival Ayloul in Beirut Premiere.

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In ein imaginatives Erzählspiel verwickelt wurde ich in While We Were Holding it Together von Ivana Müller.26 In diesem Stück wird ein von fünf Performern über sechzig Minuten gehaltenes Tableau Vivant zum Ausgangspunkt einer Vielzahl möglicher Geschichten. Initiiert werden diese durch verbale Behauptungen der Performer, die sich – in ihren Posen verweilend und der Reihe nach sprechend – mit nur wenigen Sätzen an einen anderen Ort und in eine andere Zeit imaginieren: „I imagine we are standing in the middle of a forest. We are on a family weekend“, „I imagine snow is falling on us“, „I imagine us still here in three hundred years being discovered by an archeologist“ oder „I imagine we escaped from the zoo three days ago and we are hungry“. Nach jeder Aussage wird eine verbale Zäsur gesetzt, die es den Zuschauerinnen ermöglicht, die zunächst abstrakt anmutenden Posen der Performer vor dem Hintergrund des behaupteten fiktiven Settings in eine Handlungsbeziehung zueinander zu setzen und ein Vorher und Nachher des Stillgestellten zu konstruieren. Im Zusammenspiel von Pose, verbaler Behauptung und Imagination wird das Tableau jeweils für wenige Sekunden zu einer Vielzahl von Handlungen animiert und als Ausgangs- beziehungsweise Mittelpunkt einer Geschichte erkennbar, bevor eine neue Beschreibung seitens der Performer die punktuelle Mikroerzählung unterbricht und einen neuen narrativen Rahmen vorgibt. Die Posen der Performer werden damit zu einer narrativ aufgeladenen Projektionsfläche, zu einer Szene des narrativen Entwerfens, durch die das Verhältnis zwischen mir und den Performern laufend neu definiert wird. Teil einer ortspezifischen Performance wurde das Erzählen in Cargo Sofia von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi). 27 Während der Aufführung wurde die Autobahn- und Containerhafenlandschaft von Hamburg für zwei Stunden zur Kulisse für eine real-fiktive Reisegeschichte von Sofia nach Hamburg. Diese Geschichte ‚durchfuhr‘ ich gemeinsam mit anderen Zuschauerinnen, mit denen ich auf einer zur Zuschauertribüne umgebauten Ladefläche eines fahrenden Lastkraftwagens saß. Während der Fahrt wurden vorproduzierte Videobilder mit der Realität des Hamburger Hafens ins Verhältnis gesetzt. Ebenso wurde die reale Umgebung als ein anderer Ort behauptet: Wir passierten serbische Zollkontrollen (‚dargestellt‘ vom Hamburger Hafenzollamt), kroatisch-slowenische Grenzposten (Hamburger Hafenpolizei), österreichische Autobahnraststätten (Hamburger Autobahnraststätte) und schließlich endete die Reise auf dem Ham-

 26 Die Premiere von While We Were Holding it Together fand im Oktober 2006 in den Berliner Sophiensaelen statt. 27 Cargo Sofia fand erstmals 2006 am Theater Basel statt. An jedem Spielort wird die Performance der neuen Umgebung des Spielortes angepasst.

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burger Straßenstrich, wodurch die Erzählung mit dem uns umgebenden Ort in eins fiel. Eine gänzlich andere Form der Reiseerzählung realisierte das Performer-Duo Lone Twin in Spiral.28 In ihrem mehrtätigen Gang durch ein Stadtviertel von London folgten die Performer einer zuvor festgelegten Route, auf der sie sich spiralförmig auf ein Zentrum, dem Kunst- und Kulturzentrum The Barbican, in langsamem Tempo zubewegten. Während der urbanen Wanderung durch die zubetonierte Gegend rund um The Barbican sammelten die Performer kleine Andenken von Leuten ein, denen sie auf ihrem Weg begegneten und mit denen sie ein Stück gemeinsame Wegstrecke teilten. Die zahlreichen Dinge – wie zum Beispiel Stifte, Taschentücher, Federn, Kleidungsstücke, Aufkleber, Geldstücke oder Radiergummis – wurden an ein rollbares Gerüst gespickt, das zunehmend an Volumen gewann und sich immer schwerer durch die urbane Landschaft schieben ließ. Alle Begegnungen samt Andenken wurden in einen Stadtplan an die entsprechende geografische Stelle eingetragen: „Fiona – green shoes“, „Francis – passport holder“, „Peter – pencil“, „Toni – 2 apples“ oder „Caryn – key to apartment on Staten Is. NY“. Lone Twins Spaziergang war ein Dokumentationsgang, bei dem die eigenen Bewegungen durch die Stadt sowie die Begegnungen zwischen Performern und Passanten in actu dokumentiert wurden und damit die zurückgelegte Wegstrecke zu jedem Zeitpunkt der Aktion nachträglich nachvollziehbar gemacht wurde. Dabei wurden sowohl die rollbare Skulptur aus gesammelten Andenken als auch der mehrfach überschriebene Stadtplan zu Schauplätzen des Narrativen: Beide stellten ihren eigenen Entstehungsakt ‚Schritt für Schritt‘ aus und machten es für die zeitweiligen Wegbegleiter des Gangs durch das Stadtviertel sowie für die späteren Betrachter von Skulptur und Karte möglich, die markanten Begegnungsereignisse der Wanderperformance als Episoden einer Reiseerzählung zu rekonstruieren. Narrative Praktiken jenseits von Dramatik und Postdramatik In den Sparten-, Genres-, Medien- und teilweise Kunstform-übergreifenden, experimentellen Aufführungsformen der Nullerjahre lässt sich, wie diese kurzen Beispiele andeuten, eine variantenreiche Vielzahl narrativer Praktiken beobachten. Aufführungen werden zu Ereignissen eines Spiels mit unterschiedlichsten narrativen Mustern, Stoffen und Erzählmedien (Sprache, Bild, Geste). Zuschauer treten als Figuren in Rollenspielen auf. Urbane, öffentliche Plätze werden in narrative Erlebnisräume verwandelt, in live bespielte Filmkulissen oder in via

 28 Spiral war eine einmalig zur Aufführung gebrachte Performance, die 2007 während des Festivals BITE in The Barbican (London) realisiert wurde.

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Kopfhörer, GPS-Technologie oder Videodisplay zu erkundende Orte längst vergangener Zeiten. Alltagsgegenstände werden zum Ausgangspunkt biografischer Geschichten. Nachrichten, Arztbesuche oder Gerichtsverhandlungen werden als Erzählprozesse erlebbar gemacht, in denen soziale Beziehungen gestiftet und Wahrheiten generiert werden. Der Akt des Erzählens wird mit einer körperlichen Bewegung kurzgeschlossen. Historische Orte werden auf archäologischen Entdeckungstouren aktiviert und animiert. Aufführungen werden live als große Erzählungen entworfen oder auf ihre versteckten Narrative hin geprüft, die einer historisch geprägten Wahrnehmung von Aufführungen immer schon zu Grunde liegen. In diesen vielseitigen narrativen Theater- und Performanceformaten der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts wird, so meine These, das Erzählen als kulturelle Praktik auf verschiedenste Weise in Szene gesetzt und erfahrbar gemacht. In den Mittelpunkt rückt eine Involvierung der Zuschauerinnen/Teilnehmerinnen in narrative Prozesse. Im Zentrum stehen partizipatorische, häufig sogar körperlich interaktive Erzähldynamiken und deren situative Wirkungen.29 Veranschaulicht wird dabei, wie das Narrative als Wahrnehmungsmuster sowie als handlungs- und zeitkonfigurierende Sinngebungspraktik verankert, ja materiell verstrickt ist in unsere Lebenswirklichkeit.30 Die künstlerischen Arbeiten lassen sich dabei als narrativ beschreiben, weniger sofern hier eine Erzählerinstanz eine Geschichte erzählt (epische Sprechsituation) oder sich vor den Augen der Zuschauer eine dramatische Handlung entfaltet (dramatische Sprechsituation),31 sondern sofern hier – rezeptionstheoretisch gefasst – Erzählprozesse in Gang gesetzt und die Teilnehmer zum imaginativen oder teilweise körperlich aktiven (Mit-)Erzählen aufgefordert werden. Dabei können Erzählprozesse auf unter-

 29 Den Begriff der Interaktion fasse ich enger als den der Partizipation bzw. der Teilhabe. Unter Partizipation verstehe ich eine generelle, stets mit-konstitutive Teilhabe von Menschen an einer Aufführung. Unter ‚interaktivem Theater‘ fasse ich jene Theaterformen, in denen eine durch die Aufführungssituation gegebene Beteiligung der Zuschauer durch eine bewusste körperliche Aktivierung ins Zentrum gestellt wird. ‚Interaktion‘ bezieht sich dabei entweder auf eine soziale Interaktion zwischen den Beteiligten, d.h. auf eine Handlung zwischen Subjekten oder auf eine Interaktion mit der Umgebung oder mit Dingen. 30 Hierin besteht der wesentliche Unterschied zu z.B. den selbstreferenziellen Erzählexperimenten der modernen Dramatik nach u.a. Jean Genet, Luigi Pirandello oder Max Frisch. 31 Vgl. PFISTER: Das Drama, S. 19. Zur Auseinandersetzung mit dramen- und erzähltheoretischen Positionen vgl. Kapitel II/2.

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schiedliche Weise aktiviert werden. So werden Zuschauer in Erzählspiele eingebunden, deren Regeln zum Mitvollzug des Erzählens animieren. Häufig wird das Publikum in dargebotene Erzählakte verwickelt, indem diese unterbrochen werden oder Plot-Lücken aufweisen, die zur narrativen Ergänzung auffordern. Oder Zuschauer werden mit anderen Zeitebenen konfrontiert, mit Spuren, an denen sich eine Erzählung entspinnt und die eine Wahrnehmung des entsprechenden Ortes oder des Gegenstandes narrativ einfärben und die Zuschauerin in einen diegetischen Raum, das heißt in einen Geschichtenraum platzieren. Dabei wird nicht gänzlich auf dramatische oder epische Sprechsituationen verzichtet. Bei aller Vielfalt der Erzählmedien und -formen besteht jedoch das gemeinsame Merkmal jener Erzählpraktiken darin, die wirklichkeitsstiftende Prozesshaftigkeit des Erzählens zu exponieren. Entsprechend wird es für mein Anliegen notwendig sein, sich dem Narrativen weniger aus einer dramen- oder (klassischen) erzähltheoretischen Perspektive, sondern aus einer rezeptions- und performativitätstheoretischen Perspektive zu nähern. Obgleich ein Erzählen ohne die Annahme eines Ziels (telos) nicht möglich ist,32 wird das Narrative in den hier behandelten theatralen Erzählformen weder als eine durch Konventionen verbürgte ‚geschlossene Geschichte‘ noch als abgeschlossene Struktur präsentiert (etwa als Darstellung eines dramatischen Textes oder der Bühnenadaption eines Romans), sondern als ein offener und partizipatorischer Prozess in Szene gesetzt. Damit wird unweigerlich das Ausschnitthafte, das Lückenhafte, das Dissonante und das Kontingente sichtbar, das letztlich jedem (Mit-)Erzählvorgang aufgrund seiner Prozesshaftigkeit inhärent ist und das jedoch bislang aus dem Untersuchungsraster einer nach wie vor stark strukturalistisch geprägten Erzählforschung gefallen ist. Mein zentrales Anliegen ist es daher, das Erzählen nicht statisch oder geschlossen zu denken, sondern – vom Erzählakt ausgehend – es als offenes, dynamisches und unkalkulierbares Ereignis auszuloten. Doch woher kommt überhaupt das Interesse seitens der Theaterschaffenden, das Erzählen auf diese Weise zu thematisieren? Wie lassen sich diese Erzählformen theater- und kulturhistorisch einordnen? Ein kurzer historisierender und kontextualisierender Seitenblick soll im Folgenden dazu beitragen, die Spezifik

 32 Wie Paul Ricœur betont hat, wurde trotz der Dekonstruktion eines Paradigmas des Abschließens in der Postmoderne die ‚Illusion des Endes‘ niemals diskreditiert. Diese bildet den fürs Erzählen grundlegenden Erwartungshorizont des Rezipienten. Vgl. RICŒUR: Zeit und Erzählung, Band 2, S. 35. Besonders deutlich zeigt sich dieser Erwartungshorizont in Erzählungen mit einem so genannten offenen Ende, wodurch der Erzählprozess samt dessen affektive Qualitäten (das Begehren des Ausgangs) umso sichtbarer werden. Vgl. dazu Kapitel II/3.1, Abschnitt „Plotting“.

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aktueller Erzählformen in den performativen Künsten der vergangenen fünfzehn Jahre näher zu konturieren sowie die Notwendigkeit einer veränderten theoretischen Perspektive auf das Erzählen im Theater zu verdeutlichen. Dafür möchte ich erstens unterschiedliche Formen, Funktionen und Theoretisierungen des Narrativen im epischen Theater, in der frühen autobiografischen Performancekunst, im Interaktionstheater der 1960er und 1970er Jahre sowie im postdramatischen Theater skizzieren und zweitens die Entwicklung neuer Erzählformen vor dem Hintergrund digitaler Technologien zu Beginn des 21. Jahrhunderts diskutieren.

2. T HEATER -

UND KULTURHISTORISCHE

E INORDNUNG

2.1 I LLUSION , D ISTANZ , P RÄSENZ , I NTERAKTION . S TATIONEN DES N ARRATIVEN IM T HEATER DES 20. J AHRHUNDERTS Zwischen Illusion und Distanz: Erzählen im Epischen Theater Spätestens mit Brechts konzeptueller und praktischer Umgestaltung des Theaters vom dramatisch-aristotelischen Illusionstheater zum Epischen Theater wurden verschiedene Funktionen sowie Formen und Auffassungen vom Narrativen im Theater virulent. Die historische Theateravantgarde suchte nach Theatermitteln jenseits mimetisch-dramatischer Darstellungstechniken und eröffnete damit auch ein Experimentierfeld für neue theatrale Erzählformen. Im dramatischen Theater hatte das Narrative im Sinne einer sich qua Figurenrede entfalteten Geschichte vornehmlich dazu gedient, die ästhetische Illusion einer anderen Welt an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit zu generieren und durch diese illusionäre Vergegenwärtigung einer fingierten Handlung eine Grundlage für Empathie seitens der Zuschauer zu schaffen. Dagegen sollten die neuen Erzählformen, die in Brechts Theater zum Einsatz kamen, wie zum Beispiel Spruchbänder, Erzählerfiguren, Chöre oder Songs eine Distanz herstellen und damit jegliche Einfühlung unterbinden. Statt aristotelischer Kohärenz und Empathie sollten Brechts Erzählformen den dramatischen Fluss unterbrechen und eine kritisch-distanzierende Reflexion ermöglichen.33 Im Epischen Theater kommen daher zweierlei Auffassungen von Narration zum Tragen: zum einen ein weites Verständnis von Narration, das sich auf die

 33 Vgl. BRECHT: Schriften zum Theater, S. 30ff. und 47ff.

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Darstellung einer dramatischen Fabel (Aristoteles’ mythos) bezieht.34 Zum anderen wird ein enger Erzählbegriff zu Grunde gelegt, der sich auf die Gattungsform Epik bezieht und für den das Kriterium der Anwesenheit einer Erzählerinstanz geltend gemacht wird.35 Das Brechtsche Theater zeichnet sich durch die Verwirklichung beider Erzählformen aus. Denn damit der dramatische Fluss, die Fabel, überhaupt unterbrochen werden kann, muss ein solcher Fabelfluss zunächst zumindest partiell hergestellt werden. Beide Auffassungen von Narration stehen sich im Epischen Theater jedoch diametral entgegen. So dienen die narrativen Mittel im engeren, das heißt im ‚epischen‘ Sinne zur Unterbrechung einer dramatischen Fabel. Narration im engeren Sinne unterbricht Narration im weiteren Sinne. In den zwei Disziplinen, in denen das Epische Theater bis heute verstärkt diskutiert wird – in der Erzähl- und Dramentheorie einerseits und in der Theaterund Aufführungstheorie andererseits –, hat man sich jeweils vorwiegend auf eine der beiden Erzählformen konzentriert, um das jeweilige Erkenntnisinteresse zu stärken. In einer dramen- und erzähltheoretischen Perspektive, also einer vornehmlich literaturwissenschaftlichen Perspektive, dominiert bis heute eine Fokussierung auf einen engen Erzählbegriff. Das Epische Theater gilt hiernach als Meilenstein in der Entwicklungstendenz des Dramas hin zur Episierung, wie sie im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu beobachten ist.36 ‚Narrativ‘ im Sinne von ‚episch‘ markiert dabei einen Gegenbegriff zu ‚dramatisch‘. Die Geschehnisse werden nicht ‚direkt‘ vor den Augen der Zuschauer ausagiert, sondern durch eine Erzählerinstanz vermittelt und damit auf Distanz gebracht, wie beispielsweise in der Rede von Erzählerfiguren, die in Prologen, Zwischenreflexionen und Epilogen auftauchen. Tendenziell unbeachtet bleibt in jener theoretischen Ausrichtung dabei die Tatsache, dass die epischen Mittel, die Brecht geltend

 34 Der von Brecht verwendete Begriff ‚Fabel‘ geht auf die deutsche AristotelesÜbersetzung zurück, in welcher ȝࠎșȠȢ sowohl mit ‚Mythos‘ als auch mit ‚Fabel‘ übersetzt wird. Vgl. z.B. „Die Nachahmung von Handlung ist der Mythos“ und: „[...] die Fabel, da sie Nachahmung von Handlung ist [...].“ ARISTOTELES: Poetik, S. 19 und 29. 35 Die hier vorgenommene Unterscheidung von Erzählen im engeren Sinne (auf das Genre des epischen Textes und das Kriterium der Besetzung einer Erzählerinstanz beschränkt) und Erzählen im weiteren Sinne (transmedial, transgenerisch, unabhängig von Erzählerinstanz) entlehne ich Irina Rajewsky. Vgl. RAJEWSKY: „Von Erzählern, die (nichts) vermitteln“, S. 36. 36 Vgl. SZONDI: Theorie des modernen Dramas 1880-1950, S. 13. Vgl. auch RICHARDSON:

„Voice and Narration in Postmodern Drama“, v.a. S. 685.

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machte, nicht alle als ‚narrativ‘ beschrieben werden können, gehen doch viele dieser Mittel über den Einsatz einer epischen Sprechsituation hinaus. Der Brechtsche Gestus oder der Verfremdungseffekt zum Beispiel stellen zwar – ebenso wie die Spruchbänder und der Einsatz von Erzählerfiguren – Mittel zur Distanzierung dar, sie lassen sich aber nicht als ‚narrativ‘ weder im engeren noch im weiteren Sinne beschreiben. So wird in der Dramen- und Erzähltheorie, wenn es um die Untersuchung narrativer Merkmale im Epischen Theater geht, tendenziell der Begriff ‚episch‘, anders als bei Brecht, allein im gattungstheoretischen Sinne verwendet und damit auf das Kriterium der Besetzung einer Erzählerinstanz reduziert.37 Einen weiten, auf die dramatische Fabel zielenden Erzählbegriff macht dagegen Hans-Thies Lehmann geltend, dessen Überlegungen zum Narrativen in Brechts Epischem Theater ich hier stellvertretend für eine theaterwissenschaftliche Position heranziehen möchte. In seiner dekonstruktivistischen Lektüre Brechts argumentiert Lehmann, dass Brechts Episches Theater letztlich aristotelischer sei, als dies zunächst scheinen mag. Wie Lehmann zeigt, gewinne die Fabel in Brechts Theater trotz episch-distanzierender Mittel letztlich wieder die Oberhand. Als das „Herzstück der theatralischen Veranstaltung“38 – wie Brecht es selbst formuliert hat – vereine die Fabel bei Brecht die durch epische Mittel in der Aufführung produzierten Widersprüche letztlich zu einem lehrhaft allegorischen „abstrakte[n] Ganzen“.39 Damit räumt Lehmann dem Narrativen einen völlig anderen Stellenwert ein als die Dramen- und Erzähltheorie. Fungiert in der dramen- und erzähltheoretischen Perspektive das Narrative im Sinne des gattungsbezogenen Terms ‚episch‘ als Mittel der Unterbrechung, stellt das Narrative in der theaterwissenschaftlichen Perspektive von Lehmann im Gegenteil das zu Unterbrechende, nämlich die Fabel dar. Dabei unterschlägt Lehmann keineswegs den Distanz generierenden Zweck der so genannten epischen Mittel. Er interpretiert sie aber nicht, wie die Erzähl- und Dramentheorie, als vornehmlich narrativ (im engeren Sinne),

 37 Obgleich Brechts Verständnis von ‚episch‘ über ‚narrativ‘ im engeren Sinne hinausgeht, zeigt dennoch m.E. allein Brechts Verwendung des Begriffs ‚episch‘, erstens, wie wirkungsmächtig jene primär gattungstheoretische Opposition gewesen sein muss, so dass Brecht ‚episch‘ als theaterprogrammatischen Gegenbegriff zum dramatischen Theater wirkungsvoll einsetzen konnte. Zweitens verdeutlicht der Gebrauch von ‚episch‘, wie tief Brechts Konzept des Epischen Theaters letztlich (noch) in der Tradition des dramatischen Literaturtheaters verankert war. 38 BRECHT: „Kleines Organon für das Theater“, S. 165. 39 LEHMANN: „Fabel-Haft“, S. 232.

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sondern als geradezu anti-narrativ, da sie als selbstreferenzielle Gesten des Zeigens den Fabelfluss zu transzendieren und zu subvertieren vermögen. Epische Mittel – so der theaterwissenschaftliche Konsens – stellen einen selbstreferenziellen Abstand her und verweisen darin auf die technischen und kommunikativen Bedingungen einer Aufführung. Auch wenn das Epische Theater nach Lehmanns Auffassung im Grunde aristotelisch bleibt, sieht Lehmann in Brechts Theater dennoch die theaterhistorischen Wurzeln einer sich auf die eigene Materialität und Medialität besinnenden Theaterpraxis begründet. Damit gilt das Epische Theater für Lehmann als Initialzündung und ästhetischer Vorreiter eines neoavantgardistischen und postdramatischen Theaters, welches die aristotelische Fabel – das Narrative im weiteren Sinne – weitestgehend hinter sich gelassen hat.40 Präsenz des Erzählers: Narration im postdramatischen Theater und in der autobiografischen Performancekunst Obgleich sich das postdramatische Theater der 1980er und 1990er Jahre vom Paradigma des Dramas und der Fabel gelöst hat, lassen sich in den experimentellen Theaterformen dieser Zeit eine Reihe narrativer Praktiken finden. Dabei nimmt das Narrative teilweise neue Formen und Funktionen an. Das postdramatische Theater hat de facto niemals aufgehört zu erzählen, wie auch Hans-Thies Lehmann betont hat,41 jedoch spielt das Narrative sowohl in der postdramatischen Theaterpraxis als auch in der theoretischen Rezeption jener Praxis eine zweitrangige Rolle, wie selbst an Lehmanns Untersuchungen deutlich wird. Als narrative Formen des postdramatischen Theaters führt Lehmann verschiedenste multimediale Erzählperformances an, in denen sowohl autobiografisch als auch fiktional erzählt wird. Als „post-epische Formen von Narration“42 heben diese Performances sich sowohl vom dramatisch-illusionistischen als auch vom Epischen Theater ab. Sie stehen weder im Dienst der Herstellung einer FabelIllusionsmaschinerie noch dienen sie als distanzierende Mittel zur Unterbrechung eines dramatischen Flusses. Lehmann zufolge liegt die Besonderheit jener Erzählformen in der Hervorhebung einer persönlichen „Anwesenheit des Erzählers“ sowie in der Herstellung einer Nähe. In den Fokus rücken ein spürbarer

 40 Vgl. LEHMANN: Postdramatisches Theater, S. 48f. 41 Vgl. ebd., S. 198. 42 Ebd. Lehmann rekurriert hier u.a. auf Bernhard Minettis Abend Bernhard Minetti erzählt Märchen in der Regie von Alfred Kirchner sowie auf Arbeiten von Renate Lorenz und Jochen Becker, der Gruppe Von Heiduck und der Societas Raffaello Sanzio.

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Kontakt zwischen Zuschauern und dem Erzähler sowie eine „selbstreferentielle Intensität dieses Kontakts“.43 Nach dem Postulat einer kritischen Distanz seitens des Epischen Theaters betont Lehmann hier eine emotionale, ja geradezu einfühlsame Komponente. Diese wird jedoch nicht, wie im Illusionstheater, in Bezug auf eine Fabel gedacht, sondern auf einen als unmittelbar wahrgenommenen Kontakt zwischen Zuschauern und Darstellern. Obgleich die Erfahrung von Nähe sich zwar laut Lehmann am Erzählakt entzündet, wird sie letztlich von jeglichen narrativen Qualitäten abgekoppelt. Ungeachtet bleibt dabei die Frage nach einer gegenseitigen Bedingtheit von Narration und Näheerfahrung. Übersehen wird der Umstand, dass jene Erfahrung an Prozesse gebunden ist, die immer auch eine andere Zeitlichkeit als die der Gegenwärtigkeit zwischen Zuschauern und Erzähler beinhalten. Zu prüfen wäre folglich, inwiefern letztlich die von Lehmann beschriebene Näheerfahrung von den sich aktuell entfaltenden Erzählprozessen nicht losgelöst werden kann und damit zu einem Anteil immer schon narrativ aufgeladen ist. Eine ähnliche theoretische Perspektive findet man in Hinblick auf autobiografische Praktiken in der Performancekunst seit den 1970er Jahren. Häufig lässt sich in Bezug auf Performancekunst eine geradezu anti-narrative Haltung beobachten, wie ich bereits zu Beginn mit Verweis auf Peggy Phelan erwähnt habe.44 Dies verwundert zunächst insofern, als in der Performancekunst, die in den 1970er Jahren zum prädestinierten Genre der Selbstinszenierung avancierte, von Beginn an häufig autobiografisches Material zum Einsatz kam, wie zum Beispiel in den autobiografischen Performances von Laurie Anderson, Tim Miller, Karen Finley, Rachel Rosenthal oder Spalding Grey. Im historischen Kontext einer allgemeinen Performatisierung der Künste sowie einer damit einhergehenden Betonung des ‚echten Lebens‘, die Ende der 1970er Jahre in Allan Kaprows Forderung nach einer künstlerischen Praxis als „doing life“45 kulminierte, liegt der Zweck jener autobiografischen Erzählpraktiken auf der Hand: Im Gegensatz zur Hervorbringung einer fiktiven Geschichte, wie dies auch bei Brecht noch der Fall war, vermochten die autobiografischen Performances jener Zeit aufgrund des als faktisch wahrgenommenen Erzählten ebenso wie in Hinblick auf eine oftmals bewusst exponierte leibliche Anwesenheit der ‚sich selbst erzählenden‘ Performer einen Eindruck von Authentizität zu generieren beziehungsweise

 43 Dieses und vorheriges Zitat: ebd. 44 Vgl. PHELAN: „Shards of a History of Performance Art“, S. 500. Vgl. auch dies.: „On Seeing the Invisible“, S. 25. Zur Problematisierung des Narrativen in der Performancekunst jenseits autobiografischer Performances vgl. Kapitel VI/3. 45 KAPROW: „Performing Life“, S. 195.

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bewusst damit zu spielen. Als „Selbst-Beschreibung[en]“46 zielten die autobiografischen Performances aus dieser Zeit auf eine Inszenierung von Subjektivität und Authentizität. Theoretisch verhandelt wurden jene Performances bislang vor allem in Bezug auf Aspekte wie Körperlichkeit oder der Einmaligkeit von Aufführungen.47 Nur wenige Theoretikerinnen haben sich dabei explizit mit dem Erzählen beschäftigt. Wird das Narrative thematisiert, dann, wie zum Beispiel bei Erika Fischer-Lichte und Gabriele Brandstetter, im Spannungsfeld zwischen mündlichem Geschichtenerzählen, Portrait und der literarischen Gattung der Autobiografie. 48 Sowohl Fischer-Lichte als auch Brandstetter geben dabei wichtige Impulse, die narrativen Prozesse in autobiografischen Performances als performative, identitäts(de-)konstruierende Akte zu denken. Auffallend ist jedoch, dass das Narrative hier vornehmlich vor dem Hintergrund einer Problematik der Relation von Fiktion und Realität diskutiert wird, die in Bezug auf die Autobiografie spätestens mit Paul de Mans Thesen zur Fiktionalität der Autobiografie virulent wurde.49 So geht es in diesen Untersuchungen eher um Fragen nach einer Inszenierung von Authentizität qua Narration, um einen ‚autobiografischen Pakt‘ zwischen Performerinnen und Zuschauerinnen und weniger um dezidierte Untersuchungen narrativer Prozesse und ihrer performativen Qualitäten. Narration und Interaktion: Erzählen im interaktiven Theater der 1960er und 1970er Jahre Auch in den avantgardistischen interaktiven Theaterformen der späten 1960er und frühen 1970er Jahren wurden Geschichten erzählt, wie etwa beispielhaft in Richard Schechners The Performance Group oder Augusto Boals Forumtheater. Die hierin erkundeten Interaktionsformen haben ihren Vorläufer in Brechts zweiter berühmter Innovation, dem Lehrstück. Das Lehrstück, wie es von Brecht zunächst angelegt war, zeichnet sich durch ein gemeinsames Spielen aus, bei dem alle Beteiligten ‚mitspielen‘ und damit die Trennung zwischen Darstellern

 46 BRANDSTETTER: „Selbst-Beschreibung“. 47 Gabriele Brandstetter betont diesen Umstand und verweist dabei auf Untersuchungen von Rose Lee Goldberg, Peggy Phelan, Elisabeth Jappe sowie auf AA Bronson und Peggy Gale. Vgl. ebd., S. 100 und 125. 48 Vgl. FISCHER-LICHTE: „Verwandlung als ästhetische Kategorie“, S. 50-65; BRANDSTETTER:

„Selbst-Beschreibung“. Zum vornehmlich autobiografischen Erzählen in

den 1990er Jahren vgl. dies.: „Geschichte(n) Erzählen im Performance/Theater der neunziger Jahre“. 49 Vgl. DE MAN: „Autobiographie als Maskenspiel“.

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und Zuschauern aufheben.50 Im Lehrstück sind alle Beteiligten dazu aufgefordert – mit Schechner gesprochen – in die Geschichten einzutreten und sich ihr anzuschließen („to join the story“51). Mit der Inklusion von Zuschauern verfolgten viele Theaterpraktiker der 1960er und 1970er Jahre ein explizit politisches Anliegen, etwa wenn in Boals Forumtheater Szenen alltäglicher Unterdrückung vom Publikum selbst wiederholt durchgespielt und dabei zu utopischen Szenen weiter entwickelt wurden. 52 Mitspielen wurde zur Technik eines politischen Handelns. Ähnlich wie in den von Lehmann beschriebenen postdramatischen Erzählperformances ging es auch hier bereits um eine Herstellung von Kontakt und Nähe zwischen den gemeinsam agierenden Mitspielenden. Anstelle der reflektierenden Distanz als Mittel zur Generierung eines politischen Bewusstseins, wie im Epischen Theater, sollte gerade im gemeinsamen, ‚nahen‘ Durchleben fingierter Umstände eine kritische Haltung generiert werden. Diese Form der Einfühlung ist weniger psychologisch oder passiv-kontemplativ wie im dramatischen Illusionstheater, in welchem zur Herstellung ästhetischer Illusion immer noch ein Abstand bewahrt werden muss. Die im interaktiven Theater der 1960er und 1970er Jahre realisierte Einfühlungsform lässt sich vielmehr als handlungsbezogen beschreiben, als aktiv-immersiv und illudierend im Sinne eines ‚Sich-Einspielens‘. Sogar der vermeintliche Empathie-Verneiner Brecht hatte schon seinerzeit, wie häufig vergessen wird und wie uns Nikolaus MüllerSchöll erinnert, einen Einfühlungsbegriff für seine Lehrstücke geltend gemacht: „Als ich für das Theater mit der Einfühlung mit dem besten Willen nichts mehr anfangen konnte,“ schrieb Brecht bereits zu Beginn der 1920er Jahre, „baute ich für die Einfühlung noch das Lehrstück.“ 53 Doch gab es einen entscheidenden Unterschied zwischen Brecht und seinen neoavantgardistischen Nachfolgern. War das Lehrstück-Spiel bei Brecht, welches vornehmlich im Kontext von Musikfestivals und daher außerhalb der Institution Theater realisiert und rezipiert worden war, 54 nach einer streng durchkomponierten narrativen Partitur

 50 Vgl. BRECHT: „Zur Theorie des Lehrstücks“, S. 351. 51 SCHECHNER: Environmental Theatre, S. 44. 52 Vgl. BOAL: Theater der Unterdrückten, S. 71f. 53 BRECHT: „Tagebücher 1920-1922“, zitiert nach: MÜLLER-SCHÖLL: Das Theater des ‚konstruktiven Defaitismus‘, S. 321. Nikolaus Müller-Schöll verweist in diesem Zusammenhang auf die religiös-emphatische Komponente der Brechtschen Lehrstücke: „Die Theorie des Lehrstücks ist Baustein einer Theologie ohne Gott“. Ebd. 54 Wie Klaus-Dieter Krabiel dargelegt hat, liegt ein Grund für die Unkenntnis über die Lehrstückpraxis in ihrer Ausgeschlossenheit von der Theaterinstitution: „Die Institution Theater ist von Brechts Lehrstückexperimenten nicht im mindesten tangiert. Bei

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gespielt worden, das heißt entlang einer dramatischen Fabel, die man gemeinsam ausagierte, ließen die Theatermacher des neoavantgardistischen Interaktionstheaters bewusst Raum für Improvisation und spontane Modifikation. Genau in jener Befürwortung von Interaktion und Improvisation liegt meines Erachtens jedoch ein zutiefst antidramatischer, letztlich anti-narrativer Impetus begründet, der die Interaktionspraktiken der Neoavantgarde letztlich vom Lehrstück entfernte und sie wieder stärker in die Nähe der Fabel-Unterbrechungsästhetik eines Epischen Theaters rücken ließ. So wurde das Narrative zum Beispiel von Richard Schechner mit einem zuvor festgeschriebenen dramatischen Fluss assoziiert ebenso wie mit der Herstellung einer fiktiven, Illusionseffekte generierenden Welt, die durch unvorhersehbare Momente in der Interaktion zwischen Darstellern und Publikum unter- und durchbrochen werden sollte: „I believe“, schrieb Schechner 1973, „participation should generally be in the service of disillusion. It should not be to build an unreal world of a fantasy projection.“55 Nicht die wechselseitige Durchdringung und Verstrickung von Narration und Partizipation, sondern ein konträres, ja unvereinbares Verhältnis beider sind dieser Aussage nach kennzeichnend für die Interaktionspraktiken jener Zeit. Entsprechend stellte das Erzählen auch nicht das primäre Anliegen jener Theaterformen geschweige denn eines Nachdenkens darüber dar. Auch wenn hier Geschichten hervorgebracht wurden, ging es weniger um einen kollektiven Erzählakt, sondern der vornehmliche Zweck eines gemeinsamen Agierens bestand in der Herstellung einer utopischen Gemeinschaft sowie, theaterästhetisch betrachtet, in der Erkundung der sozialen Dimensionen von Aufführungen. Obgleich hier Ansätze einer Selbstreflexion bezüglich eines kollektiv-interaktiven Erzählprozesses vorhanden waren – etwa wenn Schechner über seine Inszenierung Dionysus in 69 schrieb: „What is at stake is not the story being told

 partiellen Berührungspunkten entstanden und entwickelten sich Lehrstück und episches Theater unabhängig voneinander; in beiden fanden Entwicklungen im politischen und ästhetischen Denken Brechts ihren Niederschlag.“ KRABIEL: Brechts Lehrstücke, S. 312. Hans-Friedrich Bormann hat daraus die These abgeleitet, dass die „Re-Theatralisierung“ des Theaters seit der Avantgarde – zumindest in Rekurs auf das Lehrstück – nicht aus der Institution Theater heraus, sondern „aus dem Geiste der Musik“ entstanden sei. Vgl. BORMANN: unveröffentlichter Vortrag in der Schwerpunktgruppe „Synchronisierung, Partizipation“ des Sonderforschungsbereichs 447 „Kulturen des Performativen“ an der Freien Universität Berlin, 2009. 55 SCHECHNER: Environmental Theatre, S. 69, vgl. auch S. 78.

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but the telling of the story“,56 – geht seine Argumentation immer wieder in die ‚(anti-)dramatische Falle‘ und kippt in ein dichotomisches Denken, innerhalb dessen sich Narration und Interaktion als unvereinbare Pole gegenüber stehen: „The audience comes to see a play and has the right to see a play. There can be no mixture of dramatic and participatory structures without confusion.“57 Deutlich wird, wie stark Schechners interaktives Theater vor dem Hintergrund hegemonial-dramatischer Theaterstrukturen stattfand. Denn was Schechner durch Negation zum Ausdruck bringt, sind die Regeln eines damals vorherrschenden Wahrnehmungsdispositivs, das es nicht nur zu subvertieren, sondern zum Zweck einer Verneinung zwangsläufig auch zu perpetuieren galt. Dass jedoch auch die von Schechner praktizierten Interaktionen selbst narrative Qualitäten besaßen oder dass ein kollektiv-interaktives Erzählen selbst unvorhersehbare Momente impliziert, blieb von Schechner nicht zuletzt angesichts des damals vorherrschenden Theaterdiskurses weitestgehend unbeachtet.58 Mit einem historischen Abstand jedoch bilden die theatralen Interaktionsformen der Neoavantgarde zumindest formal betrachtet einen zentralen, wenn nicht den zentralen theaterhistorischen Bezugspunkt für die in der vorliegenden Studie behandelten narrativen Aufführungen.59 Charakteristisch für die Erzählformen damals wie heute ist eine Gleichzeitigkeit von Immersion/Illudierung und Partizipation. In den interaktiven Aufführungsformen der frühen 1970er Jahre sind Ansätze eines partizipatorisch-immersiven Erzählens zu erkennen, das in den narrativen Aufführungspraktiken der Jahrtausendwende Konjunktur hat – und dies nicht nur in Bezug auf ein fiktionales, sondern auch auf ein faktuales Erzählen. Dabei muss eine Partizipation in den derzeitigen theatralen Erzählformen nicht zwangsläufig mit einer körperlichen Interaktion einhergehen. Entscheidend jedoch ist eine exponierte Involvierung der Zuschauerinnen in Erzählprozesse.

 56 Ebd., S. 79. Dionysus in 69 wurde in The Performing Garage in Soho/New York City 1969 uraufgeführt. 57 Ebd., S. 82. 58 Schechner nennt eine Ausnahme: Megan Terry’s Changes, aufgeführt in La Mama, New York 1968: „In this kind of participation audiences do not take part in a play – moving in and out of the drama. Instead the audience is the stuff from which the drama is made.“ Ebd., S. 64. 59 Gräbt man tiefer in der Theatergeschichte, ließe sich eine Reihe weiterer historischer Bezugspunkte ausmachen. Die Commedia dell’arte böte sich als eine weitere historische Referenz an. Da diese Arbeit jedoch nicht historisch angelegt ist, müssen derartige Erzählungen entfallen.

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2.2 V ERNETZTES E RZÄHLEN UND NARRATIVE S ELBSTINSZENIERUNG Die verschiedenen Funktionen, die das Narrative im Theater des 20. Jahrhunderts eingenommen hat (illusionsgenerierend, distanzschaffend, präsenzeffekterzeugend oder interaktionsfördernd), stehen in Relation zu einer Reihe medienhistorischer Entwicklungen: Nachdem das Theater der historischen Avantgarde im Zuge der Erfindung technischer Speichermedien wie dem Fonograf oder dem Fotoapparat zum Ort des Realen erklärt wurde, an dem dramatische Illusion zerschlagen wurde (zum Beispiel bei Brecht, Piscator, Artaud, Schlemmer, Marinetti und Prampolini), nachdem es weiterhin spätestens seit den 1950er Jahren in Abgrenzung zu einseitigen, ‚mediatisierten‘ Kommunikationsformen wie dem Fernsehen oder dem Kino als Ort ko-leiblicher Gemeinschaftlichkeit und Kollektivität erkundet wurde (zum Beispiel bei Boal, Schechner, The Living Theatre, Grotowski und in der Performancekunst), steht das Theater heute im Zeitalter digitaler Kommunikationsformen an einer neuen medienhistorischen Schwelle, bei deren Übertretung es mit der Herausbildung neuer Erzählformen reagiert, die den Wahrnehmungsdispositiven sich verändernder Kommunikationspraktiken entsprechen. Doch wie wird heute erzählt? Im kulturellen Umfeld von Digitalisierung, Globalisierung und „Hyperkulturalität“, 60 das heißt in einem von extremer Informationsdynamisierung gekennzeichneten, digitalen Online-Zeitalter, verändert sich die Rezeptionshaltung vom bewahrenden Gedächtnis zur punktuellen Konzentration, zum Aufmerken und Reagieren, zum Auswählen und Produzieren. Innerhalb dieser Aufmerksamkeitsökonomie61 ist man interaktiv statt kon-

 60 Byung-Chul Han setzte 2005 der postmodernen „Hybridkultur“ (Homi Bhabha) den gesteigerten Begriff der „Hyperkulturalität“ entgegen. Eine Hyperkultur ist von einer zunehmenden Globalisierung, Durchmischung, Verwandlung und Vernetzung gekennzeichnet, die als solche einzig Heimat bietet. HAN: Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung, v.a. S. 10ff. 61 Vgl. ASSMANN: Utopie der Medien, Medien der Utopie: „Der Dynamisierung der Information im elektronischen Zeitalter sind Modelle der Bildung und des Gedächtnisses immer weniger gewachsen. Was angesichts des steigenden und beschleunigten Informationsstroms allein zählt, ist einerseits die Technik des blitzschnellen und gezielten Zugriffs auf Information und das ebenso schnelle Reagieren auf punktuelle Reize im Prozess des Sich-Durchklickens durch Datenkonfigurationen. [...] [Der] Informationsstrom des Internets wird nicht nur strukturell durch Suchmaschinen erschlossen, sondern auch sinnlich durch Aufmerksamkeitsstrategien kanalisiert.“

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templativ, herrscht (virtuelle) Ko-Präsenz statt Einkanal, wird die Datenflut weniger als fertiges Produkt, denn als prozesshaft zu bearbeitende Informationsmasse wahrgenommen. Einer von Paul Virilio in den 1980er Jahren verkündeten postmodernen „Krise des ‚Erzählens‘ an sich“62 zum Trotz lässt sich heute eine Multiplizierung alltäglicher Erzählpraktiken beobachten. Dabei wird das Erzählen zunehmend zur Selbstinszenierungstechnik. In einer Kultur der Selbstbeobachtung und der Selbsthilfe, in der ein vornehmlich über Selbsterzählungspraktiken hervorgebrachter „therapeutische[r] Diskurs“ die hegemoniale „kulturelle Matrix“63 bildet, gibt es kaum ein privates Problem, das nicht öffentlich erzählt wird, kaum einen Prominenten, der keine Autobiografie vorlegt. Besonders institutionsspezifische Erzählformen, wie zum Beispiel Zeugenberichte vor Gericht, Krankheitsgeschichten beim Arzt oder autobiografische Schilderungen beim Psychotherapeuten, stürmen das öffentliche Bewusstsein und werden in Internetforen vervielfacht. Multimediale Erzählformen, wie sie in E-Mails, Chatrooms, Blogs oder auf Youtube oder Facebook praktiziert werden, erscheinen als interaktive, ‚vernetzte‘ Fortsetzungen narrativer Selbstdarstellungen, wie man sie aus Problem-Talkshows kennt. Auf Twitter pfeifen die Teilnehmer in Windeseile die neuesten Nachrichten vom virtuellen Dach und beschleunigen damit ein Erzählen, das noch zuvor auf die Druckerpresse angewiesen war. In der verlinkten Struktur des Internets reagiert man mit Erzählungen auf Erzählungen ad infinitum in extremer Geschwindigkeit. Dabei gehen die narrativen (Selbst-)Inszenierungen häufig über die Behauptung einer biografischen Authentizität hinaus. In TV- und Online-Rollenspielen können sich die Teilnehmer innerhalb narrativer Settings entsprechend als Steinzeitmenschen, als mittelalterliche Burgdamen oder als Raumschiffpiloten erproben. Gerade das Internet scheint dabei durch die Möglichkeit der Anonymität zum Entwerfen multipler Biografien zu verführen, wie zum Beispiel die Beliebtheit zeitlich unbegrenzter Online-Spiele und digitaler Parallel-Universen wie Second Life oder World of Warcraft verdeutlicht. Die Erzählpraktiken des experimentellen Theaters der Jahrtausendwende stehen in Bezug zu diesen Entwicklungen. Als soziale Ereignisse und als flüchtige Kunstformen par excellence vermögen sie nicht nur das Wahrnehmungsdispositiv eines interaktiv-kommunikativen Zeitalters besonders prägnant zu spiegeln, sondern sie reflektieren zugleich die unter neuen Kommunikationsbedingungen

 62 Virilio: „Die Auflösung des Stadtbildes“, S. 269. 63 Beide Zitate: ILLOUZ: Die Errettung der modernen Seele, S. 21.

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entstandenen Erzählformen und deren kulturelle Funktionen.64 Dabei wird das Erzählen als Gestalt gebende Praxis erkundet, das heißt als ein konfigurierendes Handeln, das selbst Handeln zu fassen sucht.65 Ein derartiger Umgang mit dem Narrativen geht über einen primär dekonstruktivistischen Gestus hinaus. Anstelle einer grundsätzlichen Kritik an Mythen und großen Erzählungen wie etwa in der Tradition der Kritischen Theorie oder der Postmoderne, nach denen der konstruierte Charakter narrativ gestifteten Sinns als ‚falsches Bewusstsein‘ entlarvt und die verführerische Kraft von Geschichten als Identität stiftende und Zweifel ausblendende Kraft aufgedeckt und tendenziell verurteilt wurde,66 wird in den Aufführungsformaten der Jahrtausendwende die sowohl restriktive als auch produktive Qualität narrativer Prozesse in Szene gesetzt. Erzählen wird hier nicht als Akt der Verblendung abgewertet, sondern als ein unumgänglicher und – im positiven Sinne Foucaults – mächtiger Vorgang der Hervorbringung von Wirklichkeit bejaht und zugleich kritisch reflektiert. 67 Dabei geht das Ausstellen des making of von Geschichtenkonstruktionen – etwa das Aufdecken narrativer Spielregeln – einher mit einem bewussten Einlassen auf das Erzählen. Spielerische (De-)Konstruktion und ein Ernstnehmen und Erfahrbarmachen von narrativen Prozessen finden gleichzeitig statt. Die theatralen narrativen Praktiken des neuen Jahrtausends bewegen sich in einem Spannungsfeld von einerseits der Offenlegung narrativer Sinngebung als ‚falsches Bewusstsein‘ und andererseits

 64 Für die Erzähltheoretikerin Marie-Laure Ryan z.B. liegt ein spezifisches Merkmal digitaler Erzählformen in einer Gleichzeitigkeit von Immersion und Interkation. Vgl. RYAN: Avatars of Story, S. 14. Ryan veranschlagt damit ähnliche Qualitäten für das Erzählen in digitalen Umgebungen wie ich sie zuvor für die in dieser Studie untersuchten Performances geltend gemacht habe. Zu digitalen Erzählformen und deren Theoretisierung v.a. in Hinblick auf einen Vergleich mit dem Theater vgl. Kapitel II/2.2, Abschnitt „Theorien zum Erzählen in digitalen Umgebungen“. 65 figura, lateinisch für Gestalt, Gestaltung. Zum Begriff ‚figura‘ als gestalt- und formgebende, transformatorische Kraft vgl. AUERBACH: „figura“; BRANDSTETTER und PETERS (Hrsg.): de figura, v.a. S. 7-23. 66 Vgl. ADORNO und HORKHEIMER: Dialektik der Aufklärung; BARTHES: Mythen des Alltags; LYOTARD: Das postmoderne Wissen. 67 Ich beziehe mich auf Foucaults späten Machtbegriff, den er in Der Wille zum Wissen erläutert. Macht ist hier nicht als eine rein restriktive, souveräne, als durch eine Institution oder Person verkörperte Instanz zu verstehen. Macht ist und ereignet sich in jeder Praktik und jeder Ordnung und ist somit zugleich deren Voraussetzung wie Produkt. Macht wirkt sowohl restriktiv als auch produktiv. Vgl. FOUCAULT: Der Wille zum Wissen, S. 113f.

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einer selbstbewussten Hingabe an die wirklichkeitsstiftende Kraft des Erzählens. Dabei vermögen jene Erzählformen besonders in ihrer formalen wie inhaltlichen Durchmischung von Kunst und Alltag eine kulturanthropologische Frage zugleich aufzuwerfen und zu beantworten, die nämlich nach der Funktion des Erzählens in der westlichen Kultur zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Folgt man Wolfgang Müller-Funks Hypothese, dann erzählen „Menschen heute, unter zunehmendem Identitätszwang, mehr [...] als je zuvor in anderen, zum Beispiel oralen Gesellschaften“.68 Im Kontext eines Zeitalters, in dem die Annahme einer festen, essentiellen Identität vollends verloren gegangen ist, scheint eine permanente Neuerfindung des Selbst zwanghaft geworden zu sein – eine Neuerfindung, die, sofern sie narrativ vollzogen wird, in einen potentiell unabschließbaren Prozess des (Selbst-)Erzählens mündet. Anstelle des Eintritts in ein postnarratives Zeitalter nach dem Zusammenbruch großer Erzählungen hat sich eine Potenzierung narrativer Konstruktionen eingestellt. Hier wie dort – im Theater wie im Alltag – werden erzählend Orte erfunden, Identitäten gebastelt, Utopien formuliert, Alltagsmythen ver- und entankert, das Narrativ eines good life neu entworfen und damit der Heideggerschen Geworfenheit endgültig entsagt. Die narrativen Aufführungsformen der Nullerjahre, so meine These, verdichten und hinterfragen dabei auf künstlerischer Ebene etwas, was kommunikationshistorisch gesehen zum Alltag geworden ist. Dabei entledigen sie sich freilich niemals der Theatergeschichte, aus der sie hervorgegangen sind. Seitens der Theatermacherinnen wird immer wieder tief in die theaterhistorische Trickkiste gegriffen. Hierbei werden, wie zu zeigen sein wird, allerhand dramatische, theateravantgardistische und postdramatische Erzählformen und -funktionen ebenso wie deren Illusions- und Realitätseffekte, Fiktionalisierungs- und Authentifizierungsstrategien hervorgeholt, neu miteinander kombiniert und in Beziehung zu nicht-theatralen Erzählformen gesetzt. Die theatralen Erzählpraktiken der Gegenwart sind zu einem Anteil immer auch dramatisch und postdramatisch. Jedoch stellen sie in Rekurs auf neue, fragmentarische, nichtlineare und interaktive Erzählformen eines (digitalisierten) Alltags immer wieder die Frage nach einem derzeitigen Stellenwert von narrativer Wirklichkeitsgenerierung, indem sie narrative Prozesse sowie deren konstruierte Sinngehalte in ihren partizipatorischen und kontingenten Qualitäten erfahrbar machen.

 68 MÜLLER-FUNK: Die Kultur und ihre Narrative, S. 28.

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3. B EGRIFFLICHE V ORAUSSETZUNGEN In dieser Studie untersuche ich Erzählprozesse in Aufführungen. Ich setze dabei die Aufführung und das Narrative theoretisch miteinander in Beziehung – zwei kulturelle Praktiken, die bislang nicht konsequent zusammengedacht wurden. In diesem Abschnitt möchte ich meine begrifflichen Voraussetzungen bezüglich beider Praktiken klären und dabei aufzeigen, inwiefern es vor dem Hintergrund ihres Zusammendenkens nötig sein wird, gängige Konzeptualisierungen von Aufführung ebenso wie von Narration zu erweitern.

3.1 E RZÄHLEN : H OW

TO DO

T HINGS W ITH S TORIES

Was heißt Erzählen? Unter ‚Erzählen‘ verstehe ich jene kulturelle Praktik, mittels derer Menschen versuchen, vergangene, zukünftige und potentielle Handlungen und Ereignisse fassbar zu machen. Im Erzählen wird Zeit konfiguriert und damit strukturiert: Im narrativen Konfigurationsvorgang (plotting) werden Zeitebenen durch Wiederholung und Antizipation miteinander in eine zeitlich-kausale Beziehung gesetzt. Wer also erzählt, interpretiert und trachtet damit nach einer Erklärung darüber, wie etwas gewesen ist, wie es hätte sein können oder wie es sein wird. Damit ist die Wahrheit, die im Erzählen generiert wird, streng genommen ungewiss. Nichtsdestotrotz ermöglicht das Erzählen ein (Wieder-)Erkennen und Verstehen von Handlungen und Ereignissen. Wie Paul Ricœur gezeigt hat, wird es im Erzählen möglich, sich als historisches und endliches Subjekt wahrzunehmen und ein Zeitbewusstsein zu erlangen. 69 Durch das Erzählen wird nachträglich und vorgängig die Vorstellung von Ganzheit und Identität generiert. Trotz der unüberbrückbaren Differenz zwischen dem Erzählen und dem Erzählten – eine Differenz, durch die jedes narrative Erkennen zu einem Anteil einem Verkennen gleichkommt – stellt das Erzählen selbst ein Ereignis und ein konstitutives Handeln dar, das einen Zugang zur Welt ermöglicht. Erzählend vermag man zu einem Selbst- und Weltverständnis zu gelangen, welches stets verkennend, aber deshalb, anthropologisch betrachtet, nicht minder (lebens-)notwendig ist. Die wirklichkeits- und identitätsstiftenden Funktionen des Erzählens sind dabei zunächst unabhängig von dem Wahrheitsanspruch einer erzählten Geschichte zu verstehen. Ob die erzählten Handlungen als fiktiv oder faktisch,

 69 Vgl. RICŒUR: Zeit und Erzählung, Band 1, S. 87. Ausführlicher hergeleitet werden diese und folgende Überlegungen in Kapitel II/3.

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oder ob ein hervorgebrachter narrativer Diskurs als fiktional oder faktual wahrgenommen wird,70 hat zwar einen situativen Effekt auf die jeweilige Erzählsituation, es ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass das Erzählen als ein Handeln selbst wiederum Handlungswirklichkeit generiert.71 Das Erzählen stellt darüber hinaus eine transmediale und transgenerische Praktik dar. Es ist nicht etwa auf die literarische Gattung der Epik oder auf das Medium Sprache beschränkt, sondern kann sich an verschiedensten Medien und Genres entzünden (zum Beispiel an Bildern, Gesten, am Tanz, Film oder Comic). Ich spreche hier bewusst von einem ‚Entzünden‘, weil ich in Abgren-

 70 Begrifflich muss zwischen ‚fiktional‘ und ‚fiktiv‘ sowie zwischen ‚faktual‘ und ‚faktisch‘ unterschieden werden. ‚Fiktional‘ und ‚fiktiv‘ zeichnen sich im Gegensatz zu ‚faktual‘ und ‚faktisch‘ dadurch aus, dass wir es in beiden Fällen mit etwas unter dem geltenden Wirklichkeitskonzept ‚Fingiertem‘ – etwas Erdachtem, Erfundenem – zu tun haben. Beide stellen jedoch zunächst logisch voneinander unabhängige Phänomene dar. Während ‚fiktional‘ auf die Fingiertheit eines gesamten diskursiven Phänomens bzw. einer „Darstellungsweise“ zielt, bezieht sich ‚fiktiv‘ auf die Fingiertheit eines Gegenstandes bzw. einer Person, d.h. auf eine „Existenzweise“. RÜHLING: „Fiktionalität und Poetizität“, S. 29. Die Begriffe ‚faktual‘ und ‚faktisch‘ bilden jeweils das nicht-fingierte Pendant zu ‚fiktional‘ und ‚fiktiv‘: ‚faktual‘ zielt auf die Darstellungsweise, ‚faktisch‘ auf eine Existenzweise. ‚Faktual‘ und ‚faktisch‘ werden auch häufig mit den Begriffen ‚referentiell‘ und ‚real‘ differenziert, wobei ‚referentiell‘ für jegliche (d.h. nicht nur sprachliche) Äußerungen steht, denen eine authentifizierende Funktion zugeschrieben wird, während ‚real‘ einen „Seinsmodus“ bezeichnet, der Sachverhalten „aufgrund von Konventionen zugeschrieben wird“. BARSCH: „Fiktion/Fiktionalität“. So kann beispielsweise eine faktische Person Teil einer fiktionalen Erzählung sein. Die Konvention der Autobiografie z.B. suggeriert einen faktualen Diskurs mit faktischer Figur/Person. Ob eine Darstellung letztlich als fiktional oder faktual oder ob ein Gegenstand oder eine Person als fiktiv oder faktisch wahrgenommen wird, hängt vom konventionsgebundenen Kontrakt, vom situativ geschlossenen Pakt zwischen Darstellung und Rezipient ab. Vgl. dazu ISER: „Akte des Fingierens“, S. 135. 71 Es ist mir wichtig, diesen Punkt zu erwähnen, da besonders im theaterpraktischen Diskurs häufig dazu tendiert wird, Erzählen mit Fiktion (englisch ‚fiction‘) gleichzusetzen. Zu Erzählen bedeutet nicht, sich etwas ‚auszudenken‘, das es faktisch nicht gibt, sondern Erzählen ist eine nach bestimmten Regeln erfolgende kulturelle Praktik der Sinnstiftung, bei der Ereignisse und Handlungen zu einer Geschichte konfiguriert werden. Ob das Erzählte dabei als wahr oder falsch, als faktisch oder ausgedacht wahrgenommen wird, hängt einzig und allein von Konventionen ab.

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zung zu klassischen und teilweise auch postklassischen Erzähltheorien (vgl. Kapitel II) das Erzählen weniger von Erzählmedien oder -genres aus denke – das heißt von ‚Trägern‘ einer Erzählung, in denen das Erzählen in einer strukturellen Abgeschlossenheit ‚vorliegt‘. Vielmehr verstehe ich das Erzählen von einem rezeptionstheoretischen Standpunkt aus als einen Prozess, der sich zwischen Rezipientin und ‚Medium‘ zuallererst entfaltet. Rezeption und Produktion der Erzählung fallen damit in eins. Zwar mögen verschiedene Medien, wie der kognitionswissenschaftlich ausgerichtete Erzähltheoretiker Werner Wolf betont hat, unterschiedliche Modi von Narrativität aufweisen. So gibt es einen Unterschied zwischen einerseits einem Spielfilm im Sinne eines „geschichtendarstellend[en]“ Erzählmediums und andererseits einer Spur zum Beispiel in Form eines Fußabdrucks, den man mit Wolf als „narrationsindizierend[es]“ 72 Erzählmedium beschreiben könnte. In beiden Fällen jedoch wird im Rezipienten ein Erzählprozess in Gang gesetzt. Wird man im Spielfilm zum Mit-Erzählen einer bildlich, gestisch und sprachlich konfigurierten Erzählung veranlasst, deren Rezeption einen neuen narrativen Konfigurationsakt beinhaltet und eine neue Erzählung entstehen lässt, reizen Spuren dazu, eine (zeitlich-kausale) Verbindung zwischen dem vergangenen spurenbildenden Ereignis und der gegenwärtigen Spur herzustellen, oder wie Walter Benjamin es in Bezug auf den historisch aufgeladenen Raum formuliert hat: Die Spur „blinzelt“ einen an und scheint zu fragen „nun, was mag sich in mir wohl zugetragen haben?“73 In beiden Fällen wird der Rezipient zum Erzählen aufgefordert. Erzählprozesse werden tendenziell (das heißt niemals zwangsläufig) dort aktiviert, wo man als Rezipient mit verschiedenen Zeithorizonten konfrontiert wird, die miteinander in einem Spannungsverhältnis stehen, das nach Auflösung drängt. Ein Erzählen ‚an sich‘ gibt es nicht. Erzählen verstehe ich als ein Zwischengeschehen: Es bedarf immer eines aktuellen Zusammenspiels von Rezipient und Medium. Sobald ich etwas als narrativ wahrnehme, hat bereits ein Erzählen begonnen. Begriffsverwendung Begrifflich verwende ich die Wortgruppen ‚narrativ‘/‚Narration‘ und ‚erzählerisch‘/‚Erzählen‘ synonym – ähnlich wie im Englischen die Wörter ‚to narrate‘

 72 Dieses und letztes Zitat: WOLF: „Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik“, S. 96. 73 BENJAMIN: Das Passagen-Werk, S. 527.

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und ‚to tell‘ oftmals synonym gebraucht werden.74 Während ich ‚das Erzählen‘, ‚erzählen‘ und ‚narrativieren‘ eher in Hinblick auf konkrete narrative Prozesse benutze, verwende ich die Substantive ‚die Narration‘ und ‚das Narrative‘ – ähnlich wie das englische Substantiv ‚narrative‘ –, um die kulturelle Sinngebungspraktik des Erzählens auf einer abstrakteren Ebene zu beschreiben. Als ‚ein Narrativ‘ hingegen bezeichne ich ein kulturell internalisiertes narratives Grundmuster, das in narrativen Prozessen gegebenenfalls abgerufen und reaktiviert wird. Des Weiteren beziehe ich mich auf die von Gérard Genette veranschlagte terminologische Trias von histoire, discours und narration, um unterschiedliche Ebenen des Narrativen zu beschreiben: erstens die Ebene der Geschichte („narrativer Inhalt“, „Handlung“), zweitens die Ebene der Erzählung beziehungsweise des narrativen Diskurses („narrative Aussage“) und drittens die Ebene des Erzählprozesses („produzierender narrativer Akt“). 75 Da jedoch die Ebene des Erzählprozesses sowohl in Hinblick auf meinen Gegenstand als auch in Hinblick auf eine veranschlagte performativitätstheoretische Position in den Vordergrund dieser Studie rückt, gilt es diese Ebene gegenüber dem relativ engen Genetteschen Verständnis von „narration“ zu modifizieren und zu stärken. Bei Genette bleibt die Ebene des Erzählaktes auf die Erzählhandlung einer Erzählerinstanz beschränkt und ist nur über die Ebene der Erzählung, des narrativen Diskurses zugänglich. 76 Damit wird das Erzählen als eine Tätigkeit gefasst, die innerhalb der überschaubaren Grenzen des narrativen Diskurses stillgestellt erscheint und sich darin mit einer gewissen Distanz analysieren lässt. Mag eine solche Auffassung von Erzählprozessen für die Untersuchung epischer, schriftsprachlicher Texte bis zu einem gewissen Grad fruchtbar, ja unerlässlich sein – obgleich in jener Perspektive jegliche rezeptionsästhetischen Aspekte, also der Leseakt als ein Erzählakt ausgeblendet bleiben –, für die in vorliegender Studie untersuchten Erzählaufführungen reicht ein solches Verständnis von Erzählprozessen nicht aus. In den Vordergrund narrativer Aufführungsformate der Jahr-

 74 Zur genauen etymologischen Herleitung beider Wortgruppen und ihren unterschiedlichen konnotativen Implikationen vgl. Kapitel II/2.2, Abschnitt „Erzählen – zwei etymologische Stränge“. 75 GENETTE: „Diskurs der Erzählung“, S. 15. Die Begriffe ‚Erzählung‘ (discours) und ‚Geschichte‘ (histoire) verwende ich wie in der deutschen Übersetzung von Genettes Discours du récit. Die dritte Ebene des Erzählaktes (narration) wird in der deutschen Fassung auch mit „Narration“ übersetzt. Ich werde jedoch ausschließlich von ‚Erzählakt‘ beziehungsweise von ‚Erzählprozess‘ sprechen. Zur Originalterminologie vgl. GENETTE: Discours du récit, S. 71-73. 76 Vgl. ebd., S. 17.

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tausendwende rücken partizipatorische narrative Prozesse in ihren affektiven und konstitutiven Effekten. Reaktiviert und damit erneut hervorgebracht werden hier nicht nur narrative Aussagen und Inhalte (diese entstehen in jedem Erzählakt neu und sind folglich variabel), sondern mit diesen entfaltet sich eine aktuelle Wirkungsmacht, die immer schon über die Explizierungen eines narrativen Diskurses hinausgeht. Erzählen als Performanz In Zeiten interaktiver, ‚vernetzter‘ Erzählpraktiken werden die partizipatorischen und performativen Qualitäten von Aufführungen als Ausgangspunkt theatraler Erzählformen nicht nur theaterpraktisch und theatertheoretisch relevant. Sie werden auch erzähltheoretisch bedeutsam, da sie vorherrschende Auffassungen über das Narrative herausfordern. Wenn in der 2005 erschienenen, repräsentativen Routledge Encyclopedia of Narrative Theory im Eintrag zu „narration“ die Frage aufgeworfen wird, „whether or not ‚narration‘ is an appropriate term for projects (like role-playing games and theatrical improv) that invent themselves as they go along“,77 und jene Frage schließlich unbeantwortet bleibt, zeichnet sich ein narratologisches Desiderat in Bezug auf Aufführungen ab, auf das ich mit dieser Studie antworten möchte. Narration ist ein angebrachter Term für „projects [...] that invent themselves as they go along“, nur muss das Narrative hier vom Erzählprozess und nicht primär von der Struktur oder vom Medium aus gedacht werden. Die hier untersuchten narrativen Aufführungsformen geben Anlass, das Narrative anders zu denken: Weniger von einer Erzählung als bereits abgeschlossenem Produkt, sondern vom Erzählprozess ausgehend. Weniger als eine Distanzierung zu Geschehenem, sondern als ein Akt der Annäherung an die Welt, das heißt als verkörperte Praktik, die etwas mit denjenigen anstellt, die in den Erzählprozess eingebunden sind und dergestalt immer schon rezipierend mit-erzählen. Nicht nur als Konfiguration vergangener Ereignisse und Erfahrungen, sondern selbst als ein Ereignis, das eine eigene Erfahrungsqualität freisetzt. Weniger als Abbild oder Objekt, deren narrative Strukturen und Qualitäten sich eindeutig entschlüsseln, klar benennen und kategorisieren lassen, sondern als offenen und affektgeladenen Prozess, der freilich kulturell internalisierten Erzählregeln gehorcht, deren Wirksamkeit jedoch niemals vollends planbar ist. Weniger als fixes Kohärenzgebilde, sondern als zeitkonfigurierender Vollzug, in dem zeitenübergreifend wiederholt und antizipiert wird und der zwar nach Finalität, Kohärenz, Kausalität und Chronologie strebt, jene Ziele jedoch stets ver-

 77 ABBOTT: „Narration“, S. 343.

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fehlt. Nicht als Sender-Empfänger-Verhältnis zwischen einem aktiven Erzähler und einem passiven Zuhörer oder (fiktiven) Leser, sondern als kontingente, intersubjektive Dynamik zwischen an einer konkreten Erzählsituation Beteiligten, deren Verhältnis zueinander vom Narrativen situativ mit-reguliert wird. Den Ausgangspunkt dieser Arbeit bildet die Beobachtung, dass sich die narrativen Qualitäten aktueller narrativer Aufführungspraktiken nicht ausreichend mit vorherrschenden erzähltheoretischen und dramentheoretischen Begriffen beschreiben lassen. Um sich jenen Qualitäten adäquat zu nähern, ist eine andere Konzeptualisierung des Narrativen erforderlich, in deren Zentrum Erzählprozesse stehen. Es bedarf einer Fokusverschiebung, die auf den kontingent-konstitutiven Vollzugscharakter narrativer Akte zielt. Im Zentrum meiner Studie stehen die performativen Qualitäten des Erzählens, die in den hier behandelten künstlerischen Arbeiten auf besondere Weise exponiert werden. Das Erzählen lässt sich dabei als performativ insofern beschreiben, als es eine kulturgenerierende (und damit auch restringierende), stets verkörperte, das heißt Subjekte involvierende Praktik darstellt, in deren Vollzug die für eine Kultur relevanten Handlungen, Diskurse und Symbole iteriert und damit re-etabliert und potentiell verschoben werden.78 Erzählen ist immer zugleich ein ‚making‘ und ein ‚doing‘:

 78 Ich beziehe mich damit auf einen kulturwissenschaftlichen Performativitätsbegriff wie er v.a. von Judith Butler beschrieben wurde sowie auf dessen theatertheoretische Weiterentwicklung v.a. durch Erika Fischer-Lichte. Vgl. BUTLER: „Performative Acts and Gender Constitution“; FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 31-57. Anders als in der Sprachphilosophie wird der Begriff des Performativen bei Butler nicht nur auf Sprechakte, sondern auch und vor allem auf körperliche Handlungen bezogen. Damit wird eine Dimension von Verkörperung und Inszeniertheit hervorgehoben, die seitens der Theaterwissenschaft vor allem in Hinblick auf einen Aufführungsbegriff weiter entwickelt wurde. Ein grundlegendes Charakteristikum performativer Handlungen in Bezug auf ihre wirklichkeitskonstituierende Kraft besteht in einer ‚kreativen Wiederholung‘: Performative Handlungen sind schöpferisch nicht im Sinne einer creatio ex nihilo, sondern allein durch einen wiederholenden Vollzug, welcher sich nie gänzlich mit dem Wiederholten deckt. Das Moment einer kreativen Wiederholung in performativen Handlungen betont auch Sybille Krämer: KRÄMER: Medium, Bote, Übertragung, S. 11. Performativen Handlungen eignet daher ein unplanbarer ‚performativer Überschuss‘, der besonders von Erika Fischer-Lichte hervorgehoben wurde. Fischer-Lichte hat mit ihren aufführungstheoretischen Überlegungen wesentlich dazu beigetragen, performative Prozesse weniger unter dem Aspekt der Wiederholung als unter dem der Differenz zu betrachten. In ihren Untersuchungen von „autopoietische[n] Feedback-Schleife[n]“ zwischen Zuschauern und Darstellern betont Fischer-

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In der konfigurierenden Operation des Erzählens (making) werden nicht nur Erzählungen zuallererst hervorgebracht oder Geschichten aktualisiert und modifiziert, sondern es werden zugleich ein kulturelles Wissen, eine Ordnung der Dinge sowie intersubjektive Beziehungen hervorgebracht (doing).79 Wie ich in dieser Studie zeigen möchte, thematisieren die hier untersuchten narrativen Aufführungsformen ein solches ‚How to do things with stories‘, um mit John L. Austins berühmter Formel zu sprechen.80 Die narrativen Theaterformen der Jahrtausendwende machen Geschichten und dies heißt zugleich: Sie machen etwas mit und durch die Tätigkeit des Erzählens von Geschichten. Sie präsentieren und vergegenwärtigen, wie Subjekte, Handlungen, Ereignisse, Orte und Dinge im Erzählen auf spezifische Weise wahrnehmbar und sozial wirksam werden. Dabei werden geläufige narrative Ordnungs- und Sinngebungsprinzipien nicht nur sichtbar gemacht, sondern bewusst verschoben und subvertiert. Realisiert wird ein Performing Stories – wie der Titel dieser Studie zu beschreiben versucht. Dass performativitätstheoretische Ansätze bislang in den vorherrschenden erzähltheoretischen Diskursen kaum Berücksichtigung fanden, verwundert insofern, als bereits in den späten 1980er Jahren Versuche unternommen wurden, eine performativitäts- und damit immer auch rezeptionstheoretische Perspektive in enger und kritischer Auseinandersetzung mit klassischen Erzähltheorien zu

 Lichte die spezifisch situativen, sozialen und emergenten Dimensionen performativer Prozesse (Zitat: FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 59.). Damit rücken Momente der Abweichung, des Neuen sowie der Verschiebung von Bedeutung in den Vordergrund. Ebenso werden die Beteiligten weniger als passive Reproduzenten von Konventionen, sondern als situativ mitgestaltende (und mitgestaltete) Agenten verstanden. Vgl. dazu auch CARLSON: „Dynamiken und Herausforderungen von Aufführungen“, S. 337-341. Einen Überblick über performativitätstheoretische Ansätze aus verschiedenen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen bietet der Sammelband: WIRTH: Performanz. 79 Vgl. dazu Kristin M. Langellier und Eric E. Peterson: „The understanding of narrative as making is evident in investigations into the elements, aspects, and structures that make up narrative. [...] [U]nderstanding narrative as a doing [...] is evident in explorations of the behaviors, habits, practices, and institutions which enact, execute, or do narrative.“ LANGELLIER und PETERSON: „The Performance Turn in Narrative Studies“, S. 174. 80 Vgl. AUSTIN: How to Do Things with Words.

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etablieren – allen voran von der Literaturwissenschaftlerin Marie Maclean.81 Nur wenige Erzähltheoretikerinnen haben jene Perspektive bislang weiterverfolgt.82 Mein Anliegen ist es daher, die Fährten auf diesem recht spärlich besäten theoretischen Feld aufzunehmen und in Bezug auf meinen Gegenstand zu vertiefen und zu spezifizieren. Das bedeutet zugleich, von einer formalistisch angelegten Pers-

 81 In ihrem Buch Narrative as Performance von 1988 spricht sich Maclean für eine performativitätstheoretische Perspektive aus, die sie sowohl der strukturalistischen wie auch einer dekonstruktivistischen Interpretation von Erzählungen bzw. Erzählprozessen entgegenstellt. Sie stellt ein kontextgebundenes Verhältnis zwischen Erzähler und Publikum in den Vordergrund: „I realized that narrative could not be satisfactorily explored except as the site of an interaction […]. For this reason, telling in relation to the audience will be privileged rather than telling in relation to the tale.“ MACLEAN: Narrative as Performance, S. xi und 1. Ebenso zielte schon Peter Brooks’ Untersuchung aus den 1980er Jahren auf eine rezeptionsorientierte Dynamik des Erzählens: BROOKS: Reading for the Plot. Zeitgleich entstand die Untersuchung oraler Erzählperformanzen von Richard Bauman: BAUMAN: Story, Performance, and Event. Auch Paul Ricœurs Untersuchungen zum Erzählen lassen sich als eine implizite performativitätstheoretische Erzähltheorie interpretieren: RICŒUR: Temps et récit. Mehr dazu vgl. Kapitel II/3.1. 82 Aktuelle Bemühungen eine performativitätstheoretische Perspektive im Kontext der Erzähltheorie zu etablieren finden sich v.a. in den Arbeiten von Eric E. Peterson und Kristin M. Langellier zu oralen Erzählpraktiken: LANGELLIER und PETERSON: „The Performance Turn in Narrative Studies“; Dies.: Storytelling in Daily Life. Auf der Studie von Mclean baut auf: NELSON, FREADMAN und ANDERSON (Hrsg.): Telling Performances. Claudia Breger hat Erzähltheorie und Performativitätstheorie in einen fruchtbaren Dialog gebracht: BREGER: An Aesthetics of Narrative Performance. Alexandra Strohmaier hat eine performativitätstheoretisch fundierte Lektüremethode für erzähltheoretische Fragestellungen in Hinblick auf literarische Erzähltexte herausgearbeitet: STROHMAIER: „Entwurf zu einer performativitätstheoretischen Narratologie am Beispiel der Rahmenzyklen Goethes“. Weniger explizit performativitätstheoretisch, aber in diesem Zusammenhang erwähnenswert ist Pablo Valdivia Orozcos aufschlussreiche Resituierung des Narrativen als Prozess. Ich möchte Pablo Valdivia Orozco an dieser Stelle für die Bereitstellung seines unveröffentlichten Manuskripts danken: VALDIVIA OROZCO: „Narration and Knowledge or Narrative Knowledge?“. Ansätze einer postmodernen Erzähltheorie aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, in der performativitätstheoretische Ansätze angelegt sind, liefern GIBSON: Towards a Postmodern Theory of Narrative; O’NEILL: Fictions of Discourse und CURRIE: Postmodern Narrative Theory.

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pektive auf das Erzählen Abstand zu nehmen. Entsprechend wird es mir nicht um quantitative Fragen etwa danach gehen, ob es sich bei dem ‚Medium Aufführung‘ allgemein eher um ein „geschichtendarstellend[es]“ oder um ein „narrationsindizierend[es]“83 Erzählmedium handelt. Die hier untersuchten narrativen Praktiken versperren sich einem solchen, von der transmedialen Erzähltheorie favorisierten Erkenntnisinteresse. Erstens handelt es sich bei einer Aufführung nicht um ein singuläres Medium in einem in jenen Ansätzen veranschlagten technisch-physikalischen Sinne.84 Vor allem aber lassen sich, zweitens, die narrativen Qualitäten der hier betrachteten Aufführungen nicht auf eine bestimmbare Anzahl von qualifizierbaren Faktoren von Narrativität beschränken. Sie lassen sich nicht an einem Katalog zu erfüllender Kriterien von „Kohärenz, Kausalität und Teleologie“85 bestimmen, sondern sie sind nur unter Berücksichtigung der je spezifischen Erzählsituation adäquat beschreibbar. Anstelle der Frage, wie Aufführungen ‚generell‘ erzählen, geht es mir um die situativen Qualitäten narrativer Prozesse und damit immer auch um die Untersuchungen unplanbarer, inkohärenter und a-kausaler Wirkungen und Wirkungsmächte, die sich entfalten, wenn narrative Prozesse zur Aufführung gebracht werden. Dabei wird von Fall zu Fall zu klären sein, auf welche Weise die jeweilige Aufführung narrative Prozesse zu aktivieren vermag. Ich untersuche keine Narrativitätskriterien und keine bloßen Erzählstrukturen, sondern narrative Praktiken, in denen Erzählstrukturen in actu realisiert werden und dabei Wirkung zeigen. Was die Erzähl- und Kulturtheoretikerin Mieke Bal einmal in einem anderen Zusammenhang in Bezug auf die Frage nach einer visuellen Dimension in literarischen Texten formuliert hat, lässt sich hier anschaulich auf meine Herangehensweise anwenden: „Die Frage lautet nicht“, schreibt Bal, „ob literarische Texte eine visuelle Dimension haben

 83 WOLF: „Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik“, S. 96. 84 Vgl. RYAN, zitiert nach: RAJEWSKY: „Von Erzählern, die (nichts) vermitteln“, S. 37. Dennoch unterliegen Aufführungen freilich einer Medialität im Sinne spezifischer Wahrnehmungsbedingungen: Ein „zugleich leibliches und technisches Geschehen“ (VON HERRMANN: Das Archiv der Bühne, S.199), das den theatralen narrativen Praktiken, die in dieser Studie untersucht werden, eine spezifische Qualität verleiht, die es jeweils zu berücksichtigen gilt. 85 Für Werner Wolf ist Narrativität an folgende Merkmale gebunden: „Situierung der Geschichte in einer abgeschlossenen und daher in ihrer Kohärenz, Kausalität und Teleologie überschaubaren Vergangenheit“ sowie an „Klarheit und Eindeutigkeit der Sinn- und Kohärenzbezüge“. WOLF: „Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik“, S. 52.

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können, sondern wie sich das Visuelle selbst schreibt“.86 Übertragen auf mein Anliegen: Es geht mir nicht um die Frage, ob Aufführungen generell narrativ sind, sondern wie sich das Narrative jeweils ‚aufführt‘, wie es in Aufführungen lebendig ist und wirksam wird. Das Erzählen wird dabei als ein Ereignis selbst in Szene gesetzt, das immer auch eine nicht-erzählbare Dimension beinhaltet, die sich einer narrativen Sinngebung entzieht, diese jedoch aktuell mitprägt und damit fundamental Anteil hat am Erzählen.

3.2 AUFFÜHRUNG

UND N ARRATION : D IESSEITS UND JENSEITS VON K O -P RÄSENZ UND S TOFFLICHKEIT

Die Aufführung. Begriffliche Voraussetzungen Eine performativitätstheoretische Perspektive auf das Narrative hat transmediale Gültigkeit. Denn unabhängig davon, in welchem Medium oder Genre erzählt wird: Zielt man auf die kommunikative Ebene des Erzählprozesses, auf der Rezeption und Produktion zusammenfallen, sowie auf dessen Wirkungen und Funktionen, tritt das Erzählen als kulturelle Praktik und Performanz zu Tage.87 Die hier behandelten theatralen Erzählformen vermögen gerade aufgrund ihres selbstreferenziellen Charakters – das heißt als ‚Erzählperformanzen par excellence‘ – auf eine genuine Performativität eines jeden Erzählaktes zu verweisen – egal ob es sich dabei um die Lektüre eines Romans, um das Ansehen eines Films oder um die Selbsterzählung beim Psychotherapeuten handelt. Mein Interesse gilt jedoch künstlerischen Aufführungen, das heißt einer ganz eigenen Form von kultureller und künstlerischer Performanz, die kulturhistorisch geprägten Konstitutions- und Wahrnehmungsbedingungen unterliegt. Diese Bedingungen gilt es in meiner Untersuchung zu beachten, da sie den zu analysierenden narrativen Prozessen eine ganz eigene Qualität verleihen. Was das Wahr-

 86 BAL: Kulturanalyse, S. 24. 87 Denkt man die zu Beginn des vorherigen Abschnitts zitierte Frage aus der Routledge Encyclopedia of Narrative Theory performativitätstheoretisch weiter, dann trifft deren Witz nicht nur auf Erzählvorgänge in Theaterimprovisationen und Rollenspielen zu, sondern streng genommen auf jeden Erzählakt: Obgleich eine strukturelle Einbettung von Erzählprozessen in Erzählformen, -medien, -konventionen je verschieden ausfällt, bringen Erzählprozesse immer ihren Diskurs, eine Geschichte und deren identitätsstiftende Wirkungen und Effekte hervor „as they go along“ (ABBOTT: „Narration“, S. 343). Trotz einer strukturellen Eingebundenheit erschafft jeder Erzählakt im Moment seines Vollzugs seinen Gegenstand neu.

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nehmungsdispositiv einer Aufführung gemeinhin von dem eines Films, eines Gemäldes oder eines Textes unterscheidet, ist eine gleichzeitige Anwesenheit von Menschen in einem Raum, „in dem das Theaterspielen und das Zuschauen vor sich gehen“.88 Hierzu seien einige relativierende Bemerkungen gemacht, die es vor dem Hintergrund einer Untersuchung narrativer Praktiken in Aufführungen zu beachten gilt. Wie André Eiermann gezeigt hat, sind an die Bestimmung einer Aufführung als ko-präsentischer Situation bestimmte institutionell und historisch verbürgte Annahmen geknüpft. So zum Beispiel der Topos einer unmittelbaren Begegnung, der vor allem im Zuge der Entwicklung neoavantgardistischer und postdramatischer Theaterformen theaterpraktisch wie -theoretisch proklamiert wurde.89 Die Aufführung gilt hiernach als ein sozialer Raum, in dem eine unmittelbare, das heißt ‚unmediatisierte‘ face-to-face-Begegnung ermöglicht werde, ebenso wie ein ‚unmediatisierter‘ Kontakt mit Dingen, Orten, Körpern oder Klängen. Viele zeitgenössische experimentelle Aufführungspraktiken, so Eiermanns These, dekonstruieren diesen Topos und damit auch die scheinbar ontologisch verbürgten ‚unmittelbaren‘ Wahrnehmungsbedingungen von Aufführungen.90 Die von ihm untersuchten Theaterformen decken jene symbolische Ordnung auf, die als dritter Akteur das dualistische Verhältnis zwischen Zuschauern und Akteuren zuallererst ermöglicht.91 Jene Performances bezeichnet Eiermann

 88 LEHMANN: Postdramatisches Theater, S. 12. 89 Vgl. u.a. SCHECHNER: Environmental Theatre, S. 45. Richard Schechner grenzt die ästhetische Erfahrung im Theater von „[c]losed, one-way systems“ ab, die er als „inherently oppressive“ beschreibt, da sie kein „feedback“ zwischen den Anwesenden ermöglichten. Von einer „autopoietischen feedback-Schleife“ zwischen Darstellern und Zuschauern als grundlegender Bedingung ästhetischer Wahrnehmung in einer Aufführung spricht auch Erika Fischer-Lichte: FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 58-126, v.a. S. 63. 90 Vgl. EIERMANN: Postspektakuläres Theater, S. 32ff. Eiermann bezieht sich dabei auf Untersuchungen von Gerald Siegmund sowie auf Helga Finters Unterscheidung zwischen analytischer und konventionell-spektakulärer Theatralität. Vgl. SIEGMUND: Abwesenheit; FINTER: Der subjektive Raum, Band 1, S. 14. 91 Eiermann bezieht sich hier auf die Lacansche Begrifflichkeit, vor allem in der Verwendung von Slavoj Žižek. In Hinblick auf die Möglichkeit interpersonaler Begegnung, so Eiermann, stellt die symbolische Ordnung jene anonyme, unsichtbare Vermittlungs- und Ordnungsinstanz dar, die eine Begegnung überhaupt nur möglich macht – eine Begegnung, die immer eine nicht-identische Begegnung darstellt und

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als „postspektakulär“, da sie sich von einem postdramatischen Theater als einem ‚Theater der Unmittelbarkeit‘ abgrenzen. 92 Den kritischen Bezugspunkt eines postspektakulären Theaters bildet also nicht – wie noch im postdramatischen Theater – die dramatische, sondern die postdramatische Theaterpraxis, verstanden als eine ‚spektakuläre‘, auf Unmittelbarkeit angelegte Praxis. Viele der von mir im Folgenden behandelten Aufführungen lassen sich einer von Eiermann beschriebenen Tendenz im zeitgenössischen Theater zuordnen. Sie lassen sich zu einem Anteil als postspektakulär beschreiben, sofern hier in das Zweiergespann der Ko-Präsenz eine dritte, symbolische – hier narrative – Ebene bewusst mit eingezogen wird. Das Narrative tritt hier als eine sinngebende, strukturierende Ordnung auf die Bühne, durch die das Verhältnis zwischen Darstellern und Zuschauern, ebenso wie zwischen Zuschauern und Dingen oder Umgebungen gestaltet wird. Vor dem Hintergrund dieser narrativen Aufführungspraktiken ist es demnach notwendig, die Bestimmung einer Aufführung um jene narrativ-symbolische Dimension zu erweitern.93 Eiermann macht in seiner Untersuchung auf überzeugende Weise deutlich, dass eine Aufführung ihrer Wirkung nach nicht zwangsläufig einer physisch ekstatischen Präsenz von Körpern oder Objekten auf einer Bühne bedarf. Eine solche ‚stoffliche Anwesenheit‘ jedoch ist für die narrativen Prozesse in den von mir untersuchten Aufführungen von entscheidender Bedeutung, bilden sie doch häufig den Schauplatz narrativer Prozesse. Auch wenn nicht bestritten werden kann, dass besonders in zeitgenössischen Aufführungsformen technische (Speicher-)Medien zum Einsatz kommen, die nicht nur die materiellen Qualitäten von Aufführungen verändern und erweitern, sondern zugleich die Bestimmung der Ko-Präsenz als Definitionskriterium einer Aufführung auf die Waagschale legen, finden die von mir untersuchten Aufführungen inklusive ihrer Multimedialität bis auf wenige Ausnahmen unter den kommunikativen Bedingungen raum-zeitlicher Ko-Präsenz statt, ebenso wie unter den Bedingungen einer ‚realen‘ Anwe-

 damit einer genuinen Alterität unterliegt. Vgl. EIERMANN: Postspektakuläres Theater, S. 20f. 92 Der Begriff „postspektakulär“ nimmt auf Guy Debord Bezug: „Postspektakuläre“ Theaterformen grenzen sich laut Eiermann von der Guy Debordschen Forderung nach Unmittelbarkeit ab. Eiermann zufolge ist jene Forderung selbst zum Merkmal einer einst von Debord kritisierten Spektakelhaftigkeit geworden und stellt das grundlegende Merkmal des postdramatischen Theaters dar. Vgl. EIERMANN: Postspektakuläres Theater, S. 15f. 93 Vgl. dazu v.a. Kapitel VI.

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senheit von Dingen und Körpern.94 Dies bringt eine spezifische materielle Disposition mit sich, die den hier realisierten narrativen Prozessen eine ebenso spezifische Qualität verleiht. Bezüglich der spätestens im digitalen Zeitalter prekär gewordenen Frage um die Wirkung einer physischen Präsenz von ‚realen‘ Orten, Menschen, Tieren oder Dingen gehe ich im Folgenden von zwei Prämissen aus. Erstens: Es gibt einen materiellen Unterschied zwischen einer face-to-face-Begegnung an einem aktuellen, ‚realen‘ Ort und einer solchen an einem zum Beispiel virtuell-digitalen Ort, auch wenn ausdrücklich betont werden muss, dass erstens die eine Begegnung die Effekte der anderen zu evozieren und zu authentifizieren im Stande ist (so mag eine virtuell-digitale Begegnung mitunter ‚echter‘ wirken als eine Begegnung an einem aktuellen Ort). Zweitens ist zu unterstreichen, dass eine ‚reale‘ face-to-face-Begegnung niemals als unvermittelt, ‚pur‘ oder authentischer als eine virtuell-digitale Begegnung zu denken ist, beruht doch jede Begegnung auf einer genuinen Asymmetrie und Differenz der Teilnehmer – eine Begegnung, deren Risse eine symbolische Ordnung allenfalls zu überdecken (und damit Begegnung zu ermöglichen), aber niemals zu kitten vermag. Dasselbe gilt für die Interaktion mit ‚realen‘ Umgebungen, Dingen und Tieren. In den narrativen Aufführungsformen der Nullerjahre wird die jeweilige materielle und medial-kommunikative Disposition zur Szene narrativer Prozesse, die es folglich genau zu beachten gilt. In den narrativen Prozessen, die hier zur Aufführung gebracht werden, gehen narrative Sinngebung und Dinge, Körper oder Orte95 eine konstitutive Verschmelzung ein. Dabei entfaltet sich eine situative Wirkung, die nicht nur für die Qualität des Narrativen in jenen Aufführungen prägend ist, sondern mit der hier dezidiert experimentiert wird – auch wenn eine narrative Sinngebung freilich niemals vollends in dieser Materialität aufzugehen vermag und auch wenn sich die Wirkungen jener Erzählaufführungen

 94 Ausnahmen sind die in Kapitel V untersuchten Audio-walks und kartografischen Arbeiten. 95 Ich beziehe mich hier auf den Materialitätsbegriff von Erika Fischer-Lichte, der auf eine transitorische Qualität von Körperlichkeit, Lautlichkeit und Räumlichkeit abhebt. Die Materialität der Aufführung ist damit nicht einfach gegeben, sondern entfaltet sich zuallererst im Verlauf der Aufführung. Wesentlich ist dabei eine spezifische Erfahrungsqualität, die zum Beispiel als Atmosphäre, als Rhythmus, als Körnung der Stimme oder als Färbung eines Lautes wahrgenommen wird. In den von mir untersuchten narrativen Prozessen ist eine solche Erfahrungsqualität von einer ‚narrativen Erfahrung‘ nicht gänzlich zu trennen. Zum Materialitätsbegriff vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 127ff.

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(und Aufführungen generell) niemals allein im Ko-Präsentischen oder im ‚rein Stofflichen‘ erschöpfen. Narrativität der Aufführung und die Materialität des Narrativen Vor dem Hintergrund der Untersuchung narrativer Aufführungspraktiken wird es daher möglich, zwei theaterwissenschaftliche Tendenzen, die sich durch differente analytische Herangehensweisen an zeitgenössische Aufführungspraktiken auszeichnen, miteinander produktiv in Beziehung zu setzen. So läuft eine vornehmlich phänomenologisch inspirierte Position Gefahr, in ihrer emphatischen Betonung einer phänomenalen Präsenz des flüchtigen und autopoietischen Aufführungsereignisses, einem paradoxen Materialitäts- und Ereignis-Essentialismus zu erliegen, bei dem Momente der Wiederholung und der Symbolisierung der Tendenz nach in den Hintergrund rücken. In einer poststrukturalistisch-kulturkonstruktivistisch motivierten Perspektive hingegen drohen die Materialität sowie ein emergent-poietisches Potential von Aufführungen aus dem Blick zu geraten. 96 Die Untersuchung narrativer Aufführungspraktiken lässt beide Positionen in einen fruchtbaren Dialog treten. Hierzu möchte ich zwei Thesen formulieren, die ich den Untersuchungen als Leseperspektive bewusst voranstelle. Die erste These bezieht sich auf eine Narrativität von Aufführungen, die zweite auf eine Materialität des Narrativen. In Aufführungen, in denen das Narrative als involvierender und affizierender ‚Ko-Akteur‘ ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, wird deutlich – so die erste These –, dass sich die Wirkungen von Aufführungen niemals in einer flüchtigen Gegenwärtigkeit erschöpfen. Wie ich zeigen werde, ist in den zu untersuchenden narrativen Aufführungen eine andere Zeitlichkeit am Werk, die über eine flüchtige Präsenz hinausgeht und die sich vielleicht am trefflichsten mit dem Begriff der Spur beschreiben lässt. In den Aufführungen werden Abdrücke oder Rückstände vergangener oder potentieller Erfahrungen und Handlungen erkennbar, die zum Erzählen auffordern.97 Körper, Dinge oder Orte offenbaren sich als Spu-

 96 Ein entgegengesetztes Verhältnis zwischen den beiden Positionen ist hier bewusst zugespitzt. Es handelt sich eher um aufführungsanalytische Tendenzen. Zur ersten Tendenz vgl. u.a. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, ROSELT: Phänomenologie des Theaters; RISI: „Rhythmen der Aufführung“; PHELAN: Unmarked. Zur zweiten Tendenz vgl. u.a. EIERMANN: Postspektakuläres Theater; AUSLANDER: „On the Performativity of Performance Documentation“. 97 Wie Sybille Krämer betont hat, überkreuzen sich in der Spur mehrere „Zeitregime“. Auch Zukünftiges, Potentielles mag eines davon sein: „Diese Kreuzung [von Zeitregimen in der Spur] gilt nicht nur für das Verhältnis von Vergangenheit und Gegen-

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ren vergangener oder zukünftiger Handlungen, Ereignisse und Erfahrungen und damit als Speicher latenter Geschichten, die man als Zuschauer veranlasst wird zu erzählen. Damit laden die hier diskutierten Aufführungen dazu ein, eine aufführungsanalytisch vernachlässigte narrative Dimension stark zu machen, die sich jenseits einer ‚Logik des Archivs‘ verorten lässt. Wie Rebecca Schneider gezeigt hat, zeichnet sich eine solche Logik durch den Gegensatz zwischen Vergehen und Aufbewahren aus, oder genauer, zwischen flüchtiger Gegenwärtigkeit von Aufführungen einerseits und Wiederholung, Archivierung und Historiografie andererseits. 98 Die narrativen Aufführungspraktiken der Jahrtausendwende lösen jene Dichotomie auf. Narrative Signifikationsprozesse, so wird hier deutlich, bedürfen eines Spannungsverhältnisses verschiedener Zeitebenen. Damit gehen die hier aktivierten narrativen Prozesse über eine flüchtige Gegenwärtigkeit hinaus, obgleich sie sich hierin in actu entfalten. Aufführungstheoretisch gewendet: Die theatralen Erzählformen, von denen hier die Rede ist, fordern dazu auf, denjenigen Anteil einer Aufführung, der sich durch signifizierende Wiederholung, durch Repräsentation und Speicherung, aber auch durch Vorwegnahme und Projektion auszeichnet, produktiv mit einer im Zuge des performative turn 99 entstandenen aufführungsanalytischen, sehr stark phänomenolo-

 wart, sondern auch für das zwischen Gegenwart und Zukunft. Die Wahrsagekunst, die Mantik, kann als Inversion des Spurenlesens gedeutet werden.“ KRÄMER: „Was also ist eine Spur?“, S. 17. 98 Vgl. SCHNEIDER: „Archives“, S. 100. Jenseits einer ‚Logik des Archivs‘ argumentieren auch: TKACZYK: „Theater und Wortgedächtnis“; Dies.: Himmels-Falten. In Rekurs auf Jaques Derrida und Steven Greenblatt macht Viktoria Tkaczyk hierin den Spurbegriff als theaterhistoriografisch-aufführungsanalytische Kategorie stark. Nach einer Historizität des Gegenwärtigen bzw. der Manifestierung einer historischen Dimension auf einer materiellen Ebene einer Aufführung fragen u.a.: CARLSON: The Haunted Stage; BRANDSTETTER: Tanz-Lektüren; DREYER: „Die Leere der Geschichte“. In vorliegender Studie geht es jedoch nicht nur um Fragen nach einer Materialität des Historischen (bzw. eines Fingierten), sondern dezidiert um die Qualitäten und Wirkungen narrativer Prozesse, die durch Zeitspannungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit bzw. Zukunft entfacht werden. 99 Vgl. dazu FISCHER-LICHTE: „Vom ‚Text‘ zur ‚Performance‘“. Fischer-Lichte betont hierin die Verschiebung der kulturwissenschaftlichen Metapher bzw. des Modells des „Textes“ (Kultur als Text) zum Modell der „Performance“ (Kultur als Performance).

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gisch geprägten Perspektive zu verschränken, in deren Zentrum bislang vor allem die Wirkungen flüchtiger Präsenzphänomene standen.100 Vor dem Hintergrund der hier untersuchten Erzählaufführungen, so meine zweite These, ist es nicht ausreichend, dass Narrative aus einer vornehmlich (post-)strukturalistischen oder semiologischen Perspektive zu beleuchten. Das Narrative, so wird an diesen Aufführungen deutlich, stellt kein autonomes, unsichtbares Netz im Sinne einer immateriellen Ordnung dar, die als Wahrnehmungsstruktur einem Gegenstand oder einer Situation ‚übergestülpt‘ wird. Ich möchte vielmehr zeigen, inwiefern das Narrative in diesen Aufführungen nicht nur gestaltet, sondern dabei selbst Gestalt annimmt. Die häufig metaphorisch anmutende Formel, nach der Orte, Dinge oder Körper ‚Geschichten erzählen‘, erfährt in jenen Aufführungen eine Konkretisierung. Gezeigt werden soll, dass narrative Prozesse eine materielle Qualität haben: dass sie zum Beispiel durch die Anwesenheit Anderer am Ort und von deren Erzähl-Reaktionen geprägt sind, dass sie an eine körperliche Bewegung durch die Umgebung geknüpft sind, an eine Bewegung, die als Kinesis des Erzählens nicht nur örtlichen, sondern auch sozialen Stimuli gehorcht, die hier als ko-präsentische und daher als wechselseitig kontingente Eigen- und Fremdimpulse zur Aufführung gebracht werden.101 Umgebung, Bewegung, Körper und Narration gehen hier eine interdependente Verschmelzung ein. Zu Tage tritt der Umstand, dass das Narrative, damit überhaupt narrativer Sinn entstehen kann, eine materielle Verstrickung eingehen muss.102 Als Szenen von Erzählprozessen, in denen eine materielle Dimension in

 100 Bei der Untersuchung von Präsenzphänomenen wurde dabei durchaus anderen zeitlichen Ebenen Beachtung geschenkt, wie z.B. den auf den Wahrnehmungsakt bezogenen Vergangenheit- und Zukunftsbezügen, die im Zuge einer phänomenologisch interessierten Aufführungsanalysemethodik zum Beispiel in Rekurs auf Edmund Husserls Konzeption von Protention und Retention beschrieben wurden (vgl. RISI: „Hören und Gehört werden als körperlicher Akt“, S. 106). Ausgeklammert dabei bleiben jedoch Dimensionen der Historisierung/Narrativierung und damit der Herstellung zeitlicher und telos-gerichteter Kausalbezüge zwischen den Zeitebenen, die für Erzählprozesse in ihrem gegenwärtigen Vollzug unerlässlich sind. 101 Zur wechselseitig kontingenten sozialen Beziehung in Aufführungen vgl. CZIRAK: Partizipation der Blicke, S. 35. Adam Czirak hat in seiner Studie die Konzeption der „doppelte[n] Kontingenz“ von Niklas Luhmann für die intersubjektive (Blick-)Situation der Aufführung fruchtbar gemacht. Zum Begriff der „doppelten Kontingenz“ in face-to-face-Situationen vgl. LUHMANN: Soziale Systeme, S. 148ff. 102 Meine Überlegungen nehmen hier Bezug auf Dieter Merschs Thesen zur Materialität von Signifikationsprozessen. Mersch hat darauf aufmerksam gemacht, „‚daß‘ die Zei-

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den Vordergrund rückt, lassen jene narrativen Aufführungspraktiken die reziproke Verschmelzung von narrativer Sinngebung und Materialität auffällig werden. Eine Verschmelzung, die konstitutiv, aber dennoch niemals total ist. Neben der dezidierten Untersuchung spezifischer theatral-künstlerischer Erzählpraktiken besteht das Hauptziel dieser Studie darin, die in der Theorie der Tendenz nach vorherrschende Opposition von Performance/Aufführung versus Narration aufzulösen. Dabei möchte ich erstens eine dynamische Konzeptualisierung des Narrativen etablieren, in deren Zentrum die Performativität narrativer Prozesse steht. Zweitens gilt es den Topos einer flüchtigen Gegenwärtigkeit, der gerade in der Theoretisierung von experimentellen Theaterpraktiken und von Performancekunst vorherrschend ist, vor dem Hintergrund narrativer Aufführungen der Nullerjahre zu relativieren und Aufführungen damit differenzierter beschreibbar zu machen.

4. P ROTAGONISTEN , P LOT , M ETHODISCHES Protagonisten Inspiriert durch eine Vielzahl von vor allem im britischen, belgisch-niederländischen, nordamerikanischen und deutschsprachigen Raum entstandenen, künstlerischen Arbeiten aus den Bereichen des experimentellen Theaters, der Live Art, der Performancekunst, dem zeitgenössischen Tanz sowie aus einer an den performativen Künsten 103 orientierten Installations-, Audio- und Videokunst

 chen sind oder ‚daß‘ die Strukturen sich abgezeichnet haben und manifest geworden sein müssen: Ereignis einer Präsenz, das wiederum an Vollzüge und an Performanzen, an die spezifische Note ihrer Materialitäten gebunden ist.“ MERSCH: Was sich zeigt, S. 16. 103 In den vergangenen Jahren hat sich vor allem in der Theaterpraxis die Gegenstandsbezeichnung ‚performative Künste‘ in Anlehnung an die englische Bezeichnung performing arts etabliert. Vor dem Hintergrund eines in dieser Studie veranschlagten Performativitätsbegriffs sei dabei auf die unterschiedliche Begriffsverwendung von ‚performativ‘ hingewiesen: Im Sinne eines kulturwissenschaftlich-theatertheoretischen Performativitätsbegriffs ist jede Kunst performativ, sofern sie eine kulturelle und soziale Praxis darstellt, das heißt einen wirklichkeitskonstitutiven Handlungsvollzug, durch den die für eine Kultur (oder für das eigenen künstlerische Genre oder die Kunstform) relevanten symbolischen Ordnungen und Regeln wiederholt und dabei in actu re-etabliert, modifiziert, ggf. durchbrochen und kulturell wirksam werden. Mit der Bezeichnung ‚performative Künste‘ hingegen ist zunächst diejenige Kunstform

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möchte ich in dieser Studie einen typologischen Fächer ausbreiten, der verschiedene narrative Praktiken präsentiert, die sich zu Beginn des neuen Milleniums besonders häufig beobachten lassen. Dieser Überblick zielt nicht auf Vollständigkeit, sondern zeigt Tendenzen auf, die ich an Einzelanalysen spezifizieren möchte. Die ausgewählten Aufführungen stehen dabei exemplarisch für jeweils eine Tendenz, das Narrative zur Aufführung zu bringen. Zugleich werden die Aufführungen in ihrer narrativ-performativen Spezifik untersucht, weshalb ich für jedes Kapitel nur einige wenige, markante Aufführungen ausgewählt habe. Teilweise werden in den Aufführungen gleich mehrere in dieser Studie untersuchte narrative Praktiken realisiert, wie zum Beispiel in dem Erzählspiel Für alle von She She Pop, das ich jedoch nicht im Kapitel Narrative Spiele, sondern im Kapitel Dinggeschichten behandle. Hier wurden bewusst Schwerpunkte gesetzt, wodurch andere Aspekte der jeweiligen Aufführungen notwendigerweise nur am Rande Erwähnung finden können. Ausführlicher behandelt werden Arbeiten von Uwe Mengel, Forced Entertainment, SIGNA, Bobby Baker, She She Pop, plan b, LIGNA, Lone Twin und Boryana Rossa. Weniger ausführlich diskutiert werden Janet Cardiff, Daniel Belasco Rogers, Sophie Calle, Goat Island und Marina Abramoviü. Neben den erwähnten Gruppen und Künstlerinnen sind in die Überlegungen dieser Studie eine Vielzahl weiterer Arbeiten mit eingeflossen. Neben den bereits erwähnten Arbeiten von Lone Twin Theatre, Gob Squad, Rimini Protokoll, Ivana Müller und Dries Verhoeven waren dies vor allem Arbeiten von Reckless Sleepers (Terminal, 2001), Big Art Group (Flicker, 2002), Eva Meyer-Keller (Death is Certain, 2002), Gary Stevens (Not Tony, 2004), The Needcompany (Isabella’s Room, 2005), andcompany&Co (Little Red (Play): ‚Herstory‘, 2006), Blast Theory (Day of the Figurines, 2006), Quarantine & Company Fierce (Susan & Darren, 2006), Gob Squad (King Kong Club, 2006), Mikeska:Plus:Blendwerk (Rashomon :: Truth Lies Next Door, 2007), Rotozaza (Etiquette, 2007), Kate McIntosh (Loose Promise, 2007), Alice Chauchat und Mette Ingvartsen (The Impersonation Game, 2008), Hofmann&Lindholm (Faites vos jeux, 2008), Miles

 gemeint, die eine Aufführungssituation ins Zentrum stellt. Neuerdings wird jene Bezeichnung auch häufig verwendet, um einen formalen und ästhetischen Abstand zum traditionellen dramatischen Theater zu markieren und damit ein eigenes Theatergenre zu etablieren – etwa in dem Ausdruck ‚performatives Theater‘. Wenn ich im Folgenden von den ‚performativen Künsten‘ spreche, sei hiermit eine spezifische Kunstform gemeint, nicht jedoch die philosophisch-kulturwissenschaftliche Bedeutung des Adjektivs ‚performativ‘, die ich jenseits dieser Kunstformbezeichnung für meine Untersuchungen geltend mache.

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Chalcraft (At End of Road, 2008), Simone Aughterlony (Projekt für X-Wohnungen, 2008), Doris Uhlich (Spitze, 2008), The Nature Theatre of Oklahoma (Romeo and Juliet, 2008; Life and Times, Episode 1-5, 2009-2013), Chris Kondek und Christiane Kühl (Money – It came from outer space, 2010), machina eX (15'000 Gray, 2011), Deter & Müller (Interpassive Paradise, 2011), Chris Kondek (Please Kill 2011, 2012), Dominic Huber/Blendwerk (Warten auf die Barbaren, 2013), bigNOTWENDIGKEIT (it ain’t over till its over, 2013), die autobiografischen Arbeiten von Robin Deacon, Mem Morrison, Kazuko Hohki, Joshua Sofaer, Donna Rutherford und von dem Duo curious sowie meine eigenen Arbeiten mit der Gruppe Interrobang (Sprachlabor Babylon. Ein Preenactment, 2012; Callcenter Übermorgen. Eine Reise in Dein ungelebtes Leben, 2013) und die Arbeit Raumteiler, die ich 2004 gemeinsam mit Ulrike Schaper realisiert habe und die im Nachhinein eine praktische Recherche zu dieser Studie darstellt. Plot In Kapitel II entwerfe ich das theoretische Basisprogramm dieser Studie. Durch das Kapitel zieht sich die Analyse der Performance 2 ½ Millionen von Uwe Mengel, deren narrative Qualitäten in Relation zu vorherrschenden erzähl-, dramen- sowie theater- und performancetheoretischen Positionen gesetzt werden. Im Anschluss daran wird eine Neuperspektivierung des Erzählbegriffs vorgenommen: Inspiriert durch performativitätstheoretische, kulturanthropologischerzähltheoretische, geschichtsphilosophische sowie phänomenologische Ansätze werde ich Aspekte einer Konzeptualisierung des Narrativen als Prozess und Performanz herausarbeiten. Dieses erste Zwischenergebnis liefert zugleich eine theoretische sowie terminologische Grundlage für die folgenden Kapitel, was jedoch die Leserin nicht davon abhalten sollte, ihre Lektüre an anderer Stelle fortzusetzen. In Kapitel III untersuche ich narrative Spiele, das heißt solche Erzählaufführungen, in denen Erzählprozesse mit konkreten Spielformen (Wettkampfspiel, Rollenspiel, Glücksspiel, etc.) verwoben werden. Narrative Spiele zeichnen sich durch eine besondere Form der Teilhabe aus. Das Publikum wird dazu veranlasst, die eigens für das jeweilige narrative Spiel aufgestellten Regeln aktiv mit zu vollziehen und teilweise selbst spielend zu modifizieren. Zu Tage treten dabei, so die These, die affektiv involvierenden sowie die gemeinschaftsstiftenden und -legitimierenden Dimensionen des Erzählens. In der Verquickung von Erzählprozess und Spielform wird damit das Erzählen als soziale Performanz zum Thema. Um die ephemer-involvierenden Qualitäten narrativer Spiele besser beschrieben zu können, wird der Spielbegriff selbst fruchtbar gemacht. Dieser wird also nicht nur auf konkrete Spielformen angewendet (wie etwa Wettkampf-

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spiele oder Rollenspiele), sondern ich möchte den Spielbegriff, in Rekurs auf Ludwig Wittgenstein und François Lyotard, bewusst als analytische Beschreibungsmetapher einsetzen. Damit wird es möglich, dass Erzählen konsequent vom involvierenden Erzählprozess aus zu denken, anstatt es von einem strukturell abgeschlossenen narrativen Diskurs aus zu fassen. Das Kapitel IV handelt von autobiografischen Performances, in denen Dinge zu Mit-Akteuren im autobiografisch-narrativen Prozess werden und damit einen Einfluss auf die Konstitution narrativer Identität haben. Die in dieser Studie veranschlagte Auffassung, dass das Erzählen eine besondere Weise des Handelns darstellt, wird in diesem Kapitel mit Bruno Latour um eine Dimension des Dinglichen erweitert. Die hier untersuchten Aufführungen verhandeln die Frage, wie wir Dinge narrativ verwenden – wie zum Beispiel durch das Sammeln von Dingen –, um unser Leben nachträglich als eine Abfolge von Geschehnissen zu begreifen. Sie fragen danach, inwiefern in persönlichen Dingen immer schon andere zeitliche Ebenen eingelagert sind, die zu einem Selbsterzählen auffordern. Im Fokus des Kapitels steht die Frage nach einer Materialität autobiografischer Selbstkonstitution. In den behandelten Aufführungen finden konstitutive Vermischungsprozesse von Dingen, autobiografischer Narration und Selbst statt. Der Prozess narrativer Selbstformung geht dabei mit einer stofflichen Umformung einher: Identitäten werden hier buchstäblich gebastelt und geschneidert. Im Kapitel V thematisiere ich das Verhältnis zwischen Bewegung, Raum und Narration, das in den performativen Künsten der vergangenen Jahre vor allem in einer Reihe ortsspezifischer künstlerischer walks virulent geworden ist (Audio-walk, Video-walk, GPS-walk). In den untersuchten walks werden Erzählprozesse mit einer Bewegung der Rezipienten/Teilnehmer durch eine reale Umgebung verschränkt. Im Mittelpunkt meiner Untersuchung stehen dabei eine Kinesis und Somatik des Erzählens. Viele künstlerische walks sind narrativ, nicht nur weil die Rezipientinnen hier mit mündlichen Erzählungen konfrontiert werden, sondern vor allem weil sie während des Gehens auf visuelle oder akustische, auf schriftsprachlich, bildlich oder mündlich verfasste Überlappungen unterschiedlicher Zeitschichten (Spuren) gestoßen werden. Mein Augenmerk richtet sich dabei auf drei, durch diese ‚Überlappungsästhetik‘ forcierte narrative Praktiken: erstens auf das Spurensuchen, -lesen und -legen, zweitens auf das Flanieren und drittens auf das Kartografieren. Im Kapitel VI beschäftige ich mich mit dem Verhältnis von (Aufführungs-)Ereignis und Erzählen, das in einer Vielzahl von Performances der Nullerjahre zum Thema wird. Ausgangspunkt bilden zunächst Performances der frühen Body Art aus den 1970er Jahren, die in der Performancetheorie häufig als exemplarische Kunstereignisse behandelt wurden und denen – aufgrund ihrer

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unwiederbringlichen Flüchtigkeit – wiederholt eine Anti-Narrativität attestiert wurde. Diese Dichotomie zwischen Ereignis und Erzählen soll in Hinblick auf eine Reihe zeitgenössischer narrativer Aufführungspraktiken relativiert werden. Im Zentrum des Kapitels steht, erstens, die nachträglich konstitutive Wirkungsmacht mündlicher und schriftlicher (Nach-)Erzählungen von Aufführungen. Zweitens frage ich nach einem narrativ-mythischen Verhältnis zwischen Aufführungsereignissen und ihren Dokumentationen/Wiederholungen, durch welches das Aufführungsereignis nachträglich zum unwiederbringlichen Ursprung stilisiert wird. Mit Blick auf selbstreflexive Erzählaufführungen möchte ich untersuchen, inwiefern die Wahrnehmung von Aufführungsereignissen immer schon latent von einer mythisch-narrativen Qualität und/oder von spezifischen Narrativen geprägt ist. Die Studie schließt ab mit einer ausführlichen Zusammenfassung der Ergebnisse jedes einzelnen Kapitels sowie mit der Formulierung kapitelübergreifender Thesen. Methodisches Obgleich sich die Theaterwissenschaft, die sich den Herausforderungen ihres nicht tradierbaren Untersuchungsgegenstandes – der Aufführung – stellen muss, vom Gebot wissenschaftlicher Distanz emanzipiert hat und stattdessen – die Not zur epistemologischen Tugend machend – die gestaltende und sinnliche Involviertheit des Analysierenden in eine Aufführung nicht nur anerkannt, sondern zum Ausgangspunkt theaterwissenschaftlicher Aufführungsanalyse erklärt hat,104 ist eine narrative Qualität der eigenen Praxis bislang kaum theoretisiert worden. Um Aufführungen in einer vornehmlich auf schriftsprachlichen Texten basierenden Wissenschaftspraxis für Rezipienten nachvollziehbar zu machen, müssen die Aufführungen jedoch zwangsläufig in Form schriftlicher Nach- beziehungsweise Neuerzählungen re-inszeniert werden.105 Diese notwendige Narrativität der eigenen Aufführungsanalysepraxis soll in dieser Studie bewusst betont werden.

 104 Vgl. u.a. ROSELT: „Aufführungsparalyse“; Ders.: „Kreatives Zuschauen“; RISI und BRÜSTLE: „Aufführungsanalyse und -interpretation“. 105 Freilich gibt es auch andere, nicht-schriftsprachliche Wissenschaftspraxen, wie viele der hier untersuchten Aufführungen im Sinne einer Performancepraxis als Forschung exemplifizieren. Jede Form der Reflexion über vergangene Aufführungen jedoch beruht auf deren Wiederholungen. Wie ich im Kapitel VI zeigen werde, ist jeglicher Form von Wiederholung (also nicht nur einer schriftsprachlichen oder mündlichen Nacherzählung) eine narrative Qualität inhärent, sofern die Wiederholung als solche erkennbar wird.

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Meine Aufführungsbeschreibungen, die auf der Grundlage von Erfahrungen und Erinnerungen sowie von Nacherzählungen Dritter, von Foto- und Videodokumenten entstanden sind, stellen im Medium der Schriftsprache vollzogene narrative Akte dar, in denen ich zwangsläufig auf literarische Erzählkonventionen zurückgreife. Das Narrative als Performanz soll damit nicht nur Thema, sondern auch methodologisches Programm meiner Untersuchung sein. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass (Erzähl-)Ereignisse einen „struggle for agency“106 auslösen, der selbst zum Ausgangpunkt eines neuen Erzählereignisses wird, wie Walter Benjamin schreibt: „Der Erzähler nimmt, was er erzählt, aus der Erfahrung; aus der eigenen oder berichteten. Und er macht es wiederum zur Erfahrung derer, die seiner Geschichte zuhören.“ 107 In diesem Sinne sind meine eigenen narrativen Akte zu verstehen: als Zeugnisse eigener Erfahrungen und als vom Leser zu erfahrende mit-erzählende Leseakte, die im Moment ihres Vollzugs ein potentielles Weitererzählen und damit ein potentielles Neu- und Umschreiben des Erzählten mit sich bringen. Meine Aufführungsbeschreibungen stellen damit eine in ein anderes Medium verschobene, narrative Dokumentation von Aufführungs- und Aufführungsdokumentationserfahrungen dar. Meine Dokumentationen sollen nicht zuletzt dazu beitragen, jene häufig nur wenig aufgeführten künstlerischen Arbeiten, die nicht selten im Schatten von vergleichsweise gut finanzierten und von der Theaterkritik nach wie vor stärker wahrgenommenen Stadt- und Staatstheaterproduktionen stehen, für die Leser dieser Studie nachträglich narrativ erfahrbar und zugänglich zu machen. Die Bejahung einer Narrativität als methodologische Bedingung meiner eigenen theoretischen Praxis richtet sich dabei nicht nur gegen das Paradigma wissenschaftlicher Objektivität. Ebenso möchte ich eine seitens des Poststrukturalismus’ und der Dekonstruktion privilegierte, melancholische Rede vom unüberbrückbaren Spalt zwischen Ereignis und dessen nachträglicher Diskursivierung produktiv weiterdenken. Diesem Defizit-Denken, nach welchem ein tragisches Narrativ des Verlustes reproduziert wird und damit paradoxerweise dem zu dekonstruierenden Logozentrismus qua Rede über den Spalt zwischen Ereignis und Erzählung eine logozentristische Komponente wieder re-implantiert wird, indem das Ereignis zum unerreichbaren Ursprungsereignis stilisiert wird, – diesem Defizit-Denken möchte ich einen vergleichsweise positiven Gestus entgegenstellen. Ohne die Kluft zwischen Ereignis und seiner nachträglichen Erzählungen leugnen zu wollen, möchte ich jedoch meine Aufmerksamkeit auf das

 106 LANGELLIER und PETERSON: Storytelling in Daily Life, S. 238. 107 BENJAMIN: „Der Erzähler“, S. 443.

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lenken, was sich im Erzählen ereignet und konstituiert, das heißt auf die Wirkungen, Effekte und Funktionen, die im Erzählvollzug realisiert werden. In meinen Untersuchungen setze ich Aufführungen, Aufführungsdokumentationen (Nacherzählungen, Fotos, Videos), sonstiges Quellenmaterial (Interviews und Kritiken) und eine theoretische Reflexion produktiv miteinander in Beziehung. Die Analysen zeugen dabei von einer Zeitgenossenschaft zwischen mir und meinen Gegenständen. Zeitgenossenschaft meint hier, im Sinne Mieke Bals Methode der Kulturanalyse, „keine Indifferenz gegenüber der Geschichte, sondern die Akzentuierung der aktiven Gegenwart des Objekts oder Texts im selben historischen Raum, in dem auch das Subjekt, das ‚Ich‘ wohnt.“108 In diesem Sinn verstehe ich meine Untersuchungsgegenstände nicht als starre Objekte, sondern als in Diskurse und kulturhistorisch generierte Ordnungen verwobene und mich verwebende Phänomene. Obgleich eine solche Involvierung streng genommen auf jeden Analyseprozess zutrifft (auch auf die Auseinandersetzung mit historischen Quellen), tritt sie jedoch in der Untersuchung von Gegenwartsphänomenen – und vor allem von Aufführungen, die kein Produkt hinterlassen – besonders deutlich hervor. Denn hier haben die diskursiven Praktiken, mit Michel Foucault gesprochen, noch nicht „aufgehört [...], die unsrigen zu sein.“109 Dieser Umstand soll jedoch nicht als Mangel, sondern gerade als unumgängliche Notwendigkeit eines Schreibens über Gegenwartsphänomene fruchtbar gemacht werden. So gesehen verdeutlichen meine Analysen, wie Bal präzisiert, „keine Archäologie des Sinns, sondern eine die kulturelle Praxis konstituierende Interaktion mit dem Sinn und durch den Sinn“.110 Ein Sinn, der das bewegliche Zwischenergebnis eines theoretischen Handelns darstellt, in das theoretische Reflexion und Nacherzählung gleichermaßen mit einfließen und sich wechselseitig produktiv durchdringen. Wie der Geschichtsphilosoph Kurt Röttgers betont hat: „Theoretisches Wissen, praktisches Handeln und Geschichtenerzählen [...] sind interdependent.“111 Die hierbei entstehenden theoretischen Erzählungen können dabei von jedem Leser neu und anders (nach-)vollzogen werden. Da die Kapitel als Mikroerzählungen konzipiert sind, die nicht chronologisch aufeinander aufbauen, können sie auch unabhängig voneinander gelesen werden. Eine durchgehende Verweisstruktur ermöglicht zugleich ein von Neugier geleitetes Hin- und Herspringen zwischen den Kapiteln und regt auf diese Weise – so meine Hoffnung – eine Reihe eigener theoretischer Erzählungen an.

 108 BAL: Kulturanalyse, S. 43. 109 FOUCAULT: Archäologie des Wissens, S. 189. 110 BAL: Kulturanalyse, S. 43. 111 RÖTTGERS: Die Lineatur der Geschichte, S. 50.





II. (Theoretische) Szenen des Narrativen  „‚Mein ganzes Leben besteht aus verwickelten Geschichten.‘ [...] ‚Wir sind immer in Geschichten.

[...]

Geschichten

in

Geschichten

in

Geschichten. Man weiß nie, wo eine endet und eine andere beginnt! In Wahrheit fließen alle ineinander. Nur in Büchern sind sie säuberlich getrennt.‘“

1

DANIEL KEHLMANN

1. E INE

BEGEHBARE

M ORDGESCHICHTE (U WE M ENGEL )

Wäre ich an einem Nachmittag im Mai 1996 die Neue Schönhauser Straße in Berlin Mitte entlanggegangen, hätte ich wahrscheinlich eine junge Frau im Schaufenster liegen sehen, ihr Körper bäuchlings hingestreckt auf dem weißen Untergrund, ihre Arme und Beine leicht angewinkelt, ihre schwarzen Haare das Gesicht bedeckend. Ich hätte sehr wahrscheinlich die Blutlache neben ihrem Oberkörper bemerkt: eine mit Sinn für Schaufensterdekor künstlich dahin gegossene Lache aus grellrotem Theaterblut. Ich hätte vielleicht die neben dem Schaufenster geöffnete Tür bemerkt, den ehemaligen Ladenraum hinter der Tür und die vielen Leute darin, die sich unterhalten und umhergehen. Ich hätte die vier Kabinen im Raum sehen können, in welche die Leute verschwinden und aus denen sie wieder auftauchen. Vielleicht hätte ich den Mann an der Eingangstür gefragt: „Entschuldigen Sie, was passiert denn hier?“, und diese Frage hätte der Beginn einer Geschichte gewesen sein können – einer Geschichte, die mir später ausführlich erzählt wurde und die ich im Folgenden weitererzählen möchte.

 1

KEHLMANN: Ruhm, S. 200f.

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In der Performance 2 ½ Millionen von Uwe Mengel2 wurden die damaligen Besucher mit dem Schritt über die Schwelle der Ladentür in die Welt einer Mordgeschichte katapultiert, von der eine Version die folgende sein könnte: Ein ostdeutscher Familienvater Hans-Peter Seyffert verliert nach dem Mauerfall seine berufliche Position. Der Verkauf seiner ostdeutschen Immobilie bringt ihm jedoch zweieinhalb Millionen Mark ein und garantiert ihm finanzielle Sicherheit. Er lernt Katharina Kaiser kennen, eine junge, attraktive, westdeutsche Frau, in die er sich prompt verliebt. Zusammen mit ihrem Bruder Michael überredet Katharina ihren Geliebten, sich von seinem erfolglosen Wirtschaftsberatungsbüro zu trennen, in dem auch seine Tochter Heike sowie deren beste Freundin Svea Buschmann arbeiten. Katharina und Michael überzeugen Hans-Peter Seyffert von der Idee, sein Vermögen in ein viel versprechendes Unternehmen in der Karibik zu investieren. Hans-Peter Seyffert schöpft neue Hoffnung und lässt sich auf das Risiko entgegen aller Ratschläge seiner besorgten und eifersüchtigen Tochter Heike ein. Doch Hans-Peter Seyffert verspekuliert sich. Nachdem er sein gesamtes Vermögen verloren und Katharina Kaiser ihn verlassen hat, begeht Hans-Peter Seyffert, überwältigt von den Folgen des Mauerfalls, Selbstmord. Seine Tochter Heike, überzeugt von der Schuld Katharinas an dem Tod ihres Vaters, nimmt Rache und ersticht Katharina in ihrer Wohnung. Um diese oder eine ähnliche Geschichte herauszufinden, um etwas über deren Details, Figuren und Motive zu erfahren, mussten die Besucher sich in die „Schauspielerinstallation“3 begeben, deren Lockvogel, die tote Katharina Kaiser, im Schaufenster lag. In der Installation stieß man auf vier weitere Schauspieler in ihren Rollen: die Mörderin Heike, ihre Freundin Svea, Katharinas Bruder Michael und deren ältere Schwester Dorothea. Die Figuren saßen getrennt voneinander, jede in einer halbrunden Kabine, die jeweils Platz für circa fünfzehn Zuschauer bot. In den Kabinen warteten die Schauspieler auf Fragen des Publikums, denn nichts wurde erzählt, solange die Besucher nicht selbst die Konversation mit den Schauspielern vorantrieben. Den Zuschauern stand frei, zu kommen und zu gehen, wann sie wollten. Sie konnten zwischen den Kabinen und Figuren hin- und herwandern und sich mit anderen Besuchern erzählend austau-

 2

Die Performance 2 ½ Millionen wurde im Mai 1996 in einem ehemaligen Möbelladen in der Neuen Schönhauser Straße 20 in Berlin aufgeführt. Das Projekt entstand in Zusammenarbeit mit dem Hebbel-Theater Berlin, dem Sender Freies Berlin, dem Radio Bremen, dem Hessischen Rundfunk und der Universität der Künste Berlin (damals Hochschule der Künste), Fachbereich Design.

3

KOHSE: „Kiezladen zu Marktplätzen“.

II. (T HEORETISCHE) S ZENEN DES N ARRATIVEN

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schen. Und so bekam jeder Besucher die Geschichte, die er sich im Austausch mit anderen erfragte und selbst weitererzählte.

2. T HEATERWISSENSCHAFTLICHE UND ERZÄHLTHEORETISCHE P ERSPEKTIVEN 2.1 Z WISCHEN D RAMA UND AUFFÜHRUNG . D AS N ARRATIVE ALS ABWEICHUNG UND AUSGEGRENZTES An den Rändern der Dramen- und Erzähltheorie Für die folgenden theoretischen Grundüberlegungen möchte ich Uwe Mengels Performance punktuell als exemplarische Arbeit heranziehen. In 2 ½ Millionen werden eine Reihe von Qualitäten auffällig, die für das Erzählen in den performativen Künsten der Jahrtausendwende zentral sind und die weit über den Rahmen eines geläufigen Verständnisses vom Narrativen im Theater hinausweisen. In Mengels Performance gibt es weder eine sich primär durch Figurenrede entfaltende Geschichte auf einer vom Zuschauer abgekoppelten Bühne, wie in einer konventionellen Aufführung eines Dramas, noch lässt sich das Narrative auf den Vortrag eines oder mehrerer Geschichtenerzähler beschränken wie zum Beispiel bei einem mündlich erzählten Epos. In 2 ½ Millionen gibt es keine literarischtextuelle Grundlage des Erzählten, sondern Geschichten entstehen hier durch einen interaktiven, spontanen, das heißt vornehmlich ungeprobten Austausch von mündlichen Erzählungen zwischen allen Beteiligten. Dieser Austausch ist abhängig von einer örtlichen Positionierung der Teilnehmer und ihren Bewegungen durch die „Schauspielerinstallation“. Versucht man dieser Erzählweise mit klassischen dramen- oder erzähltheoretischen Konzepten beizukommen, stößt man schnell an begriffliche Grenzen. Die Erzähltheorie, beziehungsweise die Erzählforschung sowie deren häufig synonym verwendete, von Tzvetan Todorov erstmals eingeführte Bezeichnung ‚Narratologie‘ stellt in ihrer klassischen Ausrichtung jene Teildisziplin der Literaturwissenschaft dar, die sich mit der Kategorisierung von literarischen Erzählformen sowie mit der Entwicklung eines begrifflichen Instrumentariums zur präzisen Analyse von Erzähltexten beschäftigt. 4 Der Untersuchungsgegenstand

 4

Im deutschsprachigen Raum zählen zu den wichtigsten Vertretern einer klassischformalistischen Erzählforschung: FRIEDEMANN: Die Rolle des Erzählers in der Epik; LÄMMERT: Bauformen des Erzählens; HAMBURGER: Die Logik der Dichtung und

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‚Erzähltext‘ kennzeichnet dabei diejenige schriftsprachliche Textart, in der das so genannte Redekriterium durch die Besetzung einer Erzählerinstanz gewährleistet ist. Trotz „postklassischer“5 Tendenzen in der Erzähltheorie, in denen das Untersuchungsfeld auf andere Disziplinen, Genres und Medien ausgeweitet wird, wie dies zum Beispiel in Bezug auf Musik, Bildende Kunst oder Film geschehen ist, 6 bleiben viele narratologische Bestrebungen einem vergleichsweise engen Verständnis von Narration verhaftet, dessen Hauptmerkmal die Besetzung der Position einer Erzählerinstanz bildet. Dass die Theaterwissenschaft jenseits dramentheoretischer Überlegungen im Kontext einer interdisziplinären Ausweitung der Erzähltheorie bislang kaum vertreten ist,7 mag unter anderem genau auf jenes nach wie vor vorherrschende enge

 STANZEL: Theorie des Erzählens. Strukturalistische erzähltheoretische Bestrebungen beschäftigen sich mit der Analyse spezifischer Erzähltypen, -muster und -strukturen: GENETTE: Discours du récit; Ders.: Nouveau discours du récit. Weitere wichtige Vertreter sind: PROPP: Morphologie des Märchens; TODOROV: Littérature et Signification; BREMOND: Logique du récit; GREIMAS: Strukturale Semantik; BAL: Narratology sowie Roland Barthes, der erstmals die Ebene der Lektüre in die strukturale Analyse einführt: BARTHES: S/Z. Ein zusammenfassendes Standardwerk formalistischstrukturalistischer Erzähltheorien im deutschsprachigen Raum ist die eng an Genette angelehnte Einführung von Matias Martinez und Michael Scheffel: MARTINEZ und SCHEFFEL: Einführung in die Erzähltheorie. Eine einschlägige strukturalistische Erzähltheorie für Film liefert: CHATMAN: Story and Discourse. Seit den 1990er Jahren hat sich die Erzählforschung nicht zuletzt im Zuge eines kulturwissenschaftlichen narrative turn gegenüber anderen Disziplinen und deren Untersuchungsgegenständen geöffnet. Unter dem Schlagwort ‚postklassische Erzähltheorien‘ (postclassical narratology) werden jene erzähltheoretischen Bestrebungen zusammengefasst, die sich vom schriftsprachlichen Text als dem alleinigen oder primären Erzählmedium abgrenzen. Einen Überblick über die neuesten Entwicklungen und interdisziplinären Ausrichtungen liefern: NÜNNING und NÜNNING (Hrsg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär; Dies. (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie; Dies.: „Von der strukturalistischen Narratologie zur ‚postklassischen‘ Erzähltheorie“. 5

Ebd.

6

Vgl. NÜNNING und NÜNNING (Hrsg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Ich werde im Verlauf dieses Kapitels näher darauf eingehen.

7

Von 2012 bis 2016 arbeitet eine Forschergruppe an der Universität Gent (Ugent) und der Freien Universität Brüssel (VUB) über das Thema „Text Theatricality. An integrated approach through narratology and performance studies“. Den Ausgangspunkt bilden dabei Fragen nach einem erweiterten Textbegriff und insbesondere nach einer

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Verständnis von Narration zurückzuführen sein, dessen weit reichende Spuren sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen. Die ursprünglich platonische Unterscheidung von diegesis und mimesis,8 von ‚erzählen‘ (im engeren Sinne) und ‚darstellen‘, mittels derer Platon – ganz anders als sein Schüler Aristoteles9 – die An- oder Abwesenheit des Dichters im Text beschrieb, klingt in vielen erzähltheoretischen Unterscheidungen von beispielsweise telling und showing nach und bildet schließlich die Grundlage der gattungstheoretischen Trennung von Epik und Dramatik. So wirkt die seit Platon angestoßene Debatte um das Kriterium der Besetzung oder Nicht-Besetzung der Position einer Erzählerinstanz bis in die Erzähl- und Dramentheorie des 20. Jahrhunderts hinein und stellt in ihrer erzähl- und dramentheoretischen Fortsetzung ein Unterscheidungsmerkmal nicht nur zweier literarischer Gattungen, sondern zugleich zweier Disziplinen dar.10 Denn während die klassische Erzähltheorie zum disziplinären Umfeld

 Neukonturierung des Verhältnisses zwischen narrativem Text und Aufführung: „This project aims to undertake an interdisciplinary approach to the role of text in current performance practices, with a specific focus on adaptations of narrative texts from the German-speaking context to the stage.“ http://www.duits.ugent.be/texthea/en, letzter Zugriff: 02. August 2013. Des Weiteren sollen neue Theaterformen untersucht werden, die „neue Möglichkeiten nutz[en], […] Sprache und Erzählung selbst als performativ neu zu entdecken […]“. http://www.duits.ugent.be/TexThea, letzter Zugriff: 02. August 2013. Ergebnisse dieses Forschungsprojektes lagen zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Monografie noch nicht vor. 8

Zu Platons Unterscheidung von diegesis („Erzählung“) und mimesis („Darstellung“ in der Schleiermacher-Übersetzung, „Nachahmung“ in der Rufener-Übersetzung) vgl. PLATON: Politeia, Buch III, 392c-394b, S. 287f.; Ders.: Der Staat, S. 114ff.

9

Platons mimesis-Begriff unterscheidet sich fundamental von Aristoteles‘ mimesisBegriff. Aristoteles veranschlagt ein vergleichsweise weites Verständnis vom Narrativen: Obgleich er ebenfalls zwischen zwei Formen der Dichtung unterscheidet – zwischen der Erzählung (Epos) einerseits und der Personenrede (Tragödie) andererseits –, fasst er beide Dichtungsformen unter dem Begriff mimesis zusammen. Während mimesis bei Platon eine primär gattungstheoretische Kategorie darstellt, dem das Erzählen (diegesis) als Oppositionsbegriff entgegenstellt ist, ist Aristoteles’ mimesisBegriff jenseits einer Gattungsdichotomie angesiedelt: mimesis meint allgemein die dichterische Komposition einer Geschichte (mythos bzw. Fabel). Vgl. ARISTOTELES: Poetik, S. 21. Ein in vorliegender Studie favorisierter Erzählbegriff, wie im Folgenden deutlich wird, geht auf jene aristotelische Tradition zurück.

10 Zur Rezeption und begrifflichen Weiterentwicklung der platonischen Gegenüberstellung in der nachantiken Rhetorik und der Romantheorie des ausgehenden 19. Jh. bis

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der Literaturtheorie zählt, stellt die letztere, die Dramentheorie, nicht nur eine literatur-, sondern ebenso eine – wenn im deutschsprachigen Raum auch weniger prominent vertretene – theaterwissenschaftliche Teildisziplin dar. Entsprechend der platonischen Differenzierung wird in der Dramentheorie traditionellerweise zwischen zwei Formen Geschichten hervorzubringen unterschieden, von denen jedoch nur eine als ‚narrativ‘ im engeren Sinne von ‚episch‘ gilt. So können nach Manfred Pfister die Zuschauer gemäß der „dramatische[n] Sprechsituation“11 Zeugen einer sich ‚vor ihren Augen‘ durch Figurenrede entfaltenden, dramatischen Handlung werden. In der epischen „narrative[n] Sprechsituation“ hingegen werden die Zuschauer zu Zuhörern einer durch einen epischen Vermittler erzählten Geschichte. Beide Sprechsituationen werden in der Dramentheorie üblicherweise sowohl auf den schriftsprachlichen Dramentext als auch auf die Aufführung bezogen. Denn spätestens seit Manfred Pfisters einschlägigem Standardwerk Das Drama gilt ebendieses als plurimedialer Text,12 der die Aufführung immer schon mit einschließt. Aus heutiger aufführungstheoretischer Perspektive jedoch ist dieser von Pfister in den 1980er Jahren im Zuge einer poststrukturalistischen Ausweitung des Textbegriffs vorgenommene Schritt hin zu einem Verständnis des Dramas als immer schon ‚plurimediales Drama‘ nicht haltbar. Zwangsläufig nämlich bleiben dabei grundlegende, von Aufführung zu Aufführung variierende, flüchtige Merkmale unberücksichtigt wie beispielsweise eine spezifische Körperlichkeit, eine Rhythmik des Sprechens sowie lautliche oder atmosphärische Qualitäten. In der Aufführungstheorie besteht spätestens seit der Entwicklung theatersemiotischer Ansätze Konsens darüber, dass Drama und Theater unterschiedlichen Kommunikations- und Wahrnehmungsbedingungen unterliegen und entsprechend unterschiedlicher Analyseverfahren bedürfen.13 Umso erstaunlicher ist

 hin in die Erzähltheorie des 20. Jh. vgl. STANZEL: Theorie des Erzählens, S. 190ff. In fast allen einschlägigen Dramen- und Erzähltheorien des 20. Jh. findet man Untersuchungen generischer, d.h. die poetische Gattung betreffende Grenzfälle wie z.B. die „dramatisierte Szene“ im Roman bei Stanzel (ebd., S. 70), die „Dialogszenen“ im Roman bei Genette (GENETTE: „Diskurs der Erzählung“, S. 61) oder das „[e]pisch[e] Drama“ bei Pfister (PFISTER: Das Drama, S. 104). Die jeweiligen generischen Grenzfälle fungieren dabei als eine gattungsuntypische Ausnahme, die letztlich die Regel – die Gattung – bestätigt und festigt. 11 Dieses und folgendes Zitat: ebd., S. 19. 12 Vgl. ebd., S. 29. 13 Vgl. ROSELT: „Kreatives Zuschauen“. Die in den 1970er und 1980er Jahren entstandenen theatersemiotischen Ansätze lieferten erstmals eine Methodik und Systematik

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es, dass in vielen zeitgenössischen, dramentheoretischen Positionen die Aufführung eines Dramas nach wie vor im Pfisterschen Sinne verstanden wird. Hier wird nicht von den Wahrnehmungsbedingungen der Aufführung ausgegangen, sondern der primäre Orientierungspunkt – und hier wird das Problem des Konzepts eines plurimedialen Textes deutlich – ist das geschriebene Wort. Der schriftsprachliche Text, also keineswegs ein plurimedialer, sondern ein Text im engeren Sinne, bildet den Ausgangspunkt der Analyse, von dem aus die Aufführung lediglich imaginativ abstrahiert werden kann, auch wenn der Text selbst eigene theatrale Qualitäten aufweist. Werden hier im engeren Sinne ‚narrative‘ (also epische) Merkmale des Dramas analysiert, bleiben folglich jegliche aufführungsspezifischen Qualitäten, welche die reale raumzeitliche Aufführungssituation des epischen Erzählens umfassen – wie zum Beispiel die Stimmqualität und Körperlichkeit des Erzählers, die situative Aufmerksamkeitsdynamik und Involvierung der Zuhörer – unbeachtet. Wird zwar konzeptuell eine Plurimedialität des Dramas veranschlagt, wird auf der Ebene der Untersuchung eine Analyse des schriftsprachlichen Textes und keine Aufführungsanalyse betrieben.14

 zur Analyse der theatralen Inszenierung als eigenständiges, jenseits des dramatischen Textes zu situierendes Zeichensystem, obgleich die Aufführung von Inszenierungen in ihrer einmaligen Ereignishaftigkeit dabei nach wie vor unbeachtet blieb. Vgl. u.a. FISCHER-LICHTE: Semiotik des Theaters, Band 1-3. 14 Mit der Thematik des Narrativen im Drama auseinandergesetzt haben sich v.a. RICHARDSON: „Voice and Narration in Postmodern Drama“; NÜNNING und SOMMER: „Drama und Narratologie“; JAHN: „Narrative Voice and Angency in Drama“; Ders.: A Guide to the Theory of Drama. Auch wenn sowohl die Plurimedialität als auch das Problem des engen und weiten Erzählbegriffs in einigen Abhandlungen gerade vor dem Hintergrund einer Entwicklung postklassischer Ansätze in der Erzähltheorie kritisch reflektiert werden (etwa bei Nünning und Sommer), bildet jedoch erstens die Plurimedialität des Dramas zumeist eine implizite Argumentationsgrundlage, etwa dann, wenn z.B. Brian Richardson die Begriffe „stage“ oder „theatre“ als Synonyme für „drama“ verwendet. RICHARDSON: „Voice and Narration in Postmodern Drama“, S. 685. Zweitens liegt der Schwerpunkt von Untersuchungen des Narrativen im Drama vornehmlich auf der Analyse von Episierungstendenzen. Selbst wenn eine allgemeine Narrativität des Dramas vorausgesetzt wird (d.h. im Drama wird – im weiteren Sinne – eine Geschichte hervorgebracht), wird sich auf der eigentlichen Untersuchungsebene häufig auf das Erzählen im engeren Sinne bezogen, d.h. auf epische Verfahren im dramatischen Text. Kritisch reflektiert wird dies in: RAJEWSKY: „Von Erzählern, die (nichts) vermitteln“.

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In der Dramentheorie ist vom ‚Erzählen‘ nach wie vor vornehmlich dann die Rede, wenn der schriftsprachliche Dramentext epische Anteile aufweist. Nicht die Tatsache, dass im Drama oder in dessen Aufführung allgemein eine Geschichte generiert wird, ist ausschlaggebend für das Etikett ‚narrativ‘, sondern die Besetzung einer Erzählerposition. Entsprechend wurde die Frage nach dem Erzählen im Drama aus dramentheoretischer Perspektive zumeist unter dem Schlagwort ‚Episierung‘ verhandelt. Diese stellt nach Peter Szondi einen Gegenbegriff zum klassischen Drama dar und avanciert im 20. Jahrhundert paradoxerweise zu einem grundlegenden Merkmal moderner Dramatik.15 Im Kontext der Dramentheorie stellt das Narrative im engeren Sinne des epischen Redekriteriums dabei eine – wenn auch im 20. Jahrhundert gattungsbedrohliche – Abweichung von der literarischen Gattung Drama im Medium Schriftsprache dar. Theaterformen wie Uwe Mengels Performance 2 ½ Millionen fallen durch das Raster dramentheoretischer Prämissen. 2 ½ Millionen lässt sich zunächst einer postdramatischen Theaterpraxis zuordnen, da hier nicht auf einen dramatisch-schriftsprachlichen Text als Grundlage der Theateraufführung zurückgegriffen wird, sondern verschiedenste Elemente einer Aufführung (Raum, Körper, Akustik, Sprache) gleichberechtigt nebeneinander stehen. Ebenso werden hier klassische Aufführungskonventionen gesprengt (black box, Guckkasten, stiller Rezeptionsmodus), die jedoch in den meisten Dramenanalysen als impliziter Analysehintergrund vorausgesetzt werden.16 In 2 ½ Millionen werden stattdessen die Kommunikations- und Wahrnehmungsbedingungen der Aufführung im Sinne einer kontingenten face-to-face-Begegnung zwischen Darstellerinnen und Zuschauerinnen zum Thema gemacht, was Hans-Thies Lehmann Ende der 1990er Jahre dazu veranlasste, Uwe Mengels Performance als Musterbeispiel einer Postdramatik anzuführen.17 Eine Untersuchung von Mengels Performance in Hinblick auf deren narrative Qualitäten blieb dabei jedoch bezeichnenderweise aus.

 15 Vgl. SZONDI: Theorie des modernen Dramas 1880-1950, S. 13. Szondis Thesen beziehen sich dabei auf Untersuchungen von v.a. Strindberg, Wilder, Pirandello, Piscator, Brecht, Bruckner und O’Neill. 16 Diese seitens der Dramentheorie implizit angenommenen klassischen Aufführungskonventionen zeigen sich z.B. in der Veranschlagung eines dramatischen Kommunikationsmodells, in dem die realen Zuschauer lediglich Empfänger und die durch Schauspieler dargestellten Figuren die Sender darstellen. Vgl. u.a. PFISTER: Das Drama, S. 21; NÜNNING und SOMMER: „Drama und Narratologie“, S. 110-117. 17 Vgl. LEHMANN: Postdramatisches Theater, S. 183.

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An den Rändern der Performance- und Aufführungstheorie Die zahlreichen Verschiebungen innerhalb der Theaterpraxis hin zum Postdramatischen, ebenso wie eine allgemeine Performativisierung der Künste haben in der Theaterwissenschaft zu einem Perspektivenwechsel geführt. Hatte die Theatersemiotik seit den 1970er Jahren zwar eine mediale Eigenständigkeit theatraler Inszenierungen gegenüber schriftsprachlichen Texten etabliert, so blieb dabei die konkrete Aufführung einer Inszenierung im Sinne eines kontingenten und sozialen Ereignisses analytisch unberücksichtigt. Weder philologische Dramen- noch semiotische Inszenierungsanalysen vermochten jenen in der Tradition der historischen Theateravantgarde stehenden, innovativen Theater- und Performancepraktiken ausreichend gerecht zu werden, handelte es sich doch um Aufführungen, in denen eine dramatische Vorlage gänzlich fehlte, in denen Körper nicht zur Verkörperung einer Figur, sondern zur Zurschaustellung einer verstörenden oder entzückenden Körperlichkeit präsentiert wurden,18 in denen die Institution Stadttheater inklusive Illusionsbühne negiert und das Theater in den öffentlichen oder privaten Raum verlagert wurde oder in denen Aushandlungsprozesse zwischen Darstellern und Zuschauern in den Mittepunkt rückten. Jene Theaterpraktiken, so der theaterwissenschaftliche common sense, provozieren bis heute aufgrund ihrer Selbstreferenzialität einen Blick auf das, wodurch sie sich jenseits von Text und Partitur als live events auszeichnen: als zwischen Präsenz und flüchtiger Absenz oszillierende Phänomene unter den Kommunikationsbedingungen leiblicher Ko-Präsenz von Darstellern und Zuschauern. 19 Postdramatische Theaterformen fordern eine theoretische Perspektive ein, die sich auf die flüchtige Wirkung von Aufführungen im Moment ihres Vollzugs konzentriert. Anstelle der Untersuchung von Aufführungsmerkmalen wie der Repräsentation oder der Wiederholung, veranlassen postdramatische Aufführungspraktiken eine Konzentration auf Momente der Unwiederholbarkeit und Flüchtigkeit. Eine hieraus erwachsene theoretische Perspektive ermöglicht es schließlich, eine zuvor unbeachtete Dimension von Aufführungen allgemein – also auch von nicht-künstlerischen Aufführungen wie zum Beispiel von Ritualen oder bestimmten Spielformen – in den Blick zu nehmen. Sie erlaubt es, die Flüchtigkeit des letztlich nicht-verifizierbaren, weil nicht festschreibbaren Gegenstandes

 18 Zum Wandel des Begriffs ‚Verkörperung‘ vgl. FISCHER-LICHTE: „Verkörperung/ Embodiment“. 19 Maßgeblich geprägt haben diese Perspektiven im deutschsprachigen und angloamerikanischen Raum: LEHMANN: Postdramatisches Theater; FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen; SCHECHNER: Performance Theory; CARLSON: Performance; PHELAN: Unmarked.

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‚flüchtige Aufführung‘ aufzuwerten, die Wahrnehmung für flüchtige Präsenzeffekte zu sensibilisieren und genau diese Qualität als zentrale Eigenschaft des Gegenstandes ‚Aufführung‘ ernst zu nehmen. Im Zentrum vieler theaterwissenschaftlicher Untersuchungen spätestens seit den 1990er Jahren stehen die flüchtigen, wirklichkeitskonstitutiven und materiellen Qualitäten von (Theater-)Aufführungen. In diesem theoretischen Umfeld erscheint die Beschäftigung mit dem Narrativen in Aufführungen ein zunächst ungewöhnliches, wenn nicht unpassendes Unternehmen. So tauchen die Begriffe ‚Narration‘ oder ‚Erzählen‘ in der derzeitigen aufführungstheoretisch ausgerichteten Forschungsliteratur entweder gar nicht auf oder sie werden lediglich unbefriedigend reflektiert. In den wenigen Untersuchungen zu diesem Thema wird das Narrative zumeist im engeren Sinne gefasst, und zwar entweder in Hinblick auf ein mündliches Geschichtenerzählen oder, durchaus in dramentheoretischer Tradition, in Bezug auf eine epische, schriftsprachliche Textgrundlage. Häufig wird das Narrative in einer Tradition des Brechtschen Epischen Theaters als inszenatorisches Mittel gegen die Entstehung dramatischer Illusion angesehen.20 Ein konsequent weit gefasster Erzähl-

 20 Zum Erzählen im Kontext des Theaters allgemein: KOLESCH: „Narration“, S. 217-220. Zum Geschichtenerzählen im Theater im Sinne einer Theatralisierung epischer Texte vgl. KURZENBERGER: „Erzähltheater“. Einen fundierten Beitrag zum anekdotisch-autobiografischen Erzählen im Theater der 1990er Jahre liefert Gabriele Brandstetter, obgleich die generische Dichotomie mimesis vs. diegesis hier nach wie vor die Argumentationsgrundlage bildet: BRANDSTETTER: „Geschichte(n) Erzählen“. Stark auf Brandstetter aufbauend, umreißt Christina Thurner Erzählarten im zeitgenössischen Tanz, wie z.B. die Verwendung von kleinen Erzählungen, von kontingenten Narrationen oder einer narrativen ‚Dis-Order‘: THURNER: „Es war einmal – eine Erzählung“. Ein Versuch Theater als ‚Erzählmedium‘ im theoretischen Umfeld einer transmedialen Narratologie zu kontextualisieren, findet sich bei Peter Diezel, der das Problem der Narrativik zeichentheoretisch verhandelt: DIEZEL: „Narrativik und die Polyphonie des Theaters“. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt PAVIS: „The State of Current Theatre Research“. Über nicht-lineare Erzählverfahren in Arbeiten von Theatergruppen der New York-‚Avantgarde‘ der Nullerjahre: MCGINLEY: „Next Up Downtown“. Am Rande Erwähnung finden verschiedene Erzählmodi in Stephanie Metzgers Abhandlung zu Fiktionalisierungsverfahren im Gegenwartstheater: METZGER: Theater und Fiktion. Implizit thematisiert Benjamin Wihstutz das Erzählen in Bezug auf die Rolle der Imagination bei der Generierung einer „fiktiven Handlung“ durch den Theaterzuschauer, wobei der Begriff ‚Erzählen‘ hier vermieden wird. Vgl. WIHSTUTZ: Theater der Einbildung, v.a. S. 63-68, Zitat: S. 64.

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begriff wird fast ausschließlich in Untersuchungen zum autobiografischen Erzählen geltend gemacht. Hier wird das Erzählen als kulturelle Praktik einer Selbstinszenierung verstanden, jedoch bleiben die Analysen zumeist auf das mündliche Erzählen beschränkt.21 Die Untersuchung des Narrativen stellt jedoch im Kontext aktueller Theatertheorie eher die Ausnahme dar. Das Narrative gilt gemeinhin als negativ besetzt und wird der Tendenz nach der Aufführung als Opposition entgegengestellt und damit aus dem Gegenstandsbereich der Performancetheorie ausgeklammert, wie Peggy Phelans eingangs erwähnte These verdeutlicht: „performance lives in the now, while narrative histories describe it later. Enacted in the present tense, performance lives, rather than tells its meaning.“22 Der Begriff ‚Narration‘ wird in Phelans Verwendung in die konnotative Nähe von Begriffen wie Kohärenz, Identität, Geschlossenheit, logos oder (männlichem) „master plot“ 23 gestellt. „Performance“24 besetzt demgegenüber ein konnotatives Anti-Feld und fungiert für Phelan als Triebfeder eines epistemologischen Paradigmenwechsels: Als das Nicht-Repräsentierbare, das Nicht-Benennbare, das Prä-Symbolische und damit als das Verstörende, das sich einer symbolischen Ordnung und einer Ökonomie des Warentauschs Entziehende macht die Performance eine Nicht-Identität erfahrbar und spottet jeglicher nachträglichen Erzählung. 25 Phelans Polarisierung, bei deren Erläuterung sie selbst Gefahr läuft, Mythen über das Narrative zu reproduzieren, muss im Kontext der (Nach-)Postmoderne vor allem als ein

 21 Zum autobiografischen Erzählen in den 1970er und 1980er Jahren vgl. FISCHER-LICHTE:

„Verwandlung

als

ästhetische

Kategorie“,

S.

50-65;

BRANDSTETTER: „Selbst-Beschreibung“. Über autobiografische Performances als „szenische Selbstinszenierungen“ seit den 1990er Jahren vgl. MATZKE: Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern; HEDDON: Autobiography and Performance; GOVAN, NICHOLSON und NORMINGTO: Making a Performance, S. 59-72. 22 PHELAN: „Shards of a History of Performance Art“, S. 500. Die generische Unterscheidung von mimesis vs. diegesis und deren begriffliche Fortschreibung in showing vs. telling schwingt damit auch noch bei Phelan mit: „performance shows rather than tells its meaning“. Im Gegensatz zur Dramen- und Erzähltheorie werden die Begriffe hier umfunktionalisiert: showing meint hier nicht die dramatische Handlung, sondern die ephemere Gegenwart von „performance“, während telling für Wiederholung und Repräsentation steht. 23 Ebd., S. 506. 24 Phelans „performance“ umschließt sowohl die Aufführung als auch das Konzept von Performanz allgemein. 25 Vgl. PHELAN: Unmarked, S. 165.

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zutiefst politisch motivierter Gestus verstanden werden, im Zuge dessen der Performance aufgrund ihrer flüchtigen Qualität eine subversive Kraft zugesprochen wird, die jegliche Reproduktionsökonomie aus den Angeln zu heben vermag.26 Phelans epistemologisch wie politisch äußerst treffende und produktive Pointe jedoch fordert ein Opfer: das Narrative. Dieses wird als ein auszugrenzendes, veraltetes Epistem gedeutet, in welchem die kohärente Glattheit einer teleologischen Universalgeschichtsschreibung beschwerlich mitzuschwingen scheint und welches, im Sinne Lyotards These vom Ende der großen Erzählung, einer zersplitterten Alltagswahrnehmung unvereinbar entgegensteht. Eine solche Auffassung von Narration droht jedoch angesichts einer Vielzahl neuer, vor allem durch digitale Kommunikationstechnologien entstandener Alltagserzählformen im Fahrwasser einer Erzählung vom Ende der großen Erzählung unterzugehen. Ebenso vollzieht Hans-Thies Lehmann im Umkreis der Frankfurter Schule einen der Kritischen Theorie verpflichteten Abgrenzungsgestus gegenüber dem Narrativen, 27 wenn er gegen ein an dramatische Spannung gebundenes Wahrnehmungsdispositiv polemisiert: „Ist Spannung spannend?“28 Das Narrative wird an dieser Stelle von Lehmann im weiteren Sinne (also jenseits des Redekriteriums) verstanden. Das Konzept der Fabel, welches in aristotelischer und schließlich idealistisch-hegelianischer Tradition den konstitutiven Bestandteil der dramatischen Geschlossenheit als „lückenlose[r] Einheit“29 darstellt und laut Lehmann in Form eines unterhaltungsindustriell verbürgten „Fabel-Konsums“ (immer noch) zum elementaren ästhetischen Bestandteil vieler „großer Theater“30 zähle, wird bei ihm zur Negativfolie, die er der flüchtig-präsentischen Realität einer Aufführung entgegenstellt: „Denn werden Texte und Bühnenvorgänge nach dem Modell spannender dramatischer Handlung wahrgenommen, so treten

 26 „Performance in a strict ontological sense is nonreproductive. It is this quality which makes performance the runt of the litter of contemporary art. [...] Performance’s independence from mass reproduction, technologically, economically, and linguistically, is its greatest strength.“ Ebd., S. 148f. 27 Wolfgang Müller-Funk sieht die „kritisch-depressive“ Rede vom „Ende des Erzählens“ vornehmlich in der Kritischen Theorie begründet: „Ausgehend vom Marxschen Entfremdungstheorem dekretiert [die Kritische Theorie] die Weltlosigkeit des Menschen und seine subjektive Auszehrung. Kein Wunder also, daß mit dieser ‚vollendeten Trauer‘ die apodiktische Auffassung einhergeht, daß Erzählen nicht mehr möglich sei.“ MÜLLER-FUNK: Die Kultur und ihre Narrative, S. 20f. 28 LEHMANN: Postdramatisches Theater, S. 48. 29 Ebd., S. 61. 30 Dieses und letztes Zitat: ebd., S. 30.

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fast zwangsläufig die eigentlich theatralen Wahrnehmungsbedingungen, also die ästhetischen Qualitäten des Theaters als Theater in den Hintergrund: die ereignishafte Gegenwart“.31 Postdramatisches Theater hingegen präsentiere sich als Theater. Als nicht-mehr-dramatisches Theater negiere es die dramatische Fabel sowie – wie Lehmann mit einem Zitat von Gerda Poschmann darlegt – die „Prinzipien von Narration und Figuration“.32 Das heißt aber nicht, dass das postdramatische Theater bei Lehmann zur narrationsfreien Zone erklärt wird. Werden jedoch im postdramatischen Theater Geschichten erzählt, dann weniger um der Geschichten Willen, sondern um Nähe zu denjenigen zu erzeugen, die erzählen. Nicht die Fabel oder sonstige narrative Qualitäten, sondern die „ereignishafte Gegenwart“ im Sinne einer Kontaktintensität zwischen Erzähler und Zuschauern stehen Lehmann zufolge im Vordergrund postdramatischer Erzählpraktiken.33 Abweichung und Ausgrenzung Die Marginalisierung des Narrativen im Kontext der Theaterwissenschaft gründet sich folglich auf zwei innerdisziplinären, teilweise konträren Strängen. In den meisten dramentheoretischen Ansätzen stellt das Narrative im engeren Sinne (Besetzung einer Erzählerposition) eine Ausnahme von der dramatischen Norm dar, die in die dramatische Dichtung in Form ‚epischer Anteile‘ mit einfließen kann. Weder der live auf der Bühne erscheinende Erzähler in seinen körperlichen Qualitäten noch die konkrete Erzählsituation können in dieser theoretischen Perspektive ausreichend beachtet werden. Da die Aufführungsqualitäten – obgleich im plurimedialen Text des Dramas mitgedacht – in der Dramenanalyse notwendigerweise aus dem schriftsprachlichen Text abgeleitet werden müssen, beruht auch die Untersuchung der narrativ-epischen Qualitäten des Dramas letztlich auf den Wahrnehmungsbedingungen des schriftsprachlichen Textes. In aufführungstheoretisch orientierten theaterwissenschaftlichen Ausrichtungen besteht die Tendenz, das Narrative, sofern es überhaupt Erwähnung findet, erstens auf den dramatischen, schriftsprachlichen Text (das Drama als narrative Einheit) und zweitens auf ein nach Kohärenz strebendes Epistem zu beschränken. Die „ereignishafte Gegenwart“,34 die besonders in postdramatischen Thea-

 31 Ebd., S. 51. 32 POSCHMANN: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 177; vgl. auch LEHMANN: Postdramatisches Theater, S. 14. 33 Vgl. ebd., S. 198; vgl. auch Kapitel I/2.1, Abschnitt „Präsenz des Erzählers: Narration im postdramatischen Theater und in der autobiografischen Performancekunst“. 34 LEHMANN: Postdramatisches Theater, S. 51.

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terpraktiken im Zentrum steht (Lehmann), sowie die flüchtige „ontology of performance“ 35 (Phelan) stehen dabei einer hier veranschlagten Auffassung vom Narrativen als geschlossener, reproduzierbarer Einheit diametral entgegen. Die Opposition Narration versus Performance spiegelt sich dabei in anderen begrifflichen Gegenüberstellungen wider. Zu voreilig, so scheint es, wird das Narrative mit Repräsentation und Textualität assoziiert, die Aufführung hingegen mit Begriffen wie Ereignishaftigkeit, Unwiederholbarkeit oder Präsenz. Dabei besteht die Gefahr zu übersehen, dass freilich auch schriftsprachlichen Texten performative und ereignishafte Qualitäten inhärent sind oder dass das Hervorbringen von Geschichten nicht zwangsläufig an Texte gebunden sein muss. Die bisherige geringe Beachtung des Narrativen in der Theaterwissenschaft, so meine These, lässt sich darauf zurückführen, dass das Narrative in beiden theoretischen Strängen als ein die jeweilige Teildisziplin begründendes Differenzkriterium fungiert. In dramentheoretischer Tradition stellt das Narrative im engeren Sinne eine auf einer gattungstheoretischen Differenz gründende Abweichung vom Untersuchungsgegenstand Drama dar. In der Aufführungstheorie kennzeichnet das Narrative im weiteren Sinne das an den schriftlichen Text gebundene und folglich das auf einer medialen Differenz gründende Ausgegrenzte. Im gleichen Zug wird das Narrative tendenziell mit Konzepten wie Geschlossenheit und Identität assoziiert und damit zum epistemologischen Gegenspieler einer Wissenschaft stilisiert, die sich dem Flüchtigen und Prozessualen verschrieben hat. Sowohl in der Dramen- wie in der Aufführungstheorie wird das Narrative – ob als gattungsbezogene Abweichung oder als medial und epistemologisch Ausgegrenztes – der Tendenz nach im schriftsprachlichen Text verortet. Zwischenergebnis Die Performance 2 ½ Millionen weist narrative Qualitäten auf, denen bislang theoretisch kaum Beachtung geschenkt wurde. Fand Uwe Mengels Performance aus den späten 1990er Jahren bei Hans-Thies Lehmann allein in Hinblick auf kommunikativ-soziale Qualitäten Erwähnung, lässt sich die Performance vom heutigen Standpunkt aus rückblickend als richtungsweisend interpretieren, weist sie bereits über die als typisch postdramatisch deklarierten Qualitäten hinaus. Die Performance lässt sich bereits jenen narrativen Aufführungsformen zuordnen, die sich in den performativen Künsten der ersten Dekade des neuen Millenniums verstärkt beobachten lassen und die sich dadurch auszeichnen, dass sie das Erzählen selbst auffällig werden lassen – und zwar nicht als geschlossene

 35 PHELAN: Unmarked, S. 146.

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Fabel oder epischer Diskurs, sondern als kulturelle Praktik. Ein bei Lehmann noch unerwähntes, aber grundlegendes Merkmal von 2 ½ Millionen nämlich liegt darin, einen narrativen Prozess in Szene zu setzen. Mengels Performance ist ein interaktives Erzählspiel, dessen Witz die live-Konstruktion von Geschichten selbst ist. Hier gilt nicht nur Lehmanns Beobachtung ‚kein Theater ohne Zuschauer‘, sondern ebenso ‚keine Geschichten ohne Zuschauer‘, denn die Zuschauer allein sind verantwortlich für das Ingangsetzen von Erzählprozessen. Obgleich Plot-Versatzstücke sowie die Figuren von den Schauspielern im Probenprozess zuvor entwickelt und angeeignet wurden, werden die fiktiven Handlungsbrocken während der Aufführung nur entsprechend der Teilnehmerfragen neu erzählt und mit jeder Frage weitergesponnen. Die Entstehung von Geschichten ist zudem mit den Bewegungen verschränkt, die jeder einzelne Zuschauer von einer Figur zur anderen vollzieht. Durch die örtliche Trennung der Figuren bleiben den Zuschauern automatisch andere Episoden, Perspektiven und Details vorenthalten. Die durch diesen Entzug motivierte Wanderschaft zwischen den Kabinen wird zum Motor eines Konstruktionsprozesses von Geschichten. Die jeweilige neue Konstellation aus Zuschauern und einem Schauspieler in einer der Kabinen ist ausschlaggebend dafür, wie die einzelnen Erzählungen sich entwickeln. Da in 2 ½ Millionen weder rein episch noch dramatisch erzählt wird, stellt sich die Frage: Wie genau werden hier Geschichten generiert? Anstelle einer Verankerung im literarischen Text ist das Narrative hier gerade an jene aufführungsspezifischen Merkmale gebunden, die von Seiten der Aufführungs- und Performancetheorie zunächst von Begriffen wie „narration“ (Phelan) und „Fabel“ (Lehmann) abgekoppelt wurden. Im Unterschied zum textbasierten Erzählen ist das Erzählen hier an die spezifisch kommunikativen und materiellen Bedingungen einer Aufführung geknüpft. Darsteller, Zuschauer, die körperlichen Bewegungen von Kabine zu Kabine – all jene Merkmale bedingen ein narratives Konfigurieren und sind Teil einer spezifischen materiellen Qualität des Erzählprozesses. Das, wovon erzählt wird, ist durch diese materielle Disposition auf eine ganz spezifische Weise überhaupt erst ‚da‘. Umgekehrt haftet dieser Materialität etwas Narratives an. Sie verwebt sich zu einem gewissen Grad mit dem Erzählten, ohne je gänzlich darin aufzugehen. Das Erzählen selbst wird zur Aufführung: zum ephemeren, intersubjektiven und wirklichkeitsgenerierenden Prozess, dessen narrative und aufführungsspezifische Qualitäten sich, miteinander verschmelzend, im Verlauf der Aufführung zuallererst entfalten. Vor dem Hintergrund solcher narrativer Praktiken lässt sich der von Phelan behauptete Widerspruch von „narration“ und „performance“ nicht aufrechterhalten. Anstatt das Narrative primär im Sinne eines (vor-)strukturierten Produktes

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zu fassen (zum Beispiel der geschriebene Text), muss der Vollzug des Erzählens stärker Beachtung finden, durch den Erzählungen zuallererst entstehen. Nur so kann die Untersuchung des Narrativen in Aufführungen einer dichotomischen Logik enthoben werden, innerhalb derer das offene Ereignis gegen die geschlossene Geschichte oder die Präsenz gegen eine (narrative) Repräsentation ausgespielt werden. Zur näheren Konturierung dieses Perspektivenwechsels werde ich im nächsten Schritt einen Blick auf verschiedene Konnotationen des Verbs ‚erzählen‘ werfen und deren definitorische Konsequenzen für unterschiedliche, erzähltheoretische Auffassungen vom Narrativen in Bezug auf mein Vorhaben diskutieren.

2.2 Z WISCHEN S PRACHE UND ABBILD . D AS N ARRATIVE ALS SPRACHLICHE K OMMUNIKATION UND ALS D ARSTELLUNG VON G ESCHEHNISSEN Erzählen – zwei etymologische Stränge Das deutsche Verb ‚erzählen‘ hat zwei begriffliche Implikationen. Etymologisch betrachtet, entspringt ‚erzählen‘ dem althochdeutschen irzellen und dem mittelhochdeutschen erzellen, was sowohl für „öffentlich hersagen und verkünden [...] mündlich mitteilen, berichten“ als auch für „zählen“ im Sinne von „der Reihe nach aufzählen“ 36 steht. Im Althochdeutschen wurde das Wort ausschließlich transitiv gebraucht. Erzählen bezog sich auf das Auf- beziehungsweise Herzählen von Geschehnissen ähnlich dem Aufzählen von Gegenständen. 37 Der Schwerpunkt lag auf der Betonung des mündlichen Erzählerberichts, auf dem öffentlichen Vortrag desjenigen, der etwas erzählt. Erst im 18. Jahrhundert kam dem Verb ‚erzählen‘ unter dem Einfluss des lateinischen narrare eine weitere Bedeutung zu, die einem Gebrauch des Verbs auch im intransitiven Sinne Vorschub leistete. In narrare klingt eine Technik des In-Beziehung-Setzens an, die über das bloße Herzählen hinausgeht.38 Erzählen erhält hiernach die Bedeutung

 36 Dieses und vorherige Zitate: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen A-L, Eintrag: „erzählen“, S. 298. 37 Vgl. EIKELS, VAN: Zeitlektüren, S. 52. 38 Vgl. ebd., S. 52. Vgl. auch Hayden White, der dem lateinischen narrare die konnotative Implikation einer Wissenstechnik attestiert: „the words ‚narrative‘, ‚narration‘, ‚to narrate‘, and so on derive via the Latin gnarus (‚knowing‘, ‚acquainted with‘, ‚expert‘, ‚skillful‘, and so forth) and narro (‚relate‘, ‚tell‘) from the Sanskrit root gna (‚know‘).“ WHITE: „The Value of Narrativity in the Representation of Reality“, S. 1.

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eines kompositorischen und konfigurierenden Aktes. Die im Erzählen entstehende Erzählung ist dabei mehr als das Resultat eines chronologischen Aufzählens von Geschehnissen und Handlungen, sondern sie erscheint als das Ergebnis eines nach bestimmten Regeln miteinander in Beziehung gesetzten Geflechts von nicht zwangsläufig in chronologischer Abfolge ‚komponierten‘ Geschehnissen – ein Vorgang, der letztlich auf Aristoteles’ Mythos-Begriff verstanden als „Zusammensetzung von Geschehnissen“39 zurückgeht. Während das deutsche Verb ‚erzählen‘ beide Bedeutungen umfasst, etymologisch gesehen jedoch stärker auf die erstere Bedeutung verweist (in ‚erzählen‘ steckt immer noch ‚zählen‘), werden die zwei Bedeutungsstränge von ‚erzählen‘ in anderen germanischen und romanischen Sprachen durch zwei verschiedene Verben gekennzeichnet (obgleich beide mittlerweile häufig synonym verwendet werden). Das Englische Verb to narrate steht auch für to relate oder to explain. Anders das Verb to tell, in dessen altenglischer Form tellan das Zählen im Sinne von „to count, reckon“40 mitschwingt. To tell verweist zudem sehr viel stärker als to narrate auf den Vermittlungs- beziehungsweise Vortragscharakter des Erzählens (zum Beispiel: ‚Let me tell you a story‘). Ähnliches gilt für die französischen Wörter le récit, narration einerseits und raconter, le conte (conter, franz. für zählen) andererseits. Bietet die deutsche Sprache zwar Substantive wie ‚die Narration‘, ‚das Narrativ‘ oder ‚das Narrative‘ neben ‚die Erzählung‘, oder ‚der Erzähler‘, ist man auf der Verbebene, also auf der Ebene, die den Erzählvollzug beschreibt, auf das Wort ‚erzählen‘ beschränkt, in dem die Vorstellung der Anwesenheit eines Erzählers sehr viel stärker präsent ist als die des Erklärens und des konfigurierenden Zueinander-in-Beziehung-Setzens. Diesem speziellen Umstand der deutschen Begrifflichkeit, der einen relativ engen konnotativen Rahmen vorgibt und der meinem Vorhaben gerade jene Prozessebene des Erzählens genauer in den Blick zu nehmen, einige Widerstände entgegenstellt, versuche ich in dieser Studie zu begegnen, indem ich partiell das Verb ‚narrativieren‘ verwende.41 Ich gebrauche dieses Verb in Bezug auf narrative Konfigurationsprozesse und möchte damit nicht zuletzt einer konnotativen Erweiterung von ‚erzählen‘ Vorschub leisten. Beide Bedeutungsebenen von ‚erzählen‘ klingen bezeichnenderweise in zwei zentralen Minimaldefinitionen des Narrativen an. Die erste Definition beschreibt das Narrative mit der Formel ‚jemand erzählt jemanden etwas‘: „the telling of a

 39 ARISTOTELES: Poetik, S. 21. 40 Chambers Dictionary of Etymology, Eintrag „tell“, S. 1122. 41 Das Verb ‚narrativieren‘ findet man u.a. auch bei Barbara Scheuermann. Vgl. SCHEUERMANN: Erzählstrategien in der zeitgenössischen Kunst, S. 92.

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story by someone to someone for some purpose and on some occasion“. 42 Grundlegendes narratives Merkmal bildet hiernach ein situativ-kommunikativer Vermittlungsakt durch eine (fiktiv oder faktisch anwesende) Erzählerin an eine (fiktiv oder faktisch anwesende) Zuhörerin. Die zweite prominente Definition bezieht sich auf den repräsentativen und konfiguratorischen Aspekt des Erzählens wie zum Beispiel das narratologische Standardwerk Dictionary of Narratology von Gerald Prince ausweist: „narrative is the representation of one or more real of fictive events“.43 Im Zentrum steht hier die narrativ konfigurierte Darstellung von Geschehnissen. In den meisten klassischen Erzähltheorien werden beide Minimaldefinitionen zugleich geltend gemacht, um unterschiedliche Aspekte des Narrativen zu beschreiben. So zum Bespiel in Gérard Genettes triadischer Unterscheidung zwischen erstens der Geschichte, zweitens der Erzählung und drittens dem Erzählakt.44 Innerhalb dieser Unterscheidung lässt sich die erste Minimalbestimmung (‚jemand erzählt jemanden etwas‘) auf der Ebene des narrativen Prozesses finden: als Akt des Erzählens durch einen fiktiven Erzähler. Die zweite Bestimmung (‚Erzählen ist die Repräsentation von Ereignissen‘) ist bei Genette auf der Ebene des schriftsprachlichen, narrativen Diskurses angesiedelt. Diesem eignet

 42 HUTCHEON: „Opera“, S. 408. Vgl. auch BARROS: Autobiography, S. 1. Barros versteht autobiografisches Erzählen als „someone telling someone else ‚something happened to me.‘“ 43 PRINCE: „narrative“, S. 58. Vgl. auch Mieke Bal: „narrative [is] the representation of events in temporal sequence“. BAL: Reading ‚Rembrandt‘, S. 100. Unter ‚events‘ fasst man in der Erzähltheorie zumeist die im narrativen Diskurs dargestellten Ereignisse verstanden als „change of state manifested in discourse.“ PRINCE: „event“, S. 28. Ich selbst bevorzuge in diesem Zusammenhang den Begriff ‚Geschehnis‘ statt ‚Ereignis‘. ‚Ereignis‘ hingegen verwende ich in phänomenologischer und dekonstruktivistischer Begriffstradition. Hiernach lassen sich Ereignisse nicht einfach in einer Erzählung als konfigurierte, bestimmbare Entitäten vorfinden. Vielmehr sind sie ihrer narrativen Darstellung immer schon voraus. Sie entziehen sich dieser Darstellung, obgleich sie paradoxerweise hierin zuallererst als Sich-Entzogenes in Form von Geschehnissen fassbar werden. Jeder Erzählprozess unterliegt selbst wiederum einer Ereignishaftigkeit, die erst nachträglich – ggf. in einem weiteren Erzählprozess – greifbar wird. Das (Erzähl-)Ereignis schließlich stellt ein nicht-erzählbares, aber konstitutives Merkmal des Erzählens selbst dar. Zur genaueren Begriffsunterscheidung zwischen Ereignis und Geschehnis sowie zum Verhältnis zwischen Erzählen und Ereignis vgl. Kapitel VI. 44 Vgl. GENETTE: „Diskurs der Erzählung“, S. 15.

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ein spezifischer, eben narrativer „Repräsentationsmodus“, der sich durch „Verknüpfungen von Handlungen und Ereignissen“45 auszeichnet. Neuere, sich mehr oder weniger langsam von einer strukturalistischen Tradition trennende, postklassische Erzähltheorien beziehen sich zumeist auf entweder die erste oder die zweite Minimalbestimmung, um ihre jeweilige Ausrichtung zu schärfen und ihre Terminologie in die eine oder andere Richtung hin auszuweiten. Dabei werden begriffliche Implikationen betont, die von der klassischen Erzähltheorie in Bezug auf beide Minimaldefinitionen unbeachtet blieben. Im Folgenden möchte ich drei postklassische Positionen skizzieren, die für mein Anliegen von Bedeutung sind. Kognitionswissenschaftliche Narratologie Einen der wohl prominentesten postklassischen erzähltheoretischen Ansätze liefert die kognitionswissenschaftlich orientierte Erzählforschung. Hier stößt man vornehmlich auf die zweite Minimalbestimmung (‚Erzählen ist die Repräsentation von Ereignissen‘), welche im Kontext dieser theoretischen Ausrichtung vor allem dazu dienlich ist, die Unabhängigkeit des Narrativen von spezifischen Medien oder Genres zu verdeutlichen. Auch wenn eine ‚Repräsentation von Ereignissen‘ in jedem Medium und in jeder Gattung eine jeweils eigene Qualität erhält, so trifft jene Bestimmung des Narrativen sowohl auf einen Roman als auch auf ein Drama, einen Film, einen Comic, einen Spruchband oder einen Nachrichtenbeitrag zu. 46 Die Betonung einer genuinen Transmedialität des Erzählens leistet vor allem der kognitionswissenschaftlichen These Vorschub, das Narrative sei kein im Text zu verortendes „self-sufficient produc[t]“,47 sondern eine kulturell antrainierte, kognitive Leistung des Menschen, ein erlerntes kognitives Schema, das im Zusammenspiel mit einer im jeweiligen Erzählmedium angelegten, beziehungsweise darin erkennbaren narrativen Struktur akti-

 45 GENETTE: „Neuer Diskurs der Erzählung“, S. 201. 46 Als Schirmherr transmedial ausgerichteter Erzähltheorien wird immer wieder Roland Barthes herangezogen: „Träger der Erzählung kann die gegliederte, mündliche oder geschriebene Sprache sein, das stehende oder bewegte Bild, die Geste oder das geordnete Zusammenspiel all dieser Substanzen; man findet sie im Mythos in der Legende, der Fabel, dem Märchen, der Novelle, dem Epos, der Geschichte, der Tragödie, dem Drama, der Komödie, der Pantomime, dem gemalten Bild [...], der Glasmalerei, dem Film, den Comics, im Lokalteil der Zeitungen und im Gespräch [...].“ BARTHES: Das semiologische Abenteuer, S. 102. 47 JAHN: „Cognitive Narratology“, S. 67.

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viert werde.48 Anstatt das Narrative primär im schriftsprachlichen Text zu situieren, wird hier der kognitive Apparat des Rezipienten zum signifikanten Mitspieler im Erzählvorgang erklärt. Für mein Anliegen erweist sich diese erzähltheoretische Perspektive zunächst insofern als fruchtbar, als hier erstens eine transmediale und vor allem rezeptionsorientierte Ausweitung eines Verständnisses von Narration vorgenommen und zweitens dem Prozess des Erzählens vergleichsweise mehr Aufmerksamkeit verliehen wird. Dennoch werden in dieser narratologischen Ausrichtung Annahmen vorausgesetzt, die letztlich die veranschlagte rezeptionsorientierte Perspektive zu konterkarieren drohen. Denn obgleich in der kognitionswissenschaftlichen Erzähltheorie die Entstehung eines narrativen Diskurses als Rezeptionsvorgang konzipiert wird – der narrative Diskurs sei hiernach „to be reconstructed in an ongoing and revisable readerly process“49 –, schwingt in dieser narratologischen Ausrichtung nach wie vor die Vorstellung einer gewissen Abgeschlossenheit des narrativen Diskurses mit. Diese zeigt sich in der hier favorisierten Minimaldefinition ‚Erzählen ist die Repräsentation von Ereignissen‘ beziehungsweise die ‚Darstellung von Geschehnissen‘. Als abgeschlossen erscheint jene Darstellung dabei insofern, als sie vor allem im Sinne eines Abbildverhältnisses verstanden wird, bei dem sich ein ‚unvermitteltes Leben‘ und eine qua Narration vermittelte Darstellung des Lebens diametral entgegen stehen. Wie Marie-Laure Ryan als kognitionswissenschaftlich ausgerichtete Erzähltheoretikerin argumentiert: Erzählungen „are not unmediated life but an image of life“.50 Es verwundert daher nicht, dass vornehmlich solche Medien und Genres untersucht werden, die eine gewisse strukturelle Abgeschlossenheit aufweisen und in denen die Erzählung in Form eines im jeweiligen Erzählmedium eingebetteten quasi-Produktes vorliegt wie zum Beispiel im Film, im Romantext, im Comic, im Bild oder im Drama. Eine Ausnahme stellen die von Ryan selbst vorgenommenen Untersuchungen digitaler Erzählformen dar. Bezeichnenderweise liegt Ryans Augenmerk jedoch – wie im nächsten Abschnitt dieser Studie deutlich wird – stark auf einem kompositorischen top-down ErzählDesign, welches als programmierte Werkeinheit eine überschaubare und planbare bottom-up Interaktion seitens der Benutzer gewährleisten soll.

 48 Zur kognitionswissenschaftlichen Narratologie vgl. u.a. HERMANN: Story Logic Problems and Possibilities of Narrative; FLUDERNIK: Towards a ‚Natural‘ Narratology; SCHNEIDER: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenkonzeption am Beispiel des viktorianischen Romans; ZERWECK: „Der cognitive turn in der Erzähltheorie“. 49 JAHN: „Cognitive Narratology“, S. 67. 50 RYAN: Avatars of Story, S. xxiii.

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Als problematisch gelten folglich solche Erzählformen, die sich nicht eindeutig als strukturell abgrenzbare Werke identifizieren lassen wie zum Beispiel das Rollenspiel oder die Theaterimprovisation: „Whether one agrees with this or not, art forms like role-playing games, theatrical improv, or ‚happenings‘ would all appear to be as unmediated as life itself and therefore not examples of narration until rendered in retrospect“,51 wie es in der eng an kognitionswissenschaftlichen Ansätzen ausgerichteten Routledge Encyclopedia of Narrative Theory heißt. Nicht selten herrscht eine Unsicherheit darüber, ob derartige Spiel- und Theaterformen – das heißt Theaterformen, die den Gegenstand der vorliegenden Studie bilden – überhaupt als narrativ eingestuft werden können, da sie eher dem vermeintlich narrationsfreien ‚unvermittelten Leben‘ und nicht dessen narrativer Darstellung zuzurechnen seien. Trotz poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Bemühungen in den Humanwissenschaften scheint sich ein Großteil der Vertreter postklassischer narratologischer Ansätze damit schwer zu tun, das Narrative jenseits eines auf „stabile[n] textuelle[n] Strukturen“ 52 basierenden Produktes oder ‚narrativen Werkes‘ zu denken. Dies zeigt sich in der kognitionswissenschaftlich ausgerichteten Erzählforschung vor allem dort, wo sich die Untersuchungen anderer, nicht schriftsprachlicher Erzählmedien und -genres terminologisch und methodologisch nach wie vor – und oftmals entgegen anfänglicher Absicht – an der klassischen Erzähltheorie orientieren53 oder wo eine Bestimmung von Narrativität am ‚narrativen Idealtypus‘ des schriftsprachlichen und auf Geschlossenheit angelegten Erzählens hergeleitet wird.54 Bemühungen, diesem Umstand entgegenzuwir-

 51 ABBOTT: „Narration“, S. 341. 52 Sandra Heinen verweist auf die Schwierigkeit, erzähltheoretische und poststrukturalistische Prämissen zusammen zu denken: „Die poststrukturalistische Theorie einer permanenten Aufschiebung von Bedeutung und eines dynamischen, sämtliche Erfahrungen umspannenden Textgewebes scheint der Narratologie, die stabile textuelle Strukturen als Ausgangspunkt ihrer Bedeutungsbestimmungen wählt, diametral entgegenzustehen.“ HEINEN: „Postmoderne und poststrukturalistische Narratologie“, S. 246. 53 Dies ist insofern überraschend, da genau ein solcher, dem jeweiligen Medium entsprechender Perspektivenwechsel von transmedialen Ansätzen immer wieder eingefordert wird. 54 So orientiert sich zum Beispiel Werner Wolf, der fruchtbare und grundlegende Impulse für eine intermediale Erzählforschung gegeben hat, bei der Bestimmung dessen, was vom kognitiven Apparat als narrativ erachtet wird, an den narrativen Qualitäten des schriftlichen Märchens als „Prototyp“ des Erzählens. WOLF: „Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik“, S. 35. Ein Problem hierbei liegt

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ken und eine alternative Erzähltheorie jenseits des klassischen Paradigmas geltend zu machen, wie zum Beispiel Andrew Gibson in Towards a Postmodern Theory of Narrative oder Mark Currie in Postmodern Narrative Theory, sind im Kontext neuester, vornehmlich kognitionswissenschaftlich-narratologischer Bestrebungen bislang weitestgehend unbeachtet geblieben. Wenn Curries Untersuchungen in Ansgar und Vera Nünnings Aufruf zur postklassischen Erzähltheorie von 2004 als bloße Zusammenfassung zeitgenössischer Literatur- und Kulturtheorien entwertet werden, 55 hat dies sicherlich nicht zuletzt seinen Grund in dem Umstand, dass die von Currie beschriebenen Tendenzen postmoderner Erzähltheorie hin in Richtung „diversification, deconstruction and politicisation“56 letztlich die Prämissen der narratologischen Disziplin in Frage stellen. Wie Sandra Heinen es formuliert hat: „Wenn der Poststrukturalismus also die Möglichkeit einer distanzierten, objektiven Betrachtung der Strukturen von Texten zum Zwecke der Analyse und die Existenz von allgemeingültigen Regeln zur Sinnkonstitution negiert, entzieht er der Narratologie gleichsam ihr Fundament.“57 Eine postmoderne Erzähltheorie, die, wie Currie weiter ausführt, vornehmlich in Form von Metafiktionen und theoretischen Erzählungen operiert, droht letztlich den narratologischen Gegenstand unkenntlich und die Berechtigung einer Erzähltheorie ‚als solche‘ obsolet zu machen. Wozu eine Erzähltheorie, beziehungsweise was kann eine Erzähltheorie noch, wenn die Erzählung nicht klar erkennbar ist und sich die Theorie letztlich selbst im Erzählen erschöpft? Vor diesem Hintergrund scheint es, als vermöge die Kognitionswissenschaft als vergleichsweise ‚harte Wissenschaft‘ einen zuverlässigeren Begleiter für eine erzähltheoretische Grundlagenforschung darzustellen und dabei gleichzeitig der Erzähltheorie eine Verortung und neue Relevanz im Kontext gegenwärtiger Theorieströmungen zu ermöglichen.

 u.a. darin, dass medienspezifische Bedingungen des Erzählens, die an die jeweiligen materiellen Qualitäten eines Erzählmediums gebunden sind, wie z.B. technische Gegebenheiten, Visualität, etc., in Wolfs Ansatz nicht hinreichend beachtet werden können. Wolfs Ansatz dahingehend weitergedacht haben z.B. SCHEUERMANN: Erzählstrukturen in der zeitgenössischen Kunst und RAJEWSKY: „Von Erzählern, die (nichts) vermitteln“. 55 Vgl. NÜNNING und NÜNNING: „Von der strukturalistischen Narratologie zur ‚postklassischen‘ Erzähltheorie“, S. 15f. 56 CURRIE: Postmodern Narrative Theorie, S. 6. 57 HEINEN: „Postmoderne und poststrukturalistische Narratologie“, S. 248.

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Theorien zum Erzählen in digitalen Umgebungen Ein für mein Anliegen wichtiges postklassisch-narratologisches Untersuchungsfeld umfasst die Frage nach den Spezifika digitaler Erzählformen. Die besonders in Hinblick auf eine mögliche Narrativität von Videospielen zwischen Narratologen und Ludologen (Spieletheoretikern) kontrovers geführte Debatte58 entzündet sich dabei an einem ähnlich prekären Punkt wie die Frage nach der Narrativität von Rollenspielen und Improvisationstheaterformen: Zur Debatte steht, ob digitale Umgebungen und insbesondere Videospiele überhaupt als narrativ eingestuft werden können, da „die Handlung [...] in der traditionellen Schriftform in der Vergangenheit stattfindet oder stattfand, die Handlung im Spiel dagegen in der Gegenwart erfolgt.“59 Ich möchte im Folgenden nicht näher auf die Frage nach dem Verhältnis von Erzählen und Spielen eingehen. Ich behandele diese Frage – allerdings weniger in Bezug auf digitale Umgebungen – ausführlich in Kapitel III. An dieser Stelle interessiert mich vielmehr, auf welche begrifflichen Implikationen in dieser Kontroverse zurückgegriffen wird. Auffallend ist die Dominanz eines Erzählbegriffs im Sinne der zweiten Minimalbestimmung (‚Erzählen ist die Darstellung von Geschehnissen‘), insofern die Geschehnisse beziehungsweise die Handlungen einer Erzählung als Entitäten verstanden werden, die von der Gegenwart des Erzählaktes abgekoppelt sind. Zudem wird das Erzählen häufig nicht transmedial oder transgenerisch gefasst, sondern die Narrativität digitaler Umgebungen wird vornehmlich an den medialen und generischen Prämissen des schriftsprachlichen epischen Textes gemessen. Für den Videospiel-Theoretiker Gonzalo Frasca zum Beispiel erweist sich der Erzählbegriff in Bezug auf Videospiele als unzureichend. Erzählen ist für Frasca an Linearität, singuläre Autorschaft und an Repräsentation gebunden, während er dem Videospiel Qualitäten wie Gegenwärtigkeit, Interaktivität und Potentialität attestiert. Zur Markierung dieser Differenz zieht Frasca den Begriff der Simulation heran: Videospiele seien Simulationen, Erzählungen hingegen Repräsentationen von Wirklichkeit.60 Um die (medialen) Besonderheiten digitaler Umgebungen und ihrer möglichen Erzählformen sowohl von narratologischer wie von ludologischer Seite aus näher zu beschreiben, wird als alternative Vergleichsgröße zum schriftsprachli-

 58 Für eine ausführliche Zusammenfassung dieser Kontroverse vgl. GÜNZEL: „Raum(bild)handlung im Computerspiel“, S. 489-509. 59 Ebd., S. 498. Stephan Günzel rekurriert hier auf die Erläuterungen des Spieletheoretikers Jesper Juul zur Differenz zwischen literarischen Erzählungen und Computerspielen. 60 Vgl. FRASCA: „Simulation versus Narrative“, v.a. S. 227.

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chen Text häufig das Theater herangezogen. Obgleich dabei mit unterschiedlichsten Theaterbegriffen operiert wird, erscheint das Theater als ein ‚wiederentdecktes‘ Medium, das die interaktiven Kommunikationsbedingungen des Computers am ehesten zu spiegeln vermag.61 In Hinblick auf die Frage nach einer Narrativität von digitalen Umgebungen wird das Theater dabei mal als negative, mal als positive Bezugsgröße relevant. So rekurriert zum Beispiel Frasca auf die interaktiven Theaterexperimente Augusto Boals und sieht darin das nichtdigitale Äquivalent zum Videospiel. Boals Forumtheater sei Simulation statt Repräsentation, insofern es jegliche Form narrativer Geschlossenheit negiere.62 Von Frasca ausgeblendet bleibt dabei die Möglichkeit eines alternativen Verständnisses von Narration, denn wie in Kapitel I dieser Studie verdeutlicht, werden in Boals Forumtheater sehr wohl Geschichten generiert.63 Anders argumentiert zunächst die bereits erwähnte, kognitionswissenschaftlich ausgerichtete Erzähltheoretikerin Marie-Laure Ryan, die umfassende Untersuchungen zum Erzählen in digitalen Umgebungen vorgelegt hat.64 Im Gegen-

 61 Hans-Thies Lehmann setzte Ende der neunziger Jahre den kollektiven Erfahrungen im Internet das Theater als einen Ort für Kommunikationsprozesse entgegen, die „das Subjekt im Feld verantworteter und verantwortlicher Stellungnahmen situieren.“ LEHMANN: Postdramatisches Theater, S. 404f. Die von Lehmann Ende der neunziger Jahre aufgemachte Differenz wäre in Zeiten des Web 2.0 insofern zu entschärfen, als das Internet durch neue Möglichkeiten des social networking auch neue Möglichkeiten zur Kommunikation und zur kollektiven Erfahrung bereit stellt, die neue Formen sozialer Verantwortung im positiven wie im negativen Sinne (von Solidaritätsbekundungen, Polit-flashmob-Aufrufen bis hin zum facebook-mobbing) mit sich bringen. Vgl. REICHERT: Amateure im Netz, S. 13ff. 62 Vgl. FRASCA: „Simulation versus Narrative“, S. 228f. 63 Vgl. Kapitel I/2.1, Abschnitt „Narration und Interaktion: Erzählen im interaktiven Theater der 1960er und 1970er Jahre“. 64 Ryans Untersuchungen umfassen eine ganze Palette digitaler Erzählformen: netzartig angelegte, nichtlineare Hypertexte; frühe web-based narratives im HTML-Format; Internet-Chatrooms, in denen fiktionale Rollenspiele im Textformat durchgeführt werden; Flash und Director-Erzählformen, in denen mehrere Erzählmodi wie Text, Bild und Sound digital miteinander vereint werden und die häufig für biografische Selbstinszenierungen genutzt werden; so genannte interactive drama, in denen die Benutzerin über die Tastatur als Figur Eingang in eine Handlung auf dem Computerbildschirm findet sowie die Weiterentwicklung des interactive drama hin zu einer den Körper des Benutzers umschließenden virtuellen Realität. Vgl. RYAN: Avatars of

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satz zu Frasca besteht für Ryan keinerlei Zweifel über eine Narrativität nicht nur von Videospielen sondern von digitalen Umgebungen allgemein. Im Kontext einer transmedialen Erzähltheorie besteht Ryans Anliegen darin, medienspezifische Qualitäten computergestützter Erzählformen zu konturieren. 65 Die Möglichkeiten, welche realitätssimulierende digitale Umgebungen zur interaktiven Partizipation bereitstellen, gelten für Ryan daher nicht, wie für Frasca, als Indiz einer Unmöglichkeit von Narrativität, sondern stellen zunächst im Gegenteil eine besondere Qualität digitalen Erzählens dar. Die Gemeinsamkeit digital-elektronischer Erzählformen, so Ryans These, läge in deren partizipatorischem und emergentem Erzählmodus: „In the participatory mode the plot is not completely pre-scripted. The recipient becomes an active character in the story, and through her agency she contributes to the production of the plot.“66 Kennzeichnend für digitales Erzählen sei des Weiteren die Gleichzeitigkeit von Immersion und Interaktion. 67 Unter Immersion versteht Ryan das körperlich involvierende Absorbiertwerden der Benutzerin in eine fiktionale Welt. 68 Interaktion ist für Ryan an die Bedingung des Auswählens und damit der aktiven Einflussnahme auf die Handlung gekoppelt.69 Bereits hier zieht Ryan eine direkte Verbindungslinie zum Theater als einem Vorläufer digitaler Erzählformen, wenn sie schreibt: „This mode has been practiced for quite a while in staged happenings, ‚impro‘ theatre, and scripted role-playing games [...] but it has flourished with the advent of interactive digital media.“70 Dreh- und Angelpunkt des zugleich immersiven und interaktiven Erzählmodus’ ist die physische Involviertheit der Benutzerin in die virtuelle Umgebung71 – ein Umstand, der Ryan dazu veranlasst, das Theater als direkte Vergleichsgröße heranzuziehen. In einem Schnelldurchlauf durch die

 Story, S. 126ff. Zum digitalen Erzählen vgl. auch MURRAY: Hamlet on the Holodeck; LANDOW: Hypertext 3.0. 65 „Digital narrative is only a failure if we judge it by the criteria of the literary canon, this is to say, by the criteria of another medium“. RYAN: „Narrative and Digitality“, S. 527. 66 RYAN: „Foundations of Transmedial Narratology“, S. 12. 67 Vgl. RYAN: Avatars of Story, S. 14. 68 Vgl. RYAN: Narrative as Virtual Reality, S. 11. 69 Vgl. RYAN: Avatars of Story, S. 99. Ryan verwendet die Begriffe „participatory“ und „interactive“ synonym. 70 RYAN: „Foundations of Transmedial Narratology“, S. 12. 71 „I argue that the marriage of immersion and interactivity requires the imagined or physical presence of the appreciator’s body in the virtual world.“ RYAN: Narrative as Virtual Reality, S. 19f.

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Theatergeschichte von der antiken Tragödie über mittelalterliche Mysterienspiele, der Comedia dell’Arte, dem Elisabethanischen Theater, Artauds Theater der Grausamkeit bis hin zu Happenings der 1960er Jahre spürt Ryan dem jeweiligen Verhältnis von Interaktion und Immersion, der Anwesenheit des Zuschauerkörpers in eine narrativ hervorgebrachte Realität nach und resümiert: Auch wenn das Theater viele immersiv-interaktive Erzählformen hervorgebracht hat, der Computer kann es besser. Der Grund für die Unzulänglichkeit des Theaters gegenüber dem Computer läge in einer nur schwer koordinierbaren Menge von Zuschauern im interaktiven Theater, die einen befriedigenden Plot unmöglich machten. Die konsequente Öffnung des fiktiven Bühnenraums für die Zuschauer „would result in a cacophony of actors and spectators talking to each other in all possible directions [..]. In this chaotic cross fire of addresses the spectators would be totally distracted from the plot.“72 Im Computer hingegen ließe sich diese vermeintliche Schwierigkeit lösen. Hier gelänge durch die Reduktion der Zuschauerzahl eine konsequente Verschmelzung von „four dramatic functions“,73 nämlich die des Autors, des Zuschauers, des Schauspielers und der Figur: „This ability to customize virtual worlds and artistic experiences to individual users is precisely the forte of electronic media.“74 Ryans Thesen überraschen insofern, als in ihnen eine andere, konservativere Perspektive auf das Narrative aufscheint als dies Ryans Überlegungen zu partizipatorischen und emergenten Erzählmodi in Bezug auf digitale Umgebungen zunächst nahe legen. Warum sollte ein Erzählprozess zwischen vielen Menschen – ob im Theater oder via Computer – von einer Geschichte ablenken? Wenn die Zuschauer einerseits den Plot selbst hervorbringen, warum sollten sie dann von ihm „distracted“ sein? Die Performance 2 ½ Millionen von Uwe Mengel liefert ein überzeugendes Gegenbeispiel: Umso mehr Menschen daran beteiligt sind, desto komplexer und immersiv-wirkungsvoller wird die Geschichte, die sich durch den kollektiven Erzählprozess zuallererst entfaltet. Ryan verlässt ihre rezeptionsästhetische Position und macht stattdessen ein Produkt-orientiertes Verständnis vom Narrativen geltend: Der Vorzug digitaler Medien gegenüber dem Theater – so Ryans Vorschlag – liegt in einer technischen Programmierbarkeit, welche die Einbettung der Benutzer in ein in seiner Dramaturgie festgelegtes Skript garantiert. Ein solches Skript hält zwar Lücken zur Interaktion bereit, es gewährleistet jedoch vor allem die Konsumption einer in ihm angelegten ‚guten Geschichte‘. Die Verkleinerung der Zuschauerzahl

 72 Ebd., S. 298. 73 Ebd., S. 317. 74 Ebd., S. 305.

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wird deshalb für erforderlich gehalten, weil dadurch das Auftreten unvorhergesehener Momente im Erzählprozess eindämmt wird. Wenn Ryan die Qualitäten des computergenerierten Erzählens zunächst sehr treffend beschreibt und wichtige, für mein Anliegen fruchtbare Parallelen zu aktuellen narrativen Theaterformen zieht (wie etwa die Betonung einer Gleichzeitigkeit von Interaktion und Immersion), verfolgt ihre Arbeit letztlich ein anderes Ziel. Da sie das Erzählen nicht – wie in der vorliegenden Monografie beabsichtigt – konsequent von der Erzählpraxis aus konzipiert, sondern letztlich – im Sinne eines „image of life“75 – von einer bereits fertig komponierten Erzählung aus versteht, geht es ihr folglich auch nicht um eine Untersuchung digital-interaktiver narrativer Prozesse oder um deren wirklichkeitskonstitutive Effekte. Vielmehr richtet Ryan ihre Aufmerksamkeit auf die produktionsästhetischen Konsequenzen, die sich für die Herstellung eines konsumentenfreundlichen narrativen Designs digitaler Umgebungen aus der Tatsache ergeben, dass letztere sich durch eine Interaktion auszeichnet, die sich selbst nicht programmieren lässt. Die ideale Form eines solchen Designs beschreibt Ryan als ein relativ strenges top-down Prinzip, welches jedoch den Anschein eines hohen bottom-up Prinzips liefert: „The ideal topdown design should disguise itself as an emergent story, giving users both confidence that their efforts will be rewarded by a coherent narrative and the feeling of acting of their own free will, rather than being the puppets of the designer.“76 Damit wird der Erzählung im Sinne eines zuvor festgelegten narrativen Designs ein höherer Stellenwert eingeräumt als dem partizipativ-emergenten Erzählakt. Eine im Erzählakt selbst emergierende Erzählung – so das implizite Postulat Ryans – soll möglichst identisch sein mit der zuvor komponierten Erzählung. Ryan verschenkt sich das Potential ihres zunächst rezeptionsästhetischen Ansatzes, einen alternativen Zugang zum Erzählen zu etablieren und damit die zunächst von ihr selbst formulierten Qualitäten eines digitalen Erzählens präziser beschreibbar zu machen: das heißt, das Erzählen in digitalen Umgebungen nicht primär von einer ‚im Medium‘ angelegten und programmierten narrativen Struktur, sondern vom emergenten Interaktionsprozess zwischen Medium und Benutzerin aus zu denken und damit Qualitäten des Erzählens stark zu machen, die sich jeglicher vorgängiger narrativer Komposition entziehen. Wenn Ryan zunächst davon ausgeht, dass in digitalen Umgebungen Geschichten durch interaktive Partizipation hervorgebracht werden, stellt dies – konsequent weiterge-

 75 RYAN: Avatars of Story, S. xxiii. „[R]ather, there is life on one side, and its various modes of imitation on the other, including the diegetic narration of novels, the mimetic enactment of drama, and the interactive simulation of games.“ Ebd., S. 191. 76 Ebd., S. 99f.

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dacht – Ryans Prämisse vom Narrativen als „image of life“ insofern in Frage, als das interaktive Erzählen in digitalen Umgebungen als ein kollektives Handeln und damit selbst als Teil des Lebens virulent wird. Interaktives Erzählen, wie es in digitalen Umgebungen praktiziert wird, lässt sich nicht wirklich von der ‚Wirklichkeit‘ trennen. Hieran wird schließlich deutlich, dass sich keine Erzählform vom Leben abkoppeln lässt: Unter einer performativitätstheoretischen Perspektive erweisen sich auch die Rezeptionen eines Romans oder eines Spielfilms als kulturelle Praktiken, bei denen rezipierend mit-erzählt wird. Digitale ebenso wie neue theatrale Erzählformen verweisen auf diesen Umstand. Ähnlich produktorientiert argumentiert die Computertheoretikerin und Interface-Designerin Brenda Laurel in ihrer wegweisenden Studie Computers as Theatre. Das Theater erscheint hierin weniger als überwundener Vorläufer des Computers, denn als modellhaftes Supermedium, das Laurel zur Entwicklung einer Poetik für das Design von Computer-Benutzeroberflächen dienlich ist. Unter „theatre“ versteht Laurel zunächst das Guckkasten-Illusionstheater, dessen grundsätzliche Technik – ähnlich wie im Interfacedesign – darin besteht, die Maschinerie zur Herstellung von Illusion zum Verschwinden zu bringen.77 Im Gegensatz jedoch zum Theater, so Laurel, befinden sich die Zuschauer im Interface nicht vor, sondern auf der ‚Bühne‘ des Computers. Nach einer These des Theaterwissenschaftlers Hans-Christian von Herrmann zu Laurels Überlegungen realisiere der Computer damit jene seit der Theateravantgarde um 1900 geforderte Auflösung der vierten Wand.78 Im Modell von Laurel gibt es jedoch einen signifikanten Unterschied zur Theateravantgarde. Anders als in der avantgardistischen Aufführungspraxis bringt die Aufhebung der Trennung von ‚Bühnenund Zuschauerraum‘ auf der Computerbenutzeroberfläche keine Abkehr von klassischen Erzählstrukturen mit sich. Im Gegenteil: Um die interaktive Tätigkeit im Umgang mit dem Computer in gelenkten Bahnen zu halten, zieht Laurel klassische, auf narrative Geschlossenheit angelegte Spannungsdramaturgien heran, nämlich Aristoteles‘ Poetik sowie deren Rezeption und Weiterentwicklung im 18. Jahrhundert durch Gustav Freytag.79 Ebenso wenig wie Ryan geht es Laurel darum, die Möglichkeiten zur Interaktion selbst als Plot-generierendes Handeln fruchtbar zu machen. Vielmehr soll die Benutzerin durch ein nach den Regeln einer guten Geschichte strukturiertes Set und möglichst ohne Abweichungen vom ursprünglichen Plan durch das Interface geleitet werden. Das (Mit-)Handeln des Benutzers auf der Bühne des Interface soll dabei dem Verfol-

 77 Vgl. LAUREL: Computers as Theatre, S. 16f. 78 Vgl. HERRMANN: Das Archiv der Bühne, S. 22. 79 Vgl. LAUREL: Computers as Theatre, S. 35ff und S. 82ff.

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gen einer Geschichte im Illusionstheater gleichen – eine Geschichte, die zuvor von einem ‚Regisseur‘, dem Interface Designer, unveränderbar in Szene gesetzt und programmiert wurde. Die Forderung nach einer Dominanz des top-down Prinzips hat letztlich kommerzielle Gründe. Lediglich ein durch die Anwendung klassischer Erzählstrukturen hergestelltes „pleasing dramatic whole“80 garantiert eine vermarktbare Benutzerfreundlichkeit. Neben dem dramatischen Illusionstheater jedoch findet in Laurels Untersuchungen noch eine weitere Theaterform Erwähnung. Erfüllen Spannungsdramaturgie und Illusionsbühne für Laurel die Funktion einer Interaktionsregulierung, ist an anderer Stelle von zeitgenössischen, „interactive theatre plays“ die Rede, deren Auftreten Laurel auf die Entwicklung von Computerspieltechnologie zurückführt: „It is interesting that the development of this theatrical genre has been concurrent with the blossoming of computer games as a popular form of entertainment, and I speculate that computer games have in some ways served as a model for it.“81 Bezüglich eines medialen Vergleichs zwischen Theater und Computer wird hier ein weiterer Schritt vollzogen. Nicht das Theater dient als Modell für den Computer, sondern umgekehrt fungiert laut Laurel der Computer als Vorreiter für neue Theaterformen. Laurels Andeutung einer historisch bedingten intermedialen Verflechtung zwischen Computerspielen und interaktivnarrativen Theaterformen liefert dabei eine indirekte Begründung für den Umstand, dass gerade in vielen in dieser Studie untersuchten Theateraufführungen die reflexive Bezugnahme auf klassische Erzählstrukturen so prominent ist. Denn wenn das Design für die Computernutzung zunächst narrative Prinzipien des ‚alten‘ Theaters übernimmt (Aristoteles, Freytag) und umgekehrt schließlich das ‚neue‘ Theater auf Computerspiele inklusive deren impliziter narrativer Strukturen rekurriert, so scheint es, als seien über eine Art mediale Umleitung Spuren einer aristotelischen Poetik sowie von sämtlichen, darauf aufbauenden, abendländischen Spannungsdramaturgien in einer sich von letzteren zunächst frei gesagten experimentellen Theaterpraxis wieder angekommen – und zwar nicht primär als Modell für ein neues dramatisches Illusionstheater, sondern als kritisch zu verhandelndes, kulturell tief verankertes, abendländisches Erzählmuster, das in einer digitalisierten (Unterhaltungs-)Kultur neue Formen angenommen hat. Bemerkenswert an der erzähltheoretischen Diskussion um eine Interrelation zwischen Theater und Computer erscheint mir der Umstand, dass die Entwicklung neuer interaktiver Erzählformate, die sich in beiden ‚Medien‘ prominent

 80 Ebd., S. 135. 81 Ebd., S. 53.

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niederschlägt, dazu Anlass gibt, ein in der Erzähltheorie nach wie vor vorherrschendes Produktparadigma zu hinterfragen. Viele sowohl im Theater wie in digitalen Umgebungen in den Vordergrund rückende Merkmale – wie etwa die körperliche Involviertheit oder eine partizipative Gegenwärtigkeit des Erzählaktes, durch den eine Erzählung zuallererst (erneut) hervorgebracht wird – provozieren hingegen die Veranschlagung eines Prozessparadigmas, welches zum Beispiel bei Marie-Laure Ryan angelegt, jedoch nicht konsequent durchgehalten wird. Die narrativen Praktiken des Gegenwartstheaters erweisen sich nicht nur als kritisch-künstlerische Reflexionsorte neuer digitaler Erzählformen oder als deren intermediale Korrelate, sondern sie machen auf einen Bereich des Erzählens aufmerksam, der – vermutlich weil dieser kein „image of life“ darstellt – als Domäne des Narrativen häufig übersehen wird: unsere alltägliche Kommunikation. In postklassischen Erzähltheorien, die sich mit Erzählformen des Alltags befassen, lassen sich entsprechende alternative Ansätze finden. Kulturanthropologische Erzählforschung Eine weitere im Kontext dieser Studie virulente postklassische Ausweitung des Erzählbegriffs liefert eine an kulturanthropologischen Fragestellungen interessierte Erzählforschung, die sich vornehmlich mit mündlichen Erzählpraktiken im Alltag beschäftigt.82 Im Gegensatz zur kognitionswissenschaftlichen Erzähltheorie bleibt das Kriterium zur Bestimmung des Narrativen hier zumeist an die Anwesenheit einer Erzählerinstanz gebunden. Den impliziten Ausgangspunkt bildet die erste Minimalbestimmung des Narrativen: „[the] act of storytelling addressed by a narrator to a narratee“.83 Im Gegensatz zur klassischen Erzähltheorie bezieht sich jene Bestimmung jedoch nicht auf eine Erzählsituation zwischen einer fiktiven Erzählerin und einer fiktiven Leserin, sondern auf eine faktisch-aktuelle Kommunikationssituation des Erzählens samt allen Beteiligten. Trotz der vornehmlichen Ausrichtung auf die Analyse mündlicher Erzählformen stellen jene Ansätze eine Dimension in den Vordergrund, die für meine Untersuchung von Erzählaufführungen von grundlegender Bedeutung ist. Betont wird eine situative Wirkung und kulturelle Wirkungsmacht der Vortrags- und

 82 Vgl. z.B. LANGELLIER und PETERSON: Storytelling in Daily Life; NASH (Hrsg.): Narrative in Culture; BROCKMEIER und CARBAUGH (Hrsg.): Narrative and Identity. Zum oralen Geschichtenerzählen aus ethnologischer Perspektive vgl. BAUMAN: Story, Performance, and Event; HAUSER: Mit irdischem Schaudern und göttlicher Fügung. 83 RYAN: Avatars of Story, S. 5. Marie-Laure Ryan nimmt auf diese erzähltheoretische Richtung in Abgrenzung Bezug.

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Rezeptionsebene des Erzählvorgangs. Die Analyse einer narrativen Aussage wird damit an den situativen Kontext ihres Aktes gebunden. Kristin M. Langellier und Eric E. Petersen veranschlagen dabei explizit eine performativitätstheoretische Perspektive auf das mündliche Erzählen und gehen damit maßgeblich über gängige narratologische Auffassungen von Erzählprozessen hinaus. Anstatt den Erzählprozess, wie in der klassischen Narratologie, von einem fiktiven Erzähler aus zu denken, dessen Erzählakt lediglich auf der Ebene des schriftsprachlichen narrativen Diskurses erkennbar wird,84 oder anstatt den Erzählprozess, wie in der kognitionswissenschaftlichen Erzähltheorie, in den kognitiven Apparat zu verlagern, der uns letztlich unzugänglich bleibt, wird der Erzählprozess in den kulturanthropologischen Ansätzen entsprechend den Wahrnehmungsbedingungen einer mündlichen Erzählsituation gefasst: nämlich als partizipatorischer Erzählakt, der als kommunikativer Vorgang das Erzählte auf eine situativ-spezifische Weise zuallererst hervorbringt und dabei eine ebenso spezifische, die jeweilige Situation prägende Wirkungsmacht entfaltet. Betont wird die Performativität des oralen Erzählaktes, das heißt die kommunikative (Re-)Präsentation der Geschehnisse als performativer Prozess, bei dem der Erzählgegenstand und der Präsentationsakt des Erzählens konstitutiv verschmelzen. Das Erzählen, so die zentrale Begriffserweiterung jener kulturanthropologischen Erzählforschung, „combines the performative ‚doing‘ of storytelling with what is ‚done‘ in the performance of story“.85

 84 Genette zufolge ist sowohl die Geschichte als auch der Erzählakt der Erzählung sekundär: „Es ist also ganz allein die Erzählung, die uns hier zum einen über die Ereignisse informiert, von denen sie berichtet, und zum anderen über die Tätigkeit, der sie sich verdanken soll: anders gesagt, unsere Kenntnis von diesen beiden Dingen ist immer nur indirekt, zwangsläufig vermittelt durch den Diskurs der Erzählung“. GENETTE: „Diskurs der Erzählung“, S. 17. 85 LANGELLIER und PETERSON: Storytelling in Daily Life, S. 2. Hier lässt sich eine interessante Beziehung zu der zu Beginn des Unterkapitels erläuterten etymologischen Entwicklung des deutschen Verbs ‚erzählen‘ herstellen. Ähnlich der transitiven mittelhochdeutschen Bestimmung von erzellen, in der das Erzählen, das hier von einem mündlichen Erzählvortrag aus gedacht wird, nicht ohne einen in actu aufgezählten Gegenstand auskommt, so scheinen die von einer kulturanthropologisch ausgerichteten Erzählforschung untersuchten oralen Erzählpraktiken Anlass dafür zu geben, das Erzählen als einen Akt zu denken, der nicht von seinem Gegenstand zu trennen ist, das heißt, in dem eine Geschichte erzählend geschieht – im Mittelhochdeutschen bedeutet ‚Geschichte‘ bezeichnenderweise auch „geschiht“ (Etymologisches Wörterbuch des Deutschen A-L, Eintrag: „Geschichte“, S. 436.). Das Geschichtenerzählen

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An letztere, im erzähltheoretischen Kontext bislang unterrepräsentierte Ansätze gilt es anzuknüpfen. Hierin angelegte Überlegungen möchte ich im Folgenden in Hinblick auf jene narrativen Qualitäten herausarbeiten, die in den performativen Künsten der Nullerjahre virulent werden.

3. P ERSPEKTIVENWECHSEL : D AS N ARRATIVE ALS P ROZESS

UND

P ERFORMANZ

Zurück zur Mordgeschichte Die beschriebenen Minimaldefinitionen des Narrativen und deren postklassisch-narratologische Ausweitungen treffen nur teilweise auf die narrativen Qualitäten jener Aufführungen zu, die in dieser Studie untersucht werden. Weder handelt es sich bei 2 ½ Millionen um ein rein sprachliches Erzählen, noch um eine abbildhafte, narrative Darstellung von gänzlich außerhalb der Aufführungen zu verortenden Ereignissen. Zugleich gibt es in beiden erläuterten Minimalbestimmungen definitorische Anteile, die auf 2 ½ Millionen durchaus zutreffen. In Mengels Performance erzählen Beteiligte anderen Beteiligten etwas. Der primäre

 erscheint hier als ein Erlebnis im Hier und Jetzt. Die Vollzugs- und Konstitutionsebene des Erzählens tritt in den Vordergrund und deutlich wird, dass das, wovon erzählt wird, zuallererst qua Narration geformt und zugänglich gemacht wird. Vor diesem Hintergrund scheint es, als habe die lateinische Bedeutung des intransitiv gebrauchten Verbs narrare als neuzeitliche, primär auf schriftsprachlicher Textualität beruhende, konnotative Erweiterung des mittelhochdeutschen transitiven erzellen paradoxerweise gerade aufgrund einer grammatikalischen Unabhängigkeit des Verbs von einem Objekt ein Denken gefördert, nach welchem Erzählakt und -gegenstand als voneinander getrennte Phänomene gefasst werden. Getrennt insofern, als hier die Vorstellung eines Abbildverhältnisses zwischen Gegenstand und dessen narrativer Darstellung vorzuherrschen scheint. Die narrative Darstellung wird hier vornehmlich als sekundär, als Nachgeahmtes im platonischen Sinne bewertet. Paradox erscheint dieser Umstand deshalb, weil die grammatikalische Objekt-Unabhängigkeit von ‚narrare‘ – also von ‚erzählen‘ im Sinne eines narrativen Kompositionsaktes – das Erzählen zunächst als eigenständigen poietischen Konfigurationsprozess erscheinen lässt, der seinen Gegenstand zuallererst hervorbringt. Die schriftliche bzw. bildliche Fixiertheit von Erzählungen jedoch, so meine Hypothese, scheint einer theoretischen Perspektive lange Zeit Vorschub geleistet zu haben, in welcher der Prozess des Zueinander-in-Beziehung-Setzens primär als ein bereits vollzogener und weniger als ein konstitutiver Rezeptionsprozess aufgefasst wird.

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Erzählmodus ist das mündliche Erzählen. In Bezug auf die Minimalbestimmung ‚jemand erzählt jemandem etwas‘ spielen 2 ½ Millionen jedoch weniger die sprachlichen Qualitäten oder das Merkmal der Besetzung einer Erzählerinstanz eine Rolle, als vielmehr der Aspekt kommunikativ-sozialer Generierung von Geschichte(n) in und durch den Prozess des gemeinsamen Erzählens. Des Weiteren thematisiert 2 ½ Millionen das Hervorbringen von Geschichten als einen Akt des konfigurierenden Zueinander-in-Beziehung-Setzens von Plot-Fragmenten. Anders jedoch als die Definition „narrative is the representation of one or more real of fictive events“86 zu suggerieren vermag, geht es hier gerade nicht um eine von einer Autorin bereits abgeschlossene narrative Komposition als fertige „representation“, sondern um den Kompositionsprozess selbst. Dieser ist nur mittels eines kollektiven Austauschs möglich, und obgleich man sich darin auf fiktive Ereignisse bezieht, wird hieran die live-Konstruktion dessen, worüber erzählt wird, offensichtlich. Die im kollektiven Erzählen entstehenden Erzählungen haben dabei eine direkte Wirkung auf die Beteiligten. Denn im Erzählen wird eine narrativ eingefärbte Wirklichkeit, eine diegetische Matrix geschaffen,87 die zugleich die soziale Handlungsmatrix aller Beteiligten bildet: In 2 ½ Millionen beginnt ein kollektiver Erzählakt zeitlich gesehen bereits vor den Aufführungen. In diesen wird fortgeführt, was der Regisseur Uwe Mengel bereits Wochen zuvor mit den beteiligten Schauspielern vollzogen hat. Im Probenprozess trifft der Regisseur die Darsteller immer nur einzeln und abwech-

 86 PRINCE: „narrative“, S. 58. 87 Mit dem Ausdruck ‚diegetische Matrix‘ bezeichne ich die durch einen narrativen Akt hervorgebrachte Geschichten-Welt bzw. -Wirklichkeit. Die Begriffe ‚diegetisch‘ bzw. ‚Diegese‘ verwende ich im Sinne Genettes, der diese Begriffe wiederum der Filmnarratologie von Etienne Souriau entlehnt. ‚Diegese‘ bezeichnet hiernach eine raumzeitliche Matrix, ein „Universum“, in dem die Geschichte spielt. Obgleich ‚Diegese‘ häufig – teilweise selbst von Genette – synonym mit ‚Geschichte‘ bzw. histoire verwendet wird, präzisiert Genette an anderer Stelle: „Die Diegese ist mithin nicht die Geschichte, sondern das Universum, in dem sie spielt“. GENETTE: „Neuer Diskurs der Erzählung“, S. 201. Genettes Adjektive ‚intradiegetisch‘, ‚extradiegetisch‘ oder ‚metadiegetisch‘, usw. beziehen sich entsprechend auf eine raumzeitliche Abgrenzung zwischen verschiedenen narrativen Universen. Vgl. ders.: „Diskurs der Erzählung“, S. 168f. Zu beachten ist außerdem, dass ‚Diegese‘ und ‚diegetisch‘ in der Narratologie in zweierlei Hinsicht verwendet wird: zum einen im Sinne der platonischen diegesis als Oppositionsbegriff zu mimesis und zum anderen im oben erläuterten, Genetteschen Sinn, auf den ich mich an dieser Stelle beziehe. Vgl. PRINCE: Dictionary of Narratology, S. 20.

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selnd nacheinander. Von Beginn der ersten Probe an bildet die fiktive Matrix von 2 ½ Millionen die Basis der Kommunikation zwischen Regisseur und dem jeweiligen Schauspieler. So wird eine gemeinsame diegetische Matrix Stück für Stück erzählend weiter erfunden. Die einzigen bereits vor der Probe von Mengel festgelegten Geschichten-Elemente sind die Anzahl der Figuren, ein noch holzschnittartiger Grundkonflikt zwischen ihnen sowie das Genre der Mordgeschichte. Eine Kommunikation zwischen Regisseur und Schauspieler jenseits dieser Matrix findet niemals statt. Die Schauspieler sehen sich nie untereinander, sondern hören lediglich durch Mengel voneinander, dessen Funktion als Weiter-Erzähler die Grundlage für die Entstehung eines fiktiven Figuren- und Plotgeflechts bildet. So entsteht mittels erzählerischer Vermittlung innerhalb eines Rollenspiels ein kollektives Wissen über eine extrem detaillierte Geschichten-Welt, deren Geschehnisse und Figuren sich stetig weiter entfalten. Die Schauspieler finden zu ihren äußerst komplexen Figuren-Biografien, indem sie diese in einer behaupteten, auf die reale Situation der Probe aufgestülpten zweiten Realität im narrativen Aushandeln mit dem Regisseur erfinden – eine Realität, aus der sie erst entlassen werden, sobald die Probe beendet ist, Regisseur und Schauspieler sich örtlich voneinander trennen.88 In den Aufführungen wird die räumliche Trennung der Figuren/Schauspieler voneinander durch die abgeteilten Kabinen beibehalten. Nur die Zuschauer bewegen sich von Kabine zu Kabine. Ähnlich wie der Regisseur im Probenprozess übernimmt nun das Publikum den Part des Weiter-Erzählers und wird damit automatisch Teil der diegetischen Matrix. Die Besucher transportieren das Gehörte von einer Kabine zur nächsten, um dort eine neue Figur, verkörpert durch einen anderen Schauspieler, mit Neuigkeiten aus der Nebenkabine zu konfrontieren, um ganze Monologe über ihre Vermutungen bezüglich des Tathergangs und dessen Motive loszuwerden oder um einen Kommentar des jeweiligen Schauspielers zu erbitten. Obgleich die Aufführungen auf den während der Proben generierten Geschichten aufbauen – über die fiktiven Vorkommnisse gilt es als Zuschauerin während der Aufführung etwas herauszufinden –, wird die diegetische Matrix durch das Publikum erzählend erweitert. Dabei lösen sich die klaren Positionen von Fragenden und Erzählenden spätestens dann auf, wenn die Zuschauer beginnen, eine wertende Position gegenüber den Figuren und Geschehnissen einzunehmen und sich folglich ein Rollenspiel entspinnt, in das sich nicht nur die Schauspieler perfekt einzufühlen scheinen:

 88 Informationen über den Probenprozess sind einem privaten Interview mit dem Regisseur entlehnt.

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• Heike:

„Wissen Sie, wie das ist, wenn die eigene Mutter oder der eigene Vater stirbt?“ • Zuschauer A: „Ja, ich weiß das.“ • Heike: „Wenn der eigene Vater sich das Leben nimmt?“ [...] • Zuschauer A: „Ich bitte Sie, Sie waren doch nur eifersüchtig. Es geht doch nur um Sie dabei. [...] Sie haben da einfach mit dem [Typen] rumgebumst.“ • Heike: „Wie reden Sie eigentlich mit mir?“ • Zuschauer A: „Ach, das hat mir aber ihre Freundin erzählt.“ • Heike: „Ich habe keine Freundin mehr.“ [...] • Zuschauer A: „Sie sind einfach ein mieser Charakter und haben die Person einfach um die Ecke gebracht, die überhaupt nichts mit ihnen zu tun hatte. Die Katharina hat einfach nur ihr Leben gelebt und hat vielleicht sogar ihren Vater geliebt.“ • Zuschauer B: „Bevor Sie die Heike verurteilen, sollten Sie ihr wenigstens mal einen Moment zuhören, also nicht nur reinkommen und sie beschimpfen.“ • Zuschauer A: „Ich beschimpfe sie nicht, ich stelle das nur realistisch klar, was hier passiert ist. Man muss doch jeden Mörder aburteilen. Es gibt nichts, womit man einen Mord entschuldigen kann. Nichts.“89 Das strikte Festhalten an der Matrix seitens der Darsteller, die den Zuschauern in Bezug auf ihre Figuren und den Tathergang nichts verheimlichen, fordert eine Stellungnahme seitens der Besucher heraus. Diese werden zu Richtern, Psychologen, Mediatoren oder Verteidigern einzelner Figuren und sehen sich oftmals dazu veranlasst, eigene Lebensgeschichten in die Konversation einzuflechten. In der allerersten Realisation dieses Projektes zum Beispiel, die in der Version einer Mordgeschichte mit rassistischem Hintergrund in der Bronx von New York City stattfand, gestand ein Zuschauer vor dem Schauspieler-Mörder unter mitfühlenden Verständnisbekundungen, selbst vor Jahren einen Mord begangen zu

 89 Dieses und folgende Zitate aus 2½ Millionen sind Tonaufnahmen von Aufführungen entnommen, die zu einem Hörspiel zusammengeschnitten wurden: MENGEL: Zweieinhalb Millionen.

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haben.90 Die Geschichte von 2 ½ Millionen entfaltet sich aus einer Verflechtung von mündlichen Berichten über fiktive Handlungen und Figuren, Zuschauerreaktionen, persönlichen Beurteilungen sowie autobiografischen Erzählungen seitens des Publikums. Dieser Geschichtenkonstruktionsprozess lässt sich dabei nicht auf eine kognitive Leistung der Zuschauer beschränken, sondern ist an je spezifische kommunikative Erzählsituationen gekoppelt, durch welche die Kabinen für einen begrenzten Zeitraum in einen Gerichtssaal, in ein psychotherapeutisches Behandlungszimmer, in eine TV-Problem-Talkshow oder in einen Beichtstuhl verwandelt werden und damit Szenen alltäglicher institutionalisierter Erzählpraktiken widerspiegeln. Mit jedem narrativen Akt wächst eine die Anwesenden umgebende, diegetische Matrix, in der sich fiktive und faktische Momente konstitutiv überkreuzen und in die alle Beteiligten nicht zuletzt moralisch eingebunden werden. Auch wenn in den Erzählungen vornehmlich von erfundenen und vergangenen Ereignissen berichtet wird, so haben diese doch eine reale Wirkungsmacht im gegenwärtigen, kollektiven Vollzug des Erzählens. Obgleich der Erzählmodus des mündlichen Erzählens vorherrscht, lässt sich das Erzählen in 2 ½ Millionen nicht auf einen rein sprachlichen Vorgang reduzieren. Jeder Mitspieler ist allein durch die physische Anwesenheit Träger und damit Hervorbringer der diegetischen Matrix. Selbst wenn letztere als künstliche, frei erfundene Welt bewusst ausgestellt wird, was bereits durch die am Eingang der Installation im knallroten Theaterblut liegende, als Leiche hindrapierte Darstellerin indiziert wird, kann das Publikum sich dieser Welt nur schwer entziehen, sofern es nicht den Performanceort verlässt. Obgleich viele Zuschauer immer wieder den Versuch unternehmen, die Schauspieler hinter ihren Figuren durch Fragen hervorzulocken, welche auf eine Wirklichkeit jenseits der diegetischen Matrix von 2 ½ Millionen zielen („Spielst Du eigentlich gerne eine Mörderin?“, „Ist es nicht anstrengend, die ganze Zeit Fragen zu beantworten?“), bestätigt gerade das vehemente Festhalten der Schauspieler an ihren Rollen in den Antworten auf derlei Fragen die narrativ gestaltete Welt als eine die Zuschauer umgebende und einschließende Matrix. Wenn die Schauspielerin der Figur Dorothea zum Beispiel antwortet, sie nutze die Gespräche mit den Zuschauern, um sich über die Geschehnisse des Mordes klar zu werden und um einen erträglicheren Umgang mit diesen zu finden, wird die reale Erzählsituation inklusive Zuschauerinnen als quasi-therapeutische Maßnahme explizit in die diegetische Matrix aufgenommen.

 90 Informationen über die Performance in New York City mit dem Titel Woman in the Window in der Gallerie Fashion Moda, realisiert 1983, stammen aus privaten Interviews mit Uwe Mengel.

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Die Geschichte als fassbares, singuläres Ergebnis eines Erzählaktes gibt es hier nicht. An die Stelle einer singulären Geschichte setzt sich eine permanent verändernde diegetische Wirklichkeit. Durch den örtlichen und körperlichen Entzug anderer Geschichten-Versionen, die an anderen Orten der Installation entstehen, wird immer zugleich Wunsch und Unmöglichkeit einer vollständigen Geschichte ausgestellt. Statt letzterer entsteht ein unendlich veränderbares, diegetisches Erzähl-Netz, das die Teilnehmer durch ihre Bewegungen am Ort spinnen und dessen instabile Knotenpunkte sich nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Kabinen kondensieren, wenn sich Zuschauer auf dem Weg zu einer anderen Kabine treffen und sich unabhängig von den Schauspielern untereinander über die Geschehnisse austauschen und damit die Mehrkanal-Erzählmaschinerie unweigerlich in alle Richtungen am Laufen halten. In Geschichten verwickelt Uwe Mengels Erzähl-Performance macht darauf aufmerksam, wie das Erzählen im sozialen Alltag wirksam und vorhanden ist, nämlich als strukturell unabgeschlossene und die Betroffenen involvierende Praktik einer Sinn- und Wirklichkeitsgenerierung. „Die Geschichten in uns“, präzisiert der Geschichtsphilosoph Wilhelm Schapp, „spielen sich aber nicht ab wie abgerundete Theaterstücke. [...] In diesem Sinne mögen immer viele Geschichten, große und kleine, in die wir verstrickt sind, gleichzeitig laufen. Sie stehen also nicht abgegrenzt vor uns wie die Geschichten, die wir lesen.“91 Aufführungen wie 2 ½ Millionen realisieren ein narratives Setting, innerhalb dessen die Zuschauer sich als immer schon in Erzählvorgänge und damit in Geschichten verwickelte und sich situativ erneut verwickelnde Subjekte erfahren können. Will man also jenen theatralen Erzählformen und ihren Wirkungsweisen theoretisch gerecht werden, gilt es die Herstellungs- und Vollzugsdynamik narrativer Prozesse innerhalb konkreter Erzählmomente ins Zentrum zu stellen. Benötigt wird eine Konzeptualisierung des Narrativen, die dieses weniger als eine Darstellung von Handlung, sondern selbst als ein Handeln, als eine konstitutive Praktik beschreibt. Dies bedeutet zugleich, sich von den Prämissen vieler postklassischer Ansätze zu lösen, allen vorweg von der Vorstellung einer Trennung zwischen Lebenswirklichkeit einerseits und deren bloßem Abbild in Form einer Erzählung andererseits. Hierfür möchte ich in den folgenden beiden Abschnitten Aspekte einer dynamischen Konzeptualisierung des Narrativen herausarbeiten, die für die weiteren Kapitel eine Grundlage bilden. Ich werde dabei an kulturwissenschaftliche,

 91 SCHAPP: In Geschichten verstrickt, S. 121.

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anthropologische, phänomenologische und geschichtsphilosophische Überlegungen anknüpfen, in denen erzähltheoretische Fragestellungen eine Rolle spielen. Es geht mir im Folgenden daher zunächst weniger um spezifische narrative Praktiken in Performances der Jahrtausendwende, sondern vorerst – als ein erstes Zwischenergebnis – um eine allgemeine Perspektivenverschiebung hinsichtlich des Narrativen, die es erleichtern soll, die im Anschluss diskutierten narrativen Aufführungspraktiken genauer beschreiben zu können.

3.1 P LOTTING , NARRATIVES W ISSEN , NARRATIVE E NERGIE . Z UR O FFENHEIT DES E RZÄHLENS Plotting Das Erzählen prozessual zu denken, bedeutet sich von der Vorstellung einer Erzählung als fester Struktur zu lösen und stattdessen die Erzählung in einem konstitutiven Wechselverhältnis zum Erzählakt zu begreifen. Es gibt keine Erzählung, keine narrative Aussage jenseits eines Erzählaktes. Die narrative Aussage ‚schreibt sich‘ im Erzählvollzug. In dieses Wechselverhältnis mit eingeschlossen ist ebenso die Geschichte, der narrative Inhalt. Die Geschichte bildet das ‚Ergebnis‘ eines Erzählaktes, das jedoch nie unabhängig vom Erzählen existieren kann. Der Phänomenologe Bernhard Waldenfels grenzt in diesem Zusammenhang das „ruhig[e] Ergebnis des [...] Erzählten“ (Geschichte) von der „Unruhe des [...] Erzählens“92 ab. Wirklich ‚ruhig‘ wäre ein solches ‚Ergebnis‘ jedoch nur dann, wenn zum Beispiel der Roman zugeklappt im Regal stünde und sein Inhalt unbekannt bliebe. Nur ließe sich in so einem Fall nicht von einer Geschichte sprechen. Wie der Geschichtsphilosoph Kurt Röttgers gezeigt hat, sind Geschichten nur dann solche, sofern sie (weiter-)erzählt werden.93 Bei genauerer Betrachtung erweist sich damit auch das vermeintlich ruhige Ergebnis des Erzählten als äußerst zappelig. Denn sobald erzählt wird, sobald Geschichten produziert und rezipiert werden, wird ein Prozess in Gang gesetzt, der keine Ruhe kennt. Jeder Erzählakt produziert ein solches ‚Ergebnis‘ neu und anders. Versucht man das Narrative konsequent prozessual zu denken, dann muss auch die Geschichte als beweglich gedacht werden. Wie am Beispiel von 2 ½ Millionen deutlich wird, bleibt das ‚Ergebnis‘ instabil und letztlich imaginär, da das

 92 WALDENFELS: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 53. 93 Vgl. RÖTTGERS: Die Lineatur der Geschichte, S. 198.

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Erzählen niemals mit dem Erzählten zusammenfallen kann. „Any final authority claimed by narrative plots [...]“, bemerkt der Literatur- und Erzähltheoretiker Peter Brooks „is illusory“.95 Dennoch spielt das Ende einer Geschichte in genau dieser ‚illusorischen‘ Qualität für die Unruhen des Erzählens eine herausragende Rolle. Ein imaginiertes Ende ist nötig, um überhaupt einen Erzählprozess in Gang zu setzen. Man könnte auch sagen: keine Unruhen ohne ein Ende in Sicht, oder anders herum, weil ein Ende in Sicht ist, gibt es Unruhen. Das Erzählen ist, zumindest in okzidentaler Tradition, nicht jenseits der Idee von Finalität und Abschluss zu denken.96 Wie Peter Brooks in Reading for the Plot in Anlehnung an Frank Kermodes The Sense of an Ending gezeigt hat, liegt in dem Streben nach einem angenommenen, ‚illusorischen‘ Ende der drive, das heißt, der Motor und die Lust am Erzählen begründet. Wissen zu wollen, wie es weitergeht mit dem Ausblick auf ein mögliches zeitliches und kausales Ende hin (griech. telos; lat. finis) – jene auf einen Aus- und Weitergang gerichtete Neugier, bildet den Antrieb des plotting, des narrativen Konfigurierens. Im Kontext von Roland Barthes rezeptionsorientiertem Postulat einer „Lust am Text“ 97 sowie Susan Sontags Forderung einer „erotics of art“98 formulierte Brooks Mitte der 1980er Jahre eine dynamische plotting-Theorie, in deren Zentrum zum einen die affektiven Dimensionen des Erzählens und zum anderen dessen Zeit konfigurierende Funktion stehen: „I want to see the text itself as a system of internal energies and tensions, compulsions, resistances and desires,“ und wie Brooks weiter schreibt: „Plot as it interests me is not a matter of typology or of fixed structures, but rather a structuring operation.“99 Als eine solche „structuring operation“ vermag das Erzählen die Illusion eines Ganzen zu konstruieren (Geschichte) und damit Zeit fassbar zu machen. Ähnliche Thesen formulierte zur selben Zeit Paul Ricœur, in dessen dreibändiger Abhandlung Zeit und Erzählen es ebenso um die Idee der Strukturierung von Zeit durch Narration geht. Sowohl Brooks als auch Ricœur formu-

 94 Vgl. hierzu auch WALDENFELS: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 53. 95 BROOKS: Reading for the Plot, S. 109. 96 Die vorherrschenden, abendländischen Kompositionsparadigmen, so hat Paul Ricœur betont, sind „Paradigmen des Abschließens“. Was letztlich auch nach einer postmodernen Dekonstruktion des Endes als ‚Illusion‘ „unhintergehbar zu sein scheint, ist die Erwartung des Lesers, daß schließlich irgendeine Konsonanz die Oberhand gewinnt.“ RICŒUR: Zeit und Erzählung, Band 2, S. 43. 97 Deutscher Titel von: BARTHES: Le Plaisir du Texte; Ders.: Die Lust am Text. 98 SONTAG: Against Interpretation, S. 14f. 99 BROOKS: Reading for the Plot, S. xiv, 10.

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lierten damit eine anthropologische Funktion des Narrativen, die ihres Erachtens darin besteht, menschliche Zeit verständlich zu machen, das heißt die eigene zeitliche Existenz, die wissend auf ein Ende zuläuft, narrativ gestaltend – konfigurierend – zu begreifen: „plot is the principle ordering force of those meanings that we try to wrest from human temporality.“100 Der Grund für die Lust am Erzählen, deren erogene Zone im Ende liegt, ist für Brooks das Verlangen nach einer (letztlich unmöglichen) Fassbarkeit endlicher Existenz, die nur im Tod, im absoluten Ende, ihre paradoxe Erfüllung findet. Erst im Tod, so das Versprechen, das im angenommenen und ‚illusorischen‘ Ende eines jeden Erzählaktes aufscheint, fallen Erzählen und Erzähltes zusammen.101 Doch was genau heißt plotting? Wie vollzieht sich das Zusammensetzen von Geschehnissen, das narrative Gestalten vor dem Hintergrund eines Endes? Wie wird hierdurch Sinn, die Illusion eines Ganzen hergestellt? Ich möchte dies zunächst in Hinblick auf Ricœurs Phänomenologie des Erzählens erläutern. Ähnlich wie in Waldenfels’ Distinktion von (vermeintlich) ruhiger Geschichte und unruhigem Erzählakt unterscheidet Ricœur zwei zeitliche Dimensionen des Erzählens. Die erste, so genannte „episodische Dimension“, in welcher die Geschehnisse einer Geschichte als eine chronologische Reihe von „und-dannund-dann“ erkennbar werden, bedarf der zweiten „konfigurierenden Dimension“. Letztere umfasst den Prozess des Erzählens, den Ricœur in Anlehnung an Aristoteles’ Poetik als „Fabelkomposition“ („l’acte de mise en intrigue“)103 bezeichnet und den er mit dem Prozess des Nach- und Mitvollziehens einer Erzählung gleichsetzt. Geschichtenproduktion und -rezeption fallen damit in eins. In der Fabelkomposition werden „Einzelhandlungen [...] ‚zusammen[genommen]‘“, um einer „Vielfalt von Ereignissen [...] die Einheit einer zeitlichen Totalität“104 zu verleihen. Im Gegensatz zur episodischen Dimension, in der Zeit als bereits konfigurierte Chronologie erscheint, eignet dem Akt der Fabelkompo-

 100 Ebd., S. xi. 101 Vgl. Ebd., S. 61 und S. 103. 102 Dieses und die vorherigen zwei Zitate: RICŒUR: Zeit und Erzählung, Band 1, S. 107. 103 RICŒUR: Temps et récit, Band 1, S. 103; in der deutschen Übersetzung, aus der ich im Folgenden zitiere: Ders.: Zeit und Erzählung, Band 1, S. 59. Die Verwendung des Begriffs ‚Fabel‘ in der deutschen Übersetzung bezieht sich – ebenso wie der Fabelbegriff bei Bertolt Brecht und Hans-Thies Lehmann (vgl. Kapitel I/2.1, Abschnitt „Zwischen Illusion und Distanz: Erzählen im Epischen Theater“) – auf die deutsche Aristoteles-Übersetzung, nach der „Mythos“ und „Fabel“ synonym verwendet werden und die „Zusammenfügung der Geschehnisse“ bedeuten. Aristoteles: Poetik, S. 21. 104 RICŒUR: Zeit und Erzählung, Band 1, S. 107.

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sition eine eigene Zeitlichkeit. Das Komponieren findet in der „lebendigen Gegenwart“ statt, die als Vermittlerin in der Dialektik zwischen „Erfahrungsraum und Erwartungshorizont“105 die jüngste Vergangenheit sowie die unmittelbare Zukunft stets in sich trägt. Die Fabelkomposition bewegt sich also auf der Schwelle zwischen einem Gegenwärtig-Sein einerseits und dem Fassbarmachen dieser Gegenwart andererseits. 106 Im Prozess der Fabelkomposition wird ein beständiges zeitliches Vorwegnehmen und Zurückgreifen vollzogen. Sowohl die Vorwegnahme als auch der Rückgriff sind dabei auf ein Ziel gerichtet, von dem aus die „lebendige Gegenwart“ vorgängig erkennbar und als auf eine Konklusion zusteuerndes und damit sinnhaftes Moment wahrnehmbar wird. Ähnlich wie Brooks betont auch Ricœur die affektive Ebene dieser Operation. Die vermeintliche, während des Erzählens vorweggenommene Konklusion, das Ende der Geschichte, fungiert als Attraktionspol, als „pole of attraction“107 und wirkt als solcher in die Gegenwart des Erzählprozesses hinein. Der Erzählprozess ragt damit hinsichtlich seiner affektiven Dynamik immer schon über eine explizierte narrative Aussage hinaus. Das plotting – und hier verlasse ich meine Erläuterungen Ricœurs – vermag sich also in zweierlei Richtungen zu vollziehen: erstens als eine Verlängerung der Gegenwart, in dem diese auf ein noch unbekanntes Ende hin entworfen wird und vorgängig Erklärung findet. Und zweitens, ausgehend von einem Endpunkt, als ein Reifen der Vergangenheit im Sinne einer rückwärtsgewandten Bewegung, die dem Vergangenen nachträglich einen im Ende resultierenden Sinn verleiht. In beiden Bewegungsrichtungen bildet das Ende den Bezugspunkt der narrativen Operation. Beide Bewegungen vollziehen sich im Verlauf des Konfigurierens zugleich, da der aktuale Punkt im Erzählprozess immer schon als Zwischenergebnis, als Zwischenende für das bisher Erzählte fungiert und im Fort-

 105 RICŒUR: „Gedächtnis – Vergessen – Geschichte“, S. 434. 106 Ricœurs zeitphilosophische Überlegungen beziehen sich zunächst auf Augustinus’ Bekenntnisse und später auf Heideggers Sein und Zeit, vgl. RICŒUR: Zeit und Erzählung, Band 1, S. 15ff., 99 und 132. Ricœurs Anliegen ist es u.a. zu zeigen, dass das augustinische Paradox der Zeit, nach dem das Ich vergehend in der Zeit unfassbar bleibt und sich dennoch zugleich darin als gegenwärtig wahrnimmt – d.h. nach dem Zeit zugleich fassbar und unfassbar ist –, dass jenes Paradox in Aristoteles’ Mimesis-Konzeption in seiner unauflöslichen Spannung poetisch ins Werk gesetzt wird: nämlich in einer Gleichzeitigkeit des narrativen Konfigurationsaktes in einer flüchtigen, unfassbaren Gegenwart einerseits und eines darin ermöglichten Erkennbarwerdens der Zeit andererseits. Vgl. ebd., S. 39 und 107. 107 RICŒUR: „Narrative Time“, S. 332.

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gang des Erzählens laufend transformiert wird: „what remains to be read will restructure the provisional meanings of the already read“.108 Plotting als ein gegenwärtiger Vollzug heißt, vor dem Hintergrund eines Ziels zugleich und fortwährend zu antizipieren und zu wiederholen. Während des Konfigurierens verschieben sich das zukünftige Ende sowie die aktualen Geschehnisse als vorläufige Zwischenenden beständig und damit ebenso die daran gekoppelten Ganzheitsund Sinnentwürfe. Es entsteht eine schleifenartige Erzählbewegung, ein potentiell unendliches Kringeln und Schnörkeln, wie Brooks es beschrieben hat: „Plot is a kind of arabesque or squiggle toward the end.“109 Der Arabesque-Bogen, der auf ein Ende hin beziehungsweise vom Ende aus rückwärts gespannt wird, füllt sich nie vollends aus. Die Richtung, in die er weist, „wird aufgegeben, abgebaut, neue Bogen tauchen auf.“ 110 Jedes Bogenspannen bindet eine neue Schleife, vollzieht eine das bereits Erzählte wiederholende Drehung im vermeintlich chronologischen Kontinuum einer Geschichte. Die narrative Gestaltung einer immer nur kurzzeitig aufflackernden imaginären Ganzheit verlangt Sprünge in der Zeit. Damit folgt der Konfigurationsakt einem eigentümlichen, letztlich nicht kalkulierbaren Rhythmus, der sich einer strukturalistischen Einteilung des narrativen Diskurses in definierbare Zeitabschnitte entzieht. Im Erzählen gibt es keinen Ruhepunkt, sondern einen steten Auf- und Abbau von Vergangenheits- und Zukunftshorizonten. Das plotting umfasst eine paradoxe Zeitlichkeit, die unter anderem beschrieben wurde als „anticipation of retrospection“, als „retrospective teleology“ oder als „diachronic linearization“.111 Narrative Sinngebung basiert auf der Logik von Vorgängigkeit und Nachträglichkeit – auf einer, wie Brooks es formuliert hat, „strange logic“,112 die nicht verwechselt werden darf mit einer mathematischen Logik. Der Entwurf des Endes im plotting hat nichts mit dem Resultat einer mathematischen Rechnung zu tun. Statt der Herstellung vorhersehbarer Kausalbeziehungen gilt für das plotting eine potentiell unendliche, vorgängige und nachträgliche Anpassung. Es ist gekennzeichnet durch eine Fülle von Anschlussmöglichkeiten. 113 Auch strukturell offene Erzählungen, das heißt Erzählungen mit einem so genannten offenen Ende, unterliegen ihrer Dynamik nach dieser

 108 BROOKS: Reading for the Plot, S. 23. 109 Ebd., S. 104. 110 SCHAPP: In Geschichten verstrickt, S. 81. 111 Erstes Zitat: BROOKS: Reading for the Plot, S. 23; die folgenden beiden Zitate: BROCKMEIER: „From the end to the beginning“, S. 247 und 275. 112 BROOKS: Reading for the Plot, S. 23. 113 Vgl. dazu auch DANTO: Narration and Knowledge, S. 112ff.

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‚seltsamen Logik‘.114 Ihre Offenheit lässt dabei umso offensichtlicher die narrative Operation zu Tage treten, die immer auf ein imaginäres Ende hin gerichtet ist. Mag auch eine Erzählung (discours) faktisch oder strukturell zu einem Ende gelangen, das Ende einer Geschichte (histoire) ist schlussendlich nur als illusorisches Ende erreichbar, denn ein solches Ende lässt sich schlichtweg nicht erzählen, wie Waldenfels präzisiert: „Erzählen könnte die Erzählung ihr eigenes Ende nur dann, wenn sie sich selbst erzählend überleben würde.“115 Das Narrative als offenen Prozess zu denken, und damit dem Konfigurationsakt einen prominenten Platz einzuräumen, heißt folglich nicht, die Idee vom Ende gänzlich aufzugeben. Das Ende einer Geschichte – nicht als Tatsache, sondern als Versprechen und Konstrukt – stellt ein unumstößliches Merkmal des Narrativen dar, das jedoch vor dem Hintergrund einer Konzeptualisierung des Narrativen als Prozess dynamisiert werden muss. Narrativ zu konfigurieren meint, eine in der Zusammensetzung von Geschehnissen Gestalt gebende Operation zu vollziehen, die auf ein Abschließen zielt, einen Abschluss jedoch nie vollends erreicht. Wie der Erzählforscher H. Porter Abbott es treffend formuliert hat: „In fact, narrative is marked almost everywhere by its lack of closure.“116 Statt einer Rückkehr in den heimatlichen Hafen, bleibt man verwickelt in die Wirren des Erzählaktes, obgleich, anders herum, die Annahme und Konstruktion eines heimatlichen Hafens nötig ist, um überhaupt erzählen zu können. Geschlossenheit und Offenheit bedingen einander. Narratives Wissen Der Effekt von Geschlossenheit und Ganzheit, den narrative Prozesse generieren, wird unter Umständen auf der Ebene der narrativen Aussage von einer Reihe von Konventionen gestützt. Ein sich küssendes Paar oder ein abfahrender Zug am Ende eines Films, die Redewendungen „Ende gut, alles gut“ oder „und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ – derartige visuelle oder sprachliche Schlussformeln gehören wohl zu den bekanntesten Konventionen, die auf der discours-Ebene den Effekt von Ganzheit herzustellen vermögen. Wenn Ricœur von der „Annehmbarkeit“117 eines Schlusses spricht, der nur dann

 114 Wie Wolfgang Müller-Funk präzisiert: „Auch das sogenannte offene Ende etwa in der short story der Nachkriegszeit impliziert ein Ende, im Zweifelsfall außerhalb des fixierten Textes. Sie rechnet mit einem aktiven Leser, der die Geschichte selbst an ein Ende bringt.“ MÜLLER-FUNK: Die Kultur und ihre Narrative, S. 253. 115 WALDENFELS: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 53. 116 ABBOTT: The Cambridge Introduction to Narrative, S. 53. 117 RICŒUR: Zeit und Erzählung, Band 1, S. 225.

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einen akzeptablen Endpunkt darstellt, sofern er „mit den zusammengestellten Episoden kongruent erschein[t]“, 118 wird die Konventionsgebundenheit einer jeden finis-gerichteten narrativen Operation deutlich. Konventionen spielen demnach konstitutiv in den Erzählprozess mit hinein. Der Erzählprozess geht nicht allein im plotting auf, sondern letzteres kann sich nur vor dem Hintergrund einer erzählerischen Kompetenz vollziehen, die auf einem historisch geprägten kulturellen Fundus an bekannten Erzählformaten, „Plotstrukturen“, 119 Erzählgenres, -formen, -konventionen und Narrativen basiert. Ich möchte diesen Fundus als narratives Wissen bezeichnen, das in jedem Erzählakt mit abgerufen und erzählend (re-)produziert wird und damit einen fundamentalen Anteil am Erzählen hat. Hieran zeigt sich eine weitere Ebene der Offenheit des Erzählaktes, denn jede Geschichte wurde damit, zugespitzt formuliert, schon einmal erzählt. Wir können nur deshalb Geschichten erzählen und nachvollziehen, weil wir Geschichten einzuordnen wissen, weil wir sie in einem Kontext von bekannten Vor- und potentiellen Nachgeschichten verorten können. Nur sofern Geschichten ‚wiedererzählbar‘ sind, erhalten sie Gültigkeit. In Anlehnung an Roland Barthes „déjà-lu“,120 lässt sich hier von einem déjà-raconté als von einer Formel sprechen, die auf jenes intertextuelle Geflecht eines narrativen Wissens verweist, welches dazu veranlasst, das zu Konfigurierende in den unendlichen Horizont von Vor- und Nachgeschichten einzuordnen.121 Im Erzählakt verschachteln und

 118 Ebd., S. 108. Der Schluss ist dann akzeptabel, wenn er rückwirkend den zuvor durchschrittenen Geschehnissen angepasst werden kann, so dass das Urteil gefällt werden kann: „acceptable after all“. RICŒUR: „Narrative Time“, S. 332. Ricœur denkt die Geschlossenheit einer Geschichte im Sinne einer „Synthesis des Heterogenen“ (RICŒUR: Zeit und Erzählung, Band 1, S. 106) sehr viel statischer als zum Beispiel Peter Brooks. 119 WHITE: „Der historische Text als literarisches Kunstwerk“, S. 126. Hayden White bezieht sich mit „Plotstrukturen“, die bekannte Inhalte und Formen eines kulturell internalisierten literarischen Kanons umfassen, auf einen Begriff von Northrop Frye: FRYE: The Anatomy of Criticism. 120 BARTHES: S/Z, S. 24. 121 Der Phänomenologe Wilhelm Schapp hat dies folgendermaßen ausgedrückt: „Die erzählte Geschichte steigt nicht aus dem Nichts auf. Man kann ebenso gut sagen, sie hat einen Anfang, wie auch: sie hat keinen Anfang, und entsprechend kann man sagen, sie hat ein Ende und sie hat kein Ende. Was zunächst den Anfang betrifft, so hat jede Geschichte eine Vorgeschichte, die mit den ersten Sätzen auftaucht und sich nach rückwärts im Dunkeln verliert. Man kann vielleicht versuchen, die Vorge-

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überlagern sich Elemente eines narrativen Wissens, die der narrativen Aussage selbst nur bedingt implizit sind, die sich aber in den Erzählprozess situativ mit einschreiben. Vor- und Nachgeschichten, bekannte Erzählweisen und Plotstrukturen ‚tauchen auf‘, wie der Husserl-Schüler Wilhem Schapp es formuliert hat.122 Plotting ist damit niemals als souveräner und rein subjektgebundener Prozess zu verstehen, sondern der situative und einmalige Erzählkontext lässt ein narratives Wissen ‚auftauchen‘, das auf das Erzählen mit einwirkt. Die Beschreibung der narrativen Operation als zunächst eher konstruktivistisch-intentional anmutendes ‚Zusammensetzen der Geschehnisse‘, wie sie in regelpoetischen Konzepten narrativer Autorschaft anklingt, ist vor diesem Hintergrund zu relativieren. Auch hier zeigt sich eine letztlich untrennbare Verschachtelung von Produktion und Rezeption. Nicht nur wird in einer Rezeption die Erzählung neu produziert, sondern bereits eine vermeintlich ‚primäre‘ Komposition – etwa wenn ein Autor oder mehrere Autoren sich eine Geschichte ausdenken –, stellt zu einem Anteil immer schon eine Rezeption von Vorgeschichten dar. Das Erzählen passiert uns zu einem gewissen Grad. Ungezügelt tauchen je nach Kontext Plotstrukturen, Vor- und Nachgeschichten, narrative Versatzstücke als Stimuli narrativer Prozesse auf und vermengen sich, teilweise ununterscheidbar, mit der expliziten narrativen Aussage. Trotz der konventionsabhängigen Strukturiertheit und der Struktur gebenden Funktion des Erzählens ergibt sich im Erzählen ein emergenter Sog, dessen Kontingenzen nicht abzuschalten sind und einen konstitutiven Teil des Erzählens ausmachen. Narrative Energie Ich komme auf die affektive Ebene des Erzählens zu sprechen, die ich schon in Hinblick auf Peter Brooks und Paul Ricoeurs Erläuterungen zur Funktion des Endes einer Geschichte als deren „pole of attraction“123 angedeutet habe. Mit Wilhelm Schapp und Walter Benjamin lässt sich zeigen, auf welche Weise die antreibende, erzählerische Energie noch nach dem Erreichen eines technischstrukturellen oder konventionsgebundenen Endes andauert. Geschichten wirken nach und „diese Nachwirkung gibt wieder die Grundlage für neue Geschichten.

 schichte ins Helle zu ziehen, dann wiederholt sich dasselbe Schauspiel. Auch die Vorgeschichte hat wieder ihre Vorgeschichte. Eine Geschichte mit einem absoluten Anfang oder der absolute Anfang einer Geschichte kann nicht auftauchen.“ SCHAPP: In Geschichten verstrickt, S. 88. 122 Vgl. ebd. S. 102. 123 RICŒUR: „Narrative Time“, S. 332.

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Die Nachwirkung ist eine Fortsetzung der gehörten Geschichte“,124 wie Schapp es ausdrückt. Da das Erzählen niemals mit dem Erzählten zusammenfällt, ergibt sich ein Überschuss an narrativer Energie, das heißt an einer an das Erzählen gebundenen Wirkung und Erfahrungsqualität. Mit dem Begriff ‚narrative Energie‘ möchte ich die wirkungsästhetischen Qualitäten des Erzählens beschreiben,125 die von strukturalistisch-formalistischen Untersuchungen des Erzählens nicht berücksichtigt werden, da narrative Energien nicht planbar und letztlich im narrativen Diskurs unsichtbar sind.126 Jene Erzählenergien jedoch sind entscheidend für narrative Prozesse, liefern sie doch letztlich den Grund dafür, warum wir erzählen: Sie verlangen nach einem Weiter-Erzählen. „Der Erzähler“, um nochmals Benjamin zu zitieren, „nimmt, was er erzählt, aus der Erfahrung; aus der eigenen oder berichteten. Und er macht es wiederum zur Erfahrung derer, die seiner Geschichte zuhören.“127 Zu erzählen bedeutet, etwas auf der Grundlage einer Erfahrung erneut erfahrbar zu machen. Erzählungen werden erzählend erfahren. Ihnen ist daher eine leibliche Komponente eigen. Phänomenologisch argumentiert lässt sich auch an diesem Umstand eine nicht-intentionale Komponente im Erzählen ausmachen. Denn etwas zu erfahren heißt, der Sache nicht Herr zu sein. Erfahrungen gehen nicht im Intentionalen auf, sondern beinhalten ein Widerfahren.128 Der Gegenwärtigkeit des zu erfahrenden Erzählaktes, der mir

 124 SCHAPP: In Geschichten verstrickt, S. 119. 125 Ich entlehne den Begriff ‚Energie‘ einem wirkungsästhetischen Diskurs. ‚Energie‘ wird, wie Jenny Schrödl zusammenfassend betont, in ästhetischen Zusammenhängen häufig in Bezug auf eine „körperliche, affektive, imaginäre oder mentale Wirkung eines Objekts, Textes, Stoffes, Bildes oder Körpers“ verwendet. SCHRÖDL: „Energie“, S. 89. 126 Schon Marie Maclean machte Ende der 1980er Jahre auf eine „narrative energy“ aufmerksam, die sich in jeder narrativen „performance“ gerade in Momenten der Störung zeige. Vgl. MACLEAN: Narrative as Performance, S. 2ff., auch S. xii: „[N]arrative always exceeds the elements which composes it. We can measure the component signs but, no matter how exhaustive our semiotics, a performance will always be more than its parts.“ 127 BENJAMIN: „Der Erzähler“, S. 443. 128 Die Dialektik aus actio und passio wird in der Phänomenologie mit dem Doppelstatus des Körpers begründet, der diesen zugleich als wahrnehmenden und als wahrgenommenen fasst (z.B. bei Edmund Husserl: ‚fungierender Leib‘ und ‚Körperding‘, bei Helmuth Plessner: ‚Leibsein‘ und ‚Körperhaben‘ oder bei Jean-Paul Sartre: ‚corps sujet‘ und ‚corps objet‘). Der Körper gilt als produzierender sowie als erleidender Körper. Vgl. dazu zusammenfassend WALDENFELS: Das leibliche Selbst, S. 15f.

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zu einem Anteil passiert, wohnt ein nicht kontrollierbarer, fremder Anteil inne, der die narrative Aussage immer schon übersteigt. Erzählen ist nicht nur Sinnstiftung, sondern es gibt einen nicht-erzählbaren Anteil am Erzählen, nämlich die Tatsache, dass sich Erzählen ereignet und damit erfahrbar ist. Jener nichterzählbare Anteil stellt zugleich Bedingung und Grenze von narrativer Sinnstiftung dar. Das Narrative als Performanz zu verstehen heißt, diesen performativen Überschuss, der jedem Erzählakt inhärent ist, mit zu beachten, obgleich dieser Überschuss nur nachträglich fassbar ist und dafür selbst mitunter wiederum narrativ konfiguriert werden muss.

3.2 Z WISCHENERGEBNIS : D YNAMISIERUNG Eine prozessuale Offenheit des Erzählens zeigt sich auf mehreren interdependenten Ebenen: auf der Ebene des plottings, in einem potentiell nicht endenden Wiederholen und Antizipieren vor dem Hintergrund eines unerreichbaren und schließlich unfassbaren Ziels. Sie zeigt sich auf der Ebene eines narrativen Wissens, das als notwendiger und kulturell geprägter Hintergrund im Erzählakt stets mit präsent ist, das unvorhersehbar ‚auftaucht‘ und als unsichtbarer Miterzähler fungiert. Und schließlich zeigt sich eine prozessuale Offenheit des Erzählens auf der Ebene einer narrativen Energie, das heißt auf einer Ebene der Erfahrung. Ob als niemals zu befriedigendes Begehren eines Endes, das die Triebkraft des Erzählens darstellt, oder ob als Erfahrungsüberschuss, der zum Weitererzählen drängt, jene stets körperlich zu denkende, erfahrbare narrative Energie entzieht sich immer schon einer kohärenten Sinnstiftung in Form eines stillgestellten Ergebnisses. Welche theoretischen Konsequenzen ergeben sich aus der Fokussierung auf den Prozess des Erzählens? Eine derartige Perspektive verlangt danach, bisherige Festungen im konnotativen Begriffsfeld des Narrativen dynamisch zu denken. Bestimmungen narrativer Qualitäten, die vornehmlich auf Geschlossenheit, Teleologie und Kohärenz zielen, müssen entschieden relativiert werden. Jene Attribute dürfen nicht als Gegebenheiten und Gewissheiten angesehen werden, sondern müssen als sich im Erzählprozess beständig verschiebende und damit wandelbare Phänomene verstanden werden, die zugleich – da nie vollständig erreichbar – als notwendige Antriebskräfte des Erzählens fungieren. Erzählen ist damit nicht nur ein Struktur gebender Prozess, sondern immer auch ein potentiell

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Struktur verschiebender und Sinn verwirrender Vorgang. 129 Weiterhin muss bedacht werden, dass der Eindruck von Chronologie, Kohärenz und Sinnbezug selbst auf einer Operation basiert, die einer a-chronologischen ‚schrägen Logik‘ von Vorgängigkeit und Nachträglichkeit gehorcht. Zu berücksichtigen sind außerdem die Erfahrungsqualitäten von Erzählprozessen, wie beispielsweise die Antriebskraft des Endes sowie ein zum Weitererzählen aufforderndes Nachwirken einer Erzählung, aber auch das an konkrete Inhalte und bekannte Ploststrukturen gekoppelte emotive Potential. Zu fragen ist daher nach den Wirkungen und Effekten konkreter Erzählprozesse, nach den Dynamiken ihrer Bewegungsflüsse und Rhythmen, die sich im konfigurierenden Schnörkeln aktuell ereignen. In den Fokus rücken die Zugkräfte, Spannungen, Erschütterungen und Abweichungen der je spezifischen narrativen Performanz. Des Weiteren bedarf es einer Dynamisierung und teilweisen Erweiterung der Genetteschen Trias aus Erzählung (narrativer Aussage), Geschichte (Inhalt) und Erzählprozess.130 Ohne die produktive Unterscheidung dieser drei Ebenen aufzugeben, muss jedoch deren konstitutive und dynamische Reziprozität betont und außerdem der Einfluss sowohl eines narrativen Wissens als auch einer narrativen Energie auf jene drei Ebenen berücksichtigt werden. Wurde bereits von poststrukturalistischer Seite – nicht zuletzt im Zuge der Relativierung einer Signifikat-Signifikant-Differenz – das Verhältnis zwischen Geschichte und Erzählung als „contradictious double logic“131 entlarvt, nach der sich Geschichte und Erzählung wechselseitig hervorbringen, ohne dabei ineinander aufzugehen, so gilt es in Bezug auf meinen Gegenstand den Erzählprozess in seiner reziproken Verwobenheit mit der Geschichte ebenso wie mit der Erzählung stark zu machen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die kulturelle Performanz des Erzählens nun genauer fassen, nämlich als ein potentiell unkalkulierbarer, affektiv aufgeladener und ereignishafter Sinngebungsprozess, bei dem folgende Aspekte in einem wechselseitig konstitutiven Verhältnis zueinander stehen: ersten ein telos-

 129 Vgl. hierzu auch Bauman: „[Narrative] may also be an instrument for obscuring, hedging, confusing, exploring, or questioning what went on, that is, for keeping the coherence or comprehensibility of narrated events open to question.“ BAUMAN: Story, Performance, and Event, S. 5f. 130 Für einen Überblick über ähnliche triadische Modelle bei Tzvetan Todorov, Mieke Bal, Seymour Chatman u.a., die sich jeweils einer anderen Terminologie bedienen vgl. MÜLLER-FUNK: Die Kultur und ihre Narrative, S. 55. 131 BROOKS: Reading for the Plot, S. 29. „The contradiction may be in the very nature of narrative, which not only uses but is a double logic.“ Ebd. Brooks bezieht sich hier auf Jonathan Culler: Vgl. CULLER: The Pursuit of Signs, S. 178.

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gerichteter, aber unter der Logik von Vorgängigkeit und Nachträglichkeit sich vollziehender Konfigurationsakt (plotting), zweitens ein narratives Wissen als konstitutiver Mit-Akteur, drittens eine im Erzählvollzug entstehende narrative Aussage (Erzählung) sowie ein narrativer Inhalt (Geschichte) und viertens – und bislang unberücksichtigt – Subjekte, die in das konstitutive Geflecht des Erzählprozesses verstrickt sind.

3.3 V ERSTRICKEN , E RZÄHLHANDELN , V ERMITTELN . E RZÄHLEN ALS KULTURELLE UND SOZIALE P RAKTIK Soziale Dimension der Erzählsituation Ein grundlegender Aspekt für die Untersuchung narrativer Prozesse ist die Verstrickung von Subjekten in Geschichten – ein Term, den ich Wilhelm Schapp entlehne. „In Geschichten verstrickt“132 zu sein, heißt für Schapp leiblich, kulturell und sozial in ein narratives Wissen eingebunden zu sein, das wir in jedem Erzählvorgang partiell erzählend reproduzieren und durch das hindurch wir uns und Andere wahrnehmen. Die Verstrickung in Geschichten bildet für Schapp zugleich Effekt und Bedingung des Erzählens: Durch das Erzählen werden wir verstrickt, und nur weil wir verstrickt sind, können wir erzählen. Nach Schapp ist der Zugang zur Welt einzig über Geschichten und damit über das Verstricktsein in Geschichten möglich. 133 Ohne Schapps kulturkonstruktivistischem Impuls avant la lettre in seiner Radikalität zu folgen, nach der Geschichten und Welt deckungsgleich ineinander aufgehen, wird an Schapps Verstrickungsmetapher eine Qualität deutlich, die für das Denken des Narrativen als Prozess zentral ist. Der Begriff der Verstrickung nämlich zielt auf eine Reziprozität von soziokultureller Lebenswelt und Narration. Erzählprozesse sind Situationen einer solchen Verstrickung. Doch wie genau vollzieht sich die Verstrickung von Leben und Erzählen? Eine Antwort darauf haben, wie zuvor gezeigt, Ricœur und Brooks gegeben. Für beide stellt das narrative Konfigurieren die Bedingung zur Generierung eines identitätsstiftenden Zeitbewusstseins dar. Zeitliche Identität, beziehungsweise das Erfassen subjektiver wie kollektiver Zeitlichkeit als ein temporales Ganzes wird im plotting, das auf ein imaginäres Ende hin ausgerichtet ist, hervorgebracht. Eine weitere Antwort auf die Frage nach der Verstrickung von Leben und

 132 SCHAPP: In Geschichten verstrickt. 133 „Außerhalb dieses Verstricktseins von Sein zu reden, gibt für uns keinen Sinn“. Ebd., S. 178.

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Erzählen liegt weniger in der konfigurierenden als in der kommunikativ-intersubjektiven Dimension von Erzählprozessen begründet. Kurt Röttgers hat diese Dimension mit dem Begriff der „Erzählsituation“ beschrieben. Mit Erzählsituation meint Röttgers den „gegenwärtige[n] Kontext historischer [beziehungsweise narrativer] Rede“134 sowie alle hierin eingebundenen Subjekte. Das Erzählen, so wird mit Röttgers deutlich, bezieht sich nicht allein auf Vergangenes (oder Zukünftiges), sondern es erfüllt in der Erzählsituation einen konkreten Zweck, nämlich den der Herausbildung einer gemeinsamen, temporalen und sozialen Orientierung, das heißt einer aktuell gültigen, intersubjektiven und intertemporalen Beziehung. Dieser sinnstiftende „Vergemeinsamungsproze[ss]“ 135 vollzieht sich nicht allein in Bezug auf die erzählten Inhalte, sondern diese werden in dem jeweiligen Kontext eben aufgrund der Spezifität des Kontextes auf eine ganz bestimmte Weise realisiert, die ausschlaggebend ist für die Herausbildung von verbindlicher Gemeinsamkeit. Den Kontext einer Erzählsituation beschreibt Röttgers auch als einen „kommunikativen Text“ 136 im weiteren Sinne eines Gewebes, das die Beteiligten umschließt und das in einer produktiven Spannung zu den erzählten Inhalten steht. Etwas in einer Erzählsituation zu erzählen – und Erzählen ist nur in einer konkreten kommunikativen Situation überhaupt ein solches –, lässt sich beschreiben als ein aushandelndes Erzähl-Vortasten an den Anderen, als ein narratives Aufeinander-Einstimmen. Die narrative Synchronisierungsbewegung, in der es zur intersubjektiven Annäherung und doch nie zur völligen Angleichung kommt, ermöglicht es den Beteiligten, sich in Bezug auf die Anderen erzählend zu entwerfen: „Ich erzähle dem Anderen meine Geschichte, um ihm und mir zu sagen, wer ich in Bezug auf ihn bin oder als wer ich gelten will und soll und welches vermutete Geltensollen ich antizipativ erfüllen will oder auch nicht.“ 137 Anders als in einem dialogischen Kommunikationsmodell bestehend aus klar definierbarem Sender und Empfänger – jemand

 134 Dieses und vorheriges Zitat: RÖTTGERS: Die Lineatur der Geschichte, S. 16. Anmerkungen in eckigen Klammern von N. T. Röttgers bezieht seine Untersuchungen auf die historische Rede und beschränkt sich auf ein sprachlich verfasstes Erzählen. Seine folgenden Thesen lassen sich jedoch m.E. auch auf nicht-sprachlich verfasste Erzählmodi beziehen ebenso wie auf ein fiktionales Erzählen (z.B. auf Mythen oder Märchen). Ob eine Geschichte als wahre oder erfundene Geschichte wahrgenommen wird, hängt, wie Röttgers selbst betont, von einem Wahrheitsanspruch ab, der allein durch die jeweilige Erzählsituation verbürgt wird. Vgl. ebd., S. 109. 135 Ebd., S. 87. 136 Ebd. 137 Ebd., S. 96.

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erzählt, ein anderer hört zu – sind die Beteiligten im formbaren Gewebe des kommunikativen Textes, der als unsichtbarer dritter Akteur fungiert, in Form von Antizipationen und Erwartungen verstrickt. Man erzählt (und hört zu) stets vor dem Hintergrund einer vorweggenommenen, kontextabhängigen Rezeption. Erzählen ist eine Praktik, in der soziale Verbindlichkeit generiert und in der erzählend Einfluss auf die Welt genommen wird. Erarbeitet wird eine „gemeinsame Welt durch das Erzählen und durch das Als-tolerabel-Akzeptieren von Geschichten.“138 Die Erzählsituation ist daher eine tatsächlich sich vollziehende Situation mit realen Effekten, unabhängig davon, ob sich das Erzählte auf fiktive oder faktische Ereignisse bezieht.139 Das Hervorbringen von Geschichten ist Bestandteil des Lebens, weil es als sozio-kulturelle Kraft lebendig ist und in der Gegenwart seiner Realisation erfahrbare Wirkung zeigt. Erzählen stellt zugleich involvierende Praxis (tun/vollziehen) und Poiesis (herstellen) dar, die von allen an einer Erzählsituation Beteiligten aus zu denken sind. Auch in Hinblick auf die Erzählsituation muss eine nicht-intentionale Komponente des Erzählens betont werden. Nicht nur nehme ich erzählend Einfluss auf die Welt, sondern umgekehrt macht die Erzählsituation als intersubjektives und ‚internarratives‘ Gewebe etwas mit mir. Das gegenwärtig flüchtige textum leitet mich in der Situation einer erzählerischen Synchronisierung mit Anderen auf eine von mir nicht kontrollierbare Weise. Ich erzähle (über) mich und andere entsprechend der Situation. Dieses Geleitetwerden ist dabei geprägt von institutionellen und sozialen Konventionen spezifischer Erzählsituationen wie etwa bestimmten Restriktionen, unausgesprochenen Verhaltensregeln oder Tabus.140 So kann nicht alles überall erzählt werden. Ebenso ist es abhängig von Konventionen eines narrativen Wissens: Zuvor erzählte Geschichten, Plotstrukturen und

 138 Ebd., S. 38. 139 Es geht mir hier zunächst darum zu betonen, dass das Erzählen situative Effekte und Wirkungen hat – und zwar zunächst unabhängig von der Frage, ob die erzählte Geschichte z.B. eine Autobiografie oder ein Märchen ist. Beide Erzählformen stiften Handlungswirklichkeit, obgleich diese unterschiedlich ausfällt und jene Erzählformen unterschiedliche Funktionen innerhalb spezifischer Erzählsituationen erfüllen, wie Röttgers betont: „Wird eine Geschichte mit Wahrheitsanspruch von den Zuhörern einer Erzählsituation als wahr akzeptiert, dann gilt die Geschichte in diesem Zusammenhang als wahr. Jeder aus der Erzählsituation kann nun hingehen, und wird es oft tun, und die Geschichte als wahre Geschichte wieder- und weiterzählen.“ Ebd., S. 109. 140 Vgl. dazu auch LANGELLIER und PETERSON: Storytelling in Daily Life, S. 18f.

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kulturell internalisierte, teilweise latente Narrative fließen in den Erzählvollzug als Handlungs- und Lebensmodellierungsmuster mit ein, ohne dass deren Wirkungen im intersubjektiven Situationsgefüge zuvor bestimmbar wären. Die soziale Praktik des Erzählens unterliegt einer kontingenten Mikropolitik der Erzählsituation. Dabei muss es sich nicht zwangsläufig um Erzählsituationen handeln, an denen mehrere Subjekte in Echtzeit beteiligt sind. Vergemeinsamung, Zeitbewusstsein oder Identität vermögen face-to-face-Erzählsituationen ebenso zu stiften wie die Rezeption von Hollywoodfilmen oder narrativen Videospielen, obgleich hier das Ausmaß an Kontingenz zu variieren vermag. Erzählen und/versus Leben Erzählen als kulturelle Praktik umfasst mehr als den bloßen „Nachvollzug gelebten Lebens“.141 Erzählen formt Leben. Nicht nur schafft Erzählen verbindliche, intersubjektive Handlungswirklichkeit, sondern letztere ist immer schon von einem narrativen Wissen durchsetzt, das in jedem Erzählprozess sinnstiftend aktualisiert wird. Anders jedoch als in Wilhelm Schapps letztlich tautologischer Annahme eines Ineinanderfallens von Geschichten und Welt gehen Handeln und Erzählen nicht vollends ineinander auf. Obgleich unser Handeln vom Narrativen geprägt ist, wird es nicht immer als narrativ wahrgenommen. Was also kommt zuerst: das Leben oder das Erzählen? Ob wir unser Leben nachträglich erzählend ordnen oder ob es immer schon narrativ strukturiert ist, jene häufig gegeneinander ausgespielten Entweder-Oder-Positionen müssen vor dem Hintergrund des bisher Erläuterten revidiert werden.142 Denn die besondere Qualität des Narrativen besteht darin, einerseits Handlung zu thematisieren, zu konfigurieren und damit fassbar zu machen und andererseits selbst ein Handeln zu sein. Erzählen ist Handlungskonfiguration und „Erzählhandeln“143 in einem. Wer erzählt, vollzieht einen Bruch mit Erlebtem, eine Distanzierung zu einer (vergangenen) Erfahrung und verstrickt sich zugleich erneut und anders mit der Welt. Erzählend erschafft man sich in Rekurs auf eine außerhalb des Erzählaktes zu verortende Erfahrung einen anderen und neuen Erfahrungs- und Handlungshorizont.

 141 MÜLLER-FUNK: Die Kultur und ihre Narrative, S. 146. 142 Für die erste Position immer wieder herangezogen wird Hayden White: WHITE: The Content of the Form. Für die zweite Position gelten als typische Stellvertreter David Carr und Alasdair MacIntyre: CARR: Time, Narrative, and History; MACINTYRE: After Virtue. Vgl. dazu auch BROCKMEIER und CARBAUGH (Hrsg.): Narrative and Identity, S. 10; ROLF: „‚Die Geschichte steht für den Mann‘“, S. 12. 143 RÖTTGERS: Die Lineatur der Geschichte, S. 341.

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Geschichten und Lebenswirklichkeit, so die Ausgangsthese für die folgenden Kapitel, sind in ihrer Verstrickung gegeneinander verschoben, ihre Überlappung ist asymmetrisch. Geschichten decken sich nie mit dem, wovon sie erzählen, und dennoch stiften sie notwendige, handlungsbezogene Verbindlichkeit und Gültigkeit. Erzählakte vermögen Zeitbewusstsein, Identität und Gemeinschaft zu generieren, welche jedoch immer nur als ein Verkennen von und als dissonante Annäherung an Erfahrungen von Zeit, Ich und Anderen möglich sind. Geschichten sind, wie Wolfgang Müller-Funk in Anspielung auf Theodor W. Adorno und Max Horkheimer präzisiert hat, „strukturlogisches ‚falsches Bewußtsein‘ und [...] doch zugleich anthropologisch einigermaßen unvermeidlich.“144 Erzählen ist zugleich ein Verfehlen und Ermöglichen von Erfahrung und Sinn. Erzählen als Vermitteln Medienphilosophisch gewendet stellt das Erzählen somit einen Vermittlungsvollzug, eine Übertragung dar, in der jenseits der Erzählsituation zu situierende Erfahrungen erzählend für die an einer Erzählsituation Beteiligten vermittelt und damit wahrnehmbar und erfahrbar gemacht werden.145 Zu Erzählen heißt, Erfahrungen qua narrativer Konfiguration modifizierend zu wiederholen und damit das zu Vermittelnde im Akt der Vermittlung neu und anders hervorzubringen. Hieran wird abermals eine performative Dimension narrativer Prozesse deutlich, in der das Moment von Wiederholung mit einem schöpferisch-kreativen Potential kurzgeschlossen wird: Die wirklichkeitskonstitutive Kraft des Erzählens liegt weder in einer autonomen Urheberschaft eines Autors oder Erzählers begründet, noch in einer rein passiven und passgenauen Reproduktion vorheriger Erfahrungen, sondern in einem Iterationsakt und einer darin erfolgenden Neuschöpfung, die wesentlich durch die jeweilige Erzählsituation samt deren Akteuren und Erzählmedien geprägt ist. Mit anderen Worten: Erzählprozesse generieren Wirklichkeit durch eine im narrativen Vermitteln erfolgende kreative, erzählsituationsspezifische Verschiebung von Erfahrung und Sinn. Eine solche medienphilosophische und performativitätstheoretische Perspektive ermöglicht es schließlich auch, das Erzählen als eine Wissensform zu verstehen, deren ‚Ursprung‘ im Sozialen, in einem zwischenmenschlichen Handeln und Kommunizieren liegt. Erzählakte sind weder als rein singuläre, von einem Erzähler initiierte, noch als binäre, das heißt zwischen Erzähler und Rezipient, zwischen Sender und Emp-

 144 MÜLLER-FUNK: Kulturtheorie, S. 30. 145 Folgende Überlegungen sind inspiriert durch Sybille Krämers Thesen zu Übertragungsakten. Vgl. KRÄMER: Medium, Bote, Übertragung. Zur aisthetischen Funktion von Medien vgl. MERSCH: Was sich zeigt, S. 18.

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fänger sich vollziehende Prozesse. Als performative Übertragungsakte eignet ihnen ein triadisches Verhältnis, dessen Rollen von Sender, Vermittler und Empfänger sich letztlich nicht klar, sondern nur mehr vordergründig differenzieren lassen. Jeder Sender ist immer schon Vermittler von Vorherigem, jeder Empfänger ist rezipierend immer schon Miterzähler, das heißt Sender und zugleich Vermittler von Zukünftigem. „Wer also erzählt die Geschichte, wenn nicht das freie Erzählsubjekt und nicht die Sache selbst?“, fragt Röttgers. Seine Antwort trotzt den meisten erzähltheoretischen Bemühungen, wenn es um die prominente Frage nach der Erzählerinstanz geht: „Wir alle sind es, die an den Erzählsituationen teilnehmen, die sich in den kommunikativen Text des Geschichtenerzählens einbringen.“146 Metalepsen Im Fokus der folgenden Analysen stehen Erzählprozesse in konkreten Erzählsituationen. Erzählprozesse bilden die konstitutiven Knotenpunkte zwischen Handlungskonfiguration und einem Erzählhandeln. Sie markieren die Schwelle zwischen Narration und Leben, zwischen narrativer Sinnstiftung und (Erzähl-)Erfahrung – eine Schwelle, auf der eine Unterscheidung zwischen diesen Polen zugleich hervorgebracht und verwischt wird. 147 Erzählen heißt, „sich in einer gespaltenen Zeit zu befinden, [...] in einer Zeit, von der erzählt wird [...] und einer Zeit, in der erzählt wird“.148 Eine Fokussierung auf Erzählprozesse verlangt entsprechend, sich bewusst in diesen unversiegelbaren Spalt hineinzubegeben und damit die performativ konstitutiven, die iterativen sowie die aisthetisch-ereignishaften Qualitäten des Erzählens, die sich auf dieser Schwelle tummeln, aufzumischen und sichtbar zu machen. In der klassischen Erzähltheorie nach Genette wird ein Sichtbarwerden des Erzählprozesses als konstitutive Schwelle zwischen Leben und Geschichten bezeichnenderweise genau dort zum Thema, wo es um das Phänomen der Metalepse geht. Metalepsen bezeichnen Momente der Transgression, des Eindringens eines diegetischen Universums in ein anderes, etwa wenn die Figuren eines

 146 Die beiden letzten Zitate: RÖTTGERS: Die Lineatur der Geschichte, S. 156. 147 Ein konstitutiver Effekt der narrativen Operation ist es, eine Unterscheidung von beiden Polen hervorzubringen, die jedoch in der Operation selbst gerade nicht existiert. Wenn also Leben und Erzählen als voneinander getrennte Bereiche betrachtet werden, so ist diese Feststellung letztlich selbst Resultat eines Verstricktseins in Geschichten. Vgl. dazu auch VALDIVIA OROZCO: „Narration and Knowledge or Narrative Knowledge?“. 148 MÜLLER-FUNK: Die Kultur und ihre Narrative, S. 145.

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Romans über den Autor sprechen. Dabei tritt der Vorgang des Erzählens als Wirklichkeitsgrenzen setzendes und aufhebendes Handeln zu Tage, was nicht selten einen verblüffenden, sogar unheimlichen Effekt auf die Rezipientinnen hat, wie Genette beschreibt: „Das Verwirrendste an der Metalepse liegt sicherlich in dieser inakzeptablen und doch so schwer abweisbaren Hypothese, wonach das Extradiegetische vielleicht immer schon diegetisch ist und der Erzähler und seine narrativen Adressaten“ – und an dieser Stelle wendet sich Genette an seine Leser – „d.h. Sie und ich, vielleicht auch noch zu irgendeiner Erzählung gehören.“149 Genette, der den Erzählprozess üblicherweise nicht im rezeptionsästhetischen Sinne versteht und dessen Erkenntnisinteresse weniger kulturanthropologischen Fragen bezüglich des Narrativen gilt, richtet seine Erläuterungen von Metalepsen überraschenderweise direkt an seine Leser. Nicht nur generiert er damit selbst in seiner sonst vom Leser distanzierten Rhetorik eine verblüffende, metaleptische Wirkung, indem er die Leser in sein hermetisch dicht abgestecktes, theoretisches Textuniversum hineinholt, das dabei nicht zuletzt selbst als eine theoretische Erzählung entlarvt wird. Vor allem aber macht Genette damit eine buchstäblich übergriffige Eigenschaft des Erzählens geltend: nämlich eine Verstrickung von alltäglicher und narrativ konstruierter Welt. Die „bizarre Wirkung“150 von Metalepsen verunsichert den Realitätsstatus aller an einer Erzählsituation Beteiligten und lässt einem die eigene Gegenwart als eine in Erzählungen verstrickte Gegenwart bewusst werden. Metaleptische Phänomene zwingen dazu, den Unterschied zwischen Erzählen und Leben weniger als klare Grenze, sondern als wirklichkeitskonstitutives Überlappungsfeld zu denken. Im Alltag befinden wir uns ständig erzählend im Schwellengebiet zwischen Leben und Geschichten. Hier gibt es keine saubere Trennung. Genau auf diese häufig unbewusste und unvermeidbare Verwischung diegetischer und lebensweltlicher Grenzen in unseren alltäglichen Erzählpraktiken machen die narrativen Aufführungsformen der Nullerjahre aufmerksam. Gerade in der Differenz zum klassisch-illusionistischen Theater, in dem Geschichten- und Lebenswelt weitestgehend architektonisch getrennt werden, entfalten jene partizipatorischen, teils interaktiven und improvisierten narrativen Aufführungsformen durch einen spielerischen Auf- und Abbau diegetischer Grenzen nicht selten metaleptische Wirkungen. Dabei wird das Theater zum Versuchslabor, in dem gemeinsam mit dem Publikum das Grenzgebiet alltäglicher narrativer Verstrickungen kritisch erkundet und dabei eine Vielfalt narrativer Lebens- und Weltentwürfe zur Aufführung gebracht wird.

 149 GENETTE: „Diskurs der Erzählung“, S. 169. 150 Ebd., S. 168.





III. Narrative Spiele „[Die Gemeinschaft] findet das Material ihres sozialen Bandes nicht nur in der Bedeutung der Geschichten, die sie erzählt, sondern auch im Akt von deren Vortrag. Die Referenz der Erzählungen kann als einer vergangenen Zeit angehörig erscheinen, sie ist diesem Akt in Wahrheit immer zeitgenössisch.“

1

FRANÇOIS LYOTARD

1. E RZÄHLEN

UND

S PIELEN

Spätestens seit dem Aufkommen der Video Game Studies und einer transmedialen Strömung in der Erzähltheorie steht das Verhältnis von Erzählen und Spielen verstärkt zur Diskussion. So findet sich zum Beispiel im repräsentativen Video Game Theory Reader kaum eine Publikation, in der diese Debatte nicht wenigstens angerissen wird. Der Grund: Im Kontext von Spielstrukturen wird das Erzählen zum Problem – zumindest solange es primär als strukturierte Einheit von dargestellten Geschehnissen gedacht wird oder mit einer singulären Autorschaft assoziiert wird, wie Britta Neitzel es überspitzt formuliert hat: „Narratives on the one hand and play and games on the other present us with opposing concepts. The former concerns the recounting of actions, the latter the actions themselves. […] Stories are based on linear chronology, whereas play has a circular structure.“2 Erzählen – so wird in diesen Diskussionen immer wieder deutlich –

 1 2

LYOTARD: Das postmoderne Wissen, S. 74. NEITZEL: „Levels of Play and Narration“, S. 46. Zu dieser Debatte vgl. WOLF und PERRON (Hrsg.): The Video Game Theory Reader. Darin v.a.: FRASCA: „Simulation versus Narrative“. In Hinblick auf eine radikale Gegenüberstellung von game und narrative hat die Erzähltheoretikerin Marie-Laure Ryan polemisch von einer

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steht für Abgeschlossenheit und Linearität, Spielen hingegen für Zufall, Interaktivität und Prozessualität.3 In diesem Kapitel wird anders argumentiert. Eine in den performativen Künsten der Nullerjahre häufig zu beobachtende narrative Praktik besteht nämlich darin, Erzählprozesse mit konkreten Spielstrukturen und -formen zu verschränken. Wie ich zeigen möchte, lassen jene narrativen Spiele die performativen Qualitäten des Erzählens auf besondere Weise zu Tage treten und geben schließlich Anlass dazu, das Erzählen selbst als ein Spielen zu beschreiben. Die hier vorgenommenen Überlegungen positionieren sich nicht nur jenseits vorherrschender ludologischer und narratologischer Auffassungen, wie sie in Neitzels Zitat anklingen, sondern ebenso jenseits gängiger theatertheoretischer Positionen. Denn auch in der Theatertheorie scheint eine dichotomische Sichtweise vorherrschend, wenn zum Beispiel Martina Lehnhardt in ihrer Monografie von 2008 über Spielstrukturen im Theater auf eine genuine „Unstimmigkeit im Verhältnis von Spiel und der Erzählung“4 verweist. Hier wird das Narrative nicht vom Erzählprozess, sondern von der Erzählung aus gedacht und damit tendenziell als bereits durchkomponiertes Produkt verstanden. Jene Gegenüberstellung greift nicht zuletzt auf eine Begriffstradition von ‚Spiel‘ zurück, wie sie sich gerade in Bezug auf eine Vielzahl avantgardistischer Theaterformen im 20. Jahrhundert herausgebildet hat. Eine Tendenz zur Dichotomisierung von Spiel und Narration lässt sich verstärkt dort beobachten, wo zunehmend zwischen Schauspiel/Drama einerseits und sozialem Spiel andererseits differenziert wird, beziehungsweise, wie im Englischen, zwischen play und game. ‚Play‘ wird dabei vornehmlich mit dem dramatischen Theater (play, engl. für Drama) in Verbindung gebracht, dessen narrative Qualitäten im weiteren Sinne trotz einer Auflösung der klassischen dramatischen Einheit im 20. Jahrhundert nicht wirklich in Frage gestellt werden (das Drama beruht gemeinhin auf einer Darstellung von Geschehnissen). ‚Game‘ hingegen steht für ein Theater, das sich von einer traditionellen dramatischen Theaterform samt dessen Fabeln abgrenzt und stattdessen eine Ebene des kollektiven, sozialen Spiels stark macht.5 Genau letztere

 „campaign against a narrative approach to games“ gesprochen. RYAN: Avatars of Story, S. 184. Ryan bezieht sich mit dieser Aussage vor allem auf Untersuchungen von Espen Aarseth, Gonzalo Frasca, Markku Eskelinen und Jesper Juul. 3

Vgl. dazu auch Kapitel II/2.2, Abschnitt „Theorien zum Erzählen in digitalen Umgebungen“.

4

LENHARDT: GrenzFall, S. 11.

5

Die Unterscheidung zwischen game und play wird – jenseits theaterbezogener Verwendungen – häufig als eine hierarchische beschrieben. So „bezeichnet das englische

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Form des Spiels hat in den experimentellen Aufführungspraktiken des 20. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung gewonnen. Oder um es mit Caillois’ Spieltypologie zu formulieren: Neben der Erschaffung einer Illusion von Realität durch die Prinzipien der Nachahmung und der Maskerade („mimicry“) hat im Zuge einer sich im 20. Jahrhundert in der Theaterpraxis vollziehenden „‚Entdeckung‘ des Performativen“6 eine Hinwendung zu Zufalls- und Glücksspielen („aela“), zu Wettkampfspielen („agon“) und zum Rausch („ilinx“) stattgefunden.7 Der Spielbegriff jenseits seiner Konnotation von ‚Schauspiel‘ oder von ‚Illusion‘8 wurde vor allem zu jenem Zeitpunkt prominent, wo zunehmend Formen körperlicher Interaktion zwischen Darstellern und Zuschauern Eingang ins Theater fanden, obgleich Implikationen von play auch in diesen Theaterformen stets anwesend blieben. Wenn zum Beispiel Bertolt Brecht von ‚Spiel‘ in Bezug auf seine Lehrstücktheorie sprach, war hiermit weniger die Verkörperung von Figuren gemeint, sondern im Fokus dieses Spielbegriffs stand das Moment eines – wenn auch streng nach vorgegebener Text-Partitur vollzogenen – Miteinander-Spielens: „Das Lehrstück lehrt dadurch, daß es gespielt, nicht dadurch, daß es gesehen wird. Prinzipiell ist für das Lehrstück kein Zuschauer nötig“,9 schrieb Brecht 1937. Obgleich in den interaktiven Theaterformen Brechts und später in der Neoavantgarde wie beispielsweise bei Augusto Boal oder Richard Schechner de facto Geschichten hervorgebracht wurden, lag der Fokus hier keineswegs auf dem Narrativen.10 Vielmehr deutete sich hier eine anti-traditionelle Theaterpra-

 play die Sphäre des Spiels, das Ludische, Spielerische, und games sind daraus nur ein Ausschnitt, eine Struktur, in der sich play entfalten kann, aber nicht muß“. ADAMOWSKY: Spielfiguren in virtuellen Welten, S. 20. 6

FISCHER-LICHTE: „Grenzgänge und Tauschhandel“, S. 1.

7

CAILLOIS: Die Spiele und die Menschen, S. 20ff. Zu Spielformen im Gegenwartsthea-

8

Etymologisch betrachtet vereint das Illusionstheater Täuschung und Spiel: illusio, lat.

ter vgl. LENHARDT: GrenzFall ; MATZKE: Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern, S. 164. für Täuschung; illudere, lat. für spielen mit/um. 9

BRECHT: „Zur Theorie des Lehrstücks“, S. 351.

10 Vgl. dazu auch Kapitel I/2.1, Abschnitt „Narration und Interaktion: Erzählen im interaktiven Theater der 1960er und 1970er Jahre“. In Augusto Boals Forumtheater wurden die Zuschauer beispielsweise dazu veranlasst, die von Schauspielern zunächst vorgespielten Szenen gesellschaftlicher Unterdrückung zu unterbrechen und diese Szenen selbst mitspielend zu modifizieren. „In seinem Aufbau“, schrieb Boal, „ähnelt das Forumtheater einem Wettkampf, einem Spiel, und läuft daher nach bestimmten Spielregeln ab“, die von den Schauspielern als „Spielleiter“ vom Rand der Bühne aus den spielenden Zuschauern gegeben werden. BOAL: Theater der Unterdrückten,

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xis im Umgang mit Spielformen an, die schließlich vom postdramatischen Theater weitergetrieben wurde und die vor allem auf die ko-präsentischen Qualitäten der Aufführung zielte. Denn das gemeinsame Spielen vermag generell die Aufmerksamkeit auf die flüchtige Gegenwart der Aufführung zu lenken und damit eine Situationen der Herausforderung an die Spielerinnen im Spielvollzug selbst zu schaffen. Folglich fungiert der Begriff ‚Spiel‘ häufig als Beschreibungsmetapher von Aufführungen und wird mitunter sogar als Strukturmerkmal von Aufführungen selbst angesehen. 11 Im Zuge jener postdramatischen Tendenz lässt sich bis heute, wie in Kapitel II verdeutlicht, eine theoretische Marginalisierung des Narrativen beobachten. Anstatt das Narrative im Theater anders, das heißt jenseits dramatischer Geschehensdarstellung zu fassen, hat es theatertheoretisch an Bedeutung verloren. Während also dem Spiel, verstanden als play, durchaus eine narrative Qualität im Sinne einer dramatischen Fabel zugeschrieben wird, wird das mit postdramatischen Aufführungspraktiken assoziierte game weitestgehend frei von Narration gedacht. Etwa wie Richard Schechner es formuliert hat: Im „post-dramatic theatre [...] rules replace plots. [...] [T]he story yields to the game as the generative matrix of the theatrical situation.“12 Solange ein Denken von Narration primär an ein dramatisches Fabel-Theater gekoppelt wird, scheint ‚Spiel‘, wie es zuvorderst im Kontext eines postdramatischen Theaters verstanden wird, dem Narrativen gegenüber zu stehen. Die soziale Realität der

 S. 71f. Als „kreative Spielform“ (ebd.) wird Theater hier zu einer kollektiven Probenzeit, zu einem utopischen Übungsplatz für eine veränderte, zukünftige Realität. Das Spiel steht hier nicht nur für ein fiktionales Rollenspiel, sondern vor allem für ein kollektiv-reales Miteinander und negiert damit die Differenz zwischen „fiktiver Realität des Theaters“ (ebd., S. 67) und einer ‚realen Realität‘ außerhalb des Theaters. 11 Bereits in den 1950er Jahren verwies der Spieletheoretiker Johan Huizinger auf die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Spiel und Aufführung. Bei allen von Huizinger untersuchten Spielformen – wie z.B. Rituale, Wettkämpfe, Rollenspiele, Turniere – handelt es sich um Aufführungssituationen. Vgl. HUIZINGER: Homo Ludens, S. 16. Auch in der Soziologie der 1960er Jahre, beispielsweise bei Erving Goffman, findet man einen ähnlichen Spielbegriff, etwa wenn Goffman, mit einem direkten Verweis auf Huizinger, von alltäglichen face-to-face-Interaktionsritualen spricht und diese dabei als Spiele im Sinne einer „weltenschaffende[n] Tätigkeit“ bezeichnet. GOFFMAN: Interaktion, S. 30. Zugleich entwickelt Goffman eine Theorie sozio-kulureller Rahmungen und nimmt dabei Bezug auf das Theater als ein Modell für Rollenspiele. Vgl. ders.: Wir spielen alle Theater. 12 SCHECHNER: Performance Theory, S. 22.

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Aufführung wird einer narrativen Repräsentation entgegen gesetzt – ganz im Sinne der eingangs erwähnten spiel- und erzähltheoretischen Auffassung: „[Narrative] concerns the recounting of actions, the latter the actions themselves.“13 Erzählen als Spielen Die narrativen Aufführungspraktiken der Jahrtausendwende, in denen das Erzählen als soziale Praktik und Performanz zum Thema wird, wirbeln jenen Dualismus durcheinander. Denn hier werden Spielstrukturen jeglicher Art – sowohl games als auch plays im Sinne von gemeinsamen Rollenspielen 14 – mit der Tätigkeit des Erzählens verknüpft. In der Performance And on the Thousandth Night der englischen Theatergruppe Forced Entertainment zum Beispiel wird das mündliche Erzählen zu einem marathonartigen Erzählwettkampf zwischen acht Erzählperformern, die sechs Stunden lang erzählend um die Aufmerksamkeit des Publikums ringen. Das Spiel folgt dabei einer einfachen stop-and-go-Regel. Droht die Geschichte eines Performers langweilig zu werden oder in eine unerwünschte Richtung zu laufen, kann der Performer jederzeit von einer anderen Performerin unterbrochen werden, die wiederum entweder die Geschichte erneut beginnt, modifiziert oder eine völlig neue Geschichte erzählt. Auf diese Weise werden die Zuschauer in ein narratives Kräftespiel verwickelt, bei dem zweierlei, für Erzählsituationen grundlegende Mechanismen buchstäblich aufs Spiel gesetzt und damit sichtbar gemacht werden: Zum einen wird ein narratives Begehren angekurbelt, das jedoch niemals befriedigt wird, da die begonnenen Erzählungen nicht zu einem Ende gebracht werden. Zum anderen tritt ein im Verlauf des Erzählwettkampfes entstehender Geschichtenkanonen zu Tage, der exemplarisch die Entstehung einer auf Narrationen beruhenden Gemeinschaft erfahrbar werden lässt. Eine andere Verknüpfung von Spielen und Erzählen wird in der Performance Die Erscheinungen der Martha Rubin – The Ruby Town Oracle (kurz: Ruby Town) des dänisch-österreichisch-schwedischen Künstlertrios SIGNA reali-

 13 NEITZEL: „Levels of Play and Narration“, S. 46. 14 Wie bereits Johan Huizinger betont hat, ist auch sozialen Spielen ein ‚play-Anteil‘ inhärent. Spiele besitzen ihm zufolge einen zwischen Ernst und Unernst oszillierenden Realitätsstatus beziehungsweise sind der sozialen Welt zugleich zugehörig wie enthoben. Vgl. HUIZINGER: Homo Ludens, S. 16f. Ebenso ist das Theater-Spiel immer beides: soziales Spiel im Hier und Jetzt sowie ein „Weltenraum des Möglichen, des Virtuellen, der Phantasie, des Negativs, des ‚Nicht-Nicht‘“. SCHECHNER: Theater-Anthropologie, S. 218.

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siert. 15 Hier werden die Besucher zu Teilnehmern eines Rollenspiels, dessen immersive, realitätsgenerierende und zugleich realitätsverunsichernde Kraft sich nur dann entfaltet, sofern man sich als Besucherin mündlich erzählend, zuhörend und weitererzählend auf die hyperrealistische Rollenspielinstallation einlässt. Das Anvertrauen von Geheimnissen, die Aussagen von Zeugenberichten und das Weitertragen von Gerüchten bilden die Grundlage des sozialen Netzwerkes einer fiktiven Parallelgesellschaft, in die sich jeder mit-erzählende Zuschauer mit-verantwortlich verstrickt. In diesem Kapitel möchte ich die narrativen Spiele And on the Thousandth Night und Ruby Town näher beleuchten. Dabei verwende ich den Spielbegriff auf zweierlei Weise: einmal eng gefasst als Gegenstand und einmal weit gefasst als Metapher. Den engen Spielbegriff beziehe ich auf konkrete Spielformen (Rollenspiele, Wettkampfspiele, Glücksspiele, usw.). Den weiten Spielbegriff hingegen verwende ich als Beschreibungsmetapher für soziale Performanzen. In beiden zu untersuchenden Performances werden Erzählprozesse mit Spielformen (enger Spielbegriff) verknüpft. Durch diese Verknüpfung tritt, so die These, das Erzählen als ein Spielen (weiter Spielbegriff), das heißt als soziale Performanz zu Tage. Mit anderen Worten: Das ‚Spielen mit dem Erzählen‘ (enger Spielbegriff) bringt dessen spielerische, performativ-soziale Qualitäten zur Aufführung (weiter Spielbegriff). Sichtbar werden die involvierenden affektiven Zugkräfte des Erzählens sowie das Potential des Erzählens, soziale Wirklichkeit zu stiften. Spiele sind „niemals [...] solitäre Aktion[en]“. 16 Als narrative Wettkampfspiele, Rollenspiele oder Zufallsspiele veranlassen daher auch die in diesem Kapitel untersuchten narrativen Spiele zu einer besonderen Form der Teilhabe. Die Zuschauer verfolgen dabei nicht bloß eine ihnen dargebotene Geschichte, sondern sind aufgefordert, die für das jeweilige narrative Spiel gültigen Regeln, in denen das Erzählen eingebettet wird, mit zu vollziehen. Die mit dem Erzählprozess verwobene Spielstruktur bewirkt eine Ko-Autorschaft, ein gemeinschaftliches, mehr oder weniger stark partizipatorisches Erzählen. Narrative Spiele ermöglichen eine herausragende Involvierung der Beteiligten in den Erzählvorgang und lenken auf diese Weise die Aufmerksamkeit auf dessen Erfahrungsqualität und soziale Konstitutionsleistung. Zugespitzt formuliert: Indem die hier untersuchten narrativen Spiele mit dem Erzählen spielen, tritt eine soziale

 15 Ruby Town hatte am Schauspiel Köln in der Halle Kalk 2007 Premiere. 16 Wie die Kulturtheoretikerin Natascha Adamowsky theatermetaphorisch beschrieben hat, sind Spiele „niemals [...] solitäre Aktion[en], sondern stets [...] innere Konversation[en] zwischen ‚Autor‘, ‚Schauspieler‘, ‚Regisseur‘ und ‚Publikum‘, seien sie nun real oder imaginiert.“ ADAMOWSKY: Spielfiguren in virtuellen Welten, S. 66f.

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Dimension des Erzählens hervor, die in und durch den kollektiven Prozess des Erzählens eine interpersonelle Annäherung der Beteiligten ermöglicht und eine Erzählgemeinschaft zu legitimieren imstande ist, ohne dass jene Gemeinschaft dabei jemals gänzlich zu Konsens und Identität gelänge. Ein Zusammendenken von Spielen und Erzählen findet man bereits in postmodernen erzähltheoretischen Ansätzen.17 Hierin wurde das Spiel jedoch vornehmlich semiotisch gedacht: als Oszillationsfigur zwischen Bedeutungsebenen und als ein Aufschub von Sinn im Zusammenspiel von Text und Leserin.18 Der Begriff ‚Spiel‘ im weiteren Sinne, wie ich ihn in diesem Kapitel verwende, zielt demgegenüber auf eine Performativität des Erzählens, die zwar auch eine oszillierende Bewegung narrativer Sinngebung mit einschließt, die jedoch zudem die situativ-partizipatorischen Effekte sowie die gemeinschaftskonstitutiven Wirkungen von Erzählperformanzen konsequent mitberücksichtigt. Aufführungen vermögen letztere Qualitäten besonders hervorzuheben, handelt es sich doch bei Aufführungen, wie postdramatische Theaterformen und eine Theateranthropologie dezidiert betont haben, um soziale kommunikative Begegnungen unter den Bedingungen einer face-to-face-Situation. Dass sich eine solche face-to-faceSituation dabei unter Umständen zuallererst vor dem Hintergrund narrativer Prozesse zu gestalten vermag, auch dies zeigen die hier untersuchten narrativen Spiele. Um die Idee des Erzählens als ein Spielen beziehungsweise als soziale Performanz zu präzisieren, möchte ich die folgenden Aufführungsanalysen in Beziehung zu Ludwig Wittgensteins und François Lyotards Überlegungen zu narrativen Sprachspielen setzen. Obgleich beide Theoretiker das Erzählen vornehmlich sprachlich fassen, lassen sich ihren Überlegungen doch zentrale Konnotationen des Spielbegriffs entlehnen, die in vielen nicht nur sprachlich verfassten narrativen Praktiken in den performativen Künsten der Nullerjahre relevant

 17 Insbesondere nehmen Patrick O’Neill und Andrew Gibson Bezug auf Derridas Spielbegriff. Vgl. O’NEILL: Fictions of Discourse; GIBSON: Towards a Postmodern Theory of Narrative. 18 Vgl. hierzu auch die philosophische Perspektive von Ruth Sonderegger, die ‚Spiel‘ als Begriff und Prinzip einer vornehmlich in Bezug auf Sinnkonstitution gedachten ästhetischen Erfahrung begreift: „Dem Verstehen wird nicht ein Nichtverstehen entgegengehalten, sondern beide werden im Modus des Spiels verworfen und wieder restituiert. [...] Die ästhetische Erfahrung endet gar nicht. Ihr Spiel ist ein strukturell unendliches.“ SONDEREGGER: Für eine Ästhetik des Spiels, S. 14. Sonderegger verknüpft und erweitert dabei einen hermeneutischen (Gadamer) und dekonstruktivistischen (Derrida) Spielbegriff.

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werden. Wittgensteins und Lyotards jeweiliges Verständnis von ‚Spiel‘ erlaubt es, das Narrative vom Erzählprozess und von dessen Wirkung im Vollzug her zu denken. Den Spielbegriff im Kontext dieser Studie fruchtbar zu machen, muss daher nicht zuletzt als mein eigener Sprachspielzug verstanden werden, das Narrative nicht als durchkomponierte Struktur, sondern konsequent als strukturierenden, involvierenden und realitätsgenerierenden Prozess zu denken.

 2. E RZÄHLEN

ALS

(S PRACH -)S PIEL (W ITTGENSTEIN )

Spiel als Performanz „Eine Geschichte erfinden, und lesen“, „Einen Witz machen, erzählen“ oder das „Berichten eines Hergangs“19 stellen nur einige der narrativen Sprachspiele da, die Ludwig Wittgenstein neben vielen anderen, nicht-narrativen Sprachspielen in seinen Philosophischen Untersuchungen anführt. Was ist zunächst unter einem Sprachspiel zu verstehen und was genau kennzeichnet das Spielerische am Sprachspiel? Grundsätzlich lassen sich Wittgensteins philosophische Fragmente zum Sprachspiel als eine Performativitätstheorie avant la lettre in zweifacher Hinsicht beschreiben. Gehen seine Gedanken erstens den sprechakttheoretischen Überlegungen von John L. Austin und John R. Searle zeitlich voraus, weisen sie zweitens konzeptuell bereits über diese hinaus, indem sie eine kulturtheoretische Fundierung des Performativitätskonzepts, welches nicht nur auf Sprachhandlungen, sondern auf Handlungen allgemein zielt, bereits andeuten und vorwegnehmen. Denn für Wittgenstein bedeutet Sprache eine „Lebensform“, 20 die alle sprachlichen ebenso wie nicht-sprachlichen Praktiken und Handlungsweisen einer Sprachgemeinschaft mit einschließt. Der Begriff ‚Spiel‘ dient Wittgenstein zunächst dazu, seine eigens in der frühen Schrift Tractatus logico-philosophicus aufgestellte These zu widerlegen, nach welcher sich das „Wesen der Sprache [...] unabhängig von jeder [...] Erfahrung“21 erfassen ließe. In den Philosophischen Untersuchungen hingegen stellt Wittgenstein den Sprachgebrauch in den Vordergrund: „Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit“.22 Der bekannte Satz: „Die Bedeutung des Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“23 verdeutlicht paradigmatisch Wittgen-

 19 WITTGENSTEIN: „Philosophische Untersuchungen“, § 23. 20 Ebd. 21 Ebd., § 92. 22 Ebd., § 23. 23 Ebd., § 43.

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steins antimetaphysischen Schritt auf die Oberfläche der Sprachpragmatik, auf der eine Trennung von Sprachkompetenz und -performanz nie wirklich möglich ist, da es keine Sprache außerhalb ihres Gebrauchs geben kann.24 Den Witz des Spielens ausspielen Wittgenstein verwendet das Wort ‚Spiel‘ gleich in dreifacher Weise: Erstens als Begriff und Metapher zur Betonung des pragmatisch-performativen Zugangs zur Sprache, zweitens als Gegenstand selbst (hier bezieht sich ‚Spiel‘ auf konkrete Spielformen) und drittens markiert ‚Spiel‘ Wittgensteins eigene Methode, das heißt eine besondere Form der Sprachverwendung. Anders formuliert: Wittgenstein spielt ein eigenes Sprachspiel, um dem Wort ‚Spiel‘ eine Bedeutung zu verleihen und um es zu theoretisieren. Was genau jedoch ist für Wittgenstein das Spezifische am Spiel, welches ihm erlaubt, dieses Phänomen für sein Anliegen auf so vielen Ebenen fruchtbar zu machen? Warum verwendet er ausgerechnet den Begriff ‚Spiel‘ und nicht einen anderen? Als markant gilt ‚Spiel‘ für Wittgenstein zunächst insofern, als es sich in einer Idealform nicht beschreiben lässt. Das Spiel an sich gibt es nicht. Wittgensteins zahlreiche Beispiele wie das Ballspiel, das mimetische Kinderspiel, das Schachspiel, das Kartenspiel, usw. – Spiele übrigens, die nicht nur game, sondern auch play sind 25 – weisen zwar viele Gemeinsamkeiten, aber ebenso viele Unterschiede auf. Wittgenstein spricht diesbezüglich von einer

 24 Vgl. WITTGENSTEIN: „Philosophische Untersuchungen“, § 120. Zur Differenz zwischen Kompetenz und Performanz vgl. CHOMSKY: Aspekte der Syntax-Theorie, S. 14f. Wittgensteins primäres Anliegen ist die grundsätzliche Ablehnung jeglicher Metaphysik zugunsten einer an Alltagspragmatik orientierten Philosophie: „Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – ‚Wissen‘, ‚Sein‘, ‚Gegenstand‘, ‚Ich‘, ‚Satz‘, ‚Name‘ – und das Wesen des Dings zu fassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? – Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.“ Ebd., § 116. 25 Martin Puchner hat auf die play-Implikationen in Wittgensteins Sprachspielkonzeption hingewiesen und betont, dass Wittgenstein bei seiner eigenen Übersetzung der Philosophischen Untersuchungen ins Englische nicht ohne Zögern und letztlich vor allem aus pragmatischen Gründen den Begriff ‚game‘ verwendet habe. Vgl. PUCHNER: „Wittgenstein’s Language Plays“, unveröffentlichter Vortrag auf der Tagung Performance and Philosophy des Sonderforschungsbereichs 447 „Kulturen des Performativen“ an der Freien Universität Berlin, 2010.

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„Familienähnlichkeit“,26 die eine Verwandtschaft und zugleich Disparatheit des Phänomens deutlich machen soll. Da ‚Spiel‘ keine eindeutige Bedeutung hat, kann allein der situative Gebrauch dem Wort Bedeutung geben, das heißt ihm einen akuten Zweck – einen „Witz“27 – verleihen. Wenn es etwas gibt, worüber Wittgenstein eine verbindliche Aussage trifft, dann ist es nicht eine Bestimmung des Spiels als solches, sondern eine Bestimmung (und damit Anwendung) der Praxis des Sprachspielens. Sprachspielen bedeutet dabei, eine kontextabhängige und zweckgebundene Regelanwendung und -setzung zu vollziehen. So wird dem Wort ‚Spiel‘ durch Wittgenstein selbst sprachspielend eine Bedeutung verliehen. Je nach Kontext („Paradigma“28) werden beständig neue Wortverwendungsregeln aufgestellt, die dem Begriff ‚Spiel‘ in actu einen „Witz“ verleihen. Wittgenstein formuliert dies folgendermaßen: „Aber dann ist ja die Anwendung des Wortes [‚Spiel‘] nicht geregelt; das ‚Spiel‘, welches wir mit ihm spielen, ist nicht geregelt. [...] Wir kennen die Grenzen [von ‚Spiel‘] nicht, weil keine gezogen sind. […] [W]ir können – für einen besonder[e]n Zweck – eine Grenze ziehen.“

29

Wittgensteins eigener Gebrauch des Wortes ‚Spiel‘ in der Reflexion über das Spiel stellt selbst ein Spielen im Sinne eines Regel-(Neu-)Gebrauchs dar, der sich durch eine Reziprozität aus Regelhaftigkeit und Erfindung auszeichnet.30 Das Spiel – so ließe sich der Witz von Wittgensteins eigenem Sprachspiel beschreiben, den er dem Spiel sprachspielend verleiht – steht für einen gültigkeits- und damit wirklichkeitskonstitutiven Mechanismus von (Sprach-)Praxis. In Wittgensteins eigenem Sprachspiel mit dem Spiel, in welchem er ‚Spiel‘ mit Bedeutung auflädt, indem er es anwendet, treten dabei zweierlei, für mein Anliegen zentrale Stilmittel besonders hervor: Die Imperativstruktur seines Tex-

 26 WITTGENSTEIN: „Philosophische Untersuchungen“, § 66. 27 Ebd., § 564. 28 Ebd., § 50. 29 Ebd., § 68 und 69. 30 Eine solche Anwendung kann auch misslingen. Spiele haben nur einen wirkungsvollen Sinn, wenn sie im aktuellen Kontext („Paradigma“) einen Zweck („Witz“) erfüllen. „Spielzüge“ im Sinne einer Regelanwendung können demnach ihren „Witz“ verfehlen und damit das Sprachspiel beenden. Vgl. ebd., § 57 und 564.

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tes und die Anwendung von Exempeln, von „fiktiven Sprachspielen“,31 zu denen auch das mündliche Erzählen gehört. Spielen als intersubjektives Aushandeln Imperativisch gestaltet sich der Text insofern, als Wittgenstein mit einem ‚Du‘ ins Gespräch tritt, dem unablässig Handlungsanweisungen gegeben werden: „Denke dir ein Sprachspiel“, „Führe dir [...] vor Augen“.32 Obgleich eine Anrede an die Leserin als mögliche Intention Wittgensteins vehement bestritten wurde und das ‚Du‘ vielmehr im Sinne eines Selbstgesprächs interpretiert werden muss,33 birgt eine solche Anrede doch unweigerlich die Wirkung eines Imperativs an die Leserin. Der Text hat eine herausfordernde Wirkung, die Wittgensteins Spiel mit dem Spiel als einen intersubjektiven Vorgang deutlich werden lässt: Ich fühle mich aufgefordert, das Sprachspiel Wittgensteins mitzuspielen und nicht nur Zeugin seiner „allmähliche[n] Verfertigung der Gedanken beim Reden“,34 sondern auch deren aktive Mitproduzentin zu sein. Indem jedes ‚Du‘, jedes ‚Wir‘ und jede rhetorische Frage eine Aufforderung an mich richtet, werde ich beständig auf die Gegenwart des Mitspielens selbst zurückgeworfen. Sprachspiele, wie hier im Dialog selbstreferenziell verdeutlicht, zeichnen sich aus durch eine oszillierende Bewegung im Vollzug, durch die etwas wirksam Verbindliches und situativ Zweckmäßiges entstehen kann. Ein Sprachspiel ist keine singuläre Einheit, sondern ein wechselseitiger, intersubjektiver Prozess, der in Wittgensteins Text angelegt und damit im Nach-Vollzug von mir als Leserin aktiviert und mitgespielt wird.35

 31 SCHULTE: Wittgenstein, S. 162f. 32 Letzen beiden Zitate: WITTGENSTEIN: „Philosophische Untersuchungen“, § 21 und 23. 33 „Mitunter hört man die Klage, Wittgenstein rede den Leser mit ‚du‘ an. Das ist nicht nur albern, sondern falsch. Der Angeredete ist Wittgenstein selbst in einer seiner zahlreichen Personifizierungen, denn der Gesprächspartner ist stets ein Alter ego“. SCHULTE: Wittgenstein, S. 133. 34 KLEIST: „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. 35 Der Gebrauch des imperativisch-spielerischen Stilmittels hat epistemologische Gründe: „Wollte man Thesen in der Philosophie aufstellen, es könnte nie zur Diskussion kommen, weil Alle mit ihnen einverstanden wären.“ WITTGENSTEIN: „Philosophische Untersuchungen“, § 128.

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Spiel als Epistem: Exemplifizieren, Erfinden, Erzählen Die zweite Spielform mit dem Spiel stellen die zahlreichen „erfundenen Sprachspiele“36 dar, zu deren Imagination Wittgenstein auffordert und welche, ebenso wie die Dialogform des Textes, eine epistemologische Funktion übernehmen. „Das Exemplifizieren“, das Wittgenstein mittels zahlreicher erfundener, bilderreicher Szenarien verwirklicht, „ist hier nicht ein indirektes Mittel der Erklärung, – in Ermangelung eines Bessern. Denn, mißverstanden kann auch jede allgemeine Erklärung werden.“37 Vielmehr fungiert das Exemplifizieren als bedeutungsgenerierender Spielzug in Wittgensteins sprachspielerischem Philosophieren. Der Philosoph ist hier gewissermaßen ein Spieler, der Bekanntes und Reglementiertes in neue Kontexte stellt und damit nicht nur neue Regeln schafft, sondern im Spielen den Mechanismus des (Sprach-)Spielens selbst überhaupt sichtbar macht, ihn ‚hinstellt‘: „Die Philosophie stellt eben alles bloß hin, und erklärt und folgert nichts. – Da alles offen daliegt, ist auch nichts zu erklären.“38 Ein solches Vorgehen erinnert an künstlerische Praktiken und so ist es sicherlich kein Zufall, dass Wittgenstein sein Philosophieren immer wieder mit künstlerischen Tätigkeiten vergleicht, insbesondere mit der des Zeichnens, wenn er zum Beispiel die Philosophischen Untersuchungen als „nur ein Album“ mit einer „Menge von Landschaftsskizzen“ 39 bezeichnet. Das Wort „nur“ verweist dabei auf die Unvollständigkeit von Wittgensteins Text, dessen bruchstückartige Form an künstlerische Techniken wie die des Fragmentierens und Collagierens erinnern, die hier mit dem Begriff ‚Spiel‘ zum philosophischen Epistem erklärt werden. In diesem Kontext erhält nun auch das Erzählen als ein spezifisches ‚erfundenes‘ Sprachspiel eine besondere Bedeutung, wie Joachim Schulte über Wittgenstein schreibt: „‚Erfinden‘ [...] gehört zum Geschäft des Philosophen, nämlich im Sinne des Erzählens erfundener Geschichten“.40 Auch wenn sich nicht alle von Wittgenstein erfundenen Sprachspiele als narrativ beschreiben lassen, zählt das Hervorbringen von Geschichten, wie eingangs beschrieben, zu den von Wittgenstein erläuterten Sprachspielen („Eine Geschichte erfinden, und lesen“, „Einen Witz machen, erzählen“, „Berichten eines Hergangs“), wobei Wittgenstein Tonfall, Gebärden und Miene als Teil narrativer Sprachspiele versteht.41

 36 SCHULTE: Wittgenstein, S. 145. 37 WITTGENSTEIN: „Philosophische Untersuchungen“, § 71. 38 Ebd., § 126. 39 Ebd., S. 231. 40 SCHULTE: Wittgenstein, S. 162f. 41 Vgl. WITTGENSTEIN: „Philosophische Untersuchungen“, § 21. Vorherige Zitate: Ebd., § 23.

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Daraus möchte ich für mein Anliegen Folgendes schließen: Das Erzählen als Spiel zu verstehen, bedeutet mit Wittgenstein, das Erzählen als einen immer schon intersubjektiv verfassten Prozess zu denken, als eine „Lebensform“ und damit als ein Handeln, das selbst – regelsetzend – einen Handlungs- und Gültigkeitsrahmen zu errichten imstande ist. Wenn das Erzählen ein erfinderisches Spielen darstellt, das exemplifizierend keineswegs ein Substitut für etwas ‚eigentlich‘ zu Umschreibendes, sondern selbst das ‚Eigentliche‘ ist, dann wird dem Erzählen eine wissenskonstitutive Funktion zugesprochen. Qua Erzählakt ist es möglich, Dingen, Ereignissen oder Handlungen zuallererst einen folgenreichen „Witz“ zu verleihen. Diese performative Kraft des Erzählens wird in Forced Entertainments And on the Thousandth Night exemplarisch in Szene gesetzt. Das hier vollzogene, unterhaltsame Erzählspiel funktioniert wie eine sich selbst antreibende Erzählmaschine, in der wettstreitende Geschichtenerzähler den Witz narrativer Antriebskräfte und hegemonialer Erzählstrukturen aufs Spiel setzen. So wie Wittgenstein mit dem Spielen spielt, so spielen Forced Entertainment mit dem Erzählen: Die Performance ‚umspielt‘ die Mechanismen narrativer Sinngebungsprozesse und deckt dabei deren performativ-spielerische Qualitäten auf.

 3. ... UND IN DER TAUSENDSTEN N ACHT . E IN W ETTKAMPF (F ORCED E NTERTAINMENT )



Erzählwettkämpfen Acht Performer spielen ein Erzählspiel. Sie setzen sich in eine Stuhlreihe direkt vor das Publikum und einer der Performer beginnt zu erzählen: „Once upon a time there was...“.42 Improvisierend erzählt er eine Geschichte, deren Erzählung so lange andauert, bis eine andere Performerin „Stop!“ ruft und eine neue Geschichte mit derselben Formel zu erzählen beginnt: „Once upon a time there was...“, und so fort. Sechs Stunden lang stehen die Performer in einem harten Wettbewerb. Wer kann die beste Geschichte erzählen? Wer hat spontan die spannendste Geschichte parat? Wer kann seine Geschichten am unterhaltsamsten rüberbringen? Wer kann die Pointe seiner Geschichte am effektvollsten hinauszögern, ohne jedoch dadurch die Pointe selbst zu verlieren und Gefahr zu laufen, von seinem Nachbarn unterbrochen zu werden? Wer erfindet ad hoc den sich in das bisher Erzählte am geschmeidigsten einfügenden Plot, in welchem möglichst

 42 Die Zitate aus And on the Thousandths Night sind meinem Aufführungsprotokoll entnommen.

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viele Motive vorheriger, halbfertiger Geschichten aufgegriffen, zusammengebastelt und schließlich zu einem befriedigenden Abschluss gebracht werden? Wer schafft es, durch zeitlich geschickt gesetzte Unterbrechungen seine Kollegen dermaßen aus dem Konzept zu bringen, dass diese nicht nur garantiert den Faden in ihren narrativen Gebilden verlieren, sondern sich möglichst verärgert auf die für Verschnaufpausen vorgesehene Hinterbühne verziehen? Wer rührt das Publikum samt Kollegen am meisten, wer entlockt seinen Zuhörern die lautesten Lacher? Wer kreiert die längsten mit Spannung gefüllten Momente des Innehaltens, so dass ein anderer Performer – absorbiert von der Erzählung – erst gar nicht auf die Idee kommt, einem in die eigene Geschichte zu funken?

 3.1 

FABULA INTERRUPTA .

N ARRATIVES B EGEHREN

Verführt durchs Erzählen Forced Entertainments Performance And on the Thousandths Night funktioniert wie ein mittelalterlicher Dichterwettbewerb, bei dem das Publikum die Rolle der umworbenen Dame einnimmt. Dass dieses buchstäbliche forced entertainment als Verführungsspiel zumeist gelingt, liegt vor allem in der Spielregel eines stop-and-go begründet. Diese einfache Regel hält die Zuschauer bei der Stange, indem sie sie um die Pointe jeder angerissenen Geschichte bringt. Die abrupte Unterbrechung der erzählten Geschichte – die fabula interrupta – lenkt dabei die Aufmerksamkeit auf die Erzählsituation samt narrativem Konfigurationsprozess. Dabei funktioniert das Moment der Interruption ähnlich wie ein Wittgensteinscher Spiel-Imperativ: Es fordert mich und die anderen Zuhörer zum Mitspielen, das heißt zum Miterzählen auf und verwickelt uns auf diese Weise in ein narratives Begehrensspiel. Denn da die Gefahr der Unterbrechung mit jedem neuen Geschichtenanfang immer schon in der Luft liegt, werde ich als Zuhörerin veranlasst, die Geschichten – imaginativ miterzählend – selbst immer schon auf ein mögliches Ende hin zu entwerfen. Dabei lässt der den Erzählfluss störende Rhythmus jenes narrativ-energetische Kraftzentrum in den Vordergrund treten, das jedem Erzählakt zugrunde liegt: ein telos, das als Attraktionspol in jeden Erzählprozess hineinwirkt und diesen vorantreibt. Ins Zentrum rücken die zeitenübergreifenden und dabei Zeit konfigurierenden narrativen Operationen einer vorgängigen und nachträglichen Linearisierung vor dem Hintergrund eines angenommenen Ziels, das heißt eine in jedem Erzählschritt immer wieder neu erfolgende, vorgängige und nachträgliche Anpassung der Geschehnisse auf einen möglichen Ausgang hin. Auf die Bühne treten die Meistertropen des plotting: die

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Antizipation einer Retrospektion und eine retrospektive Teleologisierung des bisher Erzählten.43



Abbildung 1: Forced Entertainment: An on the Thousandths Night (2000)

Foto: Hugo Glendinning

In And on the Thousandths Night wird das Begehren eines Endes am eklatantesten in solchen Momenten in Szene gesetzt, in denen ein Performer seinen Kollegen nur wenige Sekunden vor dessen Pointe unterbricht, sich in Folge dessen ein entsetztes Geraune durch den Zuhörersaal pflanzt und der betroffene Geschichtenerzähler sich brüskiert auf die Hinterbühne verdrückt. Das Begehren eines narrativen telos’ wird jedoch auch in jenen seltenen Augenblicken deutlich, in denen eine Pointe tatsächlich gelingt und alle Anwesenden erleichtert auflachen. Anstatt aber in diesem erlösenden Zustand zu verharren, der höchstens noch durch eine selbstzufriedene Geste seitens der betroffenen Erzählerin in die Länge gezogen wird, rücken viele der Anwesenden nach einem derartigen erzählerischen amuse geule sogleich wieder auf die Kante ihres Sitzes, um das Erzählspiel von vorne beginnen zu lassen. Eine weitere Variante des Erzählwettstreits, die das Ende als erzähl-notwendiges Begehrensobjekt ins Bewusstsein ruft, lässt sich dort beobachten, wo ein Erzähler von seinen Kollegen einfach auf seiner abgeschlossenen Erzählung sitzen gelassen wird. Da das Spiel keine Erzählpause außerhalb der durch einen anderen Erzähler angeordneten Unterbrechung – „Stop!“ – zulässt, muss der aktuelle Erzähler seine bereits zu Ende erzählte Geschichte um Kopf und Kragen weitererzählen, das heißt mit einem neuen telos-Horizont versehen, was mitunter peinlich für den Erzähler und schmerzhaft

 43 Genauer dazu vgl. Kapitel II/3.1, Abschnitt „Plotting“.

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für die mitleidenden Zuschauer werden kann, wenn dem unglücklichen Erzähl-Spieler genau dies nicht zu gelingen vermag. Die narrative Energie, so wird deutlich, schießt immer wieder über das Ziel einer zu Ende gebrachten Erzählung hinaus. Diejenigen Erzähler, die ihre Erzählung zum Abschluss bringen, gehen immer nur als kurzfristige Sieger aus dem Spiel hervor und die Befriedigung, die ihre abgeschlossenen Erzählungen bringen, sind immer nur vorläufig. So will ich selbst nach einer gelungenen Pointe immer noch wissen, wie es weitergeht, denn die narrative Begehrensmaschine, die Forced Entertainment in Bewegung setzen, steuert letztlich auf ein viel größeres Ziel zu: auf das Ende der Aufführung als antizipiertes absolutes Ende. Die Aufführung erzählend am Leben erhalten Jeder neue Geschichtenanfang in And on The Thousandth Night verspricht mit der Formel ‚Once upon a time‘ bereits die märchenhaft-konventionalisierte Abschlussformel eines ‚and they lived happily ever after‘ – eine Formel, die zwar ein Ende markiert und doch den Überschuss an narrativer Energie über das Ende einer Erzählung hinaus gleich mit thematisiert. Denn folgt man Peter Brooks’ existentieller Erklärung einer Lust am Erzählen, dann hört diese Lust nicht auf, solange man lebt: Wir erzählen deshalb, weil wir dadurch unsere begrenzte Lebenszeit fassbar zu machen versuchen. Oder auf die deutsche Märchenformel übertragen: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann erzählen sie noch heute. Erst im Tod, so argumentiert der Literaturtheoretiker Brooks in Rekurs auf Freuds komplementäre Regungen des Todestriebs und des Lustprinzips, wird die Lücke zwischen Erzählen und Erzähltem geschlossen. Jeder Erzählakt lässt diese Verheißung aufscheinen und veranlasst ein lustvolles Wieder- und Weitererzählen. Das Erzählen ist jener subjektkonstitutive lebensnotwendige Vorgang, der das Ende, den Tod, stets verkennend verständlich zu machen versucht und ihn zugleich aufschiebt und damit Leben ermöglicht und verlängert: „Narration […] is […] life-giving in that it arouses and sustains desire, ensuring that the terminus it both delays and beckons toward will offer what we might call a lucid repose, desire both come to rest and set in perspective.“

44

 Ein solcher scheherazadischer „squiggle toward the end“,45 in dem in wiederholenden und antizipierenden Kreisbewegungen das Ende thematisiert und dabei

 44 BROOKS: Reading for the Plot, S. 60f. Zum Verhältnis von Erzählen und Tod vgl. auch Kapitel VI/3.3, Abschnitt „Performance, Tod und Narration“.

III. N ARRATIVE S PIELE

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zugleich lustbringend aufgeschoben wird, bildet den emotiven Dreh- und Angelpunkt von And on the Thousandths Night. Die Aufführung selbst erscheint dabei als die zeitlich begrenzende, gemeinsam zu durchlebende Lebenszeit, die durch das mögliche Verlassen des Saals seitens der Zuschauer jederzeit verkürzt zu werden droht. Die Performance spielt dabei auf die lebenserhaltende Funktion des Erzählens an, wie sie in der Metaerzählung des orientalischen Märchenzyklus’ Tausendundeine Nacht thematisiert wird. Das Mädchen Scheherazade, die Protagonistin der Metaerzählung, überlebt nur, weil sie dem mordsüchtigen König unvollständige Erzählungen präsentiert und das Erzählen von deren Enden jeweils auf die Folgenacht verschiebt, bis ihr nach tausendeins Nächten Gnade gewährt wird. Die Aufführung von Forced Entertainment situiert sich ihrem Titel nach in der tausendsten Nacht – And on the Thousandths Night – und wird zu einer im übertragenen Sinne scheherazadischen Szene um Leben und Tod, in der das Publikum, das während der Performance jederzeit kommen und gehen darf, durch das Erzählen von Geschichten verführt werden muss, damit es bloß eines nicht tut, nämlich den zwischen Zuschauern und Performern geteilten Raum zu verlassen und damit der Aufführung den Tod zu bringen. Um die Aufmerksamkeit der Zuschauer längerfristig zu gewinnen, nimmt der Überbietungswettbewerb zwischen den Erzählern immer wieder neue Züge an. So werden von einer Geschichte verschiedenste Varianten ausgetestet und damit eine ganze Palette narrativer Möglichkeiten angeboten. Umso verblüffender die Variante, umso abwegiger der Umweg, desto stärker scheint der drive in Richtung Ende und desto tiefer werde ich, die ich imaginativ selbst miterzähle, in das Erzählspiel verwickelt. Die repetitiven Schnörkelbewegungen der sich gegenseitig ablösenden Geschichtenanfänge und -variationen ziehen immer weitere Kreise und entlarven schließlich das Wettkampfspiel als einen Kampf um die affektiven Zugkräfte narrativer Konfigurationsprozesse. So wie Scheherazade den König in die Abhängigkeit ihres Geschichtenerzählens treibt und damit ihr Leben verlängert, so wickeln auch Forced Entertainment ihr Publikum um den Finger. Entgegen meinem Vorsatz, allerhöchstens drei Stunden in der Performance zu bleiben, hielt mich das simple Spiel an meinen Platz gefesselt und ehe ich es mir versah, waren sechs Stunden vergangen. Während die Metageschichte aus Tausendundeine Nacht letztlich eine Geschichte über narrative Antriebskräfte darstellt, gehen Forced Entertainment noch einen Schritt weiter, indem sie jene Metageschichte selbst ‚umspielen‘. In der improvisierten Performance wird die Erotik des Erzählens bewusst situativen, oftmals aufreibenden Schwankungen ausgesetzt. Häufig bewegen sich die

 45 BROOKS: Reading for the Plot, S. 104.

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Performer am Rande der Erzählunfähigkeit. Lange Pausen und Erzähllücken entstehen, die jedoch immer wieder, als lustvolle Kringel, gerade noch mal die Kurve in Richtung eines begehrten Endes kriegen. Nicht selten kommentiert das Spiel sich selbst, indem die Performer die eigens gesetzten Regeln an ihre Grenzen treiben, etwa wenn die gegenseitigen Unterbrechungen sich derartig überschlagen, dass dabei ein absurder Erzähl-Slapstick entsteht: „Once upon a time there was a king who had a daughther“ – „Stop! Once upon a time there was a king who had two daughters“ – „Stop! Once upon a time there was a king who had three daughters who planned to go on a trip to India. As they had just landed in Bombay“ – „Stop! Once upon a time there was a king who had three daughters“ – „Stop! Once upon a time there was“ – „Stop! Once upon“ – „Stop!“ – „Stop!“ – „Stop!“, und so fort.

 Latenz des narrativen Wissens Jede Geschichtenvariation stellt einen Spielzug dar, der das Wiederholte modifizierend in einen neuen Kontext stellt und ihm dadurch einen neuen „Witz“46 verleiht – und dies nicht nur im Wittgensteinschen Sinne. In diesem extrem humoristischen Spiel werden unterschiedlichste Erzählgenres miteinander vermengt: Liebesgeschichte mit Stammtischwitz, Märchen mit Gruselgeschichte, Krimi mit autobiografischer Anekdote, usw. Dabei erhöht sich der Lustfaktor nicht zuletzt durch die schrägen Kombinationen und kruden Wortspiele, zu welchen die Wiederholungsstruktur des Spiels auffordert. So fällt eine Geschichte in die nächste und es entfaltet sich eine überfordernde „Kettenreaktion ständigen Umkippens“,47 die nach Wolfgang Iser die Bedingung des Komischen darstellt und in der die einzelnen Geschichten sich gegenseitig beständig in ein neues Licht rücken, sich gegenseitig einen Witz verleihend ‚umperspektivieren‘. Der Verblüffungseffekt der Neukombination beruht jedoch auf wohlbekannten Strukturen. Die während des Spiels entstehenden Erzählkaskaden machen deutlich, dass jede Geschichte immer schon eine andere Geschichte als Wissenshorizont ins sich trägt. Geschichten sind nur verständlich vor dem Hintergrund bekannter Geschichten, Erzählgenres, Erzählformen und Plotstrukturen, kurz: vor dem Hintergrund eines narrativen Wissens.48 Forced Entertainments Performance forciert jenes latent wirksame Wissen, das in jedem Erzählprozess mitgestaltend am Werk ist und das, wie Wilhelm Schapp es formuliert hat, an bestimmten Stellen unkontrolliert aufzutauchen vermag: „Wir meinen, daß die

 46 WITTGENSTEIN: „Philosophische Untersuchungen“, § 564. 47 ISER: „Das Komische“, S. 117. 48 Vgl. hierzu genauer Kapitel II/3.1, Abschnitt „Narratives Wissen“.

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bekannte Geschichte sich gleichsam selbst erzählt, wenn im Zusammenhang der Geschichten ihr Stichwort auftaucht“.49 In And on the Thousandths Night macht jedes unterbrechende „Stop!“ das Auftauchen eines erzählanschlussfähigen Stichwortes für alle Beteiligten hörbar. Die Spielregel der Interruption lässt das sonst unmerkliche Ineinandergreifen der Geschichtenzahnräder, das heißt das Eingebettetsein von Geschichten in eine Vor- und Nachgeschichte, auf markante Weise deutlich werden. Obgleich die Geschichten sukzessiv erzählt werden, holt das Spiel die simultan anwesenden Schichtungen eines narrativen Wissens an die Oberfläche und lässt dieses Wissen als konstitutiven Mit-Erzähler auf die Bühne treten.

  3.2 AUFS S PIEL GESETZT : G ESCHICHTENKANON E RZÄHLPOLITIK

UND

Kanonisierungen Stellt Scheherazade, der – wie Walter Benjamin betont hat – „zu jeder Stelle ihrer Geschichten eine neue Geschichte einfällt“,50 die Verkörperung jenes latent wirksamen Geschichtennetzes dar, in dem es weder Anfang noch Ende gibt, setzt And on the Thousandths Night dieses Netz durch die Spielstruktur des Wettkampfes in Bewegung und ermöglicht damit eine eigentümliche, für die Dauer der Performance gültige Erweiterung seiner Reichweite. Denn nach und nach beginnen die Performer sich auf ihre eigenen, halbgaren Geschichten zu beziehen. So werden Motive, Geschehnisse oder Figuren aus einer Geschichte zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegriffen und geschickt in eine neue Erzählung verwoben. Oftmals schließen Performer ihre Erzählungen, obgleich aus einer völlig anderen Perspektive erzählt, überraschend an den Plot einer vorherigen Geschichte eines anderen Performers an, und manchmal gelingt es, einen schon fast vergessenen Geschichtenanfang einer Kollegin Stunden später zu einem unerwarteten Abschluss zu bringen. Jedes „Stop!“ motiviert ein crossKonfigurieren über die einzelnen Geschichtenbrocken hinaus und katapultiert das soeben Erzählte in ein eigens für diesen Abend gültiges Geschichtennetz, aus dem jederzeit beliebig geschöpft werden kann. So entsteht ein internarratives

 49 SCHAPP: In Geschichten verstrickt, S. 101f. 50 „Eine [Geschichte] schließt an die andere an, wie es die großen Erzähler immer und vor allem die orientalischen gern gezeigt haben. In jedem derselben lebt eine Scheherazade, der zu jeder Stelle ihrer Geschichten eine neue Geschichte einfällt.“ BENJAMIN: „Der Erzähler“, S. 453.

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Geflecht aus vertrauten Geschichtentypen, gängigen Erzählweisen, Konfliktmotiven, Handlungssträngen und insider-Metageschichten, die sich mitunter über den gesamten Zeitrahmen der Aufführung erstrecken. Wer nun den Aufführungsort verlässt, riskiert nicht nur den Anschluss an einen sich beständig weiter ausbreitenden Geschichtenkanon zu verpassen, sondern zugleich aus einer sich genau auf jenen Kanon einspielenden Erzählgemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Nicht nur die unfertigen Geschichten fesseln viele Zuschauer an ihre Plätze, sondern unter Umständen auch ein drohender Ausschluss aus einer in der Erzählsituation des Spiels heranwachsenden communitas. Damit reflektiert und realisiert die Performance die performative Herausbildung einer gemeinschaftsstärkenden Erzähltradition qua Erzählen. Eine solche Erzählpolitik manifestiert sich in der Durchsetzungskraft von bestimmten Geschichten und Erzählweisen, die sich durch häufige modifizierende Wiederholungen verdichten, aufeinanderschichten, stabilisieren und dergestalt nicht nur Erzählkonventionen, sondern auch, wie der Geschichtsphilosoph Kurt Röttgers es formuliert hat, „Bedeutungshierarchien der immer schon erzählten stabilen Geschichten“51 ausbilden. Dabei präsentiert das kompetitive Spiel um Aufmerksamkeit und Unterhaltung zugleich einen bedeutsamen Ausschnitt der in unserem Kulturkreis vorherrschenden Masterplots und Erzählrhetoriken, etwa wenn allerlei abenteuerliche und romantische Standardmotive aufgefahren, klassische Spannungsdramaturgien vorgeführt und das ganze gestische und stimmliche Repertoire eines guten Geschichtenerzählers hoch und runter gespielt werden. Da And on the Thousandths Night jedoch nicht nur auf den bestehenden narrativen Wissens- und Bedeutungshierarchien aufbaut, sondern zudem im Spielvollzug einen eigenen Geschichtenkanon generiert, exponiert die Performance den Prozess der Kanonisierung und Hierarchisierung von Geschichten selbst. Damit lässt sie immer auch die Möglichkeit einer Alternative aufscheinen, denn die meisten der angefangenen Geschichten werden nicht wieder aufgegriffen. Die Performance besteht zum Großteil aus abgebrochenen Versuchen, aus Andeutungen, aus einem durch die Spielregel ‚Stop!‘ erzwungenem Schweigen und aus einem Ausbleiben der Wiederaufnahme alter narrativer Fäden. Gerade in jenen Erzähllücken, die das Erzählspiel freigibt, tritt die Möglichkeit der Herausbildung eines alternativen Geschichtenkanons und einer alternativen Erzählpolitik zu Tage.

 51 RÖTTGERS: Die Lineatur der Geschichte, S. 115.

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Der Wettstreit um narrative Hegemonie Das Wettkampfspiel um narrative Kompetenzen relativiert sich beständig selbst. Eine Performerin, die in einem ihrer Erzählversuche die Klaviatur kulturell gültiger Erzählregeln und -konventionen auf besonders überzeugende Weise zu spielen vermag, kann schon in ihrem nächsten Versuch kläglich scheitern, wie Terry O’Conner von Forced Entertainment beschreibt:

 „One minute you can feel it’s going really well and the next minute you feel like you’ve said something incredibly stupid. The structure of that piece is such that it balances on that knife-edge between the hilarious and the horrendous, between the banal and the stupid and the sometimes clever, if you’re lucky.“

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 Der wackelige Wettstreit wird von Forced Entertainment von Beginn an selbstparodistisch kommentiert. Die Performer treten nämlich bezeichnenderweise als Könige gegeneinander an. In ihren selbstgebastelten Kostümen jedoch, bestehend aus ungleichmäßig ausgeschnittenen Pappkartonkronen und roten, über die Alltagskleidung geschwungenen Stofffetzen als provisorische Königsroben, geben die Performer ziemlich lädierte Souveräne ab, die angestrengt um ihre Erzählhoheit und Zuhörerschaft kämpfen. Der laufend wiederholte und von jedem einzelnen Erzähler zuhauf variierte Geschichtenanfang „Once upon a time there was a king…“ mutet schließlich wie ein kollektiver Selbstkommentar an, wie eine in das Spiel eingebaute Metageschichte, in der das agonale Verhandeln narrativer Hegemonie zum Thema wird. Mag eine solche Hegemonie durch die hier zitierte Souveränitätsikonografie zunächst als eine an Einzelakteure gebundene Macht erscheinen, so entpuppt sie sich im Wettstreit als eine sich im Spiel zuallererst entfaltende Macht, als eine „Kraft“ im Sinne einer „Wechselwirkung zwischen sozialen Akteuren“,53 in das nicht zuletzt auch die Zuschauer eingebunden sind. Denn das Publikum schließlich gibt durch seine Reaktionen ein Feedback, das die Möchtegernkönige in bestimmte Erzählrichtungen treibt. Dieses Erzählspiel – „[this] game of telling stories“,54 wie es der Regisseur Tim Etchells von Forced Entertainment selbst formuliert hat – lässt eine Gemeinschaft entstehen, die sich ein eigenes narratives Wissen (mit-)erzählend Spielzug um Spielzug erarbeitet. Dieses Wissen ist nicht einfach ‚da‘, sondern es muss sich im spielerischen Aushandeln von Geschichten, im beständigen

 52 O’CONNER: „Terry O’Conner on And on the Thousandth Night“. 53 RICHARZ: „Von der Aufführung zum Performativ“, S. 145. Frank Richarz bezieht sich dabei auf Foucaults und Plessners Machtbegriffe. 54 ETCHELLS: „Say it Now“, S. 122.

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Neu- und Weitererzählen, im Verschieben eines narrativen „Witzes“ (Wittgenstein) unter den Beteiligten zuallererst entfalten. François Lyotard, der Wittgensteins Sprachspielkonzept aufgegriffen hat, zielt genau auf diesen Aspekt einer kontingent-erfinderischen Interaktion: Erzählen lässt sich als ein Spiel beschreiben, sofern es auf einer Agonistik, das heißt auf einem Wettkampf zwischen mehreren Beteiligten beruht. Stärker noch als Wittgenstein betont Lyotard dabei die sozialen und epistemologischen Implikationen des Erzählens.

4. N ARRATIVE S ELBSTLEGITIMIERUNG DES SOZIALEN B ANDES (L YOTARD )  Große Erzählung versus Sprachspiele Lyotards La condition postmoderne55 zählt zu einer der zahlreichen Abhandlungen im Kontext der Postmoderne, in denen dem Spielbegriff eine zentrale Bedeutung zugesprochen wird.56 Dieser steht bei Lyotard, ganz in der Tradition Wittgensteins, zunächst für einen epistemologischen Perspektivenwechsel, der sich vor dem Hintergrund der These vom Ende der großen Erzählungen 57 abspielt. Wie Lyotard darlegt, bilden große Erzählungen den wissenschaftslegitimierenden Metadiskurs humanistischer Prämissen,58 obgleich gerade das narrative Wissen seitens der modernen, aufklärerischen Wissenschaft als den „unterentwickelt[en]“ Gesellschaften zugehörig erklärt und als „primitiv“ 59 erachtet worden sei. Mit dem Zusammenbruch der großen Erzählungen in der Postmoderne und einem damit einhergehenden Verlust ihrer Legitimationskraft als Metaerzählungen sind, so Lyotard, die den sozialen Zusammenhang einer Gesellschaft stiftenden Sprachspiele zu Tage getreten, aus denen auch die großen

 55 Ich verwende im Folgenden die deutsche Übersetzung: LYOTARD: Das postmoderne Wissen. 56 Zum postmodernen Spielbegriff vgl. v.a. GADAMER: Wahrheit und Methode; DERRIDA: „Die zweifache Séance“. 57 In der Genetteschen Terminologie, der ich in dieser Arbeit folge, müsste die ‚große Erzählung‘ streng genommen die ‚große Geschichte‘ heißen. Ich bediene mich hier jedoch der geläufigeren Lyotardschen Begrifflichkeit. 58 „Dialektik des Geistes, die Hermeneutik des Sinns, die Emanzipation des vernünftigen oder arbeitenden Subjekts [...] So sieht sich die Gerechtigkeit ebenso wie die Wahrheit auf die große Erzählung bezogen.“ LYOTARD: Das postmoderne Wissen, S. 13f. 59 Ebd., S. 85.

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Erzählungen bestehen. Sprachspiele bilden in der Heterogenität ihrer „sprachlich-narrativen, aber auch denotativen, präskriptiven, deskriptiven usw. Element[e]“60 zugleich Form und Methode eines postmodernen Wissens. Wie schon bei Wittgenstein gilt das Narrative, beziehungsweise die „narrative Form“,61 wie Lyotard es ausdrückt, als eine mögliche Art des Sprachspiels. Das Ende der großen Erzählung bedeutet nach Lyotard demnach keineswegs das Ende der narrativen Form selbst, sondern lediglich das Ende einer bestimmten historischen Ausprägung des Narrativen, wie zum Beispiel die große Legende oder der alles erklärende Ursprungsmythos. Epistemologie des Sprachspielens: Agonistik Wenn die großen Erzählungen nicht mehr die Grundlage des Wissens bilden, auf welche Weise tun dies nun die Sprachspiele? Lyotard sieht in Wittgensteins Konzeption des Sprachspiels zunächst eine Alternative zu Habermas’ konsensorientierter Theorie des kommunikativen Handelns, 62 indem er jener auf Synthese ausgerichteten Theorie die Heterogenität und Bewegtheit des Sprachspiels als wissenschaftliche Methode gegenüberstellt. Lyotard erweitert Wittgensteins Gedanken dabei insofern, als er das Moment der Agonistik, des Wettkampfes, ins Zentrum stellt. Dabei versteht er unter Wettkampf ein kontinuierliches Aufeinanderreagieren, eine in jedem Spielzug stattfindende „Provokationsarbeit der Sprache“, 63 bei der Redewendungen, Wörter und Bedeutungen neu erfunden werden. Legitimiert wird dieses Wissen, laut Lyotard, nicht durch den Rekurs auf einen Metadiskurs, sondern durch die eigene, nie zum Ergebnis kommende Pragmatik selbst, durch ein ständig neues, lokales Aushandeln im Vollzug der Spielzüge, durch ein ‚Erfinden‘ im Sinne Wittgensteins: Das postmoderne Wissen „findet seinen Grund nicht in der Übereinstimmung der Experten, sondern in der Paralogie der Erfinder“. 64 Dem postmodernen Wissen liegt die Erkenntnis

 60 Ebd., S. 14f. 61 Ebd., S. 69. 62 Vgl. HABERMAS: Theorie des kommunikativen Handelns. Zur Relativierung der Kontroverse zwischen Lyotard und Habermas vgl. FAZIS: „Theorie und Ideologie der Postmoderne“. Fazis betont, dass Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns ebenso wie Lyotards Sprachspielkonzeption auf postmetaphysischen Bedingungen basierten, da auch Habermas das Moment des interaktiven Aushandelns als Basis sozialer Strukturen ins Zentrum seiner Überlegungen stelle. 63 LYOTARD: Das postmoderne Wissen, S. 41. 64 Ebd., S. 16.

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zugrunde, „daß eine Legitimierung von nirgendwo anders herkommen kann als von ihrer sprachlichen Praxis und ihrer kommunikationellen Interaktion.“65 Soziale Transformation qua Spiel Obgleich Sprachspiele bei Lyotard zunächst vorrangig von der Sprache aus gedacht werden, umfassen sie, wie auch schon bei Wittgenstein, mehr als eine rein diskursive Ebene. Sprachspiele fungieren nicht nur als Wissensgeneratoren, sondern bilden darüber hinaus die Grundlage sozialer Beziehungen, mehr noch: Sie sind soziale Beziehungen.66 Sprachspiele stellen keine reinen Informationen dar, sondern sind agonaler Sprachgebrauch, durch den jeder an dem Sprachspiel beteiligten Person automatisch eine Position im sozialen Gefüge zugeteilt wird. Jeder Spielzug verändert diese Position, so dass Sprachspiele die Beteiligten und deren Beziehungen zueinander beständig transformieren und dergestalt das „sozial[e] Band“ als ein bewegliches, intersubjektives Geflecht aufscheinen lassen: „Jeder Sprachpartner unterliegt also während der ihn betreffenden ‚Spielzüge‘ einer ‚Umstellung‘, einer Anderswerdung.“67 ‚Spielen‘ im Wort ‚Sprachspiel‘, so lässt sich folgern, steht für eine Pragmatik der Sprachpraxis, die interpersonelle Beziehungen sowie ein Wissen qua agonales Aushandeln zu generieren vermag. Gemeinschaftslegitimation im Erzählen Für meinen Kontext zentral ist die von Lyotard durchgeführte Analyse der Pragmatik der narrativen Form. In dieser Analyse deckt Lyotard den Vollzug und die Wirkung der Konstruktion von Erzählungen auf und verschiebt damit den Fokus von der großen Erzählung auf den Prozess des Erzählens, verstanden als ein Spielen. Lyotard räumt der narrativen Form einen herausragenden, gesellschafts- und wissenskonstituierenden Stellenwert ein. Er dekonstruiert den selbstlegitimierenden Mechanismus des Erzählens, der es letztlich ermöglicht, dass große Erzählungen eine derartige Wirkungsmacht auszuüben imstande sind.

 65 Ebd., S. 122. 66 Lyotard betont, „daß die Sprachspiele gewissermaßen das Minimum an Beziehungen darstellen, das für das Bestehen einer Gesellschaft erforderlich ist“. Ebd., S. 56. Lyotard realisiert und exponiert in seinem Text selbst den sozialen Zusammenhang, den das Sprachspiel stiftet: „Die Frage des sozialen Zusammenhangs ist als Frage ein Sprachspiel, dasjenige der Frage, das unmittelbar demjenigen, der sie stellt, demjenigen, an den sie sich richtet und dem zur Frage gestellten Referenten eine Position zuteilt. Diese Frage ist also schon der soziale Zusammenhang.“ Ebd., S. 57. 67 Die letzten beiden Zitate: ebd., S. 52. und S. 58f. (Hervorhebung N. T.).

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Doch wie genau vollzieht sich das Erzählen als (Sprach-)Spielen und damit als soziale Praktik, und wie genau bringt es ein selbstlegitimierendes Wissen hervor? Lyotard erläutert die Pragmatik der narrativen Form anhand der mündlichen Erzähltradition der Cashinawa. 68 An ihren Erzählregeln verdeutlicht Lyotard, dass in jedem Erzählakt drei verschiedene, sich wechselseitig legitimierende Positionen hervorgebracht und konstitutiv ineinander verschränkt werden: Der Erzähler, der Narratär (Zuhörer) und schließlich der Held (Protagonist), von dem erzählt wird. 69 In der Cashinawa-Erzähltradition expliziert ein Erzähler seine Position als Erzähler dadurch, dass er sich als ehemaliger Zuhörer einer Geschichte ausweist: „‚Dies ist die Geschichte von..., so wie ich sie immer gehört habe. Jetzt werde ich sie erzählen, hört sie an.‘“70 In der folgenden Erzählung wird der ehemalige Erzähler, von dem der aktuelle Erzähler die Geschichte gehört hat, durch die Nennung seines Namens Teil der aktuellen Erzählung und nimmt damit die Position des Protagonisten ein. Der aktuelle Erzähler beendet seine Erzählung mit der Formel: „‚Hier endet die Geschichte von... Der, der sie euch erzählt hat, ist ... (cashinawischer Name) [...].‘“. Durch die Nennung des eigenen Namens erlangt der aktuelle Erzähler potentiell den Status des Protagonisten in einer zukünftigen (Weiter-)Erzählung durch einen aktuellen Zuhörer, der wiederum allein durchs Zuhören eine Kompetenz zum Weitererzählen der Geschichte erhält. Das reglementierte Erzählritual der Cashinawa exponiert jenen narrativen Übertragungsmechanismus, den schon Walter Benjamin für das Erzählen geltend gemacht hat, nämlich das im Zuhören einer Erzählung Erfahrene erzählend weiterzutragen und es damit erneut für andere erfahrbar zu machen, die wiederum diese Erfahrung abermals erzählend weitertragen können.71 Mit Lyotard werden die wissens- und gemeinschaftsstiftenden Implikationen jenes Übertragungsgeflechts deutlich. Denn die drei Positionen, wie Lyotard im Folgenden erläutert, bringen sich gegenseitig als drei soziale Schlüsselkompetenzen hervor, „die das soziale Band ausmachen“:

 „Weit entfernt, sich an einzelne Funktionen der Äußerung zu binden, bestimmt das in diesen Erzählungen beförderte Wissen also mit einem einzigen Schlag sowohl, was gesagt

 68 Die Cashinawa sind eine ethnische Bevölkerungsgruppe aus der Gegend der peruanisch-brasilianischen Grenze. 69 Vgl. ebd., S. 69ff. 70 Ebd., S. 69. Ebenso folgendes Zitat. 71 Vgl. BENJAMIN: „Der Erzähler“, S. 443.

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werden muß, um gehört zu werden, als auch, was gehört werden muß, um sprechen zu können, als endlich, was gespielt werden muß (auf der Szene der durcherzählten Realität), um zum Gegenstand einer Erzählung werden zu können.“

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Das narrative Wissen, das im Erzählen realisiert wird, stellt somit ein dichtes, immanentes Wissen dar.73 Es lässt sich nicht extrapolieren und hinstellen als ein auf Distanz gebrachtes ‚Wissen von‘, sondern es ist mit den sozialen Kompetenzen, welche durch die narrative Form im Erzählprozess generiert werden, aufs engste verschränkt. Im narrativen Sprachspiel entsteht ein sich selbst bestätigendes Hin und Her: Von sich zu erzählen, bedeutet zugleich, sich zu erzählen, das heißt sich erzählend zu ‚machen‘. Jenes Wissen bedarf folglich keinerlei Legitimation von außen. Eine Kultur, „die der narrativen Form den Vorrang einräumt“, schreibt Lyotard, bedarf „keiner besonderen Prozeduren, ihre Erzählungen zu autorisieren“, und weiter:

 „[Die Erzählungen] haben jene Autorität von selbst. Das Volk ist in einem Sinne nur das, was sie aktualisiert, und das macht es nicht nur, indem es sie erzählt, sondern auch, indem es ihnen zuhört und indem es sich in ihnen sich selbst erzählen läßt, das heißt, indem es sie in seinen Institutionen ‚spielt‘, also indem es sowohl die Stellen des Hörers und der Diegese als auch die des Erzählers einnimmt. [...] So bestimmen sie, was in der Kultur das Recht hat, gesagt und gemacht zu werden, und da sie selbst einen Teil von ihr ausmachen, werden sie eben dadurch legitimiert.“

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 So lässt sich das narrative Wissen nicht auf eine singuläre Autorität, auf einen Autor zurückführen, sondern es erhält seine Autorität allein im Zusammenspiel dreier Rollen, die sich vordergründig zwar als unterschiedliche Positionen erkennen lassen, die jedoch funktional betrachtet reziprok miteinander zusammenhängen. Die narrative Selbstbeglaubigung vermag sich bereits in einer einzigen Erzählsituation herzustellen, in der die Positionen von Protagonist, Erzähler und Zuhörer im Verlauf des ‚Spielens‘ beständig schwanken oder teilweise von einer einzigen Person übernommen werden können, wie zum Beispiel in autobiografischen Erzählungen.75 Ebenso werden jene Positionen nicht nur im münd-

 72 Dieses und vorheriges Zitat: LYOTARD: Das postmoderne Wissen, S. 71. 73 „Das Wissen, das sich aus einem solchen Dispositiv ergibt, kann, im Gegensatz zu jenem, was wir ‚entwickelt‘ nennen, als ‚dicht‘ erscheinen.“ Ebd. 74 Ebd., S. 75. 75 Vgl. dazu auch Kristin M. Langellier und Eric E. Peterson: „[T]he labels of storyteller, narrator, character, and audience do not name discrete individuals but refer to com-

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lichen Erzählen, sondern ebenso in anderen Erzählmodi realisiert. Erzählsituationen produzieren in jedem Fall, eine „Kontinuitätsfiktion“,76 die ein soziales Band zuallererst möglich macht. In jeder alltäglichen Erzählsituation wird ein solches narratives Zueinanderkommen und Aufeinandereinspielen vollzogen. Erzählsituationen eröffnen einen Handlungs- und Kompetenzhorizont, dessen ‚Ursprung‘ allein im Vollzug des Erzählens zu finden ist, obgleich das Erzählen freilich nicht ohne den Bezug auf eine andere Zeit auskommt. Entgegen jedoch einer seitens der Erzähltheorie veranschlagten Differenz zwischen ‚Erzählzeit‘ und ‚erzählter Zeit‘, die auf der Ebene des narrativen Diskurses festgemacht wird, situiert Lyotard die konstitutive Kraft des Erzählens in dessen „bizarre[r] Zeitlichkeit“, das heißt in der „ephemeren“ und „unvordenklich[en]“77 Zeit der Erzählgegenwart:

 „Sie [die Gemeinschaft] findet das Material ihres sozialen Bandes nicht nur in der Bedeutung der Geschichten, die sie erzählt, sondern auch im Akt von deren Vortrag. Die Referenz der Erzählungen kann als einer vergangenen Zeit angehörig erscheinen, sie ist diesem Akt in Wahrheit immer zeitgenössisch.“

78

 Eine im Erzählen entstehende diegetische Welt, so lässt sich aus Lyotards Gedanken folgern, ist damit nichts von der Gegenwart Abgekoppeltes, nichts rein auf die Vergangenheit Bezogenes, an das man sich qua Erzählen erinnert. Sie ist damit ebenso wenig etwas, womit ich mich als Zuhörerin distanzierend identifiziere oder etwas, was mir gegenüber steht. Vielmehr ist die Diegese eine sich in der „bizarren Zeitlichkeit“ des narrativen Sprachspiels durch mich hindurch verwirklichende, da ich in eine Erzählsituation auch zuhörend immer schon mit verstrickt bin. Umgekehrt gibt sie mir eine Position im sozialen Gefüge ebenso wie die Kompetenz, dieses Gefüge durch Zuhören, Weitererzählen und Protagonistin-Sein aufrechtzuerhalten und im Vollzug mit zu formen – und damit auch potentiell umzugestalten.

 munication functions that can be taken up by or distribute among one person, a few people, many people, and institutions.“ LANGELLIER und PETERSON: „The Performance Turn in Narrative Studies“, S. 178. 76 RÖTTGERS: Die Lineatur der Geschichte, S. 37. 77 LYOTARD: Das postmoderne Wissen, S. 73f. 78 Ebd., S. 74.

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Subversion: Postmoderne Wissenschaft als narratives Spielen So sehr narrative Spiele tautologische Selbstbestätigungsschleifen produzieren, bieten sie doch zugleich die Möglichkeit, das durch sie hervorgebrachte Wissen zu transzendieren. Spielen entpuppt sich als Mittel zugleich einer soziokulturellen Selbstlegitimierung wie ihrer Dekonstruktion. So zieht Lyotard aus seiner Analyse Konsequenzen für eine postmoderne Wissenschaft jenseits großer Erzählungen. Die Kritik der selbstlegitimierenden Kraft der kultur- und wissensgenerierenden narrativen Form darf, beziehungsweise kann demzufolge nicht von außen, sondern muss von innen her erfolgen. Denn auch die Wissenschaft kann sich dieser konstitutiven Kraft der narrativen Form nicht entziehen, wie Lyotard in Bezug auf die moderne Wissenschaft samt ihrer narrativen Metadiskurse zeigt. Für die postmoderne Wissenschaft, in der die großen Erzählungen ihre Gültigkeit verloren haben, bedeutet dies, dass die Bejahung der Sprachspiele als einer wissenschaftlichen Methode und postmodernen Wissensform auch die narrativen Sprachspiele umfasst, die als Konsequenz nicht von der Wissenschaft ausgeschlossen, sondern als erfinderische Paralogien bewusst angewendet werden sollen. Gerade in jenen, hierbei entstehenden „kleinen Erzählungen“, welche „die Form par excellence der imaginativen Erfindung bleibt, vor allem in der Wissenschaft“,79 werden die für jedwede Erzählung konstitutiven Sprachspiele offen gelegt, da die kleinen, spezifisch-situativ hervorgebrachten Erzählungen ebenso spezifisch-situative Wahrheiten generieren, die sich in ihrer Pluralität automatisch relativieren. Durch die bewusste Hinwendung zur narrativen Form in ihrer sprachspielerischen Dimension wird die große Erzählung als blinder Fleck, als sich selbst verdeckender Metadiskurs aufgedeckt und stattdessen das narrative Sprachspielen als nie zur Konklusion kommender Prozess und schließlich als postmoderne Wissensform befürwortet. Nicht mehr die narrative Geschlossenheit in Form „de[r] großen Heroen, de[r] großen Gefahren, d[er] großen Irrfahrten und d[em] große[n] Ziel“, 80 sondern das Erzählen in seiner spielerisch-agonalen Prozesshaftigkeit bildet den Fokus postmoderner Wissenspraxis. Innerhalb dieser Prozesshaftigkeit gilt jeglicher Konsens, der in einer kleinen Erzählung als vorübergehend abgeschlossene Einheit anzuklingen vermag, lediglich als flüchtiger „Zustand der Diskussion“81 im erfinderischen Spiel, jedoch niemals als fixer Endpunkt.82

 79 Ebd., S. 175. 80 Ebd., S. 14f. 81 Ebd., S. 190. 82 In diesem Sinne lässt sich m.E. auch Wittgensteins in seinem Vorwort zu den philosophischen Untersuchungen eigens vollzogene Anspielung auf den großen Mythos der

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Theater der narrativen Spiele In vielen narrativen Aufführungspraktiken der Nullerjahre, in denen narrative Spiele an die Stelle großer Erzählungen getreten sind (was keineswegs heißt, dass große Erzählungen nicht mehr thematisiert und ‚umspielt‘ werden), wird das Erzählen mittels Spielstrukturen in seiner gemeinschafts- und wissensgenerierenden Funktion zum Thema. Der im vorliegenden Kapitel gemachte Vorschlag, das Erzählen selbst als ein Spielen zu beschreiben, lässt sich vor dem Hintergrund von Lyotards Überlegungen noch genauer präzisieren. Denn der Wittgensteinsche Begriff des Sprachspiels wird von Lyotard insofern weitergespielt, als sowohl die bei Wittgenstein bereits implizite soziale als auch die epistemologische Funktion noch stärker zusammengedacht werden. Das (Sprach-)Spiel der narrativen Form ist hiernach gekennzeichnet durch eine „soziale Epistemologie“, 83 die letztlich eine ethische Ebene der Verantwortung beinhaltet. Eine Performance, die jene Implikationen des Spiels auf präzise Weise erfahrbar macht und kritisch reflektiert, ist die Rollenspielinstallation Ruby Town von SIGNA. Die moralisch verstrickenden Effekte eines narrativen Spielens selbst-verunsichernd spürbar zu machen und offen zu legen, darin liegt der Witz dieser hyperrealistischen „Performance-Erzählung“, 84 in der Erzählprozesse zugleich Motor und Sprengkörper der Herstellung von verbindlichen sozialen Beziehungen werden.

 Irrfahrten, auf die Odyssee, verstehen: So spricht Wittgenstein von seinen Untersuchungen als von „ein[em] weite[n] Gedankengebiet“, das einen zwinge, „es kreuz und quer, nach alle Richtungen zu durchreisen“. Oder er spielt auf die „langen und verwickelten Fahrten“ an, auf denen seine „Landschaftsskizzen“ entstanden seien. WITTGENSTEIN: „Philosophische Untersuchungen“, S. 231. Obgleich gerade in Wittgensteins Anspielung auf eine große Erzählung ein Metadiskurs anzuklingen scheint, den Wittgenstein nachträglich über seine Untersuchungen stülpt, entpuppt sich diese anklingende Metaerzählung im Kontext der Spielstruktur seines gesamten Textes, in die der Leser im Akt des Lesens verwickelt wird, als Teil von Wittgensteins eigenem Sprachspiel, in dem mythologisch-narrative Versatzstücke – ebenso wie alle anderen stilistischen Mittel – die Funktion von Spielzügen annehmen und dergestalt das angesprochene ‚Du‘, den Rezipienten, zum erfinderischen Mitspielen anregen. 83 KRÄMER: Medium, Bote, Übertragung, S. 275. 84 Kommentar auf Nachtkritik: BALTZER: „Ruby Town: Zartes Gespinst von Wirklichkeit“. Die Blogger-Kommentare zu Ruby Town befinden sich auf http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&id=1325, letzter Zugriff: 03. August 2013. Gepostete Kommentare auf Nachtkritik werden nicht gesondert in der Bibliografie dieser Studie ausgewiesen.

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5. M ORALISCHE V ERSTRICKUNGEN . E IN R OLLENSPIEL (S IGNA )  Die mehrtägige Performance Die Erscheinungen der Martha Rubin – The Ruby Town Oracle 85 funktioniert wie alle SIGNA-Performances nach dem Prinzip eines Rollenspiels, an dem die Besucher für mehrere Stunden oder Tage teilnehmen können. Das Spielfeld für Darsteller und Zuschauer bildet eine slumartige Wohnwagensiedlung mit dem Namen Ruby Town, deren verblüffend minutiöse, bis ins kleinste Detail stimmige Ausstattung Assoziationen von Flüchtlingssiedlungen, Asylunterkünften oder an kargen Stadträndern errichtete Zwischenunterkünfte verarmter Wanderzirkusse aufruft. Sich als reiche Wohlstandsbürger aus einer gesicherten Position heraus in eine morbide anmutende Armensiedlung zu begeben – diese voyeuristische Grundhaltung haben SIGNA als Ausgangspunkt für ihre Zuschauer gewählt. In der hautnah erlebbaren Geschichte von Martha Rubins Erscheinungen wird jede Zuschauerin dafür in einen für mehrere Stunden nach Ruby Town einreisenden Touristen aus dem reichen Nordstaat transformiert. Mit dem Kauf der Eintrittskarte erhält man einen gültigen Pass mit Visum, der einem Zugang zu der vom Nordstaatenmilitär streng bewachten Siedlung gewährt. Ein Schulungsfilm in einer Militärbaracke erklärt jedem Besucher zu Beginn der Einreise die Aufenthaltsregeln in Ruby Town. Ebenso liefert der Film ein fiktives Grundsetting der Martha-Welt: Rubinstadt, so erfährt man, sei eine zwischen dem Nordstaat und dem von Bürgerkrieg und Armut gekennzeichneten Südstaat gelegene Siedlung, deren Anwohner zugleich Glaubensanhänger und Nachkommen des angeblich 1913 verschwundenen und mittlerweile wieder aufgetauchten Wanderzirkus-Orakels Martha Rubin seien. Das Gebiet weise eine vom Südstaat verursachte hohe Strahlungsbelastung auf, die sich vor allem im Staub niederschlage und eine Unfruchtbarkeit der Bewohner sowie die Ausrottung von Tieren und Pflanzen im Grenzgebiet zur Folge habe. Der Besuch in Ruby Town erfolge daher in eigener Verantwortung. Sexuelle Annäherung, Alkohol- und Drogenkonsum seien streng ver-

 85 Die am Schauspiel Köln entstandene erste Version von Ruby Town fand im Oktober 2007 in der Halle Kalk statt und wurde in drei Blöcken jeweils zwischen sechsunddreißig und vierundachtzig Stunden aufgeführt. Die Zuschauer durften pro Aufführungsblock unbegrenzt bleiben. Die Berliner Version auf dem Theatertreffen 2008 fand in einer Fabrikhalle auf dem ehemaligen S-Bahngelände „Naturpark Schöneberg Süd“ statt. Während der fast zweihundert-stündigen non-stop-Performance konnten die Besucher jeweils bis zu zwölf Stunden in der Installation bleiben. An beiden Installationen waren jeweils mehr als dreißig Schauspieler beteiligt.

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boten, die Mitnahme von Gepäck und Büchern sei ebenfalls untersagt. Spenden an die Anwohner sowie eine Übernachtung in Ruby Town müssten vom Militär registriert werden. Nach Beendigung dieses Initiationsrituals begibt man sich in der Rolle eines Ruby Town-Besuchers in die Siedlung. Wer hier nicht schnell beginnt, sich mit den Anwohnerninnen auseinander zu setzen, statt auf eine spannende Darbietung ihrerseits zu hoffen, wird nach einigen Rundgängen durch die Installation schon bald wieder enttäuscht die Heimreise antreten. Denn die narrative Spannung der Geschichte von Ruby Town liegt weniger in der von SIGNA zuvor festgelegten und über den mehrtägigen Installationszeitraum vor sich hinschleichenden Handlung mit nur spärlich gesäten dramaturgischen Kniffen, sondern sie entfaltet sich durch private Erzählkontakte mit den von Schauspielern dargestellten Figuren. Abenteuer gibt es also nur unter der Oberfläche dieser langsam vor sich hin dösenden, staubigen Siedlung. Nur wer eintaucht in die wundersame Welt der Martha Rubin, kann erfahren, wie es Martha jahrzehntelang in der Zwischenwelt ergangen ist und wie sie ihre Scheintotenstarre in der Matratze überlebte. Nur die Besucher, die den privaten Kontakt zu den Figuren dieses schmuddelig verruchten Grenzzonenstädtchens aufsuchen, können erfahren, warum der Gebrauch von Uhren in Ruby Town Unglück bringt, warum abgeschnittene Haare sorgsam aufbewahrt werden müssen, warum Touristen in dieser gefährlichen Gegend überhaupt zugelassen sind oder womit die Ruby Towner ihr Geld verdienen. Nur wer sich Geschichten erzählen lässt, weiß, was es mit „dem fremden Mann“ auf sich hat, der sich am Rande der Siedlung niedergelassen hat oder warum Joel seine Braut Giorgina bereits in der Hochzeitsnacht betrügt und darauf hin spurlos verschwindet, warum das Militär die Evakuierung der Siedler ankündigt oder warum Martha den Tod aller Anwohner voraussieht. Die primäre Technik, mittels derer das Rollenspiel für die Besucher belebt wird, ist die des mündlichen Erzählens, das einem verlebendigenden Zauberspruch gleich die Siedlung aus ihrem Halbschlaf erweckt. Für Zuschauer, die sich auf dieses außergewöhnliche Theaterspiel nicht einlassen – was innerhalb des recht theaterkonventionellen Kontextes des Berliner Theatertreffens durchaus vorkam – ist der Zauber von Ruby Town nicht zu spüren.86 Für die spielfreu-

 86 Viele Besucherkommentare der Theaterkritiker- und Blogger-Internetplattform Nachtkritik zeugen von einer anderen Erwartungshaltung: „Liebe Rezensenten, was habt ihr gesehen, gegessen und getrunken? Nichts von dem beschworenen Zauber konnte ich erleben.“ Kommentar auf Nachtkritik: ANTONIN: „Ruby Town macht Hunger auf Theater“. Ein anderer Blogger schreibt: „Wer diese innere Grenze zur Selbsteinlassung und Toleranz nicht überschreiten kann, wird sich langweilen. Selbst ist der

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digen Zuschauerinnen hingegen wird das mündliche Erzählen zum Vehikel einer Animierung des Sichtbaren, indem es das gesamte Set, samt dessen Charaktere und Zuschauer, mit einem diegetischen Kosmos überzieht und damit die ästhetische Illusion einer abgeschlossenen Welt mit eigenen Regeln und Geschichten erschafft. Die Erzählpraktiken, die allein von den Zuschauern angeregt werden müssen, bilden im narrativen Spiel von Ruby Town die illudierenden Spielzüge, für deren Ausmaße und Ausbreitungen die Zuschauer individuell mitverantwortlich sind. Ich selbst ließ mich auf das Spiel ein und wurde trotz anfänglicher ironischer Distanz in eine Kultur verwickelt, die aus ihren kontinuierlichen Erzählungen heraus zu sich selbst findet.

5.1 V ERTRAUENSSPIELE U NTER Z EUGEN 

UND

G EHEIMNISKRÄMEREI :

Zeugenberichte als Spuren Bereits während des ersten Streifzuges durch Ruby Town lassen sich die Regeln des Erzählspiels buchstäblich im Vorbeigehen erlernen. An den Straßenecken, in den Wohnwagen, in den Unterhaltungs- und Dienstleistungsetablissements des Städtchens – überall trifft man auf kleine Grüppchen von Besuchern, die in eine Konversation mit den Anwohnern verwickelt sind und ihren Erzählungen lauschen. Gerade in diesem anfänglichen Zustand des Nichtwissens wird der Zeugenbericht der Figuren über vergangene Ereignisse in Ruby Town zur primären Wissensquelle. Auch wenn die berichteten Geschehnisse in Ruby Town fiktiv sind und mitunter ziemlich absurd wirken, gestehe ich ihnen dennoch auf einer intradiegetischen Ebene zunächst denselben Effekt zu, den Zeugenberichten qua Konvention zukommt, nämlich auf Wahrhaftigkeit zu zielen. „Das Schenken von Vertrauen und Glauben“ seitens des Zuhörenden, so hat Sybille Krämer präzisiert, bildet die grundlegende „Grammatik der Zeugenschaft“.87 Der Restaurantbesitzer des Städtchens, der mir eine Suppe anbietet, berichtet mir von einem Heilungsritual, das die Frauen der Siedlung nur wenige Minuten vor meiner Einreise auf dem Platz vor Marthas Tempel aufgeführt haben. Martha, so erzählt mir eine verängstigte junge Frau auf der Straße, habe gestern Abend eine Erscheinung gehabt und den Tod aller Anwohner vorausgesehen und ein weinendes Mädchen, das sich zu uns stellt, erzählt, dass sie gerade aus dem Tempel käme,

 Zuschauer!“ Kommentar auf Nachtkritik: STEINEBRUNNER: „Ruby Town: innere Grenzen überschreiten, statt bloß Glotzen“. 87 KRÄMER: Medium, Bote, Übertragung, S. 228.

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in dem Martha derzeitig in einer Art Trancezustand vor sich hindämmere und dringend Hilfe benötige. Was SIGNA dem Zuschauer zur freiwilligen Nutzung anbieten, ist eine mit narrativen Häppchen gespickte Umgebung, die den Spürsinn herausfordert. Um die Geschichte von Ruby Town konfigurieren zu können und damit einen Überblick zu erhalten, muss man sich auf Erzählsituationen mit einem Erzählpartner einlassen und ganz nah an Figuren herantreten, deren Geschichten einem mitunter spürbar auf den Leib rücken. Und so fallen den Besuchern von Ruby Town gleich drei Rollen zu. Sie sind erstens extradiegetische Theaterzuschauer und Mitspieler auf der Suche nach der Ruby-Story. Sie sind zweitens intradiegetische Besucher aus dem Nordstaat, die ebenso, in der Rolle eines fiktiven Pendants zum Theaterbesucher und ähnlich einem Ethnologen auf Feldforschung, die fremde Kultur zu verstehen versuchen und sich hierfür auf Indizienjagd begeben. Und drittens sind sie intradiegetische Teilnehmer von mündlichen Erzählakten, in die sie ethisch verwickelt werden und damit auch als soziale Verantwortungsträger wichtig werden. Um es im kriminologischen Jargon auszudrücken: In Ruby Town bin ich zugleich Detektivin, die nach Spuren sucht, ich bin Kriminalkommissarin, die auf der Spurensuche die Anwohner der Siedlung nach Geschehnissen ausfragt und schließlich bin ich Mit-Wissende, sowie Mit-Täterin, die im Akt des Ausfragens, Zuhörens und des notwendigen Weitertragens der Geschichten selbst Spuren produziert. Denn Spuren fordern nicht nur zum Erzählen auf, sondern es gilt auch umgekehrt: Durch einen narrativen Konfigurationsakt wird etwas nachträglich zur Spur.88 Umso mehr in Ruby Town erzählt wird, desto mehr Spuren tun sich auf, desto mehr will man wissen und desto enger verstricken sich die Besucherinnen mit einer märchenhaften Welt. Genau an diesen kaum trennbaren, verwirrenden Überlappungen unterschiedlicher Rollen entfaltet sich der spielerische Reiz dieser Installation als begehbare und durchlebbare Geschichte, die ihre Oberfläche mit jeder mündlichen Erzählung verändert und die einige Besucher – aufgrund einer immersiven Wirkung – bis in die Spielsucht treibt. Neugierde, Verführung, Geheimnis: Ein- und Ausgrenzungen Unterstützt wird die narrative Verstrickung durch eine Geheimniskrämerei und durch eine Rhetorik des Anvertrauens. Die meisten Geschichten in Ruby Town werden so erzählt, als wäre man eine der wenigen, die je davon erfahren. Eine entscheidende Qualität dieser mündlichen Erzählungen liegt in der Herstellung einer exzeptionellen Nähe. Der Anwohner Camillo flüstert mir ins Ohr, während

 88 Zur Narrativität der Spur vgl. Kapitel V/2.1.

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er mir erzählt, wie er „den Mann“, einen fremden Unbekannten, den Camillo für einen Spion des Nordmilitärs hält, gestern Nacht im Bunker habe verschwinden sehen. Die schlaftrunkene Martha erzählt aus ihren Jahren im Zwischenreich mit kaum hörbarer Lautstärke, die mich zwingt, ganz nah an Martha heranzutreten. Und die Militärkommandantin Captain Stern lädt mich gemeinsam mit drei anderen Besuchern auf ein paar Gläschen Schnaps in ihren engen Militärwohnwagen ein, um uns dort die Ereignisse aus ihrer Sicht zu schildern. Die Anwohner der Siedlung bitten um Eintritt in ihre Behausungen, sie formieren um sich herum einen engen Zirkel von Zuhörern und Fragenden und die verlockend offen stehenden Wohnwagentüren machen neugierig auf eine darin wartende Geschichte. Abbildung 2: SIGNA: Die Erscheinungen der Martha Rubin – The Ruby Town Oracle (2007)

Quelle:Foto: Eric Goldmann. 

Geheimnisse ermöglichen Gemeinschaft und Intimität. Geheimnisse ziehen Grenzen, schaffen Tabus und wecken Neugier.89 Ohne sie gäbe es weder Schuld noch Scham, weder „Respekt voreinander noch Interesse füreinander“. 90 Auf diesen sozio-kulturellen Funktionen basieren die anvertrauten Erzählungen in

 89 Vgl. SIMMEL: „Soziologie“, S. 406. 90 ASSMANN und ASSMANN: „Das Geheimnis und die Archäologie der literarischen Kommunikation“, S. 7.

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Ruby Town, wodurch die Zuschauer automatisch zu verantwortlichen Mitspielern im verheißungsvollen „Erzähl-Labyrinth“91 gemacht werden. Denn wer um ein Geheimnis weiß, genießt nicht nur das Privileg des Dazugehörigen, sondern steht zugleich unter moralischer Verpflichtung, das Geheimnis nicht weiterzugeben. Mögen die Zuschauer sich innerlich noch so sehr distanzieren, die Anwohner von Ruby Town nehmen jede Handlung der Zuschauer in der Rolle der Besucher aus dem Nordstaat ernst. Jedes Weitererzählen, welches, wie Kurt Röttgers gezeigt hat, als ein „Erzählhandeln [...] vor einem normativen Hintergrund“92 steht, hat Konsequenzen. Wie ein Kritiker anmerkt:

 „Dazu kommt noch, was man hier selbst an Geschichten auslöst. Hattest du nicht versprochen, niemandem von dem Mord zu erzählen, den Sergeant Marina an ihrem Vorgesetzten begangen hat? Und hast dich doch verplappert? Jetzt wird Sergeant Marina in der Militärbaracke mit Stromstößen gefoltert. Und du schluckst die Schuld mit dem Wodka runter, zu dem eine Bewohnerin dich in ihren Wohnwagen geladen hat.“

93

Ob die Zuschauer ähnlich wie dieser Kritiker unter Gewissensbissen leiden oder nicht, immer wieder versuchen die Anwohner der fiktiven Siedlung die Zuschauer in ein reales Abhängigkeitsverhältnis zu bringen. Im Weiter-Erzählen eines Geheimnisses zeigt sich exemplarisch die potentielle Macht der hier realisierten Erzählakte als realitätskonstituierende und involvierende Performanzen. Die Geheimniskrämerei von Ruby Town grenzt ein, schafft Abhängigkeiten und eröffnet zugleich Möglichkeiten der Entfaltung eines sozialen Miteinanders. Mit Wittgenstein ausgedrückt: Das Verhältnis zwischen Besuchern und Bewohnern, zwischen Zuschauern und Schauspielern wird erzählend erspielt und damit geregelt. Im gegenseitigen Erzählen entsteht dabei ein Erwartungshorizont auch für das unmittelbar zukünftige soziale Verhältnis der Anwesenden. Ein Erwartungshorizont, auf den man sich, wie Kurt Röttgers es formuliert hat, „später jederzeit als für diese Sozialbeziehung authentischen Text wird beziehen dürfen.“94 Doch realisiert die Rollenspielinstallation immer auch zugleich die Distanzierung, eine Entstrickung aus dem narrativen Verantwortungsknoten. So wird seitens der Siedlungsanwohner auch Vertrauen gebrochen, Nähe verweigert oder Information vorenthalten. Die Geheimniskrämerei kann sich auch gegen die Besucher wenden, etwa dann, wenn Zeugenberichte abrupt abgebrochen, Aussa-

 91 BOS: „Verloren im Erzähl-Labyrinth“. 92 RÖTTGERS: Die Lineatur der Geschichte, S. 341. 93 BOS: „Verloren im Erzähl-Labyrinth“. 94 RÖTTGERS: Die Lineatur der Geschichte, S. 96.

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gen aus Angst vor möglichen unangenehmen Folgen verweigert oder unklare Aussagen und dubiose Antworten gegeben werden. Halbseidene Zeugenberichte versehen die Figuren mit einer Aura der Undurchschaubarkeit und erwecken den Eindruck einer „größere[n] und streng geheime[n] Geschichte“, 95 die es als Zuschauerin herauszufinden gilt. Damit werden die Zuschauer unweigerlich auf die Ebene der detektivischen Ermittlung zurückgeholt. Unterstützt wird dieser distanzierende Effekt von einer andauernden Relativierung einzelner, punktueller Erzählungen als Teilwahrheiten einer vermeintlich großen Geschichte. So erklärt mir Captain Stern schon leicht angetrunken, die Ruby Towner seien allesamt einer Lüge verfallen, Martha sei in Wahrheit eine herrschsüchtige Frau und im Übrigen sei die Verstrahlung im Siedlungsgebiet so hoch, dass die Anwohner schon bald in ein Krankenhaus in den Nordstaat evakuiert werden müssten. Leo, ein junger Mann, der sich mir als Anführer von Ruby Town vorstellt, bezeichnet die Soldaten hingegen allesamt als Lügner, denen es lediglich daran gelegen sei, ein unabhängiges und rauschhaftes Leben im Grenzgebiet zu führen. Die sich teils widersprechenden Aussagen von letztlich unzuverlässigen Erzählern rücken damit eine Dimension des Zweifels und die Möglichkeit der Lüge ins Bewusstsein, die dem Authentizitätsgebot eines Zeugenberichts immer schon ex negativo inhärent ist.96 Obgleich die einzelnen Geschichten nie zusammenpassen, regen sie doch gerade aufgrund ihrer Disparatheit den Spürsinn an und erwecken die Illusion und den Wunsch nach einer Wahrheit über Ruby Town. Über-Zeugen: Realitätsverunsicherung Wird das changierende Erzählspiel zwischen Ver- und Entstrickung, zwischen Nähe und Distanzierung, zwischen Vertrauen und Zweifel zu weit getrieben, stellt sich der hyperrealistische Kollaps von Realitätsgrenzen ein. Wie zum Beispiel in meiner Begegnung mit Leo. Ich lerne ihn auf einer Bank unterhalb des Tempels von Martha kennen. Nach einer halben Stunde Geplauder über Marthas Erscheinungen und über die Verbote des Militärs verrät mir Leo, dass er für die Rückkehr Marthas aus dem Zwischenreich verantwortlich sei. Martha sei, nachdem sie bereits vor sechs Jahren das erste Mal aus dem Ort zwischen Leben und Tod in der Siedlung aufgetaucht sei, schon kurze Zeit später wieder in eine Scheintotenstarre verfallen. Aus Angst, das Militär könne den tot geglaubten Körper Marthas konfiszieren, habe Leo die komatöse Martha in eine Matratze eingenäht. Leo erzählt diese absurde Märchengeschichte mit der Selbstverständ-

 95 BOS: „Verloren im Erzähl-Labyrinth“. 96 Sybille Krämer spricht diesbezüglich von einer „epistemischen Ungewissheit“ der Zeugenschaft. KRÄMER: Medium, Bote, Übertragung, S. 229.

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lichkeit eines überzeugten Glaubensanhängers und er hätte die Geschichte wohl an dieser Stelle beendet, wenn ich nicht weiter nachgehakt hätte. Wie also sei Martha denn nun wieder zum Leben erweckt worden, so dass sie nun gerade zwei Meter von uns entfernt, den Tod aller Siedler voraussehe, frage ich. Leo richtet sich auf, nimmt mich bei der Hand und zieht mich in seinen Wohnwagen. Er verschließt die Tür von innen, tritt nah an mich heran und sein verschmitztes Lächeln verrät, dass er sich bereits jetzt auf die kommende Pointe seiner Erzählung freut. Mit einer schnellen Bewegung schlägt er die Decke auf dem schäbigen Bett zurück und zum Vorschein kommt eine mit groben Stichen vernähte Matratze, in deren Mitte ein eingeritztes Loch aufklafft. Mir zunickend fordert er mich zu einer erklärenden Erzählung auf. Martha habe sich wohl ein Loch von innen in die Matratze gebohrt und sei so herausgekommen, mutmaße ich. Er schüttelt den Kopf, wartet noch eine Weile, schaut mir erwartungsvoll in die Augen und verrät mir schließlich mit leisem Ton, dass er selbst mit einem Messer das Loch in die Matratze gestochen habe „und dann – pppfh – habe ich sie mit meinem Geschlecht zum Leben erweckt.“ Ich muss laut auflachen über die Absurdität dieser Geschichte, über die anrüchige Ernsthaftigkeit, mit der dieser Schauspieler sie mir erzählt, über die Situation, in der ich mich befinde: in einem Theaterstück, dessen Geschichte es schafft, so nah an mich heran zu treten, dass mir plötzlich unheimlich wird in diesem Wohnwagen mit diesem verrückten Sektenanhänger, den ich versuche, mit einem weiteren Lacher meinerseits auf Distanz zu bringen, bevor er die Tür des muffigen Wohnwagens aufstößt und ich erleichtert ins Freie laufe. Die Verwirrung von immersiven und distanzierenden Momenten verabsurditiert den eigenen Realitätsstatus: Ich nehme mich wahr als aktuell anwesende Protagonistin einer an das Genre des Phantasy-Romans erinnernden, fiktiven Geschichte, in der ich mich scheinbar freiwillig dazu bringe, Teil eines verführerischen, verrückten Machtgefüges zu werden. Die Ruby Townsche Zeugenschaft über-zeugt – und das in dreifacher Weise: Sie überzeugt mich zunächst auf einer intradiegetischen Ebene durch die (auch schauspielerisch überzeugende) Herstellung von Wahrhaftigkeit in einer Atmosphäre des intimen Anvertrauens. Diese inszenierte Authentizität vermag mitunter eine derartige Anziehungskraft auszustrahlen, dass einige Zuschauer während des Berliner Theatertreffens von Köln „extra nach Berlin anreis[ten]“,97 um die ihnen vertrauten Rubinstädter aus der Kölner Version wieder zu sehen oder dass sich Mitspielende gegen Ende des

 97 MARCUS: „Neues aus Ruby Town 4“.

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Tages in der Siedlung zu herzzerreißenden Abschiedsszenen hinreißen ließen.98 Zweitens generiert das Netz von Zeugenberichten aufgrund der Widersprüchlichkeit einzelner Aussagen Zweifel am Erzählten. Über-Zeugen meint in diesem Sinne ein Jenseits des Zeugens. Hier wird die Fiktivität der Ruby-Welt glasklar vor Augen geführt und eine detektivisch motivierte narrative Konfigurationsarbeit forciert, da der Besucher in die Position eines zugleich sozialen wie diegetischen Außenseiters gedrängt wird. Im Zwischenraum, den diese beiden Über-Zeugungsweisen in ihren beständigen Überlappungen von Immersion und Distanzierung herstellen, situiert sich die dritte Spielart des Über-Zeugens als die eigentlich realitätsverunsichernde, nämlich ein Über-Zeugen als ein Zuviel an Überzeugung. Die Ruby-Welt scheint stellenweise so überperfekt in ihrer Simulation, dass im verführerischen, interaktiven Mitspielen selbst die absurdeste Geschichte einen Einfluss auf mich nehmen kann. Das hyperreale ‚Zuviel-anÜberzeugung‘ erschafft Unheimlichkeitsmomente, in denen man sich dabei ertappt, wie man dieses abwegige, teils peinliche Spiel mit aller Ernsthaftigkeit in jedem involvierenden Erzählakt mitgestaltet. Der zunächst handlungsentlastende Fiktionsrahmen wird von Beginn an gesprengt, indem die Besucher in den Erzählsituationen in das soziale Netz mit eingeschlossen werden. Dabei wird im Erzählen „ein eigenes zartes Gespinst von Wirklichkeit“ 99 angelegt, das seine eigenen qua Narration errichteten Wirklichkeitsgrenzen beständig selbst transzendiert und darin metaleptisch wirkt. 100 Genau hieran entspinnt sich das Unheimliche: Als unheimlich erscheint die Ruby-Welt deswegen, weil es sie ‚eigentlich‘ nicht wirklich gibt und weil sie ihre Besucher dennoch aktuell erzählhandelnd in die Pflicht nimmt. Die zunächst scheinbare distanzierte und

 98 „Ich sehe auf die Uhr. Es ist vier Uhr morgens. ‚Bleib doch noch‘, sagt er. ‚Ich kann nicht...‘, sage ich und höre mich schlimm vernünftig an. Er bringt mich zum Ausgang und umarmt mich kurz und heftig. Ich werde ihn nie wieder sehen, denke ich auf dem S-Bahnsteig. Ein wenig Trauer kann ich nicht unterdrücken.“ Ebd. 99 Kommentar auf Nachtkritik: BALTZER: „Zartes Gespinst von Wirklichkeit“. 100 Zur Wirkung von Metalepsen, d.h. von Momenten des unerwarteten Eindringens eines diegetischen Universums in ein anderes vgl. GENETTE: „Diskurs der Erzählung“, S. 168f. und Kapitel II/3.2, Abschnitt „Metalepsen“. SIGNA realisierten in anderen Rollenspiel-Installationen durch das Hinzufügen weiterer diegetischer Ebenen eine Reihe weiterer metaleptischer Effekte. So tauchte plötzlich überraschend die Figur Martha Rubin aus Ruby Town am Ende einer völlig anderen Performance auf. Eingeschworene SIGNA-Fans lässt so ein metaleptischer Trick eine Art narrativen Über-Kosmos erahnen, der die so unterschiedlichen Welten aus SIGNAS Performancepraxis auf verblüffende Weise miteinander verbindet.

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als fiktiv abgestempelte fremde Welt entpuppt sich als vertrautes – im Freudschen Sinne des Unheimlichen – heimisches und zugleich heimliches Terrain, da man sich als Mitspielerin in mitunter bekannten, aber unangenehmen oder als verwerflich empfundenen (Erzähl-)Situationen wiederfindet, auf die man sich unter ‚normalen‘ Umständen niemals eingelassen hätte. 101 Realitätsverunsicherungen werden besonders dort spürbar, wo die Zuschauer emotional und moralisch in Bedrängnis gebracht werden. Wenn man zur Peepshow überredet, in brutale Geschichten verwickelt wird oder man andere Besucher dabei beobachtet, wie ihre Gespräche mit den Anwohnern in kollektive Besäufnisse oder dubiose Rituale ausufern, hat der Spaß am Spiel schnell ein Ende – oder für einige Mitspieler auch seinen Anfang.102 Gegen Ende der Berliner Version, gerade als das Militär die Einlieferung der Siedler in ein nordstaatliches Krankenhaus umsetzen wollte, entbrannte unter den Besuchern eine kontroverse Diskussion um deren „Pflicht zum Eingreifen“. 103 Die metaleptischen Verwirrungen pflanzten sich mitunter bis in den Alltag der Besucher fort, etwa wenn die Fahrgäste in der S-Bahn auf eine Theaterkritikerin nach dem Verlassen der Installation „auf einmal irrealer als die Rubinstädter“104 wirkten. Die verschiedenen Ebenen der Ruby Townschen Zeugenschaft lassen sich im Prozess des Mitspielens kaum voneinander trennen. Und so werde ich in Ruby Town sowohl Zeugin als auch Mit-Erzeugerin einer Zeugenschaft, spätestens dann, wenn ich die Erzählungen der Figuren selbst erzählend weiter trage und

 101 Für Sigmund Freud ist das Unheimliche „eine Art von heimlich“ wie von „heimisch“. FREUD: „Das Unheimliche“, S. 145 und 138. Das Unheimliche begründet sich auf der Wiederkehr des Vertrauten, das zum Zweck der kulturellen und subjektiven Entwicklung aus dem Bewusstsein verdrängt werden musste. Der Schock, den das Unheimliche auslöst, basiert daher auf einer das eigene Selbst verunsichernden (Wieder-)Begegnung mit einem letztlich heimlichen wie heimischen Teil des eigenen Selbst. 102 In allen SINGA-Performances geht es um das Aufdecken von gesellschaftlichen Tabus und unterdrückten Lüsten. Eine derart transgressive Dimension ist jedoch in anderen Performances von SIGNA sehr viel ausgeprägter als in Ruby Town, etwa in SIGNAS Version von Pasolinis Salò, in der die Zuschauer in Folter- und Vergewaltigungsszenarien involviert werden. Allen Arbeiten von SIGNA gemein ist die Herstellung einer Erfahrung von Wirklichkeitsverunsicherung. Es geht immer um den unheimlichen Umschlagpunkt, an dem die scheinbare Harmlosigkeit eines bloßen Rollenspiels in Ernst umkippt. 103 Kommentar auf Nachtkritik: BALTZER: „Zartes Gespinst von Wirklichkeit“. 104 MARCUS: „Ausnahmezustand in Ruby Town“.

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dergestalt mit aufgenommen werde in das Geflecht von unzuverlässigen Erzählern: aus Zeugenberichten werden Gerüchte.

5.2 G ERÜCHTEKÜCHEN UND E RZÄHLSCHWÄRME . V ON DER M ACHT DES FLIEGENDEN E RZÄHLENS  Marthas Echokammer des Hörensagens Das Gerücht hat in Ruby Town spätestens dort seinen Anfang, wo Besucher beginnen, das Erzählte untereinander weiterzuerzählen. Auf der Suche nach der Wahrheit in einem Labyrinth von Widersprüchen und Fremdheiten erscheinen andere Besucher als einzig verlässliche Gesprächspartner, attestiert man diesen doch automatisch aufgrund ihrer Position als extradiegetische Theaterbesucher einen höheren Grad an Objektivität. Diese Rechnung aber geht nicht auf, da die Besucher immer nur das weitererzählen können, was ihnen selbst zugetragen wurde. Und so produziert die Suche nach einer zuverlässigen Quelle nur noch mehr Unzuverlässigkeit. Das Zirkulieren von Zeugenaussagen mutiert zu einer Gerüchteküche, die – produziert durch jeden mitspielenden Zuschauer – immer schon per se unzuverlässig ist: „Gerüchte sind“, wie der Literaturwissenschaftler Hans-Joachim Neubauer präzisiert, „Zitate mit einer Lücke. Unbestimmt bleibt, wen sie zitieren: wer in ihnen spricht, weiß keiner“.105 Das Gerücht ist die unbewiesene Nachricht, das ‚bloß‘ Weitererzählte, dem der ursprüngliche Sender als Quelle abhanden gekommen ist. Das Gerücht führt die Zeugenschaft ad absurdum: Gerüchte sind Zeugenaussagen von Zeugenaussagen von Zeugenaussagen. Das Gerücht ist bereits in der Erzähl-Architektur und -infrastruktur von Ruby Town angelegt. Der Friseur- und Schönheitssalon, das Wirtshaus, der Wohnwagen, in dem der Ältestenrat tagt, der Massagesalon – Ruby Town ist eine Stadt voller Handelsplätze für mündliches Gemunkel: „Denn wo könnte ein besserer Umschlagplatz für Neuigkeiten aus Ruby Town sein als im Schönheitssalon?“,106 fragt ein nach neuesten Nachrichten begieriger Theaterkritiker, der zum zweiten Mal die Installation besucht. Jene öffentlichen und dennoch intimen Orte, die einen mündlichen Austausch forcieren, transformieren den Zuschauer in einen logopoios, einen Geschichtenspinner, der bereits in der Antike verstärkt an Orten wie Barbier-, Parfümeriesalons und Schuhmachergeschäften anzutreffen war.107

 105 NEUBAUER: Fama, S. 2. 106 BEHRENS: „Neues aus Ruby Town 5“. 107 Plutarch bemerkte: „Es ist kein Wunder, dass die ganze Zunft der Barbiere so geschwätzig ist [...] denn die ärgsten Schwätzer kommen bei ihnen zusammen und

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Hier wird weitererzählt, was angeblich passiert sein soll: Martha soll eine Taube gesehen haben – ein gutes Omen.108 „[J]emand spekuliert, Martha sei doch bloß vom Nordmilitär eingesetzt, um das Dorf still und kontrollierbar zu halten“.109 Man habe Martha sagen hören, dass „der fremde Mann“ den verschwundenen Bräutigam Joel „aufgefressen“110 habe. In den Etablissements von Ruby Town findet man Bestätigung oder stößt auf Unverständnis, wenn man zuvor Gehörtes weitergibt: „Wer hat das erzählt?“, „Das soll man glauben?“.111 Sogar noch nach dem Verlassen der Installation hallt der Gerüchteschall über die real-fiktiven Grenzen von Ruby Town hinaus bis in den digitalen Raum des Internets, in dem sich in einer live-Berichterstattung neuester Klatsch und Tratsch türmt und in dem die von einer Erlebnisberichtwut angesteckten Fans selbst nach Beendigung der Performance die Figuren von Ruby Town und sich selbst darin weiterleben lassen: „Ich wäre (bin) heute noch dort“, 112 wie eine Bloggerin schreibt. Selten hat eine Theaterarbeit einen derartigen Schreibansturm auf der Theaterkritiker- und Blogger-Interplattform Nachtkritik ausgelöst, die als interaktives Forum das passende Medium zur Fortsetzung der Ruby Townschen „Echokammer des Hörensagens“113 im Twitter-Stil darstellt und an deren übermäßiger Nutzung der unerfüllbare Wunsch manifest wird, die aufwühlende narrative Unabgeschlossenheit von Ruby Town nachträglich in den Griff zu bekommen. Sogar auf dem vom Berliner Theatertreffen initiierten Publikumsgespräch, das nach Beendigung der Performance-Installation stattfand, konnte „das Publikum sich immer noch nicht satt fragen und erzählen“. „Man hätte sich wohl noch endlos Geschichten erzählen können“,114 wie die Kritikerin Esther Slevogt bemerkt.

 sind beständig in ihrer Gesellschaft, so daß sie sich endlich selbst auch dieses Laster angewöhnen müssen.“ PLUTARCH: „Über die Geschwätzigkeit“, S. 477. 108 Vgl. SCHRÖPFER: „Neues aus Ruby Town 2“. 109 HAAS: „Nibelungenhort und Peepshow“. 110 BEHRENS: „Neues aus Ruby Town 8“. 111 MERCK: „Neues aus Ruby Town 7“. 112 Kommentar auf Nachtkritik: EDEL: „Ruby Town: Wo bin ich?“. 113 NEUBAUER: Fama, S. 199. Neubauer verweist auf das Internet als Gerüchte potenzierendes Medium: „Das Internet ist das Hörensagen im digitalen Zustand, die große Zeit der Fame hat erst begonnen.“ Ebd., S. 200. Trotz der schriftlichen Verfasstheit von Internetblogs oder Plattformen wie Twitter lassen sich diese aufgrund ihrer Reichweite, Schnelligkeit und Kollektivität als eine Art digitalisierte Form mündlicher Kommunikation beschreiben. 114 Dieses und letztes Zitat: SLEVOGT: „Letztes aus Rubytown“.

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Gerüchte, so wird hier deutlich, sind verdichtete Manifestationen narrativer Energie, die sich aus der genuinen Inkongruenz von Erzählen und Erzähltem ergeben.115 Die Gerüchte von Ruby Town zeugen nicht nur von unbefriedigten, nicht nachprüfbaren Zeugenaussagen, sondern vor allem von einer überschüssigen nicht-erzählbaren Dimension am Erzählen, von einem performativen Überschuss des Erzählaktes, der selbst immer wieder dazu auffordert, erzählt zu werden und dessen Versprechen eines Geschichten-Endes doch nicht befriedigt werden kann. Damit muss die Detektivsuche von Ruby Town im Sande verlaufen. Die Spuren haben als unzuverlässige Erzählungen keinen Ausgangspunkt, verweisen sie doch lediglich auf ein sich mit jedem Erzählakt weiter ausbreitendes Geflecht von neuen Erzählungen, welche zu neuen Spuren am Tatort werden und welche die alten Spuren längst mit einer halbdurchlässigen Schicht Ruby Town-Sand überzogen haben.

 Erzählschwärme: Zur partizipatorischen Dynamik des Gerüchts Wie kaum eine andere Erzählform vermag das Gerücht auf seine eigene Performativität zu verweisen. Denn die Wirkungsmacht des Hörensagens lässt sich nicht unabhängig von dessen Vollzug denken. Anders formuliert: Der Vollzug des Gerüchts selbst ist dessen Wirkungsmacht. Sein Erfolg hängt nicht nur vom übertragenen Inhalt ab, sondern vor allem von einer partizipatorischen, lokalen Ausbreitung und einer möglichst hohen Geschwindigkeit,116 das heißt von einer möglichst flächendeckenden sozialen Synchronisierungsleistung und einer Resonanzfähigkeit. Das Gerücht, dessen flüchtige Ungebändigtheit als „wildes Erzählen“117 häufig mit Metaphern des Fliegens dargestellt wird, liegt in der Luft, es geht um, greift um sich und einen Wert hat es nur genau solange, wie es die Spatzen von den Dächern pfeifen. Seit der Antike, wie Neubauer ausführlich darlegt, hat man versucht, das Gerücht als fliegende Chimäre in der zungenbeflügelten Figur der Fama zugleich zu repräsentieren und zu bändigen.118 Selten wurde die Erzählbewegung des Gerüchts so treffend visualisiert (und damit fixiert) wie in A. Paul Webers Lithografie Das Gerücht, der Darstellung eines durch eine Häuserschlucht fliegenden Lindwurms, dessen Leib sich aus einem Schwarm unzähliger, winziger, aus den Fenstern der Häuser zum Wurm hinströmender Gesichterwesen formt.

 115 Vgl. Kapitel II/3.1, Abschnitt „Narrative Energie“. 116 Vgl. NEUBAUER: Fama, S. 123f. 117 Ebd., S. 13. 118 Vgl. ebd., S. 56ff.

III. N ARRATIVE S PIELE

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Abbildung 3: Paul A. Weber: Das Gerücht (1943/1953) © VG Bild-Kunst, Bonn 2013

Quelle: A. Paul Weber-Museum in Ratzeburg.

Und in der Tat lässt sich die Räumlichkeit und Kollektivität der Erzähldynamik des Gerüchts treffend mit dem Bewegungsmuster eines Schwarms beschreiben: Der Schwarm, etwa ein Vogel- oder Bienenschwarm, ist eine partizipatorische Bewegungs- und Organisationsform, die sich aus einer lokalen, sich selbst in der Bewegung organisierenden Mehrheit von Individuen zusammensetzt, die sich miteinander synchronisieren, das heißt nie völlig angleichen oder anpassen, sondern in einem Fast-Tangieren stets einen Abstand und eine Differenz zueinander bewahren. Ein Schwarm gibt sich selbst Gestalt, indem seine Teile sich aufeinander einspielen, wie Kai van Eikels darlegt: „Bewegungen lenken und koordinieren Bewegungen.“119 Der Schwarm vermag dabei das Ereignis seiner eigenen Figuration, seiner eigenen Gestaltgebung zu exponieren, nämlich als ein unaufhörliches Neu-Formieren in einer sich zusammenziehenden und ausdehnenden Schwenkbewegung.

 119 EIKELS, VAN: „Schwärme, Smart Mobs, verteilte Öffentlichkeiten“, S. 33. Schwärme lassen sich daher mit dem physikalischen Konzept der Synchronisierung beschreiben. Vgl. auch PIKOVSKY, ROSENBLUM und KURTHS (Hrsg.): Synchronization.

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In den Straßen und Etablissements von Ruby Town formieren sich aus vielerlei Stimmen zusammengeballte Gerüchte, die sich jedoch nie als fertige Einheiten fassen lassen, sondern immer wieder aus den Fugen geraten, die Richtung in den Gassen wechseln und sogar bis über die lokalen und zeitlichen Grenzen der Performance hinaus in den virtuellen Äther von Nachtkritik hinein fliegen. Dabei werden über das Ab- und Angleichen von Geschichten auch die Teilnehmer synchronisiert. Grüppchen und Beziehungsgeflechte formieren und entwirren sich, angetrieben durch die Neuigkeiten von nebenan. Obgleich ich selbst beständig neue Variationen von Geschichten über Ruby Town produziere, scheinen mir die Informationen stets vorauszueilen. Das Gerücht verleiht den Eindruck, am kollektiven Geschwirr Teil zu haben und dennoch ständig etwas zu verpassen: „man möchte überall gleichzeitig sein“,120 wie eine Besucherin bemerkt. Und so gehe ich nie vollkommen im Gerüchteschwarm auf, obwohl ich zugleich von diesem gelenkt und zum Weitererzählen veranlasst werde. Im (Erzähl-)Schwarm existiert actio und passio, Bewegen und Bewegtwerden immer zugleich.121 Im Kontext der theoretischen Schwarmdebatte wird deutlich: Das Gerücht als eine unaufhaltsame Kollektivbewegung eines beständig neuen narrativen Konfigurierens stellt ein kollektiv-konstitutives Handeln dar, das heißt einen „soziale[n] Resonanzraum“, 122 eine „erhöht[e] sozial[e] Performanz“, 123 ein Lyotardsches Spiel, welches ein, wenn auch extrem elastisches, soziales Band aufzubauen im Stande ist. Das Gerücht in Ruby Town ‚bewegt‘ die Teilnehmer und führt sie zusammen – zunächst unabhängig davon, ob es Gutes oder Schlechtes vermittelt. Soziale Macht des Gerüchts Schwärme verkörpern ein alternatives Handlungsmodell. Sie führen keine vorgegebene Struktur aus, sondern geben sich im kollektiven Handeln selbst Struktur. Jenseits von schöpferisch singulärer Autorität verwirklichen Schwärme eine andere Macht- und Wissensform, deren ‚Kern‘ und Motor allein in einer partizipatorischen Interaktion angelegt ist. So stellt das Gerücht als Schwarmphänomen eine subversive Gegenmacht zur offiziellen, institutionell verbürgten Meinung dar.124 Gerüchte entziehen sich der prompten Nachprüfbarkeit. Sie generieren im Erzählen eine temporäre Wahrheit, die zunächst allein auf der Tatsache beruht,

 120 MARCUS: „Ausnahmezustand in Ruby Town“. 121 Vgl. hierzu auch BRANDSTETTER, BRANDL-RISI und EIKELS, VAN (Hrsg.): Schwarm(E)motion. 122 NEUBAUER: Fama, S. 38. 123 EIKELS, VAN: „Schwärme, Smart Mobs, verteilte Öffentlichkeiten“, S. 62. 124 Zum Gerücht als Gegenmacht vgl. KAMPFERER: Gerüchte, S. 26.

III. N ARRATIVE S PIELE

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dass erzählt wird. Ein Gerücht hat Gültigkeit, weil von ihm gesagt wird, dass alle es erzählen. Die soziale Performanz des Gerüchts verdeutlicht dabei exemplarisch – ganz ähnlich wie die von Lyotard erläuterte Erzählkonvention der lateinamerikanischen Cashinawa125 – ein sich selbst legitimierendes, zirkuläres Erzählgeflecht, in dem immer wieder auf den vorherigen Erzähler als scheinbar wahrheitsverbürgende Quelle verwiesen wird. Gerade weil die überprüfbare Wahrheit auf dem Spiel steht, muss die Erzählerin, die den narrativen Staffelstab weiterreicht, an diesem eine Spur hinterlassen, die sie in der nächsten Weiter-Erzählung als Protagonistin der vorherigen Erzählung ausweist. So erzähle ich in Ruby Town dem Siedlungsanwohner Joel, dass Camille mir soeben erzählt hat, dass man ihm erzählt habe, dass der fremde Mann am Rande der Siedlung angeblich gestern Abend mit dem Militär geredet haben soll und so fort. Gerüchte erzählen nicht nur von etwas, sondern sie erzählen immer auch über sich selbst. Sich selbst erzählend, gewinnen sie an unkontrollierbarer Macht, die gerade in einer von Schriftlichkeit dominierten Kultur immer wieder als Gefahr angesehen wurde.126 Ebenso wie das Gerücht gibt sich auch die von Gerüchten

 125 Vgl. Kapitel III/4, Abschnitt „Gemeinschaftslegitimation im Erzählen“. 126 Die Folgenschwere jener immanenten und als diffus und unangreifbar wahrgenommenen Gerüchtemacht wurde zum Beispiel, wie Neubauer betont hat, besonders in Kriegszeiten offensichtlich, in denen ein offizieller Nachrichtenfluss unterbrochen war. Mit Werbeslogans wie „Zip your lip and save a ship“ (zitiert nach: NEUBAUER: Fama, S. 176.) erinnerte die US-Regierung im Zweiten Weltkrieg ihre Bürger an die möglichen destruktiven Auswirkungen einer sich selbst katalysierenden Dynamik des Gerüchts. Ebenso versuchten die Engländer im Zweiten Weltkrieg Gerüchte zu bekämpfen, indem sie selbst gerüchteähnliche Schwarmtechniken der Nachrichtenverbreitung einsetzten: Aus Flugzeugen wurden kleine Zettelchen über deutschen Städten ausgeschüttet, und mit Kärtchen versehene Gasluftballone wurden bei günstigem Wind in Richtung Deutschland getrieben. Die sich in Windeseile verbreitenden Zettel enthielten die offizielle Wahrheit über die humanitäre Situation in den Kriegsgefangenenlagern in England. Damit sollte den in Deutschland kursierenden Gerüchten über eine angeblich von Engländern an deutschen Kriegsgefangenen vollzogene Massenfolterung und -ermordung entgegengewirkt werden (vgl. ebd., S. 118ff.). Auch in der Nachkriegszeit wurde das Gerücht nicht selten als eine Seuche beschrieben, gegen die in vielen US-amerikanischen Städten in den 1950er Jahren – also zu einer Zeit, in der durch Radio und Fernsehen Nachrichten mit einer höheren Geschwindigkeit und Reichweite unkontrollierter zu zirkulieren begannen – so genannte „rumor clinics“ einrichtet wurden. In diesen wurde aus den von Gerüchteeintreibern (vor allem von Kneipenwirten) rund um die Stadt eingesammelten Gerüchten eine offi-

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durchzogene Rollenspiel-Installation zunächst scheinbar unauffällig. Das Geraune von Ruby Town erscheint auf der Oberfläche des Geschehens und vor dem Hintergrund einer anfänglichen Zuschauererwartung, die auf eine spannungsreiche Darbietung eingestellt ist, lediglich als ein „Nebenraum der Geschichte“.127 Betritt man diesen Nebenraum und schließt sich der Erzählbewegung an, hält man den Gerüchtehall automatisch weiter am Leben und verstärkt zugleich dessen Wirkungsmacht. Mit der sozialen Epistemologie des Erzählens spielen SIGNA etablieren in Ruby Town ein System von narrativen Vermittlungsvorgängen. Als narrative Botengänge stellen die hier vollzogenen mündlichen Erzählformen partizipatorisch-soziale Erkenntnispraktiken dar, die, wie Sybille Krämer betont hat, einen Großteil unseres Wissens ausmachen.128 Die Verifizierbarkeit jenes Wissens liegt nicht in einer spezifizierbaren Quelle, sondern muss im Vermittlungsakt selbst verbürgt und geleistet werden – ein Grund zum Beispiel, warum Zeugenberichte im Gericht unter Eid gestellt werden können. Es handelt sich also um ein Wissen, „bei dem wir uns selbstverständlich auf andere verlassen müssen.“129

 zielle, institutionell abgesegnete Wahrheit formuliert (vgl. ebd., S. 176ff.). Folgt man Eric A. Havelocks These, nach der die zunehmende medienkommunikative Technologisierung im 20. Jahrhundert das Zeitalter einer „sekundären Oralität“ eingeläutet habe, so erscheinen die „rumor clinics“ der 1950er Jahre, medienhistorisch gewendet, als zeitsymptomatische Versuche, an einer scheinbar objektivierenden Festigkeit eines auslaufenden Zeitalters der Schriftlichkeit festzuhalten zu wollen, um schließlich den als undurchdringlich empfundenen „Nebel des Oralen“ (ebd., S. 130.) unter Kontrolle zu halten. Zu Havelocks These einer „sekundären Oralität“: HAVELOCK: Als die Muse schreiben lernte, S. 14f. 127 NEUBAUER: Fama, S. 16. 128 Vgl. KRÄMER: Medium, Bote, Übertragung, S. 120. Krämer argumentiert in diesem Zusammenhang, dass in der abendländischen Philosophiegeschichte jene auf Vermittlung beruhende Form von Wissensgenerierung vernachlässigt worden sei, da letztere einer Idee von singulärer Denkautonomie zuwider laufe. Was Krämer generell in ihrer aufschlussreichen Auseinandersetzung mit Botengängen weitestgehend unberücksichtigt lässt, ist eine narrative Dimension des vermittelnden Botengangs. Vgl. dazu Kapitel II/3.2, Abschnitt „Erzählen als Vermitteln“. 129 KRÄMER: Medium, Bote, Übertragung, S. 253.

III. N ARRATIVE S PIELE

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Ruby Town setzt eine „soziale Epistemologie“130 in Gang. Indem die Gruppe SIGNA die mündlichen Erzählformen wie den Zeugenbericht und das Gerücht mit der Spielform des Rollenspiels verknüpft, lenkt sie das Augenmerk auf die soziale selbstlegitimierende Dynamik, welche in den face-to-face-Erzählsituationen eines mündlichen Erzählens auf besonders anschauliche, ‚direkte‘ Weise realisiert wird. Das Rollenspiel, über dessen Fiktionalität man sich stets bewusst bleibt, fungiert dabei als eine Strategie der Verfremdung, mittels derer das Erzählen als ein realitätskonstitutiver Vermittlungsakt offensichtlich gemacht wird. Denn das Rollenspiel ermöglicht zugleich eine narrative Verstrickung sowie die Möglichkeit zur Selbstbeobachtung. Da ich selbst in den narrativen Übertragungsmechanismus faktisch eingeschlossen bin und mich aber zugleich durch das wirklichkeitsoszillierende, hyperreale Rollenspiel genau im Vorgang des Eingeschlossenwerdens beobachten kann, wird die soziale Performanz narrativer Übertragungen, das heißt das soziale Spiel des Erzählens, nicht nur am eigenen Leib erfahrbar, sondern zugleich als ein mich verstrickendes Spiel durchschaubar. Und so verweist Ruby Town auf die Wirksamkeit eines sozialen, narrativen Spielens in unserem alltäglichen Miteinander. Die realisierten Metalepsen machen schließlich deutlich, um nochmals Gérard Genette heranzuziehen, dass „das Extradiegetische vielleicht immer schon diegetisch ist.“131

 130 Ebd., S. 275. 131 GENETTE: „Diskurs der Erzählung“, S. 169.





IV. Dinggeschichten: (Auto-)Biografisches Sammeln, Schneidern und Basteln „Ich probiere Geschichten an wie Kleider!“

1

MAX FRISCH „One of the ways to reincarnate is to tell your story.“

2

SPALDING GREY

1. W IE D INGE

UNS ERZÄHLEN

In vielen mit (auto-)biografischem Material experimentierenden Performances der Nullerjahre kommen auffallend häufig Dinge zum Einsatz, die sich als Träger von Geschichten erweisen oder in die Geschichten aktiv eingeschrieben werden.3 Dinge dienen hierbei als narrativ-performative (Mit-)Agenten eines Selbstformungsprozesses. Ob als Erinnerungsgegenstände, als narrativ aufgeladene Gaben oder dinghafte Erweiterungen unseres Selbst – jene Performances werfen die Frage danach auf, wie wir Dinge narrativ verwenden, um uns selbst zu inszenieren und, umgekehrt, wie in Dingen andere Zeitebenen und vergangene Geschichten eingelagert sind, die auf unsere Selbstwahrnehmung eine entscheidende Wirkung haben, und schließlich, wie Dinge uns zu helfen vermögen, unser Leben narrativ zu begreifen. Das Verhältnis zwischen Dingen und Subjekten erscheint dabei genau dann als narrativ, sobald es mit einer nachträglichen

 1

FRISCH: Mein Name sei Gantenbein, S. 21.

2

GRAY, zitiert nach: http://www.streetpoetsinc.blogspot.de/2011/09/one-of-ways-to-reincarnate-is-to-tell.html, letzter Zugriff: 03. August 2013.

3

Zur näheren Bestimmung von ‚Dingen‘ vgl. den Abschnitt „Was sind Dinge?“ in diesem Kapitel.

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 oder vorgängigen Perspektive versehen wird, das heißt, sobald die Beziehung zwischen Ding und Subjekt nachträglich oder vorgängig als Teil einer narrativen Verkettung erkennbar wird. So zum Beispiel in der Arbeit The Boat Project des Duos Lone Twin.4 Bei diesem Projekt wurde über einen Zeitraum von anderthalb Jahren ein Boot gebaut, dessen Holz von Anwohnern aus verschiedenen Gemeinden in Südengland gespendet wurde. An so genannten donations days konnte dafür jeder Freiwillige dem Bootsbauer ein Stück Holz überreichen – vom unnützen Türrahmen, über ein ausgedientes Schneidebrett, einem alten Baseballschläger bis hin zum winzigen Bleistift. Mit dem Holz spendeten die Anwohner zugleich eine während der Spendenaktion akustisch aufgezeichnete, vom jeweiligen Spender mündlich erzählte Geschichte über die persönliche Beziehung zu dem überreichten Gegenstand. Die über tausend gespendeten Holzstücke wurden anschließend von dem Bootsbauer in das Boot eingearbeitet, wobei sie ihrer ursprünglichen Form nach erkennbar in die Oberfläche des Bootes eingelassen wurden. Im Mai 2012 stach das Boot mit einer von den Holzspendern nominierten sechsköpfigen Crew in See, um an mehreren Orten an der Südküste Englands anzulegen. An jedem Ort wurde das Boot samt seiner Geschichten im Rahmen eines Events präsentiert. Zuvor konnte man während des anderthalb Jahre langen Bootsbauprozesses live vor Ort oder teilweise über eine Webkamera im Internet den gigantischen Transformationsprozess von scheinbar unbrauchbaren, aber mit persönlichen Geschichten aufgeladenen Dingen mitverfolgen. In The Boat Project wurde der (auto-)biografische Wert von Dingen künstlerisch exponiert und zu einem (auto-)biografischen Ding-Archiv weitergeformt. Es entstand eine (auto-)biografische Ding-Enzyklopädie der Anwohner einer Landesregion in Form eines Bootes, in dem jeder einzelne Holzspender als Spur in seinem gespendeten Gegenstand mit anwesend war und von seinen Repräsentanten, der nominierten Crew, über die See und in andere Städte forttransportiert wurde. Mit dieser mobilen Skulptur, die hunderte von persönlichen Erzählungen im Schlepptau hat, haben Lone Twin den Versuch unternommen, eine in Holz verdinglichtes kollektives Selbst zu ‚basteln‘, dessen einzelne (auto-)biografische Holzbausteine an der Oberfläche der schwimmenden Geschichtensammlung sichtbar bleiben. Dieses Kapitel hat zwei thematische Schwerpunkte. Den ersten Schwerpunkt bildet die narrative Praktik der Selbsterzählung: die (Auto-)Biografie. Das Präfix ‚Auto‘ setze ich dabei absichtlich in Klammern, da sich erstens in den zahlrei-

 4

The Boat Project wurde in Thornham, Südengland, realisiert. Im Mai 2012 fand die Bootstaufe als Teil der London 2012 Cultural Olympiad statt.

IV. DINGGESCHICHTEN

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 chen (auto-)biografischen Aufführungspraktiken der vergangenen Jahre häufig Verfremdungen und Umspielungen (auto-)biografischer Konventionen beobachten lassen, in denen eine Unterscheidung zwischen Autobiografie und Biografie bewusst unkenntlich gemacht wird. 5 Mit der relativierenden Einklammerung soll, zweitens, typografisch der Umstand markiert werden, dass das (Auto-)Biografieren, wie jede narrative Praktik, immer in eine Erzählsituation eingebunden ist, innerhalb derer eine im Präfix ‚Auto‘ suggerierte Autonomie des sich selbst erzählenden Subjekts nie wirklich gegeben ist. Wie zuvor gezeigt, erfolgt ein Erzählen immer entsprechend der Erzählsituation, in die das Subjekt verstrickt ist und durch die es situativ beeinflusst wird. Auch Dinge, so der zweite thematische Schwerpunkt dieses Kapitels, können an einer Erzählsituation konstitutiv beteiligt sein. Im Folgenden fasse ich unter (auto-)biografischen Performances all jene Aufführungspraktiken, in denen die narrative Formung und Konstruktion eines Selbst vollzogen wird. Damit lassen sich meine Überlegungen innerhalb eines Diskurses über (auto-)biografische Performances verorten, den ich im Folgenden in Kürze darlegen möchte, bevor ich mich anschließend dezidiert den Dingen zuwende.

 (Auto-)biografische Performances Wenn es eine Erzählform gibt, die im experimentellen Theater und in der Performancekunst seit den 1960er Jahren besonders prominent vertreten ist und die im Gegensatz zu anderen theatralen Erzählformen eine theoretische Aufmerksamkeit erfahren hat, dann ist es das (auto-)biografische Erzählen. Trotz der formalen Vielfalt (auto-)biografischer Aufführungspraktiken liegt deren wesentliches gemeinsames Merkmal darin, die Frage nach der Inszeniertheit von Subjektivität zu stellen und damit eine essentialistische Vorstellung von subjektiver Authentizität zu problematisieren. Im postdramatischen Theater wurde im Zuge einer Abgrenzung vom dramatischen Theater und einer Zuwendung zum ‚real life‘ gerade dem (auto-)biografischen Erzählen als einer nicht-dramatischen,

 5

So wird zum Beispiel der autobiografische Diskurs fiktionalisiert oder das Publikum wird bewusst in den narrativen Akt einer Selbsterzählung einbezogen. Damit wird die für die Autobiografie konstitutive „autobiographische Triade“, d.h. das Ineinsfallen von Protagonist, Erzähler und Person, zugleich zitiert und unterwandert. Dabei entpuppt sich die Autobiografie als ein Wahrnehmungsmuster nicht nur in Bezug auf das eigene Leben, sondern auch in Bezug auf das Leben Anderer. Zur autobiografischen Triade vgl. THOMÄ: Erzähle dich selbst, S. 27.

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 nicht-fiktionalen und nicht-„fabel-hafte[n]“ 6 Erzählform ein besonderer Platz eingeräumt. Und in der klassischen Performancekunst, die in Folge einer Abwertung des Werkbegriffs Kunst als Ereignis proklamierte, rückten mit den Prozessen des Kunst-Machens zugleich Prozesse des Selbst-Machens in den Fokus.7 Ob in Form mündlicher Geschichtenerzählperformances, (auto-)biografischer „Bild-Erzählung[en]“8 oder anderer multimedialer Selbsterzählungen – im Zentrum (auto-)biografischer Performancepraktiken steht bis heute die Frage nach einer (Un-)Möglichkeit von Identität und Selbst. Von Beginn an stellte die (auto-)biografische Performance dabei ein Genre dar, in dem häufig gesellschaftlich marginalisierte Selbstentwürfe jenseits einer heterosexuell-weiß-männlichen Norm verhandelt wurden. Bis heute gehören viele Protagonisten jenes Genres solchen gesellschaftlichen Gruppen an, deren Identitätsentwürfe mit einer in der westlichen Kultur nach wie vor dominanten Vorstellung von Selbst kollidieren – man denke zum Beispiel an die Arbeiten von Kazuko Hohki, Robin Deacon, Ann Liv Young oder Mem Morrison. Dabei erweist sich die Aufführung als prädestinierte Kunstform, vermag sie doch als Performanz par excellence eine performative Hervorbringung von Identität auf besonders anschauliche Weise zu realisieren und zu reflektieren. Zudem bietet sich der auf face-to-face-Begegnung angelegte Aufführungsraum dafür an, durch eine Herstellung von intersubjektiver Nähe Fragen von ‚performing the self‘ mit solchen über ‚performing authenticity‘ kurzzuschließen.9 Doch lassen sich spätestens seit den 1990er Jahren diverse Form- und Funktionsverschiebungen in (auto-)biografischen Performancepraktiken beobachten. Wie Gabriele Brandstetter betont hat, wird der Topos emphatischer Subjektivität, dem noch die anfänglichen Arbeiten von zum Beispiel Spalding Grey, Laurie Anderson, Tim Miller oder Rachel Rosenthal verpflichtet waren, zunehmend von einem Erzählstil abgelöst, der sich durch eine gelassenere, teilweise ironischere Haltung, durch kollektive Autorschaft sowie durch eine Betonung des Alltäglichen, Unfertigen und Sekundären auszeichnet. Nicht mehr die „Selbst-Beschreibung“, 10 sondern die spielerische Inszenierung multipler Selbstentwürfe und damit die bewusste (De-)Konstruktion dessen, was Paul Ricœur als immer schon

 6

LEHMANN: „Fabel-Haft“, S. 219.

7

Vgl. hierzu z.B. FISCHER-LICHTE: „Verwandlung als ästhetische Kategorie“; BRANDSTETTER: „Selbst-Beschreibung“.

8

Ebd., S. 10.

9

Zur Herstellung von Nähe und Intimität in postdramatischen und „postepischen Narration[en]“ vgl. LEHMANN: Postdramatisches Theater, S. 195f.

10 BRANDSTETTER: „Selbst-Beschreibung“.

IV. DINGGESCHICHTEN

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 anti-essentialistisch gedachte „narrative Identität“11 bezeichnet hat, sind in den Vordergrund gerückt. In verschiedensten Aufführungsformaten wie beispielsweise in Lecture Performances (zum Beispiel bei Xavier Le Roy, Daniel Belasco Rogers, Joshua Sofaer, Rabih Mroué, Robin Deacon, Antonia Baehr, Jérome Bel, Zoé Laughlin), in spielerischen Versuchsaufbauten (She She Pop, Blast Theory) oder in an Stand-up Comedy angelehnten Performances (Bobby Baker, Kazuko Hohki) werden berufliche, private und künstlerische Ich-Facetten in anekdotenhaften Kurzerzählungen miteinander verwoben sowie fiktive und faktische Ebenen bewusst überlagert und verwirrt. Die narrative Konstruktion von Identität(en) wird dabei weniger als Mangel, als Ich-Verlust oder Entwurzelung betrauert, sondern zunehmend als ein positiv besetztes, Ich-ermöglichendes Testund Experimentierfeld ausgespielt. Zu Tage tritt das mitunter „unverschämte Ich“ unserer Zeit, ein Ich, welches, wie Joseph Früchtl diagnostiziert hat, nicht aufhört ‚Ich‘ zu sagen, „als wäre das Dasein eine endlose Folge von Talk-Shows“,12 und welches sich der Kontingenz der eigenen (Auto-)Biografie stets bewusst zu sein scheint. Das derzeitige Dokumentartheater, das seit der Jahrtausendwende immer größeren Anklang findet, verstärkt diese Tendenzen. In den dokumentarischen Arbeiten, in denen Laiendarsteller als so genannte „Experten des Alltags“13 in Szene gesetzt werden und dabei aus ihrem beruf-

 11 Das Konzept der narrativen Identität geht von einer grundlegend anti-essentialistischen Verfasstheit von Identität aus, die sich in jedem Erzählakt neu und anders gestaltet: „Zunächst ist die narrative Identität keine stabile und bruchlose Identität [...], [so] kann man auch für sein eigenes Leben stets unterschiedliche, ja gegensätzliche Fabeln ersinnen. [...] So gesehen ist die narrative Identität in ständiger Bildung und Auflösung begriffen [...].“ RICŒUR: Zeit und Erzählung, Band 3, S. 397. Vgl. auch ders.: „Narrative Identität“; Ders.: Das Selbst als ein Anderer. Einen Überblick über die Forschung zur narrativen Identität geben folgende Sammelbände: BROCKMEIER und CARBAUGH (Hrsg.): Narrative and Identity; MOSER und NELLES (Hrsg.): AutoBioFiktion; ATKINS und MACKENZIE (Hrgs.): Practical Identity and Narrative Agency. Annemarie Matzke hat die Konstitution narrativer Identität in (auto-)biografischen Praktiken des Gegenwartstheaters untersucht: MATZKE: Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern, S. 91ff. 12 FRÜCHTL: Das unverschämte Ich, S. 10. 13 Die Gruppe Rimini Protokoll bezeichnet ihre Laien-Protagonisten als „Experten des Alltags“. Vgl. DREYSSE und MALZACHER (Hrsg.): Experten des Alltags. Das Dokumentartheater der Jahrtausendwende, wie z.B. das von Rimini Protokoll, ist nicht zu verwechseln mit dem dramatischen Dokumentartheater der 1960er und 1970er Jahre, wie die Theaterkritikerin Christine Wahl konstatiert: „Assoziationen an den vorder-

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 lichen oder privaten Leben erzählen, geht es weniger, so mein Vorschlag, um eine Suche nach einer auf das eigene Selbst bezogenen Authentizität qua Narration, sondern um Authentizität als Narration.

 Erzählen und Dinge In diesem Kapitel möchte ich den Diskurs über (auto-)biografische Selbstinszenierungen um eine bislang nur wenig berücksichtigte Dimension erweitern, die es meines Erachtens zu beachten gilt, wenn man die narrativen Prozesse und deren identitätskonstitutive Kräfte genauer beschreiben will, die in vielen (auto-)biografischen Performances der vergangenen Jahre zur Aufführung gebracht wurden. Im Folgenden wende ich mich einer dinglichen Ebene narrativer Selbstformungsprozesse zu und stelle dabei die Frage nach einer Materialität (auto-)biografischer Selbstkonstitution. Die behandelten Aufführungen veranlassen dabei, ein tendenziell als divergent behandeltes Verhältnis von Narration und Dingen in Frage zu stellen. Wie zu Beginn dieser Studie dargelegt, wird das Erzählen in der Theatertheorie vornehmlich mit einer semiotischen oder dramentheoretischen Perspektive assoziiert, während in Bezug auf Dinge häufig eine phänomenologische Position privilegiert wird, wie dies zum Beispiel in Anlehnung an Gernot Böhmes Dingontologie geschehen ist. 14 Nach Gernot Böhme

 gründig politisch-agitatorischen Enthüllungsgestus der Dokumentartheatraliker der sechziger und siebziger Jahre sind also umgehend beizulegen: Statt von einer schlicht zu enthüllenden Kategorie wie Wahrheit auszugehen, legt Rimini Protokoll vielmehr die Mechanismen offen, nach denen vermeintliche Wahrheiten konstruiert werden.“ WAHL: „Hochprozentiges Erinnern“. Die durchinszenierten Auftritte von ‚Experten‘ anstelle von Schauspielern stellen dabei einen entscheidenden Kunstgriff dar, durch den jene (narrativen) Konstruktionsmechanismen aufgedeckt werden, die im Alltag am Werk sind. 14 Vgl. z.B. SCHOUTEN: Sinnliches Spüren, S. 25-30. Eine andere Perspektive auf Gegenstände im Theater liefert André Eiermann: vgl. EIERMANN: Postspektakuläres Theater, S. 203-265. Eiermann bevorzugt den Begriff ‚Objekt‘ und spricht sich gegen eine in der Theaterwissenschaft häufig erfolgte Privilegierung des stofflich ekstatischen Dings aus. Der Begriff ‚Objekt‘ soll hingegen Eiermanns durch Lacan inspirierter These Rechnung tragen, nach welcher eine Beziehung zwischen Objekt und Subjekt niemals unmittelbar existiert, sondern immer schon von einer vermittelnden symbolischen Ordnung durchzogen ist. Eiermann macht auf überzeugende Weise deutlich, dass eine Beziehung zwischen Objekten und Subjekten in Aufführungen nicht zwangsläufig einer physisch ekstatischen Präsenz von Gegenständen auf der Bühne bedarf. Dem stimme ich zu, jedoch spielt in den von mir untersuchten Aufführungen

IV. DINGGESCHICHTEN

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 sind Dinge keine abgeschlossenen Entitäten, sondern treten ihrer stofflichen und farblichen Beschaffenheit nach als Ding-Ekstasen immer schon „aus sich heraus“ und werden in Form von „Atmosphären“ zwischen Ding und Subjekt wahrnehmbar.15 Auch in den hier untersuchten Aufführungen tritt die Wirkung von Dingen stark in den Vordergrund, jedoch lässt sich jene Wirkung nicht von einer narrativen Dimension trennen. Die hier auf der Bühne anwesenden Ding-Oberflächen sind – mit Böhmes Terminologie ausgedrückt – ekstatisch gerade in und durch ihre narrative Aufgeladenheit. Die Wahrnehmung und Wirkung der Dinge vollzieht sich aufgrund eines sie umgebenden narrativen ‚Gravitationsfeldes‘,16 mit dem sie bis aufs Engste verschmolzen sind. Dem ‚In-Erscheinung-Treten von Dingen‘ sind hier andere Zeitebenen eingelagert, die ein Erzählen veranlassen: ein narratives Konfigurieren (plotting) vor dem Hintergrund eines kulturell verbürgten narrativen Wissens. 17 Umgekehrt haftet den Erzählprozessen eine gewisse Stofflichkeit an, die der im Erzählprozess generierten narrativen Identität eine ganz spezifische Qualität verleiht. Materialität, so wie ich sie hier verstehe, beschränkt sich nicht auf die ekstatische, flüchtige Wirkung stofflicher Dingqualitäten. Vielmehr sind in der Materialität narrative Ebenen implizit, die es unmöglich machen, Ding von narrativer Semiosis klar zu unterscheiden. Mag auch das Verhältnis beider niemals vollkommen deckungsgleich sein, so laden die hier behandelten Aufführungsformen dazu ein, sich das spannende Feld der interdependenten Überlappungen beider vermeintlicher Gegenspieler anzusehen. Erzählen meint hier nicht Dinge zu „verjag[en]“,18 sondern umgekehrt, „Erzählen heißt: von der Konkretheit der Dinge eingeholt zu werden“,19 wie es Wolfgang Müller-Funk in Rekurs auf Walter Benjamins Ding-geleiteten Kindheitserzählungen in Berliner Kindheit um Neunzehnhundert formuliert hat. Keine Unterbrechung eines narrativen Flusses durch die Stofflichkeit der Vermitt-

 eine gewisse stoffliche Qualität eine entscheidende Rolle. Im Falle jener Aufführungen bildet die physische Anwesenheit den Ausgangspunkt für eine Reihe theatraler Selbsterzählungen. Eine gewisse stoffliche Disposition hat daher Anteil an der Wirkung der hier vollzogenen narrativen Prozesse. Die Pointe meiner folgenden Überlegungen liegt darin, die Wirkung jener inszenierten Dingen niemals als ‚pur‘, d.h. als etwas vom Narrativen vollkommen Losgelöstes, ‚rein Stoffliches‘ zu denken. 15 Zitate: BÖHME: Atmosphäre, S. 33. Vgl. auch ebd., S. 167f. 16 Dank an Markus Rautzenberg für diesen Begriff. 17 Vgl. Kapitel II/3.1, Abschnitte „Plotting“ und „Narratives Wissen“. 18 „Die Geschichte verjagt ihre Objekte“, hat Michel Serres einmal behauptet. SERRES, zitiert nach: RÖTTGERS: Die Lineatur der Geschichte, S. 43. 19 MÜLLER-FUNK: Die Kultur und ihre Narrative, S. 21.

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 lungsebene, sondern ein wechselseitig konstitutives Ineinanderfallen kennzeichnet das Verhältnis von Narration und Dingen in den zu untersuchenden Aufführungen. Das Ich, das sich hier erzählend formt und geformt wird, tut dies in Bezug auf Dinge und macht damit Hartmut Böhmes These – „[o]hne Dinge kein Ich“20 – auf anschauliche Weise deutlich. In den Aufführungen werden Vermischungsprozesse von Ding, Narration und Selbst exponiert ebenso wie eine darüber erfolgende Herstellung von Gefühlen und Eindrücken einer momenthaften, wenn auch stets unzulänglichen narrativen Ich-Identität. Was sind Dinge? Für die Untersuchung einer ‚(auto-)biografischen Praxis qua Dinge‘ wird es nötig, dem Begriff der Erzählsituation eine dingliche Dimension hinzuzufügen. Hatte ich zuvor die Erzählsituation – entgegen eines dialogisch und hierarchisch gedachten Kommunikationsmodells zwischen Sender (Erzähler) und Empfänger (Zuhörer) – als kontextabhängigen, intersubjektiven und unplanbaren Aushandlungsprozess gefasst, bei dem die Rollen zwischen Erzähler, Zuhörer und Protagonist beständig wechseln, rücken in den in diesem Kapitel untersuchten Aufführungen Dinge als Ko-Akteure ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Nicht nur Personen, sondern auch Dinge und Dingkonstellationen sind hier konstitutiv an einer Erzählsituation beteiligt. Dinge nehmen Anteil am Erzählhandeln. Oder anders formuliert: In das identitätsstiftende Erzählhandeln sind nicht nur Personen, sondern auch Dinge verstrickt. Der hier verwendete Dingbegriff geht auf Bruno Latour zurück. Latours zugleich ding- und handlungstheoretischen Überlegungen zufolge können Handlungen nicht auf Subjekte beschränkt werden, sondern sie stellen ein kollektives Zusammenspiel aus menschlichen und dinglichen Aktanten dar. Handeln nach Latour „ist nicht das Vermögen von Menschen, sondern das Vermögen einer Verbindung von Aktanten“, das heißt von so genannten „Hybrid-Akteur[en]“,21 unter denen Latour eine Hybridisierung aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren versteht. Latour verdeutlicht dies anschaulich am Beispiel des Zusammenspiels von Mensch und Waffe: „Weder Menschen noch Waffen töten. Vielmehr muß die Verantwortung für ein Handeln unter den verschiedenen Akteuren verteilt werden“.22 Dies bedeutet nicht, dass die Waffe eine moralische Schuld trifft oder dass die Schuld eines Menschen, der einen anderen Menschen tötet, aufgehoben sei. Dieses extreme Beispiel macht jedoch deutlich, wie sehr

 20 BÖHME: Fetischismus und Kultur, S. 99. 21 LATOUR: Die Hoffnung der Pandora, S. 221. 22 Ebd., S. 219.

IV. DINGGESCHICHTEN

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 unser Handeln sich in Abhängigkeit von Dingen vollzieht. Es veranschaulicht, dass Dinge uns situativ dazu bringen, bestimmte Handlungen zu vollziehen und dass sie damit konstitutiv, folgenschwer und unter Umständen destruktiv in Handlungen mit einbezogen sind. Latour sieht in dem interaktiven Kollektivismus zwischen Mensch und Ding das wesentliche Unterscheidungskriterium zwischen Dingen und Objekten. Während Objekte für Latour klar identifizierbare, körperlich abgeschlossene Entitäten darstellen, weisen Dinge immer schon über eine solche Hermetik hinaus. 23 Etymologisch schwingt im Wort ‚Ding‘ beziehungsweise in ‚thing‘ die Idee einer „Versammlung“ 24 mit, wie Latour betont hat. Dinge sind für ihn immer interrelational verstrickt mit ihrer Umgebung. Sie besitzen keine objekthafte „Klarheit, Transparenz, Offensichtlichkeit von Fakten“,25 sondern beinhalten eine handlungsbezogene Zusammenkunft. Anders als bei Gernot Böhme, der Dinge ebenso unabgeschlossen konzipiert, reduziert Latour die Unabgeschlossenheit und Wirkungen von Dingen nicht auf emotive Qualitäten stofflicher Ding-Ekstasen, sondern ihnen eignet eine handlungsorientierte Dimension, die immer auch eine ethische Ebene mit einschließt. Latours Dingbegriff übersteigt damit eine gängige Auffassung von Dingen, nach der die begriffliche Grenzlinie zwischen Ding und Objekt an einer anderen Stelle gezogen wird. Wie die so genannte Thing Theory versucht hat zu unterscheiden, zielt der Begriff ‚Objekt‘ in dieser Begriffstradition tendenziell auf eine diskursiv-symbolische Dimension, während ‚Ding‘ auf eine stoffliche

 23 Latour macht die Bestimmung von Objekten auch für den Begriff ‚Gegenstand‘ geltend. Wenn ich im Folgenden auf den Begriff ‚Gegenstand‘ zurückgreife (dies wird nur selten der Fall sein und soll lediglich stilistisch unschöne Wortwiederholungen vermeiden), dann verwende ich ‚Gegenstand‘ – anders als Latour – als ein Synonym für ‚Ding‘. 24 LATOUR: Von der Realpolitik zur Dingpolitik, S. 29. Latour macht in diesem Zusammenhang die Idee des „Parlament[s] der Dinge“ als Ort einer Zusammenkunft stark, indem er auf die etymologische Verbindung zwischen Parlament, Versammlung und Ding verweist: „[D]ie norwegischen Kongreßmitglieder versammeln sich im Storting; die isländischen Abgeordneten, die mit dem Äquivalent von ‚Dingmenschen‘ bezeichnet werden, kommen im Althing zusammen; auf der Isle of Man pflegten die Ältesten um das Ting zusammenzukommen; die Landschaft in Deutschland ist mit Thingstätten übersät, und an vielen Orten kann man die Steinkreise sehen, wo sich einst das Thing befand.“ Ebd., S. 29f. Zu der Idee des Parlaments vgl. auch ders.: Das Parlament der Dinge. 25 LATOUR: Von der Realpolitik zur Dingpolitik, S. 32.

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 Gegenwärtigkeit abhebt: „We begin to confront the thingness of objects when they stop working for us“,26 wie Bill Brown argumentiert. Für Latour jedoch lassen sich Dinge gerade nicht auf eine rein stofflich gedachte Materialität beschränken. Materialist zu sein, bedeutet für ihn, „sich in ein Labyrinth hineinzubegeben“, 27 in dem stoffliche Beschaffenheit und Subjekte als AktantenKollektiv immer schon handelnd – und damit bedeutungsgenerierend – miteinander verstrickt sind. In vielen Performances der Jahrtausendwende werden solche Labyrinthe in Szene gesetzt und zudem mit allerhand (auto-)biografischen Windungen versehen. Meine Ausgangsthese ist, dass sich Latours Idee von den Dingen als „inkorporierte Handlungsschemata“ 28 hinsichtlich jener (auto-)biografischen Aufführungen weiterdenken lässt: Nicht nur stellen Dinge Handlungsanweisungen dar, sondern sie vermögen mitunter auch als Erzählanweisungen zu fungieren. Mit anderen Worten: Die den Dingen eingeschriebenen Handlungsanweisungen mögen unter Umständen darin bestehen, Subjekte zum (auto-)biografischen Erzählen aufzufordern. Man erzählt sich entsprechend der Dinge, mit denen man sich umgibt und die einem zustoßen. Wenn Hartmut Böhme in Rekurs auf Latour darauf hingewiesen hat, dass Dinge „nicht jenseits der Geschichte stehende tote Materie sind, sondern Aktanten des Historischen selbst“,29 heißt dies nicht nur, dass Dinge auf vergangene Ereignisse Einfluss hatten und dergestalt in eine Geschichtsschreibung einzugehen vermögen, sondern auch, dass Dinge als Aktanten eines Erzählhandelns Einfluss auf narrative Prozesse und damit auf eine sich hierbei erzählhandelnd konstituierende (auto-)biografisch-narrative Identität haben. Basteln, Schneidern, Sammeln In vielen (auto-)biografischen Aufführungspraktiken der Nullerjahre wird eine narrative Identität generierende Verstrickung von Selbst, Ding und Narration sichtbar gemacht und ausgetestet. Der Prozess einer Selbst-Formung geht dabei bezeichnenderweise fast immer mit einer Um-Formung von Stofflichkeit einher: Es wird auffällig häufig gebastelt, geformt, gebaut und geschneidert. Dinge werden zu Sammlungen zusammengeführt, erneut umgestellt und umgeordnet. Dabei erweisen sich die Dinge als biegsam, verführerisch, unberechenbar oder gar von Auflösung bedroht. Oftmals verschmelzen sie mit den Körpern der Per-

 26 BROWN: „Thing Theory“, S. 4. 27 LATOUR: Von der Realpolitik zur Dingpolitik, S. 33. 28 BÖHME: Fetischismus und Kultur, S. 82. Böhme bezieht sich hier auf Bruno Latour. 29 Ebd., S. 110.

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 former und geben diesen eine neue, narrativ aufgeladene Form. Diese stofflichnarrativen Gestaltungen und Transsubstantiationen30 werden besonders deutlich in zwei Arbeiten, denen ich mich im Folgenden zuwenden möchte: Bobby Bakers Box Story und She She Pops Für alle.31 In beiden Arbeiten wimmelt es von dinghaft konkretisierten Formungsprozessen, in denen die Verschmelzung von Materialien und (auto-)biografischer Sinngebung handfest wird. Dabei wird die Metapher der „Bastelexistenzen“,32 die Gabriele Brandstetter in Bezug auf Erzählformen im Performancetheater der 1990er Jahre geltend gemacht hat, in eine konkret physische Aktion umgesetzt. Zu Tage treten dabei narrative Implikationen eines solchen Bastelns, Schneiderns und Sammelns: Zu erzählen heißt hier, Ereignisse nicht nur zeitlich, sondern auch stofflich zu kon-figurieren. Erzählprozesse, so wird hier anschaulich, sind zugleich Form gebende und Form annehmende Vorgänge.

   30 Obgleich wir es hier keineswegs mit katholisch-religiösen Vorgängen wie der Kommunion zu tun haben (Verwandlung von Wein und Brot in das Blut und den Leib Christi sowie deren anschließende Inkorporation), scheint der Begriff ‚Transsubstantiation‘ insofern passend, als er zugleich auf stofflich wie auf semiotisch gedachte kulturelle Transformationsprozesse zielt. Ulrich Raulff entwickelt einen solchen Transsubstantiationsbegriff in Rekurs auf Friedrich Nietzsche und Michel Serres. In seiner Konzeption einer „Chemie des Sozialen“ fungieren Transsubstantiationen als Motor kultureller Entwicklung. RAULFF: „Chemie des Ekels“, S. 164f. Vgl. auch SERRES: Hermes IV, S. 184. 31 Die Premiere von Box Story fand 2001 in London, St. Luke’s Church statt. Box Story wurde im Auftrag von London International Festival of Theatre produziert. Für alle von She She Pop hatte im März 2006 im Berliner Hebbel am Ufer Premiere. 32 BRANDSTETTER: „Geschichte(n) Erzählen“, S. 38. Brandstetter bezieht sich auf Anne Honer und Ronald Hitzler, die den Begriff der Bastelexistenz dem der Konstruktion entgegenstellen: „[D]enn nicht ein Modell wie jenes der Wirklichkeitskonstruktion im Sinne der Wissenssoziologie liegt diesen biographischen Selbst-Modellierungen zugrunde“ (ebd., S. 42), sondern die Erfahrung eines alltäglichen, individuellen ‚Bastelns‘. Solche „Sinnbasteleien“, wie Honer und Hitzler es ausdrücken, „bezeichnen mithin all jene kleinen, alltäglichen Unternehmungen des individualisierten Menschen, […] sein eigenes Leben zu bewältigen.“ HITZLER und HONER: „Bastelexistenz“, S. 310.

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 2. (AUTO -) BIOGRAFISCHE M ATERIALSCHLACHT (B OBBY B AKER ) 2.1 S ICH 

SELBST SAMMELN

Memorialdinge Die Performance Box Story der britischen Solo-Performerin Bobby Baker ist der letzte Teil einer fünfteiligen „Daily Life“-Performanceserie. In jeder der fünf Performances – Kitchen Show (1991), How to Shop (1993), Take a Peek! (1995), Grown Up School (1999) und Box Story (2001) – werden in Rekurs auf (auto-)biografisches Material selbstparodistisch Alltagsroutinen, -rituale und -mythen aus unterschiedlichen Lebensbereichen (Küche, Supermarkt, Krankenpflege und Schule) sowie das image der englischen, heterosexuellen Mittelschichtsfrau der Jahrtausendwende reflektiert. Immer geht es um gesellschaftliche Verhaltensregeln, um Peinlichkeit und Scham in Bezug auf alltägliche Benimm-Regeln und (weibliche) Tabus, die während der Aufführungen zunächst stilvoll mit englischer Zurückhaltung vorsichtig verletzt und schließlich mit lustvoll-exzessiver Emphase überschritten werden. Bakers exzentrischer und humoristischer Performancestil verwandelt ihre Aufführungen dabei nicht selten in virtuose Unterhaltungsshows, die zwischen selbstironischen Bekenntnissen, höflichen Entschuldigungen, kindlicher Albernheit und monströsem Chaos hin- und herschwanken. Formal betrachtet folgt Box Story einem Prinzip, das Baker bereits in ihren früheren Arbeiten wie Drawing on a Mother’s Experience (1988), Kitchen Show (1991) und Table Occasions (1997) verwendete. Im Zentrum dieser Performances stehen zunächst fest verpackte Haushaltsprodukte oder angerichtete Speisen, die zum Ausgangspunkt für ein (auto-)biografisches, mündliches Erzählen werden. Während beziehungsweise kurz nach Beendigung einer mündlichen Erzählung wird der Inhalt der jeweiligen Verpackungen oder sonstigen Behälter von Baker zu einem Gemälde oder einer Skulptur verarbeitet. Als Leinwand dienen dabei entweder ausgebreitete weiße Tischtücher, die im action painting-Stil pollockesk bekleckert und beschmiert werden, oder Bakers Körper selbst, der mit einem schlichten Arbeitskittel bedeckt nicht nur zum Schlachtfeld unterschiedlichster Materialien, sondern zugleich zur auszufüllenden Projektionsfläche eines (auto-)biografischen Materialensembles wird. Zu Beginn von Box Story entnimmt Baker einem riesigen Pappkarton zehn Produkte, die sie nebeneinander auf dem Karton aufreiht: Eine Packung Kellog’s Cornflakes, eine Streichholzschachtel, eine Dose Coleman’s Mustard Powder, Wein im Tetrapack, ein Päckchen Geliermasse, ein Paket Ariel-Waschpulver, ein

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 Orangen-Minidrink, eine Schachtel Puderzucker, eine weitere Schachtel mit Pralinen und noch eine weitere mit IKEA-Ingwerkeksen. Jedes Produkt stellt für Baker ein Memorialding dar, dessen eingespeicherter emotionaler Vergangenheitswert Baker im Folgenden zu einer mündlichen Erzählung veranlasst. Die Produkte, deren jeweilige (auto-)biografische Bedeutung Baker einzeln und der Reihe nach erzählend präsentiert, stehen dabei im Zusammenhang mit jeweils einem herausstechenden, negativ besetzten (auto-)biografischen Ereignis – einem Augenblick persönlichen Versagens oder Vergehens, einem Unfall oder einer Katastrophe. Dabei decken die erzählten Geschichten eine ganze Bandbreite von Katastrophen ab: von der scheinbaren Nichtigkeit, über Alltagsunfälle, über mittelschwere oder gerade noch verhinderte Katastrophen bis hin zu tragischen Schicksalsschlägen. So erzählt Baker beispielsweise die Geschichte von der Cornflakes-Packung, deren Inhalt Baker im Kleinkindalter ihrer Mutter zornig vor die Füße schüttete und daraufhin Ärger bekam; oder die Geschichte vom Tetrapack-Wein, den sie zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag mit ihren Freundinnen direkt aus der Tüte trank und anschließend im Rausch taumelnd das riesige Regal samt Inhalt im Wohnzimmer ihrer Eltern umriss; oder die Geschichte über Bakers allergische Reaktion, die sie von einem mit Ariel-Waschpulver gewaschenen Schlafsack bekam, in dem sie zu schlafen gezwungen war, weil just zuvor ihre Bettdecke beim Lesen im Kerzenlicht Feuer gefangen hatte; oder die traurige Geschichte über den Tod ihres Vaters, der eines Abends während des Familienurlaubs im englischen Seebad Brancaster seine Frau und Kinder gebeten hatte, ihm eine Wurst mit Coleman’s Mustard vom Grill übrig zu lassen, weil er erst noch ein Bad im Meer nehmen wollte, doch von diesem Ausflug in den hohen Wellen nie wieder zurückkehrte. Jede dieser Geschichten beschreibt ein für Baker einschlägiges, außerordentliches, mitunter erschütterndes Ereignis, dessen unfassbarer Überschuss für das Publikum während der Aufführung in das jeweilige Ding erzählhandelnd eingelagert wird.

 Sammeln als narrative (Selbst-)Praktik „Just a few boxes“, bemerkt Baker zu Beginn von Box Story, „What could we make of that I wonder?“33 Für die Zuschauer wird mit jeder mündlichen Erzählung die anfängliche, bloße Aufreihung von Produkten – „Just a few boxes“ – in eine (auto-)biografische Sammlung transformiert, deren Bestandteile zentrale Momente in Bakers Leben verkörpern. So wird das mündliche Geschichtener-

 33 Die Zitate aus Box Story sind meinen Aufführungsnotizen sowie der offiziellen Videoaufzeichnung der Daily Life Series von Bobby Baker entnommen. Die Videoaufzeichnung entstand unter der Regie von Deborah May.

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 zählen, dessen sich Baker zunächst bedient, um eine weitere narrative Tätigkeit ergänzt, nämlich um die des Sammelns. Sammeln stellt insofern einen narrativen Vorgang dar, als es einer auf Nachträglichkeit beruhenden Logik gehorcht, durch die vergehende Zeit als eine mögliche ‚Einheit‘ erkennbar wird: Rückblickend lässt sich in einer scheinbar bloßen Ansammlung von Dingen eine sinnvolle Abfolge, das heißt „ein neues eigens geschaffenes historisches System“34 erkennen, wie Walter Benjamin es beschrieben hat. Die nachträgliche Erkennbarkeit einer Sammlung als solche – so betont Mieke Bal – markiert den „Augenblick, in dem der [...] Erzähler die Geschichte dieser Abfolge zu ‚erzählen‘ beginnt und eine Semiotik für eine Erzählung hervorbringt, bei der es um Identität [und] Historisches [...] geht.“  Bals Aussage beinhaltet dabei eine (auto-)biografische Komponente. Die Sammlerin erzählt sich selbst anhand ihrer Sammlung. Es ist ihre Geschichte, die in der Sammlung mit-lesbar wird. Bakers dingliches (Auto-)Biografieren ist ein zweifaches. Zunächst stellen die Produkte (auto-)biografische Memorialdinge dar, die für Baker als ausgelagerte Gedächtnisspeicher von bedeutsamen Lebensepisoden fungieren und in denen sich die jeweiligen Anekdoten stofflich verdichten. Neben den punktuellen, anekdotenhaften Selbsterzählungen wird darüber hinaus der Versuch erkennbar, die in den Dingen eingelagerten Lebensepisoden miteinander in eine narrative Verbindung treten zu lassen und sie damit zu einer Gesamtbiografie zu verknüpfen. Eine Verknüpfung, innerhalb derer jedes einzelne Ding zu einem (auto-)biografischen Schlüsselmoment stilisiert wird. Schlüsselmomente sind für die Konstruktion (moderner westlicher) (Auto-)Biografien zentral. Denn das identitätsstiftende Potential des (Auto-)Biografierens besteht gerade darin, die Gegenwart, von der aus der Erzählakt unternommen wird, als ein nachträgliches, notwendiges ‚Ergebnis‘ des bisherigen Lebens erscheinen zu lassen. 36 Jede (auto-)biografische Zäsur, bei Baker markiert durch jeweils ein Produkt, stellt in dieser Ansammlung einen konstitutiven Knotenpunkt dar – sei dieser zunächst auch noch so ungewöhnlich oder scheinbar unbedeutend. Gerade indem Baker vor allem von scheinbar hinfälligen ‚Katastrophen des Alltags‘ erzählt – die Geschichte vom Tod ihres Vaters bildet in ihrer Tragik eine klare Ausnahme –, wird die Besonderheit von Bakers ganz individueller Selbsterzählung als einer Lebenserzählung umso offensichtlicher. Auch wenn diese keineswegs auf Vollständigkeit angelegt ist und die scheinbaren Nichtigkeiten in Bakers Leben eine

 34 BENJAMIN: Das Passagen-Werk, S. 271. 35 BAL: Kulturanalyse, S. 124. 36 Vgl. BRUNER: „Self-making and world-making“, S. 31.

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 (Auto-)Biografie des „good life“ 37 stetig subvertieren, so folgt die narrative Sammeltätigkeit doch zunächst dem kompositorischen Prinzip einer klassischen (Auto-)Biografie, welches darin besteht, die Ereignisse nachträglich in eine chronologische Verkettung zu bringen, an deren Ziel der konstruierte (auto-)biografische Jetzt-Zustand der Performerin steht. Die Dinge dienen hierbei als Bindeglied zwischen den damaligen Ereignissen, von denen sie zeugen, und jetziger, nachträglicher Lebenserzählung. 38 Sie verbürgen zugleich eine Realität des Erlebten und lassen sich als vernarrativierte Dinge in eine ‚große Lebenserzählung‘ einreihen, welche sie jedoch als Aktanten von Erzählereignissen immer schon transzendieren und dabei ein unkontrollierbares Eigenleben annehmen – ein Umstand, den Baker im Verlauf ihrer Performance zunehmend forciert.

2.2 U NDINGE , G ESCHICHTENGEMENGE UND V ERSUCH EINER S ELBSTREINIGUNG 

DER

Vermischen und Vermengen Bobby Baker treibt das sammelnde Erzählen noch weiter. Nach jeder Erzählung schüttet sie den Inhalt der gerade verhandelten Verpackung auf den Boden zwischen sich und dem Publikum. Damit weist sie dem verschütteten Inhalt eine Bedeutung innerhalb einer langsam entstehenden, mit jeder mündlichen Erzählung sich erweiternden Landkarte aus Materialien zu. Der Haufen Cornflakes zum Beispiel repräsentiert eine Insel inmitten eines Ozeans. Der Wein wird als Meer um den Haufen herumgegossen. Das Waschpulver wird als eine atmosphärische Schutzschicht im Kreis um das gesamte Szenario herumgeschüttet und das Senfpulver, ausgekippt als kleines Häufchen neben dem Cornflakesberg, bildet eine kleine einsame Insel in Gedenken an den verstorbenen Vater. Nach und

 37 FREEMAN und BROCKMEIER: „Narrative Integrity“, S. 75. 38 Die Dinge in Bakers Performance übernehmen damit eine ähnliche Funktion wie Anekdoten im Kontext einer großen Erzählung. Anekdoten stellen, wie Joel Fineman gezeigt hat, die Schnittstelle zwischen Ereignis und großer Erzählung dar. Als Miniaturerzählungen im Kontext einer großen Erzählung verbürgen sie die Realität der Ereignisse, von denen sie erzählen. Sie sind damit einerseits der Konstruktion einer großen Erzählung dienlich, subvertieren und übersteigen diese jedoch zugleich, da sie sich als Erzählereignisse, in denen vorherige Ereignisse wiederholt werden, immer schon außerhalb der großen Erzählung situieren. Vgl. FINEMAN: „The History of the Anecdote“, S. 61 und Kapitel VI/2.2, Abschnitt „Gegen Windmühlen kämpfen. Anekdoten zwischen Ereignis und Heldengeschichte“.

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 nach verwandelt Baker die dreidimensionale Landkarte in ein Katastrophenszenario. Der Orangensaft wird als zerstörerischer Regenorkan auf die Landkarte gespritzt. Der Puderzucker überdeckt die repräsentierte Welt mit Eis und Schnee und die lieblos auf den Materialhaufen geschmissenen Pralinen schließlich fungieren als Akteure menschlichen Grauens: „here we have soldiers shooting children [...] here we have a bit of rape, murder, incest, yet another war.“ Baker realisiert zwei Sammelvorgänge gleichzeitig. Während die auf dem riesigen Pappkarton zu Beginn der Performance aufgestellte Produktreihe mit jeder (auto-)biografischen Anekdote um ein Ding kleiner wird und erst mit der Entnahme des letzten Produktes den Eindruck einer vollständigen (auto-)biografischen Sammlung erweckt – eine Sammlung in physischer Abwesenheit –, werden die Produkte in Bakers skulpturalem Katastrophengemälde auf dem Boden aufeinander geschichtet und damit zu einer neuen Sammlung angeordnet. So entstehen nicht nur zwei Sammlungen parallel – die erste Sammlung im Entschwinden und die andere im Anhäufen –, sondern auch zwei parallele Geschichten: eine Lebensgeschichte über private Katastrophen und eine universal angelegte Geschichte über globale Katastrophen. An jedem einzelnen Produkt, das nach und nach (narrativ) verarbeitet wird, entzündet sich jeweils der Fortgang zweier Erzählungen. Doch so einfach lassen sich die entstehenden Geschichten nicht voneinander trennen. Denn die Produkte, mit denen sie verknüpft sind, befinden sich in Auflösung. Die in Box Story entstehenden Sammlungen sind keine herkömmlichen Sammlungen von fest umrissenen, klar definierbaren Stoff-Entitäten. So wie die Produkte auf dem Bühnenboden als zerfallene, zerkrümelte oder zerstreute Stoffpartikel ihrem ontologischen Status nach auf der Kippe gehalten werden, so schwankend bleibt auch die Zuschreibung von Produkt zu Geschichte. Denn auf jenem dreidimensionalen Umschlagplatz am Boden überlagern sich alte und neue Erzählungen. Die (auto-)biografischen Anekdoten klingen in einzelnen Materialfragmenten auf dem Boden nach oder schimmern mehr oder weniger klar als Spuren einer abwesenden Sammlung auf dem Pappkarton durch, während sie zugleich ‚umerzählt‘ und daher mit einer anderen narrativen Bedeutung versehen werden. In den Vordergrund der Aufmerksamkeit schiebt sich eine Zone der Überlappung von Dingen und narrativer Sinngebung: nämlich der beständig umerzählte Produkthaufen, in dem Materialien und Erzählprozesse vermengt und alte und neue narrative Einschreibungen aufeinandergestapelt werden. Erzählungen werden hier (um-)geformt. Die unfertige Materialanhäufung wird damit zu einer Szene narrativer Vollzüge: zum sichtbar beackerten Schlachtfeld mindestens zweier Erzählprozesse.



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 Anarchie des Sammelns Das Sammeln ist ein Prozess des Umordnens. Doch birgt der (Um-)Ordnungsdrang, dem der Sammler in seinem nach neuer Einheit strebenden Systematisierungswahn folgt, die Gefahr, ins Chaotische umzukippen. Denn das Problem am Ordnen besteht gerade darin, dass man sich zunächst in die Unordnung hineinbegeben muss. Baker findet genau daran Gefallen. Obgleich sie ihrem Publikum immer wieder entschuldigende Blicke zuwirft, wenn zum Beispiel der Wein beim Ausschütten auf ihren Kittel spritzt, verrät ihre Haltung zugleich eine kindliche Lust am Mischen und Mengen. Wie bereits in vielen ihrer vorherigen Arbeiten geht es auch in Box Story um die gleichermaßen mit Anziehung und Abstoßung besetzte feine Linie zwischen kulturellen Reinlichkeitsgeboten, denen immer noch verstärkt Frauen unterliegen, und der Hingabe an deren chaotischer Überschreitung.39 Wie Walter Benjamin betont hat, liegt in der „magischen Enzyklopädie“,40 die der Sammler erstellt, etwas Anarchisches und Destruktives. Nicht nur wird im Sammeln dem Drang nachgegangen, eine neue, subversive, weil seltsam kuriose Neuordnung zu erschaffen, wie dies bei Baker sichtlich der Fall ist. Sondern der Sammellust zu Grunde liegt immer auch eine mitunter pervertierte „Treue zum Ding“,41 das heißt, eine gewisse Lust durch die Dinge verführt zu werden und sich ihrem unkalkulierbaren Eigenleben hinzugeben. So kann es Baker beim Anblick der Streichhölzer nicht lassen, ihrer alten Leidenschaft nachzugeben und ein paar der Streichhölzer anzuzünden, auf ihrer Zunge auszudrücken und anschließend den Streichholzkopf abzubeißen und runterzuschlucken: „Sorry, I just have to... hhmm!“ Baker schüttelt sich vor Freude, wenn der Wein ihr genau so wie damals beim Trinken aus der Tüte über die Brust und den Bauch läuft. Die Ingwerkekse in der Tüte verlangen danach, in ihrer Plastikpackung zerdrückt zu werden. Ein Teil des Puderzuckers muss einfach über dem Kopf ausgeschüttet werden und die Cornflakes auf den Boden – „I get this irresistable urge…,“ – wollen einfach – „I can’t stop myself from…“ – hörbar zertreten werden – „…stepping on them… ahhh!“.

 39 Verunreinigungen sind oft, wie Mary Douglas an der Untersuchung von Reinigungskodes vieler verschiedener Kulturen zeigt, am sexuellen Kontakt mit Frauen und der Berührung mit Menstruationsblut gebunden, weshalb gerade Frauen einem strengen Reinlichkeitsgebot unterliegen, dessen Einhaltung letztlich die Aufrechterhaltung einer (männlichen) Ordnung garantiert. Vgl. DOUGLAS: Reinheit und Gefährdung, S. 159f.; vgl. auch MENNINGHAUS: Ekel, S. 151f. 40 BENJAMIN: „Lob der Puppe“, S. 217. 41 Ebd., S. 216.

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 Die Sammlerin Baker ist längst nicht mehr Herrin ihrer Dinge, sondern von den Dingen scheint ein eigentümlicher Vermischungsimpuls auszugehen. Diese Aufhebung der Grenzen zwischen Selbst und Ding, bei der es buchstäblich nicht mehr mit rechten, das heißt ‚festen‘ Dingen zugeht, kulminiert darin, dass Baker, nachdem sie das letzte Produkt präsentiert und narrativ verarbeitet hat, die Ansammlung von Krümeln, Pulvern und Flüssigkeiten mit einem Besen zu einem Müllhaufen zusammenkehrt, diesen mit einem Kehrblech in den riesigen Pappkarton kippt und anschließend selbst in den Karton hineinkriecht. Das hier aufgeführte gegenseitige Einverleiben ist dabei keineswegs nur ein Einverleiben von Materialien, sondern immer auch ein Einverleiben von Geschichten, die an diesen Stoffen zu kleben scheinen wie der Dreck am Kehrblech. Baker überschüttet sich mit ihren Geschichten, sie isst sie auf und klettert in sie hinein. Abbildung 4: Bobby Baker: Box Story (2001)

Foto: Andrew Whittuck.

 Narrativität des Schmutzes Wie Mary Douglas gezeigt hat, setzt sich Schmutz aus Stoffen zusammen, die sich in Auflösung befinden und die nicht mehr miteinander vereinbar sind. Diese Stoffe sind allesamt „fehl am Platz“,42 da sie auf eine vergangene Ganzheit hin-

 42 DOUGLAS: Reinheit und Gefährdung, S. 208.

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 deuten, derer sie aber nicht mehr Teil sind. Um als fehlplatzierte Nicht-mehrGegenstände erkannt werden zu können, müssen sie demnach partiell noch identifizierbar und voneinander differenzierbar sein. Schmutz besteht aus Spuren, die noch nicht gänzlich verwischt sind. Und Spuren, wie Sybille Krämer betont hat, lassen sich nicht nicht innerhalb einer narrativen Logik wahrnehmen. 43 Im Schmutz sind andere zeitliche Schichten mit anwesend, die auf eine ehemalige Vollständigkeit und Verwendung verweisen und damit ein Erzählen einfordern. Im Schmutz werden Geschichten lesbar. Der Mülleimer offenbart einen ultimativen Ort narrativer Potentialität. Dieser Umstand wird in Box Story gedoppelt, da die in Bakers Müllhaufen versammelten Variationen eines pars pro toto bereits mit mündlichen Erzählungen narrativ aufgeladen und anschließend ‚umgeladen‘ wurden, bevor sie zusammengekehrt und als doppelt durchgewühlter, (auto-)biografischer Abfall in die große Kartonbox wandern. Und Baker, auf der Suche nach ihrer Geschichte, wandert gleich mit in die Box. Ihre Sammlung ist, samt ihrer selbst, aus den Fugen geraten und scheint gerade in diesem Zerfallsstadium, ähnlich einem Kaffeesatz, aus dem heraus man die Zukunft erzählt, die Chance für eine neue potentielle Selbsterzählung zu bieten. Diese Ich-Ding-Vermischung in der Box ist l’informe, wie sich mit Georges Bataille sagen lässt.44 Nicht das Gegenteil von Form, sondern eine Szene des Dekomponierens und Ent-Ordnens als Bedingung von sich neu formierenden Sinn- und Ich-Konfigurationen, in denen sich Materialität und narrative Bedeutung produktiv durchdringen. Wenn Winfried Menninghaus Batailles Begriff als „Bilderzeugungsmodus“ 45 interpretiert hat, dann lässt sich für Bakers Performance hieran erweiternd anknüpfen. Die ‚informen‘ Ich-Ding-Durchdringungen in Box Story stellen dabei weniger einen Bild- als vielmehr einen Geschichtenerzeugungsmodus dar: eine unbeständige und verworrene Ansammlung, der (auto-)biografische Erzählungen virtuell eingelagert sind. Die anarchische und schließlich neu-konstitutive Dimension eines Sichselbst-Sammelns wird am Ende von Bakers Performance auf die Spitze getrieben. Denn nur über die Vermengung, über die Auflösung der Grenzen zwischen Ding, Geschichten und Ich, scheint Baker sich selbst schließlich ein Stück näher zu kommen. Im Geschichten-Karton eingeschlossen – dieser wird von einer zuvor beauftragten Person von außen zugeklebt – schneidet Baker von innen vier

 43 Vgl. KRÄMER: „Was also ist eine Spur?“, S. 17. Zur Narrativität der Spur vgl. auch Kapitel V/2.1. 44 Vgl. BATAILLE: Œvres complètes, Band 1, S. 217. 45 MENNINGHAUS: Ekel, S. 489.

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 große Löcher in die Pappwände, steckt Beine, Arme und ihren Kopf hindurch, richtet sich mitsamt dem Karton und all seinen verinnerlichten Geschichten zum Stehen auf und präsentiert sich, eingeschlossen von ihrem (auto-)biografischen Abfall und doch auf eigentümliche Weise befreit, ein letztes Mal mit einem monströsen Lächeln dem Publikum. Selbstläuterung Das Meta-Narrativ von Box Story, so wird spätestens am Ende der Aufführung deutlich, ist dasjenige einer Selbstreinigung, oder religiös gewendet, einer Läuterung. Alle von Baker erzählten Geschichten werfen die Frage von Schuld und Verantwortung auf. Es geht um inadäquates, ‚schlechtes‘ Benehmen, um peinliche Situationen, um verbotene und heimlich ausgelebte Leidenschaften, die aufgedeckt werden. Dabei erweckt nicht nur der Ort der Aufführung, ein altes Kirchengebäude, die Assoziation an eine katholische Beichte. Mit auf der Bühne steht ein neunköpfiger Kirchenchor, der ähnlich einem quälenden Über-Ich Baker nach jeder Erzählung mit einem Choral ermahnt: „Oh Bobby! What were you thinking of!“, „What a catastrophy! A complete disaster!“ Ihre letzte mit Schuld und Sühne behaftete Geschichte endet mit einem harmlosen Verkehrsunfall. Baker jedoch, gerädert von einer Reihe vorheriger unangenehmer Ereignisse, stieg damals aus dem Auto, setzte sich auf die Bordsteinkante und gab auf: „It’s all my fault. Everything. It’s all my fault“, wiederholt sie ihre damaligen Worte vor dem Publikum ähnlich dem katholischen Schuldbekenntnis, das während der Messe im Chor gesprochen wird: durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld (mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa). Bakers Performance hat nicht zuletzt eine therapeutische Funktion und folgt entsprechend der Dramaturgie einer Psychotherapie. Wie in einem therapeutischen Prozess holt Baker zu Beginn von Box Story alle wohlverpackten Reliquien ihrer Schuld und Scham hervor. Sie öffnet ihren überdimensionierten (auto-)biografischen Pappkarton, ihre ganz persönliche Büchse der Pandora und konfrontiert sich mit ihren (auto-)biografischen Makulaturen, den verdinglichten Geschichten unterdrückter Lüste und Vergehen, die aus dem Dunkel hervorgekramt und narrativ durchgearbeitet werden. 46 Denn psychotherapeutisches Durcharbeiten ist vor allem eine narrative Praxis. Das Selbsterzählen bewirkt eine Selbsterkenntnis und Selbsttransformation, mit der es sich besser leben lässt, wie Ricœur präzisiert: „ein Subjekt erkennt sich wieder in der Geschichte,

 46 Zum Pandora-Aspekt in Box Story vgl. HEDDON: Autobiography and Performance, S. 41; BARRETT: „Redeeming Features of Daily Life“, S. 70f.

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 die es sich selbst über sich selbst erzählt.“47 Erst durch eine Veräußerlichung seiner selbst gelangt das Subjekt zu einer das eigene Ich konstituierenden Vorstellung von sich selbst. Das Erzählen funktioniert ähnlich wie ein Blick in den Lacanschen Spiegel, dem selbst eine narrative Qualität inhärent ist. 48 Selbsterkennung ist immer zugleich Selbstverkennung. Dem Subjekt ist notwendigerweise ein Anteil eingeschrieben, der sich nicht im ‚Ich an sich‘ situieren lässt.49 Jener unumgängliche fremde Überschuss am Ich wird in Bakers Performance an ihrem eigenen, um die pandorische Box erweiterten Körper sichtbar gemacht. Baker verdeckt die Selbstverkennung in der narrativ-therapeutischen Selbsterkennung nicht. Und so mutet Bakers letzter Auftritt, in dem sie eingeschlossen in ihrem Geschichtenmüll heiter ins Publikum lächelt, einerseits befremdlich an. Andererseits veranschaulicht dieser Auftritt die unumgängliche Ich-Verstricktheit in die eigenen Geschichten, ohne die „unser Selbst zerflattern“ würde, „als

 47 RICŒUR: Zeit und Erzählung, Band 3, S. 397. Vgl. auch Bernstein: „Freudian metapsychology [...] is realized in a praxis of self-narration that is a self-transformation.“ BERNSTEIN: „Self-knowledge as Praxis“, S. 54. 48 Der subjektgenerierende Effekt des Spiegelstadiums beinhaltet m.E. eine narrative Komponente, wenn Jaques Lacan das Spiegelbild als ein vom Kind im Tempus der vollendeten Gegenwart antizipiertes‚ vollständiges Selbstbild beschreibt. Von dem telos einer imaginierten Ganzheit ausgehend, vollzieht das Kind eine vorgängige Rückschau auf sich selbst, wie Lacan es formuliert: „Ein Umkehrungseffekt durch den das Subjekt auf jeder Stufe zu dem wird, was es wie von vornherein schon war, und sich allein im futurum exactum – es wird gewesen sein – kundgibt. Hier schleicht sich die Ambivalenz eines Verkennens (méconnaître) ein, das dem Sich-Kennen (me connaître) wesentlich ist. Denn das Subjekt kann sich in dieser Rückschau allein eines Bildes vergewissern, im Moment, wo es ihm gegenübersteht: des antizipierten Bildes, das es sich von sich selber macht in seinem Spiegel.“ Die Wahrnehmung des Ich (moi) im Spiegelbild setzt, so mein Vorschlag, einen narrativen Prozess in Gang, indem das Spiegelbild das Subjekt dazu bringt, sich als ein in die Zukunft projiziertes Ganzes zu entwerfen. Das (Sich-)Erzählen-Können erscheint hierin als eine fundamentale Praktik der (V)Erkennung von Welt und Selbst. Zu fragen wäre, ob das Spiegelstadium demnach ein Stadium vor allem des (ersten) narrativen Entwerfens darstellt. Zitat aus: LACAN: „Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten“, S. 183. 49 „[T]his causality involves the acknowledgement (recognition) of an always already presupposed alterity which in its alterity conditions the self-possession of the subject.“ BERNSTEIN: „Self-knowledge as Praxis“, S. 55.

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 wäre es grenzenlos und darum nichtig“.50 Baker geht den konstitutiven Vermischungsprozessen von Ding, Ich und narrativer Bedeutung auf den Grund, indem sie Dingen, die (auto-)biografisch aufgeladen sind, neue Geschichten einlagert. Damit verändert sie nicht nur die stoffliche Zusammensetzung der Materialien, sondern auch ein für die Zuschauer sichtbar werdendes narrativ aufgeladenes Selbstbild. In den Dingen, die mit dieser performenden Bobby Baker in einem narrativen Verhältnis stehen, wuchert Bakers Ich schließlich über sich selbst hinaus. Und so verlässt Baker als riesiger geschichtenschwangerer Pappkarton die Bühne.

3. I DENTITÄTSSCHNEIDEREI (S HE S HE P OP )  Ein Labor für Selbsterzählungen Was wäre, wenn man sein eigenes Leben noch einmal ganz anders erzählen könnte? Wenn man ein unbeschriebenes Blatt wäre, eine unbekleidete Anziehpuppe, die erzählerisch vollkommen neu eingekleidet werden könnte? Das deutsche Performancekollektiv She She Pop imaginiert sich zu Beginn der Performance Für alle an einen (auto-)biografischen Nullpunkt. Im Format einer Glücksspielshow, deren kontingente Spielergebnisse das Leben mit all seinen zufälligen Ereignissen (re-)präsentieren, erschafft die Gruppe She She Pop eine Laborsituation, in der (Auto-)Biografien improvisierend auf- und abgebaut werden. Anders als in Bobby Bakers Box Story geht es in She She Pops Performance weniger um eine Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensgeschichten der Performerinnen, sondern um ein inflationäres Spiel mit multiplen, fiktiven Identitätsentwürfen, die miteinander um das große Lebensglück konkurrieren. She She Pop setzen sich in Für alle mit normativen Lebensentwürfen auseinander, die in unserem Alltag konstitutiv allgegenwärtig sind. Kritisch reflektiert wird der Umstand, dass in einer leistungsorientierten, possessiven Gesellschaft genau diejenigen sich am glücklichsten zu wägen scheinen, die möglichst erfolgreiche Geschichten über sich zu erzählen wissen und ihr Leben entsprechend ausrichten. Dabei wird, noch radikaler als in Bakers Performance, der Körper als Schauplatz eines (auto-)biografischen Sammelns und Schneiderns verhandelt. Die Körper der Performerinnen sind die dinglichen Hauptakteure in den von She She Pop angeregten (auto-)biografischen Erzählhandlungen.

 50 Böhmes These in Bezug auf Dinge gilt hier gleichermaßen für Selbsterzählungen. BÖHME: Fetischismus und Kultur, S. 95.

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 Zu Beginn der Aufführung betreten vier Performerinnen, lediglich bekleidet in beigefarbener Unterwäsche, eine Bühne, die durch einen Laufsteg quer durch den Zuschauersaal mit einer zweiten und schließlich einer dritten Bühne verbunden ist. Auf letzterer sitzt der Showmaster und größte aller Croupiers: Gott persönlich, dargestellt von Katharina Oberlik,51 bei dem die Spielerinnen im Folgenden um ihr Lebensglück spielen, das sich aus fünf verschiedenen Lebenskategorien speist: „Gaben und Talente“, „Besitz“, „Beruf und Berufung“, „privates Glück“ und schließlich „Belastung“.52 Während des ersten Glücksspiels – einer Tombola, bei der sich jede Spielerin eine Eigenschaft pro Kategorie als eine Art Lebensgrundausstattung ergattern kann, – erspielt sich die Performerin Ilia Papatheodorou das „Talent zum Geschenke-Machen“, symbolisiert durch einen von Gott überreichten Plastikblumenstrauß. Sie erhält „den Besitz einer Vierzimmer-Wohnung“, die sie sich als eine an einem Gürtel befestigte Küchenspüle aus Metall um die Hüfte bindet. In der Kategorie „Beruf und Berufung“ zieht Ilia eine Niete. Als privates Glück gewinnt sie einen riesigen Schaumstoffreifen, ringsum bespickt mit fröhlichen Papp-Gesichtern, den sie sich als „eine große, glückliche Familie“ um den Hals legt. Als Lebensbelastung erspielt sich Ilia einen anhänglichen Ex-Freund, den sie sich in Form einer lebensgroßen Stoffpuppe im schwarzen Frack über die Schulter wirft. Anschließend geht sie auf die Bühne in der Mitte des Saals und wendet sich zum Publikum mit den Worten:

 51 Das Kollektiv She She Pop wechselt den Cast und die Rollenverteilung in fast jeder Aufführung. In der von mir analysierten Aufführung spielte Katharina Oberlik die Rolle des Croupiers. Ilia Papatheodorou, Mieke Matzke, Johanna Freiburg und Lisa Lucassen übernahmen die Rollen der Spielerinnen, wobei es bei She She Pop keine Rollen im traditionellen Sinne gibt: Anstelle von Rollen geben sich die Performerinnen Aufgaben, bei deren Durchführungen die Performerinnen stets sie selbst bleiben und real von der jeweiligen Aufgabe herausgefordert werden. Eine solche Aufgabe kann dabei auch darin bestehen – wie zum Beispiel in Für alle – sich selbst als eine andere Person zu entwerfen, d.h., sich mit einer anderen Identität auszustatten. Informationen über die Arbeitsweisen des Kollektivs entstammen einem privaten Interview mit She She Pop und beruhen auf meinen eigenen Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit der Gruppe. 52 Diese und folgende Zitate aus Für alle sind der Videoaufzeichnung einer Aufführung in Hamburg, Kampnagel im April 2006 entnommen. Da die Performance zum Großteil improvisiert ist und zudem der Cast häufig wechselt, variiert das Gesprochene von Aufführung zu Aufführung. Meine Analyse stützt sich des Weiteren auf Aufführungsbesuche in Berlin, Hebbel am Ufer im März 2006.

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 „Hallo, ich bin Ilia und ich bin eine glückliche Mutter und Hausfrau. Ich habe ein schönes Talent, Geschenke zu machen. Ich besitze eine Vierzimmer-Eigentumswohnung zusammen mit meinem Mann, mit dem ich seit Jahren glücklich zusammenlebe. Wir haben drei Kinder. Ich habe da nur ein Problem: Ich hatte eine Affäre in der Vergangenheit, die immer mal wieder auftaucht. Aber das geht auch ein bisschen unter in dieser großen, glücklichen Familie!“

Die Performerin Mieke Matzke erhält bei der Verlosung aus Gottes reich bestückter Losbude die Gabe des Humors, die Mieke sich als einen übergroßen, tiefroten Lachmund aus Pappe um den Kopf schnallt. In der Kategorie „Besitz“ bekommt Mieke einen an einer Drahtkonstruktion befestigten silbernen Löffel vor den Mund gesetzt: „reiche Eltern, die dir alles finanzieren können.“ Das Los von Miekes Berufung fällt auf ein ehrenamtliches Engagement in einer politischen Bewegung, symbolisiert durch ein mit einer Aufhängeschlaufe versehenes Logo einer Umweltschutzorganisation, das sich die Performerin um den Hals bindet. In der Rubrik „privates Glück“ geht Mieke mit einer Niete leer aus und als Belastung beschert ihr der Zufall ein Suchtproblem, das sie sich als Red Bull Dose an die Hüfte spickt. „Ihr wurdet reich beschenkt. Nun gehet hin und lebt!“ – Nach der ersten Spielrunde, bei der auch die zwei weiteren Performerinnen Johanna Freiburg und Lisa Lucassen im selben Glücksspielverfahren ausgestattet wurden, entlässt die Glücksgöttin ihre vier Spielerinnen ins Leben als einer andauernden (Auto-)Biografie, welche die Performerin Mieke, durch ihre angeheftete Lebensausrüstung zu einer schrägen Gestalt mutiert, auf der Bühne im Zentrum des Saals wie folgt beginnt:

 „Hallo, ich bin Mieke. Ich bin ein lustiger Mensch. Ich mache Späße und habe Humor. Ich habe reiche Eltern, die mir alles bezahlen: Beruf, Studium – sie kaufen mir, was ich will. Ich habe ein Mietshaus in München, das gibt mir jederzeit finanzielle Sicherheit und genug Geld für mein kleines Drogenproblem. Ich engagiere mich aber auch in einer Umweltschutzbewegung und kann so auch etwas Gutes tun.“

 Und so begeben sich die Spielerinnen, die sich stets mit ihrem ‚echten‘ Vornamen anreden, samt ihrer selbstgebastelten Anhängsel in ihr jeweiliges, fingiertes Leben: Jeweils in einer Ecke auf der quadratischen Bühne im Zentrum des Auditoriums stehend, die Gesichter nach außen zum Publikum gerichtet, beginnt jede Performerin für sich kleine Monologe in ihr Mikrofon zu improvisieren und All-

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 tagsszenen aus ihrem Leben zu erzählen.53 Nachdem Ilia den mit allen romantischen Konventionen befrachteten Inhalt eines heimlichen Liebesbriefes an ihren Ex-Lover ins Mikrofon gesprochen hat, rennt sie zurück zum Tombolastand und klingelt bei Gott: „Gott, guck mich an! Ich weiß gar nicht, wie ich damit glücklich werden soll. Ich bin das totale Monster geworden!“ Gegen die Unzufriedenheit schlägt die göttliche Instanz ein erneutes Glücksspiel vor. Ilia darf sich eine begehrte Lebenseigenschaft einer anderen Kandidatin aussuchen und in einem Würfelspiel um das Utensil spielen. Ilia setzt ihre Familie für Miekes Humor. Ilia verliert und setzt wagemutig ihr Talent zum Geschenke-Machen. Auch das zweite Spiel verliert Ilia durch Bluff und steht nur noch karg bekleidet mit Küchenspüle und Stoffpuppe vor den Zuschauern. Allein gelassen in ihrer Wohnung, so erzählt sie dem Publikum, schreibt sie einen erneuten Brief an ihre Ex-Affäre, in dem sie ihren Entschluss zu einem Neuanfang im Leben bekundet, während Mieke, überfrachtet mit Familienreifen, Lachmund, Red Bull Dose, Umweltschutzlogo, silbernem Löffel vorm Mund und Plastikblume, sich in ihre neue dinggeschichten-überfrachtete Lebenssituation als wohlhabende und stolze Übermutter hinein erfindet:

 „Schön, dass Ihr heute alle da seid, zu meinem achtunddreißigsten Geburtstag. [...] Schön, dass Ihr, liebe Eltern, dieses Fest finanziert habt. Ich habe Euch allen ein kleines Geschenk gemacht, das liegt auf Eurem Platz. Ich möchte Euch gerne, weil ich ganz besonders stolz auf sie bin, meine drei Kinder vorstellen. Du Susi, die Kleinste, Du machst mir wahnsinnig viel Freude, wie du Dir schon mit fünf ganz allein das Lesen beigebracht hast. [...] Und Du Christian, erst in der vierten Klasse und kannst schon Klavier und Saxofon spielen! [...] Ja, und Du Anne, meine Große, Du wirst jetzt bald nach Frankreich gehen, nach Paris an die Sorbonne. [...] Ich bin so glücklich!“

 53 She She Pop arbeiten in vielen Performances mit Zufallsstrukturen und der daraus resultierenden Herausforderung an die Performerinnen, der Situation entsprechend aus dem Stegreif zu improvisieren. Zuvor geprobt werden dabei unterschiedliche Möglichkeiten des Aufführungsverlaufs. Die Performerinnen legen sich dafür ggf. einen so genannten „Aktionsbaum“ an, der als eine Art Skript fungiert und der es erlaubt, einige aber nie alle möglichen Szenarien anzutesten. Selten jedoch werden dabei Texte auswendig gelernt oder zuvor gänzlich festgelegt. So geht es bei She She Pop immer auch um das Ausstellen der persönlichen Heraus- beziehungsweise Überforderung.

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 Erzähl mich! In Für alle wird ein narratives Spiel ausagiert, dessen Regeln gleich zu Beginn als aufführungsinterne Erzählregeln für alle Anwesenden etabliert werden: Jedem aus einem Fundus per Zufall ausgewählten Ding wird eine spezifische Eigenschaft zugeschrieben. Die von einer Person gesammelten und am eigenen Körper befestigten Dinge werden anschließend zu einer (auto-)biografischen Bestandsaufnahme verwoben. Auf der Grundlage dieser Ausstattung entwerfen die Spielerinnen fortan ihr erfundenes Leben und bringen dabei ein ganzes Arsenal an etablierten, (auto-)biografischen Erzählmustern und Lebensnarrativen zum Einsatz. Ähnlich wie in Bobby Bakers Box Story beinhaltet das Selbsterzählen in Für alle dabei zweierlei reziproke narrative Konfigurationsrichtungen. Zum einen werden die Dinge einer Spielerin nach jedem erneuten Glücksspiel zu einer punktuellen Erzählung verwoben, die in Rekurs auf gängige (auto-)biografische Erzählformate wie Tagebucheinträge, Briefinhalte, Beichten, lebensevaluierende Festreden oder Ansprachen aus dem Stegreif improvisierend präsentiert wird. Zum anderen erscheinen diese narrativen Momentaufnahmen als Episoden einer umfassenden Lebensgeschichte, die sich über die Dauer der Aufführung mit jeder neuen Spiel- und Erzählrunde fort- und umschreibt. Sind diese Regeln des Erzählspiels einmal vorgespielt, wird im Folgenden allein durch die Erscheinung neuer, ins Spiel gebrachter Dinge potentiell ein narrativer Akt seitens der Zuschauer ausgelöst. Denn die Dinge werden immer schon als Elemente einer Selbsterzählung aufgeladen, sobald ihnen von der Spielleiterin Katharina eine Bedeutung als Lebenseigenschaft zugeschrieben wird. Die Dinge dienen dabei als visuelle Erzählimperative, die zum Miterzählen, das heißt zum Ko-(Auto-)Biografieren auffordern.54

 (Auto-)Biografie als Wahrnehmungsmuster In ihrer andauernden Lebensgeschichten-Tombola halten die Performerinnen von She She Pop ihrem Publikum all jene Erzählregeln vor Augen, die Jerome Bruner als (auto-)biografische „requirements of narrative“55 bezeichnet hat. Eine (Auto-)Biografie stellt hiernach eine vorläufige Lebensbilanz dar, in welcher durch die Verkettung von sogenannten „worth telling“-Momenten auf die Frage ‚Wie ich wurde, wer ich bin‘ geantwortet wird. Durch die sofortige narrative Verknüpfung der zufällig erspielten Dinge erhalten letztere sogleich den Status (auto-)biografischer Wendepunkte. Wie schon bei Bobby Baker bilden auch hier

 54 Für alle lässt sich damit als ein narratives Spiel beschreiben, wie ich es in Kapitel III behandelt habe. 55 BRUNER: „Self-making and world-making“, S. 26, nächstes Zitat: ebd., S. 29.

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 die Dinge das Bindeglied zwischen Ereignis – das heißt dem unvorhersehbaren Glücksspiel, dessen jeweilige Ausgänge so unkontrollierbar sind wie das Leben selbst – und der nachträglichen Erzählung, in die das manifeste Ding-Ergebnis der jeweiligen Spielrunde sinngemäß eingespeist wird. Die schicksalsschweren Dinge, die als Relikte fingierter markanter Lebensumstandsveränderungen unübersehbar am Körper einer Performerin hervorstechen, zeigen den momentanen Ist-Zustand ihres jeweiligen fiktiven Lebensabschnittes an, der sogleich einer identitätsverleihenden Erklärung qua Erzählakt bedarf, die das bisherige Leben als einzigartig ausweist. Doch in Für alle jagt ein Lebensentwurf den nächsten. Ein lebensevaluierender, am Körper der Spielerinnen sichtbarer Ist-Zustand existiert nur momenthaft, bevor ein neues Dingensemble eine neue narrative Lebensbilanz einfordert. Denn mit jeder wechselnden Dingkonstellation wechseln auch automatisch die (auto-)biografischen Entwürfe, die sich daran festmachen lassen. Damit hebt die Performance eine strikte Opposition von (Auto-)Biografie einerseits und zufälligem Leben andererseits aus den Angeln. Wird die (Auto-)Biografie, wie zum Beispiel von Jens Brockmeier, zumeist als Festschreibung des Lebens, als Ausradierung des Zufalls interpretiert und damit dem ‚echten Leben‘ als Opposition gegenübergestellt,56 verhandelt die Performance Für alle die fundamentale Verquickung von (Auto-)Biografie und Leben, indem das (Auto-)Biografieren hier selbst aufs Zufallsspiel gesetzt wird. Das (auto-)biografisch Narrative entpuppt sich dabei als ein grundlegendes Wahrnehmungsmuster des eigenen Lebens und des Lebens Anderer. Ein Wahrnehmungsmuster, das zugleich materiell in die Lebenswelt verstrickt ist, was in Für alle an den Körpern der Spielerinnen deutlich wird, denen (auto-)biografische Entwürfe buchstäblich auf den Leib geschneidert werden. Auffällig, so das Argument im Folgenden, wird diese konstitutive Vermischung aus (auto-)biografischer Praxis und Leben in Für alle an den um Dinge erweiterten Körpern der Spielerinnen, denen durch Selbsterzählungen ‚Figur gegeben wird‘. Die Orte, an denen die narrativen Umschreibungen und Selbstformungen manifest werden, sind die Körper der Performerinnen. Hier werden die Verstrickungsvorgänge von Narration, Ding-Körper und Selbstverständnis

 56 „[In autobiography] ‚lived time‘ appears to be a sort of direct and linear linkage between two well-defined moments in time. In this manner, the uncertainty and arbitrariness of life seems to be absorbed, and the plurality of options, realized and not, which is so characteristic of human agency, is inevitably reduced to a simple chain of events.“ BROCKMEIER: „From the End to the Beginning“, S. 253.

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 anschaulich, obgleich diese drei Ebenen – auch dies wird sichtbar an den Körpern – niemals vollkommen kongruent sind.

3.1 G ESCHICHTEN 

WIE

K LEIDER

ANPROBIEREN

Geschichtenkleider machen Leute Die Performerinnen von She She Pop „probiere[n] Geschichten an wie Kleider“.57 Max Frischs Metapher erhält in Für alle eine die Körper der Darstellerinnen (ver-)formende Konkretheit. Jede neue Dingkonstellation legt sich wie ein Kleid über den halbnackten Körper einer Spielerin, und jedes Kleid gibt eine neue Geschichte frei, in deren konfigurierendem Erzählakt die Dinge wie Maschen zusammengenommen werden und schließlich ein obskures narratives Kleidergewebe bilden. Anders als in vielen Performances der 1960er bis 1980er Jahre wird der Körper hier nicht entblößt, sondern erweitert. Es geht hier nicht um eine Inszenierung von Nacktheit oder um die Sichtbarkeit des Fleisches im Sinne eines phänomenalen Leibes, der kulturellen Einschreibungen zu Grunde liegt.58 Ebenso wenig wird der Körper einfach mit Geschichten zugedeckt, sondern diese werden als kleiderhafte Dingkonstellationen selbst zu einem für die Zuschauer sichtbaren Teil des Körpers. So wie Narben auf der Haut als Spuren eines früheren Unfalls im Moment des Anblicks immer schon eine passende Krankengeschichte evozieren, so lässt sich für She She Pops Performance sagen, dass die Spielerinnen ihre (auto-)biografisch-fiktiven Entwürfe, oder genauer, ihr (auto-)biografisches Entwerfen buchstäblich verkörpern. In Für alle wird der in Geschichten verstrickte Körper in seiner herausragenden Körperlichkeit ausgestellt. Wechselt die Erzählung mit den sich verändernden Kleidern aus Dingen, so wird auch der für die Zuschauer wahrnehmbare Körper ein anderer. Das anprobierte Geschichtenkleid als performative Oberfläche ist das, was für einen Augenblick lang ist und wirksam wird als momenthafte, für die jeweilige Erzählsituation gültige und dennoch vorübergehende Wahrheit über diesen Selbstentwurf, der einem als komplexes Geschichten-Körper-Ding entgegentritt: Geschichtenkleider machen Leute.

 57 FRISCH: Mein Name sei Gantenbein, S. 21. 58 Zum phänomenalen Leib vgl. zusammenfassend WALDENFELS: Das leibliche Selbst.

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 Wucherungen: Die Verkörperung narrativer (Kon-)Figuration Die Körperoberfläche, die performativ ihre eigene Tiefenstruktur, das heißt eine narrative Identität hervorbringt, wird in Für alle zum Schauplatz eines andauernden An- und Umprobierens. Als hätten die einer jeden Inszenierung vorausgehenden Proben noch nicht aufgehört, werden hier während der Aufführung keine Ergebnisse in Form fertig komponierter Erzählungen und Figuren präsentiert, sondern es wird einfach weiter probiert. She She Pop betreiben Performancepraxis als Forschung. Ihr Versuchsaufbau entspricht einem „laboratory of possiblilites for human identity construction“,59 deren Mechanismen offengelegt werden. Hier geht es nicht um die Konstruktion einer fiktiven Figur und deren Entwicklung innerhalb einer fiktionalen Fabel. Sondern der Zweck von She She Pops Verwendung des Modus eines So-tun-als-ob – eine Verwendung, die letztlich den (auto-)biografischen „requirements of narrative“ widerspricht60 – liegt in einer Verfremdung (auto-)biografischer Alltagspraxis. Anders als bei einem Brechtschen Verfremdungseffekt werden bei She She Pop keine Figuren, sondern die Performerinnen verfremdet. Es gilt nicht, wie bei Brecht, Ilia Papatheodorou als Medium hinter einer Figur sichtbar zu machen und damit eine fiktionsgeladene Illusion zu Gunsten von Realitätseffekten zum Implodieren zu bringen. Vielmehr geht es darum, multiple, fiktiv-(auto-)biografische Entwürfe in die Performerinnen einzuschreiben. Nicht die Realität als Faktisches, verbürgt durch Gesten wie bei Brecht, sondern die Fiktivität der (auto-)biografischen Entwürfe schafft hier Distanz. Eine Distanz nicht zu den gesellschaftlichen Umständen innerhalb einer dramatischen Fabel, sondern zu den alltäglichen, faktischen Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen. Auf dem Spiel steht

 59 BROCKMEIER und CARBAUGH (Hrsg.): Narrative and Identity, S. 8. 60 Obgleich dem discours der Autobiografie immer fiktionale Anteile implizit sind, wie Paul de Man gezeigt hat, besteht die Konvention der Autobiografie darin, Erzähler/ Autor (die literaturwissenschaftliche Unterscheidung sei hier ungeachtet), Protagonist und die lebende Person zu vereinen. Dieter Thomä hat dies als „autobiographische Triade“ bezeichnet. THOMÄ: Erzähle dich selbst, S. 27. Zu Paul de Man: DE MAN: „Autobiographie als Maskenspiel“. She She Pop wirbeln diese Triade durcheinander. Vom eigenen Leben so zu erzählen, als wäre es tatsächlich geschehen, obgleich es offensichtlich nie gelebt wurde, stellt ein (auto-)biografisches Paradox dar. Realisiert wird ein fiktionaler Diskurs mit fiktiv-realen Gegenständen, ein Mischgebilde bestehend aus erfundenem Erzähl-Material, welches dennoch im Gebrauch der Vornamen der Performerinnen auf reale Personen verweist und in der Verwendung von konventionalisierten Alltagsnarrativen den Effekt von (auto-)biografischer Authentizität zitiert.

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 die wirklichkeits- und identitätsgenerierende Wirkung (auto-)biografischer Narrativität im Alltag. Damit zielt das hier gespielte Rollenspiel auf eine Form der Verkörperung, die sich einer gängigen Unterscheidung zwischen realem Schauspieler und fiktivem Charakter widersetzt. 61 Die Verkörperungen, die hier vollzogen werden, beziehen sich weder auf eine dramatis personae noch auf einen phänomenalen Leib,62 sondern auf einen Konfigurationsvorgang. Die hier zur Schau gestellten Körper verkörpern Konfigurationen – und dies zugleich im narrativen wie im ‚figürlich‘-körperlichen Sinn. Denn die beständigen Transformationen, in denen die Spielerinnen von einer Selbsterzählung mittels bedeutungsschwerem Kostümwechsel in die nächste Selbsterzählung schlüpfen, werden hier sichtbar als Wucherungen des in Ding-Geschichten vernarrativierten Körpers. Vor die Wahrnehmung einer Figur samt Lebensgeschichte, die man als Zuschauerin mit jeder neuen Spielrunde zu entwerfen versucht, schiebt sich immer wieder die verzerrte, dingbehaftete Gestalt der Performerin, die sich in narrativ-figürlicher Gestaltung befindet. An den Wucherungen wird sichtbar, dass die narrativ-materiellen Formungsprozesse des Selbst niemals kongruent sind mit dem Phantasma einer allumfassenden Lebensgeschichte. Das (auto-)biografische Erzählhandeln als ein fundamentaler Teil des Lebens ragt immer schon über die Protagonistinnen der einzelnen Erzählungen hinaus. Und so sind in Für alle die ‚Kleider‘, die den Spielerinnen Geschichten und damit Identität und ‚Figur‘ geben, sowohl als punktuelle Selbsterzählungen als auch als Teilerzählungen einer großen Lebensgeschichte nie wirklich passend, wie nicht zuletzt die vielen selbstkritischen Blicke der Performerinnen auf die eigenen Körpermutationen zu verraten scheinen, wenn die Spielerinnen beginnen selbstzweifelnd nach John Lennon zu singen: „Look at me! Who am I supposed to be? Who am I supposed to be?“ „All existing clothes are always too tight“,63 sagt Michail Bachtin passenderweise mit einer Kleidermetapher und verweist damit auf die Unzulänglichkeit jeglicher narrativer Identität. Oder wie Natalia Ginzburg es ebenfalls mittels einer Kleidermetapher formuliert hat: „like a sweater woven too densely that does not breathe“.64 Und so staksen die Performerinnen, deren Gang durch die

 61 Eine Zusammenstellung einschlägiger Schauspieltheorien bietet Jens Roselt. Zum Topos des doppelten Körpers des Schauspielers vgl. ROSELT (Hrsg.): Seelen mit Methode, S. 8-11. 62 Zu diesen beiden Verkörperungsbegriffen vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 130-160. 63 BAKHTIN (deutsche Schreibweise: BACHTIN): „Epic and Novel“, S. 37. 64 GINZBURG, zitiert nach: BROCKMEIER: „From the End to the Beginning“, S. 253.

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 Ding-Geschichtenkleider erheblich eingeschränkt ist, über den Laufsteg und schielen zu ihren Nachbarinnen auf der Suche nach einem passenderen Kleid, in dem sie eventuell eine bessere, glücklichere Figur abgeben könnten. Abbildung 5: She She Pop: Für alle (2006)

Foto: She She Pop.

3.2 D IE S ELBSTERZÄHLUNG 

ALS

F ETISCH

Selbstfetischisierung. Besitzen-Wollen und Besessen-Werden Gegen die notorische Unzufriedenheit der Protagonistinnen von Für alle hilft nur das Chaos-Spiel. Das Chaos-Spiel kommt einem (auto-)biografischen SuperGAU gleich und treibt She She Pops Experiment mit der narrativen Geburt eines Menschen ins Extrem. Denn in diesem Spiel, so die Anweisung der göttlichen Spielleiterin, müssen sich die Spielerinnen all ihrer Dinge entblößen und diese so schnell wie möglich untereinander im Kreis herumreichen, bis die Spielleiterin ‚Stopp!‘ ruft: Die Performerinnen tauschen hektisch ihre Gegenstände; sie zögern oder halten das ein oder andere positiv besetzte Ding fest; Lisa sträubt sich, ihr Savoir-vivre in Form einer Espressomaschine rauszurücken; Johanna streckt die Maske von sich, die ihr eine stetig voranschreitende Krankheit geben

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 würde; Mieke rückt nur schwerfällig ihre Großfamilie raus; Ilia, zuvor zu einer fast gegenstandslosen und unglücklichen Spielfigur verkommen, schmeißt ihre lästige Ex-Affäre in die Runde und versucht, alles andere an sich zu raffen: die Führungsposition eines Unternehmens als Jackett, eine einfühlsame Mitbewohnerin in Form zweier Teebeutel, ein Haus in Mecklenburg-Vorpommern als Regenschirm, eine Festanstellung als Computertastatur – „Stopp!“, ruft Katharina. Die Darstellerinnen stehen erschöpft mit völlig neuer Grundausstattung in ihren Startpositionen. „Ja, da sehen wir mal. Da sind Existenzen gegangen, da sind neue Identitäten entstanden, neue Möglichkeiten für Glück“, kommentiert die Spielleiterin. She She Pops Glücksspiele inszenieren eine Gier nach passenden Selbsterzählungen. Und was hier als ‚passend‘ erachtet wird, entspricht zunächst einem normierten, westlich geprägten Narrativ eines good life, in dem es weder an einer glücklichen Familie, an finanziellem Wohlstand noch an beruflichem und sozialem Erfolg fehlen darf. Eine befriedigende narrative Integrität über sich zu erlangen, unterliegt, so wird hier deutlich, kulturell geprägten Wertvorstellungen darüber, wie und was genau ein gutes Leben zu sein habe. Eine ethisch-normative Dimension hat demnach stets Anteil am narrativen Selbstentwerfen. Mark Freeman und Jens Brockmeier haben diesen Umstand mit einer wie für She She Pops Performance maßgeschneiderten textilen Metapher beschrieben: In Für alle „conceptions of the good life are woven into the narrative fabric of human identity.“65 Dabei wird das Begehren des guten Lebens als obsessive Jagd in Szene gesetzt, als eine Possessionsobsession, die sich vor allem auf die mit einer positiven Eigenschaft besetzten Dinge richtet. Und da bis auf die Gegenstände aus der Kategorie „Belastung“ alle ins Spiel gebrachten Dinge positiv besetzt sind, gilt bis auf wenige Ausnahmen die Formel: umso mehr man besitzt, desto größer ist die Chance, sich in das Narrativ eines gelungenen Lebens ‚hinein zu erzählen‘. Selbst das ein oder andere Ding aus der Kategorie „Belastung“ erweist sich in Form eines heterogenen Elements in einem möglichst abwechslungsreichen Körper-Dingensemble stellenweise als integrierfähig. Denn sofern diese „Belastung“ schließlich abgestoßen und damit überwunden wird, vermag sie am Ende das angestrebte Narrativ eines guten Lebens sogar noch positiv zu bereichern. Nach Paul Ricœur ist es gerade die Heterogenität der einzelnen Bausteine, die eine befriedigende, abgeschlossene Geschichte im Sinne einer „Synthesis des Heterogenen“66 zuallererst ermöglicht.

 65 FREEMAN und BROCKMEIER: „Narrative Integrity“, S. 75. Zu textilen Metaphern des Erzählens vgl. auch MATTENKLOTT: „Spinnen, Weben, Stricken“. 66 RICŒUR: Zeit und Erzählung, Band 1, S. 106.

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 In Folge werden alle Dinge, an denen sich eine potentielle, der Norm entsprechende Glücksgeschichte zu entspinnen vermag, zum Fetisch: All die Dinge, die für beruflichen, sozialen und finanziellen Erfolg stehen, werden zu begehrten Statussymbolen, die eine soziale Distinktion der jeweiligen über sich selbst hinauswuchernden und lediglich punktuell gültigen ‚Figur‘ auf dem Laufsteg präsentieren. Dass die Performance sich dabei ausgerechnet als Modenschau für narrative Lebensentwürfe präsentiert, ist dabei insofern passend, als Mode, wie Barbara Vinken beschrieben hat, die Domäne des Fetischismus par excellence darstellt.67 Die in der Mode obsessiv betriebene Verschmelzung von Körper und dessen Kleider-Umhüllung spiegelt besonders deutlich den affektiven Mechanismus des Fetischismus wider, nämlich das Begehren des Subjekts, selbst Fetisch zu werden und sich auf diese Weise selbst begehrenswert zu machen.68

 67 Vgl. VINKEN: „Transvestie – Travestie“, S. 65f. Vgl. auch BÖHME: Fetischismus und Kultur, S. 119. 68 Fetisch und Fetischisierung in Bezug auf Mode wird bei Vinken vornehmlich als männlich konnotierter Vorgang gefasst: Im Akt der (Selbst-)Fetischisierung durch Mode wird der als männlich konnotierte (und kulturell konstruierte) Blick von der Frau internalisiert und auf sich selbst gerichtet. In der Verschmelzung mit der Kleidung begehrt das weibliche Selbst dabei Fetisch zu werden. Vgl. VINKEN: „Transvestie – Travestie“, S. 65f. Im Gegensatz zu Vinkens Untersuchungen geht es mir in Bezug auf Für alle weniger um die Frage, inwiefern eine hier vollzogene Fetischisierung gender-bezogene Hierarchien impliziert, obgleich sich eine Reihe gendertheoretischer Überlegungen anstellen ließen – und dies nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass es sich in Für alle ausschließlich um Spielerinnen handelt und She She Pop in fast allen Inszenierungen immer auch die Frage danach stellen, was es heißt, (heute) Frau zu sein. Eine hier nur angedeutete Frage, die sich in Anlehnung an Vinken in Hinblick auf Für alle weiterverfolgen ließe, wäre, ob die hier realisierten Selbsterzählungen sich letztlich im Machtfeld des Männlichen bewegen. Zu fragen wäre, ob die Selbsterzählungen in Für alle, in denen es teilweise auch um spezifisch weibliche Selbstentwürfe geht (etwa bei weiblich besetzten Themen wie Kindererziehung), immer schon eine internalisierte, männliche Position beinhalten, mittels derer die Frau sich sozusagen auch auf dem Feld des narrativen Selbstentwerfens für den Mann begehrenswert bzw. zum Fetisch zu machen versucht. Gerade weil She She Pop sich in ihren Erzählungen vornehmlich aus einem Fundus stereotyper Plotstrukturen bedienen, die von der feministischen Erzähltheorie immer wieder als ‚männlich‘ beschrieben und kritisiert wurden, böte sich hier eine gendertheoretische Lesart an, die jedoch den Rahmen dieses Kapitels sprengen würde. Zur feministischen Erzähltheorie vgl. u.a. LANSER: „Towards a Feminist Narratology“; WARHOL: Gendered Interventions.

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 Im Fall von Für alle bezieht sich der Drang nach Selbstfetischisierung auf ganz spezifische narrative Selbstentwürfe. Begehrenswert wird man hier aufgrund bestimmter, als glücklich bewerteter Geschichten, die man nur zu erzählen berechtigt ist, sofern man diese auch verkörpert. Die Spielerinnen begehren, das Narrativ eines guten Lebens zu sein. Doch erweist sich die konstitutive Verschachtelung von Ding-Körper, Narration und Selbst in Für alle als Verhängnis. Die possessive Selbstanhäufung von ‚Glücksnarrativen‘, hier überspitzt präsentiert als tatsächliche Beladung des Körpers, wird zur Last. Hier zeigt sich die Begehrensstruktur des Fetischismus in ihrer fatalen Dialektik: Umso mehr ich zu besitzen begehre, desto mehr werde ich besessen. In der Beziehung zwischen Fetisch und Subjekt liegen Besessen-Sein und Besessen-Werden dicht beieinander. Die Spielerinnen sind nicht nur in ihre Geschichten verstrickt, sondern von diesen gefangen genommen. Die Fetischisierung, wie Hartmut Böhme präzisiert hat, „ist der Mechanismus, bei dem die Dinge die Aufgabe zu übernehmen haben, uns eine Unabhängigkeit zu suggerieren, die wir ihnen gegenüber nicht haben und in gerade dem Augenblick verlieren, in welchem uns die Dinge unsere Freiheit zu geben scheinen.“69 Déjà-vecu – déjà-raconté Wenn in Für alle stereotype, normierte (Auto-)Biografien fetischisiert werden, dann relativieren sich auch in Bezug auf die Geschichten die Besitzverhältnisse. Nicht nur die Spielerinnen besitzen ihre Lebensgeschichte, indem sie sich darin ‚aktiv‘ selbst erzählend gestalten, sondern umgekehrt besitzen die Lebensgeschichten die Spielerinnen. Von den Ding-Geschichten geht eine Lebensanweisung aus. Auch wenn Vieles im Leben dem Zufall überlassen ist und das Handeln – auch das Erzählhandeln – einen narrativen Selbstentwurf immer schon überschreitet, so verweisen She She Pop doch auf eine konstitutive Schnittfläche zwischen Leben und Selbsterzählung. Hier wird deutlich, dass das Leben nicht nur nachträglich narrativ in Form gebracht wird, sondern dass das eigene Leben zu einem Anteil immer schon so eingerichtet wird, dass sich ganz bestimmte, anerkannte Geschichten darüber erzählen lassen. Man richtet sein Handeln nach den begehrten Lebensentwürfen aus. Mag auch der jeweilige (auto-)biografische Akt punktuell und situativ dem jeweiligen Selbst eine ganz individuelle Gestalt verleihen und über jegliche, endgültige Festschreibungen hinauswuchern, wie dies in Für alle ebenso anschaulich wird, so vollziehen sich (auto-)biografische Prozesse und folglich auch eine daran gekoppelte Selbstwahrnehmung stets in Bezug auf vertraute Erzählmuster. Diese lassen das eigene, vor dem Hintergrund

 69 BÖHME: Fetischismus und Kultur, S. 199.

IV. DINGGESCHICHTEN

| 199

 jener Muster gelebte Leben wie ein „Leben aus zweiter Hand“ erscheinen, wie Kurt Röttgers es formuliert hat:

 „Das Leben selbst nämlich als Folge von Erlebnissen und Erfahrungen ist sozusagen ein déjà-vécu. Was in ihm augenblickshaft und abgründig als ein radikal Neues aufzublitzen schien, ist ebenso schnell als Längst-Erlebtes und Bekanntes wiedererkannt [...]. [...] In diesem Sinne kann es die vermeintlich authentische Ersterzählung nicht vermeiden, im Grunde Altbekanntes zu erzählen.“

70

 Dass bekannte, kulturell verinnerlichte „cultural plot structures“ (mythoi)71 während der Aufführung von Für alle am Werk sind, zeigt sich vor allem am Ko-(Auto-)Biografieren der Zuschauer, deren Mit-Erzählen deswegen möglich ist, weil die Lebensentwürfe, um die es hier geht, als Bestandteile eines kollektiv internalisierten narrativen Wissens im Grunde vertraut sind. Deutlich wird dies besonders in der letzten Spielrunde, in der die Spielleiterin Katharina die Verantwortung über das Lebensglück der Spielerinnen an einige Zuschauer abgibt. Diese dürfen schließlich für ausgleichende Gerechtigkeit sorgen, indem sie die Dinge ihres Erachtens passend auf die Spielerinnen verteilen. So erhält zum Beispiel Ilia, die gerade zuvor in einer dramatischen Hetzjagd gegen Mieke ihre Führungsposition in Form eines Jacketts verspielt hat, ihre zu Beginn verlorene, „große, glückliche Familie“ zurück. Für die letzte Kehrtwende im fingierten Leben der Performerinnen sind also einzelne Zuschauer verantwortlich, deren Entscheidungskriterien auf einer verinnerlichten Norm für ein ‚gutes Leben‘ beruhen. Und so werden mit Hilfe der Zuschauer (Auto-)Biografien vorläufig abgerundet, in denen die Lebensgeschichte zum Beispiel von Ilia als Spielfigur im Rückblick als die Geschichte einer persönlichen Krise erscheint, an deren Ende die Protagonistin ihr Lebensglück wieder findet. Jene mythoi, wie wir ihnen alltäglich begegnen und welche in She She Pops Performance in Form von Briefen, Verlautbarungen von Gedanken, Ansprachen oder Kaffeeklatschgesprächen aufgeführt werden und welche die Zuschauer immer schon mitvollziehen, jene mythoi stellen Bewertungskriterien dar, die letztlich Teile eines sich selbst legitimierenden kulturkonstitutiven Mechanismus’ darstellen, wie Francois Lyotard es ausgedrückt hat:

 70 Die letzten beiden Zitate: RÖTTGERS: Die Lineatur der Geschichte, S. 112. 71 BROCKMEIER: „From the End to the Beginning“, S. 249. Brockmeier entlehnt den Begriff ‚mythoi‘ Northrop Frye und präzisiert: „Mythoi have shaped not only our literary understanding, but also the way we conceive of the world and ourselves.“ Ebd. Vgl. auch FRYE: The Anatomy of Criticism, S. 158-239.

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 „[Populäre Geschichten] erlauben [...] einerseits, die Kriterien der Kompetenz der Gesellschaft, in der sie erzählt werden, zu definieren, sowie andererseits, mit diesen die Leistungen zu bewerten, die in ihr vollbracht werden oder werden können.“

72

 (Auto-)Biografie als Leistung versus (auto-)biografisches Glück jenseits der Anhäufung In den in Für alle realisierten Erzählprozessen wird die Norm eines vermeintlich glücklichen Lebens bewertet und als Lebens- und Handlungsanweisung entlarvt – eine Norm, die in Zeiten eines Turbo-Individualismus’ an persönliche Leistungen gekoppelt ist und sich an bereits bekannten Geschichten des Erfolgs und Misserfolgs misst. She She Pops Performance stellt damit einen dekonstruktivistischen Kommentar gegenüber einer hegemonialen (auto-)biografischen Alltagspraxis dar, die an der Hervorbringung einer Kultur mitwirkt, in der an Leistungsprinzipien orientierte Selbstinszenierungen zur vorherrschenden Kulturtechnik avanciert sind. Im 21. Jahrhundert, so scheint es, ist das (Auto-)Biografieren selbst zu einer Leistungs-Selbstpraktik pervertiert. Als um das Lebensglück wetteifernde, gehetzte und unzufriedene Spielfiguren exponieren die Performerinnen jenen Zwang, den der sozial vernetzte Individualismus der Jahrtausendwende mit sich zu bringen scheint, nämlich aus sich selbst stets die ‚glücklichste‘ Erfolgsgeschichte machen zu müssen. Der von She She Pop an das Publikum gerichtete Imperativ ‚Erzähl mich!‘ reflektiert damit einen im Alltag gegen sich selbst gerichteten, kreativen Imperativ, der dazu auffordert, die eigene, zum Problem gewordene und unter (Konkurrenz-)Druck geratene Identität in Bezug auf gültige Leistungsnormen permanent neu zu entwerfen. Eine gute Performance machen zu müssen – das heißt ‚eine gute Figur‘ abgeben zu müssen – ist hier durchaus im doppelten Sinne des Wortes zu verstehen, steht der Begriff ‚Performance‘ doch zugleich für Leistung.73 Doch lassen She She Pop in ihrem Labor für narrative Identitäten Alternativen aufscheinen. Denn in den Vordergrund der Performance schieben sich immer wieder die Geschichten-Ding-Körperfigurationen als Szenarien unvollendeter Identitätskonfigurationen. Hierbei tun sich Lücken auf, die eine sich selbst legitimierende mythoi-Maschinerie normierter Selbsterzählungen nicht nur

 72 LYOTARD: Das postmoderne Wissen, S. 68. 73 Jon McKenzie geht diesen vielfältigen Implikationen des Begriffs genauer nach und kommt zu dem Schluss, dass Performance das neue Handlungsparadigma des 21. Jahrhunderts darstellt und sich darin vom Handlungsparadigma einer Disziplinargesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts unterscheidet. Vgl. MCKENZIE: Perform or Else, S. 18.

IV. DINGGESCHICHTEN

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 sichtbar machen, sondern zugleich konterkarieren, indem alternative Selbsterzählungen an den mutierenden Körperoberflächen zum Vorschein gebracht werden. Durch diese steten Veränderungen wird dem ökonomischen Prinzip der Anhäufung dasjenige der Weitergabe und Transformation gegenüber gestellt. Es werden, um mit James Clifford zu sprechen, zwei Umgangsweisen mit dem Sammeln dargeboten: erstens ein Sammeln zum Zweck des Besitzes und als „eine Strategie für die Entwicklung eines possessiven Selbst, einer ebensolchen Kultur und Authentizität“74 und zweitens ein Sammeln zum Zweck der Verteilung. Versteht man das Sammeln, wie zuvor in diesem Kapitel vorgeschlagen, als eine spezifische narrative Praktik, dann zeichnen sich schließlich in She She Pops Performance zwei Perspektiven auf das (Auto-)Biografische ab. In der einen Perspektive erscheint das ‚Sich-selbst-Sammeln‘ als eine auf eine normierte Vorstellung von Vollständigkeit und Passgenauigkeit angelegte Anhäufung, die von She She Pop aufgedeckt wird. In der anderen Perspektive gerät das Selbst-Sammeln als ein unaufhörlicher Selbsttransformationsprozess in den Blick. Sichtbar innerhalb letzterer Perspektive, so der Vorschlag von Für alle, wird eine (auto-)biografische Prozessualität und schließlich die Bejahung einer unabgeschlossenen, (auto-)biografischen Suchbewegung, durch die stereotype narrative Selbstentwürfe und dadurch zugleich Lebensweisen verändert werden können. Sich anders zu erzählen, so wird hier deutlich, heißt immer auch anders zu leben.



 74 CLIFFORD: „Sich selbst sammeln“, S. 89f. Nach Clifford ist die erste Umgangsweise mit dem Sammeln in unserer Kultur vorherrschend. Er verweist auf andere Kulturen, in denen Sammeln nicht zum Zweck der privaten Anhäufung, sondern zum Zweck der Weitergabe und Verteilung betrieben wird, wie zum Beispiel bei den melanesischen „big men“. Ebd.





V. Erzählbewegungen – Erzählräume „Die Erzählung [...] beschränkt sich nicht darauf, über eine Bewegung zu sprechen. Sie vollzieht die Bewegung. Man versteht eine Bewegung, indem man den Tanz mitmacht.“

1

MICHEL DE CERTEAU

1. N ARRATIVE

WALKS

Raum – Narration – Bewegung Räume werden durch Handlungsvollzüge hervorgebracht. Sie sind niemals an sich vorhanden, sondern gestalten sich in Abhängigkeit zu denjenigen, die an einem immer schon kulturell kodierten Ort in Bezug auf ein kulturell gültiges Ordnungssystem agieren. Räume gestalten sich durch Bewegungen und Interaktionen zwischen Personen beziehungsweise zwischen Personen und Dingen.2 Ein Raum ist, mit Michel de Certeau gesprochen, „ein Ort, mit dem man etwas macht“. 3 Räume, so die Grundannahme für die folgenden Überlegungen, sind

 1

DE CERTEAU: Kunst des Handelns, S. 161.

2

Wie ich in Kapitel IV in Rekurs auf Bruno Latour gezeigt habe, sind an Handlungen nicht nur Personen, sondern auch Dinge beteiligt. Vgl. LATOUR: Die Hoffnung der Pandora, S. 221; Kapitel IV/1, Abschnitt „Was sind Dinge?“. Zum Verhältnis von Raumkonstitution und einer Interaktion zwischen Personen (bzw. Personen und Dingen) vgl. LÖW: Raumsoziologie, S. 263ff.

3

DE CERTEAU: Kunst des Handelns, S. 218. De Certeau, dem ich hier folge, unterscheidet zwischen Ort und Raum. Ein Ort zeichnet sich durch eine „momentane Konstellation von festen Punkten“ aus. „Er erhält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität“ (ebd.). Oder wie Jörg Dünne präzisiert hat: Nach de Certau ist der Ort „Ausdruck einer von einer vorgegebenen, z.B. geometrischen Ordnung abhängigen Lagebestimmung“. DÜNNE: „Soziale Räume“, S. 300. Unter ‚Raum‘ hingegen ver-

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 relativ, ephemer (und damit zeitlich) und unterliegen einer steten Veränderung. Sie können niemals unabhängig von dem Standpunkt der Benutzer begriffen werden, das heißt unabhängig von denjenigen, die den Raum handelnd und wahrnehmend hervorbringen. Mit anderen Worten: Räume werden performativ generiert. In der Aufführungstheorie hat sich der Begriff des performativen Raumes etabliert. Als Aufführungsraum gilt hiernach nicht die Architektur des Theatergebäudes oder des Zuschauersaals, sondern unter ‚Raum‘ wird die flüchtige Räumlichkeit einer Aufführung verstanden, die von der Erfahrung der Beteiligten nicht loszulösen ist und die häufig in Hinblick auf Phänomene wie Atmosphären, Klänge, Laute, Licht oder Geruch beschrieben wurde. 4 Ein solches Raumverständnis steht zum einen im Kontext einer entgeometrisierten Vorstellung von Raum, wie sie vor allem die Sozial- und Kulturwissenschaften seit Mitte des 20. Jahrhunderts geltend gemacht haben.5 Zum anderen fordert nicht zuletzt die Untersuchung von künstlerischen Aufführungspraktiken einen erfahrungs- und handlungsbezogenen Raumbegriff ein, wurde doch in einer Vielzahl neoavantgardistischer und postdramatischer Theaterformen der letzten fünfzig Jahre die performative Hervorbringung von Räumen und eine sinnliche Raumerfahrung beispielhaft verhandelt und ausgestellt. Ein künstlerisches Format, das sich in dieser Hinsicht verstärkt seit der Jahrtausendwende hervorgetan hat und das im Fokus dieses Kapitels steht, ist der künstlerisch inszenierte walk, der vor allem in Form von Audio- und Videowalks mittlerweile zu einem eigenen Genre performativer Kunst avanciert ist.6 Walks sind ortsspezifische Arbeiten, in denen öffentliche, institutionalisierte

 steht de Certeau „ein Geflecht von beweglichen Elementen“. DE CERTEAU: Kunst des Handelns, S. 218. 4

Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 188-209.

5

Vgl. zusammenfassend DÜNNE: „Soziale Räume“.

6

Erst 2005 erklärte Mirjam Schaub die von Janet Cardiff seit den 1990er Jahren entwickelten Audio- und Video-walks zu einem „Kunstwerk völlig neuen Typs und Formats“. SCHAUB: „Die Kunst des Spurenlegens und -verfolgens“, S. 132. Mittlerweile, so scheint es, darf kein Audio- oder Video-walk im Programm eines guten Performancefestivals fehlen. Prominente künstlerische Audio- oder Video-walks der Nullerjahre wurden u.a. von Janet Cardiff und George Bures Miller, plan b und Rimini Protokoll realisiert. Ein neues Video-walk-Format funktioniert mittels Video-Brillen, welche die Teilnehmer in eine virtuelle Welt eintauchen lassen, so beispielsweise in der Arbeit When We Meet Again (2010) von der Gruppe Me and the Machine (Sam Pearson und Clara Garcia Fraile).

V. E RZÄHLBEWEGUNGEN – E RZÄHLRÄUME | 205

 oder private Orte in Form eines Rundgangs von den Rezipientinnen gehend durchschritten und erkundet werden. Ausgangspunkt bilden dabei häufig lokale Begebenheiten, Fakten oder vergangene Ereignisse des Ortes und gegebenenfalls seiner Anwohner. Walks sind als Parcours, netzartige Fläche oder Labyrinth angelegte Inszenierungen, die die Zuschauer zumeist einzeln durchlaufen. Für die walks gilt, was Barbara Gronau mit dem Hybridterm „Theaterinstallation“ beschrieben hat: Sie sind multimediale, und kunstspartenübergreifende Arrangements, in denen „Architektur, Medien, Materialien, Klänge, Objekte und Subjekte“ ortsspezifisch in Szene gesetzt werden und die „vom Publikum durch Eigenbewegung erschlossen werden“7 müssen. Walks zeichnen sich durch unterschiedliche Interaktionsmöglichkeiten mit der Umgebung aus. In den meisten Audio- und Video-walks folgt man einer zeitlich festgelegten Dramaturgie von mündlichen Instruktionen und erzählten Geschichten. Hierfür wird man mit einem MP3-Player oder mit einem Videodisplay und Kopfhörern ausgestattet, deren zuvor aufgenommene und während des walks ohne Unterbrechung abgespielte Ton- und Bildaufnahmen mit der zu begehenden Umgebung in Relation zu bringen sind. Ein anderer und neuerer Typus von Audio-walk ist auf größere Interaktion angelegt. Mittels Infrarotsignal-Geräten oder GPS-Technologie (Global Positioning System) können die Teilnehmer dieser walks akustische Einspielungen in ihre Kopfhörer über die eigenen Gehbewegungen aktivieren. Beim Betreten bestimmter, zuvor definierter Zonen am zu begehenden Ort werden über Satelliten- beziehungsweise über Infrarotsignalempfang den jeweiligen Zonen zugeordnete Audio-Clips ausgelöst und in den Kopfhörern der Teilnehmer hörbar. Künstlerische Gehpraktiken und walks allgemein wurden theatertheoretisch vornehmlich unter dem Aspekt des Raumes oder der Bewegung untersucht.8 Bislang kaum Beachtung fanden jedoch die narrativen Qualitäten künstlerischer walks. Dies verwundert insofern, als das Erzählen in einer Vielzahl von walks, so meine erste Ausgangsthese, einen zentralen Bewegungsmotor darstellt und eine in der Gehbewegung ermöglichte Raumerfahrung entscheidend mit beeinflusst.9

 7

Dieses und vorheriges Zitat: GRONAU: Theaterinstallationen, S. 178.

8

Zur Untersuchung des Raumes und künstlerischer Gehpraktiken im Kontext einer performativen Ästhetik vgl. z.B. FISCHER: Walking Artists; GRONAU: Theaterinstallationen.

9

Wie bereits in Bezug auf andere narrative Praktiken erwähnt, ist eine theoretische Vernachlässigung des Narrativen auch in Bezug auf künstlerische walks m.E. darauf zurück zu führen, dass die Beachtung der hierin angelegten narrativen Implikationen

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 Denn wenn Räume durch Handlungsvollzüge hervorgebracht werden und das Erzählen selbst eine besondere Handlungsweise darstellt – ein Erzählhandeln –, dann vermag auch das Erzählen Räume auf spezifische Weise zu generieren und erfahrbar zu machen. Besonders in Audio-walks, die als eine schnitzeljagdartige Entdeckungstour, als historischer Erlebnisgang oder als surrealer, melancholischer oder unheimlicher Wandelgang angelegt sind, spielt eine narrative Dimension für die Raumkonstitution eine grundlegende Rolle. Die Raumwahrnehmung, die sich hierin einstellt, ist von einer narrativen Einfärbung der Umgebung, die in Bewegung generiert wird, nicht zu trennen. Folglich lässt sich hier auch umgekehrt das Erzählen nicht allein auf semiotische oder kognitive Qualitäten reduzieren, sondern es umfasst eine kinetische, körperliche Dimension (‚kinetisch‘ von Kinesis, griech. für Bewegung) die sich erst in der individuellen Gehbewegung entfaltet. Die Prozessualität des Erzählens, die, wie ich zuvor gezeigt habe, immer schon über eine explizierte narrative Aussage (discours) hinausgeht,10 wird hier als körperliches Bewegungserlebnis in Szene gesetzt. Das Gehen wird mitunter zum plotting walk, bei dem die Zuschauer-Protagonisten, sich fortbewegend, narrativen Sinn hervorbringen, vor sich herschieben und dabei einen diegetisch11 eingefärbten Raum zuallererst formen. In diesem Kapitel werde ich das Verhältnis zwischen Bewegung, Narration und Raum vor allem in Hinblick auf Audio-walks untersuchen. Audio-walks, so die zweite Ausgangsthese des Kapitels, haben eine narrative Qualität nicht nur insofern hier häufig mündliche erzählte Geschichten via Kopfhörer rezipiert werden, sondern vor allem indem die Teilnehmer im Gehen mit zeitlichen Überblendungen zwischen gehörter Tonaufnahme und aktueller Umgebung konfrontiert werden. Die zeitlichen Spannungen, die sich hierbei auftun, forcieren eine narrative Wahrnehmung, das heißt sie fordern zum narrativen Konfigurieren auf: zu einer steten antizipierenden Retrospektivierung und zur nachträglichen Teleologisierung. Die zu begehenden und zu durchquerenden Orte werden performativ-narrativ erschlossen, sofern hierin angelegte akustische (und teilweise visuelle) Spuren, die zuvor künstlerisch implementiert wurden und die mit dem real Vorzufindenden in einem zeitlichen Spannungsverhältnis stehen, vom Zuschauer

 im Zuge einer bevorzugten Untersuchung von postdramatischen und performativen Merkmalen schlicht aus dem Fokus des Erkenntnisinteresses fiel. 10 Vgl. v.a. Kapitel II/3.1. 11 Der Begriff ‚diegetisch‘ ist hier nicht im gattungstheoretischen Sinne als Gegenbegriff zu ‚mimetisch‘ zu verstehen, sondern im Sinne von ‚Diegese‘: Diegese bezeichnet die durch einen narrativen Akt hervorgebrachte Geschichten-Welt bzw. „das Universum, in dem sie [die Geschichte] spielt“. GENETTE: „Neuer Diskurs der Erzählung“, S. 201.

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 im Akt des Gehens als einem Akt des Spurenlesens zugleich körperlich und narrativ nachvollzogen werden. Breite Gegenwart – Breites Erzählen. Erzählen als Bewegung Das Erzählen, das traditionellerweise eher mit Zeitlichkeit als mit Räumlichkeit assoziiert wird, hat in den letzten Jahren im Zuge eines spacial turn vermehrt Aufmerksamkeit auch in Hinblick auf seine räumlichen Implikationen erhalten. Diese Perspektivenverschiebung hat mehrere Gründe. Sabine Buchholz und Manfred Jahn zufolge hat eine Abwendung von der klassischen Einteilung der Künste in Zeit- und Raumkünste in Lessingscher Tradition – Dichtung als Zeitkunst versus Bildende Kunst als Raumkunst – in der Literaturwissenschaft zu einer Hinwendung zum Raum geführt.12 Michail Bachtin verwies bereits in den 1970er Jahren auf den „untrennbare[n] Zusammenhang von Zeit und Raum (die Zeit als vierte Dimension des Raumes)“ und erklärte den Term „Chronotopos“ zu einer „Form-Inhalt-Kategorie der Literatur“,13 den es in seiner historischen Entwicklung zu untersuchen gälte. Doch lässt sich eine Perspektivenverschiebung hin zum Räumlichen am plausibelsten im Kontext von medienhistorischen Entwicklungen erklären. Denn vor dem Hintergrund digitalisierter Erzählformen rücken räumliche Qualitäten des Erzählens verstärkt in den Vordergrund. Das Erzählen findet zunehmend in virtuellen Räumen statt und unterliegt darin einer größeren Simultaneität und Interaktivität. Die Gegenwartsdiagnose von Hans Ulrich Gumbrecht, nach der wir in einer als breit empfundenen Gegenwart leben, die „zu einer sich erweiternden Dimension der Simultaneitäten geworden“14 ist, – eine solche Diagnose scheint auch für das Erzählen zutreffend. Das Erzählen ist breiter geworden: Die Plot-Linie wird zur hypertextuellen Fläche von optionalen Abzweigungen und öffnet sich schließlich in einen mehrdimensionalen Raum, in dem Erzählungen parallel vollzogen werden. Erzählen erscheint weniger als einengend, sondern als

 12 Vgl. BUCHHOLZ und JAHN: „Space in Narrative“, S. 551. Zu Lessings Unterscheidung vgl. LESSING: Laokoon, Kapitel XVI, v.a. S. 114-116. 13 Dieses und vorherige Zitate: BACHTIN: Chronotopos, S. 7. 14 GUMBRECHT: Unsere breite Gegenwart, S. 16. Gumbrecht zufolge befinden wir uns im Übergang: von einem alten Chronotopos, der sich durch eine lineare Zeitvorstellung auszeichnet, innerhalb derer die Gegenwart lediglich einen kurzen Übergangsmoment markiert, hin zu einem neuen Chronotopos, in welchem wir aufgrund der Speicherleistungen elektronischer Medien nicht mehr vergessen können und Zukunft permanent als Potentialität vorwegnehmen.

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 Pluralität erzeugender, Raum weitender „constant process of ‚bifurcation‘“. 15 Mit der Digitalisierung der Alltagswelt gerät damit auch eine Kinesis des Erzählens ins Blickfeld, die bislang aus narratologischer Sicht kaum Beachtung gefunden hat. Nicht nur der Raum, sondern auch die raumgenerierende Dynamik des Erzählhandelns, die interaktiven (Erzähl-)Bewegungen des users gewinnen hinsichtlich alltäglicher narrativer Praktiken an Bedeutung. Entsprechend bedarf es einer Konzeptualisierung des Erzählens als Bewegung. Wie Michel de Certeau es formuliert hat: „Die Erzählung [...] beschränkt sich nicht darauf, über eine Bewegung zu sprechen. Sie vollzieht die Bewegung. Man versteht eine Bewegung, indem man den Tanz mitmacht.“16 Was bei de Certeaus Beschreibung zunächst metaphorisch anmutet, erhält in Bezug auf künstlerische narrative walks, die sich als eine Reflexion und Reaktion auf gegenwärtige digital-interaktive Erzählformen verstehen lassen, eine körperliche Konkretheit. Denn hier gilt: Ohne körperliche Bewegung kein Erzählen.17 Hier wird die körperliche Bewegung an eine narrative Konfigurationsbewegung gekoppelt, die der Linearität, die sie hervorbringt, immer schon zuwider läuft. Besonders die in den Audio-walks immer häufiger verwendeten interaktiven Technologien, wie das GPS, lassen jene ‚Beweglichkeit des Erzählens‘ umso stärker zu Tage treten und geben folglich Anlass dazu, das Narrative weniger von der Erzählung, sondern von seinen dynamischen Bewegungen her zu denken. Denn was in der Verschränkung von konfigurierender und körperlicher Bewegung in den Vordergrund tritt, ist zum einen eine genuine raumgenerierende Prozesshaftigkeit des Erzählens sowie ein narrativ eingefärbtes Raumerlebnis. Zum anderen wird die Tropik des narrativen Konfigurierens in ihrer Beweglichkeit sichtbar, die sich bezeichnenderweise treffend mit einer körperbezogenen Bewegungsmetaphorik beschrieben lässt: In der Tropik des plotting –

 15 GIBSON: Towards a Postmodern Theory of Narrative, S. 16. 16 DE CERTEAU: Kunst des Handelns, S. 161. 17 So auch in den zuvor erwähnten Aufführungen 2 ½ Millionen von Uwe Mengel und Ruby Town von SIGNA (vgl. Kapitel II und III). In beiden Fällen werden Erzählprozesse nur über eine körperliche Bewegung des Publikums in Gang gesetzt. An lokalen Sammelpunkten werden hier mündliche Erzählungen entfaltet, die der einzelne Zuschauer im Vorbeigehen oder im zeitlich begrenzten Verweilen aufschnappt und die er teilweise selbst mündlich an andere Teilnehmer weitergibt und damit zugleich räumlich weiterträgt. Liegt der Schwerpunkt vor allem bei den Aufführungen von SIGNA jedoch auf den sozialen Dynamiken, die sich im Erzählprozess entfalten, rückt in den narrativen walks dezidiert das Verhältnis von Bewegung, Narration und Räumlichkeit in den Vordergrund, um das es in diesem Kapitel gehen soll.

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 trope (griech.) steht ursprünglich für Wendung, Richtung18 –, das heißt im Vollzug einer antizipierenden Retrospektivierung und einer nachträglichen Teleologisierung, wird das aktuell Erzählte zugleich vorgängig und nachträglich auf einen potentiellen Fort-Gang und Aus-Gang hin ausgerichtet. Peter Brooks hat diesen Vorgang auch treffend als eine Schnörkelbewegung beschrieben.19 Hinzu kommen andere Einflüsse auf die Erzählbewegung: Geschichten, so hatte ich zuvor herausgearbeitet, tragen immer schon andere Geschichten – ein narratives Wissen – als Wissenshintergrund in sich, das jederzeit im Erzählprozess aufzutauchen vermag und entsprechend die Ausrichtung der Erzählbewegung verändert.20 Das plötzliche Auftauchen neuer Zeithorizonte, auch in Form von Erinnerungen oder Visionen, zwingt zu Abstechern oder Verzögerungen, zu Sprüngen oder Sprints im Erzählprozess. Ein theoretischer Wegbegleiter durch dieses Kapitel wird Michel de Certeau sein – und dies nur bedingt in Bezug auf seine Überlegungen zum Gehen. Vielmehr möchte ich de Certeau in erster Linie als einen Erzähltheoretiker lesen. Hat das Kapitel „Gehen in der Stadt“ aus de Certeaus einschlägigem Buch Kunst des Handelns gerade im Kontext einer Diskussion von künstlerischen Geh-Experimenten eine fast schon inflationäre Rezeption erfahren, lohnt es sich für mein Anliegen in Hinblick auf narrative walks, die um das prominente Kapitel herumliegenden Abschnitte neu zu erkunden. Denn hier geht es dezidiert um das Erzählen im Kontext einer Theorie der Alltagspraktiken und nicht zuletzt um das Verhältnis von Erzählen, Raum und Bewegung.21 In Kunst des Handelns legte de Certeau damit Anfang der achtziger Jahre ein alternatives Konzept von Narration vor, welches vielen seiner postmodernen Zeitgenossen, die sich in der Illusion eines Endes des Erzählens wägten, abzugehen schien. So sprach sich zur selben Zeit etwa Paul Virilio, der eine „Krise des Dimensionsbegriffs“ und damit den Zusammenbruch geometrischer Raumkonzepte mit einer postmodernen „Krise des ‚Erzählens‘ an sich“22 zusammendachte, zwar für ein neues Raumkonzept aus, das sich durch „permanente Gegenwart“,23 interaktive Oberflächen (Interfaces), durch Heterogenität und Austauschbarkeit auszeichne. Von einem Um-

 18 Vgl. Duden. Das große Fremdwörterbuch, Eintrag „Trope“, S. 1380. 19 „Plot is a kind of […] squiggle toward the end“. BROOKS: Reading for the Plot, S. 104. 20 Vgl. Kapitel II/3.1, Abschnitt „Narratives Wissen“. 21 Vgl. insbesondere die Kapitel „Die Zeit des Geschichtenerzählens“ und „Berichte von Räumen“, in: DE CERTEAU: Kunst des Handelns, S. 215-238. 22 Die letzte beiden Zitate: VIRILIO: „Die Auflösung des Stadtbildes“, S. 269. 23 Ebd., S. 264.

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 denken in Bezug auf das Erzählen sah Virilio jedoch ab und entwarf stattdessen ein Untergangsszenario narrativer Sinngebung, in welchem es nur noch „MikroErzählungen“ gäbe, „die nur noch von der Unabhängigkeit“24 sprächen. Aber auch in Zeiten einer mit interaktiven Oberflächen gespickten ‚breiten Gegenwart‘, die dreißig Jahre nach Virilios Diagnose zur Alltagsrealität geworden ist, wird nach wie vor narrativ Sinn gestiftet, was nicht heißt, dass hierbei zwangsläufig auf die große Erzählung zurückgegriffen wird. Eine Entgeometrisierung und damit Entortung des Raumes scheint einen verstärkten Erzähldrang als Praktik einer selbstvergewissernden Selbstverortung mit sich zu bringen. Narrativ gestifteter Sinn stabilisiert, aber diese Stabilisierung, so wird in den künstlerischen Performancepraktiken der Nullerjahre allgemein deutlich, ist keine Stillstellung, sondern eine punktuelle Bindung von vorübergehender Dauer. Ein ‚breites Erzählen‘ macht deutlich: Erzählen ermöglicht durch punktuell-flüchtige Stabilisierung, es schafft Pluralität, es bewegt und verbindet. De Certeau entwarf eine erste Skizze eines solchen alternativen, entgeometrisierten Erzählkonzepts im Kontext von Raum- und Bewegungstheorie. Anstatt das Erzählen primär vor dem Hintergrund eines veralteten Paradigmas geometrischer Architektur zu konzipieren, steht es bei de Certeau für Verbindung, Verschiebung, Transport und schließlich für wuchernde Überschreitung von (teils eigens qua Narration gesetzten) räumlichen Grenzen.25 Das Erzählen, so verdeutlichen die im Folgenden untersuchten narrativen walks, versetzt in Bewegung und ist selbst Bewegung. Narrative walks, so meine These, exponieren auf der Erfahrungsebene des einzelnen Teilnehmers die performativ-narrative Hervorbringung von Räumlichkeit sowie eine kinetisch-körperliche Qualität von Erzählprozessen. In welcher Beziehung, so möchte ich fragen, stehen jeweils Erzählprozesse und körperliche Bewegungen? Inwieweit vermögen Erzählprozesse nicht nur Raumordnungen zu generieren, sondern auch zu hintergehen? Können narrative Gehbewegungen Erzählordnungen unterwandern? Ich werde dabei auf drei narrative Praktiken eingehen, die in einer Vielzahl künstlerischer walks besonders virulent werden und die das Verhältnis von Bewegung, Raum(-Erfahrung) und Narration auf prägnante Weise in Szene setzten: erstens das an eine Gehbewegung gekoppelte Spurenlesen, -folgen und -legen, zweitens das Flanieren als eine räumliche Erfahrung historischer Kontingenz ‚in Bewegung‘ und drittens das Kartografieren (mapping) als eine Bewegungsform, in der die eigens hinterlassenen Spuren immer schon narrativ dokumentiert werden.

 24 Ebd., S. 269. 25 Vgl. DE CERTEAU: Kunst des Handelns, S. 236f.

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 2. S PURENLESEN – S PURENFOLGEN – S PURENLEGEN (J ANET C ARDIFF , PLAN B )  Eingang: Mit Janet Cardiff im Central Park Die amerikanische Künstlerin Janet Cardiff realisiert seit 1991 Audio- und Video-walks, die auf unterschiedlichsten Speichertechniken basieren. Viele ihrer walks sind dabei in Zusammenarbeit mit ihrem Partner George Bures Miller entstanden. Einer ihrer bekanntesten Audio-walks ist Her Long Black Hair.26 In diesem walk gehen die Teilnehmer ausgestattet mit iPod und Kopfhörern jeweils einzeln und mit einem zeitlichen Abstand zueinander durch den Central Park von New York City. Der walk suggeriert einen Gang zu Zweit: Ich werde von einer imaginierten Person durch den Park geleitet, die lediglich akustisch in Form einer weiblichen Stimme und hörbaren Schritten anwesend ist. Im gemeinsamen Gehen – „try to follow my footsteps“ lautet eine der ersten Anweisungen der Stimme – eröffnet sich mittels Handlungsanweisungen, Anekdoten und Reflexionen seitens der Stimme zunächst ein phantastischer Parallelraum, der sich wie ein Schleier über das reale Szenario der Parklandschaft legt. Auf einer akustischen und imaginären Ebene treffe ich dabei auf Menschen und Dinge, die jenseits der Kopfhörerwelt abwesend sind. Die fremde Stimme erscheint mir dabei mal als verbündete Person und mal als selbstentfremdete Veräußerlichung eines eigenen inneren Monologs. Doch die Intimität zwischen mir und der Stimme, die mich in eine scheinbar gemeinsam geteilte Phantasiewelt hineinlockt, wird immer wieder gestört. So zum Beispiel als das Mobiltelefon meiner akustischen walking-Partnerin klingelt. In ihrer folgenden Unterhaltung mit einem guten Bekannten gibt die Stimme mir weiterhin Anweisungen – „turn right“27 – und erklärt sogleich dem daraufhin seinerseits irritierten Freund am Telefon ihre momentane Tätigkeit: „Oh, I am just recording“ – eine Antwort, die mich in Sekundenschnelle aus der phantastisch anmutenden Geschichte und einer intimen Zweisamkeit zwischen mir und der Stimme schleudert und mich sogleich in eine weitere Geschichte verwickelt. Denn der Gang, den ich hier gehe, so ermahnt mich der Anruf, ist

 26 Her Long Black Hair fand von Juni bis September 2004 im Central Park von New York City statt. Das Projekt wurde von Tom Eccles kuratiert und vom Public Art Fund produziert. 27 Die Zitate sind dem Audio-Material des walks entnommen, das in Teilen auf Janet Cardiffs Webseite zugänglich ist: http://www.cardiffmiller.com/artworks/walks/longhair.html, letzter Zugriff: 24. Juli 2013. Die Analyse beruht auf meiner walk-Erfahrung, die ich bei der Wiederaufnahme des Projektes im Jahr 2005 gemacht habe.

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 schon einmal für mich gegangen worden. Ich folge einer akustischen Spur, deren präsente Absenz mir in der nun als unheimlich erscheinenden, aufgenommenen Geisterstimme gewahr wird und die ich, trotz meiner Verärgerung über den abrupten Rausschmiss aus einem gemeinsam geteilten diegetischen Universum, nicht ohne mich weitergehen lassen will. Und so folge ich neugierig der Stimmenspur, deren Schritte nun wie aus einer vergangenen Zeit klingen und die mich im Folgenden in weitere raum-zeitliche Schichten vordringen lässt. Der Polarbär im Zoo des Central Parks zum Beispiel, vor dessen Käfig ich zum Anhalten gebeten werde, beginnt mit der tiefen Stimme eines alten Mannes von seiner Gefangenschaft zu sprechen. Was im ersten Moment wie das absurde Szenario eines sprechenden Bären anmutet, kippt im nächsten Augenblick unerwartet in eine oral history über Sklaverei. Neben den akustischen Spuren werde ich während des walks mit einer Reihe bildlich-visueller Überblendungen konfrontiert. An mehreren Orten werde ich gebeten innezuhalten und ein bestimmtes Foto einer mir vor Beginn des walks ausgehändigten Fotosammlung zu entnehmen, das Foto mit ausgestrecktem Arm vor mich zu halten und die Abbildung mit dem dahinter liegenden Parkszenario zu vergleichen. Jedes Foto zeigt eine Aufnahme desselben Ortes, an dem ich mich aktuell befinde und gibt eine Authentizität und Historizität dessen vor, was es abbildet. Mehrere Fotos zeigen eine Frau mit langen schwarzen Haaren, die als eine Art Protagonistin des walks – Her Long Black Hair – an mehreren Orten als visuelle Foto-Spur wiederkehrt und die auf den Fotos vor Brücken, Bäumen oder Seen posiert. Ist es diese Frau, so frage ich mich, deren Stimme mich durch den Park begleitet? Spricht sie aus der Vergangenheit? Aber spricht hier nicht auch die Künstlerin Janet Cardiff, die mich immer wieder aus den im walk entstehenden historischen und phantastischen Welten herausholt, indem sie mich an die Inszeniertheit und an die technischen Bedingung – „Oh, I am just recording“ – dieses walks erinnert? Oder ist am Ende die Frau mit dem schwarzen Haar sogar Janet Cardiff selbst? In Cardiffs inszeniertem Spaziergang werden zeitliche Überblendungen buchstäblich en passant vollzogen. In ihrer vermeintlichen Beiläufigkeit wirken die Überblendungen umso verunsichernder, gehen sie fast immer mit räumlichen Ein- und Ausschlüssen der walk-Teilnehmer einher. Jede zeitliche Überblendung eröffnet einen neuen diegetischen Raumhorizont, den ich automatisch mit meiner eigenen faktischen Bewegung in Beziehung setze. Ich bewege mich durch verschiedenste historische oder fiktive Geschichtenräume, an deren Grenzen sich metaleptische Effekte einstellen: Die unerwarteten und mitunter unheimlich wirkenden Einstürze und Überlappungen diegetischer Ebenen widerfahren mir in Cardiffs walk in Bezug auf meine eigene Verortung, die damit

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 beständig relativiert und verunsichert wird. So erlebe ich mich selbst in Relation zu diesen narrativ-performativen Erfahrungsräumen mal als Zeugin eines Geschehens, mal als Protagonistin, mal als deren Verbündete und damit als Nebenfigur oder mal als bloße Benutzerin einer technischen Apparatur.

2.1 Z UR N ARRATIVITÄT 

DER

S PUR

Raum-Zeit-Überblendungen als narratives Verfahren Narrative walks, wie der von Janet Cardiff, provozieren nicht nur über eine räumlich-kinetische Qualität des Erzählens sowie über dessen raum- und subjektkonstitutive Wirkung nachzudenken. Umgekehrt veranlassen die walks ebenso dazu, den performativen Raum, der in den vergangenen Jahren von theatertheoretischer Seite aus vor allem unter dem Aspekt der Präsenz verhandelt wurde, aus der Perspektive des Narrativen zu betrachten. Denn wie Cardiffs walk exemplarisch deutlich macht, ist der performative Raum immer schon von anderen zeitlichen Schichten durchzogen, die in der gegenwärtigen Rezeption (re-)aktualisiert und erlebt werden. Die Präsenz des Raumes ist damit zugleich eine Präsenz anderer Zeiten. Narrative walks forcieren und inszenieren solche Zeitenschichtungen. Das grundlegende künstlerische Verfahren narrativer walks, wie Cardiffs Arbeit veranschaulicht, besteht in einer Überblendung von Zeitebenen im Raum, die für die teilnehmende Zuschauerin erst durch deren Bewegungen ermöglicht wird. Im Gehen eröffnet sich eine breite Gegenwart voller gespeicherter und potentieller Zeiten, deren Spannungen untereinander eine narrative Wahrnehmung provozieren: Sie fordern dazu auf, die zeitlichen Ebenen zueinander in Beziehung zu setzen und platzieren die Teilnehmerin in einen diegetischen Raum, der sich zwischen den Zeitebenen aufspannt. Das Gehen selbst wird damit zu einem narrativen Akt, insofern das Gehen hier ein bewusstes Gehen auf doppeltem Boden darstellt, auf dem die eigenen Schritte in die Fußstapfen vorheriger Schritte treten. Das Gehen und das Wahrnehmen und Lesen von Spuren gehen einher. Die über Kopfhörer eingespielten mündlichen Erzählungen stellen dabei eine der zahlreichen Überblendungstechniken dar, die, ähnlich dem Einsatz von Fotos oder Soundeffekten, mit dem zu begehenden Ort in Relation gesetzt werden und die ein Mit- und Weitererzählen ebenso veranlassen wie ein Weiter-Gehen: Man will wissen, wie es weitergeht. Die visuellen und akustischen Überblendungstechniken fungieren dabei für die Teilnehmer als Spuren, in denen eine andere Zeit zugleich ab- und anwesend ist. Die Überblendungstechniken schließlich sind die künstlerisch inszenierten Fußabdrücke, in die der Teilnehmer tritt, um von dort aus die Erzählbewegung in

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 Gang zu setzen. Ob diese Bewegung dabei mehr oder weniger zielgerichtet ist, hängt von der Grundanlage des walks ab. In Cardiffs walk ist es weniger das Versprechen einer scheinbar kongruenten, detektivisch zu ermittelnden Geschichte, die mich vorantreibt, als die Verlockungen der sich im Spurenlesen auftuenden diegetischen Räume sowie ihrer metaleptischen Zusammenbrüche: die Faszination und mitunter der Schock von einem diegetischen Raum in den nächsten zu treten und damit zugleich Zeugin und Protagonistin der performativnarrativen Konstruktion von Räumen zu werden. Audio-walks sind also in erster Linie deshalb narrativ, weil wir es hierin mit Spuren zu tun haben, die zu einer narrativen Wahrnehmung auffordern. Worin genau, so möchte ich vor der Analyse des nächsten Aufführungsbeispiels fragen, besteht die Narrativität der Spur? In welchem Verhältnis stehen Bewegung, Spur und Narration? Und mit welcher Art von Spur haben wir es in Audio-walks zu tun? Gehen – Spur – Narration In einer Spur durchkreuzen sich Zeitdimensionen. Die Spur im engeren Sinne ist ein Abdruck einer früheren Bewegung. Sie zeugt von einer vollzogenen Verwendung, die sich an einem Material, an einem bestimmten Ort als auffälliger Rückstand jener Verwendung niedergeschlagen hat. Die Spur ist ein Verwendungs- beziehungsweise ein Bewegungsspeicher. In ihr flackert die Bewegung aus einer anderen Zeit in Form eines Negativabdrucks auf. Eine Bewegung, die aufgrund ihrer wahrnehmbaren Abwesenheit zur Aufklärung drängt: Wie ist die Spur entstanden? Was für eine Bewegung wurde hier vollzogen? Wie wurde dieser Ort, dieses Material verwendet? In welche Richtung weist (mich) die Bewegung, die sich in der Spur abzeichnet? In der Wahrnehmung einer Spur wird man mit einer Zeitspanne konfrontiert, die mich unweigerlich in ein Erzählen verwickelt. Denn eine Spur ist keine solche, sofern sie nicht als Spur ‚gelesen‘ wird. Und jedes Spurenlesen ist eine narrative Praktik, ein Zueinander-in-BeziehungSetzen von Zeitebenen, welches das Ereignis, das sich in einem Material als Spur eines vergangenen Ereignisses abzeichnet, aufzuklären versucht. Eine Spur, wie Sybille Krämer präzisiert hat, „entfaltet sich nur innerhalb einer ‚Logik‘ der Narration“. 28 Man könnte auch sagen: In der Spur springen einem mögliche Geschichten entgegen, die sich jeweils auf vielerlei Weisen erzählen lassen. In der Narrativität der Spur zeigt sich damit das „epistemologische Doppelleben der Spur“,29 das sich durch eine Gleichzeitigkeit von Wissenskonstruktion und Wis-

 28 KRÄMER: „Was also ist eine Spur?“, S. 17. 29 KRÄMER: „Immanenz und Transzendenz der Spur“, S. 157.

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 sensentzug auszeichnet. 30 So generieren die Erzählungen, die eine Spur zum Entwerfen herausfordert, zwar ein Wissen, sie vermögen jedoch die in der Spur aufflackernde Zeitenspannung, die auf etliche Weisen erzählt werden kann, niemals vollends aufzulösen. Die unauflösbare Restspannung lebt als ‚drive for narrative‘ in den Erzählungen selbst weiter und vermag die Erzählungen selbst wieder in Spuren zu verwandeln. Wir haben es also zunächst mit zweierlei Spuren zu tun: erstens mit einer Spur im engeren Sinne als ein im Material sichtbarer Abdruck eines Ereignisses an Ort und Stelle (der Fußabdruck, die Schleifspur), und zweitens mit einer Spur im weiteren Sinne, mit einem Dokument, das keinen ‚direkten‘ örtlich-dinglichen Bezug zum Ereignis hat. Bei genauerer Betrachtung jedoch ist auch das Dokument eine Spur im engeren Sinne, verweist es doch auf den Moment der Aufzeichnung, des Niederschreibens, des Vortragens, des Fotografierens, usw. Es zeugt von einer Weiterverwendung von vorherigen Spuren und trägt damit gleich mehrere Zeitebenen in sich.

 Inszenierte Spuren Mit letzterer Art von Spur werden die Teilnehmer in einem Großteil der Audiowalks konfrontiert. Die an Ort und Stelle rezipierbaren Audio-Clips stellen weniger eine Spur in Form einer Schleifspur oder eines Fingerabdrucks dar, sondern häufig handelt es sich um künstlerisch inszeniertes Material, um Bilder, mündliche Erzählungen oder Sounds, die nicht immer zwangsläufig von dem Ort stammen, an dem sie während des walks rezipiert werden. Gerade in dieser Inszeniertheit, die immer offensichtlich bleibt, liegt die Besonderheit jener walkSpuren, läuft eine solche Inszeniertheit doch streng genommen der paradoxen Ontologie einer Spur zuwider. Denn Spuren können nicht wirklich ‚gelegt‘ und damit inszeniert werden, sondern sie sind nur dann solche, sofern sie unbeabsichtigt hinterlassen und erst nachträglich gelesen werden. Im Zusammenhang mit künstlerisch inszenierten Spuren spricht Mirjam Schaub deshalb vom Spurenlegen „im Geist der Fährte“.31

 30 Die Spur, so hat Sybille Krämer verdeutlicht, wird im Kontext zweier konträrer Denkparadigmen theoretisiert. Innerhalb des „Indizienparadigmas“ – ein Begriff von Carlo Ginzburg – stellt die Spur die Bedingung einer Wissenspraktik dar. Im Lesen einer Spur gelangen wir zu Erkenntnis. Das „Entzugsparadigma“ hingegen, dem z.B. Derrida und vor allem Lévinas verpflichtet sind, reflektiert die Spur als Signatur von Irreversibilität, Unerreichbarkeit und der „Unmöglichkeit von sicherem Wissen und definiter Erkenntnis“. Ebd., S. 157; vgl. auch GINZBURG: Spurensicherung, S. 7-57. 31 SCHAUB: „Die Kunst des Spurenlegens und -verfolgens“, S. 140.

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 Und dennoch haben wir es in den walks mit Spuren zu tun, sofern nämlich jene ‚Fährten-Spuren‘ als Spuren wahrgenommen werden – und das mitunter in mehrfacher Weise. Denn in den Spuren der Audio-walks tun sich gleich mehrere Zeitebenen auf, von denen eine sich auf die zeitliche Ebene der künstlerischen Inszenierung bezieht. Wenn in Janet Cardiffs walk mit einem Mal das Telefon klingelt und die hinter der hörbaren Stimme fingierte Person von diesem Anruf bei ihrer künstlerischen Arbeit – „Oh, I am just recording“ – unterbrochen wird, dann wird sogleich eine Zeitschicht von einer anderen abgelöst. Die Spur ändert sozusagen ihre Oberfläche und damit eine potentielle Geschichte, die sich an ihr festmachen lässt sowie eine damit verbundene Selbstverortung im generierten Raum. Erfahrbar wird Cardiffs eigener Gang durch den Park als inszenatorische Bedingung für meinen Gang durch den Park. Narrativität des Gehens Dass in Cardiffs Audio-walk die Vollzugsebene der künstlerischen Inszenierung des walks ausgerechnet selbst als ein Gang erfahrbar wird, ist dabei bezeichnend. Die Inszenierung des walks als Gang wird also im Gehen der Teilnehmerin als Spur eines vorherigen Gehens nachträglich nachvollziehbar gemacht. Das Gehen entpuppt sich dabei als Bedingung eines Spurenlesens auf mehreren Zeitebenen: auf der Ebene meines aktuellen Gangs und auf der Ebene des hierin aufscheinenden Gangs der Künstlerin. Mittels der eigenen Gehbewegung, so wird hier im Nachvollzug akustischer Schritte deutlich, sucht man nicht nur Spuren, sondern man hinterlässt auch potentiell welche. In vielen künstlerischen Audio-walks wird das Gehen als eine paradigmatische Form der Spurenbildung thematisiert. Obgleich die Spuren, denen man im Audio-walk folgt, wissentlich inszeniert wurden und es sich hierbei nicht um Fußabdrücke im engeren Sinne handelt, rekurriert die Spurensuche der walks allein durch die Tätigkeit des Gehens seitens der Teilnehmer immer schon auf diese – etymologisch betrachtet – prototypische Form der Spurbildung, steht doch das althochdeutsche Wort „spor“ für „den durch niedertreten oder -stoszen gebildeten eindruck des fuszes im boden“.32 Auch in de Certeaus Definition des Gehens scheint eine Verbindung von Gehen und Spurbildung auf. Das Gehen stellt bei ihm zugleich einen „Raum der Äußerung“ 33 sowie ein permanentes Verfehlen dar: „Gehen bedeutet, den Ort zu verfehlen. Es ist der unendliche Pro-

 32 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Eintrag: „Spur“, Sp. 235. 33 DE CERTEAU: Kunst des Handelns, S. 189.

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 zeß, abwesend zu sein“.34 Der „Raum der Äußerung“ des Gehens ist flüchtig. Was bleibt, sind Orte voller Spuren. Und Spuren sind nur solche, sofern sie erzählt werden. In dem interaktiven GPS-Audio-walk Fortysomething von plan b35 wird das komplexe Verhältnis von (Geh-)Bewegung, Spur und Narration auf besonders prägnante Weise thematisiert, wie ich im Folgenden zeigen möchte. Meine These ist, dass künstlerische Audio-walks, wie beispielhaft an plan b’s walk deutlich wird, das Gehen als exemplarische Praktik des Spurenlesens, -folgens und -hinterlassens und damit als Bedingung für Erzählen in Szene setzen. Die Gehbewegung des Teilnehmenden ist hier nie eine bloße Gehbewegung, sondern ein Komplementär zur (immer schon narrativen) Spur, deren Rezeption einen narrativ eingefärbten Raum hervorbringt.

2.2 D URCH 

DIE

S TADT

NARRIVIEREN

Kunstgeschichte nachspüren Im GPS-Audio-walk Fortysomething spürt man einer ungewöhnlichen Historie nach. Mit einem GPS-Gerät und Kopfhörern ausgerüstet bewegt man sich einzeln durch das Zentrum der österreichischen Stadt Graz. Dauer und Richtung des walks können dabei frei gewählt werden. Während des walks trifft man möglicherweise auf die akustischen Spuren von Bill Fontanas Klanginstallation Sonic Projections, die 1988 die gesamte Stadt für mehrere Tage mit den Klängen von Muezzingesängen, Nebelhörnern und Raubtiergebrüll überschallte und die während des walks in den Kopfhörern der Teilnehmer zum erneuten Erklingen gebracht werden. Man begegnet unter Umständen Tondokumenten der legendär gewordenen Explosion von achtundvierzig kleinen quadratischen Holzkisten, die Roman Signer in seiner Aktion mit 48 Kisten 1993 in der Nähe des Mausoleums vor einem Publikum von Hunderten von Passanten realisierte. Wer während des walks auf den Schloßberg hinaufgeht, stößt auf eine Nacherzählung von Hermann Nitschs Orgien Mysterientheater, das hier 1987 realisiert wurde. Am Ufer der Mur können die Teilnehmer des walks mit ihrem GPS-Gerät Valie Exports Rülps-Sound-Installation Tonmonument von 1979 wieder zum Leben erwecken. In der Nähe des Landhaushofes kann man sich darüber erzählen lassen, wie John Cage am selben Ort in den 1960er Jahren den österreichischen Musikgeschmack

 34 Ebd., S. 197. 35 Forytsomething fand im Rahmen des internationalen Grazer Kunstfestivals Steirischer Herbst im September 2007 statt.

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 verwirrte und nachhaltig veränderte. Am Mariahilfer Platz erfährt man, dass der Gestank, den Robert Jelinek an diesem Platz im Jahr 2000 mit seinem Projekt ASYL freisetzte, um auf den ausländerfeindlichen „Gestank von Österreich“36 aufmerksam zu machen, dermaßen unerträglich war, dass der sonst rege Verkehrsknotenpunkt für einige Zeit unpassierbar war. Und wer während seines GPS-walks den Platz um das Eiserne Tor passiert, stößt dort auf einen kunsthistorischen Ballungsort voller emotionalem Sprengstoff: Christoph Schlingensiefs skandalöse Performance Chance 2000 für Graz fand hier 1998 statt, bei der die von Schlingensief gecasteten Berliner Obdachlosen Zwanzig-Schilling-Scheine von Hochsitzen in die geldgierige Zuschauermenge rieseln ließen und einige Tage später die unweit gelegene Grazer FPÖ-Zentrale stürmten, weil die rechtsradikale Partei zuvor vehement gegen Schlingensiefs Interventionen am Eisernen Tor vorgegangen war. Nur zehn Jahre zuvor, so können die Teilnehmer des walks am selben Ort erfahren, hatte der Künstler Hans Haacke die Marienstatue in der Mitte des Platzes – wie zuvor die Nationalsozialisten zu Beginn der 1940er Jahre – in einen riesigen feuerroten Obelisken verwandelt. Das skulpturale Reenactment nationalsozialistischer Symbolsprache und Ikonografie, so kann man in einem ORF-Bericht von 1988 erfahren, brachte ältere Passanten zum Weinen und veranlasste Unbekannte zu einem nächtlichen Brandanschlag auf das Eiserne Tor. Vierzig Jahre internationales Festival Steirischer Herbst haben in Graz ihre Spuren hinterlassen. Dies gilt insbesondere für die zahlreichen künstlerischen Interventionen im öffentlichen Raum, die in Fortysomething zum Thema werden. Das englische Performanceduo plan b hat sich anlässlich dieses Jubiläums auf Spurensuche begeben und ein umfangreiches Sound- und Interviewarchiv zusammengestellt, das sich in Interaktion zu den Bewegungen der walk-Teilnehmer an spezifischen Orten in der Stadt punktuell öffnet. Die künstlerisch inszenierten Spuren bestehen zum größten Teil aus Interviews mit den damaligen Künstlerinnen und Künstlern, mit Zuschauern, Kuratoren, Journalisten, Kulturpolitikern und Kunstkritikern. Bereits hier überlagern sich verschiedenste Zeitebenen. Handelt es sich bei einigen der Beiträge um damalige Radio- und Fernsehbeiträge, um Stellungnahmen ehemliger Beteiligter, bestehen andere aus nachträglichen Erzählungen oder Interviews im oral-history-Stil, die direkt am

 36 Alle Zitate aus Fortysomething wurden entweder während des walks dokumentiert oder nachträglich den Tondokumenten entnommen, die mir plan b freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben. Dieses Zitat: Audio-Clip „laggner_asyl-mp3“. Die Audio-Clips von Fortysomething werden nicht gesondert in der Bibliografie dieser Studie ausgewiesen.

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 jeweiligen Aktionsort mit den Künstlern und Kuratoren durchgeführt und dabei von dem Künstlerduo plan b akustisch aufgezeichnet wurden. Neben den einzelnen Kunstaktionen erfährt man an ausgewählten Orten Genaueres über die Geschichte des Festivals, über kuratorische Ausrichtungen und kulturpolitische Hintergründe. In den Vordergrund rückt immer wieder ein sich durch den walk ziehendes Metanarrativ, das sich häufig direkt an einzelne Projekte bindet: Miterzählt wird eine Rezeptionsgeschichte des Steirischen Herbstes, dessen Programm angeblich, wie man in einer Vielzahl von Audio-Clips erfährt, in den ersten Jahren viel radikaler und provokativer daher kam als vierzig Jahre später. Die Geschichte des Steirischen Herbstes ist auch eine Skandalgeschichte, in der es um die feine Grenze zwischen künstlerischer Provokation und Anpassung geht. Die nachhaltigen Wirkungen dieses Festivals, welches die kulturellen Bemühungen der Landeshauptstadt Wien für lange Zeit in den Schatten stellte, werden für den Teilnehmer des walks an Ort und Stelle (nach-)spürbar gemacht. Umso länger ich mich im Audio-walk durch die recht überschauliche Innenstadt von Graz bewege, desto stärker wird diese als künstlerischer und kultureller Verhandlungsraum hervorgebracht und desto vehementer scheinen mir die Straßen und Plätze die Frage entgegenzuschleudern: Was ist Kunst? Was bewirkt sie? Was kann sie, darf sie, soll sie? GPS-walks forcieren eine vom persönlichen Interesse geleitete Bewegung. Interessiert mich ein akustischer Beitrag besonders, kann ich diesen durch Verlassen und erneutes Eintreten in die zuvor definierte Zone wiederholt anhören. In plan b’s walk stoße ich immer wieder auf Knotenpunkte, an denen sich verschiedenste Spuren ballen und überlagern. Teilweise treten die Audio-Clips an solchen Orten in Konkurrenz zueinander, denn oft sind es nur wenige Schritte, die mich von einem Beitrag zum nächsten tragen. Dabei wird es zu einem Spiel, gehend auf den Schwellen der Audio-Clips zu balancieren und deren Ränder auszuloten. Genau an jenen Sammelpunkten, an denen der Erzählfluss der gehörten Clips ins Stolpern gerät, tritt die eigene Erzähltätigkeit in den Vordergrund und mit dieser ein Bewusstsein darüber, selbst bis zu einem gewissen Grad Verantwortung zu tragen für die Kunstgeschichte, die ich nicht nur hörend konsumiere, sondern selbst mittels Gehbewegung mitgestalte. Meine Erzähltätigkeit besteht dabei vor allem in der Verbindung der Spuren, durch die meine direkte Umgebung einer beständigen Transformation unterliegt. Stärker als in Janet Cardiffs weniger interaktivem Audio-walk werde ich in plan b’s GPS-walk in eine narrative Konfigurationstätigkeit verwickelt, bei der ich gehend historische Verbindungslinien zwischen den einzelnen Clips herzustellen versuche und dergestalt die Stadt Graz in Bewegung versetze.

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 Parallelgänge: Geschichten vom Spurenlesen Viele der im Rahmen des Steirischen Herbstes gezeigten Kunstaktionen, die man in Fortysomething gehend aufspüren kann, basierten ihrerseits auf einer Geh- beziehungsweise Eigenbewegung der damaligen Teilnehmer. Im walk von plan b geht man sozusagen – ähnlich wie auch in Janet Cardiffs walk – auf Spuren vergangener Gehbewegungen, die jedoch im Gegensatz zu Cardiffs walk zuallererst durch ein selbstständiges Suchen aufgespürt werden müssen. So zum Beispiel im Fall des Projektes City Joker, das 1995 von den Architekten und Künstlern Dieter Spath und Bernd Knaller-Vlay realisiert wurde. Das Projekt zieht sich in Form zahlreicher, über die Stadt verteilter Spuren wie ein running gag durch meinen Grazer Rundgang. Mehrfach begegnet mir die Stimme des Architekten Spath, der mir an unterschiedlichen Orten der Stadt jeweils eine neue Episode von City Joker präsentiert. Am Faerberplatz erfahre ich, dass die teilnehmenden Zuschauer des City Joker-Projektes damals eine Reihe der direkt vor mir liegenden Gebäude wie auf einem Höhen-Parcours durchqueren mussten: Mit Leitern ging es kletternd von einem Dach zum nächsten, runter in die Höfe, wieder rauf, durch ein Fenster in die Wohnung einer Pensionärin, von deren Wohnzimmer im vierten Stock man sich durch ein Fenster abseilen musste, über Balkone kletterte und irgendwann in einer Studenten-WG landete. Es ging durch Klos, Fluchttüren, Kirchen, Turnhallen, Schlafzimmer und Restaurants. Ironischerweise erzählt mir dieselbe Stimme ausgerechnet an der Sporgasse (spor, althochdeutsch für Spur) von einer Expedition durch den Schloßbergtunnel, für die die Teilnehmer mit Schutzhelmen und Stirnlampen ausgestattet wurden. Nach der Durchquerung des Tunnels wurde man unter anderem mit einem Kran über Dächer gehoben und musste sich von Fensterbrettern hinunter waghalsig in ausgebreitete Sprungtücher fallen lassen. City Joker, so erfahre ich schließlich in der Schmiedgasse, war eine dreitätige Stadtwanderung, auf der die Teilnehmer jeweils in Vierergruppen die Stadt auf einer zuvor festgelegten geraden Linie von Norden nach Süden durchquerten. Der Parcours bestand aus vierzig Stationen, an denen man in mündliche Erzählungen der jeweiligen Anwohner verwickelt wurde. Die Wanderung war in der Tradition politisch subversiver, künstlerischer Umherschweifaktionen konzipiert, die die Situationisten um Guy Debord in den 1960er Jahren in Paris realisiert hatten.37 Ziel der Grazer Architekten war es dabei, eine alternative Begegnung mit der Stadt und seinen Bewohnern zu ermöglichen, indem man die orthodoxe Stadtnutzung durch Straßen als primäre Fortbewegungs- und Transportwege buchstäblich unter- bezie-

 37 Zu den Aktionen der Situationisten vgl. zusammenfassend SADLER: The Situationist City.

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 hungsweise überwanderte. Die Aktion fand ein breites Medienecho und schuf damit auch jenseits ihrer konkreten Nutzung – insgesamt gab es nur sechzig Teilnehmer – ein Bewusstsein für eine alternative Geografie und soziale Geopolitik der Stadt. Spath beschreibt das Projekt als einen euphorischen „Ausnahmezustand der Stadt“,38 der neue soziale Verbindungen herstellte, so dass der damalige Bürgermeister „die Linie“ schließlich zum siebzehnten Bezirk von Graz erklärte. Der erzählte Gang von City Joker, dessen geografische Linie ich nach und nach als narrative Linie rekonstruiere, wird mein permanenter Wegbegleiter auf plan b’s walk. Er verleiht meinem eigenen Gang eine mit Wiedererkennungseffekten gespickte Dramaturgie und führt zugleich ein paralleles Eigenleben. Denn durch diese punktuellen ‚Wiederbegegnungen‘ mit City Joker an unterschiedlichen Orten in der Stadt vollziehe ich einen immer schon als Erzählung konfigurierten Parallelgang, der mich jenseits meines eigenen Weges imaginär durch fremde Wohnungen und über die Dächer von Graz führt. Ich narrativiere zwei Wege gleichzeitig und schaffe damit zwei mögliche Erzählungen über diese Stadt: eine über den Steirischen Herbst und die Kunstgeschichte von Graz und eine über City Joker. Die Wege aber sind zeitlich gegeneinander verschoben. Der City Joker-Weg existiert nur durch zufällig aufgespürte, partielle und miteinander in Beziehung gesetzte Spuren, die selbst wiederum Teil meines körperlich vollzogenen Weges sind. Dabei hat auch der City Joker-Weg eine körperliche Qualität, nämlich als sinnlicher Nachvollzug, als ein Nachspüren vorgängiger Bewegungen entlang einer Spur durch die Stadt. Nicht ohne Grund stand das Verb „spüren“ bis ins 17. Jahrhundert synonym für „eine Spur aufnehmen“. 39 Zu diesen Überblendungen gesellt sich schließlich eine dritte Zeitebene, nämlich jene der Vermittlung zwischen meinem eigenen Gang durch die Stadt und dem Gang von City Joker. Mit anwesend in jeder der inszenierten City Joker-Spuren ist der Architekt Spath, der sich in den zu hörenden Audio-Clips jeweils an genau demselben Ort befindet, an dem auch ich mich zeitversetzt während meines Gangs aufhalte. Spaths genaue Ortsbeschreibungen und Erklärungen, die sich an seine Interviewpartner von plan b richten, wirken auf mich wie Handlungsanweisungen, die mich dazu auffordern, meine Aufmerksamkeit auf bestimmte Details in meiner Umgebung und auf ihre Veränderung seit der Realisierung von City Joker zu richten. In den Interviews, die plan b mit Spath für die Realisierung des walks geführt haben, erkundet Spath die Orte seines

 38 Dieses und nächstes Zitat: Audio-Clip „Spath_CJschmiedgasse“. 39 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Eintrag: „Spüren“, Sp. 243.

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 vergangenen Projektes erneut. Einmal höre ich ihn einen Hausflur eines der vor mir liegenden Gebäude entlanglaufen, an dessen Ende Spath zu seiner Überraschung auf eine damals von ihm eigens eingebaute Fluchttür stößt, auf der noch Kleber-Überreste von damaligen Hinweisschildern zu finden sind. So werde ich Zeugin einer weiteren Spurensuche, bei der Spath gemeinsam mit plan b, die ihn vor Ort begleiten, den City Joker-Weg partiell erneut beschreiten. Meine Suche nach den Spuren von City Joker entpuppt sich als Spurensuche einer Spurensuche. Der erzählte Gang über das Projekt wird damit zu einem Meta-walk, der bereits selbst über das komplexe Verhältnis von (Geh-)Bewegung, Spur und Narration erzählt. Die geometrische Linie, entlang derer der City Joker-Gang 1995 realisiert wurde, erscheint dabei fast wie ein selbstironischer Kommentar auf die imaginierten ‚chronologischen Ergebnisse‘ meiner eigenen narrativen Konfigurationsleistungen. Durch diese nämlich versuche ich die Geschehnisse der multiplen punktuellen Nacherzählungen Spaths, denen ich zufallsgeleitet und in a-chronologischer Abfolge begegne, nachträglich zu einer – wenn auch stets hinkenden – chronologischen Geschichte zu konfigurieren, die mir den City Joker-Gang in seiner damaligen geografischen Linearität zuallererst ‚zugänglich‘ macht. An City Joker wird mir damit die Möglichkeit einer nachträglichen Narrativierung meines eigenen Gangs durch die Stadt vor Augen geführt, denn auch mein Gang lässt sich an mehreren Punkten meines Weges – auf die bisherige hinterlassene Wegstrecke rückblickend – in Form verschiedenster Erzählungen rekonstruieren. Mein Gang durch die Stadt gabelt sich sozusagen beständig in Teil-Erzählungen auf. Eine dieser zahlreichen Narrativierungen meiner eigenen Bewegungen ereignet sich mir am Ende meines Gangs. Auf dem Schloßberg werde ich in einem weiteren Clip erneut mit der Vergangenheit des Eisernen Tors konfrontiert, an dem ich drei Stunden zuvor auf die Spuren von Christoph Schlingensiefs und Hans Haackes Aktionen gestoßen war. Aus dem Clip auf dem Schloßberg erfahre ich, dass im selben Jahr, in dem am Eisernen Tor der von Haacke nachgebaute Nazi-Obelisk in Flammen aufging, Bill Fontana seine monströs anmutenden, fremden Klänge in einer unüberhörbaren Lautstärke vom Schloßberg über die gesamte Stadt schickte. Imaginativ folge ich meiner eigens gelegten Spur, meiner in den vergangenen Stunden hinterlassenen Wegstrecke zurück zum Eisernen Tor und stelle mir vor, wie dort im Herbst 1988 die durch den realistischen Nachbau Haackes wiederauferstandenen nationalsozialistischen Geister von Fontanas Muezzingesängen und Nebelhornsirenen überflogen und ausgelacht wurden.

 

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 Abbildung 6: plan b: Fortysomething (2007)

Foto: plan b (Sophia New und Daniel Belasco Rogers).

 Narrivieren. Narrative Bahnungen in der Stadt Fortysomething macht mich zu einer Historiografin, die sich zu Fuß durch ein Archiv bewegt, die sich von den durch plan b reaktivierten Energien vergangener Ereignisse treiben lässt und dabei einen historischen Stadtraum zugleich historiografisch nachzeichnet und neu beschreibt.40 Dieses Historiografieren lässt sich als ein Narrivieren bezeichnen: als eine narrativierende Navigationsbewegung, eine ortsbezogene Orientierung und Richtungsfindung, die mit einem Erzählakt in einem wechselseitig konstitutiven Verhältnis steht. Das Gehen als Spurensuche löst Geschichten aus und umgekehrt lösen Geschichten, die sich in den Spuren auftun, ein Gehen aus. Zum einen entfalten meine Bewegungen ein Erzählen von Geschichten, die mittels plan b’s ortsspezifischer Spurenimplementierung im Gehen reaktiviert werden. Zum anderen werden meine Bewegungen von den Audio-Clips und denen sich dahinter auftuenden Geschichten gelenkt. Wie de Certeau es beschrieben hat: „Sie [die erzählten Geschichten] lenken tatsächlich Schritte. Sie machen eine Reise, bevor oder während die Füße

 40 Gráfëin, griech. für schreiben, beschrieben, zeichnen, eingraben, ritzen. Vgl. Duden. Das große Fremdwörterbuch, Eintrag „Grafie“, S. 521.

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 sie nachvollziehen.“41 Die dabei entstehenden Erzählstränge, wie zum Beispiel die Geschichte von City Joker, werden zu „Durchquerungen des Raumes“42: zu Transportmitteln, auf denen ich mich durch das Zentrum von Graz bewege und mittels derer ich einen Raum narrivierend transformiere, ihn unentwegt „durchknet[e]“.43 In meinem dreistündigen Gang eröffnet sich mir dabei die Stadt als ein von Geschichten durchzogenes, dehnbares Raum-Gewebe, das mit jeder hinzukommenden Episode seine Struktur und Wirkung auf mich ändert. In plan b’s walk wird die Aufmerksamkeit für narrative Bahnungen geschärft, die Teil eines jeden Gangs durch eine Stadt sind. Die Sogkraft, die in einem Gang durch die Stadt von den Straßen, Gassen und Plätzen auszugehen scheint und die gerade in einem von Alltagszwängen befreiten Wandeln im Stil des Flanierens wirksam wird, ist zu einem Anteil immer auch eine narrative Sogkraft, sofern sich vorherige Bewegungen, Handlungen und Verwendungen des Ortes als Spuren in die Straßen eingeschrieben haben und sich „beim Gehen“, wie de Certeau es beschrieben hat, als „an einem Ort angesammelt[e] Geschichten“ 44 zu entfalten vermögen. In der Herstellung einer beweglichen Kunstgeschichte im Gehen werde ich sogleich auf eine allgemeine Narrativität eines Gehens in der Stadt verwiesen. „Die Erzeugung eines Raumes“, so hat de Certeau mit etwas Zurückhaltung gemutmaßt, „scheint immer durch eine Bewegung bedingt zu sein, die ihn mit einer Geschichte verbindet.“45 Fortysomething untermauert jene Hypothese zumindest in Bezug auf ein Gehen in der Stadt. Dieses entpuppt sich als ein Gehen, das sich immer schon entlang von Spuren vollzieht, in deren stets narrativer Rezeption der Raum in actu (erneut) mit Geschichten gefüllt und entsprechend (um)geformt wird.

 41 DE CERTEAU: Kunst des Handelns, S. 216. 42 Ebd. 43 BIDOU und HO THAM KOUIE, zitiert nach: DE CERTEAU: „Praktiken im Raum“, S. 352. Das französische Wort „triturer“, das de Certeau hier in Rekurs auf C. Bidou und F. Ho Tham Kouie verwendet, wird in der Merve-Übersetzung von Kunst des Handelns mit ‚verändern‘, in der Suhrkamp-Übersetzung, die nur Teile von Kunst des Handelns beinhaltet, wörtlich mit ‚durchkneten‘ übersetzt. Vgl. DE CERTEAU: Kunst des Handelns, S. 225. 44 Ebd., S. 208. 45 Ebd., S. 219. Kursivierung von N. T.

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 3. F LYNIEREN UND K ARTOGRAFIEREN (L IGNA ,  3.1 GPS-F LANERIE 

PLAN B )

Audio-walks und Flanieren Ein Großteil künstlerischer Audio-walks, die im urbanen Raum stattfinden, steht im Zeichen der Flanerie, das heißt jener urbanen Fortbewegungsweise, die aus der modernen Warenhauswelt der Pariser Passagen des 19. Jahrhunderts hervorging. Obgleich die Flanerie, wie Charles Baudelaire, Edgar Allen Poe und später Louis Aragon, Siegfried Kracauer, Franz Hessel und vor allem Walter Benjamin gezeigt haben, in ihrer historischen Form im Umfeld einer aufblühenden städtischen Konsumkultur entstanden ist und die Figur des Flaneurs zu einem Anteil dem Kapitalismus immer verhaftet bleibt,46 entzieht sich die Flanerie, wie Benjamin sie beschrieben hat, zugleich vehement der Warenwelt. Denn das Flanieren ist in erster Linie eine subversive Bewegungsform, bei der das immer schon historisch aufgeladene und zweckentleerte Gehen im urbanen Gelände selbstreferenziell spazieren geführt wird.47 Die künstlerischen Audio-walks der Jahrtausendwende nehmen darauf Bezug. Sie ermöglichen ein von alltäglichen Zwecken entfremdetes Gehen in der Stadt, das auf eine andere, narrativ-historisch eingefärbte Raumwahrnehmung und damit auf eine alternative (Re-)Konstruktion des Raumes und der Geschichte abzielt. Besonders GPS-geleitete walks eröffnen dabei neue Möglichkeiten, raum-zeitliche Überblendungen zu inszenieren und die Teilnehmerin in ein interaktives Verhältnis mit ihrer Umgebung treten zu lassen. Dabei forcieren GPS-walks eine Fortbewegungsweise und Rezeptionshaltung, die der des Flanierens sehr ähnlich ist. Walter Benjamin hat die Flanerie als ein Streunen beschrieben, als eine rauschhafte Gehbewegung durch die Stadt, die dem Flaneur in Form von Fragmenten, Fetzen, Überbleibseln, das heißt in Form von scheinbar wertlosen Spuren entgegentritt. Der Spuren-Junk der Stadt gleicht der Kolportage-Literatur, die – ähnlich der Audio-Clips in plan b’s Fortysomething – zum verschlingenden Lesen auffordert. 48 Der Flaneur bewegt sich dabei im

 46 Benjamin bezeichnet den Flaneur als den „in das Reich des Konsumenten ausgeschickte[n] Kundschafter des Kapitalisten“. BENJAMIN: Das Passagen-Werk, S. 538. Ähnlich wie Benjamins Figur der Prosituierten oder des Sammlers stellt der Flaneur eine ambivalente Figur dar, die fest in ein kapitalistisches System eingeschrieben ist und dieses zugleich subvertiert. 47 Vgl. ebd., S. 524f. 48 Vgl. ebd., S. 527f.

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 nahen Austausch mit seiner Umgebung und ist zugleich aktiv wie passiv: ein spurensuchender „Jäge[r] im städtischen Dekor“, 49 ein mit besonderer Wachsamkeit durch die Stadt wandelnder Passant mit „dem Spürsinn eines Detektivs“50 einerseits, und ein von Reizen angelockter und auf Signale antwortender Stadtstreuner andererseits. Der Flaneur wittert. Er folgt seiner Umgebung, die ihn zu verführen scheint. „Beim Nahen seiner Tritte“, schreibt Benjamin, „ist der Ort schon rege geworden, sprachlos, geistlos gibt seine bloße innige Nähe ihm Winke und Weisungen.“51 Hinter diesen Winken und Weisungen steckt die Verlockung einer anderen Zeit. Der Ort hat als Spur einen doppelten Boden, der den Flaneur verführerisch anblinzelt und zu fragen scheint: „nun, was mag sich in mir wohl zugetragen haben?“52 Der Rausch, von dem der Flaneur ergriffen wird, ist von einer narrativen Erfahrung seiner Umgebung nicht zu trennen. In der ziellosen, von Schritten geleiteten Interaktion mit dem urbanen Gelände tritt der Flaneur in ein fragiles, historisches Verhältnis mit seiner Umgebung. Die Flanerie ist eine Geschichtserfahrung in Bewegung, durch die der Ort als historischer Raum, als „[r]aumgewordene Vergangenheit“ 53 re-konstruiert wird. Nicht das Offensichtliche, nicht die großen Sehenswürdigkeiten, sondern die scheinbar nichtigen, fragmentarischen Details, „das Tastgefühl einer einzigen Fliese“ 54 ermöglichen die Erfahrung eines historischen Resonanzbodens, der sich hinter jeder Fliese, die der Flaneur aufspürt, aufzutun vermag. Fragil und rauschhaft ist diese Erfahrung deshalb, weil sich die Geschichte, in die man hier gehend verstrickt wird, nicht auf eine singuläre Historie reduzieren lässt. Im Flanieren wandelt man im Schwellengebiet dialektischer Bilder:55 Augenblicke von raum-zeitlichen Überblendungen, in denen „die Stadt in ihre dialektischen Pole“56 aus Vergangenheit und Gegenwart auseinander tritt und die sich dem Flaneur als historische Spannungen darbieten. Das Moment der Begegnung mit einer Spur ist momenthaft stillgestellt – eine „Dialektik im Stillstand“57 – und hat dabei einen selbstreflexi-

 49 Ebd., S. 551. 50 BENJAMIN: „Die Wiederkehr des Flaneurs“, S. 196. 51 BENJAMIN: Das Passagen-Werk, S. 524. 52 Ebd., S. 527. 53 KRANZ: Raumgewordene Vergangenheit. 54 BENJAMIN: „Die Wiederkehr des Flaneurs“, S. 195. 55 Einen Überblick über das dialektische Bild bei Benjamin liefert Ansgar Hillach: HILLACH: „Dialektisches Bild“, S. 186-229. 56 BENJAMIN: Das Passagen-Werk, S. 525. 57 Ebd., S. 577.

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 ven Effekt. Dialektische Bilder lassen den Flaneur für kurze Zeit im zeitenübergreifenden Erzählprozess innehalten und ermöglichen damit ein Bewusstsein über historische Kontingenz: Die Begegnung des Flaneurs mit einer Spur kommt einem raum-körperbewussten Erkenntnismoment gleich, einem „gefühlte[n] Wissen“,58 das „auf eine Wirklichkeit ungelebten Lebens verweist.“59 Das Flanieren, so möchte ich folgern, ist damit zunächst weniger ein plotting walk, in dem verschiedene Spuren miteinander in eine narrative Beziehung gesetzt werden, sondern in den Vordergrund rückt die Bedingung eines jeden narrativen Sinngebungsprozesses, nämlich die Erfahrung einer narrativen Potentialität, die sich hier punktuell in einer Spur auftut. Dialektische Bilder eröffnen sich dem Flaneur als Quellen narrativer Sinngebung: die Frage „nun, was mag sich in mir wohl zugetragen haben?“,60 die eine Spur dem Flanierenden aufzudrängen scheint, wird letztlich nicht beantwortet, obgleich sie als Herausforderung ‚im Raum steht‘. Ein narratives telos wird als Möglichkeit ‚in den Raum gestellt‘ und doch immer wieder niedergerissen. Was sich schließlich in der Sukzessivität des Flanierens entlang dialektischer Bilder auftut, ist ein räumliches Spurengerüst voller historischer Kontingenzen und narrativer Möglichkeiten. Eine narrative Bewegungs- und Raumerfahrung, wie sie in den meisten künstlerischen Audio-walks mit Rückblick auf Janet Cardiff und plan b ermöglicht wird, lässt sich damit auf der Kippe zwischen plotting walk und Flanerie situieren: zwischen einer diachronen narrativ-konfigurierenden Verbindung der Spuren untereinander einerseits und einer auf die einzelne verlockende Spur bezogenen historischen Tiefenbohrung andererseits. So gibt plan b’s GPS-walk Fortysomething immer wieder dazu Anlass, den eigenen Gang (nachträglich) als Erzählung zu rekonstruieren und hier die Gehbewegung auch als Bewegung einer narrativen Konfiguration, das heißt, eines Spurenverfolgens wahrzunehmen. Ebenso wird die Innenstadt von Graz als ein offenes Spurengerüst erfahrbar gemacht. Jede Gabelung in diesem Gerüst, jede Spur eröffnet sich dabei als lokaler Punkt einer narrativen Potentialität, von dem aus in viele verschiedene Richtungen weitererzählt werden kann. So entsteht niemals eine singuläre Historie, sondern ein Netz von möglichen Geschichten ebenso wie ein selbstreflexives historisch aufgeladenes Raumerlebnis in der Gehbewegung. Gerade in den durch interaktive Technologien geleiteten walks, die eine selbstständige Fortbewegung erfordern, wird ein nicht-lineares Erzählen und

 58 Ebd., S. 525. 59 HILLACH: „Dialektisches Bild“, S. 187. 60 BENJAMIN: Das Passagen-Werk, S. 527.

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 damit auch die Bedingung narrativer, das heißt nachträglich Linearität verschaffender Sinngebung bewusst gemacht. Die Verlockung der einzelnen Spur, ebenso wie die Möglichkeit des Verweilens darin oder der wiederholten Auseinandersetzung mit ihr durch Ein- und Austreten in die Signalzone, lässt die körperliche Erfahrungsebene des spurengeleiteten Gehens durch die Stadt in den Vordergrund treten. GPS-walks ermöglichen damit eine neue, auf Technologie basierende Form des Flanierens. Diese technisierte Flanierform sowie deren technisch-mediale Bedingungen werden zum expliziten Ausgangspunkt des Projektes Verwisch die Spuren! Flanieren in Berlin der Medienaktivisten- und Performancegruppe LIGNA.61 Das Projekt entstand in einer vom Radiosender Deutschlandradio Kultur und dem Medien- und Soundkünstler Udo Noll (radio aporee) realisierten Reihe von GPS-walks unter dem Titel RADIOORTUNG – Hörspiele für Selbstläufer, in deren Zentrum die Frage danach stand, inwiefern die neuen Technologien der Smartphone-Generation, die allesamt mit Internetzugang und GPS-Lokalisierungstechnik funktionieren, in unseren Alltag eingreifen. LIGNAS Projekt verfolgt dabei das Anliegen, eine mit GPS-Technologie einhergehende digitale Überwachung der Nutzer mittels eines GPS-walks zu subvertieren. Meine These für die folgende Analyse ist, dass LIGNA in ihrem GPS-walk einen neuen Typus des Flanierens entstehen lassen, bei dem ein unter dem Einfluss von digitaler Technologie entstandenes Wahrnehmungsdispositiv mitreflektiert wird. Diesen neuen Flaniertypus möchte ich Flynieren nennen. Im Flynieren rücken multiperspektivische selbstreflexive Momente ebenso wie die körperliche Erfahrungsebene historisch-narrativer Raumwahrnehmung in den Vordergrund. Vor welchem technischen und wahrnehmungsdispositorischen Hintergrund gestaltet sich ein solches flynierendes Erzählen? GPS-Panoptismus In einem GPS-walk wird das Lesen digital verfasster Spuren, die auf den aktuellen Ort mittels Satelliten projiziert werden, nicht nur zur Bedingung einer historisch-narrativen Raumerfahrung, sondern unter Umständen zum überwachungstechnischen Verhängnis. Denn GPS-walks unterliegen technisch-medialen Bedingungen, die letztlich totalisierend sind, ermöglicht doch die GPS-Technologie, Bewegungen nachträglich nachvollziehbar und damit kontrollierbar zu

 61 Auch wenn sich nicht nur der Name, sondern auch die Schreibweise ähneln: Dies ist die einzige Gemeinsamkeit zwischen LIGNA und der zuvor besprochenen Performancegruppe SIGNA. Verwisch die Spuren! Flanieren in Berlin fand im September 2010 in Berlin Mitte statt.

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 machen. Mit dem GPS hinterlassen die Teilnehmerinnen eine digitale Spur, anhand derer die Gehbewegungen Schritt für Schritt rekonstruiert werden können. Im Suchen und Folgen einer Spur wird man selbst zum potentiell Verfolgten. Die bekannte de Certeausche Dichotomie zwischen einerseits einem distanziert voyeuristischen und totalisierenden Kontrollblick, der sich in der Vogelperspektive herstellt, und andererseits dessen Subversion in der Praxis des Gehens, verstanden als eine „poetische und mythische Erfahrung des Raumes“62 – diese Dichotomie verliert im GPS-walk ihre Gültigkeit. Denn hier wird die Überwachung in die Gehpraxis eingespeist. Zugleich wird die Vogelperspektive Teil der poetischen, immer schon narrativ aufgeladenen Geherfahrung in der Stadt, wie ich in Hinblick auf LIGNAS walk zeigen möchte. Wie lässt sich die Überwachung hintergehen? Wie lassen sich die eigens gelegten Spuren verwischen? „Verwisch die Spuren!“ – Das Zitat aus Bertolt Brechts Lesebuch für Städtebewohner ist nicht nur Projekttitel, sondern wird von LIGNA auch als Imperativ eingesetzt, der den Teilnehmern während des walks wiederholt und mit stimmlichem Nachdruck in die Kopfhörer gespielt wird und mich unentwegt an die Tatsache erinnert, dass die eigenen Bewegungen mit einem tragbaren Internetgerät in der Tasche aufgezeichnet werden und dass ein umherschweifendes Sich-Verlieren unter solchen Bedingungen kaum noch möglich ist. Brechts Aufforderungen aus dem Jahr 1926, die eigenen Spuren zu verwischen, indem man sich „mit zugeknöpfter Jacke“ 63 oder mit einem tief ins Gesicht gezogenen Hut durch die Stadt bewegt, wirken unter den technologischen Vorzeichen des beginnenden 21. Jahrhunderts allenfalls wie gutgemeinte Ratschläge. In der ‚2.0-Version des Flanierens‘ kann man streng genommen nicht verloren gehen – und folglich kaum mehr unerkannt bleiben. Der inhaltliche Ausgangspunkt von LIGNAS walk ist es also, nicht nur dialektische Bilder an Ort und Stelle durch chronotopische Überblendungen wahrnehmbar zu machen, sondern zugleich das eigene Verfolgtwerden stets mit zu reflektieren und dabei Taktiken zu erproben, mittels derer man den digitalen Aufzeichnungstechniken entkommen kann. LIGNA erschaffen dabei eine Form urbaner Spurensuche, die einen panoptischen Blick von oben immer schon internalisiert, ohne dabei totalisierend zu sein, da die technisch-mediale Apparatur, welche das Flynieren ermöglicht, samt deren Wahrnehmungs- und Kontrollmechanismen selbstreferenziell und kritisch mitreflektiert werden.

 62 DE CERTEAU: Kunst des Handelns, S. 182. 63 BRECHT: „Lesebuch für Städtebewohner“, S. 157.

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 Rein- und Rauszoomen: Somatik des Flynierens Für Verwisch die Spuren! haben sich LIGNA den „historisch überdeterminiert[en]“ 64 Ort und damit das ideale Flaniergebiet Berlin Mitte zwischen Alexanderplatz und dem Berliner Dom ausgesucht. Zur Zeit der Projektrealisierung befinden sich große Teile dieses Gebietes im Schwellenzustand. Im urbanen Brachland, wo einst das Berliner Stadtschloss und der Palast der Republik empor ragten, wo Marx und Engels in Bronze gegossen mehrfach ihren Standort wechseln mussten und wo das Humboldtforum als Nachbau des Berliner Schlosses in nächster Zukunft entstehen soll – jene temporäre architektonische Leerstelle nutzen LIGNA, um hier eine schier undurchdringliche Vielzahl von Vergangenheiten und möglichen Zukünften auferstehen zu lassen und diese in Form einer durch die Kopfhörer dirigierten Bewegungs-Choreografie vor Ort erfahrbar zu machen. Im Vergleich zu plan b’s GPS-walk Fortysomething sind die Spuren von LIGNA extrem dicht arrangiert. LIGNAS walk erfordert keine weitreichenden Spaziergänge. Stattdessen verweilt man länger in einer lokal begrenzten Empfangszone und wird darin mit einer Vielzahl unterschiedlichster Spuren konfrontiert. Meine lokalen Bewegungen führen mich durch hierarchielos nebeneinander liegende, große historische Zeitspannen und Parallelgeschichten: durch die Stadtgeschichte, Nationalgeschichte, Architekturgeschichte, Politikgeschichte und durch Traumgeschichten. Der walk führt mich in Geschichten über das koloniale Deutschland, über die Novemberrevolution von 1918, über Preußen im 15. Jahrhundert, über die Judenverfolgung im Nationalsozialismus, über LPG-Aufstände kämpfender Bauern, mittelalterliche Märkte, napoleonische Schlachten bis hin zu Zukunftsvisionen über Berlin in viertausend Jahren. Hinzu kommen Bewegungs- und Handlungsanweisungen, Kommentare und Reflexionen über die eigenen Bewegungen („Spazierengehen ist wie das Gehen und mehr als jedes andere Gehen zugleich ein Sich-Gehen-Lassen“) und über deren Wahrnehmung („Spüren Sie Ihre Zehen, wenn Sie den Fuß heben?“).65 Während ich den Erzählungen lausche, werde ich aufgefordert, zu tasten, zu laufen, rückwärts zu gehen, mich zu verstecken, von einer Bank zur nächsten zu springen, auf einem Mülleimer zu trommeln, mich ins Gras zu legen, mir die Grashalme von unten anzusehen, Treppen auf- und abzulaufen und damit die Perspektive auf das

 64 LIGNA: http://www.ligna.blogspot.com/2010/08/ligna-verwisch-die-spuren-flanierenin.html, letzter Zugriff: 25. Juli 2013. 65 Die Zitate wurden stichpunktartig während des walks dokumentiert und im Nachhinein mit LIGNAS Audio-Material auf der Projektwebseite abgeglichen und vervollständigt: http://www.dradio-ortung.de/ligna.html, letzter Zugriff: 24. Juli 2013.

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 jeweils Erzählte laufend zu verändern. Dies ist kein Flanieren, bei dem man eine Schildkröte spazieren führt, wie Benjamin das Tempo des Flanierens in den Pariser Passagen des 19. Jahrhunderts beschrieben hat.66 Auch wenn sich das Müßiggehen, das LIGNA ermöglichen, einer alltäglichen Zweckgerichtetheit entzieht und ich punktuell zum Innehalten veranlasst werde, werde ich doch zugleich mit einem enormen, teils überfordernden Aktionsangebot konfrontiert, das mich dazu auffordert, die aufgespürten Audio-Spuren aus verschiedensten raum-körperlichen Perspektiven zu rezipieren. LIGNAS Projekt kreist um zwei Hauptthemen, die mich durch den gesamten walk begleiten: das Thema der Flanerie und das der Überwachung, deren Bindeglieder das Spurensuchen und Spurenhinterlassen bilden. So erinnert mich eine Stimme vor dem S-Bahnhof Alexanderplatz: „Mit dem Mobiltelefon ziehen Sie eine Datenspur durch den Raum“, und eine weitere fügt hinzu: „Sie müssen gar nicht mehr im Raum verfolgt werden. In ihrer zwecklosen Bewegung werden Sie verdächtig“. Zugleich wird mein eigener Gang in den Auftrag einer Spurensuche gestellt: „Flanieren ist eine Lektüre der Straße. [...] Lies sie!“ Am Spreeufer auf der Museumsinsel entgegnen mir zwei weitere Stimmen im Wechsel: „Wohin Sie sich auch wenden: Ihre Bewegungen werden aufgezeichnet“, „Ihre statistischen Daten machen das Verhalten der Menschen vorhersehbar“, „Mit welcher Geste“, werde ich auffordernd gefragt, „würde das Unvorhersehbare in den Raum einkehren?“ Eine Antwort darauf wurde mir bereits am Fernsehturm gegeben: Die subversive Geste zur Bekämpfung kontrollierender Vorhersehbarkeit liegt, so LIGNAS Vorschlag, in der Tätigkeit des Flanierens selbst: „Der Flaneur sucht Spuren, um in Erfahrung zu bringen, wie sich die Spuren verwischen lassen“. „Verwisch die Spuren!“, lautet mein wiederholt formulierter, aber zunächst unspezifischer Auftrag, der, so erfahre ich eine halbe Stunde später vor dem Roten Rathaus, vor allem beinhaltet, meine Aufmerksamkeit auf die Erfahrungsebene meines Gehens zu richten: „Auch wenn jede Ihrer Bewegungen in dem geodätischen Raster aufgezeichnet wird“, erklärt mir eine Stimme, „ihre Erfahrungen im Stadtraum bleiben unsichtbar. Sie lassen sich weder mit trigonometrischen Punkten noch mit GPS verorten.“ Die Art des Flanierens, die LIGNA zum Durchleben anbieten, ist eine Meta-Flanerie, ein Flynieren, bei der eine Reflexivität in Bezug auf das eigene Tun und Empfinden sowie über das Bewusstsein einer eigenen Sichtbarkeit im virtuellen und im aktuellen Raum Teil der Geherfahrung werden. „Erlebe im

 66 „1839 war es elegant, beim Promenieren eine Schildkröte mit sich zu führen. Das gibt einem einen Begriff vom Tempo des Flanierens in den Passagen.“ BENJAMIN: Das Passagen-Werk, S. 532.

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 Vorübergehen die Geschichten von ein paar Dutzend Straßen“, flüstert mir eine Stimme in der Nähe des Fernsehturms zu und artikuliert hiermit zugleich jene metareflexive Flanier-Haltung, die den gesamten walk durchzieht. Dieser entspricht keiner archäologischen Ausgrabung, sondern hier werden Spuren in einem temporeichen Vorbeilaufen und Vorbeiziehen gelesen, in einem kurzen und dennoch nicht weniger intensiven Rein- und Rauszoomen an Details und Oberflächen. Auch auf der Ebene des Gehörten wird man in LIGNAS walk in Bewegung gehalten. Die Aufforderungen der Stimmen verführen mich und halten mich zugleich auf Distanz. Mal siezen mich die Stimmen, mal duzen sie mich, mal laden sie mich ein, mal scheuchen sie mich davon. In ihrer Anzahl unbestimmbar und in ihrer Erscheinung charakter- und körperlos erscheinen die Stimmen als perfekte Materialisierungen der von LIGNA inszenierten Spuren als Spuren, reflektieren diese Stimmen doch auf einer akustischen Ebene die paradoxe Ontologie der Spur, zugleich an- und abwesend, bestimmbar und unbestimmbar zu sein. So passiert es mir wiederholt, dass ich mich nach einer Person umdrehe, die ich direkt hinter mir sprechen zu hören meine, hinter mir jedoch niemanden finden kann. Geschuldet sind diese geisterhaften Effekte zudem der teils schwindelerregenden Räumlichkeit, die sich durch die von LIGNAS verwendete Aufnahmetechnik herstellt. Nur die wenigsten Clips enthalten historisches O-TonMaterial, sondern sie bestehen vornehmlich aus von LIGNA zusammengetragenen und weitergeschriebenen Zitatfragmenten und Textschnipseln,67 die direkt an dem jeweiligen Ort um den Alexanderplatz von Schauspielern des Deutschen Theaters gelesen und mit Kunstkopf-Aufnahmetechnik aufgenommen wurden. Dadurch wird es möglich, das Aufgenommene so zu hören, als würde es aktuell um einen herum geschehen. Im walk überlagern und vermengen sich folglich aufgenommene Straßengeräusche mit den Geräuschen meiner aktuellen Umgebung. Die einzelnen Sätze von LIGNAS Texten werden dabei zügig im Schlagabtausch gelesen. Teilweise werden Satzteile oder Wortketten unter mehreren Stimmen aufgeteilt und erzeugen dabei für mich als Hörerin eine Art WurfEffekt, bei dem die Stimmen von Ohr zu Ohr wandern oder aus der Ferne rufen. LIGNAS walk ermöglicht eine Flaniererfahrung, die auf eine verstärkte Körperwahrnehmung abzielt. Auch wenn ich mich dazu entschließe, einigen der

 67 LIGNAS Texte funktionieren dabei ähnlich wie die Benjaminschen Passagen-WerkFragmente: Als eine Sammlung aus Zitaten sowie deren Fortschreibungen und Kommentierungen. Der gesamte walk lässt sich damit als ein zeitgemäßes, digital-textuell und körperlich zu durchlebendes Kommentar auf Benjamins Passgen-Werk interpretieren.

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 Bewegungsanweisungen nicht zu folgen, bringt der walk mich dennoch dazu, mich mit der eigenen Fortbewegung auseinanderzusetzen und eine Sensibilität für die eigenen Bewegungen zu entwickeln, wie eine Stimme mir zuflüstert: „Man fällt von einem Fuß auf den anderen und balanciert diesen Vorgang.“ Das Gehen wird als dreidimensionales Körpererlebnis zwischen Fallen und Austarieren spürbar, das mich zugleich in vielfältige Zeitdimensionen fortträgt und damit eine geometrische Räumlichkeit auflöst: Mit jedem Schritt scheine ich in eine andere Zeit einzutreten. Wie in einem Computerspiel bin ich ständig in Bewegung, tauche punktuell in Informationen ein, in neue historische und fingierte Räume, lasse sogleich die erzählten Geschichten im Schnelldurchlauf an mir vorbeiziehen, ‚überspringe‘ die Stadtmitte Berlins und stecke dabei doch mittendrin im Erleben und narrativen Kombinieren ihrer Spuren. Diese Art des Flanierens ermöglicht nicht nur, historisch-narrative Resonanzen einer Stadt zu erleben, sondern man entwickelt zugleich eine sensible Metaperspektive auf eine körperliche Involviertheit in das vibrierende urbane Historienfeld. Was LIGNA in ihrem walk forcieren, ist eine Sensibilisierung für die Somatik und Kinesis einer raumkonstitutiven Vergangenheitserfahrung. Der ‚Blick von oben‘, die von LIGNA sprachlich explizierte Selbstreflexion, stellt hier keine Opposition zum Geschichten-Erlebnis der Stadt im Gehen ‚von unten‘ dar. Beide verschmelzen in einer körperlichen Reflexion beziehungsweise einer selbstreflexiven Körperlichkeit. Beide werden Teil der eigenen narrativ aufgeladenen Fortbewegung – das Flanieren wird zu einem Flynieren. Bewegliche Erzählarchitektur LIGNAS Stadtraum ist damit entgeometrisiert. Die europäische bürgerliche Stadt mit einem Stadtkern aus Marktplatz und Kirche hat sich aufgelöst, wie man in vielen Audio-Clips immer wieder explizit erfährt. Den restaurativen Bestrebungen der Berliner Politik, eine solche Geometrie durch den Wiederaufbau des Berliner Schlosses zu rekonstruieren, setzen LIGNA einen alternativen Raum entgegen. Dabei räumen sie einer Historizität und Virtualität, die jedem Raumerlebnis inhärent sind, bewusst Platz ein.68 Die Umgebung löst dabei ihre scheinbare physikalische Festigkeit auf und wird – mit Vilém Flussers Zukunftsvision

 68 Wie Hermann Doetsch in Rekurs auf Jaques Lacan betont hat, beinhaltet „die Konstruktion des Raumes einen symbolischen Aspekt und insbesondere einen virtuellen Charakter [...]. Wenn wir von Orten sprechen, sprechen wir also nicht von etwas, das einfach da und nicht anderswo ist, sondern von einem Gefüge realer virtueller Räumlichkeit und deren symbolischen Substitutionen.“ DOETSCH: „Körperliche, technische und mediale Räume“, S. 202.

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 aus dem Jahr 1991 gesprochen, die 2010 bei LIGNA eine Realisierung findet – zu einer dehnbaren Haut: „‚Raum‘ hat nicht mehr ein Gerüst zu sein, innerhalb dessen sich Leben ereignet, oder ein Skelett, auf das sich das Leben stützt, um nicht zu zerfließen. Eher hat ‚Raum‘ eine lebende Haut zu sein, die Informationen aufnimmt, sie speichert, verarbeitet, um sie weiterzugeben.“69 Im Flynieren löst sich der Raum vom Boden. Anstelle einer distanzierten Draufsicht wird der Blick von oben Teil der Innenperspektive. In einem solchen Raum dominieren Schnittflächen statt Grenzen: „Da wir bisher Raum vom Boden her, also geometrisch, erlebt und verstanden haben“, fährt Flusser fort, „war bisher das Merkmal alles Räumlichen die Definition, die Grenze. Und jetzt, da wir den Raum von innen her, also topologisch, zu erleben und zu verstehen beginnen, wird das Merkmal alles Räumlichen das Überschneiden, das Überdecken, das Ineinandergreifen werden.“70 In den GPS-walks allgemein haben wir es mit einer beweglichen Erzählarchitektur zu tun. Auch die hier entstehenden Erzählungen lassen sich nicht distanziert analysieren als wären sie ein fertiges Gerüst, das sich von oben beschauen ließe. Das Erzähl-Gerüst bleibt stets modifizierbar und entsteht überhaupt nur, sofern es erzählhandelnd in der eigenen Fortbewegung konstruiert und erlebt wird. LIGNA stellen diese Innenansicht selbstreflexiv aus. Die Sensibilisierung für die eigenen Körperbewegungen wird zum fundamentalen Bestandteil jener biegsamen narrativen Topologie, die LIGNAS walk ermöglicht. Den Raum ‚von innen‘ her zu erleben, heißt dabei, ihn mit seinen potentiell darin vollzogenen Handlungen und folglich mit seinen Geschichten, faktischen wie fiktionalen, zu erleben. Das Narrative erweist sich hierin als Motor einer steten Raumverschiebung und Raum(ver)formung oder um es mit Gilles Deleuze’ und Félix Guattaris berühmter Terminologie auszudrücken: Die durch die Raum-ZeitÜberblendungen ausgelösten narrativen Prozesse veranlassen, die Stadt, welche als gekerbter, das heißt sesshafter, territorialisierter Raum schlechthin gilt, in ein Grenzland zwischen nomadisierender Glättung und erneuter Kerbung zu verwandeln und die eigene körperliche Involviertheit als Bedingung jeglicher (narrativer) Territorialisierungsprozesse wahrzunehmen.71

 69 FLUSSER: „Räume“, S. 282f. 70 Ebd., S. 284. 71 Vgl. DELEUZE und GUATTARI: Tausend Plateaus, S. 658-694, insbesondere S. 658 und S. 666-669.

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 3.2 B EWEGUNG – E RZÄHLEN – M APPING  Taktile chronotopische Karten Die in GPS-walks hervorgebrachten Räume, in denen Raumerfahrung, Bewegung und Narration reziprok ineinander greifen, sind Karten und Bewegungserfahrung in einem. GPS-walks verwandeln Orte in ein Setting, das die Teilnehmer als eine taktile chronotopische Karte durchschreiten. Ähnlich wie in einer Google Earth-Karte, in der Orte herangezoomt und dort per Mausklick von usern auf abgelegten Bildern und Videos erkundet werden können, lösen die Gehbewegungen der Teilnehmerinnen von GPS-walks akustisch verfasste Informationen über das jeweilige Gebiet aus, die dort zuvor ‚abgelegt‘ wurden. Die im GPSwalk generierten Räume sind taktile chronotopische Karten, insofern vergangene und potentielle Ortsverwendungen als Spuren mittels GPS-Technologie an Ort und Stelle ‚eingezeichnet‘ – kartografiert – wurden. GPS-walks reflektieren damit ein Wahrnehmungsdispositiv, das sich mit der alltäglichen Verwendung digitaler und interaktiver Kartensysteme wie Google Earth und Google Street View etabliert hat. Dieses Wahrnehmungsdispositiv zeichnet sich durch eine Aufhebung der Opposition von Raumerfahrung und Aufzeichnung, von Innenund Außensicht aus. Ebenso wird die vermeintliche chronologische Reihenfolge von Ortserkundung und Niederschrift obsolet. Denn spätestens mit Google Street View ist es möglich geworden, Orte bereits virtuell anzufliegen, in sie einzutauchen und sie zu durchschreiten, bevor man sie ‚real‘ aufsucht. Am ‚realen‘ Ort begegnet man unter Umständen Erinnerungsspuren, die man während des vorherigen virtuellen Spaziergangs auf Google Street View am Ort hinterlassen hat und die in die Wahrnehmung des aktuellen Ortes mit einfließen. „Die digitale Schrift“, so heißt es in LIGNAS walk „hat sich in den Raum eingeschrieben“. GPS-walks stehen symptomatisch für eine Zeit, in der mittels tragbarem Internet Überlappungen von Zeit- und Realitätsebenen sowie ein multiperspektivisches Raus- und Reinzoomen an einen Ort zum Bestandteil (urbaner) Raumwahrnehmung geworden sind. Jeder Smartphone-Besitzer verschränkt seine körperlichen Bewegungen an einem Ort mit einer Surfbewegung in einer digitalen Karte, die zugleich mit jeder körperlichen Bewegung durch deren digitale Speicherung erweitert wird. In naher Zukunft wird es fast unmöglich sein, sich durch die Stadt zu bewegen, ohne mit ortsspezifischen Informationen und Konsumangeboten bombardiert zu werden, die jeweils auf mein ganz persönliches user-Profil zugeschnittenen sind, das auf der Grundlage meiner vorherigen und gespeicherten Aktivitäten erstellt und permanent aktualisiert wird.

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 Kartografieren als narrative Praktik In taktilen chronotopischen Karten, so die Ausgangsthese für meinen letzten Aspekt in diesem Kapitel, wird eine narrative Dimension virulent. Eine narrative Qualität ist den digitalen, interaktiven Karten wie Google Earth dabei insofern inhärent, als sich hierin Spuren früherer Ortsverwendungen, das heißt früherer Handlungen und Geschehnisse vor Ort ‚anklicken‘ und lesen lassen. Ferner erscheint ein Großteil solcher Karten auch deshalb als narrativ, da der Karten-Entstehungsprozess selbst darin ausgestellt wird und als Erzählung rekonstruiert werden kann. Google Earth wächst von Tag zu Tag. Die in jenen Karten von Tausenden von Nutzern abgelegten Informationen wie Kommentare, Fotos, Erfahrungsberichte oder Bewertungen tragen ein Datum. Derartige Karten stellen kein fertiges Produkt dar. Vielmehr wird das mapping, die Praxis des Kartografierens, selbst zum grundlegenden Bestandteil einer Karte, die sich damit als unendlich erweiterbar erweist und die ihre eigene Entstehung ebenso wie die der Karte voraus gegangene Ortserkundung immer schon miterzählt. Das Narrative bildet dabei das konstitutive Bindeglied zwischen Ortserkundung, Raumerfahrung einerseits und der Karte als deren Dokumentation andererseits. Die taktilen chronotopischen Karten, mit denen wir es heute im digitalen Zeitalter zu tun haben, stellen in dieser Hinsicht Fortschreibungen vormoderner kartografischer Techniken unter neuen medienhistorischen Vorzeichen dar. Wie de Certeau in Rekurs auf vormoderne kartografische Praktiken in Europa, Südamerika und Japan gezeigt hat, enthielten jene Karten zum Beispiel Entfernungsangaben über die zurückgelegte Gehzeit, malerische Beschreibungen des Weges oder „bildliche Darstellungen der im Verlaufe der Reise vorgekommenen Ereignisse“, beispielsweise in Form von „Pausen, Kämpf[en], Fluß- oder Gebirgsüberquerungen“.72 Mit der Entstehung des modernen wissenschaftlichen Diskurses seit dem 15. Jahrhundert wandelte sich die kartografische Praxis. Das „Wegtagebuch“ oder das „Geschichtsbuch“73 verschwanden und wurden von der geografischen Karte abgelöst. Waren den vormodernen Karten die Entstehungsbedingungen in Form bildlicher oder schriftlicher Erzählungen eingeschrieben, galt es in der modernen kartografischen Praxis genau jene in der Nacherzählung mittransportierte und vermittelte Handlungs- und Erfahrungsebene zu eliminieren. Dies ändert sich in den Karten des 21. Jahrhunderts. Ortserkundungen und deren Raumerfahrung werden hier nicht vertuscht, sondern in Form eines Dokuments (Fotografie, Video oder Erfahrungsbericht), das einen zeitlichen Abstand zwischen Entstehung und Kartenrezeption markiert, ausgestellt. Auf jene Karten

 72 DE CERTEAU: Kunst des Handelns, S. 223f. 73 JANET, zitiert nach: ebd.

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 trifft zu, was de Certeau für die „‚narrativen‘ Figuren“ in den Bilderzählungen der Karten des 15. Jahrhunderts geltend gemacht hat: „Weit davon entfernt, ‚Illustrationen‘ oder bildliche Kommentare zu sein, bezeichnen diese Abbildungen wie die Bruchstücke von Erzählungen auf der Karte die historischen Aktivitäten, aus denen [die Karte] hervorgegangen ist.“74 Gleichwohl bauen die interaktiven Karten des 21. Jahrhunderts auf einem geografischen Wissen von der Welt auf und tragen eine hiermit verbundene Geometrisierung und Kolonisierung des Raums stets in sich. So zeigt Google Earth, je nach gewählter Perspektive, das vertraute Bild des Erdglobus’ ebenso wie bekannte Straßen- und Landkarten. Durch die Möglichkeit des ‚Eintauchens‘ in die abfotografierten Straßen der Welt, in welcher der Zeitpunkt ihrer visuellen Aufnahme geisterhaft still steht, hat sich jedoch ein raumbezogenes Wahrnehmungsdispositiv entscheidend verändert. Die neuen kartografischen Techniken stellen eine perspektivenverschiebende Überschreibung geografischer Karten in einem teils entgeografisierten Modus dar. Dieser ermöglicht es, Ortsverwendungen und Raumerfahrungen trotz eines internalisierten geografischen Blicks auf die Welt nicht zu verleugnen, sondern zu einem grundlegenden Teil der Karte werden zu lassen. Wesentlicher Bestandteil jener entgeografisierten Überschreibung geografischer Karten ist, so meine These für das Folgende, eine narrative Dimension. Genau hierauf zielen viele derzeitige künstlerische mapping-Praktiken. Im Umfeld der performativen Künste der Jahrtausendwende lässt sich eine Vielzahl künstlerischer Auseinandersetzungen mit kartografischen Prozessen beobachten, in denen besonders auf eine Narrativität des Kartografierens abgehoben wird. Experimentiert wird dabei mit dem subversiven Potential narrativ-kartografischer Überschreibungen von etablierten Raumordnungen. Hatte de Certeau zu Beginn der 1980er Jahre das Verschwinden der „Beschreiber von Wegstrecken“75 in der kartografischen Praxis der modernen Wissenschaft beklagt, lassen die künstlerischen Kartografie-Experimente der Nullerjahre jene Beschreiber wieder auferstehen. Als Abschluss des vorliegenden Kapitels über das Verhältnis von Bewegung, Raum und Narration möchte ich mein Augenmerk auf solche künstlerischen Gehexperimente richten, in denen weniger das Spurensuchen, wie in den zuvor behandelten Audio-walks, sondern das bewusste Spurenhinterlassen als narrativ-kartografischer Prozess in Szene gesetzt wird.

 74 Die beiden letzten Zitate: ebd., S. 224. 75 Ebd., S. 225.

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 Kartografisches Tagebuch alltäglicher Wegstrecken Im Jahr 2003 begann Daniel Belasco Rogers von plan b jede von ihm hinterlassene Wegstrecke mit einem GPS-Gerät aufzuzeichnen. 2007 folgte ihm seine Partnerin Sophia New. Wohin auch immer das Duo seither gegangen, geradelt, gefahren oder geflogen ist: das GPS, sofern es Satellitenempfang hat, speichert jede Bewegung und macht sie nachvollziehbar. Das gesammelte Datenmaterial wurde seither in einer Reihe von Projekten auf verschiedenste Weise künstlerisch weiterverarbeitet. Daniel Belasco Rogers hat seine Wegstrecken vor allem in Form von Drucken, sogenannten Giclée präsentiert. Die gespeicherten Bewegungen werden hierbei in Form schwarzer, auf weiße Papierbögen gedruckter Linien visualisiert. Es entsteht ein GPS drawing. 76 Jede persönliche Bewegungskarte, die Belasco Rogers auf diese Weise von einem bestimmten Zeitraum in einer bestimmten Stadt herstellt, ähnelt einem filigranen baumartigen Geäst, in dem hochfrequentierte Wegstrecken als mehrfach überschriebene Linien wie dicke Baumstämme erscheinen, während weniger benutzte Wege kleine Äste aus dünnen Linien ergeben. Die GPS drawings stellen autobiografische Karten dar, in denen das Kartografieren in seiner ursprünglichen Form realisiert wird: als ein Ritzen und Zeichnen auf Papier (charta, lateinisch für Papierblatt; gráfëin, griechisch für zeichnen, aufzeichnen, beschreiben, ritzen). 77 Die Niederschrift der Bewegungen wird zur Zeichnung. Wie Belasco Rogers ausführt: „My intention is to develop a sense of the drawing I am making across the surface of the earth with my body every time I move.“78 Eine autobiografisch-narrative Qualität erhalten die GPS drawings in ihren Ausstellungen vor allem in Relation zu ihren Bildunterschriften, welche die zunächst abstrakt anmutenden Drucke als Dokumente einer vollzogenen Bewegung ausweisen. Unterschriften wie „the drawing of my life (2003 – )“, „seven

 76 Daniel Belasco Rogers hat seine GPS drawings im Rahmen verschiedenster Gruppenausstellungen präsentiert, u.a. in Berlin, Aberdeen, Nottingham, Basel und São Paolo sowie im Rahmen von plan b’s Soloausstellung in der Galerie Art Laboratory Berlin, 2012. 77 Vgl. Duden. Das große Fremdwörterbuch, Eintrag „Grafie“, S. 521 sowie Eintrag „Karto“ und „Kartograf, Kartograph“, S. 697. 78 Dieses Zitat sowie die folgenden Zitate: http://www.planbperformance.net/index.php= id=danmapping, letzter Zugriff: 24. Juli 2013. In einer weiteren Version solcher Drucke verwendet Belasco Rogers Plexiglas, in das er die Wege einer bestimmten Periode einritzt. Die Tiefe der Kerbung indiziert dabei die Häufigkeit der benutzten Wegstrecke.

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 year drawing london 2003 – 2009“ oder „six year drawing berlin 2003 – 2008“ rahmen die Zeichnungen als Aufzeichnungen und animieren sogleich die Betrachterinnen dazu, die abgedruckten Linien als Spuren von Bewegungen visuell ‚nachzugehen‘. Die Zeichnungen werden häufig in chronologischer Reihenfolge angeordnet: „one year drawing berlin 2007“ hängt neben „one year drawing berlin 2008,“ das neben „one year drawing berlin 2009“ hängt usw. Diese Hängung verleiht der Rezeption einen Rhythmus, der wiederum dazu veranlasst, die Karten in ein biografisches Verhältnis zueinander zu bringen. Obgleich die Linien als Spuren von Bewegungen keine Pausen ausweisen, erlauben die in der Hängung inszenierten zeitlichen Zäsuren im Jahresabstand, die fortwährenden Bewegungen mit Zwischenstopps zu versehen. Dadurch entstehen vorläufige Enden – biografische Evaluationspunkte – und erneute Anfänge, die für die Konfiguration einer Biografie zentral sind.79 Der zwischen den einzelnen Karten entstehende Zwischenraum unterbricht den linearen Gang entlang der chronologischen Hängung. Man hält inne, geht wieder zurück und erneut vorwärts, springt zwischen den Jahren hin und her, um die leicht differierenden Karten untereinander in Beziehung zu setzen und damit die mit jährlichen Wendepunkten versehenen Bewegungsnotationen als Biografie zu entwerfen. Obgleich in diesen Karten nichts Inhaltliches über biografisch relevante Lebensereignisse verkündet wird, verleitet der ermöglichte Vergleich der Karten untereinander, auf eventuelle Lebensumstände des Künstlers zu schließen. Erkennbar zum Beispiel wird, dass sich die Lebensmittelpunkte des Künstlers innerhalb der Stadt Berlins über die Jahre hinweg verschoben haben. Dicke, mehrfach überzeichnete Wegstrecken geben Auskunft über routinierte Alltagsbewegungen, die von Jahr zu Jahr ihren örtlichen Schwerpunkt verlagern. Wann ist Belasco Rogers umgezogen? Wo arbeitet er? Warum nimmt er in einem Jahr verstärkt diese und nicht, wie im letzten Jahr, jene Route? Belasco Rogers’ autobiografische Spurensammlungen fordern zu einer Verortung auf: Wo genau lassen sich hier Bewegungsanfänge und -enden ausmachen? Wo endet eine Reise und wo beginnt eine andere? Woher kommt er? Wohin geht er? Jeder Versuch einer Verortung, so wird hier deutlich, erfolgt nachträglich und setzt immer schon eine Abwesenheit voraus. Die Frage ‚Wo bin ich?‘ beinhaltet, „daß ich nicht schlichtweg dort bin, wo ich bin“,80 wie Bernhard Waldenfels betont hat. Die Beantwortung dieser Frage muss letztlich narrativ erfolgen, da sie die Frage

 79 Vgl. BRUNER: „Self-making and world-making“, S. 29. Vgl. auch Kapitel IV/2.1, Abschnitt „Sammeln als narrative (Selbst-)Praktik“ und Kapitel IV/3, Abschnitt „(Auto-)Biografie als Wahrnehmungsmuster“. 80 WALDENFELS: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen, S. 48.

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 ‚Wie bin ich hierher gekommen?‘ immer schon mit einschließt. Mag Belasco Rogers seine außergewöhnliche Autobiografie zunächst nur auf eine Ansammlung dünner Linien beschränken, so fordern die fein gezeichneten Karten immer wieder dazu auf, sie nachträglich erzählend mit Leben zu füllen, aus dem sie selbst als Spuren hervorgegangen sind.



Abbildung 7: Daniel Belasco Rogers: one year drawing berlin 2006

          Foto: plan b (Sophia New und Daniel Belasco Rogers).

 Abbildung 8: Daniel Belasco Rogers: one year drawing berlin 2007

          Foto: plan b (Sophia New und Daniel Belasco Rogers).

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 Abbildung 9: Daniel Belasco Rogers: one year drawing berlin 2008

          Foto: plan b (Sophia New und Daniel Belasco Rogers).

Eine weitere künstlerische Inszenierung eines Nachvollzugs der mittels GPSTechnologie aufgezeichneten Spuren realisierten plan b in ihrer Performance The re-drawing of everywhere we’ve been in Berlin since 2007, die 2011 im Berliner Haus der Kulturen der Welt mit Unterbrechungen und über mehrere Tage hinweg aufgeführt wurde.81 Was in den Ausstellungen von Belasco Rogers auf den Papierkarten bereits vollzogen ist, nämlich der Akt des Zeichnens, wurde in der Performance des Künstlerpaars in eine mehrtägige Aktion überführt. Dafür wurden die über Jahre hinweg gespeicherten Bewegungen von New und Belasco Rogers getrennt voneinander von zwei Videoprojektoren auf zwei nebeneinander gehängte, weiße Papierflächen projiziert. Auf der einen Fläche erschienen entsprechend News Bewegungen, auf der anderen die von Belasco Rogers. Anstelle jedoch zweier fertiger GPS drawings, warfen die Projektoren jeweils eine computeranimierte fortlaufende Linie auf die Papierflächen, welche die jeweilige individuelle Wegstrecke der vergangenen Jahre digital nachzeichnete. Während der Performance konnte man die Künstler dabei beobachten, wie sie entlang der projizierten und animierten Linien ihre alltäglichen Bewegungen durch die Stadt auf ihrem jeweiligen Papierbogen mit einem Bleistift sozusagen ‚Schritt für Schritt‘ zeichnend erneut nach(voll)zogen und dabei zwei individuelle und doch in enger Relation stehende kartografische Tagebücher entstehen ließen. Zugleich

 81 Die Performance wurde im Rahmen der von Miles Chalcraft und Anette Schäfer kuratierten Ausstellung Tracing Mobility im Haus der Kulturen der Welt, Berlin 2011, gezeigt.

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 wurden mit jedem weiteren Strich auf der Papierfläche Teile der Geografie von Berlin erkennbar. Zumindest für den Kenner des Berliner Stadtplans wurde nach und nach die Optik bekannter Straßenzüge und Plätze sichtbar. Im mehrfachen Nachzeichnen bestimmter, während der Jahre genutzter Straßen, U- und S-Bahnstrecken jedoch wucherte das während der Performance entstehende geometrische Stadtbild über sich selbst hinaus. Die individuellen Wegstrecken, die hier über eine Stadtplan-Optik geschrieben wurden, transformierten und verfremdeten die Geografie eines normierten Stadtraums. Anstelle des Letzteren wurde der gemeinsam geteilte Lebensraum eines Paares erkennbar, dessen fast immer parallel beschrittene Wegstrecken im Akt des Re-Kartografierens als biografische Beziehungsgeschichten wahrnehmbar wurden. Abbildung 10: plan b: The re-drawing of everywhere we’ve been in Berlin since 2007 (2011)

Foto: plan b (Sophia New und Daniel Belasco Rogers).

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 Narrating Our Lines Das Videoprojekt Narrating Our Lines82 stellt einen weiteren Versuch von plan b dar, die gespeicherten und bereits in digitale Linien übertragenen, persönlichen Wegstrecken erneut zu animieren. In dem Videoprojekt wird der Akt des persönlichen Erinnerns, der sich im Prozess des Nachzeichnens der eigenen Wege vollzieht, in Form einer mündlichen Nacherzählung expliziert. Das Video zeigt zwei Einstellungen im Wechsel. In der ersten Einstellung sind zwei Monitore zu sehen, auf denen sich jeweils ein Punkt auf einem schwarzen Hintergrund bewegt und dabei eine weiße Linie hinter sich herzieht. Auch in diesem Projekt zeichnen die Linien die jeweiligen Bewegungen von New auf dem einen Monitor und von Belasco Rogers auf dem anderen Monitor nach. In der zweiten Einstellung sieht man das Künstlerpaar nebeneinander sitzend und auf die Monitore blickend. Entlang der nachgezeichneten Wegstrecken des Jahres 2007, die vor ihnen auf den Monitoren sichtbar werden, versuchen New und Belasco Rogers die zu den jeweiligen Linienbewegungen dazugehörigen Geschehnisse ihres gemeinsamen beruflichen und privaten Lebens mit ihrer kleinen Tochter in einem Schnelldurchlauf als mündliche Nacherzählung zu rekonstruieren. In dem einstündigen Video entspinnt sich ein lebendiger Dialog, in dem New und Belasco Rogers versuchen, sich gegenseitig ihre Erinnerungslücken aufzufüllen. Obgleich die in der ersten Einstellung auf den Monitoren sichtbaren Linien – die beiden Wegstrecken der Künstler aus dem Jahr 2007 – in chronologischer Reihenfolge über die schwarze Fläche brausen und ein gewisses Tempo vorgeben (eine im oberen Drittel in Digitalzahlen eingeblendete time line visualisiert den Zeitraffer), erfolgen die Nacherzählungen von New und Belasco Rogers keineswegs entlang dieser Linien. Ihre Erzählungen hinken nach oder preschen voraus; sie holen aus und überspringen. Teilweise überlagern sich Episoden, wenn zum Beispiel Belasco Rogers noch eine Anekdote über das gemeinsame Weihnachtsfest mit Freunden in England zu Ende bringen will, während New bereits aufgrund des Richtungswechsels der Linien auf dem Monitor eine neue Episode zu erzählen beginnt. Episodenwechsel ergeben sich vor allem in den Momenten, in denen die Linien selbst große Sprünge machen oder Unterbrechungen durch technisch bedingte Empfangslücken aufweisen, etwa während eines Fluges von Berlin nach Frankfurt – „Oh now we are in Frankfurt! And that was because we

 82 Das Video Narrating Our Lines präsentieren plan b häufig im Rahmen ihrer gleichnamigen Lecture Performance. Erstmals gezeigt wurde das Video als Teil einer Lecture Performance in der Gallery Rom 8/National Academy of the Arts in Bergen (Norwegen) im Oktober 2010.

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 went to Thomas’ birthday party...“,83 oder von Frankfurt nach Wien: „And then we went to Vienna straight away“, oder während einer Zugfahrt von Wien nach Graz, auf der die beiden Linien auf den Monitoren kurvige Schweife über die Bildfläche ziehen, durch Tunnelfahrten unterbrochen werden und schließlich wieder zur Ruhe kommen: „...and now we are in Graz“ erklärt Belasco Rogers und New kommentiert: „That was all a bit quick wasn’t it?“. In Narrating Our Lines wird die Karte dem Papier entledigt und in gleich mehrere Prozesse überführt. Das Aufzeichnen wird zur digital animierten Bewegungsspur und das Nachzeichnen dieser Aufzeichnung zum mündlichen Nacherzählen, das wiederum die animierte Spur auf dem Bildschirm als Karte, als Bewegungsspeicher, zuallererst erkennbar macht. Im Erzählen werden dabei Fakten, Erfahrungen und Empfindungen wiederholt und ebenso die Schwierigkeit zu erinnern thematisiert: „Where did we go again?“, „I can’t remember.“ Die Nacherzähler New und Belasco Rogers werden dabei zu Wiedergängern, deren aktuelle Wegstrecken eigene Hindernisse, nämlich Erinnerungslücken, aufweisen. Die Unfähigkeit zu erinnern und damit nachzuerzählen wird als Teilerfahrung des Erzählaktes immer schon mit ausgestellt und findet auf diese Weise Eingang in eine im Video entstehende flüchtige Karte. Was in der vormodernen Papierkarte zusammengefasst war, nämlich Aufzeichnung, Wegbeschreibung und Raumerfahrung, wird hier vereinzelt und in verschiedene zeitliche Schichten ausdifferenziert. Das Duo plan b, das besonders in diesem Projekt als „Beschreiber von Wegstrecken“ 84 in Erscheinung tritt, macht gerade in jener Ausdifferenzierung von Dokument, Nacherzählung und Bewegungsvollzug deutlich, dass lokale Handlungsvollzüge sowie deren narrative Konfigurationen immer schon implizite Teilaspekte eines jeden kartografischen Aktes darstellen, obgleich in den meisten Karten genau dieser Umstand verdeckt bleibt.



 83 Diese und folgende Zitate: http://www.planbperformance.net/in-dex.php?id=gps, letzter Zugriff: 24. Juli 2013. 84 DE CERTEAU: Kunst des Handelns, S. 225.



VI. Erzählereignisse „Adventures happen to people who know how to tell about them.“ HENRY JAMES

1



„Wie gegen eine endgültige Grenze anerzählen.“

2

HELMUT HEIßENBÜTTEL

 1. E RZÄHLEN

ÜBER

AUFFÜHRUNGEN

Die konstitutive Macht der narrativen Wiederholung Manchmal waren es nur vier oder fünf Zuschauer, erzählt die Performancekünstlerin Marina Abramoviü, die ihre frühen, nur selten mit Bildmaterial dokumentierten Performances zu Beginn der 1970er Jahre besuchten. Abramoviü zufolge führte dies zu einem Dilemma. Die mündlichen Weitererzählungen der Performances, die sich nach deren Beendigung ausbreiteten und oftmals deren einzige Dokumentationsform darstellten, verfälschten das, was sich während Abramoviü’ Darbietungen zugetragen hatte: „The unreliability of the [...] witnesses led to the total mystification and misrepresentation of the actual events. This created a huge space for projection and speculation“.3 Zugleich stellte das Weiter- und Nacherzählen die primäre Wissensform dar, durch die Abravomiü selbst von anderen Performancekünstlern außerhalb des damaligen sozialistischen Jugoslawiens erfuhr. Die Faszination, die Abramoviü in den frühen 1970er Jahren für Chris Burden, Vito Acconci, Terry Fox, Yvonne Rainer und viele andere entwickelte, war vornehmlich dem Hörensagen geschuldet: „[I]t was very difficult to

 1

JAMES, zitiert nach: BRUNER: „Self-making and world-making“, S. 26.

2

HEIßENBÜTTEL: „13 Sätze über Erzählen“, S. 62.

3

ABRAMOVIû: „Reenactment“, S. 10.

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 get information about performance events from abroad. [...] Most of the time, testimony was just word-of-mouth from witnesses who claimed they saw the performance or said that they knew somebody who had seen it.“4 Abramoviü, so ließe sich zuspitzen, verdankt ihre Karriere weniger den live miterlebten Momenten einer Aufführung, als vielmehr den wild grassierenden Erzählungen über Aufführungen. So waren es Erzählungen über die Performances ihrer Kollegen, die Abramoviü dazu inspirierten, ihre eigene künstlerische Arbeit auf eine ganz bestimmte Weise voranzutreiben. Und es waren ebenso Erzählungen, die letztlich eine Ausbreitung von Abramoviü’ Performances über eine Anzahl von vier oder fünf Zuschauern hinaus sicherten und ihr damit zum künstlerischen Erfolg verhalfen. Noch schneller und noch wirkungsmächtiger als die ‚performance energy‘, die Abramoviü’ Aufführungen immer wieder attestiert wird,5 scheint sich die Energie der Nacherzählung zu verbreiten. Die Stärke und zugleich die Crux dieser Energie der Nacherzählung liegt darin, dass sie die Differenz zur Energie der Performance, das heißt zu der ‚unmittelbaren Wirkung‘ der Aufführung, nachträglich zu verwischen droht. Oder wie lässt es sich sonst erklären, dass Abramoviü’ Performances ‚an sich‘ immer wieder so viel energiegeladene Wirkung zugeschrieben wird, wo wir doch über die meisten ihrer Performances nur nachträglich erfahren und damit, im Sinne Jacques Derridas, die Ereignisse der Aufführungen erst nachträglich zu dem machen, was sie vermeintlich ‚waren‘.6 Unser Wissen über Aufführungen resultiert zu einem Großteil aus Dokumentationen, das heißt aus mündlichen, schriftlichen, visuellen, akustischen oder gestischen Wiederholungen von Aufführungen in unterschiedlichsten Medien. Mündliche oder schriftliche Nacherzählungen stellen dabei eine spezifische Form der Wiederholung dar. Inwiefern, so möchte ich zunächst allgemein fragen, hat ein auf Wiederholung beruhendes Wissen eine Auswirkung auf die Wahrnehmung von Aufführungen im Moment ihres unwiederholbaren Vollzugs?

 4

Ebd., S. 9.

5

So zum Beispiel in Peggy Phelans Nacherzählung von Marina Abramoviü’ Performance The House with the Ocean View (New York, Sean Kelly Gallery, 15. bis 26. November 2002): „You. Me. The crowded room. The energy in that space. The weight of you hanging right there in front of my eyes. […] There I was, feeling the mounting energy seeing that energy […].“ PHELAN: „On Seeing the Invisible“, S. 23. Im Kontext der Performancekunst wurde der Begriff ‚Energie‘ vor allem in Bezug auf die Wirkung von Austauschprozessen zwischen Darstellern und Zuschauern während einer Aufführung virulent. Hierzu vgl. zusammenfassend: SCHRÖDL: „Energie“, S. 89.

6

Vgl. DERRIDA: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 23.

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 Inwieweit wirkt ein solches Wissen auf Aufführungen zurück, sofern es sich in die Wahrnehmung von Aufführungen einschreibt, die Wahrnehmung in actu strukturiert, diese bedingt? Um bei dem Beispiel von Marina Abramoviü zu bleiben: Wenn Abramoviü 2005 ihre Performance Lips of Thomas aus dem Jahr 1975 im New Yorker Guggenheim Museum im Rahmen ihrer ReenactmentReihe 7 Easy Pieces wiederholte, inwiefern wurde für die meisten, größtenteils in Performancegeschichte geschulten Zuschauer, denen die Performance Lips of Thomas hauptsächlich aus Dokumentationen bekannt gewesen sein dürfte, eine in jenen Dokumenten dargestellte und produzierte ‚Energie‘ selbst zu einem Teil der sich während des Reenactments ausbreitenden ‚Performance-Energie‘? Anders formuliert: Inwiefern war das aus Erzählungen und sonstigen Dokumentationen gewonnene Wissen über Abramoviü’ Performances im Reenactment mit anwesend und wirkte mit an der Energie, die unter anderem von den durch zahlreiche Fotografien berühmt gewordenen, abgrundtiefen Blicken der Künstlerin auszugehen schien? Die Tatsache, dass mündliche oder schriftliche Nacherzählungen über Aufführungen – ebenso wie jegliche Dokumentationsformen – selbstverständlich nicht identisch sind, mit dem, was sie sprachlich, bildlich oder gestisch vermitteln, dass weiterhin Aufführungen aufgrund ihrer Flüchtigkeit einmalig und unwiederbringlich sind und dass gerade die Performancekunst jene Flüchtigkeit durch die Provokation ungeplanter Momente immer wieder exponiert hat – all dies wurde von der Theaterwissenschaft und den Performance Studies immer wieder zu Recht betont: Aufführungen sind unwiederholbar, da sie sich ereignen.7 Und dennoch: Das Anliegen der vorliegenden Studie, in der es um narrative Praktiken in den performativen Künsten und um deren Wirkung und Wirkungsmacht geht, veranlasst zu einer kritischen Prüfung des häufig zu vorschnell als gegensätzlich erachteten Verhältnisses zwischen Aufführung und deren nachträglicher Erzählung. Wenn man der Wirkung vieler Nacherzählungen über künstlerische Aufführungen konsequent nachspürt, lässt sich – wie im Fall von Marina Abramoviü – eine Grenzlinie zwischen Aufführung und Erzählung nicht ohne weiteres ziehen. In den Nacherzählungen entsteht vielmehr ein undurchdringliches Geflecht aus (nachträglicher) Energie-Produktion, narrativer Vermittlung und Wahrnehmung der Aufführung. Ein Geflecht, das seiner Komplexi-

 7

Zur Flüchtigkeit von Aufführungen vgl. im anglo-amerikanischen Kontext v.a. PHELAN: Unmarked; BLAU: Take Up the Bodies. Vgl. im deutschsprachigen Raum v.a. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen; LEHMANN: Postdramatisches Theater; ROSELT: Phänomenologie des Theaters.

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 tät nach die Aufführung und deren Nacherzählung auf unentwirrbare Weise miteinander verstrickt. Dasjenige, wovon erzählt wird, das heißt ein qua Erzählen außerhalb der entstehenden Erzählung zu lokalisierendes Ereignis (hier: die Aufführung), wird in der Ereignishaftigkeit des Erzählens selbst auf jeweils ganz einmalige Weise erkennbar und erfahrbar gemacht. Unwiederholbarkeit ist auf Wiederholung angewiesen – eine Wiederholung, die sich wiederum selbst ereignet und damit unwiederholbar ist. Weder die Aufführung noch die nachträgliche Erzählung darüber gehen gänzlich in sich selbst auf, sondern bleiben konstitutiv ineinander verschachtelt. Es formt sich, mit Bernhard Waldenfels ausgedrückt, ein „Zwischenreich“, innerhalb dessen „eines in das andere verflochten ist“. 8 Anteil an einem solchen verflochtenen Zwischenreich hat auch die vorliegende Studie, in der ich Aufführungen mittels schriftsprachlicher Nacherzählungen bewusst re-inszeniere und damit auch deren Wirkungen nachträglich (re-)produziere und verschiebe.9 Vor dem Hintergrund einer seit den späten 1990er Jahren dominanten aufführungstheoretischen Perspektive jedoch, die sich auf die Wirkung von Aufführungen im Moment ihres Vollzugs konzentriert, droht die konstitutive Macht der Wirkung von Aufführungswiederholungen aus dem Blick zu geraten. Dies wird besonders in Aufführungsanalysen deutlich, in denen Nacherzählungen von Aufführungen zwar häufig die Grundlage einer Analyse bilden, die Analyse jedoch keineswegs auf die Wahrnehmung und Wirkung nachträglicher Dokumentationen, sondern auf die Wahrnehmung und Wirkung der Aufführungen ‚an sich‘ zielt. Wo aber beginnt in einer solchen narrativen Rekonstruktion die Aufführung und wo hört sie auf? Ist die Aufführung als ko-präsentisches Raum-ZeitGefüge hier überhaupt lokalisierbar oder lässt sie sich aus der Nacherzählung in irgendeiner Form extrapolieren? Über diese unumgängliche, methodologische Aporie sind sich Theaterwissenschaftler allgemein bewusst: Die Aufführungsanalyse zielt auf etwas – das

 8

WALDENFELS: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 49. Vgl. dazu auch Barbara Gronau und Jens Roselt, die über das Verhältnis von Erfahrung und deren Versprachlichung schreiben: „Weder die Erfahrung noch ihre Versprachlichung können als abgeschlossen, auf sich selbst bezogene Vorgänge aufgefasst werden, da sie wechselseitig aufeinander verweisen, d.h. Erfahrungen entgleiten sich, insofern sie Sprache hervorrufen, und die Diskursivierung entgleitet sich, insofern sie das Erfahrungsgeschehen voraussetzt.“ GRONAU und ROSELT: „Diskursivierung des Performativen“, S. 119.

9

Zur narrativen Methodik dieser Studie vgl. Kapitel I/4, Abschnitt „Methodisches“.

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 Aufführungsereignis –, was sich jedoch niemals ‚an sich‘ fassen lässt.10 Trotz einer methodologischen Selbstreflexivität suggerieren jedoch viele Aufführungsanalysen eine Unabhängigkeit des Gegenstandes ‚flüchtige Aufführung‘ von dessen Wiederholungen. Eine solche Unabhängigkeit kann die Aufführung ihrer Wirkung nach aber ebengerade aufgrund ihrer Flüchtigkeit niemals haben.11 In der Nacherzählung einer Aufführung wird einerseits eine chronologische Dichotomie zwischen vergangenem Ereignis und Nacherzählung aufgemacht, wo jedoch andererseits der Wirkung nach gerade jene Dichotomie nicht vorhanden ist. Die Wirkung der Nacherzählungen macht sich sozusagen selbst vergessen und gibt sich stattdessen als Wirkung der Aufführung ‚an sich‘ aus.12 Das Nacherzählen von Aufführungsereignissen ist jedoch methodologisch in Aufführungsanalysen unvermeidlich, weshalb es genau deshalb notwendig ist, die Wirkungs- und Konstitutionsmacht des eigenen Nacherzählens in der Analysearbeit im Auge zu behalten und zu reflektieren. Es gibt also, so die Ausgangsthese dieses Kapitels, einen konstitutiven Anteil an einer Aufführung, der nicht im Ko-Präsentischen aufgeht. Lässt sich zwar auf einer zeitlichen und medialen Ebene unterscheiden zwischen Aufführung einerseits und deren nachträglicher Dokumentation andererseits, lässt sich genau diese Differenz auf der Ebene der Wirkung nicht aufrecht erhalten. Mit anderen Worten: So sehr auch das Definitionskriterium ‚Ko-Präsenz‘ zur Bestimmung von Aufführungen einen medialen Unterschied zu markieren vermag, bleiben doch Aufführungen und deren Wiederholungen hinsichtlich ihrer Wirkung zwangsläufig aufeinander bezogen, obgleich beide niemals zur Deckung gelangen.

 10 Vgl. z.B. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 128. 11 In diesem Zusammenhang argumentiert Barbara Clausen in Bezug auf Performancekunst: „Die Performancekunst ist eine prozesshafte und rezeptionsabhängige Kunstform, deren Konstitution nicht mit dem Ereignis an sich abgeschlossen ist. [...] Die Strategie, die hinter der Inszenierung der Erinnerungsleistung zwischen Performance und Dokumentation steht, wohnt der Performancekunst inne und bedarf weiterhin unserer Aufmerksamkeit.“ CLAUSEN: After the Act, S. 19. 12 Derrida ermahnt zur Wachsamkeit gegenüber des sich häufig selbst verblendenden nachträglichen ‚Machens‘ des Ereignisses: „Stillschweigend und ohne es zuzugeben lässt man ein Sprechen, das das Ereignis macht, als simple Mitteilung des Ereignisses durchgehen.“ DERRIDA: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 23.

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 Jenseits einer Logik des Archivs Am Beispiel von Marina Abramoviü kristallisieren sich zwei Fragestellungen heraus, denen ich im Folgenden in zwei Aufführungsanalysen nachgehen möchte. Erstens thematisiert das Beispiel das reziproke Verhältnis zwischen Ereignis, Erzählen und Geschichten. Zweitens veranlasst es mich, nach einer narrativ-mythischen Dimension von Aufführungsdokumenten und ihrer quasisakralen Wirkung zu fragen, die sich besonders im Diskurs über die Flüchtigkeit von Aufführungen zeigt. Im Zentrum dieses Kapitels stehen demnach erstens die Wirkung und die Wirkungsmacht von auf Aufführungen bezogenen (Nach-) Erzählungen. Die Nacherzählung verstehe ich dabei als eine spezifische Form der Aufführungsdokumentation. Zweitens möchte ich nach einer narrativ-mythischen Wirkung von Aufführungsdokumenten allgemein fragen, die sich an dem Umstand zu entzünden vermag, dass in Aufführungswiederholungen die Aufführung als unwiederbringlicher Ursprung und damit als ein einer vergangenen Zeit zugehöriges Phänomen aufscheint. Das Verhältnis zwischen Aufführungen und ihren Wiederholungen erweist sich dabei als ein narratives Verhältnis, insofern in der Wiederholung eine zeitliche Differenz zur Aufführung erkennbar wird, die zum Erzählen auffordert. Problematisieren möchte ich jene Fragen in Hinblick auf jeweils eine künstlerische Aufführung: To The Dogs des britischen Performerduos Lone Twin und The Vitruvian Body der bulgarischen Performancekünstlerin Boryana Rossa.13 In beiden Fällen wird ein nachträgliches Erzählen und Dokumentieren von Aufführungen selbst wieder in die mediale Konstellation einer Aufführung überführt. Im Fokus dieser Untersuchung stehen daher die Effekte von Erzählaufführungen, in deren ko-präsentischen Erzählprozessen selbst das Verhältnis von Aufführung und Erzählen, von Ereignis und Geschichten thematisiert (To The Dogs) sowie die mythisch-narrative Dimension von Aufführungsdokumenten erfahrbar gemacht wird (The Vitruvian Body). Ziel des Kapitels ist es, die aporetischen Bedingungen von Performanz und Aufführung als flüchtige Phänomene in Hinblick auf deren mit-konstitutives, von narrativen Implikationen durchzogenes (Nach-)Leben zu beleuchten. Der verbreitete Topos der Flüchtigkeit und der Einmaligkeit von Performanz und Aufführung wird dabei insofern zu relativieren sein, als er nicht als schierer Gegenpol zum Topos der Verfügbarkeit und der Wiederholbarkeit verstanden werden darf. Ich möchte diesbezüglich den Überlegungen von

 13 To The Dogs von Lone Twin hatte auf dem Brüsseler KunstenFestivalDesArts im Mai 2004 Premiere. Die Performance The Vitruvian Body wurde im Rahmen der Tagung re.act.feminism – Performancekunst der 1960er & 70er Jahre heute einmalig im Januar 2009 in der Akademie der Künste in Berlin aufgeführt.

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 Rebecca Schneider folgen, die einer gängigen Auffassung von Aufführung als ephemerem Phänomen die These „performance remains“14 entgegenstellt. Anstelle einer ‚Logik des Archivs‘, die auf der Grundlage des Gegensatzes von Aufbewahrung (Archiv) und Flüchtigkeit („performance“) operiert, macht Schneider eine alternative Logik geltend, innerhalb derer „performance“ selbst als Aufbewahrungsform sowie umgekehrt das Aufbewahren selbst als „performance“ gedacht wird. Schneider liefert damit einen Vorschlag, den ich in Hinblick auf ein Nachdenken über das Narrative als Prozess und Performanz weiterdenken möchte: Versuchen wir das Narrative nicht als Festschreibung, sondern als konstitutiven Prozess und damit konsequent jenseits einer Logik des Archivs zu verstehen, wird vor dem Hintergrund von Schneiders Überlegungen danach zu fragen sein, inwiefern Nacherzählungen von Aufführungen letztere (weiter-) leben lassen, inwieweit generell Aufführungswiederholungen als mythischnarrativ wahrgenommen werden und welche Auswirkungen dieser Umstand wiederum auf die Wahrnehmung von Aufführungen im Moment ihres Vollzugs haben kann.

 2. ANTIZIPIERTE N OSTALGIE . D IE AUFFÜHRUNG GRO SS E E RZÄHLUNG (L ONE T WIN )

ALS



2.1 E REIGNIS – E RZÄHLEN – G ESCHICHTEN  Erzähl-Ereignisse Das zentrale Phänomen, das im Erzählen über Aufführungen problematisch wird, ist das Ereignis. Ereignisse, wie sie im Kontext von Phänomenologie und Dekonstruktion theoretisiert wurden, fallen hervor aus dem Fluss einer sich stets entziehenden Zeit, aus dem bloßen, unauffälligen ‚Passieren‘ und verweisen damit auf die Flüchtigkeit, aus der sie selbst als flüchtige Momente herausstechen. Ereignisse lassen sich immer nur im Verzug beziehungsweise im Entzug erkennen.15 Erst nachträglich wird ein Ereignis als ein dieser Nachträglichkeit Vorgängiges erkennbar.

 14 SCHNEIDER: „Archives“, S. 100. Das Wort „remains“ sei hier als Verb verstanden. Schneider spielt jedoch mit der Doppelbedeutung von „performance remains“ als Substantiv (‚Performance-Überreste‘) und als Verb (‚Performance bleibt‘). 15 Wie Bernhard Waldenfels bemerkt: „Ereignisse lassen aufmerken.“ „Daß etwas sich ereignet, bedeutet, [...] daß es sich selbst flieht.“ WALDENFELS: Phänomenologie der

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 Innerhalb dieser nicht-chronologischen ‚Un-Logik‘ des Ereignisses, so meine These, bildet das (Nach-)Erzählen ein konstitutives Komplementär zum Ereignis. René Audet sieht in der erschütternden Kraft des Ereignisses den Motor für das Erzählen begründet: „narrativity is determined by the fact that il y a événement“.16 Und in der Tat scheint die Erfahrung eines Ereignisses fundamental mit dem Narrativen verknüpft zu sein: Wer etwas Besonderes erlebt, wer eine außergewöhnliche Erfahrung macht, hat etwas zu erzählen. Etwas muss sich ereignen, damit es des Erzählens wert ist. ‚Es gibt nichts zu erzählen‘ steht für ‚Es ist nichts Bedeutendes passiert‘ oder für ‚Es ist nichts Außergewöhnliches vorgefallen‘. Wir erzählen also, weil sich etwas ereignet. Umgekehrt wissen wir aber über das Ereignis nur aus seinen Wiederholungen. Auf die Wiederholungsform der (Nach-)Erzählung bezogen, lässt sich also auch genauso umgekehrt behaupten, dass außergewöhnliche Ereignisse nur denjenigen zuzustoßen scheinen, die darüber zu erzählen wissen, wie Henry James bemerkte: „adventures happen to people who know how to tell about them.“ 17 Geschichten geben Ereignissen, welche die Vorstellung eines chronologischen Zeitflusses zum Erschüttern bringen, eine nachträgliche Ordnung. Geschichten räumen Ereignissen den Stellenwert von in einem linearen Zeitfluss auffällig gewordenen Phänomenen ein. In Form von Geschehnissen18 werden Ereignisse im Erzählen nachträglich als hervorstechende Marker innerhalb einer vermeintlich zielgerichteten Handlungskette erkennbar: ‚und dann passierte das, und dann passierte das, und deswegen passierte schließlich das‘. In Hinblick auf das Verhältnis von Ereignis, Erzählen und Geschichten haben wir es, so scheint es zunächst, mit zweierlei Ereignissen zu tun: erstens

 Aufmerksamkeit, S. 34 und 45. Meine folgende Argumentation basiert auf einem phänomenologischen und dekonstruktivistischen Verständnis von ‚Ereignis‘ (vgl. hierzu auch Punkt 3.1 in diesem Kapitel). Nikolaus Müller-Schöll hat derweil auf die unlösbare Disparatheit des Ereignisbegriffs hingewiesen. Vgl. MÜLLER-SCHÖLL (Hrsg.): Ereignis, S. 12. Eine Übersicht über die wichtigsten Positionen zum Ereignisbegriff findet sich in diesem Sammelband. 16 AUDET: „Narrativity“, S. 30f. 17 JAMES, zitiert nach: BRUNER: „Self-making and world-making“, S. 26. 18 Ich grenze mich damit von einem vornehmlich in der Narratologie veranschlagten Ereignisbegriff ab, wie ich im Verlauf dieses Unterkapitels verdeutlichen werde. Während die Narratologie unter ‚Ereignis‘ zumeist bereits narrativ konfigurierte, im narrativen Diskurs klar erkennbare Handlungseinheiten versteht, verwende ich hierfür den Begriff ‚Geschehnis‘. Ereignisse hingegen, so wie ich sie verstehe, entziehen sich gerade einer derartigen Konturierbarkeit.

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 mit dem ‚primären‘ Ereignis als Anlass des Erzählens und zweitens mit dem Erzählereignis, im Zuge dessen das ‚primäre‘ Ereignis nachträglich zuallererst erkennbar wird (und zuallererst als Anlass des Erzählens sichtbar wird). Dieses zweite Ereignis, das Erzählereignis, bietet wiederum selbst neuen Anlass für ein Weitererzählen und wird wiederum nachträglichen im erneuten Weiterzählen als ‚primäres‘ Ereignis erkennbar. Beide Ereignisse stehen demnach in haargenau demselben schiefen Verhältnis zur Geschichte: Sowohl das als ursprünglich erachtete Ereignis als auch das Erzählereignis, in dem das ‚ursprüngliche‘ Ereignis neu, einmalig und unwiederholbar aufscheint, sind der Geschichte immer schon voraus. Bernhard Waldenfels hat in diesem Zusammenhang auf den Spalt zwischen Erzählen und Erzähltem aufmerksam gemacht, der das Erzählte sich selbst gegenüber in Verzug bringt.19 Die Geschichte suggeriert jedoch, dass sich Ereignisse tatsächlich narrativ in den Griff bekommen lassen. Dabei hat sich im Erzählen einer Geschichte die zum Erzählen drängende Wirkung des Ereignisses ins Erzählereignis weiter verschoben. Jene Wirkung des Erzählens, das heißt jene narrative Energie,20 veranlasst neue Erzählungen zu produzieren: Ereignisse bringen Wiederholungen hervor (in diesem Fall Erzählungen), die sich ereignen, bringen Wiederholungen hervor, die sich ereignen, bringen Wiederholungen hervor, die sich ereignen, ad infinitum. Erzählereignisse bewegen sich auf der Kippe zur narrativen Sinngebung. Das Erzählereignis ist derjenige Anteil am Erzählen, der sich einer narrativen Sinngebung entzieht und dennoch deren Katalysator bildet und deshalb fundamentaler Bestandteil eines Nachdenkens über das Narrative sein muss. Ein solcher Ereignisbegriff steht einem gängigen erzähltheoretischen Verständnis vom Ereignis diametral entgegen. In der Narratologie dominiert die Auffassung, Ereignisse seien zählbare, deutlich konturierbare Einheiten, die sich im narrativen Diskurs identifizieren ließen. Wenn Gerald Prince in seinem Dictionary of Narratology darlegt, „events are the fundamental constituens of the story“, meint er damit nicht das Ereignis im Sinne René Audets als Anlass zum Erzählen, sondern das Ereignis als „change of state manifested in discourse“.21 Unter Ereignissen werden dabei die Handlung durch Agenten („act“, „action“) und das Geschehen ohne Agenten („happening“) subsumiert. 22 Obgleich zum Beispiel Genette zwischen zwei Ereignisformen unterscheidet – dem Ereignis „von dem erzählt wird“ einerseits und einem Ereignis, „das darin besteht, daß jemand

 19 Vgl. WALDENFELS: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 53, vgl. auch S. 62. 20 Vgl. auch Kapitel II/3.1, Abschnitt „Narrative Energie“. 21 PRINCE: „event“, S. 28. 22 Vgl. ebd., S. 28.

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 etwas erzählt“23 andererseits –, wird letztlich auch bei Genette das Erzählereignis als ein in der Struktur narrativer Texte (discours) Verankertes und letztlich Zugängliches und Entschlüsselbares konzipiert. Das Erzählereignis entspricht hier der Tätigkeit des Erzählers, die im narrativen Diskurs erkennbar wird. Im Vordergrund der meisten narratologischen Betrachtungen jedoch steht bis auf wenige Ausnahmen weniger das „narrative event“, sondern das „narrated event“, 24 vornehmlich verstanden als eine dargestellte Zustandsveränderung, „that reaches completion“.25 So findet im 2009 erschienenen Handbook auf Narratology bezeichnenderweise weder das Erzählereignis, wie es von Genette benannt wurde, noch generell das Ereignis jenseits seiner narrativen Repräsentation unter dem Eintrag „Event and Eventfullness“ Erwähnung.26 Ein derartiges Verständnis von Ereignis jedoch situiert sich jenseits meiner Frage nach dem Verhältnis von Ereignis, Erzählen und Geschichten. Wird das Ereignis, wie in der Narratologie, vornehmlich auf der Ebene des narrativen Diskurses konzipiert und nicht auf der Ebene des Erzählvollzugs, erscheint die Frage nach einem nachträglichen und damit stets inkongruenten und dennoch interdependenten Verhältnis zwischen Ereignis, Erzählen und Geschichten folglich in dieser theoretischen Tradition als hinfällig: Ereignisse sind der vorherrschenden erzähltheoretischen Auffassung zufolge schlicht die im narrativen Diskurs dargestellten Handlungseinheiten. Eine rezeptionsorientierte, performativitätstheoretische Perspektive jedoch, wie ich sie für die Untersuchung von Erzählprozessen in Aufführungen in dieser Studie vorschlage, erfordert die Einsicht, dass ein narrativer Diskurs – und damit auch die Geschichte als dessen Inhalt – niemals jenseits seines (Rezeptions-)Vollzugs existieren kann, der seiner Wirkung nach den discours ebenso wie die histoire immer schon übersteigt. Dieses

 23 GENETTE: „Diskurs der Erzählung“, S. 15. Genette erläutert beide Ereignisbegriffe in Bezug auf seine triadische Gliederung: Der erste Ereignisbegriff bezieht sich hiernach auf die Dimensionen der Geschichte („histoire“) und der Erzählung („discours“). Hier bezeichnet ein Ereignis das, wovon erzählt wird: Reale oder fiktive Ereignisse sind der Gegenstand einer Geschichte („histoire“), und sie werden auf eine bestimmte Weise erzählt („discours“). Der zweite Ereignisbegriff, das Erzählereignis, zielt auf die Dimension des Erzählaktes durch einen Erzähler. 24 BROCKMEIER: „From the end to the beginning“, S. 251. 25 ABBOTT: „Narrativity“, S. 317. 26 Vgl. HÜHN: „Event and Eventfullness“. Für einen erweiterten Ereignisbegriff im literaturwissenschaftlich-narratologischen Kontext spricht sich Carola Gruber aus: GRUBER: Ereignisse in aller Kürze.

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 ‚Nicht-Aufgehen‘, dieser nichtkalkulierbare Überschuss, der sich im Erzählvollzug herstellt, kennzeichnet das Ereignishafte am Erzählen. Das Performer-Duo Lone Twin unternimmt in der Performance To The Dogs den unmöglichen Versuch, den Spalt zwischen (Erzähl-)Ereignis und Erzähltem zu kitten und macht dabei die Wirkungen und Effekte einer solchen Kittung kollektiv erfahrbar.

 Lone Twins Dickköpfigkeit: Das Unerzählbare am Erzählen erzählen wollen Durch die geöffnete Glastürfront des Foyers des Brüsseler Theaters Beursschouwburg hindurch radeln Gary Winters und Gregg Whelan auf einer sportlichen Version von Klappfahrrad direkt vor das Publikum, das auf den Foyertreppen sitzend auf den letzten der vierundzwanzig Auftritte des Performer-Duos wartet. Zu diesem Zeitpunkt sind Winters und Whelan bereits zum urbanen Mythos geworden. Vierundzwanzig Tage lang, was der Länge des gesamten Theaterfestivals entspricht, haben die beiden Künstler täglich das gleiche Ritual vollzogen. Einer sechsstündigen Radtour während des Tages auf dem Brüsseler Straßenring, der das Stadtzentrum einkreist, folgte eine Aufführung am selbigen Abend, bei der die Künstler von ihren Erlebnissen des Tages erzählten. Der Clou ihrer Performance27 ist die Anwendung eines Erzählprinzips mit einer eigentümlichen Zeitstruktur aus Wiederholung und Fortsetzung, wie man sie aus Kinderspielen wie ‚Ich packe meinen Koffer‘ kennt: Für jeden Tag, der durchradelt und anschließend erzählend zusammengefasst wird, veranschlagen die Performer einen Erzähl-Zeitrahmen von fünf Minuten. Die Aufführung des ersten Abends dauert folglich genau fünf Minuten. Am zweiten Abend werden die fünf Erzählminuten des vorherigen Abends wiederholt und um weitere fünf Aufführungsminuten verlängert, in denen von den Ereignissen des zweiten Tages der Radtour erzählt wird und so fort. Die letzte und vierundzwanzigste Aufführung dauert entsprechend hundertzwanzig Minuten und umfasst die Geschichten aller Tage. Das Publikum wird Teil der vierundzwanzigtägigen Reise durch die Stadt. Für die Theaterkarte können die Zuschauer jeden Abend zur selben Zeit an den selben Ort kommen, die selben Geschichten der vorherigen Abende noch einmal hören und auf die Neuigkeiten des aktuellen Tages gespannt sein. Die Begeg-

 27 Im Zusammenhang dieses Projektes spreche ich von ‚Performance‘ in Bezug auf die Realisation des gesamten, vierundzwanzigtägigen Kunstprojektes. Von ‚Aufführung‘ rede ich, wenn die abendlichen Auftritte der Performer vor einem Publikum gemeint sind.

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 nung zwischen den Künstlern und der urbanen Umgebung von Brüssel vermittelt sich den Zuschauern rein narrativ: als mündlicher Reisebericht eines EntdeckerTeams, das die ihnen unbekannte Stadt Brüssel durchforstet und sich alle Auffälligkeiten in die Fahrradtaschen zu stecken scheint, um diese abends vor dem Publikum, das Sammelgut in mündlichen Erzählungen lobpreisend, auszuleeren. Die Fahrradtouren – obgleich Teil der gesamten Performance – werden somit dem Publikum vorenthalten.28 Auch wenn damit Zweifel über die Faktizität der Radtouren nie gänzlich ausgeblendet werden können, geht es in der Performance weniger um die Frage nach der Authentizität des Erlebten, sondern im Zentrum steht das Erzählen selbst. Für das Publikum besteht die eigentliche Performance dieser vierundzwanzigtätigen Aktion im allabendlichen Geschichtenerzählen, in der die Konstruktion von Geschichten als unabgeschlossener Prozess ähnlich einer live-Berichterstattung miterlebt werden kann. Die Geschichten über die Radtouren bestehen zunächst vornehmlich aus kleinen Alltagsanekdoten. So stellen sich Winters und Whelan auch am letzten, vierundzwanzigsten Performancetag, ausgestattet jeweils mit einer professionellen Radfahrerausrüstung und einem mit Din-A4-Zetteln bespickten Clipboard, direkt vor das Publikum, nicken sich zustimmend zu und Whelan beginnt seine Erzählung in gelassenem Ton: „It’s the first day on the ring. We came up to a junction. A woman arrived in a car. She looked at us and wound down her window and she said: ‚nice jackets‘, [PAUSE] which we took as a positive start.“29 Die meisten der Geschichten, die Lone Twin erzählen, sind für sich betrachtet nicht viel spannender als diese kleine Anfangsanekdote. Die Geschichten handeln von nichts mehr als vom Zusammentreffen beider Performer mit dem banalen Alltag von Brüssel. Winters und Whelan erzählen von einem anderen Radfahrerpärchen, das ihnen begegnete: „they look just like us!“. Sie erzählen von gesperrten Straßen, von verärgerten Autofahrern und von einem Mann, der auf einer Parkbank saß und weinte. Nachdem sie die Mini-Geschichten des ersten Tages vorgetragen haben, folgt ein eigentümliches Ritual, das die Performer

 28 Begegnungen während des Tages zwischen den Rad fahrenden Performern und den Zuschauern waren rein zufällig. 29 Die folgenden Zitate von To The Dogs sind dem Skript und der Videoaufnahme der Performance in Brüssel in der Beursschouwburg auf dem Theaterfestival KunstenFestivalDesArts, Mai 2004 entnommen. Das Skript wurde jeden Tag von Lone Twin in der Zeit zwischen der Radtour und der Aufführung fortgeschrieben. Weitere sechs- bis zehntägige Performances von To The Dogs erfolgten in Melbourne, Paris, Philadelphia und Dublin. Unter dem Titel To The Century wurde im Sommer 2009 eine dreißigtägige Version der Performance in Davis, USA realisiert.

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 nach jedem nacherzählten Tag erneut vollziehen: Beide Performer werfen gleichzeitig ihren rechtwinklig gebeugten, rechten Arm hoch in die Luft und zelebrieren mit jeder Armbewegung die Ereignisse des entsprechenden Tages als toasts: „To perfect cycling conditions!“, „To the waitress who asked if we were cold!“, „To the woman who said ‚nice jackets‘!“ Vor dem Hintergrund dieser allabendlichen wiederholten und neu hinzugefügten Anekdoten jedoch, formt sich allmählich eine weitere, umfassendere Geschichte heraus: eine Heldengeschichte über die zwei Performer Gary Winters und Gregg Whelan. Zwei Performer, die gemeinsam durch Dick und Dünn gehen wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn, die ihrer urbanen Umgebung eine andere, verrückte Wirklichkeit entlocken und jedes alltägliche Mücken-Abenteuer in das eines Elefanten verwandeln wie Don Quixote und Sancho Panza und die sich gemeinsam in den geografischen Weiten von Brüssel verlieren, nach Erlebnissen hungernd die Straße als einen Ort der unbegrenzten Möglichkeiten zelebrieren wie Thelma und Louise. Winters und Whelan verwandeln sich in Helden, indem sie sich eines einfachen aber effektvollen, narrativen Tricks bedienen: Das zeitliche Ende der allerletzten, vierundzwanzigsten Aufführung, die zugleich das Ende der gesamten, vierundzwanzigtägigen Performance darstellt, wird zum Ausgangspunkt, zum telos ihrer Heldengeschichte stilisiert. Das Ende der Erzählperformance wird mit dem Ende der Heldengeschichte kurzgeschlossen. So wird jeden Abend der auflösende Schluss einer Heldengeschichte vorgängig heraufbeschworen, indem das Ablaufen der Performancezeit hin auf ein großes Finale erzählerisch in Szene gesetzt wird. Die gesamte Performance wird somit in eine große Erzählung30 transformiert, welche durch den Verweis auf ihr Ende immer schon als zukünftig vergangene und eigens durchlebte Geschichte gegenwärtig ist, obgleich die eigentlichen ‚Heldentaten‘ der beiden Protagonisten Winters und Whelan als Ausdauer-Radfahrer und AusdauerGeschichtenerzähler noch gar nicht beendet sind. Was Lone Twin anstreben, ist streng genommen unmöglich: Es entsteht eine Geschichte über das Erzählen einer gemeinsamen Geschichte, deren Geschehnisse aber zum Teil immer noch dabei sind, sich zu ereignen. Dies ist deshalb unmöglich, weil Ereignisse niemals mit ihren Erzählungen zusammenfallen kön-

 30 Wie bereits in Kapitel III erwähnt, verwende ich den Begriff ‚große Erzählung‘ aus Gründen der Geläufigkeit. In der Genetteschen Terminologie jedoch, der ich mich in dieser Arbeit bediene, müsste die ‚große Erzählung‘ genau genommen die ‚große Geschichte‘ heißen.

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 nen – auch nicht in der Form einer live-Berichterstattung.31 Bernhard Waldenfels imaginiert die absurde Szenerie des unmöglichen Unternehmens, das unerzählbare (Erzähl-)Ereignis zu erzählen:

 „Der Spalt [zwischen Erzählen und Erzähltem] ließe sich nur schließen, wenn [...] das Erzählen sich in das Nu einer reinen, zeitenthobenen, sozusagen autopoietischen Selbsterzählung verwandeln würde. Diese doppelte Unmöglichkeit scheitert an den Bedingungen unserer Zeitlichkeit. Sie schließt aber nicht aus, daß der Erzähler sich diesen Unmög32

lichkeiten annähert und mit ihnen spielt.“

 To The Dogs stellt ein solches Spiel mit der Unmöglichkeit des Erzählens des (Erzähl-)Ereignisses dar. Die Performance nähert sich einer von Waldenfels beschriebenen „Selbsterzählung“ insofern an, als sie den trotzigen Versuch markiert, den Ereignissen – sowohl denen des Tages während der Radtouren als auch denen der allabendlichen Aufführungen – auf einer inhaltlichen, rhetorischgestischen und zeitlichen Ebene in actu eine narrative Geschlossenheit zu verleihen und sie damit als Ereignisse zuallererst erkennbar zu machen. Die Narrativierung der eigenen Erzählaufführung, wie ich im Folgenden zeigen werde, erfolgt dabei durch ein beständiges Vorwegnehmen des Zukünftigen ebenso wie durch ein Zurückgreifen auf bereits gemeinsam Erlebtes. Besonders der Schluss der Performance als Ende der Geschichte fungiert dabei als „pole of attraction“,33 wie Paul Ricœur es beschrieben hat, und wirkt als anzustrebendes Ziel in die Gegenwart des Erzählprozesses hinein. In den täglichen Wiederholungen der Erzählaufführungen der vorherigen Tage samt deren Mini-Geschichten wird die narrative Funktion des Ende-Setzens auf einer Mikroebene gespiegelt: Im ‚Ich packe meinen Koffer‘-Verfahren wird das Geschehene durch Wiederholung multipliziert, damit als vorläufig Abgeschlossenes bekräftigt und schließlich mit einem neuen Ende als Fortsetzung versehen, dem man am Folgetag als bereits bekanntes Ziel entgegenfiebern kann. Die primäre narrative Technik von To The Dogs ist die eines sich wiederholenden Endens, in der narrative Performanz und

 31 Wie Derrida präzisiert: „Nun ist es aber evident [...], dass dieses angebliche Sprechen vom Ereignis, diese so genannte live-Reportage des Geschehens, natürlich nie auf der Höhe des Ereignisses und nie a priori vertrauenswürdig ist.“ DERRIDA: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 22. 32 WALDENFELS: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 53. Anmerkungen in Klammern von N. T. 33 RICŒUR: „Narrative Time“, S. 332. Zur Funktion des Endes im narrativen Konfigurationsprozess vgl. Kapitel II/3.1, Abschnitt „Plotting“.

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 das Streben nach (sowie das Scheitern von) narrativer Geschlossenheit zugleich erkennbar werden. Die affektive Wirkung jener Geste des wiederholten narrativen Schließens möchte ich im Folgenden als antizipierte Nostalgie beschreiben: als ein beständiges, gegenwärtiges und wehmütiges Schwelgen im Tempus der vollendeten Zukunft – die Performance wird gewesen sein. Durch die repetitive Vorwegnahme eines mit Wehmut aufgeladenen Rückblicks wird die noch andauernde Performance als bereits vergangene, abgeschlossene Geschichte spürbar und ihre Ereignishaftigkeit partiell fassbar gemacht. Antizipierte Nostalgie kennzeichnet die immer schon vom Narrativen durchdrungene Erfahrung des Ende(n)s, die sich mit Gabriele Brandstetters Rekurs auf Frank Kermodes Sense of an Ending als „sensation and sensitivity of an [e]nding“34 bezeichnen lässt. Wie zu zeigen sein wird, behält dieser im Vollzug hervorgebrachte emotionale Effekt eines narratives Abschließens in To The Dogs selbst dann seine Wirkungsmacht, wenn die angestrebte große Erzählung durch deren offenen und unvorhersehbaren Konstruktionsprozess beständig unterminiert wird. Der Hauptgrund für die Hartnäckigkeit der nostalgischen Wirkung dieser bewusst hergestellten Geschlossenheitseffekte liegt in einer durch die rituelle Wiederholungsstruktur entstehenden (Selbst-)Historisierung der Aufführungen, durch die schließlich auch die Zuschauer als aktuell anwesende Figuren in die große Erzählung mit einbezogen werden. In Hinblick auf das in To The Dogs auf mehreren Ebenen verhandelte, aporetische Verhältnis von Ereignis, Erzählereignis und Geschichten werde ich deshalb im Folgenden drei Punkte in den Blick nehmen: Erstens die Narrativierung der Heldengeschichte, zweitens deren Verhältnis zu dem vorherrschenden anekdotischen Erzählstil sowie drittens die Historisierung der ko-präsentischen Aufführungsgemeinschaft und ein dadurch generiertes Zeitbewusstsein.

2.2 O DYSSEE AUF DEM F AHRRAD . Ü BER ANEKDOTISCHE H ELDENTATEN  Eine Heldengeschichte In regelmäßigen Abständen unterbrechen die Performer ihren anekdotischen Erzählfluss, um dem Publikum die Aufgabe zu erklären, die sie der Performance zu Grunde gelegt haben und zu deren Illustrierung sie allerhand Straßenkarten und Stadtpläne von Brüssel vor dem Publikum ausbreiten: vierundzwanzig Tage = vierundzwanzig Radtouren auf dem Brüsseler Straßenring, à sechs Stunden,

 34 BRANDSTETTER: „Still Alive“, S. 72.

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 jeweils erzählt in fünf Minuten. Vierundzwanzig Aufführungen. Und insgesamt tausend toasts. Auf die Schwierigkeit dieser zu bewältigenden Aufgabe wird hingewiesen, ebenso auf deren Zeitspanne: „To the opening night! To the closing night!“ Winters und Whelan hoffen auf das Ende, auf die Erlösung von der anstrengenden Aufgabe: „To the release!“ Die Performer treten nicht nur als Erzähler ihrer Erlebnisse in Erscheinung, sondern sind immer auch und vor allem deren gegenwärtige und reale Figuren. Als Rhapsoden und Figuren zugleich – was sich unter anderem in einem beständigen Wechsel der Erzählperspektive zwischen erster und dritter Person widerspiegelt („they won’t do it again“, „we won’t do it again“) – verwandeln sie sich in Helden ihrer eigenen Performance als Erzählung. Das unablässige Betonen der ablaufenden Zeit („at this point, there are five days to go“, „To the last two days!“) sowie des zeitlichen Endes selbst („It will be over. It will never happen again. They won’t do it again“) stellen dabei wesentliche narrative Techniken von Lone Twins Berichterstattung dar. Das tägliche Radfahren auf dem Brüsseler Stadtring, das von Winters und Whelan als eine unter schwierigen Bedingungen zu bewältigende Aufgabe erzählt wird, kreiert als Geschichte den Eindruck einer abenteuerlichen, Odyssee-ähnlichen Reise von Anfang bis Ende. Diese „ulysees on wheels“,35 in welcher die Geschichte eines Irrweges zitiert wird, an deren Ende die Helden ‚Zuhause‘ angekommen sein werden, wird von den Performern mit emotionalen Höhen und Tiefen ausstaffiert. So berichten die Performer immer wieder von den durch die Anstrengungen der täglichen Radtour bedingten physischen Schmerzen („To the pain in Gary’s legs!“, „To the parts of our bodies that already hurt us!“). Sie erzählen von der Sehnsucht nach einem Ruhetag („To I want to take a day off – you can’t!“), vom Heimweh („To I want to go home – don’t give up now!“), vom Zweifel an der Mission in der belgischen Fremde („To I am not happy here! To where I belong! To fish and chips! To cups of tea!“). Jede aktuelle Begebenheit wird in die Heldengeschichte aufgenommen und als Gary Winters am dreizehnten Tag zur Hochzeit seines Bruders für eine Nacht nach England fährt und Gregg Whelan, alleine gelassen, vollends über die selbst gestellte Aufgabe in Zweifel gerät („Is it worth it? Why doing this? It’s raining. I am on my own. A proper storm starts. Why bother?“) und schließlich ein wahres Freundschaftsdrama in Szene setzt („Gary, where are you? It’s me and you together on the road. To Gary, it’s not the same without you! To Gary, I am missing you!“), scheint die Peripetie der täglichen Road-Performance

 35 CRAWLEY: „To The Dogs“. Das Zitat bezieht sich auf eine kürzere Version der Performance, realisiert in Dublin, Project Cube, November 2004.

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 erreicht und schließlich am vierzehnten Tag in eine glückliche Auflösung, besiegelt durch das Ertönen von Gary Winters Blechtröte als Zeichen seiner Wiederankunft, umzuschlagen: „To reunions! To never leaving you again! To we can make it together!“ Umso näher die Performer-Figuren dem Ende ihrer Mission entgegen radeln und entgegen erzählen, desto mehr schlägt ihr anfänglicher Zweifel gegenüber der fremden Stadt in Wohlbefinden um („To liking it here“, „To the streets of Brussels – I love you!“) und desto weniger erscheinen ihre Radtouren auf dem Straßenring rund um den Brüsseler Stadtkern als ein Drehen am Rad der Fortuna mit ungewissem Ausgang, sondern als Schicksalsbesiegelung, nach der ein glückliches Ende gewiss sein wird. Und wenn es im letzten Drittel der allerletzten, hundertzwanzigminütigen Aufführung heißt: „To I feel at home!“, „To I want to stay here forever!“ und während der Explizierungen dieses Heimisch-Werdens die letzten Noten von Willie Nelson’s On The Road Again in Winters und Whelans schäbigen Landstreicher-Kassettenrekorder verklingen, scheinen die beiden wirklich (bald) als zukünftige, urbane Helden in Brüssel angekommen zu sein.

 Abbildung 11: Lone Twin: To The Dogs (2004)

Foto: Michèle Rossignol.

 To The Dogs schreibt den Mythos der Odyssee fort, den Joseph Früchtl als Urfiktion der abendländischen Geschichte eines sich „durch Selbstbehauptung

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 bildenden [...] Ichs“36 bezeichnet und der auf inhaltlicher Ebene jene Funktion verhandelt, die dem Mythos kulturtheoretisch zugeschrieben wird, nämlich Identität und Zugehörigkeit zu stiften, heimisch zu werden.37 Jener Mythos wird hier in Form einer heilsgeschichtlichen Dreischritt-Poetik – Auszug, Selbstentfremdung, Heimkehr und Identität – thematisiert, dessen Ausgang auch während des Erzählens immer schon als abgeschlossen imaginiert werden kann, da das Ende der vierundzwanzigtägigen Performance garantiert ist. In der permanenten Thematisierung des Endes – „It will be over“ – erscheint die Heldengeschichte vorgängig in der Mythos-typischen Struktur eines „Davongekommensein[s]“.38 Und trotzdem: Anstatt vollends in einer großen Erzählung aufzugehen, bleibt der Kompositionsprozess in To The Dogs immer sichtbar. Den Anekdoten kommt hierbei eine zentrale Funktion zu. Gegen Windmühlen kämpfen. Anekdoten zwischen Ereignis und Heldengeschichte Stehen in den ersten Aufführungen von To The Dogs die Anekdoten noch recht zusammenhanglos nebeneinander, kommt ihnen mit fortschreitender Zeit eine widersprüchliche Position zu. Im Kontext einer sich langsam herausschälenden Heldengeschichte erscheinen die Anekdoten mal als Teile dieser Geschichte und mal als deren Unterbrechungen. So basiert die Entstehung der großen Erzählung zunächst vornehmlich auf den Anekdoten. Keine Heldengeschichte ohne Erlebnisse und Abenteuer, und genau letztere sollen die Anekdoten verbürgen. Dabei scheint ihre Heterogenität der Konstruktion einer großen Erzählung zunächst in keinster Weise im Weg zu stehen, sondern ihr im Gegenteil dienlich zu sein. Wie Paul Ricœur gezeigt hat, bedarf es gerade heterogener Elemente, um eine abgerundete Geschichte, verstanden als „Synthesis des Heterogenen“,39 zu konstruieren. Dennoch lassen die Abenteuer, von denen Whelan und Winters erzählen, als wirkliche Heldentaten mehr als zu wünschen übrig. Die Erlebnisse, von denen die Anekdoten zeugen, scheinen bei weitem nicht das Zeug zu haben, Teil einer

 36 FRÜCHTL: Das unverschämte Ich, S. 34. Vgl. auch: ADORNO und HORKHEIMER: Dialektik der Aufklärung, S. 50ff. 37 Vgl. BLUMENBERG: Arbeit am Mythos, S. 127. Unter Mythos verstehe ich in diesem Zusammenhang eine Erzählung, die einen unfassbaren Ursprung von Gemeinschaft oder Subjekt erklärt und konstituiert. Einen weiteren, nicht zwangsläufig auf die Form einer Erzählung bezogenen Begriff vom ‚Mythischen‘, bzw. von ‚mythisch‘ werde ich im dritten Abschnitt dieses Kapitels erläutern. 38 JAMME: „Gott an hat ein Gewand“, S. 96. 39 RICŒUR: Zeit und Erzählung, Band 1, S. 106.

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 heldenhaften Abenteuergeschichte zu werden. Und so wird die große Erzählung von Anekdoten über einen vollkommen entdramatisierten Alltag beständig unterminiert. Die Anekdoten fungieren damit als paradoxe Zwitterwesen. Sie sind zugleich notwendige Ingredienzen und offensichtliche Zäsuren einer geschlossenen Heldengeschichte. Joel Fineman hat im Kontext des New Historicism betont, dass Anekdoten einer großen Erzählung insofern dienlich sind, als sie die Realität der Ereignisse, die zu einer großen Erzählung konfiguriert werden, erzählend beglaubigen. Sie fungieren als narrative Katalysatoren, welche die Authentizität des singulären Ereignisses nachträglich und wirkungsvoll hervorbringen und darin zugleich die große Erzählung als eine auf Erfahrungen basierende Geschichte legitimieren und vorantreiben. Zugleich übersteigen sie diese Geschichte, da sie auf singuläre Momente zielen, die dem als linear konfigurierten ‚Strom der Geschichte‘ entgegenstehen und die singulären Momente als herausragende Ereignisse erfahrbar machen.40 Vor dem Hintergrund einer großen Erzählung markiert die Anekdote, wie Hans-Friedrich Bormann in diesem Zusammenhang angemerkt hat, „eine Unterbrechung der Geschichte (eine Unterbrechung von Geschichte), die als solche nicht Gegenstand der Erzählung sein kann, weil sie dem Erzählen bzw. der Erzählbarkeit selbst vorausgeht.“41 Die Anekdote verbürgt also einerseits Erfahrungen als einschlägige Ereignisse, indem letztere in ihr nachträglich in Form einer narrativen Konfiguration als miniaturhafte, erzählerische und häufig inhaltlich pointierte Einheit42 zugänglich werden und damit Teil einer sich selbst legitimierenden, großen Erzählung werden können. Zugleich eröffnet das Erzählen der Anekdote einen neuen Erfahrungsraum, der zwar eine vergangene Erfahrung signifiziert, aber im Hier und Jetzt ihres Erzählens eine eigene Erfahrungsqualität entfaltet. Es ist genau diese doppelte und widersprüchliche Funktion der Anekdote, sowohl (ereignisreiche) Unterbrechung als auch Katalysator der gro-

 40 „[T]he anecdote is the literary form that uniquely lets history happen by virtue of the way it introduces an opening into the teleological, and therefore timeless, narration of beginning, middle, and end. The anecdote produces the effect of the real, the occurrence of contingency, by establishing an event as an event within and yet without the framing context of historical successivity, i.e., it does so only in so far as its narration both comprises and refracts the narration it reports.“ FINEMAN: „The History of the Anecdote“, S. 61. 41 BORMANN: „Unterwegs zur Aufmerksamkeit“, S. 80. 42 Die Anekdote gilt allgemein als kleinste erzählerische Einheit mit direktem Realitätsbezug, Exempelfunktion und treffender Schlusspointe. Vgl. Brockhaus. Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden, Eintrag „Anekdote“, Band 1: A-APT, S. 565.

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 ßen Erzählung zu sein, welche sie als diejenige Erzählform erscheinen lässt, die „die prekäre, wechselseitige Beziehung zwischen Ereignis und Erzählung strukturell zum Ausdruck bringt.“43 In der Anekdote – zumindest in derjenigen, die im Kontext einer großen Erzählung aufscheint – werden zugleich nachträgliche Ereigniskonstitution sowie die Ereignishaftigkeit des Erzählens als einmaliger Erfahrungsraum manifest. Die Anekdote situiert sich zwischen den Ereignissen, von denen sie erzählt und der Geschichte, die sie als Erzählereignis transzendiert. Sie ist das aporetische Bindeglied: weder ‚ursprüngliche‘ Erfahrung, noch die Geschichte, sondern der verworrene Knotenpunkt aus Ereignis, Erzählen (als Ereignis) und Geschichte. In To The Dogs wird der paradoxe Spagat der Anekdote durch eine partielle Ironisierung des Verhältnisses von Anekdote und großer Erzählung auf besondere Weise exponiert. Denn die Anekdoten, welche die alltäglichen Erlebnisse der Radtouren nachträglich als herausragende Ereignisse spiegeln und dabei ‚eigentlich‘ geeignete Inhaltsstoffe für die Heldengeschichte liefern sollten, können jedoch den heroischen Erlebnis-Anforderungen einer Heldengeschichte nicht wirklich gerecht werden. Dies zumindest betrifft die inhaltliche Ebene der Anekdoten, der es an jeglicher Plot-bezogenen Schärfe fehlt. Auch wenn in einigen Anekdoten eine gewisse Alltagsdramatik angedeutet wird (zum Beispiel die Geschichte über einen weinenden Mann auf einer Parkbank), erfolgt keinerlei Aufklärung über ein Vorher oder Nachher dieser pointenlosen narrativen Zustandsbeschreibungen wie zum Beispiel die Anekdote über eine Kellnerin in einem Café, „who asked if we were cold“ oder über eine Frau in einem Auto, „who said ‚nice jackets!‘“ Die in sehr einfacher Sprache erzählten Miniaturgeschichten besitzen darüber hinaus zunächst keine narrative Verbindung untereinander, sondern stehen lediglich in einer chronologischen Abfolge lose nebeneinander. Lone Twins Arbeit scheint auf den ersten Blick einem spezifischen anekdotischen Erzählstil zu entsprechen, den Gabriele Brandstetter dem biografischen Erzählen im Theater der 1990er Jahre attestiert hat. Anekdoten fungieren hierin weniger als pointenreiche, erzählerisch knappe Volltreffer, denn als narrative Bruchstellen, denen der Bezug zu einer großen Erzählung abhanden gekommen ist. Sie stellen narrative Anti-Narrative dar, in denen Pointen schief gehen oder gänzlich fehlen dürfen, in denen das Verhältnis von „story und history“44 ins Wanken gebracht und in denen durch splitterhaftes Erzählen Widersprüchen und Kontingenzen bewusst Platz eingeräumt wird.

 43 BORMANN: „Unterwegs zur Aufmerksamkeit“, S. 79. 44 BRANDSTETTER: „Geschichte(n) Erzählen“, S. 31.

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 Und doch entziehen sich die Anekdoten in To The Dogs immer wieder dieser bruchstückhaften und spannungslosen Dramaturgie, wie sie Brandstetter beschrieben hat. Denn was den Anekdoten auf einer inhaltlichen Ebene fehlt, wird ihnen auf einer gestischen Ebene hinzugefügt. Nach jeder Anekdote unterbrechen die Geschichtenerzähler ihren Erzählfluss und blicken erwartungsvoll ins Publikum. Auf diese Weise werden die Anekdoten wie imaginäre Dinge zwischen Publikum und Performer ‚gestellt‘, um als Einheit betrachtet werden zu können, und der Blick der Performer scheint mit aller Aufrichtigkeit zu fragen: ‚Hier bitte, das ist für Euch. Das ist doch wunderbar, oder?‘ Winters und Whelan bauen eine Spannung auf, wo eigentlich keine ist. Diese Spannung, erzeugt durch die Unterbrechung des Erzählflusses, fordert eine Reaktion des Publikums heraus und sie entlädt sich erst dann, wenn die kleinen Geschichten vom Publikum mit einem die sprachlich-akustische Lücke auflösenden, gemeinsamen Lacher ‚entgegengenommen‘ und damit als geschlossene Anekdoten abgerundet werden. Das Verfahren des Ende-Setzens, das die gesamte Performance durchzieht, wird damit bereits auf der narrativen Mikroebene der Anekdoten vollzogen. Jene Gesten des auffordernden Pausierens fungieren als Pointen von Anekdoten, deren inhaltliche Pointen gänzlich fehlen. Sie setzen ein die Illusion einer Ganzheit vermittelndes Ende und verleihen den alltäglichen Ereignissen auf den Straßen von Brüssel einen Hauch von spektakulärem Abenteuer. Anders als in dem von Brandstetter beschriebenen anekdotischen Erzählstil vieler Performances der 1990er Jahre, werden die Anekdoten in To The Dogs (wieder) im Kontext einer großen Erzählung verhandelt. Letztere wird dabei in ihrer verführerischen, selbstlegitimierenden Wirkungsmacht dekonstruiert, indem die Anekdoten ihre ‚Aufgabe‘ in Bezug auf die große Erzählung eben nur teilweise erfüllen: Ein Spalt zwischen Heldengeschichte und Anekdote wird bewusst sichtbar gemacht und die Diskrepanz zwischen beiden wird umso offensichtlicher, je bestimmter die Performer versuchen, die Begebenheiten eines unspannenden Alltags mit einem „bedeutungsreichen Symbolcharakter“45 aufzuladen und sie damit, im Sinne Roland Barthes, in „Mythen des Alltags“ 46 zu transformieren. Es scheint, als ignorierten Winters und Whelan den von ihnen selbst kreierten Widerspruch zwischen erzähltem Alltag und Heldengeschichte, als hielten sie mit einer fast kindlichen Naivität an der Glaubwürdigkeit ihrer live

 45 HORSTMANN: „Mythos, Mythologie“, S. 310. 46 Nach Roland Barthes’ Verständnis von „Mythen des Alltags“ können die alltäglichsten Phänomene wie z.B. Sport, Fotografie, Film oder Reklame mythisch aufgeladen, d.h. mit einem metasprachlichen Wahrheitsgehalt versehen werden. Vgl. BARTHES: Mythen des Alltags, S. 92f.

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 entworfenen, großen Erzählung fest. Winters und Whelan praktizieren ein Erzählen, bei dem der behauptete Kampf gegen die Riesen von Brüssel immer wieder als Don Quixotischer Kampf gegen Windmühlen aufgedeckt, aber schließlich doch wieder durch eine emphatische Haltung seitens der Geschichtenerzähler gegenüber dem Erzählten in den Effekt eines Kampfes gegen Riesen verwandelt wird. Und so schwankt man als Zuschauerin beständig zwischen erstens einer ironischen Distanz und damit einem Gewahrwerden der Inkongruenz zwischen Heldengeschichte und Anekdoten, zweitens einem Gerührtsein von der vollkommen unironischen und aufrichtigen Erzählhaltung seitens der Darsteller und schließlich drittens dem Wunsch, selbst Teil dieses spielerischen Abenteuers zu werden, das heißt, es Lone Twin gleichzutun und sich auf die Illusion einer großen Erzählung einzulassen, den heimatlichen Hafen für kurze Zeit zu verlassen, sich ins Ungewisse zu stürzen, um nach überstandenen Abenteuern wieder sicher zuhause anzukommen. Denn das Ankommen ist ja gesichert: Die Performance wird gewesen sein. Eine Verquickung zwischen Zuschauern und Heldengeschichte wird schließlich umso wahrscheinlicher, je weiter die Performance zeitlich voranschreitet. Denn umso näher die Performance ihrem Ende am vierundzwanzigsten Tag entgegen rückt, desto weniger sind es die in Form von Anekdoten erzählten Erlebnisse des Tages, die den Stoff für die entstehende große Erzählung liefern. Den fundamentalen inhaltlichen Baustein der Heldengeschichte bilden zunehmend die sich durch die allabendlichen Wiederholungen selbsthistorisierenden Aufführungen samt aller Beteiligten.

2.3 R ECYCLING : G EMEINSCHAFTSHISTORIE WIEDERHOLTES E NDEN 

UND

Kollektives Zeitbewusstsein In To The Dogs wird recycled. Jeden Abend werden die Anekdoten der vorherigen Tage erzählend wiederaufbereitet und da das Wiederholen einer Anekdote immer auch ein Wiedererzählen der vorherigen Aufführungen beinhaltet, in denen diese Anekdote erzählt wurden, fiebert man im Verlauf einer der späteren Aufführungen nicht nur den qua Anekdoten bereits vertraut und lieb gewonnen Figuren und Geschehnissen entgegen, sondern man will darüber hinaus auch wissen, ob Gary Winters seinen rechten Arm genauso verausgaben wird wie am vorherigen Abend oder ob der Muskelkater ihn heute daran hindern wird, bei einigen der toast-Rituale nicht nur seinen rechten Arm, sondern mit diesem sein ganzes fünfzehn Kilo schweres Klapp-Fahrrad in die Luft zu werfen. Die

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 Zuschauer partizipieren an täglichen Erzählritualen, in denen etwas passiert, was unter Umständen erst in deren Wiederholungen an den Folgetagen als Auffälliges erkennbar wird und sich als besonderes Ereignis in eine die gesamte Performance umfassende Geschichte einschreibt. Im Verlauf der vierundzwanzig Tage etabliert sich somit ein kollektives Gedächtnis im Sinne einer „Spurensammlung der für den historischen Verlauf einer bestimmten Gruppe markanten Ereignisse“, 47 wie Paul Ricœur präzisiert hat. Diese Spurensammlung speist sich weniger aus den Ereignissen der Radtouren, sondern aus den markanten Ereignissen der Erzählaufführungen selbst, die Zuschauern und Performern zugleich widerfahren. In den täglichen Erzählaufführungen, in denen die gemeinsame(n) Geschichte(n) wieder- und weitererzählt werden, realisiert To The Dogs die Herstellung einer Gemeinschaft, die auf einen anwachsenden Fundus, gefüllt mit kollektiven Erfahrungen, zurückgreifen kann. Diese Sammlung wird als wiederaufgeführtes Gedächtnis jeden Abend aktualisiert und mit einer Fortsetzung versehen, die selbst am nächsten Tag in ihrer Wiederholung Geschichte geworden sein wird: „hundreds of audience members would return each night for the performance, chanting along to the parts that were familiar“,48 wie ein Kritiker der To The Dogs-Version in Philadelphia bemerkt. Die Gemeinschaftshistorie wird in die Heldengeschichte in dem Moment eingespeist, wo Lone Twin für beide Geschichtenformen das Ende der Performance als gemeinsamen narrativen Endpunkt gleichermaßen gültig machen, etwa wenn Whelan in der letzten Aufführung wiederholt verkündet: „You’ve been sitting here for twenty-four days. You are going to miss them so much. You will come back here tomorrow and they won’t be here.“ Die große Erzählung, die hierbei geschaffen wird, ist damit auch eine über die Ausdauerleistung des Publikums, welche darin besteht, (fast) jeden Abend anwesend zu sein und damit notwendiger und konstitutiver Teil der in und durch die Aufführung entstehenden Heldengeschichte zu sein. Antizipiert wird in Whelans Verkündigungen nicht nur das Ende der Heldengeschichte, sondern zugleich die Zeit nach der Auflösung eines ko-präsentischen Erfahrungsraumes, in dem sich die Geschichte entfaltet, beziehungsweise entfaltet haben wird. Durch die Vorwegnahme einer Zeit nach dem Ende, das heißt durch ein vorgängiges Abschließen der Gemeinschaftshistorie, wird die gesamte gemeinsame Aufführungszeit von vierundzwanzig Abenden zu einer Geschichte über eine abgeschlossene, gemeinsam durchlebte ‚Lebensepisode‘ konfiguriert, in der eine Heldengeschichte zugleich kollektiv geschaffen und miterlebt wird.

 47 RICŒUR: „Gedächtnis – Vergessen – Geschichte“, S. 439. 48 MOTOYAMA: „Phillycentric works“.

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 Der Effekt also jener Narrativierung von Gemeinschaft liegt in der Entstehung eines Zeitbewusstseins, oder wie Kurt Röttgers es ausgedrückt hat: Eine „wirkliche gemeinsame Gegenwart“ ist erst „im Horizont geteilter Vergangenheit und Zukunft möglich. [...] Nur das Geschichtenerzählen aber ist in der Lage, diese Tiefendimension der Gegenwart aus Vergangenheit und Zukünften zu einer gemeinsam Zeit zu synchronisieren.“49 Jenes Zeitbewusstsein gewinnt in To The Dogs Ausdruck im Gefühl der antizipierten Nostalgie. Im narrativen Spiel mit dem Ende der Performance wird die Flüchtigkeit der Aufführung selbst als ab-laufende kollektive Zeit bewusst gemacht: „To saying ‚au revoir‘! To saying ‚It was a pleasure to meet you, you are very special!‘“, wie Winters betont. Obgleich sich alle Beteiligten noch mitten in einem Prozess befinden, in dem potentiell alles möglich ist, wird dessen als Geschichte konfigurierter, realisierter ‚Inhalt‘ vorgängig als vergangen betrauert und damit als sich soeben ereignende, gemeinsame Zeit bewusst erlebbar gemacht. Letztere erscheint umso exzeptioneller und einmaliger, je öfter man sich in den sich häufenden Wiederholungen voneinander verabschiedet und je näher das Ende der Performance rückt: „To it will never happen again“, wie Whelan nicht müde wird mit schwungvollen Armbewegungen zu betonen, die vor dem Hintergrund des gemeinsamen Endes wie stolze Gesten des Abschieds erscheinen und darin die Lone Twinsche Poetik einer antizipierten Nostalgie nachhaltig bekräftigen. War auf der Erzählebene, welche die Fahrradtouren des Tages umfasst, eine von den Performern bewusst inszenierte, mit Ironie aufgeladene Lücke zwischen Alltagsanekdoten und Heldengeschichte deutlich erkennbar, so lässt sich genau jene ironische Distanz auf der Erzählebene, welche die Aufführungen samt Publikum umfasst und die verstärkt gegen Ende der Performance zum Tragen kommt, nur noch partiell aufrecht erhalten. Auf dieser Erzählebene dient das zugleich zeitliche und narrativ konfigurierte Ende als ein affektives Kraftzentrum, das von der Zukunft in die Gegenwart der jeweiligen Aufführung hineinstrahlt und die Prozesshaftigkeit der aktuellen Aufführung vorgängig als geschlossene Geschichte (scheinbar) dingfest zu machen versucht. (Fehl-)Gemeinschaft Zur Erinnerung: Es war Paul Ricœur, der darauf aufmerksam machte, dass durch Erzählen Zeit strukturiert wird und dass es den ins Erzählen verstrickten Subjekten dadurch möglich wird, sich historisch wahrzunehmen, ein Zeitbewusstsein und eine narrative Identität über sich zu erlangen. Der Prozess des Erzählens, so Ricœur, konfiguriert Zeit als fassbare Entität und vermag sie dergestalt als

 49 RÖTTGERS: Die Lineatur der Geschichte, S. 39.

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 „menschlich[e]“ Zeit zu gestalten. 50 Der Akt der Fabelkomposition beinhaltet dabei zwei Zeitdimensionen, von denen eine stets unfassbar, unerzählbar bleibt: die lebendige Gegenwart, das In-der-Zeit-Sein im Moment des Komponierens sowie ein Erkennbar- und Bewusstwerden der vergehenden Zeit durch die Entstehung einer Erzählung, in der die vergehende Zeit immer schon konfiguriert ist. Oder wie Giorgio Agamben es an anderer Stelle ausgedrückt hat: Um eine Fassbarkeit und Darstellbarkeit von Zeit in Form von chronos zu erhalten, bedarf es einer anderen Zeitdimension, einer „operativen Zeit“: „sie ist die Zeit, die wir brauchen, um unsere Zeitvorstellung [chronos] [...] zu vollenden.“51 In To The Dogs wird die konstitutive Verschränkung sowie eine unauflösliche Nicht-Identität von einerseits sich ereignender Zeit (im Erzählen) und andererseits dem Fassen von vergehender Zeit qua Geschichten durch den Versuch, die eigene Aufführung live als Geschichte zu entwerfen, selbstreferenziell ausgestellt. Dabei verweist die Performance sowohl auf die Produktivität des Narrativen in actu, das heißt auf die Herstellung von Zeitbewusstsein und Gemeinschaft als Geschichte/Historie, als auch auf ein dieser Produktivität immer schon immanentes Scheitern. Denn Zeitbewusstsein und gemeinschaftliche Identität sind nur zu haben aus einer vorgängig konstruierten retrospektiven Perspektive. Es bedarf einer Veräußerlichung dessen, was man tut (und das Tun ist hier ein Erzählen) und damit einer zeitlichen Verschiebung gegen sich selbst, das heißt gegen die eigene Gegenwart. Zeitbewusstsein ist ein Verfehlen der Zeit ‚jetzt‘. To The Dogs stellt den zugleich möglichen und unmöglichen Versuch dar, eine geschlossene Geschichte über eine sich ereignende Aufführung ‚jetzt‘ hervorzubringen, durch welche die während der Aufführungen von allen Beteiligten geteilte Zeit zu einer fassbaren Einheit narrativiert wird. Dieser Versuch ist möglich, weil tatsächlich eine auf einer großen Erzählung und einer Historie aufbauende Gemeinschaft sowie ein Zeitbewusstsein – verbürgt im Gefühl der antizipierten Nostalgie – realisiert werden, obwohl die einzelnen Aufführungen sowie

 50 „Mit anderen Worten, daß die Zeit in dem Maße zur menschlichen wird, in dem sie sich nach einem Modus des Narrativen gestaltet, und daß die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt, wenn sie eine Bedingung der zeitlichen Existenz wird.“ RICŒUR: Zeit und Erzählung, Band 1, S. 87. Vgl. auch Kapitel II/3.1, Abschnitt „Plotting“. 51 AGAMBEN: „Die Struktur der messianischen Zeit“, S. 176. Agamben entlehnt das Konzept der „operativen Zeit“ Gustave Guillaume. Agambens Synonym für die „operative Zeit“ ist die „messianischen Zeit“. Messianische und chronologische Zeit sind voneinander abhängige und dennoch niemals identische Phänomene: Die messianische Zeit ist „die operative Zeit, die in der chronologischen Zeit drängt, diese bearbeitet und von innen heraus verwandelt“. Ebd., S. 177.

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 die gesamte Performance noch nicht beendet sind. Der Versuch ist zugleich unmöglich, weil Zeitbewusstsein und Gemeinschaft nur um den Preis einer Selbstverfehlung erreicht werden können und weil ein Spalt zwischen Erzählen und Erzähltem sich niemals kitten lässt – ein Umstand, der in To The Dogs durch die Offenlegung des Erzählprozesses stets sichtbar bleibt.

 Wiederholtes Enden „Ladies and Gentlemen, they’ve made it. Twenty-four days. Look at them for the last time. [Publikum jubelt, klatscht] It will end. It won’t happen again. They’ve been riding for the last twenty-four days. They’ve been coming here for the last twenty-four days. You’ve been sitting here for twenty-four days. You are going to miss them so much. You will come back here tomorrow. And they won’t be here. We won’t be here. [Publikum klatscht] It’s the last day in Brussels. It’s over. It’s the end. Say with me, after three: [alle gemeinsam:] THREE, TWO, ONE: ,TO THE DOGS!‘“

Diese emphatische, unter tosendem Beifall und Abschiedstränen vorgetragene Rede von Gregg Whelan markiert das lang heraufbeschworene Ende von To The Dogs. Eine Inszenierung des Endes durch abschließende Worte, die dennoch nicht abschließen. Im Erzählen des Endes ist ein Abschließen unmöglich, wie Gabriele Brandstetter betont: „Die Gegenwart als Ende zu inszenieren besagt indes, die Unwiderruflichkeit des Endes noch einmal (und wieder) zu verschieben“.52 Damit bildet dieser Schlusspart von To The Dogs lediglich die Verlänge-

 52 BRANDSTETTER: „Still Alive“, S. 71. Vgl. dazu auch ISER: „Die Präsenz des Endes“, S. 363.

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 rung des Prinzips jener narrativen Performanz des wiederholten Endens, wie sie sich in der zeitlichen Struktur der Performance aus Wiederholung und Fortsetzung durchweg vollzogen hat. Das Erzählen des Endes schließt zwar als Erzählung, öffnet sich aber im Erzählen für ein zukünftiges Nachleben und lädt dergestalt zum Weitererzählen ein. Jedes Weitererzählen bestätigt und konstituiert dabei wiederholend und wiederholt die Unwiederbringlichkeit des Endes (als Ereignis). „In der Singularität“, schreibt Derrida, muss „die Wiederholung schon am Werk sein, und mit der Wiederholung muss die Auslöschung des ersten Erscheinens schon begonnen haben“.53 Wie Derrida fortführt, liegen in der Tatsache, dass das Ereignis nur vor dem Hintergrund seiner Wiederholung, seiner Entäußerung, ja seiner Finalisierung wahrnehmbar wird, auch die darauf gerichteten nostalgischen Gefühle begründet: „von daher die Trauer, das Posthume, der Verlust, die den ersten Augenblick des Ereignisses als ursprünglichen besiegeln.“ Ein solches „Pathos des Endes“54 ist in Lone Twins Performance weniger Effekt einer faktisch beendeten Erzählung, vielmehr liegt die spezifische Tragik der antizipierten Nostalgie in To The Dogs in einem Nicht-Aufhören-Können, in einem wiederholten, stets fehlgreifenden Versuch, Endlichkeit (narrativ) fassen zu wollen. Kein Pathos des Endes, sondern ein Pathos des Endens in Form einer nicht enden wollenden (und könnenden) Wiederholung des Abschließens, durch die das Ende unablässig aufgeschoben sowie ein Abschied und damit die Auflösung einer Gemeinschaft umso schmerzhafter gemacht wird. Gregg Whelan und Gary Winters erkunden in ihrer durational Erzähl-Performance im Kinderspielwiederholungsformat die kollektive affektive Wirkung eines solchen immer schon narrativ konfigurierten Spiels mit dem Enden.

 Weitere Endspiele In der ersten Dekade des neuen Millenniums lässt sich eine Vielzahl ähnlich nostalgisch aufgeladener Spiele mit dem Enden beobachten. Die Performance Exquisite Pain von Forced Entertainment beispielsweise thematisiert einen potenzierten, da bis zum Exzess wiederholten Trennungsschmerz.55 In Exquisite

 53 Dieses und nächstes Zitat: DERRIDA: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 40. 54 BRANDSTETTER: „Still Alive“, S. 73. Im Pathos des Endes sieht Gabriele Brandstetter eine prominente „Figuration des Tragischen in der Kunst“. Brandstetter untersucht in dem zitierten Aufsatz ein solches Pathos in Performances des französischen Choreografen Jérôme Bel. 55 Exquisite Pain hatte 2005 auf dem Festival Theater der Welt in Stuttgart Premiere. Weitere einschlägige Performances, die mit dem Enden und seinen narrativen Impli-

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 Pain wird das Textmaterial der gleichnamigen Aktion der französischen Konzeptkünstlerin Sophie Calle im Format einer Lesung zur Aufführung gebracht. Sophie Calle, deren Arbeiten um das Aufzeichnen, Sammeln und Inszenieren autobiografischer Schlüsselmomente kreisen (Ausstellungsobjekte sind zumeist Tagebuchtexte, Fotografien und autobiografisch aufgeladene Dinge), hatte für Exquisite Pain (1984-2003) den Moment der Trennung von ihrem langjährigen Partner zum Ausgangspunkt genommen: ein Anruf seitens ihres Partners in einem Hotel in Neu-Delhi, in dem Calle im Oktober 1984 auf der Durchreise nach Japan übernachtet hatte. Während des kurzen Anrufs hatte Calle eine Liebesaffäre ihres Partners aufgedeckt und abrupt das Gespräch beendet. Dies sollte der Beginn ihrer bis dahin schmerzlichsten und unglücklichsten Zeit sein. Um den Schmerz zu überwinden, hatte Calle es sich zur Aufgabe gemacht, jeden Tag das Szenario der Trennung erneut und jeweils anders niederzuschreiben. Parallel dazu hatte sie ihre Bekannten und Freude gebeten, ihrerseits ihre traurigsten Momente zu verschriftlichen und sie Calle zuzuschicken. Im Lesen der zugesandten Geschichten – zumeist Geschichten über Tod und Trennung – erhoffte Calle, ihren eigenen Schmerz lindern zu können. Was für Calle tatsächlich eine heilende Wirkung zeigte, gestaltete sich für mich als Zuschauerin von Forced Entertainments Lesung der Tagebuchtexte und Briefe von Calles Exquisite Pain als eine mit Trennungsschmerz und Trauer aufgeladene Nostalgiemaschine, in deren vorgelesenen Geschichten das Enden von Leben und Liebe als Dauerschmerz zelebriert wurde. Ein weiteres Beispiel für ein wiederholtes Enden lieferte das Projekt The Lastmaker der Chicagoer Performancegruppe Goat Island.56 In diesem allerletzten Projekt von Goat Island thematisierte die Gruppe den Prozess der Beendigung einer mehr als zwanzigjährigen Zusammenarbeit. Mit The Lastmaker, dessen Titel bereits das aporetische Verhältnis aus Ende und Enden spiegelt, schrieben die Mitglieder von Goat Island ihre eigene Geschichte als Performancegruppe und gaben damit ihrem allerletzten Projekt einen von Beginn an mit Nostalgie aufgeladenen Kontext. Den Anfang dieses Prozesses des Endens markierte eine E-Mail vom 7. Juni 2006, die mich über den Verteiler der Gruppe erreichte. Hierin wurde nicht nur das Ende von Goat Island angekündigt, sondern zugleich

 kationen spielen, sind z.B.: GOB SQUAD: Super Night Shot, Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz, Berlin 2003; PLAN B: The Last Hour, Ausland, Berlin 2003; FORCED ENTERTAINMENT: The World in Pictures, Volksbühne am Rosa-LuxemburgPlatz, Berlin 2006; BIGNOTWENDIGKEIT: It ain’t over till it’s over, Sophiensæle, Berlin 2013; SHE SHE POP: ENDE, Hebbel am Ufer, Berlin 2013. 56 Goat Islands The Lastmaker hatte 2007 in Zagreb im Teata & TD Premiere.

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 ein performativer Akt des in die Länge gezogenen Ende-Setzens vollzogen und selbstreflexiv untermauert: „we want to provide an example of ending, of lastness“.57 Das Ende(n) von Goat Island sollte fortan drei Jahre dauern, in denen die Performance entwickelt und anschließend weltweit aufgeführt wurde. Mein eigener Besuch der Aufführung von The Lastmaker im Berliner Haus der Kulturen der Welt stellte dabei zwar eine Art Höhepunkt des Endspiels der Company dar – war der Besuch doch geprägt von dem Bewusstsein und der Nostalgie darüber, die Performer sowie die Arbeit von Goat Island ein allerletztes Mal zu sehen. Dieser Besuch machte jedoch neben den zahlreichen E-Mails der Gruppe, die mich während dieser drei Jahre erreichten, sowie neben den unter Goat Island-Fans anhaltenden Diskussionen über das unerwartete Ende der Company nur einen geringen Anteil der Performanz des wiederholenden Endens aus. Von Seiten der Gruppe endete das Enden schließlich am 8. März 2009, an dem Goat Island ihre allerletzte E-Mail aus dem Verteiler schickten und damit die Fortsetzung ihrer Selbst-Mythisierung auf ihr Publikum übertrugen:



„On February 27 and 28, 2009, Goat Island performed The Lastmaker in Studio 6 of Swain Hall at the University of North Carolina in Chapel Hill. These two performances were our last. [...] To all our audiences, our teachers and students, our families and colleagues, present and absent, thank you for the past 21 years and for the future.“

58

 Die Company lässt ihre eigene Geschichte enden mit dem Bewusstsein über deren Zukunft jenseits einer aktiven künstlerischen Zusammenarbeit. Goat Island enden mit dem Wissen über das Fortschreiben ihrer Geschichte durch ihr Publikum – geradeso wie auch ich hier an dieser Stelle den Mythos von Goat Island erneut enden lasse und damit fortschreibe.

 57 GOAT ISLAND: „Goat Island announcement“, E-Mail vom 7. Juni 2006. 58 GOAT ISLAND: „Goat Island’s ending“, E-Mail vom 8. März 2009.

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 3. P ERFORMANCEKUNST ERZÄHLEN . Z UR (E NT -)M YTHISIERUNG DER AUFFÜHRUNG (B ORYANA R OSSA ) 3.1 M YTHOS E REIGNIS – M YTHOS AUFFÜHRUNG  Negative Dialektik der Postmetaphysik Das Ereignis ist „niemals rein und absolut“. Das Ereignis kann, „wenn es erscheint, nur um den Preis erscheinen, dass es bereits in seiner Einzigartigkeit selbst wiederholbar ist“, 59 wie Derrida präzisiert hat. Das Nachdenken und Reden über Ereignisse stellt uns vor ein logisches und schließlich vor ein epistemologisches Problem, wie dies phänomenologische und dekonstruktivistische Bemühungen immer wieder betont haben. Ob der Fokus jener theoretischen Ansätze eher auf dem beständigen Aufschub, auf einem permanenten Nichtverfügen von Sinn liegt, bei dem es keinen primären, fixierbaren Ursprung, sondern „nur Differenzen und Spuren von Spuren“60 gibt (Dekonstruktion) oder eher auf einer (flüchtigen) Materialität des Zeichens als Spur und auf deren Wahrnehmung (Medienphilosophie und Phänomenologie)61 – in all jenen Perspektiven

 59 DERRIDA: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 36. 60 DERRIDA: Positionen, S. 67. 61 Nach Derrida lässt sich das Ereignis als ein unaufhörliches Entgleiten von Sinnhaftigkeit bezeichnen, das im Modus eines Diskurses als Absenz eines Nicht-Diskursivierbaren, d.h. als nachträglich erst erfassbare Spur erfahrbar ist, die folglich auf ein ebenso erst nachträglich qua Spur konzipiertes Ursprüngliches verweist. Das Ereignis kennzeichnet die Erfahrung eines ‚Unmöglichen‘, das trotzdem nicht aufhört, als flüchtig präsente Absenz den Betroffenen affektiv heimzusuchen und eine mögliche Fassbarkeit qua Wiederholung einzufordern. Vgl. DERRIDA: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 33. Dieter Mersch hat aus medienphilosophischer Perspektive als Antwort auf Derrida auf die materielle Verfasstheit der Spur hingewiesen. Mersch erinnert an das, was in zeichentheoretischen dekonstruktivistischen Diskursen, in denen die Bedingung von Sinn und dessen permanenter Verschiebung den Fokus bildet, übersehen wird: nämlich die Tatsache, dass „Zeichen auf einer Körperlichkeit beruhen“. Diese materielle Schwere des Zeichens, die im Prozess des Bezeichnens, des ‚Funktionierens‘ des Zeichens zumeist unsichtbar bleibt, wird auffällig in Momenten der Störung der Zeichenfunktion. Das Ereignis kennzeichnet nach Mersch die Erfahrung der materiellen, flüchtigen Präsenz des Zeichens, die in jenen Störungsmomenten auffällig wird, in denen es zu einer (stets leiblich verfassten) Antwort und Reaktion auffordert. MERSCH: Was sich zeigt, S. 12. Jene körperlich responsive

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 folgt eine Konzeptualisierung des Ereignisses einer ähnlichen, scheinbar widersprüchlichen Denkbewegung, innerhalb derer das Ereignis immer beides zugleich ist: transzendent und immanent. Das Ereignis kennzeichnet ein ‚Jenseits‘ von sinngebender Struktur, welches „nur im Rückgang auf einen NichtUrsprung“62 nachträglich konstruierbar ist als ‚ursprüngliche‘ Bedingung dafür, dass sich Sinn ausbilden kann. Obgleich dem Ereignis dergestalt eine schöpferische Qualität zugeschrieben wird, darf diese gerade nicht im metaphysisch-logozentristischen Sinn verstanden werden. Das Ereignis ist vielmehr der Struktur als deren Anderes, als deren konstitutive „Hohlform“ 63 immer schon eingeschrieben. So gibt es nie bloße Präsenz oder Absenz, sondern immer ein reziprokes und konstitutives Durchdringen von Ereignis und Wiederholung im Prozess der Sinngebung. Das Ereignis ‚an sich‘ bleibt eine unfassbare Leerstelle, die nur nachträglich als Spuk, als wiederkehrende Heimsuchung (Derrida) oder als Materialität der Spur zugänglich ist, die in ihrer flüchtigen Präsenz auf das Gewesensein eines Vergangenen verweist (Mersch). Das epistemologische Dilemma im Umgang mit Ereignissen liegt folglich darin, etwas diskursiv beziehungsweise symbolisch erfassen zu wollen, was nie gänzlich im Symbolischen aufzugehen vermag und was dennoch nicht unabhängig davon existieren kann. Trotz der bewussten Explizierungen dieser Aporie64

 Dimension des Ereignisses betont auch Bernhard Waldenfels. Aufmerken oder Zustoßen kennzeichnen für Waldenfels das Ereignis im Sinne des Pathos: des Widerfahrnisses, dem ein Moment des Selbst-Entzugs, der Fremdheit und Unfassbarkeit inhärent ist und das ein (stets nachträgliches und verkennendes) ‚Zufassenkriegen‘ einfordert. Vgl. WALDENFELS: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 32-47. 62 DERRIDA: Grammatologie, S. 108. 63 WALDENFELS: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 50. 64 Derrida zieht aus diesem aporetischen Umstand folgende epistemologische Schlüsse: „Das setzt nicht voraus, dass man darauf verzichtet, zu wissen oder zu philosophieren: Das philosophische Wissen akzeptiert diese viel versprechende Aporie, die nicht einfach nur negativ oder lähmend ist. Diese viel versprechende Aporie nimmt die Form des Möglich-Unmöglichen an. [...] Schwierig ist es, an diese Modalitäten, die ebenso viele Herausforderungen für das Wissen und die Theorie darstellen, einen konsistenten theoretischen Diskurs zu knüpfen. Das [...] Möglich-Unmögliche, das Einzigartige, insofern es substituierbar ist, die Singularität als wiederholbare – all das sieht aus wie Widersprüche, die sich nicht dialektisch auflösen lassen. Die Schwierigkeit besteht darin, an diese Strukturen, die die klassische Logik herausfordern, einen Diskurs zu knüpfen, der nicht einfach nur impressionistisch oder ohne Strenge wäre.“ DERRIDA: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 50-52.

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 drohen jedoch, so meine erste These, die Reflexionen und das Reden über das Ereignis einen Effekt zu erzeugen, durch den das zuvor etablierte Bewusstsein über die genuine Verwobenheit von Ereignis und Wiederholung letztlich wieder getilgt wird und das Ereignis, wenn auch unbeabsichtigt, als Singuläres und Autonomes erscheint. Wenn zum Beispiel von einer „Vertikalität des Ereignisses“ als „absolute[r] Ankunft“ 65 gesprochen wird oder vom „Ereignis als Quelle“66 die Rede ist, scheint das Ereignis hierbei in einer vermeintlichen Reinheit auf, die es aber gerade in der Rede über es nicht hat. Das Ereignis wird damit, trotz der Betonung seiner postmetaphysischen, diskursimmanenten Transzendenz, exteriorisiert, das heißt, in ein Außen verlagert. Ein derartiges, nachträgliches Konstruieren des Ereignisses als ein abgeschlossenes Außen – so ließe sich Derrida gegen sich selbst wenden – „substituiert sich in aller Heimlichkeit seiner Mitteilung“ 67 und läuft Gefahr, einem ungewollten Ereignis-Essentialismus zu verfallen. Eine solche Verwandlung des Ereignisses in ein Außen durch dessen Wiederholung, so meine zweite These, lässt das Ereignis ins Mythische kippen. Unter dem Mythischen verstehe ich dabei im weiteren Sinne die Wirkung von Sinnkonfigurationen, die den unfassbaren Ursprung von (symbolischer) Gemeinschaft nachträglich hervorbringen, die das Unsagbare, das Unerzählbare in einen sinnhaft-logischen Kontext einbetten und es in ein in sich geschlossenes Außen verlagern. ‚Mythisch‘ meint hierbei nicht zwangsläufig, dass ein Mythos im Sinne einer schriftlichen oder mündlichen Ursprungserzählung vorliegen muss.68 Vielmehr möchte ich das Mythische von dessen Wirkung her denken. Etwas als

 65 Ebd., S. 60. 66 MERSCH: Was sich zeigt, S. 20. 67 DERRIDA: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 24. 68 Ursprungserzählungen, in denen die Nachträglichkeit ihrer Konstruktionen mit reflektiert wird, findet man häufig in der Psychoanalyse. Hier wird z.B. der unsagbare Ursprung von Gemeinschaft oder Subjekt zwar als sekundär, als nachträglich und deshalb als immanent gedacht und dennoch bewusst als theoretische Erzählung entworfen und damit in einem Außen verortet. Sigmund Freud z.B. versucht in seinen Ursprungserzählungen (theoretische Fiktionen) etwas von dem mitzuteilen, was sich nicht sagen lässt. So kreist die Abhandlung Totem und Tabu, wie der Kultur- und Medienwissenschaftler Reinhold Görling in diesem Zusammenhang erwähnt, um eine „(nicht)ursprüngliche Ab- oder Aufspaltung des kulturellen Textes, um ein Ereignis traumatischer Qualität, das, indem es ein Nichterinnerbares schafft, den kulturellen Text oder das kollektive Gedächtnis überhaupt erst entstehen läßt.“ GÖRLING: „Eine Maschine, die nächstens von selber geht“, S. 564.

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 mythisch wahrzunehmen bedeutet dabei, diesem Etwas eine transzendentale, seine spätere Wiederholung als solche begründende Ursprünglichkeit zuzusprechen – ein Vorgang, der zwangsläufig mit einem Erzählen einhergeht. Denn etwas als mythisch wahrzunehmen heißt, dass zwischen dem ‚Jetzt‘ der Wiederholung und ihrem ‚Ursprung‘ ein zeitlicher Abstand erkennbar wird, der ein Narrativieren einfordert. Sofern etwas ‚mythisch‘ wirkt, hat bereits ein Erzählen eingesetzt. Das Verhältnis zwischen Ereignis und Wiederholung ist demnach aufgrund seiner Nachträglichkeit potentiell ein narratives Verhältnis: Es wird als mythisch-narrativ wahrgenommen, sofern die Wiederholung als Wiederholung erkennbar wird.69 Die Rede über Ereignisse, wie sie häufig im Kontext von Dekonstruktion und Phänomenologie vollzogen wird, tendiert dazu mythisch zu wirken, sofern sie ein Phänomen annehmbar und erklärbar zu machen versucht, das sich selbst jeder Erklärung entzieht, da es diese räumlich und zeitlich immer schon transzendiert – wie in diesem theoretischen Kontext selbst immer wieder betont wird. Eine solche unbeabsichtigte negative Dialektik der Postmetaphysik, bei welcher die Rede über Ereignisse ihrer Wirkung nach wieder in Metaphysik umschlägt, zeigt sich besonders deutlich in Beschreibungen des Ereignisses, in denen mythisch-religiöse Implikationen anklingen, die unter Umständen dazu veranlassen, die Rede über das Ereignis vor dem Hintergrund des archetypischen Narrativs einer theologisch geprägten Ursprungsgeschichte wahrzunehmen. So zum Beispiel wenn das Ereignis beschrieben wird als ‚Singuläres‘, als ‚absolut Unvorhersehbares‘, als „Aura“,70 als ein an „Glauben“ gekoppeltes „[J]enseits des Wissens“, als „Vertikal[es]“ oder als „Messianische[s]“.71 Selbst ein postmetaphysisches Denken des Ereignisses, in dem letzteres als immanenter Ursprung, als präsente Absenz gedacht wird, vermag demnach häufig – seinen Effekten nach – eine Nähe zum Mythischen aufrecht zu erhalten. Nicht ohne Grund hat Gianluca Solla auf eine „unbewusste [...] theologische Dimension der heutigen ‚Vergötterung‘ des Ereignisses“72 aufmerksam gemacht.

 69 Eine mündliche oder schriftliche Nacherzählung lässt sich dabei als diejenige Wiederholungsform eines Ereignisses beschreiben, in der ein generelles nachträglich-narratives Verhältnis zwischen Ereignis und Wiederholung in Form eines explizierten, narrativen Diskurses sichtbar wird. 70 MERSCH: Ereignis und Aura. 71 Letzten vier Zitate: DERRIDA: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 26 und S. 60. 72 Nikolaus Müller-Schöll paraphrasiert Solla: MÜLLER-SCHÖLL (Hrsg.): Ereignis, S. 14. Vgl. SOLLA: „‚Alles, was der Fall ist‘“.

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 Eine derartige Rede über das Ereignis lässt das Ereignis schließlich als ursprünglich Unvertrautes vertraut werden. Und so erweist sich auch Derridas Nachdenken über das Ereignis zu einem Anteil als eine „Arbeit am Mythos“, die nach Blumenberg immer auch eine Arbeit am Logos darstellt.73 Zugespitzt formuliert: Wenn zum Beispiel Derrida in seinem Vortrag über das Ereignis, aus dessen Abdruck ich bislang zitiert habe, seine eigene Rede über das Ereignis selbstreferenziell als Ereignis ausweist, welches erst zukünftig „ein Ereignis gewesen sein wird“,74 vollzieht er einen mythisierenden narrativen Akt, durch den – ähnlich der ‚Selbsterzählung‘ in Lone Twins To The Dogs – im Voraus ein telos geschaffen wird, von dem aus die gegenwärtig rezipierte Rede als Ereignis erkennbar werden kann. Wenn sich darüber hinaus Derridas Rede in den Kontext mythisch-religiöser Plotstrukturen einbetten lässt, geht Derrida – selbst wenn dies nicht seiner Absicht entspricht – schließlich selbst als Held aus einem Mythos hervor, der über Unerzählbares erzählt. Dieser Held ist zwangsläufig ein tragischer Held, insofern das postmetaphysische Denken des Ereignisses, für das Derrida kämpft – nämlich das Ereignis zugleich transzendent und immanent zu verstehen – paradoxerweise (fast) nur um den Preis eines Umschlags ins Logozentristisch-Mythische verständlich wird.

 Mythos Aufführung Einem ähnlichen Mythisierungseffekt, wie er sich in der Rede über das Ereignis beobachten lässt, droht auch, so meine Ausgangsthese für das Folgende, die Rede über Aufführungen als Ereignisse zu unterliegen. Teilweise rekurriert diese Rede direkt auf phänomenologische und dekonstruktivistische (teilweise auch psychoanalytische) Konzeptualisierungen des Ereignisses. „Performance’s being

 73 „Die Grenzlinie zwischen Mythos und Logos ist imaginär [...]. Der Mythos selbst ist ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos.“ BLUMENBERG: Arbeit am Mythos, S. 18. Vgl. auch Jamme: „Der Ursprung ist präsent, so lange an ihm gearbeitet wird, der Mythos ist mithin nicht vorweltlich, sondern gehört zu unserer Welt“. JAMME: Geschichten und Geschichte, S. 16. 74 DERRIDA: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 47. Derrida verweist hierfür mehrfach auf den Improvisationscharakter seines Vortrags: „dass es [das vorgetragene Thema] in dem Maß, in dem das Geschehen hier unvorhersehbar war – für mich unvorhersehbar, weil wir weitgehend improvisiert haben –, dass es in dem Maß ein Ereignis gewesen sein wird. Es findet statt und es war nicht geplant – wir haben einiges geplant, aber nicht alles. Es gibt Ereignis nur, insofern das, was geschieht, nicht vorhergesagt war.“ Ebd.

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 […] becomes itself through disappearance“, 75 schreibt Peggy Phelan in Unmarked. Da nie fassbar, vergegenwärtigt „performance“ als ein nicht-reproduzierbares, permanent entgleitendes Phänomen den Umstand, dass jegliches Bemühen eines ‚Zu-fassen-Kriegens‘ vergebens ist. Die Performance „begins with the knowlegde of its own failure, that it cannot be achieved.“76 Wenn Phelan die Flüchtigkeit der Performance jedoch letztlich in Form einer (wenn auch paradoxen, weil flüchtigen) „ontology“ 77 zu charakterisieren versucht, nach welcher die Performance gerade aufgrund ihrer Uneinholbarkeit ein genuin subversives Phänomen markiert, das dem System des Warentauschs, der Technisierung und der Reproduktion durch einen ontologisch verbürgten Entzug Widerstand leistet,78 dann suggeriert Phelans Rede trotz aller Betonung der Unverfügbarkeit von „performance“ die Möglichkeit einer Abspaltung, einer Draufsicht auf eine fassbare Entität. Als mythisch vermag diese Rede insofern zu erscheinen, als hier die Möglichkeit vorstellig wird, die Welt ließe sich in zwei Teile teilen: in eine unvordenkliche (heilige) Welt der Performance, verstanden als ein sich entziehendes Ereignis, und eine jetzige (profane) Welt, von der aus die Aufführung als unzugänglich Vergangenes immer nur unzulänglich betrachtet werden kann. Nach Maurice Godelier ist es gerade das „dem Tauschprinzip Entzogene“, 79 welches in Ursprungsmythen für die heilige Welt kennzeichnend ist. Mythos und Ereignis unterliegen mitunter haargenau derselben Definition. So ist das Ereignis für Derrida dem „ökonomischen Zirkel des Tausches“80 enthoben. Obgleich sich Phelans Überlegungen einer solchen vereinfachenden Opposition freilich widersetzen, da „performance“ hier gerade nicht als essentialistischtranszendentes, sondern als ein immer schon strukturimmanentes und zugleich struktursubversives Moment gedacht wird, muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Rede vom subversiven Potential des Performance-Ereignisses ihrer Wirkung nach zumindest anteilig ins Fahrwasser des Mythischen zu geraten droht. Ohne die widerständige Kraft, die der Flüchtigkeit eignet, leugnen zu wollen, muss dennoch bedacht werden, dass Phelans diskursive Markierung von

 75 PHELAN: Unmarked, S. 146. 76 Ebd., S. 152. 77 Vgl. Phelans Kapitel „The ontology of performance: representation without reproduction“. Ebd., S. 146-166. 78 „Performance refuses this system of exchange and resists the circulatory economy fundamental to it. [...] Performance’s independence from mass reproduction, technologically, economically, and linguistically, is its greatest strength.“ Ebd., S. 149. 79 GODELIER, zitiert nach: MÜLLER-FUNK: Die Kultur und ihre Narrative, S. 113. 80 DERRIDA: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 29.

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 „performance“ als „unmarked“ in ein mythisches Objekt zu kippen vermag, welches „das Unsagbare sagt [und] das Unvorstellbare vorstellt“. Eine derartige Aufladung mit dem „stärksten symbolischen Wert“81 kennzeichnet die mythische Qualität einer solchen Rede von „performance“ ebenso wie – ins Deutsche gewendet – die Rede von Performanz und Aufführung. Wenn die Rede beziehungsweise sonstige Wiederholungen von Aufführungsereignissen eine Nähe zum Mythischen unterhalten, rüttelt dies an den theoretischen Grundpfeilern der Performance- und Aufführungstheorie. Wie Rebecca Schneider in Rekurs auf eine Konversation mit Richard Schechner betont hat, stellt „[t]he approach to performance as an ,ephemeral event‘“ einen Meilenstein der Performancetheorie dar. Diese Perspektive, so fährt Schneider fort, „has been evident as basic to performance theory since the 1960s“.82 Dabei stand und steht jene Perspektive im Zeichen einer allgemeinen epistemologischen Verschiebung, die jeglichen Essentialismen zu entkommen versuchte, verschärfte doch jener Blick auf Aufführungen die Einsicht, dass Untersuchungsgegenstände allgemein niemals feststehende, wirkungslose Objekte darstellen und stets unter dem direkten und momenthaft-flüchtigen Einfluss seiner Betrachterinnen stehen. Dabei diente besonders die künstlerische Aufführungspraxis der frühen Performancekunst der Theater- und Performancetheorie als paradigmatischer Gegenstand. Geradezu beispielhaft wurde in jenen Aufführungen die eigene Flüchtigkeit als Bedingung für das Erscheinen unwiederholbarer Momente im reziproken Zusammenspiel zwischen Performern und Zuschauern reflektiert und ausgestellt. Je mehr jedoch spezifische Performances als ‚paradigmatische Kunstereignisse‘ deklariert werden, desto stärker schreiben sich jene Aufführungen in einen kunsthistorischen Kanon ein, der gerade darauf angelegt ist, Gewesenes festzuhalten. Gerade in einer Kanonisierung der Performancekunst als ephemerer Kunst par excellence droht sich ein Umschlag ins Mythische zu vollziehen. Denn wenn die klassische Performancekunst ihre eigene Ereignishaftigkeit exemplarisch in Szene setzt, dann werden ihre spezifischen Darstellungstechniken – wie zum Beispiel die Verwendung des Körpers als Material oder die Herstellung von Momenten einer oftmals lebensbedrohlichen Potentialität – zu ebenso exemplarischen Signifikanten des Ereignisses. Die Darstellungstechniken der klassischen Performancekunst signifizieren Ereignishaftigkeit. Und genau hier vollzieht sich die Verwandlung jener Techniken in mythisch aufgeladene Objekte: Sie werden, wie man mit Roland Barthes sagen könnte, mit einem

 81 Dieses und vorheriges Zitat: GODELIER: Das Rätsel der Gabe, S. 242. 82 Dieses und vorheriges Zitat: SCHNEIDER: „Archives“, S. 106.

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 metasprachlichen Wahrheitsgehalt versehen, 83 indem sie zu Trägern eines für immer schon verlorenen, immer nur unzulänglich beschreibbaren Augenblicks stilisiert werden. Eine mythisch-narrative Wirkung dieser Signifikanten vermag sich dabei nicht nur in einer mündlichen und schriftlichen Rede oder Nacherzählung über sie zu realisieren, sondern in jeglichen Wiederholungsformen: in Videos, in Fotografien, in auditiven Aufzeichnungen oder in Reenactments. 84 Jene Dokumente legen als Relikte nicht nur Zeugnis von einer Aufführung ab, sondern stellen zugleich eine unaufhörliche Arbeit an der Aufführung als unwiederbringlichem Ursprung dar, das heißt eine Arbeit am ‚Mythos Aufführung‘. Eine mythisch-narrative Wirkung zeigt sich unter Umständen auch in Aufführungen der Performancekunst selbst, sofern diese immer auch einen Wiederholungs- und damit Dokumentationsakt ihres eigenen Genres darstellen. Um der Wirkung von Aufführungen und ihren Dokumenten gerecht zu werden, so mein Vorschlag, gilt es diesen potentiellen Umschlag ins MythischNarrative nicht zu leugnen, sondern diesen als Teil eines aporetischen Verhältnisses von Aufführungen und ihren Dokumenten anzunehmen und produktiv zu machen. Aufführungen sind in der Tat ephemer, aber so sind es auch ihre Wiederholungen. Wiederholungen von Aufführungen sind in der Tat sekundär, aber so sind es auch immer schon Aufführungen, sofern diese selbst immer auch Akte des Wiederholens bestimmter Symbole, Techniken und Diskurse darstellen. Eine Aufführung ist zu einem Anteil immer schon Wiederholung, die sich ereignet. War es im Kontext des performative turn nicht zuletzt zum Zweck einer Abgrenzung gegenüber vornehmlich semiotischen Analyseansätzen notwendig und fruchtbar, sich den ephemeren Qualitäten der Aufführung zuzuwenden,85 gilt es im Folgenden mit Blick auf die mythisch-narrative Wirkung von Aufführungen und deren Dokumentationen sich den blinden Flecken eines stark phänomenologisch geprägten Zugangs zu Aufführungen zuzuwenden und folglich das unauflösliche und stark von narrativen Implikationen durchzogene Ineinandergreifen von Aufführungsereignis und Aufführungsdokumenten als zentrales Anliegen einer Theorie von Aufführungen stark zu machen.

 83 Barthes redet vom Mythos als „Metasprache“. Vgl. BARTHES: Mythen des Alltags, S. 93. 84 Vgl. auch Barbara Clausen, die Performancekunst-Dokumente als „Träger des Mythos eines verlorenen Moments“ bezeichnet. CLAUSEN: After the Act, S. 7. 85 Dies war explizites Forschungsprogramm des theaterwissenschaftlichen Teilprojekts „Ästhetik des Performativen“ im DFG Sonderforschungsbereich 447 „Kulturen des Performativen“ (1998-2010) an der Freien Universität Berlin, in dem ich selbst einige Jahre mitgearbeitet habe.

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 Eine solche Perspektive fordert Boryana Rossas Performance The Vitruvian Body ein, in der die bisher angestellten Überlegungen künstlerisch weitergetrieben werden. Rossas Performance ‚performt‘ ihre eigene mythisch-narrative Qualität.

3.2 D U SOLLST D IR ( K ) EIN B ILDNIS M YTHOS P ERFORMANCEKUNST 

MACHEN .

Macht der Mythen Abbildung 12: Boryana Rossa: The Vitruvian Body (2009)

Foto: Jan Stradtmann.



Diese Fotografie von Rossas Performance stellt als Pressefoto ein relativ repräsentatives Abbild dessen dar, was die Künstlerin während ihrer Performance mit einem Augenzwinkern als das bezeichnete, „what really happened“. 86 „What really happened“ meint Folgendes: Rossa stellt sich unbekleidet in eine der Dar-

 86 Beschreibungen der Performance ebenso wie Zitate der Performerin entstammen meinen Mitschriften während der Aufführung sowie dem privaten Videomitschnitt von Boryana Rossa.

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 stellung des vitruvianischen Menschen von Leonardo da Vinci nachgebauten, kreisförmigen Stahlkonstruktion, durch deren vier Löcher sie Arme und Beine ähnlich der von da Vinci dargestellten männlichen Figur von sich spreizt, um sich im Folgenden die Extremitäten von ihrem Partner Oleg Mavromatti mit Nadel und Faden an die Stahlkonstruktion annähen und anschließend ihren Mund zunähen zu lassen. Laut Programmheft geht es in ihrer Performance um eine Kritik an einem biotechnologisch propagierten, idealisierten und damit normierenden Körperbild, das sich auf das frühneuzeitliche Ideal des vitruvianischen (männlichen) Menschen zurückführen lässt und von dem ein machtvoller Imperativ zur körperlichen und damit letztlich zur schmerzlichen Anpassung ausgeht. Damit situiert sich Rossas Performance, wie die meisten ihrer Arbeiten, im Umfeld der Body Art, die eines der prominentesten Sub-Genres klassischer Performancekunst seit den 1960er Jahren darstellt. Rossa lässt sich damit in einen Kunstkontext einordnen, der historisch betrachtet durch eine hierin erfolgende Exponierung des häufig gemarterten ‚Körpers als Material‘ Anlass dazu gab, über die Unvorhersehbarkeit, über das transformative Potential und die Liminalität von Aufführungen nachzudenken. Dass Rossa jedoch während dieser Operation tatsächlich Schmerzen empfindet, dass sie an den Einstichstellen der Nadel heftig zu bluten beginnt, dass ihr Körper sich mit einer Gänsehaut überzieht – all dies scheint sich geradezu nebenbei zu vollziehen. Die am Material des real schmerzenden Körpers zur Aufführung gebrachten, symbolischen Implikationen samt deren affektiven und potentiell ‚liminalen‘ Qualitäten bleiben zunächst vollkommen unauffällig. Das, was gemeinhin als das spezifisch Ereignishafte einer Body Art-Performance deklariert wird, fällt hier nicht auf und taugt damit nicht zum Ereignis. Auffällig werden stattdessen die verbalen Äußerungen der Künstlerin, mit denen sie den Body Art-Anteil ihrer Performance buchstäblich überspielt: Unablässig kommuniziert sie mit dem Publikum und kommentiert selbstreflexiv

 87 Vgl. hierzu zwei Essays, in denen die Arbeiten von Marina Abramoviü paradigmatisch für jene als aufführungstypisch erachteten Attribute stehen. So schreibt Peggy Phelan: „What distinguishes performance art from other arts, both mediated and live, is precisely the promise of this possibility of mutual transformation during the enactment of the event.“ PHELAN: „On Seeing the Invisible“, S. 19. Und Erika FischerLichte schreibt in Rekurs auf Abramoviü’ Performances: „The experience that the spectators underwent was a liminal experience. It was aroused by the sense of being transferred between different, even opposite frames, rules, norms, and patterns of behaviour, between aesthetic and ethical demands. It is, in fact, the concept of liminality that becomes crucial here.“ FISCHER-LICHTE: „Performance Art“, S. 37.

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 ihre künstlerische Absicht. Sie berichtet über ihre vergangenen Arbeiten und liefert Nacherzählungen berühmter Performances. Rossa nimmt damit nicht nur die Haltung einer (klassischen) Performancekünstlerin ein, sondern sie erscheint immer schon als ihre eigene Beobachterin, Kommentatorin und Theoretikerin. Darüber hinaus lädt die Künstlerin ihr Publikum dazu ein – entgegen des zu Beginn der Performance seitens der Kuratorinnen ausgesprochenen Fotografierverbots – das Geschehen auf der Bühne mittels allen, den Zuschauern zur Verfügung stehenden, visuellen Speichermedien festzuhalten und dafür möglichst nah an die Performerin heranzutreten. Die Performance wird dominiert von Erklärungen, von mündlichen Erzählungen vergangener, kanonischer Performances und vom Akt des live-Dokumentierens. Ihr Effekt ist entsprechend ein gänzlich anderer als der, den die während Rossas Performance entstehenden Bilder zu suggerieren, beziehungsweise zu zitieren vermögen. The Vitruvian Body ist eine Anti-Body-Art-Performance: kein Energie geladener, intensiver Blickaustausch, keine mit Tränen gefüllten, geröteten Augen, kein Schock, kein Begehren, kein Ekel, keine Scham, kein moralisches Bedürfnis zum Einschreiten oder zum Unterbrechen des Geschehens auf der Bühne, keine spannungsgeladene, fokussierte Konzentration auf das, „what really happened“. Rossas amüsiert-unangespannte Haltung hingegen, ihr unablässiges Erklären, Witzeln, Dozieren und mündliches Erzählen erinnern eher an eine anspruchsvolle Stand-up-Comedy-Show als an eine Body Art-Performance. Ex negativo wird hier das Fehlen einer für Body Art bekannten Atmosphäre deutlich. Anstelle dieser dominiert eine andere Atmosphäre. Statt Konzentration, Intensität und Fokussierung macht sich Diffusion breit. Statt stiller Andacht in einer unwiederbringlichen Performance, von der man sich laut Kuratorinnen kein Bildnis machen soll, wandern Zuschauer unruhig umher und lassen unentwegt ihre Handykameras aufblitzen. Deren fetischisierenden, durch die Kamera herangezoomten close-ups von Rossas Körperteilen schließlich werden die zukünftige Wirkung dessen verbürgen, „what really happened“. Vornehmlich durch die Handydisplays wird während der Aufführung frühzeitig das erkennbar, was den meisten Anwesenden über Body Art bekannt sein dürfte: die Inszenierungen des Schmerzes, das Blut, der Schock, die Mythen der Body Art – Mythen, die das Unfassbare fassen. Nicht die Macht des vitruvianischen Körpers, sondern die Macht der Mythen der Performancekunst bildet das Zentrum von Rossas Arbeit. Wie Rossa ihr Publikum während der Aufführung auffordert: „Think about what kind of mythology you are creating with your cameras right now or what kind of myth I am creating by telling you all these stories.“

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 Body Art als transzendentales Signifikat Abbildung 13: Boryana Rossa: The Vitruvian Body (2009)

                   

Foto: Jan Stradtmann

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 Die meisten Fotos werden am Ende von Rossas Performance geschossen, dann wenn Rossas Mund zugenäht ist und ihre Erzählungen und Kommentare verstummen. Der ‚ereignisreichste‘ Augenblick der Performance – der versehrte Körper in seiner zur Schock-Respons auffordernden, auffälligen Materialität –, geboren durch die digitalen Speichermedien der Besucher, und jetzt hier, als Foto-Reliquie abgedruckt in diesem Text, erfahrbar gemacht als das, „what really happened“. Bevor Rossa gezwungenermaßen zu reden aufhörte und damit dem Unsagbaren qua Kameraknips endgültig die Regie überließ, gab sie ihrem Publikum noch einen kleinen Ratschlag fürs Fotografieren: „One last thing“, sagte sie, „it is important that the pictures that you make, that they portrait the action in one, that you have at least one picture that really shows what happened: that I am stitched up to this construction here.“ Jene Bilder fungieren als sakralisierte Relikte, die den für immer verlorenen Moment körperlicher Versehrtheit wiederholen und eine vielen Zuschauern vertraute, ereigniskonstitutierende Ikonografie kanonisierter Performancefotografien aufrufen. Die Body Art-Praktiken der 1970er Jahre, wie zum Beispiel die eingangs erwähnten, frühen Performances von Marina Abramoviü, erscheinen im Kontext von Rossas Performance als eine zum transzendentalen Signifikat stilisierte Darstellungstechnik, die es in Zeiten einer spezifischen, (medien-)historischen Konstellation vermochte, als Erschütterung des Ablaufs, als Unterbrechung des Gewohnten wahrgenommen zu werden. 88 Die Tatsache, dass Merkmale wie Nacktheit, körperliche Versehrtheit und Schmerz zu Symbolen performancekunstbezogener Ereignishaftigkeit werden konnten, wird erst jetzt mittels Rossas formaler Distanzierung zum prototypischen Body Art-Format deutlich. Jene distanzierende Wiederholung des Genres lässt einen zeitlichen Abstand sichtbar werden, der nicht zuletzt zur Narrativierung einer Performancegeschichte auffordert. Rossas Performance stellt eine historische Studie as performance dar, insofern Rossa Spuren des Vergangenen aufspürt, die erst aus der Gegenwart

 88 Philip Auslander hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Behauptung, die Aufführung sei ein von ,Medialisierungen‘ unabhängiges Phänomen, medienhistorisch betrachtet selbst als Resultat einer Medialisierung von Gesellschaft verstanden werden muss. Entsprechend sind Auslander zu Folge der Diskurs über sowie die Wahrnehmung von Aufführungen auch auf einer aufführungsstrukturellen Ebene immer schon von technisch-medialen Implikationen durchzogen: von einem ‚image about liveness‘. In der Performancekunst realisiere sich damit die Vereinigung zweier für die westliche Gesellschaft gegenwärtig gültiger, widersprüchlicher und dennoch reziproker Faktoren: das mediale Spektakel sowie die Sehnsucht nach dem Unmittelbaren. Vgl. AUSLANDER: Liveness, S. 10ff.

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 ihrer Performance nachträglich lesbar werden und die das, was gemeinhin als Ereignishaftigkeit einer Aufführung, als das Jenseits der Signifikation verstanden wird, als ein zutiefst von konventionalisierten Inszenierungstechniken durchzogenes Phänomen sichtbar machen. Jede heutige Body Art-Performance entpuppt sich in und durch Rossas Negativ-Performance als ein Reenactment ihrer selbst, das heißt als ein Reenactment ihrer eigenen, von mythischen Implikationen durchzogenen Konventionen, welche die in Performancetheorie geschulte Wahrnehmung und Rede über Aufführungen immer schon mit beeinflussen. Die Aufführung selbst ist hier Wiederholungsakt. Sie ist das Speichermedium ihrer eigenen Techniken, Diskurse und schließlich auch ihrer Wirkungen.

3.3 E S GEHT UM L EBEN UND T OD . V ERSTECKTE N ARRATIVE DER B ODY ART  Performance, Tod und Narration Damit etwas ein Ereignis sein kann, muss es immer schon vergangen sein. In der Singularität des Ereignisses „ist der Tod mit von der Partie“,89 wie Derrida präzisiert. Es ist die Nähe zur eigenen Endlichkeit, die in der Versehrtheit der Körper in vielen Aufführungen der Body Art vergegenwärtigt wird. Die aufflackernde Möglichkeit des Todes als Garant für Ereignishaftigkeit: Es waren gerade die Genre-definierenden Pioniere der Performancekunst, die sich in ihren Darbietungen der Gefahr des Todes aussetzten und damit die Paradoxien einer gegenwärtigen Flüchtigkeit des einbrechenden Ereignisses in Szene setzten. „What surprises most of us“, schreibt Phelan über die frühen Arbeiten von Marina Abramoviü, „is the finality of death.“90 Wenn in der Performance- und Theatertheorie der letzten dreißig Jahre das Theater immer wieder als ein Ort des Sterbens beschrieben wurde,91 dann geschieht dies vor dem historischen Hintergrund der Performancekunst, deren Verdienst es war, nicht nur einem Verständnis von Kunst als Werk und Objekt ein Verständnis von Kunst als Ereignis entgegenzustellen, sondern jene Ereignishaftigkeit selbst als ein unablässiges Verschwin-

 89 DERRIDA: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 40. 90 PHELAN: „On Seeing the Invisible“ S. 19. 91 Wie Herbert Blau argumentiert: „The person performing in front of you is dying in front of your eyes“. BLAU, zitiert nach: PASQUIER: „Remembering Beckett“, S. 46, (Interview mit Herbert Blau). David Williams schreibt über Theater als „most mortal of forms, forever hovering at the cusp of appearance and disappearance“, WILLIAMS: ‚The Work of Hope‘.

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 den, als ein ‚Sterben‘ zu präsentieren. In der Thematisierung der Möglichkeit des überraschendsten, des unvorhersehbarsten, des unerklärlichsten Ereignisses überhaupt – dem Tod – verwiesen Performancekünstler wie Abramoviü in ihren Aufführungen immer schon auf ihre eigenen, künftig spukenden Geister. 92 Gerade die einschlägigen Wirkungen jener spektakulären, todesnahen Performances sollten fortan nicht aufhören, ihre Rezipienten in Form von Wiederholungen heimzusuchen. Die wohl anschaulichsten Zeugnisse einer Heimsuche von kanonischen, todesmutigen Performances liefern ihre Nacherzählungen. Dabei bieten gerade die zunächst als anti-narrativ verbuchten Spektakel den besten Stoff für eine spannende Geschichte. Nichts scheint sich besser für die Komposition einer ergreifenden story zu eignen als besonders ereignishafte Performances, in denen die Protagonisten gerade noch mal ganz knapp dem Tod entronnen sind: Wenn nicht ein Zuschauer herbeigeeilt wäre, als Marina Abramoviü auf dem Eisblock liegend ihr Bewusstsein verlor, wenn die Kugel aus der Pistole, die für Chris Burdens Arm bestimmt war, daneben gegangen wäre, wenn Ulays Hand gezittert und der von ihm auf Marina Abramoviü gerichtete Bogenpfeil sich gelöst hätte – dann wären all jene Performanceheldinnen und -helden gestorben. Wie es über Chris Burdens Performances Prelude to 220 und 220 von 1971 heißt: „had the buckets been tipped over, electrical current might have travelled through the spilled water to Burden’s body“, oder „had the participants fallen off the ladders, they would have been electrocuted“. 93 Dieses Spannungsnarrativ – häufig gekoppelt an eine Konditionalstruktur ‚und wenn sie nicht ..., dann wäre sie gestorben ...‘ – ist an ein Mindestmaß an Potentialität gebunden, an deren antizipiertem Ende der Tod als Möglichkeit stets anwesend ist. Die mythische Qualität jener Performances manifestiert sich hier in Form einer Ursprungserzählung. Eine Erzählung, die von den ‚fast geopferten‘ aber schließlich der Gefahr entkommenen Performancehelden berichtet, die schließlich die Body Art als kunsthistorisch relevantes Genre hervorbrachten. Der (mögliche) Tod wird damit zur Signatur eines Genres. Wie Phelan es formuliert hat: „One of the achievements of body art in the 1970s was that its embodiments and navigations made it impossible, even now, to discuss live performance without also talking about

 92 Zur unheimlichen Struktur des immer schon wiederholten Ereignisses vgl. BORMANN: „Der unheimliche Beobachter“. 93 MCBRIDE, zitiert nach: ESKELINEN und TROMSTAD: „Video Games and Configurative Performances“, S. 205.

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 death. The entwined relationship between live performance and death has been at the core of the most radical art practice of the postwar period.“

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Dass der Tod als Signatur von „live performance“ jedoch gerade als Signatur, das heißt als konventionalisiertes Merkmal stark von narrativen Implikationen durchzogen ist, dass jene lebensbedrohlichen Performances gerade aufgrund des In-Szene-Setzens des radikalsten Ereignisses schlechthin, dem Tod, zum Erzählen auffordern, bleibt von Phelan unerwähnt und vor dem Hintergrund ihrer Trennung von „performance“ einerseits und „narrative histories“95 andererseits sogar unerkannt. Folgt man Walter Benjamin steht der Drang zum Erzählen in direkter Verbindung mit dem Tod. Am Ursprung des Erzählens, so Benjamin, steht die Autorität des Todes: „Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann. Vom Tode hat er seine Autorität geliehen.“ 96 Wir erzählen nicht nur, weil sich etwas ereignet hat, sondern – mit Benjamin ins Existentielle gewendet – wir erzählen, weil wir sterben müssen. In den narrativen Implikationen todesnaher Body Art-Performances scheint das Erzählen in seiner zumindest für die abendländische Kultur gültigen existentiell-anthropologischen Funktion auf, nämlich unsere endliche Lebenszeit fassbar zu machen und damit der eigenen Endlichkeit einen Sinn zu geben. Erzählen, um nochmals den Literaturtheoretiker Peter Brooks heran zu ziehen, „is the principle ordering force of those meanings that we try to wrest from human temporality.“97 Vor dem Hintergrund des Todes als ultimativem Ende wird der Drang zum Erzählen, das selbst immer gen Ende, gen telos und damit nach finiter Auflösung strebt, am deutlichsten. In jedem Erzählakt wird damit, zugespitzt formuliert, eine nicht-fassbare Endlichkeit von Existenz ins Werk gesetzt und dabei doch stets verfehlt. Denn so sehr der Tod auch ein Erzählen veranlasst, so wird doch gerade hier am deutlichsten, dass Ereignisse sich narrativ niemals gänzlich fassen lassen. Das Sterben lässt sich nicht erzählen und doch will es, ja muss es immer wieder erzählt werden. Peter Brooks hat dieses Dilemma des Erzählens, dem Tod als telos so nah und doch so fern zu sein, mit Freuds Todestrieb begründet. Der Spalt zwischen Erzählen und Erzähltem, so Brooks, vermag sich erst im Tod zu schließen. Dieses Versprechen, das in jedem Erzählen aufscheint, zwingt zur lustvollen Wiederholung: zum Erzählen als einem notwendigen und paradoxen

 94 PHELAN: „On Seeing the Invisible“ S. 20. 95 „[P]erformance lives in the now, while narrative histories describe it later.“ PHELAN: „Shards of a History of Performance Art“, S. 500. 96 BENJAMIN: „Der Erzähler“, S. 450. 97 BROOKS: Reading for the Plot, S. xi.

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 Vorgang, der das Ende, wenn auch verkennend, fassbar macht und es zugleich erzählend aufschiebt. Das Narrative fungiert hier als eine Lust „that never can quite speak its name [...] but that insists on speaking over and over again its movement toward that name“.98 Wenn also die Body Art diejenige Kunstform darstellt, die das Ereignis existentieller Endlichkeit auf besondere Weise in Szene setzt, dann erscheint es konsequent, dass gerade jene Performances, die sich einem narrativen Sinn zunächst entziehen, zugleich einen erhöhten Erzähldrang auslösen, der den Todestrieb jener Kunstereignisse fortsetzt. Nicht-Erzählbarkeit und Erzählen sind zwei Seiten derselben Medaille. In der Wirkung der todesnahen Arbeiten der Performancekunst und ihrer Dokumente tritt die Interferenz von Ereignishaftigkeit, Endlichkeit und einem darin angelegten Impuls zum (Nach-)Erzählen zu Tage. Die Vergänglichkeit, die in der Performancekunst als der „most mortal of forms“99 immer schon selbstreferenziell ausgestellt wird, wurde in den todesmutigen Performances der 1960er und 1970er Jahre sozusagen verdoppelt. Hier ‚starb‘ nicht nur die Performance, sondern es starben potentiell auch ihre Beteiligten. So ist es nicht verwunderlich, dass gerade diejenigen Performances, die den Tod herausforderten, verstärkt ein Nacherzählen einfordern – und das bis heute. Der Tod, der hier aufscheint, lässt sich nur und zugleich überhaupt nicht narrativ bewältigen. Es sind dabei bezeichnenderweise vornehmlich klassische, auf narrative Geschlossenheit angelegte Spannungsnarrative, die jene künstlerischen Arbeiten veranlassen zu erzählen. Rossa lässt in ihrer Performance, wie der letzte Punkt dieses Kapitels verdeutlichen soll, jene Narrative erkennbar werden und macht dabei deutlich, dass diese nicht nur nachträglich sondern gegebenenfalls bereits im Vollzug der Aufführung latent wirksam werden. Latente Narrative sichtbar machen Rossas The Vitruvian Body wirft die Frage auf, unter welchen Umständen traditionelle Spannungsnarrative bereits im Moment der Aufführung greifen, das heißt, inwiefern sie bereits in der Aufführung mitaufgeführt werden und damit immer schon deren versteckte Handlungsfolie und latenten Wahrnehmungshintergrund bilden. Wie Rossa in ihrer Performance erzählt, sei eine tragisch endende Performance von Rudolf Schwarzkogler für ihre persönliche Performancepraxis prägend gewesen. Der Wiener Aktionist habe sich in seiner letzten Performance die Genitalien abgeschnitten und sei schließlich an den Folgen dieses schmerzhaften Eingriffs gestorben. Schwarzkoglers Performance selbst habe

 98 Ebd., S. 61. 99 WILLIAMS: ‚The Work of Hope‘.

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 Rossa allerdings nicht gesehen, sondern sie habe damals – in Bulgarien abgeschnitten von der westlichen Kunstwelt – über die Performance lediglich durch Hörensagen erfahren:

 „When I first started working with my body, people told me about this performance and I was really [Rossa lacht], wow, [...] we were all like: ‚This is really cool! We have to do something like this!‘. And since I was not able to really cut off anything like that and die, I figured out something else to do. But whatever I did people always said that it is so inferior in contrast to what [Schwarzkogler] did.“

 Rossas anfängliche Performancekunst beruhte ihr zu Folge auf der zumindest partiellen Nachahmung eines Performancestils, der jedoch von Beginn an für Rossa durch ein mündliches Erzählen geprägt war und dessen Wirkung für Rossa niemals jenseits dieser Erzählungen zu haben war. Minderwertig – „inferior“ – erschien Rossas frühe Body Art folglich genau genommen nicht gegenüber einer anderen Performance, sondern gegenüber deren Erzählungen, die Schwarzkoglers märtyrerische Ur-Performance als ein für Rossas eigene Praxis wirksames Signifikat zuallererst hervorbrachten. In der Performance The Vitruvian Body jedoch setzt sich Rossa, ganz im Gegensatz zu ihrem früheren Vorbild Schwarzkogler, keiner wirklichen Gefahr aus. Im Gegenteil unterbindet sie jegliche ‚Dramatik‘, die sich mit der schmerzlichen Operation an ihrem Körper verbinden ließe: „Yes, it’s kind of painful“, kommentiert Rossa die chirurgischen Eingriffe an ihren Extremitäten durch ihren Partner Mavromatti, „but I don’t want to make it more theatrical than it is.“ Mittels dieser verbalen Explizierungen des Schmerzes entzieht Rossa diesem zugleich jeglichen Authentizitätseffekt, bildet doch gerade das schweigende Ertragen, das Zeigen des körperlichen Schmerzes im stummen Nicht-Zeigen, die vorherrschende Schmerz-Inszenierungstechnik der Body Art, die eine möglichst affektvolle Schmerzübertragung zu garantieren im Stande ist. 100 Rossa taugt nicht zur Heldin, beziehungsweise sie wirkt in der Gegenwart ihrer Performance nicht als Heldin, weil sich ihre Performance nicht entsprechend erzählen lässt. The Vitruvian Body verweigert sich einer Zuordnung in ein klassisches Span-

 100 Unbeeindruckt vom Schmerz zum Beispiel gibt sich laut folgender Nacherzählung Marina Abramoviü: „When Abramoviü crushed the glass, cut the five-pointed star into her skin, flogged herself, or lay down on the ice cubes, she did not emit the slightest sign of pain. She restricted herself to performing actions that perceivably changed her body; she transgressed its limits without ever showing any external sign of the inner states triggered by it.“ FISCHER-LICHTE: „Performance Art“, S. 34.

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 nungsnarrativ, das hier in seiner Negation sichtbar wird als ein immer schon an bestimmte Inszenierungstechniken von Schmerz, Leid, Qual, ja von Mitleid und Furcht gekoppeltes Narrativ.101 Nicht ohne Grund wurde gerade den ritualhaften Eskapaden der Performancekunst immer wieder eine kathartische Wirkung zugesprochen. Die Gefahrensituation existiert in The Vitruvian Body lediglich als Zitat, etwa wenn Rossa eine Zuschauerin gegen Ende ihrer Performance dazu auffordert, sie mit einer Schere von der Stahlkonstruktion zu befreien. Die anschließend bei dieser bewusst inszenierten Rettungsaktion geschossenen Bilder dokumentieren nicht nur das berühmte Moment des Eingreifens von Zuschauern ins Bühnengeschehen, das in der Performancetheorie zum Paradebeispiel zur Veranschaulichung der ko-präsentischen Verfasstheit und der transformativen Effekte von Aufführungen avancierte. Die Fotografien markieren darüber hinaus den dramaturgischen Wendepunkt, die peripeteia einer Geschichte, die sich ihnen zukünftig entnehmen lassen wird und die bereits in der Gegenwart der Aufführung erkennbar wird, wenn die Zuschauer sich ihre soeben geschossenen Bilder auf ihren Handydisplays ansehen. Die Fotografien bilden die bereits gegenwärtig (ab-)sehbaren Zündstellen eines (künftigen) Mythos, der einen transgressiven Akt seitens der Zuschauer wiederholen wird. Sie verweisen auf all jene ähnlich strukturierten Geschichten, die vergangenen Performancefotografien inne wohnen. Wenn Rossa darauf Acht gibt, dass möglichst viele Zuschauer auf den während ihrer Performance geschossenen Bildern zu sehen sind, dann setzt sie das anwesende Publikum bewusst für ein abwesendes, zukünftiges Publikum in Szene.102 Dabei veranschaulicht ihre Performance zugleich, dass die Wahrneh-

 101 Einen ähnlichen Effekt hat Abramoviü’ Reenactment von Lips of Thomas (1975) von 2005, wie Sandra Umathum in einem Erinnerungsprotokoll über ihren ReenactmentBesuch schreibt: „Abramoviü has altered the dramatic composition of the performance. [...] In this way, she subverts not only the action chronology of the original performance, but also the narrative structure of it that built up towards a climax.“ Erst in der Wiederholung, so verdeutlicht dieses Erinnerungsprotokoll, wird die narrative Implikation der Originalperformance als Spur überhaupt sichtbar. UMATHUM: „Beyond Documentation“ S. 53f. 102 Wie Rossa während ihrer Performance kommentiert: „It’s nice to take pictures with many heads to show that people are very engaged, to show that there are many people in the space [...] We performance artists we create lots of different techniques to make people believe that it was really cool.“ Sobald eine Performancekünstlerin sich zur Dokumentation ihrer Performance entscheidet – so argumentiert Philip Auslander –, übernimmt sie weniger gegenüber dem anwesenden Publikum, sondern vor allem

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 mung einer Ko-Präsenz von Zuschauerinnen und Performerinnen immer schon durchzogen ist von Vorstellungen über Ko-Präsenz, die nicht selten narrativ aufgeladen sind. Rossas Performance untermauert nicht zuletzt Philip Auslanders These, nach welcher die Konstitution einer Aufführung weniger durch ein Wechselspiel zwischen real anwesenden Darstellern und Zuschauern erfolgt, sondern durch den performativen Akt des Dokumentierens, der die Aufführung als solche rahmt.103 Rossa spitzt diese These insofern zu, als sie die Annahme einer zeitlichen Trennung zwischen vorgängiger beziehungsweise nachträglicher Dokumentation einerseits und ko-präsentisch gegenwärtigem Performanceakt andererseits aufhebt, indem sie ein dokumentarisches Vor- und Nachleben Teil der ko-präsentischen Aufführung werden lässt. Vor- und Nachleben, so wird hier deutlich, sind immer schon als Spur anwesend in der Gegenwart der Aufführung und zeigen darin Wirkung. Wie die Performance The Vitruvian Body veranschaulicht, haben nicht selten konkrete Narrative Anteil an der Rahmung einer Aufführung qua Dokumentation. Vor dem Hintergrund von Rossas ‚negativer‘ Body Art entpuppt sich gerade die gemeinhin als anti-narrativ verbuchte Body Art in ihrer Nähe zum Tod als eine der Wirkung nach zutiefst von spannungsgeladenen, klassischen Narrativen durchzogene Kunstform. Jede erneute Inszenierung dieser Kunstform vermag jene narrativen Muster aufzurufen und damit die Aufführung als ein wahrliches ‚Drama‘ erscheinen zu lassen, in dem es um Leben und Tod geht. Peggy Phelan, die Marina Abramoviü’ Performances als genuin nicht-narrativ bezeichnet hat,104 beschrieb ein Eingreifen von Zuschauern ins Bühnengeschehen während einer Abramoviü-Performance einmal bezeichnenderweise als „protector’s response to the unfolding drama“. 105 Wenn für Phelan Zuschauer Beschützer und die Aufführung eine dramatische Geschichte darstellen, dann lässt sich Rossas Performance schließlich als eine Dekonstruktion latent wirksamer Narrative interpretieren, die der Wahrnehmung vieler lebensbedrohlicher Aufführungen der Performancekunst, sofern diese immer auch Wiederholungen ihrer eigenen etablierten Inszenierungstechniken darstellen, zu einem Anteil immer schon eingeschrieben sind. Und dann liefern Phelans eigene Erzählungen

 gegenüber den Rezipienten der Dokumentation Verantwortung. Vgl. AUSLANDER: „On the Performativity of Performance Documentation“, S. 29. 103 „In that sense, it is not the initial presence of an audience that makes an event a work of performance art to be documented: it is its framing as performance through the performative act of documenting it as such.“ Ebd. 104 Vgl. PHELAN: „On Seeing the Invisible“, S. 25. 105 Ebd., S. 18.

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 über (vermeintlich) nicht-narrative Performances, mit Rossa gelesen, selbst Zeugnis von diesem Umstand.

 Coda Schwarzkoglers Genitalselbstverstümmelungsperformance mit Todesfolge, jene Ursprungsgeschichte, die Rossas eigene künstlerische Praxis begründete, entpuppt sich, wie Rossa während ihrer Performance erzählt, nach eingehender Recherche ihrerseits als fiktive Geschichte. Wie Rossa weiter erzählt, fand sie außerdem heraus, dass die grassierende Geschichte über eine nie geschehene Performance auf der Grundlage von Fotografien entstanden war, die Schwarzkogler noch nicht einmal von sich selbst, sondern von einem Freund gemacht hatte. Dieser hatte sich für die Aufnahmen einen aufgeschlitzten Fisch vor sein Genital gebunden und daran eine vorgetäuschte Kastrations-OP durchgeführt, was jedoch auf den Fotos nicht wirklich zu erkennen sei, wie die Performancekünstlerin erläutert. Doch auch (beziehungsweise gerade) als fiktiver Held ist und bleibt Rudolf Schwarzkogler Boryana Rossas Märtyrer der Performancekunst, wie Rossa betont: „So it was always clear that none of what [I do] can [ever] be compared to Rudolf Schwarzkogler cutting his penis off.“ – Obgleich zu fragen wäre, ob Rossa sich nicht spätestens in dem Moment der mythischen Kraft ihres großen männlichen Vorbildes entledigte, als sie versuchte, in ihrer Performance Blood Revenge 2 von 2007, Schwarzkoglers fake-Performance mit einem Theaterblut beschmierten Umschnalldildo zu reenacten. Doch das ist eine andere Geschichte.





VII. Schluss: Theater der Narration „Da brach die Dämmerung sich ihre Bahn, und das Morgengrauen erreichte Schahrasad, so daß sie verstummte und ihre Erzählung unvermittelt abbrach. ‚Ach, Schwester’, seufzte ihre Schwester Dinarasad, ‚wie schön ist deine Geschichte!‘ – ‚Was ist das schon‘, erwiderte sie, ‚gegen das, was ich euch morgen Nacht erzählen werde, das ist noch schöner als die heutige Geschichte und noch viel spannender und köstlicher, komischer, leckerer und süßer – wenn mich der König am 1

Leben läßt und mich bis dahin nicht tötet!‘“ AUS TAUSENDUNDEINE NACHT

1. N ACHERZÄHLUNG Mein Anliegen in dieser Studie war es, theatertheoretisch auf den Umstand zu reagieren, dass in einer Vielzahl von nicht-dramatischen, nicht-literarischen Theaterformen, die um die Jahrtausendwende und insbesondere in der ersten Dekade des neuen Millenniums im deutschsprachigen, belgisch-niederländischen, britischen und nordamerikanischen Sprachraum entstanden sind, das Erzählen in den Vordergrund gerückt ist. Hier lässt sich eine thematische und formale Schwerpunktverlagerung gegenüber postdramatischen Theaterpraktiken beobachten. Obgleich im postdramatischen Theater niemals gänzlich aufgehört wurde zu erzählen, wurde dem Narrativen in jenem Bereich der performativen Künste sowohl künstlerisch wie theoretisch kaum Beachtung geschenkt. In postdramatischen Aufführungspraktiken, in denen die Einmaligkeit der Aufführung,

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OTT (Übers.): Tausendundeine Nacht, S. 11.

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 das Verhältnis zwischen Publikum und Darstellern sowie die Theatermittel als mediale Bedingungen einer Aufführung in den Vordergrund rückten, wurde das Geschichtenerzählen künstlerisch wie theoretisch vornehmlich mit den Prämissen eines dramatischen Theaters in Verbindung gebracht (mit dramatischer Fabel, Erzählerfiguren), ebenso wie mit einem veralteten epistemologischen Paradigma assoziiert (logos, telos, Geschlossenheit, Linearität). Sowohl vom Drama als auch vom Logozentrismus galt es sich nicht zuletzt im Zuge der Postmoderne theaterästhetisch wie -theoretisch zu befreien, was folglich mit einer Marginalisierung des Narrativen einherging. In vielen Theaterformen der Nullerjahre ist dies anders. Hier lässt sich ein selbstbewusster Umgang mit dem Erzählen jenseits eines Literaturtheaters beobachten. In Aufführungspraktiken, in denen mit der Grenze zwischen Fiktion und Realität gespielt wird, in denen „Experten des Alltags“2 die Bühnen bevölkern, in denen selbstverständlich vierte Wände durchbrochen, in denen vornehmlich Spielfelder statt Guckkästen, Versuchsaufbauten statt dramatischer Stücke präsentiert werden und in denen die Schwelle zwischen Kunst und Alltag bewusst unkenntlich gemacht wird, in jenen theaterästhetisch innovativen Aufführungspraktiken erhält das Erzählen einen neuen Stellenwert. Das Narrative zeigt sich hier weniger als illusionsgenerierende und Empathie ermöglichende Fabel (dramatisches Illusionstheater), weniger als ‚episches‘ Mittel der Unterbrechung eines Fabelflusses (Episches Theater) und weniger als Katalysator einer von jeglicher narrativen Qualität losgelösten Nähe zwischen Erzähler und Zuhörer, wie dies der frühen autobiografischen Performancekunst oder den Erzählformen des postdramatischen Theaters attestiert wurde. Im narrativen Theater seit der Jahrtausendwende wird das Erzählen als kulturelle Praxis reflektiert und erlebbar gemacht, das heißt als eine Praxis, die Handlungen auslöst, Verhaltensweisen nach sich zieht, Verbindungen herstellt, Verbindlichkeiten schafft und (punktuelle) Wahrheiten und narrative Identitäten hervorbringt. Das Erzählen wird als involvierender Prozess mit einer wirklichkeitsgenerierenden Kraft in Szene gesetzt: In den aktivierten Erzählprozessen wird ein alltägliches ‚Theater des Erzählens‘ im Kontext des Theaterspielens künstlerisch gerahmt. Jene theatralnarrativen Formen lassen sich als ein Theater der Narration bezeichnen, sofern sie das Erzählen als kulturelle Performanz zugleich spiegeln und verkörpern. Dabei reflektiert ein solches narratives Theater die Funktionsweisen gängiger Erzählpraktiken zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Nicht nur liefert es eine zeitgemäße und künstlerisch kritische Antwort auf einen Alltag, in dem durch zunehmende Digitalisierung und kommunikative Vernetzung neue, vor allem interak-

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DREYSSE und MALZACHER (Hrsg.): Experten des Alltags.

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 tive, netzwerkartige Erzählformen entstanden sind. Es hinterfragt auch einen inflationär gewordenen Drang nach dem Erzählen, das in einer sich vermehrt selbst überwachenden Gesellschaft als selbstvergewissernde Wissenspraxis omnipräsent und zu einer der vorherrschenden Selbsttechniken avanciert ist. In dieser Studie habe ich versucht, auf diese Entwicklungen in den performativen Künsten aus einer theaterwissenschaftlichen Perspektive zu antworten. Hierfür war es zunächst notwendig, sich von den gängigen theaterwissenschaftlichen, dramen- und erzähltheoretischen Konzepten vom Narrativen partiell zu lösen und eine Position zu stärken, die es mir ermöglicht, narrative Prozesse in ihrer intersubjektiven und kontingenten Entfaltung sowie in ihrer situativen Wirkungsmacht zu untersuchen. Es bedurfte einer performativitätstheoretischen Perspektive auf das Erzählen, die bislang weder in theaterwissenschaftlichen Untersuchungen zum Gegenwartstheater, noch in vorherrschenden erzähltheoretischen Ansätzen ausreichend Beachtung gefunden hat. In Kapitel II habe ich eine solche Perspektivenverschiebung vorgenommen: Anstatt – wie gemeinhin in der Dramen- und Erzähltheorie üblich – das Erzählen an die Anwesenheit einer singulären Erzählerinstanz zu binden und die Erzählung (disours) zum Ausgangspunkt einer Untersuchung des Narrativen zu machen, galt es zunächst einen weiten, transmedialen Erzählbegriff zu veranschlagen und einen Zugang zum Erzählen zu ermöglichen, mittels dessen der jeweiligen Spezifik situativer Erzählperformanzen als Performanzen Rechnung getragen werden kann. Diese Perspektive brachte die Einsicht mit sich, dass eine Erzählung kein abgeschlossenes Produkt und kein bloßes Abbild von Ereignissen des Lebens darstellt, sondern dass jede Erzählung variabel ist, da sie nur eine Erzählung sein kann, sofern sie in actu in einem Erzählprozess, das heißt in einem wirklichkeitskonstitutiven Handlungsakt generiert wird. Anstelle der Favorisierung des narrativen Diskurses als Untersuchungsgegenstand, in dem dargestellte Geschehnisse (scheinbar) geordnet vorliegen und mit einer gewissen Distanz analysiert werden können, rücken in Hinblick auf die narrativen Aufführungspraktiken der Jahrtausendwende – wie ich in diesem Kapitel exemplarisch an Uwe Mengels Performance 2 ½ Millionen gezeigt habe – die ungeordneten Prozesse des narrativen Ordnens ins Blickfeld. Prozesse, in welche die Zuschauer durch Spielstrukturen, durch Plot-Lücken oder durch das Aufscheinen anderer Zeitebenen, die zum Erzählen auffordern, imaginativ oder/und interaktiv verwickelt werden. Entsprechend bedurfte es einer Konzeptualisierung des Erzählens als einer Praxis, die selbst einer Ereignishaftigkeit unterliegt und bei der Erfahrungsqualitäten und wirklichkeitsgenerierende Effekte freigesetzt werden, die im discours niemals erzählt werden können, die aber dennoch einen affektiven und wirkungsmächtigen Anteil am Erzählen haben. Um die komple-

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 xen, konstitutiven Prozesse von Erzählaufführungen näher beschreiben zu können, habe ich im Folgenden eine Reihe von zentralen Begriffen eingeführt, die im Erzählprozess wirksam werden und zueinander in einem reziproken Verhältnis stehen: das plotting (der narrative Konfigurationsprozess mit seinen zwei Bewegungsrichtungen, beschrieben als antizipierte Retrospektivierung und als nachträgliche Teleologisierung, deren ‚drive‘ in einem angenommenen, aber letztlich unerreichbaren telos liegt), ein narratives Wissen (kulturell verankerte Erzählstrukturen und Narrative, die im performativen Erzählvollzug reaktualisiert werden), eine narrative Energie (die Erfahrungsebene und (Nach-)Wirkungen des Erzählens, die ein erneutes Weitererzählen veranlassen) und die Erzählsituation (der kommunikativ-situative Kontext des Erzählprozesses, durch den die Beteiligten erzählend sozial und materiell mit der Welt ‚verstrickt‘ werden). Die narrativen Aufführungsformen des Experimentaltheaters der Nullerjahre sind Schauplätze von Erzählsituationen. Hier wird das Erzählen als ein Erzählhandeln zur Aufführung gebracht, bei dem ‚Leben‘ und ‚Erzählen‘ konstitutiv verwoben werden, ohne dabei gänzlich ineinander aufzugehen. Im Folgenden habe ich diese involvierenden narrativen Performanzen in Bezug auf vier markante Erzählpraktiken untersucht, die sich in den experimentellen Theaterformen um die Jahrtausendwende verstärkt beobachten lassen: erstens, ein in Spielstrukturen gebettetes Erzählen (Kapitel Narrative Spiele), zweitens, ein (auto-)biografisches Erzählen anhand von Dingen (Kapitel Dinggeschichten), drittens, eine Verschränkung von körperlicher Bewegung, Erzählen und eine dabei generierte narrative Raumerfahrung (Kapitel Erzählbewegungen und Erzählräume) und viertens, selbstreflexive Erzählaufführungen, in denen das Verhältnis von (Aufführungs-)Ereignissen und Narration thematisiert wird (Kapitel Erzählereignisse). Narrative Spiele Als narrative Spiele habe ich in Kapitel III jene Performances beschrieben, in denen Erzählprozesse mit konkreten Spielformen verbunden werden. Narrative Spiele stellen dabei eine im Kontext von Narratologie, Ludologie und Theatertheorie häufig gültig gemachte Dichotomie zwischen Erzählen und Spielen in Frage, nach der das Erzählen mit Attributen wie Geschlossenheit und Chronologie, das Spielen hingegen mit Offenheit, Prozessualität und Partizipation assoziiert wird. Indem narrative Spiele das Erzählen buchstäblich umspielen, rücken dabei soziale und performative Qualitäten des Narrativen in den Fokus. Um diese theoretisch bislang vernachlässigten Aspekte des Narrativen näher zu beschreiben, erwies sich der Spielbegriff selbst als gewinnbringend, wodurch

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 ‚Spiel‘ in diesem Kapitel nicht nur in Bezug auf konkrete Spielformen verwendet wurde (enger Spielbegriff), sondern zugleich, in der Tradition von Wittgenstein und Lyotard, als Metapher zur Umschreibung der sozialen und performativen Qualitäten des Erzählens Verwendung fand (weiter Spielbegriff). Mittels Wittgensteins Sprachspielkonzept, das eine Performativitätstheorie avant la lettre darstellt, wurde es möglich, das Erzählen als ein Spiel im Sinne eines intersubjektiven Prozesses zu konzipieren, in dessen Vollzug zwar auf bekannte Regeln rekurriert wird, diese Regeln jedoch erneut gesetzt und gegebenenfalls modifiziert werden und damit im Erzählprozess selbst ein Handlungs-, Bedeutungs- und Gültigkeitshorizont für alle Beteiligten geschaffen wird. Mit Lyotard, der auf Wittgensteins Sprachspielkonzept aufbaut, konnte vor allem die selbstlegitimierende Funktion des Erzählens innerhalb einer Erzählgemeinschaft hervorgehoben werden. Denn als ein Spielen versteht Lyotard das Erzählen insofern, als dessen stets intersubjektiv gefasster Vollzug agonistischen Spielzügen gleicht, durch die soziale Beziehungen ausgehandelt, Kompetenzen einer Gemeinschaft zugewiesen und damit das soziale Band gefestigt (oder hinterfragt) wird. Dem Narrativen kommt dabei eine gemeinschaftskonstituierende Funktion zu, da im Erzählen nicht nur von sozialen Kompetenzen erzählt wird, sondern diese Kompetenzen zugleich im Erzählvollzug selbst generiert werden. Im Kontext von Lyotards Überlegungen habe ich gezeigt, dass mit der Fokussierung auf narrativ-intersubjektive Aushandlungsprozesse zugleich deren gemeinschaftsund wirklichkeitsstiftende Mechanismen aufgedeckt werden, die jeder großen Erzählung zu Grunde liegen: Bricht die große Erzählung als selbstlegitimierendes Gebilde zusammen, treten die ‚Erzähl-Spielzüge‘ zu Tage, welche die Basis einer jeden großen Erzählung ausmachen. Einer solchen entlarvenden Geste bedienen sich die beiden untersuchten Aufführungen. Anstatt Geschichten als vorproduzierte hermetische Einheiten vor einem Publikum zu (re-)produzieren, werden die Zuschauer in diesen narrativen Spielen in ‚Erzähl-Spielzüge‘ verwickelt, wodurch ihnen die konstitutiven Kräfte und Mechanismen des Narrativen selbst vor Augen geführt werden. Geht es in der Performance And on the Thousandth Night von Forced Entertainment, bei der acht Performer gegeneinander in einem Erzählwettkampf antreten, vornehmlich um die affektiven Antriebskräfte narrativer Konfigurationsprozesse, so steht in SIGNAS Rollenspiel Ruby Town vor allem die gemeinschaftslegitimierende Funktion des Erzählens auf dem Spiel. Im Erzählwettkampf von Forced Entertainment, der durch eine gegenseitige Unterbrechung von Erzählflüssen gekennzeichnet ist, werden die Begehrensmechanismen des plotting sowie die standardisierte Reglementiertheit des Erzählens, die auf einem kulturell verbürgten narrativen Wissen beruht, aufgedeckt. In der Herausbildung eines über den sechs-

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 stündigen Abend entstehenden Geschichtenkanons provoziert das Spiel die Frage nach der Durchsetzungskraft und einer möglichen Subversion hegemonialer und gemeinschaftsbildender Erzählstrukturen und Narrative. In SIGNAS Rollenspiel werden die Zuschauer bis zur Selbstverunsicherung in mündliche Erzählakte verstrickt, durch die sie in eine sich mit jedem ‚Erzähl-Spielzug‘ weiter entwickelnde soziale Ordnung moralisch eingebunden werden. Die selbstlegitimierende Macht des Erzählens, die sich hier vor allem im Weiter-Erzählen von Zeugenberichten und Gerüchten entfaltet, wird den Zuschauern dabei in Form einer durchschaubaren Fiktion bewusst gemacht, an der sie zugleich körperlich und räumlich teilhaben. Die in den untersuchten Aufführungen realisierten Verbindungen von Spielstrukturen und Erzählprozessen lassen damit das Erzählen als soziale Performanz offensichtlich werden. Jene künstlerischen narrativen Spiele geben dabei Anlass, alltägliche soziale Erzählperformanzen generell als Spiele im weiteren Sinne zu beschreiben, das heißt als involvierende, zum Miterzählen auffordernde, freilich auf Regeln und Strukturen basierende aber zugleich offene Prozesse des narrativen Strukturierens, deren Entfaltung auf einer wechselseitigen und unplanbaren Dynamik zwischen allen Beteiligten beruht. Das Erzählen dergestalt als ein Spielen selbst zu konzipieren, widersetzt sich einem Verständnis von Narration als bereits durchkomponierter Struktur und ermöglicht es, das Erzählen zuvorderst von seiner konstitutiven und sozial verfassten Prozesshaftigkeit her zu denken.

 (Auto-)Biografische Dinggeschichten Ausgangspunkt von Kapitel IV war die Untersuchung einer materiellen Qualität (auto-)biografischer Selbstformung. Den Impuls dazu gaben eine Vielzahl zu beobachtender (auto-)biografischer Performances, in denen Dinge sowie die Körper der Performer in ihrer Dinglichkeit zum Ausgangspunkt für Erzählprozesse werden. Dinge, so habe ich gezeigt, sind dabei nicht bloß als stoffliches Beiwerk narrativer Selbstinszenierung und Identitätskonstruktion zu verstehen, sondern sie sind in den (auto-)biografischen Prozess als Ko-Agenten konstitutiv mit eingeschlossen. Dinge fordern zum Selbsterzählen auf, sofern ihnen andere zeitliche Ebenen eingelagert sind, die im Leben der betreffenden Person eine Rolle spielen. Ob als Memorialdinge, als Teile einer Sammlung oder als Spuren einschlägiger Ereignisse – die situative Wirkung jener in Szene gesetzter Dinge ist von anderen Zeitebenen, die im Ding mit aufscheinen und ein Erzählen herausfordern, nicht zu trennen. In Anbetracht dieser konstitutiven Verstrickung von Dingen, Narration und Selbst bedurfte es zunächst einer Rekonturierung des Dingbegriffs. Anstatt die Wirkung von Dingen vornehmlich als ekstatische Präsenzen, als flüchtig wirk-

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 same Stofflichkeit zu denken, wie dies häufig im Kontext einer phänomenologisch inspirierten Aufführungsanalysemethodik geschehen ist, wird in Hinblick auf jene (auto-)biografischen Aufführungen deutlich, dass eine hierin in Szene gesetzte situative Wirkung von Dingen eine narrative Qualität beinhaltet. Die Dingoberflächen sind narrativ aufgeladen, sofern hier andere Zeiten präsent sind, die zur Selbsterzählung drängen. Mit Bruno Latours Dingbegriff wurde es möglich, die situative Verstrickung von Dingen in (auto-)biografische Identitätskonstruktionsprozesse genauer beschreibbar zu machen. Dinge, so erläutert Latour im Kontext seiner Handlungstheorie, sind immer schon Teile von Handlungsvollzügen: keine abgeschlossenen Stoff-Entitäten, sondern Ko-Agenten eines situativen (Ver-)Handelns. Damit konzipiert Latour Dinge jenseits einer reinen Stofflichkeit, ohne diese gänzlich zu vernachlässigen, attestiert er der stofflichen Beschaffenheit doch einen erheblichen Einfluss auf die Verwendung und Wirkung von Dingen. In den beiden behandelten Aufführungen wird die Materialität (auto-) biografisch generierter Selbsterkenntnis thematisiert, indem Selbstformungen als dingliche Umformungen präsentiert werden. Selbsttransformationen werden hier zu Selbsttranssubstantiationen. Geht es in Bobby Bakers Box Story um ein narrativ-therapeutisches Durcharbeiten markanter und negativ besetzter (auto-)biografischer Ereignisse, die jeweils im Zusammenhang mit einem Ding stehen und die im Verlauf der Aufführung narrativ-stofflich durchgearbeitet und umgeformt werden, bringen She She Pop in Für alle ein narratives (Glücks-)Spiel mit multiplen, fiktiven (auto-)biografischen Selbstentwürfen zur Aufführung, die sich an einem stetig wechselnden Ensemble von Dingen festmachen lassen. In beiden Performances werden zunächst Geschichten mittels eines mündlichen Erzählaktes seitens der Performerinnen in die Dinge beziehungsweise Dingensembles eingeschrieben. Jede weitere Verwendung, Umstellung oder Auflösung der Dinge fordert im Folgenden auch die Zuschauer zum imaginativen Mit- und Um-Erzählen auf. In Box Story wird das Sammeln von Dingen als eine (auto-)biografische Praxis thematisiert, durch die Bakers eigene Geschichte nachträglich lesbar wird. Im Verlauf der Aufführung werden die Zuschauer Zeugen und Mit-Erzähler eines Prozesses des Sich-selbst-Sammelns, der mit einer Verformung, Zerstückelung und Neuzusammensetzung und damit narrativen Umbesetzung der Dinge einhergeht. Bakers Performance eröffnet dabei chaotische Schauplätze (auto-)biografischer Selbstformung, die ich in Rekurs auf Batailles Begriff des l’informe als Geschichtenerzeugungsmodi beschrieben habe: als schmutzige Materialschlachten, in denen Stofflichkeit und narrative Semiose bis ins Unkenntliche

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 ineinander verwrungen sind und in denen eine Potentialität verschiedenster narrativer Selbstentwürfe sichtbar wird. In She She Pops Glücksspielshow wird die performative Konstruktion von narrativer Identität auf der Oberfläche der Körper der Performerinnen durchgespielt. Mit jeder Glücksspielrunde erwerben die Spielerinnen neue Dinge, die jeweils für eine Eigenschaft in ihrem fingierten Leben stehen. Als ein Kleid, bestehend aus verschiedenen Dingen, die sich die Performerinnen an ihren Körpern befestigen, werden die unterschiedlichen Ding-Ensembles von der jeweiligen Spielerin zu einer fiktiven (auto-)biografischen Episode verknüpft. Mit jeder dinglichen Veränderung der Körperoberfläche verändert sich auch entsprechend die Selbsterzählung. Damit wird in Für alle eine Form der Verkörperung in Szene gesetzt, die sich jenseits der gängigen theaterwissenschaftlichen Verkörperungskonzepte situiert. Verkörperung zielt hier weder auf einen symbolischen Körper noch auf einen phänomenalen Leib, sondern auf einen (auto-)biografischen Konfigurationsvorgang: auf einen gestalt- und formgebenden Prozess, der immer auch eine dinglich-körperliche Ebene mit einschließt. Die jeweilige um Dinge erweiterte Körperoberfläche, die über die gewohnten Körpergrenzen zu einer skurrilen lebendigen Skulptur hinauswächst, verkörpert den Prozess narrativer Selbstformung. Dabei wird in She She Pops (auto-)biografischer Gameshow die Wirkungsmacht stereotyper, für unsere Kultur als besonders ‚geglückt‘ erachteter Selbstentwürfe verhandelt. Indem das Selbsterzählen fiktionalisiert und in die Spielstruktur eines Glücksspiels eingebettet wird, treten die Gültigkeit und Verbindlichkeit normierter und normierender Lebensgeschichten zu Tage, die im Alltag als Selbst- und Fremdwahrnehmungsdispositive, als soziale Bewertungskriterien sowie als Selbstgestaltungsimperative fungieren. Unterwandert wird diese Norm (auto-)biografischer Selbstgestaltung durch die unendlichen Möglichkeiten alternativer Selbstformungen, die in She She Pops Identitätsschneiderei aufscheinen. In beiden Performances wird deutlich, dass narrative Selbstformung immer mit einer Selbstverformung einhergeht. Die konstitutive Verschmelzung von Ding, Narration und Selbst ist stets von einer Inkongruenz durchzogen. Obgleich Dinge, Erzählen und Selbst produktiv miteinander verzahnt sind und sich gegenseitig ‚Form geben‘, sind sie doch niemals vollends deckungsgleich. Die (auto-) biografisch-materielle Selbsterkennung ist zwangsläufig immer eine Selbstverkennung, wie an den monströs wuchernden Ding-Körpern in beiden Performances sichtbar wird.

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 Erzählbewegungen und Erzählräume Im Zentrum von Kapitel V standen künstlerische walks (vor allem GPS-geleitete Audio-walks), die eine körperliche Eigenbewegung der Rezipienten sowie eine spezifische Raumerfahrung und verstärkte Körperwahrnehmung mit einschließen. Wurden künstlerische Gehpraktiken, theatrale Parcours und Entdeckungstouren in den vergangenen Jahren theoretisch vornehmlich unter den Aspekten der Bewegung und des Raumes untersucht, blieb eine narrative Qualität bislang weitestgehend unbeachtet, obgleich das Erzählen, so meine Ausgangthese, in vielen walks den entscheidenden Bewegungsmotor darstellt und als raumkonstitutiver Handlungsvollzug die Raumwahrnehmung stark beeinflusst. Wie ich gezeigt habe, lassen sich jene walks nicht nur als narrativ beschreiben, sofern die einzelnen Teilnehmerinnen mit (via Kopfhörer rezipierten) mündlichen Erzählungen konfrontiert werden, sondern vor allem indem sie während des walks auf visuell, akustisch, sprachlich oder bildlich verfasste chronotopische Überblendungen gestoßen werden, durch die narrative Prozesse buchstäblich ‚in Gang gesetzt‘ werden. Das Gehen wird zu einer Begegnung mit inszenierten Spuren, in denen die Bewegungsreste einer anderen Zeit präsent sind, die zum Verfolgen und Lesen, das heißt zur körperlichen Erzähl(geh)bewegung animieren und die Teilnehmer in einen diegetischen Raum platzieren, der sich zwischen den verschiedenen Zeitebenen aufspannt. Drei narrative Praktiken wurden hier dezidiert in den Blick genommen: erstens das Spurenlesen, -folgen und -legen, zweitens das Flanieren und drittens das Kartografieren. Das Spurenlesen, -folgen und -legen habe ich an Janet Cardiffs surrealem Audio-walk Her Long Black Hair im New Yorker Central Park und an plan b’s kunsthistorischem GPS-Audio-walk Fortysomething durch die Stadt Graz untersucht. Geht es in Cardiffs walk, bei dem die Teilnehmer einzeln einer festgelegten Route folgen, um die Erfahrung diegetischer Räume und ihrer metaleptischen Zusammenbrüche, durch die eine Verortung der Teilnehmer verunsichert wird, wird im GPS-walk von plan b, bei dem die Teilnehmer qua Eigenbewegung Audio-Clips aktivieren, der eigene Gang durch die Stadt zum plotting walk: Der walk veranlasst dazu, narrative Verbindungslinien zwischen den zufällig aufgespürten einzelnen Clips herzustellen und schließlich den eigenen Gang nachträglich als Erzählung mit einer Vielzahl von Abzweigungsmöglichkeiten zu konfigurieren. Dabei sensibilisiert der walk von plan b für eine Narrativität des Gehens durch die Stadt, das immer schon ein Gehen entlang von Spuren und Bahnungen ist, die auf vorherige Ereignisse und Handlungen verweisen. In beiden Audio-walks wird die künstlerische Inszeniertheit des walks als eine eigene Geh-Spur thematisiert. Man folgt immer auch den Machern der walks, die die Wegstrecke(n) zeitlich vor einem gegangen sind und dabei Spuren hinterlassen haben. Damit wird das Gehen als paradigmatische Form der Spurenbildung und

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 damit als Bedingung für Erzählen thematisiert: Das Gehen erscheint als exemplarischer Handlungsvollzug, der im Spurenhinterlassen ein Erzählen nach sich zieht. Exponiert wird das interdependente Verhältnis von einerseits der Flüchtigkeit des Gehens und andererseits einer nach-gehenden Narrativierung, welche von der Spur, die das vorherige Geh-Ereignis hinterlassen hat, einfordert wird. Der GPS-Audio-walk Verwisch die Spuren! Flanieren in Berlin von LIGNA, bei dem man die historischen Schichten von Berlins Mitte erkunden kann, radikalisiert eine mittels GPS-Technologie geleitete urbane Spurensuche, indem eine Ebene von auditiven Handlungsanweisungen sowie von medientheoretischen Reflexionen eingezogen wird. Im Zentrum des walks stehen die Realisierung und Thematisierung einer Flanerie als Geschichtserfahrung in Bewegung und als räumliche Erfahrung historischer Kontingenz. Anstelle eines plotting walk wird man in LIGNAS selbstreflexiven Audio-Clips an die Zündstellen narrativer Sinngebung geführt. In den Fokus rückt die körperliche Erfahrung eines im Gehen entstehenden räumlichen Spurengerüsts voller historischer Kontingenzen und narrativer Möglichkeiten. Dabei problematisiert die Gruppe LIGNA das Flanieren im 21. Jahrhundert. Sie fragt danach, wie es unter den medialen Bedingungen mobiler Online-Technologie, durch die jeder Schritt per Satellit und integriertem GPS digital aufgezeichnet wird, noch möglich ist, einem totalisierenden Kontrollblick zu entkommen, der noch in den 1980er Jahren von Michel de Certeau allein einem vogelperspektivischen Draufblick zugeschrieben wurde und der nun, mittels GPS-Technologie, Teil der Gehpraxis selbst geworden ist. Der Umstand, dass die GPS-Technologie eine Dichotomie zwischen einer überwachenden Vogelperspektive (Kartenblick) einerseits und der Geherfahrung ‚von unten‘ andererseits aufsprengt, wird in LIGNAS walk im Vollzug des Gehens selbst subvertiert. LIGNAS Antwort, so war mein Vorschlag, liegt in der Ermöglichung eines neuen Flaniertypus’: dem Flynieren. Indem die Teilnehmer beständig an die Überwachungstechnologie erinnert und zugleich durch Handlungsanweisungen zur Einnahme multipler Raumperspektiven aufgefordert werden, entsteht ein flynierendes Erzählen, bei dem der kontrollierende Blick von oben als somatisch-körperliche Qualität der hier ermöglichten narrativen Raumerfahrung bewusst gemacht und damit seiner totalisierenden Geste entledigt wird. Die Aufhebung der Dichotomie zwischen geografischem Kartenraum und Geh-Erfahrungsraum wird auch in plan b’s täglicher kartografischer Praxis virulent. Plan b’s seit dem Jahr 2003 mittels GPS-Technologie aufgezeichneten Eigenbewegungen thematisieren ein Spurenhinterlassen als kartografisch-narrativen Prozess. Die hier entstehenden Karten, wie Papierkarten oder computeranimierte, per Videoprojektor an Wände projizierte Karten, stellen ihre eigenen

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 Entstehungsbedingungen aus und machen damit die seit 2003 vollzogenen Eigenbewegungen als kartografische Akte narrativ rekonstruierbar. Plan b’s Karten sprengen die Raumordnung geografischer Karten, sofern ihnen persönliche Raumdurchquerungen in Form autobiografischer Spuren eingeschrieben sind. Unter veränderten medienhistorischen Vorzeichen wird damit nicht zuletzt an vorneuzeitliche kartografische Praktiken angeknüpft, in denen die Erfahrung von Wegstrecken in Form schriftsprachlicher oder bildlicher Nacherzählungen ‚Eingang‘ in die Karten fanden. Künstlerisch-narrative walks, so möchte ich zusammenfassen, entgeometrisieren sowohl den Raum als auch das Erzählen, indem sie Erzählprozesse, Eigenbewegung und Raumerfahrung kurzschließen. Die Erzählungen, die hier prozessual in Bewegung entstehen, sind keine festen Gebilde. Ihre Narrativität lässt sich nicht allein auf strukturelle Merkmale beschränken, die sich mit einem externen Blick extrapolieren ließen. Ebenso lässt sich das Erzählen nicht auf kognitive Schemata reduzieren, sondern es impliziert somatische und kinetische Qualitäten, die sich im Gehen entfalten. Das Erzählen wird als raumgenerierender Handlungsvollzug erkundet, als körperliches Bewegungs- und Raumerlebnis, bei dem es als Möglichkeitsfeld, als Verbindung schaffendes ‚Transportmittel‘ erlebbar gemacht wird. Umgekehrt veranlassen die untersuchten künstlerischen Gehpraktiken dazu, den performativen Raum nicht allein im Sinne einer flüchtigen Gegenwärtigkeit zu denken, da an der in den walks ermöglichten Raumerfahrung, die sich im spurenlesenden und -hinterlassenden Gehen einstellt, immer auch andere Zeitdimensionen beteiligt sind. Raumwahrnehmung und narrative Einfärbung der aktuellen Umgebung sind hier bis zur Unkenntlichkeit miteinander verwoben. Erzählereignisse In Kapitel VI habe ich das Verhältnis von (Aufführungs-)Ereignis und Narration untersucht. Ausgangspunkt der Untersuchung war die nachträglich konstitutive Wirkung des Erzählens über Aufführungen, deren Ereignishaftigkeit zuallererst qua narrativer Wiederholung fassbar wird. Jene nachträgliche Wirkung wird in einer Reihe von narrativen Performances der Nullerjahre selbst wiederum zur Aufführung gebracht: Während der Aufführung wird über vergangene Aufführungen erzählt oder die Gegenwart der aktuellen Aufführung wird zu einem (zukünftigen) unwiederbringlichen Mythos stilisiert. Solche selbstreflexiven narrativen Performancepraktiken provozieren die Frage danach, ob die Wahrnehmung von Aufführungen zu einem Anteil immer schon von einem narrativ geprägten Wissen über Aufführungen oder von mythischen Qualitäten durchdrungen ist, die während der Aufführung aktualisiert werden.

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 Zunächst war es notwendig, Ereignisse nicht, wie in der Erzähltheorie üblich, als diskursimmanente Einheiten und damit als identifizierbare Entitäten zu denken, sondern Ereignisse, mit Jaques Derrida, als außerordentliche, als vorfallende Phänomene zu beschreiben, die sich auf der Schwelle von Immanenz und Transzendenz bewegen: als immer nur nachträglich, in der Wiederholung fassbare Phänomene, die zugleich jenen Wiederholungen immer schon entfliehen. Gerade jedoch in den Beschreibungen jener transzendenten Qualität des Ereignisses, so war mein Argument, behält selbst ein postmetaphysisches Denken von Ereignissen, wenn auch unbeabsichtigt, ihrer Wirkungen und Effekte nach eine Nähe zum Mythischen. In der Wiederholung des Ereignisses wird das Ereignis als Unfassbares fassbar gemacht und, wenn auch nachträglich, zum unwiederholbaren Ursprung stilisiert. Einer ähnlichen negativen Dialektik von Postmetaphysik vermag auch die Rede über Aufführungen zu unterliegen, sofern letztere als flüchtige Gegenwärtigkeiten gedacht werden, die sich jeglicher Wiederholbarkeit entziehen. Die zwei in diesem Kapitel hauptsächlich untersuchten Performances thematisieren das aporetische Verhältnis zwischen Ereignis und Wiederholung beziehungsweise (Nach-)Erzählung in Bezug auf ihr eigenes Aufführungsereignis. Das Duo Lone Twin unternimmt in seiner vierundzwanzigtätigen Radfahr- und Erzähl-Performance To The Dogs den unmöglichen Versuch, das Ereignis seiner täglichen Radtouren sowie der allabendlichen Aufführungen, in denen das Duo von seinen Radtouren während des Tages berichtet, live als eine Odysseeähnliche Heldengeschichte zu entwerfen. Die grundlegende narrative Rhetorik der Performance ist die eines vorgängigen Abschließens von Ereignissen, die noch nicht beendet sind und in die das Publikum diegetisch und affektiv mit eingeschlossen wird. Die affektive Wirkung, die sich dabei einstellt, habe ich als antizipierte Nostalgie beschrieben, als ein Schwelgen im Tempus der vollendeten Zukunft, durch das ein Ende der Performance erzählend vorweggenommen und doch wiederholend aufgeschoben und damit als absolutes Ende konterkariert wird. Diese Wirkung habe ich auf mehreren Erzählebenen untersucht: auf der Mikroebene eines anekdotischen Erzählstils, der im (ironischen) Kontrast zur Heldengeschichte als Mythos steht und der die Aporien des Verhältnisses zwischen Ereignis und einem nachträglichen Erzählen spiegelt, sowie auf der Ebene einer die gesamte Aktion historisierenden Gemeinschaftserzählung, durch die ein kollektives Zeitbewusstsein für eine gemeinsam mit dem Publikum durchlebte Zeit generiert und diese folglich als einmalig und unwiederholbar wahrgenommene, endende Gemeinschaftszeit vorgängig betrauert wird. Boryana Rossas Performance The Vitruvian Body ist eine selbstbezügliche Reflexion auf die mythisch-narrativen Implikationen des Genres der Body Art.

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 Rossa liefert damit implizit einen kritischen Kommentar auf die theoretischen Umgangsweisen mit einem Genre, das in der Theoriebildung gemeinhin als prototypisches Beispiel für die Ereignishaftigkeit von Aufführungen herangezogen und zugleich von jeglicher Narrativität freigesprochen wurde. Durch eine Reihe von Negationstechniken deckt Rossa während ihrer Performance die narrativmythischen Qualitäten der Body Art auf. Obgleich Rossa der Form nach dem Genre treu bleibt, indem sie ihren entblößten Körper als Material einsetzt, unterbindet sie den sakralen Gestus und die Schockwirkungen, durch die sich Body Art-Performances üblicherweise auszeichnen: Rossa bagatellisiert ihre Verletzungen, sie theoretisiert, sie erzählt von legendären Performances und ihren Performanceheldinnen und fordert das Publikum zur live-Dokumentation des unwiederholbaren Performanceereignisses auf. Damit lässt Rossa ihre eigene Performance als dekonstruktivistisches Reenactment des Body Art-Genres sichtbar werden, bei dem jene Merkmale, die von Performancetheoretikern häufig als besonders ‚ereignishaft‘ deklariert wurden, als verinnerlichte Darstellungskonventionen, als ‚Signifikanten von Ereignishaftigkeit‘ aufgedeckt werden. Zugleich lässt Rossa klassisch-aristotelische Plotstrukturen auf die Bühne treten, die in den Nacherzählungen besonders von lebensbedrohlichen, ‚dramatischen‘ Body Art-Performances der 1970er Jahre häufig Verwendung finden. Dabei macht Rossas Negativ-Performance darauf aufmerksam, dass jene Plotstrukturen unter Umständen auch im Akt der Wahrnehmung von Aufführungen der Body Art latent am Werk sind. Vor dem Hintergrund der untersuchten narrativen Aufführungsereignisse, so war meine These und mein Vorschlag für eine Methodologie der Aufführungsanalyse, wird es nötig, die mythisch-narrative Dimension, die häufig sowohl mit der Rede von und über Ereignisse als auch mit der Wahrnehmung von Ereignissen einhergeht, mit zu beachten und sie produktiv in die Aufführungsanalyse mit einfließen zu lassen. Auf diese Weise wird es möglich, ein in Bezug auf Aufführungen und ihren Wiederholungen sich häufig einschleichendes hierarchisierendes und ontologisierendes Denken zu vermeiden, wonach die Wirkung von Aufführungen von ereigniskonstitutiven Vor- und Nachwirkungen tendenziell entkoppelt wird.

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 2. T HESEN Die in dieser Studie untersuchten narrativen Aufführungspraktiken der Jahrtausendwende thematisieren und reflektieren eine Prozesshaftigkeit und Performativität des Erzählens, erstens, indem das Erzählen in Spielstrukturen eingebettet und dabei auf die partizipatorischen, sozialen Dimensionen narrativer Prozesse verwiesen wird (narrative Spiele), zweitens, indem ein (auto-)biografisches Erzählen anhand von Dingen vollzogen und dabei eine Materialität des Selbsterzählens thematisiert wird (Dinggeschichten), drittens, indem in einer Verschränkung von körperlicher Bewegung und Erzählprozessen die somatischen, kinetischen und raumgenerierenden Qualitäten des Narrativen verhandelt werden (Erzählbewegungen und Erzählräume) und viertens, indem das komplexe und reziproke Verhältnis von Ereignis und Erzählen selbst zur Aufführung gebracht wird und dabei die narrativ-mythischen Implikationen von Aufführungen und ihren Wiederholungen reflektiert werden (Erzählereignisse). Ein solches Theater der Narration erfordert ein oppositionelles Denken von Aufführung und Narration aufzugeben, das der Tendenz nach in der Aufführungstheorie sowie in der Erzählforschung vorherrschend ist. Als Konsequenz ergibt sich die Notwendigkeit einer begrifflichen und konzeptuellen Erweiterung hinsichtlich beider Phänomene. Hierzu möchte ich abschließend drei Thesen formulieren, die an die in der Einleitung genannten Thesen anschließen, welche sich nun genauer konturieren lassen.

2.1 AUFFÜHRUNGSTHEORIE W ISSENSPRAXIS

ALS NARRATIVE

Eine konsequent wirkungsästhetische Perspektive auf Aufführungen muss eine narrative Dimension von Aufführungen mit berücksichtigen. Wie zunächst in Hinblick auf ein Theater der Narration deutlich wurde, geht die Wirkung dieser Aufführungen immer schon über eine flüchtige Präsenz real anwesender Menschen und Dinge hinaus. Die Aufführung erweist sich als Depot verschiedenster zeitlicher Ebenen, deren Spannungsverhältnisse im flüchtig-gegenwärtigen Vollzug der Aufführung zur Auflösung und damit zum Erzählen drängen. Mehr noch: Wie in Kapitel VI (Erzählereignisse) gezeigt, ist eine narrative Logik und damit ein narratives Wahrnehmen nicht nur in solchen Performances am Werk, in denen das Erzählen im Fokus steht. Vielmehr stellt das Erzählen eine Wissenspraxis dar, die für die Wahrnehmung und die Wirkung von Aufführungen allgemein von signifikanter Bedeutung ist: Wenn einerseits Aufführungen sich

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 durch Flüchtigkeit auszeichnen und wenn andererseits das Erzählen als diejenige Sinngebungsoperation verstanden werden kann, mittels derer wir versuchen, vergehende Zeit – Flüchtigkeit – fassbar zu machen, dann wird hier eine besondere Interferenz zwischen einer Wissenschaft von Aufführungen und einer narrativen Wissenspraxis deutlich, insofern die narrative Logik einen zentralen Zugang zu Aufführungen ermöglicht. Da die Wahrnehmung von Aufführungsereignissen einem Entzug unterliegt, lassen sie sich immer nur in einer Logik von Nachträglichkeit und Vorgängigkeit, das heißt, in einer Logik von Narration fassen. Ereignis und Erzählen bilden sich gegenseitig ergänzende Elemente jener Logik: Da Ereignisse sich selbst entgehen, drängen sie zum Erzählen. Aufführungsereignisse tragen eine narrative Energie in sich. Die Untersuchung eines flüchtigen Gegenstandes bedeutet also immer auch die nur im Verzug fassbare Zündstelle narrativer Energie, das heißt die paradoxe, stets sekundäre ‚Quelle‘ nachträglich-narrativer Sinngebung in den Blick zu nehmen. Folglich muss eine Aufführungstheorie, so die These, immer auch eine narrative Theorie sein, das heißt eine Theorie, die sich erstens, einer der Aufführungswirkung immer schon inhärenten Narrativität bewusst ist und die zweitens, die Narrativität der eigenen Praxis, die in verschiedensten Medien, zumeist jedoch in Schriftsprache ‚performt‘ wird, konsequent mitreflektiert. Anstatt also das Narrative aus dem Gegenstandsbereich auszuklammern, wie dies in einer performancetheoretischen Perspektive bislang tendenziell der Fall war, da hier das Narrative vornehmlich von der dramatischen Fabel oder von einem strukturell geschlossenen narrativen Diskurs aus gedacht wurde, möchte ich vorschlagen, umgekehrt das Erzählen als Praxis gerade zu einem zentralen Anliegen von Aufführungstheorie und Aufführungsanalyse zu machen. Ein Wissen von Aufführungen ist zu einem Anteil ein narratives Wissen, wie meine eigene narrative Praxis des (Nach-)Erzählens von Aufführungen verdeutlicht. Der methodologische Gewinn dieser Studie für eine Aufführungstheorie besteht darin, die Praxis des Erzählens als epistemologisches Merkmal einer Theorie von Aufführungen ernst zu nehmen und positiv dem Umstand zu begegnen, dass das Erzählen einen wesentlichen Anteil an aufführungsbezogener Erkenntnisgewinnung hat.

2.2 F ÜR EINE PERFORMATIVITÄTSTHEORETISCHE E RZÄHLFORSCHUNG Eines meiner zentralen Anliegen mit dieser Studie war es, dem Erzählen eine andere konnotative Komponente hinzuzufügen: das Erzählen offener, dynamischer und materieller zu denken als dies in dem meisten erzähltheoretischen

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 Ansätzen der Fall ist. Die untersuchten narrativen Aufführungspraktiken betonen, wie das Narrative im Leben ‚lebendig‘ am Werk ist. Sie vergegenwärtigen, wie das Erzählen gestaltet und dabei selbst Gestalt annimmt, das heißt, wie es sich in Körpern, Dingen und Orten zeigt, die dadurch auf spezifische Weise wahrnehmbar werden. Sowohl klassische als auch verschiedenste postklassische erzähltheoretische Ansätze haben sich hier als ungenügend erwiesen, da sie weder soziale, materielle, prozessuale noch aisthetische Qualitäten des Erzählens, die im Theater der Narration in den Vordergrund rücken, genügend zu berücksichtigen vermögen. Eine hingegen auf die wirklichkeitsgenerierende Prozessualität des Erzählens abzielende performativitätstheoretische Perspektive macht es möglich, die involvierenden Dynamiken, situativen Wirkungen und kontingenten Bewegungsflüsse konkreter narrativer Prozesse in den Blick zu nehmen, die einen narrativen Diskurs immer schon transzendieren. Eine solche Perspektive erlaubt es, narrative Sinngebung nicht von der Erzählung, sondern vom Erzählprozess her zu denken und damit narrative Sinngebung selbst als etwas Bewegliches, Unabschließbares und in actu zuallererst Entstehendes zu begreifen. Die Untersuchung von Erzählperformanzen erfordert, eine nichterzählbare Dimension des Erzählens in den Mittelpunkt zu stellen, die sich, wie Bernhard Waldenfels es formuliert hat, dem „ordnenden Zugriff des Erzählens entzieht“,3 obgleich sie an der ordnenden Operation von Erzählprozessen konstitutiv Anteil hat. Jene Dimension stellt also nicht etwa die Negation von Narration dar, sondern sie macht einen Teil des Erzählens selbst aus. Eine performativitätstheoretisch ausgerichtete Untersuchung von Erzählprozessen, die stets die Rezipientin als zugleich Geschichtenmacherin und Geschichtenerfahrende in den Fokus stellt, führt an den situativen Brennpunkt einer Verstrickung von ‚Leben‘ und narrativer Sinngebung. Ein solcher Ansatz situiert sich jenseits eines in der postklassischen Erzählforschung nach wie vor favorisierten platonisch-abbildhaften Verständnisses von Narration, nach dem das Erzählen als Repräsentation oder „image of life“ dem „unmediated life“4 gegenübergestellt wird. Entsprechend verlangt eine performativitätstheoretische Perspektive auf einer methodologischen Ebene, einen objektivierenden Analysestandpunkt und -zugriff auf das Narrative aufzugeben und dafür die eigene narrative Verstricktheit in den Gegenstand und damit eine Erfahrungsebene analytisch mit einzubeziehen. Eine erzähltheoretische Untersuchung von narrativen Praktiken als Praktiken, so die zweite These, muss die Prozesshaftigkeit und Performativität des Erzählens ins Zentrum stellen. Dabei kann eine hier entwickelte Perspektive sich

 3

WALDENFELS: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 53.

4

RYAN: Avatars of Story, S. xxiii.

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 auch jenseits einer Untersuchung von künstlerischen narrativen Aufführungsformen als fruchtbar erweisen und vor allem gewinnbringend für die Untersuchung von alltäglichen oder digital-interaktiven Erzählpraktiken sein, das heißt von Erzählpraktiken, die auf keine beziehungsweise nur im geringen Maße auf eine zuvor komponierte Erzählung zurückgreifen – obgleich zu betonen ist, dass unter einer performativitätstheoretischen Perspektive jede Erzählung zuallererst im Erzählakt, das heißt in der Erzählpraxis selbst entsteht, egal ob es sich zum Beispiel um das Lesen oder um das Schreiben eines Epos’ oder um eine mündliche Nacherzählung vergangener Ereignisse handelt.

2.3 S EMIOSIS UND AISTHESIS : W ECHSELSEITIG KONSTITUTIVE ASYMMETRIE Ein dynamisches Denken von Narration widersetzt sich einer dichotomischen Trennung von „narrative history“ einerseits und einer lebendig-gegenwärtigen, das flüchtige Leben präsentierenden „performance“ 5 andererseits, ohne dass beide vollends ineinander aufzugehen vermögen. Die grundlegende Denkfigur, die sich durch alle Kapitel dieser Studie zieht, ist die einer wechselseitig konstitutiven Asymmetrie. Ich habe mich den inkongruenten Verstrickungsprozessen von narrativer Sinngebung und einem (Er-)Leben zugewandt, den Szenen der Verschmelzung zweier häufig als Gegenpole erachteter Phänomene, die sich gegenseitig hervorbringen, ohne dabei symmetrisch zu werden, das heißt, die komplementär und doch asymmetrisch sind. Die untersuchten narrativen Praktiken machen deutlich: So wenig, wie sich Aufführungen niemals als rein gegenwärtig-flüchtige Phänomene beschreiben lassen, ebenso wenig stellt das Narrative eine bloße sinngebende Ordnung oder ein rein kognitives Schema dar. In den untersuchten Aufführungen ist die Wahrnehmung von Orten, Dingen, Körpern und Subjekten immer von Narration durchdrungen. Ebenso ist das Narrative hier keine bloße Wahrnehmungsordnung, sondern eine situationsspezifische verkörperte Praxis, die immer auch eine materielle und aisthetische Qualität mit sich bringt. Untersucht habe ich eine solche „Interdependenz in der Differenz“6 in Bezug auf das Verhältnis zwischen einerseits narrativer Semiosis und andererseits Spie-

 5

Ein wichtiger argumentativer Ausgangspunkt dieser Studie war ein Zitat von Peggy Phelan: „performance lives in the now, while narrative histories describe it later“. PHELAN: „Shards of a History of Performance Art“, S. 500.

6

RAUTZENBERG: Die Gegenwendigkeit der Störung, S. 39.

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 len (Partizipation, Interaktion, Unplanbarkeit), Materialität (Dinglichkeit, Körperlichkeit), Kinesis, Somatik, Raumerfahrung und Ereignishaftigkeit. Mein Anliegen war es damit, die tendenziell oppositionelle Haltung aufzugeben, die im Feld der Theaterwissenschaft mit dem performative turn aus Gründen der Abgrenzung gegenüber semiotischen Zugängen häufig unbeabsichtigt eingenommen wurde. Phänomene wie Ereignisse, soziale Spiele, Bewegung, Raumund Körpererfahrung stellten im Kontext dieser Wende zentrale Themen dar und wurden vor allem im Zuge einer Debatte um ‚a-semiotische‘, aisthetische Qualitäten von Aufführungen behandelt. Zwar wurde eine Verquickung und letztlich Untrennbarkeit von Bedeutungs- und Wirkungsebene immer wieder betont, 7 jedoch blieben die semiotischen Qualitäten im Zuge dieser Perspektivenverschiebung nicht zuletzt aus heuristischen Gründen häufig unberücksichtigt. In Hinblick auf ein Theater der Narration jedoch lässt sich selbst eine heuristische Trennung von Semiosis und Aisthesis schlichtweg nicht vornehmen, will man nicht Gefahr laufen, die spezifischen Qualitäten der hier zur Aufführung gebrachten narrativen Praktiken zu unterschlagen. Eine an jene Praktiken angelehnte Konzeption des Erzählens als eine spezifische Sinngebungspraxis macht eine Perspektive, innerhalb derer Semiosis und Aisthesis konstitutiv aufeinander bezogen sind, nicht nur deutlich, sondern unerlässlich. Mit der Thematisierung des Erzählens im Gegenwartstheater habe ich eine Signifikationsebene zurück auf die Bühne der Theaterwissenschaft geholt, die sich jedoch gegen eine rein semiotische Perspektive versperrt, sondern die stattdessen einen performativitätstheoretischen Zugang zum Erzählen einfordert, bei dem ein situativ-wirkungsmächtiger und verkörperter Erzählvollzug mit der Hervorbringung (und Iteration) von narrativer Bedeutung zusammen gedacht werden. Das narrative Theater der Gegenwart fordert dazu auf, vorherrschende aufführungstheoretische Prämissen produktiv weiterzudenken, ohne dabei die Konzeption von der Aufführung als flüchtiger Gegenwärtigkeit aufzugeben. Der hier erarbeitete Zugang hat sich daher als äußerst produktiv für ein Nachdenken von Flüchtigkeit, Ereignishaftigkeit und damit für eine Aufführungstheorie allgemein erwiesen, da hiermit eine epistemologisch zentrale Dimension – das Narrative als Praxis – für eine Disziplin fruchtbar gemacht werden konnte, die sich, wie Rebecca Schneider gezeigt hat, spätestens mit der Gründung der amerikanischen Performance Studies vornehmlich auf dem Topos der flüchtigen Gegenwärtigkeit gründet8 und in diesem Zuge das Narrative tendenziell aus ihre Gegenstandsbereich ausgeschlossen hat. In Hinblick auf narra-

 7

Vgl. FISCHER-LICHTE: „Aufführung“, S. 23-26.

8

Vgl. SCHNEIDER: „Archives“, S. 106.

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 tive Performanzen wurde jedoch deutlich, dass Unwiederholbarkeit und Wiederholung (ebenso wie Vorwegnahmen) unumgängliche Komplementäre darstellen. Diese Komplementarität von Aufführungsereignissen und ihren Wiederholungen, die sich durch eine narrative Nachträglichkeitslogik herstellt, ist dabei stets unvollendet. Sie geht nie vollends auf, da sich beide Pole einander niemals gerecht werden und sich dennoch konstitutiv durchdringen. Die narrativen Aufführungspraktiken der Jahrtausendwende, so die dritte These, forcieren eine Perspektive auf Aufführungen, innerhalb derer (narrative) Aisthesis und (narrative) Semiosis, ebenso wie Ereignis und Wiederholung als sich gegenseitig bedingende und dennoch niemals deckungsgleiche Komplementäre gedacht werden. Dieser Unvollendetheit und Unauflösbarkeit standzuhalten und sie als Bedingung einer Reflexion von flüchtigen Aufführungsereignissen entgegen aller ‚logischen‘ Widerstände anzuerkennen, darin liegt, so mein Vorschlag, die entessentialisierte Pointe einer angemessenen Wissenschaft von Aufführungen.

3. U RSPRUNGSERZÄHLUNG . D IE Z WEITE Im Rahmen meiner Recherche für die Untersuchung des GPS-Audio-walks Fortysomething durchforstete ich das achtstündige Audio-Archiv, welches das Künstlerduo plan b im Jahr 2007 für sein Projekt zur Geschichte des Grazer Kunstfestivals Steirischer Herbst zusammengestellt hatte. Dabei stieß ich unverhofft auf einen Clip, der mir während meines damaligen dreistündigen Gangs durch Graz buchstäblich entgangen war und der sich nun, vollkommen unabhängig von dem Ort, für den er ursprünglich bestimmt war, unerwartet mit meinem aktuellen Recherchekontext verknüpfte. Der Clip beinhaltete ein Interview mit dem damaligen Kurator und Dramaturgen des Festivals, Florian Malzacher, der aus seiner Perspektive die neuesten Entwicklungen in den performativen Künsten beschrieb. Dabei erschien mir Malzachers Stellungnahme nachträglich wie eine verpasste und nun doch noch gefundene Spur meines eigenen Unternehmens: wie ein überraschender Zusammenstoß mit einer anderen Zeitschicht, die meine Ausgangsbeobachtungen für diese Studie zugleich bekräftigten und historisierten, hatte ich doch in dem Jahr vor der Entstehung von plan b’s Audiowalk, in 2006, erstmals mein Forschungsvorhaben formuliert. Florian Malzacher äußerte sich in diesem Interview wie folgt: „Ich glaube, es gibt im Augenblick einen Einbruch. Es gab eine Zeit, in der nur über das postdramatische, nicht-dramatische Theater nachgedacht wurde, in der Theater nicht narrativ sein sollte, einfach um es vom Text zu befreien [...]. [...] Interessant finde ich, dass

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 viele [...] Künstler jetzt gucken, wo man da weitermachen kann. Und die, die mich interessieren, tun nicht so als wäre nichts gewesen, sondern versuchen genau das, was man lernen konnte, gelernt zu haben [das heißt postdramatische Aufführungspraktiken] und gleichzeitig zum Beispiel wieder Narrationen aufzugreifen [...]. Da glaube ich, passiert etwas, was noch nicht unbedingt ganz klar zu sehen ist, [...] wo ich aber glaube, dass es eine Entwicklung gibt.“

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In der Zwischenzeit habe ich diese theoretische Erzählung über das Erzählen im Theater geschrieben und parallel dazu konnte ich eine Reihe von Veranstaltungen im Theater- und Performancekontext mitverfolgen, in denen sich dezidiert dem Erzählen zugewandt wurde. Unter der kuratorischen Leitung von Thomas Frank zum Beispiel entstand 2006-2010 die Performancereihe Telling Time als eine „Recherche zu innovativen Erzählstrategien im zeitgenössischen Theater“,10 die zuerst in den Sophiensaelen in Berlin und später im Wiener Theater brut realisiert wurde. Das Göteborg Dans & Teater Festival 2008 fiel unter das Motto „The 2008 Festival is all about telling stories“.11 Der Leiter des Internationalen Forums des Berliner Theatertreffens 2009, Uwe Gössel, stellte unter dem Titel „Erzähltes Wir“ die „Kunst des Erzählens“12 in den Mittelpunkt seines Workshop-Programms, wobei gerade eine Bandbreite nicht-literarischer narrativer Theaterformen von den Workshop-Teilnehmern erprobt werden konnte. Und das internationale Performancefestivals Homo Novus in Riga widmete 2011 eine Podiumsdiskussion dem Thema narrative in performing arts. Welche Formen das Erzählen im Theater der ersten und zweiten Dekade des neuen Jahrtausends auch immer angenommen hat, im Zentrum eines solchen Theaters der Narration, auf das alle diese Veranstaltungen zielten, steht das Erzählen als kulturelle und soziale Praktik. Dabei erkunden Theater- und Performancemacher gemeinsam mit ihrem Publikum das Schwellengebiet alltäglicher narrativer Verstrickungen und erklären ihre Aufführungen zum spielerischen Testgelände und Experimentierfeld multipler narrativer Lebens- und Weltentwürfe.

 9

Audio-Clip aus Privatarchiv von plan b: „florian_Umbruch“. Anmerkungen in eckigen Klammern von N. T.

10 http://www.brut-wien.at/programm/themen/de, letzter Zugriff: 1. Juli 2013. 11 Festivalprogrammheft, S. 1. 12 http://archiv2.berlinerfestspiele.de/de/archiv/festivals2009/03_theatertreffen09/tt09_ talente/tt_09_forum/tt_09_forum_programm/tt_09_forum_erzaehltes_wir.php, letzter Zugriff: 30. Juli 2013.

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 Abbildung 14: Forced Entertainment: And on the Thousandths Night (2000)

Foto: Hugo Glendinning.



  



VIII. Bibliografie

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I NTERNETSEITEN http://archiv2.berlinerfestspiele.de/de/archiv/festivals2009/03_theatertreffen09/tt _09_talente/tt_09_forum/tt_09_forum_programm/tt_09_forum_erzaehltes_ wir.php, letzter Zugriff: 30. Juli 2013. http://www.brut-wien.at/programm/themen/de/, letzter Zugriff: 15. Juli 2013. http://www.cardiffmiller.com/artworks/walks/longhair.html, letzter Zugriff: 20. Juli 2013. http://www.dradio-ortung.de, letzter Zugriff: 20. Juli 2013.

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I NTERNETBLOGS NACHTKRITIK: Blog zur Performance Die Erscheinungen der Martha Rubin – The Ruby Town Oracle von SIGNA: http://www.nachtkritik.de/index. php?option=com_content&id=1325, letzter Zugriff: 03. August 2013.

H ÖRSPIELE

UND

T ONDOKUMENTE

MENGEL, Uwe: Zweieinhalb Millionen, Produktion Sender Freies Berlin, Radio Bremen, Hessischer Rundfunk 1996. PLAN B: Fortysomething, Privatarchiv von plan b.

L ISTE

DER BESPROCHENEN AUFFÜHRUNGEN UND KÜNSTLERISCHEN ARBEITEN

ABRAMOVIû, Marina: 7 Easy Pieces, Reenactmentreihe, realisiert im Guggenheim Museum, New York City 2005. BAKER, Bobby: Box Story, Performance, Premiere in St. Lukes’s Church, London 2001. BELASCO ROGERS, Daniel: GPS drawings, ausgestellt seit 2003 u.a. in Berlin, Nottingham, Basel und São Paolo. CARDIFF, Janet: Her Long Black Hair, Audio-walk, Central Park, New York City 2004. FORCED ENTERTAINMENT: And on the Thousandth Night, Durational Performance, Premiere auf dem Festival Ayloul, Beirut 2000.

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 FORCED ENTERTAINMENT: Exquisite Pain, Lesung nach einem Text von Sophie Calle, Premiere auf dem Festival Theater der Welt, Stuttgart 2005. GOAT ISLAND: The Lastmaker, Performance, Premiere im Teata & TD, Zagreb 2007. GOB SQUAD: Super Night Shot, Live-Film, Premiere im Prater der Volksbühne am Rosa-Luxemburg Platz, Berlin 2003. LIGNA: Verwisch die Spuren! Flanieren in Berlin, GPS-Audio-walk, realisiert im Rahmen von RADIOORTUNG. Hörspiele für Selbstläufer (Deutschland Radio, radio aporee) Berlin 2010. KNALLER-VLAY, Bernd; SPATH, Dieter: City Joker, performative Stadtdurchquerung, realisiert im Rahmen des Festivals Steirischer Herbst, Graz 1995. LONE TWIN: To The Dogs, Durational Performance, Premiere auf dem KunstenFestivalDesArt, Brüssel 2004. LONE TWIN: Spiral, Durational walk, realisiert im Rahmen des Festivals BITE in The Barbican, London 2007. LONE TWIN: The Boat Project, performatives Bootbauprojekt, realisiert im Rahmen von London 2012 Cultural Olympiad, London 2012. LONE TWIN THEATRE: Alice Bell, Performance, Premiere auf dem KunstenFestivalDesArt, Brüssel 2006. MENGEL, Uwe: 2 ½ Millionen, Performance, Premiere in der Neuen Schönhauser Straße 20, Hebbel-Theater, Berlin 1996. MÜLLER, Ivana: While We Were Holding it Together, Performance, Premiere in den Sophiensælen, Berlin 2006. PLAN B: Fortysomething, GPS-Audio-walk, realisiert im Grazer Stadtraum im Rahmen des Festivals Steierischer Herbst, Graz 2007. PLAN B: Narrating Our Lines, kartografisches Video, präsentiert im Rahmen der gleichnamigen Lecture Performance, erstmals präsentiert in der Gallery Rom 8/National Academy of the Arts, Bergen 2010. PLAN B: The re-drawing of everywhere we’ve been in Berlin since 2007, Durational Performance realisiert im Haus der Kulturen der Welt im Rahmen der Ausstellung Tracing Mobility, Berlin 2011. RIMINI PROTOKOLL (STEFAN KAEGI): Cargo Sofia, performative Lastwagenfahrt, erstmals realisiert am Theater Basel 2006. ROSSA, Boryana: The Vitruvian Body, Performance, realisiert in der Akademie der Künste im Rahmen der Tagung re.act.feminism – Performancekunst der 1960er & 70er Jahre heute, Berlin 2009. SHE SHE POP: Für alle!, Performance, Premiere im Hebbel am Ufer, Berlin 2006. SIGNA: The Dorine Chaikin Institute, Rollenspiel, realisiert im Ballhaus Ost, Berlin 2007.

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 SIGNA: Die Erscheinungen der Martha Rubin – The Ruby Town Oracle, Rollenspiel, Premiere am Schauspiel Köln in der Halle Kalk, Köln 2007. THE PERFORMANCE GROUP (RICHARD SCHECHNER): Dionysus in 69, Performance, Premiere in The Performing Garage, New York City 1969. VERHOEVEN, Dries: Thy Kingdom Come, One-to-One-Audio-Performance, Premiere auf dem Festival Noorderzon, Groningen 2003.

Theater Natalie Driemeyer, Jan Deck (Hg.) »Odyssee: Heimat« Identität, Migration und Globalisierung im Blick der Darstellenden Künste Juni 2014, ca. 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2012-2

Andreas Englhart Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute Juni 2014, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2400-7

Friedemann Kreuder, Michael Bachmann, Julia Pfahl, Dorothea Volz (Hg.) Theater und Subjektkonstitution Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion (unter Mitarbeit von Nadine Peschke und Nikola Schellmann) 2012, 752 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1809-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Annemarie Matzke, Ulf Otto, Jens Roselt (Hg.) Auftritte Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien Juli 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2392-5

Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen Juli 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1408-4

Wolfgang Schneider (Hg.) Theater entwickeln und planen Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste 2013, 320 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2572-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.) Spielräume des Anderen Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater Mai 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1839-6

Daniele Daude Oper als Aufführung Neue Perspektiven auf Opernanalyse August 2014, 286 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2493-9

Andreas Englhart, Artur Pelka (Hg.) Junge Stücke Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater Juni 2014, 416 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1734-4

Denis Hänzi Die Ordnung des Theaters Eine Soziologie der Regie 2013, 454 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2342-0

Melanie Hinz Das Theater der Prostitution Über die Ökonomie des Begehrens im Theater um 1900 und der Gegenwart April 2014, 262 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2467-0

Joy Kristin Kalu Ästhetik der Wiederholung Die US-amerikanische Neo-Avantgarde und ihre Performances 2013, 298 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2288-1

Gunter Lösel Das Spiel mit dem Chaos Zur Performativität des Improvisationstheaters 2013, 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2398-7

Annemarie Matzke Arbeit am Theater Eine Diskursgeschichte der Probe 2012, 314 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2045-0

Eckhard Mittelstädt, Alexander Pinto (Hg.) Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland Diskurse – Entwicklungen – Perspektiven 2013, 234 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1853-2

Ulf Otto Internetauftritte Eine Theatergeschichte der neuen Medien 2013, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2013-9

Jens Roselt, Ulf Otto (Hg.) Theater als Zeitmaschine Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven 2012, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1976-8

Daniela A.M. Schulz Körper – Grenzen – Räume Die katalanische Theatergruppe »La Fura dels Baus« und ihre Performances 2013, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2316-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Kathrin Audehm, Iris Clemens (Hg.)

GemeinSinn Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2013

2013, 136 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2322-2 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort.

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